Werke. Darmstädter Ausgabe. BAND II/3. Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas Teilband 3 3534196910, 9783534196913

Der geniale Forschungsreisende Alexander von Humboldt (1769–1859) erlangte mit den Ergebnissen seiner Expeditionen Weltr

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German Pages 3819 [493] Year 2008

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Titel
Impressum
Inhalt
A. Textteil [Forts.]
Achtes Buch
Kapitel XXIII: Río Negro – Die Grenzen Brasiliens – Casiquiare – Die Gabelteilung des Orinoco
[Von der Konkurrenz Spaniens und Portugals im Zentrum Amazoniens]
[Zur Kenntnisgeschichte des hydrographischen Systems der Gewässer nördlich des Amazonas]
[Zum Charakter des innertropischen Klimas]
[Von tropischen Zugvögeln]
[Zur Geschichte der Jade oder der grünen Steine von Guayana]
[Zur Amazonen-Frage]
[Wichtige erdmagnetische Entdeckungen]
[Über Anthropophagie]
[Zum hydraulischen System des spanischen Guayana. Gabelteilungen]
[Zum Problem der Gabelteilungen von Flüssen und speziell des Casiquiare]
Kapitel XXIV: Oberer Orinoco von Esmeralda bis zum Einfluß des Guaviare – Zweite Durchfahrt der Katarakte von Atures und Maipures – Unterer Orinoco zwischen der Mündung des Río Apure und Angostura [Ciudad Bolívar], der Hauptstadt des spanischen Guayana
[Esmeralda – die abgelegenste Mission am Orinoco]
[Gewinnung des Curare]
[Leben und Ernten der Indianer]
[Beschreibung des Orinoco und des Landes östlich von Esmeralda]
[Indios blancos (weißhäutige Indianer)]
[Indianische Felszeichnungen]
[Nebenflüsse des unteren Orinoco]
[Die Höhle von Ataruipe]
[Über die Erde essenden Otomaken]
[Niopo- und Curupa-Pulver, Tabak und Ameisenzunder]
[Angostura. Krankheit Bonplands]
[Kurze Beschreibung der Provincia de la Guayana]
[Das Gebiet des Orinoco-Unterlaufs von Angostura bis zum Mündungsdelta und den Nebenflüssen]
[Dorado-Problem, Laguna Parima und Orinoco-Quellen]
Neuntes Buch
Kapitel XXV: Llanos del Pao oder östlicher Teil der Ebenen (Steppen) von Venezuela – Missionen der Cariben – Letzter Aufenthalt an den Küsten von Nueva Barcelona, Cumaná und Araya
[Über die Cariben]
[Bemühung um künftige Grundlagen einer genauen Karte: Humboldts Vermessungsmethode]
[Über die Zukunft der Llanos]
[Von den vereinzelten Blöcken in Ebenen]
[Befreiung aus Piratenhand]
Kapitel XXVI: Politischer Zustand der Provinzen Venezuelas – Ausdehnung des Territoriums – Bevölkerung – Naturerzeugnisse – Außenhandel – Verbindungen zwischen den verschiedenen Provinzen der Republik Colombia
[Zur Statistik Colombias]
Zehntes Buch
Kapitel XXVII: Überfahrt von den Küsten Venezuelas nach Havanna – Allgemeine Übersicht der Bevölkerung der Antillen, verglichen mit der Bevölkerung des Neuen Kontinents im Hinblick auf die Verschiedenheit der Rassen, der persönlichen Freiheit, der Sprache und der Religionen
Kapitel XXVIII: Politischer Versuch über die Insel Cuba – Havanna – Hügel von Guanabacoa in ihren geognostischen Verhältnissen – Talebene von Los Güines – Batabanó und Hafen von La Trinidad – Gärten des Königs und der Königin
[Cayman und Krokodil]
Elftes Buch
Kapitel XXIX: Überfahrt von Trinidad auf Cuba nach dem Río Sinú – Cartagena de Indias [Küste des heutigen Columbien] – Schlammvulkane von Turbaco – Kanal von Mahates
[Zur Eigenart von Humboldts Reisebericht]
[Die kleinen Schlammvulkane von Turbaco]
[Zur geognostischen Constitution]
B. Kommentar
Zu dieser Ausgabe des amerikanischen Reiseberichtes
1. Zur Aufgabe
2. Bisherige Ausgaben des amerikanischen Reiseberichtes
3. Zum Charakter der Ausgaben des amerikanischen Reiseberichtes
a) Die ›Relation Historique‹
b) Die beiden Atlanten der ›Relation Historique‹ und ihre Textbände
c) Die Oktav-Ausgabe der ›Relation Historique‹ in 13 Bänden
d) Die einzige vollständige deutsche Übersetzung der ›Relation Historique‹
e) Die verkürzte deutsche Teilübersetzung der ›Relation Historique‹ Hermann Hauffs
f) Die Lieferungsausgabe des Hauffschen Textes
g) Die endgültige Form der Ausgabe Hermann Hauffs und spätere teilweise Bearbeitungen
4. Zur Textgestalt dieses Bandes
5. War Humboldt Historiker auch in seinem Reisebericht und anderen geographischen Werken?
6. Zur Verkennung von Humboldts geographischer Leistung und ihren Folgen auch für die Beurteilung des amerikanischen Reiseberichtes
7. Das Problem der speziellen Vorbereitung Humboldts auf die Tropen Südamerikas
8. Zur Entstehung des amerikanischen Reiseberichtes und den Ursachen seiner Nichtvollendung
9. Zur Erläuterung des amerikanischen Reiseberichtes
a) Voraussetzungen des amerikanischen Reiseberichtes
b) Blick auf die Route und ihre Probleme
c) Zur Erläuterung der beiden Atlanten der ›Relation Historique‹ und ihrer Textbände
10. Zur Wirkungsgeschichte des Reiseberichtes
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Werke. Darmstädter Ausgabe. BAND II/3. Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas Teilband 3
 3534196910, 9783534196913

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Alexander von Humboldt

DARMSTÄDTER AUSGABE Sieben Bände

Herausgegeben von Hanno Beck

BAND II/3

Alexander von Humboldt Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas Teilband 3

Herausgegeben und kommentiert von Hanno Beck in Verbindung mit Wolf-Dieter Grün, Sabine Melzer-Grün, Detlef Haberland, Paulgünther Kautenburger †, Eva Michels-Schwarz, Uwe Schwarz und Fabienne Orazie Vallino

Forschungsunternehmen der Humboldt-Gesellschaft, Nr. 40 Mit Förderung der Academia Cosmologica Nova

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., durchgesehene Auflage 2008 © 2008 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 1987–1997 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Umschlag- und Schubergestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildungen auf dem Schuber: Humboldt-Portrait von F. G. Weitsch 1806, Foto: Hanno Beck; Weltkarte aus dem Berghausatlas, V. Abteilung, Pflanzen-Geographie; „Plan du Port de Veracruz“ von A. v. Humboldt, Foto: Hanno Beck Umschlagabbildungen: Details aus den Karten und Illustrationen des Berghausatlas Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de

ISBN 978-3-534-19691-3

Inhalt A. Textteil [Forts.]

Achtes Buch Kapitel XXIII Rio Negro - Die Grenzen Brasiliens - Casiquiare -Die Gabelteilung des Orinoco . [Von der Konkurrenz Spaniens und Portugals im Zentrum Amazoniens] . [Zur Kenntnisgeschichte des hydrographischen Systems der Gewässer nördlich des Amazonas] [Zum Charakter des innertropischen Klimas] [Von tropischen Zugvögeln] . [Zur Geschichte der Jade oder der grünen Steine von Guayana] [Zur Amazonen-Frage] [Wichtige erdmagnetische Entdeckungen] [Über Anthropophagie] [Zum hydraulischen System des spanischen Guayana. Gabelteilungen] . [Zum Problem der Gabelteilungen von Flüssen und speziell des Casiquiare] Kapitel XXIV . Oberer Orinoco von Esmeralda bis zum Einfluß des Guaviare Zweite Durchfahrt der Katarakte von Atures und Maipures Unterer Orinoco zwischen der Mündung des Rio Apure und Angostura [Ciudad Bolivar], der Hauptstadt des spanischen Guayana [Esmeralda-die abgelegenste Mission am Orinoco] [Gewinnung des Curare] [Leben und Ernten der Indianer] [Beschreibung des Orinoco und des Landes östlich von Esmeralda] [Indios blancos ( weißhäutige Indianer)] [Indianische Felszeichnungen] [Nebenflüsse des unteren Orinoco] . [Die Höhle von Ataruipe] . [Über die Erde essenden Otomaken] [Niopo- und Curupa-Pulver, Tabak und Ameisenzunder]

3 3 3 3 8 21 23 36 38 42 51 63 68 82

82 82 87 95 102 108 119 124 129 139 150

VI

Inhalt

[Angostura. Krankheit Bonplands]

162

[Kurze Beschreibung der Provincia de Ia Guayana] .

164

[Das Gebiet des Orinoco-Unterlaufs von Angostura bis zum Mündungsdelta und den Nebenflüssen]

.

[Dorado-Problem, Laguna Parima und Orinoco-Quellen] Neuntes Buch .

173 192 227

Kapitel XXV

227

Llanos del Pao oder östlicher Teil der Ebenen (Steppen) von Venezuela - Missionen der Cariben - Letzter Aufenthalt an den Küsten von Nueva Barcelona, Cumami und Araya

227

[Über die Cariben]

230

.

[Bemühung um künftige Grundlagen einer genauen Karte: Humboldts Vermessungsmethode] [Über die Zukunft der Llanos]

246 250

[Von den vereinzelten Blöcken in Ebenen]

257

[Befreiung aus Piratenhand]

262

Kapitel XXVI

.

.

274

Politischer Zustand der Provinzen Venezuelas-Ausdehnung des Territoriums - Bevölkerung - Naturerzeugnisse - Außen­ handel - Verbindungen zwischen den verschiedenen Provinzen der Republik Colombia

274

[Zur Statistik Colombias]

274

Zehntes Buch

284

.

Kapitel XXVII

284

Überfahrt von den Küsten Venezuelas nach Havanna - Allge­ meine Übersicht der Bevölkerung der Antillen, verglichen mit der Bevölkerung des Neuen Kontinents im Hinblick auf die Verschiedenheit der Rassen, der persönlichen Freiheit, der Sprache und der Religionen

284

.

295

Kapitel XXVIII Politischer Versuch über die I nsel Cuba - Havanna - Hügel von Guanabacoa in ihren geognostischenVerhältnissen-Talebene von Los Güines-Bataban6 und Hafen von La Trinidad- Gärten des Königs und der Königin

295

[Cayman und Krokodil]

299

Elftes Buch

319

Kapitel XXIX

319

Überfahrt von Trinidad auf Cuba nach dem Rfo Sinti-Cartagena de I ndias [Küste des heutigen Columbien]- Schlammvulkane von Turbaco- Kanal von Mahates

.

319

VII

Inhalt [Zur Eigenart von Humboldts Reisebericht]

340

[Die kleinen Schlammvulkane von Turbaco]

351

[Zur geognostischen Constitution]

362

.

B. Kommentar Zu dieser Ausgabe des amerikanischen Reiseberichtes

371

1. Zur Aufgabe

371

2. Bisherige Ausgaben des amerikanischen Reiseberichtes

375

3. Zum Charakter der Ausgaben des amerikanischen Reiseberichtes

380

a) Die >Relation Historique< .

380

b) Die beiden Atlanten der >Relation Historique< und ihre Textbände . c) Die Oktav-Ausgabe der> Relation Historique< in 13 Bänden

381 382

d) Die einzige vollständige deutsche Übersetzung der >Relation Historique
Relation Hisf)

torique< Hermann Haufis

387

Die Lieferungsausgabe des Hauffschen Textes

391

g) Die endgültige Form der Ausgabe Hermann Hauffs und spätere teilweise Bearbeitungen . 4. Zur Textgestalt dieses Bandes

393 395

5. War Humboldt Historiker auch in seinem Reisebericht und anderen geographischen Werken?

399

6. Zur Verkennung von Humboldts geographischer Leistung und ihren Folgen auch für die Beurteilung des amerikanischen Reiseberichtes

405

7. Das Problem der speziellen Vorbereitung Humboldts auf die Tropen Südamerikas

414

8. Zur Entstehung des amerikanischen Reiseberichtes und den Ursachen seiner Nichtvollendung 9. Zur Erläuterung des amerikanischen Reiseberichtes

435 441

a) Voraussetzungen des amerikanischen Reiseberichtes

441

b) Blick auf die Route und ihre Probleme .

450

c) Zur Erläuterung der beiden Atlanten der >Relation Historique< und ihrer Textbände 10. Zur Wirkungsgeschichte des Reiseberichtes

462 471

A Textteil [Forts.]

Achtes Buch Kapitel XXIII

Rio Negro- Die Grenzen Brasiliens- Casiquiare­ Die Gabelteilung des Orinoco [Von der Konkurrenz Spaniens und Portugals im ZentrumAmazoniens] Der Rio Negro kann im Vergleich mit dem Amazonenstrom, dem Rio de la Plata und dem Orinoco nur ein Strom zweiten Ranges heißen. Sein Besitz ist seit Jahrhunderten der spanischen Regierung überaus wichtig gewesen, weil er einer rivalisierenden Macht, Portugal, einen leichten Weg in die Mis­ sionen Guayanas und zur Beunruhigung der südlichen Grenze der Capitania general von Caracas bietet. Drei Jahrhunderte sind in vergeblichen Territo­ rialstreitigkeiten verflossen. Nach Verschiedenheit der Zeiten und nach dem Grad der Zivilisation stützte man sich bald auf die Autorität des Papstes, bald auf die Hilfe der Astronomie. Weil man überhaupt den Kampf eher zu verlängern als zu beendigen strebte, hat dieser endlose Rechtsstreit einzig der Schiffahrtskunde und der Geographie des Neuen Kontinents Gewinn ge­ bracht. Man erinnert sich, daß die Bullen der Päpste Nicolaus V. und Alex­ ander VI., der Vertrag von Tordesillas und das Bedürfnis, die Demarkations­ linie festzusetzen, ein mächtiger Sporn und Antrieb für die Arbeiten zur Lö­ sung des Längenproblems, für die Berichtigung der Ephemeriden und für die Vervollkommnung der Instrumente geworden sind. Als die Verhältnisse von Paraguay und der Besitz der Kolonie del Sacramento den beiden Höfen von Madrid und Lissabon eine wichtige Angelegenheit waren, sandte man Grenzkommissare an den Amazonenstrom und an den Rio de la Plata. Neben müßigen Leuten, die Proteste und Protokolle für die Archive fer­ tigten, fanden sich auch etliche sachkundige Ingenieure, etliche Seeof­ fiziere, denen das Verfahren zur Aufnahme von Ortsbestimmungen fern der Küsten bekannt war. Das wenige, was wir bis zum Schluß des letzten Jahr­ hunderts von der astronomischen Geographie des Landesinneren von Ame­ rika gewußt haben, verdankt man diesen achtenswerten und tätigen Män­ nern, den französischen und spanischen Akademikern, welche die Meridian­ messung von Quito angestellt haben, und zwei Offizieren [ Don Jose de Espi­

nosa und Don Felipe Bauza] , die von Valparaiso nach Buenos Aires mit der

Expedition Malaspinas gekommen sind. Gerne mag man der Vorteile ge-

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Kapitel XXIII

denken, welche den Wissenschaften fast zufälligerweise von diesen Grenz­ kommissionen erwachsen sind, die dem Staat lästig fielen und die von denen, welche sie angeordnet hatten, öfter noch vergessen als wieder aufge­ löst wurden. Wer die Unzuverlässigkeit der amerikanischen Landkarten kennt und wer das nicht angebaute Land zwischen dem Japuni und dem Rio Negro, dem Madeira und dem Ucayali, dem Rio Branco und den Küsten von Cayenne in der Nähe gesehen hat, worüber in Europa bis auf unsere Zeit ernsthaft ge­ stritten wurde, der kann sich über die Beharrlichkeit des Rechtens um den Besitz einiger Quadratlieues Land nicht genug wundern. Von dem ange­ bauten Teil der Kolonie ist das strittige Land überhaupt durch W üsten, deren Umfang man nicht kennt, getrennt. In den berühmten Konferenzen von Puente de Caya [vom 4. Nov.

1681 bis zum 22. Jan. 1682] wurde die Frage auf­

geworfen, ob der Papst bei Bestimmung der Demarkationslinie bei 370 spa­ nischen Iieues westlich der Kap Verden verlangt habe, der erste Meridian solle vom Mittelpunkt der Insel St. Nicolaus [Säo Nicoläo] oder (wie der Hof von Lissabon behauptete) vom westlichen Ende der kleinen Insel SanAnto­ nio [SäoAntäo] gezählt werden. 1754, zur Zeit der Expedition von Huriaga und Solano, unterhandelte man über den Besitz der damals öden Gestade des Tuamini und über ein Stück Sumpfland, das wir an einemAbend, um von Javita zum Cafio Pimichin zu gelangen, durchwandert haben. Jüngst noch wollten die spanischen Kommissare die Scheidungslinie an die Einmündung desApoparis in den Japuni setzen, wogegen die portugiesischenAstronomen sie bis zum Salto Grande zurückzuschieben verlangten. Die Missionare und das Publikum überhaupt zeigen viel Teilnahme an diesen Territorialfehden. In den spanischen wie in den portugiesischen Kolonien wird die Regierung der Sorglosigkeit und Lässigkeit beschuldigt. Überall, wo die Völker keine auf Freiheit gegründeten Institutionen haben, wird der Gemeingeist nur dann rege, wenn es sich um Ausdehnung oder Verengung der Landes­ grenzen handelt. Der Rio Negro und der Japuni sind zwei Zuflüsse desAmazonenstroms, die an Länge der Donau gleichen und deren Oberläufe den Spaniern ge­ hören, während die unteren Teile im Besitz der Portugiesen sind. An diesen zwei majestätischen Strömen hat die Bevölkerung sich dort vermehrt, wo sie dem Mittelpunkt der ältesten Zivilisation am nächsten ist. Die Ufer des oberen Japuni oder Caqueta sind durch Missionen angebaut worden, welche von den Cordilleren von Popayan und Neiva hinabgekommen waren. Von Mocoa bis zur Einmündung des Caguan finden sich die christli­ chen Niederlassungen sehr zahlreich, wogegen vom unteren Japura die Por­ tugiesen kaum Dörfer angelegt haben.Am Rio Negro aber konnten die Spa­ nier nicht als Konkurrenten ihrer Nachbarn auftreten. Wer möchte sich auf eine so entfernte Bevölkerung stützen wie die der Provinz von Caracas?

Kapitel XXIII

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Durch fast völlig öde Steppen und Wälder und auf 160 Iieues Entfernung ist der angebaute Teil des Küstenlandes von den vier Missionen von Maroa, Tomo, Davipe und San Carlos, den einzigen, welche die spanischen Franzis­ kanermönche längs des RioNegro anzulegen vermocht haben, getrennt. Bei den brasilianischen Portugiesen behielt das Militärregime, das System der Presidios [Zuchthäuser; hier

=

Ort, an dem Zwangsarbeiter wirken] und

der Capitanes pobladores, das Übergewicht vor dem der Missionare. Gran Pani liegt allerdings in weiter Entfernung von der Mündung des Rio Negro; aber die bequeme Fahrt auf dem Amazonenstrom, der sich wie ein unabseh­ barer Kanal in gerader Richtung von Westen nach Osten ausdehnt, hat der portugiesischen Bevölkerung ermöglicht, sich schnell diesem Strom entlang auszubreiten. Die Ufer des unterenMarafi6n von Vistoza bis Serpa sowie die Ufer des Rio Negro von Forte da Bara bis Sao Jose da Marabitanas sind durch reichen Anbau verschönert und mit vielen Städten und ansehnlichen Marktflecken besetzt. Diese lokalen Betrachtungen stehen mit anderen, welche die moralischen Verhältnisse dieser Völkerschaften betreffen, in Verbindung. Die Nordwest­ küste von Amerika hat bis dahin außer den russischen und spanischen Kolo­ nien noch keine anderweitigen festen Niederlassungen. Bevor die Ein­ wohner der Vereinigten Staaten in ihrer fortschreitenden Bewegung von Ost nach West das Küstenland erreichten, welches lange Zeit zwischen dem 41. und 50. Breitengrad die kastilianischen Mönche von den sibirischen Jägern getrennt hatte, haben diese sich südwärts des Rio Columbia angesiedelt. So waren in Neu-Californien die Franziskaner-Missionare, Männer von rühmli­ chen Sitten und landwirtschaftlicher Betriebsamkeit, nicht wenig erstaunt, zu vernehmen, daß griechische Priester in ihrer Nähe eingetroffen und daß zwei das östliche und das westliche Ende von Europa bewohnendeNationen auf einer China gegenüberliegenden Küste Amerikas Grenznachbarn ge­ worden seien. Andere Verhältnisse haben sich in Guayana dargestellt: Die Spanier sind hier an ihren Grenzen wieder denselben Portugiesen begegnet, mit denen sie, durch Sprache und Munizipaleinrichtungen verwandt, einen der edelsten Überreste des römischen Europa bilden, die aber ein aus un­ gleicher Kraft und allzugroßer Nähe entstandenes Mißtrauen in eine öfters feindselige und allzeit nebenbuhlerischeMacht verwandelt hat. Wer von den Küsten Venezuelas (wo wie in Havanna und den übrigen Antillen die Han­ delspolitk Europas ein Gegenstand des täglichen Gesprächs ist) südwärts reist, der fühlt sich mit jedem Tag mit wachsender Geschwindigkeit allem, was an das Mutterland erinnern kann, entrückt. Inmitten der Steppen oder Llanos, in diesen mit Ochsenfellen bedeckten und von wilden Herden umge­ benen Hütten, ist nur die Rede von der Pflege des Viehs, von der den Weiden nachteiligen Trockenheit des Klimas, von dem Schaden, welchen die Fleder­ mäuse unter den Kälbern und Füllen anrichten. Gelangt man auf dem Ori-

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noco in die Missionen der Wälder, findet man hier die Aufmerksamkeit der Einwohner auf andere Gegenstände gerichtet, auf den unsteten Sinn der In­ dianer, welche aus den Dörfern ausreißen, auf die mehr oder minder reiche Ernte der Schildkröteneier, auf die Beschwerden des heißen und unge­ sunden Klimas. Wofern die Stiche der Moskitos den Mönchen an etwas an­ deres zu denken erlauben, kommen leise Klagen über den Vorsteher der Missionen zum Vorschein und Seufzer über die Verblendung derer, die im nächsten Kapitel den guardian des Klosters von Nueva Barcelona in seinem Amt bestätigen wollen. Alles hat hier ein lokales Interesse, und dieses be­ zieht sich ausschließlich, wie die Ordensmänner sagen, auf die Angelegen­ heiten der Gemeinde, "auf diese W älder, estas selvas, welche Gott uns zur Wohnung angewiesen hat". Dieser etwas lange und ziemlich traurige Ideen­ kreis erweitert sich, wenn man den oberen Orinoco mit dem Rio Negro ver­ tauscht und sich der Grenze Brasiliens nähert. Hier scheint der Dämon euro­ päischer Politik alle Gemüter zu beherrschen. Das Nachbarland, welches sich über den Amazonenstrom ausdehnt, heißt in der Sprache der spani­ schen Missionen weder Brasilien noch Capitania general von Gran Para, sondern Portugal; die kupferfarbigen Indianer, die halbschwarzen Mu­ latten, die ich von Barcelos ins spanische Fortirr San Carlos ziehen sah, heißen Portugiesen. Diese Namen sind volksüblich bis an die Küsten von Cumana; und man versäumt nicht, den Reisenden behaglich zu erzählen, welche Wirkung sie zur Zeit der Grenzexpedition von Solano auf einen aus den Bergen von Bierzo abstammenden Befehlshaber von Vieja Guayana ge­ habt hatten. Der alte Krieger beschwerte sich, daß er die Reise an den Ori­ noco habe übers Meer machen müssen. "Wenn wirklich", sagte er, "wie mir dies hier versichert wird, diese weitläufige Provinz des spanischen Guayana sich bis nach Portugal (zu den Portugueses) erstreckt, warum ließ mich der Hof in Cadiz einschiffen? Ich würde recht gern einige Iieues weiter zu Land gereist sein." Dieser Ausdruck naiver Unwissenheit erinnert an eine selt­ same Meinung des Kardinals Lorenzana. Dieser in der Geschichte übrigens nicht unbewanderte Prälat sagt in einem vor kurzem in Mexico gedruckten Werk, die Besitzungen des Königs von Spanien in Neu-Californien und in Neu-Mexico (ihr nördliches Ende liegt unter 37o 48' der Breite) grenzten landwärts an Sibiren. Wenn zwei Völker, deren Besitzungen in Europa aneinandergrenzen, die Spanier und die Portugiesen, in Amerika gleichfalls Nachbarn geworden sind, so ist dieses Verhältnis, um nicht zu sagen, dieser Nachteil, eine Wir­ kung des unternehmenden Geistes und der kühnen Tätigkeit, die das eine und das andere zur Zeit ihres kriegerischen Ruhms und ihrer politischen Größe entwickelt haben. Die kastilianische Sprache wird heutzutage in beiden Amerika in einer Ausdehnung von mehr als 1900 Iieues angetroffen; wenn jedoch das südliche Amerika allein ins Auge gefaßt wird, findet sich

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die portugiesische Sprache hier auf ausgedehnterem Landesgebiet von einer kleineren Menschenzahl gesprochen als die kastilianische. Das Band, wel­ ches die schönen Mundarten von Luis de Camöes und Lope de Vega innig verbindet, hat hier, möchte man sagen, nur gedient, die Völker, welche un­ freiwillige Nachbarn geworden waren, noch mehr voneinander zu trennen. Der Nationalhaß gestaltet sich nicht allein nach Verschiedenheiten der Her­ kunft, der Sitten und der Fortschritte in der Kultur: Überall, wo er kräftig ausgebildet ist, muß er als eine Wirkung der geographischen Lage und der sich daraus ergebenden widersprüchlichen Interessen angesehen werden. Man verabscheut einander etwas weniger, wenn man weiter voneinander entfernt lebt und bei radikal verschiedenen Sprachen auch nicht einmal ver­ sucht ist, miteinander in Berührung zu treten. Die Reisenden durch Neu­ Californien, durch die inneren Provinzen von Mexico und die nördlichen Grenzländer Brasiliens haben diese Schattierungen in den sittlichen An­ lagen der Nachbarvölker auffällig gefunden. Zur Zeit meines Aufenthalts am spanischen Rio Negro fand sich infolge der divergierenden Politik der zwei Höfe von Lissabon und Madrid das Miß­ trauen gesteigert, welches die kleinen Befehlshaber der benachbarten Forts auch in den ruhigsten Zeiten zu unterhalten bestrebt sind. Die Kanus fuhren von Barcelos bis zu den spanischen Missionen herauf; aber es waren nur sel­ tene Verbindungen. Der Befehlshaber einer Truppe von 16 oder 18 Mann quälte "die Garnison" mit Sicherheitsmaßnahmen, welche "die schwierigen Umstände" erforderlich machten; er hoffte, im Fall eines Angriffes, "den Feind einzuschließen". Wenn wir von der Gleichgültigkeit sprachen, womit die portugiesische Regierung in Buropa wahrscheinlich die vier kleinen Dörfer betrachte, welche von den Franziskanermönchen am oberen Guai­ nia errichtet wurden, fanden sich die Einwohner eben dadurch beleidigt, womit wir sie zu beruhigen gehofft hatten. Völkern, welche seit Jahrhun­ derten die Lebhaftigkeit ihres Nationalhasses beibehalten, kommt jede Ge­ legenheit, diesen zu nähren, erwünscht. Man findet Vergnügen in allem, was leidenschaftlich ist; im Bewußtsein kräftiger Gefühle, wie der Liebe so auch dem von veralteten Vorurteilen ausgehenden gehässigen Neid. Jede Indivi­ dualität der Völker ist vom Mutterland in die entferntstell Kolonien herüber­ gekommen, und die Nationalantipathie findet ihre Grenze auch da nicht, wo der Einfluß gleicher Sprachen aufhört. Wir wissen aus der anziehenden Er­ zählung in Krusensterns Reise, daß der Haß zweier flüchtiger Matrosen, eines Franzosen und eines Engländers, die Ursache eines langen Krieges zwischen den Bewohnern der Marquesas-Inseln geworden ist. Die Indianer der benachbarten portugiesischen und spanischen Dörfer am Amazonen­ strom und am Rio Negro hassen einander tödlich. Es sind amerikanische Sprachen, die diese armen Leute reden, und was am anderen Ufer des Ozeans, jenseits der großen salzigen Lache vorgeht, ist ihnen völlig unbe-

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kannt; aber die Kutten ihrer Missionare sind von anderer Farbe, und dies är­ gert sie im höchsten Grad.

[Zur Kenntnisgeschichte des hydrographischen Systems der Gewässer nördlich des Amazonas} Ich bin bei der Schilderung des Nationalhasses verweilt, den kluge Admi­ nistratoren zu mildern gesucht haben, ohne ihn völlig dämpfen zu können. Diese Eifersucht hat nachteiligen Einfluß auf die geographischen Kennt­ nisse gehabt, welche wir uns bisher über die sich in den Amazonenstrom er­ gießenden Flüsse verschaffen konnten. Wenn die Verbindungen zwischen den Eingeborenen gehemmt sind und das eine Volk nahe an der Mündung, das andere am Oberlauf desselben Flusses angesiedelt ist, so fällt es denen, die genaue Karten aufnehmen wollen, schwer, zuverlässige Angaben zu er­ halten. Die periodischen Überschwemmungen und besonders die Portagen, wodurch die Schiffe aus einem Fluß in den anderen, dessen Quellen nicht weit entfernt liegen, hinübergetragen werden, können Gabelteilungen und Zwischenarme der Flüsse vermuten lassen, die in der Tat nicht vorhanden sind. Die Indianer der portugiesischen Missionen zum Beispiel gelangen (wie ich an Ort und Stelle erfuhr) einerseits durch den Rio Guaicia [so wird in San Carlos de Rio Negro der im nahen portugiesischem Gebiet fließende Rio Xie genannt] und den Rio Tomo in den spanischen Rio Negro, anderer­ seits über die Partagen zwischen dem Cababuri, dem Pasimoni, dem Idapa und dem Mavaca in den oberen Orinoco, um hinter Esmeralda die aromati­ schen Beeren des Pucherylorbeers zu sammeln. Die Eingeborenen sind, ich wiederhole es, vortreffliche Geographen: Sie umgehen den Feind trotz der auf den Karten bezeichneten Grenzen, trotz der Fortins und der Destaca­ mentos [Militärposten]; und wenn die Missionare sie von ferne her und in verschiedenen Jahreszeiten eintreffen sehen, beginnen sie Hypothesen über angebliche Verbindungen der Flüsse aufzustellen. Jede Partei hat einige Gründe, um das geheimzuhalten, was sie zuverlässig weiß; und der Hang für alles, was geheimnisvoll ist, diese bei ungebildeten Menschen so verbreitete und starke Neigung, hilft die Ungewißheit unterhalten. Dazu kommt noch, daß die verschiedenen indianischen Völker, welche dieses Labyrinth von Flüssen besuchen, ihnen ganz abweichende Namen geben, die durch Endun­ gen maskiert oder verlängert sind, deren Bedeutung "Wasser, großes Wasser, Strömung" ist. Wie oft hat mich die Notwendigkeit, die Synonymie der Flüsse zu bestimmen, in Verlegenheit gesetzt, wenn ich die verständigsten Einge­ borenen rufen ließ, um sie von einem Dolmetscher über die Zahl der Zuflüsse, über die Quellen und die Partagen befragen zu lassen! Weil drei und vier Sprachen in der Mission geredet werden, fällt es schwer, die Zeugen

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in Einklang zu bringen. Unsere Karten wimmeln von willkürlich verkürzten oder verstümmelten Namen. Um, was richtig darin sein mag, zu würdigen, muß man sich durch die geographische Lage der Zuflüsse (ich möchte fast sagen, durch einen gewissen etymologischen Takt) leiten lassen. Der Rio Uaupes oder Uapes der portugiesischen ist der Guapue der spanischen Karten und der Ucayari der Eingeborenen. Der Anava der alten Geogra­ phen ist Arrowsmiths Anauahu und der Uanauhau oder Guanauhu der In­ dianer. Das Bestreben, keine Lücken auf den Karten zu lassen, um ihnen ein genaues Aussehen zu verschaffen, hat Flüsse erzeugt, denen Namen erteilt wurden, die nur Synonyma von anderen waren. In der neuesten Zeit erst haben die Reisenden in Amerika, in Persien und Indien die Wichtigkeit ge­ nauer Ortsbenennungen eingesehen. Nur mit Mühe kann man beim Lesen der Reise des berühmten Raleigh im See von Mrecabo den Maracaibo-See und im Marquis Paraco den Namen Pizarros, des Zerstörers des Inca­ Reiches, erkennen. Die großen Zuflüsse des Amazonenstroms führen selbst bei den Missio­ naren europäischer Herkunft an ihrem Ober- und Unterlauf verschiedene Namen. Die in den Missionen der Andaquies gehaltenen Nachfragen über den eigentlichen Ursprung des Rio Negro sind vollends ohne Erfolg ge­ blieben, weil man den indianischen Namen des Flusses nicht kannte. In Ja­ vita, in Maroa und in San Carlos hörte ich ihn Guainia nennen. Der gelehrte Historiker Brasiliens, Herr Southey, den ich überall sehr genau fand, wo ich seine geographischen Angaben mit den auf meinen Reisen gesammelten ver­ gleichen konnte, sagt ausdrücklich, der Rio Negro werde im Unterlauf von den Eingeborenen Guaiari oder Curana, im Oberlauf Ueneya genannt. Es ist dies das Wort Gueneya statt Guainia; denn die Indianer dieser Land­ schaften sagen ohne Unterschied Guaranacua oder Ouaranacua, Guarapo und Uarapo. Aus diesem letzteren Namen haben Hondius und alle alten Geographen infolge eines drolligen Mißverständnisses ihren Europa fluvius gebildet. Hier ist der Ort, von den Quellen des Rio Negro zu sprechen, welche seit längerem unter den Geographen strittig gewesen sind. Das Interesse an dieser Frage betrifft nicht nur den Ursprung aller großen Ströme; sie steht auch im Zusammenhang mit vielen anderen Fragen, über die angeblichen Bifurkationen des Caqueta, über die Verbindungen des Rio Negro mit dem Orinoco und über die lokale Mythe vom Dorado, vormals Enim oder das Reich von Groß-Paytiti genannt. Das Studium der alten Karten dieser Land­ schaften und der Geschichte geographischer Irrtümer zeigt, wie nach und nach zugleich mit den Quellen des Orinoco die Dorado-Mythe nach Osten verpflanzt wurde. Von ihrem Ursprung am östlichen Abhang der Anden aus­ gehend, hatte sie sich anfangs, wie ich an anderer Stelle dartun werde, süd­ westwärts des Rio Negro angesiedelt. Der tapfere Felipe de Urre [Philipp v.

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Kapitel XXIII

Hutten] suchte die große Stadt Manoa jenseits des Guaviare. Heutzutage noch erzählen die Indianer von Säo Jose de Marabitanas, mit nordwestlicher Schiffahrt auf dem Guapue oder Uaupes gelange man zu einer berühmten Laguna de oro, die von Bergen eingefaßt und so groß sei, daß man das jensei­ tige Ufer nicht sehen könne. Ein wildes Volk, die Guanes, gestattet nicht, das Gold im Sandufer des Sees zu sammeln. Der Pater Acuiia verlegt den Manoa- oder Yenefiti-See zwischen den Japuni und den Rio Negro. Von Ma­ naos-Indianern (aus dem Wort Manoa, durch Verschiebung der Selbstlaute, die bei sehr vielen amerikanischen Nationen gewöhnlich ist) erhielt der Pater Fritz im Jahre 1687 zahlreiche Platten von geschlagenem Gold. Diese Nation, deren Namen noch gegenwärtig an den Gestaden des Urarira, zwi­ schen Lamalonga und Moreira, bekannt ist, wohnte am Jurubesh (Yurn­ bech, Yurubets). Herr de La Condamine sagt vollkommen richtig, dieses Mesopotamien sei zwischen dem Caqueta, dem Rio Negro, dem Jurubesh und dem Iquiare erster Schauplatz des Dorado. Wo soll man aber die Namen Jurubesh und Iquiare des Pater Acuiia und des Pater Fritz suchen? Ich glaube, sie in den Flüssen Urubaxi und Iguari der portugiesischen Manu­ skriptkarten wiedererkannt zu haben, die ich besitze und die im Hydrogra­ phischen Depot von Rio de Janeiro entworfen worden sind. Ich habe seit einer langen Reihe von Jahren die Geographie des südlichen Amerika nörd­ lich des Amazonenstroms, nach den ältesten Karten und mitHilfe vieler un­ gedruckter Materialien, sorgfältig erforscht. Weil diese Reisebeschreibung

den Charakter eines wissenschaftlichen Werks behalten soll, darf ich keinen Anstand nehmen, Gegenstände darin zu behandeln, über die ich einige Auf­ schlüsse liefern zu können hoffe [Hervorhebung vomHrsg.]: die Quellen des Rio Negro und des Orinoco nämlich, die Verbindung der zwei letzteren Flüsse mit dem Amazonenstrom und das Problem des Goldlandes, das die Bewohner der Neuen Welt so viel Blut und Tränen gekostet hat. Ich werde diese verschiedenen Aufgaben behandeln, sobald meine Reisetagebücher mich an die Orte führen, deren Einwohner sie selbst am lebhaftesten erör­ tern. Um jedoch kleinliche Einzelheiten, die als Belege meiner Angaben dienen, zu vermeiden, werde ich mich hier auf Darstellung derHauptergeb­ nisse beschränken und die ausführlicheren Darlegungen der Analyse der Karten dem >Essai sur la geographie astronomique du Nouveau Continent< [>Examen critiqueAtlas geographique et physique du Nouveau Continent< ist] vorbehalten. Diese Untersuchungen führen zu dem allgemeinen Schluß, daß die Natur in der Verteilung der auf der Oberfläche der Erde zirkulierenden Gewässer ebenso wie in der Bildung der organischen Körper einen ungleich weniger verwickelten Plan verfolgt hat, als man zu glauben versucht ist, wenn man sich nur durch schwankende Ansichten und die Neigung zum Wunderbaren leiten läßt. Man gelangt auch zu der Überzeugung, daß all diese Anomalien,

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Kapitel XXIII

all diese Ausnahmen von hydrographischen Gesetzen, die das Binnenland von Amerika aufweist, in der Tat nur scheinbar sind; daß der Lauf der flie­ ßenden Wasser in der Alten Welt gleich merkwürdige Erscheinungen dar­ bietet, daß diese aber ihrer Kleinheit wegen die Aufmerksamkeit der Rei­ senden weniger anregen. Wenn unermeßliche Ströme als zusammengesetzt aus verschiedenen, einander parallellaufenden, aber ungleich tiefen Fur­ chen angesehen werden können; wenn diese Ströme nicht in Tälern einge­ faßt sind; und wenn das Innere eines großen Kontinents ebenso flach ist wie bei uns der Meeresstrand: dann müssen sich wohl die Verästelungen, die Gabelteilungen und die netzförmigen Verzweigungen ins Unendliche ver­ vielfältigen. Demzufolge, was wir vom Gleichgewicht der Meere wissen, kann ich nicht glauben, daß die Neue Welt später als die Alte aus dem Mee­ resgrund erstanden und daß das organische Leben darin jünger oder neueren Ursprungs sein sollte; demnach läßt sich, ohne Gegensätze zwi­ schen beiden Halbkugeln ein und desselben Planeten zuzugeben, begreifen, daß in der, welche eine größere Wassermenge besitzt, die verschiedenen Flußsysteme, um sich voneinander zu sondern und ihre gegenseitige Unab­ hängigkeit festzusetzen, mehr Zeit gebraucht haben. Die Anspülungen, welche sich überall bilden, wo die Schnelligkeit des laufenden Wassers sich mindert, tragen unstreitig dazu bei, die großen Strombetten zu erhöhen und die Überschwemmungen zu vermehren; auf die Dauer aber werden durch diese Überschwemmungen die Flußarme und die schmalen Kanäle, welche benachbarte Flüsse vereinigen, gänzlich angefüllt und verstopft. Die vom Regenwasser herbeigeschwemmten Materien bilden durch ihre Anhäu­ fungen

neue

Schwellen,

Isthmen

angeschwemmten

Landes,

Wasser­

scheiden, die zuvor nicht vorhanden waren. Daraus ergibt sich, daß die na­ türlichen Verbindungskanäle sich nach und nach in zwei Zuflüsse teilen und daß diese infolge einer querlaufenden Erhöhung zwei entgegengesetzte Ab­ hänge erhalten. Ein Teil ihrer Gewässer wird gegen den Hauptwasserbe­ hälter zurückgetrieben, und zwischen zwei parallelen Betten erhebt sich eine Böschung, durch die zuletzt jede Spur der früheren Verbindung ver­ schwindet. In Gabelteilungen findet nun die Vereinigung verschiedener Flußsysteme weiter nicht statt; da, wo Bifurkationen in der Zeit der großen Überschwemmungen fortdauern, sieht man, wie die Gewässer sich vom Hauptwasserbehälter nur entfernen, um nach kürzeren oder längeren Um­ wegen wieder in ihn zurückzukehren. Grenzen, welche anfangs schwankend und unsicher erschienen, fangen an, bestimmter zu werden; und im Lauf der Jahrhunderte, durch die Wirkung alles dessen, was auf der Oberfläche des Erdballs beweglich ist, durch die der Gewässer, der Anschwemmungen und Versandungen, trennen sich die Flußbetten, wie sich die großen Seen ab­ teilen und wie die Binnenmeere ihre vormaligen Verbindungen verlieren. Die Gewißheit, welche die Geographen schon im 16.Jahrhundert über

Kapitel XXIII

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das Dasein mehrerer Gabelteilungen und über die gegenseitige Abhängig­ keit verschiedener Flußsysteme im südlichen Amerika erhalten hatten, ver­ leitete sie, eine genaue Verbindung zwischen den fünf großen Zuflüssen des Orinoco und des Amazonenstroms- dem Guaviare, dem Infrida, dem Rfo Negro, dem Caqueta oder Hyapura [Japura] und dem Putumayo oder I�a­ anzunehmen. Diese Hypothesen, die sich auf unseren Landkarten verschie­ denartig dargestellt finden, sind teils von den Missionen der Ebenen, teils vom Rücken der Anden ausgegangen. Wer die Reise von Santa Fe de Bogota durch Fusagasuga nach Popayan und Pasto macht, hört von den Bergbewoh­ nern, daß aus dem Paramo de la Suma Paz (Paramo des ewigen Friedens), von Iscance und von Aponte, auf ihrem östlichen Abhang, alle Flüsse ent­ springen, welche zwischen dem Meta und dem Putumayo durch die Wälder von Guayana ihren Lauf nehmen. Weil man die Zuflüsse für den Haupt­ stamm nimmt und den Lauf aller Flüsse bis an die Bergkette verlängert, ver­ wechselt man dort die Quellen des Orinoco, des Rio Negro und des Gua­ viare. Der äußerst schwierige Abstieg am steilen Abhang der Ostseite der Anden, die von engherziger Politik herrührenden Hemmungen des Ver­ kehrs mit den Llanos des Meta, von San Juan und von Caguan, das geringe Interesse, welches die Bereisung der Flüsse zur Erforschung ihrer Veräst­ lungen findet, sind alles Umstände, welche die geographischen Ungewiß­ heiten vermehren helfen. Zur Zeit meines Aufenthalts in Santa Fe de Bo­ gota war kaum noch der Weg bekannt, welcher durch die Dörfer Usme, Ubaque oder Caqueza nach Apiay und zum Landeplatz des Rio Meta führt. Erst kürzlich bin ich imstand gewesen, die Karte dieses Flusses mittels des Reisetagebuchs des Kanonikus Cortes Madariaga und mittels der während des Unabhängigkeitskrieges von Venezuela erhaltenen Angaben zu berich­ tigen. Nachstehendes ist, was wir zuverlässig über die Lage der Quellen am Fuß der Cordilleren zwischen 4° 20' und 1 o 10' nördlicher Breite wissen. Hinter dem Paramo de la Suma Paz, den ich von Pandi her aufnehmen konnte, ent­ springt der Rio de Aguas Blancas, welcher mit dem Pachaquiaro oder Rfo Negro von Apiay den Meta bildet; mehr südwärts kommt der Rfo Ariari, welcher einer der Zuflüsse des Guaviare ist, dessen Mündung ich bei San Fernando del Atabapo gesehen habe. Verfolgt man den Rücken der Cordil­ lere gegen Ceja und den Paramo de Aponte, findet man den Rio Guayavero, der nahe beim Dorf Aramo vorbeifließt und sich mit dem Ariari vereinigt; unterhalb dieses Zusammenflusses nehmen die zwei Ströme den Namen Guaviare an. Südwestlich vom Paramo von Aponte entspringt am Fuß des Gebirges, in der Nähe von Santa Rosa, der Rio Caqueta, auf der Cordillere selbst aber der in der Geschichte der conquista berühmte Rio de Mocoa. Diese zwei Ströme, die sich etwas oberhalb der Mission San Agustfn von Nieta vereinigen, bilden den Jupura oder Caqueta. Die Quellen des Rio de

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Mocoa werden durch den Cerro del Portachuelo, einen Berg, der sich auf dem Plateau der Cordilleren erhebt, von dem See

(Cienega)

von Sebendoy

getrennt, welcher der Ursprung des Rio Putumayo oder I�a ist. Der Meta, der Guaviare, der Caqueta und der Putumayo sind demnach die einzigen großen Ströme, welche unmittelbar am östlichen Abhang der Anden von Santa Fe, von Popayan und von Pasto entspringen. Der Vichada, der Zama, der Inirida, der Rio Negro, der Uaupes und der Apoporis, die auf unseren Karten gleichfalls westwärts bis zu den Bergen führen, haben ihren Ur­ sprung entfernt von diesen teils in den Savannen zwischen dem Meta und dem Guaviare, teils in dem Gebirgsland, das nach den Angaben, die wir von den Eingeborenen erhielten, in der Entfernung von vier bis fünfTagesreisen westwärts der Missionen von Javita und von Maroa seinen Anfang nimmt und sich durch die Sierra Tunuhy über den Xie hin gegen die Gestade des Issana dehnt. Es ist allerdings bemerkenswert genug, daß dieser Cordillerenkamm, wel­ cher die Quellen so vieler majestätischer Flüsse -des Meta, des Guaviare, des Caqueta und des Putumayo-birgt, ebensowenig mit Schnee bedeckt ist wie die Berge Abessiniens, von denen herab der Blaue Nil kommt; hingegen gelangt man, wenn man die Flüsse, welche die Ebenen durchschneiden, hin­ aufgeht, ehe man die Cordilleren der Anden berührt, zu einem noch wirk­ lich tätigen Vulkan. Diese Erscheinung ist vor kurzem erst durch die Franzis­ kanerordensmänner, welche von Ceja auf dem Rio Fragua zum Caqueta hin­ abfahren, gemacht worden. Ein einzeln stehenderHügel, derTag und Nacht raucht, steht nordöstlich von der Mission Santa Rosa, westlich vom Puerto del Pescado. Es ist das Ergebnis einer Seitenwirkung der Vulkane von Po­ payan und von Pasto, wie der Guacamayo und der Sangay, welche gleichfalls am Fuß des östlichen Abhangs der Anden liegen, das Ergebnis einer Seiten­ wirkung des Systems der Vulkane von Quito sind. Wenn man die Gestade des Orinoco und des Rio Negro, wo der Granitfels überall zutage tritt, aus der Nähe gesehen hat, wenn man das gänzliche Nichtvorhandensein vulkani­ scher Öffnungen in Brasilien, in Guayana, auf dem Küstenland von Vene­ zuela und vielleicht auf der ganzen Abteilung des Festlandes ostwärts der Anden bedenkt, gewinnt die Ansicht der drei tätigen Vulkane in der Nähe der Quellen des Caqueta, des Napo und des Rio de Macas oder Morona da­ durch ein eigentümliches Interesse. Obgleich die imposante Größe des Rio Negro schon Orellana beein­ druckte, der ihn 1539 bei seiner Vereinigung mit dem Amazonenstrom ge­ sehen hat,

undas nigras spargens, so wurde doch erst ein Jahrhundert später

sein Ursprung von den Geographen am Abhang der Cordilleren gesucht. Die Reise Acuiias ist die Veranlassung vonHypothesen geworden, die sich bis auf unsere Zeit fortgepflanzt haben und durch dieHerren de La Conda­ mine und d'Anville über die Maßen verbreitet worden sind. Acuiia hatte

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Kapitel XXIII

1638 an der Mündung des Rio Negro vernommen, daß dessen Arm mit einem anderen großen Strom, an welchem die Holländer angesiedelt waren, zusammenhinge. Herr Southey bemerkt hierzu scharfsinnig, diese in so un­ gemein großer Entfernung von den Küsten empfangene Nachricht beweise, wie mannigfach und emsig zu jener Zeit der Verkehr der wilden Völker dieser Gegenden (vorzüglich unter denen vom Cariben-Stamm) gewesen sein müsse. Es bleibt zweifelhaft, ob die von Acufia befragten Indianer die Verbindung des Orinoco mit dem Rio Negro durch den Casiquiare, einen na­ türlichen Kanal, welchen ich von San Carlos bis Esmeralda hinaufgefahren bin, gemeint haben oder ob sie nur unbestimmt von den Portagen sprechen wollten, die zwischen den Quellen des Rio Branco und des Rio Essequibo bestehen. Acufia selbst war nicht der Meinung, daß der große Strom, dessen Mündung die Holländer im Besitz hatten, der Orinoco sei; er ahnte eine Ver­ bindung mit dem Rio San Felipe, welcher westlich vom Kap Nord mündet und auf dem seiner Meinung nach der Tyrann Lope de Aguirre seine lange Flußfahrt beendigt hatte. Diese letztere Vermutung scheint mir sehr gewagt, obgleich, wie schon oben bemerkt wurde, der Tyrann in seinem ungereimten Brief an König Philipp Il. selbst gesteht, er begreife nicht, wie er und die Seinen aus einer solchen Wassermasse sich retten konnten. Bis zur Reise Acufias und bis zu den schwankenden Angaben, welche er sich über Verbindungen mit einem anderen großen Fluß nordwärts des Ama­ zonenstroms verschafft hatte, wurde der Orinoco von den unterrichtetstell Missionaren für eine Fortsetzung des Caqueta (Kaqueta, Caketa) gehalten. "Dieser Fluß", sagt Fray Pedro Sirnon im Jahre 1625, "entspringt am östli­ chen Abhang des Paramo von Iscance. Er nimmt den Papamene auf, wel­ cher von den Anden von Neiva herkommt, und heißt nacheinander Rio Is­ cance, Tama (wegen der angrenzenden Landschaft der Tama-lndianer), Guayare, Baraguan und Orinoco." Die Lage des Paramo von Iscance, einem hohen pyramidalischen Gipfel, den ich vom Plateau von Mamendoy und von den schönen Ufern des Mayo aus gesehen habe, bezeichnet in dieser Beschreibung den Caqueta. Der Rio Papamene ist der Rio de la Fragua, welcher mit dem Rio de Mocoa einen der Hauptarme des Caqueta bildet. Wir kennen ihn aus den ritterlichen Reisen Georgs von Speier und Philipps von Rutten. Diese zwei Kriegsmänner mußten über den Ariari und den Guayavero setzen, um die Gestade des Papamene zu erreichen. Die Tama-Indianer sind noch heutzutage am nördlichen Gestade des Caqueta eine der verbreitetsten Völkerschaften. Darum darf man sich nicht wundern, daß dieser Strom nach Fray Pedro Sim6ns Angabe den Namen des Rio Tama erhalten hat. Weil die Quellen der Zuflüsse des Caqueta den Zuflüssen des Guaviare sehr nahe liegen und dieser einer der großen, sich in den Orinoco ergießenden Ströme ist, so verfiel man schon zu Anfang des 17. Jahrhunderts in den Irrtum, den Caqueta (Rio de Iscance und Papamene), den Guaviare

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(Guayare) und den Orinoco für denselben Fluß zu halten. Niemand war den Caqueta zum Amazonenstrom hinabgefahren, um sich zu überzeugen, daß der Fluß, welcher weiter unten Japura heißt, mit dem Caqueta identisch ist. Eine noch heutzutage unter den Bewohnern dieser Landschaften fortle­ bende Überlieferung, nach welcher ein Arm des Caqueta unterhalb des Zu­ sammenflusses des Caguan und des Payoya zum Inirida und zum Rio Negro geht, hat ohne Zweifel beigetragen, die Meinung zu beglaubigen, derzu­ folge der Orinoco an der Rückseite der Berge von Pasto entspringt. Wir haben gesehen, daß in Neu-Granada die Meinung herrschte, die Wasser des Caqueta wie die des Ariari, des Meta und des Apure flössen dem großen Becken des Orinoco zu. Wenn man der Richtung dieser Zuflüsse mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, würde man gemerkt haben, daß es trotz der allgemeinen östlichen Abdachung des Terrains in den Polyedern des Bodens, aus dem die Ebenen bestehen, nordöstliche und südöstliche Hänge zweiter Ordnung gibt. Ein fast unmerklicher Kamm oder eine Was­ serscheide dehnt sich auf der Parallele von 2° von den Timana-Anden gegen die Landenge, welche Javita vom Cafio Pimichin trennt, über die wir unsere Piroge bringen ließen. Nordwärts dieses Parallels von Timana ist der Lauf der Gewässer nordöstlich oder östlich gerichtet, und sie bilden die Neben­ flüsse oder die Nebenflüsse der Nebenflüsse des Orinoco. Aber südlich des Parallels von Timana, in den Ebenen, welche denen von San Juan völlig zu gleichen scheinen, fließen der Caqueta oder Japura, der Putumayo oder I�a, der Napo, der Pasta�a und der Morona in südöstlicher und in südsüdöst­ licher Richtung dem Bett des Amazonenstroms zu. Dabei ist auch bemer­ kenswert, daß diese Wasserscheide selbst nur eine Verlängerung derer ist, welche ich in den Cordilleren auf dem Weg von Popayan nach Pasto fand. Zieht man eine Wasserscheide durch Ceja (ein wenig südwärts von Timana), durch den Paramo de las Papas gegen den Alto del Roble, zwischen 1 o 45' und 2° 20' der Breite, bei 970 Toisen Erhöhung, so findet man die divortia aquarum [Wasserscheide] zwischen dem Antillen [Caribischen]-Meer und

dem Stillen Ozean. Vor Acufias Reise war es herrschende Meinung unter den Missionaren, der Caqueta, der Guaviare und der Orinoco seien nur verschiedene Namen desselben Flusses; der Geograph Sanson aber verfiel auf den Gedanken, in den von ihm nach Acufias Beobachtungen gefertigten Karten den Caqueta in zwei Arme zu teilen, deren einer der Orinoco, der andere der Rio Negro oder Curiguacuru sein sollte. Diese rechtwinklige Gabelteilung erscheint auf allen Karten von Sanson, von Coronelli, von Duval und von Delisle, seit 1656 bis 1730. Hierdurch glaubte man die Verbindung der großen Ströme zu

erklären, deren erste Kunde durch Acufia von der Mündung des Rio Negro hergeleitet worden war, und niemand ahnte, daß der Japura die eigentliche Fortsetzung des Caqueta sei. Zuweilen wurde auch der Name des Caqueta

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völlig weggelassen, und der gabelförmig sich teilende Strom mit den Namen Rio Paria oder Yuyapari belegt, welches die alten Benennungen des Orinoco sind. Delisie hat in seinen späteren Jahren die Gabelteilung des Caqueta wieder gelöscht, zum großen Bedauern von La Condamine; er zeichnete den Putumayo, den Japuni und den Rio Negro als voneinander völlig unabhän­ gige Flüsse, und um gleichsam jede Hoffnung einer Verbindung zwischen dem Orinoco und dem Rio Negro zu vertilgen, zeichnete er zwischen beiden Strömen eine hohe Bergkette. Pater Fritz hatte auch

[1722]

schon dieser

Meinung gehuldigt, welche zur Zeit des Hondius für die wahrscheinlichste gehalten wurde. Die Reise des Herrn de La Condamine, die so viel Licht über manche Teile Amerikas verbreitet hat, brachte hingegen nur Verwirrung in alles, was den Lauf des Caqueta, des Orinoco und des Rio Negro betrifft. Zwar hat dieser berühmte Gelehrte ganz richtig eingesehen, daß der Caqueta (von Mocoa) der Fluß sei, welcher im Amazonenstrom den Namen Japura führt; er hat hingegen nicht nur Sansons Hypothese angenommen, sondern die Zahl der Gabelteilungen des Caqueta vollends verdreifacht. Durch eine erste sendet der Caqueta einen Arm (den Jaoya) dem Putumayo zu; eine zweite bildet den Japura und den Rio Paragua; durch eine dritte teilt sich der Rio Paragua in zwei Ströme, den Orinoco und den Rio Negro. Dieses imagi­ näre System findet sich in der ersten Ausgabe von d'Anvilles schöner Karte von Amerika dargestellt. Es erhellt daraus, daß der Rio Negro sich vom Ori­ noco unterhalb der großen Katarakte trennt und daß man, um zur Mündung des Guaviare zu gelangen, den Caqueta oberhalb der Gabelteilung, die dem Rio Japura seinen Ursprung gibt, hinauffahren muß. Als Herr de La Conda­ mine erkannte, daß die Quellen des Orinoco sich keineswegs am Fuß der Anden von Pasto befinden, sondern daß der Strom von der Rückseite der Berge von Cayenne herkomme, änderte er seine Meinung auf eine sehr sinn­ volle Weise. Der Rio Negro entspringt nun nicht mehr aus dem Orinoco; der Guaviare, der Atabapo, der Casiquiare und die Mündung des Inirida (unter dem Namen Iniricha) erhalten auf d'Anvilles zweiter Karte ungefähr ihre richtigen Stellungen; aus der dritten Gabelteilung des Caqueta aber ent­ springen der Inirida und der Rio Negro. Dieses System wurde von Pater Caulin verteidigt, auf der Karte von La Cruz abgebildet und auf allen bis zu Anfang des

19. Jahrhunderts erschienenen

Karten wiederholt. Die Namen

Caqueta, Orinoco und Inirida können freilich die Teilnahme und die ge­ schichtlichen Erinnerungen nicht wecken, welche mit den Strömen des In­ neren von Nigritien verknüpft sind; aber die verschiedenen Mutmaßungen der Geographen des Neuen Kontinents erinnern an die seltsamen Darstel­ lungen des Niger, des Weißen Nil, des Gambaro, des Joliba und des Zaire. Von Jahr zu Jahr wird das Gebiet der Hypothesen enger beschränkt; die Auf­ gaben sind genauer bestimmt, und dieser ältere Teil der Geographie, wel-

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eher der spekulative, um nicht zu sagen divinatorische heißen könnte, findet sich in engerem Raum eingegrenzt. Also nicht an den Ufern des Caqueta, sondern an denen des Guainfa oder des Rfo Negro mag man richtige Angaben über die Quellen des letzteren Stromes erhalten. Die in den Missionen von Maroa, Tomo und San Carlos wohnenden Indianer wissen nichts von einer höher gelegenen Vereinigung des Guainfa mit dem Japura. Ich habe seine Breite dem Fortfn von San Agus­ tfn gegenüber gemessen, und sie betrug 292 Toisen; die mittlere Breite nahe bei Maroa beträgt

200 bis 250 Toisen. Herr de La Condamine schätzt sie

nahe an der Mündung in den Amazonenstrom, an der schmalsten Stelle, auf

1200 Toisen, ein Zuwachs von 1000 Toisen auf 10° Länge des Flusses in ge­ rader Entwicklung. Trotz der noch ziemlich beträchtlichen Wassermasse, die wir zwischen Maroa und San Carlos gefunden haben, versichern die In­ dianer, der Guainfa nehme seinen Ursprung fünf Flußfahrttagereisen ost­ nordwestlich von der Mündung des Pimichfn, in einem Gebirgsland, worin sich die Quellen des Infrida befänden. Da man in

10 bis 11 Tagen den Casi­

quiare von San Carlos bis zur Stelle der Gabelteilung hinauffährt, lassen sich fünfTagereisen annehmen für die Auffahrt einer viel weniger schnellen Strö­ mung auf etwas mehr als

1o 20' direkter Entfernung; demnach würden die

Quellen des Guainfa zufolge den Längenbeobachtungen, die ich in Javita und San Carlos gemacht habe,

71o 35' westlich vom Meridian der Pariser

Sternwarte zu liegen kommen. Trotz der völlig übereinstimmenden Zeug­ nisse der Eingeborenen meine ich, diese Quellen müßten noch westlicher liegen, da die Kanus nicht weiter hinauffahren können, als das Flußbett ge­ stattet. Man muß sich vor allzu bestimmten, durch die Analogie der euro­ päischen Flüsse geleiteten Aussagen über die Verhältnisse zwischen Breite und Länge des Oberteils der Ströme in acht nehmen. In Amerika erhalten die Flüsse nicht selten bei nur geringer Erweiterung einen außerordentlich großen Zuwachs des Volumens ihrer Wassermasse. Was den Guainfa im Oberlauf besonders auszeichnet, ist der Mangel an Krümmungen: Er stellt sich als ein breiter, in gerader Linie durch eine dichte Waldung ziehender Strom dar; sooft er seine Richtung ändert, bietet er dem Auge Aussichten von gleicher Länge. Die Ufer sind hoch, aber eben und selten felsig. Der von ungemein starken weißen Quarzadern durchzogene Granit tritt meist nur in der Mitte des Flußbetts zutage. Bei der nordwestli­ chen Auffahrt des Guainfa wird die Strömung mit jedem Tag schneller. Die Flußgestade sind öde, und erst gegen die Quellen

(las cavezeras) hin wird

das Bergland von Manivas- und Poignaves-Indianern bewohnt. Die Quellen

2 bis 3 Iieues von denen des Guainfa entfernt. Man könnte dort eine Portage ein­

des Infrida (Iniricha) sind, wie mir die Eingeborenen sagten, nur

richten. Pater Caulin hat in Cabruta aus dem Munde eines Indianerhäupt­ lings, welcher Tapo hieß, vernommen, daß der Infrida sich dem Patavita

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(Paddavida, der Karte von La Cruz), welcher ein Zufluß des Rio Negro ist, stark nähert. Die Einwohner der Ufer des oberen Guainia kennen weder diesen Namen noch den eines Sees (Laguna del Rio Negro), welcher auf alten portugiesischen Karten vorkommt. Dieser angebliche Rio Patavita ist wahrscheinlich nichts anderes als der Guainia der Indianer von Maroa; denn solange die Geographen an die Gabelteilung des Caqueta glaubten, ließen sie den Rio Negro aus diesemArm und aus einem Fluß entspringen, welchen sie Patavita nannten. Den Angaben der Einwohner zufolge sind die Berge an den Quellen des Inirida und des Guainia nicht höher als der Baraguan, dessen Höhe meiner Messung nach 120 Toisen beträgt. Handschriftliche portugiesische Karten, die neuerlich vom Hydrographi­ schen Depot von Rio de Janeiro verfertigt worden sind, bestätigen die Vor­ stellungen, welche ich mir an Ort und Stelle gebildet habe. Sie bezeichnen keine der vier Verbindungen des Caqueta oder Japura mit dem Guainia (Rio Negro), Inirida, Uaupes (Guapue) und Putuamayo; sie stellen jeden dieser Zuflüsse als einen unabhängigen Strom dar, und die Quellen des Guainia sind nur zu 2° 15' westlich vom Meridian von Javita angegeben. Der Rio Uaupes, einer der Zuflüsse des Guainia, scheint seinen Lauf viel weiter westlich auszudehnen als der Guainia selbst, und seine Richtung ist so be­ schaffen, daß kein Arm des Caqueta, ohne ihn zu durchschneiden, den oberen Guainia erreichen könnte. Ich will am Schluß dieser Erörterung noch einen unmittelbaren Beweis aufführen, welcher die Behauptung derer widerlegt, die den Guainia wie den Guaviare und den Caqueta am östlichen Abhang der Anden entspringen lassen. Während meines Aufenthalts in Po­ payan erhielt ich vom guardüin des Franziskanerklosters, Fray Francisco Pugnet, einem liebenswürdigen und verständigen Mann, sehr zuverlässige Nachrichten über die Missionen der Andaquies, worin er sich lange aufge­ halten hatte. Dieser Pater hat eine beschwerliche Reise von den Gestaden des Caqueta an die des Guaviare unternommen. Seit Philipp von Rutten (Urre) und den ersten Zeiten der Eroberung hatte kein Europäer diese un­ bekannte Landschaft besucht. Aus der Mission von Caguan, die am Rio Ca­ guan, einem der Zuflüsse des Caqueta, liegt, nahm der Pater Pugnet seinen Weg durch eine unermeßliche, völlig baumlose Savanne, deren östlicherTeil von Tama- und Coreguaje-Indianern bewohnt wird. Nach sechs Tagereisen in nördlicher Richtung gelangte er an einen kleinen Ort, welcher Aramo heißt, an den Ufern des Guayavero, etwa 15 Iieues westlich von der Stelle, wo der Guayaveo und der Ariari den großen Rio Guaviare bilden. Aramo ist das westlichste Dorf der Missionen von San Juan de los Llanos. Der Pater Pugnet hörte dort von den großen Katarakten des Rio Guaviare sprechen (von denjenigen ohne Zweifel, welche der Vorsteher der Missionen des Ori­ noco, als er von San Fernando deAtabapo den Guaviare hinauffuhr, besucht hatte); aber er mußte, um von Gaguan nach Aramo zu kommen, über

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keinen Fluß setzen. Zweifellos sind unter 75o Länge auf 40 Iieues Entfernung vom Cordilleren-Abhang mitten in den Llanos weder der Rio Negro (Pata­ vita, Guainia) noch der Guapue (Uaupe), noch der Inirida zu finden; die drei Ströme entspringen ostwärts von diesem Meridian. DieseAngaben sind äußerst wichtig; die Geographie des inneren Afrika ist nicht verworrener als die der Landschaft zwischen dem Atabapo und den Quellen des Meta, des Guaviare und des Caqueta. "Man begreift kaum, wie es möglich ist", sagt Herr Caldas in einer in Santa Fe de Bogota erscheinenden wissenschaftli­ chen Zeitschrift, "daß wir keine Karte von den Ebenen besitzen, die am öst­ lichen Abhang der Berge anfangen, welche uns täglich vor Augen liegen und auf denen die Kapellen von Guadalupe und Montserrat erbaut sind. Nie­ mand kennt weder die Breite der Cordilleren noch den Lauf der sich in den Orinoco und in den Amazonenstrom ergießenden Gewässer, und doch werden in glücklicheren Zeiten einst über eben diese Ströme, den Meta, den Guaviare, den Rio Negro und den Caqueta, die Bewohner von Cundina­ marca mit denen von Brasilien und Paraguay verkehren." Ich weiß wohl, daß in den Missionen der Andaquies ziemlich allgemein verbreiteter Glaube ist, der Caqueta gebe zwischen den Mündungen des Rio de la Fragua und des Caguan dem Putumayo einen Arm ab, und weiter hinab, unterhalb der Mündung des Rio Payoya, gehe ein zweiter Arm von ihm aus zum Orinoco; doch diese Meinung beruht nur auf einer schwan­ kenden Überlieferung der Indianer, welche nicht selten die Portagen mit den Gabelteilungen verwechseln. Die Katarakte an der Mündung des Payoya und die Grausamkeit der Huaques-Indianer, die auch "Murcielagos" (Fledermäuse) heißen, weil sie den Gefangenen das Blut aussaugen, halten die spanischen Missionare ab, den Caqueta hinunterzufahren. Kein Weißer hat je den Weg von San Miguel de Mocoa an den Zusammenfluß des Caqueta mit dem Amazonenstrom unternommen. Die portugiesischen Astronomen sind zur Zeit der ersten Grenzkommission anfänglich den Caqueta hinaufge­ fahren bis oo 36' südlicher Breite, nachher den Rio de los Engaiios (den "trü­ gerischen Strom") und den Rio Cunare, welche Zuflüsse des Caqueta sind, bis zu oo 28' nördlicher Breite. Auf dieser Flußfahrt haben sie keinen Arm des Caqueta nordwärts austreten sehen. Der Amu und der Yabilla, deren Quellen sie gerrau untersucht haben, sind kleine Flüsse, die sich in den Rio de los Engaiios und, mit ihm vereint, in den Caqueta ergießen. Die Gabeltei­ lung, sofern es eine solche gibt, könnte demnach nur in dem sehr kurzen Raum zwischen dem Zufluß des Payoya und dem zweiten Katarakt, ober­ halb der Mündung des "trügerischen Stromes" gesucht werden; ich wieder­ hole aber, daß der Lauf dieses Flusses sowie der des Cunare, des Apoporis und des Uaupes verhindern würden, diesen angeblichenArm des Caqueta in den oberen Guainia zu erreichen. Alles scheint das Dasein einer Schwelle, einer Erhöhung von Gegenhängen [das heißt einer Wasserscheide] zwischen

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den Zuflüssen des Caqueta und denen des Uaupes und des Rio Negro anzu­ deuten. Mehr noch: Wir haben mittels der Höhe des Quecksilbers im Baro­ meter die absolute Erhöhung des Bodens über den Gestaden des Pimichin zu

130 Toisen

gefunden. Vorausgesetzt, daß das Bergland in der Nähe der

Quellen des Guainia

50 Toisen

höher ist als der Boden von Javita, so folgt

daraus, daß das Flußbett in seinem oberen Teil wenigstens

200 Toisen über

der Meeresfläche liegt; eine Höhe, die das Barometer uns nicht beträcht­ licher angegeben hat für die Ufer des Amazonenstroms nahe Tomependa in der Provinz Jaen de Bracamoros. Bedenkt man nun den schnellen Fall dieses unermeßlichen Flusses von Tomependa bis zum Meridian von

75°,

erinnert

man sich der Entfernung der Missionen am Rio Caguan von der Cordillere, so steht es außer Zweifel, daß das Bett des Caqueta unterhalb der Mün­ dungen des Caguan und des Payoya nicht viel niedriger sein könne als das des oberen Guainia, dem es einen Teil seiner Gewässer abgeben muß. Dazu kommt, daß das Wasser des Caqueta völlig weiß, das des Guainia hingegen schwarz oder kaffeebraun ist. Das Schwarzwerden eines zuvor weißen Stroms ist aber ohne Beispiel. Der obere Guainia kann also kein Arm des Caqueta sein. Ich zweifle selbst, ob mit Grund angenommen werden könne, daß der Guainia als unabhängiger Hauptsammler südwärts auch nur einiges Wasser durch eine Seitenverästelung empfange. Die kleine Berggruppe, die wir bei den Quellen des Guainia kennenzu­ lernen Gelegenheit hatten, ist um so merkwürdiger, als sie in der südwestlich vom Orinoco sich ausdehnenden Ebene vereinzelt steht. Ihre Lage, der Länge zufolge, könnte glauben lassen, sie dehne sich in einem Kamm aus,

(angostura) (saltos, cachoeiras) des

welcher anfangs den Engpaß

des Guaviare und danach die

großen Katarakte

Uaupes und des Japura bilde.

Sollte dieser Boden, der wahrscheinlich gleich dem mehr östlich von mir un­ tersuchten aus Urgestein besteht, zerstreutes Gold enthalten? Sollten sich weiter südlich, gegen den Uaupes hin, am Iquiare (Iguiari, Iguari) und am

Yurubesh (Yurubach, Urubaxi) Goldwäschen befinden? Hier hatte Philipp von Rutten zuerst das Dorado gesucht und mit einer Handvoll Menschen das im

16. Jahrhundert so berühmte Treffen mit den Omagua geliefert. Wenn

von den Erzählungen der conquistadores die fabelhafte Ausschmückung ge­ trennt wird, mag allerdings in den unverändert erhaltenen Ortsnamen eine Grundlage historischer Wahrheit erkannt werden. Man folgt dem Zug Hut­ tens über den Guaviare und den Caqueta; in den durch den Kaziken von Ma­ catoa beherrschten Guaypes finden sich die Anwohner des Uaupes, der auch die Namen Guape oder Guapue führt; man erinnert sich, daß der Pater Acufia den Iquiari

( Quiguiare)

einen Goldstrom nennt und daß fünfzig

Jahre später der Pater Fritz, ein sehr glaubwürdiger Missionar, in seiner Mis­ sion von Yurimaguas den Besuch der mit Blechen aus geschlagenem Gold geschmückten Manaos

(Manoas)

empfing, welche von der zwischen dem

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Uaupes und dem Caqueta oder Japura gelegenen Landschaft herkamen. Die auf dem östlichen Abhang der Anden entspringenden Flüsse (der Napo zum Beispiel) führen viel Gold, wenn auch ihre Quellen im Trachyt-Boden liegen. Warum sollte auf der Ostseite der Cordilleren kein goldhaltiger An­ schwemmungsboden vorhanden sein wie westwärts in Sonora, in Choco und in Barbacoas? Weit entfernt, die Reichtümer dieser Landschaft übertreiben zu wollen, kann ich mich jedoch auch nicht für befugt halten, das Vor­ kommen edler Metalle in den Vorgebirgen von Guayana nur zu leugnen, weil wir auf unserer Reise durch dieses Land keinen Erzgang gesehen haben. Es ist allerdings bemerkenswert, daß die Eingeborenen am Orinoco in ihren Sprachen einen Namen zur Bezeichnung des Goldes haben (caru­

curu in der Cariben-, caricuri in der Tamanaken- und cavitta in der Maipures­ Sprache), wogegen das Wort, dessen sie sich für die Bezeichnung des Silbers bedienen, prata, offenbar aus dem Spanischen entlehnt ist. Die von Acufia, dem Pater Fritz und La Condamine gesammelten Nachrichten über die süd­ ' und nördlich vom Rio Uaupes befindlichen Goldwäschen treffen zusammen mit dem, was auch mir über das goldhaltige Terrain dieser Landschaft zu Ohren gekommen ist. Wie bedeutend immerhin die Verbindungen der Völker am Orinoco vor der Ankunft der Europäer gewesen sein mögen, so haben sie doch zuverlässig ihr Gold nicht vom östlichen Abhang der Cordil­ leren erhalten. Dieser Abhang besitzt nur wenige, besonders in früherer Zeit bearbeitete Erzgruben; er besteht in den Provinzen von Popayan, Pasto und Quito fast nur aus vulkanischen Gebirgsarten. Wahrscheinlich ist das Gold von Guayana aus dem Land ostwärts der Anden gekommen. Noch zu unserer Zeit wurde ein Goldgeschiebe in einer Schlucht unfern von der Mis­ sion Encaramada gefunden, und man darf sich nicht wundern, daß von der Zeit der Ansiedlung der Europäer in diesen wilden Gegenden an weniger von Goldblechen, Goldstaub und Jadeamuletten die Rede gewesen ist, welche vormals von den Cariben und einigen anderen umherziehenden Völ­ kern eingetauscht werden konnten. Die edlen Metalle sind an den Ufern des Orinoco, des Rio Negro und des Amazonenstroms nie in großer Menge vor­ handen gewesen. Sie verschwanden fast gänzlich, sobald das Regiment der Missionen den entfernteren Verbindungen zwischen den Eingeborenen ein Ende setzte.

[Zum Charakter des innertropischen Klimas] Das Klima des oberen Guainfa ist weniger heiß und vielleicht auch etwas weniger feucht als das der Gestade des Tuamini. Ich fand die Temperatur des Rio-Negm-Wassers im Monat Mai bei 23,9°; die der Luft betrug am Tag

22,7°; nachts 21,8° der Centesimalskala. Diese Kühle des Wassers, die der des Kongo fast gleichkommt, ist in solcher Nähe des Äquators sehr merk-

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würdig. Der Orinoco zeigt zwischen 4 und 8 Breitegraden überhaupt eine Temperatur von 27,5 bis 29 ,5°. Die im Granit entspringenden Quellen von Maipures zeigen 27,8°. Die Wärmeabnahme, die bei der Annäherung des Äquators bemerkt wird, trifft sonderbar mit den Hypothesen einiger Natur­ forscher des Altertums zusammen; inzwischen ist diese nur eine örtliche Er­ scheinung und weniger das Ergebnis der Höhe des Bodens als vielmehr eines stets regnerischen und bewölkten Himmels, des feuchten Bodens, der dichten Wälder, der Ausdünstung der Gewächse und des Mangels sandiger Ufer, die geeignet wären, den Wärmestoff zu konzentrieren und ihn durch Ausstrahlung zurückzusenden. Der Einfluß eines durch Dünste bedeckten Himmels zeigt sich im Küstenstreifen von Peru, wo niemals Regen fällt und die Sonne einen großen Teil des Jahres hindurch zur Zeit der garua (Nebel) sich dem bloßen Auge wie die Mondscheibe darstellt. Zwischen den Paral­ lelen von 10 und 12o südlicher Breite beträgt die mittlere Temperatur dort kaum mehr als die von Algier und Kairo. An den Gestaden des Rio Negro regnet es beinahe das ganze Jahr über, den Dezember und Januar ausge­ nommen. In der trockenen Jahreszeit zeigte sich sogar der blaue Himmel selten zwei bis drei Tage. Bei heiterem Wetter scheint die Wärme um so größer, weil das übrige Jahr hindurch, obgleich die nächtliche Temperatur 21

o

beträgt, die Einwohner nachts über Kälte klagen. In San Carlos habe ich

die in Javita angestellten Beobachtungen über den Betrag des in einem be­ stimmtem Zeitraum fallenden Regens wiederholt. Diese Untersuchungen sind wichtig zur Erklärung der ungeheuren Wasserhöhe, die in den nahe beim Äquator befindlichen Strömen eintreten, von denen lange geglaubt wurde, sie empfingen ihre Gewässer vom Schnee der Cordilleren. Ich habe zu verschiedenen Zeiten in zwei Stunden 7,5 Linien Regen fallen sehen, in drei Stunden 18 Linien, in neun Stunden 48 ,2 Linien. Da es unaufhörlich regnet (es ist ein feiner, aber sehr dichter Regen), glaube ich, daß die in diesen Wäldern jährlich fallende Regenmasse nicht unter 90 bis 100 Zoll be­ tragen könne. Die Richtigkeit dieser Berechnung, wie außerordentlich sie auch scheinen mag, wird durch die Beobachtungen bestätigt, welche der In­ genieuroberst, Herr de Costanzo, im Königreich Neu-Spanien mit viel Sorg­ falt angestellt hat. In Veracruz sind 1803 allein in den Monaten Juli, August und September 35 Zoll 9 Linien (Königliche Fuß) und im ganzen Jahr 62 Zoll2 Linien Regenwasser gefallen. Inzwischen findet sich ein großer Unter­ schied zwischen dem Klima der kahlen, dürren Küsten von Mexico und dem der Wälder. Auf diesen Küsten fällt kein Tropfen Regen im Dezember und Januar, und die Monate Februar, April und Mai liefern allgemein nicht über 2 Zoll bis 2 Zoll 3 Linien; in San Carlos hingegen scheint sich die Atmo­ sphäre neun bis zehn Monate ununterbrochen in Wasser aufzulösen. In diesen feuchten Klimaten würde der Erdboden innerhalb eines Jahres mit einer acht Fuß tiefen Wasserschicht bedeckt sein, wenn weder Verdunstung

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nochAbfluß des Wassers stattfände. Diese Äquatorialregen, welche die ma­ jestätischen Ströme Amerikas speisen, sind von elektrischen Explosionen begleitet, und während man es am einen Ende dieses Kontinents, an der Westküste von Grönland, in fünf bis sechs Jahren kaum ein einziges Mal donnern hört, folgen hier, in der Nähe des Äquators, die Gewitter sich fast täglich. Das Zusammentreffen der elektrischen Explosionen und des Regen­ niederschlags kann jedoch keineswegs zur Bekräftigung der alten Hypo­ these einer Wasserbildung in der Luft durch Verbindung des Sauerstoffs mit dem Wasserstoff dienen. Dieser ist bis zu 3600 Toisen Höhe vergeblich ge­ sucht worden. Die Menge des in gesättigter Luft enthaltenen Wassers ver­ mehrt sich viel schneller von 20 zu 25° als von 10 zu 15°. Ein einziger Kälte­ grad erzeugt demnach mehr sichtbare Dünste in der heißen als in der gemä­ ßigten Zone. Eine mittels der Strömung beständig erneuerte Luft vermag durch einfachen Niederschlag die ganze Wassermasse zu liefern, welche in den Äquatorialregen der Phantasie der Naturforscher so auffallend er­ scheinen muß. Die Farbe des Rfo-Negro-Wassers ist (infolge Reflexion) dunkler als die desAtabapo und Tuamini. Nicht ohne Befremden habe ich wahrgenommen, daß selbst die Beimischung der weißen Wasser des Casiquiare [Mischwas­ serfluß! Anmerkung des Hrsg.] sein Kolorit unterhalb des Fortins von San Carlos nur wenig ändert. Der Verfasser der modernen Chorographie Brasi­ liens sagt sehr richtig, der Fluß habe eine Bernsteinfarbe überall, wo er untief sei, wo sein Wasser hingegen sehr tief gehe, sei er allenthalben braunschwarz wie Kaffeesatz. Der Name Curana, welchen die Eingeborenen dem unteren Guainfa geben, bedeutet gleichfalls schwarzes Wasser. Die Vereinigung des Guainfa oder Rfo Negro mit demAmazonenstrom wird im Gouvernement von Gran Pani für so wichtig gehalten, daß der Rfo das Amazonas seinen Namen westwärts des Rfo Negro verliert und fortan den des Rfo dos Soli­ möes (eigentlich Sorimöes, mit Anspielung auf das Gift der Nation der So­ riman) annimmt. Westwärts des Ucayali führt der Amazonenstrom den Namen Rio Maranhäo [port.] oder Maraii6n.

[Von tropischen Zugvögeln] Die Ufer des oberen Guainfa sind von viel weniger fischfangenden Vögeln bewohnt als die des Casiquiare, des Meta und desAranca, wo den Ornitho­ logen überaus reiche Ausbeute zur Vermehrung der europäischen Samm­ lungen zu Gebote stehen. Die Seltenheit dieser Tiere beruht wohl teils auf dem Mangel an Untiefen und niedrigen Ufern, teils auf der Beschaffenheit dieser Schwarzen Wasser, die (ihrer Reinheit wegen) den Wasserinsekten und Fischen weniger Nahrung bieten. Trotz dieser Seltenheit nähren sich die

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Indianer der Gegend zweimal im Jahr von Zugvögeln, welche auf ihren weiten Wanderungen auf den Gewässern des Rio Negro ausruhen. Wenn im Orinoco das erste Hochwasser eintritt, nach dem Frühlingsäquinoktium nämlich, zieht eine unzählbare Menge Enten

(patos carreteros) von 8 und 3o

nördlicher Breite zu 1 und 4° südlicher Breite in südsüdöstlicher Richtung. Diese Tiere verlassen dann das Tal des Orinoco, vermutlich weil die zuneh­ mende Tiefe der Wasser und die Überschwemmung der Ufer sie am Fang der Fische, Insekten und Wassergewürme hindern. Sie werden dann beim Über­ gang des Rfo Negro zu Tausenden getötet. Sie erscheinen auf der Reise zum Äquator sehr fett und schmackhaft; wenn hingegen im September, da der Orinoco fällt und in sein Bett zurücktritt, die Enten- sei es durch die Stimme der erfahrensten Zugvögel belehrt oder durch den inneren Trieb geleitet, der, weil er nicht erklärt werden kann, Instinkt heißt- vom Amazonenstrom und vom Rfo Branco ihre Rückreise nach Norden unternehmen, sind sie zu mager, um die Eßlust der Indianer des Rfo Negro zu reizen.; sie entgehen der Verfolgung dann um so eher, da sie von einer Art Reiher

(gavanes) begleitet

werden, die eine vortreffliche Nahrung abgeben. So speisen dann die Einge­ borenen im März Enten und im September Reiher. Sie konnten uns nicht sagen, was zur Zeit der Hochwasser des Orinoco aus den gavanes wird und warum diese die patos

carreteros auf ihren Wanderungen vom Orinoco zum

Rio Branco nicht begleiten. Diese regelmäßigen Reisen der Vögel aus einem Tropenland ins andere, in einer Zone, deren Temperatur das ganze Jahr hin­ durch unverändert bleibt, sind sehr außerordentliche Erscheinungen. Auch auf den Südküsten der Antillen-Inseln treffen alljährlich zur Zeit der Über­ schwemmungen der großen Ströme der Tierra Firme zahlreiche Schwärme von Zugvögeln vom Orinoco und seinen Zuflüssen ein. Es ist wahrschein­ lich, daß die Wechsel von Trockenheit und Feuchtigkeit in den Äquinoktial­ ländern auf die Gewohnheiten der Tiere ähnliche Wirkungen haben wie in unseren Zonen die großen TemperaturwechseL Die Sommerwärme und die Insektenjagd locken die Kolibris in die nördlichen Länder der Vereinigten Staaten und nach Kanada bis zu den Parallelkreisen von Paris und Berlin; ebenso zieht ein erleichterter Fischfang die Schwimmvögel und die Stelzen­ läufer von Norden nach Süden, vom Orinoco zum Amazonenstrom. Kaum ist eine andere Erscheinung wunderbarer und in geographischer Hinsicht noch weniger aufgeklärt als die Richtung, die Ausdehnung und die Grenzen der Züge der Vögel. *

Sobald wir aus dem Pimichfn in den Rfo Negro gelangt waren und den kleinen Katarakt beim Zusammenfluß beider Ströme passiert hatten, ent­ deckten wir in einer Viertelstunde Entfernung die Mission Maroa. Dieses Dorf, worin 150 Indianer wohnen, bot einen überraschend wohlhabenden

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und gedeihlichen Anblick. Wir kauften hier etliche schöne Arten lebendiger Tukane

(piapoco),

eines kühnen Vogels, dessen Intelligenz sich wie die un­

serer zahmen Raben entwickelt. Oberhalb von Maroa kamen wir zu unserer Rechten erst an der Mündung des Aquio, danach an der des Tomo vorbei. An den Ufern dieses letzteren Flusses wohnen die Cheruvichachena-In­ dianer, wovon ich einige Familien zu San Francisco Solano gesehen habe. Nebenbei ist derTomo durch die heimlichen Verbindungen bemerkenswert, die er mit den portugiesischen Besitzungen begünstigt. Er nähert sich dem Rfo Guaicia

(Xie),

und die Mission von Tomo erhält zuweilen auf diesem

Wege Indianer-Flüchtlinge des unteren Guainfa. Wir betraten die Mission nicht, aber der Pater Zea erzählte uns lächelnd, wie die Indianer vonTomo und Moroa einst in großen Aufstand gerieten, als sie gezwungen werden sollten, den berüchtigtenTeufelstanz auszuführen. Der Missionar hatte den Einfall, die Zeremonien, wodurch die

piaches,

welche gleichzeitig Priester,

Ärzte und Zauberer sind, den bösen Geist jolokiamo beschwören, auf eine possierliche Art nachäffen zu lassen. Er glaubte, im Teufelstanz ein treffli­ ches Mittel zu finden, um seine Neubekehrten zu überzeugen, daß der jolo­

kiamo nun weiter keine Gewalt über sie habe.

Etliche den Zusagen des Mis­

sionars vertrauende Indianer waren bereit, die Rolle der Teufel zu über­ nehmen; auch hatten sie schon die Jaguarfelle mit langen Schleppschwänzen angezogen und sich mit schwarzen und gelben Federn geschmückt. Der Platz vor der Kirche wurde mit den in die Mission verlegten Soldaten um­ stellt, damit das Vorhaben der Ordensmänner desto besser Eingang finden könne. Die Indianer, welche dem Erfolg dieses Tanzes und der verhei­ ßenden Ohnmacht des bösen Geistes nicht recht trauten, wurden genötigt, dem Fest beizuwohnen. Nun aber gewann die Partei der Alten und Furcht­ samen die Oberhand; ein abergläubischer Schrecken bemächtigte sich ihrer, und jedermann wollte

al monte

[in den Wald) fliehen, so daß der Missionar

sein Vorhaben, den Dämon der Eingeborenen zu verspotten, auf weitere Zeit zu verschieben gutfand. Was für seltsame Einfälle erzeugt nicht die Phantasie eines müßigen Mönchs, der sein Leben in den Wäldern zubringt, entfernt von allem, was ihn mit menschlicher Zivilisation in Verbindung halten könnte! Der Eifer, womit inTomo der geheimnisvolleTeufelstanz öf­ fentlich dargestellt werden sollte, ist jedoch um so befremdlicher, als alle schriftlichen Berichte der Missionare von ihren Bemühungen Kunde geben, die Totentänze, die "Tänze der heiligen Trompete" und den alten "Schlan­ gentanz", den queti, auszurotten, worin die listigenTiere dargestellt werden, welche vom Wald herkommen und mit den Menschen trinken, um sie zu hin­ tergehen und ihnen die Frauen zu rauben. Nach zweistündiger Fahrt trafen wir bei der Mündung des Tomo in der kleinen Mission von San Miguel de Davipe ein, die 1775 nicht von einem Or­ densmann, sondern von einem Leutnant der Miliz, Don Francisco Boba-

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dilla, gegründet worden war. Der Missionar dieser Station, der Pater Mo­ rillo, bei dem wir ein paar Stunden verweilten, empfing uns sehr gast­ freundlich; er setzte uns sogar Madeirawein vor. Als Tafelluxus hätten wir ein Stück Weizenbrot vorgezogen. Die Entbehrung des Brotes wird auf die Dauer empfindlicher als die eines geistigen Getränks. Die Portugiesen vom Amazonenstrom bringen von Zeit zu Zeit kleine Vorräte von Madei­ rawein an den Rio Negro, und da das Wort madera im Kastilianischen Holz bedeutet, tragen arme Mönche, die im Studium der Geographie wenig be­ wandert sind, Bedenken, das Meßopfer mit Madeirawein zu begehen; sie hielten ihn für einen aus einem Baumstamm herrührenden, gegorenen Saft wie den Palmwein, und sie verlangten vom guar düin der Missionen Auf­ schluß, ob der vino de madera ein Traubenwein (de u vas) oder der Saft eines Baumes (vino dealgunpalo) sei. Schon in den ersten Zeiten nach der

conquista war Zweifel aufgestiegen, ob den Priestern gestattet werden könne, sich zum Meßopfer eines dem Traubenwein ähnlichen gegorenen Pflanzensaftes zu bedienen. Die Frage wurde, wie man denken kann, ver­ neinend entschieden. Wir kauften in Davipe einige Speisevorräte, hauptsächlich Hühner und ein Schwein. Dieser Einkauf hatte großen Wert für unsere Indianer, die lange kein Fleisch gegessen hatten. Sie drängten uns zur Abreise, um die Insel Dapa zu erreichen, wo das Schwein geschlachtet und nachts gebraten werden sollte. Kaum hatten wir Zeit, im Kloster (convent o) große Haufen von Maniharz und das Tauwerk zu untersuchen, welches aus dem Palmbaum

chiquichiqui verfertigt wird und in Europa bekannter zu sein verdiente. Dieses Tauwerk ist überaus leicht; es schwimmt auf dem Wasser und ist zum Gebrauch für Stromfahrten dauerhafter als Tauwerk aus Hanf. Auf der See erfordert seine Erhaltung öftere Befeuchtung und Schutz vor der bren­ nenden Sonne des Tropenhimmels. Der durch seine Reise zur Erforschung des Parima-Sees im Land berühmte Don Antonio Santos ist es, welcher die Indianer des spanischen Rio Negro die Blattstiele des chiquichiqui zu be­ nutzen gelehrt hat, eines Palmbaums mit gefiederten Blättern, von dem uns weder die Blüten noch die Früchte zu Gesicht gekommen sind. Dieser Of­ fizier ist der einzige Weiße, welcher von Angostura nach Gran Pani auf dem Landweg von den Quellen des Rio Caroni zu denen des Rio Branco gelangt ist. Er hatte die Verfertigung des Tauwerks aus der Chiquichiqui-Palme in den portugiesischen Kolonien erlernt und diesen Industriezweig nach seiner Rückkehr vom Amazonenstrom in den Missionen von Guayana eingeführt. Es wäre zu wünschen, daß große Seilereien an den Gestaden des Rio Negro und des Casiquiare errichtet werden könnten, um dieses Tauwerk zu einem Gegenstand des Handelsverkehrs für Europa zu machen. Eine kleine Menge davon wird bereits von Angostura [ Ciudad Bolivar] nach den An­ tillen ausgeführt. Sie werden hier um 50 bis 60% wohlfeiler verkauft als die

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Taue aus Hanf. Weil nur junge Palmbäume dafür benutzt werden können, müßten diese angepflanzt und kultiviert werden. Ein wenig oberhalb der Mission von Davipe nimmt der Rio Negro einen Arm des Casiquiare auf, dessen Dasein eine sehr merkwürdige Erscheinung in der Geschichte der Stromverzweigungen ist. Dieser Arm geht nordwärts von Vasiva vom Casiquiare aus, unter dem Namen des Itinivini; und nachdem er eine flache und fast völlig unbewohnte Landschaft in einer Länge von 25 Iieues durchzogen hat, ergießt er sich in den Rfo Negro als Rfo Conorichite. Er schien mir nahe seiner Mündung über 120 Toisen breit zu sein; er vergrößert das Volumen seines schwarzen durch eine große Masse weißen Wassers. Obgleich der Conorichite eine sehr reißende Strömung hat, kürzt man die Fahrt von Davipe nach Esmeralda durch diesen natürlichen Kanal um drei Tagereisen ab. Man kann über die doppelte Verbindung zwi­ schen dem Casiquiare und dem Rfo Negro nicht erstaunt sein, wenn man sich erinnert, wie viele amerikanische Ströme bei ihrem Zusammenfluß mit anderen StrömenArten von Deltas bilden. So ergießen sich der Rio Branco und der Rfo Japuni mit zahlreichen Armen in den Rio Negro und in den Amazonenstrom. Beim Japura gibt es noch eine viel außerordentlichere Er­ scheinung. Ehe dieser Fluß sich mit dem Amazonenstrom verbindet, ent­ sendet er, der der Hauptsammler ist, dreiArme- Uaranapu, Manhama und Avateparana- zum Japura, welcher doch nur ein Nebenfluß ist. Der portu­ giesische Astronom, Herr Ribeiro, hat diese bedeutende Tatsache festge­ stellt. Der Amazonenstrom gibt sein Wasser an den Japura ab, bevor er selbst diesen Nebenfluß aufnimmt. Der Rfo Conorichite oder Itinivini hat früher eine wichtige Rolle im Skla­ venhandel der Portugiesen auf spanischem Boden gespielt. Die Sklaven­ händler fuhren den Casiquiare und den Cafio Mee aufwärts in den Conori­ chite; von da brachten sie ihre Piroge durch eine Portage zu den Rochelas von Manuteso, um in den Atabapo zu gelangen. Ich habe diesen Weg auf meiner Reisekarte des Orinoco verzeichnet. Dieser abscheuliche Handel hat bis gegen 1756 gedauert. Die Expedition von Solano und die Errichtung der Missionen an den Gestaden des Rfo Negro haben ihm ein Ende ge­ macht. Alte von Karl V. und von Philipp III. erlassene Gesetze hatten unter den schwersten Strafen (wie der Verlust bürgerlicher Ämter und Geldbußen von 2000 Piastern) "die Glaubensbekehrung der Eingeborenen durch ge­ waltsame Mittel und den Gebrauch von Soldaten gegen sie" untersagt; trotz dieser humanen und weisen Gesetze hat der Rfo Negro noch um die Mitte des verflossenen Jahrhunderts, wie Herr de La Condamine sich ausdrückt, der europäischen Politik kein anderes Interesse gewährt als die Erleichte­ rung der entradas oder feindseligen Überfälle und die Begünstigung des Sklavenverkaufs. Die Cariben, ein Handel und Krieg treibendes Volk, er­ hielten von Portugiesen und Holländern Messer, Angeln, Spiegelehen und

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allerlei Glaswaren. Sie reizten die indianischen Häuptlinge zu gegenseitigen Fehden auf; sie kauften ihnen die Gefangenen ab und führten zugleich noch andere weg, deren sie sich durch List oder Gewalt bemächtigen konnten. Diese Überfälle der Cariben umfaßten ein sehr ausgedehntes Gebiet. Sie nahmen ihren Weg von den Gestaden des Essequibo und des Caroni durch den Rupunuri und den Paraguamuzi einerseits in gerader südlicher Richtung zum Rio Branco; andererseits in südwestlicher Richtung mittels der Por­ tagen zwischen dem Rio Paragua, dem Caura und dem Ventuari. Nachdem sie bei den zahlreichen Völkerschaften des oberen Orinoco eingetroffen waren, trennten sich die Cariben in verschiedene Abteilungen, um durch den Casiquiare, den Cababury, den Itinivini und den Atabapo an vielen Stellen zugleich die Gestade des Guainia oder Rio Negro zu erreichen und mit den Portugiesen Sklavenhandel zu treiben. So ist den unglücklichen Ein­ geborenen die Nähe der Europäer verderblich geworden, lange bevor sie mit ihnen in Berührung kamen. Die gleichen Ursachen haben allenthalben gleiche Wirkungen zur Folge. Der barbarische Handel, den zivilisierte Völker an der afrikanischen Küste getrieben haben und zum Teil noch treiben, dehnt seinen verderblichen Einfluß bis in Gegenden aus, wo das Dasein weißer Menschen völlig unbekannt ist. Nachdem wir die Mündung des Conorichite und die Mission von Davipe verlassen hatten, trafen wir bei Sonnenuntergang auf der Insel Dapa ein, die mitten im Strom eine sehr malerische Lage hat. Zu unserem größten Er­ staunen fanden wir hier einiges bebautes Land und auf einem kleinen Hügel eine indianische Hütte. Vier Eingeborene saßen um ein Feuer aus Strauch­ werk und aßen eine Art weißen schwarzgefleckten Teig, der unsere Neu­ gierde nicht wenig reizte. Es waren vachacos, große Ameisen, deren Hinter­ teil einem Fettknopf gleicht. Sie waren gedörrt und im Rauch geschwärzt worden. Wir sahen mehrere Säcke voll über dem Feuer hängen. Die guten Leute achteten nur wenig auf uns; inzwischen fanden sich in der engen Hütte über 14 Personen, die völlig nackt in übereinander angebrachten Hänge­ matten lagerten. Als der Pater Zea eintraf, wurde er mit großen Freudenäu­ ßerungen empfangen. Der Grenzwache wegen finden sich am Rio Negro mehr Soldaten als an den Ufern des Orinoco, und allenthalben, wo Soldaten und Mönche sich die Herrschaft über die Indianer streitig machen, zeigen diese mehr Anhänglichkeit an die Mönche. Zweijunge Frauen verließen die Hängematten, um uns Cassave-Kuchen zu bereiten. Auf die Frage eines Dolmetschers, ob der Boden der Insel fruchtbar sei, antworteten sie, der Manioc gedeihe nicht gut, hingegen sei es "ein gutes Ameisen-Land", und an Lebensmitteln hätten sie keinen Mangel. Diese vachacos liefern wirklich den Indianern am Rio Negro und am Guainia ein wichtiges Nahrungsmittel. Die Ameisen werden nicht als Leckerei gespeist, sondern weil, wie die Mis­ sionarien sich ausdrücken, das Ameisenfett (der weiße Teil des Unterleibs)

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ein sehr kräftiges Nahrungsmittel ist. Als die Cassave-Kuchen fertig waren, ließ der Pater Zea, dessen Fieber die Eßlust mehr anzureizen als zu schwä­ chen schien, sich einen kleinen Sack mit geräucherten vachacos bringen. Er mengte die zerquetschten Insekten dem Manioc-Mehl bei und lud uns ein, die Mischung zu kosten. Diese glich ein wenig einer Mischung aus Brot­ krumen und ranziger Butter. Der Manioc schmeckte nicht sauer; allein ein

Überrest europäischer Vorurteile hinderte uns, den Elogen beizupflichten, welche der gute Missionar dem, was er eine vortreffliche Ameisenpaste nannte, spendete. Der Regen fiel so gewaltig, daß wir genötigt waren, in der sonst schon voll­ gepfropften Hütte zu übernachten. Die Indianer schliefen nur von 8 bis

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Uhr; die übrige Zeit brachten sie in ihren Hängematten mit Schwatzen zu, oder sie bereiteten ihren bitteren Cupana-Trank, schürten das Feuer an und klagten über Kälte, obgleich die Temperatur der Luft

21 o betrug. Die Sitte,

vier bis fünf Stunden vor Aufgang der Sonne wach und auch auf den Beinen zu sein, herrscht überall bei den Indianern am Guiania. Wenn man daher bei den

entradas die Eingeborenen überraschen will, werden dafür die Stunden

des ersten Schlafs von 9 Uhr bis Mitternacht gewählt. Wir verließen die Insel Dapa lange vor der Morgendämmerung, und trotz der schnellen Strömung und des angestrengten Fleißes unserer Ruderer trafen wir erst nach zwölf Stunden Flußfahrt beim Fortin [ Schanze] von San Carlos del Rio Negro ein. Zur Linken sahen wir die Mündung des Casiquiare und zur Rechten die kleine Insel Cumarai. Im Land glaubt man, das Fortin liege gerade unter dem

Äquator; aber den Beobachtungen zufolge, die ich 1 o 54' 11". Jede Na­

auf dem Felsen Culimacari angestellt habe, liegt es unter

tion ist geneigt, den Raum ihrer Besitzungen auf den Karten zu erweitern und ihre Grenzen auszudehnen. Weil man unterläßt, die Reiseentfernungen auf Distanzen in gerader Linie zu reduzieren, sind die Grenzen überall am meisten verzerrt. Die Portugiesen geben, vom Amazonenstrom ausgehend, die Lage von San Carlos und Säo Jose de Marabitanas zu weit nördlich an, während die Spanier, von den Küsten von Caracas ausgehend, dieselbe zu weit südlich rücken. Diese Betrachtung gilt für alle Karten der Kolonien. So­ bald man weiß, wo sie verfertigt wurden und in welcher Richtung man an die Grenzen gekommen ist, läßt sich voraussagen, nach welcher Seite die Irr­ tümer in Breiten- und Längenbestimmungen gehen. In San Carlos wurden wir beim Kommandanten des Forts, einem Miliz­ leutnant, einquartiert. Auf einer Galerie des Hauses genoß man eine hüb­ sche Aussicht über drei sehr lange und mit dichter Vegetation bewachsene Inseln. Der Strom läuft in gerader Richtung von Norden nach Süden, als ob sein Bett durch Menschenhand gegraben wäre. Der immer bewölkte Himmel verleiht dieser Landschaft ein ernstes und finsteres Aussehen. Im Dorf fanden wir etliche Stämme der juvia, des maj estätischen Gewächses,

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von dem die dreieckigen Mandeln herkommen, die in Europa Mandeln vom Amazonenstrom [ Para- oder amerikanische Nüsse; Anmerkung des Hrsg. ] heißen. Wir haben es unter dem Namen

Bertholletia excelsa

bekanntge­

macht. Die Bäume erreichen in acht Jahren eine Höhe von 30 Fuß. Die militärische Besatzung dieser Grenze bestand aus 17 Soldaten, wovon 10 zur Sicherheit der benachbarten Missionare abgestellt waren. Die Luft ist so feucht, daß kaum vier Flinten zum Feuern tauglich waren. Die Portu­ giesen haben 25 bis 30 besser gekleidete und besser bewaffnete Soldaten im Fortfn Säo Jose de Marabitanas. In der Mission von San Carlos fanden wir nichts als eine garita, ein viereckiges, aus ungebrannten Backsteinen aufge­ führtes Gebäude, worin sechs Feldstücke standen. Das Fortfn oder, wie man hier gerne sagt, das Castillo de San Felipe liegt San Carlos gegenüber, am westlichen Ufer des Rfo Negro. Der Kommandant trug Bedenken, die forta­

leza dem Herrn Bonpland und mir zu zeigen; unsere Pässe drückten zwar die Befugnis aus, Berghöhen zu messen und trigonometrische Arbeiten überall auf dem Lande, wo ich es gut fände, vorzunehmen, nicht aber feste Plätze zu besichtigen. Unser Reisegefährte, Don Nicolas Soto, ein spanischer Of­ fizier, war glücklicher als wir. Man erlaubte ihm, über den Fluß zu setzen. Er fand auf einer kleinen abgeholzten Ebene denAnfang einer Erdfestung, die, wäre sie vollendet, 500 Mann Besatzung für ihre Verteidigung erfordert hätte. Es ist ein viereckiger umschlossener Raum mit kaum sichtbarem Graben. Die Brustwehr hat fünf Fuß Höhe; sie wird durch Steinblöcke ver­ stärkt. Zwei Bastionen auf der Stromseite könnten 4 bis 5 Stücke auf­ nehmen. Das ganze Werk enthält 14 oder 15 Kanonen, die großenteils de­ montiert sind und von zwei Mann bewacht werden. Um das Fortfn her stehen drei oder vier indianische Hütten. Man nennt sie das Dorf San Felipe, und um das Ministerium in Madrid an das Wachstum dieser christlichen Nie­ derlassungen glauben zu machen, werden für das angebliche Dorf eigene Kirchenspielregister geführt. Abends, nach dem Angelus, wurde dem Kom­ mandanten Rapport erstattet und in ganz ernsthaftem Ton gemeldet, daß um die Festung her alles ruhig zu sein scheine. Das erinnerte mich an die Er­ zählungen der Reisenden von den Festungen an der Küste Guineas, die zum Schutz europäischer Faktoreien dienen und 4 oder 5 Mann Besatzung haben. Die Soldaten von San Carlos sind nicht glücklicher als die der afrika­ nischen Faktoreien, weil auf diesen so entfernten Stationen dieselben Miß­ bräuche der Milizverwaltung herrschen. Einer von alters her geduldeten Ge­ wohnheit zufolge wird die Truppe nicht in Geld bezahlt, sondern die Haupt­ leute liefern ihr zu hohen Preisen Kleidungsstücke

(ropa), Salz und Lebens­

mittel. In Angostura ist die Sorge, nach den Missionen von Caronf, Caura und Guainfa versetzt oder, richtiger gesprochen, verbannt zu werden, so groß, daß man Mühe hat, die nötigen Rekruten zu erhalten. Die Lebens­ mittel sind sehr teuer an den Ufern des Rio Negro, weil nur sehr wenig Ma-

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nioc und Bananen gepflanzt werden und weil der Strom (gleich allen, die schwarzes und klares durchsichtiges Wasser haben) fischarm ist. Die besten Vorräte kommen aus den portugiesischen Besitzungen am Rfo Negro, wo mehr Arbeitsfleiß und Wohlstand unter den Indianern herrschen. Dessenun­ geachtet beträgt dieser Handel mit den Portugiesen kaum eine jährliche Ein­ fuhr von 2000 Piaster an Wert. Die Ufer des oberen Guainfa werden einst mehr hervorbringen, wenn die Ausrottung der Wälder die ungemein große Feuchtigkeit der Luft und des Bodens vermindert haben wird und wenn die Insekten, welche die Wurzeln und Blätter der krautartigen Pflanzen fressen, weniger häufig sein werden. Im gegenwärtigen Zustand des Ackerbaus gedeiht der Mais fast gar nicht; der Tabak, welcher von vorzüglicher Qualität und an der Küste von Caracas sehr begehrt ist, wird nur an Stellen, wo sich altes Mauerwerk und verfal­ lende Hütten beimpueblo viejo finden, mit Erfolg angepflanzt. Die nomadi­ sche Lebensweise der Eingeborenen hat zur Folge, daß es an solchen alten Bauplätzen, wo der Boden aufgewühlt und, ohne Pflanzen zu tragen, dem Einfluß der Luft ausgesetzt ist, nicht fehlt. Der in frisch abgeholzten Boden ausgesäte Tabak ist wässerig und ohne Aroma. Der Indigo wächst wild in der Nähe der Dörfer Maroa, Davipe und Tomo. Unter einer Verwaltung, die von der jetzt in diesen Gegenden anzutreffenden verschieden ist, wird am Rfo Negro eines Tages künftig Indigo, Kaffee, Cacao, Mais und Reis im Überfluß gedeihen. Da man in 20 bis 25 Tagen von der Mündung des Rfo Negro nach Gran Para gelangt, hätten wir nur wenig mehr Zeit gebraucht, den Amanzonen­ strom hinab bis an die brasilianische Küste zu fahren, als wir benötigten, um auf dem Casiquiare und dem Orinoco die Nordküste von Caracas zu errei­ chen. In San Carlos vernahmen wir, daß es wegen der politischen Verhält­ nisse für den Augenblick sehr schwierig sein würde, aus den spanischen nach den portugiesischen Niederlassungen zu gelangen; erst nach unserer Rück­ kehr nach Europa sind wir mit dem ganzen Umfang der Gefahr bekannt ge­ worden, welcher uns einer Fortsetzung der Reise bis Barcelos ausgesetzt haben würde. In Brasilien wußte man vielleicht aus Zeitungen, deren wohlmeinende und unvorsichtige Geschäftigkeit den Reisenden öfters nach­ teilig geworden ist, daß ich die Missionen am Rfo Negro besuchen und den natürlichen Kanal besichtigen wollte, welcher zwei große Stromsysteme ver­ bindet. In diesen öden Wäldern hatte man Instrumente bisher nur in den Händen der Grenzkommission gesehen, und die Unterbeamten der portu­ giesischen Regierung begriffen ebensowenig wie der gute Missionar, von welchem ich im vorhergehenden Kapitel gesprochen habe, wie ein vernünf­ tiger Mensch sich den Beschwerden einer langen Reise aussetzen könnte, "um Ländereien zu messen, die nicht sein Eigentum sind". Man hatte Be­ fehle erteilt, um sich meiner Person, meiner Instrumente und besonders

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meiner für die Sicherheit der Staaten so gefährlichen Verzeichnisse astrono­ mischer Beobachtungen zu bemächtigen. Man wollte uns auf dem Amazo­ nenstrom nach Gran Pani führen und von da nach Lissabon zurücksenden. Wenn ich diese Pläne erwähne, deren Gelingen einen nachteiligen Einfluß auf die Dauer einer zu fünf Jahren berechneten Reise gehabt hätte, ge­ schieht es, um darzutun, wie sehr überhaupt der die Regierung der Kolonien beseelende Geist von dem verschieden ist, welcher die Angelegenheiten im Mutterland leitet. Sobald das Ministerium in Lissabon vom Diensteifer seiner Unterbeamten Kenntnis erhielt, wurde Befehl erteilt, meine Ar­ beiten nirgends zu stören, sondern sie vielmehr zu begünstigen, falls ich ir­ gendwo meinen Weg durch die portugiesischen Besitzungen nehmen sollte. Dieses aufgeklärte Ministerium war es auch, das mir die erste Kunde von seiner mich betreffenden Fürsorge gab, die ich aus so großer Entfernung un­ möglich hätte anrufen können. Unter den Portugiesen, die wir in San Carlos antrafen, fanden sich ver­ schiedene Militärs, welche die Reise von Barcelos nach Gran Pani gemacht hatten. Ich will hier all das zusammenstellen, was ich über den Lauf des Rio Negro in Erfahrung bringen konnte. Weil man nur selten den Amazonen­ strom weiter als bis zur Mündung des Cauaburi, eines durch den Ertrag der Sarsaparille, die hier eingesammelt wird, berühmten Flusses, hinauffährt, ist alles, was neuerlich selbst in Rio de Janeiro über die Geographie dieser Gegenden publiziert wurde, höchst verworren. Beim Hinunterfahren des Guainfa oder Rio Negro kommt man rechts beim Cafio Maliapa, links bei den Cafios Dariba und Eny vorbei. Auf 5/ieues Entfernung, also etwa unter 1 o 38' nördlicher Breite, befindet sich die Insel San Jose, welche provisorisch

(denn es ist in diesem endlosen Grenzprozeß alles provisorisch) als das süd­ liche Ende der spanischen Besitzungen betrachtet wird. Etwas unterhalb dieser Insel, an einer Stelle, wo viele verwilderte Orangenbäume wachsen, zeigte man uns einen kleinen 200 Fuß hohen Felsen mit einer Höhle, der die Missionare den Namen der Glorieta von Cocuf geben. Dieser Lustort, denn dies ist die Bedeutung des kastilianischen Wortes glorieta, weckt wenig ange­ nehme Erinnerungen. Hier hielt Cocuf, der Häuptling der Manitivitano, der nämliche, von dem schon früher die Rede war, seinen Harem; und- um alles darzulegen - aus einer besonderen Vorliebe verzehrte er die schönsten und fettesten Frauen. Ich zweifle nicht, daß Cocuf ein wenig Menschenfresser ge­ wesen sei. "Es ist dies", sagt der Pater Gili mit der Einfalt eines amerikani­ schen Missionars, "eine schlimme Gewohnheit dieser sonst so guten und milden Völker von Guayana." Ich sollte aber auch der Wahrheit zuliebe hin­ zusetzen, daß die Erzählungen vom Harem und von den Orgien des Cocuf am unteren Orinoco viel mehr als an den Ufern des Guainfa verbreitet sind. In San Carlos wird sogar der Verdacht einer die menschliche Natur enteh­ renden Handlung geleugnet; vielleicht weil Cocufs Sohn, der ein Christ ge-

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worden ist und mir ein verständiger und gesitteter Mann zu sein schien, ge­ genwärtig Hauptmann der Indianer von San Carlos ist? Unterhalb der Glorieta folgen auf portugiesischem Gebiet das Fort Säo Jose de Marabitanas, die Dörfer Joam Baptista de Mabbe, Säo Marcelino

(unfern der Einmündung des Guaicia oder Xie, wovon oben öfters die Rede

war ) , Nossa Senhora da Guya, Boavista in der Nähe des Rio Is;ana, Säo Fe­ lipe, Säo Joaquim de Coana an der Mündung des bekannten Rfo Guape

[Uaupes] , Calder6n, Saö Miguel de lparafta mit einem Fortfn, Säo Francisco de las Caculbäes und endlich der feste Platz Säo Gabriel de Cachoeiras. Ich verweile absichtlich bei diesen geographischen Angaben, um zu zeigen, wie viele Niederlassungen die portugiesische Regierung selbst in diesem entle­ genen Teil Brasiliens gegründet hat. Es finden sich 11 Dörfer auf einem Um­ fang von 25lieues; bis zur Einmündung des Rio Negro sind mir deren noch 19 bekannt, ungerechnet die Städte von T homare, Moreira

( nahe

beim Rio

Demenene oder Uaraca, wo vormals die Guayanna-Indianer wohnten) , Barcelos, San Miguel del Rfo Branco in der Nähe des gleichnamigen Flusses, welcher in den Märchen über Dorado eine so bedeutende Rolle spielte, Moura und Villa de Rfo Negro. Demnach haben die Ufer dieses ein­ zigen Zuflusses des Amazonenstroms eine zehnmal stärkere Bevölkerung als sämtliche Ufer des oberen und unteren Orinoco, des Casiquiare, desAta­ bapo und des spanischen Rfo Negro zusammengenommen. Dieser Kontrast beruht keineswegs auf der verschiedenen Fruchtbarkeit des Bodens oder auf der bequemeren Flußfahrt des Rfo Negro in seiner unveränderten Richtung von Nordwesten nach Südosten; vielmehr ist er das Ergebnis politischer In­ stitutionen. Bei der portugiesischen Kolonialverwaltung stehen die Indianer gleichmäßig unter Militär- und Ziviloberen und unter den Karmeliter­ Ordensmännern. In dem gemischten Regiment erhält sich die weltliche Re­ gierung unabhängig. Die Franziskaner-Mönche hingegen, welchen die Mis­ sionen am Orinoco zustehen, vereinigen alle Gewalten in einer Hand. Beide Regierungen sind in verschiedener Hinsicht drückend; doch findet der Mangel der Freiheit durch etwas mehr Wohlstand und Gesittung in den por­ tugiesischen Kolonien einigen Ersatz. Unter den Zuflüssen, welche der Rio Negro von der Nordseite erhält, befinden sich drei, die unsere Aufmerksamkeit vorzugsweise verdienen, weil sie durch ihre Verzweigungen, ihre Portagen und die Lage ihrer Quellen auf das so vielfältig erörterte Problem des Orinocoursprungs wesentlichen Einfluß erhalten. Die südlichsten dieser Zuflüsse sind der Rfo Branco, von dem lange geglaubt wurde, er entspringe gemeinsam mit dem Orinoco aus dem Parima-See, und der Rfo Padaviri [port. Padauiri] , welcher durch eine Portage mit dem Mavaca und demnach mit dem oberen Orinoco ostwärts der Mission von Esmeralda zusammenhängt. Wir werden Gelegenheit finden, vom Rio Branco und vom Padaviri zu sprechen, wenn wir diese Mis-

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sion erreicht haben; hier wollen wir nur beim dritten Zufiuß des Rio Negro, dem Cababuri [ port. Cauaburi] , verweilen, dessen Verzweigungen mit dem Casiquiare in hydrographischer und in kommerzieller Hinsicht ( der Sarsapa­ rille wegen) gleich wichtig sind. Die hohen Gebirge vom Parima, die das nördliche Gestade des Orinoco an einem höheren Abschnitt oberhalb von Esmeralda begrenzen, senden eine Bergkette südwärts, worin der Cerro de Unturan einen Hauptgipfel bildet. Dieses an Umfang nur kleine Bergland, welches aber an vegetabili­ schen Produkten reich ist, worunter sich das zur Fabrikation des Curaregifts

[ amerikanische puchery und der

gebräuchliche Schlinggewächs Mavacure, Mandelbäume Nuß]

(juvia

oder

Bertholletia excelsa),

die aromatischen

wilde Cacao auszeichnen, bildet eine Wasserscheide zwischen den zum Ori­ noco, zum Casiquiare und zum Rio Negro fließenden Gewässern. Die nörd­ lichen oder die Zuflüsse des Orinoco sind der Mavaca und der Daracapo, die westlichen des Casiquiare sind der Idapa und der Pacimoni, die südlichen des Rfo Negro sind der Padaviri und der Cababuri. Dieser teilt sich untern seiner Quelle in zwei Arme, von denen der westlichere unter dem Namen Baria bekannt ist. Die Indianer der Mission von San Francisco Solano haben uns sehr ausführliche Angaben über seinen Lauf geliefert. Er gewährt das höchst seltene Beispiel einer Gabelung, wodurch ein unterer Zufluß nicht die Wasser des oberen Zuflusses empfängt, sondern umgekehrt ihm einen Teil seiner Gewässer in einer der Richtung des Hauptsammlers entgegenge­ setzten Richtung sendet. Ich habe auf ein und derselben Tafel in meinem Atlas verschiedene Beispiele dieser Verzweigungen durch Gegenströmung dieses scheinbaren Wasserlaufs bergan, dieser Gabelteilung der Flüsse, deren Kenntnis den hydrographischen Ingenieuren

[ den

Wasserbauern]

wichtig ist, zusammengestellt. Diese Tafel stellt klar, daß nicht alles als chi­ märisch angesehen werden darf, was von der Regel abweichend erscheint, die wir aus Beobachtungen gebildet haben, welche auf einem allzu engen Kreis unseres Erdballs angestellt worden sind. Der Cababuri mündet in den Rfo Negro nahe der Mission von Nossa Se­ nhora das Caldas; die Flüsse Ya und Dimity aber, welches höhere Zuflüsse sind, haben auch Vereinigungen mit dem Cababuri, so daß vom Fortfn Sao Gabriel de Cachoeiras bis Sao Antonio da Castanheira die Indianer der por­ tugiesischen Besitzungen durch den Baria und den Pacimoni ins Territorium der spanischen Missionen gelangen können. Wenn ich das Wort Territorium gebrauche, geschieht es der Sitte der Observanten [ Franziskaner] gemäß. Es ist schwer zu sagen, worauf sich das Eigentumsrecht in unbewohnten Län­ dern gründet, deren natürliche Grenzen unbekannt sind und wo auch keine Kulturversuche angestellt wurden. Die Bewohner der portugiesischen Mis­ sionen behaupten, ihr Gebiet dehne sich nach allen Punkten aus, wohin sie im Kanu auf einem Strom gelangen können, dessen Mündung in den portu-

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giesischen Besitzungen liegt. Die Besitznahme ist jedoch eine Tatsache, welche nicht immer ein Eigentumsrecht begründet; und zufolge demje­ nigen, was früher über die mannigfachen Verzweigungen der Flüsse erläu­ tert worden ist, dürfte die Bestätigung des seltsamen Axioms der Missions­ rechtskunde den Höfen von Madrid und Lissabon gleich gefährlich sein. Der Hauptzweck der Streifzüge auf dem Rio Cababuri (port . Cauaburi) besteht in der Einsammlung der Sarsaparille und der aromatischen Beeren des Puchery-Lorbeers

(Laurus pichurim).

Man holt diese köstlichen Er­

zeugnisse bis zu zweiTagereisen weit von Esmeralda am Ufer eines Sees, der nördlich vom Cerro Unturan liegt, indem man mit Partagen vom Pacimoni zum Idapa und vom Idapa zum Mavaca nahe beim gleichnamigen See ge­ langt. Die Sarsaparille dieser Gegenden ist in Gran Para, in Angostura, in Cumana, in Nueva Barcelona und in anderenTeilen derTierra Firme unter dem Namen der Zarza del Rio Negro berühmt. Es ist die wirksamste, welche man kennt, und sie wird der Zarza aus der Provinz Caracas und von den Me­ rida-Bergen weit vorgezogen. Sie wird mit viel Sorgfalt getrocknet und ab­ sichtlich geräuchert, um ihr eine schwärzere Farbe zu geben. Diese Schling­ pflanze wächst häufig an den feuchten Abhängen der Berge von Unturan und Achivaquery. Herr Decandolle vermutet mit Recht, daß verschiedene Smilax-Arten unter dem Namen der Sarsaparille gesammelt werden. Wir haben zwölf neue Arten gefunden, worunter die Smilax siphilitica vom Casi­ quiare und die

Smilax officinalis

vom Magdalenenstrom ihrer harntrei­

benden Eigenschaften wegen die gesuchtesten sind. Weil unter den Weißen wie unter den gemischten Schichten die syphilitischen Krankheiten sehr all­ gemein und gutartig sind, wird eine überaus große Menge Sarsaparille in den spanischen Kolonien als Hausmittel gebraucht. Aus den Werken des Clusius wissen wir, daß am Anfang der

conquista die Europäer diese wohltätige Ar­

zeneisubstanz von der mexicanischen Küste bei Honduras und aus dem Hafen von Guayaquil bezogen haben. Heutzutage wird der Handel mit Zarza lebhafter in den Häfen betrieben, die innere Verbindungen mit dem Orinoco, dem Rio Negro und dem Amazonenstrom haben. Die in verschiedenen europäischen Botanischen Gärten angestellten Ver­ suche beweisen, daß die virginische Smilax glauca, welche für Linnes Smilax

sarsaparilla

gehalten wird, überall im Freien gezogen werden kann, wo die

mittlereTemperatur den Winter über 6 bis 7° des hundertteiligenT hermome­ ters ansteigt; die Arten aber, deren Kräfte wirksamer sind, gehören aus­ schließlich der heißen Zone an und erfordern einen viel höheren Wärme­ grad. Wer die Werke des Clusius gelesen hat, begreift nicht, wie man in un­ seren Arzneimittellehren darauf beharren kann, eine Pflanze der Verei­ nigten Amerikanischen Staaten als das Vorbild der offiziellen Smilax-Arten anzugeben.

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[Zur Geschichte der Jade oder der grünen Steine von Guayanaj Wir fanden bei den Indianern vom Rio Negro einige der grünen Steine, die unter dem Namen der Amazonensteine bekannt sind, weil die Eingebo­ renen einer alten Sage zufolge behaupten, sie kämen aus dem Land "der Frauen ohne Männer benden Frauen

(cougnantainsecouima)" oder der "für sich allein le­ ( aikeambenano)". In San Carlos und in den benachbarten

Dörfern wurden uns die Quellen des Orinoco, die sich ostwärts vom Esme­ ralda befinden, in den Missionen von Caroni und in Angostura die Quellen des Rio Branco als die natürliche Lagerstätte der grünen Steine genannt. Diese Angaben bestätigen den Bericht eines alten Soldaten der Garnison von Cayenne, den Herr de La Condamine erwähnt und nach dem diese Mi­ neralsubstanzen aus dem Frauenland westwärts von den Rapides des Oyapoc empfangen werden. Die Indianer, welche das Fort derTopayos am Amazonenstrom, 5o östlich von der Mündung des Rio Negro, bewohnen, be­ saßen einst eine bedeutende Zahl solcher Steine. Ob sie diese von Norden her erhielten, das heißt aus dem von den Indianern am Rio Negro bezeich­ neten Land, welches sich von den Cayenne-Gebirgen gegen die Quellen des Essequibo, des Caroni, des Orinoco, des Parima und des RioTrambetas aus­ dehnt; oder ob diese Steine von Süden her kamen, auf dem RioTapaj6s, wel­ cher vom ausgedehnten Plateau der Campos Parecis herabkommt? Der Aberglaube legt großen Wert auf diese mineralischen Substanzen; sie werden als Amulette am Hals getragen, weil sie dem Volksglauben zufolge gegen Nervenübel, Fieber und den Biß von Giftschlangen schützen. Auch sind sie seitJahrhunderten ein Gegenstand des Verkehrs unter den Eingebo­ renen nördlich und südlich des Orinoco. Durch die Cariben, welche als die Bokharen der Neuen Welt angesehen werden könnten, sind sie an den Kü­ sten von Guayana bekannt geworden, und weil die nämlichen Steine einer umlaufenden Münze gleich von einer Nation zur anderen kreuz und quer übergingen, ist es möglich, daß ihre Anzahl sich nicht vermehrt und daß ihre Lagerstätte eher noch unbekannt als verheimlicht ist. Mitten im aufge­ klärten Europa, bei Anlaß eines lebhaften Streits über die einheimische Chi­ narinde, wurden vor wenigenJahren die grünen Steine vom Orinoco als ein kräftiges Fiebermittel in vollem Ernst vorgeschlagen; nach einem solchen, auf die Leichtgläubigkeit der Europäer berechneten Versuch wird man es nicht befremdlich finden, daß auch die spanischen Kolonisten die Liebha­ berei der Indianer für diese Amulette teilen und daß sie teuer verkauft werden. Gewöhnlich gibt man ihnen die Gestalt von der Länge nach durch­ bohrten persepolitanischen Zylindern, die mit Inschriften und Bildern ver­ ziert sind. Die Indianer unserer Tage, diese Eingeborenen vom Orinoco und Amazonenftuß, die wir auf die letzte Stufe der Verdummung abgesunken finden, sind es jedoch, die solch harte Substanzen durchbohrt und ihnen die

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Gestalt von Tieren und Früchten gegeben haben. Solche Arbeiten wie auch die durchbohrten und geschnittenen Smaragde, welche in den Cordilleren von Neu-Granada und Quito angetroffen werden, sind Zeugnisse einer frü­ heren Kultur. Heutzutage sind die Bewohner dieser Gegenden, besonders die der heißen Zone, mit der Möglichkeit, harte Steine zu schneiden (den Smaragd, die Jade, den dichten Feldspat und den Bergkristall), so ganz un­ vertraut, daß sie sich einbilden, der grüne Stein sei von Natur weich, wenn er aus der Erde hervorkommt, und er verhärte sich erst, nachdem er durch Handarbeit seine Gestalt erhalten hat. Aus dem Erwähnten ergibt sich, daß der Amazonenstein seine natürliche Lagerstätte nicht im Tal des Amazonenstroms selbst hat up.d daß er seinen Namen auch keineswegs von diesem Fluß, sondern vielmehr wie dieser letz­ tere selbst von kriegerischen Frauen erhalten hat, die Pater Acufia und Oviedo in seinem Schreiben an Kardinal Bembo den Amazonen der Alten Welt vergleichen. Was in unseren Sammlungen von Naturkörpern unter der irrigen Benennung des Amazonensteins gezeigt wird, ist kein dichter, son­ dern ein gewöhnlicher apfelgrüner Feldspat, der vom Ural und Onega-See in Rußland stammt und den ich in den Granitbergen von Guayana nie ange­ troffen habe. Zuweilen verwechselt man auch wohl mit dem so seltenen und harten Amazonenstein Werners den ungleich weniger zähen Beilstein­ Nephrit. Die Substanz, welche ich aus den Händen der Indianer empfangen habe, gehört zum Saussurit, zur wahren Jade, welche oryktognostisch dem dichten Feldspat nahesteht und einen der Bestandteile der Verde de Corsica oder des Gabbro ausmacht. Er nimmt eine schöne Politur an und geht vom Apfelgrün zum Smaragdgrün über; er ist an den Rändern durchsichtig, äu­ ßerst zäh und hellklingend in solchemGrade, daß die vormals von den Ein­ geborenen in sehr dünne Platten geschnittenen, in der Mitte durchbohrten und an einen Faden gehängten Stücke einen fest metallischen Schall geben, wenn ein anderer harter Körper daranschlägt. Diese Beobachtung vermehrt die Verwandtschaften, die sich trotz der Verschiedenheit des Bruchs und der spezifischen Schwere zwischen dem Saussurit und der Felskieselbasis des Porphyrschiefers finden, welcher der Klingstein (Phonolith) ist. Ich habe schon an einer anderen Stelle beobachtet, daß man sich bei dem seltenen Vorkommen des Nephrits, der Jade und des dichten Feldspats in den ameri­ kanischen Gesteinen über die Menge von Beilen wundern muß, welche fast überall, wo die Erde aufgegraben wird, von den Ufern des Ohio bis nach Chile gefunden werden. Wir haben in den Gebirgen des oberen Orinoco oder von Parima nur einen körnigen Granit mit etwas Hornblende, einen in Gneis und schieferige Hornblende übergehendenGranit angetroffen. Sollte die Natur östlich vom Esmeralda, zwischen den Quellen des Caroni-, des Es­ sequibo, des Orinoco und des Rio Branco, die aufGlimmerschiefer ruhende Übergangsformation von Tucutunemo wiederholt haben? Sollte der Amazo-

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nenstein von den Gesteinsarten der Euphotide, die in der Reihe der Urge­ steine das letzte Glied bilden, herrühren? Wir treffen bei den Völkern der Neuen wie derAlten Welt im ersten Zeit­ raum der sich entwickelnden Kultur eine besondere Vorliebe für gewisse Steine an, nicht allein für solche, die durch ihre Härte als schneidende Werk­ zeuge dem Menschen nützlich sein können, sondern auch für solche minera­ lischen Substanzen, die durch ihre Farbe oder natürliche Gestalt mit organi­ schen Funktionen und selbst auch mit seelischen Neigungen ein Verwandt­ schaftsverhältnis zu verraten scheinen. Dieser altertümliche Kult der Steine, diese der Jade und dem Hämatit zugeschriebenen wohltätigen Eigenschaf­ ten werden unter den amerikanischen Wilden ebenso angetroffen wie bei den Bewohnern der WälderT hrakiens, die uns wegen der ehrwürdigen Insti­ tutionen des Orpheus und des Ursprungs der Mysterien verbieten, sie für Wilde zu halten. Das seiner Wiege noch nähere Geschlecht der Menschen hält sich für autochthon. Es fühlt sich an die Erde gekettet und an die Sub­ stanzen, die ihr Schoß enthält. Die Naturkräfte, die zerstörenden noch mehr als die erhaltenden, sind die ersten Objekte seines Kultes. Diese Kräfte of­ fenbaren sie nicht bloß in Gewittern, im Getöse, welches den Erdbeben vor­ angeht, im Feuer der Vulkane - auch durch den starren Fels, durch den Glanz der Steine und ihre Härte, durch Massen und Vereinzelung der Ge­ birge wirken sie auf jugendliche Gemüter mit einer Kraft, von der wir in un­ serer vorgerückten Zivilisation keinen Begriff mehr haben. Die Verehrung der Steine erhält sich später neben anderen und neuerenArten des Kultes, und was zuerst Gegenstand religiöser Huldigung gewesen ist, wird nun der Anlaß abergläubischen Vertrauens.Aus vergötterten Steinen werdenAmu­ lette, die Seele und Leib vor jeglichem Übel schützen. Obgleich die Gestade desAmazonenstroms und des Orinoco vom mexicanischen Plateau fünfhun­ dert Iieues weit entfernt sind, und obgleich die Geschichte keine Tatsache meldet, welche eine Verbindung der wilden Völker von Guayana mit den zi­ vilisierten von Amihuac andeuten könnte, hat doch der Mönch Bernhard von Sahagun zu Beginn der conquista in Cholula grüne Steine als Reliquien aufbewahrt gefunden, welche dem Quetzalc6huatl gehört hatten. Diese ge­ heimnisvolle Person ist der Buddha der Mexicaner. Er ist zur Zeit der Tol­ teken aufgetreten, hat die ersten religiösen Orden gestiftet und eine Regie­ rung ähnlich der von Meroe und Japan errichtet.

[Zur Amazonen-Frage] Die Geschichte der Jade oder der grünen Steine von Guayana ist innig ver­ knüpft mit der jener kriegerischen Frauen, welche von den Reisenden des 16.Jahrhunderts die Amazonen der Neuen Welt genannt wurden. Herr de

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La Condamine hat zahlreiche Zeugnisse zur Beglaubigung dieser Sage gelie­ fert. Seit meiner Heimkehr vom Orinoco und vom Amazonenstrom bin ich oftmals in Paris gefragt worden, ob auch ich der Meinung dieses Gelehrten beipflichte oder ob ich wie viele meiner Zeitgenossen glaube, dieser habe die Verteidigung der

cougnantainsecouima,

der unabhängigen Frauen, wel­

che mit den Männern ausschließlich im Monat April Umgang pflegen, einzig in der Absicht übernommen, um in öffentlicher Sitzung der Akademie von einer m ich neuen und auffallenden Dingen begierigen Versammlung Beifall zu ernten. Hier ist der Ort, mich offen über eine Sage zu äußern, die ein so märchenhaftes Ansehen hat. Ich sehe mich dazu um so mehr veranlaßt, als Herr de La Condamine bezeugt, die Amazonen vom Rio Cayame seien über den Marafi6n gekommen, um sich am Rio Negro anzusiedeln. Die Neigung zum Wunderbaren und das Bestreben, die Beschreibungen des Neuen Kon­ tinents mit einigen Zügen des klassischen Altertums auszuschmücken, haben unstreitig dazu beigetragen, den Erzählungen Orellanas ein größeres Gewicht zu verleihen. Beim Lesen der Werke von Vespucci, Ferdinand Co­ lumbus, Geraldini, Oviedo und Peter Martyr von Anghiera erkennt man un­ zweideutig die Tendenz der Schriftsteller des 16.Jahrhundert, bei neuent­ deckten Völkern all das zu finden, was die Griechen uns vom ersten Zeitalter der Welt und von den Sitten der barbarischen Skythen und Afrikaner melden. Wir glauben, durch diese Reisebeschreibungen aus einer anderen Hemisphäre in Zeiten eines hohen Altertums versetzt zu sein, und was die amerikanischen Horden in ihrer ursprünglichen Einfachheit den Europäern darstellen, ist ein lebendes, gleichsam zeitgenössisches Altertum ( eine Art

Antike, deren Zeitgenossen wir fast sind ) . Was damals nur stilistische Aus­ schmückung und ein Spiel des Witzes war, ist in unseren Tagen Motiv ernster Diskussionen geworden. Eine in Louisiana publizierte Abhandlung unter­ nimmt es, die gesamte griechische Fabelwelt einschließlich der Amazonen aus der lokalen Kenntnis des Nicaragua-Sees und einiger anderer amerikani­ scher Landschaften zu erklären! Wenn Oviedo in seinen Briefen an den Kardinal Bembo den Neigungen eines im Studium des Altertums so bewanderten Mannes schmeicheln zu müssen glaubte, so hegte der Seefahrer Sir Walter Raleigh eine weniger poe­ tische Absicht. Ihm war es darum zu tun, die Königin Elisabeth auf das große Reich von Guayana aufmerksam zu machen, dessen Eroberung er seiner Re­ gierung vorschlug. Für diesen Zweck lieferte er die Beschreibung der Mor­ gentoilette des vergoldeten Fürsten

(el dorado),

welchem seine mit langen

Blasrohren versehenen Kammerherrn jeden Morgen den Leib, nachdem er zuvor mit wohlriechenden

Ö len eingerieben wurde,

mit Goldstaub pudern;

noch viel mehr aber mußte die Phantasie der Königin Elisabeth durch die kriegerische Republik der Frauen ohne Männer, die den kastilianischen Helden Widerstand leisteten, angeregt werden. Wenn ich die Beweggründe

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angebe, welche Übertreibungen bei Schriftstellern veranlassen konnten, deren Berichte den Ruf der amerikanischenAmazonen vorzugsweise gestei­ gert haben, reichen sie doch, wie ich glaube, nicht hin, um eine bei verschie­ denen Völkern, welche unter sich in gar keiner Verbindung stehen, verbrei­ tete Überlieferung gänzlich zu verwerfen. Die Zeugnisse, welche Herr de La Condamine gesammelt hat, sind höchst bemerkenswert; er hat sie sehr ausführlich publiziert, und es macht mir Ver­ gnügen, anzumerken: Wenn dieser Reisende in Frankreich und England als ein phantasiereicher, nach ungewöhnlichen Dingen lüsterner Mann galt, steht er dagegen in Quito, in dem Land, das er beschrieben hat, im Ruf eines sehr redlichen und höchst glaubwürdigen Mannes. Dreißig Jahre nach Herrn de La Condamine hat ein portugiesischer Astronom, welcher den Amazonenstrom und seine nördlichen Zuflüsse bereiste, Herr Ribeiro, alle Angaben des gelehrten Franzosen an Ort und Stelle bestätigt. Er hat die­ selben Überlieferungen bei den Indianern vorgefunden und sie um so unpar­ teiischer gesammelt, als er selbst nicht glaubt, daß die Amazonen eine ei­ gene Völkerschaft gebildet hätten. Ich wiederum habe, unbekannt mit den Sprachen, die am Orinoco und am Rfo Negro gebräuchlich sind, über die Volkssagen von den Frauen ohne Männer und über den Ursprung der grünen Steine, welcher damit in genauer Verbindung stehen soll, nichts Zu­ verlässiges erfahren können. Indes will ich des neueren, nicht ungewichtigen Zeugnisses des Pater Gili gedenken. "Als ich", sagt dieser kenntnisreiche Missionar, " einen Quaqua-Indianer befragte, welche Völker am Rfo Cuchi­ vero wohnen, nannte er mir dieAchirigotos, die Pajuros und dieAikeam-Be­ nanos. Weil mir die Tamanaken-Sprache bekannt war, erriet ich den Sinn des letzteren Substantivs sogleich als den eines zusammengesetzten Worts, wel­ ches abgesondert lebende Frauen bedeutet. Der Indianer bekräftigte meine Bemerkung und fügte hinzu, die Aikeam-Benanos seien ein Verein von Frauen, welche lange Blasrohre und andere Kriegswerkzeuge verfertigen. Sie nehmen nur einmal im Jahr männlichen Besuch von der benachbarten Nation der Vokearos an, die mit Blasrohren beschenkt von ihnen wieder ent­ lassen werden. Alle männlichen Kinder, welche diese Frauen zur Welt bringen, werden noch ganz jung umgebracht." Diese Erzählung trifft genau mit den Sagen zusammen, welche unter den Indianern vom Marafi6n und unter den Cariben verbreitet sind; dem Quaqua-Indianer, von welchem der Pater Gili spricht, war die kastilianische Sprache völlig unbekannt; er hatte nie irgendeine Beziehung zu weißen Menschen, und er wußte gewiß nicht, daß südwärts des Orinoco ein anderer Strom ist, welcher Aikeam-Benanos oder Amazonenstrom heißt. Was soll man aus der Erzählung des alten Missionars von Encaramada fol­ gern? Nicht, daß es an den Gestaden des Cuchivero Amazonen gebe; wohl aber, daß in verschiedenen Teilen Amerikas Frauen des Sklavenstandes,

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worin sie von den Männern gehalten waren, müde geworden sind und sich, wie die flüchtigen Neger zu tun pflegen, in einen

palenque [eingezäunter

Platz] vereinigt haben; daß das Streben nach Erhaltung ihrer Unabhängig­ keit sie kriegerisch gemacht hat; daß sie von irgendeinem benachbarten und befreundeten Stamm Besuche erhielten, die vielleicht so völlig geregelt nicht waren, wie die Überlieferung meldet. Diese Frauengemeinschaft dürfte nur in einer Landschaft Guayanas zu einiger Stärke gelangt sein. Dies war hinlänglich, um ein ganz einfaches Ergebnis, das sich verschiedentlich wiederholen konnte, in eine gleichförmige und übertriebene Geschichte um­ zuwandeln. So ist der eigentümliche Charakter der Sagen, und wenn der außerordentliche Sklavenaufstand, von dem ich vorhin gesprochen habe, nicht in der Nähe der Küste von Venezuela, sondern mitten auf dem Festland stattgefunden hätte, würde ein leichtgläubiges Volk in jedem flüchtig gewordener Neger

palenque (negres marrons) den Hofstaat des Königs Mi­

guel, seinen Staatsrat und den Negerbischof von Buria erkannt haben. Die Cariben der Tierra Firme unterhielten Verbindungen mit denen der Inseln, und auf diesem Wege haben sich ohne Zweifel die Sagen vom Marafi6n und vom Orinoco nordwärts fortgepflanzt. Schon vor Orellanas Flußfahrt hatte Christoph Columbus geglaubt Amazonen auf den Antillen gefunden zu haben. Man hatte diesem großen Mann erzählt, auf der kleinen Insel Mada­ nino (Montserrat) wohne ein kriegerisches Frauenvolk, welches den größten Teil desJahres hindurch ohne Umgang mit Männern lebe. Ehemals hielten die

conquistadores Frauen, die ihre Hütten in Abwesenheit ihrer

Männer verteidigten, für Amazonen-Republiken, oder- und das ist ein we­ niger entschuldbarer Irrtum - sie hielten dafür die religiösen Gemein­ schaften, jene Klöster mexicanischer Jungfrauen, die zu keiner Jahreszeit Männer empfingen und nach der strengen Regel Quetzalc6huatls lebten. Die Stimmung der Geister war so, daß von der großen Zahl Reisender, welche in ununterbrochener Reihe ihre Entdeckungen und die Wunder der Neuen Welt beschrieben haben, jeder auch wieder das gesehen haben wollte, was seine Vorgänger gemeldet hatten. *

Wir verweilten drei Nächte in San Carlos del Rfo Negro. Ich zähle die Nächte, weil ich sie größtenteils durchwachte in der Hoffnung, den Augen­ blick des Meridiandurchgangs eines Sterns zu erspähen. Um mir keinerlei Nachlässigkeit vorwerfen zu müssen, waren die Instrumente immer zur Be­ obachtung bereit. Doch ich konnte nicht einmal doppelte Höhen erhalten, um nach der Methode von Douwes die Breite zu finden. Welcher Kontrast zwischen zwei Gegenden ein und derselben Zone, zwischen dem Himmel von Cumana, wo die Luft immer rein ist wie in Persien und in Arabien, und

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diesem Himmel vom Rio Negro, der verschleiert, gleich dem der Färöer-In­ seln, weder Sonne noch Mond, noch Sterne zeigt! Mit um so größerem Ver­ druß verließ ich das Fortin San Carlos, weil ich nicht hoffen konnte, in der Nähe dieses Orts eine gute Breitenbeobachtung zu erhalten.

[Wichtige erdmagnetische Entdeckungen] Ich habe die Inklination der Magnetnadel in San Carlos bei 22,60° der Centesimaleinteilung beobachtet. Die magnetische Kraft wurde durch 216 Schwingungen in 10' Zeit ausgedrückt. Weil die magnetischen Parallelen sich westlich erhöhen und ich auf dem Rücken der Cordilleren, zwischen Santa Fe de Bogota und Popayan, die gleichen Inklinationen angetroffen habe, welche am oberen Orinoco und am Rio Negro wahrgenommen wurden, sind diese Beobachtungen für die Theorie der Linien gleicher Inten­ sität oder die Isodynamen sehr wichtig geworden. Die Zahl der Schwingun­ gen ist die gleiche in Javita und in Quito, und doch ist die magnetische Inkli­ nation im ersteren dieser zwei Orte 26,40°; im zweiten 14,85°. Wenn die Kraft unter dem magnetischen Äquator (in Peru) einheitlich ausgedrückt wird, ist die Intensität der Kraft in Cumana in Javita

=

1,0675, in San Carlos

=

=

1,779, in Carichana

=

1,1575,

1,0480. So ist das abnehmende Verhältnis

der Kraft von Norden nach Süden, auf 8o der Breite zwischen 60Vz und 69° der Länge westlich von Paris beschaffen. Ich spreche absichtlich den Unter­ schied der Meridiane aus; denn es hat bei neuer Würdigung und Prüfung meiner isodynamiseben Beobachtungen ein im Studium des Erdmagnetis­ mus sehr erfahrener Geometer, Herr Hansteen, entdeckt, daß die Intensität der Kräfte auf demselben magnetischen Parallel ganz beständigen Gesetzen gemäß abweicht und daß die Kenntnis dieser Gesetze die Anomalien gro­ ßenteils verschwinden läßt, welche diese Erscheinung zu bieten scheint. Im allgemeinen ist zuverlässig, wie ich aus dem ganzen Umfang meiner Beob­ achtungen diese Folgerung gezogen habe, daß die Intensität der Kräfte vom magnetischen Äquator gegen den Pol hin zunehmend wächst; die Schnellig­ keit dieses Wachstums aber scheint unter verschiedenen Meridianen un­ gleich zu sein. Wenn zwei Orte die gleiche Inklination haben, findet sich die größte Stärke westlich des Meridians, welcher den Mittelpunkt des südli­ chen Amerika durchzieht; sie ist dagegen auf dem Parallel, östlich nach Buropa hin, abnehmend. In der südlichen Hemisphäre scheint sie ihr Mi­ nimum auf den Ostküsten Afrikas zu erreichen; dann vermehrt sie sich neu­ erdings auf dem gleichen magnetischen Parallel bis gegen Neu-Holland

[Australien] hin. Ich habe die Intensität der Kraft in Mexico fast ebensogroß gefunden wie in Paris, und doch beträgt der Unterschied der Inklinationen über 31 Centesimalgrade. Meine Nadel, die unter dem magnetischen

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Äquator (in Peru)

211 Schwingungen

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aufwies, würde unter dem gleichen

Äquator, im Meridian der Philippinen, höchstens

202 oder 203 Schwingun­

gen ergeben haben. Dieser auffallende Unterschied ergibt sich aus dem Ver­ gleich meiner in Santa Cruz auf Teneriffa über die Intensität angestellten Beobachtungen mit den durch Herrn de Rossel vier Jahre früher dort gesam­ melten. Die an den Ufern des Rfo Negro ausgeführten magnetischen Beobach­ tungen sind unter allen, die wir wiederum im Inneren eines großen Konti­ nents kennen, dem magnetischen Äquator am nächsten. Sie haben infolge­ dessen zur Bestimmung der Lage dieses Äquators gedient, welchen ich mehr im Westen, auf dem Anden-Kamm zwischen Micuipampa und Caja­ marca, unter

7° südlicher Breite überquert habe. Die magnetische Parallele 22,60° der Centesimal-Skala) geht durch Popayan und Südsee durch einen Punkt (3° 12' nördl. Breite und 80° 36' westl.

von San Carlos (von in der

Länge), wo ich das Glück hatte, bei völlig windstiller Witterung beobachten zu können. *

Den

10. Mai [1800].

Unsere Piroge war in der Nacht beladen worden, und

wir schifften uns kurz vor Sonnenaufgang ein, um den Rfo Negro hinaufzu­ fahren, bis zur Einmündung des Casiquiare, und um über den wahren Lauf dieses den Orinoco mit dem Amazonenstrom verbindenden Flusses Unter­ suchungen anzustellen. Der Morgen war schön, aber im Verhältnis der zu­ nehmenden Wärme fing der Himmel sich zu überziehen an. Die Luft ist in diesen Wäldern dermaßen mit Wasser gesättigt, daß die bläschenartigen Dünste schon bei der geringsten Verstärkung der Ausdünstung des Erdbo­ dens sichtbar werden. Weil der Seewind nie fühlbar wird, werden die feuchten Schichten auch nie durch trockene Luft ersetzt oder erneuert. Dieser Anblick eines bedeckten Himmels betrübte uns mit jedem Tage mehr. Herrn Bonpland gingen durch das Übermaß der Feuchtigkeit seine ge­ sammelten Pflanzen zugrunde, ich meinerseits fürchtete, im Tal des Casi­ quiare die Nebel des Rfo Negro wieder anzutreffen. Seit einem halben Jahr­ hundert hatte niemand mehr in diesen Missionen an der Verbindung gezwei­ felt, die zwischen zwei großen Stromsystemen besteht; der wichtige Zweck unserer Flußfahrt beschränkte sich also darauf, durch astronomische Beob­ achtungen den Lauf des Casiquiare, hauptsächlich den Punkt seines Ein­ tritts in den Rio Negro und den der Gabelteilung des Orinoco, zu be­ stimmen. Bei Verdunklung der Sonne und der Sterne war unser Zweck ver­ fehlt, und wir hatten vergeblich beschwerliche und lange Entbehrungen er­ duldet. Unsere Reisegefährten hätten auf dem kürzesten Weg zurückzu­ kehren gewünscht, auf dem Pimichfn nämlich und den kleinen Flüssen; Herr Bonpland hingegen zog es mit mir vor, dem früheren Reiseplan, welchen wir

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beim Übergang der großen Katarakte festgesetzt hatten, treu zu bleiben. Von SanFernando de Apure nach San Carlos (auf dem Rio Apure, dem Ori­ noco, dem Atabapo, dem Temi, dem Tuamini und dem Rio Negro) hatten wir bereits 180 Iieues im Boot zurückgelegt. In den Orinoco durch den Casi­ quiare zurückkehrend, sollten wir nun von San Carlos nach Angostura aber­ mals 320 Iieues fahren. Auf diesem Weg mußten wir zehn Tage gegen dieStrö­ mung ankämpfen; der Rest ging auf dem Orinoco abwärts. Es wäre tadelns­ wert gewesen, wenn wir uns durch die Sorge um einen bewölkten Himmel und durch die Moskitos des Casiquiare hätten abschrecken lassen. Unser in­ dianischer Pilot, welcher kürzlich in Mandavaca gewesen war, verhieß uns die Sonne und "die großen Sterne, welche die Wolken fressen", sobald wir die Schwarzen Wasser des Guaviare verlassen haben würden. Wir führten demnach unseren Plan, durch den Casiquiare nach San Fernando de Ata­ bapo zurückzukehren aus, und des Indianers Vorhersage erfüllte sich zum Glück für unsere Forschungen. Die Weißen Wasser brachten uns nach und nach hellen Himmel, Sterne, Moskitos und Krokodile. Wir fuhren zwischen den Inseln Zaruma und Mini oder Mibita durch, die mit dichtem Pflanzenwuchs überzogen sind; und nachdem wir die rapides von Piedra de Uinumane hinaufgefahren waren, gelangten wir in acht Meilen Entfernung vomFortinSan Carlos in den Rio Casiquiare. Die Piedra oder der Granitfels, der den kleinen Katarakt bildet, zog durch die vielen ihn durchziehenden Quarzgänge unsere Aufmerksamkeit auf sich. Diese Gänge waren mehrere Zoll breit, und ihre Masse erwies, daß sie nach Alter und For­ mation sehr verschieden seien. Ich sah deutlich, daß überall, wo sie sich kreuzten, die Gänge, die Glimmerschiefer und schwarzenSchörl enthielten, diejenigen verwarfen, die nur weißen Quarz und Feldspat enthielten. Der Theorie Werners zufolge waren demnach die schwarzen von jüngerer Bil­ dung als die weißen Gänge. Als Schüler der Schule von Freiberg konnte ich nicht anders als mit einigem Vergnügen amFelsen von Uinumane verweilen, um in der Nähe des Äquators Erscheinungen zu beobachten, welche ich so oft in den Gebirgen meines Vaterlands gesehen hatte. Die T heorie, welche diese Gänge als mit verschiedenen Substanzen von oben her ausgefüllte Spalten betrachtet, behagt mir zwar, ich gestehe es, gegenwärtig nicht mehr so sehr wie damals; dagegen verdienen diese Zustände des Durchschneidens und der Verwerfung, die in den steinigen und metallischen Adern wahrge­ nommen werden, unstreitig die Aufmerksamkeit der Reisenden als eine der allgemeinsten und beständigsten Erscheinungen der Geologie. Ostwärts von Javita, auf der ganzen Länge des Casiquiare und vorzüglich in den Bergen von Duida, vermehrt sich die Zahl der Gänge im Granit. Diese Gänge sind mit Drusen angefüllt, und ihre Menge scheint anzuzeigen, daß der Granit dieser Gegenden keine sehr alte Formation ist. Auf dem Felsen Uinumane, der Insel Chamanare gegenüber, am Rand

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der Wasserfälle, fanden wir einige Flechten; und weil der Casiquiare nahe an seiner Mündung sich plötzlich von Osten nach Südwesten dreht, sahen wir hier zum ersten Mal diesen majestätischen Arm des Orinoco in seiner ganzen Breite. Er hat der allgemeinen Ansicht der Landschaft zufolge viel Ähnlichkeit mit dem Rfo Negro. Wie in dessen Flußbett dehnen sich die Bäume auch dort bis ans Ufer aus und bilden da ein Dickicht; aber der Casi­ quiare hat weißes Wasser [Mischwasserfluß. Anmerkung des Hrsg.], und er wechselt öfter seine Richtung. In der Nähe der rapides von Uinumane er­ scheint er fast breiter als der Rfo Negro, und bis oberhalb von Vasiva habe ich ihn überall250 bis280 Toisen breit angetroffen. Ehe wir an der Insel Ga­ rigave vorbeikamen, bemerkten wir nordöstlich, fast am Horizont, einen Hügel mit halbkugelförmigem Gipfel. In allen Zonen ist diese Form den Granitbergen eigentümlich. Weil man beständig von ausgedehnten Flächen umgeben ist, erregen abgesondert stehende Felsen und Hügel die Aufmerk­ samkeit des Reisenden. Ein zusammenhängendes Gebirge findet sich erst weiter östlich, gegen die Quellen von Pacimoni, von Siapa und von Mavaca hin. Südlich der rauda/es von Caravine bemerkten wir, daß der Casiquiare mittels der Krümmungen seines Laufs sich neuerlich San Carlos nähert. Vom Fortfn bis zur Mission von San Francisco Solano, wo wir übernach­ teten, beträgt der Landweg nur 2Yzlieues, zu Wasser zählt man 7 bis 8. In der vergeblichen Hoffnung, Sterne zu sehen, brachte ich einen Teil der Nacht im Freien zu. Die Luft war neblig trotz der aguas blancas, welche uns einem all­ zeit sternenhellen Himmel entgegenführen sollten. Die am linken Ufer des Casiquiare gelegene Mission von San Francisco Solano erhielt ihren Namen zu Ehren eines der Häupter der Grenzexpedi­ tion, Don Jose Solano, von welchem wir schon öfters in diesem Werk Anlaß hatten zu sprechen. Dieser gebildete Offizier ist niemals über das Dorf von San Fernando de Atabapo hinausgekommen; er hat weder die Fluten des Rfo Negro und des Casiquiare noch die des Orinoco östlich der Einmündung des Guaviare gesehen. Es ist ein aus der Unkunde der spanischen Sprache herrührender Irrtum, wenn Geographen geglaubt haben, auf der be­ rühmten Karte von La Cruz Olmedilla die Spur eines 400 Iieues langen Weges gefunden zu haben, worauf Don Jose Solano, wie man behauptet, die Quellen des Orinoco, den See Parima oder das weiße Meer, die Gestade des Cababuri und des Uteta erreicht haben soll. Die Mission von San Francisco ist gleich den meisten christlichen Niederlassungen südlich der großen Kata­ rakte des Orinoco nicht von Mönchen, sondern durch Militärbehörden ge­ gründet worden. Zur Zeit der Grenzexpedition wurden Dörfer angelegt, nach Maß, wie ein Subteniente oder ein Korporal mit seinen Leuten vor­ rückte. Ein Teil der Eingeborenen zog sich, um unabhängig zu bleiben und den Kampf zu vermeiden, zurück; andere, deren mächtigste Häuptlinge ge­ wonnen waren, schlossen sich den Missionen an. Wo keine Kirche war, da be-

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gnügte man sich, ein großes Kreuz von rotem Holz aufzurichten und neben dem Kreuz eine

casa fuerte zu erbauen,

das heißt ein Haus, dessen Wände

aus großen, waagerecht übereinanderliegenden Balken bestanden. Dieses Haus hatte zwei Stockwerke; im oberen waren zwei Steinböller oder Ka­ nonen von kleinem Kaliber aufgestellt; im Erdgeschoß wohnten zwei von einer indianischen Familie bediente Soldaten. Die unter den Eingeborenen, mit welchen man in Frieden lebte, legten ihre Pflanzungen um die casa fuerte an. Von den Soldaten wurden sie beim Schall des Horns oder eines

botuto

aus gebrannter Erde zusammengerufen, wenn ein feindlicher Angriff zu fürchten war. Auf diese Art wurden die angeblichen 19 christlichen Niederlassungen durch DonAntonio Santos auf dem Weg von Esmeralda nach Ere­ bato gegründet. Militärposten, welche keinerlei Einfluß auf die Zivilisie­ rung der Eingeborenen hatten, figurierten auf den Karten und in den Werken der Missionare als Dörfer

(pueblos) und als reducciones apost6licas.

Das militärische Übergewicht erhielt sich an den Gestaden des Orinoco bis 1785, als das Regiment der Franziskaner begann. Die wenigen seither ge­

gründeten oder vielmehr wiederhergestellten Missionen sind das Werk dieser Patres; denn heutzutage sind die in den Missionen verteilten Soldaten von den Missionaren abhängig oder werden wenigstens, den Anmaßungen kirchlicher Hierarchie entsprechend, dafür angesehen. Die Indianer, die wir zu San Francisco Solano trafen, gehörten zwei Na­ tionen an, den Pacimonales und den Cheruvichahenas. Weil diese von einem am Rio Tomo, in der Nähe der Manivas vom oberen Guainia angesiedelten beträchtlichen Stamm herkommen, suchte ich von ihnen einige Angaben über den oberen Lauf und die Quellen des Rio Negro zu erhalten; doch der Dolmetscher, dessen ich mich bediente, konnte ihnen den Sinn meiner Fragen nicht verständlich machen. Sie wiederholten immer nur bis zum Überdruß, die Quellen des Rio Negro und des Inirida befänden sich nahe beisammen "wie zwei Finger der Hand". In einer dieser Hütten der Pacimo­ nales kauften wir zwei schöne und große Vögel, einen Tucan (Piapoco), der dem

Ramphastos erythrorynchos verwandt ist,

und den Ana, eine Art Aras

von 17 Zoll Länge, über den ganzen Körper purpurrot wie der

Macao.

Psittacus

Wir hatten in unserer Piroge bereits sieben Papageien, zwei Fels­

hühner (Pipra,

coq de roche),

einen Motmot, zwei Guans oder Pavas de

monte, zwei Manaviris (Cercoleptes oder

Viverra caudivolvula)

und acht

Affen, nämlich zweiAtelesi [Marimonda der großen Katarakte, Simia Belze­

buth, Brisson] zwei Titis (Simia sciurea, Buffons Sai:miri), eine Viudita (Simia lugens), zwei Dourouculis oder Nacht-Affen [cusicusi oder Simia tri­ virgata] und den kurzgeschwänzten Cacajao [Simia melanocephala]. Auch beschwerte sich der Pater Zea, wenn auch nur leise, über das tägliche Wachstum unserer wandernden Menagerie. Der Tucan ist in seiner Lebens­ weise und Intelligenz dem Raben gleich, ein kühnes und leicht zähmbares

·

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Tier. Sein langer und starker Schnabel dient ihm, sich von weitem zu vertei­ digen. Er will Herr im Hause sein, stiehlt, was ihm erreichbar ist, badet sich oft und mag gern am Flußufer fischen. Der Vogel, den wir gekauft hatten, war noch sehr jung; aber die ganze Fahrt über kurzweilte es ihn, die finsteren und zornmütigen

cusicusis oder Nachtaffen zu necken. Ich habe nicht ge­

sehen, daß derTucan, wie einige naturgeschichtliche Werke melden, wegen der Bildung seines Schnabels gezwungen sei, um seine Speise zu ver­ schlingen, sie erst in die Höhe zu werfen. Ihr Aufheben vom Boden ist für ihn allerdings mühsam. Hat er sie aber einmal mit der Spitze seines unge­ heuren Schnabels erfaßt, dann braucht er ihn nur durch Rückwerfen des Kopfs in die Höhe zu heben und ihn, so lange das Hinunterschlingen dauert, senkrecht zu halten. Wenn er trinken will, macht dieser Vogel nicht weniger seltsame Gebärden. Die Mönche sagen, er schlage über dem Wasser das Zei­ chen des Kreuzes, und dieser Volksglaube ist es, der die Creolen veranlaßt hat, dem Tucan den wunderlichen Namen Di6stede (Gott vergelt dir's) zu geben. Die meisten unserer Tiere waren in kleine Korbkäfige eingeschlossen, an­ dere liefen in der Piroge frei umher. Wenn es zu regnen drohte, erhoben die Aras ein abscheuliches Geschrei, derTucan strebte zum Fischfang ans Ufer hin, die kleinenTitisaffen suchten den Pater Zea auf, um sich in den ziemlich weiten Ärmeln seiner Ordenskleider zu bergen. Diese Auftritte wieder­

mosquitos. (petaca) zu stehen, der

holten sich öfter, und wir vergaßen darüber die Plagen der Nachts im Biwak kam in die Mitte ein Lederkasten

unseren Proviant enthielt, neben ihn die Instrumente und die Käfige mit den Tieren; ringsum wurden unsere Hängematten aufgehängt und weiterhin die der Indianer. Den Außenkreis bildeten die Feuer, welche zum Schutz gegen die Jaguare des Waldes angezündet werden. So war die Einrichtung unseres Lagers an den Ufern des Casiquiare beschaffen. Die Indianer erzählten wie­ derholt von einem kleinen nächtlichen langnasigen Tier, das die jungen Pa­ pageien in ihrem Nest überfällt und seine Hände zum Fressen gebraucht wie die Affen und die

manaviris oder kinkajous. Sie nannten es guachi; wahr­ Viverra nasua, die ich in Mexico, nicht

scheinlich ist es ein coati, vielleicht die

aber in dem von mir durchreisten Teil Südamerikas wild zu sehen Gelegen­ heit hatte. Die Missionare haben den Eingeborenen streng untersagt, das Fleisch des

guachi zu essen, welchem einem sehr verbreiteten Vorurteil zu­

folge eben jene stimulierenden Eigenschaften zugeschrieben werden, die die Morgenländer im Skinkos [Lacerta scincus L. etc.] und die Amerikaner im Fleisch des Caymans zu finden glauben. Am 11. Mai [1800] verließen wir ziemlich spät die Mission San Francisco Solano, um eine nur kleineTagereise auszuführen. Die gleichförmige Dunst­ schicht fing an, sich in Wolken von bestimmten Umrissen zu teilen. In den oberen Luftregionen ließ sich ein schwacher Ostwind spüren. In diesen Zei-

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chen erkannten wir eine nahe Wetteränderung und wollten uns nicht von der Mündung des Casiquiare entfernen, in der Hoffnung, es möchte uns ge­ lingen, in der kommenden Nacht den Durchgang eines Gestirns im Meridian zu beobachten. Südwärts erkannten wir den Cafio Daquiapo, nordwärts den Guachaparu und einige Meilen weiter die rapides von Cananivacari. Die Schnelligkeit der Strömung betrug 6,3 Fuß in der Sekunde, so daß wir gegen Wellen, welche im raudal ein ziemlich starkes Geräusch verursachten, zu kämpfen hatten. Wir landeten, und Herr Bonpland entdeckte wenige Schritte vom Ufer einen almendran [Kolonialspanisch; span. almendro. An­ merkung des Hrsg.]

[juvia]

oder einen prächtigen Stamm der Bertholletia

excelsa.' Die Indianer versicherten, in San Francisco Solano, in Vasiva und in

Esmeralda sei das Vorkommen dieses köstlichen Baumes an den Ufern des Casiquiare unbekannt. Sie glaubten nicht, daß der über 60 Fuß hohe Baum zufällig von einem Reisenden ausgesät worden wäre. Aus den in San Carlos angesteilten Versuchen ist bekannt, wie selten die Bertholletia wegen der holzigen Fruchthülse und des so leicht ranzig werdenden Öls der Mandel zum Keimen gebracht werden kann. Vielleicht deutet dieser Stamm das Dasein einer Bertholletia-Waldung im Binnenland östlich oder nördlich an. Zuverlässig bekannt ist wenigstens, daß dieser schöne Baum unter dem Brei­ tenkreis von 3° in den Cerros de Guayana wild wächst. Die gesellig wach­ senden Pflanzen haben nur selten genau bezeichnete Grenzen, und bevor man einen palmar oder einen pinal erreicht, trifft man auf vereinzelte Pairn­ oder Kiefernbäume. Sie gleichen Kolonisten, die mitten in ein von verschie­ denartigen Gewächsen bevölkertes Land vorgedrungen sind. Vier Meilen von den rapides von Cunanivacari entfernt stehen inmitten der Ebenen Felsen der bizarrsten Gestalt. Zuerst eine wenig breite Mauer, 80 Fuß hoch und senkrecht abgeschnitten; am südlichen Ende dieser Mauer

erscheinen zwei Türmchen, deren Granitschichten fast waagerecht liegen. Die Gruppierung der Felsen von Guanari ist dermaßen symmetrisch, daß man Ruinen eines alten Gebäudes zu sehen glauben könnte. Sind es die Überbleibsel von Inseln mitten in einem Binnenmeer, das die ganz flachen Ebenen zwischen der Sierra Parima und den Serra dos Parecis bedeckte, oder sind diese Felsenmauern und Granittürmchen durch noch im Inneren unseres Planeten wirksame elastische Kräfte emporgehoben worden? Über die Entstehung der Berge ein wenig zu träumen, mag einem vergönnt sein, wenn man die Anordnung der mexicanischen Vulkane und der Trachyt­ Gipfel auf einer verlängerten Spalte gesehen hat, wenn man in den südame­ rikanischen Anden in ein und derselben KetteUr-und vulkanisches Gebirge aufgereiht sah, und wenn man sich der Insel von drei Meilen Umfang und von außerordentlicher Höhe erinnert, die in unseren Tagen nahe bei Una­ laska [Aleuten-Insel] vom Meeresgrund emporgestiegen ist. Die Ufer des Casiquiare werden durch die Chiriva-Palme mit gefiederten

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und am Unterteil silberfarbeneu Blättern verschönert. Die übrige Waldung enthält nur Bäume mit großen, lederartigen, glänzenden und ungezähnten Blättern. Dieses eigentümliche Aussehen der Vegetation des Guainia, des Tuamini und des Casiquiare ist die Folge des Übergewichts, welches in den Äquatorialländern die Familien der Guttbäume (Guttiferen), der Busen­ bäume (Sapotillien) und der Laurineen [Lorbeer] erhalten. Weil der heitere Himmel uns eine schöne Nacht verhieß, beschlossen wir, schon um 5 Uhr abends unser Lager in der Nähe der Piedra de Culimacari zu errichten, eines Granitfelsen, der gleich allen vorhin beschriebenen, zwischen dem Atabapo und dem Casiquiare vorkommenden, abgesondert steht. Die Aufnahme der Krümmungen des Flusses zeigt uns, daß dieser Fels ungefähr im Parallel der Mission von San Francisco Solano liegt. In diesen öden Landschaften, in denen der Mensch nur flüchtige Spuren seines Daseins zurückließ, habe ich jedesmal versucht, in der Nähe einer Flußmündung oder am Fuß eines durch seine Form ausgezeichneten Felsens Beobachtungen anzustellen. Es gibt nur diese, ihrer Natur nach unwandelbaren Punkte, die als Grundlage geo­ graphischer Karten dienen können. In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai er­ hielt ich eine gute Breitenbeobachtung mit Alpha im Kreuz des Südens; die Länge wurde wohl weniger genau, mittels der zwei schönen, zu den Füßen des Centaur glänzenden Sterne chronometrisch bestimmt. Diese Beobach­ tung hat uns gleichzeitig und mit einer fü�; geographische Zwecke hinlängli­ chen Genauigkeit die Lage der Mündung des Rio Pacimoni, des Fortins von San Carlos und der Vereinigung des Casiquiare mit dem Rio Negro bekannt gemacht. Der Felsen von Culimacari liegt sehr genau unter 2o 0' 42" Breite und wahrscheinlich unter 69° 33' 50" Länge. Ich habe in zwei spanisch ge­ schriebenen Abhandlungen, deren die eine dem Generalkapitän in Caracas, die andere dem Staatsminister, Herrn d'Urquijo, zugestellt worden ist, dar­ gelegt, wie diese astronomischen Beobachtungen für die Kenntnis der Grenzen der portugiesischen Besitzungen benutzt werden können. Zur Zeit von Solanos Expedition wurde die Vereinigung des Casiquiare und des Rio Negro zu einem halben Grad nördlich vom Äquator angenommen; und ob ­ gleich die Grenzkommission nie zu einem abschließenden Resultat gelangt ist, wurde in den Missionen jedoch stets der Äquator als eine provisorisch anerkannte Grenze betrachtet. Aus meinen Beobachtungen aber ergibt sich, daß San Carlos de Rio Negro oder, wie man sich hier prunkvoll aus­ drückt, die Grenzfestung, weit entfernt unter 0° 20' Breite liegt, wie der Pater Caulin versichert, oder unter 0° 53', wie La Cruz und Surville (die bestellten Geographen der Real Expedici6n de limites) behaupten, vielmehr unter 1 o 53' 42" zu suchen ist. Der Äquator verläuft also nicht nördlich des portu­ giesischen Fortin von Säo Jose da Marabitanas, wie auf allen bisherigen Karten, die neue Ausgabe der Karte von Arrowsmith ausgenommen, ange­ geben, sondern 25 Iieues südlicher, zwischen San Felipe und der Mündung

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des Rio Guape. Aus der handschriftlichen Karte des Herrn Requena, die in meinem Besitz ist, erhellt, daß die portugiesischen Astronomen bereits 1783 diesen Tatbestand gekannt haben, demnach 35 Jahre, ehe er auf unseren europäischen Karten bemerkt worden ist. Weil in der Capitanfa general von Caracas von jeher die Meinung herrschte, der geschickte Ingenieur Don Gabriel Clavero habe das Fortfn von San Carlos de Rfo Negro auf die Äquinoktiallinie gebaut, und weil die in der Nähe dieser Linie beobachteten Breiten nach Herrn de La Condamines Versicherung zu weit südlich angegeben wurden, erwartete ich den Äquator einen Grad nördlich von San Carlos und demnach an den Ufern des Temi und desTuamini zu finden. Die in der Mission von San Baltasar angestellten Beobachtungen (der Durchgang von drei Sternen im Meridian) hatten mir bereits die Unrichtigkeit dieser Vermutung angedeutet; die Breite von Piedra Culimacari hat mich jedoch erst mit der wahren Lage der Grenzen be­ kannt gemacht. Die Insel San Jose im· Rio Negro, welche bis jetzt als Grenze zwischen den spanischen und portugiesischen Besitzungen ange­ sehen worden ist, befindet sich wenigstens unter 1a 38' nördlicher Breite; und falls die Kommission von Huriaga und Solano zum Ziel ihrer langen Un­ terhandlungen gelangt sein würde, wenn der Äquator vom Hof in Lissabon als die Grenze beider Staaten entscheidend anerkannt worden wäre, so würden sechs portugiesische Dörfer und das Fortfn von San Jose selbst, welche nördlich des Rfo Guape liegen, gegenwärtig der Krone Spaniens an­ gehören. Was damals mittels einiger astronomischer Beobachtungen er­ worben wurde, ist bedeutender, als das was man gegenwärtig besitzt; aber man muß hoffen, daß zweiVölker, welche die ersten Keime der Zivilisation auf einer ungeheuren Ausdehnung des südlichen Amerika ostwärts der Anden ausgestreut haben, den Grenzstreit über einen 33 Lieues breiten Landstrich und über den Besitz eines Stroms, nicht erneuern werden, dessen Schiffahrt frei sein soll wie die des Orinoco und des Amazonenstroms. Den 12. Mai [1800]. Vergnügt über unsere Beobachtungen, verließen wir den Felsen Culimacari um 1Y2 Uhr in der Nacht. Die Plage der mosquitos, der wir neuerdings ausgesetzt waren, vermehrte sich in dem Maße, wie wir uns vom Rfo Negro entfernten. ImTal des Casiquiare finden sich keine zan­

cudos (Culex); dagegen kommen die Simulien und alle anderen Insekten aus der Schnaken-Familie derTipulae dort um so häufiger und giftiger vor. Weil wir in diesem feuchten und ungesunden Klima noch acht Nächte unter freiem Himmel verbringen mußten, ehe wir die Mission von Esmeralda er­ reichten, war der Pilot besorgt, unsere Flußfahrt so einzurichten, daß wir die gastfreundliche Aufnahme beim Missionar von Mandavaca genießen und Obdach im DorfVasiva finden konnten. Das Fahren gegen die Strömung war beschwerlich, die 9 Fuß und an einigen Stellen (wo ich sie genau gemessen habe) 11 Fuß 8 Zoll auf die Sekunde, demnach fast acht Meilen in der

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Stunde, betrug. Unser Biwak stand wahrscheinlich nicht über drei Lieues in Luftlinie von der Mission Mandavaca entfernt, und obgleich wir über die Ar­ beit unserer Ruderer gar nicht zu klagen hatten, brauchten wir dennoch 14 Stunden für die kurze Fahrt. Gegen Aufgang der Sonne kamen wir an der Einmündung des Rio Paci­ moni vorbei. Dies ist der Fluß, von welchem weiter oben anläßlich des Han­ dels mit Sarsaparille die Rede war und der (durch den Baria) eine so außer­ ordentliche Verzweigung mit dem Cababuri darstellt. Der Pacimoni ent­ springt in einem Bergland und aus der Vereinigung von drei kleinen Flüssen, die auf den Karten der Missionare nicht gefunden werden. Seine Wasser sind schwarz, doch in minderem Grad als die des Vasiva-Sees, welcher sich eben­ falls mit dem Casiquiare verbindet. Zwischen diesen zwei von Osten kom­ menden Zuflüssen befindet sich die Einmündung des Rio Idapa, dessen Wasser weiß sind. Ich will nicht mehr auf die Schwierigkeit der Erklärung dieses Nebeneinanderseins verschieden gefärbter Flüsse auf einem kleinen Landstrich zurückkommen und nur bemerken, daß an der Mündung des Pa­ cimoni und an den Ufern des Vasiva-Sees uns neuerlich die Reinheit und aus­ nehmende Klarheit dieser braunen Wasser auffallend gewesen ist. Alte ara­ bische Reisende hatten schon bemerkt, daß der alpine Arm des Nils, wel­ cher sich in der Nähe von Halfaya mit dem Bahar-el-Abiad verbindet, so durchsichtig ist, daß man die Fische auf dem Grund des Stroms unter­ scheidet.

[Über Anthropophagie] Ehe wir in der Mission von Mandavaca eintrafen, kamen wir bei ziemlich stürmischen rapides vorbei. Das Dorf, das auch den Namen Quirabuena führt, zählt nur 60 Eingeborene. Der Zustand dieser christlichen Ansied­ lungen ist überhaupt so elend, daß auf der ganzen Länge des Casiquiare in einer Ausdehnung von 50 Lieues keine 200 Einwohner angetroffen werden. Auch waren diese Flußgestade vor der Ankunft der Missionare bevölkerter. Die Indianer haben sich ostwärts in die Wälder zurückgezogen; denn die westlichen Ebenen sind fast völlig unbewohnt. Die Eingeborenen nähren sich einen Teil des Jahres hindurch von den großen Ameisen, die oben be­ reits beschrieben wurden. Diese Insekten sind hier ebenso beliebt, wie es auf der südlichen Halbkugel die zur Gattung Epeira gehörigen Spinnen sind, die den Wilden in Neu-Holland [Australien] als Leckerbissen gelten. In Mandavaca trafen wir den guten alten Missionar, der schon zwanzig Moski­ tojahre in den bosques del Casiquiare zugebracht hatte und dessen Schenkel von Insektenstichen dermaßen getigert waren, daß man Mühe hatte, seine weiße Haut zu erkennen. Er sprach uns von seiner Verlassenheit und von der traurigen Notwendigkeit, derzufolge er in beiden Missionen von Mandavaca

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und Vasiva nicht selten die grauenhaftesten Verbrechen unbestraft lassen müsse. An letzterem Ort hatte vor etlichen Jahren ein indianischer Alkalde eine seiner Frauen gefressen, nachdem er sie in seinen conuco gebracht und hier zur Mast gut genährt hatte. Die Menschenfresserei der Völkerschaften in Guayana ist niemals das Ergebnis des Mangels an Nahrung oder eines abergläubischen Kultes wie auf den Inseln der Südsee. Sie ist vielmehr allge­ mein eine Wirkung der Rachgier des Siegers oder (wie die Missionare sich ausdrücken) einer entarteten Eßlust. Der Sieg über eine feindliche Horde wird mit einer Mahlzeit gefeiert, worin einige Stücke vom Leichnam eines Gefangenen verzehrt werden. Ein andermal wird zur Nachtzeit eine wehr­ lose Haushaltung überfallen, oder ein Gegner, den man zufällig im Wald trifft, wird mit einem vergifteten Pfeil getötet. Die Leiche wird in Stücke zer­ hauen und als Trophäe in die heimatliche Hütte gebracht. Die Zivilisation ist es, welche dem Menschen die Einheit des Menschengeschlechts bewußtge­ macht und ihm seine Verwandtschaft mit Geschöpfen, deren Sprache und Sitten ihm fremd sind, sozusagen offenbart hat. Die Wilden kennen einzig ihre Familie. Ein Stamm ist in ihren Augen nur ein zahlreicherer Verein von Verwandten. Wenn unbekannte Indianer aus den Wäldern in den von ihnen bewohnten Missionen eintreffen, bedienen sie sich eines Ausdrucks, der mir wegen seiner natürlichen Herzlichkeit mehrmals aufgefallen ist: "Es sind gewiß Verwandte von mir, denn ich verstehe, wenn sie mit mir reden." Eben diese Wilden verabscheuen alles, was nicht zu ihrer Familie oder zu ihrem Stamm gehört. Sie kennen die Pflichten gegen Familie und Verwandte, nicht aber die der Menschlichkeit, welche die

Überzeugung eines gemeinsamen,

alle uns gleichartigen Geschöpfe umfassenden Bandes voraussetzt. Kein Mitleidsgefühl hält sie ab, die Frauen und Kinder eines feindlichen Stammes zu morden. Die letzteren sind es dann auch vorzugsweise, die bei den Mahl­ zeiten verzehrt werden, womit der Ausgang eines Gefechtes oder eines ent­ fernten Kriegszugs gefeiert wird. Der Haß der Wilden gegen die meisten eine andere Sprache redenden Menschen, die ihnen als Barbaren eines niedrigeren Stammes erscheinen, erneuert sich oftmals in den Missionen, nachdem er lange geschlummert hat. Nachstehender Vorfall hatte sich wenige Monate vor unserer Ankunft in Esmeralda ereignet. Ein Indianer, aus dem Wald hinter dem Duida gebürtig, unternahm eine Reise mit einem anderen Indianer, welcher früher an den Gestaden des Ventuario von den Spaniern gefangengenommen worden war,

debajo de la campana", ruhig gelebt hatte. Der letztere konnte nur langsam gehen, weil

seither aber im Dorf oder, wie man hier sagt, "unter der Glocke,

er an dem Fieber litt, wovon die Eingeborenen befallen werden, wenn sie in die Mission kommen und ihre Lebensart plötzlich ändern. Ü ber die Verzöge­ rung ärgerlich, mordete ihn sein Reisegefährte und verbarg den Leichnam in dichtem Gebüsch unfern von Esmeralda. Dieses Verbrechen wäre wie so

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viele andere der Indianer untentdeckt geblieben, wenn der Mörder nicht den folgenden Tag ein Gastmahl zu geben unternommen hätte. Er wollte seine Kinder, die in der Mission erzogen und Christen geworden waren, be­ reden, sie sollten ihn begleiten, um einigeTeile des Leichnams zu holen. Die Kinder hielten ihn nur mit viel Mühe davon ab, und infolge des häuslichen Streits, zu dem dies in der Familie führte, erfuhr der in Esmeralda postierte Soldat, was die Indianer ihm gerne verbergen wollten. Bekanntlich wird die Anthropophagie und die damit öfters verbundene Sitte der Menschenopfer in allen Weltgegenden und unter Menschen von sehr ungleicher Abstammung angetroffen; was jedoch beim Studium der Geschichte noch auffallender erscheint, sind die Menschenopfer, die sich mitten in einer ziemlich vorgerückten Zivilisation erhalten haben, und der Umstand, daß Völker, welche weder zu den dümmsten noch zu den rohesten gehören, sich es zur Ehre rechnen, ihre Gefangenen zu verzehren. Diese Be­ obachtung weckt eine traurige und widrige Empfindung, welche den Missio­ naren nicht entgangen ist, die aufgeklärt genug sind, um über die sittlichen Verhältnisse der benachbarten Völker nachzudenken. Die Cabres, die Gui­ punavi und die Cariben sind immer mächtiger und zivilisierter gewesen als die übrigen Horden des Orinoco; und doch waren die beiden ersteren der Anthropophagie ergeben, welche den letzteren fremd blieb. Man muß sorg­ fältig die verschiedenen Zweige unterscheiden, in welche die große Familie der Cariben-Völker zerfällt. Es sind ihrer ebenso viele wie bei den Mongolen oder Westtartaren oder Turkmenen. Die Cariben des Festlandes, die in den Ebenen zwischen dem unteren Orinoco, dem Rio Branco, dem Essequibo und den Quellen des Oyapoc wohnen, verabscheuen die Sitte, besiegte Feinde zu fressen. Zur Zeit der ersten Entdeckung von Amerika wurde diese barbarische Gewohnheit nur bei den Cariben der Antillen angetroffen. Diese sind es, durch welche die Worte Kannibalen, Cariben und Anthropo­ phagen gleichbedeutend wurden; ihre Grausamkeiten waren es, welche das im Jahr 1504 erlassene Gesetz veranlaßten, wodurch die Spanier ermächtigt wurden, die Angehörigen aller amerikanischen Völkerstämme, deren Cari­ benherkunft erwiesen werden konnte, zu Sklaven zu machen. Ich glaube in­ zwischen, daß die Anthropophagie der Bewohner der Antillen in den Erzäh­ lungen der ersten Reisenden sehr übertrieben worden ist. Ein ernster und besonnenener Historiker, Herera, hat diese Erzählungen der Aufnahme in die > Decadas hist6ricas< gewürdigt und sogar einen außerordentlichen Vor­ fall glaubwürdig gefunden, welcher die Cariben veranlaßt haben soll, auf ihre barbarischen Sitten zu verzichten. "Die Eingeborenen einer kleinen Insel hatten einen von der Küste Puerto Ricos entführten Dominikaner­ Mönch verspeist, worauf sie alle krank wurden und von da an weder Mönche noch Laien essen mochten." Wenn die Cariben vom Orinoco bereits zu An­ fang des 16.Jahrhunderts in ihrer Lebensart von denen der Antillen ver-

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schieden waren und wenn sie stets zu Unrecht der Anthropophagie beschul­ digt worden sind, dann wird es schwerfallen, diesen Unterschied aus einer Verbesserung ihres gesellschaftlichen Zustandes zu erklären. Es finden sich die seltsamsten Kontraste in diesem Gemisch von Völkerschaften, von denen die einen ausschließlich von Fischen, Affen und Ameisen leben, wäh­ rend andere mehr oder weniger Ackerbauern sind, sich mehr oder weniger mit Anfertigung und Bemalung von Töpferware, mit Weberei von Hänge­ matten oder Baumwolltüchern beschäftigen. Mehrere dieser letzteren haben unmenschliche Gebräuche beibehalten, die den ersteren völlig unbe­ kannt sind. Charakter und Sitten einer Nation sind wie ihre Sprache Aus­ druck und Zeugnis ihres vergangenen sowohl als gegenwärtigen Zustands. Die gesamte Geschichte der Zivilisierung oder der Verwilderung einer Horde, die fortschreitende Entwicklung der verschiedenen Stationen ihres Lebens müßte man kennen, um die Probleme lösen zu können, welche die alleinige Kenntnis der gegenwärtigen Verhältnisse nicht erhellen kann. "Sie können sich nicht vorstellen", sagte der alte Missionar von Manda­ vaca, "welche Verderbtheit in dieser familia

de Indios herrscht. Man nimmt

Ankömmlinge eines neuen Stammes im Dorf auf; sie scheinen sanft, ehrlich und arbeitsam zu sein. Doch erlaubt man ihnen nur die Teilnahme an einem Streifzug

(entrada),

um Eingeborene einzubringen, werden Sie Mühe haben,

sie vom Morden dessen, was ihnen in die Hände fällt, und vom Verstecken einiger Stücke der Leichen abzuhalten. Beim Nachdenken über die Sitten dieser Indianer erschrickt man gleichsam über den Anblick dieser Vereini­ gung von Gefühlen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen, über diese Neigung der Völker, sich nur teilweise zu humanisieren, dieses Übergewicht der Bräuche, Vorurteile und Traditionen über natürliche Herzensneigun­ gen." In unserer Piroge befand sich ein flüchtiger Indianer vom Rfo Guaicia, der sich innerhalb weniger Wochen soweit ausgebildet hatte, daß er uns bei der Aufstellung der für unsere nächtlichen Beobachtungen erforderlichen Werkzeuge behilflich sein konnte. Er schien ebenso sanft wie verständig, und wir hatten vor, ihn in unseren Dienst zu nehmen. Mit großem Bedauern vernahmen wir von ihm in einem durch den Dolmetscher vermittelten Ge­ spräch, das Fleisch der Marimondes-Affen, obwohl es schwärzlich aussehe, schiene ihm wie Menschenfleisch zu schmecken. Er versicherte, seine Ver­ wandten (das heißt die Leute von seinem Stamm) bevorzugten beim Men­ schen wie Bären das Innere der Hände. Während dieser Erzählung drückten seine Gebärden eine wilde Lust aus. W ir ließen diesen jungen Mann, der üb­ rigens ruhig und in den kleinen Diensten, die er uns leistete, sehr gefällig war, befragen, ob er zuweilen noch einige Neigung in sich verspüre, "von Cheruvichahena-Indianern zu essen". Er antwortete hierauf gelassen, in der Mission werde er nur speisen, was er die los Padres essen sehe. Die Vor­ würfe, welche den Eingeborenen über die verabscheuenswürdige Sitte, von

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der hier die Rede ist, gemacht werden, verhallen, ohne irgendeinen Ein­ druck zu machen; es verhält sich damit gerade, wie wenn ein Brahmane vom Ganges, der in Buropa reist, uns den Genuß des Tierfleischs vorwerfen würde. Der Indianer vom Guaicia hielt den Cheruvichahena für ein von ihm selbst völlig verschiedenes Wesen, und er glaubt, ihn töten zu dürfen wie den Jaguar des Waldes. Aus Rücksichten des Anstandes nur wollte er sich wäh­ rend seines Aufenthalts in der Mission ausschließlich an die Speisen halten, welche die Padres genossen. Wenn aber die Eingeborenen entweder zu den Ihren

(al monte)

zurückkehren oder vom Hunger geplagt werden, nehmen

sie bald ihre Anthropophagen-Gewohnheiten wieder an. Wie sollten wir uns über diesenUnbestand bei den Völkern des Orinoco wundern, wenn furcht­ bare und nur allzu wahre Beispiele uns an Ereignisse erinnern, die in großen Hungersnöten unter zivilisierten Völkern stattgefunden haben? Im 13. Jahr­ hundert hatte sich in

Ägypten die Gewohnheit, Menschenfleisch zu essen, Ärzten

unter allen Klassen der Einwohner verbreitet, besonders den

wurden arge Fallstricke gelegt. Hungernde gaben sich für krank aus und ließen den Arzt rufen, nicht um seines Rates willen, sondern um ihn zu verspeisen. Ein völlig glaubwürdiger Historiker, Abd Allatif, meldet uns, "wie eine Sitte, die anfangs Abscheu und Schrecken verursachte, in kurzer Zeit keinerlei Befremden mehr erregte". *

Obgleich die Indianer des Casiquiare sehr leicht ihre barbarischen Ge­ wohnheiten wieder annehmen, zeigen sie doch in den Missionen Verstand, einige Arbeitsliebe und besonders viel Leichtigkeit beim Lernen der kastilia­ nischen Sprache. Weil die meisten Dörfer von drei bis vier Nationen be­ wohnt sind, die einander nicht verstehen, bietet eine fremde Sprache, welche gleichzeitig die der bürgerlichen Obrigkeit und die Sprache der Mis­ sionare ist, den Vorteil eines allgemeinen Verständigungsmittels. Ich habe einen Poignave- sich mit einem Guahibo-Indianer in kastilianischer Sprache unterhalten gesehen, obgleich beide erst seit drei Monaten ihre Wälder ver­ lassen hatten. Von Viertelstunde zu Viertelstunde brachten sie einen müh­ samen Satz zusammen, worin das Zeitwort, ohne Zweifel der grammati­ schen Wendung ihrer eigenen Sprachen gemäß, ständig als Gerundium er­ schien: Als ich sehend Padre, Padre mir sagend (statt: Als ich den Missionar sah, sagte er zu mir). Ich habe an einer anderen Stelle geäußert, wie ver­ ständig mir die Idee der Jesuiten erschien, eine der Sprachen des kulti­ vierten Amerika, zum Beispiel die der Peruaner [die Ketschua-Sprache,

lengua del Inca],

zur allgemeinen Sprache zu erklären und die Indianer in

einer Mundart zu unterrichten, welche ihnen in den Wurzeln, nicht aber in ihrer Struktur und grammatischen Formen fremd ist. Sie handelten hierin

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nach den Grundsätzen, welche die Inca oder Priesterkönige von Peru seit Jahrhunderten befolgt hatten, um ihre Herrschaft zu erhalten und die bar­ barischen Völkerschaften des oberen Marafi6n zu humanisieren; dieses Ver­ fahren ist unstreitig nicht so seltsam wie das, nach dem die Eingeborenen Amerikas Latein reden sollten, wie es in einem mexicanischen Provinzial­ Consilium mit vollem Ernst vorgeschlagen wurde. Wir hörten, daß die Indianer vom Casiquiare und vom Rio Negro am un­ teren Orinoco, hauptsächlich in Angostura, ihrer Intelligenz und Tätigkeit halber den Bewohnern der übrigen Missionen vorgezogen werden. Die von Mandavaca sind unter den Völkerschaften ihrer Rasse wegen der Verferti­ gung des Curaregifts berühmt, das dem Curare vom Esmeralda an Stärke nicht nachsteht. Leider beschäftigt diese Arbeit die Bingebornen viel mehr als der Ackerbau. Der Boden an den Ufern des Casiquiare ist jedoch ausge­ zeichnet. Es findet sich da ein braun-schwärzlicher Granitsand, welcher in den Wäldern mit Schichten von dichtem Humus bedeckt ist; die Ufer des Flusses sind mit fast wasserdichtem Ton bekleidet. Der Boden des Casi­ quiare scheint fruchtbarer zu sein als der des Rfo-Negro-Tals, wo der Mais nur schlecht gedeiht. Reis, Bohnen, Baumwolle, Zucker und Indigo geben reiche Ernten überall, wo ihr Anbau versucht wurde. Wir haben wild wach­ senden Indigo in der Nähe der Missionen von San Miguel de Davipe, von San Carlos und von Mandavaca gesehen. Es ist zweifellos so, daß verschie­ dene amerikanische Völkerschaften, besonders die Mexicaner, sich lange vor der Eroberung des Landes für ihre Hieroglyphen Bilder eines echten In­ digos bedient haben und daß dieser Farbstoff in kleinen Broten auf dem großen Markt von Tenochtithin verkauft wurde. Es kann jedoch ein che­ misch identischer Farbstoff aus Pflanzen verwandter Gattungen gezogen werden, und ich könnte gegenwärtig nicht entscheiden, ob die einheimi­ schen lndigofera von Amerika nicht einige Gattungsunterschiede von der

Indigofera anil und der Indigofera argentea des Alten Kontinents aufweisen. Im Kaffeebaum beider Welten ist dieser Unterschied wahrgenommen worden. Die feuchte Atmosphäre und die Masse Insekten, welche ihre natürliche Folge ist, bilden hier wie am Rio Negro fast unüberwindliche Hindernisse neuer Landkulturen. Selbst beim hellen und blauen Himmel haben wir de Lues Hygrometer nie unter 52° gefunden. Überall trifft man jene großen Ameisen an, die in gedrängten Reihen ihre Züge unternehmen und über die angebauten Pflanzen um so gieriger herfallen, als sie krautartig und saftig sind, während die Wälder dieser Gegenden nur holzige Gewächse kennen. Wenn ein Missionar versuchen will, Salat oder ein anderes europäisches Ge­ müse zu ziehen, ist er genötigt, seinen Garten gleichsam in die Luft zu hängen. Er füllt nämlich ein altes Kanu mit guter Erde, und wenn er diese besät hat, hängt er es etwa vier Fuß über der Erde an Stricke der Chiqui-

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chiqui-Palme auf; meist stellt er es auf ein leichtes Gerüst. Durch diese Ein­ richtung werden die jungen Pflanzen vor Unkraut, Erdwürmern und jenen Ameisen geschützt, die ihre Wanderungen in gerader Linie fortsetzen und, unbekannt mit dem, was über ihnen wächst, nicht leicht die Richtung ihres Weges ändern, um die Pfähle, deren Rinde abgeschält ist, zu erklimmen. Ich erwähne diese Tatsache, um zu erklären, wie schwierig zwischen den Wende­ kreisen, an den Ufern großer Flüsse, die ersten Versuche des Menschen sind, sich auf diesem großen von Tieren okkupierten und mit wilden Pflanzen überwachseneu Naturgebiet einen Erdenfleck anzueignen. Den

13. Mai [1800].

In der Nacht hatte ich einige Sternbeobachtungen

erhalten, leider die letzten am Casiquiare. Die Breite von Mandavaca ist 2o 4' 7"; seine Länge, nach dem Chronometer, 69° 27'. Die magnetische In­ klination fand ich bei 25,25° der Centesimaleinteilung. Sie hatte demnach seit dem Fortin von San Carlos bedeutend zugenommen. Die Gesteine der Nachbarschaft bestehen jedoch aus demselben Granit, mit etwas Horn­ blende gemischt, den wir in Javita gefunden hatten und der ein syenitisches Aussehen hat. Wir verließen Mandavaca um 21h Uhr in der Nacht. Noch mußten wir acht Tage lang gegen die Strömungen des Casiquiare an­ kämpfen, und das Land, über das wir wieder nach San Fernando de Atabapo gelangen wollten, war dermaßen menschenleer, daß wir nach einer Reise von dreizehn Tagen erst einen anderen Franziskanermissionar, den von Santa Barbara, erreichen zu können hoffen durften. Nach sechsstündiger Flußfahrt kamen wir östlich bei der Einmündung des Idapa oder Siapa vorbei, welcher auf dem Berg Unturan entspringt und in der Nähe seiner Quellen eine Portage zum Rio Mavaca, einem der Zuflüsse des Orinoco, er­ laubt. Dieser Fluß hat Weißes Wasser und ist halb so breit wie der Pacimoni, dessen Wasser schwarz ist. Sein oberer Lauf findet sich sehr entstellt auf den Karten von La Cruz und von Surville, die allen späteren Karten als Vorbild dienten. Ich werde von den Voraussetzungenn, die diese Irrtümer veranlaßt haben, zu sprechen Gelegenheit finden, wenn ich vom Ursprung des Ori­ noco berichte. Hätte der Pater Caulin die Karte sehen können, welche seinem Werk beigefügt worden ist, er wäre nicht wenig erstaunt gewesen, darin Irrtümer wiederholt zu finden, die er durch zuverlässige, an Ort und Stelle erhobene Angaben widerlegt hatte. Dieser Missionar sagt lediglich, der Idapa entspringe in einem Bergland, in dessen Nähe die Amuisanas-In­ dianer leben. Diese Indianer wurden zu Amoizanas oder in Amazonen tra­ vestiert, und der Ursprung des Rio ldapa wurde von einer Quelle herge­ leitet, die sich, wo sie aus der Erde kommt, alsbald in zwei Äste teilt, welche in völlig entgegengesetzter Richtung laufen. Diese Gabelteilung einer Quelle ist völlig erdichtet. Wir biwakierten nahe beim Raudal von Cunuri. Die Nacht über verstärkte sich das Getöse dieses kleinen Katarakts merklich. Unsere Indianer ver-

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sicherten, dies sei ein gewisser Vorbote des Regens. Ich erinnere mich, daß auch die Bewohner der Alpen ein großes Vertrauen in dieses Wetterzei­ chen setzen. Wirklich regnete es geraume Zeit vor Aufgang der Sonne. Üb­ rigens hatten uns die Araguatos-Affen durch ihr andauerndes Geheul noch früher als das verstärkte Getöse des Wasserfalls den nahen Regenguß ange­ kündigt. Den 14. Mai [1800]. Die Moskitos und mehr noch die Ameisen vertrieben uns vom Ufer vor zwei Uhr nachts. Bis dahin hatten wir geglaubt, diese krö­ chen nicht über die Stricke, an welche man die Hängematten zu befestigen gewöhnt ist. Allein, sei es, daß dies ein Irrtum war oder daß diese Tierchen von den Gipfeln der Bäume auf uns herabfielen, gewiß ist, daß wir Mühe hatten, uns von den lästigen Insekten zu befreien. Der Strom wurde nun zu­ sehends schmaler; seine Gestade waren dermaßen sumpfig, daß sich Herr Bonpland nur mit großer Mühe dem Stamm einer Cyrolinea princeps, die voll großer purpurner Blüten hing, nähern konnte. Dieser Baum ist die schönste Zierde sowohl dieser Wälder wie der vom Rio Negro. Den Tag über untersuchten wir verschiedentlich die Temperatur des Casiquiare. Auf der Oberfläche des Stroms zeigte das Wasser nur 24° (wenn die Luft 25,6° zeigte), was ungefähr die Temperatur des Rio Negro ist, hingegen 4 bis so weniger als die des Orinoco. Nachdem wir westlich bei der Mündung des Cafio Caterico vorbeigekommen waren, dessen Wasser schwarz und unge­ mein durchsichtig sind, verließen wir das Flußbett, um an der Insel zu landen, auf der die Mission von Vasiva errichtet ist. Der See, welcher diese Mission umgibt, ist eine Iieue breit und hängt durch drei Abflüsse mit dem Casiquiare zusammen. Die sehr sumpfige Umgegend ist ein arges Fieber­ land. Der See, dessen Wasser durch Übertragung gelb sind, trocknet in der Trockenzeit aus, und dann widerstehen auch die Indianer seinen sich aus dem Schlamm entwickelnden Miasmen nicht. Die völlige Windstille trägt viel dazu bei, das Klima dieser Gegenden noch verderblicher zu machen. Ich habe die Zeichnung der Ebene von Vasiva stechen lassen, wie ich sie am Tag unserer Ankunft aufnahm. Ein Teil des Dorfs ist an eine trockene Stelle nordwärts versetzt worden, und diese Änderung veranlaßte einen langen Streit zwischen dem Statthalter von Guayana und den Mönchen. Der Statt­ halter behauptete, diese seien nicht berechtigt, ohne Bewilligung der Zivil­ behörde ihre Dörfer zu versetzen; jedoch mit der Lage des Casiquiare völlig unbekannt, hatte er seine Beschwerde an den Missionar von Carichana ge­ richtet, welcher 150 Iieues von Vasiva entfernt wohnt und gar nicht verstehen konnte, worum es ging. Solche geographischen Mißgriffe sind sehr ver­ breitet in Ländern, die meist von Statthaltern verwaltet werden, die nie eine Karte besaßen. Im Jahre 1785 wurde dem Pater Valor die Mission von Pa­ damo übertragen mit der Weisung, sich ungesäumt zu den Indianern zu ver­ fügen, die keinen Pfarrer hätten. Seit länger als fünfzehn Jahren war das

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Dorf Padamo verschwunden und die Indianer al monte [in den Wald] ge­ gangen. Vom 14. bis zum 21. Mai hatten wir stets unter freiem Himmel über­ nachtet; ich kann aber die Stationen unseres Biwaks nicht angeben. Diese Gegenden sind so wild und so wenig besucht, daß mit Ausnahme einiger Flüsse die Indianer die Stellen, welche ich mit der Bussole aufgenommen habe, nicht benennen konnten. Keine Sternbeobachtung konnte mir die Breitenbestimmung in der Distanz von einem Grad gewährleisten. Nach­ dem wir bei dem Punkt vorbeigekommen waren, wo der Itinivini sich vom Casiquiare trennt, um seinen Lauf westwärts nach den Granithügeln von Daripabo zu nehmen, fanden wir die Sumpfgestade des Flusses mit Bambus­ rohren bewachsen. Diese baumartigen Gräser wachsen rund 20 Fuß hoch; ihr Schilf ist oben stets bogenförrnig gekrümmt. Es ist eine neue Art des Bambus mit sehr breiten Blättern. Herr Bonpland hatte das Glück, ein Indi­ viduum blühend anzutreffen. Ich bemerke diesen Umstand, weil die Gat­ tungen Nastus und Bambusa bis dahin sehr mangelhaft unterschieden waren und weil diese Riesengewächse äußerst selten in der Neuen Welt blühend vorgefunden werden. Herr Mutis hat zwanzigJahre in einer Landschaft her­ borisiert, wo die Bambusa guadua mehrere Iieues breite Sumpfwälder bildet, ohne je ihre Blüten zu sehen. Wir haben diesem Gelehrten die ersten Ähren der Bambusa der gemäßigtenTäler von Popayan zugesandt. Was mag die Urache sein, warum sich die Befruchtungsorgane nur so selten entwik­ keln bei einer einheimischen Pflanze, die ausnehmend kräftig von der Was­ serfläche des Ozeans bis zur Höhe von 900 Toisen gedeiht, also bis in eine subalpine Region, deren Klima zwischen den Wendekreisen dem des süd­ lichen Spaniens gleicht? Die Bambusa latifolia scheint den Becken des oberen Orinoco, des Casiquiare und des Amazonenstroms spezifisch anzu­ gehören; sie ist eine geselliglebende Pflanze wie alle zur Nastoiden-Familie gehörigen Gräser; aber in dem von uns bereisten Teil des spanischen Gua­ yana bildet sie die ausgedehnten Gesellschaften nicht, welche die amerikani­ schen Spanier guaduales oder Bambuswälder nennen. Unser erstes Biwak oberhalb Vasiva war bald aufgeschlagen. Wir fanden einen kleinen, trockenen und von Gesträuch freien Flecken Erde südwärts vom Cafio Curamuni an einer Stelle, wo Kapuzineraffen, durch den schwarzen Bart und ihr trauriges und scheues Aussehen kenntlich, langsam auf den waagerechten Ästen einer Genipa daherschritten. Die fünf fol­ genden Nächte waren um so beschwerlicher, als wir uns der Gabelteilung des Orinoco näherten. Die Üppigkeit des Pflanzenwuchses vermehrt sich in einer Weise, von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann, selbst wenn man bereits auch mit dem Anblick der Wälder zwischen den Wende­ kreisen bekannt ist. Man hat einen 200Toisen breiten Kanal vor Augen, wel­ cher mit zwei gewaltigen, durch Schlinggewächse und Laubwerk beklei-

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deten Mauern eingefaßt ist. Wir versuchten öfters zu landen, ohne einen Fuß außerhalb des Fahrzeuges setzen zu können. Bisweilen suchten wir gegen Sonnenuntergang eine Stunde lang am Ufer nicht eine Lichtung im Wald (denn deren gibt es gar keine), sondern eine weniger dichte Stelle zu finden, wo wir mit Mühe und mittels Axthieben unserer Indianer einen Landeplatz für 12 bis 13 Personen bereiten könnten. In der Piroge zu übernachten war unmöglich. Die Moskitos, welche uns den Tag über quälten, häuften sich nachts unter dem toldo, das heißt unter dem Dach aus Palmblättern, das uns vor dem Regen schützen sollte. Nie hatten wir so angeschwollene Hände und Gesichter gehabt. Pater Zea, welcher sich bisher rühmen konnte, in seinen Missionen an den Katarakten die größten und die tapfersten

(las mas feroces) Moskitos zu besitzen, legte nun allmählich das Geständnis ab, die Insektenstiche am Casiquiare seien schmerzhafter als alle, die er je zuvor verspürt habe. Mitten im dichten Wald war es eine schwierige Aufgabe, Holz für die Feuer zu erhalten; denn in diesen Äquatorialgegenden, wo bestän­ diger Regen fällt, sind die Baumäste dermaßen saftreich, daß sie fast gar nicht brennen. Wo es keine dürren Ufer gibt, kann man sich das alte Holz, von dem die Indianer sagen, es sei "an der Sonne gebraten", fast gar nicht verschaffen. Inzwischen bedurften wir des Feuers nur noch als Schutzmittel gegen wilde Tiere; an Lebensmitteln war so großer Mangel bei uns einge­ treten, daß wir für ihre Zubereitung seiner fast ganz entbehren konnten. Am 18. Mai [1800], gegen Abend, entdeckten wir eine Uferstelle, die mit wilden Cacaobäumen besetzt war. Ihre Bohne ist klein und bitter; die In­ dianer des Waldes saugen die Fleischhülle aus und werfen die Bohne weg, welche von den Indianern der Missionen aufgehoben wird. Man verkauft sie an solche, die nicht allzu feinfühlig bei der Bereitung ihrer Schokolade sind. "Hier ist der Puerto del Cacao", sagte unser Pilot, "hier übernachten

los Padres, wenn sie nach Esmeralda reisen, um Sarbacanen [Blasrohre] und ju­ vias (die schmackhaften Mandeln [Nüsse] der Bertholletia) einzukaufen." Inzwischen gehen das Jahr über keine fünf Fahrzeuge durch den Casiquiare;

und von Maipures aus, also seit einem Monat, hatten wir auf den Flüssen, welche wir hinaufgefahren sind, außer in der unmittelbaren Nähe der Mis­ sionen, keine lebende Seele angetroffen. Südwärts vom Duractumuni-See brachten wir die Nacht in einem Palmenwald zu. Der Regen fiel in Strömen; aber Pothos, Arum und Schlingpflanzen bildeten ein so dichtes Geflecht, daß sie uns wie unter einer gewölbten Laubdecke schützten. Die zunächst ans Ufer verlegten Indianer hatten aus ineinandergeflochtenen Heliconien und anderen Musaceen eine Art Dach über ihren Hängematten errichtet. Unsere Feuer beleuchteten auf 50 bis 60 Fuß Höhe die Palmenstämme, die mit Blüten beladenen Schlinggewächse und die weißlichen, senkrecht auf­ steigenden Rauchsäulen. Es war ein prachtvoller Anblick, dessen ruhiger Genuß jedoch eine von Insekten befreite Atmosphäre erfordert hätte.

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Unter allen körperlichen Leiden sind die erschöpfendsten die, welche ein­ förmig andauern und nur durch lange Geduld bekämpft werden können. Wahrscheinlich hat Herr Bonpland sich in den Ausdünstungen der Wälder des Casiquiare den Keim der furchtbaren Krankheit geholt, die ihn bald nach unserer Ankunft in Angostura dem Tod nahebrachte. Zu seinem und meinem Glück hatten wir keinerlei Ahnung der ihm drohenden Gefahr. Wir fanden die Ansicht des Stroms und das Gesumme der Moskitos etwas ein­ tönig; aber ein Rest natürlicher Fröhlichkeit half uns die Langeweile er­ tragen. Wir entdeckten, wenn wir kleine Portionen von zerriebenem Cacao ohne Zucker aßen und viel Flußwasser dazu tranken, daß die Eßlust für meh­ rere Stunden gestillt wurde. Die Ameisen und die Moskitos beschäftigten uns mehr als die Feuchtigkeit und der Mangel an Lebensmitteln. Trotz der Entbehrungen, welche wir während unserer Wanderungen durch die Cordil­ leren erlitten haben, ist uns doch immer die Fahrt von Mandavaca nach Es­ meralda als die beschwerlichste Zeit unseres Aufenthalts in Amerika vorge­ kommen. Ich rate den Reisenden, nicht die Fahrt auf dem Casiquiare der auf dem Atabapo vorzuziehen, wenn sie kein besonderes Verlangen fühlen, die große Gabelteilung des Orinoco zu betrachten. Oberhalb des Cafio Duractumuni verfolgt der Casiquiare eine gleichtö­ nige Richtung von Nordosten nach Südwesten. Hier ist es, wo man am rechten Ufer das neue DorfVasiva zu gründen begonnen hat. Die Missionen von Pacimona, von Capivari und von Buenaguardia sowie das angebliche

fortin beim See von Vasiva sind bloß Erdichtungen unserer Karten. Überra­ schend war uns zu sehen, wie durch die plötzlich eintretenden Wasserhöhen die beiderseitigen Ufer unterhöhlt wurden. Entwurzelte Bäume bildeten gleichsam natürliche Flöße; halb in den Schlamm versenkt, sind sie den Pi­ rogen sehr gefährlich. Wer das Unglück hätte, in diesen unbewohnten Ge­ genden Schiffbruch zu erleiden, der würde wahrscheinlich verschwinden, ohne daß eine Spur von der Zeit und Art eines Untergangs übrigbliebe. Man würde einzig und sehr spät an den Seeküsten hören, es sei ein vonVasiva ab­ gegangenes Boot hundert

Iieues weiter in den Missionen von Santa Barbara

und von San Fernando de Atabapo nicht wieder gesehen worden. Die Nacht vom 20. Mai, die letzte unserer Fahrt auf dem Casiquiare, brachten wir un­ fern von der Stelle der Gabelteilung des Orinoco zu. Wir hatten einige Hoff­ nung, eine astronomische Beobachtung machen zu können, indem Stern­ schnuppen von seltener Größe durch den Nebel, der den Himmel bedeckte, sichtbar wurden. Wir schlossen hieraus, diese Nebelschicht könne nur sehr dünn sein, weil solche Meteore fast niemals unterhalb einer Wolke gesehen worden sind. Die, welche uns zu Gesicht kamen, nahmen ihre Richtung nordwärts und folgten einander in fast gleichen Zeiträumen. Die Indianer, welche die Bilder ihrer ausschweifenden Phantasie durch die Sprache nicht leicht veredeln, nennen die Sternschnuppen den Urin und den Tau den Spei-

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chel der Sterne. Die Wolken verdichteten sich neuerlich, so daß wir nun weder Meteore noch die seit mehreren Tagen so ungeduldig erwarteten wahren Gestirne zu sehen bekamen. Man hatte uns angekündigt, wir würden die Insekten in Esmeralda "noch grausamer und gefräßiger" finden als auf dem Arm des Orinoco, welchen wir hinauffahren würden. Trotzdem überließen wir uns freudig der Hoffnung, endlich wieder an einem bewohnten Ort schlafen und uns durch Herbori­ sieren einige Bewegung machen zu können. Diese vergnügte Aussicht wurde im letzten Biwak am Casiquiare durchkreuzt. Ich wage, hier eine Tatsache zu berichten, die nicht von großem Interesse für den Leser ist, jedoch in einem Tagebuch, das die Ereignisse der Fahrt durch ein so wildes Land darstellt, nicht am falschen Platz stehen dürfte. Wir schliefen am Rand eines Waldes. Mitten in der Nacht meldeten die Indianer, daß man das Gebrüll des Jaguars sehr nahe höre und daß es oben aus den Bäumen käme. Die Wälder dieser Landschaften sind so dicht, daß kaum andere Tiere darin vorkommen als die, welche auf Bäume klettern wie die Affen, die Vierhänder, die Schleichkatzen und verschiedene andere Katzenarten. Weil unsere Feuer gut brannten und man sich irrfolge längerer Gewöhnung endlich (ich möchte sagen, systema­ tisch) auch über nicht bloß eingebildete Gefahren beruhigt, blieben wir ziem­ lich gleichgültig gegenüber diesem Jaguargebrüll. Der Geruch und die Stimme unseres Hundes hatten die Tiere angelockt. Dieser Hund (er gehört zur großen Doggenrasse) bellte anfänglich; als der Tiger näherkam, fing er an zu heulen und barg sich unter unsere Hängematten, als suche er Schutz beim Menschen. Seit unseren Biwaks am Rio Apure waren wir an diesen Wechsel von Mut und Schüchternheit eines noch jungen, sanften und sehr anschmieg­ samen Tiers gewöhnt. Wie groß war unser Kummer, als uns am Morgen im Augenblick des Einschiffens die Indianer meldeten, der Hund sei ver­ schwunden! Es blieb kein Zweifel, daß die Jaguare ihn geraubt hatten. Viel­ leicht hatte er sich, als ihr Gebrüll aufhörte, vom Feuer gegen das Ufer hin entfernt, oder wir hatten, in tiefen Schlaf versunken, das Klagegeschrei des Hundes nicht mehr gehört. Die Anwohner des Orinoco und des Rio Magda­ lena hatten uns öfters versichert, die ältesten Jaguare (also die, welche viele Jahre lang zur Nachtzeit gejagt haben) seien listig genug, um Tiere aus der Mitte eines Biwaks zu entführen, indem sie durch Würgen ihr Schreien er­ sticken. Wir warteten einen Teil des Vormittags, in der Hoffnung, der Hund könnte sich verlaufen haben. Drei Tage später kamen wir an dieselbe Stelle zurück. Das Gebrüll des Jaguars ließ sich nochmals hören, denn diese Tiere zeigen eine Vorliebe für gewisse Orte; aber all unser Suchen war umsonst. Die Dogge, die uns von Caracas aus begleitet hatte und so oft der Verfolgung der Krokodile durch Schwimmen entgangen war, ist im Wald zerrissen worden. Ich erwähne diesen Vorfall hier nur, weil er einiges Licht auf die listigen Überfälle dieser großen Katzen mit geflecktem Fell werfen kann.

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Den 21. Mai [1800] gelangten wir erneut ins Strombett des Orinoco, drei Iieues unterhalb der Mission von Esmeralda. Einen Monat zuvor hatten wir diesen Fluß bei der Einmündung des Guaviare verlassen. Noch stand uns eine Fahrt von 750 Meilen bis Angostura bevor, aber es ging flußabwärts und also viel leichter. Beim Hinabfahren der Ströme folgt man dem Talweg, der Mitte des Stroms, wo sich nur wenige Moskitos finden; beim Hinauffahren dagegen ist man genötigt, um die Wirbel und Gegenströmungen benutzen zu können, sich nahe am Ufer zu halten, wo die Nähe des Waldes und der ans Gestade ausgeworfene Detritus organischer Substanzen die schnakenar­ tigen Insekten vervielfältigt. Die Stelle der berühmten Gabelteilung des Ori­ noco gewährt einen wahrhaft imponierenden Anblick. Hohe Granitberge er­ heben sich am westlichen Ufer. Von weitem her erkennt man darunter den Maraguaca und den Duida. Am linken Ufer des Orinoco, westlich und öst­ lich der Gabelteilung bis zu der Einmündung des Tamatama gegenüber, gibt es keine Berge. Hier steht der Guaraco-Fels, welcher zur Regenzeit zu­ weilen, wie man behauptet, Flammen speit. Wenn der Orinoco südwärts nicht mehr von Bergen umgeben ist und bei der Öffnung eines Tals oder viel­ mehr bei einer an den Rio Negro reichenden Senke ankommt, teilt er sich in zwei Äste. Der Hauptarm (der Rio Paragua der Indianer) setzt seinen Lauf westnordwestlich fort, die Gruppe der Berge von Parima umziehend; der Arm, der die Verbindung mit dem Amazonenstrom bildet, strömt in die Ebenen, die überhaupt südliches Gefälle haben, deren partielle Flächen sich jedoch südwestlich zum Casiquiare und südöstlich zum Becken des Rio Negro neigen. Ein dem Anschein nach so bizarres Phänomen, das ich an Ort und Stelle bestätigt fand, verdient ganz besondere Aufmerksamkeit. Es ist ihrer um so würdiger, als es einiges Licht auf ähnliche Verhältnisse, die man im afrikanischen Binnenland beobachtet zu haben glaubt, werfen kann.

[Zum hydraulischen System des spanischen Guayana. Gabe/teilungen] Ich will dieses Kapitel mit allgemeinen Betrachtungen über das hydrauli­ sche System des spanischen Guayana schließen und durch Beispiele aus dem Alten Kontinent belegen, daß diese Gabelteilung, die den Geographen bei der Zeichnung der Karten Amerikas so lange ein Schrecknis war, das Er­ gebnis von zusammenwirkenden Umständen ist, welche zwar selten sind, aber auf beiden Halbkugeln vorkommen. Gewöhnt, die europäischen Flüsse nur in dem Teil ihres Laufes, wo sie von zwei Wasserscheiden eingeschlossen und infolgedessen eingetieft in Tälern fließen, zu betrachten, vergessen wir, daß die Hindernisse, welche die Ne­ benflüsse und Hauptwasserbehälter ablenken, seltener Gebirgsketten als geringe Erhebungen von entgegenstehenden Hängen sind. Infolgedessen

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haben wir Mühe, das gleichzeitige Vorhandensein dieser Krümmungen, dieser Bifurkationen [Gabelteilungen], dieser Flußverbindungen der Neuen Welt zu begreifen. Dieser weitläufige Kontinent ist noch bemerkenswerter wegen der Ausdehnung und Einförmigkeit seiner Ebenen als irrfolge der gigan­ tischen Höhe seiner Cordilleren. Erscheinungen, die wir auf unserer Halb­ kugel nur an den Küsten des Ozeans oder in den Steppen Baktriens, um die Binnenmeere desAral- und Kaspi-Sees, beobachten, finden sich inAmerika auf 300 und 400 Iieues Entfernung von der Mündung der Flüsse wieder. Die kleinen Wasserbäche, welche durch unsere Wiesengründe (die vollkommen­ sten unserer Ebenen) schlängeln, können ein schwaches Bild dieser Verzwei­ gungen und Gabelteilungen darstellen; weil man es aber der Mühe nicht wert findet, bei so kleinen Objekten zu verweilen, findet man den Kontrast der hydraulischen Systeme beider Welten viel auffallender als ihreAnalogie. Die Vorstellung, daß der Rhein einen Arm an die Donau, die Weichsel einen solchen an die Oder, die Seine an die Loire abgeben könnte, erscheint uns sogleich derart absurd, daß wir immer noch verlangen, die Möglichkeit des Vorhandenen solle bewiesen werden, auch wenn wir sogar an der Wirklich­ keit des Zusammenhangs zwischen dem Orinoco und dem Amazonenstrom nicht länger zweifeln. Während man durch das Delta des Orinoco nach Angostura und die Ein­ mündung des Rio Apure hinauffährt, behält man stets zur Linken die hohe Bergkette von Parima. Diese Kette aber, weit entfernt (wie dies mehrere be­ rühmte Geographen gelten ließen), eine die zwei Becken des Orinoco und des Amazonenstroms trennende Schwelle zu bilden, zeigt im Gegenteil an ihrem südlichen Abhang die Quellen des ersteren dieser Flüsse. Der Ori­ noco (genau wie der Arno in der berühmten Voltata zwischen Bibieno und Ponta Sieve) beschreibt drei Viertel eines Ovals, dessen große Achse die Richtung einer Parallele hat. Er zieht sich um eine Berggruppe herum, die ihm von beiden entgegengesetztenAbhängen ihre Gewässer gleichmäßig zu­ sendet. Aus den Alpentälern von Maraguaca nimmt der Fluß anfänglich seine Richtung westlich und westnordwestlich, als sollte er in die Südsee münden; danach, nahe bei der Mündung des Guaviare, beginnt er sich gegen Norden zu wenden und folgt der Richtung eines Meridians bis zur Mündung desApure, welcher ein zweiter Umkehrpunkt ist. Auf diesem Teil eines Laufs spielt der Orinoco eineArt Dachrinne, die von dem flachen, von der sehr entfernten Andenkette von Neu-Granada herkommenden Abhang und von dem überaus kurzen Gegenhang, welcher sich ostwärts an der steilen Wand der Parima-Berge erhebt, gebildet wird. Diese Disposition des Terrains erklärt, warum die beträchtlichsten Zuflüsse des Orinoco von We­ sten herkommen. Der Hauptwasserbehälter, der den Bergen von Parima, die er von Süden gegen Norden umläuft (als sollte er sich gegen Puerto Ca­ bello und die Nordküsten von Venezuela wenden), sehr genähert ist, findet

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sein Bett durch Felsen verengt. Dies ist die Gegend der großen Katarakte; brausend öffnet sich der Strom einen Ausgang durch die westwärts vorste­ henden Widerlager, so daß in dem großen Engpaß, zwischen den Cordilleren von Neu-Granada und der Sierra Parima, die das westliche Ufer beklei­ denden Felsen eben dieser Sierra angehören. Nahe beim Einfluß des Rio Apure wechselt der Orinoco zum zweiten Male und fast plötzlich seine Rich­ tung von Süden nach Norden mit der von Westen nach Osten, geradeso, wie früher der Einfluß des Guaviare den Punkt bezeichnet, wo der westliche Lauf plötzlich in die nördliche Richtung übergeht. Bei diesen zwei Krüm­ mungen ist es nicht bloß der Stoß der Gewässer des zufließenden Stromes, welcher die Richtung des Hauptwasserbehälters bestimmt, sondern auch die besondere Anordnung der Hänge und Gegenhänge, welche sowohl die Richtung der Nebenflüsse wie die des Orinoco bestimmen helfen. Umsonst würde man auf diesen Umkehrpunkten, die dem Geographen so wichtig sind, sich nach Bergen oder Hügeln umsehen, welche den großen Strom an der Fortsetzung seines anfänglichen Laufs hinderten. An der Mündung des Guaviare findet sich davon gar nichts, und der kleine Hügel von Cabruta nahe an der Einmündung des Apure hat gewiß keinerlei Einfluß auf die Richtung des Orinoco. Diese Richtungswechsel sind die Wirkung viel allge­ meinerer Ursachen: Sie sind die Folge der Verhältnisse der großen Abhänge, welche die polyedrische [vielflächige] Fläche der Ebenen bilden. Die Berg­ ketten stehen nicht wie Mauern über waagerechten Flächen empor: ihre mehr oder weniger prismatischen Massen ruhen jederzeit auf Plattformen, und diese letzteren dehnen sich in mehr oder minder steilen Abhängen gegen den Talweg des Flusses hin. Weil die Ebenen gegen die Berge auf­ steigen, und weil sie sozusagen dem Einfluß dieser Wasserscheiden in weiter Entfernung ausgesetzt sind, ist es eine seltene Erscheinung, daß die Ströme sich an Bergen brechen. Die Geographen, welche die Topographie in der Natur studiert und auch selbst Nivellements aufgenommen haben, werden sich nicht wundern, wenn Karten, deren Maßstab Hangneigungen von 3 bis 5o nicht auszudrücken gestattet, überhaupt nicht die Ursachen der großen

Flußkrümmungen anschaulich darstellen. Von der Einmündung des Apure bis zur Ausmündung an der Ostküste von Amerika nimmt der Orinoco seinen Lauf in einer parallelen, aber seiner früheren entgegengesetzten Richtung; sein Talweg wird hier nördlich durch einen fast unmerklichen Ab­ hang, der sich gegen die Küstenkette von Venezuela erhebt, und südlich durch den kurzen und steilen, auf die Sierra Parima gestützten Abhang ge­ bildet. Infolge dieser besonderen Anordnung des Terrains umgibt der Ori­ noco dieselbe Gruppe von Granitbergen auf ihrer Süd-, West- und Nord­ seite, und nach einem Lauf von 1350 Meilen (zu 950 Toisen) beträgt die Entfernung von seinem Ursprung nicht über 300 Meilen. Es ist ein Strom, dessen Mündung nahe an 2° im Meridian seiner Quellen liegt.

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Der Lauf des Orinoco, den wir in flüchtigem Abriß dargestellt haben, weist drei merkwürdige Eigentümlichkeiten auf: zuerst seine beharrliche Nähe zur Berggruppe, die auf der Süd-, West- und Nordseite von ihm umge­ zogen wird; hernach die Lage seiner Quellen auf einem Terrain, von dem man glauben sollte, es gehöre zum Bassin des Rio Negro und des Amazonen­ stromes; und drittens endlich seine Gabelteilung, wodurch er einem an­ deren Stromsystem einen Arm zusendet. Durch bloß theoretische Begriffe geleitet, sollte man geneigt sein, anzunehmen, Ströme, welche einmal die Alpentäler verlassen haben, auf deren Höhen sie entsprungen sind, müßten sich schnell von den Bergen entfernen, auf einer mehr oder weniger ge­ neigten Fläche, deren stärkster Abhang zur großen Achse der Hauptkette oder Wasserscheide senkrecht steht. Eine solche Voraussetzung stünde je­ doch im Widerspruch mit dem, was wir an den majestätischen Strömen In­ diens und Chinas beobachten. Es ist ein charakteristischer Zug dieser Ströme, daß sie bei ihrem Austritt vom Gebirge einen der Kette parallelen Lauf nehmen. Die Ebenen, deren Abhänge gegen die Berge ansteigen, er­ halten an deren Fuß eine unregelmäßige Gestalt. Die Ursache dieser Er­ scheinung kann zwar öfters in der Beschaffenheit blättriger Felsen und in einer der Richtung der großen Kette entsprechenden Schichtenlagerung ge­ funden werden; doch da der Granit der Sierra Parima fast überall massen­ förmig und nicht aufgeschichtet erscheint, deutet die Nähe, in der wir den Orinoco die Berggruppe umgeben sehen, eine Senkung des Bodens an, die mit einer umfassenderen geologischen Erscheinung zusammennhängt und vielleicht mit der Bildung der Cordilleren selbst in Verbindung steht. In Bin­ nenmeeren und Binnenseen finden sich die tiefsten Stellen da, wo die Kü­ sten am steilsten und höchsten sind. Fährt man von Esmeralda nach Ango­ stura den Orinoco hinunter, entdeckt man (sei es, daß man westwärts, nord­ wärts oder ostwärts fahre) in einer Entfernung von 250 Iieues auf dem rechten Ufer sehr hohe Berge; auf dem linken Ufer dehnen sich Ebenen aus, so weit das Auge reicht. Die Linie der größten Tiefen, die Maxima der De­ pression, befindet sich demnach am Fuß der Cordillere selbst, im Umkreis der Sierra Parima. Eine andere Eigentümlichkeit, welche uns zuerst am Lauf des Orinoco frappiert, ist der Umstand, daß das Bassin dieses Stroms sich ursprünglich mit dem Becken eines anderen Stroms des Amazonenflusses zu vermischen scheint. Wirft man einen Blick auf die Karte, sieht man den oberen Orinoco von Ost nach West die gleiche Ebene durchziehen, die der Amazonenstrom in paralleler, aber umgekehrter Richtung, nämlich von West nach Ost, durchläuft. Es darf nicht vergessen werden, daß die großen Oberflächen des Terrains, die wir Ebenen nennen, ebenso wie Berge ihre Täler haben. Jede Ebene ist aus verschiedenen Systemen wechselnder Abhänge zusammenge­ setzt, und diese Systeme sind durch Kanten oder sekundäre Kämme (oder

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Firste) voneinander getrennt, die ihrer schwachen Erhöhung wegen unseren Augen fast unmerklich bleiben. Eine ununterbrochene und mit Waldung be­ deckte Ebene füllt den ganzen weiten Raum zwischen 3Vz0 nördlicher Breite und 14° südlicher Breite, zwischen der Cordillere von Parima und der von Chiquitos und Brasilien. Bis zur Parallele der Quellen des Rio Temi, auf einer Oberfläche von 204000 Quadratlieues, fließen alle Gewässer dem Hauptsammler des Amazonenstroms zu; weiter nördlich dagegen vermöge einer besonderen Disposition des Terrains auf einer Oberfläche von keinen 1500 Quadratlieues bildet ein anderer großer Strom, der Orinoco, ein beson­ deres hydraulisches System. Die zentrale Ebene Südamerikas umfaßt dem­ nach zwei Strombecken; denn jedes Becken ist das Ganze des umliegenden Gebiets, dessen Neigungslinien in den Talweg auslaufen, das heißt in die lon­ gitudinale Depression, welche das Bett des Hauptstroms bildet. In dem kurzen Raum zwischen dem 68. und 70. Längengrad empfängt der Orinoco die vom südlichen Abhang der Cordillere von Parima abfließenden Ge­ wässer, die Zuflüsse hingegen, welche vom selben Abhang östlich des Meri­ dians von 68° zwischen dem Berg Maraguaca und den Bergen des portugiesi­ schen Guayana herkommen, gelangen zum Amazonenstrom. Es ist somit der Fall, daß auf einer Länge von nur 50 Iieues, in diesem unermeßlichen äquatorialen Tal, unmittelbar am Fuß der Cordillere von Parima gelegene Flächen größere Neigungslinien besitzen, welche aus dem Tal herausführen, anfangs nordwärts, hernach ostwärts. Ungarn zeigt uns ein ähnliches und sehr merkwürdiges Beispiel von Flüssen, die, während sie auf der Südseite einer Bergkette entspringen, dem hydraulischen System des nördlichen Bergabhangs angehören. Die Wasserscheide zwischen dem Baltischen und dem Schwarzen Meer findet sich südwärts der Tatra, einer der Karpaten­ Gruppen zwischen Teplitz und Ganocz, auf einem Plateau, das keine 300 Toisen Höhe besitzt. Waag und Hernad fließen südwärts zur Donau, wäh­ rend der Poprad die Tatra westlich umläuft und sich neben der Dunajetz nordwärts in die Weichsel ergießt. Der Poprad, welcher seiner Lage nach dem System der Zuflüsse des Schwarzen Meeres anzugehören scheint, ent­ zieht sich scheinbar ihrem Becken und führt seine Gewässer dem Baltischen Meer zu. In Südamerika enthält eine unermeßliche Ebene das Becken des Amazo­ nenstroms und einen Teil des Orinoco-Beckens; in Deutschland hingegen, zwischen Meile und Osnabrück, finden wir das seltene Beispiel eines extrem engen Tals, welches zwei Becken kleiner, voneinander unabhängiger Flüsse vereint. Else und Haase zeigen anfänglich einen nahe beisammenstehenden und parallelen Lauf von Süd nach Nord; beim Eintritt in die Ebene jedoch laufen sie ostwärts und westwärts auseinander und vereinigen sich mit den zwei völlig verschiedenen hydraulischen Systemen der Weser und der Ems.

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[Zum Problem der Gabelteilungen von Flüssen und speziell des Casiquiare] Ich komme zur dritten Eigentümlichkeit, die am Lauf des oberen Orinoco beobachtet wird, zu jener Gabelteilung, deren Dasein zur Zeit meiner Ab­ reise nach Amerika in Zweifel gezogen wurde. Diese Gabelteilung (diver­ gium amnis) befindet sich nach den astronomischen Beobachtungen, die ich in der Mission von Esmeralda gemacht habe, unter 3° 10' nördlicher Breite und

68o 37' westlicher Länge vom Pariser Meridian. Im Binnenland des süd­

lichen Amerika geschieht, was wir unter allen Zonen, den Küsten entlang, finden. Sehr einfache geometrische Betrachtungen lassen erkennen, daß die Gestalt des Bodens und der Impuls zufließender Gewässer die Richtung der laufenden Wasser nach festen und gleichförmigen Gesetzen modifizieren. Die Deltas sind das Ergebnis einer Gabelteilung auf der Ebene eines Kü­ stenlands, und bei sorgfältiger Untersuchung findet man zuweilen in der Nähe solcher ozeanischen Bifurkation Verbindungen mit anderen Flüssen, deren Arme benachbart sind. Wo nun aber überall im Inneren der Konti­ nente eine flache Ebene gleich der des Küstenlands vorkommt, da müssen sich auch dieselben Erscheinungen wiederholen. Die Ursachen, welche nahe an der Ausmündung eines großen Flusses Gabelteilungen erzeugen, können diese auch in der Nähe seiner Quellen und im Oberteil seines Laufs hervorrufen. Drei Umstände mögen dazu wesentlich beitragen: die extrem kleinen wellenförmigen Erhöhungen einer Ebene, welche gleichzeitig zwei Strombecken umfaßt, die Breite eines der Hauptwasserbehälter und die Lage des Talwegs am Rand der Grenze der zwei Becken. Wenn die Linie der größten Hangneigung durch einen gegebenen Punkt geht und wenn sie in unbestimmter Verlängerung den Fluß nicht erreicht, ge­ hört dieser Punkt (wie nahe er übrigens auch dem Talweg liegen mag) kaum zu demselben Wasserbecken. Bei angrenzendem Becken sehen wir öfters die Zuflüsse des einen ganz in der Nähe des anderen Sammlers und zwischen zwei Zuflüssen entspringen, die diesem angehören. Diese eigentümlichen Koordinationsverhältnisse, welche zwischen den wechselnden Gefällen an­ getroffen werden, sind es, die den Grenzen der Becken ihre mehr oder weniger gewundenen Formen geben. Der Längsstreifen oder der Talweg befindet sich nicht notwendigerweise in der Mitte des Beckens; er nimmt nicht einmal immer die niedrigsten Stellen ein, weil diese von Kanten einge­ faßt sein können, welche die Linien des größten Gefälles dahin zu gelangen hindern. Die ungleiche Länge der an beiden Ufern eines Flusses mün­ denden Zuflüsse ist es, was uns die Lage des Talwegs hinsichtlich der Grenzen des Beckens ziemlich richtig beurteilen läßt. Wenn der Haupt­ sammler der einen dieser Grenzen genähert ist, wenn er nahe bei dem Kamm fließt, welcher die Teilungslinie zwischen beiden Wasserbecken

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bildet, macht dies eine Gabelteilung sehr wahrscheinlich. Die kleinste Sen­ kung dieser Kante kann dann die Erscheinung, wovon hier die Rede ist, her­ beiführen, wenn nicht etwa die bereits vorhandene Schnelligkeit des Laufs den ganzen Fluß in seinem Bett zurückhält. Wenn die Gabelteilung entsteht, durchstreicht die Grenze beider Becken der Länge nach das Bett des Haupt­ sammlers, und ein Teil des Talwegs von a umfaßt Punkte, deren größte Ge­ fällinien zumTalweg von b führen. Der sich trennende Arm kann nicht mehr nach a zurückkehren; denn ein Wasserfaden, welcher einmal in ein Becken eingetreten ist, kann diesem nicht mehr entfremdet werden, bevor er das Flußbett, worin seine Gewässer sich sammeln, durchzogen hat. Noch bleibt zu untersuchen übrig, wie die Breite eines Flusses bei gleichen Umständen die Chance dieser Gabelteilungen begünstigt, die ( den Kanälen

an den Punkten der Teilung ähnlich) vermöge der natürlichen Beschaffen­ heit des Bodens eine schiffbare Linie zwischen den Becken zweier benach­ barter Flüsse bieten. Sondiert man einen Strom im Querdurchschnitt, wird sich zeigen, daß sein Bett gewöhnlich aus mehreren ungleich tiefen Rinnen besteht. Je breiter ein Strom ist, desto zahlreicher sind diese Rinnen; sie behalten selbst in großen Entfernungen einen mehr oder weniger voll­ kommenen Parallelismus. Es folgt daraus, daß die meisten Flüsse als aus mehreren nebeneinanderliegenden Kanälen zusammengesetzt betrachtet werden können und daß sich eine Gabelteilung bildet, wenn ein kleines Stück des Uferlandes niedriger ist als der Grund einer seitwärtsliegenden Rinne. Den bisher dargestellten Umständen nach mögen die Gabelteilungen der Flüsse entweder im selben Becken entstehen oder auf derTeilungskante zwi­ schen zwei Becken. Im ersten Fall sind es entweder Flußarme, welche in den Talweg zurückkehren, von dem sie sich in größerer oder kleinerer Entfer­ nung getrennt haben, oder es sind Arme, die sich mit tieferliegenden Zuflüssen vereinigen. Bisweilen sind es auch Deltas, die sich an der Mün­ dung von Flüssen ins Meer oder in der Nähe der Vereinigung mit einem an­ deren Fluß bilden. Wenn die Gabelteilung auf der Grenze zweier Wasser­ becken entstehen und diese Grenze das Bett des Hauptsammlers selbst durchzieht, bildet der sich entfernende Arm eine hydraulische Verbindung zwischen zwei Flußsystemen und erregt unsere Aufmerksamkeit um so mehr, je breiter und schiffbarer er ist. Die Breite des Casiquiare übersteigt die der Seine beim Botanischen Garten zwei- bis dreimal; und um zu be­ weisen, wie merkwürdig dieser Fluß ist, wollen wir daran erinnern, daß bei sorgfältigem Forschen nach Beispielen von Gabelteilungen im Binnenland selbst unter viel weniger bedeutenden Flüssen bis dahin deren nur drei oder vier mit einiger Zuverlässigkeit gefunden werden konnten. Ich will der Ver­ zweigungen der großen indo-chinesischen Ströme nicht gedenken, der na­ türlichen Kanäle, welche die Flüsse Ava und Pegu zu vereinigen scheinen,

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oder der von Siam und Kambodscha; die Art, wie diese Vereinigungen ge­ schehen, ist noch nicht genügend aufgeklärt. Ich will nur einer hydrauli­ schen Erscheinung gedenken, welche durch die schönen Karten von Nor­ wegen des Freiherrn von Hermelin aufs vollständigste bekanntgeworden ist. In Lappland geht vom Torneo-Fluß ein Arm (der Tärendo- Elf) zum Calix­ Elf über, welcher ein kleines abgesondertes hydraulisches System bildet. Dieser Casiquiare der nördlichen Zone ist nicht über 10 bis 12lieues lang. Er verwandelt jedoch das ganze den Bottnischen Meerbusen begrenzende Land in eine wahrhafte Flußinsel. Durch Herrn von Buch wissen wir, daß lange Zeit das Dasein dieses natürlichen Kanals ebenso hartnäckig ge­ leugnet worden ist wie das eines zum Amazonenstrom hinfließenden Arms des Orinoco. Eine andere Gabelteilung, welche wegen der vormaligen Ver­ bindung der Völker Latiums und Etruriens ein besonderes Interesse ge­ währt, scheint einst in der Nähe des Trasimenischen Sees entstanden zu sein. Der Arno- in der berühmten Voltata, die er südlich, westlich und nördlich zwischen Bibieno und Ponta Sieve macht - teilte sich bei Arezzo in zwei Arme, wovon einer durch Florenz und Pisa dem Meer zufloß, wie jetzt noch der Fall ist, während der andere, nachdem er das Tal von Chiana durchlaufen hatte, sein Wasser in die Tiber ergoß, teils unmittelbar, teils nachdem er es mit dem Wasser des Paglia vermischt hatte. Herr Fossombroni hat gezeigt, wie sich im Mittelalter infolge von Anschwemmungen im Tal von Chiana ein Teilungspunkt gebildet hat und wie der nördliche Teil des Arno Teverin ge­ genwärtig (mit Gegenhang) von Süden nach Norden aus dem kleinen See von Montepulciano in den Arno fließt. Der klassische Boden Italiens um­ faßte demnach neben so vielerlei Wundern der Natur und der Kunst auch eine jener Gabelteilungen, wovon die Wälder der Neuen Welt nur ein an­ deres Beispiel in viel größerem Maßstab darstellen. Ich bin seit meiner Rückkehr vom Orinoco oftmals gefragt worden, ob ich es für wahrscheinlich halte, daß der Kanal des Casiquiare durch Anschwem­ mungen allmählich verstopft werden könnte und ob ich nicht glaubte, die zwei großen Flußsysteme der amerikanischen Äquinoktial-Länder dürften sich im Laufe der Jahrhunderte völlig voneinander absondern. Weil ich es

mir zum Gesetz gemacht habe, nur Tatsachen zu beschreiben und die in ver­ schiedenen Ländern zwischen der Gestaltung des Bodens und dem Lauf des Wassers bestehenden Verhältnisse zu vergleichen, muß ich alles bloß Mutmaß­ liche weglassen [Hervorhebung des Hrsg.]. Zunächst bemerke ich, daß der Casiquiare in seinem gegenwärtigen Zustand keineswegs, wie die Dichter Latiums sich ausdrücken, placidus et mitissimus amnis ist; er gleicht gar nicht jenem errans languido flumine Cocytus, indem er auf dem größeren Teil seines Laufs die ausnehmende Schnelligkeit von 6 bis 8 Fuß in der Sekunde besitzt. Darum ist denn auch nicht zu befürchten, daß er ein mehrere hun­ dert Toisen breites Bett gänzlich ausfüllen oder verschütten solle. Das

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Dasein dieses Arms des oberen Orinoco ist eine zu bedeutende Erschei­ nung, als daß die kleinen Veränderungen, die sich auf der Oberfläche des Erdballs ergeben, denselben gänzlich vernichten oder auch nur beträchtlich verändern könnten. Wir wollen nicht leugnen, daß, besonders wenn es sich um weniger breite und nur wenig schnell fließende Flüsse handelt, überall ein Streben zur Verminderung ihrer Verzweigungen und zur Absonderung ihrer Wasserbecken bemerkt wird. Die größten und vorzugsweise majestäti­ schen Flüsse erscheinen uns, wenn wir die zerrissenen Flächen ihrer Ufer oder entfernten Gestade betrachten, nur wie kleine Wasserbäche, die sich durch Täler winden, welche sie nicht selbst graben konnten. Die Beschaffen­ heit ihres wirklichen Bettes deutet genügend die fortschreitende Verminde­ rung ihrer Wassermassen an. Allenthalben finden wir Spuren von älteren ausgetrockneten Flußarmen und von Gabelteilungen, von denen kaum einige historische Zeugnisse übriggeblieben sind. Die verschiedenen, mehr oder weniger parallellaufenden Rinnen, aus denen die amerikanischen Fluß­ betten bestehen und die sie viel wasserreicher scheinen lassen, als sie in der Tat sind, ändern allmählich ihre Richtung; sie erweitern und vereinigen sich durch Erosion der sie trennenden Längenkanten. Was anfänglich nur ein Arm war, wird nachher zum einzigen Sammler, und in Flüssen, die nur ge­ ringe Gefälle haben, verschwinden die Gabelteilungen oder die Verzwei­ gungen zwischen zwei hydraulischen Systemen auf dreierlei Weise: ent­ weder dadurch, daß der Abführungs-oder Verbindungskanal den ganzen ga­ belgeteilten Strom in sein Becken hinüberzieht; oder indem der Kanal durch Anschwemmungen verschlossen wird an der Stelle, wo er vom Haupt­ sammler ausgeht; oder endlich, indem sich mitten auf seinem Lauf eine Querkante oder ein Querrücken bildet, ein Teilungspunkt, welcher dem Oberteil einen Gegenhang gewährt und die Gewässer in umgekehrter Rich­ tung zurückfließen läßt. Die sehr niedrigen und den periodischen großen Überschwemmungen ausgesetzten Länder wie das amerikanische Guayana oder Dar-Saley oder Bagirmi in Afrika beweisen uns, wieviel zahlreicher diese Verbindungen durch natürliche Kanäle vormals im Vergleich zu heute gewesen sein können. Nachdem wir die Gabelteilung des Orinoco unter dem Aspekt der verglei­ chenden Hydrographie betrachtet haben, bleibt jetzt noch übrig, kurz die Geschichte der Entdeckung dieser außerordentlichen Erscheinung zu be­ richten. Es verhielt sich mit der Verbindung zweier großer Flußsysteme wie mit dem Lauf des Nigers nach Osten. Es mußte das wiederholt entdeckt werden, was anfänglich der Analogie und den herrschenden T heorien wider­ sprechend erachtet wurde. Nachdem Reisende schon die Verbindungsart des Orinoco mit dem Amazonenstrom erkannt hatten, wurde noch, und zu wiederholten Malen, die Möglichkeit der Sache bezweifelt. Eine Bergkette, die der Geograph Hondius gegen Ende des 16. Jahrhunderts erdacht hatte,

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um die Bassins der Flüsse zu trennen, wurde abwechselnd angenommen und wieder geleugnet. Man dachte nicht daran, daß auch das Dasein dieser Berge die Trennung zweier hydraulischen Systeme nicht unbedingt beweisen könnte, weil die Gewässer sich in der Cordillere der Anden und in der Hima­ laya-Kette, der höchsten in der bekannten Welt, Durchgänge geöffnet haben. Man behauptete nicht ohne Grund, daß Reisen, die im selben Boot vollendet werden, noch nicht zuverlässig dartun, daß die Fahrt durch keine Portagen unterbrochen worden sei. Ich bin selbst in der Lage gewesen, alle Umstände dieser so lang bestrittenen Gabelteilung zu verifizieren; ich bin aber darum weit entfernt, die Gelehrten zu tadeln, die, von rühmlichem Eifer in der Erforschung der Wahrheit geleitet, das zuzugeben zögerten, was ihnen noch nicht genügend ermittelt zu sein schien. Weil der Amazonenstrom von den Portugiesen und Spaniern viel früher besucht wurde, als diese miteinander wetteifernden Völker den oberen Ori­ noco gekannt haben, sind die ersten vagen Nachrichten über die Verzwei­ gung beider Flüsse von der Mündung des Rio Negro nach Europa gelangt. Die conquistadores und mehrere Historiker wie Herera, Fray Pedro Sirnon und der Pater Garcia verwechselten unter den Namen Rio Grande und Mar Dulce ( großer Strom, Süßwasser-Meer) den Orinoco und den Marafi6n. Der Name des ersteren dieser Ströme findet sich noch nicht einmal auf der

1529

verfertigten berühmten Karte Amerikas von Diogo Ribeiro. Die Expedi­ tionen von Orellana

(1540)

und von Lope de Aguirre

(1560) lieferten keine

Aufschlüsse über die Gabelteilung des Orinoco; die Schnelligkeit aber, womit Aguirre zur Insel Margarita gelangt war, hatte lange Zeit glauben ge­ macht, er sei anstatt durch eine der großen Mündungen des Amazonen­ stroms vielmehr durch eine innere Flußverbindung ans Meer gelangt. Der Jesuit Acufia hat diese Hypothese behauptet, die durch das Ergebnis meiner Nachforschungen in den Schriften der ersten Historiker der conquista kei­ neswegs bestätigt wird. "Wer möchte glauben", sagt dieser Missionar, "daß Gott einem Tyrannen Siege und die schöne Entdeckung der Mündung des Marafi6n vergönnt hätte?" Acufia nimmt an, Aguirre sei auf dem Rio de Fe­ lipe zum Meer gelangt, und dieser Strom finde sich "in der Entfernung einiger Iieues vom Cabo del Norte". Raleigh hat auf mehreren teils eigenen, teils auf seine Kosten veranstal­ teten Reisen über eine hydraulische Verbindung zwischen dem Orinoco und dem Amazonenstrom keine Aufschlüsse erhalten; dagegen wurde von seinem Gefährten, dem Leutnant Keymir, welcher aus Schmeichelei ( und hauptsächlich in Nachahmung des dem Marafi6n gegebenen Namens Ore­ llana ) den Orinoco unter dem Namen Raleana anführt, der erste unbe­ stimmte Gedanke von Portagen zwischen dem Essequibo, dem Caronf und dem Rio Branco oder Parima vorgetragen. Diese Portagen wurden dann von ihm in einen großen Salzwassersee verwandelt, und in dieser Gestalt er-

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scheinen sie auf der 1599 nach Raleighs Berichten gezeichneten Karte. Zwi­ schen dem Orinoco und dem Amazonenstrom wird eine Cordillere darge­ stellt; und mit Übergehung der wirklich vorhandenen Gabelteilung gibt Hondius eine andere, völlig erdichtete an: Er läßt den Amazonenstrom (durch den Rio Tocantins) sich mit dem Parami und dem San Francisco ver­ binden. Diese Verbindung hat sich über ein Jahrhundert auf den Karten er­ halten, ebenso eine angebliche Gabelteilung des Rfo Magdalena, der einen Arm in die Bucht von Maracaibo senden sollte. Im Jahre 1639 unternahmen die Jesuiten Christoval deAcuiia undAndres de Artedia im Gefolge des Kapitäns Texeira die Reise von Quito nach Gran Para; sie vernahmen beim Zusammenfluß des Rfo Negro mit dem Amazo­ nenstrom, "daß der erstere dieser Flüsse, den die Eingeborenen der braunen Farbe und seines sehr hellen Wassers wegen Curiguacura oder Urana nennen, einen Arm dem Rfo Grande abgibt, welcher sich ins Nordmeer er­ gießt und dessen Ausmündung von holländischen Niederlassungen um­ geben ist". Acuiia riet, eine Festung zu erbauen, "nicht am Zusammenfluß des Rfo Negro mit dem Amazonenstrom, sondern da, wo der Verbin­ dungsarm abzweigt". Er diskutiert, welcher Fluß dieser Rfo Grande sein möge, und er schließt, er könne gewiß nicht der Orinoco sein, vielleicht aber der Rfo Dulce oder der Rfo de Felipe, derselbe, durch welchen Aguirre ans Meer gelangt war. Die letztere Mutmaßung erscheint ihm als die wahrschein­ lichste. Man muß bei Angaben solcher Art unterscheiden, was die Rei­ senden von den Indianern an der Mündung des Rfo Negro erfahren haben und was sie selbst nach den Hypothesen hinzutaten, welche der damalige Zustand der Geographie ihnen lieferte. Ein vom Rfo Negro ausgehender Arm soll sich in einen sehr großen Fluß entleeren, welcher in das Nordmeer ausfließt, als einer von rothaarigen Menschen bewohnten Küste; so werden von den Eingeborenen, welche nur weiße Menschen mit schwarzen oder braunen Haaren, Portugiesen oder Spanier, zu sehen gewohnt sind, die Hol­ länder bezeichnet. Nun kennen wir heutzutage vom Zufluß des Rfo Negro in den Amazonenstrom bis zum Caiio Pimichfn, durch welchen ich in den er­ sten dieser Flüsse eintrat, alle nördlichen und südlichen Zuflüsse. Nur ein einziger, der Casiquiare, steht mit einem anderen Fluß in Verbindung; die Quellen des Rfo Branco sind sehr gründlich auf den neuen Karten des hydro­ graphischen Depots von Brasilien eingezeichnet, und wir wissen, daß dieser Fluß durch keinen See mit dem Caronf, dem Essequibo oder irgendeinem anderen Strom der Küste von Surinam und Cayenne zusammenhängt. Eine hohe Bergkette, die von Pacarafma, trennt die Quellen des Paraguamusi (Nebenfluß des Caroni) von denen des Rfo Branco, wie DonAntonio Santos 1775 auf seiner Reise von Angostura nach Gran Para erkannt hat. Südlich der Kette von Pacaraima und von Quimiropaca befindet sich eine Portage von drei Tagen zwischen dem Sarauri [Surumu. Anmerkung des Hrsg.]

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(Arm des Rio Branco) und dem Rupunuri [Rupununi. Anmerkung des Hrsg.] (Arm des Essequibo). Diese Portage ist es,welche 1739 der aus Hil­ desheim gebürtige Wundarzt Nikolaus Hortsmann [Horstmann] zurückge­ legt hat, dessen Tagebuch ich in der Hand hatte,auf demselben Weg ist auch Don Francisco Jose Rodrigues Barata, Oberstleutnant des ersten Linienre­ giments von Pani, im Jahre 1793 in Geschäften seiner Regierung zweimal vom Amazonenstrom nach Surinam gekommen. Und nochmals, im Februar 1811, haben sich englische und holländische Kolonisten bei der Portage des Rupunuri eingefunden, um sich vom Befehlshaber am Rio Negro die Er­ laubnis, zum Rio Branco überzusetzen, zu verschaffen; nachdem sie ihnen erteilt wurde,sind diese Kolonisten in ihren Booten beim Fort Saö Joaquim am Rio Branco eingetroffen. Wir werden in der Folge nochmals auf diese Landenge oder das zum Teil bergige, zum Teil sumpfige Land zurück­ kommen,in welches Keymis (Verfasser der Erzählung von Raleighs zweiter Reise) das Dorado und die große Stadt Manoa verlegt, das aber,wie wir jetzt zuverlässig wissen, die Quellen des Caroni, des Rupunuri und des Rio Branco, dreier Zuflüsse von drei verschiedenen Flußsystemen - des Ori­ noco,des Essequibo und des Rio Negro oder des Amazonenstroms -,von­ einander trennt. Es ergibt sich aus allem Gesagten,daß die Eingeborenen, von denen Te­ xeira und Acufia Nachrichten über die Vereinigung der zwei großen Flüsse erhielten, sich vielleicht selbst über die Richtung der Gewässer des Casi­ quiare getäuscht haben oder daßAcufia ihreAngaben irrig gedeutet hat. Die letztereVermutung ist um so wahrscheinlicher, als ich gleich den spanischen Reisenden einen Dolmetscher hatte und dabei öfters erfahren mußte,wie leicht man sich über die Arme täuscht, welche ein Fluß abgibt oder emp­ fängt, über die Richtung eines Zuflusses,welcher der Sonne folgt oder sich "der Sonne entgegen" bewegt. Ich zweifle,daß die Indianer in der Unterre­ dung mitAcufia vonVerbindungen sprechen wollten,welche mit den hollän­ dischen Besitzungen durch die Partagen zwischen dem Rio Branco und dem Rio Essequibo stattfinden könnten. Die Cariben trafen an den Gestaden des Rio Negro auf dem einen und anderen Weg,über die Landenge von Rupu­ nuri und auf dem Casiquiare, ein; aber die Eingeborenen konnten wohl glauben, ein ununterbrochener Zusammenhang der Flüsse müsse die Auf­ merksamkeit der Fremden mehr in Anspruch nehmen; und wenn die Mün­ dung des Orinoco genaugenommen nicht in den holländischen Besitzungen gelegen ist,befindet sie sich doch ihnen sehr nahe. Der Aufenthalt Acufias am Zusammenfluß des Rio Negro setzte Europa nicht nur zuerst in Kenntnis von der Verbindung des Amazonenstroms mit dem Orinoco; er hatte auch wohltätige Folgen für die Menschheit. Texeiras Krieger wollen ihren Be­ fehlshaber zwingen,in den Rio Negro einzufahren,um Sklaven zu fangen. Die beiden Geistlichen, Acufia und Artedia, protestierten schriftlich gegen

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diese ungerechte und politisch unkluge Unternehmung. Sie behaupteten zu gleicher Zeit (und dieser Grundsatz klingt etwas seltsam), "das Gewissen könne den Christen nicht erlauben, die Eingeborenen zu Sklaven zu ma­ chen, mit Ausnahme derer, die sie als Dolmetscher gebrauchen". Wie immer es sich mit diesem Grundsatz verhalten mag, jedenfalls die edle und mutige Einsprache der beiden Ordensmänner ließ das beabsichtigte Unternehmen scheitern. Der Geograph Sanson zeichnete 1680 eine Karte des Orinoco und des Amazonenstroms nach dem Reisebericht Acuiias. Sie ist für den Amazo­ nenfluß das, was Gurnillas Karte lange Zeit für den unteren Orinoco ge­ wesen ist. In dem nordwärts des Äquators sich ausdehnenden Teil ist sie rein hypothetisch, und sie stellt, wie oben bemerkt worden ist, die Gabelteilung des Caqueta im rechten Winkel dar. Der eine Arm des Caqueta ist der Ori­ noco, der andere der Rio Negro. Hiermit glaubte Sanson auf dieser Karte und auf einer anderen von ganz Südamerika, die 1656 veröffentlicht wurde, die unsicheren Angaben zu vereinigen, welche Acuiia 1639 über die Verzwei­ gungen des Caqueta und über die Verbindungen des Amazonenstroms mit dem Orinoco gesammelt hatte. Die irrige Vorstellung, derzufolge der Rio Negro aus dem Orinoco hervorgehe oder aus dem Caqueta, von welchem der Orinoco nur ein Arm sei, hat sich bis gegen die Mitte des 18. Jahrhun­ derts erhalten, um welche Zeit der Casiquiare entdeckt wurde. Pater Fritz war mit einem anderen deutschen Jesuiten, dem Pater Richler, nach Quito gekommen; 1690 zeichnete er eine Karte des Amazonenstroms, die beste unter allen, welche man bis zur Reise des Herrn de La Condamine besaß. Diese Karte war der Führer des französischen Akademikers auf seiner Fahrt, wie die alten Karten von La Cruz und Caulin meine Führer auf dem Orinoco gewesen sind. Man könnte es erstaunlich finden, daß der Pater Fritz trotz seines langen Aufenthalts an den Gestaden des Amazonenstroms (der Befehlshaber eines portugiesischen Forts behielt ihn zwei Jahre als Ge­ fangenen) keinerlei Nachrichten vom Casiquiare erhalten habe. Die histori­ schen Aufschlüsse, welche er am Rand seiner Manuskriptkarte notiert hat und die ich jüngst sorgfältig geprüft habe, sind sehr unvollkommen und wenig zahlreich. Er läßt eine Bergkette zwischen beiden Flußsystemen hin­ durchgehen und begnügt sich, einen der Arme, aus welchen der Rio Negro gebildet wird, einem Zufiuß des Orinoco zu nähern, der seiner Lage nach der Rio Caura zu sein scheint. Alles blieb ungewiß während der hundert Jahre, die zwischen Acuiias Reise und derEntdeckung des Casiquiare durch den Pater Roman liegen. Die Verzweigung des Orinoco mit dem Amazonenstrom durch den Rio Negro und eine Gabelteilung des Caqueta, die Sanson erfand, der Pater Fritz aber und Blaeu verworfen hatten, kamen auf den ersten Karten von Delisie wieder zum Vorschein; jedoch hat amEnde seines Lebens dieser be-

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rühmte Geograph darauf erneut verzichtet. Weil man sich über die Art der Verbindung getäuscht hatte, glaubte man sie nunmehr ganz leugnen zu sollen. In der Tat ist bemerkenswert, daß zur Zeit, als die Portugiesen am häufigsten den Amazonenstrom, den Rio Negro und den Casiquiare hinauf­ gefahren sind und als die Briefe des Pater Gumilla (mittels der natürlichen Verzweigungen der Flüsse) vom unteren Orinoco nach Gran Pani gelangten, dieser selbe Missionar sich Mühe gab, die Meinung von der vollkommenen Isolierung der Wasserbecken des Orinoco und des Amazonenstroms in Buropa zu verbreiten. Er versichert, bei wiederholten Hinauffahrten des er­ sten dieser Flüsse bis zum Raudal von Tabaje, welcher unter 1 o 4' der Breite liegt, niemals einen Fluß einmünden oder austreten gesehen zu haben, den man für den Rio Negro hätte halten können. Überdies, setzt er hinzu, findet sich eine große von Osten nach Westen verlängerte Cordillere, welche, wie sie den Zusammenfluß der Gewässer hindert, auch jede Erörterung über die angebliche Verbindung der zwei Flüsse überflüssig macht. Die Irrtümer des Pater Gumilla gehen aus seiner festen Überzeugung hervor, auf dem Ori­ noco die Parallele von 1 o 4' erreicht zu haben. Er täuschte sich um mehr als 5° 10' der Breite; denn da ich in der Mission vonAtures, 13lieues südlich der Rapides von Tabaje, Beobachtungen anstellte, habe ich ihre Breite bei 5° 37' 54" gefunden. Weil der Pater Gumilla nur eine kleine Strecke über den Zu­ sammenfluß des Meta hinaufkam, darf man sich nicht wundern, daß ihm die Gabelteilung des Orinoco unbekannt geblieben ist, welche infolge der Krümmungen des Flusses etwa 120 Iieues vom Raudal von Tabaje entfernt ist. Dieser Missionar, der sich drei Jahre (und nicht dreißig Jahre, wie durch seine Übersetzer verbreitet wurde) am unteren Orinoco aufhielt, hätte sich beschränken sollen, von dem zu sprechen, was er mit eigenen Augen wäh­ rend der Fahrt auf dem Apure, dem Meta und dem Orinoco, von Guayana Vieja bis zum ersten großen Katarakt, gesehen hat. Die Bewunderung, womit anfänglich sein Werk aufgenommen wurde (das einzige, das über diese Landschaften vor den Werken der Pater Caulin und Gili erschienen war), hat nachher in den spanischen Kolonien einer allzu großen Verachtung Platz gemacht. Zwar ermangelt der >Orinoco ilustrado< der vertrauten Kenntnis der Örtlichkeiten und der einfachen Offenheit, die den Berichten der Missionare einen gewissen Reiz verliehen. Es herrscht darin eine gekün­ stelte Schreibweise und eine andauernde Tendenz zu Übertreibungen; trotz dieser Mängel aber enthält das Buch des Pater Gumilla sehr richtige An­ sichten über Sitten und natürliche Anlagen der verschiedenen Völker­ schaften vom unteren Orinoco sowohl wie von den Llanos von Casanare. Herr de La Condamine hatte während seiner denkwürdigen Fahrt auf dem Amazonenstrom 1743 mit viel Sorgfalt zahlreiche Beweise dieser Fluß­ verbindungen gesammelt, die der spanische Jesuit geleugnet hatte. Den ent­ scheidendsten dieser Beweise schien ihm damals das unzweideutige Zeugnis

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einer Cauriacani-Indianerin zu liefern, mit der er gesprochen hatte und die von den Ufern des Orinoco (aus der Mission von Pararuma) in einem Boot nach Gran Pani gekommen war. Ehe noch Herr de La Condamine in sein Vaterland zurückkehrte, war durch die Reise des Pater Manuel Roman und durch zufälliges Zusammentreffen der Missionare des Orinoco und des Amazonenstromes die Tatsache unzweifelhaft geworden, von welcher Acufta zuerst Kenntnis gehabt hatte. Die seit Mitte des 17. Jahrhunderts zur Sklavenjagd unternommenen Streifzüge hatten die Portugiesen allmählich vom Rio Negro durch den Casi­ quiare in das Bett eines großen Flusses geführt, von dem sie nicht wußten, daß es der Orinoco war. Ein aus der

tropa derescate [Loskauftruppe] be­

stehendes fliegendes Lager begünstigte diesen unmenschlichen Handel. Nachdem man die Eingeborenen aufgehetzt hatte, sich untereinander zu be­ kriegen, wurden die Gefangenen losgekauft, und um dem Handel einen An­ schein von Rechtmäßigkeit zu geben, wurde die Loskauftruppe von Ordens­ männern begleitet, welche untersuchen sollten, "ob die, welche die Sklaven verkauften, dazu berechtigt seien, da sie ihre Gefangenen in offenem Kriege gemacht haben". Seit 1737 wurden diese Reisen der Portugiesen nach dem oberen Orinoco häufiger. Die Begierde, Sklaven

(poitos) gegen Beile, Fisch­

angeln und Glaswaren einzutauschen, verleitete die indianischen Stämme zum Krieg gegeneinander. Die Guipunaves waren unter Anführung ihres tapferen und grausamen Häuptlings Macapu von den Ufern des Inirida an den Zusammenfluß des Atabapo und des Orinoco herabgekommen. "Sie verkauften", sagt der Missionar Gili, "die Gefangenen, welche sie nicht aufaßen." Die Jesuiten vom unteren Orinoco wurden über diesen Stand der Dinge unruhig, und der Vorsteher der spanischen Missionen, Pater Roman, Gurnillas vertrauter Freund, faßte den kühnen Entschluß, über die Großen Katarakte hinaus ohne Begleitung spanischer Soldaten die Guipunaves zu besuchen. Am 4. Februar 1744 reiste er von Carichana ab; als er an den Zu­ sammenfluß des Guaviare, des Atabapo und des Orinoco gelangt war, da, wo der letztere seinen bisherigen Lauf von Osten nach Westen plötzlich von Süden nach Norden wendet, erblickte er von ferne eine Piroge, die seiner eigenen an Größe glich und mit europäisch gekleideten Menschen be­ mannt war. Als Friedenszeichen und der Sitte der Missionare gemäß, wenn sie durch ein ihnen unbekanntes Land reisen, ließ er das Kreuz am Bug seines Fahrzeugs befestigen. Die Weißen (es waren Portugiesen, Sklaven­ händler vom Rio Negro) erkannten unter Freudenäußerungen die Kleidung des St.-Ignatius-Ordens [Jesuiten]. Nicht ohne Erstaunen vernahmen sie, daß der Fluß, worauf ihr Zusammentreffen stattfand, der Orinoco sei, und sie führten den Pater Roman auf dem Casiquiare nach den brasilianischen Niederlassungen am Rio Negro zurück. Der Vorsteher der spanischen Mis­ sionen sah sich gezwungen, in der Nähe des fliegenden Lagers der Loskauf-

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truppe zu verweilen bis zur Ankunft des portugiesischen Jesuiten Avogadri, welcher in Geschäften nach Gran Pani gereist war. Auf demselben Weg, durch den Casiquiare und den oberen Orinoco, kehrte der Pater Manuel Roman mit seinen Salivas-Indianern nach einer siebenmonatigen Abwesen­ heit nach Pararuma, ein wenig nordwärts von Carichana, zurück. Er ist der erste Weiße, welcher vom Rio Negro mithin vom Becken des Amazonen­ stroms (ohne seine Kanus mit einer Portage befördern zu lassen) in das Becken des unteren Orinoco gelangt war. Die Kunde dieser außerordentlichen Reise verbreitete sich mit solcher Schnelligkeit, daß Herr de La Condamine sie in einer öffentlichen Sitzung der Akademie, sieben Monate nach der Rückkehr des Pater Roman zu Para­ ruma, bekanntgeben konnte. "Die neuerlich bestätigte Verbindung des Ori­ noco und des Amazonenstroms", so drückte er sich aus, "kann um so mehr als eine geographische Entdeckung gelten, als alle neueren Geographen sie übereinstimmend auf ihren Karten weggelassen hatten, obgleich die Verbin­ dung dieser zwei Flüsse auf den alten Karten (nach Acufias Angaben) ange­ zeigt ist. Es geschieht nicht zum ersten Mal, daß für märchenhaft gehalten wurde, was vollkommen richtig war, daß die Kritik zu weit ging und daß diese Vereinigung von denen als chimärisch erklärt wurde, die am besten hätten unterrichtet sein sollen." Seit der Reise des Pater Roman 1744 hat so­ wohl im spanischen Guayana wie an den Küsten von Cumana und Caracas niemand mehr das Dasein des Casiquiare und die Gabelteilung des Orinoco bezweifelt. Selbst der Pater Gumilla, welchen Bouguer in Cartagena de las Indias [Columbien) angetroffen hat, gestand seinen Irrtum ein; und er hat kurz vor seinem Tod dem Pater Gili den für eine neue Ausgabe seiner Ge­ schichte des Orinoco bestimmten Nachtrag vorgelesen, worin die Art, wie er über seinen Irrtum belehrt worden sei, auf eine lustige Weise erzählt wird. Die Grenzexpedition von Huriaga und Solano hat vollends die Geographie des oberen Orinoco und die Verzweigung dieses Flusses mit dem Rio Negro ausführlich aufgehellt. Solano hatte sich 1756 bei der Einmündung des Ata­ bapo angesiedelt; und von dieser Zeit an sind spanische und portugiesische Kommissare mit ihren Pirogen öfters durch den Casiquiare aus dem unteren Orinoco in den Rfo Negro gelangt, um sich in ihren Hauptquartieren von Ca­ bruta und Mariva Besuche abzustatten. Seit 1767 sind alljährlich zwei bis drei Pirogen vom Fortfn San Carlos durch die Gabelteilung des Orinoco nach Angostura gekommen, um das benötigte Salz und den Sold für die Be­ satzung zu holen. Diese Reisen aus einem Flußbett ins andere durch den na­ türlichen Kanal des Casiquiare sind gegenwärtig den Kolonisten ebenso­ wenig auffallend wie den Bewohnern der Seine die Ankunft von Schiffen, welche durch den Kanal von Orleans die Loire hinabfahren. Obgleich man in den spanischen Besitzungen von Amerika seit der Reise des Pater Roman 1744 vom Lauf des oberen Orinoco von Osten nach Westen

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und von der Natur seiner Verbindung mit dem Rio Negro genau unterrichtet war, ist doch die Kenntnis dieser Verhältnisse erst viel später nach Buropa gelangt. La Condamine und d'Anville haben noch 1750 angenommen, der Orinoco sei ein von Südosten kommender Arm des Caqueta und der Rio Negro entspringe unmittelbar aus ihm. Erst in einer zweiten Ausgabe seines >Amerique meridionale< läßt d'Anville, ohne jedoch auf eine Verzweigung des Caqueta durch den Iniricha (Inirida) mit dem Orinoco und dem Rio Negro zu verzichten, den Orinoco östlich, in der Nähe der Quellen des Rio Branco entspringen und den Rio Casiquiare die Gewässer des oberen Ori­ noco dem Rio Negro zuführen. Wahrscheinlich hatte dieser unermüdliche Gelehrte sich Aufschlüsse über die Art der Gabelteilung von den Missio­ naren verschafft, welche damals, wie sie dies noch heute sind, die einzigen Geographen der ionersten Teile des Kontinents waren. Sein Irrtum betrug 3lho der Breite hinsichtlich des Zusammenflusses des Casiquiare mit dem Rio Negro, dagegen lieferte er bereits eine ziemlich genaue Angabe über die Lage des Atabapo und der waldigen Landenge, durch welche ich von Javita an die Gestade des Rio Negro gelangt war. Die Karten von La Cruz Cano y Olmedilla und von Surville, die in den Jahren 1775 und 1778 ausgegeben wurden, haben neben dem Werk des Pater Caulin die Arbeiten der Grenz­ expedition am richtigsten bekanntgemacht: Denn die darin vorkommenden zahlreichen Widersprüche beziehen sich auf die Quellen des Orinoco und des Rio Branco, nicht aber auf den Lauf des Casiquiare und des Rio Negro, welche so gut von ihnen bezeichnet werden, wie bei gänzlicher Ermangelung astronomischer Beobachtungen verlangt werden kann. In dieser Lage befanden sich die hydrographischen Entdeckungen im In­ neren von Guayana, als kurze Zeit vor meiner Abreise aus Burop a ein Ge­ lehrter, dessen Arbeiten die Fortschritte der Erdbeschreibung wesentlich be­ fördert haben, die Angaben Acuiias, die Karte des Pater Samuel Fritz und La Cruz Olmedillas >America meridional< einer neuen Prüfung zu unter­ werfen für nötig achtete. Frankreichs politischer Zustand hatte vielleicht den Herrn Buaehe gehindert, die Werke der beiden Missionare Caulin und Gili zu erhalten und zu vergleichen, deren Verfasser an den Gestaden des Orinoco weilten, als die Grenzexpedition die Verbindungen eröffnete, welche ein halbes Jahrhundert lang durch den Casiquiare und den oberen Orinoco zwischen dem sp anischen Fortin des Rio Negro und der Stadt An­ gostura regelmäßig fortgesetzt wurden. Die 1798 bekanntgemachte >Carte generale de la Guayane< stellt den Casiquiare und den ostwärts von Esme­ ralda gelegenen Teil des oberen Orinoco als einen dem Rio Negro zuflie­ ßenden und mit dem Orinoco nicht zusammenhängenden Strom dar. Sie läßt eine Bergkette durch die Ebene ziehen, welche die Landenge zwischen dem Tuamini und dem Pimichin bildet. Diese Kette soll nordöstliche Richtung haben und einen Teilungspunkt zwischen den Gewässern des Orinoco und

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denjenigen des Rio Negro und des Casiquiare,

20 lieues westlich von Esme­

ralda, bilden. In einer der Karte beigefügten Note heißt es, die seit langem geglaubte Verbindung zwischen dem Orinoco und dem Amazonenstrom sei eine geographische Ungeheuerlichkeit

[une monstruosite geographique],

welche durch die Karte von La Cruz grundlos vervielfältigt worden sei, und um diese Vorstellungen zu berichtigen, sei es erforderlich, die Richtung der großen Kette, welche die Wasserscheide bilde, zu erforschen. Ich war so glücklich, diese Bergkette an Ort und Stelle untersuchen zu können. In der Nacht vom

24. Mai [1800]

bin ich mit meiner Piroge durch

den Teil des Orinoco gefahren, von welchem Herr Buaehe annimmt, das Flußbett werde von einer Cordillere durchschnitten. Fände sich an dieser Stelle eine Wasserscheide (eine Teilungsstelle), so müßte ich die ersten

20

Iieues westwärts von Esmeralda den Fluß hinauffahren, statt ihn, wie ich wirklich getan habe, bei sehr schnellem Fall hinabzufahren. Derselbe Fluß, welcher östlich von dieser Mission entspringt und einen Arm (den Casi­ quiare) dem Rio Negro abgibt, setzt seinen Lauf ununterbrochen gegen Santa Barbara und San Fernando de Atabapo fort. Dies ist der Teil des oberen Orinoco, der in der Richtung von Südosten nach Nordwesten läuft und von den Indianern Rio Paragua genannt wird. Nachdem er seine Ge­ wässer mit denen des Guaviare und des Atabapo vermischt hat, wendet der­ selbe Strom sich nordwärts, um die großen Katarakte zu überschreiten. All diese Umstände sind im allgemeinen auf der großen Karte von La Cruz richtig angegeben; Herr Buaehe vermutete aber wahrscheinlich, auf den ver­ schiedenen zu Wasser vom Amazonenstrom zum Orinoco unternommenen Reisen seien die Boote mittels einer Portage

(arrastradero)

vom einen Fluß

zum anderen gebracht worden. Dieser achtungswerte Geograph mußte in seiner Meinung, daß die Ströme in der Natur den Lauf nicht besäßen, wel­ chen die neuen spanischen Karten ihnen vorzeichnen, um so mehr bestätigt werden, als eben diese Karten in der Umgebung des Sees Parima (diesem an­ geblichen Weißen Meer von

600 Quadratlieues) die seltsamsten und unwahr­

scheinlichsten Flußverzweigungen darstellen. Es ließe sich auf den Orinoco anwenden, was der Pater Acufia vom Amazonenstrom, dessen Wunder er beschrieben hat, sagt: "Nacieron herrnauadas en las cosas grandes la novedad y el descredito [in großen Dingen (bei außerordentlichen Naturerschei­

nungen) erregt die Neuheit stets Mißtrauen]." Hätten die Völker der niederen Region des äquinoktialen Amerika an der in der kalten und alpinen Region verbreiteten Zivilisation teilgehabt, würde dieses ungeheure Mesopotamien zwischen dem Orinoco und dem Amazo­ nenstrom die Entwicklung ihres Gewerbefleißes begünstigt, ihren Handel belebt und die Fortschritte der Staatseinrichtungen befördert haben. Wir er­ blicken überall in der Alten Welt einen solchen Einfluß der Örtlichkeiten auf die Kulturentwicklung der Völker. Die Insel Meroe zwischen dem Astaboras

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und dem Nil, der Pandjab am Indus, die Duabs des Ganges und Mesopota­ mien am Euphrat liefern berühmte und überzeugende Beweise hiervon in den Annalen des Menschengeschlechts. Doch die schwachen Stämme, welche in den Savannen und Wäldern des östlichen Amerika umherziehen, haben aus den Vorteilen ihres Bodens und aus den Verzweigungen ihrer Flüsse nur wenig Nutzen gezogen. Die Überfälle der Cariben, welche aus entfernten Gegenden den Orinoco, den Casiquiare und den Rio Negro her­ aufkamen, um Sklaven zu entführen und zu rauben, zwangen einige dieser verwilderten Völker, aus ihrer Trägheit zu erwachen und für ihre gemein­ same Verteidigung Verbindungen einzugehen; inzwischen war das wenige Gute, das diese Kriege mit den Cariben (den Beduinen der Ströme von Gua­ yana) erzeugt haben, nur ein schlechter Ersatz für die Nachteile, welche aus noch größerer Sittenverwilderung und verminderter Bevölkerung hervor­ gingen. Wir können nicht zweifeln, daß Griechenlands natürliche Beschaf­ fenheit, seine durch Hügel und Berge wie durch Buchten des Mittelmeers unterbrochene Landschaft in der Morgenröte der Zivilisation zur geistigen Entwicklung der Hellenen nicht mitgewirkt haben. Aber dieser Einfluß des Klimas und der Konfiguration des Bodens entfaltet seine Macht nur da, wo Menschenrassen, die mit glücklichen moralischen Anlagen begabt sind, einen gewissen äußeren Anstoß erhalten. Wir erblicken beim Studium der Geschichte unseres Geschlechts von Zeit zu Zeit auf dem Erdball, gleich leuchtenden Punkten verstreut, diese Zentren antiker Zivilisation; man ist betroffen über diese Ungleichheit der Kultur unter Völkern, welche ähnliche Klimate bewohnen und deren heimatlicher Boden gleichmäßig mit den köst­ liebsten Gaben der Natur begünstigt scheint. Seit ich die Gestade des Orinoco und des Amazonenstroms verlassen habe, hat eine neue Zeitrechnung für die Völker des Westens begonnen. Den Sturmgewittern bürgerlicher Zwiste werden die Segnungen des Friedens und eine freiere Entwicklung gewerbfleißiger Künste folgen. Diese Gabel­ teilung des Orinoco, diese Landenge des Tuamini, welche ein künstlicher Kanal so leicht durchschneiden kann, werden die Blicke des handeltrei­ benden Europa auf sich ziehen. Der Casiquiare, an Breite dem Rhein gleich und 180 Meilen lang, wird künftig nicht unbenutzt bleiben, sondern eine schiffbare Straße zwischen zwei Strombetten bilden, die eine Oberfläche von 190000 Quadratlieues darstellen. Das Getreide Neu-Granadas wird den Ufern des Rio Negro zugeführt werden; von den Quellen des Napo und des Ucayali, aus den Anden von Quito und dem Oberland von Peru wird man zu Wasser nach den Mündungen des Orinoco reisen, in einer Entfernung, welche der von Timbuktu nach Marseille gleicht. Ein Land, neun- bis zehnmal größer als Spanien und durch die mannigfaltigsten Naturerzeug­ nisse bereichert, ist durch den natürlichen Kanal des Casiquiare und die Ga­ belteilung der Flüsse in allen Richtungen schiffbar. Eine Erscheinung,

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welche einst für die staatlichen Beziehungen der Völker höchst wichtig sein wird, verdiente zweifellos auch sorgfältig geprüft zu werden.

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Oberer Orinoco von Esmeralda bis zum Einfluß des Guaviare­ Zweite Durchfahrt der Katarakte vonAtures und Maipures­ Unterer Orinoco zwischen der Mündung des Rfo Apure und Angostura [Ciudad Bolfvar], der Hauptstadt des spanischen Guayana [Esmeralda- die abgelegenste Mission am Orinoco] Es bleibt mir noch, von der isoHertesten und abgelegensten aller christli­ chen Niederlassungen am oberen Orinoco zu sprechen. Gegenüber der Stelle, wo die Gabelteilung stattfindet, am rechten Flußufer, erhebt sich am­ phitheatralisch die Granitgruppe des Duida. Dieser Berg, den die Missio­ nare einen Vulkan nennen, hat nahezu 8000 Fuß Höhe. Auf der Süd- und Westseite senkrecht abfallend, bietet er einen sehr imposanten Anblick. Sein Gipfel erscheint nackt und felsig; aber überall, wo die weniger steilen Hänge mit Erde bedeckt sind, erscheint ausgedehnter Wald, gleichsam an den Seiten des Duida hängend. An seinem Fuß befindet sich die Mission Es­ meralda, ein kleiner Weiler von 80 Bewohnern. Eine reizende Ebene, mit Bächen von schwarzem, aber hellem Wasser durchschnitten, umgibt ihn. Sie bildet eine schöne Wiese, worauf sich Gruppen der Mauritia-Palme er­ heben, die der amerikanische Sagobaum ist. Näher am Gebirge, dessen Ent­ fernung beim Kreuz der Mission 7300 Toisen beträgt, wird die Sumpfwiese zur Savanne, und sie umfaßt die untere Region der Cordillere. Man findet hier Ananas von ausgezeichneter Größe und vortrefflichem Wohlgeruch. Diese Art der Bromelia wächst immer isoliert zwischen Gräsern wie unser

Colchicum autumnale, wogegen Karatas, eine andere Art der gleichen Gat­ tung, als gesellige Pflanze wächst wie unsere Heiden und Heidelbeeren. Die Ananas von Esmeralda sind in ganz Guayana berühmt. In Amerika wie in Europa gibt es für die verschiedenen Früchte gewisse Gegenden, wo sie zur größten Vollkommenheit gelangen. Man muß die Sapotillen ( Achras) auf der Insel Margarita oder in Cumana, die Chilimoyas ( vom Corossol und von

der Antillen-Anona sehr verschieden) zu Loja in Peru, die Grenadillen oder Parchas in Caracas, die Ananas in Esmeralda und auf der Insel Cuba ge­ gessen haben, um die von den ersten Reisenden den vortrefflichen Erzeug­ nissen der heißen Zone erteilten Lobsprüche nicht übertrieben zu finden. Die Ananas sind ein Schmuck der Felder um Havanna, wo sie in regelmä­ ßigen Reihen gepflanzt werden; an den Abhängen des Duida verschönern

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sie den Rasen der Savannen, indem sich ihre gelben, mit einem Büschel sil­ berfarbiger Blätter bekrönten Früchte über Setarien, Paspalum und einige Cyperaceen erheben. Diese Pflanze, welche die Indianer vom Orinoco

curua nennen,

ana­

hat sich im 16.Jahrhundert schon im Inneren von China ver­

breitet, und jüngst noch ist sie von britischen Reisenden mit anderen unzwei­ felhaft amerikanischen Pflanzen (dem Mais, dem Manioc, Papaya, Tabak und dem Pfeffer [Piment] von Jamaica) an den Ufern des Kongo in Afrika gefunden worden. In Esmeralda wohnt kein Missionar. Der Ordensmann, welcher hier Messe lesen muß, hat seinen Aufenthalt in Santa Barbara, über 50 Lieues ent­ fernt. Er benötigt vierTage, um den Fluß hinaufzufahren; auch kommt er im Jahr nur fünf- oder sechsmal hierher. Ein alter Soldat hieß uns herzlich will­ kommen; er hielt uns für katalonische Krämer, die wegen ihres kleinen Ge­ werbes die Missionen besuchten. Beim Anblick unserer Papierballen zum Pflanzentrocknen lächelte er über so kindische Unwissenheit. "Ihr kommt in ein Land", sprach er, "wo diese Ware keinen Absatz findet. Hier wird nicht geschrieben; dürre Blätter von Mais, von püitano (Banane) und von

vijaho

(Heliconia) dienen uns wie das Papier in Buropa zum Einwickeln von Na­ deln, Angeln und anderen Kleinigkeiten, wenn sie sorgfältig aufbewahrt werden sollen." Der alte Soldat vereinigte bürgerliche und geistliche Ge­ walt. Er unterrichtete die Kinder, ich will nicht sagen, im Katechismus, aber im Rosenkranz; zum Zeitvertreib besorgte er das Glockengeläut, und von geistlichem Amtseifer getrieben, brauchte er seinen Kantorstock zuweilen wohl auf eine den Eingeborenen nicht gerade angenehme Weise. Trotz der Winzigkeit der Mission werden in Esmeralda jedoch drei indiani­ sche Sprachen vernommen: das Idapaminare, das Catarapefio und das Ma­ quiritare. Diese letztere ist die herrschende am oberen Orinoco von der Mündung des Ventuari bis zu der des Padamo, wogegen am unteren Orinoco die Cariben-Sprache vorherrscht, nahe beim Einfluß des Apure die der Oto­ maken, bei den großen Katarakten die derTamanaken und Maipures und an den Gestaden des Rio Negro die marivitanische Sprache. Dies sind die fünf oder sechs am allgemeinsten verbreiteten Sprachen. Es war uns auffallend, in Esmeralda viele Zambos, Mulatten und andere farbige Leute anzu­ treffen, die sich aus Eitelkeit Espafioles nennen und sich für weiß halten, weil sie nicht rot wie die Indianer sind. Diese Menschen leben in der äußer­ sten Dürftigkeit. Die meisten sind als Verwiesene

(desterrados)

hierher­

geschickt worden. Um in schneller Eile Kolonien im Landesinneren zu gründen, dessen Betreten den Portugiesen untersagt werden sollte, hatte Solano in den Llanos und sogar auf der Insel Margarita Vagabunden und Missetäter, welche die Gerechtigkeit bisher vergeblich verfolgt hatte, zu­ sammengerafft; er ließ sie den Orinoco heraufbringen, um sie den unglück­ lichen Indianern, welche aus den Wäldern entführt waren, beizugesellen.

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Ein mineralogischer Irrtum hatte Esmeralda berühmt gemacht. Die Granit­ felsen des Duida und des Maraguaca enthalten in offenen Gängen schöne Bergkristalle, die zum Teil vollkommen hell und durchsichtig, zum Teil von Chlorit gefärbt oder mit Strahlstein (Actinolith) vermischt sind: Man hatte sie für Diamanten und Smaragde gehalten. So nahe bei den Quellen des Ori­ noco träumte man in diesen Bergen von nichts anderem als von der Nachbar­ schaft des Dorado, des Parime-Sees und der Ruinen der großen Stadt Manoa. Ein Mann, der noch heutzutage durch seine Leichtgläubigkeit und Übertreibungssucht im Land bekannt ist, Don Apollinario Diez de la Fuente, gab sich die pomphaften Namen eines Capitan poblador und Cabo militar des Forts des Casiquiare. Dieses Fort bestand aus einigen mit Brettern verei­ nigten Baumstämmen, und um die Täuschung vollkommen zu machen, wurden in Madrid für die Mission von Esmeralda, die lediglich ein Weiler von zwölf bis fünfzehn Hütten war, die Vorrechte einer Villa verlangt. Man muß befürchten, Don Apollinario, der in der Folge Statthalter der Provinz von Los Quixos geworden ist, habe einigen Einfluß auf die Verfertigung der Karten von La Cruz und Surville gehabt. Weil er die Windstriche der Bussole kannte, trug er kein Bedenken, sich in den zahlreichen Denkschriften, welche er dem Hof übersandt hat, den Kosmographen der Grenzexpedition zu nennen. Während die Befehlshaber dieser Expedition vom Dasein der Nueva Villa de Esmeralda völlig überzeugt waren und nicht minder vom mineralischen Reichtum des Cerro Duida, welcher nur Glimmer, Bergkristall, Strahlstein und Rutil enthält, ging die aus den ungleichartigsten Elementen zusammen­ gesetzte Kolonie allmählich wieder zugrunde. Die Vagabunden der Llanos besaßen ebensowenig Arbeitslust wie die Eingeborenen, welche "unter dem Glockengeläute" zu leben gezwungen werden sollten. Die ersteren fanden in ihrem Stolz einen neuen Rechtfertigungsgrund für ihre Trägheit. In den Missionen will jeder farbige Mensch, der nicht völlig schwarz wie ein Afri­ kaner oder so kupferfarben wie ein Indianer ist, ein Spanier genannt werden; er gehört zur gente de raz6n, zum vernünftigen Menschenstamm, und diese Vernunft, von der man eingestehen muß, daß sie mitunter einge­ bildet und träge ist, läßt die Weißen und die, welche sich dazuzählen, glauben, der Landbau sei ein Geschäft für Sklaven, für poitos und für neube­ kehrte Eingeborene. Die Kolonie von Esmeralda war nach den Grundsät­ zen Neu-Hollands [Australien) gegründet, allein längst nicht mit gleicher Klugheit verwaltet worden. Weil die amerikanischen Kolonisten von ihrem Mutterland nicht durch Meere, sondern durch Wälder mit vermischten Sa­ vannen getrennt waren, verstreuten sie sich, indem ein Teil nordwärts den Weg zum Caura und Caronf einschlug, während andere südwärts in die por­ tugiesischen Besitzungen flüchteten. So erlosch dann in wenigenJahren der Ruhm dieser Villa wie der der Smaragdgruben des Duida, und Esmeralda

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wurde wegen der ungeheuren Menge Insekten, welche die Luft in allen Jah­ reszeiten verdunkelt, von den Ordensmännern als ein Ort der Verbannung und des Fluchs betrachtet. Ich habe schon früher bemerkt, daß der Superior der Missionen, um die Laienbrüder im Gehorsam zu erhalten, sie bisweilen mit der Verweisung nach Esmeralda bedroht. Dies bedeutet, wie die Mönche sagen, "zu den

(zancudos gritones) gefressen zu werden, welche Gott den Menschen zur Strafe er­

Moskitos verurteilt zu sein, um von diesen summenden Mücken

schaffen hat". Solch seltsame Strafen sind nicht immer nur den Laienbrü­ dern zuteil geworden. Im Jahre 1788 ereignete sich eine dieser mönchischen Revolutionen, wovon man sich in Europa nach den herrschenden Begriffen vom ruhigen Zustand der christlichen Niederlassungen in der Neuen Welt kaum einen Begriff macht. Längst schon hatten die in Guayana angesie­ delten Franziskaner-Mönche eine eigene Republik zu bilden und sich vom Collegium von Piritu in Nueva Barcelona unabhängig zu machen ge­ wünscht. Mißvergnügt über die Wahl des Fray Gutierrez de Aguilera, der von einem Generalkapitel ernannt und vom König in dem wichtigen Amt des Vorstehers der Missionen bestätigt worden war, traten fünf oder sechs Mönche vom oberen Orinoco, vom Casiquiare und vom Rio Negro in San Fernando de Atabapo zusammen; schnell und aus ihrer Mitte wählten sie einen neuen Oberen und ließen den alten greifen, welcher unglücklicher­ weise zum Besuch in diese Gegend gekommen war. Es wurden ihm Fesseln an die Füße gelegt, er wurde in ein Boot geschleppt und nach Esmeralda in die Verbannung abgeführt. Die weite Entfernung der Küste vom Schauplatz dieses Auftritts ließ die Mönche hoffen, ihre Untat möge jenseits der großen Katarakte recht lange unbekannt bleiben. Man wollte Zeit gewinnen für Umtriebe, Unterhandlungen, Anklageurkunden und all die kleinen Listen, womit man in allen Ländern den Beweis der Ungültigkeit einer ersten Wahl zu führen gewohnt ist. Der alte Vorsteher lag zu Esmeralda im Gefängnis; er war auch gefährlich erkrankt infolge der außerordentlichen Hitze und des anhaltenden Moskitoreizes. Zum Glück für den unterliegenden Teil blieben die Mönche nicht einig. Ein Missionar vom Casiquiare wurde über den Aus­ gang der Sache ernstlich besorgt; er fürchtete, als Gefangener nach Cadiz ge­ sandt zu werden oder, wie man sich in den Kolonien ausdrückt, bajo partido de registro; die Furcht bewegte ihn, die Partei zu wechseln, und unversehens war er verschwunden. Indianer wurden als Schildwachen an der Mündung des Atabapo, an den großen Katarakten und überall aufgestellt, wo der Flüchtling vorbeikommen mußte, um an den unteren Orinoco zu gelangen. Trotz dieser Vorkehrungen traf er in Angostura ein und gelangte von da ins Kollegium der Missionen von Piritu; hier wurde er der Denunziant seiner Kollegen, und zur Belohnung der gemachten Aussage erhielt er den Auf­ trag, die zu verhaften, mit denen er zuvor gegen den Vorstand der Missionen

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aufwieglerische Anschläge gemacht hatte. In Esmeralda, wo von den politi­ schen Bewegungen, welche seit dreißig Jahren das alternde Europa erschüt­ tern, noch nichts bekanntgeworden ist, erweckt jetzt noch das, was man el al­

borato de los frailes (den Aufstand der Mönche) nennt, lebhafte Teilnahme. In diesem Land wie im Orient kennt man nur solche Umwälzungen, die von den Regierenden selbst ausgehen; wir haben soeben gesehen, daß ihre Er­ gebnisse nicht sehr beunruhigend sind. Wenn die Stadt Esmeralda mit einer Bevölkerung von 12 bis 15 Familien gegenwärtig ein scheußlicher Aufenthalt ist, müssen die Ursachen aus­ schließlich im Mangel an Kultur, in der Entfernung von jedem anderen be­ wohnten Land und in der außerordentlichen Menge der Moskitos gesucht werden. Die Lage der Mission ist höchst malerisch; die Umgegend erscheint anmutig und sehr fruchtbar. Nirgendwo anders habe ich so ausnehmend hohe Bananenstämme gesehen; der Indigo, der Zucker, der Cacao würden vortrefflich gedeihen; aber man gibt sich die Mühe nicht, sie zu pflanzen. Um den Cerro Duida her finden sich schöne Weiden, und wenn die Franzis­ kaner des Piritu-Kollegiums einen Teil der Betriebsamkeit der an den Ufern des Caroni angesiedelten katalonischen Kapuziner besäßen, würden zahl­ reiche Herden zwischen dem Cunucunumo und dem Padamo weiden. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge ist weder eine Kuh noch ein Pferd sichtbar, und die Einwohner sind infolge ihrer Trägheit öfters genötigt, Schinken von Alouaten-Affen und jenes Fischbeinmehl zu speisen, wovon ich in der Folge zu sprechen Gelegenheit haben werde. Es wird nur etwas Manioc und Ba­ nanen angebaut, und wenn der Fischfang dürftig ausfällt, sind die Bewohner eines von der Natur so vorzüglich begünstigten Landes dem empfindlichsten Mangel ausgesetzt. Weil die wenigen Kanus, welche vom Rio Negro durch den Casiquiare nach Angostura gehen, sich scheuen, bis nach Esmeralda hinaufzufahren, wäre diese Mission viel zweckmäßiger an der Stelle der Gabelteilung des Orinoco plaziert worden. Wahrscheinlich bleibt diese ausgedehnte Land­ schaft nicht immer in dem Zustande der Vernachlässigung, worin sie bisher durch den Unverstand der mönchischen Verwaltung und durch den überall den Korporationen eigenen Monopolgeist gehalten wurde, auch läßt sich voraussagen, welches die Stellen am Orinoco sein werden, wo Gewerbefleiß und Handel sich am kräftigsten entwickeln könnten. Unter allen Himmels­ strichen sind es die Mündungen der Flüsse, um die sich die Bevölkerung sammelt. Der Rio Apure, auf dem die Erzeugnisse der Provinzen von Barinas und Merida ausgeführt werden, wird die kleine Stadt Cabruta zum wichtigen Ort machen. Sie wird mit San Fernando de Apure wetteifern, wo bis jetzt aller Handel vereinigt war. Weiter oben wird sich eine neue Nieder­ lassung am Einfluß des Meta bilden, welcher durch die Llanos von Casanare mit Neu-Granada [Columbien] zusammenhängt. Die zwei Missionen der

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Katarakte werden sich durch die Tätigkeit, welche der Transport der Pirogen an dieser Stelle verursacht, ausdehnen, denn das ungesunde und feuchte Klima sowie das Übermaß der Moskitos werden am Orinoco so wenig wie am Rfo Magdalena die Fortschritte der Kultur hemmen, sobald ein wirk­ sames kaufmännisches Interesse neue Kolonisten dahin ruft. Gewohnte Übel sind weniger empfindlich, und eingeborene Amerikaner leiden nicht so lebhaften Schmerz wie neu angekommene Europäer. Vielleicht mag auch die allmähliche Zerstörung der Wälder um die bewohnten Orte die grau­ same Qual schnakenartiger Insekten einigermaßen mindern. San Fernando de Atabapo, Javita, San Carlos und Esmeralda scheinen (durch ihre Lage an der Mündung des Guaviare, an der Portage zwischen dem Tuamini und dem Rfo Negro, am Zusammenfluß des Casiquiare und an der Stelle der Gabel­ teilung des oberen Orinoco) zu einer bedeutenden Vermehrung ihrer Bevöl­ kerung und ihres Wohlstands berufen zu sein. Es wird mit diesen frucht­ baren, aber unbebauten Landschaften, durch welche der Guallaga, der Amazonenstrom und der Orinoco fließen, ähnlich sein wie mit der Land­ enge von Panama, mit dem See von Nicaragua und dem Rfo Coatzacoalcos, welche eine Verbindung zwischen beiden Meeren gewähren (s. Studienaus­ gabe Bd. IV, S.102f. Anmerkung des Hrsg.). Die mangelhaften politischen Einrichtungen konnten jahrhundertelang Landschaften in Wüsten verwan­ deln, die Sammelpunkte des Welthandels sein sollten; aber die Zeit rückt heran, wo diese Hemmungen aufhören werden; eine fehlerhafte Verwaltung wird nicht fortdauernd gegen die vereinten Interessen der menschlichen Ge­ sellschaft ankämpfen; und die Zivilisation wird unwiderstehlich auf Land­ schaften übergehen, deren große Bestimmung die Natur selbst durch die physische Bildung ihres Bodens, durch die mannigfachen Verzweigungen der Flüsse und durch die Nähe der beiden Meere, welche die europäischen und indischen Küsten bespülen, ankündigt.

[Gewinnung des Curare] Esmeralda ist der berühmteste Ort am Orinoco für die Bereitung jenes wirksamen Gifts, welches zum Krieg wie zur Jagd und, was sehr auffallend ist, auch als Heilmittel gegen gastrische Übel gebraucht wird. Das Gift der Ticunas vom Amazonenstrom, der Upas-Tieute vonJava und das Curare von Guayana sind die tödlichsten unter allen bekannten Substanzen. Bereits gegen Ende des 16.Jahrhunderts hatte Raleigh den Namen Urari als eine zum Vergiften der Pfeile gebrauchte Pflanzensubstanz aussprechen hören. Aber zuverlässige Angaben über dieses Gift waren keine nach Buropa ge­ langt. Die Missionare Gumilla und Gili hatten die Gegenden nicht besucht, wo das Curare zubereitet wird. Gumilla meldet, diese Zubereitung werde

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überaus geheim betrieben; den Hauptbestandteil liefere eine unterirdische Pflanze mit einer Knollenwurzel, die niemals Blätter treibe und deren Wurzel eigentlich raiz

de si misma

heiße; die giftigen Ausdünstungen der

Siedekessel würden den alten Frauen (den völlig unnützen), die man zur Be­ sorgung des Geschäfts wählt, tödlich; und endlich würden die Pflanzensäfte dann erst für hinlänglich konzentriert gehalten, wenn etliche Tropfen von diesem Saft, schon in Distanz, eine abstoßende Wirkung auf das Blut aus­ übten. Ein Indianer bringt sich einen leichten Hautstich bei, ein Pfeil wird in das flüssige Curare getaucht und der Stichwunde genähert. Das Gift wird für genügend konzentriert gehalten, wenn es das Blut in die Gefäße zurückwei­ chen läßt, ohne mit ihm in Berührung gekommen zu sein." Ich werde mit der Widerlegung dieser vom Pater Gumilla gesammelten Volksmärchen keine Zeit verlieren. Wie hätte dieser Missionar nicht glauben sollen, daß Curare aus der Ferne wirke, nachdem er die Kräfte einer Pflanze für unbezweifelt angesehen hatte, deren Blätter entweder Brechen oder Stuhlgang erregen sollten, je nachdem man dieselben abwärts oder aufwärts vom Zweig risse! Bei unserer Ankunft in Esmeralda waren die meisten Indianer soeben von einer Wanderung heimgekehrt, welche sie ostwärts über den Rio Padamo zum Einsammeln teils der juvias oder Früchte der

Bertholletia excelsa,

teils

der Liane, die das Curare liefert, unternommen hatten. Ihre Rückkehr wurde mit einem Fest gefeiert, welches in der Mission

Ia fiesta de las juvias

heißt und unseren Ernte- und Weinlesefesten gleicht. Die Frauen hatten viele gegorene Getränke bereitet, und zwei Tage lang traf man überall be­ trunkene Indianer an. Bei Völkern, welche die Früchte der Palmen und einiger anderer dem Menschen für seine Nahrung nützlicher Bäume hoch­ schätzen, wird der Zeitpunkt der Einsammlung dieser Früchte durch öffent­ liche Freudenfeste bezeichnet, und die Zeit wird nach solchen Festen, welche unwandelbar einander folgen, eingeteilt. Wir hatten das Glück, einen alten Indianer zu treffen, der weniger berauscht als die anderen und beschäftigt war, das Curare-Gift aus den frisch eingesammelten Früchten zu bereiten. Er war der Chemiker des Ortes. Wir fanden bei ihm große Siede­ kessel aus Ton zum Kochen der Pflanzensäfte; flachere Gefäße, welche die Ausdünstung durch die dafür dargebotene weite Oberfläche begünstigten; Bananenblätter, die tütenförmig zusammengerollt, zum Durchseihen der mehr oder weniger Fasersubstanz enthaltenden Flüssigkeiten gebraucht wurden. Es herrschte die größte Ordnung und die höchste Reinlichkeit in dieser zum chemischen Laboratorium eingerichteten Hütte. Der Indianer, der uns Auskunft geben sollte, ist in der Mission unter dem Namen des Herrn des Giftes

(amo del curare) bekannt; er besaß das steife Aussehen und

den pedantischen Ton, deren man einst die Apotheker Europas zieh. "Ich weiß", sagte er, "daß die weißen Menschen das Geheimnis besitzen, Seife zu bereiten und dieses schwarze Pulver, welches den Nachteil hat, Lärm zu ma-

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chen und die Tiere zu verscheuchen, wenn man sie verfehlt. Das Curare, dessen Herstellungsweise bei uns vom Vater auf den Sohn übergeht, ist allem überlegen, was ihr da hinten Qenseits der Meere) verfertigt. Er ist der Saft einer Pflanze, die ganz in der Stille tötet -ohne daß man weiß, woher der Schuß gekommen ist." Dieses chemische Verfahren, worauf der Curare-Meister ein so großes Ge­ wicht legte, kam uns sehr einfach vor. Der Schlingpflanze

(bejuco), welcher

man sich in Esmeralda für die Bereitung des Gifts bedient, gibt man hier den gleichen Namen wie in den Wäldern von Javita. Es ist

bejuco de Mavacure,

welcher von der Mission ostwärts am linken Ufer des Orinoco, jenseits des Rio Amaguaca, auf dem Gebirgs- und Granitboden von Guayana und Yuma­ riqufn in Menge gesammelt wird. Obgleich die bejuco-Bündel, die wir in der Wohnung des Indianers fanden, durchaus keine Blätter mehr hatten, ist doch unzweifelhaft, daß sie derselben Pflanze aus der Strychneen-Familie (welche mit Aublets Rouhamon nahe verwandt ist) angehören, die wir im Walde von Pimichfn untersucht hatten. Das Mavacure wird ohne Unter­ schied, sowohl frisch oder mehrere Wochen getrocknet, angewandt. Der frisch gesammelte Saft der Schlingpflanze wird nicht für giftig gehalten; viel­ leicht zeigt er sich auch nicht eher wirksam, bis er stark konzentriert ist. Die Rinde und ein Teil des Splintes sind es, welche dieses furchtbare Gift ent­ halten. Man schabt Mavacure-Zweige im Durchmesser von 4 bis 5 Linien ab; die abgeschabte Rinde wird auf einem der zum Zerreiben von Manioc­ Mehl bestimmten Stein zerstoßen und in ganz dünne Fasern zerteilt. Weil der giftige Saft gelb ist, nimmt die ganze faserige Masse dieselbe Farbe an. Man wirft sie in einen Trichter, welcher 9 Zoll Höhe und 4 Zoll Weite hat. Diesen Trichter pries uns der Giftmeister unter allen Geräten des indiani­ schen Laboratoriums am meisten an. Wiederholt fragte er, ob wir por (dort, das heißt in Europa) jemals etwas, das mit seinem

alla embudo [Trichter]

zu vergleichen wäre, gesehen hätten. Es war ein tütenförmig um sich selbst gedrehtes Bananenblatt, welches in eine andere aus Palmblättern verfer­ tigte stärkere Tüte eingelegt wurde; die ganze Vorrichtung ruhte auf einem leichten, aus Blattstielen und der Fruchtspindel von Palmbäumen erbauten Gestell. Zuerst wird ein kalter Aufguß durch Gießen von Wasser auf die fase­ rige Masse der zerriebenen Rinde von Mavacure hergestellt. Ein gelbliches Wasser fließt tropfenweise mehrere Stunden lang durch den

embudo oder

Blättertrichter. Dieses durchgeseihte Wasser ist der giftige Saft, der indes erst, wenn er gleich der Melasse in großen Tongefäßen durch Verdunstung konzentriert wurde, seine Stärke erhält. Der Indianer forderte uns von Zeit zu Zeit auf, die Flüssigkeit zu schmecken; nach dem mehr oder weniger bit­ teren Geschmack urteilt man, ob die Konzentration durch Feuer hinlänglich stattgefunden habe. Gefahr ist mit dieser Verrichtung keine verbunden, indem das Curare nur durch unmittelbare Berührung mit Blut tödlich wirkt.

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Auch sind die dem Siedekessel entweichenden Dünste nicht schädlich, was immer die Missionare des Orinoco hierüber gesagt haben mögen. Fontana hat in seinen schönen Versuchen über das Gift der Ticunas vom Amazonen­ strom längst erwiesen, daß die Dünste, welche dieses Gift verbreitet, wenn es auf feurige Kohlen gestreut wird, ohne Gefahr eingeatmet werden können und daß nicht wahr ist, was Herr de La Condamine meldet: daß zum Tod verurteilte indianische Frauen durch die Dünste des Giftes der Ticunas getötet worden seien. Auch der konzentrierteste Saft von Mavacure ist nicht dick genug, um an den Pfeilen zu haften. Deshalb wird, nur um dem Gift Konsistenz zu geben, dem konzentrierenden Aufguß ein anderer Pflanzensaft beigemischt, wel­ cher äußerst klebrig ist und von einem breitblättrigen Baum herrührt, der ki­ racaguero heißt. Weil dieser Baum in sehr großer Entfernung von Esmeralda wächst und sich damals gleich dem bejuco de Mavacure ohne Blüten und Früchte fand, sind wir nicht imstande, ihn botanisch zu bestimmen. Ich habe schon mehrmals von dieser Art Mißgeschick gesprochen, das die merkwür­ digsten Gewächse der Prüfung der Reisenden entrückt, während andere, deren chemische Eigenschaften uns unbekannt sind, sich tausendfach mit Blüten und Früchten beladen darstellen. Auf schnellen Reisen kann man selbst unter dem Tropenhimmel, wo die Blütezeit der holzigen Gewächse so lange andauert, kaum ein Achtel der Pflanzen mit den wesentlichsten Be­ fruchtungsteilen versehen antreffen. Die Wahrscheinlichkeit, ich sage nicht die Familie, aber die Gattung und die Art bestimmen zu können, steht dem­ nach im Verhältnis von 1 zu 8, und man begreift, daß dieses nachteilige Ver­ hältnis um so drückender erscheint, wenn uns dadurch die genaue Kenntnis von Gegenständen entzogen wird, welche ein noch viel größeres Interesse darbieten, als das der beschreibenden Botanik ist. Sobald der klebrige Saft des kiracaguero in den giftigen, stark konzen­ trierten und siedend erhaltenen Saft gegossen ist, schwärzt dieser sich au­ genblicklich und gerinnt zu einer Masse von der Konsistenz des Teers oder eines dicken Sirups. Diese Masse ist das Curare, welches im Handel vor­ kommt. Wenn man die Indianer sagen hört, der kiracaguero sei zur Berei­ tung des Gifts nicht weniger notwendig als der bejuco de Mavacure, könnte man irrig vermuten, auch der erstere enthalte irgendeinen tödlichen Grund­ stoff, während er (wie der algarobbo [Johannisbrotbaum] und jede gum­ miartige Substanz es tun würde) einzig dazu dient, dem konzentrierten Saft des Curare mehr Konsistenz zu geben. Die Farbänderung, welche die Mi­ schung erfährt, ist eine Folge der Zersetzung von Wasser- und Kohlenstoff. Der Wasserstoff wird verbrannt und der Kohlenstoff entbunden. Das Curare wird in den Früchten der Crescentia verkauft; weil aber seine Zubereitung das Geschäft einiger weniger Familien ist und für jeden Pfeil nur eine überaus kleine Portion Gift erforderlich ist, bleibt das Curare von der besten

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Art, das von Esmeralda und Mandavaca, sehr teuer. Ich sah für zwei Unzen

5 bis 6 Franken bezahlen. Getrocknet gleicht diese Substanz dem Opium; aber der Luft ausgesetzt zieht sie die Feuchtigkeit stark an sich. Ihr Ge­ schmack ist angenehm bitter, und wir ( Herr Bonpland und ich) haben öfters kleine Portionen davon verschluckt. Es ist keine Gefahr damit verbunden, wenn man sicher ist, weder an den Lippen noch am Zahnfleisch zu bluten. Bei den neuerlichen Versuchen, welche Herr Mangili mit dem Viperngift an­ gestellt hat, wurde von einem der Anwesenden sämtliches Gift, das aus vier großen italienischen Vipern gezogen werden konnte verschluckt, ohne ir­ gendeinen Nachteil zu spüren. Die Indianer halten das Curare, innerlich ge­ nommen, für ein vortreffliches MagenmitteL Das gleiche von den Piraoas­ und Salivas-Indianern bereitete Gift ist zwar ebenfalls berühmt, aber nicht so gesucht wie das von Esmeralda. Das Verfahren bei der Zubereitung scheint zwar überall ungefähr übereinzustimmen, dagegen ist nicht be­ wiesen, daß die verschiedenen unter dem gleichen Namen am Orinoco und am Amazonenstrom verkauften Gifte identisch sind und aus denselben Pflanzen gezogen werden. Weswegen auch Herr Orfila in seinem vortreffli­ chen Werk der> Toxicologie generale< sehr scharfsinnig das Woorara des hol­ ländischen Guayana, das Curare des Orinoco, das Ticuna vom Amazonen­ strom und all die Substanzen voneinander gesondert hat, welche sehr unbe­ stimmt unter dem Namen der amerikanischen Gifte vereinigt waren. Viel­ leicht wird man einst einen gleichartigen alkalischen Grundstoff sowohl der Morphine des Opiums wie der Vauqueline der Strychnosarten in den ver­ schiedenen Gattungen angehörenden giftigen Pflanzen entdecken. Am Orinoco unterscheidet man das curare de rafz ( der Wurzel) vom eu­

rare de bejuco ( der Lianen oder Rinden der Zweige) . Wir haben nur das letz­ tere verfertigen sehen; das erstere ist schwächer und weit weniger begehrt. Am Amazonenstrom haben wir die Gifte der Ticunas-, Yaguas-, Pevas- und Jfbaros-Indianer kennengelernt, die, von derselben Pflanze stammend, viel­ leicht nur durch eine mehr oder weniger sorgfältige Zubereitung vonein­ ander abweichen. Der Giftstoff der Ticunas, welchen Herrn de La Conda­ mine in Buropa so berühmt machte und den man, etwas uneigentlich, mit dem Namen Ticuna zu bezeichnen anfängt, wird aus einer Liane gezogen, die auf der Insel Marmorote im oberen Maraii6n wächst. Dieses Gift wird teils von den Ticunas-Indianern, die sich auf spanischem Gebiet in der Nähe der Quellen der Yacarique unabhängig erhalten haben, teils von den India­ nern gleichen Stamms, die in der portugiesischen Mission von Loreto wohnen, zubereitet. Weil unter diesen Himmelsstrichen die Gifte den j agd­ treibenden Völkern ein unentbehrliches Hilfsmittel sind, widersetzen die Missionare am Orinoco und Amazonenstrom sich ihrer Zubereitung auch keineswegs. Die genannten Gifte sind völlig verschieden von dem aus La Peca [ ein Dorf in der Provinz Jaen de Bracamoros] sowie vom Gift von

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Lamas und Moyobamba. Ich verweile bei diesen Einzelheiten, weil aus den Pflanzenresten, die wir untersuchen konnten (der herrschenden Meinung zuwider), hervorgeht, daß die drei Giftstoffe der Ticunas, aus La Peca und Moyabamba keineswegs von derselben Pflanzenart, vielleicht nicht einmal von Pflanzen einer Gattung herrühren. So einfach die Zubereitung des Cu­ rare ist, so langwierig und verwickelt ist dagegen die Verfertigung des Gifts von Moyobamba. Dem Saft des

bejuco de Ambihuasca als seinem Hauptbe­ (Jacquinia armillaris),

standteil wird Piment (Capsicum), Tabak, Barbasco

Sanango (Tabernaemontana) und die Milch einiger Apocyneen beige­ mischt. Der frische Saft der Ambihuasca wirkt tödlich, wenn er in Berüh­ rung mit dem Blut kommt. Der Mavacuresaft wird zum tödlichen Gift nur, wenn er durch Hitze verdichtet ist, und durch Aufkochen wird dem Saft der Wurzel der Jatropha Manihot

(Yucca amarca)

jede schädliche Eigenschaft

genommen. Als ich bei sehr schwüler Witterung die Liane, welche das furchtbare Gift von La Peca liefert, lange zwischen den Fingern zerrieben hatte, fühlte ich die Hände ganz erstarrt; eine Person, die neben mir arbei­ tete, spürte die gleiche Wirkung dieses schnellen Einsaugens durch die un­ verletzte Haut. Ich will hier die physiologischen Eigenschaften dieser Gifte der Neuen Welt nicht erörtern, die mit gleicher Schnelligkeit töten wie die asiatischen Strychneen (dieBrechnuß, der Upas-Tieute und die Sankt-Ignatius-Bohne), aber ohneBrechen zu erregen, wenn sie in den Magen gebracht werden, und ohne durch heftige Reizung des Rückenmarks den nahen Tod anzukünden. Wir haben während unseres Aufenthalts in Amerika sowohl das Curare-Gift des Orinoco wie mitTicunas- und Moyobamba-Gift angefüllteBambusrohre an die Herren Fourcroy und Vauquelin übersandt; ferner haben wir nach un­ serer Heimkehr den Herren Magendie und Delille, die sich so verdienstvoll mit denGiftstoffen der heißen Zone beschäftigten, das vomTransport durch feuchte Länder geschwächte Curare mitgeteilt. An den Ufern des Orinoco wird selten ein Huhn verspeist, das nicht vom Stich eines giftigen Pfeils ge­ tötet wurde. Die Missionare behaupten sogar, das Fleisch der Tiere werde durch dieses Verfahren erst schmackhaft. Unser Begleiter, der Pater Zea, welcher am dreitätigen Fieber krank lag, ließ sich alle Morgen einen Pfeil und das für unsere Mahlzeit bestimmte Huhn in seine Hängematte bringen. Er hätte diese Operation, worauf er trotz seiner andauernden Schwäche großes Gewicht legte, niemand anderem anvertraut. Große Vögel, ein guan (Pava de monte) zumBeispiel oder ein hocco (Alector), sterben in 2 bis 3 Mi­ nuten, nachdem sie am Schenkel verwundet wurden; um ein Schwein oder ein Pecari zu töten, sind oft 10 bis 12 Minuten erforderlich. Herr Bonpland hat dasselbe Gift, in verschiedenen Dörfern gekauft, sehr ungleich gefun­ den. Am Amazonenstrom erhielten wir echtes Gift der Ticunas-Indianer, welches schwächer war als alle Varietäten des Curare vom Orinoco. Es ist un-

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nötig, die Reisenden über die Bedenken zu beruhigen, welche sie öfters bei ihrer Ankunft in den Missionen äußern, wenn sie vernehmen, daß die Hühner, die Affen, die Leguane und die großen Flußfische, die sie speisen sollen, mit vergifteten Pfeilen getötet wurden. Gewöhnung und Nachdenken machen diesen Sorgen bald ein Ende. Herr Magendie hat durch seine scharf­ sinnigen Versuche über die Transfusion bewiesen, daß selbst das Blut der Tiere, worin die bitteren indianischen Strychnos ihre zerstörende Kraft her­ vorgebracht hatten, auf andere Tiere nicht nachteilig wirkt. Einem Hund wurde eine bedeutende Menge vergiftetes Blut in die Venen eingespritzt, ohne daß irgendeine Spur von Erregung des Rückenmarks darauf folgte. Ich habe das stärkste Curare mit den Schenkelnerven eines Frosches be­ rührt, ohne bei der Messung des Grades der Irritabilität [ Reizbarkeit] der Organe mittels eines aus ungleichartigen Metallen gebildeten Bogens eine merkliche Veränderung wahrzunehmen. Hingegen sind die galvanischen Versuche an Vögeln wenige Minuten, nachdem sie mit vergifteten Pfeilen ge­ tötet wurden, fast ohne Erfolg geblieben. Diese Beobachtungen werden be­ achtenswert, wenn man sich erinnert, daß die auf den Hüftnerv gegossene oder in das Nervengewebe eingeführte Lösung des Upas-Tieute keine spür­ bare Wirkung auf die Irritabilität der Organe durch den unmittelbaren Kon­ takt mit der Marksubstanz hervorbringt: Beim Curare wie bei den meisten anderen Strychneen ( wir glauben nämlich, das Mavacure gehöre einer ver­

wandten Familie an) rührt die Gefahr nicht von der Wirkung des Gifts auf

das Gefäßsystem her. In Maipures verfertigte ein farbiger Mensch ( Zambo

oder Nachkomme von Indianern und Negern) für Herrn Bonpland solche

vergifteten Pfeile, mit denen auf kleine Affen und Vögel mit BlasrohrenJagd gemacht wird. Es war ein Zimmermann von ungewöhnlicher Muskelstärke. Weil er die Unvorsichtigkeit begangen hatte, das Curare zwischen den Fin­ gern zu reiben, nachdem er sich zuvor leicht verwundet hatte, fiel er, von einem Schwindel ergriffen, der fast eine halbe Stunde dauerte, zu Boden. Glücklicherweise war es nur ein abgeschwächtes

( destemplado)

Curare, das

für sehr kleine Tiere gebraucht wird, welche man durch in die Wunde ge­ brachtes salzsaures Natron wieder ins Leben rufen will. Ich selbst bin wäh­ rend der Rückfahrt von Esmeralda nach Atures einer ziemlich bedrohlichen Gefahr entgangen. Das durch Anziehung von Luftfeuchtigkeit flüssig gewor­ dene Curare hatte sich aus einem nicht gut schließenden Gefäß auf unsere Wäsche ergossen. Bei ihrem Waschen vergaß man, die Innenseite eines Strumpfs, der mit Curare angefüllt war, zu untersuchen, und erst durch Be­ rührung der klebrigen Materie mit der Hand wurde ich gewarnt, den ver­ gifteten Strumpf nicht anzuziehen. Die Gefahr war um so größer, als ich damals aus Zehenwunden blutete, die von ungenügend beseitigten Sand­ flöhen

(Pulex penetrans)

herrührten. Dieser Umstand kann den Reisenden

zur Warnung dienen, wie sorgsam Gift mitgeführt werden sollte.

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In Europa wird es nun eine schöne chemische und physiologische For­ schungsarbeit über die Giftstoffe der Neuen Welt geben, wenn man sich erst durch häufigere Verbindungen und, um jede Verwechslung zu verhüten, aus den Gegenden, wo sie verfertigt werden, das Curare de Bejuco, das Curare de Raiz und die verschiedenen Gifte vom Amazonenstrom, vom Guallaga und aus Brasilien verschafft haben wird. Nachdem die Chemiker die reine hydro-zyanische [Blau-]Säure und viele andere höchst wirksame Giftstoffe entdeckt haben, wird man in Europa weniger die Einführung der von wilden Völkern zubereiteten Gifte fürchten; doch kann man Personen, die in sehr volkreichen Städten (den Sammelplätzen der Kultur, des Elends und der Verderbnis) solch gefährliche Substanzen aufbewahren, nicht genug Vor­ sicht empfehlen. Was unsere botanischen Kenntnisse der zur Giftbereitung gebrauchten Pflanzen betrifft, so werden sich diese nur sehr langsam ent­ wirren lassen. Den meisten Indianern, die sich mit der Zubereitung vergif­ teter Pfeile abgeben, ist die Natur der giftigen Substanzen, welche andere Völkerschaften ihnen bringen,

ganz unbekannt.

Ein geheimnisvoller

Schleier deckt überall die Geschichte der Gifte und Gegengifte. Ihre Verfer­ tigung ist unter den Wilden ein Monopol der

piaches, welche gleichzeitig

Priester, Gaukler und Ärzte sind; etwas zuverlässigere Angaben über so un­ zuverlässige Dinge können allein von den in die Mission verpflanzten Einge­ borenen erhalten werden. Jahrhunderte sind vergangen, ehe die Europäer durch den Forschungsgeist des Herrn Mutis bejuco del guaco (Mikania guaco) kennenlernten, das kräftigste aller bekannten Gegengifte des Schlan­ genbisses, von dem wir das Glück hatten, die erste botanische Beschreibung zu liefern. In den Missionen ist es herrschende Meinung, daß keine Heilung möglich sei, wenn das Curare frisch, wohlkonzentriert war und lange in der Wunde verweilt hat, also auch reichlich in den Blutkreislauf gekommen ist. Unter allen an den Ufern des Orinoco und- nach Herrn Leschenault- im indi­ schen Archipel gebrauchten spezifischen Mitteln ist das salzsaure Natron das berühmteste. Die Wunde wird mit dem Salz gerieben und dieses auch inner­ lich gegeben. Ich selbst habe keinen direkten und genügend überzeugenden Beweis von der Wirksamkeit dieses Spezifikums gesehen, und die Versuche der Herren Delille und Magendie sprechen eher gegen den Nutzen seiner Anwendung. An den Ufern des Amazonenstroms wird unter den Gegen­ giften dem Zucker der Vorzug eingeräumt; und weil das salzsaure Natron eine den Indianern der Wälder fast völlig unbekannte Substanz ist, darf wahrscheinlich angenommen weden, der Bienenhonig und dieser mehlige Zucker, welchen die an der Sonne getrockneten Bananen ausschwitzen, seien vormals in ganz Guayana gebräuchlich gewesen. Das Ammoniak und Eau de Luce sind ohne Erfolg gegen das Curare versucht worden. Man weiß heutzutage, wie unsicher diese angeblich spezifischen Mittel sind, selbst

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wenn sie in die durch Schlangenbisse verursachten Wunden gebracht werden. Sir Everard Horne hat gezeigt, daß den gebrauchten Mitteln meist eine Heilung zugeschrieben wird, die eigentlich nur Folge der leichten Ver­ letzung und einer eng beschränkten Wirkung des Giftstoffes ist. Man kann Tiere unschädlich mit vergifteten Pfeilen verwunden, wenn die Wunde wohl­ geöffnet und die mit Gift überzogene Spitze sogleich nach geschehener Ver­ letzung herausgezogen wird. Wendet man in solchen Fällen Salz oder Zucker an, so ist man versucht, sie für vortreffliche Specifica zu halten. Die In­ dianer, die im Krieg durch in Curare getauchte Waffen verwundet wurden, haben uns die Symptome der Verwundung als mit denen völlig übereinstim­ mend beschrieben, die man vom Schlangengift wahrnimmt. Die verwundete Person fühlt einen vermehrten Blutandrang zum Kopf, und der Schwindel nötigt zum Niedersitzen. Es folgen Ekel, wiederhoHes Erbrechen, bren­ nender Durst und Betäubung oder Einschlafen der Teile um die Wunde herum. Dem alten Indianer, welchen man den Giftmeister nannte, schien dies Interesse zu schmeicheln, das wir an seinen chemischen Vorkehrungen zeigten. Er hielt uns für verständig genug, um nicht zu zweifeln, daß wir auch Seife machen könnten; denn nach der Zubereitung des Curare galt ihm diese Kunst als eine der schönsten Entdeckungen des menschlichen Geistes.

[Leben und Ernten der Indianer] Als das flüssige Gift in die für seine Aufnahme bestimmten Gefäße ge­ gossen war, begleiteten wir den Indianer zum Juviafest. Die Ernte der juvias oder der Früchte der

Bertholletia excelsa wurde mit Tänzen gefeiert,

wobei

man sich der rohesten Völlerei überließ. Die Hütte, worin die Eingeborenen mehrere Tage hindurch versammelt waren, bot den seltsamsten Anblick. Es fanden sich darin weder Tisch noch Bank, aber große gebratene und vom Rauch geschwärzte Affen standen in symmetrischer Reihe gegen die Mauer gelehnt. Es waren Marimondas

(Ateles Belzebuth)

und die bärtigen Affen,

welche Kapuziner heißen und nicht mit dem Machi oder Sa"i ( Buffons

capucina)

Simia

verwechselt werden dürfen. Das Verfahren beim Braten dieser

menschenähnlichen Tiere trägt wesentlich dazu bei, ihren Anblick dem zivi­ lisierten Menschen widerwärtig zu machen. Es wird ein kleiner Rost oder ein Gitter aus sehr hartem Holz verfertigt, das ein Fuß vom Boden absteht. Der abgebalgte Affe ist in sich gekrümmt, als säße er; gewöhnlich wird er auf seine mageren und langen Arme gestützt; zuweilen kreuzt man dem Tier die Hände auf den Rücken. Nachdem es auf den Rost befestigt ist, wird ein sehr helles Feuer darunter angezündet. In Rauch und Flammen eingehüllt, wird der Affe zu gleicher Zeit gebraten und geschwärzt. Wenn man die Eingebo-

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renen den Arm oder Schenkel eines gebratenen Affen verzehren sieht, hat man Mühe, sich der Vermutung zu erwehren, diese Gewohnheit, Tiere zu speisen, die durch ihre physische Organisation dem Menschen so nahe­ stehen, habe nicht zur Minderung des Abscheus vor der Anthropophagie unter den Wilden beigetragen. Die gebratenen Affen, vorzüglich diese, welche einen sehr runden Kopf haben, bieten eine häßliche Ähnlichkeit mit einem Kind dar; weswegen auch die Europäer, wenn sie sich von Vierbän­ dern ernähren müssen, Kopf und Hände abtrennen und nur den Rumpf auf die Tafel bringen lassen. Das Fleisch der Affen ist dermaßen mager und trocken, daß Herr Bonpland in seinen Sammlungen zu Paris einen in Esme­ ralda am Feuer gerösteten Arm und eine Hand aufbewahrt, die nach dem Verstreichen einiger Jahre noch keineswegs riechen. Wir haben die Indianer tanzen sehen. Die Einförmigkeit dieses Tanzes ist um so größer, als die Frauen davon ausgeschlossen sind. Die Männer, alt und jung, halten sich die Hände und drehen sich stundenlang, still und ernst, ab­ wechselnd zur Rechten und zur Linken. Die Tänzer sind meist zugleich auch Musikanten. Dumpfe Töne aus einer Reihe von Schilfrohren ungleicher Länge bilden eine träge und traurige Begleitung. Zum Taktschlagen biegt der erste Tänzer beide Knie auf abgemessene Weise. Zuweilen bleiben alle stehen und führen durch Hin- und Herwerfen des Körpers kleine schwin­ gende Bewegungen aus. Die linienförmig gereihten und miteinander verei­ nigten Rohre erinnern an die Flöte des Hirtengottes, wie sie die Bacchus­ Umzüge auf den Vasen Großgriechenlands vorstellen. Der einfache Ge­ danke mußte sich den Völkern überall darbieten, Schilfrohre von ungleicher Länge zu vereinigen und sie wechselnd an die Lippen zu bringen. Nicht ohne Verwunderung sahen wir, mit welcher Schnelligkeit junge Indianer, wenn sie am Flußgestade Schilfrohre

(carices)

antrafen, sich daraus Flöten zu­

schneiden und sie zu stimmen verstanden. Unter allen Zonen sind diese Grä­ serarten mit hohen Halmen dem Menschen im Stand der Natur von vielfa­ chem Nutzen. Mit Grund haben die Griechen gesagt, das Schilfrohr habe zur Unterjochung der Völker beigetragen, indem es Pfeile liefert; es habe die Sitten gemildert durch den Reiz der Musik, und es habe auch, indem es Schreibwerkzeuge lieferte, die Entwicklung des Verstandes befördern helfen. Diese verschiedenen Benutzungsarten des Schilfrohrs bezeichnen gleichsam drei Perioden im Völkerleben, und wir stellen nicht in Abrede, daß die Horden des Orinoco noch auf der untersten Stufe der Zivilisation stehen. Das Schilfrohr dient ihnen als Kriegs- und Jagdwaffe; die Flöte des Hirtengatts hingegen hat an diesen fernen Gestaden noch keine Töne gelie­ fert, welche sanfte und humane Gefühle hervorrufen. In der für das Fest bestimmten Hütte trafen wir verschiedene vegetabili­ sche Erzeugnisse an, welche die Indianer von den Guanaya-Bergen geholt hatten und die unsere Aufmerksamkeit vorzugsweise beanspruchten. Hier

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werde ich nur bei der Frucht der juvia, bei den Schilfrohren von ungewöhn­

marima zubereiteten Hemden almendran [Kolonialspanisch; span. almendro] oder juvia

licher Länge und bei den aus der Rinde des verweilten. Der

[Baum der dreieckigen amerikanischen oder Paranuß], einer der prachtvoll­ sten Waldbäume der Neuen Welt, war vor unserer Reise zum Rio Negro fast unbekannt geblieben. Er findet sich zuerst vier Tagereisen östlich von Esme­ ralda zwischen dem Padamo und dem Ocamo, am Fuß des Cerro Mapaya, auf dem rechten Ufer des Orinoco. Häufiger noch wird er am linken Ufer, am Cerro Guanajo, zwischen dem Rio Amaguaca und dem Gehette ange­ troffen. Die Einwohner von Esmeralda versicherten uns, oberhalb von Gehette und Chiguire seien juvia und Cacao-Bäume dermaßen verbreitet, daß die wilden Indianer (die Guaicas und die Guaharibos

blancos) das von

den Indianern der Missionen vorgenommene Einsammeln auf keine Weise stören. Sie mißgönnen ihnen den Naturreichtum ihres eigenen Bodens nicht. Kaum sind bisher in den Niederlassungen des oberen Orinoco Ver­ suche zur Fortpflanzung der almendrones gemacht worden. Die Trägheit der Einwohner behindert dies mehr noch als das schnell ranzig werdende Öl in den mandelförmigen Samen. Wir haben in der Mission von San Carlos nur drei und in Esmeralda nur zwei Bäume angetroffen. Im Alter von acht bis zehn Jahren hatten diese prächtigen Stämme noch keine Blüten getragen. Oben schon hatte ich gemeldet, daß unter den Bäumen, welche unfern der Rapides von Cananivacari an den Ufern des Casiquiare wachsen, von Herrn Bonpland auch almendrones entdeckt worden sind. Seit dem 16. Jahrhundert hatte man in Europa zwar nicht die große Stein­ frucht in Cocosform, welche die Mandeln enthält, wohl aber ihre Samen mit holziger und dreieckiger Hülle gesehen. Ich erkenne diese in einer ziemlich dürftigen Abbildung von Clusius. Dieser Botaniker führt sie unter dem Namen almendras del Peru auf, vielleicht weil sie als eine sehr seltene Frucht an den oberen Marafi6n und von da über die Cordilleren nach Quito und Peru gebracht wurden. Der >Novus Orbis< von Johann de Laet, worin ich die erste Nachricht über den Kuhbaum gefunden habe, enthält auch die Be­ schreibung und eine ganz richtige Abbildung der Samen der Bertholletia. Laet nennt den Baum Totocke und erwähnt die Drupa [ Steinfrucht] von der Größe eines Menschenkopfs, welche die Mandeln enthält. "Es sind", sagt er, "diese Früchte so entsetzlich schwer, daß die Wilden sich nicht anders als mit einem Kopf und Schultern schützenden Schild, von sehr hartem Holz be­ deckt, in den Wald wagen." Den Eingeborenen von Esmeralda sind diese Bedeckungen unbekannt, doch sprachen auch sie von den Gefahren, denen man ausgesetzt ist zur Zeit, wenn die Früchte reifen und 50 bis 60 Fuß hoch herabfallen. In Portugal und England werden die dreieckigen Samen der

juvia unter dem unbestimmten Namen der Kastanien (castafias) oder Nüsse aus Brasilien und vom Amazonenstrom verkauft, und man hat lange Zeit ge-

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glaubt, sie wüchsen gleich der Frucht des Pekea auf einzelnen Fruchtstielen. Die Bewohner von Gran-Pani treiben damit seit hundert Jahren einen ziem­ lich bedeutenden Handel. Sie senden sie teils unmittelbar nach Europa, teils nach Cayenne, wo sie Toka genannt werden. Der berühmte Botaniker Herr Correa de Serra bezeugte uns, der Baum wachse vielfältig in den Wäldern um Macapa her, an der Ausmündung des Amazonenstroms; er führe dort den Namen capucaya, und die Einwohner sammelten seine Mandeln wie die der Lecythis zum Auspressen des

Öls.

Eine Ladung Juviamandeln, die in Le

Havre eintraf und 1807 von einem Korsaren erbeutet wurde, nutzte man zum selben Zweck. Der Baum, der diese brasilianischen Kastanien liefert, hat allgemein nur 2 bis 3 Fuß Durchmesser, aber seine Höhe erreicht 100 bis 120 Fuß. Seine Ge­ stalt ist nicht die des Mamai, des Sternapfel-Baums (caimitier) und mehrerer andererTropenbäume, deren Zweige ( wie bei dem Lorbeer der gemäßigten Zone) fast gerade in die Höhe stehen. Die sehr langen Zweige der Berthol­ letia öffnen sich weit; sie sind unten fast nackt, gegen die Spitzen hingegen mit dichten Blattbüsehein besetzt. Diese Verteilung der halb lederartigen, auf der Unterseite etwas silberfarbeneu und über zwei Fuß langen Blätter biegt die Zweige gegen die Erde hinab wie bei den Wedeln der Palmen. Wir haben diesen prächtigen Baum nie blühen sehen. Er blüht nicht vor seinem fünfzehnten Jahr, und seine Blüten öffnen sich Ende März und Anfang April. Die Früchte reifen gegen Ende Mai, einige Stämme behalten solche wohl auch bis in den August. Weil diese Früchte die Größe eines Kinder­ kopfes und öfters 12 bis 13 Zoll im Durchmesser haben, verursacht ihr Nie­ derfallen von den Gipfeln der Bäume einen großen Krach. Ich kenne nichts, was geeignet wäre, für die Macht der organischen Kräfte in der Äquinoktial­ zone mehr Bewunderung zu erregen als der Anblick dieser großen holzigen Fruchtgehäuse, des See-Cocosbaums

( Lodolcea)

zum Beispiel unter den

Monocotyledonen oder der Bertholletia und der Lecythis unter den Dicoty­ ledonen. In unseren Himmelsstrichen sind es die Kürbisarten allein, welche im Verlauf einiger Monate Früchte von außerordentlicher Größe hervor­ bringen; aber diese Früchte sind fleischig und saftig. Zwischen den Wende­ kreisen bildet die Bertholletia innerhalb 50 bis 60 Tagen eine Fruchthülle, deren holzigerTeil einen halben Zoll Dicke hat und mit den schneidendsten Werkzeugen kaum durchgesägt werden kann. Ein großer Naturforscher

[L. Richard] hat bereits beobachtet, daß das Holz der Früchte im allgemeinen eine Härte annimmt, die man im Holz der Baumstämme kaum findet. Die Fruchthülle der Bertholletia zeigt die Rudimente von vier Kammern, zu­ weilen habe ich auch deren fünf angetroffen. Die Samen haben zwei völlig getrennte Hüllen, und dieser Umstand macht die Bildung der Frucht kompli­ zierter, als es bei Lecythis, bei Pekea oder Caryocar und bei den Saouvari der Fall ist. Die erstere Hülle ist knochenartig oder holzig, dreieckig, auf der

Kapitel XXIV

99

äußeren Fläche höckerig und zimtfarben. Vier oder fünf, zuweilen acht dieser dreieckigen Nüsse sind an einer Zentralscheidewand befestigt. Weil sie sich mit der Zeit ablösen, bewegen sie sich frei in dem großen kugelför­ migen Fruchtbehälter. Die Kapuzineraffen

(Simia chiropotes) lieben die bra­

silianischen Kastanien besonders; und bereits das Geräusch der Samen, wenn man die Frucht schüttelt, so daß sie vom Baum fällt, erregt im höch­ sten Grad ihre Eßlust. Meist habe ich nur 15 bis 22 Nüsse in jeder Frucht gefunden. Die zweite Hülle der Mandeln ist hautartig und braungelb. Ihr Geschmack ist, solange sie frisch sind, sehr angenehm; das viele Öl aber, welches sie enthalten und wodurch sie für technologische Zwecke so nützlich sind, wird leicht ranzig. Obgleich wir am oberen Orinoco öfters in Ermange­ lung anderer Nahrung diese Mandeln in beträchtlicher Menge gegessen haben, spürten wir doch davon nie irgendeinen Nachteil. Der kugelförmige Fruchtbehälter der Bertholletia ist an der Spitze durchbohrt, springt aber nicht auf. Das obere bauchige Ende des Säulchens bildet zwar nach Herrn Kunth eine Art inneren Deckels wie in der Frucht der Lecythis, öffnet sich aber nicht von selbst. Eine Menge Samen verlieren durch die Zersetzung des in den Samenlappen enthaltenen Öls ihr Keimungsvermögen, noch ehe in der Regenzeit die holzige Decke des Fruchtbehälters sich durch die Wirkung der Fäulnis öffnet. Ein an den Gestaden des unteren Orinoco viel verbrei­ tetes Märchen erzählt, der Kapuziner- und der Cacajao-Affe

potes

und

Simia melanocephala)

(Simia chiro­

stellten sich in einen Kreis und könnten

durch Schlagen mit einem Stein die Früchte öffnen, um die dreieckigen Man­ deln herauszubringen. Die ausnehmende Härte und Dicke des Samenbehäl­ ters würde aber diesen Versuch ganz unmöglich machen. Man kann wohl Affen gesehen haben, welche die Früchte der Bertholletia umherrollen; je­ doch obgleich diese Früchte eine kleine Öffnung besitzen, worauf das obere Ende des Säulchens paßt, hat die Natur dennoch den Affen das Öffnen der holzigen Samenkapsel der

juvia

nicht so leicht gemacht wie die Wegnahme

des Deckels der Lecythis, welcher in den Missionen der Deckel der Cocos­ frucht der Affen heißt. Den Angaben verschiedener glaubwürdiger Indianer zufolge sind nur die kleinen Nager, insbesondere die Agutis (Cavia Aguti u. C. Paca), infolge der Bildung ihrer Zähne und der unbegreiflichen Beharr­ lichkeit, die sie für ihr Zerstörungswerk an den Tag legen, imstande, die Frucht der Bertholletia zu durchbohren. Sobald die dreieckigen Nüsse auf die Erde fallen, drängen sich alle Tiere des Waldes herbei; die Affen, die ma­ naviris, die Eichhörnchen, die cavia, die Papageien und die Aras streiten mit­ einander um diese Beute. Alle sind stark genug, um die holzige Samendecke zu zerbrechen; sie greifen nach den herausfallenden Mandeln und erklimmen damit die Gipfel der Bäume. "Auch sie genießen ihr Fest", sagten die von der Ernte heimkehrenden Indianer, und aus ihren Klagen über die Tiere erhellt, daß sie sich für ausschließliche und legitime Herren des Waldes halten.

100

Kapitel XXIV

Das häufige Vorkommen der

juvia östlich von Esmeralda scheint anzu­

deuten, daß die Flora desAmazonenstroms in dem Teil des oberen Orinoco beginnt, welcher sich südwärts der Berge ausdehnt. Hierin findet sich sozu­ sagen ein neuer Beweis der Vereinigung von zwei Flußbetten. Herr Bon­ pland hat recht gut angegeben, welche Vorkehrungen man treffen müßte, um die Bertholletia excelsa sowohl an den Gestaden des Orinoco, desApure und des Meta als auch in der ganzen Provinz Venezuela zu vermehren. Man müßte an Orten, wo dieser Baum wild wächst, die bereits keimenden Samen zu Tausenden sammeln und sie in Kisten, die mit eben der Erde, worin sie zu keimen angefangen haben, gefüllt wurden, in eine Baumschule bringen. Die mit Blättern von Musaceen oder Palmbäumen gegen die Sonnenstrahlen ge­ schützten Pflänzchen würden danach in Pirogen oder auf Flößen an den Ort ihrer Bestimmung gebracht. Man weiß, wie schwer es fällt, in Buropa (trotz der Anwendung der Chlorine, welche ich anderswo hierfür empfohlen habe) die Samen mit hornartiger Hülle- die Palmengewächse, Kaffee-, Cin­ choneen-(China-)Arten und die großen holzigen Nüsse, deren Kerne ein leicht ranzig werdendes Öl enthalten - zum Keimen zu bringen. Diese Schwierigkeiten würden alle verschwinden, wenn man nur solche Samen sammelte, die unter dem Baum selbst schon gekeimt hatten. Auf diese Weise ist es uns gelungen, eine große Anzahl sehr seltener Pflanzen, zum Beispiel die

Coumarouna odora oder die Tongabohne, von den Katarakten des Ori­

noco nach Angostura zu bringen und in den benachbarten Pflanzungen zu verbreiten. Eine der vier Pirogen, deren sich die Indianer für ihre Juviaernte bedient hatten, war großenteils mit derArt Schilfrohr

(carice) angefüllt, woraus die

Blasrohre verfertigt werden. Die Länge dieser Schilfrohre betrug 15 bis 17 Fuß, ohne daß daran die Spur eines zum Ansatz der Blätter oder Zweige dienlichen Knotens gesehen wurde. Sie waren gänzlich gerade, äußerlich glatt und vollständig zylindrisch. Diese

carices kommen vom Fuß der Ge­

birge vom Yumariquin und Guanaya her, und sie sind selbst jenseits des Ori­ noco unter dem Namen Schilfrohre von Esmeralda sehr gesucht. Ein Jäger behält lebenslänglich das gleiche Blasrohr; er rühmt seine Leichtigkeit, seine Sicherheit und seinen Glanz, wie wir dieselben Eigenschaften an un­ seren Gewehren rühmen. Von welchem monecotyledonischen Gewächs mögen diese bewundernswerten Schilfrohre herkommen? Haben wir wirk­ lich die Zwischenknoten

(internodia) einer Gräserpflanze aus der Na­

stoiden-Familie gesehen, oder ist vielleicht dieser carice eine knotenlose Cy­ peracea? Ich vermag diese Frage nicht zu beantworten, und ebensowenig kann ich die Gattung bestimmen, zu der eine andere Pflanze gehört, aus der die Marimahemden verfertigt werden. Wir haben am Abhang des Cerro Duida Stämme dieses Hemdenbaums gesehen, welche über 50 Fuß Höhe hatten. Die Indianer schneiden zylindrische Stücke davon ab, welche zwei

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Fuß im Durchmesser haben, von denen sie die rote faserige Rinde trennen und sich dabei vor Längeneinschnitten in acht nehmen. Diese Rinde ge­ währt ihnen eine Art Kleidung, welche Säcken ohne Naht aus einem sehr groben Zeug gleicht. Die obere Öffnung dient für den Kopf, und zwei Sei­ tenöffnungen werden zum Durchgang der Arme gelassen. Die Eingebo­ renen tragen diese Marimahemden während der großen Regenzeit, sie haben die Gestalt der baumwollenenponchos und ruanas, welche in Neu­ Granada, Quito und Peru allgemein sind. Weil in diesen Landstrichen der Reichtum und die Freigebigkeit der Natur als die Hauptursachen der Träg­ heit der Einwohner betrachtet werden, vergessen die Missionare beim Vor­ weisen der Marimahemden nicht zu bemerken, "daß in den Wäldern des Ori­ noco die Kleider ganz fertig an den Bäumen wachsen". Diesem Märchen von den Hemden zur Seite geht ein anderes von den Spitzhauben, welche die Blumenscheiden einiger Palmarten liefern, die einem weitmaschigen Ge­ webe gleichen. Bei dem Fest, welchem wir beiwohnten, waren die Frauen vom Tanz und von allen öffentlichen Vergnügungen ausgeschlossen; ihr trauriges Geschäft bestand darin, die Männer mit Affenbraten, gegorenen Getränken und Palmkohl zu bedienen. Das letzte Gericht, das an Geschmack unserem Blu­ menkohl ähnlich ist, erwähne ich hier nur, weil wir in keinem Land so enorme Mengen davon gesehen haben. Die unentwickelten Blätter sind mit dem jungen Stenge! vereinigt, und wir haben davon Zylinder gemessen, die

6 Fuß Länge und 5 Zoll im Durchmesser besaßen. Eine andere, ungleich nahrhaftere, aus dem Tierreich gewonnene Substanz ist das Fischmehl. Al­ lenthalben am oberen Orinoco lassen die Indianer Fische braten, an der Sonne dörren und zerstoßen sie zu Pulver, ohne die Gräten zu trennen. Ich habe Mengen von 50 bis 60 Pfund dieses Mehls, das dem des Maniocs gleicht, gesehen. Will man davon essen, so wird es mit Wasser zu einem Teig angerührt. Unter allen Klimaten führte der Überfluß an Fischen zur Erfin­ dung des gleichen konservierenden Verfahrens. Plinius und Diodor von Sizi­ lien haben das Fischbrot der Ichthyophagen beschrieben, die im Persischen Golf und an den Küsten des Roten Meeres wohnen. In Esmeralda, wie überall in den Missionen, leben die Indianer, die sich nicht taufen lassen wollten und die nur in der Gemeinde angesiedelt sind, in Polygamie. Die Zahl der Frauen ist in den verschiedenen Stämmen sehr ver­ schieden; am beträchtlichsten ist sie bei den Cariben und bei allen Völkern, welche die Gewohnheit lange geübt haben, die jungen Mädchen benach­ barter Völkerschaften zu rauben. Wie könnte von häuslichem Glück bei einer so ungleichen Verbindung die Rede sein? Die Frauen leben in einer Art Sklaverei wie bei den meisten gänzlich verwilderten Nationen. Weil die Männer in vollem Genuß unbeschränkter Gewalt sind, wird in ihrer Gegen­ wart keinerlei Klage gehört. Es herrscht eine scheinbare Ruhe im Haus, und

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die Frauen mühen sich alle, den W ünschen eines gebieterischen und launi­ schen Herrn zuvorzukommen. Sie pflegen ohne Unterschied ihre eigenen und die Kinder ihrer Nebenbuhlerinnen. Die Missionare versichern aber (und man mag ihren Berichten unschwer glauben), dieser durch gemein­ same Furcht begründete innere Friede leide eine gewaltige Störung während der längeren Abwesenheiten des Mannes. Die Frau, welche zuerst erwählt war, nennt nun die übrigen Beischläferinnen und Mägde. Streit und Zank dauern bis zur Rückkehr des Gebieters, welcher dann durch den Ton seiner Stimme, durch ein Zeichen mit der Hand oder, wo er es passend findet, durch etwas gewaltsamere Mittel die Leidenschaften zu besänftigen ver­ steht. Eine gewisse Ungleichheit des Rechts zwischen den Frauen ist bei den Tamanaken auch durch die Sprache anerkannt. Der Mann nennt die zweite und die dritte Frau Gefährtinnen der ersten; die erste Frau aber behandelt diese Gefährtinnen als Nebenbuhlerinnen und Feindinnen

(ipucjatoje), was

zwar weniger höflich, aber wahrer und ausdrucksvoller ist. Weil jegliche Ar­ beit auf diesen unglücklichen Frauen lastet, darf man sich nicht wundern, daß sich Völker finden, bei denen ihre Zahl nur klein ist. In diesem Fall bildet sich dann eine Art Vielmännerei, die wir noch ausgedehnter in Tibet und in den am äußersten Ende der indischen Halbinsel gelegenen Bergen wieder antreffen. Bei den Avanos und Maipures haben mehrere Brüder öfters nur eine gemeinsame Gattin. Wenn ein in Vielweiberei lebender Indianer zum Christentum übergeht, zwingen ihn die Missionare, unter seinen Frauen die zu wählen, welche er behalten will, und die übrigen zu verstoßen. Dieser Zeitpunkt der Trennung ist der kritische Augenblick: Der Neubekehrte findet bei den Frauen, die er verlassen sollte, die köstlichsten Vorzüge- die eine versteht sich auf den Gartenbau, die andere weiß den

chiza,

ein berau­

schendes, aus der Maniocwurzel verfertigtes Getränk, köstlich zu bereiten; alle kommen ihm gleich unentbehrlich vor. Zuweilen erhält der Wunsch, seine Frauen zu behalten, beim Indianer das Übergewicht vor der Neigung zum Christentum; meist jedoch wird von dem Mann vorgezogen, sich der Wahl des Missionars wie einem blinden Schicksal zu unterziehen.

[Beschreibung des Orinoco und des Landes östlich von Esmeralda] Über den Lauf des Orinoco östlich der Mission sind uns genaueAngaben von den Indianern geliefert worden, welche vom Monat Mai bis zum Monat August die Reisen östlich von Esmeralda zum Einsammeln von vegetabili­ schen Erzeugnissen der Berge von Yumariqufn ausführen. Dieser Teil meiner Reisekarte weicht von den früheren Darstellungen gänzlich ab. Ich will die Beschreibung dieses Landes mit der Granitgruppe des Duida an­ fangen, an dessen Fuß wir verweilt haben. Westlich wird diese Gruppe vom

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Rio Tamatama und östlich vom Rio Guapo begrenzt. Zwischen beiden Zuflüssen des Orinoco, mitten durch die morichales oder die Wäldchen der Mauritiapalme, die um Esmeralda her stehen, fließt der Rio Sodomoni herab, welcher durch die an seinenUfern wachsenden vortrefflichen Ananas berühmt ist. Ich habe am

22. Mai [1800] in einer am Fuß des Duida gele­ 475 m Länge gemessen. Der Winkel, des Berges in der Entfernung von 13 327 m er­

genen Savanne eine Grundlinie von unter welchem die Spitze scheint, beträgt noch

9°.

Eine mit Sorgfalt angestellte trigonometrische Mes­

sung gab mir für den Duida (das heißt, für die höchste Bergspitze südwest­ lich des Cerro Maraguaca)

2179 m

oder

1118

Toisen über der Ebene von

Esmeralda. Seine Erhöhung über der Meeresfläche beträgt also wahrschein­ lich über

1300

Toisen; ich sage wahrscheinlich, weil ich das Mißgeschick

hatte, mein Barometer zu zerbrechen, ehe wir in Esmeralda eintrafen. Der Regen fiel so mächtig und anhaltend, daß wir das Instrument in den Biwaks gegen die Feuchtigkeit nicht schützen konnten und die Röhre der ungleichen Ausdehnung des Holzes nicht zu widerstehen vermochte. Dieser Zufall kränkte mich um so mehr, als kaum ein anderes Barometer während so langer Reisen ausgedauert hat. Ich hatte mich seiner seit drei Jahren in Europa auf den Bergen der Steiermark, in Frankreich und in Spanien und wieder in Amerika auf dem Weg von Cumami zum oberen Orinoco bedient. Das Land zwischen Javita, Vasiva und Esmeralda bildet eine ausgedehnte Ebene; und da ich das Barometer an den zwei ersteren Orten geöffnet hatte, glaubte ich mich in der Angabe der absoluten Höhe der Savannen von Sodo­ moni um nicht mehr als Höhe nur wenig ( kaum

15 bis 20 Toisen zu irren. Der Cerro Duida weicht an 80 bis 100 Toisen) vom Gipfel des St.-Gotthard-Ge­

birges und von der Silla von Caracas über dem Küstenland von Venezuela ab. Auch wird er in diesen Gegenden als kolossaler Berg angesehen, eine Auszeichnung, wodurch wir uns einen richtigen Begriff von der mittleren Höhe der Sierra Parima und aller Berge des östlichen Amerika machen können.

Östlich

von der Sierra Nevada de Merida sowohl wie südöstlich

vom Paramo de las Rosas erreicht keine der sich in der Richtung einer Paral­ lele ausdehnenden Hügelketten die Höhe des Zentralkamms der Pyrenäen. Der Granitgipfel des Duida fällt derart steil ab, daß die Indianer verge­ bens ihn zu ersteigen versucht haben. Bekanntlich sind die niedrigsten Berge oft die unzugänglichsten. Am Anfang und am Ende der Regenzeit nimmt man am Gipfel des Duida Flämmchen wahr, die nicht immer an der gleichen Stelle zu bleiben scheinen. Diese der übereinstimmenden Zeug­ nisse wegen nicht leicht zu bezweifelnde Erscheinung hat dem Berg die un­ richtige Benennung eines Vulkans verschafft. Da er ziemlich vereinzelt steht, könnte man glauben, der Blitz zünde von Zeit zu Zeit Buschwerk an; allein diese Voraussetzung wird völlig unwahrscheinlich, wenn man be­ denkt, wie schwierig die Gewächse in diesen feuchten Erdstrichen Feuer

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fangen. Mehr noch: Es wird versichert, jene Flämmchen zeigten sich nicht selten da, wo der Fels kaum mit Rasen bedeckt sei, und die nämlichen feu­ rigen Erscheinungen werden auch bei ganz gewitterlosen Tagen am Gipfel des Guaraco oder Murcielago, einem der Mündung des Rio Tamatama ge­ genüber, am südlichen Ufer des Orinoco gelegenen Hügel, wahrgenommen. Dieser Hügel steht kaum hundert Toisen über den umliegenden Ebenen. Wenn es mit den Angaben der Eingeborenen seine Richtigkeit hat, ist wahr­ scheinlich, daß im Duida und im Guaraco irgendeine unterirdische Ursache diese Flammen erzeugt; denn man erblickt sie niemals auf den hohen Bergen in der Nähe des Rio Jao und auf dem so oft von elektrischen Gewit­ tern umhüllten Maraguaca. Der Granitfels des Cerro Duida hat Gänge, die zum Teil geöffnet, zum Teil mit Quarzkristallen und Schwefelkies angefüllt sind. Gasartige und entzündliche Emanationen (sei es von Wasserstoff oder von Naphta) können durch diese Gänge zutage kommen. Die Gebirge von Karamanien, des Hindu-Kusch und des Himalaja bieten uns vielfache Bei­ spiele solcher Erscheinungen. Wir beobachten das Vorkommen von Flam­ men in vielen Teilen des östlichen Amerika, welche Erdbeben ausgesetzt sind, sogar (wie am Cuchivero, nahe bei Cumanacoa) in Sekundärgebirgen. Das Feuer zeigt sich, wenn der Boden, von der Hitze der Sonnenstrahlen stark erwärmt, den ersten Regen erhält oder wenn nach starken Gußregen die Erde zu trocknen anfängt. Die Ursache dieser feurigen Erscheinungen liegt sehr tief unter dem Sekundärgebirge in den Urformationen; Regen und Zersetzung des atmosphärischen Wassers spielen dabei nur eine untergeord­ nete Rolle. Die wärmsten Quellen, welche wir kennen, entspringen unmit­ telbar aus dem Granit. Das Erdöl quillt aus dem Glimmerschiefer. Furcht­ bares Knallen ist in Encaramada zwischen den Flüssen Aranca und Cuchi­ vero, mitten im granitischen Boden des Orinoco und der Sierra Parima, ge­ hört worden. Hier wie auf dem ganzen Erdball liegt der Herd der Vulkane im ältesten Terrain; und zwischen den großen Erscheinungen, welche die Rinde unseres Planeten emporheben und flüssig werden lassen, und den Feuer-Me­ teoren, welche sich von Zeit zu Zeit auf der Oberfläche zeigen und die man, ihrer Kleinheit wegen, ausschließlich atmosphärischen Einflüssen zuzu­ schreiben geneigt ist, scheint ein inniger Zusammenhang zu bestehen. Obgleich der Duida die Höhe, welche der Volksglaube ihm zuschreibt, nicht besitzt, ist er doch der kulminierende Punkt der gesamten Gruppe der Berge, welche das Becken des oberen Orinoco von dem des Amazonen­ stroms trennen. Diese Berge senken sich noch schneller nordwestwärts gegen den Puruname als ostwärts gegen den Padamo und den Rio Ocamo. In der ersteren Richtung sind die höchsten Gipfel nach dem Duida: der Cu­ neva an den Quellen des Rio Paru (eines der Zuflüsse des Ventuari), der Si­ papa, der Calitamini, welcher mit dem Cunavami und dem Pie von Uniana eine gemeinsame Gruppe bildet. Östlich vom Duida zeichnen sich durch

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ihre Erhöhung aus: am rechten Ufer des Orinoco der Maravaca oder Sierra Maraguaca zwischen dem Rio Caurimoni und dem Padamo; am linken Ufer des Orinoco die Berge von Guanaja und von Yumariquin zwischen den Rios Amaguaca und Gehette. Es ist fast überflüssig, nochmals daran zu erinnern, daß die durch diese Bergspitzen gehende Linie (wie in den Pyrenäen, in den Karpaten und so vielen anderen Bergketten des Alten Kontinents) sehr ver­ schieden von der die Wasserscheide bezeichnenden Linie ist. Diese, welche die Zuflüsse des unteren und oberen Orinocos scheidet, durchschneidet den Meridian von 64° unter dem vierten Breitengrad. Nachdem sie die Quellen des Rio Branco und des Caroni voneinander getrennt hat, nimmt sie ihre Richtung nordwestlich, indem sie die Gewässer des Padamo, des Jao und des Ventuari nach Süden sendet; nordwärts die des Arui, des Caura und des Cuchivero. Ohne Gefahr fährt man den Orinoco hinauf, von Esmeralda bis zu den durch die Guaica-Indianer besetzten Katarakten, welche alles weitere Vor­ gehen der Spanier hindern; die Fahrt erfordert 6V2 Tage. In den zwei ersten gelangt man zur Mündung des Rio Padamo, nachdem man nordwärts bei den kleinen Flüssen Tamatama, Sodomoni, Guapo, Caurimoni und Simiri­ moni vorbeigekommen ist; südlich befindet sich der Zufluß des Cuca zwi­ schen dem Guaraco-Felsen, welcher Flammen speien soll, und dem Cerro Canelilla. Auf dieser Reise behält der Orinoco eine Breite von 300 bis 400 Toisen. Die Zuflüsse des rechten Ufers sind zahlreicher, weil der Strom auf dieser Seite durch die hohen Berge Duida und Maraguaca begrenzt wird, auf denen sich die Wolken sammeln, während das niedrige linke Ufer an eine Ebene grenzt, deren allgemeine Abdachung südwestwärts abfällt. Die nörd­ lichen Cordilleren sind mit Bäumen, die prächtiges Bauholz liefern könn­ ten, bedeckt. Der Pflanzenwuchs ist in diesem heißen und ständig feuchten Klima so kräftig, daß der Bombax ceiba dort in Stämmen von 16 Fuß Durch­ messer angetroffen wird. Der Rio Padamo oder Patamo, durch den die Mis­ sionare des oberen Orinoco vormals mit denen des Rio Caura in Verbindung standen, ist eine Quelle von Irrtümern für die Geographen geworden. Der Pater Caulin nennt ihn Macoma und setzt einen anderen Rio Patamo zwi­ schen den Punkt der Gabelteilung des Orinoco und einen Berg Ruida, der ohne Zweifel mit dem Cerro Duida identisch ist. Surville setzt den Padamo mit dem Rio Ocamo (Ucamu) in Verbindung, welcher davon ganz unab­ hängig ist; auf der großen Karte von La Cruz endlich wird ein kleiner Zufluß des Orinoco westlich der Gabelteilung des Rio Padamo angegeben, und der wirkliche Strom dieses Namens wird Rio Maquiritari genannt. Von der Mün­ dung dieses Flusses, der ansehnlich breit ist, gelangen die Indianer in andert­ halbTagen zum Rio Mavaca, der in den hohen Bergen von Untunin, wovon oben die Rede gewesen ist, entspringt. Die Portage zwischen den Quellen dieses Zuflusses und denen des Idapa oder Siapa hat zur Fabel einer Verbin-

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106

dung des Idapa mit dem oberen Orinoco geführt. Der Rio Mavaca steht mit einem See in Verbindung, an dessen Ufern die Portugiesen vom Rio Negro ohne Wissen der Spanier von Esmeralda die aromatischen Samen von

Laurus pucheri

einsammeln, welche im Handel unter dem Namen der Pi­

churim-Bohne und der Toda Specie bekannt sind. Zwischen den Mün­ dungen des Padamo und des Mavaca empfängt der Orinoco nordwärts den Ocamo, in den sich der Rio Matacona ergießt. An den Quellen dieses letz­ teren Flusses wohnen die Guainares-Indianer, die viel weniger kupferfarben oder schwarzbraun sind als die übrigen Bewohner dieser Gegenden. Dieser Stamm gehört zu denen, welche die Missionare weißliche Indianer oder

dios blancos

In­

nennen und über die ich bald ausführlichere Nachrichten lie­

fern werde. Nahe bei der Mündung des Ocamo wird den Reisenden ein Fels gezeigt, der das Wunderwerk des Landes ist. Er besteht aus einem in Gneis übergehenden Granit, welcher durch die sonderbar zerästelte, kleine Adern darstellende Verteilung des schwarzen Glimmers merkwürdig ist. Die Spa­ nier nennen ihn Piedra Mapaya (Landkarten-Stein). Das kleine Bruchstück, welches ich mir davon verschafft habe, zeigt ein Schichtgestein, das an weißem Feldspat reich ist und neben Glimmerblättchen, die durch Rillen in Gruppen vereinigt und verschiedentlich gedreht sind, auch einige Hornblen­ dekristalle enthält. Er ist kein Syenit, wahrscheinlich dagegen ein Granit von neuer Bildung, denen ähnlich, welchen die Zinnsteinhaitigen Granite

(hyalomictes)

und die Pegmatite oder graphischen Granite angehören.

Wenn man bei der Mündung des Mavaca vorbeigekommen ist, nimmt der Orinoco plötzlich an Breite und Tiefe ab. Er erhält viele Krümmungen und gleicht [in der Regenzeit] einem reißenden alpinen Torrente. Seine beiden Ufer sind von Bergen eingefaßt; die Zahl der südlichen Zuflüsse vermehrt sich ansehnlich, jedoch bleibt die nördliche Cordillere die höhere. Von der Mündung des Mavaca zum Rio Gehette beträgt die Entfernung zwei Tage­ reisen, weil die Fahrt sehr unbequem ist und weil die Piroge öfters wegen des Wassermangels dem Ufer entlang gezogen werden muß. In diesem Ab­ schnitt finden sich die südlichen Zuflüsse, der Daracapo und der Amaguaca; sie umfassen westlich und östlich die Berge von Guanaya und Yumariquin, wo die Früchte der Bertholletia (Kastanien des Marafi6n) gesammelt werden. Von den nördlichen Gebirgen, deren Erhöhung vom Cerro Mara­ guaca an zusehends abnimmt, fließt der Rio Manaviche ab. Wenn man weiter den Orinoco hinauffährt, werden die Krümmungen und die kleinen

rapides (chorros

und

remolinos)

immer häufiger; links kommt man beim

Cafio Chiguire vorbei, der von den Guaicas, einem anderen Stamm weißer Indianer, bewohnt wird; und zwei

Iieues

weiter gelangt man zur Mündung

des Gehette, wo sich ein großer Katarakt befindet. Ein Granitfelsendamm geht hier quer durch den Orinoco. Dies sind die Säulen des Herkules, über welche hinaus kein Weißer gekommen ist. Diese Stelle, die unter dem

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Namen des großen Raudal de Guaharibos bekannt ist, scheint 3/4 Grad west­ lich von Esmeralda, mithin unter 67° 38' der Länge zu liegen. Eine Militärex­ pedition, die der Befehlshaber des Fortins San Carlos, Don Francisco Bova­ dilla, zur Entdeckung der Quellen des Orinoco unternommen hatte, er­ brachte die ausführlichsten Nachrichten über die Katarakte der Guaharibos. Dieser Befehlshaber hatte vernommen, daß Negerflüchtlinge aus dem hol­ ländischen Guayana durch westliches Vordringen Genseits der Landenge, welche die Quellen des Rio Caroni und des Rio Branco trennt) zu den unab­ hängigen Indianern gelangt seien. Er unternahm eine

entrada

(feindlichen

Überfall), ohne dafür die Bewilligung des Gouverneurs erhalten zu haben; der Wunsch, sich afrikanische Sklaven zu verschaffen, die zur Arbeit tüch­ tiger wären als die kupferfarbene Rasse, war ihm ein viel wichtigerer An­ trieb als der Eifer für die Bereicherung der Geographie. In Esmeralda und am Rfo Negro hatte ich Anlaß, mehrere sehr verständige Soldaten zu spre­ chen, die an jenem Zug teilgenommen hatten. Bobadilla gelangte ohne Hin­ dernis bis zu dem kleinen

raudal,

welcher Gehette gegenüberliegt; als er

dann aber bis an den Fuß des Felsendamms, der den großen Katarakt bildet, vorgerückt war, wurde er während der Einnahme seines Frühstücks unverse­ hens von den Guaharibo- und Guaica-Indianern überfallen, zwei Krieger­ stämmen, welche durch das wirksame Curare, womit sie ihre Pfeile ver­ giften, berühmt sind. Die Indianer hatten die mitten im Strom gelegenen Felsen besetzt. Weil sie die Spanier ohne Bogen sahen und weil ihnen die Feuerwaffen unbekannt waren, fühlten sie sich zum Kampf gegen Leute, die sich nicht verteidigen könnten, ermutigt. Mehrere Weiße wurden ge­ fährlich verwundet und Bovadilla zum Kampf genötigt. Es erfolgte ein fürchterliches Gemetzel unter den Eingeborenen, aber von den holländi­ schen Negern, die in diese Gegenden geflüchtet sein sollten, wurde keiner aufgefunden. Trotz des leichten Sieges wagten die Spanier nicht, weiter ost­ wärts in ein bergiges Land, längs eines tief eingeschnittenen Strombetts, vor­ zudringen. Die Guaharibos blancos haben eine Lianenbrücke oberhalb des Kata­ rakts gebaut, die sie an Felsen befestigen, welche, wie dies in den pongos des oberen Marafi6n häufig geschieht, mitten aus dem Strombett emporragen. Die Existenz dieser Brücke, die allen Bewohnern von Esmeralda bekannt ist, scheint anzudeuten, daß der Orinoco an dieser Stelle schon sehr schmal ist. Die Indianer geben allgemein seine Breite zu nicht mehr als 200 bis 300 Fuß an; sie behaupten, der Orinoco sei oberhalb des Raudal de Guaharibos kein Fluß mehr, sondern ein Bergflüßchen

(riachuelo).

Dagegen hat ein sehr

gebildeter Ordensmann, Fray Juan Gonzales, der diese Gegenden gleich­ falls besucht hat, mir versichert, der Orinoco behalte da, wo sein weiterer Lauf unbekannt ist, noch zwei Drittel der Breite des Rfo Negro in der Nähe von San Carlos. Diese Meinung kommt mir indes unwahrscheinlich vor; ich

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berichte, was ich sammeln konnte, ohne mit Zuversicht etwas zu behaupten. Aus den zahlreichen Messungen, welche ich angestellt habe, ist mir be­ kannt, wie leicht man sich über die Dimensionen der Flußbette täuschen kann. Die Flüsse stellen sich überall mehr oder minder breit dar, je nachdem sie von Bergen oder Ebenen umgeben, von Inseln frei oder von Klippen er­ füllt, durch viel Regen angeschwollen oder nach langer Trockenheit wasser­ arm sind. Übrigens verhält es sich mit dem Orinoco wie mit dem Lauf des Ganges, welcher nördlich von Gangutra unbekannt ist. Auch wegen der ge­ ringen Breite wird diese Stelle für den Quellen sehr nahe liegend gehalten. Spanische Soldaten behaupten, in dem Felsendamm, welcher den Ori­ noco durchschneidet und den Raudal de Guaharibos bildet, die schöne Art des Saussurit (Amazonenstein) gefunden zu haben, wovon wir oben spra­ chen. Diese Angabe ist jedoch unzuverlässig; und die Indianer, die ich hier­ über befragt habe, versicherten, die grünen Steine, welche in Esmeralda Pie­ dras de Macagua genannt werden, seien von den Guaica- und Guaharibo-In­ dianern gekauft, die mit viel östlicher wohnenden Horden in Verkehr ständen. Es verhält sich mit diesen Steinen wie mit so vielen anderen köstli­ chen Erzeugnissen Indiens. An den Küsten, auf einige hundert Iieues Entfer­ nung, gibt man sehr bestimmt den Ort ihrer Herkunft an; ist man aber mit viel Mühe an diesen Ort gelangt, entdeckt man, daß die Eingeborenen nicht einmal den Namen des gesuchten Gegenstandes kennen. Man könnte ver­ muten, die aus Saussurit bestehenden Amulette, welche bei den Indianern des Rio Negro angetroffen wurden, rührten vom unteren Marafi6n her, wäh­ rend die aus den Missionen des oberen Orinoco und vom Rio Caronf aus einem zwischen den Quellen des Essequibo und des Rio Branco gelegenen Land kommen. Es haben jedoch weder der aus Hildesheim gebürtige Chir­ urg Horstmann noch Don Antonio Santos, dessen Reise-Tagebücher ich prüfen konnte, den Amazonenstein vor Ort gesehen, und es ist eine völlig grundlose, obgleich in Angostura [Ciudad Bolivar] sehr verbreitete Mei­ nung, nach welcher dieser Stein in einem weichen, teigigen Zustand aus dem kleinen Amucu-See, der in Lagana del Dorado verwandelt worden ist, her­ kommen soll. Es bleibt in diesem östlichen Teil Amerikas eine schöne geo­ gnostische Entdeckung inmitten des Urgebirgsterrains eines Euphotid-Ge­ steins zu machen, das die Piedra de Macagua enthält.

/Indios blancos (weißhäutige Indianer)] Ich will hier einige Aufschlüsse über die zwergartigen und weißlichen In­ dianerstämme geben, welche von alter Überlieferung seit Jahrhunderten in die Nähe der Quellen des Orinoco versetzt werden. Ich hatte Gelegenheit, in Esmeralda solche zu sehen, und ich kann versichern, daß sowohl die

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Kleinheit des Körperbaus der Guaicas als auch die weiße Färbung der Gua­ haribos, die der Pater Caulin

Guaribos blancos nennt, übertrieben worden

sind. Die von mir gemessenen Guaicas hatten eine mittlere Größe von 4 Fuß, 7 Zoll bis4 Fuß, 8 Zoll (altes französisches Maß). Man versichert, der ganze Stamm sei nicht größer; doch darf dabei nicht vergessen werden, daß, was hier ein Stamm genannt wird, richtiger gesprochen nur eine einzige Fa­ milie ist. Der Ausschluß jeder fremden Zumischung trägt zur Erhaltung und Fortdauer der Spielarten oder Abweichungen vom Urbild bei. Nach den Guaicas sind die Guainares und die Poignaves die kleinsten Indianer. Merk­ würdig ist, daß all diese Völker Nachbarn der durch ihre schlanke Gestalt und Größe ausgezeichneten Cariben sind. Die einen wie die anderen be­ wohnen das gleiche Klima und genießen die gleichen Nahrungsmittel. Es sind Varietäten der Rasse, deren Dasein ohne Zweifel weiter hinaufreicht als die Niederlassung dieser Stämme (der großen und kleinen, weißlichen und dunkelbraunen) in derselben Gegend. Die vier am ehesten weißen Nationen des oberen Orinoco schienen mir zu sein: die Guaharibos vom Rio Gehette, die Guainares vom Ocamo, die Guaicas vom Cafio Chiguire und die Maqui­ ritares von den Quellen des Padamo, des Jao und des Ventuari. Da die Er­ scheinung auffallend ist, weißfarbige Eingeborene unter einer weißlichen Haut und mitten unter Nationen von sehr dunkler Hautfarbe anzutreffen, haben die Spanier zur Erklärung zwei sehr gewagte Voraussetzungen er­ dacht. Der einen zufolge sollten die Holländer aus Surinam und vom Rio Essequibo sich mit den Guaharibos und Guainares vermischt haben; der an­ deren Voraussetzung liegt ein Haß gegen die Kapuziner vom Caronf und die Franziskaner vom Orinoco zugrunde, und sie meint, die weißlichen Indianer seien, was man in Dalmatien [in Cataro und in Ragusa]

muso di frate nennt,

Kinder, deren legitime Herkunft ein wenig zweideutig ist. Im einen wie im anderen Fall wären die

Indios blancos Mischlinge oder von Indianerinnen

mit Weißen erzeugte Kinder. Ich kann aber, weil ich solche Mischlinge

(mestizos) zu Tausenden gesehen habe, versichern, daß dieser Vergleich durchaus nicht stichhaltig ist. Die Individuen von weißlichen Stämmen, welche wir zu beobachten Gelegenheit hatten, besitzen die Gesichtszüge, die Gestalt, den schlichten, glatten und schwarzen Haarwuchs, welche allen übrigen Indianern eigentümlich sind. Unmöglich könnte man sie für eine ge­ mischte Rasse halten, wie es die Nachkömmlinge von Eingeborenen und Eu­ ropäern sind. Einige von ihnen sind zugleich ungewöhnlich klein, andere haben die gewöhnliche Größe der kupferfarbenen Indianer. Sie sind weder Schwächlinge noch kränklich, noch Albinos. Von den kupferfarbenen Rassen unterscheiden sie sich einzig durch die viel weniger braunschwarz ge­ färbte Haut. Bei solchen Umständen dürfte es überflüssig sein, noch auf die Entfernung ein besonderes Gewicht zu legen, die zwischen den Bergen des oberen Orinoco und dem Küstenland, das die Holländer bewohnen, vor-

110

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handen ist. Ich leugne nicht, daß um die Quellen des Essequibo herum Ab­ kömmlinge von Negerflüchtlingen (negros alzados del palenque) unter den Cariben angetroffen werden; niemals aber ist irgendein Weißer von den Ost­ küsten zum Rio Gehette und Ocamo in dies innere Land Guayanas ge­ kommen. Und mehr noch: Wie auffallend auch die sonderbare Häufung weißlicher Völkerschaften ostwärts von Esmeralda auf ein und derselben Stufe gefunden werden mag, so ist darum nicht weniger gewiß, daß auch in anderen amerikanischen Gegenden Stämme angetroffen wurden, die sich durch ihre viel weniger schwarzbraun gefärbte Haut von den Nachbar­ stämmen unterscheiden. Es gehören dahin die Arivirianos und Maquiritares vom Rfo Ventuari und vom Padamo, die Paudacotos und Paravenas vom Erebato, die Viras undAriguas vom Caura, die Mologagos von Brasilien und die Guayanas vom Uruguay. Das Ganze dieser Erscheinungen verdient um so sorgfältiger beachtet zu werden, als sie sich in dem großen Zweig amerikanischer Völkerschaften dar­ stellen, welcher gewöhnlich dem Zirkumpolarzweig entgegengesetzt wird, dem der Tschugassen-Eskimos, deren Kinder weiß zur Welt kommen und erst durch Einfluß von Luft und Feuchtigkeit die mongolische oder gelbliche Hautfarbe annehmen. In Guayana sind die mitten in den dichtesten Wäldern wohnenden Horden allgemein weniger dunkel gefärbt als die, welche sich an den Gestaden des Orinoco aufhalten und sich mit Fischerei beschäftigen. Dieser geringe Unterschied jedoch, der auch in Europa zwischen den Hand­ werkern in Städten und dem Feldbauern auf dem Land oder dem Fischer an der Küste wahrgenommen wird, mag keineswegs das Rätsel der Indios blancos, das Dasein dieser amerikanischen Stämme mit der Mischlingshaut erklären. Finden sie sich doch von anderen Wald-Indianern (Indios del monte) umgeben, welche braunrötlich oder gegenwärtig den gleichen physi­ schen Einwirkungen ausgesetzt sind. Die Ursachen dieser Erscheinungen reichen weit ins Altertum hinauf, und wir wenden das Wort des Tacitus auf sie an: est durans originis vis. Die weißhäutigen Stämme, welche wir in der Mission Esmeralda sahen, bewohnen einen Teil des Berglandes, das sich zwischen den Quellen der sechs Zuflüsse des Orinoco- zwischen dem Padamo, dem Jao, dem Ven­ tuari, dem Erebato, dem Ami und dem Paragua- ausdehnt. Die spanischen und die portugiesischen Missionare nennen diese Landschaft gewöhnlich Pa­ rima. Hier wie in vielen anderen Gegenden des spanischen Amerika haben die Wilden das wieder erworben, was die Zivilisation oder, richtiger gespro­ chen, was die Missionare als die Vorläufer der Zivilisation ihnen entrissen hatten. SoJanos Grenzexpedition und der extravagante Eifer, den ein Statt­ halter von Guayana für die Entdeckung des Dorado entfaltete, hatten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Unternehmungsgeist, welcher die Kastilier zur Zeit der Entdeckung Amerikas auszeichnete, bei einigen lndi-

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111

viduen wieder geweckt. Längs des Rio Padamo wandernd, hatte man durch Wälder und Savannen von Esmeralda aus einen Weg von zehn Tagereisen zu den Quellen des Ventuari ermittelt; in weiteren zwei Tagereisen war man von eben diesen Quellen auf dem Erebato zu den Missionen am Rio Caura ge­ langt. Zwei verständige und kühne Männer, Don Antonio Santos und der Hauptmann Bareto, hatten mit Hilfe der Maquiritares eine Militärposten­ kette auf dieser Linie von Esmeralda zum Rio Erebato errichtet; es waren solche Häuser zu zwei Stockwerken

(casas fuertes), mit Steinböllern besetzt,

wie ich sie oben beschrieben habe und die auf den in Madrid ausgegebenen Karten als neunzehn Dörfer figurierten. Die sich selbst überlassenen Sol­ daten quälten die friedlichen Eingeborenen, die ihre Pflanzungen um die

casas fuertes

her hatten; und da diese Bedrückungen weniger methodisch,

das heißt weniger geregelt und zusammenhängend als die waren, woran sich die Indianer allmählich in den Missionen gewöhnen, verbanden sich im Jahre

1776 mehrere Stämme gegen die Spanier. In derselben Nacht wurden Iieues betragenden Linie sämtliche Militärposten ange­

auf einer nahe an 5

griffen. Die Häuser wurden verbrannt, viele Soldaten niedergemacht; nur sehr wenige dankten ihre Rettung dem Mitleid indianischer Frauen. Noch jetzt wird mit Schrecken von dieser nächtlichen Unternehmung gesprochen. In der größten Heimlichkeit abgekartet, wurde sie ausgeführt mit der typi­ schen Taktik der Eingeborenen beider Amerika, die geschickt sind, ihre haß­ erfüllten Leidenschaften in sich zu verschließen und die in allem, was ihre ge­ meinsamen Interessen betrifft, zu handeln wissen. Seit

1776 ist nicht daran

gedacht worden, den Landweg herzustellen, der vom oberen zum unteren Orinoco führt, und kein weißer Mensch konnte von Esmeralda zum Erebato gelangen. Es ist indessen gewiß, daß in diesen Bergländern zwischen den Quellen des Padamo und des Ventuari (nahe bei den Landschaften, welche die Indianer Aurichapa, Ichuana und Irique nennen) Gegenden vor­ kommen, die ein gemäßigtes Klima und Weiden besitzen, worauf viel Vieh ernährt werden könnte. Die Militärposten sind früher zum Schutz gegen die Überfälle der Cariben, welche von Zeit zu Zeit zwischen dem Erebato und dem Padamo Sklaven (wenn auch nicht gerade viele) entführt haben, nütz­ lich gewesen. Sie hätten den Angriffen der Eingeborenen widerstehen können, wenn Dörfer aus ihnen gebildet und diese gleich den Gemeinden neu bekehrter Indianer behandelt worden wären, statt sie isoliert in der allei­ nigen Abhängigkeit der Soldaten zu lassen. *

Am 23. Mai

[1800]

verließen wir die Mission Esmeralda. Ohne eigentlich

krank zu sein, befanden wir uns in einem Zustand von Mattigkeit und Schwäche als Folge der Insektenqual, der schlechten Nahrung und einer

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langen Fahrt in engen und feuchten Booten. Im Orinoco sind wir nicht über die Mündung des Rio Guapo hinaufgekommen; wir wären weitergefahren, wenn wir hätten versuchen können, die Quellen des Stroms zu erreichen. Im gegenwärtigen Zustand der Dinge müssen bloße Privatpersonen, denen der Besuch der Missionen vergönnt ist, ihre Wanderungen auf den ruhigen und friedlichen Teil des Landes beschränken. Vom Guapo beträgt die Entfer­ nung zum Raudal de Guaharibos noch 15/ieues. Bei diesem Katarakt, über den eine Lianenbrücke führt, findet sich ein mit Bogen und Pfeilen bewaff­ neter Indianerposten, welcher die Weißen oder die aus dem Gebiet der Weißen kommenden Personen am Vordringen nach Westen hindert. Wie konnten wir hoffen, über eine Stelle hinwegzukommen, an welcher der Be­ fehlshaber am Rio Negro, Don Francisco Bovadilla, selbst angehalten wurde, als er in Begleitung seiner Soldaten über den Gehette hinaufzu­ kommen wünschte? Das damals unter den Eingeborenen verübte Gemetzel hat sie noch mißtrauischer und feindseliger gegen die Bewohner der Mis­ sionen gemacht. Man muß sich erinnern, daß der Orinoco bisher in dop­ pelter und beiderseits gleich wichtiger Hinsicht den Geographen rätselhaft geblieben war: Die eine betraf die Lage seiner Quellen und die andere seine Verbindung mit dem Amazonenstrom. Das letztere Problem ist Gegenstand der nun von mir beschriebenen Reise gewesen; was die Entdeckung der Quellen betrifft, ist es Sache der spanischen und portugiesischen Regierung, sie zu vervollständigen. Ein kleines Kommando Soldaten, von Angostura oder vom Rio Negro abgeordnet, würde genügen, den Guaharibos, den Guaycas und Cariben, deren Zahl und Stärke gleichmäßig übertrieben ange­ geben werden, Widerstand zu leisten. Diese Expedition könnte ihre Rich­ tung entweder von Esmeralda ostwärts oder durch den Rio Caroni und den Paragua südwestwärts oder endlich durch den Rio Padaviri oder den Rio Branco und den U rariquera nordwestwärts nehmen. Weil der Orinoco in der Nähe seines Ursprungs wahrscheinlich weder unter diesem Namen noch unter dem des Paragua bekannt ist, wäre sicherer, ihn jenseits von Gehette hinaufzufahren, nachdem man zuvor das zwischen Esmeralda und dem Raudal der Guaharibos gelegene Land, das ich weiter oben ausführlich be­ schrieben habe, durchwandert hat. Auf diese Art würde man den Hauptarm des Flusses nicht mit einem oberen Zufluß verwechseln und an den Stellen, wo das Strombett mit Felsen besetzt ist, dem einen oder anderen Ufer des Orinoco nachgehen. Wenn man überhaupt, statt die östliche Richtung einzu­ schlagen, die Quellen in westlicher Richtung durch den Rio Caroni, den Es­ sequibo oder den Rfo Branco aufsuchen wollte, dürfte trotzdem der Zweck des Unternehmens nicht erreicht sein, ehe man den für identisch mit dem Orinoco gehaltenen Strom bis zur Einmündung des Gehette und zur Mission von Esmeralda hinunterführe. Das portugiesische Fort von Säo Joaquim, am rechten Ufer des Rio Branco, nahe beim Zufluß des Tacutu, würde einen an-

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deren günstig gelegenen Abfahrtspunkt abgeben; ich empfehle ihn, weil mir unbekannt ist, ob man die Mission von Santa Rosa nicht schon zerstört hat, welche mehr westlich an den Gestaden des Urariapara unter der Verwaltung von Don Manuel Centuri6n zur Zeit der Gründung der Ciudad von Guirior errichtet wurde. Am zuverlässigsten würde man die Quellen des Orinoco er­ reichen, wenn man dem Lauf des Paragua westwärts vom destacamento oder Militärposten von Guirior, der in den Missionen der katalonischen Kapu­ ziner liegt, folgen oder aber westwärts vom portugiesischen Fort Säo Joa­ quim durch das Tal des Rio Urariquera zöge. Die Längenbeobachtungen, welche ich in Esmeralda gemacht habe, können diese Forschungen erleich­ tern, wie ich dies in einer dem spanischen Ministerium unter der Regierung König Karls IV. überreichten Denkschrift gezeigt habe. Wenn die große und nützliche Einrichtung der amerikanischen Missionen nach und nach die von verschiedenen Bischöfen gewünschten Verbesse­ rungen erhielte; wenn- statt die Missionare aus den spanischen Klöstern, wie der Zufall sie bietet, zu rekrutieren- vielmehr in amerikanischen Semi­ naren oder Missionsschulen junge Ordensmänner gebildet würden, dann wären die Militär-Expeditionen, welche ich vorschlug, überflüssig. Das Ge­ wand des heiligen Franziskus, sei es braun wie das der Kapuziner von Caronf oder blau wie das der Franziskaner am Orinoco, hat für die Indianer dieser Landschaften eine Art Reiz behalten. Sie verbinden damit, ich weiß nicht welche Vorstellungen von Wohlstand und Behaglichkeit sowie die Hoffnung, Äxte, Messer und Fischereigeräte zu erhalten. Selbst die, welche auf ihre Unabhängigkeit und Absonderung bedacht sind und sich weigern, "durch Glockenschall regiert zu werden", empfangen doch gern den Besuch eines benachbarten Missionars. Allein durch die Schikane der Soldaten und die feindlichen Überfälle der Mönche, durch die entradas und conquistas apost6licas sind die Eingeborenen von den Stromufern vertrieben worden.

Würde man auf das unvernünftige Beginnen, Klosterregime in die Wälder und Savannen von Amerika zu verpflanzen, verzichten, hingegen die In­ dianer die Früchte ihrer Arbeit genießen lassen, indem man sie weniger regierte, das heißt, ihre natürliche Freiheit nicht jeden Augenblick be­ schränkte, so sähen die Missionare die Sphäre ihrer Wirksamkeit, welche die der menschlichen Zivilisation sein sollte, sich rapide vergrößern. Die Niederlassungen der Mönche haben im äquinoktialen Teil der Neuen Welt ebenso wie einst im europäischen Norden die ersten Keime des sozialen Lebens ausgestreut. Noch gegenwärtig bilden sie einen weiten Gürtel um die europäischen Besitzungen, und obschon mancherlei Mißbräuche sich in Anstalten eingeschlichen haben, welche alle Gewalten vereinigen, würde es dennoch schwerfallen, sie durch andere zu ersetzen, die, ohne viel größere Nachteile zu bieten, ebensowenig aufwendig und dem wortkargen Phlegma dieser Eingeborenen so zuträglich wären. Ich werde auf diese christlichen

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Niederlassungen zurückkommen, deren politische Wichtigkeit in Europa nicht genügend anerkannt ist. Hier mag die Bemerkung genügen, daß die von der Küste entferntesten gegenwärtig die vernachlässigsten sind. Deren Ordensmänner leben in tiefem Elend. Immer um ihre Nahrung besorgt und von dem Wunsch belebt, in eine der Zivilisation, das heißt den weißen und vernünftigen Leuten genäherte Mission versetzt zu werden, streben sie kei­ neswegs, weiterzukommen. Ihr Vordringen könnte schnell erreicht werden, sobald man (nach dem Beispiel der Jesuiten) den entferntesten Missionen außerordentliche Unterstützung gewähren und die mutigsten, verständig­ sten und in den indianischen Sprachen geübtesten Ordensmänner nach Gui­ rior, nach San Luis del Erebato und nach Esmeralda, als auf die äußersten Vorposten versetzen wollte. Das wenige, was vom Orinoco zu entdecken übrigbleibt (wahrscheinlich ein Gebiet von 25 bis 30

Iieues), wird bald er­

forscht sein; in beiden Amerika können die Missionare zuerst überallhin ge­ langen, weil ihnen Erleichterungen zugute kommen, welche anderen Rei­ senden mangeln. "Ihr rühmt euch eurer Wanderungen über den Oberen See hinaus", sagte ein Indianer aus Kanada zu Pelzhändlern aus den Vereinigten Staaten, "ihr habt aber vergessen, daß die Schwarzröcke früher als ihr dort gewesen sind und daß sie es waren, die euch den Weg nach Westen gezeigt haben." Gegen drei Uhr abends erst fand sich unsere Piroge zur Abfahrt bereit. Eine zahllose Menge Ameisen hatte sich während der Fahrt auf dem Casi­ quiare darin gesammelt, und nur mit viel Mühe gelang es, den toldo oder das Dach aus Palmblättern davon zu reinigen, worunter wir nochmals 22 Tage lang ausgestreckt liegen sollten. Den Vormittag benutzten wir zum Teil, um die Bewohner von Esmeralda nochmals über das Dasein eines ostwärts gele­ genen Sees zu befragen. Den alten Soldaten, welche sich in der Mission seit ihrer Gründung aufgehalten hatten, zeigten wir Kopien der Karten von Sur­ ville und La Cruz. Sie lachten über die angebliche Verbindung des Orinoco mit dem Rio Idapa und über das Weiße Meer, welches der erste jener Ströme durchziehen soll. Was wir höflich Fiktionen der Geographen nannten, er­ schien ihnen als Lügen aus der anderen Welt

(mentiras de por allti). Die

guten Leute konnten nicht begreifen, wie man bei Verfertigung der Karte eines Landes, worin man nie gewesen ist, alle kleinen Einzelheiten, die auf Ort und Stelle unbekannt sind, genau anzugeben in der Lage sei. Der See von la Parima, die Sierra Mey, die Quellen, welche sich an der Stelle, wo sie aus dem Boden hervorkommen, trennen, sind in Esmeralda völlig unbe­ kannt. Man wiederholte uns unaufhörlich, daß niemand jemals über den Raudal de Guaharibos ostwärts hinausgekommen sei; daß jenseits dieser Stelle, der Meinung einiger Eingeborener zufolge, der Orinoco wie ein kleiner Waldstrom aus einer von den Corotos-Indianern bewohnten Berg­ gruppe herabkomme. Diese Umstände verdienen, glaube ich, Beachtung;

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115

denn wenn zur Zeit der königlichen Grenzexpedition oder nach diesem denkwürdigen Zeitpunkt irgendein Weißer wirklich an die Quellen des Ori­ noco und bis zu dem angeblichen See von la Parima gelangt wäre, würde sich die Überlieferung in der nächstgelegenen Mission, durch welche man, um die wichtige Entdeckung zu machen, den Weg nehmen mußte, doch wohl un­ fehlbar erhalten haben. Die drei Personen aber, welche von den Arbeiten der Grenzexpedition Kenntnis besaßen, der Pater Caulin, la Cruz und Sur­ ville, haben über den Ursprung des Orinoco die widersprüchlichsten An­ gaben geliefert. Diese Widersprüche wären ohne Zweifel nicht vorhanden, wenn diese gelehrten Männer, statt ihre Karten nach in Madrid erfundenen Vermutungen und Voraussetzungen zu verfertigen, den echten Reisebericht vor Augen gehabt hätten. Der Pater Gili, welcher 18 Jahre an den Gestaden des Orinoco gewohnt hatte, sagt ausdrücklich, daß Don Apollinario Dfez 1765 zu einem Versuch zur Entdeckung der Quellen des Orinoco ausgesandt wurde; daß er östlich von Esmeralda den Strom klippenerfüllt fand; daß er aus Mangel an Lebensmitteln zurückkehrte und daß er nichts, durchaus nichts vom Dasein eines Sees erfuhr. Diese Angabe ist völlig übereinstim­ mend mit der, die ich 35 Jahre später in Esmeralda vernommen habe, wo nochjedermann von DonApollinario spricht und wo man unablässig Reisen jenseits der Einmündung des Gehette ausführt. Die Wahrscheinlichkeit einer Tatsache wird schwer erschüttert, wenn man beweisen kann, daß sie da unbekannt ist, wo man sie zunächst kennen müßte, und wenn die, welche sie melden, einander widersprechen, nicht etwa nur in Nebendingen, sondern in den wichtigsten Umständen. Ich will mich nicht weiter in eine rein geographische Erörterung einlassen; ich werde in der Folge zeigen, wie die Irrtümer der neueren Karten aus der Gewohn­ heit, sie den älteren nachzuzeichnen, entstanden sind; wie Portagen als Stromverzweigungen genommen und wie Flüsse, von den Indianern große Gewässer genannt, in Seen verwandelt worden sind; wie zwei dieser Seen (der Cassipa und der Parima) seit dem 16.Jahrhundert verwechselt und ver­ setzt wurden; und wie endlich in den Namen der Zuflüsse des Rio Branco der Schlüssel zu den meisten dieser veralteten Irrtümer gefunden werden kann. Im Augenblick, wo wir uns einschiffen wollten, drängten sich die Ein­ wohner herbei, die sich Weiße nennen und zur spanischen Rasse zählen. Diese guten Leute beschworen uns, beim Statthalter in Angostura ihre Rückkehr in die Steppen (Llanos) [Savannen] zu erwirken oder, falls ihnen diese Gunst versagt würde, doch wenigstens die Versetzung in die Missionen am Rio Negro, in ein kühleres und von Insekten weniger geplagtes Land. "Wie schwer auch unsere Vergehungen gewesen sein mögen, wir haben dafür in den zwanzigjährigen Qualen dieser Moskitoschwärme gebüßt." Ich habe mich in einem der Regierung eingereichten Bericht über die industriellen

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und kommerziellen Verhältnisse dieser Landschaften für die Unglücklichen verwandt; meine Versuche sind aber fruchtlos geblieben. Die Regierung war zwar zur Zeit meiner Reise zu einem gemäßigten und im allgemeinen milden Verfahren geneigt, wer aber mit dem zusammengesetzten Räderwerk der alten spanischen Monarchie bekannt ist, der weiß auch, wie geringen Einfluß die Stimmung des Ministeriums auf den Wohlstand der Bewohner am Orinoco, in Neu-Californien und auf den Philippinen ausübte. Wenn die Reisenden einzig auf ihre Empfindung und ihr Gefühl Rücksicht neh�n, so widersprechen sich ihre Ansichten über die Menge der Moskitos ebenso wie über die Zu- und Abnahme der Wärme. Die Disposition unserer Organe, die Bewegung der Luft, der Grad ihrer Trockenheit oder Feuchtig­ keit, ihre elektrische Spannung, tausend Umstände tragen gleichzeitig bei, uns Hitze und Insekten mehr oder weniger beschwerlich zu machen. Meine Reisegefährten meinten alle, in Esmeralda sei die Qual der Moskitos größer als an den Ufern des Casiquiare und sogar auch in den beiden Missionen der großen Katarakte. Weil ich die Hitze der Luft besser ertrug als sie, kam mir der Insektenreiz in Esmeralda geringer vor als am Eingang des oberen Ori­ noco. Wir gebrauchten eine kühlende Lotion zum Waschen, denn der Saft der Zitronen und mehr noch der der Ananas mildern das Jucken der alten Stiche merklich. Ohne die Geschwulst zu mindern, machen sie diese we­ niger schmerzhaft. Wenn man von diesen leidigen Insekten der heißen Länder reden hört, begreift man nicht leicht, wie ihre Abwesenheit oder viel­ mehr ihr unerwartetes Verschwinden Besorgnisse erregen könnte. Die Ein­ wohner von Esmeralda erzählten uns, im Jahre 1795 sei eine Stunde vor Son­ nenuntergang, wo die Moskitos eine dichte Wolke bilden, die Luft plötzlich 20 Minuten lang von ihnen freigeblieben. Kein einziges Insekt konnte wahr­

genommen werden, und doch war der Himmel unbewölkt und kein Wind verkündete Regen. Man muß in diesen Gegenden gelebt haben, um sich einen Begriff von dem Erstaunen zu machen, welches das einmalige Ver­ schwinden dieser Insekten verursachen konnte. Man beglückwünschte sich gegenseitig; man befragte sich, ob dieses Glück und diese Milderung der Qual

(felicidad y alivio)

wohl einige Dauer haben möchte. Bald aber, statt

die Gegenwart zu genießen, überließ man sich ängstlichen Besorgnissen: Man glaubte, die Ordnung der Natur habe sich umgekehrt. Greise Indianer, die Gelehrten des Landes, behaupteten, das Verschwinden der Moskitos müsse der Vorläufer eines heftigen Erdbebens sein. Der Streit wurde mit Hitze geführt; man lauschte auf jedes bewegte Laub der Bäume, und als die Luft sich von neuem mit Insekten füllte, freute man sich ganz herzlich über ihre Rückkehr. Welche Veränderung der Atmosphäre hat diese Erscheinung verursacht, die mit der periodischen Folge der einen Insektenart auf die an­ dere nicht verwechselt werden darf? Wir waren außerstande, diese Frage zu beantworten, aber die lebhafte Erzählung der Eingeborenen fesselte unsere

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Aufmerksamkeit. Wir glaubten, den Menschen zu sehen, wie er, mißtrauisch und der Zukunft ungewiß, sich vergangene Plagen zurückwünscht. Bei unserer Abreise von Esmeralda war die Witterung stürmisch. Der Gipfel des Duida erschien in Wolken gehüllt; diese schwarzen und dichten Dunstmassen hielten sich noch in einer Höhe von mehr als 900 Toisen über den umliegenden Ebenen. Bei der Bestimmung der mittleren Höhe der Wolken, das heißt ihrer unteren Schicht in den verschiedenen Himmelsstri­ chen, darf man die sporadisch vorkommenden Gruppen nicht mit den Dunstdecken verwechseln, welche in ausgedehnten Massen über den Ebenen schwebend an einer Bergkette lehnen. Von diesen letzteren nur lassen sich zuverlässige Resultate angeben; die abgesonderten Wolken­ gruppen stürzen sich oft in die Talgründe allein infolge absteigender Strö­ mungen. Wir haben dergleichen in der Nähe der Stadt Caracas bei 500Toisen über der Meeresfläche gesehen, obgleich nicht leicht angenommen werden kann, daß die Wolken, welche man über den Küsten von Cumana und der Margarita-Insel wahrnimmt, sich auf so geringer Höhe halten können. Das Gewitter um den Gipfel des Duida stieg nicht ins Tal des Orinoco hinab; überhaupt haben wir in diesem Tal jene heftigen elektrischen Explosionen nicht wahrgenommen, die den Reisenden, der von Cartagena nach Honda den Rfo Magdalena hinauffährt, fast jede Nacht in Schrecken versetzen. Es scheint, als ob in einer flachen Landschaft die Gewitter regelmäßiger der Furche oder dem Bett eines großen Stromes folgen, als es in einer unregel­ mäßig mit Bergen umgebenen Landschaft der Fall ist, die eine vielfache Verzweigung von Seitentälern bietet. Wir beobachteten mehrmals die Tem­ peratur des Wassers des Orinoco an seiner Oberfläche, während das T her­ mometer sich in freier Luft auf 30,3° hielt. Sie betrug nur 26 Centesimal­ Grade und war demnach um 3° niedriger als in den großen Katarakten, um 2o höher als die Temperatur der Gewässer des Rio Negro. In der gemä­ ßigten Zone, in Europa, erreichen die Donau und die Eibe mitten im Sommer nur 17 bis 19°. Im Orinoco konnte ich niemals zwischen der Wärme des Wassers am Tag und bei Nacht einen Unterschied finden, wenn ich nicht etwa das T hermometer an solchen Flußstellen eintauchte, wo das Wasser sehr untief, äußerst langsam über ansehnlich breite und sandige Ufer hinfloß, wie dies in Uruana und nahe den Mündungen des Apure der Fall ist. Obgleich unter einem meist bedeckten Himmel in den Wäldern von Guayana die Strahlung des Bodens sehr geschwächt ist, vermindert sich die Temperatur der Luft zur Nachtzeit merklich. Die Oberfläche des Wassers ist dann wärmer als der umliegende Boden; und wenn die Mischung zweier durch Feuchtigkeit fast gesättigter und über dem Wald sowohl als über dem Flußbett schwebender Luftmassen keinen fühlbaren Nebel erzeugt, mag dieser Umstand schwerlich der mangelnden Nachtkühle zugerechnet werden. Während meines Aufenthalts an den Gestaden des Orinoco und

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des Rio Negro war das Flußwasser öfters um 2 bis 3° wärmer als die nächt­ liche Temperatur der windstillen Luft. Nach vierstündiger Fahrt den Orinoco hinab trafen wir am Ort der Gabel­ teilung ein. Unser Biwak wurde am selben Ufer des Casiquiare errichtet, wo vor wenigen Tagen aller Wahrscheinlichkeit nach die Jaguare unseren großen Doggenhund entführt hatten. Alle Versuche der Indianer, eine Spur des Tiers zu entdecken, waren ohne Erfolg. Da der Himmel bedeckt blieb, hoffte ich vergeblich auf Sterne; dafür wiederholte ich die in Esmeralda ge­ machte Beobachtung der magnetischen Inklination. Am Fuß des Cerro Duida hatte ich 28,25 Centesimal-Grade wahrgenommen, fast3omehr als in Mandavaca. An der Mündung des Casiquiare fand ich 28,75°. Der Einfluß des Duida erschien damals unmerklich. Das Geschrei der Jaguare wurde die ganze Nacht hindurch gehört. Diese sind ungemein zahlreich in diesen Ge­ genden zwischen dem Cerro Maraguaca, dem Untunin und den Gestaden des Pamoni. Hier findet sich auch der schwarze Tiger, dessen schöne Felle ich in Esmeralda gesehen hatte. Dieses Tier ist durch seine Stärke und Wild­ heit berüchtigt, und es scheint an Größe den gemeinen Jaguar noch zu über­ treffen. Auf dem braunschwarzen Grund seines Fells sind die schwarzen Flecken kaum sichtbar. Die Indianer behaupten, die schwarzen Tiger seien sehr selten; sie vermischten sich mit den gemeinen Jaguaren niemals und "sie bilden eine eigene Rasse". Der Prinz Maximilian von Neuwied, welcher die amerikanische Tiergeschichte durch merkwürdige Beobachtungen be­ reicherte, hat, wie ich glaube, dieselbenAngaben mehr südwärts, im heißen Teil Brasiliens gesammelt. In Paraguay sind Albino-Spielarten der Jaguare gesehen worden; denn diese Tiere, die man die schönen Panther Amerikas nennen könnte, haben zuweilen so blasse Flecken, daß sie auf dem völlig weißen Grund kaum bemerkt werden. Bei den schwarzen Jaguaren ist es dagegen die dunkle Grundfarbe, welche die Flecken verschwinden läßt. Man müßte sich lange Zeit in diesen Gegenden aufhalten und die Indianer von Esmeralda auf der gefährlichen Tigerjagd begleiten können, um über Spielarten und Arten mit Zuversicht zu entscheiden. Bei allen Säugetieren und vorzüglich in der zahlreichen Affen-Familie soll man, wie ich glaube, weniger auf den Übergang einer Farbe zur anderen in einzelnen Individuen achten als auf die Gewohnheit der Tiere, einzeln und in abgesonderten Banden zu leben. Den 24. Mai [1800]. Wir verließen unser Biwak vor Aufgang der Sonne. In einer Felsenbucht, die den Durimundi-Indianern zur Wohnung gedient hatte, war der aromatische Pflanzengeruch so stark, daß er uns bedrückte, obgleich wir, im Freien lagernd und an ein Leben voll Mühseligkeiten ge­ wöhnt, ein nicht gerade sehr reizbares Nervensystem besaßen. Von was für Blüten der aromatische Geruch ausging, konnten wir nicht entdecken. Der Wald war völlig unzugänglich. Herr Bonpland glaubte, es dürften sich große

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Büschel Pancratium oder andere Lilienpflanzen in den nahen Sümpfen ver­ bergen. Mit der Strömung den Orinoco hinabfahrend, kamen wir zunächst bei der Mündung des Rio Cunucunumo, danach beim Guanami und Puru­ name vorbei. Die beiden Ufer des Hauptflusses sind völlig öde; nordwärts erheben sich hohe Berge; südwärts dehnt sich eine unabsehbare weite Ebene über die Quellen des Atacavi hinaus, welcher weiter unten den Namen Atabapo erhält. Der Anblick eines Flusses, auf dem man nicht einmal eine Fischerpiroge antrifft, hat etwas Trauriges und Niederschla­ gendes. Unabhängige Völkerschaften, die Abirianos und die Maquiritares, wohnen in diesem Bergland; in den benachbarten, von Casiquiare, Ata­ bapo, Orinoco und Rio Negro eingefaßten Savannen dagegen wird heutzu­ tage keine Spur menschlicher Wohnungen angetroffen.

[Indianische Felszeichnungen] Ich sage, heutzutage; denn hier wie in anderen Gegenden von Guayana finden sich rohe Bilder von Sonne, Mond und Tieren in den härtesten Granit­ felsen eingehauen, die das frühere Dasein eines Volkes belegen, welches von denen, die wir an den Ufern des Orinoco kennengelernt haben, merklich verschieden war. Diese symbolischen Zeichen gleichen nach den Angaben sowohl der Eingeborenen als auch der einsichtigsten Missionare denen völlig, welche wir 100

Lieues

weiter nördlich in der Nähe von Caycara, der

Mündung des Rio Apure gegenüber, gesehen haben. Diese Überreste einer früheren Kultur sind um so auffallender, als sie in weiter ausgedehntem Raum erscheinen und in merkwürdigerem Kontrast zu der Verwilderung stehen, in die wir alle Horden der heißen und östlichen südamerikanischen Landschaften seit der Eroberung versunken sehen. Beim weiteren Vordringen aus den Ebenen des Casiquiare und Conorichite trifft man 140

Iieues östlich,

zwischen den Quellen des Rio Branco und des

Rio Essequibo, gleichfalls in Felsen eingegrabene symbolische Figuren an. Ich finde diese Tatsache, die ich für sehr bemerkenswert halte, in dem Tage­ buch des Reisenden Horstmann bestätigt, dessen von der Hand des be­ rühmten d'Anville gefertigte Abschrift vor mir liegt. Dieser Reisende, den zu erwähnen ich in diesem Werk schon mehrmals Anlaß hatte, ist den Rupu­ nuvini

[

=

Rupununi], einen der Zuflüsse des Essequibo, hinaufgefahren.

Hier, wo sich der Strom, mit kleinen Kaskaden angefüllt, zwischen den Bergen von Macarana schlängelt, fand er, bevor er zum Amucu-See ge­ langte, "mit Figuren oder" (wie er sich im Portugiesischen ausdrückt) "mit

varias letras

bedeckte Felsen". Wir nehmen das Wort Buchstaben nicht in

seiner eigentlichen Bedeutung. Auch unfern vom Culimacare-Fels, an den Ufern des Casiquiare, und im Hafen von Caycara, am unteren Orinoco,

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wurden uns Zeichnungen gezeigt, die als in gerader Linie stehende Buch­ staben genommen wurden. Es waren jedoch nur unförmige Figuren, welche Himmelskörper, Tiger, Krokodile, Boa-Schlangen und zur Bereitung des Maniocmehls gebräuchliche Werkzeuge darstellten. Unmöglich ließen sich in diesen bemalten Felsen (diesen Namen geben die Eingeborenen den mit Bildern besetzten Massen) symmetrische Anordnung und regelmäßige Schriftzüge wahrnehmen. Die durch den Missionar Fray Rarnon Bueno in den Bergen von Uruana entdeckten Zeichnungen nähern sich einer alphabe­ tischen Schrift schon mehr; doch bleiben auch hinsichtlich dieser, wie ich an­ derswo gezeigt habe, noch manche Zweifel übrig. Wie immer es sich mit der Bedeutung dieser Figuren und der Absicht, womit sie in den Granit gehauen wurden, verhalten mag, so verdienen sie immerhin die teilnehmende Beachtung derer, welche sich mit der philoso­ phischen Geschichte der Menschen beschäftigen. Reist man von den Küsten von Caracas nach dem Äquator hin, so ist man anfangs geneigt, zu glauben, diese Gattung von Denkmälern sei der Bergkette von Esmeralda eigentüm­ lich; sie finden sich im Hafen von Sedeiio, in der Nähe von Caycara, in San Raphael del Capuchino, Cabruta gegenüber, und fast allenthalben, wo der Granitfels in der Savanne, die sich vom Cerro Curiquima gegen die Gestade des Caura ausdehnt, nackt zutage liegt. Die Völker vom Tamanakenstamm, die alten Einwohner dieser Landschaften, besitzen eine örtliche Mythen­ lehre und Überlieferungen, die sich auf diese ausgehauene Felsen beziehen. Amalivaca, der Vater derTamanaken, das heißt der Schöpfer des Menschen­ geschlechts Gedes Volk hält sich für den Urstamm der übrigen Völker), traf in einer Barke ein zur Zeit der großen Überschwemmung, welche dieWas­ serzeit heißt, als die Fluten des Ozeans sich im Binnenland, an den Bergen von Encamarada zerschlugen. Damals ertranken alle Menschen oder, um es richtiger zu sagen, alle Tamanaken, mit Ausnahme eines Mannes und einer Frau, die sich auf einen unweit von den Gestaden des Asiveru, den die Spa­ nier Cuchivero nennen, befindlichen Berg flüchteten. Dieser Berg ist der Ararat der semitischen Völker, der T laloc oder Colhuacan der Mexicaner. Amalivaca hat auf seiner Fahrt in der Barke die Bilder von Sonne und Mond in den gemalten Felsen

(tepumereme) eingegraben. Granitblöcke, die über­

einandergelagert sind und eine Art Höhlung bilden, heißen noch heutzutage das Haus oder die Bleibe des Ahnherrn der Tamanaken

[Amalivaca-jeu­ titpe]. In gleicherWeise wird unfem dieser Höhle in den Ebenen von Maita

ein großer Stein gezeigt, der, wie die Eingeborenen sagen, ein musikalisches Instrument, Amalivacas Trommel [Amalivaca-chambural], gewesen ist. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß diese Person aus der Heldenzeit einen Bruder, Vochi, hatte, der ihr behilflich war, der Erdoberfläche die ge­ genwärtige Gestalt zu geben. Die Tamanaken erzählen, die zwei Brüder hätten in ihrem System der Perfektibilität anfänglich den Orinoco so ein-

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richten wollen, daß man für Aufwärts- und Abwärtsfahren immer dem Strom folgen könnte. Hierdurch hofften sie, den Leuten das Rudern beim Hinauffahren der Flüsse nach ihren Quellen zu ersparen; aber wie groß auch die Macht dieser Weltreformatoren war, so konnte sie doch nie so weit gehen, dem Orinoco eine doppelte Neigung zu geben, und sie sahen sich ge­ nötigt, auf die Lösung der seltsamen hydraulischen Aufgabe zu verzichten. Amalivaca besaß Töchter, die eine sehr große Neigung für das Reisen hatten. Die Überlieferung meldet, ohne Zweifel in bildlichem Sinn, er habe ihnen die Beine zerschlagen, um sie an ein sitzendes Leben zu gewöhnen und sie zu zwingen, das Land derTamanaken zu bevölkern. Nachdem er in Amerika, diesseits des großen Wassers, alles in Ordnung gebracht hatte, schiffte Amalivaca sich wieder ein und kehrte "ans andere Ufer", an den Ort, von dem er gekommen war, zurück. Seit die Eingeborenen von Missio­ naren besucht werden, bilden sie sich ein, Buropa sei dieses andere Ufer. Einer von ihnen hatte die naive Frage an den Pater Gili gerichtet, ob er dort den großen Amalivaca, den Vater derTamanaken, gesehen habe, von dem die symbolischen Zeichnungen auf den Felsen herrühren. Diese Angaben von einer großen Wasserflut; dieses auf dem Gipfel eines Berges gerettete Menschenpaar, das die Früchte der Mauritia-Palme rück­ lings warf, um die Erde neu zu bevölkern; diese NationalgottheitAmalivaca, die über das Wasser aus einem fernen Land kommt, die Naturgesetze vor­ schreibt und die Völker auf ihre Wanderungen zu verzichten zwingt - diese verschiedenen Züge, einer uralten Glaubenslehre verdienen allerdings sorg­ fältige Beachtung. Was die Tamanaken und Völkerstämme, welche der Ta­ manakensprache verwandte Mundarten haben, uns heutzutage erzählen, das ist ohne Zweifel von anderen Völkern, welche vor ihnen in diesen Ge­ genden gelebt haben, auf sie übergegangen. Der Name Amalivaca ist auf einem über 5000 Quadratlieues weiten Raum verbreitet; er findet sich als Be­ zeichnung des Vaters des Menschen (unseres Urvaters ) sogar unter den Cari­ benvölkern, deren Mundart derTamanakensprache nicht näher verwandt ist als das Deutsche der griechischen, persischen oder Sanskritsprache. Amali­ vaca ist nicht ursprünglich der große Geist, der Alte vom Himmel, das un­ sichtbare Wesen, dessen Verehrung aus der der Naturkräfte hervorgeht, wenn sich die Völker unmerklich zum Gefühl der Einsicht dieser Kräfte er­ heben; er ist vielmehr eine Person aus der Heldenzeit, ein Mensch, welcher, aus fernem Ausland kommend, im Land der Tamanaken und Cariben ge­ lebt, symbolische Zeichen in die Felsen eingegraben hat und hernach ver­ schwunden ist, indem er über das Weltmeer in das zuvor von ihm bewohnte Land zurückkehrte. Die Vermenschlichung der Gottheit geht aus zwei ent­ gegengesetzten Quellen hervor, und dieser Gegensatz scheint weniger eine Folge der verschiedenen Grade der Geisteskultur als vielmehr ungleicher Anlagen der Völker zu sein, von denen die einen sich dem Mystizismus zu-

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neigen, während andere mehr von Sinnlichkeit und äußeren Eindrücken be­ herrscht werden. Bald läßt der Mensch die Gottheiten auf die Erde nieder­ steigen, indem er ihnen die Sorge der Regierung und Gesetzgebung der Völker überträgt, wie es die morgenländischen Mythen tun; bald sind es, wie bei den Griechen und anderen abendländischen Nationen, die ersten Selbst­ herrscher, die Priesterkönige, denen man, was sie Menschliches haben, ab­ streift, um sie zum Rang von Nationalgottheiten zu erheben. Amalivaca war ein Ausländer wie Manco-Capac, Bochica und Quetzalc6huatl, diese außer­ ordentlichen Menschen, die im alpinisehen oder zivilisiertenTeil Amerikas, auf den Plateaus von Peru, Neu-Granada und Amihuac, die Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft getroffen, die Opfer angeordnet und die Reli­ gionsorden gestiftet haben. Der Mexicaner Quetzalc6huatl, dessen Ab­ kömmlinge Moctezuma in den Gefährten von Cortes zu erkennen geglaubt hat, stellt noch eine Ähnlichkeit mehr mit Amalivaca dar, dieser mythologi­ schen Person des barbarischen Amerika oder der Ebenen der heißen Zone. In vorgerücktem Alter verließ der Oberpriester von Tula die Landschaft Amihuac, die er mit seinen Wundern erfüllt hatte, um in ein unbekanntes Land, das den Namen T lalpallan führt, zurückzukehren. Als der Mönch Bernhard von Sahagun in Mexico eintraf, waren genau dieselben Fragen an ihn gerichtet worden, die zweihundert Jahre später dem Missionar Gili in den Wäldern am Orinoco gestellt wurden. Man wollte wissen, ob er vom "jenseitigen Gestade", aus dem Land komme, wohin Quetzalc6huatl ge­ gangen war. Wir haben oben gesehen, daß die Region der behauenen Felsen oder der bemalten Steine sich weit über den unteren Orinoco, über die Gegend (Breite 7o 5' bis 7o 40', Länge 68° 50' bis 69° 45') hinaus erstreckt, zu welcher gehört, was man den Lokalmythos derTamanaken nennen kann. Dieselben in Felsen gehauenen Bilder werden auch zwischen dem Casiquiare und dem Atabapo (Breite 2° 5' bis 3° 20', Länge 69 bis 70°), zwischen den Quellen des Essequibo und dem Rio Branco (Breite 3° 50', Länge 62° 32') angetroffen. Ich will nicht behaupten, daß diese Figuren den Beweis der Kenntnis des Eisengebrauchs liefern oder daß sie eine sehr fortgeschrittene Kultur be­ weisen; doch wollte man auch annehmen, daß sie, weit davon entfernt, eine symbolische Bedeutung zu haben, nur ein Zeitvertreib müßiger Jägervölker waren, so muß man doch immerhin das frühere Dasein einer Menschenrasse anerkennen, die von den gegenwärtigen Bewohnern der Gestade des Ori­ noco und des Rupunuri sehr verschieden gewesen ist. Je weniger Erinne­ rungen von erloschenen Geschlechtern in einem Land angetroffen werden, desto wichtiger ist es, auch die geringsten Spuren, welche als Denkmäler gelten können, zu verfolgen. Die östlichen Ebenen des nördlichen Amerika bieten nur jene außerordentlichen Umschanzungen dar, welche an die befe­ stigten Lager (die angeblichen Städte von ungeheurem Umfang) der alten

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und neuen Nomadenvölker Asiens erinnern. In den östlichen Ebenen Süd­ amerikas haben der kräftige Pfianzenwuchs, das heiße Klima und die ihre Gaben verschwenderisch spendende Natur den Fortschritten menschlicher Zivilisation mächtigere Hindernisse entgegengesetzt. Zwischen dem Ori­ noco und dem Amazonenstrom habe ich von keiner Erdmauer, von keinen Dammresten, von keinem Grab-Tumulus reden hören. Die Felsen allein zeigen in einer weiten Landausdehnung rohe Züge, welche in einer unbe­ kannten Zeit durch Menschenhand gegraben wurden und sich religiösen Ü berlieferungen anschließen. Wenn die Bewohner beider Amerika den Boden, der sie ernährt, einst weniger gleichgültig betrachten werden, so mögen wohl auch die Spuren vergangener Jahrhunderte sich zusehends ver­ vielfältigen. Ein schwacher Schimmer wird sich alsdann über die Geschichte der barbarischen Völker, über jene steilen Felsenwände verbreiten, die uns Zeugnis ablegen, daß gegenwärtig verödete Landschaften vormals von täti­ geren und verständigeren Menschenstämmen bewohnt waren. Ich habe geglaubt, ehe ich den wildestenTeil des oberen Orinoco verlasse, Tatsachen erwähnen zu sollen, die uns, wenn sie im Zusammenhang be­ trachtet werden, bedeutsam erscheinen können. *

Was ich über unsere Fahrt von Esmeralda bis zur Mündung des Atabapo melden könnte, wäre eine dürre Namensliste von Flüssen und unbewohnten Orten. Zwischen dem 24. und 27. Mai [1800] haben wir nur zweimal an Land übernachtet, weil wir zuerst bei der Mündung des Rfo Jao und nachher un­ terhalb der Mission von Santa Barbara, auf der Insel Minisi, unser Biwak aufschlugen. Weil das Flußbett des Orinoco von Klippen frei ist, ließ uns der indianische Pilot die Nacht durch unsere Fahrt fortsetzen, indem er die Pi­ roge der Strömung überließ. DieserTeil meiner Karte zwischen dem Jao und dem Ventuari ist demnach hinsichtlich all dessen, was die Krümmungen des Orinoco betrifft, keineswegs genau. Nach Abzug des Verweilens am Ge­ stade, um unseren Reis und die Bananen, die uns zur Nahrung dienten, zu­ zubereiten, haben wir nur 35 Stunden auf den Weg von Esmeralda nach Santa Barbara verwandt. Das Chronometer gab mir für die Länge dieser Mission 70° 3'; wir hatten also beinahe 4 Meilen pro Stunde zurückgelegt; eine Geschwindigkeit (von 1,05 Toisen pro Sekunde), die zum Teil der Strö­ mung, zum Teil den Ruderern zugerechnet werden muß. Der Behauptung der Indianer zufolge steigen die Krokodile im Orinoco nicht über die Mün­ dung des Rfo Jao hinauf, und die Seekühe (Iamantins) werden nicht einmal über die Katarakte von Maipures hinauf angetroffen. Man kann sich hin­ sichtlich der Krokodile leicht täuschen. Selbst der erfahrenste Reisende, der sie oft erblickt, kann einen Baumstamm von 12 oder 15 Fuß Länge für ein

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schwimmendes Krokodil halten, von dem nur Kopf und Schwanz über dem Wasser emporragen. Die Mission von Santa Barbara liegt etwas westlich von der Mündung des Rio Ventuari oder Venituari, der im Jahre 1800 vom Pater Francisco Valos untersucht worden ist. In diesem kleinen Dorf von 120 Einwohnern fanden wir einige Spuren von Gewerbefleiß. Die Erzeugnisse dieser Industrie kommen jedoch nicht den Eingeborenen, sondern nur den Mönchen zugute oder, wie man hierzulande sagt, der Kirche und dem Kloster. Eine große Lampe, aus massivem Silber und auf Kosten der Neubekehrten angeschafft, wird, wie man uns sagte, aus Madrid erwartet. Es steht zu hoffen, daß, wenn sie angekommen ist, man auch daran denken wird, die Indianer zu kleiden, ihnen einiges Ackerbaugerät zu verschaffen und für ihre Kinder eine Schule einzurichten. Obgleich in den Savannen um die Mission her einige Ochsen gehalten werden, benutzte man sie kaum zum Drehen der Mühle

(trapiche),

womit der Saft des Zuckerrohrs ausgedrückt wird; dies ist ein Geschäft der Indianer, die unbezahlt arbeiten wie überall, wo sie als Arbeiter im Dienst der Kirche angesehen werden. Am Fuß der Berge von Santa Barbara sind die Weiden nicht so fett wie in Esmeralda, aber vorzüglicher als die von San Fernando de Atabapo. Der Rasen ist kurz und dicht; indessen besteht die Oberfläche des Bodens nur aus trockenem und aridem Granitsand. Diese wenig fruchtbaren Savannen der Ufer des Guaviare, Meta und oberen Ori­ noco sind gleichmäßig der Dammerde beraubt, welche in den benachbarten Wäldern reichlich vorkommt, wie auch ohne die dichte Tonschicht, welche den Sandstein der Llanos oder Steppen Venezuelas deckt. Kleine krautartige Mimosen tragen in dieser Zone zur Viehmast bei, sie werden aber sehr selten zwischen dem Rio Jao und der Mündung des Guaviare.

[Nebenflüsse des unteren Orinoco] In den wenigen Stunden, während denen wir in der Mission von Santa Bar­ bara verweilten, konnten wir ziemlich genaue Nachrichten über den Rio Ventuari einziehen, den ich nach dem Guaviare für den bedeutendsten aller Zuflüsse des oberen Orinoco halte. Diese vormals von den Maipures be­ wohnten Ufer sind noch heute mit zahlreichen unabhängigen Nationen be­ völkert. Wenn man durch die Mündung des Ventuari, der ein mit Palm­ bäumen besetztes Delta bildet, hinauffährt, trifft man ostwärts in zwei Tage­ reisen Entfernung den Cumaruita und den Pani, zwei Zuflüsse, die am Fuß der hohen Berge von Cuneva entspringen. Weiter hinauf westwärts finden sich der Mariata und der Manipiare, an denen die Macos- und Curacicanas­ Indianer wohnen. Die letztere Nation zeichnet sich durch den Fleiß aus, womit sie die Baumwollpflanzung betreibt. Auf einem feindlichen Streifzug

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(entrada)

wurden in einem großen Haus, worin sich

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30 bis 40 Hängematten

von sehr feinem Gewebe fanden, Baumwollgarn, Seilwerk und Fischergerät angetroffen. Die Eingeborenen hatten sich geflüchtet, und der Pater Valor erzählte uns, die ihn begleitenden Indianer der Mission hätten das Haus an­ gezündet, bevor er die Produkte des Gewerbefleißes der Curacicanas retten konnte. Die Neubekehrten von Santa Barbara, welche sich über diese an­ geblichen Wilden weit erhaben dünken, schienen mir ungleich weniger ge­ werbefleißig zu sein. Der Rio Manipiare, einer der Hauptarme des Ventuari, nähert sich gegen seine Quelle hin jenen hohen Bergen, auf deren westli­ chem Abhang der Cuchivero entspringt. Sie sind eine Verlängerung der Kette des Baraguan; hierher hat der Pater Gili das Plateau von Siamaca ver­ legt, dessen gemäßigtes Klima er rühmt. Der obere Teil des Rfo Ventuari, jenseits des Zuflusses des Asisi und der Großen Raudales, ist noch beinahe völlig unbekannt. Nur soviel habe ich in Erfahrung gebracht, daß der obere Ventuari dermaßen stark ostwärts geneigt ist, daß die alte Straße von Esme­ ralda zum Rio Caura das Strombett durchschneidet. Infolge der Nähe der Nebenflüsse des Caronf, des Caura und des Ventuari kamen seit Jahrhun­ derten die Cariben an den oberen Orinoco. Das kriegerische und handeltrei­ bende Volk kam vom Rio Caronf durch den Paragua zu den Quellen des Pa­ ruspa hinauf. Eine Portage brachte sie zum Chavarro, einem östlichen Zufluß des Rfo Caura; sie fuhren mit ihren Pirogen zuerst diesen Fluß und hernach den Caura selbst bis zur Einmündung des Erebato hinab. Nachdem sie diesen südwestwärts hinaufgefahren waren, gelangten sie nach dreitä­ giger Querung weitläufiger Savannen über den Manipiare in den großen Rfo Ventuari. Ich zeichne diese Route nicht nur genau nach, weil auf ihr der Handel mit eingeborenen Sklaven getrieben wurde, sondern auch, um die Männer, welche einst das befriedete Guayana verwalten werden, auf die große Bedeutung dieses Labyrinthes von Flüssen aufmerksam zu machen. Durch vier Zuflüsse des Orinoco, die größten, welche dieser majestäti­ sche Fluß zur Rechten aufnimmt, durch den Caronf und den Caura, den Pa­ damo und den Ventuari, wird die europäische Zivilisation dieses Wald- und Bergland durchdringen, dessen Oberfläche

1 0600 Quadratlieues beträgt und

das auf der Nord-, West- und Südseite vom Orinoco eingefaßt ist. Schon haben die katalonischen Kapuziner und die Franziskaner von Andalusien und Valencia Niederlassungen in den Tälern des Caronf und des Caura ge­ gründet. Es war natürlich, daß die Zuflüsse des unteren Orinoco als die der Küste und der kultivierten Landschaft Venezuelas zunächst gelegenen von den Missionaren auch zuerst besucht wurden und daß sie mit ihnen einige Keime geselliger Lebensweise erhielten. Bereits ziner-Niederlassungen am Rfo Caronf

1797 umfaßten die Kapu­ 16600 Indianer, die ein stilles Leben

in Dörfern führten. Am Rfo Caura befanden sich damals unter der Obhut der Franziskaner, gleichfalls amtlichen Zählungen zufolge, nur 640. Dieser

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Unterschied beruht auf den weit ausgedehnten und vortrefflichen Vieh­ weiden an den Gestaden des Caroni, des Upatu und des Cuyuni, auf der ge­ ringen Entfernung der Mündung des Orinoco sowie der Hauptstadt Gua­ yanas von den Missionen der Kapuziner - schließlich auf dem inneren Ver­ hältnis, der industriellen Tätigkeit und dem merkantilischen Geist der kata­ lonischen Mönche. Dem Caroni und dem Caura, welche nordwärts fließen, stehen gegenüber die zwei großen Zuflüsse des oberen Orinoco, deren Ge­ wässer südwärts abfließen, der Padamo und der Ventuari. Bis jetzt steht noch kein Dorf an ihren Ufern, obgleich beide dem Ackerbau und der Vieh­ zucht Vorteile verheißen, die man vergeblich im Tal des großen Stroms, an den sie ihre Gewässer abgeben, suchen würde. Im Mittelpunkt dieser wilden Landschaften, worin die Flüsse noch lange Zeit die einzigen Straßen sein werden, müssen alle Pläne der Zivilisation auf eine genaue Kenntnis des hy­ draulischen Systems und der relativen Wichtigkeit der Zuflüsse gegründet sein. *

Am 26. Mai

[1800] vormittags verließen wir das Dörfchen Santa Barbara,

wo wir verschiedene Indianer von Esmeralda getroffen hatten, die der Mis­ sionar zu ihrem großen Leidwesen berufen hatte, um ihm eine Wohnung von zwei Stockwerken aufzuführen. Den ganzen Tag über genossen wir die Aus­ sicht der schönen Berge von Sipapo, welche sich in einer Entfernung von mehr als

18lieues nordnordwestlich darstellen.

Der Pflanzenwuchs der Ge­

stade des Orinoco ist in dieser Gegend ungemein wechselnd und mannig­ faltig. Die baumartigen Farnkräuter steigen von den Bergen herab, um sich mit den Palmen der Ebene zu vermischen. Die Nacht über biwakten wir auf der Insel Minisi; und nachdem wir bei den Ausmündungen der kleinen Flüsse von Quejanuma, Ubua und Masao vorbeigekommen waren, trafen wir am 27. Mai in San Fernando de Atabapo ein. Einen Monat zuvor hatten wir auf der Hinreise zum Rio Negro im selben Haus des Vorstehers der Mis­ sionen gewohnt. Damals nahmen wir unseren Weg südwärts, über den Ata­ bapo und den Temi; jetzt kamen wir von Westen her, nach einem langen, durch den Casiquiare und den oberen Orinoco führenden Umweg. Während dieser langen Abwesenheit waren dem Vorsteher der Missionen der eigent­ liche Zweck unserer Reise, meine Verhältnisse zur hohen Geistlichkeit in Spanien und die Kenntnis, die ich mir vom Zustand der Missionen verschafft hatte, höchst bedenklich vorgekommen. Als wir im Begriff standen, nach Angostura, der Hauptstadt von Guayana, abzureisen, drang er sehr nach­ drücklich in mich, ich möchte ihm eine schriftliche Erklärung aushändigen, worin die gute Ordnung, welche in den christlichen Niederlassungen am Ori­ noco herrsche, und die Milde, womit sie die Eingeborenen überhaupt be­ handeln, bezeugt würden. Dieser durch einen sehr lobenswerten Eifer für

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die Vorteile des Ordens veranlaßte Schritt setzte mich in einige Verlegenheit. Ich erwiderte, das Zeugnis eines im Schoße der kalvinistischen Kirche gebo­ renen Reisenden könnte doch kein Gewicht haben bei den endlosen Streitig­ keiten, welche in der Neuen Welt überall zwischen der weltlichen und geist­ lichen Gewalt bestünden. Auch gab ich zu verstehen, daß eine Schrift, die wir gemeinsam an den Ufern des Atabapo ausfertigen würden, wohl kaum als eine von meiner Seite ganz freiwillige Handlung angesehen werden dürfte, während ich mich 200 lieuesvon den Küsten entfernt, im Mittelpunkt der Missionen und, wie die Bewohner von Cumami etwas boshaft sagen, en el poder de los frailes [in der Gewalt der Mönche] befände. Den Vorsteher schreckte der Gedanke nicht, einem Kalvinisten Gastfreundschaft erwiesen zu haben. Ich zweifle, daß vor mir ein solcher je in den Missionen des hei­ ligen Franziscus gesehen worden ist, aber den Missionaren in Amerika fällt Unduldsamkeit nicht zur Last. Die Ketzereien des alternden Europa be­ schäftigen sie keineswegs, außer etwa auf der Grenze des holländischen Gua­ yana, wo die Prediger sich auch mit dem Missionswesen abgeben. Der Vor­ steher bestand nicht weiter auf der Schrift, die ich unterzeichnen sollte, und wir benutzten die letzten Augenblicke unseres Beisammenseins zu freimü­ tigem Gespräch über den Zustand des Landes und über die Hoffnung, den Indianern die Vorteile der Zivilisation zuzuführen. Ich machte auf die Nach­ teile aufmerksam, welche die entradas oder feindlichen Streifzüge verur­ sachten, auf den geringen Nutzen, der den Einwohnern von ihrer Arbeit zu­ wächst, auf die Reisen, wozu sie für Zwecke, die ihnen fremd sind, ge­ zwungen werden, endlich auf das Bedürfnis einer eigenen Anstalt, worin die jungen Ordensmänner, denen die Verwaltung zahlreicher Gemeinden über­ tragen werden soll, einige Bildung erhalten möchten. Der Vorsteher schien mich wohlwollend anzuhören. Er mag aber doch wohl gewünscht haben (aus Eifer für die Naturgeschichte, ohne Zweifel), daß die Leute, welche Pflanzen sammeln und Fossilien [Minerale] untersuchen, sich der unzie­ menden Teilnahme am Wohl der kupferfarbenen Rasse und der menschli­ chen Angelegenheiten überhaupt enthalten sollten. Dieser Wunsch wird ziemlich allgemein auf beiden Halbkugeln angetroffen, überall, wo die Re­ gierungen Sorgen hegen, weil sie fühlen, daß ihre Stellung schwankend und unsicher ist. In San Fernando de Atabapo blieben wir einen einzigen Tag, obgleich dieses durch die Pihiguaopalme mit Pfirsichfrüchten verschönerte Dorf ein überaus angenehmer Aufenthalt zu sein schien. Zahme pauxis flogen um die Hütten der Indianer. In einer trafen wir eine höchst seltene Affenart, die an den Ufern des Guaviare zu Hause ist; den caparro nämlich, welchen ich in meinen >Observations de Zoologie et d'Anatomie comparee< beschrieben habe und aus dem Herr Geoffroy eine neue Gattung (Lagothrix) bildet, die zwischen den Atelen und Alouaten steht. Der Pelz dieser Affen ist von mar-

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dergrauer Farbe und ausnehmend weich anzufühlen. Der caparro unterschei­ det sich nebenbei durch seinen runden Kopf und den sanft-angenehmenAus­ druck seines Gesichts. Der Missionar Gili ist, wie ich glaube, der einzige Schriftsteller, der vor mir dieses merkwürdige Tier erwähnt hat, um das die Zoologen nunmehr andere brasilianische Affen zu gruppieren anfangen. Am 27. Mai [1800] reisten wir von San Fernando ab und trafen, von der schnellen Strömung des Orinoco begünstigt, in nicht einmal sieben Stunden an der Mündung des Rio Mataveni ein. Wir übernachteten im Freien, unter­ halb des Granitfelsens el Castillito, der mitten aus dem Fluß emporragt und durch seine Form an den Mäuseturm im Rhein vor Bingen erinnert. Hier wie an den Ufern des Atabapo wurden wir durch denAnblick einer kleinen Art der Drosera überrascht, welche völlig das Aussehen der europäischen besitzt; der Orinoco war die Nacht über beträchtlich angestiegen, und seine viel schnellere Strömung brachte uns innerhalb zehn Stunden von der Mün­ dung des Mataveni zum großen oberen Katarakt von Maipures oder Quit­ tuna. Die Entfernung betrug 13/ieues. Mit Vergnügen erinnerten wir uns der Stellen, wo wir bei der Flußhinauffahrt biwakiert hatten; wir trafen die In­ dianer wieder an, die unsere Begleiter auf den Herborisationen gewesen waren, und wir besuchten nochmals die schöne Quelle, welche hinter der Wohnung des Missionars aus aufgeschichtetem Granitfels entspringt; ihre Temperatur hatte sich nicht um 0,3° verändert. Von der Einmündung des Atabapo bis zu der desApure reisten wir wie in einem durch langenAufent­ halt bekannten Land. Wir fanden uns auf die gleiche magere Kost be­ schränkt, wir wurden von den gleichen Moskitos gestochen; aber die Gewiß­ heit, in wenigen Wochen das Ziel unserer physischen Leiden zu erreichen, gab uns neuen Mut. Die Passage der Piroge durch die großen Katarakte hielt uns zwei Tage in Maipures auf. Der Pater Bernardo Zea, der Missionar bei den rauda/es, wel­ cher unser Begleiter zum Rio Negro gewesen war, wollte, obgleich krank, uns nochmals mit sieben Indianern bis nach Atures begleiten. Einer von diesen, Zerepe, der Dolmetscher, der am Gestade von Pararoma so grausam geschlagen worden war, erregte unsere Aufmerksamkeit durch den Aus­ druck seines düsteren Trübsinns. Wir hörten, er habe die Indianerin einge­ büßt, mit der er verlobt war und die infolge eines falschen, über die Richtung unserer Reise verbreiteten Gerüchtes für ihn verlorenging. In Maipures ge­ boren, war Zerepe bei seinen Verwandten vom Stamm der Macos in den Wäldern erzogen worden. Er hatte ein zwölfjähriges Mädchen mit sich in die Mission gebracht, das. er nach unserer Rückkehr zu den Katarakten ehe­ lichen wollte. Der jungen Indianerin war das Leben der Missionen sehr zu­ wider; ihr wurde gesagt, die Weißen zögen ins Land der Portugiesen (nach Brasilien) und nähmen Zerepe mit sich. Hierdurch in ihren Hoffnungen ge­ täuscht, bemächtigte sie sich eines Kahns, setzte in Begleitung einer ihrerAl-

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tersgenossinnen über den raudal und flüchtete al monte [in den Wald] , um wieder zu den Ihrigen zu kommen. Die Erzählung dieser mutigen Tat war die große Neuigkeit des Ortes; Zerepes Trauer dauerte indes nicht lange. Unter den Christen geboren, war er bis zum Fortfn am Rio Negro gereist und hatte die kastilianische sowohl wie die Sprache der Macos erlernt; er hielt sich des­ halb über die Menschen seines Stammes erhaben und mochte ein im Wald geborenes Mädchen leicht vergessen. Am 31. Mai [1800] kamen wir bei den rapides der Guahibos und von Gar­ cita vorbei. Die mitten aus dem Strom sich erhebenden Inseln glänzten im schönsten Grün. Die Winterregen [der Regenzeit] hatten die Blüten­ scheiden der Vadgiai-Palme entwickelt, deren Blätter senkrecht empor­ steheiL Man mag der Aussichten nicht satt werden, wo Bäume und Felsen der Landschaft jenen großen und ernsten Charakter verleihen, welchen man im Hintergrund der Gemälde von Tizian und Poussin bewundert.

[Die Höhle vonAtaruipe]

Kurz vor Sonnenuntergang landeten wir am östlichen Ufer des Orinoco beim Puerto de la Expedici6n. Dies geschah in der Absicht, die Höhle von Ataruipe zu untersuchen, von der ich früher schon gesprochen habe und die die Begräbnisstätte eines ganzen untergegangenen Volkes zu sein scheint. Ich will versuchen, diese unter den Eingeborenen berühmte Höhle zu be­ schreiben. Mühsam und nicht ohne Gefahr ersteigt man einen steilen und völlig nackten Granitfelsen. Fast unmöglich ließ sich auf der glatten und stark ge­ neigten Oberfläche Fuß fassen, wenn nicht große Feldspatkristalle, die der Zersetzung widerstehen, aus dem Felsen hervorragten und Stützpunkte dar­ böten. Sobald wir den Gipfel des Berges erstiegen hatten, überraschte uns die außerordentliche Ansicht der umliegenden Landschaft. Das schäu­ mende Wasserbett ist mit einem von Palmbäumen bewachsenen Inselarchi­ pel angefüllt. Westwärts, am linken Ufer des Orinoco, dehnen sich die Sa­ vannen des Meta und Casanare aus. Das Ganze glich einem Meer von schön­ stem Grün, dessen nebliger Horizont von den Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet war. Dieses wie eine Feuerkugel über der Ebene schwe­ bende Gestirn, der isoliert stehende Pie von Uniana, der um so höher er­ schien, als seine Umrisse, in Dünste eingehüllt, wie verwischt waren- alles trug dazu bei, die Szene erhaben zu machen. Unsere Blicke tauchten gleichsam unter in dem nahen, tiefen und allseitig geschlossenen Tal. Raub­ vögel und Nachtschwalben schwärmten einzeln durch den unzugänglichen Kessel. Mit Vergnügen verfolgten unsere Blicke ihre beweglichen Schatten, welche langsam über die Felsabhänge l;linglitten.

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Über einen schmalen Kamm gelangten wir auf einen benachbarten Berg, dessen abgerundeter Gipfel ungeheure Granitblöcke trug. Ihre Massen haben über 40 bis 50 Fuß Durchmesser, und ihre Form ist so kugelrund, daß sie den Boden nur mit wenigen Punkten der Oberfläche zu berühren scheinen und man glauben sollte, der geringste Stoß eines Erdbebens müßte hinreichen, um sie in den Abgrund zu wälzen. Ich erinnere mich nicht, eine ähnliche Erscheinung mitten unter den Zersetzungen, welche die graniti­ schen terrains bieten, anderswo gesehen zu haben. Würden diese Steinku­ geln auf einer verschiedenartigen Gebirgsart aufliegen, wie es bei den Jura­ blöcken der Fall ist, ließe sich annehmen, sie wären entweder durch die Wir­ kung der Gewässer abgerundet oder durch die Kraft einer elastischen Flüs­ sigkeit geworfen worden; aber ihr Vorkommen auf dem Gipfel eines gleich­ falls granitischen Hügels macht es wahrscheinlicher, daß sie ihren Ursprung einer fortschreitenden Zersetzung des Gebirges verdanken. Der entlegenste Teil des Tals ist mit dichtem Wald bedeckt. In dieser schat­ tigen und einsamen Gegend am steilen Abhang eines Berges öffnet sich die Höhle von Ataruipe. Es ist aber weniger eine Höhle als ein vorstehender Felsen, in welchen die Wasser eine weite Vertiefung eingegraben haben, als sie in früheren Revolutionen unseres Planeten diese Höhe erreichten. In dieser Grabstätte einer verschwundenen Völkerschaft zählten wir in kurzer Zeit über 600 wohlerhaltene und so regelmäßig geordnete Skelette, daß man sich hinsichtlich ihrer Zahl nicht leicht irren konnte. Jedes Skelett liegt in einer Art Korb, der aus Blattstielen von Palmbäumen geflochten wurde. Diese Körbe, welche die Eingeborenen mapires nennen, haben die Form eines viereckigen Sacks. Ihre Größe ist verschieden nach dem Alter der Leichen; es finden sich auch solche, die für totgeborene Kinder bestimmt waren; wir haben von 10 Zoll bis 3 Fuß, 4 Zoll lange gesehen. Alle diese in sich selbst gekrümmten Skelette sind dermaßen vollständig, daß ihnen keine Rippe und kein Finger fehlt. Die Knochen sind auf drei verschie­ dene Arten präpariert: entweder an Luft und Sonne gebleicht; oder mit

onoto, einem aus der Bixa Orellana gezogenen Farbstoff, rot gefärbt; oder wie echte Mumien mit wohlriechenden Harzen überzogen und in Helico­ nien- und Bananenblätter gewickelt. Die Indianer erzählten uns, die Lei­ chen wurden erst in den feuchten Boden gelegt, damit die fleischigen Teile sich allmählich zersetzten. Nach etlichen Monaten gräbt man sie wieder aus, um die noch an den Knochen befindlichen weichen Teile mit gewetz­ ten Steinen vollends abzuschaben. Verschiedene Horden in Guayana be­ folgen diese Sitte jetzt noch. In der Nähe der mapires oder Körbe finden sich halbgebrannte Tongefäße, welche die Knochen einer ganzen Familie zu enthalten scheinen. Die größten dieser Gefäße oder Graburnen sind 3 Fuß hoch und 4 Fuß, 3 Zoll lang. Ihre Farbe ist grau-grünlich und ihre Gestalt ein gefälliges Oval. Die Henkel haben die Form von Krokodilen oder

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Schlangen; der Rand ist von Mäandern, Labyrinthen in griechischer Art aus verschieden kombinierten geraden Linien umgeben. Solche Zeichnungen finden sich in allen Zonen bei Völkern wieder, die nach Lage oder Kultur am weitesten voneinander entfernt sind. Noch heute übertragen die Bewohner der kleinen Mission von Maipures diese Zeichnungen auf ihre gebräuch­ lichsteTöpferware; sie schmücken die Schilde derTahitier, die Fisehergerät­ schaften der Eskimos, die Mauern des mexicanischen Palasts von Mitla wie auch die Vasen Groß-Griechenlands. Eine rhythmische Wiederholung der­ selben Formen erfreut das Auge überall, wie die taktmäßige Wiederholung derTöne dem Ohr angenehm ist. Analogien, welche ihren Grund in den Ge­ fühlen der Menschenbrust und in den natürlichen Anlagen unseres Ver­ standes haben, können sich nicht eignen, über Herkunft und frühere Ver­ hältnisse der Völker Aufschlüsse zu geben. Wir konnten zu keiner bestimmten Idee über die Epoche des Ursprungs der mapires und der bemalten Töpfe gelangen, die sich in der Gebeinhöhle von Ataruipe vorfinden. Die meisten scheinen nicht über ein Jahrhundert alt; es ist jedoch wahrscheinlich, daß unter dem Einfluß einer gleichmäßigen Temperatur und infolge des Schutzes vor jeder Feuchtigkeit die Erhaltung dieser Objekte auch über viel längere Zeit gleich exzellent sein würde. Einer unter den Guahibes-Indianern vorhandenen Überlieferung zufolge sollen die kriegerischen Atures, von den Cariben verfolgt, sich auf die inmitten der großen Katarakte befindlichen Felsen geflüchtet haben. Hier ist diese vorher so zahlreiche Nation und mit ihr zugleich ihre Sprache allmählich erloschen. Die letzten Familien der Atures haben noch 1767 gelebt, zur Zeit des Missio­ nars Gili. Es scheint mir bemerkenswert, daß zur Zeit unserer Reise in Mai­ pures ein alter Papagei gezeigt wurde, von dem die Einwohner bezeugten: "Man versteht nicht, was er sagt, weil er die Atures-Sprache spricht" [siehe Studienausgabe Band V, S.141-148 mit Anm.12, S.l56]. Wir öffneten, zum großen Bedauern unserer Führer, mehrere mapires, um die Form der Schädel genau zu untersuchen. Alle zeigten den Charakter der amerikanischen, nur zwei oder drei näherten sich der kaukasischen Rasse. Wir haben früher schon daran erinnert, daß mitten in den Kata­ rakten, an den unzugänglichsten Stellen, mit Eisen beschlagene Kisten ge­ funden wurden, welche europäische Handwerksgeräte, Kleidungsstücke und Glaswaren enthielten. Diese Waren, welche zu den ungereimtesten Gerüchten von verborgenen Schätzen der Jesuiten Veranlassung gegeben haben, gehörten vermutlich portugiesischen Krämern, die in diese wilden Gegenden vorgedrungen waren. Ließe sich wohl vermuten, daß die Schädel von europäischer Rasse, welche den Skeletten der Eingeborenen beigesellt und mit gleicher Sorgfalt wie diese aufbewahrt waren, auch Überbleibsel portugiesischer Reisender, die durch Krankheit oder im Gefecht umkamen, gewesen seien? Die Abneigung der Eingeborenen gegen alles, was nicht zu

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ihrer Rasse gehört, macht diese Vermutung unwahrscheinlich. Vielleicht haben sich Metis, Flüchtlinge der Missionen von Meta und Apure, in der Nähe der Katarakte niedergelassen und sich mit Frauen vom Atures-Stamm verehelicht. Solche Mischungen geschehen zuweilen unter diesem Himmels­ strich, obgleich seltener als in Kanada und im ganzen westlichen Amerika, wo Jäger von europäischer Herkunft sich den Wilden zugesellen, ihre Le­ bensart und Sitten annehmen und mitunter auch großen politischen Einfluß erlangen. Wir wählten in der Grotte von Ataruipe mehrere Schädel, ein Kinderske­ lett von 6 bis 7 Jahren und zwei Skelette von Erwachsenen aus dem Atures­ Volk. Alle diese Knochen, zum Teil rot gefärbt, zum Teil mit wohlriechenden Harzen überzogen, waren in eben den Körben

(mapires oder canastos) ent­

halten, die wir soeben beschrieben haben. Sie machten fast eine Maultierla­ dung aus; und da uns die abergläubischeAbscheu der Eingeborenen vor Lei­ chen, nachdem diese einmal beerdigt sind, bekannt war, unterließen wir nicht, die canastos in frischgeflochtene Matten einzuwickeln. Diese Vorsicht war jedoch unglücklicherweise infolge des Scharfsinns und des ausnehmend feinen Geruchs der Indianer unnütz. Allenthalben, wo wir halt machten, in den Missionen der Cariben, mitten in den Llanos, zwischen Angostura und Nueva Barcelona, sammelten sich die Eingeborenen um unsere Maultiere, von denAffen angelockt, welche wir am Orinoco gekauft hatten. Kaum aber hatten diese guten Leute unsere Ladung berührt, so verkündigten sie den nahen Verlust des Zugviehs, "das den Toten trug". Umsonst versicherten wir, sie täuschten sich in ihren Vermutungen, weil die Körbe Gebeine von Krokodilen und Seekühen enthielten. Sie blieben dennoch bei ihrer Be­ hauptung, sie seien "von ihren Voreltern", und sie röchen das Harz, das Ske­ lette umgebe. Um den Abscheu der Eingeborenen zu besiegen und Maul­ tiere zumAuswechseln zu erhalten, bedurften wir des Ansehens der Ordens­ leute. Von den aus der Grotte von Ataruipe herrührenden Schädeln ist einer in dem schönen Werk, das mein vormaliger Lehrer, Herr Blumenbach, über die Varietäten des Menschengeschlechts herausgab, abgebildet. Die India­ nerskelette dagegen sind neben einem bedeutenden Teil unserer Samm­ lungen in einem Schiffbruch verlorengegangen, der unserem Freund und Reisegefährten, Fray Juan Gonzales, einem jungen Franziskaner-Ordens­ mann, das Leben gekostet hat. Stillen Betrachtungen hingegeben, verließen wir die Grotte vonAtaruipe. Es war eine der ruhigen und heiteren Nächte, wie sie in der heißen Zone so häufig vorkommen. Die Sterne glänzten mild und planetarisch. Ihr Funkeln war jedoch am Horizont kaum wahrzunehmen, wo die großen Nebelflecken der südlichen Halbkugel vorherrschten. Eine zahllose Menge Insekten ver­ breitete ein rötliches Licht in der Atmosphäre. Der mit Gewächsen dicht be­ setzte Boden erstrahlte von einem hellen und beweglichen Feuer, als wären

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die Gestirne des Firmaments auf die Savanne niedergefallen. Mehrmals blieben wir am Ausgang der Höhle stehen, um die Schönheit dieser außeror­ dentlichen Landschaft zu genießen. Wohlriechende Vanillen und Girlanden der Bignonia schmückten den Eingang; über ihr auf dem Gipfel des Hügels wiegten sich rauschend die Wipfel der Palmen. Wir stiegen zum Fluß hinunter, um den Weg nach der Mission einzu­ schlagen, wo wir ziemlich spät in der Nacht eintrafen. Unsere Phantasie war lebhaft von allem Geschauten erregt. In einem Land, wo man versucht ist, die menschliche Gesellschaft als eine neue Institution zu betrachten, wird die Teilnahme an der Erinnerung vergangener Zeiten lebhafter. Die, von der hier die Rede ist, war zwar nicht eigentlich alt; aber in allem, was mo­ numental heißt, ist dasAlterturn ein relativer Begriff, und wir sind leicht ge­ neigt, dasAlte mit dem, was dunkel und problematisch ist, zu verwechseln. Die

Ägypter fanden die historischen Erinnerungen der Griechen sehr

neu. Wenn die Chinesen oder, wie sie sich selbst lieber nennen, die Be­ wohner des Himmlischen Reiches mit den Priestern von Heliopolis in Ver­ bindung stehen könnten, würden sie die altertümlichen Ambitionen der

Ägypter belächelt haben. Nicht weniger auffallende Gegensätze finden sich im nördlichen Europa und Asien, in der Neuen Welt und allenthalben, wo das Menschengeschlecht keine weitreichenden Erinnerungen von sich selbst behalten hat. Auf dem Plateau vonAnahuac reicht das älteste historische Er­ eignis, die Wanderung der Tolteken, nicht über das sechste Jahrhundert un­ serer Zeitrechnung fort. Die Einführung eines guten Einschaltungs-Systems und die Kalender-Reform, diese unentbehrlichen Grundlagen einer verläß­ lichen Zeitrechnung, geschahen im Jahr 1091. Diese Epochen, die wir für gar nicht alt ansehen, gehören einer Fabelzeit an, wenn wir die Geschichte unserer Gattung zwischen den Gestaden des Orinoco und des Amazonen­ stroms in Betracht ziehen. Wir finden symbolische Zeichnungen in Felsen ge­ graben, ohne daß irgendeine

Überlieferung hinsichtlich ihres Ursprungs

Aufschluß zu geben vermöchte. Im heißen Teil Guayanas reichen wir nicht über die Zeit hinauf, als kastilische und portugiesische Eroberer und später friedliche Ordensmänner mitten unter diese barbarischen Völker einge­ drungen sind. Es scheint, daß nordwärts der Katarakte, im Engpaß von Baraguan, sich den oben beschriebenen ähnliche, mit Gerippen angefüllte Höhlen befin­ den. Dieser Umstand ist mir erst nach meiner Rückkehr bekanntgeworden. Die indianischen Piloten hatten uns davon nichts gesagt, als wir am Engpaß anlegten. Wahrscheinlich sind es diese Grabhügel, welche zu einer Mythe der Otomaken führten, derzufolge die vereinzelten Granitfelsen von Bara­ guan, welche die seltsamsten Gestaltungen zeigen, als Großväter oder vor­ malige Häuptlinge des Stamms betrachtet werden. Der Gebrauch, die flei­ schigen Teile der Knochen sorgfältig abzusondern, wie er von alters her

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unter den Massageten in Übung gewesen ist, hat sich bei mehreren Horden am Orinoco erhalten. Man behauptet sogar- und diese Behauptung ist sehr wahrscheinlich -, die Guaraunos brachten ihre Leichen, in Netze gehüllt, unter Wasser, wo alsdann die Cariben-Fische [piranhas. Anmerkung des Hrsg.], die Serra-Salmen, die wir überall in größter Menge antrafen, in we­ nigen Tagen die fleischigen Teile verzehrten und das Skelett präparierten. Begreiflicherweise ist dieses Verfahren nur da anwendbar, wo sich die Kro­ kodile gewöhnlich nicht aufhalten. Einige Völkerschaften, die Tamanaken zum Beispiel, haben die Sitte, die Grundstücke des Verstorbenen zu verwü­ sten und die von ihm gepflanzten Bäume umzuhauen. Sie sagen, der Anblick der Dinge, welche ihren Verwandten angehört haben, mache sie allzu traurig. Sie wollen Erinnerungen lieber zerstören als erhalten. Diese Wir­ kungen indianischer Empfindsamkeit sind dem Ackerbau sehr nachteilig, und die Mönche widersetzten sich kräftig den abergläubischen Gewohn­ heiten, welche die zum Christentum bekehrten Eingeborenen in den Mis­ sionen beibehalten. Die Grabstätten der Indianer des Orinoco sind bis dahin nicht hinlänglich untersucht worden, weil sie keine kostbaren Gegenstände enthalten wie die peruanischen und weil man heutzutage an Ort und Stelle selbst den eitlen Vorstellungen, welche vormals von den Reichtümern der Bewohner von Do­ rado gehegt wurden, keinen Glauben mehr beimißt. Der Golddurst geht überall dem Verlangen nach Kenntnissen und der Neigung zur Erforschung des Altertums voran. Im bergigen Teil Südamerikas, von Merida und Santa Marta an bis zu den Plateaus von Quito und Oberperu, sind Gruben ange­ legt worden, um Gräber zu entdecken oder, wie die Kreolen sagen, indem sie ein verdorbenes Wort der Incas gebrauchen, um guacas [

=

Gräber; auch

vergrabener Schatz; Anmerkung des Hrsg.] aufzusuchen. An den peruani­ schen Küsten, in Manciche, habe ich die guaca von Toledo besucht, aus wel­ cher Goldmassen gewonnen wurden, die im 16. Jahrhundert einen Wert von 5 Millionen Livres tournois hatten. Keine Spur von kostbaren Metallen ist in den Höhlen gefunden worden, welche von den ältesten Zeiten her den Ein­ geborenen von Guayana zum Begräbnis dienen. Daraus ergibt sich, daß selbst damals, als die Cariben und andere Waudervölkerschaften südwest­ liche Streifzüge unternahmen, aus den Bergen von Peru nur sehr wenig Gold in die westlichen Ebenen gelangt ist. Überall, wo die Granitfelsen die großen Höhlen nicht aufweisen, die von ihrer Dekomposition oder von der Anhäufung von Blöcken herrühren, ver­ trauen die Indianer ihre Leichen der Erde an. Die Hängematte (chin­ chorro), eine Art Netz, das dem Verstorbenen bei Lebzeiten zur Schlafstätte diente, ist nun sein Sarg. Das Netz wird fest um die Leiche geknüpft, in der Hütte selbst wird ein Loch gegraben und diese darin versenkt. Dem Bericht des Missionars Gili zufolge und nach dem, was ich aus dem Mund des Pater

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Zea vernommen habe, ist dies das gewöhnlichste Verfahren. Ich glaube nicht, daß in Guayana irgendein Tumulus vorhanden ist, und auch nicht in den Ebenen des Casiquiare und Essequibo. Man trifft solche an in den Sa­ vannen von Barinas wie in Kanada, auf der Westseite des Allegheny-Ge­ birges. Dabei ist allerdings bemerkenswert, daß trotz des großen Holzüber­ flusses in diesen Landschaften bei den Eingeborenen am Orinoco sowenig wie bei den alten Skythen die Sitte der Leichenverbrennung angetroffen wird. Nur nach einem Gefecht, wenn sehr vieleTote vorhanden sind, werden Holzstöße errichtet. So haben 1748 die Parecas nicht nur die Körper ihrer erschlagenen Feinde, der Tamanaken, sondern auch die ihrer auf dem Schlachtfeld gebliebenen Kameraden verbrannt. Die südamerikanischen In­ dianer zeigen gleich allen im Naturstand lebenden Völkern eine große An­ hänglichkeit an die Grabstätten ihrer Väter. Dieses Gefühl, welches ein be­ rühmter Schriftsteller [Chateaubriand] in einer Episode von > Atala< auf eine so rührende Weise geschildert hat, findet sich bei den Chinesen in seiner ganzen ursprünglichen Kraft erhalten. Diese Menschen, bei denen alles ein Ergebnis der Kunst, um nicht zu sagen der ältesten Zivilisation ist, verän­ dern ihre Wohnsitze nicht, ohne die Gebeine ihrer Ahnen mitzunehmen. An den Gestaden der großen Flüsse sieht man Särge gelagert, welche neben den Gerätschaften der Familie zu Schiff in eine entfernte Provinz gebracht werden. Dieses unter den nordamerikanischen Wilden vormals noch häu­ figere Mitführen von Gebeinen ist bei den Völkerstämmen von Guayana dagegen nicht üblich. Auch führen diese kein Nomadenleben wie die aus­ schließlich sich von der Jagd nährenden Völker. *

In der Mission von Atures verweilten wir nur so lange, wie erforderlich war, um unsere Piroge über die großen Katarakte zu bringen. Der Boden un­ seres kleinen Fahrzeugs war so dünn geworden, daß große Vorsicht geboten war, um sein Aufspalten zu verhindern. Wir verabschiedeten uns vom Mis­ sionar Bernardo Zea, welcher in Atures blieb, nachdem er zwei Monate unser Begleiter und ein Teilnehmer aller unserer Beschwerden gewesen war. Der arme Ordensmann hatte sein dreitägiges Fieber nicht verloren, aber seine Anfälle waren ihm so zur Gewohnheit geworden, daß er nur noch wenig darauf achtgab. Andere Fieber von schlimmerer Art herrschten in Atures zur Zeit unserer zweiten Durchreise. Die meisten Indianer konnten ihre Hängematten nicht verlassen, und um ein wenig Cassave-Brot (die un­ entbehrlichste Nahrung in diesem Land) zu erhalten, mußten wir es von einem unabhängigen, jedoch den Piaroas benachbarten Stamm kommen lassen. Bis dahin blieben wir von diesen bösartigen Fiebern verschont, die, wie ich glaube, nicht immer ansteckend sind.

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Wir wagten die Passage der letzten Hälfte des Raudals von Atures in un­ serer Piroge. Mehrmals hielten wir an, um Felsen zu erklimmen, welche die Inseln wie schmale Dämme untereinander verbinden. Bald stürzt das Wasser über diese Dämme hinab, bald fällt es mit dumpfem Getöse ins In­ nere. Wir fanden einen ansehnlichen Teil des Orinoco ausgetrocknet, weil der Strom sich durch unterirdische Kanäle einen Ablauf geöffnet hatte. An diesen einsamen Stellen nistet der goldgefiederte

manakin (Pipra rupicola,

Felshuhn) , einer der schönsten TropenvögeL Wir verweilten im Raudalito von Canucari, das aus übereinandergehäuften ungeheuren Granitblöcken gebildet ist. Diese Blöcke, worunter mehrere Sphäroide von 5 bis 6 Fuß Durchmesser vorkommen, liegen so übereinander, daß sie geräumige Höhlen bilden. Wir betraten eine davon, um Conferven zu sammeln, womit die Spalten und feuchten Felswände überzogen waren. Diese Gegend bot eine der außerordentlichsten Naturszenen, die uns an den Gestaden des Ori­ noco vorgekommen sind. Der Fluß rollte seine Wasser über unseren Köpfen. Er sah dem gegen Felsenriffe brausenden Meer gleich; doch am Eingang der Grotte konnte man trocken stehen, unter einer bogenförmig niederstür­ zenden Wassermasse. In anderen, tieferen, aber kleineren Höhlen war der Felsen durch allmähliches Eindringen ( Infiltration) durchbrachen worden. Wir sahen 8 bis 9 Zoll breite Wassersäulen von der Gewölbedecke herab­ kommen und einen Ausgang durch Spalten finden, die in großer Entfernung miteinander zusammenzuhängen scheinen. Die europäischen Kaskaden, welche einen einzigen oder mehrere ganz nahe befindliche Fälle darstellen, können ein so mannigfaches Landschafts­ gemälde nicht bieten. Dieses ist den

rapides

eigentümlich, einer mehrere

Meilen langen Reihenfolge von Katarakten und Strömen, die sich zwischen Felsendämmen und aufgetürmten Blöcken den Weg bahnen. Wir genossen die Ansicht einer außerordentlichen Landschaft länger, als uns lieb war. Unser Boot sollte dem östlichen Ufer einer schmalen Insel folgen, um uns nach einem langen Umweg wieder aufzunehmen. Wir hatten anderthalb Stunden vergeblich gewartet. Die Nacht rückte heran und mit ihr ein furcht­ bares Gewitter. Es regnete in Strömen. Schon besorgten wir, unser leichtes Fahrzeug könnte an den Felsen zerschlagen und die Indianer, nach ihrer ge­ wohnten Gleichgültigkeit bei fremder Not, in die Mission zurückgekehrt sein. Wir waren nur drei Personen, alle durchnäßt, um das Schicksal unserer Piroge bekümmert und besorgt, eine lange Nacht in der heißen Zone, mitten im Lärm der

raudales,

durchwachen zu müssen. Herr Bonpland beschloß,

mich mit Don Nicolas Sotto allein auf der Insel zurückzulassen und schwim­ mend über die Flußarme zu setzen, welche die Granitdämme voneinander sondern. Er hoffte, den Wald zu erreichen und in Atures bei Pater Zea Hilfe zu suchen. Wir hatten Mühe, ihn von diesem gewagten Unternehmen zu­ rückzuhalten. Das Labyrinth der kleinen Kanäle, in die sich der Orinoco

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teilt, war ihm unbekannt. Die meisten enthalten heftige Wirbel, und was in eben dem Augenblick, wo wir über unsere Lage beratschlagten, vor unseren Augen geschah, bezeugte zur Genüge die Unzuverlässigkeit dessen, was uns die Indianer vom Nichtvorkommen der Krokodile in den Katarakten gesagt hatten. Die kleinen Affen, welche wir seit Monaten mit uns führten, waren auf der Spitze unserer Insel ausgesetzt worden. Vom Gewitterregen durch­ näßt und für jede Abnahme der Temperatur höchst empfindlich, stießen diese zarten Tiere Klagetöne aus. Ihr Dasein hatte zwei Krokodile herbeige­ lockt, deren Größe und Bleifarbe ein hohes Alter verriet. Diese unerwartete Erscheinung stellt uns die Gefaht dar, welcher wir uns ausgesetzt hatten, als wir auf der ersten Reise durch die Mission von Atures mitten im

raudal ba­

deten. Endlich, mit einbrechender Nacht, trafen die ersehnten Indianer ein. Der natürliche Kanal, durch den sie hinabfahren wollten, um die Insel zu umfahren, war des zu wenigen Wassers wegen unbrauchbar geworden. Der Steuermann hatte in dem Labyrinth von Felsen und Inselchen geraume Zeit eine bessere Passage gesucht. Glücklicherweise war unsere Piroge unbeschä­ digt geblieben, und es bedurfte keiner halben Stunde, um unsere Instru­ mente, Lebensmittel und Tiere einzuschiffen. Nachdem wir einen Teil der Nacht durchfahren hatten, errichteten wir nochmals unser Biwak auf der Insel Panumana. Mit Vergnügen erkannten wir die Stellen wieder, wo wir, den Orinoco hinauffahrend, herborisiert hatten. Nochmals untersuchten wir am Gestade des Guachaco die kleine Sandsteinformation, welche unmittelbar über dem Granit liegt. Ihre Lage ist die gleiche wie die des Sandsteins, den mein unglücklicher Landsmann, Herr Burckhardt, beim Eintritt von Nubien über dem Granit von Syene be­ obachtet hat. Ohne sie zu besuchen, kamen wir bei der neuen Mission von San Borja vorbei, und einige Tage später vernahmen wir zu unserem großen Bedauern, daß die kleine Kolonie der Guahibos-Indianer sich

al monte ge­

flüchtet hatte, aus grundloser Furcht, wir wollten sie entführen und als poitos oder Sklaven verkaufen. Nachdem die Rapides von Tabaje und des Raudal von Cariven, nahe bei der Mündung des großen Rfo Meta, zurückgelegt waren, trafen wir wohlbehalten in Carichana ein. Der Missionar, Fray Jose Antonio de Torre, empfing uns mit eben der herzlichen Gastfreundschaft, die uns schon auf der ersten Durchreise zuteil geworden war. Für astronomi­ sche Beobachtungen war der Himmel ungünstig. In den zwei großen Kata­ rakten hatten wir solche nochmals angestellt; dann aber, bis zur Mündung des Apure, mußte darauf verzichtet werden. In Carichana gelang es Herrn Bonpland, eine über 9 Fuß lange Seekuh

(lamantfn)

zu zergliedern. Es war

ein weibliches Tier, dessen Fleisch dem Ochsenfleisch glich. Ich habe an einer anderen Stelle vom Fang dieser grasfressenden Wassersäuger gespro­ chen. Die Piaroas-Indianer, wovon einige Familien in der Mission zu Cari­ chana wohnen, verabscheuen diese Tiere dermaßen, daß sie sich verbargen,

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um es, als es in unsere Hütte gebracht wurde, nicht berühren zu müssen. Wer zu ihrem Stamm gehöre, versicherten sie, müsse unfehlbar sterben, wenn er davon äße. Dieses Vorurteil ist um so auffallender, als die Nachbarn der Piaroas, die Guarnos und die Otomacos, das Fleisch der Seekuh für einen Leckerbissen halten. Wir werden bald sehen, wie unter dieser Menge von Völkerschaften das Fleisch des Krokodils von den einen verabscheut und von den anderen mit Vorliebe gesucht wird. Ich will hier einen wenig gekannten, zur Geschichte der Seekuh gehö­ renden Umstand erwähnen. Südwärts vom Golf von Jagua, auf der Insel Cuba, mehrere Meilen von den Küsten entfernt, finden sich Süßwasser­ quellen mitten im Meer. Man glaubt, sie auf hydrostatischen Druck zurück­ führen zu können, der von den unterirdischen Kanälen ausgeübt wird, die mit den hohen Bergen Trinidads kommunizieren. Kleine Fahrzeuge ver­ sorgen sich in diesen Strecken zuweilen mit Wasser, und, was bemerkens­ wert ist, große Seekühe halten sich gewöhnlich dort auf. Ich habe schon früher die Naturforscher aufmerksam gemacht auf Krokodile, die sich von der Einmündung der Flüsse weit hinaus im Meer zeigen. Analoge Verhält­ nisse können bei vorzeitlichen Katastrophen unseres Planeten die eigen­ tümliche Mischung von Knochen und Versteinerungen pelagischer und fluviatiler Herkunft verursacht haben, wie sie in einigen Gebirgsarten neuer Formation angetroffen wird. Der Aufenthalt in Carichana war für unsere Erholung nach überstan­ denen Mühseligkeiten sehr erwünscht. Herr Bonpland trug den Keim einer schweren Krankheit in sich. Er hätte einiger Erholung bedurft; weil aber das Delta d'affluent [Delta, das durch einen oder mehrere Nebenflüsse gebildet wird, die ein Gewässer kurz vor seiner Einmündung in einen Strom errei­ chen] zwischen dem Horeda und dem Paruasi den üppigsten Pflanzenwuchs darbietet, konnte er dem Drang nach einer langen Herborisation nicht wi­ derstehen, während der er mehrmals am Tage durchnäßt wurde. Im Hause des Missionars fanden wir zuvorkommende Gefälligkeit; wir erhielten Mais­ mehl und sogar Milch. Die Kühe geben sie im

Überfluß in den niederen Ge­

genden der heißen Zone. Man entbehrt nichts, wo gute Weiden vorhanden sind. Ich bemerke dies, weil örtliche Umstände im indischen Archipel das Vorurteil verbreitet haben, wonach das heiße Klima der Milchabsonderung entgegen sein sollte. Die Gleichgültigkeit der Eingeborenen des Neuen Kon­ tinents für Milchspeisen ist begreiflich, weil das Land ursprünglich keine Milchtiere besaß; wer möchte sich dagegen über eben diese Gleichgültigkeit nicht wundern, die bei der ungeheueren chinesischen Bevölkerung ange­ troffen wird, welche großenteils außerhalb der Wendekreise mit den Noma­ denstämmen von Zentralasien unter demselben Parallelkreis wohnen? Wenn die Chinesen ein Hirtenvolk gewesen sind, wie kommt es, daß sie den ersten Gewohnheiten und Neigungen ihres vormaligen Stands überall ent-

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sagt haben? Diese Fragen scheinen mir gleich wichtig zu sein für die Ge­ schichte der Völker des östlichen Asiens wie für die der Verbindungen, welche vormals zwischen diesem Weltteil und dem Norden Mexicos be­ standen haben sollen. In zwei Tagen gelangten wir auf dem Orinoco von Carichana zur Mission von Uruana hinab, nachdem wir erneut den berühmten Engpaß von Bara­ gwin zurückgelegt hatten. Wir hielten verschiedentlich an, um die Schnellig­ keit des Stroms und dieTemperatur seiner Oberfläche zu bestimmen. Diese war 27,4°; die Geschwindigkeit betrug 2 Fuß in der Sekunde (62Toisen in 3' 6") an Stellen, wo das Bett des Orinoco über 12000 Fuß breit und 10 bis 12 Klafter tief war. Das Gefälle des Flusses ist wirklich überaus sanft, von den großen Katarkten bis nach Angostura, und in Ermangelung einer barometri­ schen Nivellierung ließe sich die verschiedene Höhe annähernd durch von Zeit zu Zeit vorgenommene Messungen der Geschwindigkeit, der Breite und der Tiefe bestimmen. In Uruana machten wir einige Sternbeobach­ tungen. Die Breite der Mission fand sich unter 7° 8'; aber die Resultate bei verschiedenen Sternen waren mehr als 1' zweifelhaft. Die Moskitoschicht, welche den Boden bedeckte, war so dicht, daß ich den künstlichen Horizont nicht befriedigend einrichten konnte. Ich quälte mich vergebens und mußte bedauern, mit keinem Quecksilberhorizont versehen zu sein. Am 7. Juni [1800] zeigten mir gute absolute Sonnenhöhen 69° 40' Länge. Von Esme­ ralda aus waren wir uni 1 1 7' westwärts vorgerückt, und diese chronometri­ o

sche Bestimmung verdient völliges Zutrauen wegen der zweifachen Beob­ achtungen, die auf der Hin- und Herreise in den großen Katarakten und bei den Einmündungen des Atabapo und des Apure gemacht wurden.

[Über die Erde essenden Otomaken] Die Mission Uruana hat eine sehr malerische Lage. Das kleine indiani­ sche Dorf ist an einen hohen Granitberg gelehnt. Aus dem Wald und über die Gipfel der höchsten Berge ragen allenthalben Felsen wie Pfeiler empor. Nir­ gends gewährt der Orinoco einen majestätischeren Anblick, als wenn man ihn von der Hütte des Missionars Fray Rarnon Bueno aus betrachtet. Seine Breite beträgt über 2600 Toisen, und er nimmt seine Richtung gerade nach Osten ohne Krümmungen wie ein sehr breiter Kanal. Zwei lange und schmale Inseln (Isla de Uruana und Isla vieja de la Manteca) tragen zur Er­ weiterung des Strombetts bei. Die Ufer laufen jedoch parallel, und man kann nicht sagen, der Orinoco sei in mehrere Arme geteilt. Die Mission wird von den Otomaken bewohnt, einem in Roheit versunkenen Völkerstamm, der eine der merkwürdigsten physiologischen Erscheinungen darbietet. Die Otomaken essen Erde, das heißt, sie verschlucken mehrere Monate lang täg-

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lieh sehr ansehnliche Portionen davon zur Stillung ihres Hungers und ohne irgendeinen Nachteil für ihre Gesundheit. Diese unzweifelhafte Tatsache ist seit meiner Rückkehr nach Europa Gegenstand eines lebhaften Streits ge­ worden, weil zwei ganz verschiedene Dinge, das Verschlucken oder das Essen der Erde und die Ernährung dadurch, miteinander verwechselt wurden. Obgleich wir nur einen einzigen Tag in Uruana verweilen konnten, war diese kurze Zeit doch hinreichend, um uns mit der Bereitungsweise der

poya

(oder Erdklöße) bekannt zu machen, um die Vorräte, welche die Ein­

geborenen sich davon sammeln, zu besichtigen und um die Portion, welche sie in 24 Stunden verschlucken, zu bestimmen. Übrigens sind die Otomaken nicht das einzige Volk am Orinoco, das die Tonerde für eine Speise hält. Auch bei den Guarnos finden sich Spuren einer solch ungewöhnlichen Eß­ lust, und zwischen den Mündungen des Meta und des Apure spricht jeder­ mann von der Geophagie als einer von alters her bekannten Sache. Ich will mich hier nur auf die Erzählung dessen beschränken, was wir entweder selbst gesehen oder aus dem Mund des Missionars vernommen haben, wel­ chen ein unglücklicher Zufall zum zwölfjährigen Aufenthalt unter dem wilden und unruhigen Völkerstamm der Otomaken gezwungen hatte. Die Einwohner von Uruana gehören zu den Völkerschaften der Savannen

(Indios andantes), welche für die Zivilisation weniger empfänglich sind als die der Wälder (Indios del monte), eine entschiedene Abneigung gegen den Landbau haben und ausschließlich von Jagd und Fischfang leben. Es sind Menschen von sehr festem und starkem Körperbau, dabei aber häßlich, wild, rachsüchtig und leidenschaftliche Liebhaber gegorener Getränke. Sie sind im höchsten Grade allesfressende Tiere; auch hört man die übrigen In­ dianer, von denen sie als Barbaren angesehen wurden, häufig sagen, es gäbe nichts Ekelhaftes, das ein Otomake nicht verzehre. Solange die Gewässer des Orinoco und seiner Zuflüsse niedriger sind, nähren sich die Otomaken von Fischen und Schildkröten. Diese erlegen sie ausnehmend geschickt, indem sie sie mit einem Pfeil durchbohren, wenn sie auf der Oberfläche des Wassers zum Vorschein kommen. Sobald der höhere Wasserstand der Ströme beginnt, der in Südamerika wie in Ägypten und Nubien irrigerweise der Schneeschmelze zugeschrieben wird und in der ganzen heißen Zone perio­ disch erscheint, hört der Fischfang ganz auf. Es ist dann ebenso schwer, sich in den tiefen Strombetten Fische zu verschaffen, wie während der Fahrt auf offener See. Die armen Missionare ermangeln ihrer oft an den Ufern des Orinoco sogar für die Fasttage, obgleich alle jungen Indianer im Dorf ver­ pflichtet sind, "für das Kloster Fische zu fangen". Zur Zeit dieser Über­ schwemmungen, welche zwei bis drei Monate dauern, verschlucken die Otomaken ungeheure Portionen Erde. Wir fanden in ihren Hütten 3 bis 4 Fuß hoch pyramidenförmig aufgeschichtete Haufen von Kugeln oder Erd­ klößen, welche 5 bis 6 Zoll im Durchmesser hatten. Die Erde, welche von

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den Otomaken gegessen wird, ist ein sehr feiner und fettiger Ton; ihre Farbe ist grau-gelb, und weil sie ein wenig am Feuer gebrannt ist, sieht die harte Rinde etwas rötlich aus irrfolge des beigemischten Eisenoxids. Wir haben Muster von dieser dem Wintervorrat der Indianer entnommenen Erde mit­ gebracht. Es ist völlig unrichtig, daß sie specksteinartig sei und Magnesia [Talkerde] enthielte. Herr Vauquelin hat keine Spur davon gefunden, da­ gegen erkannte er darin mehr Kiesel- als reine Tonerde und drei bis vier Pro­ zent Kalk. Die Otomaken essen nicht ohne Unterschied allen Ton; sie wählen die An­ schwemmungslager oder Schichten, welche die fettigste und beim Anfühlen feinste Erde enthalten. Ich befragte den Missionar, ob man, wie der Pater Gumilla behauptet, mit dem feuchten Lehmjene eigentümliche Zersetzung vorgehen läßt, die sich durch das Freiwerden von Kohlensäure und geschwe­ feltem Wasserstoff verrät und die in allen Sprachen Fäulnis genannt wird; er versicherte uns aber, daß die Eingeborenen den Ton nicht faulen lassen und daß sie ihn auch weder mit Schildkröteneieröl noch mit Krokodilfett mi­ schen. Wir selbst haben sowohl am Orinoco als auch nach unserer Rückkehr in Paris die mitgebrachten Erdklöße untersucht, ohne darin irgendeine Spur von Beimischung einer organischen, sei es einer öligen oder mehligen Sub­ stanz zu entdecken. Der Wilde hält alles für nährend, was hungerstillend ist; wenn der Otomake gefragt wird, womit er sich während der zwei Monate des höchsten Stromstands nähre, weist er auf die Klöße von Tonerde. Diese nennt er seine Hauptnahrung; denn nur selten kann er sich in diesem Zeit­ raum eine Eidechse, eine Farnkrautwurzel oder einen auf dem Wasser schwimmenden toten Fisch verschaffen. Wenn der Indianer zwei Monate lang notgedrungen Erde speist (und zwar 3/4 bis Y4 Pfund in 24 Stunden), so genießt er sie darum nicht minder auch das ganze übrige Jahr. Alltäglich während der trockenen Jahreszeit, beim reichlichsten Fischfang, schabt er seine poya-Klöße und mischt den Speisen ein wenig Tonerde bei. Am auffal­ lendsten ist, daß die Otomaken, während sie solch starke Portionen Erde verschlucken, keineswegs mager werden. Sie sind im Gegenteil sehr kräftig und bekommen auch keinen harten oder aufgetriebenen Bauch. Der Mis­ sionar Fray Rarnon Bueno versichert, er habe zur Zeit des großen Hoch­ wassers am Orinoco nie irgendeine Störung der Gesundheit unter den Ein­ geborenen registriert. Die Tatsachen, von deren Wahrheit wir uns überzeugen konnten, sind ganz einfach folgende: Die Otomaken essen mehrere Monate hindurch täg­ lich 3/4 Pfund am Feuer ein wenig geröstete Tonerde, ohne daß ihre Gesund­ heit spürbar davon leidet. Sie befeuchten die Erde nochmals im Augenblick, wo sie sie verschlucken. Mit Genauigkeit konnte bis jetzt nicht ermittelt werden, wieviel sie zu gleicher Zeit wöchentlich an vegetabilischer oder animalischer Nahrungssubstanz zu sich nehmen; aber sicher ist, daß sie das

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Gefühl von Sättigung, welches sie verspüren, der Tonerde und nicht der we­ nigen anderen Nahrung, die sie von Zeit zu Zeit hinzutun, zuschreiben. Da sich keine physiologische Erscheinung völlig vereinzelt oder abgesondert darstellt, mag es der Mühe lohnen, mehrere ähnliche Verhältnisse, die mir bekanntgeworden sind, hier zu erwähnen. Überall in der heißen Zone habe ich bei einer großen Anzahl Personen, Frauen und einige Male sogar erwachsenen Männem, eine außerordentliche und fast unwiderstehliche Neigung, Erde zu verschlingen, beobachtet, nicht etwa eine alkalische oder kalkartige Erde zum Neutralisieren (wie man ge­ wöhnlich sagt) der sauren Säfte, sondern eine fette, ölige und stark rie­ chende Tonerde. Man ist öfters genötigt, Kindem entweder die Hände fest­ zubinden oder sie einzuschließen, um sie, wenn der Regen aufgehört hat, vom Erdeessen abzuhalten. Im Dorf Banco an den Ufern des Magdalenen­ stroms habe ich indianische Frauen mit Töpferarbeit beschäftigt gesehen, die beständig große Stücke Lehm verschluckten. Sie waren nicht etwa schwanger und versicherten, die Erde sei eine Speise, welche ihnen gar keinen Nachteil bringe. Bei anderen amerikanischen Völkerschaften werden die Menschen dagegen leicht krank und siechen dahin, wenn sie der Sucht des Lehmverschluckens allzusehr frönen. In der Mission von San Borja haben wir ein indianisches Kind der Guahiba-Nation gesehen, das mager wie ein Skelett war. Seine Mutter ließ uns durch den Dolmetscher bedeuten, seine traurige Abzehrung sei die Folge einer unnatürlichen Eßlust. Seit vier Monaten hatte das kleine Mädchen fast nichts als Tonerde zu sich nehmen wollen. In San Borja beträgt die Entfernung von der Mission Uruana, wo dieser Otomakenstamm wohnt, der durch allmähliche Gewöhnung vermut­ lich ohne Nachteil poya ißt, nur 25 Iieues. Der Pater Gumilla behauptet, die Otomaken gebrauchten das Öl oder vielmehr das geschmolzene Fett des Krokodils als Abführmittel gegen Verstopfung. Aber der Missionar, den wir bei ihnen antrafen, wollte diese Aussage nicht bekräftigen. Man fragt sich, warum in kalten und in gemäßigten Zonen die Sucht, Erde zu verzehren, viel seltener als in der heißen Zone angetroffen wird, ebenso, warum sie in Europa nur bei schwangeren Frauen und bei schwächlichen Kindern vor­ kommt. Vielleicht rührt diese Verschiedenheit zwischen warmen und gemä­ ßigten Klimaten nur von der Trägheit der Funktionen des Magens her als einer Folge stark vermehrter Hautausdünstung. Man hat zu bemerken ge­ glaubt, daß bei den afrikanischen Sklaven die irreguläre Neigung, Erde zu essen, zunahm und verderblicher wurde, wenn sie ausschließlich auf Pflan­ zennahrung beschränkt wurden und keine geistigen Getränke erhielten. Wenn die letzteren den Genuß der Tonerde unschädlicher machen, möchte man die Otomaken für ihre entschiedene Neigung zur Völlerei fast beglück­ wünschen. An den Küsten von Guinea essen die Neger als Leckerbissen eine gelb-

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liehe Erde, der sie den Namen caouac geben. Die Sklaven, welche nach Amerika gebracht werden, suchen sich denselben Genuß zu verschaffen, aber das geschieht nie ohne Nachteil für ihre Gesundheit. Sie sagen, die Erde auf den Antillen lasse sich nicht so gut verdauen wie die ihres eigenen Landes. T hibaut de Chanvalon drückt sich in seiner Reise nach Martinique über diese pathologische Erscheinung scharfsinnig so aus: "Ein anderer Grund des Magenübels liegt darin, daß verschiedene der von der guinei­ schen Küste abstammenden Neger Erde essen. Sie tun dies nicht infolge einer verkehrten Eßlust oder einer Krankheit, sondern nach einer Sitte, die sie sich in Afrika angewöhnt haben, wo sie ihrer Aussage nach eine Erde essen, die ihnen angenehm geschmeckt habe und von der sie gar keinen Nachteil verspürten. Sie suchen auf unseren Inseln die dieser ähnlichste Erde auf; als solche wählen sie einen rot -gelben (vulkanischen) Tuff. Er wird heimlich auf unseren Märkten verkauft. Diesen Mißbrauch sollte die Polizei verhüten. Die Neger, welche daran gewöhnt sind, zeigen sich so gierig nach caouac, daß keine Bestrafung sie von seinem Genuß abzuhalten vermag." Im indischen Archipel, auf der Insel Java, hat Herr Labillardiere zwischen Soerabaya und Samarang kleine viereckige und rötliche Kuchen verkaufen sehen. Diese Kuchen, tanaampo genannt, waren schwach über dem Feuer geröstete Tonwaffeln, welche die Eingeborenen gerne essen. Weil seit meiner Rückkehr vom Orinoco die Aufmerksamkeit der Physiologen beson­ ders auf die Erscheinungen der Geophagie hingeleitet worden ist, sah sich Herr Leschenault (einer der Naturforscher der von Kapitän Baudin befeh­ ligten Reise nach den südlichen Ländern) dadurch zur Mitteilung interes­ santer Nachrichten über den tanaampo oder ampo der Javanesen veranlaßt. "Es wird", sagt er, "die rötliche und etwas eisenhaltige Tonerde, welche die Einwohner von Java zuweilen als Leckerbissen genießen, auf einem Eisen­ blech ausgebreitet und, nachdem sie geröstet ist, ungefähr wie die Zimtrinde zusammengerollt; sie heißt dann ampo und wird auf den Märkten verkauft. Diese Substanz besitzt einen vom Rösten herrührenden eigentümlichen Ge­ schmack; sie ist stark einsaugend, hängt der Zunge an und trocknet sie. Fast nur die javanesischen Frauen essen diese Erde, entweder zur Zeit der Schwangerschaft oder um abzumagern; denn das Magersein wird hierzu­ lande für schön gehalten. Der Genuß der Erde ist der Gesundheit schädlich; die Frauen verlieren allmählich die Eßlust und nehmen nur noch mit Wider­ willen wenige Speise zu sich. Die Sehnsucht nach Magerkeit und einer schlanken Gestalt trotzt inzwischen der Gefahr und erhält das ampo in Kredit." Die barbarischen Bewohner von Neu-Caledonien essen gleichfalls in Zeiten der Teuerung, um den Hunger zu stillen, große Stücke eines Zer­ reiblichen Topfsteins. Herr Vauquelin hat bei dessen Untersuchung zu glei­ chen Teilen außer Magnesia [Talkerde] und Kieselerde eine geringe Menge Kupferoxid gefunden. Eine Erde, welche Herr Golberry Negern in Afrika,

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auf den Inseln von Bunk und Los !dolos, essen sah und von der er auch selbst ohne Beschwerde aß, ist gleichfalls ein weißer und zerreiblieber Speckstein. Alle diese Beispiele sind aus der heißen Zone genommen; beim Überblick kann man nicht ohne Befremden unter verwilderten und trägen Menschen­ stämmen, die in den schönsten und fruchtbarsten Weltgegenden leben, einen Geschmack wahrnehmen, von dem man denken sollte, er würde nur bei den Bewohnern der ödesten Landschaften angetroffen. In Popayan und in mehreren Bergländern von Peru haben wir auf offenem Markt neben an­ deren Lebensmitteln sehr fein zerriebenen Kalk an die Einwohner ver­ kaufen sehen. Um davon Gebrauch zu machen, wird dieses Pulver der Coca, das heißt den Blättern vom Erythroxylon peruvianum beigemischt. Be­ kanntlich genießen die indianischen Botenläufer mehrere Tage lang nichts anderes als Kalk und Coca; beide befördern die Absonderung des Speichels und Magensafts; sie stillen den Hunger, ohne dem Körper Nahrung zu ver­ schaffen. In anderenTeilen Südamerikas an den Küsten des Rfo de la Hacha schlucken die Guajiros den Kalk für sich allein, ohne Zusatz von Pflanzen­ teilen. Sie führen immer eine kleine Büchse mit Kalk bei sich wie wirTabak­ dosen und die Asiaten Betelbüchsen. Diese amerikanische Sitte hatte schon die Aufmerksamkeit der ersten spanischen Seefahrer erregt. Der Kalk schwärzt die Zähne, und im ostindischen Archipel wie bei mehreren ameri­ kanischen Horden gelten schwarze Zähne als schön. In der kalten Region des Königreichs Quito speisen die Eingeborenen von Tigua aus Naschhaftig­ keit und ohne Nachteil eine mit quarzigem Sand vermischte, sehr feine Ton­ erde. Dieser aufgelöste Ton macht das Wasser milchig. Man trifft in ihren Hütten große Gefäße mit solchem Wasser gefüllt an, das zum Trinken dient und von den Indianern agua oder Zeche de llanka [

=

feiner Ton] genannt

wird. Reflektiert man das Ganze dieser Tatsachen, so findet sich, daß der Ap­ petit aufTon-, Magnesia- und Kalkerden unter den Völkern der heißen Zone sehr allgemein angetroffen wird, daß er nicht immer Krankheiten verursacht und daß einzelne Stämme die Erde aus Naschhaftigkeit essen, während andere (die Otomaken in Amerika und die Bewohner von Neu-Caledonien im Südmeer) sie aus Bedürfnis und Not und zur Stillung des Hungers schlucken. Eine Menge physiologischer Erscheinungen beweist uns, daß der Hunger momentan aufhören kann, obwohl die der Wirksamkeit der Verdau­ ungsorgane dargebotenen Substanzen eigentlich gar nicht nährend sind. Die ausTon- und Kieselerde bestehende Mischung, welche die Otomaken essen, liefert wahrscheinlich einen nur geringen oder gar keinen Beitrag zur Bil­ dung der menschlichen Organe. Diese Organe enthalten Kalk und Magnesia in den Knochen, in der Lymphe des Brustkanals, im Farbstoff des Bluts und in den weißen Haaren; sie enthalten nur sehr wenig Kieselerde in den schwarzen Haaren und, nach Herrn Vauquelin, nur einige Atome von reiner

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Tonerde ( Aluminiumoxid ) in den Knochen, während viele Pflanzenstoffe, die zu unserer Nahrung gehören, diese in Menge enthalten. Beim Menschen verhält es sich nicht wie bei den auf einer tieferen Stufe der Organisation stehenden belebten Geschöpfen. Bei ihm erfaßt die Assimilation nur die Stoffe, welche wesentliche Bestandteile der Knochen, der Muskeln und der markhaltigen Substanz der Nerven und des Gehirns sind; die Pflanzen hin­ gegen ziehen aus dem Boden auch Salze an sich, die ihm zufällig beigemischt sind, und ihr Fasergewebe wechselt nach der Beschaffenheit der an ihren Standorten vorherrschenden Erdarten. Es ist ein der Untersuchung wür­ diger Gegenstand, der längst meine Aufmerksamkeit beschäftigt hat, daß diese kleine Zahl einfacher Stoffe

( erdige und metallische) ,

die in das Ge­

füge belebter Wesen gelangen, ausschließlich zur Unterhaltung dessen, was man die chemische Bewegung der Vitalität nennen kann, geeignet scheinen. Das Gefühl des Hungers darf nicht verwechselt werden mit der allge­ meinen Empfindung von Schwäche, die vom Mangel der Ernährung und an­ deren pathologischen Ursachen herrührt. Das Gefühl des Hungers hört lange zuvor auf, ehe noch die Verdauung geschehen oder der Speisesaft in Milchsaft verwandelt ist. Sein Aufhören ist entweder das Ergebnis eines ner­ vösen und tonischen Eindrucks der Speisen auf die Magenwände oder der vermehrten Absonderung des Magensafts als Folge des Reizes der Schleim­ häute durch die das Verdauungsorgan füllenden Substanzen. Diesem toni­ schen Eindruck auf die Nerven des Magens können die schnellen und heil­ samen Wirkungen der sogenannten nährenden Arzneistoffe der Schokolade und aller gelinde reizenden und zugleich nahrhaften Substanzen zuge­ rechnet werden. Durch den Mangel einer nervenreizenden Eigenschaft wird der vereinzelte Gebrauch einer nährenden Substanz ( des Stärkemehls, des

Gummis oder Zuckers ) der Assimilation und der Wiederherstellung der Ver­

luste, die der menschliche Körper erlitten hat, weniger günstig. Das Opium, welches nicht nährend ist, wird in Asien zu Zeiten großer Hungersnot mit Er­ folg angewandt, indem es als tonisches Mittel wirkt. Wenn dagegen die Sub­ stanz, welche den Magen füllt, weder als Nahrungsmittel, das heißt assimi­ lierbar, noch als ein tonischer Nervenreiz angesehen werden kann, ist wahr­ scheinlich die Stillung des Hungers nur das Ergebnis einer vermehrten Ab­ sonderung des Magensafts. Wir berühren hier eine noch nicht hinlänglich aufgeklärte physiologische Aufgabe. Der Hunger verschwindet, das widrige Gefühl der Erschöpfung hört auf, sobald der Magen angefüllt ist. Man sagt, der Magen bedürfe der Füllung; alle Sprachen besitzen bildliehe Ausdrücke, welche den Begriff enthalten, durch die mechanische Ausdehnung des Ma­ gens werde eine angenehme Empfindung hervorgebracht. Auch in neueren physiologischen Werken ist noch von einer schmerzhaften Zusammenzie­ hung des Magens beim Hunger, von einer Reibung seiner Wände gegenein­ ander, von der Wirkung des sauren Magensafts auf die Werkzeuge der Ver-

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dauung die Rede. Die von Bichat gemachten Beobachtungen und nament­ Iich die interessanten Versuche des Herrn Magendie widersprechen jedoch diesen veralteten Vorstellungen. Nach 24, 48 und sogar nach 60Stunden völ­ liger Nahrungsenthaltung wird noch kein Zusammenziehen des Magens wahrgenommen; erst am vierten und fünften Tage scheint dieses Organ einige Veränderungen seiner Dimension zu erleiden. Die Absonderung des Magensafts vermindert sich im Verhältnis der Zeit des andauernden Fastens. Wahrscheinlich wird dieser Saft keineswegs angesammelt, sondern als eine nährende Substanz verdaut. Wenn man Katzen oder Hunde einen unverdau­ lichen Körper verschlucken läßt, einen Kiesel zum Beispiel, sammelt sich in der Magenhöhle ein schleimiger und saurer Saft, welcher seinen Bestand­ teilen nach dem menschlichen Magensaft ähnlich ist. Der Analogie zufolge halte ich es für sehr wahrscheinlich, wenn der Mangel nährender Speisen die Otomaken und die Einwohner von Neu-Caledonien einen Teil des Jahres hindurch zum Verschlucken von Ton und Speckstein nötigt, daß diese Erd­ arten in ihren Verdauungsorganen eine verstärkte Absonderung der gastri­ schen und pancreatischen Säfte veranlassen. Die Beobachtungen, die ich an den Ufern des Orinoco gemacht habe, sind neulich durch die direkten Ver­ suche von zwei sehr ausgezeichneten jungen Physiologen, den Herren Hip­ polyte Cloquet und Breschet, bestätigt worden. Sie haben, nachdem sie zuvor gehungert hatten, bis zu fünf Unzen eines grün-silberfarbeneu und sehr elastischen Schiefertalks gegessen. Ihr Appetit war damit völlig gestillt, und sie verspürten keinerlei Nachteil von einer Art Nahrung, an die ihre Or­ gane noch völlig ungewöhnt waren. Bekanntlich wird im Orient auch heut­ zutage noch viel Gebrauch von den Bolar- und Siegelerden aus Lernnos ge­ macht, die ein mit Eisenoxid vermengter Ton sind. In Deutschland streichen die Arbeiter in den Sandsteingruben des Kyffhäuser-Berges auf ihr Brot statt der Butter einen feinen Ton, welchen sie Steinbutter nennen. Sie halten ihn für sehr sättigend und leicht verdaulich. Wenn infolge der Veränderungen, die sich heute in den spanischen Kolo­ nien ankündigen, die Missionen am Orinoco häufiger von gebildeten Rei­ senden besucht werden, wird sich auch der Zeitraum und die Zahl der Tage, welche die Otomaken ohne Zutun anderer Pflanzen- oder Tiernahrung vom Erdeessen leben können, genauer bestimmen lassen. Es muß eine beträcht­ liche Menge von gastrischem und pancreatischem Saft erforderlich sein, um eine so große Menge Ton zu verdauen oder vielmehr einzuhüllen und mit den Exkrementen abzuführen. Man begreift, daß die Absonderung dieser zur Vereinigung mit der Speisesaftmasse geeigneten Säfte durch das Vorhan­ densein der Erde im Magen und in den Gedärmen vermehrt wird; wie mögen dann aber solche vermehrten Absonderungen - die, weit entfernt, dem Körper neue Bestandteile zuzuführen, vielmehr nur eine Versetzung seiner schon auf anderen Wegen erhaltenen Bestandteile bewirken- auf die

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Dauer nicht ein Gefühl von Erschöpfung herbeiführen? Der vollkommene Gesundheitszustand der Otomaken während der Zeit, wo sie nur wenig Muskelbewegung zeigen und eine so außerordentliche Nahrung genießen, ist eine schwer erklärbare Erscheinung. Sie läßt sich wohl nur einer durch viele Geschlechtsfolgen fortgesetzten Gewöhnung zuschreiben. Die Bil­ dung der Verdauungsorgane ist wesentlich abweichend in Tieren, welche ausschließlich von Fleisch oder von Samenkörnern leben. Es ist sogar wahr­ scheinlich, daß auch der Magensaft verschiedene Beschaffenheit hat, je nachdem er entweder animalische oder vegetabilische Substanzen zu ver­ dauen bestimmt ist; doch mag man durch allmählichen Übergang die Le­ bensart der Fleisch und Pflanzen fressenden Tiere verändern und die ersten mit Körnern, die zweiten mit Fleisch ernähren. Der Mensch kann sich an eine außerordentliche und wenig schmerzhafte Enthaltsamkeit gewöhnen, wenn er entweder tonische oder reizende Substanzen gebraucht (verschie­ dene Arzneistoffe, kleine Portionen Opium, Betel, Tabak, Coca-Blätter) oder wenn er periodisch den Magen mit erdigen, unschmackhaften und keine eigentlichen Nahrungsteile enthaltenden Materien anfüllt. Gleich dem wilden Menschen gibt es auch einige Tiere, die Ton oder zerreibliehen Speckstein verschlucken, wenn sie im Winter Hunger leiden müssen; dies tun die Wölfe im nordöstlichen Europa, die Rentiere und, nach dem Zeugnis des Herrn Patrin, die Rehe in Sibirien. An den Gestaden des lenissei und des Amur bedienen sich die russischen Jäger einer tonartigen Substanz, welche sie Felsbutter nennen, als Köder; die Tiere wittern sie von weither: Sie ist ihnen ein angenehmer Geruch wie die Tonerden von Bucaros, welche in Portugal und Spanien unter der Benennung wohlriechender Erden

(tierras olorosas) bekannt sind und dem Geruchssinn der Frauen gefallen. Brown erzählt in seiner Geschichte von Jamaica, die Krokodile im südlichen Amerika verschluckten kleine Steine und Stücke von einem sehr harten Holz, wenn die Seen, worin sie sich aufhalten, ausgetrocknet sind oder wenn sie keine Nahrung finden. In einem 11 Fuß langen Krokodil, welches ich mit Herrn Bonpland zu Batallez an den Ufern des Rio Magdalena zergliedert habe, fanden sich im Magen halb verdaute Fische nebst gerundeten Granit­ stücken von 3 bis 4 Zoll Durchmesser. Es läßt sich kaum glauben, daß die Krokodile diese Steinmassen nur zufällig verschlängen; denn beim Fisch­ fang liegt ihre untere Kinnlade keineswegs am Grund des Strombettes auf. Die Indianer haben die absurde Theorie ausgeheckt, diese trägen Tiere liebten es, ihr Gewicht zu vergrößern, um desto leichter unterzutauchen. Ich dächte wohl eher, sie belüden ihren Magen mit großen Kieseln, um eine vermehrte Absonderung des Magensafts zu bewirken. Die Versuche des Herrn Magendie machen diese Erklärung sehr wahrscheinlich. Die be­ kannte Sitte der körnerfressenden Vögel, aus dem Hühner- und Straußenge­ schlecht zumal, nach der sie Sand und kleine Kieselsteine verschlucken, ist

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bisher einem instinktartigen Trieb zugeschrieben worden, um damit die Zer­ reibung der Nahrung in einem muskulösen und dichten Magen zu beför­ dern. Wir haben schon früher bemerkt, daß Negerstämme am Gambia ihren Reis mit Ton vermengen; vielleicht haben einige Otomaken-Familien früher die Sitte gehabt, in ihrem poya den Mais und andere mehlige Körner faulen zu lassen, um gleichzeitig die Erde und die Stärkemehlsubstanz genießen zu können; vielleicht ist es eine Zubereitung solcherArt, die der Pater Gumilla im ersten Band seines Werkes konfus beschrieben hat, wenn er angibt: "Die Guarnos und die Otomacos nähren sich nur darum mit Erde, weil diese von der

substancia del maiz und vom Cayman-Fett durchdrungen ist." Ich habe

auch oben schon gesagt, daß weder der gegenwärtige Missionar in Uruana noch Fray Juan Gonzales, welcher lange Zeit in dieser Gegend gewohnt hat, von einer solchen Mischung animalischer und vegetabilischer Substanzen mit der poya Kenntnis hat. Vielleicht könnte der Pater Gumilla die Zuberei­ tung der von den Eingeborenen verschluckten Erde mit der noch jetzt unter ihnen anzutreffenden Sitte (Herr Bonpland hat darüber an Ort und Stelle Gewißheit erhalten) verwechselt haben, die Bohnen einer Pflanze aus der Mimosen-Familie zu vergraben, um ihre Auflösung zu befördern und ein weißes, schmackhaftes, aber schwerverdauliches Brot daraus zu bereiten. Die poya-Klöße, welche wir aus den Wintervorräten der Indianer erhielten, zeigten, ich wiederhole es, keine Spur von tierischem Fett oder Stärkemehl ­ stoff. Der Pater Gumilla ist einer der leichtgläubigsten unter allen be­ kannten Reisenden, und man muß darum wohl Bedenken tragen, Tatsa­ chen, die er glaubte, zurückweisen zu müssen, für wahr zu halten. Glückli­ cherweise hat dieser Jesuit im zweiten Band seines Werkes wieder großen­ teils das zurückgenommen, was er im ersten behauptet hatte: Er zweifelt nun nicht mehr, "daß das Brot der Otomaken und der Guarnos mindestens

(a lo menos) zur Hälfte feine Tonerde enthält". Er versichert, Kinder sowohl wie Erwachsene äßen ohne Nachteil für ihre Gesundheit "nicht nur dieses Brot, sondern auch große Portionen reiner Tonerde (muchos terrones de pura greda)". Er setzt hinzu, die, welche den Magen beschwert fühlten, pur­ gierten etliche Tage mit Krokodilfett, wodurch ihrAppetit wiederhergestellt und sie in den Stand gesetzt würden, weiterhin reine Erde zu essen. Ich zweifle, daß die manteca de caiman ein eigentlichesAbführungsmittel sei; da sie aber sehr flüssig ist, mag sie zur Einhüllung der erdigen Substanz, die mit den Exkrementen nicht ausgeleert worden ist, dienlich sein. Zuverlässig ist, daß bei den Guarnos wenn nicht das Fett, so doch das Fleisch der Krokodile als Lieblingsspeise gilt. Wir haben es weiß und von Bisamgeruch frei ge­ funden. Im Sennar ist es, der Angabe des Herrn Burckhardt zufolge, gleich­ falls beliebt und wird auf dem Markt verkauft. Ich kann verschiedene Fragen hier nicht unberührt lassen, die in meh-

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reren infolge meiner Reise an den Orinoco erschienenenAbhandlungen auf­ geworfen worden sind. Herr Leschenault fragt, ob der Gebrauch des ampo (des javanesischen Tons) nicht zur momentanen Stillung des Hungers nütz­ lich werden könnte unter Umständen, wo man entweder keine Nahrungs­ mittel hätte oder wo man ungesunde und schädliche, wenngleich dem organi­ schen Reich angehörende Substanzen genießen müßte. Ich glaube, Versuche über die Folgen einer langen Enthaltung von Speise dürften dartun, daß ein Tier, welches (nach der Sitte der Otomaken) Ton verschluckt, weniger leiden würde als ein anderes bei leerem Magen. Ein italienischer Physiologe, dem die sehr geringe Menge von phosphorsaurem Kalk und Magnesit, von Kiesel­ erde, Schwefel, Soda, Flußsäure, Eisen und Braunstein und die große Menge von Kohlen-, Sauer-, Stick- und Wasserstoff, welche in den festen und flüssigen Teilen des menschlichen Körpers enthalten sind, auffallend vorkommen, fragt, ob das Atemholen nicht als ein fortdauernder Ernäh­ rungsakt angesehen werden könne, während der Verdauungsapparat mit Ton angefüllt sei. Die chemische Prüfung der ein- und ausgeatmeten Luft be­ sätigt diese Vermutung jedoch nicht. Es fällt schwer, über den Verlust einer sehr kleinen Menge Stickstoff Gewißheit zu erhalten, und man kann gelten lassen, daß die Funktionen des Atemholens sich nur auf die Abgabe von Kohlen- (carbone) und Wasserstoff (hydrogene) [Abgabe nur von Kohlen­ dioxyd] beschränken. Eine Mischung von phosphorsaurem und kohlensaurem Kalk kann die nährende Eigenschaft nicht haben, welche andere, gleichfalls keinen Stick­ stoff enthaltende aber dem organischen Reich angehörende Substanzen (Zucker, Gummi, Stärkemehl) besitzen. Unser Verdauungsapparat verhält sich wie voltaisehe Säulen, die nicht alle Substanzen zersetzen. DieAssimila­ tion unterbleibt nicht nur, wenn die in den Magen aufgenommenen Sub­ stanzen keinen Nahrungsstoff enthalten, welcher mit den Bestandteilen des menschlichen Körpers verwandt ist, sondern auch, weil die Verdauungskraft (die der chemischen Zersetzung) sich nicht ohne Unterschied auf alle Ver­ bindungen erstreckt. Man kann übrigens solche Untersuchungen der allge­ meinen Physiologie kaum anstellen, ohne die Frage aufzuwerfen, was wohl aus der Gesellschaft oder, richtiger gesprochen, aus der Menschengattung geworden wäre, wenn der Mensch zu seiner Nahrung keiner anderen Pro­ dukte der Organisation und Vitalität bedurft hätte. Keine Gewöhnung vermag den Ernährungsprozeß wesentlich zu verändern. Wir werden nie­ mals die Erdarten verdauen und assimilieren lernen; seit aber die wichtigen Arbeiten der Herren Gay-Lussac und Thenard bewiesen haben, daß nur ge­ ringe Unterschiede der Proportionen von Sauer-, Wasser- und Kohlenstoff im härtesten Holz und im Stärkemehl angetroffen werden, wer möchte da leugnen, daß es der Chemie nicht einst gelingen könnte, diese ungeheuren vegetabilischen Massen, diese verhärteten Fasergewebe, aus denen die

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Baumstämme unserer Wälder bestehen, in Nahrungsstoff zu verwandeln? Wirklich wichtig würde diese Entdeckungjedoch nur dann werden, wenn sie dafür ein einfaches und billiges Verfahren angäbe. Unter dieser zwar un­ wahrscheinlichen Voraussetzung müßte sie allerdings große Veränderungen in den Verhältnissen der Staatsgesellschaften, im Arbeitslohn und in der Ver­ teilung der Bevölkerung über die Erde herbeiführen. Sie würde den Men­ schen unabhängiger machen, damit aber auch die Gesellschaftsbande auf­ lösen und die Fundamente des Gewerbefleißes und der Zivilisation unter­ graben.

[Niopo- und Curupa-Pulver, Tabak undAmeisenzunder] Die Verwaltung des kleinen Dorfs Uruana ist schwieriger als die der mei­ sten übrigen Missionen. Die Otomaken sind ein unruhiges, lärmendes, von wilden Leidenschaften beherrschtes Volk. Nicht nur frönen sie dem über­ mäßigen Genuß gegorener Getränke aus Manioc und Mais sowie des Palm­ weins; sie versetzen sich auch durch den Gebrauch des Niopo-Pulvers in einen eigentümlichen Zustand von Trunkenheit, man könnte sagen von Wahnsinn. Sie pflücken die langen Hülsen einer Pflanze aus der Mimosen­ Familie, die wir unter dem Namen Acacia

niopo beschrieben haben; sie zer­

hacken sie und lassen sie angefeuchtet gären. Wenn die aufgeweichten Blätter anfangen, schwarz zu werden, kneten sie sie zu einem Teig, und nachdem sie diesen mit Maniocmehl und dem aus einer Ampullarien-Mu­ schel gezogenen Kalk vermengt haben, setzen sie die Masse über ein leb­ haftes Feuer auf einem Rost aus sehr hartem Holz. Der verhärtete Teig nimmt die Gestalt kleiner Kuchen an. Will man diese gebrauchen, werden sie zu ganz feinem Pulver zerrieben und dieses auf einen 5 bis

6 Zoll breiten

Teller gestreut. Der Otomake hält den mit einer Handhabe versehenen Teller in der rechten Hand, während er das

niopo mit der Nase durch einen

gabelförmigen Vogelknochen einzieht, dessen zwei Endstücke in die Nasen­ löcher reichen. Das Knochenstück, welches dem Otomaken für diese Art Tabakschnupfen unentbehrlich dünkt, hat 7 Zoll Länge; es schien mir der Fußknochen

(tarsus) eines großen Strandläufers zu sein. Ich habe das niopo

mit der ganzen seltsamen Apparatur an Herrn Fourcroy nach Paris gesandt. Es ist so stark reizend, daß es auch in den kleinsten Portionen ungewöhnten Personen ein heftiges Niesen verursacht. Der Pater Gumilla sagt: "Dieses teuflische Pulver der Otomaken, das von einem baumartigen Tabak her­ rührt, berauscht sie durch die Nasenlöcher

(emborracha por las narices),

raubt ihnen für einige Stunden den Verstand und macht sie im Gefecht wü­ tend." Die Familie der Schotengewächse zeigt sehr auffallende Verschieden­ heiten in den chemischen und medizinischen Eigenschaften ihrer Samen, ihrer Säfte und ihrer Wurzeln; und obgleich der Saft der Frucht der

Mimosa

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nilotica sehr stark zusammenziehend ist, kann man darum doch nicht

glauben, daß die Schote der Acacia niopo dem Tabak der Otomaken zu­ nächst seine Reizkraft verleihe. Diese rührt vielmehr vom frischgebrannten Kalk her. Es ist oben bemerkt worden, daß die Bergbewohner der Anden von Popayan und die Guajiros, welche zwischen dem Maracaibo-See und dem Rio la Hacha herumziehen, den Kalk gern als Reizmittel genießen, um die Absonderung des Speichels und Magensafts zu befördern. Ich habe bei Übersendung des zusammengesetzten Apparats, dessen sich die Otomaken-Indianer zum Einziehen des Niopo-Pulvers bedienen, die Gelehrten an eine ähnliche Sitte erinnert, welche Herr de La Condamine bei den Eingeborenen des oberen Maraft6n wahrgenommen hat. Die Omaguas, deren Name durch die Streifzüge zur Aufsuchung des Dorado berühmt ge­ worden ist, gebrauchen die gleichen Teller und dieselben hohlen Vogelkno­ chen, um ihr Curupa-Pulver durch die Nasenlöcher einzuziehen. Der Samen, welcher dieses Pulver liefert, ist ohne Zweifel gleichfalls eine Mimo­ sacee; denn die Otomaken bezeichnen noch heute (wie der Pater Gili versi­ chert) bei 262 Iieues Entfernung vom Amazonenstrom die Acacia niopo mit dem Namen curupa. Seit den geographischen Forschungen, welche ich neu­ lich in bezug auf den Schauplatz von Philipp von Huttens Expeditionen sowie hinsichtlich der wahren Lage der Provinz von Papamene oder der Omaguas angestellt habe, hat die Vermutung einer vormals bestandenen Verbindung zwischen den Otomaken vom Orinoco und den Omaguas vom Maraft6n an Interesse und an Wahrscheinlichkeit gewonnen. Jene sind vom Meta her gekommen, vielleicht aus dem Land zwischen dem Meta und dem Guaviare; diese wiederum geben selbst an, sie seien in großer Zahl vom öst­ lichen Andenabhang von Neu-Granada den Rio Japura herab an den Maraft6n gelangt. Gerade aber zwischen dem Guayavero, der sich mit dem Guaviare vereinigt, und dem Caqueta, der weiter unten den Namen Japura erhält, scheint das Land der Omaguas gelegen zu sein, dessen Eroberung die Abenteurer von Coro und von Tocuyo ohne Erfolg versucht haben. Freilich waltet ein auffallender Kontrast zwischen der gegenwärtigen Versunkenheit der Otomaken und der vormaligen Zivilisation der Omaguas; vielleicht aber waren nicht alle Teile dieser Nation in der Gesittung gleichmäßig vorge­ rückt, und es gibt leider nur allzu viele Beispiele in völlige Versunkenheit geratener Völkerstämme in der Geschichte unserer Gattung. Noch in einem anderen Punkt sind die Otomaken und die Omaguas einander ähnlich. Der eine wie der andere Stamm zeichnet sich unter den Völkerstämmen am Ori­ noco und am Amazonenstrom durch den vielfältigen Gebrauch aus, den sie vom Kautschuk oder der eingedickten Milch der Euphorbiaceen und Urti­ ceen machen. Der echte krautartige Tabak (denn die Missionare nennen gewöhnlich den niopo oder curupa Baumtabak) wird von undenklicher Zeit an unter allen

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con­ quista die Sitte des Rauchens in beiden Amerika überall angetroffen. DieTa­

eingeborenen Völkern am Orinoco angebaut; auch wurde zur Zeit der

manaken und die Maipures von Guayana wickeln die Zigarren in Mais, wie es schon die Mexicaner zur Zeit, als Cortes bei ihnen eintraf, getan haben. Aus Nachahmung bedienten sich die Spanier statt der Maisblätter des Pa­ piers. Die armen Indianer der Wälder vom Orinoco wissen so gut wie die vor­ nehmen Herren am HofMoctezumas, daß derTabakrauch ein vortreffliches Narkoticum ist; sie gebrauchen ihn nicht nur zur Siesta, sondern auch um sich in einen Zustand von Quietismus zu versetzen, den sie sehr naiv "mit offnen Augen träumen" oder "am Tage träumen" nennen. In allen amerika­ nischen Missionen schien mir heutzutage der Gebrauch des Tabaks überaus selten geworden zu sein; und in Neu-Spanien [Mexico] rauchen zum großen Leidwesen des Fiskus die Eingeborenen, fast alles Abkömmlinge der unter­ sten Klassen des Aztekenvolks, ganz und gar nicht. Der Pater Gili be­ hauptet, den Indianern des unteren Orinoco sei die Sitte des Tabakkauens unbekannt. Die Wahrheit dieser Angabe kommt mir etwas zweifelhaft vor; denn man hat mir versichert, die Sercucumas von Erebato und vom Caura, die Nachbarn der weißlichen Taparitos, verschlängen gehackten und mit einigen anderen stark reizenden Säften angereicherten Tabak, um sich zum

(N. Tabacum, N. rustica, N. paniculata und N. glutinosa) haben wir nur die zwei letzteren wild wachsend gesehen; aber Nicotiana lojensis und Nicotiana andi­ cola, welche ich auf dem Rücken der Anden bei 1850 Toisen Höhe, fast in der Höhe des Pies von Teneriffa, gefunden habe, sind Nicotiana tabacum und Nicotiana rustica sehr nahe verwandt. Die ganze Gattung ist übrigens Kampf zu rüsten. Von vier in Europa angebauten Arten der Nicotiana

fast ausschließlich amerikanisch, und weitaus die meisten ihrer Arten schienen mir den bergigen und gemäßigten Regionen der Tropenländer an­ zugehören. Weder aus Virginien noch aus dem südlichen Amerika, wie in mehreren landwirtschaftlichen und botanischen Schriften irrigerweise behauptet wird, sondern aus der mexicanischen Provinz Yucatan hat Europa um das Jahr

1559 den ersten Samen der Tabakpflanze erhalten. Der Mann, welcher die Fruchtbarkeit der Gestade des Orinoco am meisten gepriesen hat, der be­ rühmte Raleigh, ist auch der, welcher zur Einführung der Sitte des Rauchens bei den nordischen Völkern am meisten beitrug. Schon zu Ende des 16. Jahr­ hunderts wurde in England bittere Klage über "diese Nachahmung der Sitten einer Völkerschaft von Wilden" geführt. Man äußerte die Besorgnis, es könnte geschehen, daß durch das immer mehr überhandnehmende Ta­ bakrauchen Anglorium

corpora in barbarorum naturam degenerent. niopo (ihres

Wenn die Otomaken von Uruana durch den Gebrauch des

Baumtabaks) und der gegorenen Getränke in einen mehrere Tage andau­ ernden Zustand von Trunkenheit versetzt sind, bringen sie einander ohne

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Waffen ums Leben. Die bösartigsten unter ihnen vergiften den Nagel ihres Daumens mit

curare,

und nach dem Zeugnis des Missionars kann das bloße

Eindrücken dieses vergifteten Nagels tödlich sein, wenn das Curare recht kräftig ist und der Blutmasse unmittelbar beigemischt wird. Wenn die In­ dianer nach einem Streit nächtlicherweile einen Mord begehen, werfen sie die Leiche in den Strom, damit keine Spuren der verübten Gewalt daran ent­ deckt werden mögen. "Sooft ich", sagte uns der Pater Bueno, "die Frauen an einer ungewohnten Stelle des Ufers Wasser schöpfen sehe, vermute ich, es sei ein Mord in meiner Mission vorgefallen." In Uruana trafen wir in den Hütten der Indianer die gleiche vegetabilische Substanz (Ameisen-Zunder) [yesca

de hormigas] wieder an, die wir bei den

großen Katarakten kennengelernt hatten und die zur Stillung des Bluts ge­ braucht wird. Dieser Zunder, den man richtiger Ameisennest nennen könnte, ist sehr gesucht in einer Gegend, deren Bewohner von derart uD­ friedlichem Charakter sind. Eine neue Art der Ameise, von schön smaragd­ grüner Farbe

(Formica spinicollis),

sammelt sich für ihr Nest einen baum­

wollartigen, braungelben, sehr weich anzufühlenden Flaum auf den Blät­ tern einer Melastomacee. Ich zweifle nicht, daß das yesca oder der Ameisen­ zunder vom oberen Orinoco ( das Tier findet sich, wie man behauptet, nur südwärts von Atures) künftig ein Gegenstand des Handelsverkehrs werden könnte. Dieser Stoff ist viel vorzüglicher als das Ameisennest von Cayenne, welches in europäischen Spitälern gebraucht wird, aber sehr schwer zu be­ kommen ist. *

Ungern verließen wir am 7. Juni

[1800]

den Pater Rarnon Bueno. Unter

zehn Missionaren, die wir auf dieser weit ausgedehnten Landschaft von Guayana verteilt fanden, schien er mir der einzige zu sein, welcher alle Ver­ hältnisse der eingeborenen Völker aufmerksam beobachtete. Er hoffte bald nach Madrid zurückzukehren, wo er das Resultat seiner Untersuchungen über die Bilder und Schriftzüge der Felsen von Uruana zu publizieren plante. In den Landschaften, durch die wir unseren Weg genommen hatten, zwischen dem Meta, dem Arauca und dem Apure, waren zur Zeit der ersten Streifzüge an den Orinoco, zum Beispiel desjenigen von Alonso de Herera

(im Jahre 1535), renen

stumme Hunde angetroffen worden, welche die Eingebo­

maios und auries nannten.

Diese Tatsache ist in mehrfacher Hinsicht

merkwürdig. Es läßt sich nicht bezweifeln, daß die Hunde, was auch der Pater Gili davon halten mag, in Südamerika einheimisch sind. Die verschie­ denen Landessprachen besitzen Wörter, welche dieses Tier bezeichnen und die nicht aus europäischen Sprachen stammen. Noch heute findet sich das vor dreihundert Jahren von Alonso de Herera angegebene Wort

auri in der

Maipure-Sprache. Es ist möglich, daß die Hunde, welche wir am Orinoco

154

Kapitel XXIV

sahen, von denen abstammen, welche die Spanier an die Küste von Caracas gebracht haben; aber ebenso gewiß ist, daß in Peru, in Neu-Granada und in Guayana vor der Zeit der conquista eine unseren Schäferhunden ähnliche Rasse vorhanden war. Der allco der Eingeborenen von Peru und überhaupt alle Hunde, die wir in den wildesten Gegenden von Südamerika angetroffen haben, bellen häufig. Die ältesten Historiker sprechen indes von stummen Hunden (perros mudos); solche finden sich noch in Kanada, und was mir be­ sonders bemerkenswert schien, ist der Umstand, daß diese stumme Spielart die war, welche vorzugsweise in Mexico und am Orinoco gegessen wurde. Ein kenntnisreicher Reisender, Herr Giesecke, welcher sechsJahre in Grän­ land gewohnt hat, versicherte mir, daß die Hunde der Eskimos, die stets im Freien leben und sich zur Winterzeit in den Schnee eingraben, ebensowenig bellen, aber wie Wölfe heulen. Heutzutage ist das Hundefleischessen an den Ufern des Orinoco völlig un­ bekannt: Weil es aber eine tatarische, über das ganze östliche Asien verbrei­ tete Sitte ist, scheint mir von großem Interesse für die Völkergeschichte die Feststellung derTatsache ihrer früheren Verbreitung in den heißen Regionen von Guayana und auf der Hochebene von Mexico. Ich bemerke weiter, daß auf der Grenze der Provinz Durango, am westlichen Ende Neu-Spaniens, die Comanchen-Indianer die Sitte beibehalten haben, ihre aus Büffelfellen verfertigten Zelte großen Hunden aufzuladen, die sie auf ihren Wande­ rungen begleiten. Bekanntlich ist der Gebrauch des Hundes als Last- und Zugtier am Sklavensee und in Sibirien alltäglich. Ich betone solche überein­ stimmende Züge von Völkergewohnheiten; sie erhalten einiges Gewicht, wenn sie nicht isoliert, sondern mit Analogien verbunden sind, welche die Struktur der Sprachen, die Zeiteinteilung, der Glauben und Kultus bieten. Wir lagerten auf der Insel Cucurupani, die auch Playa de la Tortuga ge­ nannt wird, weil die Indianer von Uruana sie besuchen, um Schildkröteneier zu sammeln. Sie ist einer der am zuverlässigsten bestimmten Breitenpunkte längs der Gestade des Orinoco. Ich hatte das Glück, den Durchgang von drei Sternen durch den Meridian beobachten zu können. Auf der Ostseite der Insel findet sich die Einmündung des Cafto de la Tortuga, welcher von den durch elektrische Wolken stets verhüllten Bergen von Cerbatana herab­ kommt. Am südlichen Ufer dieses Cafto zwischen den Zuflüssen des Para­ para und des Oche befindet sich die fast zerstörte Mission von San Miguel de la Tortuga. Die Indianer versicherten uns, in der Nähe dieser kleinen Mis­ sion fände sich eine Menge Fischotter mit sehr feinem Haar, die von den Spa­ niern Wasserhunde genannt werden, und, was merkwürdiger ist, auch zwei­ füßige Eidechsen (lagortos). Diese ganze, zwischen dem Rio Cuchivero und dem Engpaß von Baragmin leicht zugängliche Landschaft wäre wohl wert, von einem unterrichteten Zoologen besucht zu werden. Der lagorto, dem die Hinterbeine fehlen, ist vielleicht eine von Siren lacertina in den Gewäs-

Kapitel XXIV

155

sern von Carolina verschiedene Art. Wäre es ein Saurier, ein wahrer Bimane (Chirotes, Cuvier), so hätten die Eingeborenen ihn nicht mit einer Eidechse verglichen. Außer den arau-Schildkröten, von denen ich oben ausführliche Nachricht gab, nähren sich an den Ufern des Orinoco zwischen Uruana und Encamerada noch eine zahllose Menge Landschildkröten, welche morocoi heißen. In der großen Sommerhitze, während der Trockenzeit, halten sich diese Tiere verborgen, ohne Nahrung einzunehmen, unter Steinen oder in selbst gegrabenen Löchern. Sie verlassen ihren Unterschlupf nur und be­ ginnen zu fressen, wenn sie bemerken, daß die Feuchtigkeit der ersten Regen in den Boden eindringt. Die terekays- oder Tajelus-Schildkröten, welche Süßwasser bewohnen, befolgen die gleiche Sitte. Ich habe anderswo [siehe Teilband 2, S. 158] vom Sommerschlaf einiger Tiere aus der Tropen­ welt gesprochen. Die Eingeborenen kennen die Löcher, worin mitten im ausgedörrten Land die Schildkröten schlafen, und sie holen aus solchen durch 15 bis 18 Zoll tiefes Nachgraben oft eine große Zahl Eier auf einmal hervor. Der Pater Gili versichert als Augenzeuge, dieses Verfahren sei nicht gefahrlos, weil sich öfters im Sommer Schlangen mit den terekays ein­ grüben. Von der Insel Cucurupani bis zur Hauptstadt von Guayana, welche ge­ wöhnlich Angostura [Ciudad Bolivar] genannt wird, brauchten wir nur neun Tage. Die Entfernung beträgt keine 95 Iieues. Wir übernachteten selten an Land; aber die Qual der Moskitos nahm im Maße unseres Vorrückens merk­ lich ab. Am 8. Juni [1800] landeten wir bei einem Hof (Hato de San Rafael del Capuchino), der Einmündung des Rio Apure gegenüber. Ich erhielt gute Breiten- und Längen-Beobachtungen. Da ich zwei Monate früher an dem Capuchino gegenüberliegenden Ufer Stundenwinkel aufgenommen hatte, waren jetzt diese Bestimmungen wichtig sowohl zur Kontrolle des Gangs meines Chronometers als auch zur Verbindung der Positionen am Orinoco mit denen des Küstenlands von Venezuela. Dieser Hof an der Stelle, wo der Orinoco seinen Lauf von Süden nach Norden gegen den von Westen nach Osten ändert, hat eine sehr malerische Lage. Granitfelsen erheben sich wie kleine Inseln mitten in den ausgedehnten Prärien. Von ihren Gipfeln herab entdeckten wir am nördlichen Horizont die Llanos oder Steppen [Feucht­ savannen. Anmerkung des Hrsg.] von Calabozo. Da wir seit geraumer Zeit den Anblick der Wälder gewöhnt waren, regte die neue Erscheinung unsere Phantasie mächtig an. Nach Sonnenuntergang erhielt die Steppe eine grau­ grünliche Färbung. Die Sehlinie war nur von der Erdkrümmung unterbro­ chen, die Sterne schienen aus dem Schoß des Weltmeers aufzusteigen, und auch der erfahrenste Seemann konnte glauben, sich auf einer Felsenküste, auf einem vorstehenden Kap zu befinden. Unser Wirt war ein Franzose, Herr Fran�ois Doizan, der mitten unter zahlreichen Herden wohnte. Ob­ gleich er seine Sprache vergessen hatte, hörte er mit Vergnügen, daß wir aus

156

Kapitel XXIV

seinem Heimatland kämen. Er hatte es vor vierzig Jahren verlassen und würde uns gern ein paar Tage bei sich behalten haben. Die europäischen Staatsumwälzungen waren ihm fast ganz unbekannt geblieben. Er sah darin nur eine gegen den Klerus und die Mönche gerichtete Bewegung; "diese", sagte er, "wird so lange andauern, wie die Mönche Widerstand leisten". Diese Ansicht war ziemlich natürlich bei einem Menschen, der sein Leben auf der Grenze der Missionen zugebracht hatte, wo beständig vom Konflikt der weltlichen mit der geistlichen Gewalt die Rede ist. Die kleinen Städte Caycara und Cabruta stehen nur einige Meilen vom Hof entfernt; aber einen Teil des Jahres hindurch lebt unser Wirt völlig abgeschnitten. Der Capuchino wird durch die

Überschwemmungen des Apure und des Orinoco zur Insel,

so daß nur zu Schiff mit den benachbarten Höfen Verbindung unterhalten werden kann. Das Hornvieh zieht dann auf das höher gelegene Erdreich, das sich südwärts gegen die Bergkette von Encaramada erhebt. Diese Kette von Granitgebirgen wird von kleinen Tälern zerschnitten, welche magneti­ schen Sand (oxidiertes körniges Eisen) enthalten, das von der Zersetzung einiger Hornblende- oder Chlorit-Lager herrührt. Am 9. Juni [ 1800] morgens begegnete uns eine beträchtliche Anzahl mit

Kaufmannswaren beladener Boote, die segelnd den Orinoco hinauffuhren, um in den Apure einzulaufen. Es ist eine sehr befahrene Handelsstraße zwi­ schen Angostura und dem Hafen vonTorunos in der Provinz Barinas. Unser Reisegefährte Don Nieobis Soto, der Schwager des Gouverneurs von Barinas, schlug diesen Weg ein, um in den Schoß seiner Familie zurückzu­ kehren. Zur Zeit des Hochwassers verliert man mehrere Monate im Kampf gegen die Strömungen des Orinoco, des Apure und des Rio de Santo Do­ mingo. Die Schiffsleute sind genötigt, ihre Fahrzeuge an Baumstämme anzu­ binden und das Schiff mit Tauen flußaufwärts zu ziehen. In den großen Strombuchten brauchen sie zuweilen ganze Tage, um eine Strecke von 200 bis 300Toisen vorzurücken. Seit meiner Rückkehr nach Europa sind die Ver­ bindungen zwischen der Mündung des Orinoco und den am östlichen Ab­ hang der Berge von Merida, Pamplona und Santa Fe de Bogota gelegenen Provinzen viel lebhafter geworden, und man darf hoffen, mit Dampfbooten möchten diese langen Fahrten auf dem unteren Orinoco, dem Apure, dem Portuguesa, dem Rio Santo Domingo, dem Orivante, dem Meta und dem Guaviare wesentlich erleichtert werden. Man wird dort wie an den Ufern der großen Ströme der Vereinigten Staaten Niederlagen von gefälltem Holz mit Schuppen schützen können. Diese Vorsorgen werden um so unentbehrlicher sein, als es in den von uns besuchten Landschaften schwer ist, sich einen trockenen und zum Unterhalt von kräftigem Feuer unter dem Kessel einer Dampfmaschine tüchtigen Brennstoff zu verschaffen. Unterhalb von San Rafael del Capuchino landeten wir rechts bei Villa de Caycara, in der Nähe einer Bucht, die Puerto Sedefio heißt. Eine kleine

Kapitel XXIV

157

Zahl beisammenstehender Häuser führt den vornehmen Namen Villa. Alta Gracia, la Ciudad de la Piedra, Real Corona, Borb6n, alle zwischen der Ein­ mündung des Apure und Angostura gelegenen Städte sind gleich elend. Ich habe schon oben bemerkt, daß die Vorsteher der Missionen und die Statt­ halter der Provinzen gewohnt waren, in Madrid Privilegien der viilas und ciu­

dades nachzusuchen, wenn eben erst die Fundamente einer Kirche gelegt waren. Damit wollte man das Ministerium von den schnellen Fortschritten der Kolonie in Bevölkerung und Wohlstand überzeugen. Nahe bei Caycara am Cerro del Tirano finden sich die in Felsen gehauenen Bilder von Sonne und Mond, von denen oben die Rede war. "Es ist eine Arbeit der Alten ( das

heißt, unserer Voreltern) ", sagen die Eingeborenen. Man behauptet, auf

einem vom Gestade entfernteren Felsen, der den Namen Teeoma führt, fänden sich die symbolischen Bilder bis zu hundert Fuß Höhe. Früher kannten die Indianer einen Landweg, welcher von Caycara nach Demerary und Essequibo führte. Sollten auf diesem Wege vielleicht die Völker­ schaften, welche die durch den Reisenden Horstmann beschriebenen Bilder in den Felsen gruben, an den Amucu-See gelangt sein? Caycara gegenüber, am westlichen Ufer des Orinoco, liegt die Mission von Cabruta, die 1740 als ein Vorposten gegen die Cariben durch den Je­ suiten Rotella gegründet wurde. Die Indianer besaßen seit mehreren Jahr­ hunderten an derselben Stelle ein unter dem Namen Cabritu bekanntes Dorf. Als der kleine Ort eine christliche Niederlassung wurde, glaubte man, er liege unter SO Breite, das heißt 2o 40' südlicher, als ich ihn nach direkten, in San Rafael und in la Boca del Rio Apure gemachten Beobachtungen ge­ funden habe. Damals hatte man keinen Begriff von der Richtung eines Wegs, der über Land nach Nueva Valencia und nach Caracas, von denen man sich unendlich weit entfernt dachte, führen könnte. Es war eine Frau, welche zum ersten Mal die Llanos durchwanderte, um von Villa de San Juan Baptista del Pao nach Cabruta zu kommen. Der Pater Gili erzählt, Dofia Maria Bargas habe eine solche Vorliebe für die Jesuiten gehabt, daß sie ganz allein den Weg nach den Missionen zu entdecken unternahm. Mit nicht ge­ ringem Erstaunen sah man sie in Cabruta von der Nordseite eintreffen. Sie wählte sich ihren Wohnsitz in der Nähe der Väter des heiligen Ignatius und starb in ihren Niederlassungen an den Gestaden des Orinoco. Seit dieser Zeit ist der südliche Teil der Llanos beträchtlich bevölkert, und die aus den Tälern von Aragua, durch Calabozo nach San Fernando de Apure und nach Cabruta führende Straße wird heutzutage viel benutzt. Den letztgenannten Ort hatte auch 1754 der Anführer der berühmten Grenzexpedition für Zim­ merplätze und Werften, zum Bau der nötigen Fahrzeuge für den Transport der an den oberen Orinoco bestimmten Mannschaft, gewählt. Der kleine Berg, welcher sich nordöstlich von Cabruta erhebt, ist sehr weit in den Steppen sichtbar und dient den Reisenden als Orientierungszeichen.

Kapitel XXIV

158

Wir schifften uns morgens in Caycara ein; der Strömung des Orinoco fol­ gend, kamen wir zunächst an der Einmündung des Rio Cuchivero vorbei, wo einer alten Überlieferung zufolge die aikeam-benanos oder Frauen ohne Männer ihren Wohnsitz hatten, danach beim Dörfchen Alta Gracia, das den Namen einer spanischen Stadt trägt. In ihrer Nachbarschaft hatte Don Jose de Huriaga den pueblo de Ciudad Real gegründet, welcher auch auf den neuesten Karten noch figuriert, obgleich er wegen seiner ungesunden Lage seit fünfzig Jahren nicht mehr besteht. Nachdem man die Stelle passiert hat, wo der Orinoco sich ostwärts wendet, finden sich ununterbrochene Wälder auf dem rechten und die Llanos oder Steppen Venezuelas auf dem linken Ufer. Die Wälder, welche den Fluß einfassen, sind indessen nicht so dicht wie die des oberen Orinoco. Die Bevölkerung nimmt merklich zu, während man der Hauptstadt näherrückt; man trifft nur wenige Indianer an, aber Weiße, Neger und Mischlinge. Die Zahl der Neger ist unbeträchtlich, und unglücklicherweise ist es hier wie überall so, daß die Armut der Gebieter ihnen keine menschlichere und ihrer Erhaltung günstigere Behandlung ge­ währt. Ein Bewohner Caycaras, Hr. V-a, war kürzlich mit vierjähriger Ge­ fängnishaft und

100 Piaster Geldbuße bestraft worden, weil er in einem An­

fall von Zorn eine mit den Füßen an den Schwanz seines Pferdes festgebun­ dene Negerin in schnellem Galopp durch die Savanne geschleift hatte, bis sie ihren grausam schmerzhaften Tod fand. Ich erwähne gern, daß die Au­ diencia allgemein dafür getadelt wurde, daß sie eine so greuliche Untat nicht strenger bestraft hatte. Jedoch gab es auch eine, wenn auch kleine Zahl von Personen (und zwar solche, die sich für die Aufgeklärtesten und Klügsten hielten), welche die Bestrafung eines Weißen für unpolitisch erklärten zu einem Zeitpunkt, wo sich die Schwarzen in Santo Domingo in vollem Auf­ stand befanden. Wenn verhaßte Einrichtungen bedroht sind, fehlt es nie an Leuten, welche raten, man solle, um sie zu handhaben, auch in den unge­ rechtesten und unvernünftigsten Dingen nicht nachgeben. Seit ich diese Ge­ genden verließ, haben die bürgerlichen Zwiste die Sklaven bewaffnet, und eine traurige Erfahrung hat die Einwohner von Venezuela bereuen lassen, daß sie Don Domingo Tovar und anderen rechtschaffenen Bürgern kein Gehör gaben, die bereits im Jahre 1795 ihre Stimme im Cabildo von Caracas hören ließen, um die Einfuhr der Schwarzen abzustellen und Mittel für die Verbesserung ihrer Lage vorzuschlagen. Nachdem wir am

10.

Juni

[1800]

auf einer Insel mitten im Fluß (es war,

glaube ich, die, welche der Pater Caulin Acaru nennt) übernachtet hatten, kamen wir bei der Einmündung des Rio Caura vorbei; es ist neben demAruy und dem Caroni der bedeutendste Zuftuß, den der untere Orinoco an seinem rechten Ufer erhält. Da ich während meinesAufenthalts in den Fran­ ziskanermissionen viele geographische Materialien über den Caura zusam­ menbringen konnte, habe ich eine Spezialkarte entworfen [>Atlas geogra-

Kapitel XXIV phique et physique du Nouveau ContinentExamen critiqueRecueil de Zoologie et d'Anatomie comparee< abgebildet habe. Die An­ kunft so vieler französischer Soldaten und die Äußerung politischer und reli­ giöser Meinungen, die nicht gänzlich mit denen übereinstimmten, wodurch Metropolen ihre Autorität zu befestigen glauben, verursachten eine gewal­ tige Gärung in der Bevölkerung Cumamis. Der Gouverneur behandelte die französischen Behörden mit den gefälligen Formen, welche der Anstand und die damals zwischen Frankreich und Spanien bestehenden innigen Bande verlangten. Auf den Straßen drängten sich die Farbigen um den Agenten des Direktoriums, der reich und theatralisch gekleidet auftrat; da aber auch sehr weißhäutige Menschen mit großer Zudringlichkeit überall, wo es ihnen gelang, sich verständlich zu machen, sich über den Grad des Ein­ flusses informierten, den die Republik den Kolonisten in der Regierung von Guadeloupe einräumte, verdoppelten die königlichen Beamten ihren Eifer, die kleine Eskadre mit den nötigen Vorräten zu versehen. Fremdlinge, die sich rühmten, frei zu sein, schienen ihnen unbequeme Gäste, und ich sah, daß in einem Land, dessen ständig wachsender Wohlstand auf dem heimli­ chen Verkehr mit den Inseln und auf einer gewissen dem Ministerium abge­ zwungenen Handelsfreiheit beruhte, die europäischen Spanier sich noch darin gefielen, die alte Weisheit des Gesetzbuches

(leyes de Indias) bis zu den

266

Kapitel XXV

Wolken zu erheben, was fremden Schiffen nur in Fällen extremer Havarie oder Not die Häfen zu öffnen erlaubt. Ich erwähne diese Kontraste zwischen den unruhigen Wünschen der Ansiedler und der mißtrauischen Unbeweg­ lichkeit der Regierenden, weil sie einiges Licht auf die großen politischen Er­ eignisse werfen, die, von langer Hand vorbereitet, Spanien von seinen Kolo­ nien oder (wie man es vielleicht richtiger ausdrückt) von seinen überseei­ schen Provinzen getrennt haben. Vom 3. bis zum 5. November [1800] brachten wir nochmals einige sehr an­ genehme Tage auf der Halbinsel Araya zu, die jenseits des Golfs von Ca­ riaco, Cumana gegenüber, liegt und deren Perlen, Salzlager und unterseei­ sche Quellen von flüssigem, farblosem Erdöl ich bereits beschrieben habe. Wir vernahmen, daß die Indianer von Zeit zu Zeit natürlichen Alaun aus den nahen Bergen in bedeutender Menge zur Stadt brächten. Die Muster, welche wir davon zu Gesicht bekamen, zeigten deutlich, daß dort weder Alaunstein, ähnlich dem Gestein von Tolfa und Piombino, vorkommt noch die haarförmigen und seidenartigen alkalischen Sulfate aus Tonerde und Magnesium seien, welche Gebirgsspalten und Höhlen auskleiden, sondern wirkliche Massen natürlichen Alauns mit concholdem [ muschelförmige Kurve] oder unvollkommen blätterigem Bruch. Man machte uns Hoffnung, wir würden die Alaunmine im Schiefergebirge von Manicuare finden. Eine derart neue geognostische Erscheinung mußte unsere ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. Der Frater Juan Gonzalez und der Schatzmeister Don Ma­ nuel Navarrete, der uns gleich bei unserer ersten Ankunft an diesen Küsten mit gutem Rat beigestanden hatte, begleiteten uns auch auf dieser kleinen Exkursion. Nachdem wir nahe bei Kap Caney gelandet waren, besuchten wir nochmals die alte, durch Einbruch des Meeres in einen See verwandelte Saline, die schönen Ruinen des Schlosses Araya und den Kalkberg Barig6n, der wegen seiner steilen Abdachung auf der Westseite ziemlich schwer zu­ gänglich ist. Der mit Bitumen und linsenförmigem Gips gemischte salzhal­ tige Ton, der zuweilen in einen braunschwarzen Ton ohne Salzgehalt über­ geht, bildet eine in dieser Halbinsel, auf der Insel Margarita und am gegen­ überstehenden Festland in der Nähe des Schlosses San Antonio von Cumana sehr verbreitete Formation. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß das Vor­ handensein dieser Formation zu den Spalten und Zerreißungen des Bodens beigetragen hat, die dem Geognosten auffallen, wenn er auf einer Erhöhung der Halbinsel Araya steht. Die aus Glimmer- und Tonschiefer bestehende Cordillere dieser Halbinsel ist nordwärts durch den Kanal von Cubagua von der Bergkette der Insel Margarita, die beide aus gleichartigen Formationen bestehen, getrennt; südwärts wird die Cordillere von der hohen Kalkgebirgs­ kette des Festlands durch den Golf von Cariaco gesondert. Der gesamte Zwischenraum scheint früher mit salzhaitigern Ton erfüllt gewesen zu sein, und es ist zweifellos die andauernde Erosion des Ozeans gewesen, die diese

Kapitel XXV

267

Formation wegriß, um die Ebene erst in Lagunen, dann in Golfe und endlich in schiffbare Kanäle zu verwandeln. Der Bericht über das, was jüngst am Fuß des Schlosses Araya zur Zeit des Meereinbruches in die alte Saline vor­ gegangen ist, die Gestalt der Lagune von Chacopata und ein vier

Iieues

langer See, der die Insel Margarita fast in zwei Hälften teilt, liefern offen­ sichtlich Beweise dieser sukzessiven Erosion. Auch glaubt man noch in der bizarren Gestaltung der Küsten, im Morro von Chacopata, in den kleinen Cariben-, Lobos- und Tunal-Inseln, in der großen Insel Coche und den Kaps von Carnero und den Mangroven die Trümmer einer Landenge auszuma­ chen, die in der Richtung von Norden gen Süden einst die Halbinsel Araya mit der Insel Margarita vereinigt zu haben scheint. Auf dieser Insel werden von einer extrem niedrigen Landzunge von 3000 Toisen Länge und weniger als 200Toisen Breite auf der Nordseite einzig noch die zwei unter den Namen Vega de San Juan und Macanao bekannten Berggruppen verbunden. Die Laguna grande von Margarita hat eine sehr schmale südliche Öffnung, und kleine Kanus passieren arastrados, das heißt mittels einer Portage, die Land­ zunge oder den nördlichen Damm. Obgleich sich gegenwärtig in diesen Ge­ genden die Gewässer vom Festland zurückzuziehen scheinen, ist dennoch sehr wahrscheinlich, daß im Lauf von Jahrhunderten, sei es durch ein Erd­ beben oder durch ein plötzliches Anschwellen des Ozeans, die große, lang­ gestreckte Insel Margarita in zwei Felseninselchen von trapezförmiger Ge­ stalt geteilt werden dürfte. Beim Ersteigen des Cerro del Barig6n wiederholten wir die am Orinoco gemachten Versuche über den Unterschied der Temperatur der Luft und der des verwitterten Gesteins. Die erstere dieser Temperaturen betrug gegen elf Uhr vormittags, der wehenden Brise wegen, nicht über 27°, während die zweite auf 49,6° anstieg. Der in den Kandelaberkakteen

laris)

aufsteigende Saft hatte 38 bis

41 o;

(Cactus quadrangu­

diese Wärme gab ein T hermometer

an, dessen Kugel ich in den fleischigen und saftigen Stamm des Kaktus ein­ senkte. Diese innere Temperatur eines Gewächses setzt sich zusammen aus der des Sandes, worin die Pflanze wurzelt, aus der Temperatur der äußeren Luft, der Beschaffenheit der Oberfläche des den Sonnenstrahlen ausge­ setzten Stammes, seiner Verdunstung und der Leitungsfähigkeit des Holzes. Alles ist folglich die Wirkung außerordentlicher verwickelter Phänomene. Der Kalkstein des Barig6n, der zu der großen kalkartigen Sandstein- oder Breccie-Formation von Cumana gehört, enthält fossile Conchylien, die ebenso gut erhalten sind wie die der übrigen tertiären Kalke in Frankreich und Italien. Wir haben für das königliche Kabinett in Madrid Stücke abge­ schlagen, welche Austern von acht Zoll Durchmesser, Kamm-, Venusmu­ scheln und Iithophytische Polypen enthielten. Ich möchte Naturforscher, die in der Kenntnis der Fossilien bewanderter sind, als ich damals war, auffor­ dern, dieses bergige Küstenland sorgfältig zu untersuchen. Sein Zugang ist

Kapitel XXV

268

leicht für europäische Schiffe, die nach Cumam'i, La Guaira und Cura�rao be­ stimmt sind. Es wird nicht unwichtig sein zu erforschen, ob einige Arten dieser versteinerten Conchylien und Zoophyten gegenwärtig noch im Antil­ lenmeer leben, wie es Herrn Bonpland schien und wie es auf der Insel Timor

4. [1800], um ein Uhr nach Mitternacht, gingen wir unter Segel, um

und vielleicht auch auf der Grande Terre von Guadeloupe der Fall ist. Am November

die natürliche Alaunmine aufzusuchen. Ich hatte die Seeuhr und mein großes Dollondsches Fernrohr mitgenommen, um bei der Laguna chica, öst­ lich vom Dorf Manicuare, die Immersion des ersten Jupitertrabanten zu be­ obachten. Dieses Vorhaben ging aber nicht in Erfüllung, da widrige Winde unsere Ankunft vor Tagesanbruch hinderten. Nur der Anblick des phospho­ reszierenden Meeres, durch das Spiel der kleinen, unsere Piroge umkrei­ senden Delphine verschönert, konnte uns Ersatz für die Verzögerung ge­ währen. Wir durchfuhren nochmals die Gewässer, wo auf dem Grund des Meeres aus dem Glimmerschiefer Quellen von Erdöl hervorkommen, dessen Geruch sich weit umher verbreitet. Erinnert man sich, daß weiter öst­ lieh, nahe bei Cariaco, heiße unterseeische Quellen reichhaltig genug sind, um die Oberflächentemperatur des Golfs zu ändern, so steht wohl außer Zweifel, daß das Erdöl durch eine Art von Destillation aus ungeheurerTiefe und aus jener Urgebirgsformation hervorkommt, unter welcher der Herd aller vulkanischen Erschütterungen zu suchen ist. Die Laguna chica ist eine von oben abgeflachten Bergen eingefaßte Bucht, die mit dem Golf von Cariaco nur durch einen schmalen,

25

Klafter

tiefen Kanal zusammenhängt. Man könnte glauben, sie sei gleich dem schönen Hafen von Acapulco durch die Wirkung eines Erdbebens gebildet worden. Ein kleiner flacher Strand scheint zu erweisen, daß die See sich hier vom Land zurückzieht, wie dies auf der gegenüberliegenden Küste von Cu­ mana auch der Fall ist. Die Halbinsel Araya verengt sich zwischen den Kaps von Mero und Las Minas bis auf

1400 Toisen und ist in der Nähe der Laguna 4000 Toisen breit. Diese un­

chica von einem Meer zum anderen etwas über

bedeutende Entfernung mußten wir zurücklegen, um den natürlichen Alaun zu finden und an das Kap zu gelangen, das den Namen Punta de Chuparu­ paru führt. Die Route ist nur dadurch schwierig, daß kein gebahnter Pfad vorhanden und man gezwungen ist, sich zwischen ziemlich tiefen Ab­ gründen über völlig nackte und stark geneigte Schichten der Felsgrate den Weg zu bahnen. Der Kulminationspunkt ist nahezu

200 Toisen

hoch; die

Berge aber zeigen, wie dies bei felsigen Landengen öfters der Fall ist, höchst seltsame Formen. Die Tetas von Chacopata und von Cariaco in der Mitte des Weges zwischen der Laguna chica und der Stadt Cariaco sind echte Picos, die man von der Plattform des Schlosses von Cumana für isoliert stehend halten könnte. Humusboden findet sich hierzulande nur bis zu höhe. Manchmal fällt

15

30 Toisen

Meeres­

Monate lang kein Regen; wenn aber auch nur

Kapitel XXV

269

einige Tropfen unmittelbar nach der Blüte der Melonen, Wassermelonen und Kürbisse fallen, liefern diese trotz der anscheinenden Trockenheit der Luft 60 bis 70 Pfund schwere Früchte. Ich sage anscheinende Lufttrocken­ heit, denn meine hygrometrischen Beobachtungen beweisen, daß dieAtmo­ sphäre von Cumami und Araya neun Zehntel der zur völligen Sättigung notwendigen Menge an Wasserdampf enthält. Diese zugleich warme und feuchte Luft ist es, welche die vegetabilischen Brunnen versorgt, die Kürbis­ pflanzen nämlich, die Agaven und die halb im Sand vergrabenen Melokak­ teen. Als wir im Jahr zuvor die Halbinsel besucht hatten, herrschte gerade ein furchtbarer WassermangeL Die Ziegen, die kein Gras mehr fanden, starben zu Hunderten. Während unseres Aufenthaltes am Orinoco schien die Ordnung derJahreszeit völlig verändert zu sein. InAraya, in Cochen und selbst auf der Insel Margarita war Regen in Menge gefallen, und die Erinne­ rung an diese Platzregen beschäftigte die Phantasie der Einwohner ebenso wie ein Meteoritenfall die Naturforscher in Europa. Unser indianischer Führer kannte kaum die Richtung, in der wir das Alaun-Mineral finden sollten; er hatte keine Ahnung von seinem wirklichen Standort. Diese Unkenntnis der Örtlichkeiten kennzeichnet hier fast alle Führer, die aus der trägsten Volksklasse gewählt werden. Wir irrten aufs Ge­ ratewohl acht bis neun Stunden zwischen diesen völlig nackten Felsen herum. Der Glimmerschiefer geht zuweilen in einen grau-schwarzen Ton­ schiefer über. Ich war aufs neue über die ausnehmende Regelmäßigkeit des Streichens und Fallens der Schichten erstaunt. Ihre Richtung ist N 50° 0, und sie fallen 60 bis 70° nordwestlich ein. Dies ist die allgemeine Richtung, welche ich im Granitgneis von Caracas und vom Orinoco, in den Hornblen­ deschiefern vonAngostura und selbst in den meisten der Sekundär-Gebirgs­ arten, die wir untersuchten, wahrgenommen habe. In weit ausgedehnten Landschaften bilden die Schichten den gleichen Winkel mit dem Meridian des Ortes; sie zeigen einen Parallelismus (oder vielmehr einen Loxodro­ mismus), der für eines der großen geognostischen Gesetze angesehen werden kann, die durch genaue Messungen zu erweisen sind. Sowie wir uns dem Kap Chuparuparu näherten, sahen wir die Stärke der Quarzgänge zu­ nehmen, die den Glimmerschiefer durchziehen. Wir fanden solche, die ein bis zwei Toisen breit mit Büsebeln kleiner Kristalle von Titan-Rutil [Titanerz nach A. G. Werner 1801] angefüllt waren. Vergeblich suchten wir nach Cya­ nit, den wir in Blöcken bei Manicuare entdeckt hatten. Weiterhin bietet der Glimmerschiefer nicht Gänge, sondern kleine Schichten von Graphit oder eisenhaitigern Kohlenstoff. Sie sind 2 bis 3 Zoll dick und haben exakt das­ selbe Streichen und Fallen wie das Gestein. Der Graphit bezeichnet im Ur­ gebirge das erste Auftreten des Kohlenstoffs auf dem Erdball (als nicht was­ serstoffhaltiger Kohlenstoff). Er ging der Epoche voraus, in der die Erd­ oberfläche sich mit monocotyledonischen Pflanzen bedeckte. Von der Höhe

270

Kapitel XXV

dieser wilden Berge erfreuten wir uns einer imposanten Aussicht auf die Insel Margarita. Zwei Berggruppen, die wir schon genannt haben, die von Macanao und die Vega de San Juan, erheben sich aus dem Meer. Zur zweiten, östlicher gelegenen dieser Gebirgsgruppen gehören die Hauptstadt der Insel, La Asunci6n, der Hafen Pampatur und die Dörfer Pueblo de la Mar, Pueblo del Norte und San Juan. Die westliche Berggruppe, eben Ma­ canao, ist fast gänzlich unbewohnt. Die Landenge, welche diese großen Massen von Glimmerschiefer vereinigt, war kaum sichtbar; sie schien durch Wirkung der Luftspiegelung verzerrt, und man erkannte dieses durch die La­ guna grande eingeschnürte Zwischenstück nur an zwei kleinen zuckerhutför­ migen Bergen, die im Meridian der Punta de Piedras liegen. Näher fiel unser Blick auf den kleinen öden Archipel der vier Morros delTunal, der Cariben­ und Lobos-Inseln. Nach viel vergeblichem Suchen fanden wir endlich, bevor wir an die Nord­ küste der Halbinsel Araya niederstiegen, in einer sehr schwer zugänglichen Schlucht (aroyo del Robalo) das Mineral, das man uns in Cumami gezeigt hatte. Der Glimmerschiefer ging plötzlich in kohlenstoffhaltigen und glän­ zendenTonschiefer über. Es war Alaunschiefer (Ampelit); das Wasser (denn es gibt dort kleine Quellen, und jüngst hat man sogar eine nahe beim Dorf Manicuare entdeckt) war mit gelbem Eisenoxid angereichert und hatte · einen zusammenziehenden Geschmack. Wir fanden die benachbarten Fels­ wände mit ausgewittertem Sulfat von reiner haarförmigerTonerde bedeckt; wirkliche, zwei Zoll dicke Schichten natürlichen Alauns zogen unabsehbar im Tonschiefer dahin. Der weiß-graue Alaun ist außen etwas matt, und innen zeigt er einen fast glasartigen Glanz; sein Bruch ist nicht faserig, sondern unvollkommen der Krümmung einer Muschel entsprechend. In dünnen Bruchstücken ist er halb durchsichtig. Sein Geschmack ist etwas süßlich und zusammenziehend, ohne Beimischung von Bitterkeit. Ich hatte mir an Ort und Stelle die Frage gestellt, ob dieser so reine Alaun, der Schichten im Tonschiefer ohne die geringste Lücke ausfüllt, von gleichzei­ tiger Formationsbildung mit dem Gebirge sei oder ob man einräumen muß, er sei sozusagen sekundären Ursprungs, wie es das salzsaure Natron ist, das zuweilen in kleinen Gängen da angetroffen wird, wo stark konzentrierte Quellen Gips- oder Tonschichten durchziehen. Nichts scheint da auf eine Bildungsweise hinzudeuten, die sich noch gegenwärtig wiederholt. Das Schiefergestein zeigt keine offene Spalte, besonders keine, die mit der Rich­ tung der Blätter parallel wäre. Auch fragt man sich, ob dieser Alaunschiefer eine Übergangsformation sei, die über dem Urglimmerschiefer von Araya liegt, oder ob er durch einfachen Wechsel der Zusammensetzung undTextur in den Schichten des Glimmerschiefers entstehe. Ich neige zur letzteren Ver­ mutung; denn der Übergang ist allmählich, und der Ton- und der Glimmer­ schiefer scheinen mir nur eine winzige Formation zu bilden. Dies Vor-

271

Kapitel XXV

kommen des Cyanits, des Titanerzes und des Granats bzw. die Abwesenheit des lydischen Steins [ Kieselschiefer ] und aller Trümmer- oder sandigen Ge­ steine scheint für eine Urgebirgsformation zu sprechen. In Europa sogar ver­ sichert man, obgleich selten, Ampelit und Grünstein in den dem Übergang­ gebirge vorangehenden Schiefern gefunden zu haben. Als 1785 infolge eines Erdbebens eine große Felsmasse in dem Aroyo del Robalo niedergestürzt war, sammelten die Guaikeri de los Serritos Alaun­ stücke von 5 bis 6 Zoll Durchmesser, die völlig durchsichtig und rein waren. Zu meiner Zeit wurde in Cumana an Färber und Schuster das Pfund zu 2 Real

{V4

harter Piaster ) verkauft, während der aus Spanien kommende

Alaun 12 Real kostete. Dieser Preisunterschied war mehr die Wirkung von Vorurteilen und Handelshemmnissen als etwa von geringerer Qualität des einheimischen Alauns, der ohne eine vorangehende Reinigung verwendet wird. Man findet ihn auch in der Glimmerschiefer- und Tonschieferkette an der Nordwestküste der Insel Trinidad, auf Margarita und in der Nähe vom Kap Chuparuparu nördlich des Cerro del Distiladero. Die Indianer, die gern aus allem ein Geheimnis machen, verheimlichen gern die Standorte, von denen sie ihren natürlichen Alaun holen; das Mineral muß aber reichlich vor­ handen sein, denn ich habe in ihren Händen beträchtliche Mengen gesehen. Für die Regierung Venezuelas könnte es sehr interessant sein, einen gere­ gelten Abbau zu etablieren, sei es für das soeben beschriebene Mineral oder sei es für die Alaunschiefer. Die letzteren könnte man brennen und für ihr Auslaugen eine Gradierung unter der heißen Tropensonne anwenden. Südamerika empfängt heute seinen Alaun aus Europa, wie ihn Europa seinerseits bis zum 15. Jahrhundert von den asiatischen Völkern erhalten hat. Vor meiner Reise kannten die Mineralogen keine anderen Substanzen, die ohne Zusatz, calziniert oder nicht, unmittelbar Alaun

( Sulfate

reiner

Tonerde und Pottasche ) hatten ergeben können, als die Gesteine trachytischer Formation und kleine Gänge, die Braunkohlenlager oder bituminöses Holz durchziehen. Die eine oder andere dieser Substanzen solch verschiedener Herkunft enthalten alles, was zur Bildung des Alauns erforderlich ist, das heißt reine Tonerde, Schwefelsäure und Pottasche. Die Minerale von Tolfa, Milo und Nipoligo, die von Montione, worin das Silizium die reine Tonerde nicht begleitet, die kieselartige Breccie des Mont-Dore, die Herr Cordier ex­ zellent beschrieben hat und die in ihren Höhlungen Schwefel enthält, die alaunhaltigen Gesteine von Parad und von Beregh in Ungarn, welche gleich­ falls zu den bimssteinartigen und trachytischen Konglomeraten gehören, rühren unzweifelhaft vom Eindringen schwefelsaurer Dämpfe her. Sie sind, wie man sich in den Solfataren von Pozzuoli und am Pie von Teneriffa über­ zeugen kann, die Ergebnisse einer schwachen und andauernden vulkani­ schen Wirksamkeit. Der Alaunstein von Tolfa, den ich seit meiner Rückkehr nach Europa gemeinsam mit Herrn Gay-Lussac an Ort und Stelle untersucht

272

Kapitel XXV

habe, hat nach oryktognostischem Charakter und chemischer Zusammen­ setzung viel Verwandtschaft mit dem dichten Feldspat, welcher die Grund­ lage so vieler Trachyte und Übergasporphyre bildet. Es ist ein siliziumhal­ tiges Untersulfat mit reiner Tonerde und Pottasche, ein dichter Feldspat mit mehr völlig ausgebildeter Schwefelsäure darin. Die in den alaunhaltigen Ge­ steinen vulkanischen Ursprungs zirkulierenden Wasser liefern indes keine Niederschläge von Massen natürlichen Alauns; um solche zu geben, be­ dürfen diese Gesteine des Brennens. Ich kenne nirgendwo ähnliche Nieder­ schläge wie die, welche ich von Cumam'i mitgebracht habe, denn die haarför­ migen und faserigen Massen, welche in den Braunkohlelagern (Ufer des Egerftusses, zwischen Saaz und Komotau in Böhmen) angetroffen werden oder die in Höhlen durch Ausblühen vorkommen (Freienwalde in Branden­ burg, Segario in Sardinien), sind unreine Salze, die oft keine Pottasche enthalten und mit Amoniaksulfaten und Magnesium vermischt sind. Eine langsame Zersetzung der Pyrite, die vielleicht wie ebenso viele kleine galva­ nische Säulen reagieren, macht das Wasser, das durch die bituminösen Braunkohlen und den kohlehaltigen Ton fließt, alaunhaltig. Dieses Wasser im Kontakt mit dem kohlensauren Kalk verursacht selbst den Niederschlag von unterschwefelsaurer Tonerde ohne Pottasche, den man bei Halle findet und den man vormals zu Unrecht für reine Tonerde hielt, die gleich der Por­ zellanerde (Kaolin) von Morl zum Porphyr des roten Sandsteins gehört. Ähnliche chemische Vorgänge können im Urgebirge und Übergangsschiefer wie in den tertiären Böden stattfinden. Alle Schiefer, und diese Tatsache ist sehr wichtig, enthalten nahezu 5% Pottasche, Schwefeleisen, Eisenperoxid, Kohlenstoff usw. Der Kontakt so vieler heterogener angefeuchteter Sub­ stanzen muß notwendig Änderungen des Zustandes und der Zusammen­ setzung herbeiführen. Die ausblühenden Salze, welche die alaunhaltigen Schiefer von Robalo in Menge bedecken, zeigen, wie viele dieser chemi­ schen Wirkungen von der hohen Temperatur dieser Klimate begünstigt werden; aber (ich wiederhole es) in einem Gestein ohne Spalten, das keine dem Streichen und Fallen parallellaufenden leeren Zwischenräume hat, muß der halbdurchsichtige natürliche Alaun mit conchoi:dem (muschelähnli­ chem) Bruch, der seine Lagerstätten vollig ausfüllt, als mit dem Mutterge­ stein gleich alt erachtet werden. Das Wort gleichzeitige Formation wird hier in dem Sinne genommen, welchen die Geognosten ihm beilegen, wenn sie von Quarzschichten im Tonschiefer, von gekörntem Kalkstein im Glimmer­ schiefer oder vom Feldspat im Gneis sprechen. Nach langem Herumirren an diesen ariden Orten zwischen den von Vege­ tation völlig entblößten Felsen ruhte unser Blick mit Vergnügen auf den Gruppen von Malpighia und Croton, die wir beim Niedersteigen zu den Küsten antrafen. Diese baumartigen Croton waren sogar zwei neue, durch ihren Wuchs bemerkenswerte und der Halbinsel Araya eigene Arten

Kapitel XXV

273

[ Croton argyrophyllus und C. marginatus]. Wir trafen zu spät bei der Laguna chica ein, um eine andere, östlicher gelegene, unter dem Namen Laguna grande oder del Obispo berühmte Bucht zu besuchen. Wir mußten uns damit begnügen, sie von der Höhe der sie beherrschenden Berge herab zu bewun­ dern. Nach den Häfen von Ferro] und Acapulco kann vielleicht keine unge­ wöhnlichere Gestaltung angetroffen werden. Es ist ein innerer Golf von 2� Meilen Länge in der Richtung von Osten nach Westen und einer Meile Breite. Die Glimmerschieferfelsen, welche die Einfahrt des Hafens bilden, lassen nur eine 250Toisen breite Durchfahrt.

Überall findet man einen 15 bis

25 Klafter tiefen Grund. Wahrscheinlich wird die Regierung von Cumana diesen inneren Golf ebenso wie den von Mochima, der 8

Seelieues

östlich

von der elenden Reede von Nueva Barcelona liegt, zu benutzen wissen. Die Familie des Herrn Navarete erwartete uns mit Ungeduld am Ufer; und ob­ gleich unser Boot ein großes Segel hatte, trafen wir erst bei Nacht in Mani­ cuare ein. Den Aufenthalt in Cumana verlängerten wir nur noch um zwei Wochen. Da wir die Hoffnung auf ein Postschiff von La Corufia verloren hatten, be­ nutzten wir ein amerikanisches Schiff, das eine Ladung Pökelfleisch in Nueva Barcelona einnahm, um sie nach der Insel Cuba zu bringen. Wir hatten sechzehn Monate an diesen Küsten und im Inneren von Venezuela zu­ gebracht. Obwohl wir noch mehr als 50 000 Fr. in Wechseln auf die ersten Häuser Havannas besaßen, wären wir doch in große Finanzverlegenheit ge­ raten, wenn der Gouverneur von Cumana uns nicht alle wünschbaren Vor­ schüsse bewilligt hätte. Der ungemeine Takt, den Herr Emparan in seinem Benehmen gegen Fremde, die ihm völlig unbekannt waren, an den Tag legte, verdient das größte Lob und meine ausnehmende Dankbarkeit. Ich bestehe auf Erwähnung dieser Umstände aus persönlichem Interesse, um Reisende darauf aufmerksam zu machen, daß sie auf die Verbindungen zwischen ver­ schiedenen Kolonien der gleichen Metropole nicht zu stark zählen können. Bei der Lage des Handels von Cumana und Caracas im Jahre 1799 wäre es leichter gewesen, von einem Wechsel auf Cadiz und auf London als auf Cartagena de Indias, auf Havanna oder Veracruz Gebrauch zu machen. Am 16. November [ 1800] trennten wir uns von unseren Freunden in Cumana, um zum dritten Mal die Passage von der Mündung des Golfs von Cariaco nach Nueva Barcelona zu machen. Die Nacht war kühl und höchst angenehm. Nicht ohne Rührung sahen wir zum letzten Mal die Scheibe des Mondes die Spitzen der Cocospalmen an den Ufern des Manzanares beleuchten. Lange Zeit blieb unser Blick an die weißliche Küste gefesselt, wo wir uns nur ein einziges Mal über die Menschen zu beklagen hatten. Der Wind wehte so gün­ stig, daß wir in weniger als sechs Stunden beim Morro de Nueva Barcelona ankerten. Das Schiff, das uns nach Havanna bringen sollte, war zum Abse­ geln bereit.

274

Kapitel XXVI

Kapitel XXVI Politischer Zustand der Provinzen Venezuelas- Ausdehnung des Territo­ riums- Bevölkerung- Naturerzeugnisse- Außenhandel- Verbindungen zwischen den verschiedenen Provinzen der Republik Colombia [Zur Statistik Colombias] Bevor ich die Küsten von Tierra Firme verlasse, um den Leser von der politischen Bedeutung der Insel Cuba, der größten Antillen-Insel, zu infor­ mieren, werde ich nun unter einem Gesichtspunkt all das vereinigen, was die künftigen europäischen Handelsbeziehungen mit den Vereinigten Provinzen von Venezuela richtig einschätzen läßt. Als ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland zuerst den >Essai politique sur la Nouvelle Expagne< [ s. Stu­

dienausgabe Band IV ] herausgab, machte ich zugleich einen Teil der Mate­ rialien bekannt, welche ich über den Territorialreichtum Südamerikas be­ sitze. Dieses vergleichende Gemälde der Bevölkerung, der Agrikultur und des Handels aller spanischen Kolonien wurde in einer Epoche verfaßt, als der Fortschritt der Zivilisation durch mangelhafte gesellschaftliche Institu­ tionen, durch das Prohibitivsystem und durch andere verderbliche Irrtümer der Staatsverwaltung gehemmt wurde. Seitdem ich diese unermeßlichen Hilfsmittel dargestellt habe, welche die Völker beider Amerika, im Genuß der Wohltat einer weisen Freiheit, in ihrer speziellen Lage und in ihren Han­ delsbeziehungen zu Europa und Asien finden werden, hat eine dieser großen Revolutionen, die von Zeit zu Zeit das Menschengeschlecht be­ wegen, den Zustand der Gesellschaft in den weiten Ländern, die ich durch­ laufen habe, geändert. Der kontinentale Teil der Neuen Welt findet sich ge­ genwärtig zwischen drei Völkern europäischer Herkunft aufgeteilt: Das eine - und das mächtigste - ist von germanischer Abstammung; die beiden an­ deren gehören durch ihre Sprache, Literatur und Sitten dem lateinischen Europa an. Die westlichsten Teile der Alten Welt, die Iberische Halbinsel und die Britischen Inseln sind auch die, deren Kolonien den weitesten Um­ fang besaßen; allein 4000 Iieues Küstenland, ausschließlich von den Ab­ kömmlingen der Spanierund Portugiesen bewohnt, bezeugen das

Überge­

wicht, das sich im 15. und 16. Jahrhundert die Völker der Halbinsel durch ihre Unternehmungen zur See vor den übrigen seefahrenden Völkern er­ worben hatten. Man kann sagen, ihre von Californien bis zum Rio de Ia Plata, auf dem Rücken der Cordilleren wie in den W äldern des Amazonen­ stroms verbreiteten Sprachen sind Denkmale des Nationalruhms, welche alle politischen Revolutionen überleben werden. Gegenwärtig bilden die Bewohner des spanischen und portugiesischen Amerika zusammen eine zweimal größere Bevölkerung als die von engli-

Kapitel XXVI

275

scher Abstammung. Die französischen, holländischen und dänischen Be­ sitzungen des Neuen Kontinents sind von geringem Umfang; um aber das allgemeine Gemälde der Völker, welche auf die Schicksale der anderen Halbkugel Einfluß haben können, zu vervollständigen, dürfen wir weder die Kolonisten slawischer Herkunft, die sich von der Halbinsel Alaska bis nach Californien anzusiedeln trachten, noch die freien Afrikaner auf Haiti ver­ gessen, die die 1545 von dem mailändischen Reisenden Belzoni ausgespro­ chene Prophezeiung erfüllten. Die Stellung der Afrikaner auf einer Insel, die dreieinhalbmal größer ist als Sizilien, vermehrt inmitten des Mittel­ meeres der Antillen ihr politisches Gewicht. Alle Freunde der Humanität vereinigen ihre W ünsche für die Entwicklung einer Zivilisation, die nach so viel Raserei und Blutvergießen auf unerwartet gedeihliche Weise voran­ schreitet. Das russische Amerika gleicht bis jetzt weniger einer landwirt­ schaftlichen Kolonie als den Faktoreien, die die Europäer zum größten Un­ glück der Eingeborenen an den afrikanischen Küsten errichtet haben. Es be­ steht nur aus Militärposten und Stationen für Fischer und sibirische Jäger. Eine auffallende Erscheinung ist es unstreitig, den Ritus der griechischen Kirche auf amerikanischem Boden anzutreffen und zu sehen, wie zwei Na­ tionen, welche die östlichen und westlichen Enden Europas bewohnen, die Russen und die Spanier, auf einem Festland, das sie von entgegengesetzten Richtungen aus erreicht haben, Grenznachbarn werden; allein der fast wilde Zustand der unbevölkerten Küsten von Ochotsk und Kamtschatka, der Mangel aller Unterstützung aus den asiatischen Häfen und das bis dahin in den slawischen Kolonien der Neuen Welt befolgte Regime sind gravierende Hemmnisse, die sie auf lange Zeit im Zustand der Kindheit halten werden. Daraus erhellt: Auch wenn man sich bei staatswirtschaftlichen Unterneh­ mungen angewöhnt hat, nur Massen ins Auge zu fassen, könnte man mißver­ stehen, daß der amerikanische Kontinent genaugesprachen nur unter drei große Nationen englischen, spanischen und portugiesischen Stammes geteilt ist. Die erste dieser drei Nationen, die der Angloamerikaner, ist zugleich die, welche, nach den Engländern Europas, mit ihrer Flagge den größten Raum der Meere bedeckt. Ohne entfernte Kolonien hat ihr Handelsverkehr einen Umfang erhalten, den kein anderes Volk der Alten Welt erreichen konnte außer eben dem, welches nach dem amerikanischen Norden seine Sprache, den Glanz seiner Literatur, seine Arbeitslust, seine Freiheitsliebe und einen Teil seiner bürgerlichen Institutionen übertragen hat. Die englischen und portugiesischen Kolonisten haben die einzigen Gegen­ küsten Europas bevölkert; die Kastilier hingegen haben im Gegensatz dazu gleich zu Anfang der conquista die Andenkette überstiegen und sich bis in die westlichsten Landschaften ausgedehnt. Hier nur, in Mexico, in Cundina­ marca, in Quito und Peru, haben sie die Spuren einer alten Kultur, Landwirt­ schaft treibende Völker und blühende Reiche angetroffen. Dieser Umstand,

276

Kapitel XXVI

der Zuwachs einer eingeborenen Gebirgsbevölkerung, der fast ausschließ­ liche Besitz großer Metallreichtümer und seit Anfang des 6. Jahrhunderts der mit dem indischen Archipel etablierte Handelsverkehr mußten den spa­ nischen Besitzungen im äquinoktialen Amerika einen eigentümlichen Cha­ rakter verleihen. In den östlichen, den britischen und portugiesischen Kolo­ nisten zugefallenen Landschaften waren die Eingeborenen nomadisierende Stämme und Jäger. Statt einen Teil der landbautreibenden und arbeits­ fleißigen Bevölkerung zu bilden wie auf dem Plateau von Anahuac, in Gua­ temala und Ober-Peru, haben sie sich im allgemeinen bei Annäherung der Weißen zurückgezogen. Der Arbeitsbedarf, der Vorzug, den man den Kul­ turen des Zuckerrohrs, des Indigo und der Baumwolle gab, die Habsucht, welche öfters den Gewerbefleiß begleitete und ihn herabwürdigte, ließen den infamen Negerhandel entstehen, dessen Folgen für beide Welten gleich verderblich wurden. Glücklicherweise ist im spanischen Teil Amerikas die Zahl der afrikanischen Sklaven so wenig beträchtlich, daß sie im Vergleich mit der Brasiliens und der des südlichen Teils der Vereinigten Staaten im Ver­ hältnis 1 : 5 steht. Alle spanischen Kolonien, die Inseln Cuba und Puerto Rico mitgerechnet, haben auf einer Fläche, die Buropa wenigstens um ein Fünftel übertrifft, nicht so viele Negersklaven wie der Staat Virginia allein. Die spanischen Amerikaner bieten in der Union von Neu-Spanien und Gua­ temala, in der heißen Zone, das einzige Beispiel einer Nation von acht Mil­ lionen Einwohnern, die, nach europäischen Gesetzen und Institutionen re­ giert, zugleich Zucker, Cacao, Weizen und Wein anbaut und fast keine dem afrikanischen Boden entrissenen Sklaven hat. Noch übersteigt die Bevölkerung des Neuen Kontinents nur sehr wenig die Frankreichs oder Deutschlands. In den Vereinigten Staaten verdoppelt sie sich alle 23 bis 25 Jahre; in Mexico hat sie sich, sogar unter der Herrschaft des Mutterlandes, in 40 bis 45 Jahren verdoppelt. Ohne schmeichelhaften Hoffnungen für die Zukunft Raum zu geben, läßt sich annehmen, daß in weniger als anderthalb Jahrhunderten die amerikanische Bevölkerung die Europas erreichen wird. Diese edle Rivalität der Zivilisation in Künsten der Industrie und des Handels wird aber, weit davon entfernt- wie vielfältig pro­ gnostiziert wurde -, die Verarmung des Alten Kontinents zum Vorteil des Neuen herbeizuführen, vielmehr den Konsum, die Masse der produktiven Arbeit und die Wirksamkeit des Austauschs steigern. Unbezweifelbar ist, daß nach den großen Revolutionen, die der Zustand der menschlichen Ge­ sellschaft erlitten hat, das Staatsvermögen, das den gemeinsamen Erbteil der Zivilisation bildet, sich zwischen den Völkern beider Halbkugeln un­ gleich verteilt findet; aber nach und nach stellt sich das Gleichgewicht wieder her, und es wäre ein verderbliches, ich wage, fast zu sagen, ein gott­ loses Vorurteil, den wachsenden Wohlstand jedes anderen Teiles unseres Planeten als Unheil für das alte Buropa zu betrachten. Die Unabhängigkeit

Kapitel XXVI

277

der Kolonien wird keineswegs zu ihrer Isolierung beitragen, sondern sie eher den Völkern älterer Zivilisation annähern. Der Handelsverkehr strebt danach, das zu vereinigen, was eine eifersüchtige Politik lange Zeit getrennt hielt. Und mehr noch: Es liegt in der Natur der Zivilisation, daß sie vorwärts­ schreitet, ohne darum da zu erlöschen, wo sie zuerst entstanden war. Ihre fortschreitende Bewegung von Ost nach West, von Asien nach Europa, be­ weist nichts gegen diese Behauptung. Ein helles Licht bewahrt seinen Glanz, auch wenn es einen größeren Raum beleuchtet. Die intellektuelle Bildung, diese fruchtbare Quelle des Nationalreichtums, teilt sich überallhin mit und dehnt sich aus, ohne deshalb den Ort zu ändern. Ihre Bewegung ist nicht eine Wanderung. Wenn sie uns im Orient so vorkam, geschah es, weil barbarische Horden sich Ägyptens, Kleinasiens und des vormals freien Grie­ chenlands, dieser verlassenen Wiege der Kultur unserer Vorfahren, bemäch­ tigt hatten. Die Verwilderung der Völker ist eine Folge erlittener Bedrückung, sei es, daß einheimischer Despotismus oder ein fremder Eroberer sie ausübt; der Despotismus ist immer von fortschreitender Verarmung und Abnahme des öffentlichen Wohlstands begleitet. Freie und kräftige, dem Vorteil aller ent­ sprechende Staatseinrichtungen wenden diese Gefahren ab; und die wach­ sende Zivilisation der Welt, die Konkurrenz von Arbeit und Tauschverkehr richten die Staaten nicht zugrunde, deren Wohlstand aus natürlichen Quellen herrührt. Das produktive und handeltreibende Europa wird von der neuen Ordnung der Dinge im spanischen Amerika Vorteil haben, wie es Nutzen ziehen wird aus dem Wachstum des Konsums und aus den Ereig­ nissen, welche der Barbarei in Griechenland, an den Nordküsten Afrikas und in anderen der Tyrannei der Osmanen unterworfenen Ländern ein Ende setzen werden. Was den Wohlstand derAlten Welt bedrohen kann, ist nur die Verlängerung dieser inneren Kämpfe, welche die Produktion hemmen und zugleich Zahl und Bedürfnisse der Konsumenten vermindern. Im spani­ schen Amerika nähert sich nun dieser sechs Jahre nach meiner Abreise be­ gonnene Kampf seinem Ende. Bald werden wir unabhängige Völker die beiden Ufer desAtlantischen Ozeans bewohnen sehen, die bei sehr verschie­ denen Regierungsformen dennoch durch die Erinnerung an die gemeinsame Herkunft, durch die gleiche Sprache und durch gleichartige Bedürfnisse, wie sie die Zivilisation überall erweckt, vereint werden. Durch die unermeß­ lichen Fortschritte, welche die Kunst der Navigation gemacht hat, sind, könnte man sagen, die Meeresbecken geschrumpft. Der Atlantische Ozean stellt sich unseren Augen schon in Gestalt eines schmalen Kanals dar, wel­ cher die europäischen Handelsstaaten nicht weiter von der Neuen Welt ent­ fernt, als in der Kindheit der Navigation das Becken des Mittelmeers die Griechen der Peloponnes von den Bewohnern Ioniens, Siziliens und der Cyrenaika entfernt hielt.

278

Kapitel XXVI

Ich habe geglaubt, diese allgemeinen Betrachtungen über die künftigen Beziehungen beider Kontinente dem politischen Gemälde der Provinzen Ve­ nezuelas, deren verschiedene Menschenrassen, wilde [d. h. nur der Natur entstammende. Anmerkung des Hrsg.] und angebaute Erzeugnisse, Un­ gleichheiten des Bodens und innere Verbindung ich bereits beschrieben habe, vorausschicken zu sollen. Diese Provinzen, die bis 1810 durch einen in Caracas residierenden Generalkapitän verwaltet wurden, sind gegenwärtig mit dem vormaligen Vizekönigreich von Neu-Granada oder Santa Fe unter dem Namen der Republik von Colombia vereinigt. Der Beschreibung, die ich später von Neu-Granada geben soll, will ich nicht vorgreifen; doch um meine Beobachtungen über die Statistik von Venezuela denen nutzbarer zu machen, die das politische Gewicht dieses Landes und die Vorteile, die der europäische Handel sich davon - selbst bei Venezuelas wenig vorgerücktem Stand der Landwirtschaft - versprechen darf, gerne beurteilen möchten, werde ich die Vereinigten Provinzen von Venezuela, ihre engen Beziehungen mit Cundinamarca oder Neu-Granada und das Ganze als Bestandteil des neuen Staates Colombia darstellen. Dieser Abriß wird notwendig fünf Ab­ schnitte umfassen: Größe des Landes, Bevölkerung, Erzeugnisse, Handel und Staatseinkünfte. Weil manche der Angaben, aus denen dieser Abriß zu bilden ist, sich bereits in früheren Kapiteln finden, kann ich mich in der An­ gabe der allgemeinen Ergebnisse kurz fassen. Herr Bonpland und ich haben fast drei Jahre in den Ländern zugebracht, die gegenwärtig das Gebiet der Republik Colombia bilden; 16 Monate nämlich in Venezuela und 18 in Neu­ Granada. Wir haben dieses Gebiet in seiner ganzen Ausdehnung durchwan­ dert: einerseits von den Gebirgen Parias bis nach Esmeralda am oberen Ori­ noco und bis nach San Carlos del Rio Negro nahe der brasilianischen Grenze; andererseits vom Rio Sinti und Cartagena de Indias bis zu den Schneebergen von Quito, zum Hafen von Guayaquil an den Küsten des Stillen Ozeans und bis an die Ufer des Amazonenstroms in der Provinz Jaen de Bracamoros. Ein solch langer Aufenthalt und eine Reise von 1300 lieues marines im Binnenland, davon mehr als 650 zu Schiff, konnten mir aller­ dings eine ziemlich genaue Kenntnis der örtlichen Verhältnisse eröffnen. In­ dessen darf ich mir nicht schmeicheln, über Venezuela und Neu-Granada ebenso zahlreiche und zuverlässige statistische Angaben gesammelt zu haben, wie ein viel kürzerer Aufenthalt in Neu-Spanien mir deren verschafft hat. In bloß feldbautreibenden Ländern, wo die Herrschaft auf mehrere Zentren verteilt ist, zeigt man sich zur Erörterung staatswirtschaftlicher Fragen weniger geneigt als da, wo die Zivilisation sich auf eine große Haupt­ stadt konzentriert und wo ein immenser Ertrag der Bergwerke die Men­ schen zu numerischer Würdigung der natürlichen Reichtümer veranlaßt. In Mexico und in Peru gewährten mir amtliche Dokumente einen Teil der An­ gaben, die ich mir zu verschaffen wünschte. Dies war jedoch nicht der Fall in

Kapitel XXVI

279

Quito, in Santa Fe und in Caracas, wo der Genuß unabhängiger Verwaltung erst künftig die Neigung für statistische Forschungen entwickeln wird. Wer Zahlenangaben nicht ungeprüft anzunehmen gewöhnt ist, der weiß, daß in neuerdings gesundeten freien Staaten das Wachstum des allgemeinen Wohl­ stands und des Staatsvermögens gerne übertrieben wird, während in den alten Kolonien nur Klagen und Beschwerden gehört werden und alles Schlimme dem Prohibitivsystem zugeschrieben wird. Man will gewisser­ maßen am Mutterland Rache nehmen, indem man die Stockungen des Ver­ kehrs und die langsamen Fortschritte der Bevölkerung voll Übertreibungen schildert. Ich weiß, daß die Reisenden, die jüngst Amerika besucht haben, viel schnellere Fortschritte annahmen, als aus den Zahlen, mit welchen meine statistischen Forschungen abschließen, hervorzugehen scheint. Sie ver­ heißen für das Jahr 1913 Mexico, dessen Bevölkerung, wie sie glauben, sich in 22 Jahren verdoppelt, 112 Millionen Einwohner und den Vereinigten Staaten für die gleiche Zeit 140 Millionen. Diese Zahlen enthalten nun zwar gar nichts, das für mich abschreckend wäre wegen solcher Gründe, wodurch eifrige Anhänger des Systems von Herrn Maltbus sich beunruhigt finden könnten. Es mag sein, daß einst 200 oder 300 Millionen Menschen ihren Un­ terhalt in der unermeßlichen Weite des Neuen Kontinents zwischen dem See von Nicaragua und dem von Ontario finden; ich gebe zu, daß in hundert Jahren die Vereinigten Staaten über 80 Millionen Einwohner zählen werden, indem eine fortschreitende Veränderung in der Periode der Verdoppelung (von 25 zu 35 und zu 40 Jahren) angenommen wird; doch trotz der Elemente des Wohlstands, welche die Äquinoktialländer Amerikas besitzen, und des Vertrauens, das ich in die allseitige Einsicht und Klugheit der südlich und nördlich vom Äquator gebildeten neuen republikanischen Regierungen gerne setzen will, zweifle ich noch, daß das Wachstum der Bevölkerung in Venezuela, im spanischen Guayana, in Neu-Granada und Mexico überhaupt mit derselben Schnelligkeit stattfinden werde wie in den Vereinigten Staaten. Diese letzteren, die gänzlich in der gemäßigten Zone liegen und keine hohen Bergketten haben, bieten eine unermeßliche Ausdehnung von Land, das leicht dem Anbau erschlossen werden kann. Die von der Jagd le­ benden Indianerhorden ziehen sich sowohl vor den Kolonisten, die sie ver­ abscheuen, wie vor den Methodisten-Missionaren, die ihre Neigung zum Müßiggang und zum Vagabundenleben bekämpfen, zurück. Unstreitig mag im spanischen Amerika die fruchtbarere Erde auf gleicher Oberfläche eine größere Masse Nahrungssubstanz erzeugen; auch liefern die Plateaus der Äquinoktialgegenden Ernten des 20- bis 24fachen Betrages des ausgesäten Korns; aber die von fast unzugänglichen Schluchten durchzogenen Cordil­ leren, die nackten und dürren Steppen, die der Axt und dem Feuer widerste­ henden Wälder, eine mit giftigen Insekten erfüllte Atmosphäre werden lang-

280

Kapitel XXVI

dauernde und große Hemmnisse für die Entwicklung des Landbaus und des Gewerbes darstellen. Auch die unternehmungslustigen und kräftigsten Ko­ lonisten werden in den Bergbezirken von Merida, von Antioquia und von Los Pastos, in den Llanos Venezuelas und am Guaviare, in den Wäldern des Rio Magdalena, dem Orinoco und in der Provinz Las Esmeraldes westlich von Quito solche Fortschritte und landwirtschaftliche Eroberungen nicht machen können, wie sie in den waldigen Ebenen westlich der Alleghenys, von den Quellen des Ohio, des Tennessee und des Alabama bis an die Ufer des Missouri und des Arkansas zustande gebracht worden sind. Wenn man sich der Erzählung meiner Reise an den Orinoco erinnert, wird man die Hin­ dernisse, welche in heißen und feuchten Klimaten eine mächtige Natur den Anstrengungen des Menschen entgegengesetzt, zu würdigen imstande sein. In Mexico ermangeln ausgedehnte Gebietsflächen aller Wasserquellen, die Regenniederschläge sind sehr selten, und der Mangel schiffbarer Flüsse er­ schwert die Verbindungen. Da die alte einheimische Bevölkerung sich mit Landbau beschäftigt und dies längst auch vor Ankunft der Spanier getan hat, haben die Grundstücke, deren Zugang undAnbau leicht ist, bereits ihre Eigentümer. Fruchtbare und ausgedehnte Ländereien, die entweder dem er­ sten Anbauer zur Besitznahme freistünden oder stückweise zum Vorteil des Staates verkauft werden könnten, finden sich so häufig nicht, wie man in Buropa glaubt. Daraus folgt, daß im spanischen Amerika die Bewegung der Kolonisierungen nicht überall so schnell und so ungehindert möglich ist, wie sie bis jetzt in den Westprovinzen der angloamerikanischen Union stattge­ funden hat. Deren Bevölkerung besteht ausschließlich aus weißen Men­ schen und aus Negern, die entweder ihrem Vaterland entführt oder, in der Neuen Welt geboren, Werkzeuge der Betriebsamkeit der Weißen geworden sind. In Mexico dagegen, in Guatemala, in Quito und Peru leben noch heute über 6lh Millionen Eingeborene von kupferfarbener Rasse, die trotz aller aufgebotenen Künste, um sie zu entindianisieren, durch ihre teils erzwun­ gene, teils freiwillige Isolierung, durch ihreAnhänglichkeit an alte Gewohn­ heiten und durch ihre mißtrauische Unbeugsamkeit des Charakters den Fortschritten der allgemeinen Wohlfahrt noch lange fremd bleiben werden. Ich beharre auf diesen Unterschieden zwischen den freien Staaten des ge­ mäßigtenAmerika und denen der Äquinoktialländer dieses Weltteils, um zu beweisen, daß letztere mit Hindernissen zu kämpfen haben, die von ihrer physischen und moralischen Situation abhängen, und um daran zu erinnern, daß die von Natur mit den mannigfachsten und wertvollsten Erzeugnissen ausgestatteten Länder nicht immer auch für einen leichten, schnellen und gleichförmig ausgebreiteten Anbau geeignet sind. Wenn man die Grenzen, welche die Bevölkerung erreichen kann, einzig nur vom Nahrungsertrag des Bodens abhängig betrachtet, so erweisen die einfachsten Berechnungen das Übergewicht der in den schönen Regionen der heißen Zone etablierten Ge-

Kapitel XXVI

281

sellschaften. Aber die Staatsökonomie oder das auf die Fakten gerichtete Wissen der Regierungen mißtraut den Zahlen und leeren Abstraktionen. Man weiß, daß durch die Vermehrung einer einzigen Familie ein vorher un­ bewohnter Kontinent im Zeitraum von acht Jahrhunderten mehr als 8 Mil­ liarden Einwohner zählen könnte; diese Schätzungen jedoch, die auf die Hy­ pothese der konstanten Verdoppelungen in 25 oder 30 Jahren gegründet sind, finden sich durch die Geschichte aller auf der Bahn der Zivilisation vor­ gerückten Völker widerlegt. Die Schicksale, welche die freien Staaten des spanischen Amerika erwarten, gebieten zuviel Ehrfurcht, als daß man ihre Verschönerung mit dem Blendwerk der Illusionen und des chimärischen Kalküls fördern müßte.

Areal und Bevölkerung.

-

Um die Aufmerksamkeit des Lesers auf die

politische Bedeutung der ehemaligen Capitanfa general von Venezuela zu lenken, beginne ich mit dem Vergleich der großen Masse, in die sich gegen­ wärtig die verschiedenen Völker des Neuen Kontinents gruppieren. Erhebt man sich zu allgemeineren Ansichten, kann man sich schmeicheln, über das Detail dieser statistischen Angaben, welche die variablen Elemente natio­ naler Wohlfahrt und Stärke sind, einiges Interesse zu verbreiten. Unter den 34 Millionen der über die weiten F lächen des amerikanischen Festlands verteilten Einwohner (in dieser Schätzung sind die wilden und die unabhän­ gigen Eingeborenen inbegriffen) unterscheidet man nach den drei vorherr­ schenden Rassen 16Vz Millionen in den Besitzungen der spanischen, 10 Mil­ lionen in denen der Angloamerikaner und nahezu 4 Millionen in denen der portugiesischen Amerikaner. Die Bevölkerungen dieser drei großen Abtei­ lungen stehen heutzutage in den Verhältnissen von 4 : 2Vz : 1, während die Gebiete, auf denen diese Bevölkerungen verbreitet sind, den Zahlen 1,5 : 0,7

:

1 entsprechen. Das Areal der Vereinigten Staaten ist fast um ein

Viertel größer als das Rußlands westlich des Urals; und das spanische Ame­ rika ist in gleichem Verhältnis größer als das gesamte Europa. Die Verei­ nigten Staaten haben Sfs der Bevölkerung der spanischen Besitzungen, und doch ist ihr Areal um mehr als die Hälfte kleiner. Brasilien enthält auf der Westseite dermaßen öde Landschaften, daß auf einer Oberfläche, die nur um ein Drittel kleiner ist als die Oberfläche des spanischen Amerika, seine Bevölkerung imVerhältnis von 1 : 4 erscheint. Die folgende Tabelle enthält die Ergebnisse eines Versuchs, den ich gemeinsam mit Herrn Mathieu, Mit­ glied der Akademie der Wissenschaften und des Längenbureaus, angestellt habe, um mit einem genauenVerfahren die Ausdehnung der Oberfläche der verschiedenen amerikanischen Staaten zu schätzen. Wir haben dafür solche Landkarten gebraucht, auf welchen die Grenzen nach den Angaben berich­ tigt waren, die ich in meinem> Recueil d'Observations astronomiques< veröf­ fentlicht habe. Unser Maßstab war allgemein groß genug, um Räume von 4 bis 5 Q uadratlieues nicht zu vernachlässigen. Man hat geglaubt, die Ge-

282

Kapitel XXVI

nauigkeit in solchem Maß anwenden zu sollen, um nicht der aus der Unzu­ verlässigkeit geographischer Angaben herrührenden Unsicherheit die der Messungen vonDreiecken, Trapezen und Küstenwindungen hinzuzufügen.

Große politische Einteilungen

I. Spanisch-amerikanische Besitzungen

Areal in Quadrat-

Bevölkerung

Iieues von 20 auf

im Jahre

einen Äqu.-Grad

1823

371380

167 85000

Mexico oder Neu-Spanien

7 5830

6800000

Guatemala

16740

1 600 000

4430

800000

33 7 00

7 85000

Cuba und Puerto Rico Colombi•

l

Venezuela Neu-Granada und Quito

Peru Chile Buenos Aires

58 250

2 000 000

41420

1400000

14 240

1100000

1267 7 0

2 300 000

256990

4 000 000

174 300

10 220 000

II. Portugiesisch-amerikanische Besitzungen (Brasilien) 111. Englisch-amerikanische Besitzungen

(Vereinigte Staaten)

[ An dieser Stelle schließtA. v. Humboldt "Erläuterungen" an.Er behandelt zunächst die Arealgrößen Südamerikas und der dortigen europäischen Ko­ lonialgebiete. -Es folgen statistische Angaben über A. Die Bevölkerung Mexicos, Guatemalas, Cubas und Puerto Ricos, Colombias und der venezo­ lanischen Provinzen undDepartamentos. -Danach kommen ebenso reiche Angaben zu B. Areal mitEinbeziehung Nordamerikas. RH, III, Kapitel XXV I, S. 65-88 ; Paulus Usteri u. a., Fünfter Teil, S.l14176 .) D [ iesen "Erläuterungen" folgen statistische Untersuchungen über Bevöl­ kerung und Produktion der spanischen Kolonien Amerikas. Ausführlich werden Venezuela nach Handel und öffentlichemEinkommen und in zahl­ reichen statistischen Tabellen La Guairas Handel für mehrere Jahre verdeut­ licht.Dann werden Folgerungen aus den statistischenDaten gezogen und breit die Panamakanal-Frage im Vergleich mit vielen europäischen Kanälen erörtert (s. hierzu die ausführlicheDarlegung in der Studienausgabe, Band IV, S. 98-115).Dabei gelangt die Betrachtung bis zum damals andauernden Unabhängigkeitskampf Südamerikas und zu Blicken in die Zukunft. RH, III, Kapitel XXV I, S.88-154; Paulus Usteri u. a., Fünfter Teil, S.176304.)

Kapitel XXVI

283

[Am Schluß des Kapitels XXV I folgenAnmerkungen zum Neunten Buch: Anmerkung A: Um über die Geschichte beider Amerika Licht zu ver­ breiten, stellt Humboldt die neuen Forschungen über die Befestigungslinien und die Tumuli zwischen Rocky Mountains und Alleghenies zusammen. Anmerkung B: Tabellenstatistik der Arealgröße und der Bevölkerungen, um die neuen politischen GebildeAmerikas mit den Staaten derAlten Welt zu vergleichen. -Anmerkung C: Alles, was sich auf die Reste der eingebo­ renen Bevölkerung bezieht, sei "von großem Interesse für die Freunde der Humanität". Deshalb publiziert er Tabellen zur genauen sozialen Gliede­ rung der Franziskanermissionen der Provinz Barcelona (Venezuela) und der Missionen an Orinoco, Casiquiare, Rfo Negro undAtabapo sowie der Pro­ vinz Guayana; es folgt eine Tabelle der Indianerstämme des Orinoco. -An­ merkung D: Über die bis jetzt sehr unvollständigen Angaben des ehema­ ligen Vizekönigreiches Buenos Aires; Tabellenstatistik. - Anmerkung E: Statistische Daten der USA, da das rapide Wachstum ihrer Bevölkerung die Grundlage vieler politisch-ökonomischer Kalküls geworden sei. - Anmer­ kung F: Humboldt hatte sich während seiner Reise mit der astronomischen Bestimmung der Südgrenze des spanischen Guayana beschäftigt und ver­ suchte, gleichzeitig Daten über die spanisch-portugiesischen Grenzen zu sammeln: Historische Sicht seit dem Vertrag von 1493 bis zu den Grenzexpe­ ditionen vor Humboldts Reise. - Anmerkung G: Zum Kuhbaum und der Chemie seiner Milch. RH, III, Kapitel XXV I, S. 155-187; Paulus Usteri u. a., Fünfter Teil, S.305380.] [Es folgt dann: "Skizze eines geognostischen Gemäldes des südlichen Amerika", RH, 111, unabhängig von der Kapiteleinteilung im Gefolge des Kapitels XXV I, S. 188-268; Paulus Usteri u. a., Fünfter Teil, S. 381-611.] [Danach kommen: Erläuterungen zur Karte von Colombia, die Hum­ boldt im März 1825 publizierte. (Die Republik Colombia war 1819 als Ver­ einigung von Venezuela und Neu-Granada, d. h. Columbien, gegründet worden. Seit 1823 hatte sich Ecuador angeschlossen. Schon 1830 wurde der Staat wieder aufgelöst. Anm. d. Hrsg.) Resümee der bemerkenswerten Höhen Venezuelas über dem Meer; Beobachtungen zur Entstehung der Barometerschwankungen unter den Tropen vom Niveau des Meeres bis zum Rücken der Anden, mit Tabellen für einige, auch asiatische Orte. Mittlere Barometerhöhe im Niveau des Meeres unter den Wendekreisen; mittlere Temperatur Cumanas und cyanametrischer Zustand der Luft. I. Beobach­ tungen Humboldts; II. BeobachtungenDon Fausto Rubios; zusätzlicheAn­ merkung über die Meereshöhe des Nicaragua-Sees. RH, III, S. 268-321; Paulus Usteri u. a., Fünfter Teil, S. 611-724.]

Zehntes Buch Kapitel XXVII Überfahrt von den Küsten Venezuelas nach Havanna­ Allgemeine Übersicht der Bevölkerung der Antillen, verglichen mit der Bevölkerung des Neuen Kontinents im Hinblick auf die Verschiedenheit der Rassen, der persönlichen Freiheit, der Sprache und der Religionen Seit die Vervollkommnung der Schiffahrtskunst und die stets zunehmende Tätigkeit der handeltreibenden Völker die Küsten beider Kontinente ein­ ander genähert haben, seit Havanna, Rfo de Janeiro und Senegal uns nicht viel entfernter vorkommen als Cactiz, Smyrna und die Häfen des Baltischen Meers, muß man Bedenken tragen, die Aufmerksamkeit des Lesers für eine Überfahrt von den Küsten von Caracas zur Insel Cuba in Anspruch zu nehmen. DasAntillen-Meer ist so bekannt wie das Wasserbecken des Mittel­ meers; und wenn ich hier meinem nautischen Tagebuch etliche Bemer­ kungen entnehme, geschieht dies nur, um den Faden meiner Reisebeschrei­ bung nicht fallen zu lassen und um einiger Tatsachen zu gedenken, die sich auf Meteorologie und die Physikalische Geographie überhaupt beziehen. Um die Wechsel der Atmosphäre genau zu kennen, müssen sie am Abhang der Berge und über der weitenAusdehnung der Meere erforscht werden; für Naturforscher, deren Scharfsinn durch langes Studium geübt worden ist, gibt es keine noch so kurze Überfahrt, keine Reise nach den Canarischen In­ seln und nach Madeira, die nicht Stoff für neue Ansichten darböte. Am 24. November

[1800],

um 9 Uhr abends, verließen wir die Reede von

Nueva Barcelona; wir umsegelten die kleine Felseninsel Borachita; zwi­ schen dieser Insel und Gran Boracha ist das Fahrwasser sehr tief. Die Nacht schenkte die Kühlung, die den Nächten der Tropenländer eigentümlich ist und deren angenehmen Eindruck man nur begreift, wenn die Nachttempe­ ratur von 23 bis 24° mit dem Mittel der Tagestemperatur verglichen wird, welche in diesen Gegenden, sogar an den Küsten, allgemein 28 bis 29° be­ trägt. Am folgenden Tag, kurz nach Wahrnehmung der Mittagszeit, be­ fanden wir uns im Meridian der Insel Tortuga; von Vegetation entblößt und den Inselchen Coche und Cubagua ähnlich, fällt sie auf durch ihre geringe Erhöhung über dem Meeresspiegel. Da neuerlich über die astronomische Lage von Tortuga einige Zweifel erhoben worden sind, bemerke ich hier,

Kapitel XXVII

285

daß das Chronometer von Louis Berthoud mir für den Mittelpunkt der Insel 0° 49' 40" westlich von Nueva Barcelona nachwies. Ich vermute, diese Länge dürfte noch etwas zu westlich sein. 26.November. Völlige Windstille, um so unerwarteter, als auf diesen Kü­ sten gewöhnlich der Ostwind ab Anfang November sehr frisch weht, wäh­ rend vom Mai bis zum Oktober die Nordwest- und Südwinde von Zeit zu Zeit eintreten. Zur Zeit des Nordwests nimmt man eine von Westen nach Osten gerichtete Strömung wahr, die zuweilen zwei bis drei Wochen lang der unmittelbaren Seefahrt von Cartagena nach Trinidad günstig ist. Der Süd­ wind wird auf der ganzen Küste der Tierra Firme für höchst ungesund ge­ halten, weil er (wie das Volk sich ausdrückt) die faulen Ausdünstungen der Wälder vom Orinoco herbeiführt. Gegen 9 Uhr morgens bildete sich ein schöner Halo [Hof um Lichtquelle] um die Sonne im Augenblick, als die Temperatur in diesen niedrigen Regionen plötzlich um 3lh Grad sank. War diese Senkung die Wirkung einer absteigenden Strömung? Der Streifen, der den Hof bildete und die Breite eines Grades hatte, war nicht weiß, sondern zeigte die schönsten Farben des Regenbogens, während der innere Raum des Rings und das ganze Himmelsgewölbe sich azurfarbig, ohne eine Spur sichtbarer Dünste, darstellten. Die Insel Margarita entzog sich allmählich unserem Gesichtskreis; ich ver­ suchte die Höhe der Felsengruppe Macanao zu ermitteln. Sie stellte sich unter einem Winkel von 0° 16' 35" dar, was bei einer zu 60 Meilen geschätzten Entfernung der Glimmerschiefer-Gruppe von Macanao eine Höhe von un­ gefähr 660 Toisen ergäbe, ein Resultat, das in einer Zone, wo die Erdrefrak­ tionen so beständig sind, mich glauben macht: die Entfernung der Insel dürfte geringer sein, als wir sie annahmen. Die Süd 62° West bleibende Kuppel der Silla [s. Teilband 1, S.413] von Caracas beschäftigte unsere Auf­ merksamkeit lange Zeit. Mit Vergnügen weilt der Blick auf dem Gipfel eines hohen Berges, den man mit einiger Gefahr erstiegen hatte und der allmäh­ lich unter den Horizont hinabsinkt. Wenn die Küste hell ist, muß die Silla auf der See, die Wirkungen der Refraktion abgerechnet, auf 33 Iieues Entfer­ nung sichtbar sein. An diesem Tag und an den drei folgenden war das Meer mit einer bläulichen Haut überzogen, die, mittels eines zusammengesetzten Mikroskops untersucht, aus einer zahllosen Menge Fäden zu bestehen schien. Diese Fäden werden häufig im Gulf-Stream und im Kanal von Bahama angetroffen sowie auch an den Landeplätzen von Buenos Aires. Einige Na­ turforscher halten sie für Überreste von Eiern der Weichtiere; mir schienen sie vielmehr Überbleibsel von Fucusarten zu sein. Die Phosphoreszenz des Meerwassers schien jedoch durch ihre Gegenwart vermehrt zu werden, zumal zwischen 28 und 30° nördlicher Breite, was auf ihren tierischen Ur­ sprung hindeuten würde. 27. November [1800]. Langsam näherten wir uns der Insel Orchila; diese

286

Kapitel XXVII

ist, wie alle den fruchtbaren Küsten der Tierra Firme naheliegenden Insel­ ehen, unbewohnt geblieben. Für die Breite des westlichen Kaps fand ich 11 51' 44" und für die Länge des östlichen Vorgebirges 68° 26' 5" (für Nueva a

Barcelona 67° 4' 48" angenommen). Dem Westkap gegenüber liegt ein kleiner Felsen, an dem sich die Wogen schmetternd brechen. Einige mit dem Sextanten aufgenommene Winkel gaben für die Länge der Insel von Osten nach Westen 8,4 Meilen (zu 950 Toisen); für die Breite kaum 5 Meilen. Die Insel Orchila, welche ich mir ihres Namens wegen als unfruchtbares, mit Flechten bewachsenes Eiland vorgestellt hatte, gewährte damals den An­ blick einer schönen Vegetation: Die Gneishügel waren mit Gräsern be­ wachsen. Die geologische Beschaffenheit von Orchila scheint im kleinen der von Margarita ähnlich zu sein. Sie ist aus zwei durch eine Landzunge verei­ nigte Felsgruppen zusammengesetzt; jene ist ein mit Sand bedeckter Isthmus, von dem man glauben könnte, er sei durch allmähliche Senkung des Meeresspiegels aus den Fluten emporgestiegen. Die Felsen scheinen wie alle senkrecht abfallenden und vereinzelt in der See vorkommenden bedeu­ tend höher, als sie in der Tat sind; ihre Höhe mag kaum 80 bis 90 Toisen be­ tragen. Nordwestlich verlängert sich die Punta rasa [kahle Landzunge] und verliert sich gleich einer Untiefe im Wasser. Der Ort ist gefährlich für die Schiffahrt, so wie der Mogote, welcher in der Entfernung zweier Meilen vom Westkap von Klippen umgeben ist. Ganz in der Nähe der Felsen sahen wir die Gneisschichten nordwestlich einfallen und von dichten Quarzlagern durchzogen. Die Zerstörung dieser Schichten ist ohne Zweifel die Ursache für den Sand der umliegenden Küsten. Einige Baumgruppen beschatten die Täler; auf den Gipfeln der Hügel stehen Palmbäume mit Fächerblättern. Wahrscheinlich ist es die Palma de Sombrero der Llanos

(Corypha tectorum).

Regenniederschläge sind selten in diesen Gegenden; jedoch ist es wahrschein­ lich, daß auf der Insel Orchila einige Quellen gefunden werden dürften, wenn man gleich sorgfältig wie in den Glimmerschiefer-Felsen von Punta Araya danach suchen würde. Wenn man sich erinnert, wie viele felsige und un­ fruchtbare Inseln zwischen 17 und 26° Breite im Archipel der Kleinen An­ tillen und der Bahama-Inseln bewohnt und angebaut sind, muß es befremd­ lich vorkommen, diese den Küsten von Cumami, von Barcelona und Cara­ cas nahe gelegenen Inselchen unbewohnt zu sehen. Sie wären es längst nicht mehr, wenn sie einer anderen Regierung angehörten als der, welche die Tierra Firme besitzt. Nichts kann den Menschen bestimmen, Fleiß und Ge­ werbsamkeit auf die engen Grenzen einer Insel zu beschränken, wenn das nahe Festland ihm größere Vorteile bietet. Bei Sonnenuntergang nahmen wir die zwei Spitzen des Roca de afuera wahr, die sich wie Türme mitten aus dem Ozean erheben. Mit der Bussole angestellten Messungen zufolge liegt der östlichste dieser Felsen oo 19' west­ lich vom westlichen Kap der Insel Orchila. Die Wolken blieben lange über

Kapitel XXVII

287

dieser versammelt und wiesen ihre Lage in der Entfernung nach; der Einfluß, welchen eine kleine Erdmasse auf die Verdichtung der bei

800

Toisen Höhe schwebenden Dünste ausübt, ist eine außerordentliche, ob­ gleich allen Seeleuten wohlbekannte Erscheinung. Durch die Anhäufung des Gewölks erkennt man von weitem die Lage der niedrigsten Inseln.

29. November [1800].

Bei Sonnenaufgang sahen wir noch ganz deutlich

die Kuppel der Silla de Caracas im Horizont des Meeres. Wir glaubten, uns in der Entfernung von Berges

(1350

39 bis 40 Iieues zu befinden; was, wenn die Höhe des

Toisen ) , seine astronomische Lage und die des Schiffes für

richtig bestimmt angenommen werden, eine für diesen Breitengrad etwas starke Refraktion, zwischen % und lfl, bedeutet. Mittags verkündete alles einen nördlichen Witterungswechsel; die Atmosphäre kühlt plötzlich bis auf

22,8°

ab, während die See auf ihrer Oberfläche eine Temperatur von

25,6°

beibehielt. Auch veranlaSten im Augenblick der Mittagsbeobachtung die Schwingungen des Horizonts, der von schwarzen Streifen oder Bändern sehr ungleicher Breite durchzogen wurde, Refraktionsänderungen von 3 bis

4'. Bei ganz stiller Luft wurde die See unruhig; alles verkündete ein Sturmge­ witter zwischen den kleinen Cayman-Inseln und dem Kap San Antonio. Wirklich ging am 30. November der Wind plötzlich in Nordnordost über, und die Wellen hoben sich zu einer außerordentlichen Höhe. Auf der Nordseite zeigte der Himmel eine blauschwärzliche Färbung, und das Schlingern un­ seres kleinen Fahrzeugs war um so heftiger, als im Anschlagen der Wellen zwei sich kreuzende Wogenzüge unterschieden wurden, der eine von Norden, der andere von Nordnordost. Auf eine Meile Entfernung bildeten sich Wasserhosen, die sich schnell von Nordnordost nach Nordnordwest be­ wegten. Wir spürten ein bedeutendes Kühlerwerden des Windes, sooft die Wasserhose sich uns näherte. Gegen Abend war durch Unvorsichtigkeit un­ seres amerikanischen Kochs auf dem Verdeck Feuer ausgebrochen, das bald wieder gelöscht wurde. Bei sehr schlimmer, von Stoßwinden begleiteter Witterung und mit einer Ladung Fleisch, das durch sein Fett leicht ent­ zündbar wird, hätte das Feuer schnelle Fortschritte machen können. Am Vormittag des

1. Dezembers wurde das Meer zusehends stiller, als der Nord­

ostwind anhielt. Ich war um diese Zeit des gleichmäßigen Gangs meines Chronometers ziemlich gewiß; der Kapitän aber wünschte sich durch die Aufnahme einiger Punkte der Insel Santo Domingo zu beruhigen. Wirk­ lich erkannten wir am

2. Dezember

das Kap Beata an einer Stelle, wo wir

lange zuvor angehäufte Wolken wahrgenommen hatten. Nach Höhen des Achernar, welche ich in der Nacht erhielt, befanden wir uns in der Entfer­ nung von

64

Meilen. Die Nacht führte mir eine optische Erscheinung vor,

die sehr merkwürdig ist, deren Erklärung ich aber hier nicht versuchen will. Es war über eine halbe Stunde nach Mitternacht; ein schwacher Ostwind wehte; das T hermometer zeigte

23,2°,

das Fischbein-Hygrometer

57°.

Ich

288

Kapitel XXVII

war auf dem Verdeck geblieben, um die Kulmination einiger großer Sterne zu beobachten. Der Vollmond stand sehr hoch. Plötzlich bildete sich auf der Seite des Monds, 45' vor seinem Meridiandurchgang, ein großer, alle Farben des Spektrums darstellender Bogen, der jedoch ein trauriges Aussehen hatte. Der Bogen überstieg seiner Höhe nach den Mond; der regenbogenfar­ bige Streifen war fast 2a breit, und sein Oberteil schien fast 80 bis 8SO über den Horizont des Meeres erhaben. Der Himmel war von außerordentlicher Reinheit, nirgends irgendein Anschein von Regen; und was mir am meisten auffiel: Diese Erscheinung, die völlig einem Mond-Regenbogen glich, stellte sich nicht dem Mond gegenüber dar. Der Bogen blieb stillstehend, oder er schien dies wenigstens acht bis zehn Minuten lang; im Augenblick, wo ich versuchte, ob es möglich wäre, ihn mittels der Reflexion im Spiegel des Sextanten zu sehen, fing er an, sich zu bewegen und zu senken, indem er über den Mond und den in geringer Entfernung unterhalb des Mondes befindlichen Jupiter hinzog. Es war 12 Uhr 54' (wahre Zeit), als der Oberteil des Bogens unter den Horizont sank. Diese Bewegung eines Bogens mit den Irisfarben setzte die auf dem Verdeck wachehabenden Matrosen in Er­ staunen; sie behaupteten, wie beim Erscheinen von jedem außerordentli­ chen Meteor künde dies Wind an. Herr Arago war so gefällig, die in meinem Reisetagebuch enthaltene Zeichnung dieses Bogens zu betrachten; er glaubt, das reflektierte Bild des Mondes im Wasser hätte keinen Ring von so ansehnlicher Dimension hervorgebracht. Die Schnelligkeit der Bewegung ist nicht das kleinste Hindernis zur Erklärung dieser sehr beachtenswerten Erscheinung. 3.Dezember [1800]. Man wurde unruhig durch die Nähe eines kleinen Fahrzeugs, das für ein Korsarenschiff gehalten wurde. Als es näher kam, er­ kannte man die "Balandra del Fraile" (die Goelette [Schoner] des Mönchs). Ich konnte lange den Sinn des seltsamen Namens nicht erraten. Es war das Fahrzeug eines Franziskaner-Missionars (Fraile Observante) und sehr rei­ chen Pfarrers eines indianischen Dorfes in den Savannen (Llanos) von Bar­ celona, der seit mehreren Jahren einen kleinen, doch nicht uneinträglichen Schleichhandel mit den dänischen Inseln trieb. In der Nacht wurde von Herrn Bonpland und mehreren Passagieren auf eine Viertelmeile Entfer­ nung unter dem Wind eine kleine Flamme auf der Oberfläche des Ozeans bemerkt; sie nahm ihre Richtung gegen Südwesten und erleuchtete die At­ mosphäre. Man verspürte weder die Erschütterung eines Erdbebens noch ir­ gendeine Veränderung in der Richtung der Wellen. Mochte es ein phosphori­ scher Glanz sein, durch eine große Anhäufung in Fäulnis übergehender Weichtiere verursacht, oder stieg die Flamme vom Grund des Meeres empor, wie ja behauptet wird, daß solche zuweilen in durch Vulkane be ­ wegten Gewässern wahrgenommen wurden? Diese Vermutung kommt mir höchst unwahrscheinlich vor. Vulkanische Flammenströme können aus den

289

Kapitel XXVII

Wasserfluten nur dann emporsteigen, wenn der Felsengrund des Ozeans be­ reits so gehoben ist, daß Flammen und glühende Schlacken aus dem aufge­ blähten und zerspaltenen Teil hervorkommen, nicht aber durch das Wasser selbst hindurchgehen müssen. 4. Dezember

[1800].

Um lOVz Uhr morgens befanden wir uns im Meridian

vom Kap Bacco ( Punta Abacou ) , das ich unter

76° 7' 50" oder 9° 3' 2" west­

lich von Nueva Barcelona fand. In Friedenszeiten fahren nach einer alten Sitte der spanischen Seeleute die Schiffe, die Handel mit gedörrtem Fleisch

(tasajo)

zwischen Cumami und Barcelona oder Havanna treiben, durch den

Kanal von Puerto Rico aus, um in den Alten Kanal nördlich der Insel Cuba zu gelangen; zuweilen gehen sie auch zwischen dem Kap Tibur6n und dem Kap Morant hindurch und nehmen ihre Fahrt längs der Nordküste von Ja­ maica. In Kriegszeiten werden diese verschiedenen Wege als gleich gefähr­ lich angesehen, weil man allzu lange in Sichtweite des Landes blieb. Die Furcht vor Seeräubern bewegte uns, sobald wir den Breitenkreis von 17o er­ reicht hatten, die direkte Fahrt über die Bank von la Vfbora, bekannter unter dem Namen Pedro Shoals, zu wählen. Diese Bank nimmt über

Lieues marines ein,

280

und ihre Gestalt fällt dem Geologen auf wegen der Ähn­

lichkeit mit der nahe gelegenen von Jamaica. Sie sieht aus wie eine Erhe­ bung des Meeresgrunds, der die Oberfläche der See nicht erreichen konnte, um eine fast ebenso große Insel wie Puerto Rico zu bilden. Seit dem

5. De­

zember glaubten die Piloten nacheinander die Ranas-Inseln ( Morant Kays ) , das Kap Portland und Pedro Kays anzupeilen. Es ist wahrscheinlich, daß man sich in mehreren dieser von der Höhe der Masten herab unternom­ menen Peilungen geirrt hat; ich habe an einem anderen Ort diese Bestim­ mungen erwähnt, nicht um sie der großen Zahl derer, die von tüchtigen bri­ tischen Seefahrern in diesen vielbesuchten Gewässern gemacht worden sind, gegenüberzustellen, sondern nur in der Absicht, meine in den Wäldern vom Orinoco und im Archipel der Antillen bestimmten Punkte in einem Sy­ stem von Beobachtungen zu vereinigen. Die Milchfarbe des Wassers bedeu­ tete, daß wir uns auf dem östlichen Teil der Bank befänden; das Centesimal­ T hermometer, welches auf der Oberfläche des Meeres, von der Bank ent­ fernt, sich seit mehreren Tagen auf

27

halten hatte, fand sich plötzlich bis zu

und

25,7°

27,3° (die

Luft hatte

21,2°) ge­ 6. De­

abgekühlt. Vom 4. zum

zember war die Witterung schlimm, der Regen fiel in Strömen, fernhin rollte der Donner, und die Stoßwinde von Nordnordwesten wurden immer hef­ tiger. In der Nacht befanden wir uns für einige Augenblicke in einer ziemlich kritischen Lage. Im Vorderteil des Schiffs hörte man das Geräusch der Bran­ dung, nach welcher hin das Schiff seine Richtung nahm. Das vom schäu­ menden Meer ausgehende Phosphorlicht ließ die Richtung dieser Klippen unterscheiden. Es glich ziemlich dem Raudal von Garcita und anderen ni­

pides, die wir im Bett des Orinoco gesehen hatten.

Der Kapitän machte der

Kapitel XXVII

290

Nachlässigkeit des Steuermanns weniger Vorwürfe als den mangelhaften Seekarten. Die Wendung des Schiffs gelang, und innerhalb einer Viertel­ stunde befanden wir uns außer Gefahr. Das Senkblei hatte anfangs 9, danach

12, endlich 15 Faden nachgewiesen. Den übrigen Teil der Nacht durch legten 19,7° absinken. Am folgen­

wir bei; der Nordwind ließ das T hermometer auf

den Tag ergab sich mir aus chronometrischen Beobachtungen, vereint mit den Resultaten der berichtigten Wertung von gestern, daß diese Klippen sich ungefähr bei

80° 43' 49" Länge befinden. Die Klippe, auf 1798 Gefahr lief, zugrunde zu gehen, befindet sich unter 16° 44' Breite und 80° 23' Länge, also viel östli­ 16° 50'

Breite und

der das spanische Schiff "EI Monarco" im Jahre

cher. Während wir in der Richtung von Südsüdost nach Nordnordwest die Bank von la Vfbora durchfuhren, versuchte ich öfters, die Temperatur des Meerwassers auf seiner Oberfläche zu messen. In ihrer Mitte war die Abküh­ lung weniger fühlbar als auf den Seiten, was wir den Strömungen zuschrie­ ben, welche in diesen Gegenden die Gewässer verschiedener Breiten mi­ schen. Südwärts von Pedro Kays zeigte die Oberfläche der See bei 25 Faden Tiefe ratur

26,4°; auf 15 Faden Tiefe 26,2°. Ostwärts der Bank betrug die Tempe­ 26,8°. Diese Versuche können in diesen Gewässern nur dann zuverläs­

sige Resultate gewähren, wenn sie zu einem Zeitpunkt gemacht werden, wo der Nordwind nicht bläst und wo die Strömungen weniger heftig sind. Die Nordwinde und die Strömungen kühlen das Wasser nach und nach ab, selbst da, wo das Meer sehr tief ist. Südlich vom Kap Corientes, unter zoo Breite, fand ich das Meer auf der Oberfläche zu

43' 24,6° und die Luft zu 19,8°.

Einige amerikanische Piloten behaupten, sie könnten öfters, wenn sie in der großen Schiffskammer sitzen, zwischen den Bahamas-Inseln erraten, ob sie sich auf Untiefen befänden: Die Lichter, behaupten sie, seien dann von kleinen regenfarbenen Ringen umgeben, und die ausgeatmete Luft werde durch Verdichtung sichtbar. Diese letztere Tatsache wenigstens darf bezweifelt werden; unter 30° Breite ist die durch Wasser der Untiefen erzeugte Abkühlung nicht bedeutend genug, um diese Erscheinung zu bewirken. Während der Zeit, die wir auf der Bank von la Vfbora zubrachten, war die Luftbeschaffenheit völlig verschieden von der, die wir später fanden. Der Regen war durch die Grenzen der Bank umschrieben, deren Form wir durch die Masse der Dünste, womit sie bedeckt war, von weitem unterscheiden konnten.

9. Dezember [ 1800].

Sowie wir uns den kleinen Caymans-Inseln näherten,

erhielt der Nordostwind wieder seine volle Stärke. Trotz des stürmischen Wetters gelang es mir, einige Sonnenhöhen zu erhalten im Augenblick, wo wir uns auf

12

Meilen Entfernung im Meridian des Zentrums von Grand

Cayman glaubten, das mit Cocospalmen bedeckt ist. Ich habe anderswo die Lage vor Grand Cayman und der beiden östlich gelegenen Inselchen erör­ tert. Seit langer Zeit sind diese Punkte auf unseren hydrographischen Karten recht ungewiß, und ich befürchte, nicht glücklicher als andere Beob-

Kapitel XXVII

291

achter gewesen zu sein, die sich schmeichelten, ihre wahre Lage ermittelt zu haben. Auf den schönen Karten des Dep6sito de Madrid sind zu verschie­ denen Zeiten dem Ostkap vom Grand Cayman (in den Jahren 1709 bis 1804) 82° 58', (1809) 83° 40', (1821) nochmals 82° 59' Länge zugeschrieben worden. Diese letztere, auf der Karte des Herrn Barcaiztegui angegebene Lage ist mit der, bei welcher auch ich stehenblieb, identisch; gegenwärtig scheint jedoch außer Zweifel, daß nach der Angabe eines trefflichen See­ manns, des Konteradmirals Roussin, dem man eine sehr wichtige Arbeit über die Küsten von Brasilien verdankt, das Westkap von Grand Cayman unter 83° 45' liegt. Das Wetter war fortdauernd schlecht und die See sehr stürmisch; das T her­ mometer hielt sich zwischen 19,2 und 20,3°. Bei dieser niederen Temperatur wurde der Geruch des gedörrten Fleischs, das die Schiffsladung ausmachte, vollends unerträglich. Der Himmel zeigte zwei Wolkenschichten, deren un­ tere sehr dicht und mit ausnehmender Schnelligkeit südostwärts getrieben wurde, die obere hingegen erschien unbeweglich und wie durch verschieden­ farbige Streifen in gleichem Abstand geteilt. Bei der Landung am Kap San Antonio legte sich der Wind endlich. Ich fand das nördliche Ende dieses Kaps bei 87° 17' 22" oder 2o 34' 14" östlich vom Morro Havannas. Dies ist die Länge, welche ihm auchjetzt noch auf den besten Karten angewiesen wird. Wir waren 3 Meilen vom Land entfernt, dennoch kündigte sich die Nähe der Insel Cuba durch den lieblichsten aromatischen Geruch an. Die Seeleute be­ haupten, dieser Geruch sei nicht spürbar, wenn man sich dem Kap Catoche an den dürren Küsten von Mexico nähert. In dem Maße, wie sich das Wetter aufhellte, stieg das T hermometer im Schatten nach und nach auf 27o; wir rückten schnell nordwärts, durch eine Strömung von Südsüdosten ge­ trieben, deren Temperatur sich auf der Oberfläche des Wassers zu 26,7° zeigte, während ich außerhalb dieser Strömung 24,6° gefunden hatte. Aus Besorgnis, ostwärts von Havanna zu kommen, wollte man anfänglich die kleinen Schildkröten-Inseln (Dry Tortugas) anlaufen, die am südwestlichen Ende der Halbinsel Florida liegen; das Vertrauen aber, welches uns die Lan­ dung am Kap San Antonio zu dem Chronometer von Louis Berthoud ein­ geflößt hatte, machte diese Vorsicht überflüssig. Wir gingen im Hafen von Havanna vor Anker, am 19. Dezember, nach fünfundzwanzig Tagen einer stets von schlimmem Wetter begleiteten Fahrt. [Am Schluß des Kapitels XXV II folgt eine Tabellenstatistik zur Bevölke­ rung der Antillen (Ende 1823), ein Text zur Bevölkerung Santo Domingos; Bevölkerung des kontinentalen und insularen Amerika, Verteilung der Rassen im spanischen Amerika, Verteilung der Gesamtbevölkerung Ame­ rikas nach Religionen, Vorherrschaft der Sprachen im Neuen Kontinent. RH, III, S. 330-344; Paulus Usteri u. a., S. 741-774.]

Reise in die

Aequinoctial-Gegenden des

neuen Continents in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 und 1804.

Verfaßt von Alexander von Humboldt und A. Bonpland.

Sechster Theil.

Stuttgart und Tübingen in der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. 1829.

Reise in die

Aequinoctial-Gegenden des

neuen Continents in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 und 1804.

Sechster Theil. Erste Hälfte.

Reise in die

Äquinoktial-Gegenden des

Neuen Kontinents

Zehntes Buch Kapitel XXVIII Politischer Versuch über die Insel Cuba- HavannaHügel von Guanabacoa in ihren geognostischen Verhältnissen­ Talebene von Los Güines- Bataban6 und Hafen von La Trinidad­ Gärten des Königs und der Königin [Es folgt bei Paulus Usteri u. a.auf den Seiten 1 bis 234 das >Cuba-Werk< mit "Zusätzen" am Schluß des Buches XI, S.135-224; RH, S. 345-458 mit "Zu­ sätzen" ebenfalls am Schluß S.580-629 (S.627 unten bis 629 =Ergänzung zur Beschreibung der Kleinen Vulkane von Turbaco). - Dieser vollständige Text ist Band 111 der vorliegenden Studienausgabe.]

Gegen Ende April [1801], nach Vollendung der Beobachtungen, die wir, Herr Bonpland und ich, uns am nördlichen Ende der heißen Zone vorge­ nommen hatten, waren wir im Begriff, mit der Escadre des Admirals Ariz­ tizabal nach Veracruz abzureisen; aber falsche Nachrichten, die über die Reise des Kapitäns Baudin in öffentlichen Blättern verbreitet wurden, ließen uns auf den Plan, unseren Weg durch Mexico nach den Philippinen zu nehmen, verzichten. Mehrere Zeitungen, besonders aus den Vereinigten Staaten, meldeten nämlich, es seien zwei französische Korvetten, "Geo-

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Kapitel XXVIII

graphe" und "Naturaliste", nach Kap Hoorn unter Segel gegangen; sie sollten längs der Küste Chiles und Perus segeln, um sich von da nach Austra­ lien zu begeben. Bei Empfang dieser Nachricht geriet ich in eine lebhafte Be­ wegung. Alle Entwürfe, die ich zur Zeit meines Aufenthalts in Paris gemacht hatte, als ich die Minister des Direktoriums bestürmte, um eine beschleu­ nigte Abreise des Kapitäns Baudin von ihnen zu erwirken, stellten sich meiner Phantasie wieder lebendig dar. Im Augenblick der Abreise aus Spa­ nien hatte ich versprochen, mich den Reisenden überall anzuschließen, wo ich sie treffen würde. Wer etwas lebhaft wünscht, das einen schlimmen Aus­ gang haben kann, der beredet sich leicht, sein Entschluß sei einzig aus reinem Pflichtgefühl hervorgegangen. Herr Bonpland, immer entschlossen und unserem guten Glück vertrauend, war auch bald bereit, unsere Pflan­ zensammlungen in drei Teile zu sondern. Um das, was wir mit soviel Mühe an den Ufern des Orinoco, des Atabapo und des Rio Negro gesammelt hatten, nicht dem ungewissen Schicksal einer langen Seereise auszusetzen, sandten wir eine der Kollektionen über England nach Deutschland; eine an­ dere über üidiz nach Frankreich. Die dritte Sammlung blieb in Havanna aufbewahrt. Wir hatten uns über diese Vorkehrungen, welche die Klugheit erforderte, nur zu freuen. Jede Sendung enthielt ungefähr die gleichen Arten, und alle Vorsichtsmaßnahmen waren getroffen, damit die von briti­ schen oder französischen Schiffen erbeuteten Kisten an Sir Joseph Banks oder an die Professoren des Museums für Naturgeschichte in Paris über­ geben werden sollten. Glücklicherweise wurden die Manuskripte, die ich an­ fangs der Sendung nach Cadiz beizufügen geplant hatte, nicht unserem Freund und Reisegefährten Fray Juan Gonzalez vom Orden der Observanz des heiligen Franziskus anvertraut. Dieser achtbare junge Mann, den ich mehrmals zu erwähnen Gelegenheit hatte, war uns nach Havanna gefolgt, um nach Spanien zurückzukehren. Er verließ die Insel Cuba bald nach uns; aber der Segler, auf dem er sich eingeschifft hatte, ging während eines Sturms an der afrikanischen Küste mit seiner ganzen Landung zugrunde. Wir haben durch diesen Schiffbruch einen Teil der Doubletten unserer Her­ barien verloren und, was für die Wissenschaft ein empfindlicher Verlust ist, alle Insekten, welche Herr Bonpland unter sehr schwierigen Umständen auf unserer Reise an den Orinoco und an den Rio Negro gesammelt hatte. Durch ein ganz außerordentliches Mißgeschick sind wir in den spanischen Kolonien zwei volle Jahre verweilt, ohne einen einzigen Brief aus Buropa zu erhalten; die Briefe, welche wir in den drei folgenden Jahren empfingen, ver­ meldeten nichts über die Sendungen, die wir aufgegeben hatten. Man be­ greift, wie groß meine Unruhe über das Schicksal eines Tagebuchs sein mußte, welches die astronomischen Beobachtungen und alle mit dem Baro­ meter angestellten Höhenmessungen enthielt, von denen ich eine vollstän­ dige Abschrift zu fertigen die Geduld nicht gehabt hatte. Erst nach zurückge-

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legter Reise durch Neu-Granada, Peru und Mexico, im Augenblick, als wir den Neuen Kontinent verließen, erblickte ich zufällig in der öffentlichen Bi­ bliothek zu Philadelphia bei Durchsicht des Registers einer wissenschaftli­ chen Revue die Worte: "Ankunft der Manuskripte des Herrn v. Humboldt bei seinem Bruder in Paris, über Spanien". Ich hatte Mühe, meine Freude nicht laut werden zu lassen; und nie, dachte ich, sei ein Register besser ver­ fertigt gewesen. Während Herr Bonpland Tag und Nacht mit Aufteilung und Ordnung un­ serer Sammlungen beschäftigt war, quälten mich tausend Hindernisse, die sich einer so unvorhergesehenen Abreise in den Weg stellten. Im Hafen Ha­ vannas war kein Schiff zu finden, das uns nach Portobelo oder Cartagena überführen wollte; die Personen, die ich zu Rate zog, gefielen sich darin, die Beschwerlichkeiten der Passage über den Isthmus und die Langsamkeit einer Fahrt von Norden nach Süden, von Panama nach Guayaquil und von Guayaquil nach Lima oder nach Valparaiso zu übertreiben. Sie warfen mir vielleicht nicht unbegründet vor, daß ich nicht fortfahre, die ausgedehnten und reichen Besitzungen des spanischen Amerika zu erforschen, welche seit einem halben Jahrhundert für alle fremden Reisenden verschlossen ge­ blieben waren. Die Chancen einer Reise um die Welt, auf der man gewöhn­ lich nur einige Inseln oder öde Küsten eines Kontinents berühre, schienen ihnen die Vorteile nicht aufzuwiegen, welche das Studium des Inneren von Neu-Spanien nach seinen geologischen Verhältnissen darböte, einer Land­ schaft, die allein 5/s der Silbermasse liefere, die jährlich aus allen Berg­ werken der bekannten Erde gewonnen werde. Diesen Betrachtungen gegen­ über wurde von mir das Interesse geltend gemacht, welches sich darböte in der nach einem größeren Maßstab zu erhaltenden Bestimmung der Irrflexion der Kurven gleicher Inklination sowie der Abnahme der Intensität der ma­ gnetischen Kräfte vom Pol zum Äquator hin, der Temperatur des Ozeans in ihren Änderungen nach den Breitegraden, nach der Richtung der Strö­ mungen und der Nähe der Untiefen. Je mehr ich in meinen Plänen behindert wurde, desto mehr betrieb ich ihre Ausführung. Da die Überfahrt auf keinem neutralen Schiff möglich war, mietete ich eine katalanische Goe­ lette, die sich auf der Reede von Bataban6 befand und die zu meiner Verfü­ gung bereit sein sollte, um mich entweder nach Portobelo oder nach Carta­ gena de Irrdias zu bringen, je nachdem die See und die Winde von Santa Marta, die in dieser Jahreszeit unterhalb des zwölften Breitengrads noch heftig wehten, es gestatten könnten. Die günstigen Verhältnisse des Handels von Havanna und die mannigfaltigen Verbindungen dieser Stadt, sogar mit den Häfen des Südmeers, erleichterten mir die Anschaffung der benötigten Summen für mehrere Jahre. Der General Don Gonzalo O'Farrill, durch Ta­ lente und edlen Charakter gleich ausgezeichnet, befand sich damals als kö­ niglich-spanischer Gesandter in meinem Vaterland. Ich konnte meine Ein-

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künfte in Preußen gegen einen Teil der seinigen auf der Insel Cuba tauschen; und die Familie des achtenswerten Don Ignacio O'Farrill y Herera, eines Bruders des Generals, wirkte bei meiner unvorhergesehenen Abreise von Havanna in allem mit, was meine neuen Pläne begünstigen könnte. Am 6. März [1801] wurde uns gemeldet, daß die von mir gemietete Goelette be­ reit sei, uns aufzunehmen. Der Weg von Bataban6 führte uns nochmals durch Güines zur Pflanzung Rio Blanco, deren Besitzer (der Graf de Jaruco y Mopox) den Aufenthalt auf jede Weise, die Neigung zu Gefälligkeit und ein großes Vermögen darbieten können, verschönerte. Die Gastfreund­ schaft, die allgemein mit den Fortschritten der Zivilisation abnimmt, wird auf der Insel Cuba noch ebenso beflissen geübt wie in den entlegensten Teilen des spanischen Amerika. Gerne stellen einfache naturforschende Reisende den Bewohnern Havannas hier das gleiche dankbare Zeugnis aus, das ihnen von erlauchten Fremden [drei Prinzen aus dem Haus Orleans] er­ teilt worden ist, die überall, wo ich in der Neuen Welt ihrer Spur folgen konnte, eine angenehme Erinnerung an ihre edle Einfachheit, ihre eifrige Wißbegierde und ihre Liebe des Gemeinwohls zurückließen. Vom Rio Blanco nach Bataban6 führt der Weg durch ein unangebautes, zur Hälfte mit Wäldern bedecktes Land. In den Lichtungen wachsen Indigo und Baumwollstrauch wild. Da die Kapseln von Gossypium sich zu eben der Zeit öffnen, wo die Nordstürme am häufigsten sind, wird der Flaum, wel­ cher die Samen umhüllt, von einer Küste zur anderen getragen, und die Ernte der Baumwolle, die übrigens von der schönsten Qualität ist, leidet viel wegen des Zusammentreffens der Stürme mit dem Reifen der Früchte. Meh­ rere unserer Freunde, unter ihnen Herr de Mendoza, Kapitän des Hafens Valparaiso und Bruder des berühmten Astronomen, der sich lange in London aufgehalten hat, begleiteten uns bis nach Potrero de Mopox. Beim Pflanzensammeln weiter südwärts fanden wir eine neue Palmenart mit Fä­ cherblättern

(Corypha maritima),

die in den Zwischenräumen der Blätter,

die das zusammengesetzte Blatt bilden, eine freie Faser aufweisen. Diese Corypha, mit der ein Teil der Südküste bewachsen ist, tritt hier an die Stelle der majestätischen Palma real

[Oreodoxa regia] und Cocos crispa der Nord­

küste. Hin und wieder trat der poröse Kalkstein (der Jura-Formation) in der Ebene zutage. Bataban6 war damals ein armes Dorf und seine Kirche erst seit einigen Jahren erbaut. In der Entfernung einer halben

Iieue

beginnt die

cienega­

eine sumpfige Landschaft, die sich von der Laguna de Cortes bis zur Mün­ dung des Rio Jagua 60

Iieues lang von Westen nach Osten ausdehnt. In Bata­

ban6 glaubt man, das Meer fahre fort, in dieser Gegend gegen das Land zu gewinnen, und der ozeanische Einbruch sei besonders zur Zeit des großen Einsturzes fühlbar gewesen, welcher gegen Ende des 18.Jahrhunderts ge­ schah, als die Tabakmühlen verschwanden und der Rio de la Chorrera seinen

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Lauf änderte. Man kann sich nichts trauriger denken als den Anblick dieser Sümpfe um Bataban6. Nicht ein einziger Strauch unterbricht die Einförmig­ keit dieser Landschaft; nur einige Palmstämme erheben sich, gleich zerbro­ chenen Mastbäumen, inmitten großer Büschel von Joncaceen und lrideen.

[Cayman und Krokodil] Da wir nur eine einzige Nacht in Bataban6 verweilten, so bedauerte ich es sehr, keine genauen Aufschlüsse über die zwei Arten des Krokodils erhalten zu können, die in der cienega hausen. Die eine wird von den Einwohnern cayman, die andere Krokodil oder, wie man sich im Spanischen gewöhnlich

ausdrückt, cocodrilo genannt. Dieses, wurde uns versichert, sei bebender und hochbeiniger, seine Schnauze sei zugespitzter als die des caymans, und es vermische sich niemals mit ihnen. Es ist sehr mutig, und man behauptet, es klettere sogar in Schiffe, wenn es für den Schwanz einen Stützpunkt habe. Die ausnehmende Kühnheit dieses Tiers war schon zur Zeit der ersten Reisen des Gouverneurs Diego Vehisquez bemerkt worden. Das Krokodil entfernt sich bis auf eine Iieue weit vom Rio Cauto und von der sumpfigen Küste Jaguas, um sich im Landesinneren Schweine zur Beute zu holen. Es gibt welche, die 15 Fuß Länge haben, und die schlimmsten verfolgen (sagt man) einen Reiter, wie es in Europa die Wölfe tun, während die Tiere, die in Bataban6 ausschließlich caymans genannt werden, dermaßen furchtsam sind, daß man selbst an Stellen, wo sie in Scharen vorkommen, ohne Scheu badet. Dieses Verhalten und der auf der Insel Cuba dem gefährlicheren dieser fleischfressenden Saurier gegebene Name cocodrilo schienen mir eine von den großen Tieren am Orinoco, am Rio Magdalena und in Santo Do­ mingo verschiedene Art anzuzeigen. Überall übrigens auf dem Kontinent des spanischen Amerika glauben die Kolonisten, durch übertriebene Erzäh­ lungen von der Wildheit der ägyptischen Krokodile irregeführt, die echten Krokodile fänden sich nur im Nil, während die Zoologen erkannt haben, daß in Amerika sowohl caymans oder Alligatoren mit abgestumpfter Schnauze und mit Beinen ohne Auszackung wie Krokodile mit spitzer Schnauze und gezackten Beinen vorkommen; in der Alten Welt gibt es so­ wohl Krokodile wie Gaviale [indische Krokodile]. Das Crocodilus acutus von Santo Domingo, das ich vorerst vom Krokodil der großen Ströme des Orinoco und Magdalena nicht spezifisch unterscheiden kann, hat sogar, um mich eines Ausdrucks des Herrn Cuvier zu bedienen, mit dem Krokodil des Nils eine so auffällige Ähnlichkeit, daß die sorgsamste Prüfung jedes ein­ zelnen Teiles erforderlich war, um zu beweisen, daß Buffons Gesetz hinsicht­ lich der Verteilung der Arten auf die Tropenregionen beider Welten sich nicht irrt.

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Da ich bei meiner zweiten Reise durch Havanna im Jahre 1804 nicht nach der cienega in Bataban6 zurückkehren konnte, ließ ich mit großen Kosten die zwei Arten, welche die Einwohner caymans und Krokodile nennen, kommen. Von letzteren erhielt ich zwei lebende Tiere, wovon das ältere 4 Fuß und 3 Zoll Länge hatte. Ihr Fang war schwierig gewesen; sie wurden

gefesselt und mit Maulkörben versehen auf einem Maultier gebracht. Sie waren kräftig und ziemlich wild. Um ihre Gewohnheiten und Bewegungen zu beobachten, wurden sie in einen großen Saal gebracht, wo wir von einem hohen Möbel herab, auf das wir geklettert waren, ihrenAngriffen auf große Hunde zusehen konnten. Nachdem wir am Orinoco, am RfoApure und am Magdalena sechs Monate mitten unter Krokodilen gelebt hatten, gefiel es uns, vor unserer Rückreise nochmals diese eigentümlichen Tiere zu beob­ achten, die mit so bewundernswerter Schnelligkeit von völliger Unbeweg­ lichkeit zu den heftigsten Bewegungen übergehen. Die Tiere, die uns aus Bataban6 als Krokodile gesandt wurden, hatten ebenso spitze Schnauzen wie die vom Orinoco und Magdalena (Crocodilus acutus, Cuv.). Ihre Farbe war etwas dunkler, auf dem Rücken grünschwärzlich und am Bauch weiß; die Flanken waren gelb gefleckt. Ich zählte wie bei allen echten Krokodilen 38 Zähne im Oberkiefer, 30 im unteren. Von den ersteren waren der zehnte

und der neunte, von den zweiten der erste und der vierte die größten. Die Beschreibung, welche Herr Bonpland und ich an Ort und Stelle verfertigt haben, sagt ausdrücklich, der vierte untere Zahn umfasse frei den Ober­ kiefer. Die hinteren Extremitäten waren mit Schwimmhaut versehen. Diese Krokodile von Bataban6 schienen uns eigenartigerweise identisch mit dem Crocodilus acutus; allerdings ist es wahr, daß alles, was man uns von ihrer Le­ bensart berichtete, nicht gar zu sehr mit dem, was wir selbst am Orinoco be­ obachtet hatten, übereinstimmte; es stellen sich aber die fleischfressenden Saurier derselbenArt im gleichen Strom bald sanfter und furchtsamer, bald wilder und mutiger, je nach der Natur der Örtlichkeiten dar. Das in Bata­ ban6 cayman genannte Tier starb unterwegs, und man beging die Unvorsich­ tigkeit, es uns nicht zu bringen, so daß wir beide Arten nicht vergleichen konnten. Sollten sich im Süden der Insel Cuba echte caymans mit stumpfer Schnauze finden, deren vierter unterer Zahn in den Oberkiefer eintritt? Al­ ligatoren, die denen von Florida ähnlich sind? Was die Kolonisten vom viel stärker verlängerten Kopf ihres cocodrilo del Bataban6 sagen, läßt diese Tat­ sache fast zur Gewißheit werden; in diesem Fall hätte das Volk auf dieser Insel mit glücklichem Instinkt ebenso richtig zwischen Krokodil und cayman unterschieden, wie dies heutzutage gelehrte Zoologen durch dieAufstellung zweier Untergattungen tun, welche die gleichen Namen führen. Ich zweifle nicht, daß das Krokodil mit der spitzen und der Alligator oder cayman mit der Hechtschnauze [ Crocodilus acutus von Santo Domingo; Alligator lucius von Florida und vom Mississippi] beide, jedoch in unterschiedlichen

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Gruppen, die sumpfigen Küsten zwischen Jagua, dem surgidero [Anker­ platz) von Bataban6 und der Insel Pinos bewohnen. Auf dieser war es, wo Dampier, der als beobachtender Naturforscher nicht weniger rühmlich ist denn als kühner Seefahrer, über den großen Unterschied zwischen den ame­ rikanischen caymans und Krokodilen beeindruckt war. Was er darüber in seiner Reise nach dem Campeche-Golf meldet, hätte vor hundert Jahren schon die Neugier der Gelehrten anregen sollen, wenn nicht die Zoologen meist das verächtlich unbeachtet ließen, was Seefahrer und andere Rei­ sende, denen wissenschaftliche Kenntnisse mangeln, an den Tieren beob­ achtet haben. Dampier, nachdem er mehrere, nicht überall gleich genaue, unterscheidende Charakterzüge des Krokodils und des caymans angegeben hat, weist dann näher die geographische Verteilung dieser gewaltigen Sau­ rier nach. "In der Campeche-Bucht", sagt er, "habe ich nur caymans oder Alligatoren gesehen; auf der Insel Grand Cayman finden sich Krokodile, aber keine Alligatoren; auf der Insel Pinos und in den unzählbaren creeks [Buchten, kleine Häfen) und esteres [breite Flußmündungen) der Küste von Cuba werden zugleich Krokodile und caymans angetroffen." Diesen wert­ vollen Beobachtungen Dampiers will ich noch beifügen, daß das echte Kro­ kodil (Crocodilus acutus) sich gleichfalls findet auf den Inseln unter dem Wind, die der Tierra Firme zunächst gelegen sind, und zum Beispiel aufTri­ nidad, auf der Insel Margarita und wahrscheinlich auch, trotz des Mangels an Süßwasser, auf Cura�ao. Südlicher beobachtet man es (und ohne daß ich in seiner Gesellschaft irgendeiner der an den Küsten Guayanas in Menge vorkommenden Arten des Alligators begegnet wäre) im Neveri, im Rio Magdalena, im Apure und Orinoco bis zum Zusammenfluß des Casiquiare mit dem Rio Negro (Breite 2° 2'), demnach über 400 Iieues entfernt von Ba­ taban6. Es wäre interessant, festzustellen, wo sich an der Ostküste Mexicos und Guatemalas zwischen dem Mississippi und dem Rio Chagre (im Isthmus von Panama) die Grenze der verschiedenen Arten fleischfressender Saurier findet. *

Am 9. März [1801) waren wir vor Sonnenaufgang abgesegelt; die unge­

meine Kleinheit unserer Goelette, deren Einrichtung nur auf dem Verdeck zu schlafen erlaubte, war etwas abschreckend. Die Schiffskammer (camara

de pozo) erhielt Licht und Luft nur von oben. Es war eine eigentliche Vor­ ratskammer, in der wir Mühe hatten, unsere Instrumente unterzubringen. Das T hermometer hielt sich darin stets auf

32

und

33

Centesimalgraden;

zum Glück dauerte diese Unbequemlichkeit nur zwanzigTage. Die Fahrt in den Kanus des Orinoco und auf einem mit mehreren tausend arrobas an der Sonne gedörrtem Fleisch beladenen amerikanischen Fahrzeug hatten uns nachsichtig gemacht.

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Der Golf vom Bataban6, von niedrigen und sumpfigen Küsten eingefaßt, stellte sich uns als ausgedehnte Wüste dar. Die Fischervögel, die gewöhnlich früh auf dem Posten sind, bevor die kleineren Landvögel und die trägen z a­

muros wach sind, zeigten sich nur in geringer Zahl. Das Meerwasser hatte die braungrüne Farbe, die einigen Schweizer Seen eigentümlich ist, während die Luft wegen ihrer ausnehmenden Reinheit im Augenblick, da die Sonne am Horizont erschien, die etwas kalte, blaßblaue Färbung darbot, die un­ sere Landschaftsmaler um die gleiche Zeit auch im südlichen Italien beein­ druckt und auf der sich entfernte Gegenstände besonders kräftig darstellen. Unsere Goelette war das einzige im Golf vorhandene Fahrzeug; denn die Reede von Bataban6 wird fast ausschließlich nur von Schmugglern oder, wie man sich hier höflicher ausdrückt, von los tratantes [Händlern] besucht. Wir haben weiter oben, wo von dem projektierten Canal de Güines die Rede war, die Bedeutung nachgewiesen, welche Bataban6 für die Verbindungen der Insel Cuba mit den Küsten von Venezuela annehmen könnte. In seinem gegenwärtigen Zustand, wo noch kein Reinigen, Ausbaggern oder Ent­ schlämmen versucht wurde, finden sich darin kaum neun Fuß Wasser. Der Hafen liegt im Hintergrund einer Bucht, die östlich von der Punta Gorda, westlich von der Punta de Salinas begrenzt wird; diese Bucht bildet aber selbst nur den Hintergrund (den konkaven Gipfelpunkt) eines großen Golfs, der von Süden nach Norden fast 14 Lieues Tiefe hat und in einer Aus­ dehnung von 50 Lieues zwischen der Laguna de Cortes und dem Cayo de Pie­ dras von einer zahllosen Menge von Untiefen und cayos abgeschlossen wird. Eine einzige große Insel, deren Areal viermal größer ist als das Martiniques und deren dürre Berge von majestätischen Koniferen gekrönt werden, er­ hebt sich inmitten dieses Labyrinths. Es ist die Isla de Pinos, von Columbus EI Evangelista und später von anderen Piloten des 16. Jahrhunderts Isla de Santa Maria genannt. Sie ist berühmt durch das vortreffliche acajou Holz -

(Swietenia Mahagoni), das sie dem Handel liefert. Wir segelten in ostsüdöst­ licher Richtung durch die Fahrtrinne von Don Crist6bal, um die kleine Fel­ seninsel Cayo de Piedras zu erreichen und diesen Archipel zu verlassen, den die spanischen Piloten von den ersten Zeiten der Eroberung an mit den Namen Gärten und Bosketts (Jardines y Jardinillos) bezeichnet haben. Die wirklichen Gärten der Königin sind, dem Cap Cruz näherliegend, von dem Archipel, den ich beschreiben will, durch eine 35lieues breite offene See ge­ trennt. Columbus selbst hat ihnen diesen Namen gegeben, als er im Mai 1494 auf seiner zweiten Reise 58 Tage lang zwischen der Pinos-Insel und dem Ostcap von Cuba mit Strömungen und Winden zu kämpfen hatte. Er be­ schreibt die Inselchen dieses Archipels als Verdes Islefios de arboledas y gra­ ciosos. Wirklich ist auch ein Teil dieser sogenannten Gärten sehr angenehm; mit jedem Augenblick wechseln dem Seefahrer die Ansichten, und das Grün mehrerer dieser Inselchen erscheint um so freundlicher, weil es gegen an-

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dere cayos absticht, die nur weißen und dürren Sand zeigen. Wenn sie von den Sonnenstrahlen erwärmt sind, haben diese Sandflächen ein wellenför­ miges Aussehen gleich einem Wasserspiegel. Infolge des Kontakts mit Luft­ schichten ungleicher Temperatur rufen sie von 10 Uhr vormittags bis 4 Uhr nachmittags die mannigfachsten Phänomene von Luftspiegelung und deren zeitweiliger Unterbrechung hervor. Auch in diesen verlassenen Gegenden ist es das Tagesgestirn, von dem die Landschaft belebt wird und das den von seinen Strahlen getroffenen Gegenständen Beweglichkeit verleiht: der san­ digen Ebene wie den Baumstämmen und den als Kaps in die See hinausra­ genden Felsen. Sobald die Sonne aufgegangen ist, erscheinen diese toten Massen wie in der Luft schwebend, und am benachbarten Ufer bietet der Sand den täuschenden Anblick einer leicht vom Wind bewegten Wasser­ fläche. Ein Wolkenzug reicht hin, um die schwebenden Baumstämme und Felsen wieder auf den Boden zu stellen, die Wellenbewegung der Sandflä­ chen stillzustellen und jene Täuschungen zu zerstreuen, die von arabischen, persischen und indischen Dichtern "als der süße Betrug der Einsamkeit der Wüste" besungen worden sind. Wir doublierten [vorbeifahren] mit ungewöhnlicher Langsamkeit Kap Matahambre. Da mein Chronometer von Louis Berthoud während des Auf­ enthalts in Havanna einen sehr guten Gang beibehalten hatte, benutzte ich die Gelegenheit, um an diesem und den folgenden Tagen die Positionen der Cayo de Don Crist6bal, Cayo Flamenco, Cayo de Diego Perez und Cayo de Piedras zu bestimmen. Gleichfalls beschäftigte ich mich mit der Erforschung des Einflusses, welchen Veränderungen der Grundfläche der See auf die Temperatur der Meeresfläche haben. Im Schutz so vieler Inseln ist die Was­ serfläche ruhig wie ein Süßwassersee, und weil sich in verschiedener Tiefe die Schichten miteinander nicht vermischen, wird jede durch die Sonde an­ gegebene Veränderung dem T hermometer spürbar. Mich überraschte, daß östlich vom kleinen Cayo de Don Crist6bal die seichten Gründe sich nicht durch die Milchfarbe des Wassers auszeichneten, wie es auf der Bank von La Vfbora südlich von Jamaica und vielen anderen mehr der Fall war, die ich mittels des T hermometers erkannt hatte. Der Boden der Bucht von Bata­ ban6 ist ein aus zerstörten Korallen bestehender Sand, der Fucusarten er­ nährt, die fast nicht an die Oberfläche gelangen. Das Wasser ist, wie ich schon bemerkt habe, grünlich, und der Mangel milchiger Färbung ist zwei­ felsohne der völligen, in diesen Gewässern herrschenden Ruhe zuzu­ schreiben. Allenthalben, wo die Bewegung sich in eine gewisse Tiefe fort­ pflanzt, da trüben ein sehr feiner Sand oder die im Wasser schwebenden Kalkteilchen den Tiefenblick und machen ihn trüb und milchig. Indessen gibt es auch Untiefen, die sich weder durch Färbung noch durch niedrige Wassertemperatur unterscheiden, und ich denke, daß diese Erscheinungen von der Natur eines harten und felsigen Bodens ohne Sand und Korallen und

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von Form und Abschüssigkeit der steil abfallenden Küsten, von der Schnel­ ligkeit der Strömungen und von der mangelhaften Ausbreitung der Bewe­ gung in den unteren Wasserschichten abhängen. Die Kälte, die das T hermo­ meter auf der Oberfläche der Untiefen anzeigt, rührt teils von den Wasser­ molekülen her, die die nächtliche Ausstrahlung und Abkühlung von der Oberfläche in die Tiefe eindringen lassen, wo sie in ihrem Absinken von den Untiefen aufgehalten werden, teils von der Zumischung sehr tiefer Wasser­ schichten, die an den Hängen der Bank wie auf einer geneigten Fläche wieder hinaufgleiten, um sich mit den oberflächlichen Schichten zu ver­ mengen. Trotz der Kleinheit unseres Fahrzeugs und der gerühmten Vorsicht un­ seres Piloten berührten wir oft den weichen Untergrund; es gab keine Ge­ fahr zu scheitern, doch wurde es vorgezogen, bei Sonnenuntergang in der Nähe der Fahrtrinne Don Crist6bal den Anker zu werfen. Die erste Hälfte der Nacht war wundervoll kar. Wir sahen eine zahllose Menge Stern­ schnuppen landeinwärts, die alle eine dem in den unteren Teilen der At­ mosphäre herrschenden Wind entgegengesetzte Richtung nahmen. Nichts gleicht heute der Einsamkeit dieser Gegend, die zur Zeit des Columbus be­ wohnt und häufig von einer großen Zahl von Fischern besucht war. Die Ein­ wohner von Cuba gebrauchten damals einen kleinen Fisch zum Fang großer Seeschildkröten; sie befestigten ein langes Seil an den Schwanz dieses reves

(es ist der Name,

den die Spanier dieser Art der Gattung Echeneis geben) .

Mittels einer flachen, mit Saugröhren versehenen Scheibe, die er auf seinem Kopf trägt, setzt sich der zum Fang verwendete Fisch auf dem Rückenschild der Seeschildkröten fest, die in den schmalen und krummen Kanälen der Jardinillos so häufig vorkommen. "Der reves", sagt Christoph Columbus, "ließe sich eher in Stücke reißen, als daß er unfreiwillig den Körper, dem er anhängt, losließe." Am selben Seil ziehen die Indianer den Fischerfisch und die Schildkröte heraus. Als Gomara und der gelehrte Sekretär Kaiser Karls V., Petrus Martyr d'Anghiera, diese Tatsache, die sie von Reisegefährten des Columbus vernommen hatten, in Europa bekanntmachten, glaubte die

Ö ffentlichkeit

ohne Zweifel an ein Reisemärchen. Einen märchenhaften

Schein trägt allerdings die Erzählung von Anghiera, die mit den Worten anfängt: "Non aliter ac nos canibus gallicis per aequora campi lepores insectamur, incolae

( Cubae

insulae) venatorio pisce pisces alios capie­

bant." Aus den übereinstimmenden Zeugnissen des Kapitäns Rogers, von Dampier und Commerson wissen wir nun, daß eben diese in den Jardi­ nillos beobachtete Methode der Jagd auf Schildkröten auch von den Bewoh­ nern der Ostküste Afrikas nahe beim Kap Natal in Mor,:ambique und Mada­ gaskar angewandt wird. Menschen mit großen durchlöcherten Flaschenkür­ bissen auf dem Kopf fangen Enten in

Ägypten,

Santo Domingo und in den

Seen des Tals von Mexico, indem sie sich so im Wasser verbergen, um die

Kapitel XXVIII

305

Vögel bei den Füßen zu fangen. Die Chinesen gebrauchen von ältesten Zeiten her die Kormorane, einen der Pelikan-Familie angehörigen Vogel, zum Fischfang an den Küsten; sie legen ihm einen Ring um den Hals, damit er seine Beute nicht verschlingen kann, sondern für ihre eigene Rechnung Fische fängt. Auch auf der niedrigsten Stufe der Zivilisation entfaltet sich in der List der Jagd und Fischerei der ganze Scharfsinn des Menschen. Völker, die wahrscheinlich nie in irgendeiner Verbindung miteinander standen, zeigen die auffallendsten Ähnlichkeiten in der Wahl der Mittel, um ihre Herrschaft über die Tiere geltend zu machen. Wir konnten erst nach drei Tagen dieses Labyrinth der Jardines und Jardi­ nillos verlassen. Zur Nachtzeit wurde jedesmal der Anker ausgeworfen; am Tage besuchten wir die Inselchen oder cayos, deren Zugang am leichtesten war. In dem Maß, wie wir ostwärts vorrückten, wurde die See unruhiger und die Untiefen begannen, sich durch ein milchiges Wasser zu unterscheiden. Am Rande einer Art Schlund, der sich zwischen Cayo Flamenco und Cayo de Piedras auftut, bemerkten wir, daß die Temperatur der See sich auf ihrer Oberfläche plötzlich von 23,5 auf 25,8° erhöhte. Die geognostische Constitu­ tion der Felseninselchen, die sich rings um die Pinos-Insel erheben, mußte meine Aufmerksamkeit um so mehr erregen, als es mir immer etwas Mühe bereitet hatte, an die Steinkorallengebäude Polynesiens zu glauben, die, wie behauptet wird, vom Meeresgrund bis zur Oberfläche des Wassers empor­ steigen sollen. Wahrscheinlicher dünkte mir, diese ungeheuren Massen hätten Urgebirgs- oder vulkanisches Gestein zur Grundlage, dem sie in ge­ ringen Tiefen auflägen. Die zum Teil kompakte und lithographische, zum Teil blasige Formation des Kalksteins von Güines war uns bis nach Bataban6 gefolgt; sie ist dem jurassischen Kalkstein ziemlich analog; und dem ersten äußeren Anblick zufolge sollte man glauben, die Cayman-Inselchen be­ ständen aus eben dieser Felsart. Wenn die Berge der Pinos-Insel, die (wie die ersten Historiker der conquista sagen) zugleich pineta und pa/meta [Pinien­ wald und Zuchtrute] darbieten, auf 20 Lieues marines Entfernung sichtbar sind, muß ihre Höhe über 500 Toisen betragen; man versicherte mir, ihr Kalkstein sei dem von Güines ganz ähnlich. Diesen Tatsachen zufolge glaubte ich den (jurassischen) Kalkstein in den Jardinillos wiederzufinden; doch ich habe bei Besichtigung der cayos, die sich ziemlich allgemein 5 bis 6 Zoll über den Wasserspiegel erheben, nur ein fragmentarisches Gestein wahrgenommen, worin eckige Madreporenstücke mittels eines quarzigen Sandes verkittet sind. Einige Fragmente haben ein bis zwei Kubikfuß Um­ fang, und die Quarzkörner verschwinden dermaßen in mehreren Schichten, daß man zu glauben versucht ist, die Iithophytischen Korallenstöcke seien unverändert an Ort und Stelle geblieben. Die Gesamtmasse dieses Gesteins der cayos schien mir ein echtes Kalkagglomerat und dem Tertiärkalk der Halbinsel von Araya nahe bei Cumana ziemlich analog zu sein, jedoch einer

306

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viel jüngeren Formation anzugehören. Die Unebenheiten dieses Korallen­ felsens sind von einem Konchylien- und Madreporendetritus überzogen. Alles, was über das Wasser ragt, ist zusammengesetzt aus Bruchstücken, die mittels kohlensauren Kalks verkittet sind, in den sich Körner von quarzigem Sand eingefügt finden. Würde man in einer großen Tiefe unter diesem frag­ mentarischen Korallengestein noch lebendige Gebäude von Korallen­ stöcken entdecken? Sollten diese auf jurassischer Formation anstehen? Ich weiß es nicht. Die Piloten glauben, das Meer nehme in diesen Gegenden ab, vielleicht darum, weil sie die cayos sich vergrößern und erhöhen sehen, sei es durch Landanschwemmungen, die das Plätschern der Wellen bewirkt, sei es durch schrittweise Agglutination. Unmöglich wäre es übrigens nicht, daß die Erweiterung des Kanals von Bahama, durch den die Gewässer des Golf­ stroms austreten, im Lauf von Jahrhunderten eine geringe Senkung der Gewässer südlich von Cuba verursachte, besonders im Golf von Mexico, diesem Mittelpunkt des großen Wirbels des pelagischen Stromes, der den Vereinigten Staaten entlang seinen Lauf nimmt und Früchte tropischer Pflanzen bis an die Küsten von Norwegen führt. Die Gestalt der Küsten, die Richtung, Stärke und Dauer gewisser Strömungen und Winde, die Verände­ rungen, die wegen der wechselnden Winde die Barometerhöhen erfahren, sind Ursachen, deren Zusammenwirken in einem langen Zeitraum und in durch Ausdehnung und Höhe ziemlich beschränkten Grenzen das Gleichge­ wicht der Meere ändern können. Wo die Küsten dermaßen niedrig sind, daß auf eine Iieue landeinwärts das Niveau des Bodens sich nur um einige Zoll hebt, muß ein solches Steigen und Senken der Gewässer die Phantasie der Einwohner allerdings beeindrucken. Der Cayo bonito, den wir zuerst besuchten, verdankt seinen Namen [hüb­ sche Klippe] dem Reichtum seiner Vegetation. Alles zeigt an, daß er seit lan­ gem über den Ozean hinausragt; auch ist das Innere des Cayo fast nicht nied­ riger als die Ufer. Auf einer aus Sand und zerriebenen Conchylien 5 bis 6 Zoll dichten Schicht, die den aus Madreporen-Bruchstücken gebildeten Felsen bedeckt, erhebt sich ein ganzer Wald von Mangroven (Rhizophora). Aus der Ferne gesehen, möchte man sie nach Wuchs und Blättern für Lorbeerbäume halten. Avicennia nitida, Batis, kleine Euphorbien und einige Gräserarten arbeiten mit Verflechtung ihrer Wurzeln an der Befestigung des beweglichen Sands. Was jedoch die Flora der Koralleninseln besonders auszeichnet, ist die prächtige Tournefortia gnaphalioides von Jacquin, mit silberfarbenen Blättern, die wir hier erstmals antrafen. Es ist eine gesellig lebende Pflanze, ein wahrhaftes Bäumchen, 4lh bis 5 Fuß hoch, dessen Blüten einen sehr an­ genehmen Geruch verbreiten. Es schmückt in gleicher Weise den Cayo Fla­ menco, den Cayo de Piedras und vielleicht die meisten Niederungen der Jar­ dinillos. Während wir mit Herborisieren beschäftigt waren, suchten unsere Matrosen nach Langusten; verärgert, keine zu finden, rächten sie ihre ge-

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307

prellte Hoffnung, indem sie die Mangroven erkletterten und ein gewaltiges Gemetzel unter den paarweise in ihren Nestern gruppierten

alcatraz

an­

stellten. Mit diesem Namen bezeichnet man im spanischen Amerika Buffons braunen Pelikan, der die Gestalt des Schwans hat. Mit dem den großen Meeresvögeln eigenen törichten Vertrauen und Sorglosigkeit verfertigt der

alcatraz

sein Nest nur aus etlichen Baumzweigen. Wir zählten vier oder fünf

dieser Nester auf einem einzigen Rhizophora-Stamm. Die jungen Vögel ver­ teidigten sich tapfer mit ihren gewaltigen 6 bis 7 Zoll langen Schnäbeln; die Alten schwebten über unseren Köpfen und stießen heisere Klagetöne aus; das Blut träufelte von den Bäumen herab, denn die Matrosen waren mit großen Stöcken und Messern

(machetes)

bewaffnet. Wir konnten sagen, was

wir wollten, um ihnen diesen Mangel an Mitgefühl und diese sinnlosen Quä­ lereien vorzuwerfen. Der Matrose, auf der einsamen Seefahrt zu andau­ erndem Gehorsam gezwungen, übt gerne eine grausame Herrschaft gegen Tiere aus, sobald sich dazu Gelegenheit bietet. Der Boden lag voll verwun­ deter, im Todeskampf zappelnder Vögel. Bei unserer Ankunft hatte eine tiefe Ruhe auf diesem Erdenwinkel geherrscht. Schon jetzt aber schien alles zu verkünden: Menschen sind hier gewesen. Der Himmel war mit rötlichen Dünsten überzogen, die sich gegen Südwe­ sten allmählich zerstreuten; wir hofften jedoch vergeblich, die Höhen der Pinos-Insel zu entdecken. Diese Gegenden haben einen Charme, der dem größeren Teil der Neuen Welt meist fehlt; sie knüpfen Erinnerungen an die berühmtesten Namen der spanischen Monarchie, an die von Christoph Co­ lumbus und Heman Cortes. An der Südküste der Insel Cuba, zwischen der Jagua-Bucht und der Pinos-Insel, hatte der Admiral auf seiner zweiten Reise mit Erstaunen "jenen geheimnisvollen König gesehen, der nur durch Zei­ chen mit seinen Untertanen sprach, und diese Menschengruppe, die, mit langen weißen Tuniken bekleidet, den Mönchen de la Merced [von der Gnade] glich, während das übrige Volk nackt war". Auf seiner vierten Reise traf Columbus in den Jardinillos große Pirogen mexicanischer Indianer an, die mit reichen Erzeugnissen und Waren von Yucatan beladen waren. Durch seine lebhafte Phantasie verführt, glaubte er sogar aus dem Munde dieser Seefahrer zu hören, daß sie aus einem Land gekommen waren, wo die Männer auf Pferden ritten und Goldkronen trügen. Schon bildete er sich ein, Catayo (China), das Reich des Groß-Khans und die Mündung des Ganges wären so nahe, daß er sich bald der zwei arabischen Dolmetscher be­ dienen könnte, die er für seine Reise nach Amerika in Cadiz eingeschifft hatte. Noch andere Erinnerungen der Pinos-Insel und der sie umgebenden Gärten knüpfen sich an die Eroberung Mexicos. Als Heman Cortes sich zu seiner großen Unternehmung rüstete, erlitt er, als er vom Hafen Trinidad zum Kap San Antonio mit seiner "Nave Capitana" fuhr, auf einer der Un­ tiefen der Jardinillos Schiffbruch. FünfTage lang hielt man ihn für verloren,

Kapitel XXVIII

308

als der wackere Pedro de Alvarado (im November 1518) aus dem Hafen von Carenas (Havanna), um ihn zu suchen, drei Schiffe sandte; später, im Fe­ bruar 1519, sammelte Cortes seine ganze Flotte in der Nähe vom Cap San Antonio, wahrscheinlich an der Stelle, welche gegenwärtig noch den Namen Enseiiada de Cortes führt, westlich von Bataban6, der Pinos-Insel gegen­ über. Von hier war es, daß er in der Hoffnung, den Schlingen des Gouver­ neurs Velazquez desto eher zu entgehen, fast heimlich nach den mexicani­ schen Küsten abging. Seltsamer Wechsel der menschlichen Schicksale! Eine Handvoll Männer, die, vom Westende der Insel Cuba kommend, auf den Kü­ sten von Yucatan gelandet waren, war hinreichend, um das Reich Mocte­ zumas zu erschüttern, und drei Jahrhunderte später, in unserer Zeit, hat dieses gleiche Yucatan, ein Teil der Conföderation der mexicanischen Frei­ staaten, fast die Westküsten Cubas mit Eroberung bedroht. Am 11. März, vormittags, besuchten wir das Cayo Flamenco. Seine Breite fand ich zu 21 59' 39". Das Zentrum dieses Inselchens ist niedrig und hat o

nicht mehr als 14 Zoll Erhöhung über dem Meeresspiegel. Es enthält Wasser von geringem Salzgehalt. Andere Cayos haben ein völlig süßes Wasser. Die Seeleute von Cuba erklären, wie die Bewohner der Lagunen von Venedig und einige neuere Naturforscher, diese Süßigkeit des Wassers als ein Er­ gebnis der Wirkung des Sandes auf das infiltrierte Seewasser. Doch wie ließe sich eine solche durch keinerlei chemische Analogie gerechtfertigte Wirkung annehmen? Nebenbei sind die cayos aus Felsengrund und nicht aus Sand ge­ bildet und ihre Kleinheit läßt auch wohl nicht annehmen, daß das Regen­ wasser sich auf ihnen in einer permanenten Lache sammle. Sollte vielleicht das Süßwasser der cayos von der benachbarten Küste und den Gebirgen von Cuba selbst mittels hydrostatischen Drucks herkommen? Dies bewiese eine untermeerische Verlängerung der Schichten des jurassischen Kalksteins und die Auflagerung des Korallengesteins auf dem Kalk. Es ist ein weit verbrei­ tetes Vorurteil, wonach jede Süßwasser- oder Salzwasserquelle für eine kleine Lokalerscheinung gehalten wird; im Inneren der Erde zirkulieren die Wasserströmungen zwischen Gesteinsschichten von eigentümlicher Dichte und Beschaffenheit auf ungeheuren Entfernungen, ähnlich den Flüssen, welche die Oberfläche der Erde furchen. Der gelehrte Ingenieur Don Fran­ cisco Le Maur, derselbe, der seither bei der Verteidigung des Schlosses von San Juan d'Ulua eine so energische Standhaftigkeit entfaltet hat, bezeugte mir, daß in der Bucht von Jagua, einen halben Grad östlich von den Jardi­ nillos, mitten in offener See, zweieinhalb Iieues von der Küste entfernt, Süß­ wasserquellen sprudelnd hervortreten. Die Kraft, mit der diese Wasser ent­ springen, ist dermaßen groß, daß sie einen für kleine Kanus oft gefährlichen Wellenschlag verursacht. Schiffe, die nicht in Jagua einlaufen wollen, holen zuweilen ihren Wasservorrat aus dieser brackigen Quelle, deren Wasser um so süßer und kälter ist, je tiefer es geschöpft wird. Von ihrem Instinkt ge-

Kapitel XXVIII

309

leitet, haben auch Lamantine (Manatis) diese Stelle mit nicht salzigem Wasser entdeckt, und die Fischer, welche diesen grasfressenden Cetaceen wegen ihres schmackhaften Fleisches nachstellen, finden und erlegen sie dort zahlreich und auf offener See. Eine halbe Meile östlich vom Cayo Flamenco fuhren wir über zwei im Ni­ veau des Wasserspiegels liegende Felsen dahin, über die sich die Wellen mit Getöse stürzen. Es sind die Piedras de Diego Perez (Br.

21 58' 10"). o

Die

Temperatur des Meeres auf seiner Oberfläche sinkt an dieser Stelle bis auf

22,6° bei einer Tiefe, die nicht über 6Vz Fuß beträgt. Abends landeten wir am Cayo de Piedras; so heißen zwei Klippen, die von Nordnordwesten nach Südsüdosten von Wellenbrechern (kleinen Klippen) verbunden sind. Da sie ziemlich vereinzelt stehen (sie bilden das östliche Ende der Jardinillos), gehen viele Schiffe dort verloren. Der Cayo de Piedras ist von Stauden und Sträuchern fast ganz entblößt, weil die Schiffbrüchigen sie in ihrer höchsten Not abhauen, um damit Feuersignale zu geben. Die Ufer des Inselchens sind nach der See hin steil abgeschrägt; zur Mitte hin findet sich ein kleines Süß­ wasserbecken. Im Gestein fanden wir einen Madreporen-Block von mehr als drei Kubikfuß eingefügt. Es konnte kein Zweifel bleiben, daß diese Kalk­ formation, die von ferne betrachtet dem Jurakalk ähnlich ist, kein fragmen­ tarisches Gestein ist. Es ist sehr zu wünschen, diese ganze Kette von cayos um die Insel Cuba möge einst durch reisende Geognosten untersucht werden, um zu bestimmen, was den Tieren zu verdanken ist, deren Arbeit noch in der Tiefe des Meeres andauert, und was dagegen zu den wirklichen Tertiärformationen gehört, deren Alter gleich ist mit dem grobkörnigen, an Überresten von Iithophytischen Korallen reichen Kalkstein. Was aus dem Wasser hervorragt, ist allgemein nur eine Breccie oder nur ein Aggregat von durch kohlensauren Kalk, zerriebene Conchylien und mit Sand verkitteten Madreporen-Bruchstücken. Wichtig ist, auf jedem cayo zu untersuchen, welche Grundlage diese Breccie hat, ob sie Gebäude von noch lebenden Weichtieren wiederbedeckt oder diese Sekundär- und Tertiärgesteine, die man geneigt ist, nach Aussehen und Erhaltungszustand der darin einge­ fügten Korallenreste für Gebilde der allerneuesten Zeit zu halten. Der Gips der cayos gegenüber San Juan de los Remedios auf der Nordküste der Insel Cuba verdient große Aufmerksamkeit. Sein Alter reicht unstreitig über die historische Zeit hinaus, und kein Geognost wird glauben, er sei das Werk der Mollusken unserer Meere. Vom Cayo de Piedras aus sahen wir zuerst in der Richtung Ostnordost hohe Gebirge, die sich jenseits der Bucht von Jagua erheben. Nochmals blieben wir die Nacht durch vor Anker; am folgenden Tag, dem 12. März

[1801], durchschifften wir das Fahrwasser zwischen dem Nordkap des Cayo de Piedras und der Küste Cubas und kamen ins offene, klippenfreie Meer. Seine Farbe von dunklem Indigoblau und seine höhere Temperatur be-

Kapitel XXVIII

310

wiesen uns die viel größere Tiefe des Wassers. Das Thermometer, das wir bei

61?

und

8

Fuß Sondentiefe oftmals auf dem Meeresspiegel bei

achtet hatten, hielt sich jetzt auf

26,2°.

22,6° beob­

Während dieser Versuche betrug die

Lufttemperatur am Tag wie zwischen den Jardinillos

25

bis

27°.

Wir ver­

suchten, mit Hilfe der wechselnden Land- und Seewinde ostwärts nach dem Hafen von La Trinidad zu segeln, um von dort leichter mit dem damals herr­ schenden Nordostwind auf höherer See die Überfahrt nach Cartagena de In­ dios zu machen, dessen Meridian zwischen Santiago de Cuba und die Bucht von Guantanamo fällt. Nachdem wir die sumpfige Küste der Camareos hinter uns hatten, wo Bartolomeo de las Casas, durch Humanität und Mut berühmt, 1514 von seinem Freund, dem Gouverneur Velazquez, ein gutes re­ partimiento de Indios erhalten hatte, gelangten wir (bei 21 50' Breite) in den o

Meridian der Einfahrt der Bahia de Jagua. Das Chronometer gab mir die Länge dieses Punktes zu

82° 54' 22" an, fast identisch mit der seither (1821)

auf der Karte des Dep6sito hidrografico de Madrid veröffentlichten An­ gabe. Jagua ist einer der schönsten, aber auch einer der weniger besuchten Häfen der Insel. "No debe tener otro tal en el mundo", sagte bereits der Coronista maior Antonio de Herera. Die von Herrn Le Maur zur Zeit der Sendung des Grafen Jaruco gemachten Aufnahmen und Verteidigungs­ pläne haben klargestellt, daß der Ankerplatz von Jagua den Ruhm ver­ dient, den er in den ersten Zeiten der

conquista

erwarb. Noch findet sich

dort nur eine kleine Häusergruppe und ein fortin

( castillito),

welches die

britische Marine hindert, ihre Schiffe in der Bucht kielholen zu lassen, wie das während der Dauer der Kriege mit Spanien zuvor ohne Schwierigkeit praktiziert wurde. Östlich von Jagua nähern sich die Berge ( Cerras de San Juan) der Küste und gewinnen ein immer majestätischeres Aussehen, we­ niger durch ihre Höhe, die

300 Toisen

nicht zu übersteigen scheint, als

durch ihre steile Abdachung und ihre allgemeine Form. Die Küste, wurde mir versichert, fällt dermaßen steil ab, daß eine Fregatte sich ihr überall bis zur Mündung des Rio Guaurabo nähern kann. Als nachts die Lufttem­ peratur auf

23° gesunken war und der Wind vom Land her wehte,

brachte

er uns den herrlichen Geruch von Blüten und Honig, der die Anlegeplätze der Schiffe um Cuba auszeichnet. Wir fuhren in zwei oder drei Meilen Ent­ fernung die Küste entlang. Am

13.

März, kurz vor Sonnenuntergang, be­

fanden wir uns der Mündung des Rio San Juan gegenüber, die wegen der zahllosen Menge mosquitos und zancudos, welche die Luft erfüllen, von den Seefahrern sehr gefürchtet wird. Sie gleicht der Öffnung einer Schlucht, in welche tiefgehende Schiffe einfahren könnten, wenn nicht eine Untiefe

(placer) den Eingang verschlösse.

Einige Stunden-Winkel geben mir für die

Länge dieses von den Schmugglern aus Jamaica und selbst von den Korsaren aus Providence [New Providence, Insel der Bahamas] häufig besuchten Ha-

Kapitel XXVIII

fens

311

82° 40' 50". Die Berge, die den Hafen beherrschen, erreichen kaum die 230 Toisen. Ich brachte einen großen Teil der Nacht auf dem Ver­

Höhe von

deck zu. Welch öde Küsten! Kein einziges Licht kündete von einer Fischer­ hütte. Von Bataban6 bisTrinidad, in der Ausdehnung von 50

Lieues, ist nicht corrales für

ein einziges Dorf vorhanden; kaum findet man zwei oder drei

Schweine oder Kühe. Zur Zeit des Columbus jedoch war dieses Land sogar längs der Küsten bewohnt. Beim Graben eines Brunnens oder wenn rei­ ßende Bäche den Boden während eines Hochwassers aufreißen und fur­ chen, entdeckt man oft steinerne Äxte und einige Kupfergerätschaften, Ar­ beiten einstiger Bewohner Amerikas. Bei Sonnenaufgang veranlaßte ich unseren Kapitän, das Senkblei auszu­ werfen. Bei

60

Faden war kein Grund vorhanden; auch zeigte sich die

Oberfläche des Ozeans wärmer als sonst überall; sie hatte 26,8°; ihreTempe­ ratur überstieg um 4,2° die, welche wir bei den vom Meer bedeckten Klippen von Diego Perez gefunden hatten. Auf eine halbe Meile Entfernung von der Küste zeigte das Seewasser nur noch

25,5°;

zum Auswerfen des Senkbleis

war keine Gelegenheit mehr, aber unzweifelhaft war die Tiefe geringer. Am

14.

März

[1801]

liefen wir in den Rfo Guaurabo, einen der zwei Häfen von

Trinidad de Cuba, ein, um die "Practica" von Bataban6 zu landen, die uns durch die Untiefen der Jardinillos nicht ohne wiederholt erlittene Stran­ dungen gelotst hatte. W ir hofften auch, in diesem Hafen ein Paketboot

(correo marftimo) anzutreffen,

in dessen Geleit wir die Fahrt nach Cartagena

machen sollten. Ich landete gegen Abend und stellte am Gestade die Bord­ asche Inklinationsbussole und den künstlichen Horizont zur Beobachtung einiger Sterndurchgänge im Meridian auf; kaum aber waren wir mit diesen Vor­ bereitungen beschäftigt, als einige katalonische Kleinhändler

(pulperos),

die

auf einem kürzlich eingetroffenen fremden Schiff zu Mittag gegessen hatten, uns mit viel Freude einluden, sie nach der Stadt zu begleiten. Diese wackeren Leute ließen uns paarweise auf ein Pferd steigen; und da die Hitze entsetzlich drückend war, zögerten wir nicht, ein derart aufrichtiges Anerbieten anzu­ nehmen. Die Entfernung von der Mündung des Rfo Guaurabo nach La Tri­ nidad beträgt in nordwestlicher Richtung nahezu vier Meilen. Der Weg führt durch eine Ebene, die wie von langem Wasseraufenthalt nivelliert scheint. Sie ist mit einer schönen Vegetation überzogen, welcher der miraguama, ein Palm­ baum mit silberfarbeneu Blättern, den wir hier erstmals sahen, einen eigen­

[Corypha Miraguamaj. Dieses fruchtbare Erd­ tierra colorada [roter Laterit-Boden; normalerweise nicht

tümlichen Charakter verleiht reich, obgleich von

fruchtbar], wartet nur auf Menschenhände, um urbar gemacht zu werden und vortreffliche Ernten zu liefern. Westlich öffnet sich eine sehr malerische Fern­ sicht nach den Lomas de San Juan, eine Kette von Kalkhügeln von

2000

1800 bis

Fuß Höhe und südwärts steil abfallender Form. Ihre nackten und

dürren Gipfel stellen teils abgerundete Kuppen, teils wirkliche leicht ge-

312

Kapitel XXVIII

neigte Hörner dar. Trotz der sehr niedrigen Temperatur, unter der man in der Jahreszeit der nortes leidet, sieht man niemals Schnee, sondern nur Raubreif

(escarcha)

auf diesen Bergen und auf denen von Santiago. Ich habe bereits

an einer anderen Stelle von diesem schwer zu erklärenden Mangel an Schnee gesprochen. Beim Austritt aus dem Wald erblickt man einen Schleier von Hügeln, deren südlicher Abhang mit Häusern bedeckt ist; es ist die Stadt de La Trinidad, welche der Gouverneur Diego Velazquez 1514 wegen "der reichen Goldminen", die im kleinen Tal des Rio Arimao entdeckt worden sein sollten, gegründet hatte. Die Straßen von Trinidad haben alle ein sehr seltenes Gefälle. Hier wie im größeren Teil des spanischen Amerika beklagt man sich über die schlechte Auswahl des Terrains durch die

stadores,

conqui­

die Gründer der neuen Städte. Am nördlichen Ende steht die

Kirche von Nuestra Sefiora de la Popa, ein berühmter Wallfahrtsort. Dieser Punkt schien mir 700 Fuß über der Meeresfläche zu liegen. Man genießt hier wie in den meisten Straßen eine prachtvolle Fernsicht über den Ozean, über beide Häfen

( Puerto

Casilda und Boca Guaurabo ) , über einen Wald von

Palmbäumen und nach der Gruppe der hohen Gebirge von San Juan. Da ich versäumt hatte, mit meinen übrigen Instrumenten das Barometer nach der Stadt tragen zu lassen, versuchte ich am folgenden Tag zur Ermittlung der Höhe von la Popa Sonnenhöhen über dem Horizont des Meeres und in einem künstlichen Horizont zu messen. Ich hatte diese Methode bereits im Schloß von Murviedro, in den Ruinen von Sagonte und am Cabo Blanco nahe La Guaira angewandt; doch der Horizont des Meeres war neblig und hin und wieder mit diesen schwärzlichen Streifen gezeichnet, die entweder kleine Luftströmungen oder ein Spiel ungewöhnlicher Refraktionen an­ deuten. In der Villa

(j etzt

Ciudad ) von Trinidad wurden wir bei dem Ver­

walter der Real Hacienda, Herrn Mufioz, mit der liebenswürdigsten Gast­ freiheit empfangen. Ich stellte während eines guten Teils der Nacht Beobach­ tungen an und fand unter Umständen, die nicht alle gleich günstig waren, die Breite bei der Kathedralkirche durch die Ähre der Jungfrau, das tauren und

ß

a

des Zen­

des Südkreuzes zu 21° 48' 20". Meine chronometrische Länge

betrug 82° 21' 7". Bei meiner zweiten Durchreise, auf der Rückkehr aus Me­ xico, hörte ich in Havanna, diese Länge sei fast völlig identisch mit der, die der Fregattenkapitän Don Jose del Rio, der sich lange auf der Insel aufhielt, erhalten hatte; hingegen weise der gleiche Offizier die Breite der Stadt zu 21o

42' 40" nach. Diese Verschiedenheit habe ich anderswo erörtert. Hier mag die Bemerkung genügen, daß Herr von Puysegur 21° 47' 15" gefunden hat und daß vier Sterne des großen Bären, von Gomboa 1714 beobachtet, dem Herrn Oltmans ( die Deklination nach Piazzis Katalog bestimmt ) 21 o 46' 35" gegeben haben. Der stellvertretende Gouverneur von Trinidad, dessen Gerichtsbarkeit sich damals über Villa Clara, Principe und Santo Espiritu ausdehnte, war ein

313

Kapitel XXVIII

Neffe des berühmten Astronomen Don Antonio Ulloa. Er gab uns ein großes Fest, zu welchem auch einige der ausgewanderten Franzosen von Santo Domingo geladen waren, die ihre Kenntnisse und Gewerbsamkeit in dieses Land gebracht hatten. Die Zuckerausfuhr Trinidads (nur den Regi­ stern des Zolls zufolge) war noch nicht über 4000 Kisten angestiegen. Man klagte über die Hemmungen, welche die Generalverwaltung "aus unge­ rechter Vorliebe für Havanna" inmitten der Insel und auf ihrem östlichen Teil der Entwicklung der Landwirtschaft und des Handels entgegensetze; man klagte über eine große Anhäufung von Reichtum, Bevölkerung und Macht in der Hauptstadt, während der übrige Teil des Landes fast verödet gelassen werde. Mehrere kleine, in gleichmäßiger Entfernung über die ganze Inselfläche verteilte Mittelpunkte, glaubte man, würden dem gegen­ wärtigen System vorzuziehen sein, das Luxus, Sittenverderbnis und das Gelbe Fieber auf einen einzigen Ort konzentriert habe. Diese übertriebenen Beschuldigungen, diese Klagen der Provinz gegen die Hauptstädte trifft man unter allen Himmelsstrichen an. Unzweifelhaft ist es wohl, daß in der politischen wie in der physischen Organisation das Gesamtwohl von gleich­ mäßig verteilten Mitteln abhängt; jedoch muß unterschieden werden zwi­ schen dem Übergewicht, das aus dem natürlichen Gang der Dinge hervor­ geht, und dem, das die Maßnahmen der Regierung herbeirufen und be­ gründen. Oft wird in Trinidad von den Vorteilen der zwei Häfen gesprochen. Viel­ leicht wäre es günstiger, die Munizipalität, die wenig verfügbare Mittel hat, beschäftigte sich nur mit der Verbesserung eines einzigen. Die Entfernung der Stadt ist ungefähr die gleiche von Puerto de Casilda wie von Puerto Guaurabo, und doch sind die Transportkosten beträchtlicher für Ladungen nach dem ersten dieser Häfen. Die Boca del Rio Guaurabo bietet, seit sie von einer Batterie neuer Konstruktion verteidigt wird, einen sicheren, ob­ gleich vor Winden weniger geschützten Landungsplatz als Puerto Casilda. Kleine Fahrzeuge, die nicht tief gehen oder deren Ladung vermindert wird, damit sie die Barre passieren, können sich stromaufwärts bis auf weniger als eine Meile der Stadt nähern. Die Paketboote

(correos),

die, von derTierra

Firme kommend, Trinidad de Cuba anfahren, ziehen gewöhnlich den Rio Guaurabo vor, wo sie ohne Lotsen vollkommen sicher landen können. Puer­ to de Casilda ist ein mehr abgeschlossener, tiefer landeinwärts liegender Ort, für dessen Einfahrt man jedoch wegen der unter Wasser liegenden Klippen

(arrecifes)

der Mulas und Mulattas Lotsenhilfe bedarf. Die große

hölzerne und dem Handel sehr willkommene Mole fand sich durch das Ab­ feuern von Artilleriestücken völlig zugrunde gerichtet, und man war un­ schlüssig, ob es ratsamer sei, sie nach dem Vorschlag von Don Luis de Basse­ court mit Mauerwerk neu anzulegen oder mittels eines Baggers die Barre am Eingang des Guaurabo zu öffnen. Der große Nachteil in Puerto de Casilda

Kapitel XXVIII

314

ist der Süßwassermangel; die Schiffe müssen sich dieses auf eine Iieue Entfer­ nung holen, indem sie die westliche Spitze umsegeln und sich in Kriegszeiten der Gefahr, den Korsaren zur Beute zu fallen, aussetzen. Die Bevölkerung von La Trinidad, mit den Pachthöfen um die Stadt im Umkreis von 2000 Toisen, betrug, wie man uns versicherte, 19000 Einwohner. Der Anbau von Zucker und Kaffee hat sich gewaltig entwickelt. Die europäischen Zerealien werden nur nördlicher, nach Villa Clara hin, angebaut. Einen sehr angenehmen Abend brachten wir im Haus eines der reichsten Einwohner, Don Antonio Padr6n, zu, wo die ganze vornehme Gesellschaft von La Trinidad sich zu einer

tertulia

[Kränzchen] versammelte. Erneut be­

eindruckten uns Munterkeit und lebhafter Geist, welche die Frauen Cubas in der Provinz wie in der Hauptstadt auszeichnet; es sind glückliche Natur­ gaben, denen die Verfeinerung europäischer Zivilisation noch mehr Charme geben kann, die jedoch in ihrer ursprünglichen Einfachheit schon sehr ge­ fallen. In der Nacht des 15. März [1801] verließen wir La Trinidad, und un­ sere Abreise aus der Stadt glich kaum der Einfahrt, die wir mit den kataloni­ schen Krämern zu Pferde gemacht hatten. Die Munizipalität ließ uns in einem schönen, mit altem karmesinfarbenem Damast ausgeschlagenen Wagen nach der Mündung des Rio Guaurabo fahren; und um unsere Verle­ genheit vollends zu steigern, hatte ein Geistlicher, der Ortspoet, trotz des heißen Klimas in Samt gekleidet, unsere Reise nach dem Orinoco in einem Sonett gefeiert. Unterwegs nach dem Hafen war uns ein Schauspiel sehr einprägsam, mit dem wir, sollte man denken, nach zweijährigem Aufenthalt im wärmsten Teil der Tropenländer bereits völlig vertraut geworden sein sollten. Nirgendwo anders jedoch habe ich eine so zahllose Menge phosphoreszierender In­ sekten gesehen

[cocuyos (Elater noctilucus)].

Das Gras, das den Boden be­

deckte, die Äste und Blätter der Bäume- alles glänzte von den beweglichen rötlichen Lichtern, deren Intensität nach dem Willen der Tiere wechselt, die sie hervorbringen. Es war, als hätte das Sternenfirmament des Himmels sich auf die Savanne niedergesenkt. In den Hütten der ärmsten Landleute dienen etwa fünfzehn

cocuyos

in einer durchlöcherten Kürbisflasche als

Nachtlampe, um alles Benötigte zu finden. Man braucht nur die Flasche kräftig zu rütteln, um das Insekt dazu zu reizen, den leuchtenden Scheiben, die sich an jeder Seite seiner Brust befinden, einen vermehrten Glanz zu geben. Das Volk sagt mit einem sehr naiven Ausdruck, diese mit

cocuyos

gefüllten Kürbisflaschen seien ewige Laternen. Sie erlöschen in der Tat nur bei Krankheit oder Tod der Insekten, die sich mit ein wenig Zuckerrohr leicht ernähren lassen. Eine junge Frau erzählte uns in Trinidad de Cuba, sie habe auf einer langen und beschwerlichen Überfahrt nach der Tierra Firme die Phosphoreszenz der

cocuyos

jedesmal benutzt, wenn sie zur

Nachtzeit ihrem Kind die Brust reichte; der Schiffskapitän wollte nämlich

Kapitel XXVIII

315

aus Furcht vor den Korsaren nicht gestatten, daß ein anderes Licht an Bord angezündet wurde. Da die Brise in nordöstlicher Richtung frischer wurde, wollte man die Cayman-Gruppe vermeiden; doch die Strömung trieb uns nach diesen Insel­ chen hin. Wir segelten in der Richtung von Süd V4 Südost und verloren nun das mit Palmbäumen bewachsene Gestade, die Hügel, welche die Stadt Tri­ nidad bedecken, und die hohen Berge der Insel Cuba aus den Augen. Es liegt etwas Feierliches in demAnblick eines Landes, das man verläßt und das sich allmählich unter den Horizont des Meeres niedersenkt. Dieser Ein­ druck wurde um so gewichtiger und ernster in einem Zeitpunkt, wo Santo Domingo als Mittelpunkt großer politischer Stürme die übrigen Inseln in einen der blutigen Kämpfe zu verwickeln schien, die dem Menschen die Grausamkeit seines Geschlechts offenbaren. Diese Drohungen und Be­ fürchtungen haben sich glücklicherweise nicht erfüllt; das Gewitter hat sich da, wo es entstand, auch wieder gelegt, und eine freie schwarze Bevölkerung hat, ohne den Frieden der benachbarten Antillen zu stören, einige Fort­ schritte zur Milderung der Sitten sowie zur Etablierung guter bürgerlicher Institutionen gemacht. Puerto Rico, Cuba und Jamaica umgeben mit 370000 Weißen und 885000 Farbigen die Insel Haiti, auf der 900000 Neger und Mulatten leben, die sich durch eigene Willenskraft und Waffenglück frei­ gemacht haben. Diese Neger, die mit dem Anbau von Nahrungspflanzen mehr als mit der Kultur von Kolonialerzeugnissen beschäftigt sind, ver­ mehren sich mit einer Schnelligkeit, die nur vom Wachstum der Bevölkerung der Vereinigten Staaten übertroffen wird. Sollte die Ruhe, welche man auf den spanischen und britischen Inseln während 26 Jahren seit der ersten Re­ volution von Haiti genossen hat, noch weiterhin den weißen Menschen eine unheilvolle Sicherheit einflößen, die alle Verbesserungen der Verhältnisse der dienstbaren Klasse [Sklaven] verächtlich von der Hand weist? Um dieses Mittelmeer der Antillen her, im Westen und im Süden, in Mexico, in Guate­ mala und in Colombia, arbeiten jetzt neue Gesetzgebungen mit Eifer an der Abschaffung der Sklaverei. Wohl darf man hoffen, das Zusammenwirken so gebieterischer Umstände werde die wohltuendenAhsichten einiger europäi­ scher Regierungen begünstigen, die das Schicksal der Sklaven allmählich verbessern wollen. Drohende Gefahr wird Konzessionen erwirken, welche die ewigen Grundsätze des Rechts und der Humanität längst forderten. [Angehängt an das Kapitel XXV III hat Humboldt Anmerkungen zum Zehnten Buch: Anmerkung A: Humboldt hält die Feststellung des Konsums der Lebensmittel, die beim gegenwärtigen Stand der europäischen Zivilisa­ tion die wichtigsten Objekte der Kolonialindustrie seien, für eines der inter­ essantesten Probleme der politischen Ökonomie. Annäherungsweise exakte Resultate könne man auf zwei Wegen erreichen: 1. Die Diskussion des Ex-

316

Kapitel XXVIII

ports der Gebiete, welche die beträchtlichsten Zuckermengen liefern: An­ tillen, Brasilien, die Guayanas, Mauritius und Reunion sowie Indien. - 2. Die Prüfung des Imports kolonialer Lebensmittel in Europa und der Ver­ gleich des jährlichen Konsums mit der Bevölkerung, mit Reichtum und na­ tionalen Gewohnheiten in jedem Land. Die Schwierigkeiten der Statistik verkleinerten sich, wenn große Massen der Aus- und Einfuhr des Zuckers behandelt würden, da die Auswertung der Zollregister brauchbare Ergeb­ nisse liefere, so daß kleinere Produktionen nicht ins Gewicht fielen. So lie­ fert Humboldt ein insgesamt faszinierendes Bild meisterhaft gehandhabter Tabellenstatistik des Zuckerex- und -imports und gliedert seinen Ansatz ent­ sprechend dieser beiden Begriffe, wobei er zu einem weltweiten Vergleich gelangt. -Es folgen: Meteorologische Beobachtungen im Botanischen Gar­ ten von Havanna 1825; Temperaturen der verschiedenen Teile der heißen Zone im Meeresniveau. RH, III, S. 484-501; Paulus Usteri u. a., Sechster Teil, S. 278-314.)

Reise in die

Aequinoctial-Gegenden des

neuen Continents in den Jahren

1799, 1800, 1801, 1802, 1803

und

1804.

Verfaßt von Alexander von Humboldt und A. Bonpland.

Sechster Theil. Zweite Hälfte.

Stuttgart und Tübingen in der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. 1832.

Reise in die

Äquinoktial-Gegenden des

Neuen Kontinents

Elftes Buch Kapitel XXIX Überfahrt von Trinidad auf Cuba nach dem Rfo Sinu- Cartagena de Indias [Küste des heutigen Columbien]- Schlammvulkane von Turbaco­ Kanal von Mahates Am 17. März [ 1801 ] morgens erblickten wir das östlichste Inselchen der Gruppe der Kleinen Caymans. Nachdem ich die ungefähre Berechnung mit der chronometrischen Länge verglichen hatte, erkannte ich, daß die Strö­ mungen uns in der Zeit von 17 Stunden 20 Meilen westwärts gebracht hatten. Das Inselchen, welches die englischen Seefahrer Caymanbrack und die spanischen Cayman chico oriental nennen, bildet eine Felsenwand, kahl und steil nach Süden und Südosten abfallend. Sein nördlicher und nordwest­ licher Teil ist niedrig, sandig und mit wenig Vegetation bedeckt. Der Felsen hat ziemlich dünne, horizontale Schichten. Nach seiner weißen Farbe und wegen der Nähe der Insel Cuba würde ich ihn für Jurakalk halten. Wir nä­ herten uns dem östlichen Ende des Caymanbrack bis auf eine Entfernung von 400Toisen. Die benachbarte Küste ist nicht ganz frei von Gefahren und unter dem Wasser liegenden Klippen; indessen hatte die Temperatur des Meeres auf der Oberfläche nicht merklich abgenommen. Sie zeigte 25,5°; während ich sie unter 20° 25' Breite auf offener See und 15 Iieues von Cay­ manbrack den Cayos de los doce leguas entfernt zu 25,3° des hundertteiligen T hermometers gefunden hatte. An anderem Ort habe ich an die Zweifel

320

Kapitel XXIX

erinnert, welche über die astronomische Lage der Großen und Kleinen Cay­ mans so lange bestanden. Auch werden diese Zweifel wohl dann erst ganz behoben werden, wenn ein und derselbe Beobachter mit mehreren Chrono­ metern die drei Inselchen nacheinander untersucht und ihre Länge und Ent­ fernungen in Verknüpfung mit dem Meridian des Kaps San Antonio be­ stimmt haben wird. Die Uhr von Louis Berthoud gab mir als Länge des östlichen Kaps von Caymanbrack 82° 7' 37" an, die Länge des Hafens von Bataban6 von 84° 45' 56" und der Stadt Trinidad de Cuba von 82° 21' 7" vor­ ausgesetzt. Die durch ungefähre Berechnung reduzierte Breite und die Kompaßstriche des Windes zur Meridianbeobachtung schienen mir 19° 40' 50" zu ergeben. Don Ciriaco Cavallos, der diese Gegenden ein Jahr nach mir besucht hat, berechnete sie zu 19o 42'; aber die Länge, die er nach der Zeit­ übertragung von Aguadilla auf Puerto Rico annimmt, ist 8' östlicher als die meinige. Unter den Steuermännern ist die Meinung sehr verbreitet, daß um die Cayman-Gruppe herum die Abweichung der Magnetnadel sehr verschie­ den von der sei, die man am westlichen Ende von Jamaica und bei der Insel Pinos beobachtet. Die kalkartige Natur des Felsens und die in diesen Ge­ genden angestellten magnetischen Versuche sprechen indes nicht für solche Vermutung. Wenn man auf einem Meer navigiert, dessen Strömungen mit den Winden und den Jahreszeiten wechseln, und wenn man nur sehr unvoll­ kommen die relative Lage des Abfahrtpunkts und die Inselchen, die man vermeiden will, kennt, ist es wohl natürlich, daß man eben diese Inselchen oft gerade da erscheinen sieht, wo man sie am wenigsten erwartet. Man be­ schuldigt dann den Kompaß, während man nur die Ungewißheiten unge­ fährer Berechnung oder die Unvollkommenheit der astronomischen Geo­ graphie beklagen sollte. Solange wir Sicht auf den Felsen von Caymanbrack hatten, schwammen Seeschildkröten von außerordentlicher Größe um unser kleines Fahrzeug. Die Menge dieser Tiere ließ Christoph Columbus der ganzen Gruppe der Caymans den Namen des Felsens der Schildkröten ( Pefiascales de las Tor­

tugas ) geben. Die Matrosen wollten, um einige zu fangen, ins Wasser

springen; aber eine so große Anzahl Haifische begleitete sie, daß der Ver­ such zu gefahrvoll gewesen wäre. Die Haifische bissen in starke eiserne Haken, die man ihnen vorhielt und die gut zugespitzt und in Ermanglung an Leinen befestigter Angelhaken am Tauwerk befestigt waren; auf diese Weise gelang es, sie bis zum halben Leib hervorzuziehen, und wir sahen mit Verwundern, obgleich ihr Rachen von Blut troff, daß sie stundenlang von neuem nach dieser Art Angelhaken griffen. An Bord eines spanischen Schiffs erinnert der Anblick dieser Haifische die Matrosen an die Lokal­ mythe der Küsten Venezuelas, wo einst der Segen eines heiligen Bischofs das Verhalten der Haifische milderte, die sonst überall der Schrecken der See­ fahrer sind. Sollten diese sanften Haifische des Hafens von Guaira in ihrer

321

Kapitel XXIX

Art von denen verschieden sein, die im Hafen Havannas oft die schrecklich­ sten Unfälle verursachen? Und gehören sie vielleicht zur kleinen Gruppe der glatten Haie

(musteli)

(emissoles), die Cuvier unter dem (milandre) getrennt hat?

Namen Meerquappe

von der Meersau

Der Wind blies immer stärker aus Südosten, je mehr wir uns dem Kap Ne­ gril und dem westlichen Ende der großen Vfbora-Bank näherten. Wir sahen uns oft genötigt, das Segel zu reffen, und waren bei der außerordentlichen Kleinheit unseres Fahrzeugs fast beständig unter Wasser. Den

[1801]

18. März 18° 17' 40" Breite und 81° 50' Länge. 15° mit den rötlichen Dünsten bedeckt,

mittags befanden wir uns unter

Der Horizont war bis zur Höhe von

die unter den Wendekreisen so verbreitet sind und die auf der Oberfläche des Erdballs immer ohne Wirkung auf das Hygrometer zu sein scheinen. Wir kamen

50

Meilen westlich von Kap Negril des Südens ungefähr auf die

Stelle, wo mehrere Karten eine isolierte Untiefe angeben, deren Lage an die von Sancho Pardo gegenüber dem Kap San Antonio de Cuba erinnert. Auf dem Grund sahen wir keine Veränderung. Es scheint, daß der Rocky shoal,

4 Faden von Kap Negril,

ebensowenig wie der Felsen (Cascabel) vorhanden

ist, von dem man so lange glaubte, er bezeichne das östliche Ende der Vi­ bora (Pedro Bane), ebenso wie Portland Rock oder la Sola das östliche Ende meint. Den

19.

März, um 4 Uhr abends, kündete uns die schlammige Farbe

des Meeres an, daß wir den Teil der Vfbora-Bank erreicht hatten, wo man nicht mehr

15, sondern kaum noch 9 bis 10 Faden Wassertiefe findet. Unsere 81 o 3'; unsere Breite wahrscheinlich unter

chronometrische Länge betrug

17°.

Ich war erstaunt, bei der Beobachtung des Mittags unter einer Breite

von

17° 7' noch keine Veränderung in der Farbe des Wassers zu sehen. Da ich

zweimal die Bank in ihrer Länge und Breite befahren und versucht habe, die Lage der gefährlichsten Orte festzustellen, wird mir erlaubt sein, hier zu be­ merken, daß nur die Karte des Kapitäns de Mayne mit dem übereinstim­ mend schien, was ich selbst über die wahre Gestalt und die südlichen und öst­ lichen Grenzen der Vfbora-Bank beobachtet habe. Diese Karte bezeichnet sehr genau unter

16° 54' und 17o 5' Breite und 81°2' Länge die plötzliche Ab­

nahme der Tiefe, die ich soeben erwähnte, sowie die Lage der Klippen 24 Meilen südöstlich der Pedro Cayos (Nordostcayos), auf denen wir bei der

6. Dezember [1800] in Gefahr gewesen waren zu scheitern. Die spanischen Fahrzeuge, die

Fahrt von Nueva Barcelona nach Havanna in der Nacht vom

von Bataban6 oder von Trinidad de Cuba nach Cartagena bestimmt sind, gehen gewöhnlich über den westlichen Teil der Vfbora-Bank mit

15

bis

16

Faden Tiefe. Die Gefährlichkeit der unter dem Wasser liegenden Klippen fängt erst beim Meridian von

80° 45'

westlicher Länge an. Wenn man über

den südlichen Saum der Bank streift, wie es die Steuerleute bei der Über­ fahrt von Cumana oder von anderen Häfen der Tierra Firme nach Gran Cayman oder nach Kap San Antonio oft zu tun pflegen, muß man auf steilen

322

Kapitel XXIX

Küsten der Bank nicht über eine Breite von 16° 47' gehen. Glücklicherweise zieht sich die Strömung über die ganze Bank südwestlich. Betrachtet man die Vfbora-Bank nicht als ein untergetauchtes Land, son­ dern als einen erhöhten Teil der Oberfläche der Erdkugel, der nicht das Ni­ veau des Meeres erreichen konnte, sieht man mit Verwunderung, daß dieses große submarine Inselchen gleich den nahen Landstrichen von Jamaica und Cuba seine größten Höhen am östlichen Ufer hat. Hier befinden sich Port­ land Rock, Pedro Kays und South Kays umgeben von gefährlichen, unter dem Wasser liegenden Klippen. Der Grund hat 6 bis 8 Faden; doch gegen die Mitte der Bank, längs ihrer Kammlinie, wird er erst nach Westen, dann nach Nordosten allmählich 10, 12, 16 und 19 Faden tief. Betrachtet man auf einer Karte die Nähe der hohen Landesteile von Santo Domingo, Cuba und Ja­ maica, die an Windward Channel angrenzen, die Lage des Inselchens Na­ vaza und die der Bank von Hormigas zwischen den Kaps Tibur6n und Mo­ rant, endlich die Klippenkette, die sich von der Vfbora-Bank über Bajo Nuevo, Serranilla und Quita-Suefio bis zum Mosquito-Sund hinzieht, dann kann man in diesem System von Inselchen und Untiefen die fast ununterbro­ chene Spur einer gratartigen Erhebungslinie, die von Nordosten nach Süd­ osten streicht, nicht verkennen. Diese Kammlinie und der alte Damm, der durch die Sancho-Pardo-Klippe das Kap San Antonio mit der Halbinsel Yu­ catan verband, teilt das große Meer der Antillen in drei besondere Becken, denen ähnlich, die man vom Mittelmeer kennt. Ich habe bei dieser Über­ fahrt, so wie früher, als ich auf einem amerikanischen Schiff mit dem Ka­ pitän Newton von Nueva Barcelona nach Havanna ging, den Einfluß unter­ sucht, den die Tiefe des Meeres auf die Temperatur seiner Oberfläche ausübt; doch sind diese wiederholten Versuche nicht glücklich gewesen. Zwischen Caymanbrack und dem Parallelkreis des Kaps Negril, folglich nördlich der Vfbora-Bank, fand ich im tiefsten Wasser 25,5 bis 25,8°. Auf der Bank selbst, bei 9 oder 10 Faden Tiefe, zeigte das trübste Meerwasser noch 25,6°. Ist es die Schnelligkeit der Strömungen, welche die Bank keine Wir­ kung auf die Temperatur ausüben läßt? Mehr gegen Norden, zwischen den Jardines und Jardinillos und besonders bei den Klippen von Diego Perez war nach der Veränderung des Grundes bis 4,2° Unterschied. Im Campeche­ Sund sinkt bei 15 Faden die Temperatur der Oberfläche um 2,5°; auf der großen Neufundland-Bank habe ich (im Juli 1804) das T hermometer zwi­ schen 8,3 und 12,2° gefunden, während es sich fern der Bank, außerhalb des Gulfstream, bei 19,4° hielt, im Gulfstream stand es auf 21,1 °. Herr Sabine be­ trachtet auch in seinem mit ausgezeichneten Beobachtungen angefüllten Werk über die Verteilung der Wärme auf dem Erdball die Schnelligkeit der Strömungen als die wahre Ursache des Nichteinwirkens gewisser Untiefen auf die Temperatur des Ozeans. Dieser Umstand ist für die Sicherheit der Schiff­ fahrt sehr wichtig. Eine plötzliche Veränderung in der Wärme des Wassers

323

Kapitel XXIX

muß jedesmal die Aufmerksamkeit der Seefahrer auf sich ziehen; sie deutet entweder einen Wechsel der Strömungen oder die Nähe einer Bank an; aber so wie es Bänke gibt, die sich nicht durch die Farbe des Wassers offenbaren, ebenso gibt es deren auch, die keine merkliche Wirkung auf die Temperatur des Ozeans ausüben. Überhaupt scheint es mir (und noch während der vier Tage, die ich auf der großen Neufundland-Bank zugebracht habe, ist mir dieser Unterschied aufgefallen), daß die Abnahme der Temperatur am be­ deutendsten am steilen Abfall der Bänke ist und wenig gegen die Mitte zu­ nimmt. Sollte diese Erscheinung nicht beweisen, daß die Kälte der Untiefen weniger durch die Wasserteilchen erzeugt wird, die während des Winters oder der Nacht im Sommer auf der Oberfläche des Ozeans erkalten und auf den Grund sinken, als durch die Erhebung der unteren Schichten des Ozeans und deren Vermischung mit den oberen Schichten am Steilabfall der Bank? Die Farbe des trüben Wassers auf der Untiefe der Vfbora-Bank ist eigent­ lich nicht milchig wie in den Jardinillos und auf der Bank von Bahama, son­ dern schmutziggrau. Diese Verschiedenheit der Färbung, die auf der Neu­ fundland-Bank, im Archipel der Bahama-Inseln und auf der Vfbora-Bank so auffällt, und diese veränderliche Menge erdiger Teile, die in dem mehr oder minder trüben Gewässer der Sunde schweben, können durch das ebenso ver­ änderliche Einsaugen der Lichtstrahlen bis zu einem gewissen Punkt bei­ tragen, die Temperatur des Meeres zu modifizieren. Da wo die Untiefen auf ihrer Oberfläche 8 bis 10° kälter als das sie umgebende Meer sind, darf man sich über den Wechsel des Klimas, den sie örtlich hervorbringen, nicht wun­ dern. Daß eine Masse sehr kalten Wassers wie auf der Neufundland-Bank in der Strömung der Küstenstrecke von Peru (zwischen dem Hafen von Callao und Punta Parifia) oder in der afrikanischen Strömung am Kap Verde auf die Atmosphäre des Meeres und auf das Klima der benachbarten Länder ein­ wirkt, ist natürlich; doch weniger begreiflich ist, daß sehr schwache Verände­ rungen der Temperatur (z. B. ein hundertteiliger Grad auf der Vfbora-Bank) der Atmosphäre der Untiefen einen besonderen Charakter geben können. Wirken diese unter dem Meer befindlichen Inselchen auf die Bildung und An­ häufung der Dunstbläschen in einer anderen Weise als durch das Abkühlen des Wassers der Oberfläche? Als wir die Vfbora-Bank verließen, wollten wir zwischen Bajo Nuevo und der Klippe von Comboy hindurchfahren. Man glaubte damals, Bajo Nuevo liege im Meridian des westlichen Endes der Vfbora-Bank, unter 81

o

28'

Länge und 15° 57' Breite. Einige Jahre später, 1804, wurde der Fregattenka­ pitän Don Manuel del Castillo, Mitarbeiter des Herrn Fidalgo, abkomman­ diert, um die Lage der Felsen von Roncador, Serrana, Serranilla und der be­ nachbarten gefährlichen Stellen zu bestimmen; und dieser setzte die Bajo Nuevo in eine Breite von 15° 49' und eine Länge von 80° 56'. Wäre diese An-

324

Kapitel XXIX

gabe richtig, was ich übrigens bezweifle, müßten wir am Tag des 20. März [1801], als wir uns mittags in einer Breite von 16° 5' befanden, diese Untiefe fast berührt haben. Meine chronometrische Länge betrug am 19. März auf der Vfbora-Bank 81° 6'; am 22. März auf dem Parallelkreis von 13° 41' aber 80° 49'. Aus diesen zuverlässigen Angaben geht hervor, daß, ohne auf partielle, von der Strömung bewirkte Abweichungen zu rechnen, unser Weg uns unter dem Meridian von 80° 55' durch den Parallelkreis des Bajo Nuevo geführt haben muß. Der geschickte Seefahrer de Mayne scheint völlig an der Existenz dieser Untiefe zu zweifeln und bezeichnet auf seiner Karte nur Comboy (unter 15° 40' Breite und 80° 12' Länge), das Castillo vergeblich zwischen 15o 45' und 15° 54' Breite gesucht hatte. Man muß hoffen, daß neue Beobachtungen die Länge von Bajo Nuevo, das für die von Havanna nach Portobelo und Cartagena ge­ henden Schiffe so gefährlich werden kann, feststellen können. Ich habe ge­ glaubt, nicht mit Stillschweigen die Zweifel übergehen zu dürfen, die eigene Erfahrung mir eingeflößt hat. Die Temperatur des Meeres war unter einer Breite von 16° 5' und 13° 36' beständig 26,6°; 26,8°; 26,5°. Den 22. März [1801].- Wir fuhren über 30 Iieues westlich an Roncador vorbei. Diese Untiefe führt den Namen der Schnarcher, weil nach alten Tra­ ditionen die Steuerleute versichern, daß man es in weiter Ferne schnarchen

(roncar) höre. Ereignet sich dieses Geräusch wirklich, so gründet es sich wahrscheinlich auf ein periodisches Zurückströmen der in einem höhlenrei­ chen Felsen zusammengepreßten Luft. Ich habe die gleiche Erscheinung an mehreren Küsten beobachtet, unter anderem auf den Lava-Vorgebirgen von Teneriffa, im Kalk Havannas und im Granit Unter-Perus zwischen Trujillo und Lima. Auf den Canarischen Inseln hatte man sogar den Plan entworfen, eine Maschine auf dem Ausstrom der zusammengepreßten Luft anzu­ bringen und das Meer als Bewegungskraft zu gebrauchen. Während im Meer der Antillen, mit Ausnahme der Küsten von Cumana und Caracas, die Herbst­ äquinoktien (el cordonazo de San Francisco) überall gefürchtet werden, haben die Frühlingsäquinoktien dagegen keinen Einfluß auf die Ruhe dieser tropischen Gegenden- eine Erscheinung, die fast das Umgekehrte von der ist, die man in den höheren Breiten beobachtet. Seitdem wir die Vfbora­ Bank verlassen hatten, blieb das Wetter bemerkenswert schön. Die Meeres­ fläche, indigoblau, zuweilen blaßviolett, wegen der zahllosen Menge Me­ dusen und Fischeiern (purga de mar), die es bedeckten, war nur leicht be­ wegt. Das T hermometer hielt sich im Schatten auf 26 bis 27°; keine Wolke zeigte sich am Horizont, und doch ging der Wind beständig von Norden oder höchstens Nordnordwest. Sollte man diesem Wind, der die höheren Schichten der Atmosphäre abkühlte und darin Eiskristalle bildete, die Höfe zuschreiben, die sich zwei Nächte hintereinander um den Mond zusammen­ zogen? Der Umfang dieser Halos war jedesmal nur klein, von einem Durch­ messer von 45°. Ich habe niemals Gelegenheit gehabt, welche zu sehen und

Kapitel XXIX

325

zu messen, deren Durchmesser 90° erreicht. DemVerschwinden eines dieser Mondhöfe folgte die Bildung einer dicken schwarzen Wolke, welcher einige Regentropfen entfielen; bald aber nahm der Himmel wieder seine unverän­ derliche Heiterkeit an, und man sah eine lange Reihe Sternschnuppen und Feuerkugeln, die sich in gleicher, dem Wind der unteren Regionen entgegen­ gesetzter Richtung bewegten. Den 23. März (1801 ].- DerVergleich der Schätzung mit der chronometri­ schen Länge zeigte die Stärke einer Strömung, die nach Westsüdwesten trieb. Auf dem Parallelkreis von 17o war ihre Geschwindigkeit 20 bis 22 Meilen in 24 Stunden. Ich fand die Meerestemperatur ein wenig gefallen und unter der Breite von 12° 35' nur noch bei 25,9° (die Luft 27,0°). Den ganzen Tag hindurch bot das Himmelsgewölbe ein merkwürdiges Schauspiel, das selbst auf die unempfindlichsten Matrosen Eindruck machte und von mir schon am 13.Juni 1799 bemerkt worden war. Keine Wolke war zu erblicken; nicht einmal etwas von jenen leichten Dünsten, die man die "trockenen" nennt; und dennoch färbte die Sonne die Luft und den Horizont des Meeres mit einem schönen Rosenrot. Der Nacht zu bedeckten zuerst dicke bläuliche Wolken den Himmel, und als diese verschwanden, sah man in unermeßli­ cher Höhe leichte Wölkchen, regelmäßig in Zwischenräumen und in zusam­ menlaufenden Streifen angeordnet. Die Richtung dieser Streifen ging von Nordnordwest nach Südsüdost, oder noch genauer Nord 20° West, folglich der Richtung des magnetischen Meridians entgegen. Sollte die gleichför­ mige Bedeutung der Zwischenräume dieser kleinen Dunstgruppen als Wir­ kung eines elektrischen Abstoßens zu betrachten sein, so wie eine solche in den Lichtenbergsehen Figuren auf dem Elektrophor (Kondensator], in der Gefrierung der Dünste auf unseren Fensterscheiben und in den Dendriten des Mangans, welche die Risse im Jurakalk ausfüllen, zu bemerken ist? Ich sah mitVerwunderung, daß die Konvergenzpunkte oder die Pole dieser Wol­ kenstreifen nicht unbeweglich blieben, sondern sich nach und nach den Welt­ polen näherten, ohne sie jedoch zu erreichen. Gegen 2 Uhr morgens wurden die Dünste unsichtbar. Seitdem habe ich häufig dieses Phänomen beob­ achtet, das an einige Erscheinungen bei Nord- und Südlichtern erinnert und gewiß nicht die bloße Wirkung einer optischen T äuschung ist (parallelge­ hende Streifen von Wolken in der Richtung des Windes). In Quito, Mexico, Italien und Frankreich zeigt es sich in allen Jahreszeiten, besonders in sehr ruhigen Nächten. Ich habe es in meinen Tagebüchern mit dem Namen "bewegliche und unbewegliche Polarstreifen" bezeichnet. Die letzteren befinden sich öfters im magnetischen Meridian des Ortes. Viele Naturfor­ scher in Buropa haben ihre Aufmerksamkeit auf diese Streifen gerichtet; und es ist zu wünschen, daß man genau das Azimut ihrer Pole, die Richtung und Schnelligkeit ihrer Bewegung und ihr Verhältnis zur stündlichen Dekli­ nation und zur Intensität der magnetischen Kräfte mißt.

Kapitel XXIX

326 Den 24. März

[1801].- Wir kamen in eineArt von Golf hinein, der östlich

die Küsten von Santa Marta und westlich die von Costa Rica begrenzt; denn die Mündungen des Rio Magdalena und des Rio San Juan de Nicaragua befinden sich unter dem gleichen Parallelkreis, beinahe bei

11 o Breite.

Die

Nähe des Pazifischen Ozeans, die Gestalt der benachbarten Landesteile, die geringe Breite des Isthmus von Panama, das Niedrigerwerden des Bodens zwischen dem Golf von Papagayo und dem Hafen San Juan von Nicaragua, endlich die Nachbarschaft der Schneeberge von Santa Marta und viele an­ dere Umstände, die hier aufzuzählen zu weit führen würde, geben diesem Golf ein besonderes Klima. Die Atmosphäre wird durch seine heftigen Winde bewegt, die man im Winter unter dem Namen brizotes de Santa Marta kennt. Legt sich ein solcher Wind, treibt die Strömung nach Nordosten; und der Kampf der kleinen Winde aus Osten und Nordosten mit der Strömung läßt das Meer hoch und in starken Wellen gehen. Bei Windstille wird die Fahrt der Schiffe, die von Cartagena nach dem Rio Sinu, der Mündung des Atrato und Portobelo segeln, durch die Küstenströmung sehr aufgehalten. Die

brizotes

dagegen meistern die Bewegung des Wassers und geben ihm

eine entgegengesetzte Richtung nach Westsüdwesten. Diese letztere Bewe­ gung nennt der Major Renneil in seinem großen, geistreichen hydrographi­ schen Werk drift, und er unterscheidet sie von den eigentlichen Strömungen, die nicht von der örtlichen Wirkung des Winds, sondern von Verschieden­ heiten im Niveau der Oberfläche des Ozeans, vonAnhäufungen undAuftür­ mungen des Wassers in sehr entfernten Gegenden herrühren. Die Beobach­ tungen, welche bereits über die Stärke und Richtung der Winde, über die Temperatur und Schnelligkeit der Strömungen und über den Einfluß der Jah­ reszeiten oder der sich immer verändernden Abweichung der Sonne gesam­ melt wurden, sind hinreichend gewesen, wenigstens im großen das verwik­ kelte System dieser pelagischen Flüsse aufzuklären, die die Oberfläche des Ozeans durchschneiden; aber weniger leicht ist es, die Ursachen der Verän­ derungen zu ergründen, welche die Bewegung der Gewässer in ein und der­ selben Jahreszeit und bei ein und demselben Wind erfährt. Warum treibt der Gulfstream bald auf die Küsten von Florida, bald auf den Rand der Bahama-Bank zu? Warum fließt das Wasser während ganzer Wochen von Havanna nach Matanzas und (um ein Beispiel des Corriente por arriba anzu­ führen, der zuweilen im östlichsten Teil der Tierra Firme bei gleich schwa­ chem Wind bemerkt wird) warum von Guaira nach dem Cap Codera und nach Cumana? Den 25. März

[1801]. -Je mehr wir uns den Küsten von Darien näherten,

desto heftiger ging der Wind aus Nordosten. Wir hätten glauben können, in ein anderes Klima versetzt zu sein. Während der Nacht wurde das Meer stür­ misch; doch erhielt sich die Temperatur des Wassers (unter wo

30' bis 9° 47'

Breite) auf 25,8°. Wir erblickten morgens beimAufgang der Sonne einen Teil

Kapitel XXIX

327

des Archipels von San Bernardo, der im Norden den Golf von Morrosquillo schließt. Ein heller Strich zwischen den Wolken erlaubte mir, Stundenwinkel zu nehmen. Das Chronometer zeigte an der kleinen Insel Mucara eine Länge von 78° 13' 54". Wir kamen beim südlichsten Ende des Placer de San Bernardo vorbei. Das Wasser war milchfarbig, obgleich ein Senkblei von 25 Faden keinen Grund fand; Erkaltung des Wassers war nicht zu bemerken, wahrscheinlich abermals wegen der Schnelligkeit der Strömung. In der Ferne ragten die Berge von Tigua über dem Archipel von San Bernardo und dem Kap Boquer6n hervor. Das stürmische Wetter und die Schwierigkeit, gegen den Wind zu segeln, bewogen den Kapitän unseres erbärmlichen Fahr­ zeugs, Schutz in der Reede des Rio Sinti zu suchen oder, besser gesagt, nahe bei der Punta del Zapote, am Ende des östlichen Ufers der Ensenada

[Bucht] de Cispata, in welche sich der Rio Sinti oder Zenu der ersten conquis­ tadores ergießt. Es regnete sehr stark, und ich benutzte diese Gelegenheit,

um die Temperatur des Regenwassers zu messen, die ich bei 26,3° fand, wäh­ rend das T hermometer in der Luft und an einer Stelle, wo die Kugel nicht be­ näßt wurde, sich bei 24,8° hielt. Dieses Resultat wich bedeutend von dem ab, welches ich in Cumami erlangt hatte, wo das Regenwasser um einen Grad kälter als die Luft war. Auf die Tierra Firme des südlichen Amerika zurückgekehrt, will ich noch einen letzten Blick auf das ganze Becken des Meeres der Antillen werfen und in einer Tabelle die Temperatur-Angaben vereinigen, die meine Tagebü­ cher über die Fahrt zur See enthalten. Hinzu füge ich, was ich den hand­ schriftlichen Noten verschiedener Reisender entnehmen konnte, die sich auf meine Bitte denselben Nachforschungen gewidmet und ihre T hermo­ meter mit Sorgfalt berichtigt haben.

[ Es folgen an dieser Stelle: Tabellen der Oberflächentemperaturen des Antil­ lenmeeres im Süden des Yucatan-Kanals mit Erläuterungen; Tabelle der Oberflächentemperatur des Atlantischen Ozeans in den Zonen von 0 bis 45o nördlicher Breite; Resultate; mittlere Oberflächentemperaturen des nördli­ chen Atlantischen Ozeans mit Erläuterungen. RH, III, S. 513-530; Paulus Usteri u. a., 6. Teil, S.21-50] . Unsere

Überfahrt

von der Insel Cuba nach den Küsten des südlichen

Amerika fand ihr Ziel an der Mündung des Rio Sinti und dauerte 16 Tage. Die Reede bei Punta del Zapote, wo wir Anker warfen, hatte einen sehr schlechten Ankergrund. Wegen des stürmischen Meeres und des heftigen Wellenschlags hatten wir Mühe, die Küste mit unserem Boot zu erreichen. Wie schön erschien uns dieses Land! Wie mußte es der kleinen Zahl Rei­ sender erscheinen, die, für die Reize der Natur empfänglich, beim Anblick eines dichten, von Palmen überkrönten Waldes ihren Genuß nicht nach der

Kapitel XXIX

328

Zivilisation des Ortes, wo sie landeten, bemaßen! Alles verkündete uns, daß wir eine wilde, selten von Fremden besuchte Region betraten. Nur aus we­ nigen zerstreuten Häusern bestand das Dorf Zapote. Hier, in einer Art von Schuppen, fanden wir viele Schiffsleute, alles Farbige, versammelt, die in Pi­ rogen den Rio Sinu herabgefahren waren, um Mais, Bananen, Federvieh und andere Lebensmittel nach dem Hafen von Cartagena zu bringen. Diese

50 bis 60 Fuß Länge gehörten größtenteils Pflanzern (hacien­ dados) aus Lorica. Der Wert ihrer Ladungen belief sich bei den größeren

Pirogen von

Fahrzeugen auf

2000 Piaster.

Der Boden solcher Pirogen ist flach, und sie

können das Meer nicht befahren, wenn es sehr stürmisch ist. Seit wehten an dieser Küste die wir in offener See bis zu

10 Tagen

brizotes mit Heftigkeit aus Nordosten, während

10a Breite nur einen leichten Wind und ein beständig

ruhiges Meer gehabt hatten. In den Luft- wie in den Meeresströmungen be­ wegen sich zuweilen einige Schichten mit außerordentlicher Schnelligkeit, während andere, ihnen ganz nahe, fast unbeweglich bleiben. Die Zambos des Rio Sinu langweilten uns durch ihre unnützen Fragen über den Zweck unserer Reise, unsere Bücher und den Gebrauch unserer Instrumente; dabei blickten sie mißtrauisch auf uns; um uns ihrer Neugierde zu entziehen, gingen wir trotz des Regens in den Wald, um zu herborisieren. Wie gewöhn­ lich hatte man versucht, uns vor den Boas

(traga-venado), den Vipern und

Jaguaren große Angst einzuflößen; doch ein langer Aufenthalt in den Mis­ sionen der Chaimas-Indianer und am Orinoco hatte uns an diese Übertrei­ bungen gewöhnt, die weniger der Leichtgläubigkeit der Eingeborenen bei­ zumessen sind als ihrem böswilligen Vergnügen, die Weißen zu plagen. Wenn man die Küsten von Zapote, die mit Rhizophora-Bäumen [Rhizophora Mangle] [Mangroven. Anmerkung des Hrsg.] bedeckt sind, verläßt, tritt man in einen Wald, bemerkenswert durch eine große Verschiedenartigkeit der Palmen. Wir sahen hier dicht aneinandergedrängt die Stämme des Co­ rozo del Sinu, unser ehemaliges Genus Alfonsia, das Öl in Überfluß gibt;

Cocos butyracea, hier palma dulce oder palma real genannt, sehr ver­ palma real auf der Insel Cuba; die palma amarga mit gefä­

schieden von der

cherten Blättern, die zum Decken der Dächer benutzt werden, und die

con­ quistadores war diese Verschiedenheit der Palmen aufgefallen. Die Alfonsia

Latta, ähnlich der kleinen Palme Piritu am Orinoco. Schon den ersten

oder vielmehr die Art der Elaeis, die wir an keinem anderen Ort gesehen haben, erreicht nur eine Höhe von

6 Fuß;

ihr Stamm ist unförmig dick und

die Fruchtbarkeit ihrer Blütenscheiden so groß, daß sie über

200000 Blüten 600000) eine

enthalten. Obgleich von diesen (ein einziger Baum hat oft über

große Anzahl nicht zur Reife gelangt, bleibt doch der Boden mit einer dicken Fruchtschicht bedeckt. Derselbe Anblick hat sich uns oft im Schatten der Mauritia-Palmen, des

Cocos butyracea, des Seje und des Pihiguao am

Atabapo wiederholt. Keine andere Familie der Baumpflanzen besitzt eine

Kapitel XXIX

329

solche Zeugungskraft in der Entwicklung ihrer Blütenorgane. Man zerstößt die Mandel des corozo del Sinu im Wasser; und nachdem die oben schwim­ mende Ölschicht durch Sieden gereinigt worden ist, ergibt sie die manteca de corozo, ein dickeres Öl als das der Cocospalme, das zur Beleuchtung der Kirchen und Häuser gebraucht wird. Die Palmen der Abteilung der Co­ coineen des Herrn Brown sind die Oliven der tropischen Region. Als wir weiter in den Wald kamen, stießen wir auf kleine Fußwege, die erst neulich mit der Axt geschlagen zu sein schienen. Ihre Krümmungen führten uns zu einer großen Menge neuer Pflanzenarten: Mougeotia mollis, Nelsonia albi­ cans, Melampodium paludosum, Jonidium anomalum, Teucrium palustre, Gomphia lucens und ein neues Genus der Composeen, Spiracantha corni­

folia.

An den feuchten Stellen duftete ein wunderschönes Pancratium und

ließ uns vergessen, wie gefährlich der Eintritt in diese finsteren, sumpfigen Wälder für die Gesundheit ist. Nachdem wir ungefähr eine Stunde gegangen waren, fanden wir an einem freien Platz mehrere Menschen mit der Ernte des Palmweins beschäftigt. Die schwärzliche Hautfarbe der Zambos kontrastierte wunderbar mit der eines kleinen Mannes von blonden Haaren und bleichem Gesicht, der keinen Teil an der Arbeit zu nehmen schien. Ich hielt ihn anfangs für einen Schiffsjungen, der irgendeinem nordamerikanischen Fahrzeug entsprungen sein mochte, wurde aber bald aufgeklärt, als sich dieser blonde blasse Mann als einer meiner Landsleute, der an den Küsten der Ostsee geboren war, zu erkennen gab. Er hatte in der dänischen Marine gedient und wohnte seit einigen Jahren am Rio Sinti in der Nähe von Santa Cruz de Lorica. Nach Za­ pote war er gekommen, um, wie die Müßiggänger im Lande sagen, "andere Länder zu sehen und sich ein wenig zu ergehen (para ver tierras y pasear no mas)". Der Anblick eines Menschen, der ihm von seinem Vaterland er­ zählen konnte, schien wenig Reiz für ihn zu haben; und da er das Deutsche fast vergessen hatte, ohne doch im Kastilischen sich deutlich ausdrücken zu können, war unsere Unterhaltung nicht gerade sehr belebt. Während meiner fünfjährigen Reise im spanischen Amerika habe ich nur zweimal Gelegen­ heit gehabt, meine Muttersprache zu reden. Der erste Preuße, dem ich be­ gegnete, war ein Matrose aus Memel, der auf einem Schiff von Halifax diente und sich nicht eher zu erkennen geben wollte, als bis er einige Flinten­ schüsse auf unsere Piroge gefeuert hatte. Dieser zweite vom Rio Sinti war durchaus friedfertig. Ohne auf meine an ihn gerichteten Fragen zu ant­ worten, wiederholte er unaufhörlich mit einem stillen Lächeln, das Land sei warm und feucht, in den pommerseben Städten seien die Häuser schöner als in Santa Cruz de Lerica, und ein längeres Verweilen in den Wäldern werde uns unfehlbar die calenturas, die dreitägigen Fieber, woran er selbst lange krank gelegen hatte, zuziehen. Wir hatten Mühe, dem braven Mann unseren Dank für so wohlmeinenden Rat zu beweisen; denn nach der Strenge seiner

330

Kapitel XXIX

Grundsätze, die man sogar für etwas aristokratisch hätte halten können, durfte ein Weißer, ginge er auch barfuß, niemals Geld in der Gegenwart "dieses schlechten gelben Volkes

(gente parda)" annehmen. Weniger gering­

schätzig als unser europäischer Landsmann, grüßten wir höflich die Gruppe

tutumas oder Früchten der Crescentia cujete Palmwein in die Stämme der umgefällten Bäume zu füllen.

der Farbigen, die beschäftigt war, mit großen

Wir baten sie, uns diese Arbeit zu erklären, die wir schon in den Missionen

palma dulce, der Cocus butyracea, den man in der Nähe von Malgar im Magdalenental Wein­

der Katarakte sahen. Der Weinstock des Landes ist die

palme und hier wegen seines majestätischen Wuchses Königspalme nennt. Nachdem der Stamm, der gegen die Höhe nur wenig abnimmt, umgeworfen ist, wird unterhalb des Blätter- und Blütenwuchses im holzigen Teil eine Aushöhlung, 18 Zoll lang und 8 Zoll breit, 6 Zoll eingetieft. Man bearbeitet diese Höhlung so, als wolle man einen Nachen bauen. Nach drei Tagen fin­ det sie sich mit einem weißgelblichen, sehr klaren Saft gefüllt, der einen zuk­ ker- und weinartigen Geschmack hat. Die Gärung scheint beim Fällen des Stamms anzufangen, aber die Vitalität seiner Gefäße erhält sich, denn wir sahen, daß der Ausfluß des Safts selbst dann noch stattfindet, wenn der Gipfel der Palme (der Teil, dem die Blätter entstammen) einen Fuß höher als das untere Ende, das der Wurzeln, gelegt ist. Der Saft steigt fortwährend in die Höhe, so wie in den baumartigen Euphorbien, die eben gefällt sind. Während 18 bis 20 Tagen sammelt man täglich von diesem Palmwein; er ist weniger süß, hat aber mehr Weingeist und ist beliebter. Ein Baum gibt bis zu 18 Flaschen Saft, jeder von 42 Kubikzoll Inhalt. Die Eingeborenen versi­ chern, daß der Ausfluß reichhaltiger sei, wenn man die Blattstengel, die am Stamm bleiben, verbrennt. Die große Feuchtigkeit und Dichte des Waldes nötigte uns zur Rückkehr, um vor dem Untergang der Sonne das Ufer zu erreichen. An vielen Stellen zeigte sich dichter Kalkstein, vielleicht von tertiärer Formation; doch er­ schwerte eine dicke Lage von Ton und Dammerde die nähere Beobachtung; eine Schicht von glänzendem Kohlenschiefer schien mir jedoch auf eine äl­ tere Formation zu deuten. Herr Pombo bestätigt in einem namens der Han­ delskammer von Cartagena erstatteten Bericht ausdrücklich, daß es wirk­ liche Steinkohlen an den Ufern des Sinu gebe. Wir begegneten Zambos, die auf ihren Schultern Zylinder von

palmito trugen, der so unzweckmäßig

Palmkohl genannt wird; sie waren 3 Fuß lang und 5 bis 6 Zoll dick; das Stern­ artige gab ihnen ein blendendes Weiß. Es scheint, daß in diesen Gegenden seit Jahrhunderten die Palmschäfte eine beliebte Nahrung gewesen sind. Ich halte sie für völlig harmlos, obgleich die Historiker erzählen, daß zur Zeit, als Alonso L6pez de Ayala Gouverneur von Uraba war, viele Spanier starben, weil sie "unmäßig vom

palmito gegessen und zugleich Wasser ge­

trunken" hätten. Vergleicht man die krautartigen Fasern der jungen, noch

Kapitel XXIX

331

nicht entwickelten Palmblätter mit dem Sago der Mauritia, aus dem die in­ dianischen Guaratinos Brot, welches dem aus der Jatrophawurzel ähnlich ist, zubereiten, dann wird man unwillkürlich an die auffallende Analogie erinnert, welche die neuere Chemie zwischen den Holzfasern und demWur­ zelmark gefunden hat. Wir verweilten am Ufer, um Flechten, Opegraphen und viele Arten Schwämme (Boletus, Hydnum, Helvela, T helephora) zu pflücken, die am Rhizophora-Baum [Mangrove] hingen und zu meiner großen Verwunderung dort gediehen, obgleich das Salzwasser sie bespülte. Die Nacht überraschte uns; und da wir das Mißgeschick hatten, bei der Rückfahrt zu unserem Schiff in einem kleinen Kanu ein Ruder zu zerbre­ chen, gelang es nur mit Mühe, uns auf einem starkwogenden Meer wieder einzuschiffen.



Bevor wir diese Küste verlassen, die so selten von Reisenden besucht wird und noch in keinem neuerenWerk beschrieben ist, will ich hier einige wäh­ rend meines Aufenthalts in Cartagena erhaltene Notizen zusammenstellen. Der Rfo Sinti nähert sich in seinem Oberlauf den Zuflüssen des Atrato, der von derselben Wichtigkeit für die gold- und platinreiche Provinz Choco ist, wie es der Magdalenenstrom für Cundinamarca oder der Rio Cauca für die Provinzen Antioquia und Popayan sind. Die drei großen eben genannten Flüsse bilden bis jetzt die einzigen Handelswege, man kann fast sagen, die einzigen Verkehrsmittel für die Einwohner. In einer Entfernung von 12

Iieues von der Mündung des Rfo Atrato nimmt dieser östlich den Rfo Sucio auf, an dessen Ufer das indianische Dorf San Antonio liegt; fährt man ihn aufwärts über den Rfo Pabarando hinaus, gelangt man in das Tal des Rio Sinti. Nach mehreren fruchtlosen, vom kriegerischen Geist des Erzbischofs G6ngora diktierten Versuchen, Kolonien in Nord-Darien und auf der östli­ chen Küste des Golfs von Uraba anzulegen, riet der Vizekönig Espeleta dem Hof, seine ganze Aufmerksamkeit auf den Rfo Sinti zu wenden, die Kolonie auf Cayman zu zerstören, die Kolonisten im spanischen Dorf San Bernardo del Viento, in der Gerichtsbarkeit von Lorica, zu sammeln und von diesem Posten, welcher der westlichste ist, die friedlichen Eroberungen des Ak­ kerbaus und der Zivilisation gegen die Ufer des Pabarando, Rfo Sucio und Atrato auszudehnen. Die Anzahl der unabhängigen Indianer, welche die Landstriche zwischen Uraba, Rfo Atrato, Rfo Sucio und Rfo Sinti be­ wohnen, betrug nach einer Zählung

(padr6n)

im Jahre 1760 weniger als

1800, die in drei kleinen Dörfern (Suraba, Toanequi und Jaraguai) verteilt waren. Zur Zeit meiner Reise rechnete man diese Bevölkerung zu 3000 Ein­ wohnern. Diese Eingeborenen, in der allgemeinen Benennung Caymanes, leben in Frieden mit den Bewohnern von San Bernardo del Viento (pueblo de Espafioles), das auf dem westlichen Ufer des Rfo Sinti tiefer als San Ni­ colas de Cispata und nahe an der Mündung des Flusses liegt. Sie haben nicht dieWildheit der Indianer von Darien und Cunas, die auf dem linken Ufer

Kapitel XXIX

332

desAtrato wohnen und oft die für den Handel der Stadt Quibd6 in Choco be­ stimmten Pirogen angreifen, ja selbst in den Monaten Juli und November Streifzüge in das Gebiet von Uraba machen, um die Früchte der Cacao­ Bäume einzusammeln, welche noch Überbleibsel der ehemaligen Anpflan­ zungen französischer Kolonisten sind. Der Cacao von Uraba ist vortrefflich, und die Indianer von Darien verhandeln ihn mit anderen Erzeugnissen zu­ weilen an die Bewohner des Rio Sinu, indem sie in das Tal dieses Flusses durch eines der in ihn fließenden Gewässer, den Jaraguai, gelangen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß amAnfang des 16.Jahrhunderts der Golf von Darien als eine kleine Bucht im Lande der Cariben angesehen wurde. Das Wort Caribana hat sich noch im Namen des östlichen Kaps dieser Bucht erhalten. Wir wissen nichts über die Sprachen der Indianer von Da­ rien, Cunas und Caymanes; auch nicht, ob sich caribische oder aruakische Wörter in ihrer Mundart wiederfinden; aber trotz Anghieras Zeugnis über die Stammverwandtschaft der Cariben der Kleinen Antillen und der In­ dianer von Uraba nennt sie Pedro de Cie�a, der so lange unter diesen letz­ teren lebte, niemals Cariben oder Kannibalen. Er beschreibt die Männer dieses Stamms als nackt, mit langen Haaren, die benachbarten Länder durchwandernd, um Handel zu treiben; die Frauen als reinlich, gut gekleidet und gekämmt und außerordentlich zuvorkommend

(amorosas

y

galanas).

"Ich habe in keinem der indianischen Länder, die ich besuchte", erzählt der

conquistador,

"schönere Frauen gesehen, nur haben sie den Fehler, zu

häufige Gespräche mit dem Teufel zu führen." Der Rfo Sinu ist durch seine Lage und Fruchtbarkeit von höchster Wichtig­ keit für die Versorgung der Festung Cartagena mit Lebensmitteln. In Kriegs­ zeiten stellen sich die feindlichen Schiffe gewöhnlich zwischen den Morro de Tigua und die Boca de Matunilla. Sie sind in dieser Stellung öfters den An­ griffen der Kanonierschaluppen von Cartagena ausgesetzt gewesen. Diese können den Kanal von Pasacaballos durchfahren, der bei Santa Ana die Insel Baru vom Kontinent trennt. Seit dem 16.Jahrhundert ist Lorica die be­ deutendste Stadt am Rfo Sinu geblieben; aber ihre Bevölkerung, die sich 1778 unter der Statthalterschaft des Don Juan Dfaz Pimienta auf 4000 Seelen belief, hat seitdem beträchtlich abgenommen, da nichts geschehen ist, die Stadt gegen die Überschwemmungen und die von ihnen erzeugten tödlichen Dünste zu schützen. Die einst so beträchtlichen Goldwäschen des Rfo Sinu, besonders zwi­ schen seinen Quellen und dem Dorf San Ger6nimo, haben beinahe gänzlich aufgehört, so wie die der Cienega de Tolu, Uraba und aller Flüsse, die dem Gebirgsstock von Abibe entströmen. "Darien und Zenu", sagt der Bacca­ laureus Enciso in seinem Anfang des 16.Jahrhunderts herausgegebenen >Precis de Geographie Relation HistoriqueCuba­ WerkCuba-WerkAnsichten der NaturKosmosRelation Historique< mit ihren drei umfangreichen Bänden in Groß­ Quart, ihren beiden Atlanten und den zugehörigen Textbüchern, einen be­ deutenden Platz ein. Wir müssen dabei hier und im folgenden das Reisewerk

372

Zu dieser Ausgabe

mit seinen

34 Bänden1

begrifflich vom Reisebericht unterscheiden, der ein

Kernstück dieses monumentalen Corpus Americanum ist. Gerade weil dieses Kapitel nur den Vorhof des Kommentars und keines­ falls dessen Quintessenz bilden kann, sei zunächst reisegeschichtlich für Klarheit gesorgt. Erst reisegeschichtliches Denken und die aus der Auseinandersetzung auch mit Humboldts Expedition hervorgehende Begründung einer Ge­ schichte der Reisen als Historie der für die Geographie bedeutsamen Ent­ deckungs- und Forschungsreisen2 hat die Kategorien und das Denkmodell entwickelt, welche diese Leistung beweisbar und - infolge des terminolo­ gisch gleichen Maßstabes- vergleichbar werden ließen. In einem bis dahin einmaligen Zusammenspiel von sechsjähriger Vorbe­ reitung auf das Reiseziel, fünfjähriger Ausführung und fast 30jähriger Aus­ wertung hat Humboldt den reisegeschichtlichen Dreiklang derart harmo­ nisch verwirklicht, daß sein Vorgehen von nun an vorbildlich wurde. So wird es verständlich, daß ein Franzose von ihm sagen konnte, er habe die Kunst des Reisens entdeckt3• Aus diesem von Humboldt bewußt und erstmals mit

vorher nie erreichter Systematik vollzogenen Dreischritt ergab sich der Maß­ stab, an dem jeder vorhergehende und folgende Forschungsreisende ge­ messen werden konnte. Schon Entdecker hatten sich mehr und mehr allge­ mein vorbereitet, ehe im 17. Jahrhundert drei große Reisende, Engelbert Kaempfer

(1651-1716), Johann Moritz v. Nassau-Siegen (1604-1679) und (1599-1691), das Übergangsstadium vom Entdeckungs- zum

Adam Olearius

Forschungsreisenden verkörperten. Erst die Epoche der Aufklärung ermög­ lichte die Gestalt des Forschungsreisenden, der noch Entdecker großen Stiles sein konnte: Carsten Niebuhr

(1733-1815),

James Cook

(1728-1779),

der größte unter den maritimen Entdeckern, und selbst noch Humboldt im wissenschaftlichen Rahmen waren Entdecker und Forschungsreisende, deren Erfolg sich auf erweisbare spezielle, d. h. auf das Ziel gerichtete wis1

1961 nannte der Herausgeber mehr als 34 Bände, da zur Amerika-Reise gehörige

Berichte auch in anderen Werken Humboldts, z. B. in den >Ansichten der NaturSyn­ opsis Plantarum< C. S. Kunths betont. Heute erscheint ihm die Angabe von 34 Bänden am sinnvollsten; s. Hanno Beck: Alexander von Humboldt, Bd. II, a. a. 0.,

s. 76 . 2

Hanno Beck: Moritz Wagner in der Geschichte der Geographie, Diss. Marburg

1951; ders.: Methoden und Aufgaben der Geschichte der Geographie. In: Erdkunde

8 (195 4) , S.51-57; ders.: Entdeckungsgeschichte und geographische Disziplinhi­ storie. In: Erdkunde 9 (1955 ) , S.197-204; ders.: Geographie und Reisen im 19 . Jahr­ hundert. Prolegomenen zu einer allgemeinen Geschichte der Reisen. In: Petermanns Geographische Mitteilungen (1957 ) , S. 1-14 u. a. 3

Siehe Anm. 2, 1951, S. 305 .

373

Zur Aufgabe

senschaftliehe Vorbereitung gründete. Ein Entdecker hatte Großes erreicht, wenn er ein Stück, womöglich ein besonders wichtiges Gebiet der Erd­ oberfläche zum ersten Mal für einen Kulturkreis wahrnahm: z. B. Columbus die Neue Welt, Vasco da Gama den Seeweg nach Indien. Auch Forschungsreisende wie Eduard Rüppell Livingstone

(1813-1873) galten als besonders

(1794-1884)

und David

erfolgreich, wenn ihnen noch

Entdeckungen im irdischen Raum gelangen. Allerdings wurde von ihnen nach Humboldts Vorbild nun mehr verlangt: wesentliche Beherrschung wissenschaftlicher Methoden zur Bestimmung der Längen und Breiten, Kenntnis der Höhenmessung und der Routen- und Kartenaufnahme, wis­ senschaftlich sichere Erkenntnisse zur Erschließung des bereisten Gebietes, ein gehaltvoller zusammenfassender Bericht, der auch der weiteren Erfor­ schung und Erschließung den Weg bahnen sollte. Wird von Entdeckungen im irdischen Raum gesprochen, so ist dabei der Bezug auf den Kulturkreis denknotwendig. Schließlich waren, von den eisbe­ deckten Polarkappen abgesehen, immer schon Menschen in den von Euro­ päern entdeckten Gebieten vorhanden. Man darf sie die dort Heimischen oder die Eingeborenen nennen, wenn bewußt ist, daß von anderen Kultur­ kreisen her gesehen selbstverständlich auch die Europäer Eingeborene waren und sind. Wir Europäer haben es hinzunehmen, daß wir in einer zukünftigen Geschichte der Reisen, in der andere Kulturen über erste Ansätze hinaus schildern, wie sie Europa und die Welt entdeckten, nicht anders bewertet werden als sie. Zum Unterschied von der unseren werden die anderen Kul­ turen, von der ostasiatischen bis zur indischen und afrikanischen, dabei sehr verschiedene Ergebnisse erzielen, allerdings auch auf die Tatsache stoßen, daß von Europa die entschieden größte Entdeckungsenergie ausging. Dabei haben merkwürdigerweise die von ihrer bisher größten gemein­ samen Kraftentfaltung in der Periode der großen und kleinen Entdeckungen im irdischen Raum so faszinierten Europäer die Geschichte der Selbstent­ deckung ihrer Kultur nie beschrieben4• Die Stufen des reisegeschichtlichen Dreiklangs sollten möglichst gleich­ mäßig ausgebildet sein. Doch hatte Ferdinand v. Riebthafen

(1833-1905)

gewiß recht, wenn er von der besonderen Wichtigkeit der Auswertung über­ zeugt war. Fehlt diese letzte Stufe, so muß sie rekonstruiert werden. Ist dieses unmöglich, so bleibt unter Umständen nur ein Schattenriß oder gar nur die Legende einer Leistung. Insofern ist es zu bedauern, daß Humboldt seinen amerikanischen Reisebe­ richt als Fragment überlieferte, wenn auch aufgrund seines sonstigen Werkes, seiner Briefe und seiner Tagebücher5 eine Rekonstruktion möglich ist. 4

Hanno Beck: Große Reisende a.a.0., S.l3 ( "Die Entdeckung Europas" ) .

5

Siehe hierzu: Alexander von Humboldt. Lateinamerika am Vorabend der Unab-

374

Zu dieser Ausgabe

Damit geht es im vorliegenden Band der Studienausgabe um eine keines­ wegs einfache Aufgabe: Wir haben den deutschen Lesern erstmals nach der

1832 abgeschlossenen

ersten und einzigen vollständigen Übertragung eine umfassende Überschau über Humboldts eigene fragmentarische Reisebeschreibung zu verschaffen, und zwar so weit, wie er selbst geschildert hat. Hatte er wiederum selbst schon Meßreihen und systematische Betrachtungen z. B. eines Problems der Breiten- und Längenbestimmung in besonderen Abschnitten zusammenge­ drängt, so waren ihm Kürzungen hier "ohne großen Nachteil" möglich er­ schienen. Insgesamt aber meint er, es ginge "um einen etwas abgekürzten Text"6 der >Relation HistoriqueEssai politique sur l'ile de

Zu dieser Ausgabe

378

Buch

lb)

Cuba< ( S. 345-458), siehe dazu Studienaus­ gabe Band III, S. 231 u. 233, XI: Kapitel XXIX ( S. 502-579); es folgen «Addi­ tions» mit vier großen statistischen Tabellen, die von S. 580-613 noch zum >Cuba-Werk< ge­ hören; die restlichen Seiten ( S. 615-629) bein­ halten Beobachtungen der magnetischen In­ klination und Intensität mit fünfMeßtabellen ( S. 615-627) und eine zusätzliche Note zur Beschreibung der kleinen Vulkane von Tur­ baco ( S. 627-629); Inhaltsverzeichnis ( S. 631632).

Dem französischen Original entsprechen zwei Neudrucke des Werkes: 1. (Brockhaus, Abt. Antiquarium) 3 Bände, Stuttgart 1970 Quellen und Forschung zur Geschichte der Geographie und der Reisen, hrsg. v. Hanno Beck, Nr. 8; zusätzlich mit einer Einleitung in deutscher ( S. V-XI) und französischer ( S. XIII-XX) Sprache sowie einem Index des Herausgebers ( S. 633-687). Das Format wurde zur Erleichterung der Benutzbarkeit ohne Beeinträchti­ gung des Lesers verkleinert: =

Format: 20,2 cm

X

27,0 cm

2. (T heatrum Orbis Terrarum u. Da Capo Press) Amsterdam u. New York ( 1970-1973) . Format: wie I a. Zur >Relation Historique< gehören zwei Atlanten mit ihren Textbänden. Der Textband des ersten Atlasses führt den Titel: I c)

Examen critique de l'histoire de la geographie du Nouveau Continent et des progres de l'astronomie nautique aux quinzieme et seizieme siecles. Analyse de l'Atlas geographique et physique, ( Librairie de Gide) Paris 1814(-1838], XVI u. 562 S.

Der Atlasband führt den Titel: Atlas geographique et physique des regions equinoxiales du Nouveau Continent, fonde sur des observations astronomiques, des mesures

Bisherige Ausgaben des Reiseberichtes trigonometriques et des nivellemens barometriques

379

(F. Schoell) Paris

1814[-1838], 39 Tafeln; Julius Löwenberg gibt 40 Tafeln an; in den vom Herausgeber benutzten Exemplaren bildet die Tafel 39 Löwen­ bergs lediglich die untere Hälfte derTafel 38; LöwenbergsTafel 40 ist Tafel 39; s. Carl Bruhns (Hrsg.): Alexander von Humboldt a. a. 0. II, S.506. Format: Groß-Folio wie Ic: siehe Id. Frontispiz: Abbildung >Humanitas. Litterae. FrugesRelation Historique< Das dreibändige originale Werk (Paris Wirklichkeit

1831

1814-1825), dessen letzter Band in

erschienen ist, wurde von Humboldt selbst als maßgebend

anerkannt. So hat er eindeutig festgestellt, die >Relation Historique< sei die "einzige ganz korrekte" Ausgabe, die einer Übersetzung zugrunde liegen müsse10• Der Neudruck des amerikanischen Reisewerkes nach dem Exemplar der >Koninklijke Bibliotheek< in Den Haag (a. a.

0.) sowie weitere Exemplare,

die der Herausgeber dieser Studienausgabe in verschiedenen Bibliotheken benutzte, schließen >Relation Historique< und die beidenAtlanten mit ihren Textbänden unter der Angabe >Premiere Partie< zu einem >Ersten Teil< des Reisewerkes zusammen. Diese Klammer ist wichtig und muß deutlich sein. Ist sie dem Leser bewußt, können wir sie im folgenden voraussetzen.

10

Im gleichen Zusammenhang schrieb Humboldt, die "kleine" ( Oktav- ) Ausgabe

sei nicht von ihm selbst korrigiert worden und fehlerhaft; nach einem Brief an einen leitenden Angestellten des Cotta-Verlages nach Kurt-R. Biermann: Miscellanea Humboldtiana, Berlin 1990, S. 62.

Zum Charakter der Ausgaben

381

b) Die beiden Atlanten der >Relation Historique< und ihre Textbände Zur >Relation Historique< gehören zwei Atlanten 11, die nach Humboldts Feststellung aus je einemText- und einem folgenden Atlas- oderTafelband bestehen, denen er charakteristischerweise verschiedene Namen gab. DerTextband des von Humboldt zuerst genannten Werkes heißt >Examen critiqueAtlas geographique et physique du Nouveau ContinentExamen critique< und ist nach dem Wort­ laut des Titelblattes die Analyse des >Atlas geographique et physique du Nouveau ContinentVues des Cordilleres et monu­ mens des peuples indigenes de l'AmeriqueAtlas pittoresqueRelation Historique< gehörenden Atlanten war gewiß nicht glücklich und erschwert bis heute vor allem jedem, der erstmals zu diesen Werken greift, das Verständnis. Sollte nicht die künftige internationale bi­ bliographische Konvention darauf Rücksicht nehmen? Auch in den Kata­ logen der Bibliotheken könnten folgende Angaben für die erwünschte Klar­ heit sorgen: [Erster Atlas der Relation Historique:] I. Textband: Examen critique

II. Kartenband: Atlas geographique et physique du Nouveau Continent [Zweiter Atlas der Relation Historique:] I. Textband: Vues des Cordilleres II. Kartenband: Atlas pittoresque 11

Sie waren auf dem Titelblatt kurz bezeichnet worden.

12

Kar! Bruhns (Hrsg.): Alexander von Humboldt a.a. 0. II, S.506.

Zu dieser Ausgabe

382

Eine solche Klarheit wären wir Humboldt und heutigen Lesern und Be­ nutzern seiner Werke schuldig, ohne daß damit etwas verfälscht würde. Das >Examen Critique< bietet in den vom Herausgeber herangezogenen Exemplaren zur Betonung der Zusammengehörigkeit mit einem Atlas zu­ sätzlich sogar dessen vollständiges Titelblatt, nämlich die Angaben «Atlas ge6graphique et physique ...>> , wie oben, und dazu den Hinweis: Paris 1814[-1838]; danach kommt das Titelblatt des >Examen critiqueRelation Historique< in 13 Bänden Die dreizehnbändige Oktav-Ausgabe (Paris 1816-1831) weist Ände­ rungen und Auslassungen auf, die zu denken geben (siehe dazu auch Band III der Studienausgabe, S.234-236). Das bestätigte auch die Konkordanz von >Relation Historique< und Oktav-Ausgabe, die zum Textvergleich herge­ stellt wurde. Es ist nun zu prüfen, ob die praktisch von der Humboldt-Forschung nie ausführlich diskutierte Oktav-Ausgabe der >Relation Historique< Grund­ lage unseres Textes sein könnte. Die Frage stellt sich ohnehin und im beson­ deren, weil dieses 13bändige Werk nach der Originalausgabe erschien und vielleicht trotz eines eindeutigen Urteils des Autors dennoch Verbesse­ rungen aufweisen könnte, die natürlich berücksichtigt werden müßten. Insgesamt erweist sich die Oktav-Ausgabe leider als eine literarische Chance, die sich nicht erfüllte. Gründe dieses Mißerfolges sind z.B. der vier­ fache Verlagswechsel, der geringe Einsatz der Verleger für das Werk und der breite Schatten, den augenscheinlich das Originalwerk auf die kleine Aus­ gabe warf. Merkwürdig ist bereits die alleinige Angabe des Haupttitels des Reise­ werkes und das Fehlen der doch charakteristischen speziellen Bezeichnung >Relation Historique< auf allen 13 Titelblättern. Ebenso wird nur ein Atlas angeführt, während der zweite unerwähnt blieb, da man ihn nicht brachte. Neben bescheidenen Verbesserungen von Additionen in Statistiken stören neue Fehler sehr: So fragt sich der Leser z.B., warum am Ende der «> der wichtige, abschließende Hinweis «Paris, au mois de fe­ vrier 1812>> entfiel (a.a. 0., I, S.61). Man entdeckt leicht Druckfehler, z.B. indigene statt richtig indigene im Originalwerk (I, S.439); ebenso Hauy statt Haüy (IV, S.141). Aus Details ist abzulesen, wie lässig hier oft gearbeitet wurde: So hat man in Band X (S.5) einen Seitenverweis im selben Band nicht gleich gefunden und ließ deshalb einfach stehen: «Voyez ci-apres,

Zum Charakter der Ausgaben

383

p ...», oder es wird S.49 einfach der Verweis auf eine Seite im wiederum selben Band weggelassen. Oft wurden bei Seitenverweisen zu Humboldt­ schen Werken römische Zahlen einfach in arabische umgewandelt, was den Benutzer fehlleiten mußte. Zu dieser leicht zu vermehrenden Liste von neuen Fehlern kommen Än­ derungen, die keineswegs Verbesserungen darstellen: So ist der gesamte >Essai geognostique< von Humboldt in >Relation HistoriqueEssai< nun nicht mehr als zusätzlicheMonographie herausgehoben ist. Die vom Herausgeber separat hergestellte Konkordanz und diese Andeu­ tungen beweisen, daß diese Oktav-Ausgabe nicht Grundlage unseres Textes sein konnte. Humboldt hatte durchaus recht, als er schrieb, die >Relation Historique< sei die "einzige ganz korrekte" Ausgabe, die einer Übersetzung zugrunde liegen müsse, wohingegen die "kleine" (Oktav-)Edition nicht von ihm selbst korrigiert und fehlerhaft sei13• Unsere Prüfung konnte es nur bestätigen.

d) Die einzige vollständige deutsche Übersetzung der >Relation Historique< Bisher waren sich selbst die, welche sich nie oder nur sehr selten über eine Sache einigen können, darüber einig, T herese Heyne -Forster-Huber, die Tochter des bekannten Göttinger Philologen Christian Gottlob Heyne

(1729-1812)

und in erster Ehe mit Humboldts "Lehrer und Freund" Georg

Forster verbunden, sei die einzige vollständige deutsche Übersetzung der >Relation Historique< zu verdanken, und zwar aufgrund eines eindeutigen Votums des Verlegers Georg v. Cotta d.J. Demgegenüber hat Frau Dr. Ulrike Leitner von der "Alexander-von­ Humboldt-Forschungsstelle" der "Kommission Alexander-von-Humboldt­ Forschung und Wissenschaftshistorische Studien" der Berlin-Brandenburgi­ schen Akademie der Wissenschaften während einer Reise imMärz 1995, die der Vervollständigung der Bibliographie A. v. Humboldts galt, vom Leiter des Cotta-Archivs, Herrn Dr. Bernhard Fischer (DLAMarbach), erfahren, daß von den sechs Teilen der vollständigen Übersetzung der zweite bis fünfte von Paulus Usteri

(1768-1831)

übersetzt wurde. Der erste und der sechste

Teil lassen sich noch nicht zuordnen. Auffällig, aber auch verständlich, ist der besonders fehlerhafte Anfang der Übersetzung. Der Herausgeber dieser Studienausgabe hat vor allem in 13

Siehe Anm. 10.

Zu dieser Ausgabe

384

der zweiten Hälfte des sechsten Teiles Hinweise auf einen anderen Trans­ kriptor gefunden; da T herese 1829, Usteri 1831 starb, spricht gewiß manches für die Mitarbeit des Sohnes Victor Aime Huber. Aus Briefausgaben ließ sich zunächst eine anfängliche Mitarbeit von Paulus Usteri entnehmen (s. Maria Fehling und Herbert Schiller: Briefe an Cotta. 3 Bände, Stuttgart und Berlin 1927, III, S.19-20; hierzu Hanno Beck: Alexander von Humboldt a. a. 0. II, S.270 mit Anm. 414). Nun ergeben sich allerdings aufgrund der Recherche Ulrike Leitners Fragen über Fragen, deren Beantwortung dem Recht auf Erstveröffentlichung der Dame vorbe­ halten sein muß. Nur soviel kann festgestellt werden: Humboldt hatte Usteri 1788 kennen­ gelernt, als der Schweizer nach Studien in Göttingen auf der Rückreise in seine Heimat auch bei Karl Ludwig Willdenow in Berlin (1765-1812) einge­ kehrt war (Jugendbriefe A. v. Humboldts a. a. 0., S. 72, 74). Seit 1789 hatte sich Humboldt mehrfach an der botanischen Zeitschrift des Schweizers beteiligt. Beide trafen sich nach Humboldts Rückkehr aus Amerika im Oktober 1804 in Paris wieder (Hanno Beck: Gespräche A. v. Humboldts a.a.O., S.29 f.). Ursprünglich Arzt, war Usteri seit 1797 Mitglied des Großen Rates in Zürich und wurde 1814 zum Staatsrat des Kantons Zürich gewählt. Bald müßte seine Übersetzungsarbeit begonnen haben. Hatte er wirklich die notwendige Zeit dafür finden können? Als Gelehrter, Staats­ mann und Schriftsteller gehörte er zu den bekanntesten Schweizern seiner Zeit. Wie kam es, daß er den größten Teil der >Relation Historique< über­ setzte? Die Übersetzung, die irgendwie auch mit Therese verknüpft ist, muß al­ lein schon deshalb beachtet werden, weil sie erstmals den gesamten Text

deutsch übertrug, eine Leistung, die bis heute niemand wiederholte. Darum sollte diese zeitgenössische Arbeit kritisch geprüft und herangezogen werden, wo es möglich ist. T herese Heyne -Forster-Huber,

"die erste deutsche Journalistin von

Format"14, war 1814 nach Stuttgart gezogen und war bis 1823 Redakteurin von Cottas >Morgenblatt für gebildete StändeRelation Historique< gleichzu­ ziehen, führten Hauff oder der Verlag folgendes aus: Trotz aller Kürzungen war man mit Humboldts Einteilung bis zum Kapitel XXII im Gleichklang geblieben. Das Kapitel XXIII dagegen enthielt nur einen Teil seines Textes, der Rest wurde zum Kapitel XXIV umfunktioniert. Ebenso gehört der Inhalt von Kapitel XXV in Wirklichkeit zum ursprüngli­ chen Kapitel XXIV, und Kapitel XXVI bringt noch Text des vorangehenden Kapitels. Das Kapitel XVII bringt die Sache auf den Punkt, denn es erreicht den richtigen Anschluß, indem es anfangs Text des vorangehenden Kapitels bringt und dennoch mit der Schilderung der Überfahrt nach Cuba die rich­ tige Kapitelfolge, eben XXVII, wagehalsig vollendet. Eine solche literarische Dehn- und Streckübung ist eine üble Praxis, weil sie dem Leser die Textverluste verbarg; damit schienen nur die Kapitel XXVIII und XXIX entfallen zu sein, aber selbst diesen Verlust hat kaum je­ mand bemerkt. Wenn auch die vollständige Übertragung keinesfalls die I deallösung war, so ist sie doch ebensowenig ohne Verdienst. Während das Titelblatt mit der verkehrten Schreibung des Namens "Bon­ plandt" statt Bonpland zweimal, 1815 und 1818, einen völlig unnötigen Fehler überlieferte, wurde der gleiche Bonpland auf allen sieben Titel­ blättern von 1815 bis 1832 in seltsamerVerkennung als Mitautor genannt, obgleich an Humboldts alleiniger Autorschaft nie der geringste Zweifel bestehen konnte und der Wortlaut keines einzigen der originalen Titel­ blätter einen Grund für einen solchen Fehler lieferte. Auch besteht kein Zweifel, daß der Verlag den einzigen verantwortlichen Autor kannte. Es gibt zu denken, daß diese verkehrte Angabe im Lauf des 17jährigen Er­ scheinens nicht korrigiert wurde. Nicht nur diese Tatsachen erweisen, wie wenig Humboldt sich für all dies interessiert hat, hätte er doch normaler-

Zum Charakter der Ausgaben

387

weise in 17 Jahren Gelegenheit zu einem korrigierenden Eingriff genug gehabt. Zur sprachlichen Eigenart der

Übertragung

siehe Band III der Studien­

ausgabe ( S.242 f.) . Die Kritik an Therese, die nun infolge Usteris Mitwirkung ohnehin be­ denklich wird, konnte leicht zur Gewohnheitsübung derer werden, die aus­ schließlich Georg Forster, ihrem ersten Mann, huldigten: Die Dame ließ sich leicht angreifen, da niemand sie verteidigte. Ein ausgesprochener Menschenkenner, Wilhelm v. Humboldt, hat An­ fang Oktober 1788Therese Heyne-Forster in Mainz aufgesucht und über sie in sein Tagebuch notiert: "Indes hat sie einen über alle Beschreibung lebhaften tätigen Geist. Sie denkt über alle Dinge nach, und sie ist die erste Frau, mit der es mir nie am Gegenstand des Gesprächs fehlte [ .. .] Sie hat ein starkes Gefühl ihrer in­ neren Kraft [ ...] ."Von Amalie Reichardt in Gotha sagte sie, sie sei "rein wie ein frisch gefallener Schnee, auf den keine Unebne einen Schatten wirft. Welch ein schönes Bild, sie spricht überhaupt sehr gut [. ..] . Ich hatte unend­ lich viel Freude bei diesem ganzen Gespräch. Es ist ein herrliches Weib. So unendlich viel Geist, so ausgebreitete Kenntnisse, die sich überall zeigen, nicht selbst zeigen ..." ( Wilhelm v. Humboldts Gesammelte Schriften, Band XIV, 3. Abt., Band I, Berlin 1916, S.41ff.) . Das Negative, das Humboldt nicht ausließ, kommt gegen das Gute nicht auf, und die vielen spitzen Pfeile, die allein Forster-Forscher nach ihr ab­ schossen, sind offensichtlich ihres Zieles viel zu sicher gewesen. Die zeitge­ nössische spätere Kritik, auch die Hauffs, schrieb keine gültige Grabschrift und fordert zu einer neuen Beurteilung dieser Frau förmlich heraus. So hat die vollständige

Ü bertragung

gewiß weder "die Form" noch "die wahrhaft

künstlerische Anordnung" von Humboldts Reisebericht zerstört, wie Hauff merkwürdigerweise meinte. Leider können wir ihn nicht mehr fragen, was er darunter eigentlich verstand.

e) Die verkürzte deutsche Teilübersetzung der >Relation Historique< Hermann Hauffs Alexander von Humboldt's Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents. In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff. Nach der Anordnung und unter Mitwirkung des Verfassers. Einzige von A. v. Humboldt anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache. [ 4 Bände vereinigt in 2 separaten Büchern] (J.G. Cotta) Stuttgart 18591860.

Zu dieser Ausgabe

388

Format: 13,1 cm X 21,6 cm. Das erste Buch enthält: Band

I: Stuttgart 1859, XIII S. u. S.1-403; Vorwort [A. v. Hum­ boldts]: S.III-V; Vorrede des Herausgebers: S. V I-XIII;

Band II: Stuttgart 1859, S.1-416. Das zweite Buch enthält: Band III: Stuttgart 1860, S.1-403; Band I V: Stuttgart 1860, S.1-444; Register: S.417-444. Hinten eingelegt: Karte zu Alexander von Humboldt's Reisen in die Aequinoctial-Gegenden des Neuen Conti­ nents. Bearbeitet und gezeichnet von Henry Lange (J.G. Cotta, Lith[ographisches]. Inst[itut]. von C. Mencke in Berlin) Leipzig 1860. Format: 53,3 cm x 37,5 cm. Diese 1859 und 1860 in zwei Bänden erschienene erste Auflage der teil­ weisen Übersetzung Hermann Hauffs (1800-1865) ist in Format und Typo­ graphie größer als die im folgenden gekennzeichneten Ausgaben. Wie die 13bändige französische Oktav-Edition verwendete auch die Ausgabe Her­ mann Hauffs den Haupttitel des amerikanischen Reisewerkes ohne Hin­ weis auf die gelöschte Bezeichnung >Relation HistoriqueMexico-WerkRelation HistoriqueRelation Historique< anvertraut hatte, nicht samt der >Einleitung< tilgen dürfen (S. 2f. der >RelationHistoriqueRelation Historique< (s. Teilband

1, S.6

und im vorlie­

genden BandS. 371) wenigstens sinngemäß an und rückte bereits den Begriff «physique du monde»

(

=

Physik der Erde) an sie heran. Allerdings zog er im

Kontext keine wissenschaftliche Konsequenz, was im übrigen sein gesamter Beitrag nur bestätigt. Unglücklicherweise zitierte er auch die Quelle nicht, während der Historiker Alfred Dove

(1844-1916)

den wichtigen französi­

schen Begriff, vermutlich erstmals, mit "Physik der Welt" übersetzte, wor­ unter er fälschlich die Welt als Universum und nicht die irdische Welt oder die Erde, wie Humboldt, verstand. Infolgedessen war für ihn die «idee d'une physique du monde»

(1796) die Konzeption der Kosmos-Idee45•

Da der Hi­

storiker Dove den Text Löwenbergs kannte, hat er hier zu unproblematisch geurteilt und gerade damit die Notwendigkeit wissenschaftshistorischer For­ schung verdeutlicht. Es ist mithin vor allem ein wissenschaftshistorischer Erkenntnismangel, der zu einem Leerlauf der Forschung führte.

Denn wo soll der Sinn einer hi­ storischen Recherche stecken, die nicht zu klarer Bezeichnung der Leistung Humboldts führte? gleichgesetzte Terminus Geognosie gehört zu den schwierigsten Bergriffen in Hum­ boldts Werk.Fast stets muß die Bedeutung erkundet werden, da das Wort seit 1793 oft auch soviel wie Physikalische Geographie beinhalten konnte; s. Studienausgabe Band IV, S.9 mitAnm. 3. 44

SieheAnm. 12, Bd.l, S.309f.

45

Siehe Anm. 12, Bd. II, S.356; augenscheinlich ist A. Dove damit auch der Ur­

heber der folgenreichen Gleichsetzung von physique du mondemit der Welt im Sinne des Universums.

411

Zur Verkennung von Humboldts Leistung

Da Humboldt von 1793 bis zu seinem Tod 1859 immer wieder sein An­ liegen mit dem Ausdruck Physikalische Geographie kennzeichnete und die anderen Begriffe mit der von ihm gemeinten synonymen Übereinstimmung sich nicht durchsetzten, folgten wir ihm in dieser Studienausgabe. Dennoch muß deutlich darauf hingewiesen werden, daß er immer wieder einmal auch auf die anderen Ausdrücke zurückgriff und gelegentlich auch von «physique du globe»

(

=

Physik der Erde) oder Physischer Erdkunde (

=

Physikalische

oder Physische Geographie) sprach. Damit läßt sich kurz und bündig feststellen, daß man bei gerechter Würdi­ gung des gesamten Kontextes Humboldts Leistung ohne Klärung des Be­ griffes Physikalische Geographie gar nicht verstehen kann. Diese Studien­ ausgabe wird in ihren Folgebänden immer wieder darauf eingehen müssen, obwohl schon in Band I Entscheidendes dazu gesagt wurde, das jetzt dort S.12ff. nachgelesen werden sollte. Ebenso wurde darauf hingewiesen, daß einige Wiederholungen dabei in Kauf genommen werden können, da jeder Band der Studienausgabe trotz ohnehin nötiger Verweise für sich verständ­ lich sein sollte.

Physikalische Geographie ist jedenfalls wie die von Humboldt zu ihr syn­ onym gesetzten Ausdrücke Theorie der Erde oder Physik der Erde nichts an­ deres als Allgemeine Geographie, die gemäß des seit der Renaissance überlie­ ferten Anordnungsschemas (im 20. Jahrhundert als länderkundliches Schema bezeichnet) aus einer Abfolge von geographischen Problembereichen46 (mo­ dern: Geofaktoren) besteht, deren Quintessenz Physikalische Geographie ist. Diese Problembereiche heißen: 1. Formenbeschreibung (Morphographie) oder Feststellung der Physischen Constitution der Erdoberfläche, hin und wieder schon mit Ansätzen zur genetischen Geomorphologie; 2. Klimato­ logie; 3. Hydrographie (Kunde von den Gewässern, den Flüssen und Seen des Festlandes und des Weltmeeres [Ozeanographie]); 4. Erdmagnetismus; 5. Geographie der Pflanzen; 6. Geographie der Tiere; 7. Geographische Be­ handlung des Menschen (modern ausgedrückt: Ansätze zur Verkehrs-, zur Wirtschafts-, Siedlungs- und Sozialgeographie). Allen diesen sieben Bereichen des Anordnungsschemas ist gemeinsam, daß die in ihnen behandelten Erscheinungen sub specie loci, d.h. unter dem Gesichtspunkt ihrer räumlichen Verhältnisse und ihren Einwirkungen auf­ einander geographisch gewürdigt werden im Hinblick auf den Menschen. Wird dieses selbe Anordnungsschema zur Darstellung eines Landes ver­ wendet, sprach Humboldt wie die Folgezeit von

Länderkunde. Wichtig ist,

daß Humboldt dieses Schema in der Länderkunde nie derart systematisch 46

Die beschreibenden Begriffe Anordnungsschema und Problembereiche hat der

Herausgeber in seinen Bonner Vorlesungen entwickelt, weil sie für alle Epochen seit der Antike gelten sollen.

412

Zu dieser Ausgabe

wie z.B. Büsehing das seine im 18. Jahrhundert und oft die Folgezeit bis zum heutigenTag anwandte, ja es bereits in seinen großen länderkundliehen Dar­ stellungen, dem >CubaMexicoRobinson der Jüngere< (Hamburg 1779) ergab die frühe Lektüre von >Paul et Virginie< (Paris 1788) Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierres (1737-1814) zweifelllose Hinweise auf reale tropische Eigen­ heiten. Humboldt hatte den Roman des Franzosen sogar nach Amerika mit­ genommen und ihn unterwegs mehrfach gelesen, wie übrigens auch Bon­ pland. e) Die Lektüre von Goethes >Werther< bedeutete eine neue Wahrneh­ mung der Natur, die selbst im Roman regelrecht zu einer Hauptfigur wurde. Ebenso mußte das Scheitern der bürgerlichen Existenz des Helden infolge seiner Nichtanerkennung in der feudalen Gesellschaft Humboldts aufkläre­ rische Gesamtansicht bestärken. f) 1793 begann Humboldts sechsjährige spezielle Reisevorbereitung auf die Tropen der Neuen Welt. Diese Präparation wurde vor der Familie und der jeweiligen Umwelt streng geheimgehalten, da er offensichtlich nicht mit der Billigung seines Reisewunsches durch seine Mutter und den Hofmeister Gottlob Johann Christian Kunth (1757-1829) rechnen konnte. Wichtig sind die Passagen, die uns näheren Einblick verschaffen, vor allem nachdem Hermann Hauff (1800-1865) sie einschließlich der gesamten "Einführung" des Reiseberichtes gestrichen hatte: Schon auf der ersten Seite des von Hauff gelöschten Textes findet sich ein sehr wichtiger Hinweis: "Seit langer Zeit hatte ich mich auf die Beobach­ tungen vorbereitet, die das Hauptziel meiner Reise in die heiße Zone waren" (s. Teilband 1, S. 5). Nur wenige Seiten weiter (S.21) sagte er noch klarer: "[...] hatte ich Muße [d.h. seit 1793], mich während sechs Jahren auf die Beobachtungen vorzubereiten, die ich in der Neuen Welt anstellen sollte [...] . " Offensichtlich haben auch diese Sätze den meisten die Zufallshypothese nicht aufgehoben. Streiten wir deshalb nicht, was sie semantisch hergeben. Könnte man andererseits einem Gelehrten verargen, wenn er in ihnen die klare Aussage über die spezielle Vorbereitung auf die später bereisten Tro­ penländer Südamerikas nicht fände? Humboldt hat nun selbst allerdings im ersten Band seiner >Relation histo­ rique< diese Zweifel beseitigt, als er die Tropen Amerikas unmißverständlich als alleiniges Zielgebiet seiner Wünsche bezeichnete:

416

Zu dieser Ausgabe

"Wir verließen Cumanas Ufer [18.11.1799], als hätten wir sie lange Zeit bewohnt. Es war das erste Land, das wir in einer Zone berührt hatten, auf die meine Wünsche seit meiner ersten Jugend gerichtet waren" (s. Teilband 1 dieser Ausgabe, S. 363). Da das portugiesische Brasilien nie von ihm genannt wurde, sind die ame­ rikanischen Tropen als Reiseziel bereits geographisch eindeutige Aussage: Dazu wies die heimliche Erlernung der spanischen Sprache zusätzlich auf die ohnehin nur gemeinten tropischen Länder Kolonialspaniens hin: Begin­ nend mit Mexico im Norden und der caribischen Inselwelt mit Cuba als größter Insel, umgrenzten sie bogenförmig das riesige Areal des portugiesi­ schen Brasiliens, von der Grenze Surinams angefangen über Venezuela, Co­ lumbien, Ecuador, Peru. Geht man nun von den Erwähnungen in den >Jugendbriefen< aus, so er­ kennt man schon vor Beginn der Reise (a. a. 0., S. 66lff.) die spätere At­ lantik-Route: Canarische Inseln mit gelegentlicher Erwähnung der (kurzen) Landung in Cumana sowie die erst später betretenen Länder Cuba und Me­ xico, vor allem aber eine Zone von Californien- Mexico- Panama- Neu­ Granada (Columbien)- Ecuador - Peru und Chile. Von Californien und Chile abgesehen, hat Humboldt damit Länder genannt, die er später auch betreten hat. Somit bezeugen auch die oben zuvor zitierten Passagen eine nun nicht mehr zu widerlegende Tatsache: Humboldt hat sich tatsächlich auf die Tropenzone Südamerikas, die er später bereiste, sechs Jahre speziell vorbe­ reitet.

Halten wir an dieser Stelle inne, um die zuletzt angeführte Passage noch­ mals zu bedenken: Als der große Forschungsreisende Cumana zur Weiterreise nach La Guaira verließ und feststellte, dies sei "das erste Land, das wir [Bonpland und Hum­ boldt] in einer Zone berührt hatten, auf die meine Wünsche seit meiner er­ sten Jugend gerichtet waren", hatte er damit selbst die spätere T hese, seine Expedition sei dem "Zufall" entsprungen, eindeutig widerlegt. Von nun an bestand keine Unklarheit mehr, welche Tropen er von Anfang an gemeint hatte. Merkwürdigerweise hat sich die Zufallshypothese über all dieses einfach hinweggesetzt, ja, man hat noch nicht einmal wahrgenommen, daß Hum­ boldt selbst zweimal von "Zufall" sprach: erstens als er 1799 in Cumana an Land ging (siehe M.Faak II, S.l77), um den an Bord aufgetretenen Krank­ heiten zu entfliehen; zweitens als er das eben erwähnte Ereignis einbezog und nach der Landung im Golf von Darien (vor Beginn der Andenreise) in beiden Fällen von einem "glücklichen Zufall" sprach (s. oben S.333 f.). Resultat: Diese erst während des Vollzuges der Forschungsreise aufgetre­ tenen "Zufälle" betreffen ausschließlich Änderungen der Route in Gebieten,

Spezielle Vorbereitung Humboldts auf die Tropen

417

die von der sechsjährigen Vorbereitung voll erfaßt waren. Sie widersprechen damit dem Gehalt der Zufallshypothese. Mit dieser Argumentationsebene könnten wir uns begnügen, wenn nicht dennoch die historische Pflicht zum Durchhalten der Fragestellung be­ stünde. Verhalten wir uns daher im Folgenden, als wenn der Beweis gar nicht erbracht worden wäre, und seien wir neugierig auf weitere Belege: g) DasJahr 1793 ist das entscheidendste in Humboldts Leben gewesen52, eine Tatsache, die sich auch hier erhärtet: 1793 begann nicht nur seine sechs­ jährige spezielle Reisevorbereitung, sondern auch die Publikation seiner grundlegenden Methodologie sowie die Formulierung wichtiger Forschungs­ programme, die weit über die Bedeutung seiner Publikationen bis 1799 hin­ ausgingen (s. Band I der Studienausgabe, S.12 f. u. S.10 f.). 1793 hatte sich sein Genius konstituiert. Erfolge und Anerkennung häuften sich unüber­ sehbar. Vermutlich begann auch ab 1793 die völlig geheimgehaltene Aneignung der spanischen Sprache. Ginge sie schon auf die Zeit des Studiums an der Handelsakademie Johann Georg Büschs (1728-1800) zurück (Mitte August 1790 bis April 1791), so wäre ihr Studium ab 1793 jedenfalls zielgerichtet in­ tensiviert worden. Dieses absolute Verschweigen seiner Bemühung um das Spanische ist ein bezeichnendes Indiz, gibt es doch auch in den >Jugend­ briefen< (a. a. 0.) keinen einzigen Hinweis. Andererseits schrieb Humboldt damals, er habe in Harnburg Dänisch und Schwedisch gelernt53• h) Wenn Humboldt sich seit 1793 speziell auf die Tropen der Neuen Welt vorbereitete, so muß gefragt werden, ob er sein totales Schweigen nicht doch einmal in seinen Jugendbriefen durchbrach: Hierzu gibt es ein wichtiges Schreiben an V ladimir Jufevic Sojmonov (1772-1825), seinen Freiherger Kommilitonen, ein Musterbeispiel seiner offen hervortretenden Geheimniskrämerei (vom 11.Juli 1793)54• Der russi­ sche Studienkollege hatte ihn nach Rußland eingeladen, doch Alexander dachte erst später an eine solche Unternehmung, machte Andeutungen, deckte sie wieder zu, um dann doch zu verraten: "Ich bereite mich unaufhör­ lich auf ein großes Ziel vor"55 - geschrieben imJahr 1793, in dem seine spe­ zielle Vorbereitung begann, wie schon gesagt wurde.

52 Hanno Beck: Wilhelm, Caroline und Alexander von Humboldt. Zur Erhellung einer Polarität. In: Die Dioskuren a.a.0., S.107ff.

53 Jugendbriefe Alexander von Humboldts (künftig nur noch als >Jugendbriefe
Journal du Voyage a l'EquateurRelation Historique< geglaubt, als er in Berlin das >Vorwort< seines >Ex­ amen critique< unterzeichnete, dem er Wichtiges anvertraute: Das umfangreiche Werk, das er über die Entdeckungsgeschichte der beiden Amerika und die fortschreitende Berichtigung der astronomischen Positionen vorbereitet habe, eben das >Examen critiqueExamen critiqueVorwortRelation HistoriqueGeographie der Pflanzen in den beiden Hemisphären, begleitet von einem Naturgemälde der ÄquinoktialregionenGeographie der Pflanzen< des Jahres 1807 sein sollte, die nur einem Teil des tropischen Amerika gegolten hatte. Jeder Autor sollte 6000 Franken, ein recht beachtliches Honorar, erhalten. Wäre dieser Band, der "den ganzen Erdball" umfassen sollte, wirklich in "vier bis fünf Lieferungen" in Groß­ Folio mit ca. 100Bogen und einem Atlas von 20bis 25Tafeln und dem verbes99 1oo 101

Siehe Anm. 96. Siehe Anm. 96, S. 65. Siehe den BriefRahel Varnhagens geb. Levin an ihren Mann Kar! August Varn­

hagen v. Ense, 29. 8. 1827: "Alexander Humboldt komisch. Unter anderen, er fürchte sich so vor seinen Vorlesungen, daß er sie übergern aufgäbe; 'man kann doch nicht!' Wenn er nachts aufwache, überfiele ihn ein

cauchemar [Alpdrücken ]

von Angst: er

würde gewiß nicht sprechen können! und in dem Stil bergströmte es silberhell hervor: und

le ton fait Ia musique";Rahe! Bibliothek. Rahe! Varnhagen.

Hrsg. v. Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert München 1983, S.124.

u. Rahe!

Gesammelte Werke.

E. Steiner. Bd. VI, 2. Hälfte,

Zu dieser Ausgabe

440

serten Naturgemälde-Profil erschienen 102, so wären die Schwierigkeiten noch größer geworden. Auch dieses Werk blieb auf der Strecke, doch wurde das der Öffentlichkeit kaum bewußt (s. dazu Band I der Studienausgabe, S. 255-264; S. 265-284; S. 321-328). Selbstverständlich hatte auch die Arbeit beider Autoren an diesem Werk Zeit und Kraft gekostet. Gibt es damit Gründe genug, die den Abschluß der>Relation Historique< verhinderten, so steckte eine wichtige Ursache im Problem dieses vierten Ban­ des selbst. Da Humboldt in den vorliegenden drei Bänden nur etwa ein Drittel seiner Route behandelt hatte, andererseits fest an eine abschließende Zusam­ menfassung seiner Reisen im Gebiet der heutigen Staaten Columbien, Ecua­ dor, Peru, Ecuador

(2. Aufenthalt), Mexico und Cuba (2. Aufenthalt) glaubte,

tat sich ein Formproblem auf, das sich vermutlich nicht lösen ließ. Im Gegen­ satz zu den vorliegenden drei Bänden hätte er die zuvor erwähnten, von ihm geliebten monographischen Einschübe zugunsten einer reinen und knappen Routendarstellung kürzen müssen, und ein Stilbruch hätte sich kaum ver­ meiden lassen. Das Mexico-Werk, das längst vorlag, konnte ihn entlasten, und er selbst hat eine solche Möglichkeit gesehen (s. Band IV der Studien­ ausgabe, S. 90). Damit war die Vollendung erleichtert, aber noch keines­ wegs gelöst. Dazu wuchs nach einer immer länger werdenden Zwischenzeit die Überzeugung, daß neuere Reisende wie der bewußt von ihm vorberei­ tete und ausgesandte Jean-Baptiste Boussingault sein Werk fortsetzen könnten, sowie eine deutlich steigende Unlust zum Abschluß, welcher die bis zu seinem Tod bejahte Pflicht zur Vollendung schließlich doch unterlag. Entscheidender war noch etwas anderes: Mit "der neuen Folge von Ideen", von der er im November 1833 im>Vorwort< seines>Examen critique< gesprochen hatte, war der verständliche Wunsch verbunden, seinem ameri­ kanischen Reisewerk ein Ende zu setzen, nachdem er ihm trotz zahlreicher retardierender Momente drei Jahrzehnte gedient hatte. Das Neue trat trotz eines zunächst nur schwer zu lösenden Widerstreites zwischen Physikali­ scher Geographie und Physischer Weltbeschreibung

1834 deutlich mit dem

Begriff Kosmos und der Formel "Himmel und Erde" hervor (s. den Kom­ mentar in Band VII der Studienausgabe). So blieb der vierte und letzte Band der>Relation Historique< unvollendet. Die "neue Folge von Ideen" erlaubte ihm seit

1834 die nötige Klarheit der >KosmosKosmosKosmos< als möglich erscheinen, weil die Methode der Physikalischen Geographie nach seiner eigenen Feststellung

( s.

>Kosmos
Kosmos< gedacht und noch nicht über astronomische Kenntnisse verfügt hatte.

9. Zur Erläuterung des amerikanischen Reiseberichtes

a) Voraussetzungen des amerikanischen Reiseberichtes Zur Kennzeichnung des Eigentlichen der >Relation Historique< seien zu­ nächst einige notwendige Fragen gestellt, deren Beantwortung selbst schon wesentliche Elemente einer Erläuterung des Werkes darstellen: Fragen wir zunächst: Warum hat Humboldt keinen allgemeinen kurzen Reisebericht vorgelegt, der auf j eden Fall einen großen literarischen Erfolg bedeuten konnte, vor allem wenn er bald erschienen wäre? Damit hätte er der Erwartungshaltung des europäischen Publikums ent­ sprochen, das noch über einJahrhundert später ( Robert Falcon Scott, Roald Amundsen, Sven Hedin, Wilhelm Filchner, Alfred Wegener) und darüber hinaus bis zu T hor Heyerdahl und Heinrich Harrer von Reiseliteratur faszi­ niert blieb. Genügt hätte ein einfacher Bericht, dem Reiseweg folgend. Nicht ge­ schadet hätten der Wirkung anekdotenhafte Züge. Doch dies alles lehnte Humboldt bewußt ab um einer wissenschaftlichen Darstellung willen. So er­ fahren wir z. B. nur am Rand, daß ein Zambo im Oktober 1799 die Rei­ senden überfiel und Bonpland verletzte ( Teilband 1, S. 343f. ) . Andererseits blendete Humboldt doch ausführlicher ein, wie ihn ein englisches Kriegs­ schiff aus der Hand eines Korsaren (aus Halifax) im August 1800 befreite. Alles sollte, alles konnte augenscheinlich gar nicht ausgelassen werden. Wie ist die gestellte Frage zu beantworten? Das Ziel eines wissenschaftlichen Reiseberichtes im Sinne aufklärerischer Physikalischer Geographie hat nicht nur die Form von Humboldts Darstel­ lung geprägt, sondern auch wesentlich den Verzicht auf ein allgemeines volkstümliches Werk mit verursacht. Daß noch andere Gründe mitgespro­ chen haben, ist gewiß. Nachdem ihm die Größe der Aufgabe und die lange Zeit der Beanspruchung deutlich geworden war, mußte es Abstriche geben. Mag das Nichterscheinen einer volkstümlichen Darstellung bedaue rt werden, so ist andererseits der Vorteil nicht zu verachten, daß Humboldt seine Kraft nun auf die >Relation Historique< konzentrieren konnte, die bei

442

Zu dieser Ausgabe

aller Wissenschaftlichkeit doch noch mehr allgemeine Züge, menschliche Regungen,

bezeichnende kleine Momentaufnahmen und auch breite

Schichten Interessierendes enthielt, als vielleicht nun angenommen werden könnte. Eine zweite Frage ist mit Humboldts französischer Diktion verbunden, die in der deutschen Literatur augenscheinlich nie als Problem gesehen wurde: Tatsächlich bedeutete die französisch geschriebene Reisedarstellung keine Einschränkung der Wirkung in der damaligen deutschen Bildungs­ welt. Auf die Dauer aber, und vor allem heute, erschwerte sie mehr und mehr Lesern den Zugang. Bedeutsamer als eine deutsche Meinung über Humboldts französischen Stil ist gewiß das Urteil einer Persönlichkeit, die Französisch als ihre Mutter­ sprache beherrscht. Der Herausgeber hat deshalb die führende italienische Humboldt-Forscherin, Frau Prof. Dr. Fabienne 0. Vallino ( Universität Vi­ terbo ) 103, die diese Bedingung erfüllt und Mitarbeiterin dieser Studienaus­ gabe ist, um eine Stellungnahme gebeten: "Selbst in den ersten französisch geschriebenen Werken, z. B. dem >Essai sur la geographie des plantes< ( Paris 1805), erscheint die Sprache Humboldts sehr korrekt. In seinen frühen Briefen gelang die linguistische Revision nicht völlig. Die große Masse der Briefe, die Humboldt in der Folge seinen großen französischen Freunden schrieb ( z. B. Gay-Lussac, um ein sehr be­ kanntes Beispiel anzuführen) , beweist: Er beherrschte die französische Sprache, kannte ihre Nuancen und handhabte sie mit einem Sinn für ihre philosophischen und harmonischen Möglichkeiten. Die Briefe sind sehr wichtig, da Humboldt aus dem Herzen sprechen konnte, ebenso aber auch die drei Bände der >Relation historiqueRelation historiqueTheorie der Erde
Beobachtungen und Wahrheiten nebst einigen Lehrsätzen, die einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit erhalten haben;

(Leipzig 1798). Infolgedessen sind wir hier, eingeschlossen noch die Anregungen Buf­ fons, dem Wurzelgrund grundlegender Ideen des j ungen Humboldt denkbar als Stoff zu einer künftigen Entwertung einer Theorie der Erde
Relation Historique< hat ergeben, daß Humboldt einer neuen Konzeption folgte, als er sein großes Werk mit einer Geographie der Pflanzen eröffnete. Daß er dennoch erfolgreich blieb, zeigt, daß für Humboldt keine Regel gilt. Selbst sein fragmentarischer Reisebericht hat schließlich seinen Ruhm nicht ge­ schmälert. Folgte Humboldt einem völlig neuen Konzept, so blieb damit der eigentliche Reisebericht selbstverständlich als große Aufgabe bestehen. Daß er auch dieses Problem löste, ist faszinierend und kann damit erklärt werden, daß selbst noch das Bruchstück vom Ganzen zeugte und daß das Vorhandene eben doch von genialer Qualität war, wie sie die bisherige Geo­ graphie in dieser Konzentration einfach noch nicht erreicht hatte. Ein Be­

(17791859), der in seinem riesigen, ebenfalls unvollendeten umfangreichsten Ein­

weis dafür ist Humboldts großer geographischer Kollege Carl Ritter

zelwerk der geographischen Weltliteratur wiederholt Humboldts Leistung bezeugte. Nicht zufällig, sondern bewußt eröffnete Humboldt sein Reisewerk mit seinem >Essai sur Ia geographie des plantesEssai sur la geographie des plantes< eröffnet (s. dort S.26). Diese Vor­ rangstellung ist gewiß berechtigt. Da der> Essai< andererseits in das bewußte Anordnungsschema eingefügt werden mußte, um endlich zu einer Ordnung und vertretbaren Gliederung zu kommen, hat ihn der Herausgeber dort er­ neut aufgeführt, wo er ohnehin erwähnt werden mußte. So wurden zwei Aspekte verwirklicht. Da die im Werk selbst genanntenAbteilungen keinen Sinn ergeben, ebensowenig wie eine weitere Aufstellung, die Alexandre (?) mit Humboldts Billigung publizierte110, darf man sagen, daß

Destouches

Humboldt augenscheinlich nicht viel Wert auf die sinnvolle Gliederung seines Reisewerkes legte. Dennoch sollte nicht nur aus Gründen der Zweck­ mäßigkeit ein bibliographischer Consensus erreicht werden. Im übrigen ist es leider auch Geographen entgangen, daß schon der erste Gliederungsver­ such des Herausgebers dieser Studienausgabe dem Humboldt wohlbe­ wußten geographischen Anordnungsschema folgte111, in das er auch an den einzig möglichen Stellen die speziellen Ergebnisse einordnete: Messungen (astronomische Ortsbestimmungen und Ermittlungen der "physischen Con­ stitution ") gehören demzufolge an die erste Stelle der sonst hier angeführten Morphographie. Die speziellen botanischen Werke werden dann vorange­ stellt, weil ihr Beobachtungsreservoir die Grundlage der imAnschluß aufge­ führten Geographie der Pflanzen bildet. Die wenigen tiergeographischen und die zoologischen und anatomischen Beobachtungen schließen sich an. Die folgende speziell geographische Sektion mit Reisebericht, Atlanten und Länderkunde beruht auf allen vorangehenden Werken und beschließt das Ganze. Eine weitere Frage ergibt sich aus Humboldts eindeutiger Bevorzugung der Landreise, von der er nur einmal abzuweichen schien. Man könnte nämlich aus den ersten Sätzen seiner >Einleitenden Vorbe­ merkungen über die geographische Verteilung der Pflanzen< (Paris 1817), die wir nach der erstmaligen deutschen Übersetzung Paulgünther Kautenbur­ gers (1928-1993), eines wichtigen Mitarbeiters der Studienausgabe, wieder­ gegeben haben (s. Studienausgabe Band I, S.167), zu einem Fehlschluß kommen. Im bezeichneten Text hat Humboldt jedenfalls zunächst bescheiden fest-

110

A[Iexandre]. D[estouches].: Necrologie. A. de Humboldt. In: Bulletin du

Bouquiniste 3 (1859), S. 314-318; hierzu Julius Löwenberg in Kar! Bruhns: Alexander von Humboldt a. a. 0., Bd. II, S. 499 u. S. 500-513; Löwenberg folgte der von ihm ab­ gelehnten Einteilung, weil sie schon 1870 von vielen Bibliotheken übernommen worden war. - Daß diese merkwürdige Bibliographie Humboldt selbst bekannt ge­ wesen ist, ohne daß man sagen könnte, er habe sie gebilligt, zeigte Kurt-R. Bier­ mann; s. Anm. 10, S. 62, Anm. 12. 111

Siehe Anm. 65, Bd. 2 (1961), S. 353-356.

Zur Erläuterung des Reiseberichtes

447

gestellt, daß er aufgrund seiner Reise mit Bonpland nicht geneigt sei zu glauben, "soviel Nutzen gewonnen zu haben wie auf den langen Seereisen, die auf Geheiß von Königen und auf Staatskosten zur Erforschung der Erd­ kugel unternommen worden sind". Demgegenüber beanspruchte er für sich, daß er in (bis dahin) zehnjähriger Arbeit seine ganze Kraft an die Aus­ wertung gesetzt habe. Und auf die Folie der zuvor geäußerten Bescheiden­ heit schrieb er nun mit berechtigtem Stolz, man müsse sich demgegenüber wundern, daß die Ergebnisse der pazifischen Reisen der Spanier, Franzosen und Briten "zum großen Nachteil der Wissenschaften nicht vor dem Ver­ gessen bewahrt worden sind", da Staatsführungen eher zur Ausstattung und Ausführung der Expeditionen beitrügen als "mit der gleichen Großzügigkeit zu den Kosten" der Drucklegung der Reiseschilderung oder insgesamt zur Auswertung. So "[scheint] unserJahrhundert nicht unbeträchtliches Wissen verloren zu haben" (Studienausgabe Band I, S. 168). Daß Humboldt die Stufe der Auswertung mit denkbar großer Opferbereitschaft ebenso gemei­ stert hat wie die Vorbereitung und Ausführung, ist unbestritten. Daß er für die Auswertung, als seine Mittel verbraucht waren, die vermutlich bis dahin größten Demütigungen seines Lebens auf sich nahm, haben wir bereits oben gesehen (s. in diesem Band, S.437f.). Er blieb auf allen drei Stufen dieses rei­

segeschichtlichen und notwendigen Dreiklangs der deutsche und europäische Privatmann, der aufgrund seiner Opferbereitschaft seinem Land einen völlig unerwarteten, aber nun nicht mehr zu bestreitenden friedlichen Ehrenplatz in der Geschichte der Reisen sicherte. Selbst seine Auswertung war den staat­ lichen Expeditionen überlegen und in ihrer physikalisch-geographischen Ziel­ setzung damals unübertroffen. Sogar die gewiß großartige Auswertung der wissenschaftlichen Begleitung der ägyptischen Expedition Napoleons war anderen Charakters und erreichte nie den Wert der vom Leitmotiv der Phy­ sikalischen Geographie Humboldts getragenen Konzeption. Kulturge­ schichtlich-ägyptologisch war sie dagegen unbestritten ebenfalls ein Muster, das volle und höchste Anerkennung verdient, und dabei ein Vorbild für die enzyklopädische Bemühung der französischen Aufklärung; allein ein Gip­ felpunkt geographischen Denkens war sie nicht. Stellte Humboldt damit in aller Bescheidenheit die Leistung der Auswer­ tung seiner Forschungsreise heraus, so scheint er andererseits, wie schon er­ wähnt, den langen Seereisen mächtiger Staaten doch einen Vorrang einzu­ räumen. Einem Leser, der dieses dem Text entnähme, unterliefe allerdings ein er­ heblicher Irrtum, denn Humboldt war zutiefst davon durchdrungen, daß ihm nur eine Landreise die besten Ergebnisse sichere, und damit hatte er zweifellos recht. Wiederholt hat er diesen Gedanken bezeugt und z. B. der englischen Schriftstellerio Helen Maria Williams (1762-1827), der Lebens­ gefährtin seines Pariser Verlegers John Hurford Stone (1765-1821), mitge-

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448

teilt, als diese seine >Relation Historique< übersetzte, sie solle in der Einlei­ tung dem vom Publikum so bewunderten James Cook mehr Platz einräumen, womit er nicht nur diplomatisch den englischen Lesern entgegenkommen wollte. Cook war nun einmal der größte maritime Entdecker überhaupt.112 Er sagte dann weiter: Der Schilderung von "Schiffsreisen ist eine gewisse Trockenheit eigen wegen der Notwendigkeit, in feststehenden Ausdrücken von der Navigation zu berichten. Wenig Zeit bleibt nur für die Küsten und ihre Bewohner. Reisen zu Lande hingegen bieten vom Anblick der Natur her ein beständiges Interesse dar und erlauben einen lebendigeren Stil. Man kann Exaktheit der Beobachtungen mit malerischer Beschreibung der Land­ schaft vereinen [...]. Fälschlich glaubt man, daß oft besuchte Gegenden be­ kannt seien. Ein scharfsinniger und vielseitiger Geist findet allenthalben neue Gesichtspunkte. Dies Werk [die>Relation Historique< ] handelt fast zur Gänze von Ländern, die nie zuvor von Reisenden mit wissenschaftlicher Bil­ dung beschrieben worden sind. Einige Botaniker haben die Küstengebiete durchstreift und nichts außer Pflanzen gesehen." Die französische Gradmes­ sungsexpedition von Pierre Bouguer und Charles de La Condamine

1743)

(1735-

habe fast nur gemessen. Auch seien diese Beschreibungen schon ein

Jahrhundert alt und zu einer Zeit verlaßt, als es die Geologie als Wissenschaft noch nicht gegeben habe. "Einige Reisende, von ihren geschäftlichen Ange­ legenheiten in Hafenstädte gerufen, haben eine Anzahl statistischer Daten geliefert. Es fehlte ein umfassendes Werk naturwissenschaftlicher Sicht und geschrieben auf eine Weise, die uns die Landschaften vorzuführen versteht. Herr H [umboldt] . hat in diesem Werk mehr als in irgend einem anderen, seine Weise, die Natur im Großen zu sehen, demonstriert.Was seine Art cha­ rakterisiert, ist, sich immer zu allgemeinen Ideen zu erheben, ohne die ein­ zelnen Fakten zu vernachlässigen, den Verstand und die Phantasie zugleich anzusprechen [...]."113 Da Helen Maria Williams die Aufgabe der Übersetzung der>Relation His­ torique< mit Fleiß und Geschick löste, können wir feststellen, ob sie Hum­ boldts Anregungen folgte. In einem eigens von ihr verfaßten "Vorwort" verflocht sie gewandt die Mitteilungen des deutschen Autors mit eigenen Gedanken, indem sie sofort auf Cook zu sprechen kam. War ihr doch als Britin deutlich, wie leicht dieser Name eine Brücke zum englischen Pu­ blikum schlüge. Deshalb unterstützte sie mit einem gewissen Mut Hum­ boldts geographisch berechtigte Vorliebe für Landreisen und begründete ar­ gumentativ, was englischen Lesern nicht selbstverständlich sein konnte. Dabei erblickte sie als aufklärerische Zeitzeugin den "besonderen Charme" 112

Dazu Dietmar Henze: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde

a.a.O., Bd. I, S.643-715; hier: S.643. 113

SieheAnm. 96, S.63f.

Zur Erläuterung des Reiseberichtes

449

von Cooks ruhmreicher Laufbahn in seiner Darstellung von "new systems of social organizations". Somit lieferte sie nicht nur das Urteil einer klugen Frau, sondern das ihrer Epoche. In Kenntnis des Humboldtschen Textes va­ riierte sie in seinem Sinn das Lob der Landreise und bot dabei eine eigene Leistung. In flüssigem Englisch lockte sie die Leser zur Lektüre und vermit­ telte ihnen Humboldts Überzeugung, das große Werk werde bald beendet sein. Mit der Erlaubnis seiner Regierung bleibe Herr v. Humboldt in Paris. Zur Übersetzung des Textes der >Vues des Cordilleres< und der >Relation Historique< sei sie durch die Sorgfalt Humboldts ermutigt worden, mit der er das meiste gelesen und viele ihrer Irrtümer korrigiert habe. Mit Würde und Geschick näherte sie sich dem englischen Publikum, dem sie nun schon lange ferngeblieben war114• Damit war Wesentliches gesagt und zugleich ein von Humboldt vielfach erörtertes T hema erneut dargelegt worden. Es gibt reisegeschichtlich keinen Grund zur W iderlegung dieser Gedanken des großen Forschungsreisenden, der sich als Privatmann den Einsatz seiner Kräfte sehr überlegen mußte und die Idee der Landreise sicher begründete. Daß dieser nie preisgegebene Gedanke keineswegs die immer noch einmal hervortretende Zufallsthese seines Reisezieles schwerlich begünstigt, sei hier erneut randlieh vermerkt. Hat T homas Nicolas Baudin

(1754-1803),

ein Seemann, dessen staatliche

Aufträge nur Schiffsreisen vorsahen, einen Humboldt wirklich jemals derart anziehen könen, wie es der große Geograph vordergründig selbst zu ver­ stehen gab? Bei all diesen Einsichten sollte ein wichtiger Aspekt nicht übersehen werden, daß nämlich Humboldt mit seiner physikalisch-geographischen Konzeption die zeitgenössische Geographie regelrecht übertrumpfte, aber auch überforderte. Sie eilte ihrer Zeit derart voraus, daß sie nicht mehr ver­ standen wurde. Obwohl die meisten Rezensenten lobten und meist nur leise nörgelten, sind erst wieder Friedrich Marthe

(1826-1875)

(1832-1893) und Oscar Pesehel

in einzelnen guten Ansätzen, die nicht durchdrangen, wie

später auch Lothar Döring (geb.

1905) Humboldt historisch begründet nahe­

gekommen, bis nach 1945 eine Humboldt-Renaissance Wirklichkeit wurde.

114

Personal Narrative ofTravels to the equinoctial regions ofthe New Continent,

during the years 1799-1804, by Alexander de Humboldt and Aime Bonpland; with maps, plans etc. Written in French by Alexander de Humboldt, and translated into English by Helen Maria Williams. 7 vols., London 1818-1829; hier: Bd. I, S. V-XII.

450

Zu dieser Ausgabe

b) Blick auf die Route und ihre Probleme

Nach den vorangehenden wesentlichen Klärungen wenden wir uns nun zur Erhellung des Reiseberichtes in großen Zügen der Route zu. Es geht hier zunächst um das grundlegende Problem, das im Vollzug derRoute zu­ tage tritt. Etwas völlig Neues und den Zeitgenossen Unbekanntes hat Hum­ boldt nämlich verwirklicht, indem er erstmals in der Geschichte der Reisen eine der Route folgende Darstellung seiner aufklärerischen Physikalischen Geographie unterwarf und sie damit zu einem Lehrstück (physikalisch-)geo­ graphischen Denkens werden ließ. Infolgedessen hat der Leser erneut ernst

zu nehmen, was Humboldt selbst sagte (s. Teilband 1, S. 6 und das Motto dieses Kommentars). Denn die gleiche Idee, der er bereits während der Vor­ bereitung und der Ausführung der Forschungsreise selbst von 1793 bis 1804 folgte, unterstellte er auch der Auswertung in seinemReisebericht. Demzu­ folge kam es für ihn nicht so sehr auf neu entdeckte Gebiete, Tiere und an­ dere Phänomene an, sondern auf Zusammenhänge der schon bekannten Einzelerscheinungen untereinander, und wie folgenreich dieser Gedanke ist, wird von Anfang an klar. Humboldt verließ Paris am 20. Oktober 1798 und begann während der An­ reise nach Spanien mit Messungen und Untersuchungen, die sich in ihrer In­ tensität in den folgenden Monaten steigerten. Erstmals profilierte er damals (1799) ein europäisches Land. Wenn sich dieses bedeutsame Profil schließ­ lich ausgerechnet in seinem >Atlas geographique et physique du Nouveau Continent< abgebildet fand, so sah mancher spätere Geograph darin eine an ihrem Ort im amerikanischen Reisewerk unpassende reine Verlegenheits­ lösung (s. unten S. 465 f.). In Wirklichkeit hatte Humboldt schon auf der An­ reise neugierig die Beobachtung möglicher Zusammenhänge aufgenommen. Solange man über Zusammenhänge dieser Art wenig wußte, so lange durften sie allgemein gesucht und erwartet werden. Deshalb hat seine ameri­ kanischeReise nicht mit dem Aufbruch am 5. Juni 1799 in La Corufia, son­ dern schon 1793 begonnen mit ihrer Vorbereitung, weil nämlich in seinem Sinn alles, auch seine frühen Unternehmungen und Kommissionen als Berg­ mann, besonders die erste kleine Forschungsreise in die Schweiz 1795, die Grundlage schaffen sollten für einen Vergleich mit der Neuen Welt. Solange man deren Struktur nur derart oberflächlich kannte wie bis 1799, war jede Beobachtung für die spätere Unternehmung wichtig genug, da sie ungeahnt folgenreich werden konnte. Deutlicher wird Humboldts Intention während der Überfahrt, als er sich als einer der Pioniere der Meereskunde imRahmen seines physikalisch-geo­ graphischen Wollens erwies, sich an den Strömungen orientierte und in ihnen die Verbindungswege erkannte (s. Teilband 1, S. 40ff. ), die Alte und Neue Welt miteinander verknüpften. Der heutige Leser braucht nur an die

Zur Erläuterung des Reiseberichtes

451

Atlantik-Fahrten RA I (1969) und RA II (1970) T hor Heyerdahls (geb. 1914) zu denken, an seine "Transportbänder", die Humboldts Gedanken für viele auch gleichsam optisch bestätigten, um die Konsequenz dieser Beobach­ tungen zu würdigen. Seinen ersten vollen Instrumenteneinsatz auf der Anreise hat Humboldt während der wenigen Tage seines Aufenthaltes in Teneriffa (19.-25. Juni 1799) durchgespielt und folgerichtig und erstaunlich umfangreich reflektiert (s. Teilband 1, S. 69 ff.). Ein Leser könnte wiederum urteilen, geographisch gehöre die canarische Inselwelt noch zum subtropischen Winterregengebiet des europäischen Mediterraneuro und verdiene deshalb gar keine Berück­ sichtigung derart umfangreicher Art in einem doch den amerikanischen Tropen gewidmeten Unternehmen. Deshalb könnte eine Streichung dieser Schilderung leichtfallen; doch ist bei Humboldt alles miteinander verbunden. Auch historisch waren die Canarischen Inseln der Vorhof und die Vorschule Spaniens auf dem Weg zur Neuen Welt und ihrer Entdeckung. Die canari­ sche Station wies auf Amerika, bereitete darauf vor und war oft noch später wichtig wegen ihres Vulkanismus und ebenso wegen der Einwohner, der "is­ leiios", die Humboldt immer wieder in Ländern der Neuen Welt als Siedler antraf. Alles diente ebenfalls der erwähnten Suche nach Zusammenhängen. Daß Humboldt damit einen Weg beschritt, der geschichtlich erstmals vor allem in Andeutungen stoischer Philosophen der Antike möglich erschien, unterliegt keinem Zweifel. Das Stichwort lieferte wenige Jahre nach Hum­ boldts Tod, 1866, Ernst Haeckel (1834-1919) mit dem Begriff "Ökologie", der erstmals in der Geschichte des geographischen Denkens häufiger und folgenreich auf der Schwelle vom 19. zum 20.Jahrhundert in der amerikani­ " schen Geographie ("ecology ) verwendet wurde. Wissenschaftstheoretisch ist eindeutig, daß alle die, welche sich seit der Antike auf diesen äußerst schwierigen Weg begaben, mehr oder weniger von der Überzeugung durch­ drungen waren, auch den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Eben dieser Überzeugung, bei voller Einsicht in den Grad der Schwierigkeit des Beweises, war Humboldt, der zu den Pionieren des ökologischen, d. h. des nach Zusammenhängen suchenden Denkens gehört. Deshalb ist das zweite Problem die Darlegung weiterer Schritte zur An­ bahnung solcher Problemlösungen im Vollzug der Tropenreise Humboldts. Angesichts der Verflechtung der Erscheinungen war er zutiefst davon über­ zeugt, "nichts" sei isoliert (s. Teilband 2, S. 91). Der Leser, der den Bericht Humboldts gleichsam mit dem Zeigefinger unter den Zeilen liest, wird immer wieder auf die "Methode" des großen Forschungsreisenden und Geo­ graphen stoßen. Es werden nämlich zunächst Fakten gesammelt, um dann Folgerungen der oben beschriebenen Art aus ihnen zu ziehen (s. Teilband 2, S.23). Als Humboldt Cumami am 16. Juli 1799 betrat, bejubelte er mit Bonpland

452

Zu dieser Ausgabe

die Tropenwelt, die er seit frühester Jugend ersehnt hatte. Zufriedener und harmonischer als in diesem Augenblick und während der gesamten amerika­ nischen Forschungsreise war er bis dahin in seinem bisherigen Leben nie ge­ wesen. Seine >Jugendbriefe< (a. a.

0.) enthalten eine immer wieder neu be­

ginnende psycho-somatische Krankengeschichte, die belegen dürfte, wie die ungelösten Spannungen, wie Hoffnungen und Zweifel, wie die Probleme und die Unruhe seiner Seele Krankheiten erzeugten. Nun waren Sorgen und Beunruhigungen verschwunden, nachdem er, vielen Schwierigkeiten zum Trotz, sein Wunschland betreten konnte. Deshalb auch war Humboldt von einer eisernen Tropenfestigkeit, während der zunächst vielleicht robuster wirkende Bonpland zweimal in den Tropen mit dem Tod rang. Wie groß die Gefahren waren, erwies die Tatsache, daß ein begleitender Mulatte in An­ gostura de Orinoco (heute Ciudad Bolivar;

13.

Juni bis

10.

Juli

1800) starb,

während Bonpland zum Glück und fast wider Erwarten gesundete und Humboldt das

Übel eines gefährlichen Tropenfiebers leicht überwand. Ge­

sundheit und geistige Kraft erlaubten ihm während des gesamten Reisever­ laufs ein Höchstmaß an Konzentration und Arbeitsfähigkeit, welches allen, die später seinen Spuren folgten, oft rätselhaft erschien. Wie erfolgreich seine ökologische Spurensuche war, die mit seinen Worten zeitgenössisch als Suche nach Zusammenhängen bezeichnet werden müßte, zeigen einige seiner Beobachtungen. Sie sind doppelt wichtig, weil sie tat­ sächlich dem gesteckten Ziel näherkamen: So erwies er schließlich bei aller von heute her bewußten Lückenhaftig­ keit seiner geologischen Kenntnisse, daß Südamerika nicht grundsätzlich von Europa verschieden war11s. Nachdem er in der Umgebung Cumamis geforscht hatte und nach Süden zu den Indianermissionen und der Höhle des Guacharo-Vogels vorgestoßen war, reiste er von Cumana westwärts an der Küste entlang nach Ia Guaira und über Cumbre nach Caracas. Anfang Januar

·

1800 bestieg er mit der Silla (2638 m) ,

nahe Caracas, und

deren östlichem, höherem Gipfel das erste kalte Tropengebirge mit vorbild­ lichem Instrumenteneinsatz: Am Fuß des Gebirges las er das Magnetometer ab, mit der Höhe die Ab­ nahme von Temperatur und Luftdruck . Die Luftfeuchtigkeit maß er mit dem Fischbeinhygrometer, die elektrische Spannung mit dem Voltmeter, die Himmelsbläue mit dem Cyanometer. Bei

115

1950 m beobachtete er

den

Übergang von der Savanne in die Gebü-

D.l. Stscherbakow: Alexander von Humboldts Rolle bei der Entwicklung der

geologischen Wissenschaft. In: Alexander von Humboldt. Vorträge und Aufsätze an­ läßlich der 100. Wiederkehr seines Todestages am 6. Mai 1959. Hrsg. v. Johannes F. Geliert, Berlin 1960, S.ll-16; hier: S.12.

Zur Erläuterung des Reiseberichtes

453

sehe hartblättriger Ericaceen, der Familie der Alpenrosen, derT hibaudien, der Andromeden, der Vaccinien (Heidelbeerarten) und der Befarien, mit harzigen Blättern. Diese verglich er mit dem Rhododendron der europäi­ schen Alpen. Er meint dazu, wenn auch die Natur in ähnlichen Klimaten nicht dieselben Arten hervorbringe, so zeige doch die Vegetation derart weit entlegener Landstriche im ganzen Habitus die auffallendste Ähnlichkeit. Diese Erscheinung sei eine der merkwürdigsten in der Geschichte der orga­ nischen Bildungen. Im Augenblick, als er diese Gedanken niederschrieb, er­ schien ihm das Problem der Pflanzenwanderungen "unlösbar". Dennoch lasse uns diese Frage keine Ruhe. Im Vergleich stellte er darauf fest, daß der Befarien-Gürtel in den Anden von Bogota von etwa 3100 bis 3300 m reiche, während er 6 Breitengrade weiter nördlich, bei Caracas, schon bei 1950 m beginne und in Florida gefundene Befarien auf niedrigen Hügeln gediehen. Diese Tatsache wiederum verglich er mit dem Abstieg der Gattung Rhodo­ dendron von der Höhe der Alpen bis zum Meeresspiegel in Lappland. Die Höhenlage der Schneegrenze und der Baumgrenze sieht er thermisch verursacht. Auf den Gipfeln der Silla, die nur mit Gras und kleinen Beiarien­ sträuchern bewachsen sind, müßte die klimatische Baumgrenze eigentlich 800 m höher liegen. Carl Troll meinte hierzu: "Wir würden heute von lokal­ klimatischen und edaphischen Einflüssen sprechen, wenn von Humboldt etwa sagt: ,Große Bäume scheinen auf den beiden Felsgipfeln der Silla nur deshalb zu fehlen, weil der Boden zu dürr und der Seewind so heftig ist und die Oberfläche, wie auf allen Bergen unter denTropen, so oft abbrennt. '"116 Humboldt erwog die Heraushebung des Gebirges, nachdem er gerollte Quarzkiesel in der Gipfelregion gefunden hatte; diese sind indessen eis­ zeitlicher Herkunft.117 Zeitgenössisch konnte Humboldt nur zu diesem, da­ mals durchaus fortschrittlichen Befund kommen. Damit waren "Zusammen­ hänge", verursacht von der Heraushebung des Gebirges und der von der Höhe bedingten Zonierung (Carl Troll) des Pflanzenkleides, deutlich ge­ worden. Andere von den Skalen der Meßinstrumente abgelesene Verände­ rungen, z. B. des Magnetometers und Voltmeters, wurden lediglich notiert. Sie standen vorerst nur als Reservoir künftiger Erkenntnismöglichkeit be­ reit. 116

Carl Troll: Die tropischen Gebirge, Bonn 1959, S.12.

117

Volkmar Vareschi: Geschichtslose Ufer. Auf den Spuren Humboldts am Ori­

noko, München 1959, S.115; V. Vareschi empfahl Humboldt, er hätte besser den einige Kilometer östlicher liegenden Naiguata besteigen sollen, der ihm alles klarer zeigen konnte, z. B. in den obersten hundert Metern kleine Hanggletscher, denen das "Geschiebe" zu verdanken sei. Indes wäre Humboldt damals eine solche Erkenntnis noch gar nicht möglich gewesen; hierzu Hanno Beck: Humboldt und die Eiszeit. In: Gesnerus (30) 1973, S.105-121 schaft, Nr.1.

=

Forschungsunternehmen der Humboldt-Gesell­

454

Zu dieser Ausgabe

Damit hatte Humboldt die moderne, dreidimensionale Hochgebirgsgeo­ graphie der Tropen begründet; weitere Leistungen unterbauten diesen er­ sten Ansatz während seiner Cordilleren-Reise durch die Paramo-Zone und beim Entwurf seines "Naturgemälde"-Profils für die Zone von 10° südlicher bis 10o nördlicher Breite ( s. Band I der Studienausgabe, S. 66ff., S. 305 ff.

mit der hinten eingelegten Profil-Tafel) .

Für den Charakter des Reiseberichtes ist allgemein wichtig, daß er nicht Schritt für Schritt vorgeht, wie es dem wirklichen Verlauf entspräche, sondern von Anfang an die vor- oder nachher erzielten Resultate vergleichsweise her­ anzieht oder anführt. So verglich Humboldt während der Schilderung der Silla-Sesteigung immer wieder mit viel später in den Cordilleren gewonnenen Beobachtungen und Messungen. Die >Relation historique< ist damit immer noch ein Reisebericht, aber auch ein ständig reflektierter Text seines physika­ lisch-geographischen Denkens. Humboldt lernte, was keineswegs als Fehler gewertet werden kann, auch Teile der Tropen des heutigen Venezuelas zur Regenzeit kennen. Wäre er in der Zeit ohne größere Wolkenbildungen gereist, etwa von Oktober bis März, hätte er gewiß die für die Untersuchung der Schwarz- und Weißwasser­ flüsse günstigeren Umstände angetroffen. In der Trockenzeit wäre das Wasser der Flüsse irrfolge des niedrigeren Wasserstandes unvermischt ge­ wesen, und die vielen Steinzeichnungen

( Petroglyphen) ,

"Lamaköpfe,

Condor-Darstellungen, Sonnenkalender, Strahlensonnen von Peru und Stu­ fenpyramiden"118, wären hervorgetreten! Sie bezeugen frühere Spuren und Einflüsse der Irrca-Kultur der Anden, wie der beste Kenner des Casiquiare, Dr. Kurt Max Stern, überzeugend dargelegt hat. Dann wären auch bessere Längenbestimmungen, außer einer einzigen zufälligen, möglich gewesen. Der Hochwasserstand von 123 m liegt beim Einfluß des Casiquiare in den Guainia genannten oberen Rio Negro mit 9 m über dem niedrigsten Wasser­ stand von 114m, so daß die Flüsse in der Regenzeit einem völlig anderen hy­ drographischen Regime unterliegen. Selbstverständlich ist diese Meinung Dr. Kurt Max Sterns richtig. Doch auch Humboldt wußte aufgrund seiner Vorbereitung natürlich von den hy­ grischen Jahreszeiten ( Carl Troll) der Tropen und der zeitlichen Verteilung der Regen- und Trockenzeit. Aus seinem Reisebericht ergibt sich, daß er später z. B. einmal einer Regenzeit auswich. Nichts spricht indessen gegen die Annahme, daß er sie einmal bewußt erleben wollte, wobei sich die Ge­ legenheit gewiß zufällig ergab, da er nicht die Abfahrt in La Corufia vor­ herbestimmen konnte. Sie war dem Zufall und der englischen Blockade überlassen geblieben. Der Geograph Otto Maull hat mit Recht darauf hinge118

Kurt Max Stern: Der Casiquiare-Kanal, einst und jetzt. In: Amazonia II (Kiel

1970), S.401-416; hier: S.403.

Zur Erläuterung des Reiseberichtes

455

wiesen, daß selbst in unseren Breiten von Regenfällen, Gewittern und Wol­ kenbrüchen meßbare Veränderungen in der Natur ausgehen, auf die geogra­ phische Exkursionen wenig Rücksicht nähmen119• Deshalb ist es richtiger, in Humboldts und Bonplands Plan auch eine Lernsituation zu erkennen. Die Spanier hatten schon früh die Namen der ihnen als Europäern ver­ trauten Bezeichnungen thermischer Klimate auf die Tropen übertragen. So nannten sie die Trockenzeit "verano" (Sommer), die Regenzeit "invierno" (Winter). Humboldt war das wohlbewußt. Dagegen geht ein solches Ver­ ständnis heutigen Europäern oft regelrecht ab. In den Llanos schilderte Humboldt Regionen, die wir heute als Feucht­ savannen und randtropische Zonen extensiver Rumpfflächenbildung be­ zeichnen120, während er schon richtig in den Tropischen Regenwäldern das Maximum der Lebensfülle erkannte. An einzelnen Beispielen, z. B. dem kleinen Umkreis einer Mauritia­ Palme, verwirklichte er überzeugend erste Ansätze ökologischen Denkens (s. Teilband 2, S.136f.): Im Juli 1800 hatte Humboldt in der Cariben-Mission von Cari auf dem Rückweg von Angostura de Orinoco (heute Ciudad Bolivar) den Boden der Llanos weniger von Trockenheit aufgerissen gefunden. Einige Güsse hatten die Pflanzenwelt belebt, und so bildeten kleine Grasarten einen dichten Rasen. Eine Mauritia-Palme zeigte stets einen feuchteren Standort an. Als er sich mit Bonpland den Stämmen näherte, sahen sie "mit Überraschung, wie viele Dinge an das Dasein eines einzigen Gewächses geknüpft sind". Der Wind häufte Sand um die Stämme. Früchte und frisches Grün lockten von weither Vögel an. Im Windschatten der Stämme fanden sie feuchten Boden. In ihm fühlten sich Insekten wohl, während sie sonst in den Llanos selten waren. So konnte ein einziger Baum Leben um sich verbreiten. Wie schon angesichts des Kuhbaums, hätte er auch hier sagen können: "Nichts erscheint isoliert[. . . ]. Ein gemeinsames Band umschlingt die gesamte orga­ nische Natur" (siehe Teilband 2, S. 91). Humboldt und Bonpland bewunderten den Paninuß-Baum, der von ihnen Bertholletia excelsa genannt wurde (s. in diesem Band, S. 96ff.). Zwischen­ durch widmete er einem Indianerstamm ein "Naturgemälde" (s. Teilband 1, S.306ff.) und mischte hier wie in der Schilderung des Schicksals eines nackten Mädchens jene auf Menschenrechte bedachte Humanität ein, die den Stempel der Aufklärung trug (s. Teilband 2, S.156f.). Selbst inmitten vorherrschender Natur, wo der Mensch vereinzelter auftritt, kommen ihm dennoch dieselben Rechte zu wie einem Bürger von Paris oder Berlin. 119

Otto Maull: Geomorphologie, Wien 1958.

120

Julius Büdel: Klima-Geomorphologie, Berlin und Stuttgart 1977, Karte der

klima-morphologischen Zonen der Gegenwart im Innendeckel u. S. 92ff.

Zu dieser Ausgabe

456

Bedeutsam sind Humboldts Feststellungen zum bis heute faszinierenden Problem der Schwarz- und Weißwasserflüsse121, das er in seinem Bericht richtig beschrieb; zu bedenken ist, daß er zur Regenzeit reiste! Grundlegend war zunächst das Erlebnis der Unmengen von Insekten, die er mit ihren zahlreichen dortigen Bezeichnungen anführt, den Wolken von stechenden Quälgeistern, die ihrer Art nach zu verschiedenen Zeiten auf­ traten und menschliches Leben fast unterdrückten. Seltsamerweise fand er sie im Gebiet der Weißwasserflüsse konzentriert, während die Schwarzwas­ serflüsse von ihnen freier waren. Im Chemismus dieser aguas negras vermu­ tete er die Ursache des grundlegenden Unterschiedes. In seinen anschaulichen Schilderungen hat Dr. Kurt Max Stern seit 1939, und nach ihm amerikanische Expeditionen, denen er angehörte, und haben Forscher wie Harald Sioli (geb. 1910) das Schwarzwasser als insektizid bezeich­ net. Aguas negras kommen aus den Ebenen, aus den "morichales", aus mit Mauritia-Palmen und anderen Bäumen bestandenen Pfannen und Sümpfen. Blätter und Rinden dieser Bäume werden mazeriert. Das teebraune Wasser schmeckt sauer und angenehm. Die Weißwasser kommen aus den Gebirgen, deren Nitritus sie gelblich-weiß-trübe färbt. Sie sind geradezu unwahrschein­ lich tierreich (Piranhas, Stachelrochen, Fische, Schlangen, Krokodile) im Ge­ gensatz zu den aguas negras. Ihre Ufer sind fruchtbar, aber von der Insekten­ plage beherrscht, die man mit DDT bekämpfte. Die Ufer der Schwarzwasser­ flüsse sind dagegen unfruchtbar, dabei ohne Insektenplage. Ihr Wasser enthält so gut wie keinen Sauerstoff und reagiert stark sauer (ph-Werte von 5 und einmal sogar 3, 7 wurden gemessen). Ihr hoher Säuregehalt (vor allem Humin­ säuren) verhindert die Entwicklung von Mückenlarven. Ton-, Kaolin- und Quarz-Bleichsandböden der flachen Entstehungszone, in denen Laub und Rinde der Flora modert, fermentiert und ausgelaugt wird, tragen zur Entste­ hung der Huminsäuren, der Saponine und Flavone beF22. Auf Humboldts Beobachtungen zur Pflanzensukzession auf den "Bancos" der Llanos haben wir schon in Band I der Studienausgabe (S. 37-39 u. S.293 f.) hingewiesen. Die Apure- und Orinocofahrt, die Portagen, der Besuch von San Carlos und die Rückfahrt durch die natürliche Verbindung zwischen Rio Negro und Orinoco, den Casiquiare, führten schließlich von einem Schwarzwasserfluß, dem Rio Negro, zu einem Mischwasserfluß, eben dem Casiquiare, den Hum­ boldt nun stromaufwärts befahren wollte.

121

Kurt Max Stern: Über "Weiß-Wasser" und "Schwarz-Wasser" in den Tropen.

In: Ars Medica 56 (1966), S. 395-409. 122

Siehe Anm. 121, S. 403-405, S. 396-403. Hanno Beck: Alexander von Hum­

boldts amerikanischeReise a. a. 0., S.165, mit mehreren Originalzeichnungen Kurt Max Sterns.

457

Zur Erläuterung des Reiseberichtes

Da er von Mai bis Juni

1800,

also in der Regenzeit reiste, bemerkte er

nicht die in derTrockenzeit (ca. Oktober bis März) störend den Verkehr un­ terbrechendeWasserscheide, die Dr. Kurt Max Stern noch bis ca.

1945 beob­

achten konnte. Infolgedessen sah er auch nicht die tiefer liegendenPetrogly­ phen, die frühe Kontakte der Inca-Kultur mit dieser Zone erweisen; dar­ über wurde schon oben berichtet. Da Humboldt im Gebiet des Einströmens des Orinoco-Wassers in den Casiquiare die astronomische Bestimmung der Bifurkation im Gradnetz der Erde gelang, wiederlegte er die Meinung von Stubengeographen, die vor allem aufgrund der Bassin-Theorie Philippe Buaches einen solchen natürlichen Kanal zwischen zwei Flußsystemen be­ stritten; gleichwohl hatte der Jesuit Manuel Roman die Bifurkation bereits

1744 erstmals befahren.

Nach 1798 hatte Jean Nicolas Buaehe de la Neuville

den Casiquiare als «monstruosite en geographie» bezeichnet. Trotz aller Konstruktionen dieses ausgezeichneten französischen Geographen darf nicht übersehen werden, daß sie eben doch vorhanden war und in derTrok­ kenzeit den Flußlauf bis zu zweiKilometern unterbrechen konnte, wieKurt Max Stern beobachtete. Die von ihm geschilderte Zerstörung der Scheide ist inzwischen weiter fortgeschritten. Ebenso hat sich der Ausfluß des Ori­ noco in den Casiquiare inzwischen beträchtlich vergrößert, so daß dieser dem Oberlauf des großen Tropenstromes immer mehr Wasser entzieht123• Die Alexander von Humboldt-Gedächtnis-Expedition hat

1958

(Volkmar

Vareschi, Karl Mägdefrau) Humboldts Meinung von einer "Wasserscheide im Flußbett" bestätigt124. Während seines Aufenthaltes in Esmeralda (Mai 1800) erlebte Humboldt dieZubereitung des Curare-Pfeilgiftes und pflegte auf einer Hacienda in der Nähe Angosturas (heute Ciudad Bolivar) seinen todkranken Freund Aime Bonpland. Auf der Rückreise durchquerten sie die Llanos bis Nueva Barce­ lona (10. bis 23 . Juli 1800), von wo sie mit einem Schiff derKüste folgten und wieder Cumami erreichten

(27. August 1800).

Wie sehr Humboldt der zeitgenössischen Konzeption, vor allem der vor­ herrschenden Geographie Anton Friedrich Büschings

(1724-1793),

über­

legen war, erweist sein großzügiger Entwurf einer Gliederung des heutigen Venezuela: Zunächst bemerkte er die kultivierte Litoralzone nahe den Küstenge­ birgen; ihr folgt nach Süden die Zone der Savannen (Llanos) und schließ­ lich, jenseits des Orinocos, dieZone derWälder. Auf "Zusammenhänge" be­ KosmosRelation Historique< und ihrer Textbände

Trotz des Neudruckes des >Mexico-Atlas< (Stuttgart

1970) und des New York 1970-73) sind

1969),

der >Relation

Historique< (Stuttgart

amerikanischen Reisewerkes (Am­

sterdam und

die Atlanten Humboldts selbst den

meisten Geographen unbekannt geblieben. Deshalb ist eine Vermittlung ihres Inhaltes durchaus noch immer notwendig, obgleich doch schon die Bi­ bliographie Julius Löwenbergs (1800-1893) 1870 wenigstens ihre Tafeln auf­ geführt hatte127, soweit sie zum amerikanischen Reisewerk gehörten. Nicht kommt es hier auf eine Auseinandersetzung mit den Erscheinungs­ jahren an; auch den genannten Neudrucken ging es natürlich um das größere Motiv derTextvermittlung, deren Sinn sich nicht ändert, wenn in absehbarer Zeit die neue Bibliographie der Schriften Humboldts vorliegen wird. Sie wird der Alexander von Humboldt-Forschungsstelle (Frau Dr. Ulrike Leitner) zu verdanken sein, die aus der gemeindeutschen gleichnamigen Kommission hervorging, welche von

1956

bis

1970

bestand; sie wurde ein­

seitig von der ehemaligen DDR aufgelöst, bezeichnenderweise nach den entgegenkommenden Ostverträgen. Daß Fragen der Anordnung sehr wohl echte Probleme bedeuten können, wird sich auch im folgenden noch zeigen. Jedenfalls müssen wir zunächst einen Überblick über das mit dem amerikanischen Reisewerk korrespondie­ rende Kartenwerk vermitteln, um im Sinn Humboldts zu verfahren. Dann erst können die beiden Atlanten der >Relation historique< sinnvoll behan­ delt werden. Den Lesern der Studienausgabe werden infolgedessen die folgenden Aus­ führungen eine große Überraschung bedeuten; denn Humboldt hat den bis

dahin größten Karten- und Textverbund zur Geographie Amerikas, vor allem aber des südamerikanischen Subkontinents, geschaffen128• 127

Siehe Anm. 12, S. 502-504 u. S. 504-506.

128

Der Herausgeber dankt auch an dieser Stelle Herrn Direktor Dr. Lotbar

Zur Erläuterung des Reiseberichtes

463

Der Neuen Welt hat er allein fünf Atlanten mit zugehörigem Text gewidmet: Zur>Relation Historique< gehören davon zwei Kartenwerke, die wir oben mit ihrenTextbänden bereits angeführt haben (s.

2.

Kapitel Ic und Id). Zum

Reisewerk zählen auch noch der Mexico-Atlas, der in seiner zweiten Über­ sichtskarte den größten Teil des Territoriums der Vereinigten Staaten ein­ schloß, und das Mexico-Werk (s. Studienausgabe Band IV ). Ebenso müssen genannt werden zwei separat erschienene Werke: der >Atlas zu den klei­ neren Schriften. Umrisse von Vulkanen aus den Cordilleren von Quito und Mexico. Ein Beitrag zur Physiognomik der Natur< (Stuttgart und Tübingen

1853; 12 Tafeln).

Dieses Kartenwerk kennt acht aus den >Vues des Cordil­

leres< verkleinerte, neu bearbeitete oder korrigierte und vier weitere eben­ falls neu gezeichnete Tafeln, darunter die letzte Arbeit Karl Friedrich Schin­ kels

(1781-1841) (TafelS,

Vulkan EI Altar); sie werden mit eigenem Text in

>Kleinere Schriften. Erster Band. Geognostische und physikalische Erinne­ rungen< (Stuttgart und Tübingen

1853) erläutert (S. 458-472). Schließlich ist

der ursprünglich von Humboldt zum >Kosmos< geplante >Physikalische Atlas
Relation Historique< den Zusammenhang betont hatte. Weder vom Cotta-Verlag noch von diesem teilweisen Übersetzer konnte je ver­ treten werden, diese Atlanten seien derart beschaffen, daß sie im Sinn einer von Humboldt gewünschten volkstümlichen Ausgabe überhaupt nicht mehr angeführt oder nicht in Beispielen mit dem neuen Text verbunden werden dürften. Die Kartenwerke >Atlas geographique et physique du Nouveau Conti­ nentMexico-Atlas< und >Physikalischer Atlas< repräsentieren in dieser Reihenfolge den ersten thematischen Atlas Südamerikas, den ersten thema­ tischen Atlas eines südamerikanischen Landes, nämlich Mexicos, und den ersten thematischen Weltatlas. Damit war Humboldt in einer besonders wichtigen Phase der Kartographie der erste und bedeutendste Anreger und Schöpfer thematisch spezialisierter Karten und Atlanten. Auch die separat

Zögner, dem Leiter der Kartenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, für die Anregung des Themas > Alexander von Humboldt- Kartograph der Neuen Welt. Profil des neuesten Forschungsstandes< im April1992. Der im Druck befindlichen Auseinandersetzung folgen auch diese Ausführungen.

Zu dieser Ausgabe

464

publizierten Darstellungen wie die erste Karte der Isodynamen (1804), das großartige Naturgemälde-Profil (1807; s. Band I der Studienausgabe mit Beilage des Profils) und die erste Karte der Isothermen (1817; s. BandVI der Studienausgabe, S.19) gehören zu diesem Bild. Ist das allein schon eine be­ trächtliche Leistung, so bilden dennoch die drei Atlanten des amerikani­ schen Reisewerkes erst den Schwerpunkt. Ohne diesen Gesamtaspekt allerdings wäre die nun folgende Betrachtung der zwei Atlanten und ihrer zugehörigen Textbände der >Relation Histo­ rique< unvollständig geblieben, da sich all diese Werke auch ergänzen sollten. Nun steckt in der Reihenfolge der beiden Atlanten der >Relation Histo­ rique< erneut ein Anordnungsproblem durchaus konzeptuellen Charakters, das dem >Atlas geographique et physique du Nouveau Continent< die Vor­ rangstellung zuweist, da Humboldt ihn "meinen generellen Reise-Atlas" ge­ nannt hat129• "Generelles" oder "Allgemeines" hat Humboldt geschätzt, ge­ sucht und angestrebt. Dafür spricht die von ihm in den Mittelpunkt gerückte Allgemeine Geographie, die seine Physikalische Geographie immer ge­ wesen ist.In dieser Studienausgabe beleuchtet der Kommentar zu BandVII dieses wichtige Problem ausführlich. Das genannte Kartenwerk ist allge­ meingeographischen (oder physikalisch-geographischen) Charakters, die >Vues des Cordilleres< sind dies gar nicht. Damit ist die Reihenfolge in der zuvor gegebenen Bibliographie und in diesem Kommentar geklärt. Der die >Relation Historique< begleitende >Atlas geographique et phy­ sique du Nouveau Continent< bildet die kartographische Grundlage des >Exa­ men critique< genannten Textbandes, vergegenwärtigen doch die Darstel­ lungen auch die Schauplätze der Entdeckungen.Vier Tafeln sind zusätzlich der ältesten Amerika-Karte Juan de la Cosas (150 0 ) gewidmet (Tafeln 33 , 34, 35 u. 36). Tafel37 (Karibik- Atlantik-Karte aus dem Straßburger Ptole­ maios130 von 1513 ), Tafel38 (Island- nördliches England und Irland- Nor­ wegen - Jütland aus dem Ptolemaios von Rom 1508; sowie Sektion Nord­ und Ostrand Asiens mitVorder-und Hinterindien (aus dem Straßburger Pto­ lemaios von 1513 ), Tafel39 (Kartensegment: Rand Ostasiens- Karibik-Teil der Ostküste Südamerikas aus dem Ptolemaios Rom 1508) belegen ebenfalls die Schwierigkeiten zeitgenössischer Kartenbilder aus der Frühzeit der großen Entdeckungen im irdischen Raum. Das >Examen critique< stellt als Textband des >Atlas du Nouveau Conti-

129

A. v. Humboldt: Kleinere Schriften (1853) a. a. 0., S.470.

130

Die Ptolemaios-Ausgaben (Atlanten) werden französisch «!es Ptolemees» ge­

nannt. Demgemäß sprach der Herausgeber seit vielen Jahren von "den Ptolemaien" auch im Deutschen. Die lateinische Bezeichnung Ptolemäus, ohnehin eingedeutscht, wird für einen griechischen Geographen der hellenistischen Epoche strikt abgelehnt.

465

Zur Erläuterung des Reiseberichtes

nent< die bis dahin gediegenste Auseinandersetzung eines Geographen mit der Geschichte der Entdeckung Amerikas dar, wobei für Humboldt eine er­ staunliche Beherrschung der Quellen und ein langes Studium sprechen. An­ ders als es moderne Wissenschaftstheorie will, sah er stetig fortwirkende Anregungen von der Antike bis zu Columbus und seiner Westfahrt, eine Feststellung, die immer noch belegt werden kann. Sein Beitrag zur Vespucci­ und zur Waldseemüller-Forschung ist so erheblich, daß er bis heute beachtet werden muß. Zwar hatte der Engländer Richard Henry Major131 schon 1868 in Mattbias Ringmann (Philesius Vogesigena) und nicht in Martin Waldsee­ müller (Hylacomilus) den Verfasser der >Cosmographiae Introductio< ge­ sehen, der seinen Kollegen Waldseemüller zu ersten Eintragungen des Na­ mens "America" veranlaßt habe, doch sind erst jüngst wieder Bedenken erhoben worden, die Humboldt recht geben. Majors Ergebnis wurde übri­ gens in Deutschland so gut wie nicht gesehen, doch haben merkwürdiger­ weise selbst populäre Darstellungen wie die Richard Buschicks diese Kenntnis dennoch vermittelt132. Richten wir den Blick nun wieder auf das zugehörige Kartenwerk: Zunächst weist der >Atlas du Nouveau ContinentNaturgemälde der Canari­ schen Inseln; Geographie der Pflanzen des Pies von TeneriffaAtlas des Neuen Kontinents< das 133

In den vom Herausgeber eingesehenen Exemplaren fehlte ein Inhaltsver­

zeichnis, das dennoch geliefert worden sein mag.

Zur Erläuterung des Reiseberichtes

467

pflanzengeographische Profil des Pico de Teide (Teneriffa) und schließlich die beiden spanischen Profile? Wir werden später in den >Vues de Cordil­ leres< noch ähnliche "Todsünden" und "Fehlleistungen" Humboldts be­ merken. Die hier verwendeten Ausdrücke sind nur zwei Urteile moderner Geographen, die in der Bibliothek des Herausgebers Bände des amerikani­ schen Reisewerkes benutzten; es gab andere, die noch viel härter urteilten. Dabei herrschte die Meinung vor, Humboldt habe einfach Darstellungen, die er sonst nicht verwenden konnte, in seinen amerikanischen Atlanten Asyl gewährt. Mancher mag jetzt durchaus ähnlich denken. Die Antwort ergibt sich aus den immer noch unbekannten Sätzen der>Re­ lation HistoriqueVues des CordilleresAtlas pittoresqueAtlas pittoresque< weist augenscheinlich gar keine Karten im eigentlichen Sinn auf und bedeutet insofern ein Problem, dem wir uns trotz aller Bejahung der Erweiterung der Atlas-Form stellen müssen. Erstmals vereinigte damals nämlich ein Geograph Zeugnisse auch indiani­ scher Hochkulturen in einem großen Ansichtenwerk. Bei der Auseinander­ setzung mit einem "Relief mexicain", einer Zeichnung, die der Forschungs­ reisende von Vicente Cervantes (ca. 1750/58-1829), dem Direktor des Bota134

Peter Sirnon Pallas: Reise durch verschiedene Provinzen des Rußischen

Reichs. 3 Bde., Sankt Petersburg 1771, mit Tafelband.

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nischen Gartens in Mexico-Stadt, erhielt, wird deutlich, wie der Empiriker Humboldt bei Erläuterung der Tafel 9 vorsichtig sein T hema umkreist, da er das dargestellte Werk selbst nicht vor Ort gesehen hatte. Schon in der ersten Beschreibung bemerkte er, dieses Werk manifestiere "nicht mehr die erste Kindheit der Kunst" (S. 47). Die Vorsicht gab ihm recht, denn er erfuhr später, noch während der Arbeit an den > Vues des CordilleresAlexander v. Humboldt's Reisen in Amerika und Asien. Eine Darstellung seiner wichtigsten Forschungen< (2 Bände. J.G. Hasselberg, Berlin 1835. Band I: X u. 342 S.; Band II: V III u. 393 S. mit 6 Kupfern und einer Karte) von Julius Löwenberg (um 1800-1893). Als großer Humboldt­ Verehrer schoß der Autor über das Ziel hinaus, wenn er z.B. seinen Helden den "Napoleon unter den Naturforschern" (II, S. 391) nannte, aber das meiste half damals vielen: "Der Zweck dieser Bearbeitung ist der, zunächst erwachsenen Jungen und Mädchen ein Buch zu bieten, das reich an mannig­ facher Belehrung über Natur und Geschichte, unterhaltend durch die Art und Weise der Belehrung, ihre Aufmerksamkeit fessele und ihr Herz und ihren Geist wahrhaft bilde -; demnächst aber auch den Bedürfnissen der längst Erwachsenen zu begegnen, welchen früher die Gelegenheit zu gründ­ licher Belehrung fehlte und die jetzt durch Berufgeschäfte verhindert sind, die bändereichen Werke von Humboldts zu lesen" (I, S. III). Um zu einem volleren Bild zu kommen, zog der Autor auch "andere Quellen" heran und wollte die früheren Ansichten Humboldts "nach seinen jetzigen modi­ fizieren" (I, S. IV ). In Text und Abbildungen finden sich Anregungen. Innerhalb der >Bibliothek Naturhistorischer Reisen für die reifere Ju­ gend< bot der evangelische Prediger in Oberschützen, Gottlieb August Wimmer (1793-1863): > Des Freiherrn Alexander von Humboldt und Aime Bonpland Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents, für die reifere Jugend zu belehrender Unterhaltung bearbeitet< (Carl Gerold, Wien 1830). Am Schluß sagt der Verfasser, er habe "nichts von dem ver­ schwiegen, was ich für meine jungen Leser passend hielt, und das über­ gangen, was ihnen unverständlich und eben darum langweilig geworden wäre" (S. 387). Die sehr guten Abbildungen sind verkleinerte Kopien aus Humboldts Reisewerk. Am erfolgreichsten war die Darstellung des Dichters, Schriftstellers und Redakteurs der Vossischen Zeitung, Hermann Kletke (1813-1886): >Alex­ ander von Humboldt's Reisen in Amerika und Asien. Eine Darstellung seiner wichtigsten Forschungen< (4 Bände. Hasselberg, Berlin 1854-56; 4.Auflage: 1859-61). Alle, die im Windschatten Humboldts segelten, hatten Erfolg und er­ lebten oft mehrere Auflagen ihrer Bücher. Diese volkstümliche Literatur

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weitete die Wirkungsgeschichte erheblich aus; sie verbreitete die Wirkung, ohne sie zu vertiefen, doch wäre ohne sie das Bild nicht vollständig. Der Verlag Cotta ging mit der vollständigen deutschen Übersetzung den richtigen Weg, und trotz vieler Gerüchte war diese Übertragung besser als ihr Ruf. So stellte der Herausgeber dieser Studienausgabe bei aller Kritik, die sich in seiner Hörweite je äußerte, immer wieder einmal fest, daß nie­ mand den Text kannte; man folgte in seinen Urteilen einfach dem Hören­ sagen. Als in den sechziger Jahren der Verleger Wolfgang Brackhaus

(19031984) und der Herausgeber nach dem Neudruck des >Mexico-Atlas< auch die

Reproduktion der >Relation Historique< planten, hat der bekannte Bota­ niker und Historiker seiner Wissenschaft Karl Mägdefrau (geb.

1907)

das

französische Original, die komplette Übersetzung und diejenige Hermann Hauffs miteinander verglichen und gelangte insgesamt zu einer Höherbe­ wertung der vollständigen Übertragung. Er durchbrach damit erstmals das bestehende Vorurteil. Um so mehr ist zu bedauern, daß die Wirkungsge­ schichte seit

1859 allein und einseitig von der Hauffschen Ausgabe bestimmt

wurde, wobei es bemerkenswert ist, wie lange Gelehrte und Ungelehrte sich blenden ließen. Wenn auch die Spuren der >Relation Historique< in einem elitären Kreis von Goethe bis zu führenden Geographen der Zeit gewiß nachweisbar sind, so war doch ihre Wirkung schon auflagenmäßig eingeschränkt, ohne daß dabei die fehlenden Sektionen der Route im Gebiet der heutigen Länder Co­ lumbien, Ecuador, Peru, Mexico, Cuba (zweiter Aufenthalt) und der USA ausschlaggebend geworden wäre, wie denn überhaupt der fragmentarische Zustand des Reiseberichts so gut wie nicht diskutiert wurde. Ihn bemerkte z. B. der Freiherr Max v. T hielmann des

19. Jahrhunderts

(1846-?).

Als er in der zweiten Hälfte

Südamerika bereiste, bildete ein viermonatiger Ritt

durch die Cordilleren für ihn den interessantesten Teil seines Reiseweges. Er schrieb: "Mit geringen Abweichungen folgte ich Humboldts Spuren. Auf jedem Schritt bedauerte ich hier, daß der größte aller reisenden Forscher nicht Zeit gefunden hat, diese Strecke ebenso erschöpfend zu schildern wie den ersten Teil seines Weges. "155 Zugänglich war die >Relation Historique< in vielen deutschen Biblio­ theken, doch sie wurde, geht man vom Erhaltungszustand aus, wenig gelesen. Benutzungsspuren sind in den Bänden sehr selten. Antiquarisch gehörten sie wohl stets zu den Raritäten, wurden sie doch nach einer zu bestätigenden Aussage des größten A.-v.-Humboldt-Sammlers der Originalwerke, Prof. Dr. Wolfgang-Hagen Hein (geb.

1920),

der zugleich Humboldt-Forscher

von bleibender Bedeutung ist, in den letzten

40 Jahren kaum einmal ange­

boten. 155

Freiherr Max

v.

Thielmann: Vier Wege durch Amerika, Leipzig 1879, S. VIII.

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Noch weniger benutzt wurden die seltenen Exemplare der einzigen voll­ ständigen deutschen Übersetzung, die oft in Vergessenheit geraten war. Zu­ mindest in einer der dem Herausgeber zugänglichen Ausgaben konnte eine auf wenige spezielle Probleme beschränkte Benutzung nachgewiesen werden. Im allgemeinen triumphierte Hauffs Bearbeitung, die in bedenklicher Form vom Original ablenkte, so daß z. B. ein befähigter Reisender und Völ­ kerkundler wie T heodor Koch-Grünberg (1872-1924) nur aus ihr in seinem Werk >Vom Roroima zum Orinoco< (Band I, Berlin 1917, S. 202, 288, 357, 401, 403) zitierte, was für sehr bedenklich gehalten werden muß. Im 20. Jahr­ hundert haben Südamerika-Reisende wie Carl Troll (1899-1975) und Erich Otremba (1910-1984) das Originalwerk noch gern benutzt. Als dieser 1956 nach einem Vortrag des Herausgebers in der Deutschen Ibero-Amerika-Stif­ tung in Harnburg diskutierte, bewies er eine gute Textkenntnis, wie auch die anwesenden Kenner Carlos R. Linga (gest. 1963) und Eduardo Röhl. Merkwürdigerweise fehlte eine breitere Auseinandersetzung mit dem Text. Die Untersuchungen des Herausgebers sind ohnehin in ihren Grund­ zügen in diesen Kommentar eingegangen. Um so verpflichtender ist, nachdem die unentbehrliche, meisterhafte editionsgeschichtliche Untersu­ chung Kurt-R. Biermanns bereits gewürdigt wurde (s. oben S. 437 f.), ein Eingehen auf die umfangreiche Arbeit Charles Minguets156• Zweifellos in neuer Weise hat dessen ausführliche und dabei sehr ergebnis­ reiche «these» (Doktorarbeit) die anregende Kraft des Reiseberichts er­ wiesen und damit nicht wenig zur Ehre dieser traditionsreichen französi­ schen Doktorschriften beigetragen. Sieht man auf die herangezogene Lite­ ratur, so beansprucht die >Relation Historique< mit Atlanten, Textbänden und dem ohnehin zugehörigen >CubaMexicoAnsichten der NaturRelation HistoriqueAlexandre de Humboldt. Historien et geographe de l'Amerique espagnoleRelation Historique< erfaßten Routen von Columbien bis Mexico dar­ gelegt, war aber aus politischen Gründen manchen Hemmungen und Be­ kenntnispflichten unterworfen, die eine Diktatur erzwang. Der Leser sei daher nochmals auf diese Bände hingewiesen, die Ergänzungen und Ein158

Anführungen der Alexander von Humboldt-Forschungsstelle und ihrer Mitar­

beiter finden sich in allen Bänden der Studienausgabe, außer Band V.

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sichten bieten, andererseits aber auch in den Tagebüchern keinen geformten Reisebericht darstellen. (Siehe dazu auch den "Dank des Herausgebers" am Ende dieses Bandes.) Zwei von Verleger Wolfgang Brackhaus und dem Herausgeber dieser Stu­ dienausgabe unternommene Neudrucke des >MexicoRe­ lation Historique< (Stuttgart 1970) belebten seit dieser Zeit die Wirkungsge­ schichte ungemein, wie nicht nur die reichlich erschienenen Rezensionen beweisen. Die Verfügbarkeit der drei Originalbände wurde weiter verbes­ sert durch den von Verleger Nico Israel und dem Herausgeber geförderten Neudruck des amerikanischen Reisewerkes in dreißig Bänden (Amsterdam und New York 1970-73). Seit dieser Zeit haben viele das Werk erworben, dessen Benutzung nun nicht mehr auf die Lesesäle der Bibliotheken be­ schränkt blieb. Damit wurden auch die wenigen Originale in den Biblio­ theken geschont. Diese Neudrucke haben längst ihr wesentliches Ziel er­ reicht, indem sie endlich die Texte selbst wieder zugänglich machten. Nicht berücksichtigen wollten und konnten sie die von der erwähnten "For­ schungsstelle" inzwischen erreichte Korrektur der Humboldt-Bibliogra­ phie, vor allem der Erscheinungsjahre. Diese Bearbeitung war schon in den 50er Jahren von der bewußten Kommission geplant und zwei Herren über­ tragen worden. Über den Fortgang war zunächst nichts bekannt. Bilden wir zum Schluß die Bilanz aus Text und Kommentar: Der amerikanische Reisebericht mit seinen beiden Atlanten, den zuge­ hörigen Text- und den folgenden Kartenbänden erwies Humboldt als maß­ gebenden Forschungsreisenden mit bedeutender Nachwirkung und als größten Geographen der Neuzeit, zudem als besten Tropenkenner in der Epoche der klassischen Geographie in Deutschland (1799-1859) und seiner Zeit. Er rechtfertigte diese disziplinhistorisch erweisbaren Fakten durch un­ ermüdliche Weiterführung, die seinen Reisebericht charakteristisch mitbe­ stimmte, nicht zuletzt aber in der Auswertung seiner Rußland- und Sibirien­ reise von 1829. Hinzu kam die unermüdliche Arbeit an thematisch spezialisierten Karten und Atlanten; nie ist einem Erdteil von einem einzelnen Geo- und Kartogra­ phen ein umfangreicheres Werk gewidmet worden. Im Zentrum seines geographischen Wollens entfaltete sich von 1793 bis zur Mitte des 19.Jahrhunderts die Idee der Physikalischen Geographie, welche die Bereiche heutiger Naturgeographie mit neuen Formen damals noch nicht mit ihren späteren Namen benannter Bevölkerungs-, Wirtschafts­ und Sozialgeographie und vorzüglicher Tabellenstatistik (z. B. erste Analyse der Bevölkerung der randtropischen Stadt Havanna) vereinte. Physikalische Geographie war stets Allgemeine Geographie, die in Hum­ boldts Sinn Anregungen und neuen Stoff aus der Länderkunde erwartete,

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deren moderne Startbahn er in seinem >MexicoCubaKosmos< (Band IV und Textfragment des Bandes V ), seines letzten Werkes, hinein das geographische Anordnungsschema (modern "länder­ kundliches Schema" genannt); da der >Kosmos< Fragment blieb, wurde diese eindeutige Klammer in der Folge der ihm klar folgenden Stoffbereiche bisher nicht erkannt. Urteile wie dasjenige, Humboldt habe die modernen Geowissenschaften begründet, er sei Geophysiker gewesen und habe die gesamten Naturwissen­ schaften beherrscht oder gar "neuen Wissenschaften das Strombett ge­ graben", sind wissenschaftsgeschichtlich maßlos übertrieben oder unhisto­ risch. Die Begründung der modernen Geowissenschaften und alles andere wäre um 1800 nur "dem alleinigen Gott" möglich gewesen. Der Terminus Geophysik ist in Humboldts Umkreis entstanden (s. Studienausgabe Band V II, Teilband 2, S.347), fand aber erst in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts seine bis heute nachwirkende Sinnerfüllung, nicht zuletzt durch das Lebenswerk von Emil Wiechert in Göttingen. Wäre Humboldt wirklich Geophysiker gewesen, wäre gerade das entfallen, was er in seiner Physikalischen Geographie in aufklärerischer Verflechtung mit dem Men­ schen z.B. über all seine Messungen stellte: das offene Eintreten für die Menschenrechte, den Kampf gegen die Sklaverei in den europäischen Kolo­ nien und die Leibeigenschaft in Europa. In der Wissenschaftsgeschichte muß wie in der Historie, deren untrennbarerTeil sie ist, das in den Epochen Vorfindliche, z.B. Humboldts Physikalische Geographie von 1793 bis 1859, den Maßstab bestimmen, und nicht die Elle unserer Gegenwart. In seinem amerikanischen Reisebericht unterwarf Humboldt erstmals die in dieser Ausgabe mit Überschriften in eckigen Klammern versehenen mög­ lichen allgemein zu würdigenden geographischen und zoologischen Reisebe­ obachtungen seiner geographisch-physikalischen Methode und erprobte diese erstmals ebenso für die entsprechende astronomische Problematik: Feststellung der Verbreitungsgebiete aufgrund erstaunlicher Literaturbe­ herrschung und weltweiter Korrespondenz, globaler Vergleich der im Mit­ telpunkt stehenden Phänomene, Suche nach Analogien, Unterschieden und Zusammenhängen, wenn möglich auch Klärung von Ursachen. Gerade die Erkenntnis der möglichen Behandlung astronomischer Fragen in dieser Weise ebnete ihm seit 1833 den Weg zu einer "neuen Folge von Ideen", zur Überzeugung, "seinen Arbeiten über Amerika ein Ende setzen zu sollen" (s. oben S.438). Auch deshalb blieb der amerikanische Reisebericht ein allerdings ein­ zigartiges Fragment geographischen Denkens. Andererseits zeigt damit das gesamte Werk Humboldts eine bis dahin verdeckte großartige Konse­ quenz.

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Alles hat die Leitidee der Physikalischen Geographie ermöglicht, auch den >KosmosKosmos< wagen zu können.

Dank des Herausgebers Dieser Band II mit seinen drei Teilbänden der amerikanischen Reisedar­ stellung A. v. Humboldts bildet den Abschluß der vierzehnjährigen Arbeit an der Studienausgabe Alexander v. Humboldts der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Von allen Bänden war seine Vorbereitung am schwierig­ sten und langwierigsten. - Den folgenden Persönlichkeiten sei herzlich ge­ dankt: den auf den Titelblatt genannten Mitarbeitern und den beiden Di­ plom-Geographinnen Alexandra Pax, deren Mutter und Silke Vogt sowie Herrn Rektor Pranz Schwarz (Bonn) für die Beteiligung an der Korrektur, Frau Prof. Dr. Fabienne 0. Vallino (Rom) {ür ihre Ausführungen über fran­ zösische Sprache und Stil Humboldts in seinem Reisebericht, die sie auf Wunsch des Herausgebers schrieb; sie finden sich im Kommentar; Herrn Prof. Dr. Kurt-R . Biermann (Berlin), Herrn Dr. Detlef Haberland (Bonn) und Herrn Prof. Dr. Wolfgang-Ragen Hein (Bad Soden) sowie Frau Prof. Dr. Barbara Schuchard (Bonn) für wissenschaftliche Korrespondenz und Auskünfte; Herrn Markus Breuning (Bern), A .-v.-Humboldt-Forscher und -Sammler, für die nachträgliche, mit großer Sorgfalt ausgeführte Korrektur der Bände der Studienausgabe und dieMitteilung seines Ergebnisses. -Mit dem Altphilologen und Romanisten Paulgünther Kautenburger (geb. 1928) verlor die Studienausgabe am 26. 7. 1993 einen besonders liebenswerten und kenntnisreichen Mitarbeiter. Er hatte erstmals in Band I unserer Ausgabe (S.167-255) für die gediegene Übertragung von >De distributione plan­ tarum< gesorgt (s. hierzu auch am gleichen Ort S. 315-3 21). Ihm sei für seine Anregungen und Gespräche über das Grab hinaus von Herzen gedankt. Die gesamte Ausgabe beruht auf lebenslanger Forschung des Herausgebers im Gebiet der Geschichte des geographischen Denkens, der Reisen und der A .-v.-Humboldt-Forschung, in drei sich gegenseitig fördernden Bereichen. In der Humboldt-Forschung begann die systematische Zuwendung im Win­ tersemester 1946/47 an der UniversitätMarburg, als u. a. die Sammlung der >Gespräche Alexander von Humboldts< eingeleitet wurde (veröffentlicht im Akademie-Verlag, Berlin 1959). 1956 begann eine schließlich sechsjährige Freistellung als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Bann­ Bad Godesberg), mit deren Zustimmung im gleichen Jahr die Mitgliedschaft in der Alexander-v.-Humboldt-Kommission der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die von ihrem Vizepräsidenten, dem international führenden Geophysiker Prof. Dr. Hans Ertel, begründet worden war. Nächst ihm sei hier besonders meinem Freund Prof. Dr. Kurt-R . Biermann

Dank des Herausgebers (Berlin), dem Mathematikhistoriker und Humboldt-Forscher, gedankt; nicht vergessen seien die Anregungen der Herren Fritz G. Lange (Leiter des Akademie-Archivs und Sekretär der genannten Kommission), Dr. Johannes Eichhorn und Dr. Hans-Günther Körber und das Vorbild Prof. Dr. Rudolph Zaunicks, Direktor ephemeridum der Leopoldina in Halle. -Inzwischen war längst die Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Wolfgang-Ragen Hein, dem Humboldt-Forscher und -Sammler, wirksam geworden. -Im WS 1961162 hatte die folgende Forschung und Lehre des Herausgebers während 53 Se­ mestern begonnen. -1970 wurde die erwähnte Kommission aufgelöst, deren Niveau Prof. Dr. Kurt-R. Biermann als Leiter der Alexander-v.-Humboldt­ Forschungsstelle wahrte. Seit 1994, nach der Gründung der Berlin-Eranden­ burgischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, entstand die Kommis­ sion "Alexander-v.-Humboldt-Forschung und Wissenschaftshistorische Stu­ dien" wieder, welche die erwähnte Forschungsstelle (Leiter: Dr. Christian Suckow; Dr. Ulrike Leitner, Dr. Ingo Schwarz) weiterführt. Damit besitzt die Humboldt-Forschung Deutschlands wieder eine gemeinsame Aufgabe. Neue Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe vereinen uns in der Weiter­ führung, aber auch der gemeinsame Dank an alle, die geholfen haben, den einst geradezu grotesken Rückstand der Alexander-v.-Humboldt-Forschung zu überwinden. Für den Neubeginn sei der Akademie, ohne deren Eintreten dieser Erfolg nicht möglich gewesen wäre, besonders herzlich gedankt. Der Herausgeber gründet nach Abschluß der Studienausgabe eine unabhän­ gige Arbeitsgemeinschaft zum Studium der mit ihr zusammenhängenden Problematik. Bonn und Eschwege/Werra, 24. März 1997

Hanno Beck