Wer ist das Volk?: Die Grundfrage der Demokratie - Elemente einer Verfassungstheorie VI. Hrsg. von Ralph Christensen [1 ed.] 9783428491896, 9783428091898


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German Pages 63 Year 1997

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Wer ist das Volk?: Die Grundfrage der Demokratie - Elemente einer Verfassungstheorie VI. Hrsg. von Ralph Christensen [1 ed.]
 9783428491896, 9783428091898

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Friedrich

Müller · Wer ist das Volk?

Schriften zur Rechtstheorie Heft 180

Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie Elemente einer Verfassungstheorie VI

Von

Friedrich Müller

Herausgegeben von Ralph Christensen

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Müller, Friedrich:

Elemente einer Verfassungstheorie / von Friedrich Müller. - Berlin : Duncker und Humblot (Schriften zur Rechtstheorie ;...) Literaturangaben 6. Müller, Friedrich: Wer ist das Volk?. - 1997

Müller, Friedrich: Wer ist das Volk? : die Grundfrage der Demokratie / von Friedrich Müller. Hrsg. von Ralph Christensen. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Elemente der Verfassungstheorie / von Friedrich Müller ; 6) (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 180) ISBN 3-428-09189-2

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-09189-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Inhaltsverzeichnis Einleitung des Herausgebers I.

Warum sprechen Verfassungen von „Volk"?

7 17

Π. „Volk" als Aktiwolk

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ΙΠ. „Volk" als globale Instanz der Zurechnung von Legitimität

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IV. „Volk" als Ikone

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V. „Volk" als Adressat zivilisatorischer Staatsleistungen

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VT. Welchen realen Gruppen entsprechen die Gebrauchsweisen von „Volk"?

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VE. „Volk" als Kampfbegriff. Die Positivität der Demokratie

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Vm. Exklusion

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IX. Legitimierung von Demokratie. Umwertung von „kratein" ,.Demokratie" auch als Anforderungsniveau jenseits der Techniken von Herrschaft

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Einleitung des Herausgebers Der vorliegende Text kommt scheinbar vom Rand her. Eine stark gekürzte Fassung wurde am 2.9.1996 in Fortaleza (Brasilien) als Vortrag gehalten. Brasilien eröffnet den Raum der peripheren Moderne mit allen darin liegenden Risiken und Entwicklungschancen. Aber der Ansatz dieses Textes ist nicht auf diese spezielle Situation beschränkt. Denn die einfache Frage „Wer ist das Volk?" stellt sich für alle Verfassungen des demokratischen Formenkreises. Verfassungen reden häufig und gern vom Volk. Der Grund liegt darin, daß sie sich rechtfertigen müssen. Die Berufung auf das Volk soll die Legitimation liefern. Wenn die vorliegende Studie nüchtern die Gebrauchsweisen des Wortes 'Volk' im Verfassungskontext untersucht, berührt sie den sensiblen Kern des Politischen, die große Erzählung vom modernen Staat, seine Theodizee. Die Untersuchung sprachlicher Gebrauchsweisen ist eine unscheinbare, aber in der Verfassungstheorie Friedrich Müllers bereits bewährte Methode. Elegant unterminiert sie einen Holismus, der gerade bei der Untersuchung politischer und rechtlicher Grundlagen die entscheidenden Fragen zudeckt, statt sie aufzuwerfen. Bewährt hat sich diese Methode bereits bei der Untersuchung der Redeweise von der 'Einheit der Verfassung'.1 Die vorgebliche Einheit ist zunächst ein rhetorisches Schlagwerkzeug: Wer das Ganze besetzt, kann den Einzelheiten ihren Ort zuweisen und Gegenrede schon im Keim ersticken. Die Analyse dagegen zeigt, daß das Ganze gar nicht besetzt werden kann. Jeder, der es benennt und im juristischen Sprachspiel verwendet, bringt es damit als einzelnes Element ins Spiel. Durch aufmerksames Beobachten der sprachlichen Verwendungsweisen löst sich die scheinbar massive Figur der 'Einheit der Verfassung' auf. Hinter der herrschaftsfunktionalen Rhetorik wird aber ein Sachproblem sichtbar. Die Rechtsordnung ist kein monolithischer Block, sondern weist Widersprüche auf, ist nicht nur Ergebnis, sondern auch Grundlage und Ziel eines politischen und semantischen Kampfes. Und diese Probleme stellen sich nicht vor oder außerhalb juristischer Textarbeit, sondern mitten in dieser Tätigkeit, nicht zuletzt in dem Teil der Kontextualisierung des 1 Vgl. F. Müller, Die Einheit der Verfassung. Elemente einer Verfassungstheorie ΙΠ, 1979.

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Einleitung

Gesetzes, den man gewöhnlich systematische Auslegung nennt. Das Achten auf die Differenzen, auf die feinen Brüche im Sprachgebrauch, macht somit hinter der Fassade der Scheinbegründungen die wirklichen Begründungslasten erst sichtbar. Auch das Volk erscheint in der juristischen Demokratietheorie als Block. Es ist der unbewegliche Grundstein der Theorie der Volkssouveränität und liefert als rhetorischer Gemeinplatz die Rechtfertigung für jegliches Staatshandeln. In dieser blockhaften Verwendung verdeckt der Volksbegriff gerade jene Differenzen, die es erlauben würden, ideologische Rhetorik und wirkliche Demokratie zu unterscheiden. Das Volk und seine der Gesellschaft erst eine Verfassung gebende Gewalt darf keine in Sonntagsreden zitierte Metapher bleiben. Vielmehr muß die verfassunggebende Gewalt des Volkes wirkliche Praxis werden. Diese Unterschiede in der Verwendung des Volksbegriffes bedürfen einer klaren Markierung. Und indem uns die vorliegende Studie diese Unterschiede in der Gebrauchsweise lehrt, fügt sie sich nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich ein in das von Friedrich Müller seit nunmehr drei Jahrzehnten verfolgte Projekt einer Verfassungstheorie. Die Verfassungstheorie verfolgt das Ziel einer angemessenen philosophischen Durchdringung des modernen Verfassungsstaates und seiner spezifischen Formen von Souveränität. Der 1967/68 von Friedrich Müller verfaßte Text „Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes" wurde als „Elemente einer Verfassungstheorie V" im Jahre 1995 von Klaus Rohibacher herausgegeben. Das Fragmentarische war dabei nicht nur äußeren Umständen geschuldet, sondern auch ein aus dem Sachproblem abgeleitetes Textprinzip. Denn die verfassunggebende Gewalt des Volkes bleibt in der Theorie ein ungelöstes Problem, weil sie eben praktisch noch nicht eingelöst ist: „Schon ein noch so unvollständiger ehrlicher Text zur verfassunggebenden Volksgewalt läßt jedenfalls deren eigenen Fragmentcharakter zum Vorschein kommen. Sich selbst abschließende (und sich so Autorität anmaßende) Traktate über das Thema werden dagegen die verfassunggebende Gewalt des Volkes als die offene Wunde der bürgerlich-demokratischen Staatenwelt um jeden Preis schließen, werden den Gegenstand professionell 'integrieren' und damit die Rede von einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes in den Boden, auf dem Verfassung sich erhebt, zurückstampfen müssen. Eine ehrliche Befragung zu dem, was diese Gewalt denn nun, da die bürgerlichen Verfassungstexte auf den Ausdruck inzwischen nicht mehr verzichten wollen, vielleicht doch noch bedeuten könnte, was 'verfassunggebende Gewalt des Volkes' uns vielleicht noch zu sagen haben wird, kann noch nicht auf geschichtlich absehbare Ver-

Einleitung

hältnisse hinweisen, in denen eine derartige Volksgewalt mehr sein wird als ein Bruchstück."2 Volkssouveränität nicht als abgegriffene Legitimationsformel, sondern als offene Wunde des modernen Verfassungsstaates zu begreifen, ist auch das Ziel der von Friedrich Müller hier vorgelegten „Elemente einer Verfassungstheorie VI". Anknüpfungspunkt ist dabei der Begriff Volk. Denn gerade dieser Begriff steht in der Gefahr, entweder als Anfangspunkt des Legitimationsdiskurses oder als dessen Ziel zu einem fixierten Objekt mit beherrschbaren Eigenschaften zu werden. Diese Verdinglichung des Volksbegriffes ist kennzeichnend sowohl für die Ideologie als auch für die Utopie der Volkssouveränität. Dabei muß die Demokratie als praktisches Problem eben nach beiden Seiten hin abgegrenzt und verteidigt werden. Die Verkürzung der Volkssouveränität zur bloßen Ideologie ist der praktisch virulente Fall in der Wirklichkeit moderner Verfassungsstaaten. Das Volk wird in der Verfassungsurkunde beschworen, während seine wirkliche Rolle im politischen Prozeß nicht thematisiert wird: „Was immer 'das Volk' bisher an Verfassunggebung in Angriff nahm, hatte mehr vermittelten als unvermittelten Charakter, war eher Symbol als Realität. Sogar beim hier erörterten positivrechtlich gestützten Verfahren, eine Verfassung demokratisch auszuarbeiten und/oder in Kraft setzen zu lassen, bleibt es zum einen bei der Vermittlung (ausgearbeitet wird durch ein Gremium von Volksvertretern), und ist zum anderen das Plebiszit über die Annahme des Verfassungstexts jeder der bekannten und geübten Formen der Manipulation offen. Selbst bei einer Vorbereitung der Verfassung 'durch das* Volk im Sinn einer langen und breit organisierten Diskussion in der Bevölkerung bleibt es bei der Struktur 'Repräsentation': Fachbarrieren, sowie das Problem der grundsätzlichen Inertie 'des' Volkes."3 Die in den Theorien der Volkssouveränität übliche Verwendimg des Volksbegriffs weist einen internen Bruch auf. Dieser wird sichtbar, wenn man beachtet, daß der Begriff Demokratie mit Volk und Herrschaft zwei Komponenten scheinbar problemlos veibindet. Tatsächlich gibt es aber einen Unterschied zwischen dem Volk als Quelle der Legitimation und dem Volk als Objekt der Herrschaft. Beide Größen sind durch eine Differenz getrennt. Denn

2

F. Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, Elemente einer Verfassungstheorie V, 1995, S. 90. 3

Ebenda, S. 87.

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Einleitung

das Volk als Ganzes hat keinen einheitlichen Körper und bildet keinen einheitlichen Willen. Der Wille, welcher ihm als Allgemeinwille von den Herrschaftsstrukturen aufgezwungen wird, kann damit notwendig nur ein partikularer sein. Entgegen den herkömmlichen Demokratietheorien ist das Volk weder homogen noch Subjekt. Es handeln für das Volk immer die Vertreter von Vertretern. Der mit sich selbst identische Ausgangspunkt für legitimierende Ableitungen erweist sich als Fiktion. Die vorgebliche Selbstgesetzgebung tritt dem einzelnen Bürger als willkürlicher Akt entgegen, der seine wirklichen Interessen nicht nur empirisch, sondern schon logisch übergeht. Auf dem Weg von der Legitimationsquelle in den politischen Prozeß findet also eine Ersetzung statt, die das Volk zum bloßen Objekt der Herrschaft degradiert. Wo man von der Demokratietheorie mehr verlangt als die Rechtfertigung des Bestehenden, läßt sich diese Inkonsequenz im Anknüpfungspunkt nicht ganz übersehen. Die Quelle der Legitimation muß dann verlegt werden vom Beginn des Prozesses zu seinem Ziel. Der Umstand, daß der Prozeß der Demokratie das Volk durch Herrschaftsstrukturen ersetzt, wird als vorübergehender Mangel begriffen und das Volk auf der Zeitachse vertröstet. Das gesellschaftliche Gesamtsubjekt ist dann zwar nicht schon Grundlage, aber jedenfalls das Ziel des historischen Prozesses. Am Anfang mögen es nur die Vertreter der besitzenden Männer gewesen sein, die den Gemeinwillen als Verfassung konstituierten. In der Konsequenz politischer Kämpfe wird sich der Begriff des Volkes aber immer mehr erweitern. Eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen wird sich ihrer Interessen bewußt werden und diese in den politischen Prozeß einbringen. Im semantischen Kampf um die Erweiterung des Volksbegriffes werden die zunächst ausgeschlossenen Gruppierungen ihre Inklusion erzwingen und so am Ende des Prozesses das mit sich selbst identische souveräne Volk hervorbringen. Damit sind wir bei der Utopie der Demokratie, der Erweiterung des vorher nur partial vertretenen Volkes zum realen gesellschaftlichen Gesamtsubjekt. Dem Problem der Verdinglichung des Volksbegriffes sind wir aber noch nicht entkommen: „Auch dann also, wenn es gelänge, den Begriff 'Volk' dank entsprechender Vorschriften und Verfahren von Diskriminierungen freizuhalten, und wenn dank der genannten demokratischen Vorbereitung, Ausarbeitung und Inkraftsetzung eines Staatsgrundgesetzes das 'Geben' real sein könnte, nicht mehr nur symbolisch - sogar dann bliebe die erörterte Apathie mit ihren auch durch Politisierung nicht zu beseitigenden (höchstens durch - illegitimen! - Terror unterdrückbaren) Ursachen ein grundsätzliches Hindernis für ein 'Geben', das diesen Namen verdiente."4

Einleitung

Hier wird das zweite Risiko der Demokratietheorie angesprochen. Der blockhafte Begriff des Volkes wird zwar nicht an den Anfang der Herrschaft gesetzt, aber er erscheint am Ziel der Vollendung von Herrschaft. Nachdem die letzten ausgeschlossenen Gruppen ins souveräne Volk aufgenommen wurden, ist die Demokratie als Herrschaft des Volkes verwirklicht. Das Volk gehorcht nur noch sich selbst und wird durch diese Verwirklichung von Herrschaft vollkommen eins mit sich. Jeder einzelne verschmilzt ohne Differenz mit dem Ganzen des Volkes und niemand kann sich dessen Herrschaft noch entziehen. An seinem Ziel angekommen, mündet der demokratische Prozeß damit in einen identitären Holismus. Zurecht nennt Friedrich Müller diese Metaphysik des vollständig verwirklichten Volkswillens einen Totalitarismes5. Aber gleichzeitig weist er darauf hin, daß uns der utopische Überschwang der Demokratie weniger beunruhigen muß als ihre Reduktion auf Rhetorik. Denn der Überschwang scheitert an dem einfachen Umstand, daß menschliche Gruppen nicht harmonisch gemacht werden können, sondern konfliktträchtig bleiben.6 Die Logik des Supplements gilt auch für das endlich verwirklichte gesellschaftliche Gesamtsubjekt. Auch noch dem Endzustand fügt sich eine Differenz hinzu, die zunächst ausgegrenzt ist und noch des Einschlusses bedarf. Und nach dieser Ergänzung wird eine weitere kommen. Dadurch wird die Identität des Volkssouveräns ständig aufgeschoben und jede beherrschbare Präsenz vereitelt. Das Auftreten von Differenzen ist aus dieser Sicht nicht nur die ständig zu überwindende Schranke für die Erweiterung eines vorhandenen Aktiwolkes, sondern ebenso konstitutiv für die Erneuerung und Fortführung des demokratischen Prozesses. Der Aufschub der Identität ist demnach gerade kein Skandal, sondern im Gegenteil Chance für die Demokratie. Die Spannung zwischen der immer aufgeschobenen Identität des Volkssouveräns und seiner unzureichenden Repräsentation durch Vertreter verhindert, daß der Vorgang, mit dem das Volk der Gesellschaft eine Verfassung gibt, ein einmaliger bleibt. Weil das „Wir" des Volkes durch die Logik der Hinzufügung nicht mit sich identisch werden kann, muß die Gemeinschaft über die Inklusion von

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Ebenda, S. 87 f.

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Ebenda, S. 73.

6

Ebenda, S. 63.

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Einleitung

Differenzen ständig neu begründet und legitimiert werden. Die unreine Scheidung zwischen Setzung und Erhaltung der Demokratie läßt sich schon an ihrem Beginn beobachten, wenn sich die demokratischen Revolutionäre auf ein Volk berufen, das es erst noch zu schaffen gilt. Genau diese Kontamination zwischen Setzung und Erhaltung des Volkssouveräns ist auch im etablierten demokratischen Prozeß vonnöten. Denn die Erhaltung der Demokratie kann sich nicht auf das sichere Fundament des vorhandenen Volkes stützen, sondern muß dieses Volk wiederbegründend stets neu hervorbringen. Der Aufschub zwischen Setzung und Erhaltung ermöglicht und erfordert demokratische Politik. Sie sorgt dafür, daß das vorhandene Partialvolk die Gesetze setzt und erhält, ohne die Stelle des Volkes als Ganzes zu besetzen: „Die Politisierung etwa ist ein endloser Prozeß, sie kann und darf aber niemals zu einem Abschluß kommen, eine totale Politisierung sein."7 Die Erweiterung der Volkssouveränität ist damit der notwendige Fluchtpunkt, den eine demokratische Verfassung aufrecht erhalten muß, um ihre eigene Entwicklung zu gewährleisten. Der Allgemeinwille des jeweiligen Volkes dagegen muß immer mediatisiert, geteilt und verzeitlicht sein. Eine ungeteilte und nicht mediatisierte Volkssouveränität fiele, wie Friedrich Müller in seiner Analyse der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zeigt, hinter die entscheidenden Ergebnisse von Verfassungsgeschichte und Verfassungsdenken der europäischen Neuzeit zurück, wonach bei der verfassunggebenden Gewalt nicht nur die Wer-Frage, sondern auch die Was-Frage gestellt werden muß.8 Die von Rousseau für überschaubare Kleinstaaten entwickelte Idee der Volkssouveränität bleibt aber trotzdem auch in großen Flächenstaaten eine regulative Idee. Denn nur so können die mediatisierenden und gewaltenteilenden Mechanismen des Verfassungsstaates immer weiter perfektioniert werden. Diese Position Friedrich Müllers faßt eine sich über Jahrzehnte erstreckende rechtsphilosophische Auseinandersetzung mit der Theorie Rousseaus zusammen und führt im letzten Abschnitt des vorliegenden Textes zu der Forderung, das Rousseausche Volk als \Qrìassungspolitisches Konkretisierungselement zu bewahren, zum Zwecke der Beunruhigung einer sonst allzu selbstgefälligen Legitimationsgewißheit.

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J. Derrida , Gesetzeskraft, 1991, S. 58.

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F. Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, S. 75.

Einleitung

Indem er das Rousseausche Volk als regulative Idee in die Verfassungssouveränität des modernen Staates einfügt, gelingt es Friedrich Müller, die präsenzmetaphysischen Schranken auch noch einer kritischen Demokratietheorie zu überschreiten und zu einer neuen Bedeutungsschicht des Demokratiebegriffs vorzudringen. Wenn Demokratie gerade als unmögliche, durch Verfassungssouveränität aufgeschobene und geteilte erst möglich wird, kann sie nicht länger nach der einfachen Formel als Herrschaft des Volkes verstanden werden. Vielmehr muß sie verstanden werden als zunehmende Erschwerung von Herrschaft durch das Volk. Diese in der Strukturierenden Verfassungstheorie vorgenommene Auftrennung und Neuzusammenfügung der Elemente Herrschaft und Volk im Demokratiebegriff hat natürlich auch Konsequenzen für das Problem der Legitimation der modernen Verfassungsstaaten. Legitimität kann eine demokratische Verfassung nicht ein für allemal erreichen, sondern nur in einem beständig erneuerten Vorgang. Vor allem ist demokratische Legitimität nicht als absolute Größe formulierbar. Vielmehr muß das Problem, anknüpfend an die verschiedenen Redeweisen vom Volk in der demokratischen Verfassungstradition, abgestuft formuliert werden als Vorgabe für einen praktischen Prozeß. Deswegen stellt Friedrich Müller die Frage, wie das Volk als Rechtsbegriff in einer Verfassungstradition verwendet werden kann, wenn der Anspruch auf volksherrschaftliche Legitimität erfüllt werden soll. Die Analyse zeigt vier Verwendungsweisen, die dann in ihrem Verhältnis zum Legitimitätsproblem situiert werden. Wo die Berufung auf das Volk nur Metapher in einer ideologischen Rhetorik ist, wird das Problem der Legitimität gerade verfehlt bzw. zugedeckt. Dies nennt Friedrich Müller die ikonische Verwendung des Volksbegriffs. Über das Metaphorische hinaus und in die Praxis hinein gehen die drei weiteren Verwendungsweisen: Das Volk als Zurechnungsvolk steht der Vertextung der verfassunggebenden Gewalt als Zurechnungsgröße gegenüber. Daran wird gemessen, ob die Entscheidung eines Amtsträgers dem demokratisch in Geltung gesetzten Normtext als „Volksrecht" zugerechnet werden kann, oder ob es sich um illegitimes „Amtsrecht" handelt. Die dabei erforderlichen Zurechnungsmaßstäbe entwickeln den Zusammenhang von Demokratieprinzip und praktischen Arbeitsweisen der Juristen, die Friedrich Müller nicht nur in seinem nunmehr in der siebten Auflage erscheinenden Werk „Juristische Methodik" dargestellt hat, sondern auch in dem über „'Richterrecht'", das 1986 als „Elemente einer Verfassungstheorie I V erschienen ist. Mit Aktiwolk und Adressatenvolk sind die Verwendungsweisen benannt, die sich auf den schon angesprochenen Zusammenhang von

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Einleitung

Setzung und Erhalt einer demokratischen Verfassung beziehen. Zentrales Problem ist dabei der Umstand, daß das Volk als Empfänger zivilisatorischer Leistungen des Staates überhaupt in die Lage versetzt werden muß, die Aufgabe einer Erhaltung der demokratischen Verfassung durch ständig erneuerte Setzung wahrzunehmen. Damit kommt vom Rand der peripheren Moderne her, aber zunehmend zentral, auch für unsere sogenannten entwickelten Gesellschaften das Problem der Exklusion von ganzen Bevölkerungsgruppen aus allen Funktionssystemen in den Blickpunkt. Der Gefahr, daß die Teilung der Gesellschaft in lose verknüpfte, dabei voll handlungsfähige Subjekte einerseits und jeder Handlungsmöglichkeit beraubte und auf bloße Körper reduzierte Individuen andererseits zur Endgestalt des Systems funktionaler Differenzierung wird, muß praktisch entgegengetreten werden. Die Verknüpfung zwischen der Möglichkeit der Demokratie und der Garantie zivilisatorischer Staatsleistungen macht die Aktualität und praktisch-politische Dringlichkeit der hier entfalteten Fragen besonders deutlich. Damit führt, genau wie beim Demokratiebegriff, die Untersuchung der verschiedenen Komponenten in der Redeweise vom Volk zu dem praktischen Problem ihres Zusammenhangs. Es gilt, das Mobile der drei nichtikonischen Verwendungsweisen des Volksbegriffs so in Bewegung zu setzen, daß demokratische Legitimität praktisch möglich wird. In einem unveröffentlichten Manuskript vom 14. Juli 1996 mit dem Titel „Kleiner Metatext" führt Friedrich Müller zu diesem Zusammenhang folgendes aus: „Es wurde hier nicht gefragt, was das Wort 'Volk' heiße; sondern wie es wo und von wem benützt wird. Im Diskurs des Rechts. Dort: in Normtexten vor allem der Verfassung, sehr selten noch in gesetzlichen. Von euch: Verfassunggebern, Gesetzgebern, Gesetzeshütern. Warum gebraucht ihr es dort? Um durch den Lautsprecher 'Volk' zu rufen: weitergehn, weitergehn, es gibt hier nichts zu entdecken! 'Volk' wird von euch nicht verwendet, um zu sagen, wer denn das sei. 'Volk' wird vorausgesetzt, um von Wichtigerem reden zu können: WIR SIND LEGITIM! Mit dem für euch 'zuhandenen' Ausdruck Volk, diesem 'Zeug' im Sinn von Sankt Martin, deutet ihr euch auf die Heldenbrust: populus lo volt. Ihr seid es, die solches bedeutet; und das ist dann die Bedeutung von 'Volk'. Der Rechtsdiskurs macht es so, den der Wissenschaft hatte es nicht gestört. Hier wird nun versucht, sich stören zu lassen. Was herauskommt, sind nicht vier Völker, und nicht vier Begriffe davon. Es sind drei Arten von Gestikulation, mit denen ihr, auch

Einleitung noch in Sprache, mit Volk umspringt. Weil nichts anderes aber 'Bedeutung' ist, ist das dann doch bedeutsam. Die vierte, die einfache, sei euch hinter den Spiegel gesteckt: alle hier lebenden Menschen."

I. Warum sprechen Verfassungen von „Volk"? „Demokratie" kommt nicht nur etymologisch von „Volk". Demokratische Staaten nennen sich „Volks"herrschaften; rechtfertigen sich, indem sie behaupten, letztlich sei es das Volk, das „herrscht". Alle Gründe für demokratische Macht- und Gewaltausübung, alle Gründe der Demokratiekritik hängen an diesem Ausgangspunkt. Erörterung wie Rechtfertigimg bewegen sich üblicherweise auf diesem Feld der Techniken von Repräsentation, von Institutionen und Verfahren. Nur so kommt „Volk" in den Blick; oder noch dann, wenn es ums Abgrenzen geht (von „Nation", von „Gesellschaft"). Dieser Text fragt danach, wer dieses Volk sei, das „demo"kratisch legitimieren könnte. Vielleicht stellt sich dabei heraus, daß es nicht ausreicht, wenn die Urkunde einer Verfassung das Volk beschwört; oder auch umgekehrt, daß die nüchterne Einsicht, das Volk herrsche tatsächlich ja nicht, noch nicht entlegitimieren muß. Die Präambel der brasilianischen Verfassung (BrasV) von 1988 wurde mit der Gesamturkunde von den „Vertreter(n) des brasilianischen Volkes" verkündet, „um einen demokratischen Staat zu errichten". In Titel I, Art. 1 konstituiert sich die Föderative Republik Brasilien „als Demokratischer Rechtsstaat", in dem „alle Gewalt...vom Volke" ausgeht, auszuüben „vom Volke durch gewählte Vertreter oder direkt nach Maßgabe dieser Verfassung" (Art. 1 / Einziger Paragraph BrasV). Ähnlich beruft sich das deutsche Grundgesetz (GG) in seinem Vorspruch darauf, „das Deutsche Volk ... kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt" habe diesen Text gegeben; die Bundesrepublik sei „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat", in dem „alle Staatsgewalt...vom Volke" ausgehe, auszuüben „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen" sowie „durch" die Tätigkeit der klassischen gewaltenteilenden Staatsorgane (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG; in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärt). Für den engeren Rahmen der Bundesländer und der Kommunen wird statuiert, hier müsse „das Volk" eine demokratisch gewählte Vertretung haben (Art. 28 Abs.l S. 2GG); die Abgeordneten 2 F. Müller

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I. Warum sprechen Verfassungen von „Volk"?

des Bundestags werden als „Vertreter des ganzen Volkes" ausgewiesen (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Schließlich sollen die Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) bei der „politischen Willensbildung des Volkes" mitwirken. Daß dieses „Mitwirken euphemistisch ausgedrückt ist, hat sich herumgesprochen. Aber wer legitimierte es, auch wenn es nur ein Mitwirken wäre - tatsächlich das ganze Volk, oder nur die Parteimitglieder, oder nur diese abzüglich der Karteileichen, oder nur die oligarchisch installierten Partei- (und Fraktions-)führungen? Ist, außerhalb der Parteien und ihrer Apparate, das Volk schlicht die Bevölkerung? Dem verantwortlichen Blick der maßgebenden Kreise dürfte der Gedanke abenteuerlich erscheinen. Oder dann wenigstens alle Staatsangehörigen, oder die Wahlberechtigten und Wählbaren? Diese Teilmengen sind untereinander nicht identisch; und es fragt sich, welche von ihnen es denn mit „Volk" sein soll. Während Wählbarkeit, aktives Wahlrecht, Nationalität und die verschiedenen Grade von und Voraussetzungen für Partizipation durch Normtexte (auf Verfassungs- und Gesetzesebene) umschrieben sind, fehlen solche Normtexte für die Erläuterung, die Legaldefinition von „Volk". Nicht alle Staatsbürger dürfen wählen. Nicht alle Wahlberechtigten wählen tatsächlich. Und wodurch soll die bei der Wahl wie bei späteren Gesetzgebungsakten jeweils überstimmte Minderheit legitimieren? Und welches „Volk" - gegebenenfalls wieder ein anderes - steht hinter den informellen Wirkungen auf die öffentliche Meinungs- und Willensbildung „des Volkes", die etwa Umfragen oder die alle individuellen und vor allem assoziativen und korporativen Tätigkeiten in der Politik haben können? Gerechtfertigt als (gewolltes) Objekt wird stets der Staat als „demokratischer". Aber wer legitimiert in der Rolle des (gewollten oder ungewollt/ungefragten) Subjekts? Auf der Ebene des Bundes können, realistisch, nur alle Wahlberechtigten (Art. 38 Abs. 2 GG) von den Abgeordneten vertreten werden - denselben Abgeordneten, die der Text der staatlichen Theodizee als „Vertreter des ganzen Volkes" benennt. Vielleicht ist das Ideologie; vielleicht legitimiert hier aber, auf andere Weise, doch ein „ganzes" Volk von Staatsangehörigen oder gar die tatsächliche Bevölkerung des Territoriums. Bisher allerdings ist es immer unklarer geworden, welches Volk hier Legitimität verschafft; immer unklarer, je näher man hinsieht. Wenn sich eine Konstitution auf die verfassunggebende Gewalt „des Volkes" beruft, oder wenn sie „alle (Staats-)Gewalt.. .dem Volke" zuschreibt macht sie dann eine Aussage über Wirklichkeit? Der Eindruck ist verbreitet, daß dem nicht so ist. Die Verfassung spricht und schweigt hier gleichzeitig. Sie spricht, aber nicht von der Volksgewalt; sie spricht sich Legitimität zu.

I. Warum sprechen Verfassungen von „Volk"?

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Zugleich schweigt sie: darüber, daß ihr Zu-Schreiben die Realität nicht erreicht; bzw. wie im Fall des deutschen Grundgesetzes, das keine demokratische Prozedur der Verfassunggebung kannte, sie auch nicht mehr erreichen kann. Es gibt dann noch indirekte Wege, auf denen mit den einer bürgerlichen Konstitution möglichen Mitteln der Abstand zwischen Grundgesetz und „Verfassungswirklichkeit", Legitimitätsversprechen und Realität vermindert werden kann: durch Formen von unmittelbar demokratischer Volksgesetzgebung, Wählbarkeit von Beamten und Richtern, durch konkret normiertes maßgebliches Beteiligen des Volkes in Parteien und Verbänden und ähnliche Vorkehrungen, wie sie sich in einzelnen Staaten der Verfassungsfamilie finden. Doch die Frage kehrt wieder, wer dabei jeweils das Volk sein soll, dem als einheitlichem oder als segmentiertem oder gar als nur imaginärem solche Handlungschancen zugute kommen; und auch die Frage, wieweit dergleichen ausreicht, die Gewaltordnung, die ein Staat darstellt, zur demokratischen zu machen. Das erste dieser beiden Probleme, wer dieses Volk sei, verdient eine weitere Nachfrage - bevor und sogar ohne daß man der bekannten verzweigten Architektur der Demokratietheorie weiter in ihr Detail folgt. Es geht also nicht darum, die Volksbegriffe des Diskurses verschiedener Disziplinen nebeneinanderzustellen. Das macht die Politikwissenschaft1; und so hat es z.B. auch Paulo Bonavides in seiner Ciência Politica2 getan: politisches, juridisches und „naturalistisches oder ethnisches, soziologisches Konzept" von „Volk". Hier geht es um den Rechtsbegriff: genauer: um die Gebrauchsweisen des Ausdrucks „Volk" in den Normtexten einer demokratischen Verfassung. Einer Verfassimg, anders gesagt, die ihren Staatsapparat und ihre Gewalt/Machtausübung als „demokratische" rechtfertigen will. „Wer ist das Volk?" wird dabei zur Frage: Wie kann „Volk" in diesem Zusammenhang verwendet werden, wenn der Anspruch auf „volksherrschaftliche" Legitimität hinreichend sinnvoll sein soll? Auf jeden Fall gehört dieser Ausdruck zu den voraussetzungsvollsten, auch zu den am wenigsten sicheren der fraglichen Urkunden.

1

Eingehend Georges Burdeau, Traité de science politique, 2. Aufl., 1966 - 1977, Bd. V, S. 113 ff. 2 Ebd., S. 74 ff. - Zur Rolle des Volkes in der Demokratie vgl. auch dens., Reflexöes: Politica e Direito, 1978, S. 176 ff, 199 ff, 354 ff und dens., Constituinte e Constituiçao, 1985, S. 48 ff 2*

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I. Warum sprechen Verfassungen von „Volk"?

Das Ziel, mit dem diese ihn gebrauchen, ist offenkundig immer die Legitimierung des verfaßten Politischen Systems. Auch „Nation" könnte dazu dienen. Doch außerhalb von Frankreich, wo sich dieser Begriff - scheinbar - eine gewisse Unschuld bewahren konnte, gehen die Verfassungstexte zögernd mit ihm um. Nun gibt es real keine „Bluts"gemeinschaft, wohl aber Kulturgemeinschaften, die im Bereich des Verfassungsrechts Verfassungskulturen darstellen: die politische „Nation" derer, die unter dieser Konstitution leben wollen. So wurden „Volk" und „Nation" denn auch noch im 18.Jahrhundert ohne Schwierigkeiten ineins gesetzt3. Doch gilt das aus gutem Grund - seit der zweifelhaften Karriere des Nationbegriffs im „nationalistischen" 19. Jahrhundert - nicht mehr. Allerdings hat auch „Volk", vor allem im 20.Jahrhundert, eine Laufbahn durch autoritär-chauvinistische und totalitär-nationalistische Delirien hindurch genommen, die für den Kontext demokratischer Legitimierung nur ex negativo aufschlußreich sein kann. Klarer war „Nation" zu Beginn der Französischen Revolution von Sieyès und der Nationalversammlung ins Spiel gebracht worden: als Kunstfigur, die den Widerspruch zwischen pouvoir constituant (als dessen Ergebnis die Verfassung von 1791fingiert wurde) und pouvoir constitué (der Monarchie und dem König) vorgeblich auflöste4. Der beide pouvoirs trennende Ansatz brach zwar mit Rousseau, und das gilt auch schon für den Zusammentritt der Nationalversammlung als „Repräsentation" des Volkes. Doch machte die Operation den Weg dafür frei, das „Volk" von den bestehenden Machtverhältnissen, vom Legitimationsgerede des Ancien Régime loszubinden, es als „konstituierend" in die verändernde, die revolutionäre Rolle zu schieben. In der politischen Stoßrichtung wenigstens folgt diese Wendung noch immer Rousseau: sie schreibt dem „Volk" die oberste Legitimität zu.

3

Vgl. Ingeborg Maus, Zur Transformation des Volkssouveränitätsprinzips in der Weimarer Republik, in: P. Nahamowitz/ St. Breuer (Hrsg.), Politik - Verfassung Gesellschaft, 1995, S. 107 ff., 108; grundsätzlich dies., „Volk" und „Nation" im Denken der Aufklärung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1994, S. 602 ff. 4

Dazu Friedrich Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, Elemente einer Verfassungstheorie V, 1995, z.B. S. 58 ff.

I. Warum sprechen Verfassungen von „Volk"?

Was aber soll es hindern, gerade von Rousseau her, dieses „Volk" als die Vielheit der ein Staatsgebiet bewohnenden realen Menschen zu begreifen; eine in sich nicht „einheitliche", eine gemischte, gruppierte, aber gleichheitlich und undiskriminiert organisierte Vielheit?

I I . „Volk" als Aktiwolk Dieser erste Bestandteil von „Demokratie" ist wenig reflektiert; der zweite beschäftigt unausgesetzt Öffentliches Recht, politische Soziologie und Politikwissenschaft. „Herrschen" umfaßt Verfassunggebung, Gesetzgebung und Normsetzen auf den untergeordneten Ebenen, heißt Ausführen der geltenden Vorschriften und schließlich Kontrolle (innerexekutivische, parlamentarische undrichterliche). Als Subjekt von Herrschaft in diesem Sinn wirkt nach herrschender Lehre das Volk durch Wahl einer verfassunggebenden Versammlung und/oder Abstimmung über den Text einer neuen Konstitution5; durch Wahlen und, zum Teil, durch Volksbegehren und Volksentscheid; durch Wahl zu Selbstverwaltungsinstanzen und, gegebenenfalls, Beamtenwahl oder auch Richterwahl einschließlich einer „demo"kratisch nur sehr verdünnt vermittelten Wahl deutscher Bundesverfassungsrichter. Im ganzen gilt dieses Aktiwolk, die Gesamtheit der Wahlberechtigten, als Quelle der Bestimmung des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch Rechtsvorschriften - wie direkt oder indirekt auch immer. Dazu gehört noch, im weiteren Sinn, institutionalisierte Selbstbestimmung neben der munizipalen, z.B. in beruflichen, betrieblichen, universitären und schulischen Formen von Partizipation. Wahlen und Abstimmungen haben die zweifache Funktion, Vertreter in Gremien zu entsenden und sie gegebenenfalls durch spätere Wahlakte zu sanktionieren sowie, in engem Rahmen, gültige Einzelentscheide zu treffen bzw. Vorschriften zu erlassen. In der Exekutive und der Judikative kann „Herrschaft" des Aktiwolks in dem Umfang mittelbar am Werk gesehen werden, in dem demokratisch 5

Der mit dem Konzept „verfassunggebende Gewalt des Volkes" erhobene Anspruch wird durch Vertextung und demokratisches Verfahren des Gebens der Konstitution und Bewahren eines (die Demokratie wesentlich umfassenden) Verfassungskerns in der künftigen Praxis eingelöst: Friedrich Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995. Damit ist kein Verlust an „Substanz" verbunden, vielmehr wird Mythisierung (bei Carl Schmitt) wie formalistisches Ausweichen (bei Hans Kelsen) vermieden. - Grundsätzlich zur „Entpolitisierung der Legitimität": Paulo Boriavi des, A Despolitizaçao da Legitimidade, in: Ο Direito 1993, S. 61 ff.; jetzt auch unter dem genannten Titel in: DER STAAT 1996, S. 581 ff (Übersetzung von Peter Naumann und Friedrich Müller).

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Π. „Volk" als Aktiwolk

rechtfertigungsfahige Vorschriften rechtsstaatlich korrekt im Sinn von: verallgemeinerungsfahig und überzeugend nachvollziehbar in Entscheidungen umgesetzt sind. Die Verfassungen rechnen kraft ausdrücklicher Vorschrift nur Staatsangehörige zum Aktiwolk; zumindest ergibt sich das aus der Textsystematik (direkt z.B. Titel II Kapitel IV Art. 14, §§ 2 und 3 BrasV; indirekt zu Art. 38 Abs. 2, 28 Abs. 1 S. 2 GG). Ein Novum ist die Einführung eines Wahlrechts für Gemeinschaftsbürger im kommunalen Bereich im Rahmen der Europäischen Union. Als legitime Einschränkungsmöglichkeiten des Wahlrechts von Staatsangehörigen gelten das strafrechtlich korrekte Aberkennen der fraglichen bürgerlichen Ehrenrechte sowie Lebensalter und „Geisteszustand. Sie werden traditionell nicht als demokratiewidrige Diskriminierung betrachtet; stehen allerdings, wie alles, der Manipulation um so mehr offen, als ein Staat autoritäre Züge annimmt. Gerade dann aber liefern Praktiken wie die einer politischen Psychiatrie Belege für Entlegitimierungsprozesse angesichts des Maßstabs „Aktiwolk"6. Dessen Zuschnitt auf Staatsangehörige ist herkömmlich positives Recht, versteht sich aber nicht von selbst. Dauernd hier lebende, arbeitende, Abgaben und Beiträge leistende Ausländer gehören zur Bevölkerung. Sie sind faktisch Inländer, werden wie rechtliche Inländer von denselben „demokratisch" legitimierten Vorschriften betroffen. Ihr Ausschluß aus dem Aktiwolk schränkt Breite und Folgerichtigkeit demokratischer Rechtfertigung ein. Besonders begründungsschwach ist das Abstammungsprinzip (ius sanguinis), das ein Phantasiekonstrukt darstellt, nicht eine empirisch („Blut") abstützbare Folgerung. Der Grundgedanke von Demokratie ist: normatives Bestimmen der Art des Zusammenlebens des Volkes durch dieses selbst. Wenn schon nicht die praktisch so gut wie undurchführbare Selbstregierung, dann jedenfalls Selbstcodierung der geltenden Vorschriften auf der Basis freien Meinungs- und Interessenkampfes, mit handhabbaren Alternativen und wirksamen Möglichkeiten politischer Sanktion. Alle Formen repräsentativer Entscheidung nehmen schon die Unmittelbarkeit aus dem Spiel. Es besteht kein demokratischer Grund dafür, gleichzeitig Abschied von einem möglichen umfassenderen Volksbegriff zu nehmen: dem der Gesamtheit der von den Normen Betroffe6 In Demokratien ist darauf zu achten, daß so schwerwiegende Maßnahmen wie Entmündigung oder Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt auf normierter Grundlage regelmäßig überprüft und gegebenenfalls zurückgenommen werden müssen.

Π. „Volk" als Aktiwolk

nen: one man one vote. Alles, was hiervon abweicht, bedarf im Staat, der sich als „Demo"kratie rechtfertigt, besonderer Begründung. Dieses Bild von „Volk" ist nicht aus dem der Souveränität7 abgeleitet. Für die Theoretiker ist „Volk" etwas je Verschiedenes, je nach ihren Strategien. Aber das „Volk" der heutigen Verfassungen sollte nicht verschieden sein danach, ob repräsentative oder plebiszitäre oder auf welche Art auch immer gemischte Verfahren zur Verfugung stehen; nicht danach, ob ein parlamentarisches System sich den einen oder anderen Typus von Wahlrecht zulegt oder danach, ob ein Parlamentssystem in bezug auf die Regierung installiert ist oder ein Präsidialsystem, und so fort. Das Volk der modernen Verfassungstexte, die sich durch es zu rechtfertigen suchen, ist der Ausgangspunkt, der degré zéro nachmonarchischer Legitimation. Allein das Aktiwolk kann ein so voraussetzungsvolles System nicht stützen8.

7

Im Sinn einer Art Volksabsolutismus, von dem Georg Jellinek, Staatslehre, 3. Aufl./ 7. Neudruck 1960, S. 498 spricht. 8

Allgemeine

Dazu auch in globaler Formulierung José Afonso Da Silva, Curso de Direito Constitucional Positivo, 10aEdiçâo 1995, S. 135: Demokratie ist nicht nur „governo" (Regierung), sondern „viel mehr als dies: sie ist Regierungsform, Lebensform und, vor allem, Prozeß".

I I I . „Volk" als globale Instanz der Zurechnung von Legitimität Zudem fragt sich, ob vorhin dessen Rolle in der Aibeit von Verwaltern, Regierenden und Richtern nicht zu idealistisch gesehen wurde. Wo Beamte und Richter nicht durch Volkswahl in ihr Amt kommen, ist ihr Handeln mit dem ursprünglichen des Aktiwolks - der Wahl von Parlamentariern, die beim Erlaß von Normtexten mitwirkten, welche dann in Exekutive und Judikative vertretbar umgesetzt werden - auf allzu ätherische Weise verknüpft. Deswegen sollte man die Frage hier bereits anders stellen. Zwar sieht es im Idealfall so aus: Demokratisch gesetzte Normtexte sind Volksrecht. Werden sie in der alltäglichen Arbeit der Juristen (Fallbehandlung, verbindliches Entscheiden, Kontrolle und Überprüfung) als verpflichtend respektiert und methodisch entsprechend ernsthaft beachtet, bleibt die Rechtsarbeit im volksrechtlichen Diskurs. Sie gleitet nicht in ein abweichendes Amtsrecht ab; der Jurist im demokratischen Rechtsstaat darf nicht den römischen Prätor spielen9. Die 'ausführenden9 Gewalten Exekutive und Rechtsprechung sind nicht nur rechtsstaatlich eingerichtet und kontrolliert, sie sind auch demokratisch verpflichtet. Das Aktiwolk wählt seine Vertreter; aus deren Arbeit gehen (unter anderem) Normtexte hervor; diese werden in den verschiedenen Funktionen des Staatsapparats umgesetzt; Adressaten, Betroffene solcher Akte sind potentiell alle, ist das „Volk" als Bevölkerung. Das ganze bildet eine Art Kreislauf von Legitimationsakten, der an keiner Stelle (un-demokratisch) unterbrochen werden darf. Dies ist die demokratische Seite dessen, was Legitimierungstruktur genannt worden ist10. Doch ist es nicht dasselbe, zu sagen, die Rechtsarbeiter seien demokratisch gebunden, und: hier sei, wenn auch nur mittelbar, das Aktiwolk tätig. Der Kreislauf der Legitimierung ist zwar nicht undemokratisch unterbrochen, aber er ist unterbrochen. Es legt sich nahe, die Rolle des Volkes hier anders zu sehen: als globale Instanz der Zurechnung demo-

9

Vgl. Friedrich Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, Abschn. 222.32.

10

Und zwar von der rechtsstaatlichen Seite her („Textstruktur der Legitimität") von Friedrich Müller, in: ders. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 204 ff.

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ΠΙ. „Volk" als globale Instanz der Zurechnung von Legitimität

kratischer Legitimität. Es ist in diesem Sinn, daß gerichtliche Entscheidungen „Im Namen des Volkes" ergehen und verkündet werden. Dieses Muster wiederholt sich: Das Volk ist nicht nur - mittelbar - aktive Quelle der Normsetzung durch Wahlen sowie - unmittelbar - durch gesetzgebende Referenda; in jedem Fall ist es Adressat der Vorschriften, im Zusammenhang von Pflichten, Rechten und Schutzfunktionen. Und es rechtfertigt, indem es diese Rechtsordnung global annimmt, gegen sie nicht revoltiert11, diese Ordnung in einem weiteren Sinn als demokratische. Das Argument trägt, in diesem erweiterten Sinn, auch für die NichtWähler, auch für (z.B. im Mehrheitswahlrecht) überstimmte Wähler oder für solche, deren Stimme einer Sperrklausel zum Opfer fiel. Zudem behalten ja die einen das Recht, beim nächsten Mal zur Wahl zu gehen; und die andern die Chance, dann vielleicht bei den stärkeren Bataillonen zu sein. Bei der Verfassunggebung lassen sich verschiedene Schichten benennen: abgesehen davon, daß der Rechtsbegnff der verfassunggebenden Volksgewalt Vertextung erfordert 12, braucht es zweitens ein demokratisches Verfahren, die Verfassung zu schaffen: das (Wahl-)Volk wählt die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung und/oder stimmt über den fertiggestellten Text der Konstitution ab. Das ist Normieren - mittelbar und/oder unmittelbar - durch das Aktiwolk; also die herrschaftsfunktionale Seite, das „kratein" in „Demokratie". Das dritte Erfordernis, der Berufung auf die verfassunggebende Volksgewalt gerecht zu werden, betrifft dagegen die basisdemokratische Seite: das Volk als gutwillig bleibender Adressat, als in zeitlicher Dauer legitimierende Grundlage einer politischen Ordnung, deren verfassungsrechtlicher Kernbestand durch das Handeln des Staates bewahrt, praktisch respektiert wird. Der Grund dafür, in diesem Dispositiv eine eigene Rolle von „Volk" in der Demokratie sehen zu können, liegt im Prototyp dieses Dispositivs: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". Alle Staatsgewalt ist Rechtsgewalt. Der Staat ist nicht etwa ihr Subjekt, ihr Eigentümer; er ist ihr sachlicher Verantwortungs- und Zuordnungsèere/cA. Die „Staatlichkeit dieser Gewalten liegt nicht darin, daß der Staat das Gewaltsubjekt sei, als subjektives, personales (wenn auch fiktives) Willenswesen ihr geborener Inhaber. Noch weniger ist er 11

Was natürlich auch heißt: an der Revolte nicht durch Unterdrückung gehindert werden muß. 12

Hierzu und zum ganzen dieser Frage: Friedrich Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995.

ΠΙ. „Volk" als globale Instanz der Zurechnung von Legitimität

ihr Ursprung; als dieser wird in Art. 1/Einziger Paragraph BrasV wie in Art.20 Abs. 2 S. 1 GG gerade das „Volk" genannt. Das aber offenbar nicht im naturalistischen Sinn einer einmaligen punktuellen Prozedur des „Ausgehens"; sondern im rechtlichen einer ständigen Instanz, der gegenüber Staatsgewalt verantwortlich ist, vor der sie die Ausübung ihrer „Gewalt"-Tätigkeit tatsächlich vertreten muß: im Sinn dieser Version des demokratischen Prinzips. Nach den genannten Texten liegt alle Staatsgewalt nicht „beim Volk", sondern „geht" von ihm „aus". Sie wird als im Auftrag des Volkes und in realisierbarer Verantwortung vor ihm ausgeübt verstanden. Dieses Verständnis des „Ausgehens" ist auch nicht fingierend-metaphysisch, es ist normativ. Daher darf es keine Fiktion bleiben. Es muß in real fühlbare Sanktionen auslaufen können, muß das demokratische Versprechen in seiner aktiven Variante zur Seite haben. Anders gesagt: Das „Volk" als Zurechnungsinstanz meint nicht denselben Aspekt wie das „Volk" als Aktiwolk. Aber jenes Verständnis ist nur dort vertretbar, wo dieses zugleich real ist: nicht in autoritären Systemen, wo „Volk" als Zurechnungsinstanz reichlich beschworen wird, dann aber nur noch von ideologischem (Un-)Wert ist, nicht mehr von rechtlicher Funktion. Die Figur der Zurechnungsinstanz rechtfertigt nur dort - das allerdings auf eigene Weise -, wo gleichzeitig die Figur des Aktiwolks gegeben ist. Von diesem kann emphatisch aber nur dann die Rede sein, wenn individuelle und nicht zuletzt auch politische Grundrechte gelten, praktiziert und respektiert werden. Grundrechte sind nicht „Werte", nicht Vorrechte, nicht „Ausnahmen" von oder „Lücken" in der Staatsgewalt, wie obrigkeitsfreudiges Denken noch immer behaupten will. Sie sind Normen, gleiche Rechte, sind aktive Ermächtigung der Menschen, der Bürger. Sie begründen, für ihr Teil, rechtlich eine freiheitliche Gesellschaft, einen demokratischen Staat. Ohne praktizierte Menschen- und Bürgerrechte bleibt „das Volk" eine ideologisch abstrakte schlechte Metapher. Durch praktizierte humanrightswird es, in normativer Funktion, zum „Staatsvolk" einer der Rechtfertigung fähigen Demokratie - auch zum „Volk" als der Instanz einer globalen Zurechnung.

IV. „Volk" als Ikone Nur mit Zurechnungs volk" ohne Aktiwolk kann sich ein autoritäres Regime nicht rechtfertigen. Aber auch in der Demokratie - sie allein ist hier Thema - kann, konkret bewertet, diese Operation versagen. Denn was soll gelten, wenn sich die Konstitution in ihrem Text auf die verfassunggebende Volksgewalt beruft, die Verfassung aber - wie das deutsche Grundgesetz ohne demokratisches Verfahren in Kraft gesetzt wird13? Und was gilt, wenn parlamentarische Gesetze formal korrekt erlassen werden, das Parlament aber durch gefälschte Wahlen oder durch Manipulation der Abstimmung oder ähnliches sei es allgemein, sei es im fraglichen Fall nicht „repräsentativ" ist? Gewiß sind solche Probleme durch positives Verfassungsrecht im Einzelfall beantwortbar; hier geht es aber um die Reflexion auf Legitimität. Was soll sein, wenn legitime Gesetze oder Verordnungen von Regierung und Verwaltung nicht implementiert werden oder wenn ihre Verwirklichung subjektiv/objektiv oder jedenfalls objektiv auf Abwege gerät? Und was soll fur demokratische Legitimierung - gelten, wenn die Justiz „Im Namen des Volkes" verbindlich entscheidet, der Richterspruch aber keinem gültigen Gesetz plausibel zugerechnet werden kann - sei es wiederum aus subjektiven und objektiven Gründen im strafrechtlichen Sinn der Rechtsbeugung, sei es nur objektiv als Rechtsveibiegung oder als Rechtsunterstellung („freies" Richterrecht14)? „Was soll gelten" heißt dabei jedesmal, zum einen: Was bedeutet das im betreffenden Fall für demokratische Legitimität? Und zum andern: In welche Bedeutung rutscht „Volk" hier hinein, da sein Heranziehen auch nur als Zurechnungsvolk nicht (mehr) gerechtfertigt werden kann? 13 Es geht bei diesem Argument nur um das demokratische Verfahren; und nicht, wie oben zu Π., um Legitimation in zeitlicher Dauer durch Bewahrung des Verfassungskerns (Volk als Zurechnungsinstanz). - Das deutsche Grundgesetz ist im Ergebnis eine legitime Verfassung; aber nicht (auch) deshalb, weil das Verfahrensmoment, das in der Berufung auf „verfassunggebende Gewalt" notwendig enthalten ist, hier aktualisiert worden wäre. - Vgl. Friedrich Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, z.B. 26 ff., 46 f. 14

Dazu mit praktischen Beispielen Friedrich Müller, ' Richterrecht \ 1986.

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IV. „Volk" als Ikone

Der Verfassungsstaat hat das Monopol der legitimen Gewaltausübung, nicht einer illegitimen. Zu dieser hat er bereits kein Recht. Verbindliche Entscheide von Funktionären bzw. Gremien des Rechtssystems müssen demokratisch in Kraft gesetzten Texten im Gesamtnetzwerk der Textstruktur dieses Rechtsstaats, d.h. müssen Normtexten methodisch überzeugend zugeschrieben werden können. Auch wenn das der Fall ist, übt das Gericht (oder die sonst entscheidende Stelle) Gewalt aus15; Gewalt, die mit dem Installieren einer derartigen Entscheidungskompetenz konstitutionell notwendig geschaffen wird. Die den verbindlichen Spruch erlassende Stelle, die sich nicht methodisch plausibel auf Normtexte stützen kann, übt dagegen eine darüber hinaus gehende, eine wilde, überschießende, nur noch in diesem Akt bestehende und nicht mehr konstitutionelle, sie übt „aktuelle" Gewalt aus. Die Berufung auf das Volk, das Handeln „Im Namen des Volkes" ist dann nur noch ikonisch. Bei dieser Konfiguration geht es weder um das Aktiv- noch auch nur um das Zurechnungs"volk"; und schon gar nicht herrscht das Volk real. Aber es wird so gesprochen, als herrsche es, als habe es mittelbar gehandelt, als legitimiere es durch normvermittelte Loyalität. Wir benützen das Volk dann als Nachfolger der vordemokratischen, der überweltlichen Rechtfertigung: Legitimismus „von Volkes Gnaden". Das Volk als Ikone, zum System erhoben, verfuhrt zu extremen Praktiken. Die Ikonisierung besteht darin, das vorhandene Volk sich selber zu überlassen; die Bevölkerung zu entrealisieren, zu mythisieren (natürlich ist es dann schon längst nicht mehr diese Bevölkerung), sie pseudosakral zu überhöhen und so als für die Gewalt unschädlich gemachte abstrakte Schutzpatronin zu setzen 'notre bon peuple'. Oder, falls die reale Bevölkerung für dieses Vorhaben als zu sperrig erscheint, geht es darum, „das Volk zu erschaffen", und zwar durch äußerliche Maßnahmen: Ansiedlung, Umsiedlung, Vertreibung, Ausrottung; neuerdings durch „ethnische Säuberung" als barbarischer Neologismus für eine alte barbarische Praxis. Ein historisches und aktuelles Horrorkabinett brutaler Manipulation von Bevölkerungen, um die nach dem Bild und Gleichnis der herr15

Zur Unterscheidung konstitutioneller und aktueller Gewalt im Rahmen der Verfassungstheorie vgl. Friedrich Müller seit: Recht - Sprache - Gewalt, 1975 (brasil. Direito - Linguagem - Violência, 1995, übersetzt von Peter Naumann). - Zum Konzept der Textstruktur vgl. dens., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 80 ff., 95 ff.; dens. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 205 f., 215; dens., Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, Abschn. 312.7, 314.1, 591.

IV. „Volk" als Ikone

sehenden Akteure richtig zusammengesetzte Großgruppe anschließend sakralisieren zu können - die Frage nach der eigenen Legitimität darf sich dann nicht mehr stellen. Heutzutage, am Ausgang des Jahrhunderts, kann ein derartig zusammengezwungener „Volkskörper" aber durchaus auch als Aktiwolk in Erwägung gezogen werden. Wahlen sind dann nicht mehr besonders riskant; Abstimmungen, etwa über eine inhaltlich oktroyierte, formal durch Mehrheit abzusegnende neue Verfassimg sind es auch nicht. „Das Volk erschaffen" kann noch etwas anderes meinen, das zwischen beiden „Volks"funktionen oszilliert, in den idealistischen Gründertexten dieses Theorems aber vor allem das Aktiwolk meint: von Piaton über Rousseau und Fichte bis zu Teilen der kommunistischen Tradition, ausgeprägt vor allem bei Mao Tse-tung, das Konzept des Erziehungsstaats. Er sucht sich ein - abgesehen von auszuschaltenden hartnäckigen Dissidenten - homogenes Gesamtvolk herzustellen, eine durch Verfassunggebung („législateur"), Gesetze, Sitten, Erziehung und kollektive Folklore, nicht zuletzt auch durch libidinös besetzte Vorbilder16 durchpolitisierte Aktivbevölkerung. Wenn noch Jean-Paul Sartre davon spricht, man müsse „das Volk erschaffen", bewegt er sich auf der Linie eines difiusen Rousseauismus mit anarchisch-libertärer Tendenz. Schließlich kann, in einem abgeschwächten Sinn, das „Volk" im Sinn der Aktivbürgerschaft und im Unterschied zur Gesamtbevölkerung natürlich auch durch Einwanderungs-, Aussiedler-, Ausländer-, Staatsbürgerschafts- und Wahlrecht zugerechtgeschneidert werden, und wird es auch in ständiger Praxis. Aber das ist schon wieder das tägliche Operationsfeld des demokratischen Verfassungsstaats und nicht mehr die Konstellation „Ikone". Diese gehörte schon zum überweltlichen Inventar der religiös gestützten älteren monarchischen Tradition. Der König versicherte sich vor Gott seiner guten Moral durch den Sermon, für „das Volk" und zu dessen Bestem zu herrschen. Historisch folgte, nach und nach, die Nötigung der dominierenden Personen und Gruppen, sich innerweltlich zu rechtfertigen. Es bot sich an, sich nunmehr auf „das Volk" zu berufen - im Dienst der Position der Machthaber vor den von ihnen Beherrschten. Die Ikonenmaler griffen zur Farbskala der „verfassunggebenden Gewalt des Volkes". Auch noch dieses Ritual will die Rückkehr zu einem gesellschaftlichen Zustand vortäuschen, in dem es „Volk" wirklich gegeben habe: die Gesamtheit aller Menschen der durch 16

Zu diesen: Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1967, S. 27 ff., und durchgehend. 3 F. Müller

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IV. „Volk" als Ikone

rechtliche und politische Institutionen noch nicht gespaltenen, in Termen der Rechtssoziologie: der erst segmentar, noch nicht funktional differenzierten archaischen Gruppe, von Horde, Stamm, Großfamilie; in denen, sei angefügt, das Volk gerade darum keine Verfassung gebraucht hatte17. Auch das also ist Projektion, ihr nunmehr innerweltlicher Charakter ändert daran nichts. Die pouvoirs constitués beherrschen den pouvoir constituant. Dieser, das Volk also, habe seine Gewalt eben dazu benützt, die Gewalt jener Anderen über sich zu begründen; habe ihnen ein für alle Mal Legitimität eingehaucht. Gewalt schaut dem Volk entfremdet entgegen; es findet sich unter der Gewalt eines Staates, der sich sein Volk hält - sein Volk der „verfassunggebenden Gewalt", eines leuchtstarken Heiligenbildnisses. Dabei geht es real nicht mehr um archaisch strukturierte Großgruppen, mit dem Aufgang der europäischen Neuzeit macht sich das auch bemerkbar. Für Bodin und Althusius trug „Volk" noch die Züge der sorgsam hierarchisierten, der „organisch gegliederten" universitas des Feudalismus. Dagegen geht Locke, in Hobbes ' Nachfolge, schon vom bürgerlich isolierten Individuum aus. Dieses Konstrukt war den Rechtfertigungsinteressen der aufsteigenden bürgerlichen Führungsschicht am fügsamsten18. Bei Hobbes ist es der König, der die vorhandene „Menge" zum Volk macht. Bei Locke ist dann die ideologisch nach-antike und nach-christliche, gesellschaftlich nachfeudale Hierarchie schon ökonomisch bestimmt. Der wirtschaftlich und damit bereits politisch einflußreiche Besitzbürger ist in der täglichen Realität der Profiteur des Lockeschen Modells: Wahlberechtigter und Titular des sogenannten Widerstandsrechts, nicht zuletzt auch Träger grundrechtlicher Ansprüche. In die Textoberfläche des liberalen Diskurses dringt das nicht vor, die Ikone „Volk" weist keine Risse auf. Diskriminierungen dieser Art entkommt erst Rousseau. Er will die tatsächliche Bevölkerung zum rechtfertigenden, weil handelnden Volk machen, den Souverän zum tatsächlichen demokratischen Machthaber. Weil er das ernst meint, muß er einen territorial überschaubaren, kapitalistisch unentwickelten, ökonomisch und sozial einigermaßen homogenen kleinen Randstaat Europas als Experimentierfeld voraussetzen. Mit dem Entwurf einer volksdemokrati17

Zu den segmentar ausdifferenzierten, sich auf das Prinzip der Verwandtschaft gründenden „alternativlosen" archaischen Gesellschaften vgl. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 3. Aufl. 1987, S. 147 f. 18

Dazu Friedrich Müller, Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, hrsg. von R. Christensen, 1990, z.B. S. 139ff., 200 ff.

IV. „Volk" als Ikone

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sehen Gesetzesrepublik, geleitet von der volonté générale und damit inhaltlich angeleitet vom Gemeinwohl (bien commun), verläßt er das ikonische Reden über das Volk. Die „Betroffenen" sollen zugleich die „Betreffenden" sein, die Normgeber identisch mit der Menge der Normadressaten. Darin - nur darin nennt er etwa das perikleische Athen als Vorbild; nicht dagegen in dessen System, die Dreiviertelmehrheit der Bevölkerung (alle außer den freien, waffenfähigen, Steuern zahlenden und seit langem ansässigen athenischen Männern) von den Bürgerrechten auszuschließen. Rousseau will keine kollektive Ausgrenzung von Gruppen aus dem Normbegriff „Volk", keine zusätzliche Segmentierung der Gesellschaft durch privilegierendes Abstufen der Rechte. Allerdings sind Rousseaus Begriffe sehr anspruchsvoll: Republik, Gesetz, Gemeinwille, Gemeinwohl; und sie sind an durchgängige Gleichbehandlung gebunden. „Volk" (peuple) meint bei Rousseau daher auch nicht unterschiedslos die vorhandene Bevölkerung einschließlich unbelehrbarer Dissidenten. Es meint die Gesamtheit der dem Gemeinwohl dank politischer Tugend (vertu) verpflichteten Staatsbürger (citoyens). In diesem Sinn ist das Volk durch politische/pädagogische/kulturelle Maßnahmen, die einen langen Atem erfordern werden, erst zu erschaffen. Der Begriff differenziert von seinem theoretischen Anspruch her, diskriminiert aber nicht vorab durch reale (juristische/gewaltsame) Exklusion. Anders agiert dann, auf den Spuren von Sìeyés, die Nationalversammlung der Französischen Revolution. Wer das Volk sei, wird auch hier in der alten Tradition eines selektiven sozialen Kampfbegriffs unterstellt: der Dritte Stand, das neue Besitzbürgertum, also weder die geistliche und weltliche Aristokratie noch auch das Babeufsche Lumpenproletariat. Die Ikonisierung ganz allgemein liegt nicht zuletzt darin, die nach der Geschlechtsdiflferenz, nach sozialen Klassen/Schichten, oft auch ethnisch und sprachlich, kulturell und religiös unterschiedliche, wenn nicht gespaltene Bevölkerung zum „Volk" zu vereinheitlichen. All das würde, im ideologischen Gebrauch, die legitimierende Funktion prekär machen. Der Holismus heiligt dagegen, „das" Volk steht hinter unserer Gewaltpraxis und macht sie unangreifbar. „Das" Volk „gibt" in diesem Ideologem auch die Organisationsform unserer Gewalt, die Verfassung, gleichgültig wie diese real in Kraft gesetzt und gehalten werden mag. Trotz oder gemäß dieser Verfassung fortbestehende gesellschaftliche Widersprüche werden zugleich „substantiell" dadurch gerechtfertigt, daß „das" Volk sie so wolle. Die heterogene Bevölkerung wird zugunsten der Privilegierten und Etablierten ver„ein"heitlicht, wird zum „Volk" gesalbt und durch Sprachmonopol und Definitionsmacht der vorherr3*

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IV. „Volk" als Ikone

sehenden Gruppe(n) als verfassunggebend und -erhaltendfingiert. Das hindert wunschgemäß daran, die realen gesellschaftlichen Spaltungen zu benennen, auszutragen und damit zu bearbeiten. Allein schon die Formel von der „verfassunggebenden Gewalt des Volkes" spiegelt das Eine vor. Soll dagegen das Volk - selbst in normativ eingegrenzter Teilmenge als Aktiwolk - als reales politisches Subjekt auftreten, sind Institutionen und nicht zuletzt Verfahren notwendig: Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, Volksentscheid über den Verfassungstext, plebiszitäre Rechtsinstitute, freie Wahl und Abwahl, Abstimmung. Alternativen und Sanktionen müssen prozedural zwingend normiert sein. Das Lämpchen vor der Ikone kann erlöschen; das Volk, und sei es auch nur seine Teilmenge der aktiv berechtigten Staatsbürger, tritt als Adressat und Agent von Verantwortung und Kontrolle auf die Szene.

V. „Volk" als Adressat zivilisatorischer Staatsleistungen Volk als Aktivbürgerschaft umfaßt nur die Wahlberechtigten, Volk als Zurechnungsinstanz in der Regel nur die Staatsangehörigen. Die Ikone ist unberührbar, betrifft keinen unter den Lebenden. Und die Bevölkerung in alldem, kann auch sie auf ihre Art demokratisch legitimieren19? Die bloße Tatsache, daß Menschen sich in einem Staatsgebiet aufhalten, ist alles andere als belanglos. Ihnen kommt, rechtlich, Menschqualität zu, Menschenwürde, Rechtsfähigkeit. Sie werden durch geltendes Verfassungs- und Gesetzesrecht geschützt: Rechtsschutz, rechtliches Gehör, illegales Staatshandeln abwehrende Menschenrechte, polizeirechtliche Vorschriften, und vieles mehr. Staatsfunktionäre, die sie in ihren garantierten Positionen verletzen, dürfen nicht ohne Sanktion davonkommen. Gesetzliche und vertragliche Tatbestände, die nicht auf Staatsbürger und Wahlberechtigte eingegrenzt sind also die normalen zivil-, straf- und verwaltungsrechtlichen Vorschriften - erzeugen für sie nicht nur Pflichten und Lasten; sie kommen ihnen auch zugute. Die Einwohner bewohnen nicht einen Staat, sondern ein Territorium; das Gesagte gilt auch für fremde Staatsangehörige, auch für Apatride, die zur Wohnbevölkerung zählen. Es gilt auch für Durchreisende, wenn auch für sie nicht rechtlich, sondern faktisch eingeschränkt: so werden sie z.B. typischerweise nicht in den Regelungskreis der Arbeits- und Sozialgesetzgebung geraten. Die Funktion des „Volkes", auf das ein Staat sich beruft, ist immer die, ihn zu legitimieren. Die Demokratie ist ein besonders anspruchsvolles Normendispositiv, das alle Menschen in seinem Bereich als „demos" verschiedener Stufe und in verschiedenem Grad betrifft. Die Unterscheidung von Bürgerund Menschenrechten ist nicht nur differentiell, sie ist systematisch wichtig. Nicht nur die Bürgerfreiheiten, auch die MenschenrQchie sind als realisierte für eine legitime Demokratie unverzichtbar. Auch das Respektieren dieser 19

Ohne die Frage näher zu strukturieren, nennt José Afonso Da Silva die herrschende Praxis, „Volk" auf Wahlberechtigte bzw. auf Staatsbürger einzuschränken, zu Recht „eine reaktionäre Tendenz" (uma tendência reacionaria), Curso de Direito Constitutional Positivo, 10aEdiçâo 1995, S. 136.

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V. „Volk" als Adressat zivilisatorischer Staatsleistungen

nicht im engeren Sinn staatsbürgerlichen Positionen stützt das Politische System, und zwar nicht nur in seiner rechtsstaatlichen Qualität. Das nähert sich wieder dem - im Herrschaftssystem nicht verwirklichten - Grundgedanken „one man one vote" von einer anderen Seite her an: „Volk" als Gesamtheit der sich hier aufhaltenden, der von geltendem Recht und den Entscheiden der Staatsgewalt tatsächlichen Betroffenen. Das Textkorpus einer rechtsstaatlich geformten Demokratie legitimiert sich nach diesem Vorschlag (neben der Figur des Volkes als Zurechnungsinstanz) durch zweierlei: die Minderheit der Aktivbürgerschaft, wie mittelbar oder unmittelbar auch immer, mit umschriebenen Entscheidungs- und Sanktionsbefugnissen auszustatten. Und neben diesem prozeduralen Faktor zweitens dadurch, wie durch solche Entscheidungen und die Art ihrer Umsetzung alle, das „ganze Volk", die Bevölkerung, die Gesamtheit der Betroffenen behandelt werden. Beide, Entscheidung (als Mitwirkung „des Volkes") und Implementation (als Auswirkung auf „das Volk") sind demokratisch zu befragen. Beide Seiten sind Ergebnisse einer entwickelten Rechtskultur, ebenso wie rechtsstaatliche Korrektheit im staatlichen Einhalten von Abwehr- wie von Leistungstatbeständen gegenüber den betroffenen Menschen. Man kann diese Funktionsschicht des Problems mit „das Volk als Adressat zivilisatorischer Staatsleistungen", als dressatenvolk? bezeich-

20

gen.

Dieser Term wird seiner Kürze, nicht seiner etwaigen Eleganz wegen vorgeschla-

VI· Welchen realen Gruppen entsprechen die Gebrauchsweisen von „Volk 44 ? Das ikonische Volk bezieht sich auf niemanden im Rahmen des Legitimierungsdiskurses21. Bei wachsender Politisierung und noch immer pseudo-sakralem Gebrauch (revolutionäre „Volkse-Mythologie) werden die Ein- und Ausgrenzungen allerdings energisch: „In der gegenwärtigen Etappe, in der Periode des Aufbaus der Sozialismus, gehören zum Volk alle Klassen, Schichten, gesellschaftlichen Gruppen, die den Aufbau des Sozialismus billigen, unterstützen und dafür arbeiten"22, schreibt Mao Tse-tung. Das Volk als Zurechnungsinstanz ist, in den Verfassungstexten mehr oder weniger klar, auf die Staatsangehörigen eingeschränkt; das Aktiwolk noch enger durch positives Recht festgelegt (Normtexte über das Recht auf Wahlen und Abstimmungen, einschließlich der Wählbarkeit in verschiedene öffentliche Funktionen). Aus dem Adressatenvolk schließlich ist niemand legitimermaßen ausgeschlossen; auch nicht etwa Minderjährige, mental Kranke, der bürgerlichen Ehrenrechte für - zeitweise - verlustig Erklärte. Auch sie haben normalen Anspruch auf Respektierung ihrer Grund- und Menschenrechte, auf Mieterschutz, Arbeitsschutz, Sozialleistungen und ähnliche Tatbestände, die auf ihren Fall sachlich zutreffen. Das entspricht dem „government for the people" in Abraham Lincolns bekannter Formel, wenn man - ohne ihrem Autor diese Reflexion unterschieben zu wollen - die Linie zur Tradition so ziehen will. Das „government by the people" sollte nach dem demokratischen Grundgedanken möglichst alle ihrer selbst mächtigen Erwachsenen umfassen; allerdings ist das nicht gängige Praxis, wobei die Einschränkung auf wahlberechtigte Staatsbürger mehr an

21

Was nicht heißt, der autoritäre Staat diskriminiere nicht Minderheiten; das ist ein anderes Thema. 22

Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung, 1967, S.56 - Dagegen „sind alle gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen, die sich der sozialistischen Revolution widersetzen, die dem Aufbau des Sozialismus feindlich gesinnt sind und ihn zu untergraben versuchen, Feinde des Volkes", ebd.

40

VI. Welchen realen Gruppen entsprechen die Gebrauchsweisen von „Volk"?

Begründungsintensität erfordert, als üblicherweise mobilisiert wird23. Schließlich schillert das „government of the people", je nach tatsächlicher Gebrauchsweise, zwischen der ikonischen Funktion und jener der Zurechnungsinstanz. In Rousseaus plebiszitärem Modell liegt sogar der heroische Versuch vor, Zurechnungs- und Adressaten"volk" mit dem Aktiwolk identitär zu verschmelzen und dadurch, durchaus im Sinn „of the people", das fromme Heiligenbild des den Machthabern nützlichen entmündigten Volkes in die Vorgeschichte der modernen Republik zu verbannen. Präziser bietet sich unter den klassischen Konzepten Georg Jellineks Statuslehre zum Vergleich an: status negativus (Freiheit vom Staat, Abwehrrechte), status positivus (Ansprüche und Forderungen, Leistungen und Teilhabe, Status im Verfahren). Für Jellinek bedeutete der status positivus vor allem Anspruch auf Rechtsschutz; andere Beispiele sind Ansprüche auf Rechtswege und den gesetzlichen Richter, auf rechtliches Gehör, auf Mutterschutz, auf den Gleichheitssatz beim Verteilen staatlicher Leistungen. Die dritte Hauptfunktion ist der status activus: staatsbürgerliche Rechte wie Wahlrecht, Wählbarkeit, Zugang zum öffentlichen Dienst. Dieser Status ist dem Aktiwolk vorbehalten, wogegen die Bevölkerung als Adressat zivilisatorischer Staatsleistungen solche sowohl über den status negativus als auch über den status positivus erhält24. Dieses Kreuzen der Jellinekschen Statuslehre mit der Frage nach demokratischer Legitimierung und nach den verschiedenen „ Volks"begriffen hat nichts mit einer präskriptiven „Begründung" gemein, ist nur ein auf begrenzte Analogie hinweisender Vorschlag zur Verständigung.

23

Vgl. auch den Versuch bei José Afonso Da Silva, Curso de Direito Constitutional Positivo, 10a Ediçâo 1995, S. 135 f., die Formel vom „governo do povo, pelo povo e para ο povo" wörtlich zu nehmen und für die Theorie der Demokratie zu erläutern; siehe auch Jorge Xifras Heras, Curso de Derecho Constitutional, 2. Aufl. 1957, Bd. Π, S. 21 ff. 24

Bei Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl./ 7. Neudruck 1960, S. 406 ff. findet sich „Volk" in der für sein Konzept kennzeichnenden ,,doppelte(n) Funktion": einmal angehörig „dem Staate als dem Subjekt der Staatsgewalt... Volk in subjektiver Qualität" und Volk als „Gegenstand staatlicher Tätigkeit, Volk als Objekt"; ebd., S. 406. - Zur Statuslehre vgl. dens., System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905.

V I I . „Volk" als Kampfbegriff Die Positivität der Demokratie „Volk" erweist sich als kein naturalistischer, erfahrungswissenschaftlich zu findender Begriff. Er ist auch nicht einfach, sondern komplex und künstlich; d.h. eine Folgerung aus einem Konzept und nicht aus einer Tatsache. Er ist sogar ein präskriptiver, oft als normativ gebrauchter Term; „gebraucht" dabei im dreifachen Sinn von benötigt, verwendet, abgenutzt. Taucht „Volk" in Normtexten auf, also vor allem in Verfassungsurkunden, so ist er als juristisches Tatbestandsmerkmal aufzufassen, ist er als Rechtsbegriff ernstzunehmen und lege artis zu interpretieren. In der historischen und (rechts-)politischen Verwendungsgeschichte trägt er nicht unschuldige, neutrale, objektive, sondern entschieden selektive Züge. Bei Perikles umfaßt der demos nur alle freien, waffenfähigen, Steuern zahlenden, lang ansässigen athenischen Männer. Im römischen Recht spaltet der alles beherrschende ausgefeilte Dualismus von Adel und Volk; und schon in den ältesten bekannten Staatswesen, den sumerischen poleis, die zeitweise eine entwickelte Kommunaldemokratie aufwiesen, konnten trotz im allgemeinen guter Rechtsstellung der Frauen nur die freien und wehrtauglichen Männer Mitglieder der „Volksversammlung sein. In der christlichen Urkirche beschreibt der Weg von „kléros" zu „laós" eine rasche Differenzierung von „Gemeinde", „Volk Gottes" zu einer Zweistufen-Hierarchie, welche die Spaltung von „Volk" („Gemeinde" = alle Gläubigen) auf dem Weg von Arbeitsteilung über Funktionsteilung, Funktionenhierarchie hin zu Institutionen- und Normenhierarchie und zu Herrschaftsstrukturen verfestigte. Genau deshalb wurde ein zusätzliches Wort für „Laien" als die einfachen, herabgestuften Gläubigen, für Nicht-Funktionäre erforderlich. Sogar als Gesamtheit der Untertanen in autoritären Systemen wird „Volk" noch intern hierarchisiert: ohnehin die Frauen, daneben aber Ureinwohner, Okkupierte, Heloten, „Minder"rassige, soziale Unterschichten und andere Diskriminierte dienen als nützliche Unter-Untertanenschafi. Die Selektion innerhalb von „Volk" kann offen sein (ideologisch ohne Umschweife ausgewiesen in totalitären Regimen, in Parteidiktaturen) oder auch

42

VII. „Volk" als Kampfbegriff. Die Positivit

der Demokratie

durch rechtlichen Formalismus verdeckt (im frühkapitalistischen Liberalismus seit John Locke). Der Erfindungsreichtum kennt angesichts von Kriterien der Diskriminierung nicht so bald Grenzen: die Hautfarbe bis zur chromatisch abgestuften Farbenskala im südafrikanischen Apartheidsystem; sonstige „rassische" Unterscheidungen; religiöse und ethnische Zugehörigkeit; der soziale Stufenbau der Gesellschaft (Sklaven, Freigelassene, Halbfreie, Freie); ökonomische (Steueraufkommen, Vermögensstand, Grundeigentum) oder sonstige Pluralwahlrechtssysteme („Bildungsgrad, gleichgesetzt mit Ausbildungszertifikaten, und ähnliches). Schließlich, als wohl universalstes Kriterium, das Geschlecht (z.B. Wahlrecht nur für Männer bis tief in das 20. Jahrhundert hinein). Auch wurde oder wird „das" Volk qualitativ nach seiner politischen Loyalitätsbereitschaft rigoros selektiert und zugleich mit mehr oder weniger Doppelmoral in den staatlichen Rechtfertigungstexten als „einheitlich", als en bloc legitimierend geführt: das Proletariat, die Mitglieder der Bewegung, der Staats- oder Einheitspartei, die „politisch bewußten Teile der Arbeiterschaft", „die guten Deutschen", und so weiter. Von hier ist es nur noch ein Flohsprung zum Erschaffen des (für die Machthaber) guten Volkes. Denn „Volk" wirkt, mehr noch als ein nur selektiver, als Zweck-, ja als Kampfbegriff: im „semantischen Kampf 25 und ebenso, wenn nicht noch häufiger, im brutalen Zurechtstutzen von Bevölkerungen zu ideologisch, rechtlich und manu militari zusammenzwungenen „Völkern" (Entrechtung, Unterdrückung, Vertreibung, Umsiedlung, Ausrottung „unpassender" Bevölkerungsteile). Ein parteiischer „Volks"begriff wird so scheinbar gerechtfertigt. Dasselbe geht durch Rechtsvorschriften und/oder tendenziöse Umsetzung bestehender Normtexte vor sich, wenn mit mannigfachen Techniken von Diskriminierung, Exklusion und Terror „Volk" ««gleich „Bevölkerung" gesetzt werden soll26. Außerhalb solcher absolut inakzeptabler Praktiken, nämlich im Rahmen einer rechtsstaatlichen Demokratie, hat sich gezeigt, daß sich „Volk" in verschiedenen Zusammenhängen und Graden von Legitimierungsleistung darstellt: je nach Funktionsgebiet als Aktiwolk, Zurechnungsinstanz globaler

25

Vgl. zu diesem rechtsmethodischen und -linguistischen Konzept Friedrich Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl., z.B. Abschn. 312.5, 312.6, 322.121, 591, 613 mit Nachweisen. - Vgl. allgemeiner die Rede vom „combat spirituel" bei Arthur Rimbaud, Une saison en enfer (1873), in: Œuvres Complètes, Pléiade 1963, S. 219 ff, 244. 26

Im Dienst von „Homogenisierung", wahren KZ-Begriffen.

„Homogenität",

„ethnischer Säuberung" -

V . „Volk" als Kampfbegrif. Die Positivität der Demokratie

Art, als Adressat abwehr- und leistungsrechtlicher Zivilisationsstandards der demokratischen Verfassungskultur; in etwa analog hierzu je nach status activus, status positivus und negativus - wobei das Volk als Zurechnungsinstanz nicht erfaßt ist und als Ikone nicht erfaßt zu werden braucht: Jellineks konstruktive Statuslehre hat einen status ideologicus weder nötig noch verdient. Je nach Fokussierung kommt auch noch die Formel vom „government of, by and for the people" in den Sinn, deren Trennschärfe allerdings nicht weit reicht. Besonders unsicher ist dabei jenes „of the people, das je nach normativer Praxis als Zurechnungsgröße im Hintergrund staatlichen Handelns noch gerettet beziehungsweise in seiner ikonischen Version aus dem demokratischen Diskurs verbannt werden sollte. Diese Variante kommt, etwa als legal unhaltbares Gerichtsurteil, auch in Demokratien reichlich vor, aber sie legitimiert nicht; erfüllt damit gerade die Aufgabe nicht, die ein Berufen auf das Volk stets meint. Der Entscheidung „Im Namen des Volkes" entspricht in solchen Fällen nichts - wenn auch noch so vermittelt - Reales. Die danach verbleibenden drei Funktions- und Begriffsschichten von „Volk" in der Demokratie erscheinen wie drei - allerdings deutlich geschiedene - Aggregatzustände; aufeinander vor allem als Maßstäbe beziehbar und zu verfassungspolitischen Optionen und Präferenzen der Legitimität verarbeitbar. Die Strukturierung der Frage „Wer ist das Volk" nach diesen drei Bedeutungsstufen hat mit einer 4 algorithmischen ' Klassifizierung, mit pseudonaturwissenschaftlicher Systematik nicht einmal entfernte Ähnlichkeit; es sollte leider ein frommer Wunsch - überflüssig sein, darauf hinzuweisen. Sie macht nur den Vorschlag, nach diesen sachlich unterscheidbaren und im Staatshandeln je abweichend wirksamen Richtungen des Verständnisses zu typisieren. Der Verfassungsstaat, der hier gemeint wird, ist einer unrechtsstaatlichen und undemokratischen Geschichte abgekämpft worden; und dieser Kampf geht weiter. Seit ihrem Beginn legitimieren Demokratie und Rechtsstaat die Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaftsordnung; Verfassungen wie die brasilianische von 1988 oder das deutsche Grundgesetz nennen die Legitimation durch das Volk ausdrücklich. Es ist entscheidend, auf welchen Feldern und in welchem Grad diese Ansprüche im täglichen Funktionieren der Rechtsordnung eingelöst oder nicht eingelöst werden. Dazu gehört nicht nur das Agieren der Politiker, sondern auch die praktische Lehr-, Forschungs- und vor allem Entscheidungsarbeit der Juristen. Denn nur bei rational nachprüfbarem Vorgehen der juristischen Funktionsträger in Exekutive und Judikative, sowie in der

44

VII. „Volk" als Kampfbegriff. Die Positivität der Demokratie

Vorarbeit für die Legislative, wird ihr Tun rechtsstaatlich operationalisiert. Und nur dann besteht die Chance, daß wenigstens ein relevanter Teil des gesellschaftlichen Lebens, soweit es überhaupt noch durch Recht steuerbar ist, demokratisch bestimmt wird. Für die deutsche Verfassung ist das unbestritten. Nicht zuletzt ihr gewolltes Gegenmodell zum Nationalsozialismus verbietet jede Zweideutigkeit zwischen Verfassungsrecht und einer sogenannten abweichenden „Verfassungs"wirklichkeit. Aber auch die brasilianische Verfassung von 1988 setzt sich ebenso eindrucksvoll von einer wenig demokratischen Vergangenheit ab: von Militärherrschaft, Förgos-Konstitutionalismus und von gegen die legal geltenden offiziellen Urkunden sich durchsetzenden „Parallel-Verfassungen, also ungeschriebenein) Verfassungen der realen Machtgestaltung, die im Interesse der zeitweiligen Machtinhaber die normative Kraft der geschriebenen Verfassung ignoriert, ausgehöhlt oder ... durchbrochen haben"27. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch angesichts einer gewissen Tradition brasilianischer „nominalistischer Verfassungssemantik" als fragwürdig, in bezug auf die Legitimierung dieses Staats als Demokratie und dieser Demokratie durch das brasilianische Volk die Wirklichkeit gegen die Verfassungsvorschrift auszuspielen. Schon der Versuch dazuriskiert, an diesem Angelpunkt des Politischen Systems die Legitimität zu verfehlen 28. Etwas anderes ergibt sich auch nicht dadurch, daß sich die brasilianische Verfassung von 1988 in 70 Übergangsartikeln für provisorisch erklärte und sogar die Grundentscheidung über die Staatsform einem Volksentscheid vorbehalten wollte. Auch eine - eventuell - so noch zustandegekommene Monarchie hätte sich als moderne durch Berufung auf das Volk legitimieren müssen, wäre keine Rückkehr zum Absolutismus eines Ancien Régime gewesen.

27

Wolf Paul, Verfassungsgebung und Verfassung, in: D. Briesemeister/ G. Kohlhepp/ R.-G. Mertin/ H. Sangmeister/ A. Schräder (Hrsg.), Brasilien heute, 1994, S. 197ff., 205. 28

Nach Marcelo Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, 1992, S. 155, entfällt angeblich die für Europa feststellbare „positive" Funktion des Symbolischen als Beitrag zur dortigen Evolution der Grundrechte „offenkundig in der peripheren Moderne, wie im Fall Brasilien" und für dessen charakteristischen „Verfassungsnominalismus" und „Verfassungssymbolismus". Die Grundrechtserklärungen spielten hier „eher eine symbolisch-ideologische Rolle". Vgl. ebd. auch S. 61 ff, 104 ff. sowie zu Fragen der Legitimität ebd. S. 211 ff, 213 ff - Aber auch in Europa muß um die Formulierung und praktisch wirksame Bewahrung der Garantien im einzelnen ohne Unterlaß gekämpft werden.

V . „Volk" als Kampfbegriff. Die Positivität der Demokratie

Von dieser nicht aktuellen Sonderfrage abgesehen, ist eine Differenz in der Verfassungsmentalität zweier verglichener Staaten kein Tabu. Immerhin dürfen auch in Deutschland die mit solchen Fragen befaßten Juristen und Politiker in ihrer Wachsamkeit und Motivation, sich nachhaltig für die Realisierung der Grundrechte einzusetzen, nie nachlassen. Speziell für den brasilianischen Verfassungssymbolismus und eine ihm entsprechende nominalistische Verfassungsemantik29 wird - neben der erwähnten provisorischen Geltungsmodalität der Verfassung von 1988 - ein Perfektionismus angegeben, der die Bedingungen einer wirksamen Umsetzung schon wegen der schieren Zahl erforderlicher Ausführungs- und Ergänzungsgesetze überfordere. Auch wird auf die historische Last der Gewöhnung an machtbestimmte (und -bestimmende) Parallel"verfassungen" hingewiesen30. Diese Faktoren betreffen aber nicht den Angelpunkt der Verfassung: die Anrufung des Volkes in der Präambel, den (ebenfalls im Vorspruch) auf rechtsstaatliche Demokratie festgelegten Zweck der Verfassunggebung (mit Art. 1 BrasV) und den Ausweis des Volkes als Quelle „alle(r) Gewalt" (Art. 1/Einziger Paragraph). Historischer Kontext und ausdrücklicher Normtext nehmen Abschied von der Praktik verfassungswidriger Parallel"verfassungen"; die provisorische Geltungsmodalität kann in dieser Frage nichts wegnehmen und den Perfektionismus vielleicht ad absurdum führende Massen von Ausführungs- und Ergänzungsgesetzen sind hier - anders als in anderen Materien - nicht vonnöten. Die normtextlichen Berufungen auf das legitimierende Volk treten als verbindliches Verfassungsrecht der Föderativen Republik Brasilien auf; die Legitimität dieser wie auch der deutschen Verfassung muß sich real an das Aktiwolk, das Volk als Zurechnungsinstanz und das Adressatenvolk knüpfen lassen.

29 Zum Verfassungssymbolismus eingehend: Marcelo Neyes, A Constitucionalizaçao Simbòlica, 1994. 30 Bei Wolf Paul, Verfassungsgebung und Verfassung, in: D. Briesemeister/ G. Kohlhepp/ R.-G. Mertin/ H. Sangmeister/ A. Schräder (Hrsg.), Brasilien heute, 1994, S. 197 ff, 204 ff

V i l i . Exklusion Auch wenn ein Dispositiv der Legitimität in diesem Sinn in Funktion ist, kann es auf ein grundsätzliches Hindernis stoßen: eine der funktionalen Differenzierung regressiv widersprechende segmentäre Aufspaltung der Gesellschafts- und Rechtsordnung, eine „sektoriale Dysfünktionalitat" einer entwickelten Industriegesellschaft.31 Es geht dabei um partielle, vorwiegend an bestimmte Bereiche gebundene Diskriminierung erheblicher Teile der Bevölkerung; diese wird in ihrer physischen Präsenz auf dem Staatsgebiet belassen, aber von den Leistungssystemen - den wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen, medizinischen und denen der Schulung und Ausbildung - tendenziell und diffus ausgeschlossen: „Marginalisierung" als Subintegration. Diese Erscheinung beschränkt sich nicht auf periphere Staaten; sie grassiert, befördert durch „deregulierende" neoliberale Politik im zunehmend verwildernden Triumphkapitalismus, auch in den reichsten, den „G - 7 - Ländern". Das Ausmaß sozialer Verelendung und Desintegration in den USA bedarf leider keines Hinweises mehr. In Frankreich ist die Exklusion seit Jahren zum beherrschenden gesellschaftspolitischen Thema geworden. In Deutschland wird die Lage von der Bundesregierung offenbar so eingeschätzt, daß sie sich bisher weigert, entgegen ihrer offiziellen Verpflichtung auf dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen (März 1995) einen nationalen Armutsbericht zu veröffentlichen 32. Reflektiert wird diese kollektive Schande reicher Gesellschaften in der bekannten Diskussion um die „Zweidrittelgesellschaft", die von konservativen Regierungen gelegentlich „billigend in Kauf

31

Dazu, allerdings von den peripheren Gesellschaften her, unter dem Stichwort der „Marginalität": Fernando Henrique Cardoso , Ο Modelo Politico Brasileiro e Outros Ensaios, 4. Aufl. 1979, S. 140 ff, 166 ff. - Zu Marginalisierung und Exklusion als Problemen des Verfassungs- und Rechtssystems, mit systemtheoretischem Ansatz und am Beispiel Brasiliens: Marcelo Ν eves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, 1992, S. 72 ff, 147 ff, u.ö. 32

Deshalb gibt es nur - wahrscheinlich fundierte - Schätzungen durch die Wohlfahrtsverbände: vier Millionen Sozialhilfeempfänger, sechzehn Millionen „verdeckte Arme"; jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf.

Exklusion

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genommen"33 zu werden scheint. Sie führt von ökonomischem Abstieg rasch zu kultureller Depravation und - „billigend in Kauf genommen"? - politischer Apathie. Schon Hegel weist in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts" von 1821 darauf hin, daß mit wirtschaftlicher Verelendung nicht zuletzt auch verheerende Nachteile der Bildung und Ausbildung, der Kultur, des Informationsgrads, des Rechts- und des Selbstwertgefühls verknüpft sind34. In einer heutigen Formulierung führt der Ausschluß großer Teile der Bevölkerung von gesellschaftstypisch bereitstehender Partizipation bei „Benachteiligung in auch nur einem Teilbereich" zu einer „Kettenreaktion der Exklusion" und nicht zuletzt auch zu „politischer Armut"35. Ist dieses Ausmaß erreicht, und das ist es sicherlich in vielen peripheren Gesellschaften, so reicht es nicht mehr aus, von „struktureller Heterogenität" oder „Marginalität" im Sinn von Nichtintegration, Nichtzugehörigkeit großer Bevölkerungsgruppen zu sprechen. Die Rede ist dann von Exklusion als deren Abhängigkeit von (im negativen Sinn) ohne gleichzeitigen Zugang zu (im positiven Sinn) den Leistungen der genannten gesellschaftlichen Funktionssysteme. Umgekehrt wird der Wohlfahrtsstaat anhand des soziologischen Begriffs der Inklusion begriffen 36. Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft erzeugt zwar einen deutlichen Unterschied von Inklusion und Exklusion, untergräbt aber im Ergebnis die funktionale Differenzierung dadurch, daß große Bevölkerungsteile „in die Kommunikation der Funktionssysteme" nicht einbezogen werden37. Es geht also nicht mehr um Klassenunter33

Um den strafrechtlichen Terminus fur 'bedingten Vorsatz' zu verwenden.

34

Ebd., über die „Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Fähigkeiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft", § 243; vgl. dazu auch §§ 244, 245. - Zur Abhängigkeit der Bildungs- und Ausbildungschancen von der Kapitalgrundlage ebd. §§ 200, 237. 35

A. Schräder, Brasilien: Soziale Fragen, soziale Strukturen, in: Wolf Paul (Hrsg.), Verfassungsreform in Brasilien und Deutschland, 1995, S. 17 ff., 30ff., 31. 36

T.H. Marshall, Class, Citizenship and Social Development, 1976; ihm folgend Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981, v.a. S. 25 ff ; ebd. zum im Text folgenden. - Zum Zusammenhang zwischen Unterbeschäftigung, offener Arbeitslosigkeit, Mangel an Sozialversicherung und Orientierung der volkswirtschaftlichen Produktion einerseits an der Nachfrage der nationalen Oberschicht, andererseits an der externen Nachfrage (noch unter dem Stichwort „Marginalität"): Celso Furtado, Ο Mito de Desenvolvimento Econòmico, 1981, S. 77 ff, u.ö. 37

Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 582 f., im Anschluß an Talcott Parsons. Ebd., S. 583 die im Text folgenden Zitate.

VIE. Exklusion

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schiede oder soziale Schichtung im Rahmen einer allgemeinen, wenn auch sehr ungleichmäßigen Inklusion. Vielmehr überlagert das Schema Inklusion/Exklusion die Struktur der Gesellschaft, auch die Verfassungsstruktur, als Superstruktur; als „eine Art Metacode..., der alle anderen Codes mediatisiert". Der Code Recht/Unrecht bleibt dabei ebenso bestehen wie der fur das Rechtssystem im nationalen Bereich ranghöchste: verfassungsgemäß/verfassungswidrig. Aber „für exkludierte Bevölkerungsgruppen hat diese Frage geringe Bedeutung im Vergleich zu dem, was ihre Exklusion ihnen auferlegt. Sie werden rechtmäßig oder unrechtmäßig behandelt und verhalten sich entsprechend rechtmäßig oder unrechtmäßig je nach Situationen und Chancen". Den Ausgeschlossenen wird praktisch die Menschenwürde, ja im Handeln des Repressionsapparats die Menschqualität abgesprochen: systematisches Nichtanwenden der Grundrechte und sonstigen Rechtsgarantien, physische Verfolgung, „Exekution" ohne Anklage und Verfahren, Straflosigkeit (impunidade) sei es ziviler, sei es staatlicher Verletzungs-, Unterdrückungs- und Tötungsagenten. Der Kampf gegen Exklusion, der für Juristen verpflichtend ist, gilt daher auch nicht dem Ziel eines 4 steinzeitkommunistischen' Babouvismus noch dem einer bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft; beide Ziele liegen außerhalb der Reichweite fachjuristischen Handelns. Der Kampf gilt dem Ziel, Gleichheit aller für Menschqualität, Menschenwürde, Grundrechte und die sonstigen legal gültigen Schutzgarantien durchzusetzen - ohne daß hier die geringsten Differenzierungen erlaubt wären, auch nicht nach Nationalität, Wahlrechten oder Lebensalter (Straßenkinder). Kurz gesagt, kann sich eine konstitutionelle Demokratie im Kampf gegen Exklusion nicht allein vor dem Aktiwolk noch vor dem Volk als Zurechnungsinstanz rechtfertigen, sondern muß es notwendig auch können vor dem demos als Adressat all der vertnirgten Leistungen, auf welche die betreffende Verfassungskultur sich beruft. Und in dem Ausmaß ihrer tatsächlichen Dominanz entlegitimiert die Superstruktur Überintegration/Subintegration (Inklusion/Exklusion) eine verfaßte schaft nicht erst im Rechtsstaatsbereich, sondern schon von ihrer demokratischen Basis her. Dabei nehmen die Verzerrungen auf dem Feld des Rechtsstaats erfahrungsgemäß verheerende Ausmaße an: der größte Teil der Bevölkerung wird zwar in Anspruch genommen, nicht aber berechtigt; ist als Verpflichteter, Angeklagter, Beklagter „integriert", nicht aber als Kläger, als Berechtigter. Grundrechte stehen den exkludierten Menschen und Gruppen nicht positiv zur Verfügung, ihre Grund- und Menschenrechte werden dagegen (repressiv und auf andere Weise) verletzt. Verfassungsnormen manifestieren sich für sie „fast nur 4 F. Müller

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VI

Exklusion

in ihrenfreiheitsbeschränkenden Wirkungen"38, ihre politischen Mitwirkungsrechte stehen - vor dem Hintergrund ihrer durchgehenden Depravation überwiegend nur auf dem Papier, der Zugang zu Rechtsweg und Rechtsschutz ebenfalls. Die Verfassung kann den Code Recht/Unrecht gegenüber dem Metacode nicht durchsetzen; sie versagt darin, Recht, Politik und Gesellschaft zuverlässig zu koppeln. Über die Verfassung verfügen ausschließlich die Überintegrierten: die Verfassungs- und Rechtswidrigkeit ihres Tuns oder dessen „ihrer" Politiker, Experten, Milizionäre wird nicht Gegenstand der normierten Rechtsverfahren, damit nicht im verbindlichen Sinn überhaupt zum Thema. Der Rechtscode untersteht dem politischen, das Recht der Ökonomie, der Staat der Wirtschaft - mit den angedeuteten Folgen für die wirtschaftlich Schwachen, also für die größten Teile der Bevölkerung. Dann überrascht es nicht mehr, wenn die Beanspruchung von Bürgerrechten durch ausgeschlossene, subintegrierte Unterbürger „stetig mit Subversion identifiziert" wird39. Dieser genaue Begriff von Exklusion wird in den Sozialwissenschaften angesichts von Ländern der peripheren Moderne formuliert. Für die zentrischen Staaten, in denen - wie in den USA, in Großbritannien, in Frankreich und Deutschland - derselbe Begriff in der Diskussion ist, gilt eine sozusagen mildere Variante, die hier als „nachträgliche", als sekundäre Exklusion, als Marginalität von der ersten unterschieden werden soll. Hier besteht das Rechtssystem auf seiner effektiven Geltung. Zwischen Normativität und Wirklichkeit herrscht ein grundsätzlich respektiertes hierarchisches Kontinuum. Fehler, Lücken, Ausfälle sind mit den Mitteln des Systems, durch Operationen im Rahmen der Textstruktur von Demokratie und Rechtsstaat lokalisierbar, bearbeitbar. Sie stellen das Gelten des Rechtscodes nicht in Frage, sondern bestätigen es, soweit die genannten Operationen auch tatsächlich greifen (Rechtsschutz, Haftung für illegales Staatshandeln, Verfolgung ungesetzlich vorgehender Funktionäre). Marginalisierung (Exklusion „geringeren" Grades) entsteht während der Geltungszeit der ihr entgegenstehenden Vorschriften aus primär außerrechtlichen (wirtschaftlichen, sozialen) Gründen. Ihre Bewertung ist zunächst eine Frage der Quantität; zum Beispiel Deutschland: minoritär, 38 Marcelo Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, 1992, S. 94 und ff; ebd., S. 72 ff, 147 ff, u.ö. - Die Verfassung fungiert „ nicht als Horizont des rechtspolitischen Handelns und Erlebens der Machthaber, sondern als ein je nach der konkreten Interessenkonstellation von ihnen zu brauchendes, mißbrauchendes oder nicht zu brauchendes Angebot", ebd, S. 95: Hervorhebung im Original. 39

Gilberto Velho, Violência e Cidadania, in: dados., Revista de Ciências Sociais, 1980, S. 361 ff, 364.

VU!. Exklusion

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aber deutlich fühlbar bei steigender Tendenz; Frankreich: bei gleicher Tendenz minoritär, aber deutlich stärker ausgebreitet; USA. minoritär, aber - für die gesamtgesellschaftliche Bewertung, wie ansatzweise auch schon in Großbritannien - gleichsam schon mit einer Sperrminorität, das heißt auf demselben nationalen Territorium zugleich einer Gesellschaft der „Ersten" und der „Dritten Welt". Politisch ist ein Umschlag aus Menge in Qualität nicht auszuschließen : Wahlen mit einer Beteiligung von weniger als 50% der Berechtigten (38%ige Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum US-Kongreß im Herbst 1994), Präsidenten"mehrheiten" mit weniger als 40%, in zwei Fällen schon mit unter 30% der Wahlbevölkerung (die erste Reagan-Wahl', noch darunter liegt die Wiederwahl Clintons im November 1996 mit einer Wahlbeteiligung von 49% und einem Stimmenanteil von knapp 25% für ein zweites Mandat). Das Wahlrecht besteht „normativ" (vom Normtext und Sachbereich her) unverändert weiter; was zunehmend entfallt, sind die sozialen Voraussetzungen für ein wirksames Ausüben von Rechten und Ansprüchen des status activus (und zum Teil auch schon des status positivus, so in den unzähligen Fällen der „verschämten Armut"). Die normative Geltung der (Verfassungs-)Rechtsordnung wird bei diesem Typus von Exklusion nicht eingeschränkt, der Rechtscode unterwirft und relativiert sich nicht selbst. Er schränkt „nur" seine tatsächliche Geltungsbreite ein; weniger aktivistisch ausgedrückt: er läßt es geschehen, ohne mit energischen Maßnahmen, etwa im Wirtschafts- und Sozialrecht, dagegen zu arbeiten. Daneben steht die eingangs umschriebene nicht nur krassere, sondern vor allem systematische, die hier so genannte primäre Exklusion. Sie könnte auf der Ebene des Verfassungstextes durch Aussparen bestimmter Bevölkerungsgruppen - während von den Inkludierten ausdrücklich die Rede ist - sichtbar werden; primäre Exklusion durch eine Sonderform von „Schweigen der Verfassung"40. Dieser Untertypus betrifft weder die brasilianische41 noch die deutsche Verfassung. Beim üblichen Typus primärer Exklusion diskriminieren die Texte nicht, die Textoberfläche der Verfassung ist makellos. Nur unausgesprochen „will" die Normordnung nicht effektiv für alle wirksam sein, sondern nur partiell: für prioritäre Interessen (Förderung der Wirtschaft; Staatsorganisation in deren Dienst und zugunsten der dominanten Schichten, der Überintegrier40

Zu diesem Phänomen in seinen verschiedenen Varianten grundsätzlich: Friedrich Müller, Das Schweigen der Verfassung, in: ders., Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 172 ff. 41

Die in Titel Vm Kapitel Vm, Art. 231, 232 die Rechtsstellung der Indios explizit normiert. 4*

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V . Exklusion

ten; Schwächung von Kontroll- und Gegenmachtinstanzen). Das ist, nach den brasilianischen Quellen, der Fall dieses Landes, in dessen Wissenschaftsdiskurs demzufolge von „nominalistischer" Verfassunggebung und Rechtssetzung und von „symbolischer" Funktion der konstitutionellen Urkunden ebenso die Rede ist wie in seiner - früheren - Staatspraxis von ungeschriebenen „Parallelverfassungen" neben, in Wahrheit über dem vertexteten Verfassungscode. Hier addieren sich Quantität (über 80% der Bevölkerung) und Qualität: Indem die Verfassung in so weitem Umfang nicht als verbindlich „gewollt", also praktiziert wird, unterwirft sie sich selbst mit ihrem Geltungsanspruch dem Vorbehalt der „Geltung" des Metacodes, der Superstruktur von Inklusion/Exklusion. Die Exklusion erfaßt damit die Verfassungs- und Rechtsordnung selbst ohne Allgemeinheit ihres Normbegriffs und realisierbaren Geltungsanspruchs als moderne Normativordnung nicht anerkannt werden kann. Die Verfassung reduziert sich zum okkasionellen Werkzeug der Überintegrierten42, für die Unterintegrierten ist sie nicht „gedacht." Sie kann nicht mehr verfassen. „Staat" im modernen Sinn meint die Einheitlichkeit der Gewaltstruktur von „Staat" auf einem Territorium, meint das Monopol auf Gewalt - im Unterschied etwa zur Pluralität der Gewaltzentren im vor"staatlichen" feudalen Gemeinwesen. Und „Verfassungs"staat fordert zusätzlich die strukturelle Einheitlichkeit des Rechtskreises, in dem über die (Un-)Zulässigkeit von Gewalt und über zu verhängende Sanktionen entschieden wird - Monopol der legitimen Gewaltausübung beim „Staat" im Unterschied zur Pluralität der Rechtskreise im Feudalismus. Wo sich oberhalb eines einheitlichen Staates und oberhalb einer integrierten Legitimität, die sich dabei aber als nur partiell erweisen, also oberhalb der staatlichen Text- und Legitimationsstruktur noch eine Superstruktur aus Inklusion/Exklusion zur Geltung bringt, ist „Verfassungsstaat", der sich nur noch als allgemeiner begründen und rechtfertigen kann, noch nicht verwirklicht. Die Konstitution exkludiert sich selbst: aus dem Zusammenhang demokratischer Legitimität. Wo ist, angesichts der Tyrannei von Exklusion, der Ort des Juristen? Gewiß nicht dort, wo Montesquieu diese aufspürt: Noch neben jedem großen Tyrannen fand ich einen großen Juristen, der seine Taten rechtfertigte. Der Name

42

Beispiele und zahlreiche Nachweise bei Marcelo Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, 1992, S. 89 ff., 110 ff, u.ö. - Vgl. auch dens., A Constitucionalizaçao Simbòlica, 1994, S. 160 ff.

VIE. Exklusion

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der Juristen leitet sich nicht von „rechtfertigen" her, sondern von „Recht". Ihr Platz ist beim Volk. Und auf die modernisierte Pilatusfrage, wer denn das Volk sei, ist hier schon eine Antwort vorgeschlagen worden. Es sind, bei der Frage nach dem Handeln, keine aufzustachelnden „Massen" der agitatorischen Textsorten; nicht ein eschatologisch revolutionäres Proletariat, das in Stellung gebracht wird; nicht eine Schattenarmee von guerilleros. Sondern das ganze" Volk großzügiger Verfassungsurkunden; die Bevölkerung, alle Menschen einschließlich der (bisher) Überintegrierten und der (bisher) Ausgeschlossenen: das Volk als Adressat der negativen und positiven staatlichen Leistungen zu denen die betreffende Rechtskultur schon gelangt ist. Es geht damit nicht um Moralisieren. Vor allem haben die zentrischen Länder den peripheren, die reicheren den ärmeren und armen absolut keine Lektionen zu erteilen. Es geht um veränderndes Handeln und um dessen Vorbereitung durch Reflexion. Die eine Antwort, die auf diese Frage gerne gegeben wird, ist die, auf die Entwicklung einer breiten, aktiven Zivilgesellschaft nicht nur zu hoffen, sondern sie auch nach Kräften zu befordern. Diese Antwort kann nicht falsch sein, aber auch nicht das einzige Wort. Sie läßt vor allem die Frage nach der besonderen Rolle der Juristen außer Betracht. Nehmen wir die Metapher beim Wort: Evolution ist eine Folge von Herausforderungen und Antworten, qualitativ vorwärtsgetrieben durch Mutation. In menschlichen Gesellschaften können Mutationen provoziert werden. Die normativ-institutionelle Rolle der Juristen gibt ihnen Mittel an die Hand - zum Beispiel prozeßrechtliche im Rahmen des Rechtsschutz- und allgemeiner des Justizsystems - , solche Provokationen legal, legitim und friedlich auf den Weg zu bringen. Der erste Strafprozeß gegen die Täter eines Massenmords an Straßenkindern, der konsequent durchgeführt und zu einem rechtsstaatlich korrekten Ergebnis gebracht werden kann, ist ein qualitativer Schritt nach vorn. Die ökonomisch-soziale Seite der Exklusion kann von Juristen nicht einfach voluntaristisch hinwegdefiniert, auch nicht durch normative Magie zum Verschwinden gebracht werden. Aber mit den schwerwiegenden rechtlichen Begleiterscheinungen der sozialen, mit der juristischen Exklusion in ihren vielfaltigen Formen ist das anders. Sie können die Juristen mit ihren Mitteln (Kompetenzen, Verfahren, Institutionen) in Frage stellen, punktuell und exemplarisch aufbrechen mit auf lange Sicht möglicher positiver Rückwirkung gegen soziale Exklusion. Die Menschen sind arm - aber das heißt nicht, daß „man" sie ungestraft foltern, sie sind sozial, kulturell und politisch ohne Partizipationschance, aber das heißt nicht, daß „man" sie ungestraft töten dürfe.

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Der legale Widerstand von Juristen setzt die wirksamsten Signale, die friedlich denkbar sind: Sand, ins Getriebe eines durch Inklusion/Exklusion denunzierten Rechtssystems gestreut, und zwar von Außenseitern an der Innenseite dieses Systems43. Die Positivierung des modernen Rechts als Vertextung ist zweischneidig. Sie kann, wie besprochen, ins schlechte Symbolische umgebogen, aber eben auch beim Wort genommen werden. Die primäre Exklusion ist im Normtext der Verfassimg nicht ausgedrückt. Hier kann eine realdialektische Strategie ansetzen. Sie beginnt bei der Tatsache der Positivierung: die Föderative Republik Brasilien hat den modernen und elaborierten Text ihrer Verfassung von 1988 in Kraft gesetzt. Er spricht nicht nur nicht von Exklusion - was eine Form des „Schweigens der Verfassung" sein könnte -, sondern widerspricht sowohl ihr (Art. 231, 232 über die Indios) als auch sonstiger Diskriminierung (Art.5 BrasV, der die Gleichheit vor dem Gesetz für „alle Menschen...ohne Unterschied" statuiert). Gegen die nicht in Naturgesetzen, sondern „nur" in den Köpfen verankerte Exklusion, die einen Teil des allgemeinen und fachjuristischen Vorverständnisses bildet („nur nominalistische", „nur symbolische" Funktion der Verfassung), können die geltenden Normtexte gewendet werden. Es müssen, von den zuständigen Juristen mit der Hilfe von Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen, Menschenrechtsorganisationen, Einzelfälle ausgewählt werden, die mit Blick auf die Beweisbarkeit der fallerheblichen Tatsachen und die Schutzmöglichkeit für die Zeugen möglichst günstig liegen. Auf sie gestützt, müssen Pilotverfahren, Musterprozesse in der Justizhierarchie möglichst weit getrieben, muß der proklamierte allgemeine Strafanspruch des Staates verwirklicht werden. Dadurch werden - ganz abgesehen von den zu unsicheren und zu schwachen Aussichten eines mandado de injunçâo, von dem ich hier nicht spreche44 - prozessuale Tatsachen geschaffen, die mit der 43

Die Rede von den „Außenseitern an der Innenseite", gemünzt auf den Wissenschaftsbetrieb, stammt von Erwin Chargaff, der seine eigene Stellung im naturwissenschaftlichen Diskurs damit auf den Punkt bringt. - Jean-Jacques Rousseau begründet sein Urteil, das englische Modell der Machtbalancen enthalte vorbildliche Elemente, in den „Lettres de la Montagne" nicht zuletzt damit: „le dernier du peuple peut exiger et obtenir la réparation la plus authentique, s'il est le moins du monde offensé..."; der s., in: C.E. Vaughan (Hrsg.), The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau, 1915, Bd. Π, S. 267. 44

Art. 5 Abs. LXXI BrasV: Verpflichtungsklage auf Erlaß einer Ausführungsnorm. Die Vorschrift wurde inzwischen durch eine Entscheidung des Obersten Bundesgerichts (STF, 1990) zu einem bloßen Mittel der Unterrichtung des zuständigen Staatsorgans von der Verfassungswidrigkeit seines Unterlassens entschärft. - Weitere Nach-

V . Exklusion

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Zeit, über die Einzelfalle hinaus, die Verbindlichkeit der Menschenrechte auch von Subintegrierten und auch gegen das Handeln von Überintegrierten nur stärken können. Solche Verfahren, in Fällen von Verbrechen gegen Straßenkinder, sind im Gang; sie verdienen alle Unterstützung. Jedes Politische System benötigt, nach innen wie nach außen, Legitimität. Je öfter die Verfassung - gegen manche Traditionen der Vergangenheit - tatsächlich beim Wort genommen und dies jedes Mal öffentlich gemacht wird, auch international, wird sich das Politische System auf Dauer anhand der eigenen Verfassung zunehmend selbst beim Wort nehmen lassen müssen. In der Sache halte ich das nicht für idealistisch; quantitativ muß aber sicherlich eine lange Zeitspanne eingeplant werden. Tendenziell jedenfalls wird dadurch der Druck in der Richtung zunehmen, Legitimierung nicht mehr nur durch („nominalistisch", „symbolistisch" gewendete) Texte erfolgen zu lassen, sondern nur noch durch textkonformes staatliches Handeln. Dabei wird jeder Einzelschritt erkämpft werden müssen; aber es ist die einzige sichtbare Möglichkeit, das gewaltfrei zu tun - mit legalen Mitteln, mit den Mitteln der offiziell „geltenden" Textoberfläche, also mit denen des Systems selbst. Diese Strategie soll jene andere einer Fortentwicklung und Stärkung der Zivilgesellschaft nicht ersetzen, sondern begleiten und, im Gegenteil, punktuell vorantreiben. Die „geltenden" Texte sind als solche ebenso real wie die juristischen Funktionsträger und die ihnen (durch andere „geltende" Normtexte) zugeschriebenen Kompetenzen; insofern wurde von einer Zweischneidigkeit der modernen geschriebenen Codes gesprochen. Und von ReaTdialektik" war die Rede, weil es sich nicht um idealistisch spekulative Dialektik im /fege/sehen oder linkshegelianischen Sinn handeln kann, aber eben doch um Dialektik. Denn ohne das frühere Vorverständnis von der „Gegebenheit" primärer Exklusion, ihrer quasinaturgesetzlichen Kompaktheit und ohne das hieraus folgende eines „Nominalismus" und „Symbolismus" der Konstitution wären die genannten Diskriminierung und Exklusion ausschließenden Normtexte wahrscheinlich so nicht in die Verfassung von 1988 aufgenommen worden. In Zukunft kann sich, bei entsprechendem Verhalten der brasilianischen Juristen, erweisen, daß diesriskantwar. Denn dieselben Normtexte gegen Diskriminierung und Exklusion können eben auch mit dem anderen, mit dem elaboriert rechtsstaatlich-demokratischen Vorverständnis von „Geltung" behandelt werweise und Diskussion zu diesem Normtyp und zu der ihm geltenden Rechtsprechung bei Friedrich Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, Abschn. 313.7.

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den: als Verbindlichkeit und als deren Allgemeinheit, Verallgemeinerungsfahigkeit. Was von der tradierten Exklusion her als Risiko erscheint, ist für den legal gewaltlosen, den legitimierenden Kampf gegen Exklusion die Chance: diese Verfassung praktisch ernst zunehmen. Norm- und besonders Verfassungstexte setzt man, mit unaufrichtigem Vorverständnis konzipiert, letztlich nicht ungestraft. Sie können zurückschlagen. Die Juristen eines Landes der peripheren Moderne, die einer solchen Lage ausgesetzt sind, befinden sich objektiv in der Rolle einer nicht nur rechtstechnischen, kompetentiellen, sondern gerade auch einer gesellschaftlichen Avantgarde. In der Rolle von Vorkämpfern bei der globalen Entwicklung der Gesellschaft in dem Sinn, ein breiteres öffentliches Bewußtsein für Verfassung, Gesetzlichkeit und ernstgenommene Geltung der offiziellen Normtexte zu schaffen, zu intensivieren. Zugleich liegt auf ihnen die Last, für ausreichende Kommunikation in Wissenschaft, Praxis und (Rechts-)Politik zu sorgen. Es sind ja - in diesem Bereich durchaus implementierte - Normtexte, die ihnen Funktionen, Ämter, Kompetenzen zuschreiben, wie sie außerhalb der engen Zirkel faktischer Macht sonst niemand in Gesellschaften dieses Typs innehat.

Exklusion entlegitimiert. Bei Exklusion entarten Aktiv-, Zurechnungs- und Adressatenvolk zum „ Volk" als Ikone. Legitimieren kann nur das Abstützen auf das reale Volk, auf das sich - wie gezeigt in verschiedener Blickrichtung und entsprechend in verschiedenem Umfang, immer aber belegbar - der Text der Verfassung beruft. Die Arbeit der Juristen in diese Richtung erzeugt Schritt für Schritt Rechtsstaatlichkeit, ist aber in gleichem Grad Arbeit für Demokratie.

I X . Legitimierung von Demokratie Umwertung von „kratein". „Demokratie" auch als Anforderungsniveau jenseits der Techniken von Herrschaft Der Legitimitätsdiskurs einer Demokratie verpflichtet diese nicht nur darauf, inhaltlich demokratisch zu sein - wobei es sehr umstritten sein kann, was „demokratisch" heißt. Er sollte vor allem auch das, wofür er steht, in seinem eigenem Vorgehen verwirklichen, sollte entsprechend strukturiert sein: keine sich gegen Diskussion immunisierende Behauptungen en bloc aufstellen, sich nicht als zwingende Deduktion darstellen, nicht in vorweggenommenen Ergebnissen sprechen. Vielmehr ist Legitimität - wie auch rechtliche Normativität45 - ein Vorgang; und nicht eine Substanz, Essenz oder gar eine Eigenschaft von Texten. Auch Legitimität ist ein Vorgang, der auf Realität reagiert und sie zugleich gestaltet; der, anders gesagt, in ihrer Bearbeitung erscheint. Die Legitimierung des demokratischen Staats sollte sowohl unterscheidbare Alternativen anbieten als auch handhabbare Abstufungen aufweisen46. So ist die Art von Legitimität abgestuft formulieibar, die aus der verfassunggebenden Gewalt des Volkes folgen kann: Die Vertextung dieses Anspruchs in der Konstitution hat als Gegenüber das Zurechnungsvolk; das demokratische Verfahren, die Verfassung in Geltung zu setzen, wendet sich an das Aktiwolk; und das Bewahren des (immer auch demokratischen) Verfassungskerns in zeitlicher Dauer setzt das Adressatenvolk in sein Recht. Dort, wo diese Aspekte des Legitimationsanspruchs nur fiktiv bleiben, wird der Diskurs ikonisch\ so hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

45

So Friedrich Müller, seit: Normstruktur und Normativität, 1966; Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994; Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997. 46

Zur Legitimitäts-/Legitimierungsstruktur: Friedrich Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 204 ff.; Notiz zur Strukturierenden Rechtslehre, in: ders., Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 128 ff.; Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, Abschn. 315.3.

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IX. Legitimierung von Demokratie

zum Punkt des nie eingelösten verfassunggebenden Verfahrens nur ein ikonisches „Volk", auf das sein Text sich berufen kann. Abzustufen versucht auch schon die Tradition, wenn sie der plebiszitären die repräsentative Demokratie gegenüberstellt, den alten Antagonismus von Locke und Rousseau fortführend, und eine quantitative Graduierung zwischen repräsentativen und plebiszitären Elementen eines Politischen Systems aufbereitet. Diese verfassungspolitische Debatte ist wichtig; vor allem dort, wo - wie in Deutschland - sich eine bürgerlich-liberale Ordnung institutionell im wesentlichen darauf beschränkt, ihrem Aktiwolk alle vier (oder alle soundsoviel) Jahre das Wahlrecht einzuräumen. Die radikal plebiszitäre Volksdemokratie (Rousseaus ursprünglicher Entwurf, Rätemodelle) wird demgegenüber, mit gutem Grund47, als unpraktikabel bezeichnet. Es wäre auch Ideologie, und nicht demokratisch strukturierter Diskurs über Demokratie, zuzudecken, daß es genügend demographische, technisch-organisatorische, gruppendynamische Gründe, bürgerlich „Sachzwänge" genannt, gibt, aus denen sich das „Volk" nicht selbst regieren kann. Aber die Diskussion sollte sich damit nicht zufriedengeben; schließlich unterscheidet schon Rousseau in dieser Frage zwischen Verfassungsform und Regierungsform. In der bisherigen Debatte wird „mehr" Demokratie in zusätzlichen Formen der Direktwahl - der Staatspräsident, der Ministerpräsident - bzw. in anderen „zusätzlichen plebiszitären Elementen Volksbegehren, Volksentscheid - gefordert oder verwirklicht. Dieses, wie gesagt wichtige, Thema wurde hier nicht fortgeführt; hier ging es darum, den degré zéro demokratischer Legitimierung zu bearbeiten, den Begriff des Volkes zu befragen. „Volk" wurde dabei nicht länger als vorgegebener Term (der Ideologie, der Staatsphilosophie, der Demokratietheorie) genommen; sondern einfacher als die Gesamtheit der im Staat wirklich lebenden Menschen: „eine in sich differente, gemischte, gruppierte, aber gleichheitlich und undiskriminiert organisierte Vielheit"48. Daß dies kein „voraussetzungsloser" naturalistischer Begriff ist, versteht sich, abgesehen von den hereinspielenden Fragen der Erkenntnistheorie, schon allein daraus, daß es hier um den Rechtsbegriff des Volkes gehen sollte, um einen demokratierechtlichen. Er hat sich im Lauf der Überlegungen differenziert, verlor aber deren Basis, die tatsäch-

47

Das ist schon bei Rousseau gesehen und verarbeitet; vgl. dazu etwa Friedrich Müller, Entfremdung, 2. Aufl. 1985. 48

S. 91.

Friedrich Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995,

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lieh hier lebenden, agierenden und nicht zuletzt betroffenen Menschen dabei nicht aus dem Blick.

Zwischen die Art von Legitimität einer Volksdemokratie, die für die Regierungsform nach Rousseau „ein Volk von Göttern" erfordern würde, und jene einer bürgerlichen Formaldemokratie, die alle vier Jahre, tendenziell immer weniger, „politikverdrossene" Wahlbürger an die Urnen lockt, schiebt sich nach dem hier gemachten Vorschlag der breite Sockel an Legitimierungsleistung einer ernst genommenen Demokratie, der in der Erfüllung der Ansprüche des status negativus und des status positivus des Adressatenvolks gesamten Bevölkerung liegt. Es geht dabei nicht nur um rechtsstaatliche Legitimierung; beziehungsweise, soweit im status positivus z.B. arbeits-, gesundheits-, bildungs- oder sozialrechtliche Vorschriften gesetzt und implementiert werden, um sozialstaatliche. Es geht dabei, auch und vorab, um demokratische. Die Extrempunkte sind einmal die schrankenlos „demo"kratische „Volksgruppe, im Zustand der ständigen Fusion (und nach dem Sartre der „Critique de la Raison Dialectique" nur in der terroristischen Gruppe zeitweilig erreichbar, im „ensemble pratique") als auf Schmelztemperatur erhitzter Kern einer durchpolitisierten Bevölkerung. Und zum andern eine bloß nominalistisch aufrechterhaltene „Demo"kratie autoritärer oder totalitärer Prägung - eine „Demo"kratie ohne Volk; monströs in der Sprache Pufendorfs, irreguläre aliquod corpus et monstro simile (in „De statu imperii germanici", 1667). Um beides ging es hier nicht, sondern eben um den demokratisch strukturierten Diskurs mit praktikablen Unterscheidungen und Alternativen. Es gibt kein „monstro simile", sondern ein „Mobile": nicht pseudo-naturrechtliche Normen, sondern relationale Argumente, gegenseitig verschiebbare, aber aufeinander bezogen bleibende Maßstäbe. Je mehr „Volk" im tatsächlich realisierten Recht einer verfaßten Gesellschaft mit der Bevölkerung identisch ist, desto mehr Realitätswert und damit Legitimität hat das als Form vorhandene demokratische System. Und dieses Je mehr,...desto mehr" impliziert, daß die Annäherung beider Figuren über Graduierungen, Typisierungen entsprechend den verschiedenen Funktionsbereichen stattfindet - Aktiwolk, Zurechnungsvolk, Adressatenvolk im Gegensatz zum Volk als Ikone. Nicht nur „demos" ist als Frage ernster zu nehmen, sondern auch „kratein" neu aufzugreifen. Traditionell heißt „herrschen": Subjekt von Entscheidungsgewalt und Machtausübung sein. Diese verkürzende Sicht konzentriert sich auf entsprechende Sozialtechniken, im Rahmen der Demokratiedebatte auf

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solche der Repräsentation beziehungsweise des Plebiszits. „Kratein" heißt dagegen hier gleichrangig: für die Legitimierung als der bestimmende, der maßgebende Faktor tatsächlich ernst genommen werden. Wer? Das Volk. Das Verengen von „kratein" in „Demokratie" ist nicht einfach veraltet, sondern in der Verbindung mit „demos" von Anfang an unpassend; denn es geht von dem uralten Schema von Oben und Unten aus, das vom undemokratischen, vordemokratischen Denken von Herrschaftsgewalt und aus dessen Kategorien herkommt. Dieses alte Denken wirft, zur Demokratie übergehend, nicht etwa das Schema um. Dieses wird beibehalten; in seinem nach wie vor autoritär konzipierten Rahmen soll nunmehr - mehr oder weniger aufrichtig, bei Rousseau geradezu verzweifelt aufrichtig - das Volk - wer auch immer das sei - zuoberst gesetzt werden49. Die autoritäre Deformation bleibt bestehen, nur das „Herrschafts"subjekt wird ausgewechselt. So erklärt es sich, daß es herkömmlich immer nur um den status activus und seine Regelwerke geht, um Staatsangehörigkeits-, um Wahl- und Stimmrecht und ihre Begleitvorschriften, wenn Demokratie am „Volk" gerechtfertigt wird; und um Unterschiede zwischen Ist-Zustand und Soll-Zustand in Details der Technik der Vermittlung und der Prozeduren von Herrschaft, wenn es sich um „Demokratiekritik" und um eine „Krise der Demokratie" handelt. Status negativus und status positivus werden dabei in den Rechts- und zum Teil in den Sozialstaat abgeschoben. Dorthin gehören sie ebenfalls, aber nicht allein; und jedenfalls nicht in einen als gegenüber Demokratie autonom konzipierten sozialen Rechtsstaat. Es geht, anders gesagt, nicht in erster Linie darum, den Volks„begrifT als solchen zu bearbeiten. Es geht darum, das Volk als eine Wirklichkeit ernst zu nehmen. Genau das hindert daran, „Demokratie" weiterhin nur repräsentations- und legislationstechnisch zu traktieren; sowie „kratein", das sich dann auf das tatsächliche Volk beziehen muß, weiterhin nur herrschaftsrechtlich aufzufassen. Wegen „one man one vote", einem Satz, der keine übergeordnete alternativlose Norm ist, sind Aktiwolk und Zurechnungsvolk verfassungspo/rt/scA einander möglichst anzunähern; und zwar so weit, wie nicht zwingende verfassungskonforme Gründe dies verhindern. Das meint wieder kein starres Entweder - Oder, sondern abstufende Dispositive; etwa das Kommunalwahlrecht für (bestimmte Gruppen von) Ausländer(n), auch wenn diese kein Legislativwahlrecht bekommen sollen. 49

Ein Vorhaben, das seit den Tagen von Babylon am ehesten noch während des Karnevals Erfolg verspricht.

IX. Legitimierung von Demokratie

Ähnlich wie „one man one vote" als eine Art von regulativer Idee läßt sich das Rousseausche „Volk" als verfassungspolitisches Konkretisierungselement bewahren, das in den Normtexten des geltenden Rechts so nicht erscheint; das aber immerhin als Beunruhigung einer sonst vorschnell selbstgefälligen Legitimationsgewißheit wirken sollte: das Rousseausche ganze Volk, das gerade nicht in ikonischer Rolle, sondern als handelndes, als real bestimmendes Subjekt der Gesetzesrepublik gedacht ist. Es sollte aus dem Demokratiediskurs nicht verschwinden. Umgekehrt gibt es Fälle, in denen Staatsangehörigkeits- und Wahlrecht (Zensus, Pluralwahlrechte, ethnische Einschränkungen, rassische Apartheid, kein Wahl- und Stimmrecht für Frauen, Wählerlisten mit Bildungsbarrieren, und anderes) das Aktiwolk stark einengen, den Unterschied zwischen Aktivvolk und Bevölkerung bzw. Zurechnungsvolk bewußt vergrößern. Das ist dann zwar geltendes Recht und - falls die (Apartheids- etc.-)Verfassung danach ist sogar formal verfassungsgemäß. Aber solche Maßnahmen schwächen in demselben Maß die demokratische Legitimität des Systems. Dies kann nicht normativ so behauptet werden, da sich das System in seinem Binnenbereich die Mittel dazu gibt; das gilt natürlich vorbehaltlich internationaler Verbindlichkeiten oder supranationaler zwingender Vorschriften, die denkbar sind. Wohl aber kann es auf der Ebene der Legitimitätsdebatte innerhalb der Verfassungsfamilie gesagt werden50; methodologisch gesprochen, auf derjenigen nicht-normtextgestützter verfassungspolitischer, theoretischer und zum Teil auch verfassungsdogmatischer Konkretisierungsfaktoren. Die verfassunspolitischen haben eine relativ schwache Stellung, aber sie haben eine; und schwach ist sie auch nur in der Konstellation des methodologischen Konflikts zwischen den einzelnen Elementen der Rechtsarbeit. Die avancierte moderne Demokratie ist nicht nur ein bestimmtes rechtstechnisches Dispositiv dafür, wie Normtexte in Kraft gesetzt werden; also nicht nur, wie im wesentlichen auch der Rechtsstaat, eine (legislatorische) Textstruktur. Sie ist nicht nur demokratischer status activus. Darüber hinaus ist sie - insoweit immer noch textstrukturell - die organisatorische Vorkehrung dafür, daß demokratisch in Kraft gesetzte Vorschriften 50

Zum Konzept der „Verfassungsfamilie" und zum vorliegenden Zusammenhang: Friedrich Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, z.B. S. 68 ff., 77 ff, u.ö. - Zu verfassungspolitischen Konkretisierungselementen vgl. deus., Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, Abschn 327, u.ö.: zu methodologischen Konflikten: ebd., Abschn. 332.

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auch tatsächlich das Tun der Exekutive und der Judikative prägen. Dafür, daß demokratisch vermittelte Normierungsanstöße im Ergebnis das formen, wofür sie vertextet und mit so großem Aufwand in Geltung gesetzt worden sind: die alltägliche gesellschaftliche (und damit auch die individuelle) Realität. Avancierte Demokratie ist damit - und insoweit dann auch ein Stück über bloße Textstruktur hinaus - ein Anforderungsniveau, das nicht unterschritten werden darf - und zwar im Blick darauf, wie Menschen in diesem („Staat" genannten) System organisierter Gewalt überhaupt zu behandeln sind: nicht als Unter-Menschen und nicht als Untertanen, auch nicht einzelne Gruppen von ihnen, sondern als Mitglieder des Souveräns, des das Ganze dieses Staats im tiefsten legitimierenden „Volkes". Diese Demokratie ist also auch demokratischer status negativus und status positivus. Sie steht für einen notwendigen, für den legitimierenden Zusammenhang mit der Organisation von Freiheit und Gleichheit. Das ist nicht idealistisches Naturrecht, es ist in den Konstitutionen, von denen hier die Rede ist, vertextet. Demokratie ist positives Recht; Recht eines jeden Menschen.