Weltgestaltender Calvinismus: Studien zur Rezeption Abraham Kuypers [1 ed.] 9783788735326, 9783788735302


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German Pages [193] Year 2021

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Weltgestaltender Calvinismus: Studien zur Rezeption Abraham Kuypers [1 ed.]
 9783788735326, 9783788735302

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FRTH

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Dieser Band versammelt acht Beiträge eines Studientages, der im Vorfeld d ­ es 100. Todestages Abraham Kuypers (1837–1920) in Göttingen stattfand. In Auseinandersetzungen mit dem „Modernismus“ beanspruchte Kuyper, den Calvinismus als ein der Freiheit besonders verpflichtetes Format des christlichen Glaubens zu reformulieren, das eine enorme Kraft zur Weltgestaltung freisetzt. Vier deutsche AutorInnen, drei Autoren aus den Niederlanden und eine Autorin aus der Schweiz mit profanhistorischen, kirchengeschichtlichen und systematisch-theologischen Fokussierungen gehen der gemeinsamen Frage nach, ob

Martin Laube/Hans-Georg Ulrichs (Hg.)

Weltgestaltender Calvinismus

FRTH

FORSCHUNGEN ZUR REFORMIERTEN THEOLOGIE

ein neuer Blick auf diese niederländische Jahrhundertgestalt unabgegoltene derungen in Kirche, Theologie und Gesellschaft eröffnen kann. Ausgewiesene Kuyper-Kenner kommen ins Gespräch mit dezidierten Kritikern. Dieser Band bietet in seiner vielstimmigen Beschäftigung mit Kuyper neue Anstöße und Anregungen. Die Herausgeber Dr. theol. habil. Martin Laube ist Professor für Systematische Theologie (Lehrstuhl für Reformierte Theologie), Universität Göttingen. PD Dr. Hans-Georg Ulrichs arbeitet als Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Baden und lehrt als Privatdozent Kirchengeschichte an der Universität Osnabrück.

ISBN: 978-3-7887-3530-2

9 783788 735302

Martin Laube/Hans-Georg Ulrichs (Hg.)

Einsichten und überraschende Perspektiven für die gegenwärtigen Herausfor-

12 Weltgestaltender Calvinismus STUDIEN ZUR REZEPTION ABRAHAM KUYPERS

Forschungen zur Reformierten Theologie

Herausgegeben von Marco Hofheinz, Michael Weinrich und Georg Plasger Band 12

Martin Laube/Hans-Georg Ulrichs (Hg.)

Weltgestaltender Calvinismus Studien zur Rezeption Abraham Kuypers

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar.  2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9287 ISBN 978-3-7887-3532-6

Abraham Kuyper, 1916 Vrije Universiteit Amsterdam, Collectie HDC

Vorwort

Obwohl das Denken Abraham Kuypers im internationalen Horizont durchaus präsent und wirksam ist, wird es im deutschsprachigen Raum nur wenig wahrgenommen und rezipiert. Das mag vor allem darin begründet sein, dass Kuypers Weise der Fortschreibung der calvinistischen Tradition, seine Ideen zur Auseinandersetzung mit der Moderne und seine Verhältnisbestimmungen von Kirche und Welt, Theologie und Kultur im von Karl Barth geprägten Reformiertentum überwiegend kritisch gesehen worden sind. Der vorliegende Band gibt die acht Beiträge eines Studientages am 25. September 2020 in Göttingen wieder, der im Vorfeld des 100. Todestages Kuypers am 8. Dezember 2020 stattfand. Er wurde gemeinsam vom Lehrstuhl für Systematische/Reformierte Theologie der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen und von der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus e.V. veranstaltet. Wir danken der Ecclesia Versicherungsdienste GmbH für die freundliche Förderung des Studientages und der Evangelisch-reformierten Gemeinde Göttingen, dass wir zwischen den Lockdowns des zurückliegenden Jahres in deren Gemeindehaus zu Gast sein durften. Mitarbeitende des Lehrstuhls haben dankenswerterweise die Organisation, Logistik und Technik des Studientages übernommen. Die Beiträge dieses Bandes könnten kaum unterschiedlicher sein: Neben vier deutschen Referent/inn/en waren drei Referenten aus den Niederlanden und eine Referentin aus der Schweiz am Studientag beteiligt; sie setzten sich mit Kuyper vor dem Hintergrund ihrer je spezifischen Kontexte und Traditionen auseinander. Profanhistorische, kirchengeschichtliche und systematisch-theologische Perspektiven waren vertreten. Unter den Teilnehmenden waren ausgewiesene Kuyper-Kenner und solche, die von ihrer Erstbegegnung mit Kuyper berichteten, neben erklärten „Kuyperianern“ gab es freundlichdistanzierte Beobachter und durchaus auch dezidierte Kritiker. Es hat sich gezeigt, dass eine Rezeption Kuypers in deutschsprachigen Kontexten nicht leichthin und ohne intensive Auseinandersetzung möglich erscheint. So unternimmt dieser Band nicht den Versuch, das eine Kuyper-Erbe zu begründen, sondern bietet in seiner vielstimmigen Beschäftigung mit Kuyper vor allem Anstöße, Anregungen und Perspektiven. Wir danken den Herausgebern der „Forschungen zur Reformierten Theologie“ für die Aufnahme des Bandes in die Reihe und den Mitarbeiter/ inne/n des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht für die gute Betreuung. Die

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Vorwort

studentischen Hilfskräfte Simone Hankel und Merle Klischka haben uns bei den Korrekturen unterstützt. Ohne namhafte finanzielle Unterstützung hätten diese Beiträge nicht publiziert werden können: Wir danken der Evangelischreformierten Kirche, der Union Evangelischer Kirchen in der EKD und der EKD sowie der Stichting Dr. Abraham Kuyperfonds für ihre Großzügigkeit. Göttingen/Karlsruhe, im Februar 2021

Martin Laube und Hans-Georg Ulrichs

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Georg Ulrichs Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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George Harinck Transition and Translation The International Kuyper Research . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jeroen Koch Calvinismus mit einem Auftrag in dieser Welt Abraham Kuypers Neo-Calvinismus als Ideologie . . . . . . . . . . . .

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Hans-Georg Ulrichs „Die Angst vor Ihnen [war] fast ergötzlich“: Kuyper und Deutschland Korrespondenzen, Wahrnehmungen und Rezeptionen . . . . . . . . .

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Christine Lienemann-Perrin Rezeptionen Abraham Kuypers in Südafrika am Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Marco Hofheinz „Just a minor thinker“? Zur Größenordnung in der Formation von Abraham Kuypers politisch-theologischem Denken. Versuch einer dialektischen Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Martin Laube Abraham Kuyper als Theologe der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . 133 Margit Ernst-Habib Begegnungen im liminalen Raum Betrachtungen zu Abraham Kuypers Diskurs über den Islam . . . . . . 147

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Inhalt

Dirk van Keulen Gutta cavat lapidem? Abraham Kuyper und die Liturgie in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Autoren und Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Hans-Georg Ulrichs

Einleitung

1. Abraham Kuyper (1837–1920) ist im deutschsprachigen Raum weithin unbekannt. Obgleich er als Begründer des „Neocalvinismus“ gilt, spielt sein Name im reformierten Bewusstsein nahezu keine Rolle. Die Erinnerung an Kuypers Wirken ist verblasst; eine Auseinandersetzung mit seinem Denken findet nicht statt. Die international bekannten und einflussreichen Stone Lectures über den Calvinismus aus dem Jahr 1898 werden – 1904 erstmals auf Deutsch erschienen – nur wenig gelesen. Freilich lässt sich nicht nur in den Niederlanden, sondern insbesondere im US-amerikanischen Raum seit einiger Zeit eine verstärkte, durchaus affirmative und dennoch nicht kritiklose Wahrnehmung dieser niederländischen Jahrhundertgestalt beobachten. Der 100. Todestag Kuypers am 8. November 2020 bot daher die Gelegenheit, dieses neu erwachte Interesse an Kuyper aufzunehmen, sich mit Person, Œuvre und Wirkungen Kuypers zu beschäftigen und eigene Rezeptionen und Fortschreibungen zu erproben. Dies geschah global vor allem an den Kuyper-hotspots in Amsterdam und in Nordamerika. Doch auch in Göttingen fand unter dem Titel „Eine eigene Gedankenwelt für das ganze menschliche Leben“ am 25. September 2020 ein Studientag statt. Hier ging es darum, vor dem Hintergrund der aktuellen internationalen Kuyper-Forschung die – überaus schmale – deutsche Rezeption Kuypers aufzuarbeiten, Ansätze für eine neue Beschäftigung mit dem Werk Kuypers zu erproben und kritisch zu diskutieren. Da Kuypers Biographie nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann, wird sie im Folgenden knapp umrissen, um anschließend die in Göttingen gehaltenen Vorträge im Zusammenhang vorzustellen.

2. Abraham Kuyper wurde am 29. Oktober 1837 in einem reformierten Pfarrhaus in Maassluis geboren.1 Bereits während seines Studium an der Univer1 Zur Biographie vgl. das ältere Werk von Piet Kasteel, Abraham Kuyper, Kampen 1938; eine

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Hans-Georg Ulrichs

sität Leiden von 1855 bis 1862 erwarb er die ersten akademischen Meriten mit Studien und Editionsarbeiten zu Johannes a Lasco (1499–1560).2 Im Jahre 1863 übernahm er im ländlichen Beesd die erste Pfarrstelle; er knüpfte Kontakte zu christlich-konservativen Kreisen und machte sich als Kritiker des zeitgenössischen theologischen und kirchlichen Liberalismus einen Namen. 1867 wechselte er nach Utrecht, 1870 nach Amsterdam. Kuyper stieg nun zum Wortführer einer von ihm mitgeprägten Bewegung auf und trat insbesondere für die Selbstständigkeit von Kirche und Schule gegenüber dem Staat ein. Weit über die Grenzen der Kirche hinaus wirkte er als Theologe, Publizist und zunehmend auch Politiker. 1869 wurde er Herausgeber des kirchlichen Wochenblatts De Heraut, 1872 gründete er die Tageszeitung De Standaard, 1874 wurde er in das niederländische Parlament gewählt. Er übte eine große öffentliche Wirksamkeit aus, nicht nur als politischer Kolumnist, sondern auch als theologischer Schriftsteller. Vor allem mit seinem Namen ist die 1886 erfolgte niederländische Kirchentrennung, die sogenannte Doleantie, verbunden. 1892 betrieb er die Vereinigung der Dolerenden mit den bereits 1834 Abgeschiedenen zu den Gereformeerde Kerken in Nederland. Als politischer Fürsprecher für bekenntnisgebundene Schulen, als spiritus rector der 1880 neu gegründeten Vrije Universiteit Amsterdam, als Gründer der ersten modernen demokratischen Partei der Niederlande, der Antirevolutionaire Partij im Jahre 1879, und schließlich als Premierminister der Niederlande von 1901 bis 1905 wirkte er über Jahrzehnte in Gesellschaft und Politik und war weit über die Grenzen der Niederlande hinaus bekannt. Auch nach der gescheiterten Wiederwahl 1905 blieb Kuyper in der Öffentlichkeit präsent und prägte die gesellschaftlichen, politischen und auch kirchlichtheologischen Debatten. Seine Sympathien für Deutschland während des Ersten Weltkrieges, in dem sich die Niederlande für „neutral“ erklärt hatten, blieben nicht unumstritten.3 Kuyper starb am 8. November 1920 in Den Haag. kritische, nicht unumstrittene Biographie von Jeroen Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006; für deutschsprachige Interessierte weiterhin lesenswert Cornelis Augustijn, Abraham Kuyper, in: Martin Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Band 9,2: Die neueste Zeit II, Stuttgart 1985, S. 289–307. – Vgl. auch Adriaan Breukelaar, Art. Kuyper, Abraham, in: BBKL IV (1992), Sp. 846–851; aus den nordamerikanischen Kontexten: James D. Bratt, Abraham Kuyper. Modern Calvinist, Christian Democrat, Grand Rapids/M. 2013. – Wilhelm Kolfhaus, Dr. Abraham Kuyper 1837–1920. Ein Lebensbild, Elberfeld 1924, 21925. Dieses Werk genügt heutigen Ansprüchen nicht mehr. 2 Vgl. Jasper Vree, Abraham Kuyper als Erbe a Lascos, in: Christoph Strohm (Hg.), Johannes a Lasco (1499–1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator. Beiträge zum internationalen Symposium vom 14.–17. Oktober 1999 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 14), Tübingen 2000, S. 357–375. 3 Zur Wahrnehmung der Reformierten in den Niederlanden vgl. Hans-Georg Ulrichs, „Das kirchliche Leben Hollands mit herzlicher Sympathie verfolgen“. Die reformierten Niederlande in der Wahrnehmung der deutschen Reformierten im 20. Jahrhundert, in: George Harinck/HansGeorg Ulrichs (red.), Naaste verwanten/Nahe Verwandte. Het gereformeerde protestantisme in Nederland en Duitsland in de twintigste eeuw. Kenmerken, betrekkingen, verschillen, wissel-

Einleitung

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3. Der vorliegende Band beginnt mit niederländischer Expertise. George Harinck, seit Jahrzehnten mit dem Neocalvinismus und Abraham Kuyper beschäftigt, bietet einen Überblick über den Stand der internationalen KuyperForschung. Anhand der Stichworte „transition“ und „translation“ zeigt er die Wege und Probleme der globalen Beschäftigung mit Kuyper auf. Beginnend mit der Fortwirkung Kuypers in den Niederlanden skizziert er die verschiedenen Rezeptionsphasen in der Beschäftigung mit dessen Œuvre. Auf dieser Grundlage benennt er schließlich aktuelle Aufgaben und Herausforderungen. Ihm folgt mit Jeroen Koch ein ausgewiesen kritischer Betrachter, der aus politikwissenschaftlicher und ideologiekritischer Perspektive den Anspruch Kuypers untersucht, aus religiösen Wurzeln eine allgemeine Weltanschauung abzuleiten. Die beiden folgenden Beiträge nehmen die Kuyper-Rezeption außerhalb der Niederlande in den Blick. Hans-Georg Ulrichs zeichnet zum einen nach, welche Verbindungslinien sich zwischen Kuyper und deutschen Theologen und Kirchenfunktionären aufweisen lassen. Zum anderen untersucht er die schmalen Spuren der deutschsprachigen Rezeption Kuypers nach 1920. Auch wenn von einer durchgängigen Kuyper-Rezeption kaum die Rede sein kann und zudem zahlreiche Missverständnisse die Wahrnehmung erschweren, fördert Ulrichs doch überraschende Befunde zutage. Christine LienemannPerrin wendet sich einem besonderen Strang der Wirkungsgeschichte zu, indem sie den Blick nach Südafrika richtet, wo die Buren zahlreiche Kontakte in die Niederlande unterhielten. Lienemann-Perrin profiliert die südafrikanische englischsprachige Kuyper-Adaption zu Beginn und zum Ende des 20. Jahrhunderts, erläutert, wo – berechtigt oder unberechtigt – Berührungspunkte mit dem Apartheidsdenken vorhanden waren und welche verschiedenen Wege im letzten Vierteljahrhundert südafrikanische Befreiungstheologen mit oder gegen Kuyper gegangen sind. Drei systematisch-theologische Beiträge fragen anschließend nach möglichen Gegenwartspotentialen der Theologie Kuypers. Während Marco Hofheinz aus sozialethischer Perspektive das politisch-theologische Denken Kuypers untersucht und dabei auf klassisch-reformierte Positionen rekurriert, überprüft Martin Laube die Modernitätsfähigkeit der Theologie Kuypers, wobei er nicht zuletzt Ernst Troeltsch als Referenz zu Grunde legt. Beide sind sich durchaus einig in einer kritischen Wahrnehmung Kuypers. Gleichwohl stellt Laube die problematischen Konsequenzen von Kuypers programmatischem ,Antimodernismus‘ heraus, während Hofheinz die produkwerkingen/Der reformierte Protestantismus in den Niederlanden und in Deutschland im 20. Jahrhundert. Signaturen, Beziehungen, Differenzen, Wechselwirkungen (ADChartasreeks 36 [Archief- en Dokumentatiecentrum Kampen]), Hilversum/NL 2020, S. 13–59.

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Hans-Georg Ulrichs

tiven Anschlussmöglichkeiten seines partizipativ gedachten gesellschaftlichen Pluralismus betont. Einen fresh look auf Kuyper wagt Margit ErnstHabib, indem sie mit postkolonialer Perspektive Kuypers Begegnung mit dem Islam – vor allem während seiner großen Reise um das Mittelmeer in den Jahren 1905/06 – in den Fokus nimmt. Auf den ersten Blick hätte man wohl eine islamkritische Haltung erwartet; doch trotz der Verwurzelung im niederländischen Kolonialismus mit seinem inhärenten Rassismus öffnet sich Kuyper einer wirklichen Begegnung mit dem Islam und kann trotz aller Vorurteile und Überlegenheitsgewissheiten auch Vorbildliches im Islam entdecken und selbstkritisch reflektieren. Schließlich fragt Dirk van Keulen in seinem Beitrag nach dem Einfluss Kuypers auf die liturgische und agendarische Entwicklung im niederländischen Protestantismus. Er lenkt damit den Blick auf einen gewichtigen, aber zumeist übersehenen Aspekt der Wirkungsgeschichte Kuypers. Kuyper prägte nicht zuletzt auch die Frömmigkeitspraxis seiner Anhänger – zum einen durch seine vielfach gedruckten biblischen Meditationen, zum anderen durch seine liturgischen Überlegungen und Vorschläge, auch wenn sein Einfluss hier auf die niederländische Entwicklung insgesamt bezogen wohl überschaubar geblieben ist.

4. Die acht Beiträge dieses Bandes beschäftigen sich mit dem Denken und dem Erbe Kuypers. Sie tun dies weder einheitlich noch umfassend. Doch während es in anderen Ländern eine durchaus lebendige und auch kontroverse Beschäftigung mit Kuyper gibt, muss er in Deutschland anlässlich seines 100. Todestages weder auf einen Sockel gestellt noch als Denkmal gestürzt werden. Stattdessen lautet die gemeinsame Frage, ob ein neuer Blick auf „eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten in der christlichen Geschichte des 19. Jahrhunderts“4 vielleicht unabgegoltene Einsichten und überraschende Perspektiven für die gegenwärtigen Herausforderungen in Kirche, Theologie und Gesellschaft zutage zu fördern vermag.

4 Hugh McLeod, Die Revolutionen und die Kirche: Die neue Ära der Moderne, in: Geschichte des globalen Christentums, Teil 2: 19. Jahrhundert (Religionen der Menschheit 33), Stuttgart 2017, S. 58–158, hier: S. 126.

George Harinck

Transition and Translation The International Kuyper Research

1. Introduction Abraham Kuyper’s death on 8 November 1920 was a moment the Dutch nation had been expecting for some time. From the beginning of 1920 short notes on the regressing health of the former prime minister and the journalist who had put his stamp on the nation in the past four decades more than anyone else, continued to appear in the Catholic, Liberal, Socialist and Protestant national and regional newspapers, and with increasing intensity. It was news when he early 1920 fell on the street and hurt his head, and later on in the year it was even news when he had a quiet night. His 83rd birthday on 29 October had been commemorated in the press on tiptoes, knowing that his decease was imminent. In other countries Kuyper’s final months did not attract attention and upon his death short obituaries were published in the international press, mainly about his political role. In Germany his statesmanship was compared with Bismarck’s national stature, and his sympathy for the German cause in World War I was highlighted.1 In Belgium his „germanophilia“ was deplored.2 In Hungary he was compared with Count Tisza,3 in South-Africa with president Steyn,4 in England they counted him as a liberal, like Gladstone.5 But in some places in the world and among certain groups Kuyper’s death resonated more deeply, and there his theological and spiritual influence was a key theme. In those circles, like in South Africa and in the United States, it was not the politician in the first place that was commemorated, but the Christian, the preacher, the systematic theologian and the author of thousands of devotionals. „They say he is dead“, the American Reformed weekly The Banner wrote on 2 December 1920 in a rather denying mood, „but such a man is immortal in the highest and best sense of the world, because to die for such a man simply means transition, translation to a higher and better world.“ 1 Gedenkboek ter herinnering aan het overlijden van dr. A. Kuyper en de sprake die daarbij uit de pers voortkwam, Amsterdam 1921, pp. 255.257.258.266.275.290. 2 Kuyper gedenkboek 1921, p. 268; cf. p. 272. 3 Kuyper gedenkboek 1921, p. 263. 4 Kuyper gedenkboek 1921, p. 286. 5 Kuyper gedenkboek 1921, p. 271.

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George Harinck

Transition and translation, these words belong together when we reflect on the international research on Abraham Kuyper. In the humanities there is an awareness of the fact that ideas have legs. This means that ideas move from one place to another, and from one culture to another. And that in a different location, in a different cultural atmosphere, those ideas take on a different position, they start to function differently and they get a new impact and relevance, maybe larger, maybe smaller, but changed in such a way that you have to conclude that the original idea in the original context has changed in something else. The words are still the same, the author is still the same, but the content has taken on a different meaning. That is what happens in a cultural transfer of ideas.6 This change has not only to do with a different cultural and ideological context. As said, ideas have legs. They don’t move autonomously, they are moved by people. Ideas travel in a network of persons, they are cargo, baggage of people. People with different temperaments, different ideas, different ambitions and careers, but who in one way or another move ideas and hand them over to other people. So, when we talk about the international Kuyper research, we talk both about ideas and people on the move, we talk about transitions and about translations. In this article an overview of the international Kuyper research is presented. The international Kuyper research was preceded by the national, Dutch Kuyper research. The article starts with a short overview of this national research, for this initially molded the international research. After this section attention is paid to Kuyper as an international figure and to the translation of his works, especially his meditations and his Stone lectures on Calvinism. The different approaches in recent research are mentioned, especially the historical approach in the Netherlands, and the worldview-approach in the United States. Then the infrastructure of the Kuyper research is observed, especially the role of the 1998 Stone lectures centennial conferences and the role of Princeton Theological Seminary in enhancing Kuyper research. After an overview of the wider infrastructure of the Kuyper research and some recent challenges, especially the claiming of Kuyper by „dominionist“ spokesman, the article ends with some desiderata.

2. Kuyper in the Netherlands 2.1 Before the Second World War Overlooking the development and trends in Dutch Kuyper research, it is helpful to take the years he was commemorated as an orientation. Two 6 See Michael Werner and Michel Espagne, Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siHcle), Paris 1988.

Transition and Translation

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moments are particularly relevant in this respect: 1937, the centennial of Kuyper’s birth, and 1987, 150 years after he was born in Maassluis. Up till this final year Kuyper research was dominantly Dutch. At the end of this article we will see how this insular situation has changed in 2020, the centennial of Kuyper’s decease. In 1937 Kuyper was mainly commemorated within the Reformed world. Though he was a national figure and honored as such in 1920, the Dutch nation was not very occupied with him anymore in 1937. His legacy though was dominant in public life, most apparent in the prominent position of the Antirevolutionary Party and in the person of his successor as party leader, Hendrikus Colijn (1869–1944). In 1937 he was prime minister of the Netherlands for the fourth time, and was the primus inter pares among the Dutch politicians of this decade. Kuyper’s legacy was also present in the selfconfident Reformed Churches and in the Vrije Universiteit, which by 1930 had developed in a full-grown university with four departments: theology, law, humanities and science.7 Kuyper’s legacy was there, but compared to his life time and struggle the situation had changed considerably. Economically the Netherlands were coping with an unprecedented economic crisis, politically the country was focused on the rise of new totalitarian ideologies, and culturally orthodox Christianity played a major role in society. It was a situation he had not known, and the memory of Abraham the Great had been faded away in the nation within two decades. But within the Reformed world he was still a towering figure. His omnipresence there seemed to have erased the memory of Herman Bavinck (1854–1921). In politics it was no problem that the political program of the ARP had been updated, for Colijn was trusted as a loyal kuyperian. Kuyper’s social views were hardly referred to in the days of massive unemployment, his journalism was forgotten, and the school struggle was outdated now that Christian schools sprawled the country. Kuyper’s name was very much respected, but his opinions were not translated and applied to the present conditions, or reexamined, but mainly confirmed and petrified. He was commemorated at Reformed mass meetings in large venues like the Apollohal in Amsterdam. There were some national aspects to this Reformed commemoration, like a Kuyper-exhibition in the Rijksmuseum, and prime minister Colijn lecturing on Kuyper as a national figure, but the widely read newspaper De Telegraaf reported about his lecture in the Concertgebouw under the apt header : „Vrije Universiteit honors Dr. Kuyper.“8 The kuyperian world navigated between inheriting Kuyper or borrowing from others, as historian Arie van Deursen put it.9 Kuyper was the property of 7 Arie Theodorus van Deursen, The Distinctive Character of the Free University in Amsterdam, 1880–2005. A Commemorative History, Grand Rapids 2008, pp. 114–190. 8 De Telegraaf, 28 October 1937. 9 Van Deursen, The Distinctive Character, pp. 135–136.

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George Harinck

the Reformed community only, and they tried to keep his legacy intact and applicable. This attitude was mainly defensive, which meant they protested against outsiders like national-socialists, who tried to turn Kuyper into a Christian nationalist, and against followers of Karl Barth, who tried to blame him for conflating Christianity and culture, and against insiders like the theologian Klaas Schilder (1890–1952) who proposed amendments to some of Kuyper’s notions in reaction to rising secularism and the totalitarian temptation.10 This defensive take regarding Kuyper’s legacy in theology and society lacked creativity, and forecasted petrification. Apart from appreciative assessments of Kuyper by Dutch historians Johan Huizinga and Jan and Annie Romein,11 the best the 1930’s commemoration had to offer was a Kuyper biography by Piet A. Kasteel (1901–2003), a RomanCatholic parliamentary journalist.12 His biography was a dissertation defended in 1938 at the Catholic University of Louvain, and published by Kuyper’s publisher J.H. Kok in Kampen. Kasteel did not pay attention to Kuyper’s scholarly work or the founding of the Vrije Universiteit, but focused mainly on his political life and ideas. Pieter A. Diepenhorst (1879–1953), professor of Economics at the Vrije Universiteit, published a character sketch of Kuyper in 1931. He qualified him as a warrior. At the end of his book Diepenhorst did something that was not very usual in those days: he listed Kuyper’s weaknesses, from using facts as illustration to his opinions, and hurting friends and foes alike in his combat mode, to his tendency to reduce every viewpoint to one principle and build a consequent system on such a principle. 2.2 After the Second World War Till the Second World War this kuyperian community of church, party and university was kept more or less intact, but in the war this world started to fall apart. Though the kuyperians stayed united in the resistance movement, a church split in 1944 on Kuyper’s theological themes and church polity could not be avoided, and after the war the dominant role of the Antirevolutionary Party in politics was over, and the Vrije Universiteit started more to borrow from others than to inherit from Kuyper. In the decades between the 1940 and the 1980s, nationally and internationally about 25 scholarly books were written on Kuyper, mainly in the 10 Klaas Schilder, The Essential Theological Writings, edited by George Harinck, Marinus de Jong and Richard Mouw, Bellingham WA 2021 (in print). 11 Willem Otterspeer (ed.), De hand van Huizinga, Amsterdam 2009, pp. 56–63; Jan en Annie Romein, Abraham Kuyper. De klokkenist der kleine luyden, in: Idem, Erflaters van onze beschaving. Nederlandse gestalten uit zes eeuwen, twelfth edition, Amsterdam 1977, pp. 747–770. 12 George Harinck, „Een merkwaardige en zeer belangrijke dissertatie over dr. A. Kuyper“, in: Gijsbert Nicolaas (Gijs) Westerouen van Meeteren (ed.), Dr. Petrus Albertus Kasteel honderd jaar. Album amicorum, Den Haag 2002, pp. 46–60.

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domain of theology, but also in philosophy, sociology and politics. The Kuyper research did not get momentum yet in this period. Till the 1970s only a handful of dissertations that explicitly dealt with Kuyper were defended at the Vrije Universiteit.13 Sometimes studies were done independent of the Vrije Universiteit, of which Arnold A. van Ruler’s book on Kuyper’s notion of a Christian culture, and Jochem Douma’s dissertation on common grace, defended at the Theological University Kampen, are prominent.14 Since the orientation of the Vrije Universiteit was mainly westward and American dissertations were the expected consequence, two dissertations defended in Germany deserve special mention.15 The main difference with the years before the Second World War is that about half of the books were defended as dissertation, and the international range of authors. Memorable is also that in 1960 the first American biography of Kuyper was published by Frank VandenBerg. From an academic point of view it was quite an unsatisfactory book, „too laudatory in its style“, burying „Kuyper and his friends under sheer goodness and orthodoxy“, but even so it is interesting that this publication stayed unnoticed in the Netherlands.16 The reason for this neglect may have been reservations about the kuyperian tradition. On the one hand he was still appreciated in socio-political issues, but also the notion that Kuyper was a conservative with fascist overtones won influence.17 From the 1970s on the Reformed in the Netherlands were occupied with liberating themselves from this tradition, especially with one of the weaknesses Diepenhorst mentioned in 1931, Kuyper’s tendency to derive 13 Louis Praamsma, Abraham Kuyper als kerkhistoricus, Kampen 1945; Simon Jan Ridderbos, De theologische cultuurbeschouwing van Abraham Kuyper, Kampen 1947; Jan Dirk Dengerink, Critisch-historisch onderzoek naar de sociologische ontwikkeling van het beginsel der „souvereiniteit in eigen kring“, Kampen 1948; Cornelis de Ru, De strijd over het hoger onderwijs tijdens het ministerie-Kuyper, Kampen 1953; Willem H. Velema, De leer van de Heilige Geest bij Abraham Kuyper, ‘s-Gravenhage 1957; Sutarno [Boedisoesetya, Soetarno], Het kuyperiaanse model van een christelijke politieke organisatie, Baarn 1970. 14 Arnold A. van Ruler, Kuyper’s idee eener christelijke cultuur, Nijkerk 1940; Petrus Antonius van Leeuwen, Het kerkbegrip in de theologie van Abraham, Franeker 1946; Harm Jan Langman, Kuyper en de volkskerk. Een dogmatisch-ecclesiologische studie, Kampen 1950; Jan Voerman, Het conflict Kuyper-Heemskerk, Utrecht 1954; Jochem Douma, Algemene genade. Uiteenzetting, vergelijking en beoordeling van de opvattingen van A. Kuyper, K. Schilder en Joh. Calvijn over algemene genade, Goes 1966. 15 Leroy Vogel, Die politischen Ideen Abraham Kuypers und seine Entwicklung als Staatsmann, Würzburg 1937; Enno Edzard Rosenboom, Die Idee einer christlichen Universität im theologischen Denken von Abraham Kuyper, Göttingen 1950. An American PhD, defended in 1944, is: William Young, Toward a Reformed Philosophy. The Development of a Protestant Philosophy in Dutch Calvinistic Thought since the Time of Abraham Kuyper, Franeker 1952. 16 Frank VandenBerg, Abraham Kuyper, Grand Rapids 1960. Critical review by Gerrit J. Ten Zijthoff in: Church History 30 (1961), p. 373. 17 Positive on Kuyper: Wilhelm Friedrich de Gaay Fortman, Architectonische critiek. Fragmenten uit de sociaal-politieke geschriften van dr. A. Kuyper, Amsterdam 1956; George Puchinger/ Nicolaas Scheps, Gesprek over de onbekende Kuyper, Kampen 1971. Critical on Kuyper : Jacobus van Weringh, Het maatschappijbeeld van Abraham Kuyper, Assen 1967.

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everything from one idea and trace this back to one system. Kuyperian principles had resulted in a fixed system. Church historian Cornelis Augustijn referred to it as „reinforced concrete”.18 In theology Kuyper’s view of Scripture and the resulting isolation from the current theological debate was severely criticized, while in society he was blamed for the rigidity of a pillarized society in which worldviews were the organizational principle. Kuyper’s view of an organic society and of sphere sovereignty was challenged by the difficulty to apply these structures in an individualizing society. His view of the dominant role of religion in personal life and in society was challenged by secularization, and his view of the organic church that would permeate society was challenged by the estrangement of church and society and by doubt about the meaning of the church in society.19 2.3 After the 1960s In the 1970s and 1980s the Reformed world distanced itself radically from about every kuyperian viewpoint, not only in theology, but for example also the influence of the kuyperian tradition on apartheid ideology in SouthAfrica. Internationally this influence was criticized and rejected by NorthAmerican scholars T. Dunbar Moodie (1975) and Irving Hexham (1981), who argued that Afrikaner nationalism and apartheid are fruits of the neoCalvinist tradition.20 Although this critique by John W. de Gruchy has been criticized as a distorted view on Kuyper’s influence,21 and black theologian and Kampen alumnus Allan Boesak made a liberative claim for Kuyper instead,22 the unilateral relation between Kuyper and apartheid is persistent in the international context. This critical development was welcomed in Reformed circles in the Netherlands as a liberation. Kuyperian became a negative qualification. Especially the theological department at the Vrije Universiteit was distancing 18 M. E.H.Nicolette Mout, Levensbericht Cornelis Augustijn, 18 juni 1928–1 januari 2008, in: Levensberichten en herdenkingen 2009. Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Amsterdam 2009, p. 11. 19 Gerard Dekker, Is Kuypers gedachtengoed nog bruikbaar?, in: Cornelis Augustijn et al. (eds.), Abraham Kuyper. Zijn volksdeel, zijn invloed, Delft 1987, pp. 200–202. 20 T. Dunbar Moodie, The Rise of Afrikanerdom. Power, apartheid and the Afrikaner civil religion, Berkeley 1975; Irving Hexham, The Irony of Apartheid. the struggle for National Independence of Afrikaner Calvinism against British Imperialism, New York 1981. 21 John W. de Gruchy, Bonhoeffer and South Africa. Theology in Dialogue, Grand Rapids 1984, pp. 107.110. See also Gerrit Schutte, A Family Feud. Afrikaner Nationalism and Dutch NeoCalvinism, Amsterdam 2010; George Harinck, „Wipe out Lines of Division (Not Distinctions)“. Bennie Keet, Neo-Calvinism and the Struggle against Apartheid, Journal of Reformed Theology 11/2017, pp. 81–98. 22 Allan Boesak, Black and Reformed. Apartheid, Liberation, and the Calvinist Tradition, New York 1984, p. 87.

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itself from Kuyper,23 to the effect that theological Kuyper study has been reduced considerably. This development was mainly a national feature. The international scholarly interest in Kuyper and the Kuyper research were not really hampered by it. A more nuanced view was put forward by scholars with a historical approach. In 1987 Kuyper was not commemorated at mass meetings any more. His Antirevolutionary Party had merged with other Christian parties, his newspaper De Standaard did not exist anymore, his Reformed Churches were timid about Kuyper. Reformed people did not call themselves kuyperians anymore, they did not have the feeling they still lived in Kuyper’s shadow. They felt free to view him with a more distanced and in a less ideological way. I think this has been the moment the historians assumed the Kuyper research. In 1987, 150 years after Kuyper’s birth, one of the kuyperian institutions still existing was the Vrije Universiteit (the other was the Reformed Churches in the Netherlands). At this university, alongside the neo-Calvinist philosophical tradition, that was in the Vollenhoven/Dooyeweerd tradition almost exclusively till the 1980s,24 a new critical and source-based historical approach was initiated by the librarian of the Vrije Universiteit Johan Stellingwerff with two books on the relation between the Vrije Universiteit and Kuyper in the years 1880–1955,25 and above all by two church historians of this university, Cornelis Augustijn and Jasper Vree. They – together with some historians at the Vrije Universiteit – introduced a source-based historical approach of Kuyper, especially of his theological ideas and development. The result was that kuyperian slogans like antithesis, sphere sovereignty, common grace, and others, were contextualized in Kuyper’s life and also historically. Just to offer two examples: it turned out that Kuyper hardly ever used the notion of antithesis, and that he introduced it in politics as late as 1904.26 And till 1874 Kuyper cannot be labeled as a Calvinist, and the vast influence of Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher on Kuyper has to be acknowledged.27 This historical approach resulted in a more precise analysis of Kuyper’s life and ideas, and liberated him from an overwhelming ideological approach and appraisal. This historical take also made room for research of other aspects of Kuyper’s life, like his travel accounts,28 the start of his political downfall,29 his 23 Cornelis Augustijn, In rapport met de tijd. 100 jaar theologie aan de Vrije Universiteit, Kampen 1980. 24 Henk E.S. Woldring, Een handvol filosofen. Geschiedenis van de filosofiebeoefening aan de Vrije Universiteit in Amsterdam van 1880 tot 2012, Hilversum 2013, pp. 198.329–333. 25 Johan Stellingwerff, Dr. Abraham Kuyper en de Vrije Universiteit, Kampen 1987; Johan Stellingwerff, De Vrije Universiteit na Kuyper. De Vrije Universiteit van 1905 tot 1955. Een halve eeuw geestesgeschiedenis van een civitas academica, Kampen 1987. 26 Cornelis Augustijn, Kuypers theologie van de samenleving, in: Augustijn et al., Kuyper, zijn volksdeel, p. 56. 27 Jasper Vree, Kuyper in de kiem. De precalvinistische periode van Abraham Kuyper, 1848–1874, Hilversum 2006. 28 George Harinck, Mijn reis was geboden. Abraham Kuypers Amerikaanse tournee, Hilversum

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alpinism and journalism.30 The historical turn, a turn as well from ideology to archival information, now has become dominant, especially among researchers that read Dutch. One aspect has to be added to this historical turn, and that is the editing and publication of Kuyper’s correspondence. In 1937, the centennial of Kuyper’s birth, the correspondence of Kuyper and his intellectual guide Guillaume Groen van Prinsterer (1801–1876) was published, 500 letters written from 1864 to 1876.31 In the early stage of Kuyper’s career, Groen was his main correspondent. In 1985, the correspondence of Kuyper and the politician and Alexander W.F. Idenburg (1861–1935) was published, Kuyper’s friend at his old age.32 These were 150 letters, added with a lot of correspondence of related politicians and of family. The main correspondent of Kuyper’s middle years was Alexander F. de Savornin Lohman (1837–1924). Their correspondence awaits publication, like the correspondence of Kuyper and Bavinck. A smaller set of letters, written to his wife on his American journey, was published in Dutch and English.33 And George Puchinger’s (1921–1999) biography of 1987 on the young Kuyper was based on the correspondence between Kuyper and his fianc8e Jo Schaay (1842–1899).34 Most of Kuyper’s correspondence is unpublished, though some sets of letters from his archive have been published.35 The historical turn was hallmarked in 1987 by an iconographic book with pictures from Kuyper’s life. Many caricatures have been made of Kuyper,36 way

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2009; George Harinck, Aan het roer staat het hart. Reis om de oude wereldzee in het voetspoor van Abraham Kuyper, Amsterdam 2015; George Harinck, Varia Americana. In het spoor van Abraham Kuyper door de Verenigde Staten, Amsterdam 2016. Jan de Bruijn, Het boetekleed ontsiert de man niet. Abraham Kuyper en de Lintjesaffaire (1909–1910), Amsterdam 2005. Johan Snel, De zeven levens van Abraham Kuyper. Portret van een ongrijpbaar staatsman, Amsterdam 2020. Adriaan Goslinga (ed.), Briefwisseling van mr. G. Groen van Prinsterer met Dr. A. Kuyper, 1864–1876, Kampen 1937. Jan de Bruijn/George Puchinger (eds.), Briefwisseling Kuyper-Idenburg, Franeker 1985. George Harinck/Margriet Urbanus (eds.), Ik voel steeds meer dat ik hier zijn moest. Amerikaanse brieven van Abraham Kuyper aan zijn vrouw en kinderen (1898), Amsterdam 2004; also in Harinck, Mijn reis was geboden, pp. 33–75; english translation of the letters: George Harinck (ed.), Kuyper in America. „This is where I was meant to be”, Sioux Center 2012. George Puchinger, Abraham Kuyper. De jonge Kuyper (1837–1867), Franeker 1987. This was the first part of a planned multi-volume biography. Fifteen letters and postcards from the German-American theologian Nicolaus M. Steffens to Kuyper, in: George Harinck, „We live presently under a waning moon“. Nicolaus Martin Steffens as leader of the Reformed Church in America in the West in years of transition (1878–1895), Holland 2013, pp. 119–183; german translation: George Harinck, „Wir leben gegenwärtig unter dem abnehmenden Mond“. Nicolaus Martin Steffens als Leiter in den Übergangsjahren (1878–1895) der Reformed Church im Westen Michigans, Münster 2021 (in print). Dr. Kuyper in de caricatuur. Platen van Johan Braakensiek, Albert Hahn, Louis Raemaekers, Orion, Patrick Kroon, J. Linse, Toon van Tast, Chris Kras Kzn., enz. Met een brief aan de uitgevers van Dr. A. Kuyper, Amsterdam 1909.

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more than of any other Dutch politician in his days, and he also belonged to the first generation whose life has been documented in photos.37 As a sign of the starting international orientation of Dutch Kuyper researchers, an English edition of this pictural biography was published in 2014.38

3. The international Kuyper Kuyper himself was oriented internationally. From the student days of his A Lasco research his outlook was not restricted by national boundaries, and he experienced in his historical research how ideas travel. One example of international orientation out of many more are the opening paragraphs of Kuyper’s famous 1891 lecture on the social question and Christian religion. He started with an international overview of the social action of Christians in countries like Germany, Great Britain, Switzerland, France, Belgium and Italy, and drew the conclusion that Dutch Christians were rather late in addressing this issue. He often dealt with political topics in this way, by providing the Dutch state of affairs an international context. Explaining his policy in the railway strike of 1903, he referred to the effects of the way in which the American federal government had dealt with railway strikes in previous decades.39 And he liked to be abroad. He mountaineered for weeks annually, mainly in Switzerland, Austria and Italy, spent the time during his longer mental breakdowns largely in Southern Europe, and made trips of several months around the Mediterranean and in the United States. As a prime minister from 1901 till 1905, he visited many foreign capitals and courts. He traveled so often, that the minister of Foreign Affairs in his cabinet felt obsolete, and in the Dutch press Kuyper was nicknamed „minister of Foreign Travels“.40 Everywhere he came he frankly gave his own opinion, and though he had a cosmopolitan trait, he was always keen to promote and defend the Dutch cause. Many people who heard him had the same impression the Oxford professor Albert Venn Dicey got, when he heard Kuyper speaking in Princeton in 1898: this was „the most remarkable speech I have heard for a long time. Kuyper spoke. He looked like a Dutchman of the 17th century. He spoke slowly and solemnly. His English was 37 Jan de Bruijn, Abraham Kuyper, leven en werk in beeld. Een beeldbiografie, Amsterdam 1987; reprinted as Abraham Kuyper. Een beeldbiografie, Amsterdam 2008. 38 Jan de Bruijn, Abraham Kuyper. A Pictural Biography, Grand Rapids 2014. 39 Abraham Kuyper, Parlementaire redevoeringen. Deel II Ministerieele redevoeringen Tweede Kamer, Amsterdam [1909], pp. 543–544. 40 Wilco Julius van Welderen-Rengers, Schets eener parlementaire geschiedenis van Nederland van 1849–1891, ’s-Gravenhage 1918, p. 83.

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impressive, with here and there a Dutch idiom. He told us he was a Calvinist; that he had been persecuted by the anti-Calvinists (…) One felt as if the 17th century had visibly risen upon us to give the last curse to Spain. After that I spoke, said nothing very remarkable“.41

The denomination, the political party, and the newspapers he founded were national in nature, but in his inaugural speech on „Souvereiniteit in eigen kring” (sphere sovereignty) at the opening of the Vrije Universiteit in 1880 Kuyper touched on international aspirations of the new university. The Vrije Universiteit was a Dutch-language university, functioning under Dutch national law. But in his closing remarks Kuyper pointed at the international relevance of the Vrije Universiteit. He referred to congratulations and expressions of support the young university had received from sympathizers in Germany, Italy, Scotland, Switzerland and the United States.42 This reminded Kuyper of the international character of the Synod of Dordrecht of 1618/1619, and he made just that comparison, saying that scholarship and the Reformed confession knew no national borders.43 In 1880, the Vrije Universiteit had one German professor in the humanities department, but Kuyper had searched in vain in Germany and Austria for a professor of systematic theology. If he had succeede in strengthening the international orientation of the university, it might as well have been focused eastward, but over the years it would focus in the opposite direction.

4. International Patterns In Kuyper’s academic life translation of his Dutch-language publications became a vital part of his work. Though the first translation of one of his publications was in German, the vast majority of translations of his publications was in American English, directed at an American audience. He was strongly involved in this translation work, understanding how vital this was to the international outreach of his ideas.44 Shortly after his death there was one systematic effort to translate work of him and his fellow neoCalvinists into Hungarian, but this failed after a good start. Later on, translations of his publications were only made haphazardly, and did not 41 Robert S. Rait (ed.), Memorials of Albert Venn Dicey, Being Chiefly Letters and Diaries, London 1925, p. 154. 42 See: De Heraut, 24 October 1880. 43 Abraham Kuyper, Souvereiniteit in eigen kring. Rede ter inwijding van de Vrije Universiteit, den 20sten october 1880 gehouden, in het Koor der Nieuwe Kerk te Amsterdam, Amsterdam 1880, p. 41. There is no full English translation of this publication in print, that includes this remark by Kuyper. 44 George Harinck, Lost in Translation. The First Text of the Stone Lectures, in: Jessica and Robert Joustra, Kuyper’s Stone Lectures, Downers Grove 2021 (in print).

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really serve a systematic Kuyper research. The result is that all kinds of single publications have been translated into German or French, and recently also into Russian, Spanish, Korean, and Chinese, without readers having a clue about Kuyper and his life, and how his thought and activities were structured. This lack of knowledge has been solved sometimes by adding a short introduction on Kuyper and his ideas. These introductions are most of the times rather biased and full of mistakes and misunderstandings. Another handicap of the international Kuyper research is that he wrote in Dutch and international scholars could hardly ever read Dutch. There are only a few exceptions. Given the fact that one of the issues in Kuyper research in the Netherlands is that he had seven lives and published more widely than his contemporaries, it is very hard for a Dutchman to get a balanced view of Kuyper, let alone for someone who is not Dutch. If you didn’t read Dutch, for decades only two, five or ten texts by Kuyper are accessible – and for English readers only. This restricted access to his texts has been so hampering that in general the international Kuyper research in the twentieth century has to be qualified as underdeveloped and second rate, and that most of the publications did not contribute to the state of the Kuyper research. When by the end of the century international publications on Kuyper amounted, especially in English, you see that many who write on Kuyper do not rely on his writings, but on what other non-Dutch readers have written on him. These second-rate sources often result in third rate publications. Also, when these publications are in other languages than English, they are mostly based on English texts. The original Dutch sources stayed out of sight, as well as the Dutch context in which they originate. There are only a few exceptions to this general picture, like the publications by well-versed Dutch readers, like James D. Bratt, James P. Eglinton, Peter S. Heslam, Hans-Georg Ulrichs, and John H. Wood.45 So, there is a strong tension between the fame of Kuyper worldwide and the amount of his publications that have been translated and the publications in him and his work. One of the effects is that the results of the Kuyper research in the Netherlands – most of the times written in Dutch – is hardly accessible for foreigners. This is beginning to change, but slowly, and the language gap will stay a problem in the field of Kuyper studies.

45 James D. Bratt, Abraham Kuyper. Modern Calvinist, Christian Democrat, Grand Rapids 2013; James Eglinton, Varia Americana and Race: Kuyper as Antagonist and Protagonist, Journal of Reformed Theology 11 (2017), pp. 65–80; Peter S. Heslam, Creating a Christian Worldview. Abraham Kuyper’s Lectures on Calvinism, Grand Rapids/Cambridge 1998; Hans-Georg Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe des Calvinismus – neu gelesen, Bielefeld 2019; John Halsey Wood Jr., Going Dutch in the Modern Age. Abraham Kuyper’s Struggle for a Free Church in the Netherlands, Oxford 2013.

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4.1 Meditations I said Kuyper’s works have been translated haphazardly, but overviewing these translations, it is possible to recognize some order though. Two publications stand out for the number of languages they were translated in. In the first place Kuyper’s about 2.200 devotionals, meditations in his weekly De Heraut on texts from the Bible, collected from 1880 till 1908 in more than ten volumes, with titles like Honig uit den rotssteen (Honey from the Rock), Dagen van goede boodschap (Days of Good Tidings), In de schaduwe des doods (In the Shadow of Death), and Nabij God te zijn (To be Near unto God). Each meditation in De Heraut had a length of about 1500 to 2500 words. During his life these books were his most popular publications in the Netherlands, and with Dutch readers elsewhere in the world. People read these aloud from De Heraut in the family circle on Sunday afternoon and the volumes were sold by the thousands. After the Second World War his meditations seem to have been completely forgotten in his home country. No reprints were published anymore, and these publications did not receive any attention in Kuyper research either, but it is through his meditations that Kuyper was known best in his days. It is remarkable that this genre is still very popular outside of the Netherlands, and especially his collections of meditations Vrouwen uit de Heilige Schrift (Women of the Bible) – women, by the way, another topic in his publications that deserves more scholarly attention. Collected devotionals were translated in Hungarian (1923), Afrikaans (1953), Japanese (1955, 1956, 1958), Chinese (1978), Korean (1978, 1985), Spanish (1983, 1988, 2004, 2008). But especially in the United States his single meditations and his books on women in the Bible have been very popular – in 1979 more than 100.000 copies of these books were sold, and there was a 50th printing in 2001.46 In this article we focus on the scholarly attention for Kuyper, but it is important to realize that Kuyper’s devotionals were disseminated wider than any of his scholarly works or his speeches, or to put it in another way, that they have been published way more than all his scholarly work and speeches taken together. Often his meditations were translated first, only to be followed by scholarly publications. This had already been a pattern in the Netherlands during his lifetime. People liked his meditations in the first place, even though he is associated today with political and scholarly publications only. That is why today his meditations are advertised in the USA as follows: „Abraham

46 For more information on these translations, see: Tjitze Kuipers, Abraham Kuyper. An Annotated Bibliography 1857–2010, Leiden/Boston 2011.

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Kuyper reveals a side of himself rarely seen in his well-known other theological writings.“47 Scholarly attention for his devotionals has been very limited and restricted to recent years.48 It is part of a more recent development in the Kuyper research to pay attention to more diverse aspects in his legacy than just his theological, political, societal or philosophical ideas.

4.2 Stone lectures The other publication that stands out in the Kuyper translation industry is his Stone lectures on Calvinism, delivered at Princeton Theological Seminary in 1898. Kuyper himself was very much focused on presenting these six lectures on Calvinism as a life-system – or worldview as it came to be called – in English. He was searching for an international audience. The issue was which publications would be suited to function as an international introduction of neo-Calvinism. At first, he thought his three volume Encyclopedia of Sacred Theology might have this function. It was his first major work that was published partly in English, in 1898. But this venture was not a success. American reviewers appreciated Kuyper’s depth of knowledge and the wide range of his encyclopedia, but Americans were pragmatic. It was too elaborate and, as one reviewer wrote, „we need the concrete embodiment of the sound principles presented here.“49 The book was „a drug on the market.“50 One of the deficiencies was the quality of the translation. The German-American theologian Nicolaus Steffens complained that the Encyclopedia had been translated in a clumsy way („verstümmelte Weise“).51 The book was reprinted about ten times times from the 1960s on, but it has never been translated in another language. Over time, it seems to have been an interesting book for those who study theology proper, but as an introduction of Kuyper’s thoughts to an international audience, it failed. At first his Stone lectures on Calvinism, published in English a year later, were not very well received either. Sometimes reviewers expressed the same 47 https://lexhampress.com/product/154153/honey-from-the-rock-daily-devotions-from-youngkuyper (consulted 4 January 2021). 48 F.e. Clay Cooke, „Be Near Unto God”: Restoring Abraham Kuyper’s Call For Mysticism as a Balance to Neo-Calvinist Theology, Fuller Theological Seminary 2009; Ad de Bruijne, „Midden in de wereld verliefd op God”, in: Erik A. de Boer/Harm J. Boiten (eds.), Godsvrucht in de geschiedenis. Bundel ter gelegenheid van het afscheid van prof. dr. Frank van der Pol als hoogleraar aan de Theologische Universiteit Kampen, Heerenveen 2015, pp. 441–453; George Harinck, „Met de telephoon onzen God oproepen“. Kuypers meditaties uit 1905 en 1906, in: De Boer/Boiten, Godsvrucht in de geschiedenis, pp. 454–465. 49 The Christian Intelligencer, October 12, 1898. 50 So Henry Beets in Abraham Kuyper, Calvinism. Six Stone-lectures. With an introductory chapter by Rev. Henry Beets, Grand Rapids 1931. 51 Kuipers, Kuyper Bibliography, p. 350.

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kind of amazement prof. Dicey expressed. One of them wrote on Kuyper and these lectures: „He is a brave and loyal champion, to whom the difficulties that attend the system that he defends seem to make no appeal and have no existence. It is extremely interesting to see Calvinism thus put forward as something far greater than most Calvinists have ever imagined that it was.“52

It is clear from this review and from Dicey’s observations that Calvinism was a word with a strictly historical meaning, and Kuyper’s modern employment of the word was still new and odd by 1899. It took half a century before this situation changed. In the United States his devotionals were appreciated constantly, but it was only after the Second World War that the star of his Stone lectures began to rise. This slow pace was the same in the Netherlands. In the twentieth century the book was only reprinted in Dutch twice, in 1925 and 1959. The American publishing house W.B. Eerdmans published the Stone lectures in English since 1913 continuously till the present day, and after a slow start released more than 20 editions from the 1960s on. Internationally, the number of translations increased in the second half of the twentieth century, and especially after 2000 new translations were published: in Portuguese, Russian, Chinese and Spanish, last year in Italian and French, and this year in a second German edition. As a natural outcome of this development of the international prominence of the Stone lectures as Kuyper’s most dispersed scholarly publication, in 1998 an explanatory book on the Stone Lectures was published, titled Creating a Christian Worldview.53 The author was not a Dutchman, but the British scholar Peter Heslam. His book was written after years of study at the Vrije Universiteit, and thanks to this location and because of his mastery of the Dutch language (his mother was Dutch), Heslam had full knowledge of the Dutch and the international research on Kuyper. His book now is a standard introduction to the world of Kuyper’s ideas. With his book Kuyper’s Stone lectures on Calvinism have been hallmarked as his main title definitively. The translation history of what we in hindsight see as his most famous work, the Stone lectures on Calvinism, gives an indication of the international dissemination of his work, and concurs with the development of Kuyper research. Most research outside of the Netherlands has been done in the United States, and then in South Korea. At present the dissemination of Kuyper research is enhanced by the fact that the main publications of his fellowfounder of the neo-Calvinist tradition, Herman Bavinck, have been translated into English since about 2000,54 and is a stimulus for Kuyper research in parts of the world outside the United States. Since about five years a dozen PhD 52 William N. Clarke in The American Journal of Theology 4 (1900), p. 634. 53 See note 38. 54 The main publication is Herman Bavinck, Reformed Dogmatics I–IV, Grand Rapids 2003–2008.

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students work on Bavinck at the University of Edinburgh, but European Kuyper research is still rather limited.

5. Approaches in Kuyper research The international Kuyper research started slowly before the Second World War but gained momentum only in the twenty-first century. The scholarly attention for Kuyper abroad usually was initiated by a theological, more precise, dogmatic interest, just like the Kuyper research had started in the Netherlands. And it flourished especially in countries with Presbyterian or Reformed communities, like South-Africa, South Korea, and the United States. From a Dutch point of view this research was not very innovative, but it helped raising attention for Kuyper in other countries. How to explain the breakthrough of Kuyper in the United States and subsequently in other parts of the world? The key word here is „worldview“.55 This is not a word Kuyper used in a systematic way and the connection between Kuyper and a Christian worldview has only been made systematically after his death. And this was done outside of the Netherlands. Among the Dutch kuyperians the academic and ecclesial interest was mainly focused on his systematic theology. The idea was that Kuyper had built the main structures of neo-Calvinist theology and what his followers, the kuyperians, had to do was develop and refine this theology along the structures laid out by Kuyper. This resulted in a kind of scholasticism that has been abandoned, first in the 1930s and 1940s by the theologian Klaas Schilder and other kuyperian dissidents,56 and in the 1960s and 1970s by kuyperian theologians in general. The notion worldview in relation to Kuyper is from a rather recent date, and is connected more to the neo-Calvinist philosophical tradition than to its theological branch. In the 1930s Herman Dooyeweerd and Dik Vollenhoven developed a neo-Calvinist philosophy based on key notions in Kuyper’s work, like the notion that every ideology is based religiously, the notion of sphere sovereignty, and the notion of creational development. This philosophy was initiated at the Vrije Universiteit, and led to a kind of systematization of some of Kuyper’s main ideas. This philosophy played an important role in the Netherlands in the 1950s and 1960s, when it was taught by adjunct professors at almost every university in the Netherlands, and was applied in politics to change the Antirevolutionary Party from a conservative into a progressive party around 1960. This philosophy was very influential in North America, 55 See: David K. Naugle, Worldview. The History of a Concept, Grand Rapids 2002; Todd Weir, Monism. Science, Philosophy, Religion and the History of a Worldview, New York 2012. 56 See Schilder, Essential Theological Writings.

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where it was introduced at Calvin College after the Second World War as part of the kuyperian heritage, mainly by Reformed Dutch-Canadian immigrants.57 The notion of worldview was on the rise in evangelical circles in the United States from the mid nineteenth century on, when they started their systematic opposition against modernism in their country. This systematic approach was strengthened by the Second World War and the Cold War, wars that were interpreted by them as a struggle against comprehensive totalitarian ideologies or worldviews. The Calvinist philosophy of Dooyeweerd and Vollenhoven fitted in very well in this intellectual climate and helped the small group of neo-Calvinists in the United States to undergird this worldviewthinking intellectually. Kuyper was studied through this lens. When Americans f.e. talk about sphere sovereignty, they most of the times talk about the model Dooyeweerd developed, and not about Kuyper’s notion of sphere sovereignty.58 The Kuyper research in the Netherlands has hardly employed this notion of worldview. After the petrification of Kuyper’s theological tradition, the new historical approach shied away from such large concepts and preferred detailed sour-based argumentation. The result is a disconnect in Kuyper research between the various approaches, a gap aggravated by the language discrepancy.

6. Infrastructure 6.1 Centennial 1998 The historical turn resulted in books and articles mainly written in Dutch, and therefore are not accessible to a larger part of the international community. In the last decades a start has been made with creating an infrastructure to bridge the gap between the Dutch and the international researchers and bring them in conversation with each other. Books and conferences have been essential in this respect. The centennial commemoration of Kuyper’s Stone lectures on Calvinism at Princeton Theological Seminary in 1998 could be seen as a starting point. Several hundreds of Kuyper scholars from all over the globe went to conferences that year in Amsterdam, Princeton and Grand Rapids, resulting in many acquaintances and exchanges, and in three international volumes with more than sixty scholarly contributions in total.59 A third of the 57 Harry van Dyke, Kuyper in Post-War Canada, Theological Forum. Reformed Ecumenical Synod XVI/2 (1988), pp. 34–40. 58 See for Kuyper’s notion: George Harinck, „I Look through My Window into Life.“ Kuyper’s Notion of Sphere Sovereignty (1870–1880), Journal of Markets & Morality 23 (2020), pp. 259–278. 59 Cornelis van der Kooi/Jan de Bruijn (eds.), Kuyper Reconsidered. Aspects of his Life and Work, Amsterdam 1999; Luis E. Lugo (ed.), Religion, Pluralism, and Public Life. Abraham Kuyper’s

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articles had been written by Dutch academics, who now started to adapt to the new lingua franca in Kuyper research and publishing on Kuyper in English. For most of them this was the first time. Since many English contributions by Dutch Kuyper scholars were published, sharing their historical and archival knowledge with the world. In 1995 Princeton professor of Ethics Max Stackhouse, the Dutch-American banker Rimmer de Vries, James W. Skillen, director of the Center for Public Justice, and others took the initiative for an annual Abraham Kuyper Prize for Excellence in Reformed Theology and Public Life, awarded for the first time at the Kuyper’s Stone lectures centennial conference in 1998 to the Dutch Kuyper biographer George Puchinger. Princeton faculty members had hesitations – quite a few of them were Barthian, and some raised questions on Kuyper’s racial opinions -, but it turned out to be the largest conference ever held in Princeton Seminary, and was a „smashing success“, according to Stackhouse.60 The Abraham Kuyper Prize, sponsored by Ruth and Rimmer de Vries, was awarded annually with a ceremony at Princeton Seminary and generated wide attention. The Dutch Prime minister Jan Peter Balkenende won the Prize in 2004, the American congressman John R. Lewis, who died in 2020, Nicholas Wolterstorff, and in 2013, a year before he died, Hayman Russel Botman, the first black rector and vice chancellor of Stellenbosch University, among others. That the Princeton conference was a momentum in Kuyper research was also expressed by the fact that two important English language books on Kuyper were presented there, which have provided a more solid base for the international Kuyper research: Heslam’s aforementioned book on the Stone lectures, and the Abraham Kuyper centennial reader, edited by the American historian James D. Bratt. Bratt translated sixteen Kuyper texts – most of the times pamphlets – on theology, politics and culture, together about 500 pages.61 6.2 Princeton Traditional hubs for Kuyper research, like Vrije Universiteit and Calvin College, also held their conferences in 1998, but Princeton now took the lead in Kuyper research. The success of the 1998 Kuyper Conference ignited annual Kuyper conferences at Princeton Theological Seminary. After a dozen Kuyper conferences had been held – organized by Stackhouse, Princeton librarian Stephen D. Crocco and PhD-student and curator for the Special Collections at Princeton Theological Seminary Clifford B. Anderson – in a setting of about Legacy for the Twenty-First Century, Grand Rapids 2000; Proceedings of „A Century of Christian Social Teaching: The Legacy of Leo XIII and Abraham Kuyper“, in: Journal of Markets and Morality V (2002); second edition 2011. 60 Interview of the author with Max L. Stackhouse, Princeton, 15 April 2011. 61 James D. Bratt, Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids 1998.

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thirty persons, the design of the conference was expanded. American students from places like Fuller Theological Seminary, Dordt University and Covenant College were invited at reduced fees. The attendance of the conferences augmented to a hundred persons. From 2010 on the conference proceedings, on themes like sphere sovereignty, democracy, culture, and academy, were published in the Abraham Kuyper Review, published annually five times, and edited by Princeton professors John R. Bowlin and Lawrence Gordon Graham. The contributions are both by Kuyper scholars, and scholars who were specialists in specific topics and linked these to Kuyper. To further promote Kuyper research Princeton in 1998 acquired Puchinger’s library, one of the largest private libraries in the Netherlands, and comprising all Kuyper’s publications as part of a vast neo-Calvinist collection on theology, philosophy, politics, education, and culture. From that moment on Princeton’s Seminary Luce Library holds the most complete Kuyper collection in the world. Young academics could obtain a scholarship to work for several weeks in this collection. Luce Library started several projects in which Kuyper’s publications were opened up in modern ways. The most important ones were in the first place the digitization of almost all of Kuyper’s publications. They were made available online via archive.org. And secondly, curator Anderson worked together with the Dutch Kuyper collector Tjitze Kuipers in producing Kuyper’s bibliography. This book was published in 2011.62 And finally, Princeton and the Historical Documentation Center for Dutch Protestantism at the Vrije Universiteit worked together in digitizing the archive of Kuyper and present this online. This project has been completed in 2018 and 2019 at the Neo-Calvinism Research Institute at Theological University Kampen (NRI). The website of the NRI has the archive of Kuyper online, plus Kuipers’ Bibliography.63 Alongside these activities, an endowed „Kuyper chair” was installed at Princeton Seminary, thanks to de Vries, John Bowlin and Dirk J. Smit were appointed in that chair, officially as the Rimmer and Ruth de Vries Professor of Reformed Theology and Public Life, but this did not lead to notable results in the field of Kuyper research. The central function of Princeton in the infrastructure of the Kuyper Center came to an end abruptly in 2017. In that year the Kuyper prize was awarded to Timothy J. Keller, pastor of Redeemer Presbyterian Church at Manhattan. This church belongs to the Presbyterian Church in America, that does not allow women in office. For this reason, Princeton was severely criticized to award the prize to Keller as a member of this church. The president of Princeton gave in and revoked the prize.64 With this incident the Kuyper activities at and by 62 Kuipers, Kuyper Bibliography. 63 https://sources.neocalvinism.org/kuyper/. 64 See: Case Thorp, A Seminary Snubs a Presbyterian Pastor: Princeton rescinds an honor to Tim Keller over his traditional theological views, Wall Street Journal, March 23, 2017.

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Princeton Theological Seminary ended. From 2018 on, the annual Kuyper conferences and Kuyper prize award ceremonies were held at Calvin University Grand Rapids/Mi. An addition to the organizational structure of Kuyper research, and research of neo-Calvinism in general, is the foundation of the NRI in Kampen. On its website almost all the publications by Kuyper are available online, as well as his archive. 6.3 Wider infrastructure Alongside the activities at Princeton, several other publications and conferences were important to the infrastructure of the Kuyper research. In 2013 a British and a Dutch-American scholar – Steve Bishop and John H. Kok – published a collection of English texts on the life and legacy of Kuyper.65 This volume contains 31 articles written by international scholars – Dutch and nonDutch. Some are new, but most of these have been written in the last two decades. The themes are the same as in Bratt’s reader, extended with education, science, art, race and gender. This collection reflects the interest of Kuyper in the international community in relation to present-day issues, American politics especially. The collection shows a more diverse interest in Kuyper than just his theology or philosophy, the traditional themes which have been sidelined now. Another title that deserves attention is the modern and scholarly biography, published by Bratt in 2013.66 Interestingly he does not deal in this biography with the historiographical debate on Kuyper, and focuses on an international audience. Bratt is a historian of ideas, and, as a reviewer put it, „Whereas the most recent Dutch biographer of Kuyper, Jeroen Koch, downplays Kuyper’s long-term historical significance, Bratt seems to share the estimation of the American historian Mark Noll in seeing Kuyper as ,perhaps the most seminal public theologian in the modern history of global Protestantism‘“.67

Added to this biography is a systematic overview of kuyperian viewpoints by Craig Bartholomew, published in 2017.68 The final publication series to be mentioned here is the most encompassing and most facilitating when it comes to research. It is a thematic translation project of texts by Kuyper in twelve volumes, addressing important and still relevant themes in his publications, like education, Islam, politics, charity and 65 Steve Bishop/John H. Kok (eds.), On Kuyper. A Collection of Readings on the Life, Work & Legacy of Abraham Kuyper, Sioux Center 2013. 66 Bratt, Kuyper. Modern Calvinist. 67 James Kennedy, Review of Jeroen Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006, Low Countries Historical Review 130–3 (2015), p. 43. 68 Craig G. Bartholomew, Contours of the Kuyperian Tradition. A Systematic Introduction, Downers Grove 2017.

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justice, the church, and more. This series was published by Lexham Press since 2015 and will be completed in 2021. This series offers many more of Kuyper’s texts to an international community, and generates wide attention. This series was made possible thanks to the investment of Remmer de Vries, who died in January 2020. In these series scholars from the Netherland and international scholars participated and contributed introductory essays. Adjacent to the American conferences the European institutions Edinburgh University, Theological University Kampen and Vrije Universiteit Amsterdam organized bi-annual European Neo-Calvinism conferences since 2012, on themes like Neo-Calvinism and the French Revolution, Roman Catholicism, Islam, and Europe. The 2020 conference on neo-Calvinism and Lutheranism had to be cancelled due to the corona pandemic. These conferences also lead to publications.69 The annual and bi-annual conferences, together with these books and series, succeeded in creating an international community of Kuyper scholars, that helped bridging the gap between the more historical and source-based research in the Netherlands and the more worldview-oriented research abroad. From about 2010 on, American PhD students started to research Kuyper. Interestingly, many of them got interested in him without have a Reformed background, and did not study at Reformed schools. They learned to know about Kuyper in other ways than during their upbringing or regular education. Quite a few of them studied at Fuller Theological Seminary with Richard Mouw and at Vrije Universiteit Amsterdam. They are most of the times theologians, but their interest is not so much his systematic theology, but his focus on society.70 Outside of these circles there were also American scholars who individually devoted attention to Kuyper and promoted his ideas, like John Witte Jr. at Emory University School of Law,71 and Bruce Ashford at Southeastern Baptist Theological Seminary.72 The reason for this wider attention is that present-day American society is at the same crossroads Dutch society was when Kuyper in the 1870s entered the scene. Kuyper addressed the situation of a Dutch nation that was beginning 69 Special issue of the Scottish Bulletin of Evangelical Theology 29 (2011), James P. Eglinton/George Harinck (eds.), Neo-Calvinism and the French Revolution, London 2014; James P. Eglinton/ George Harinck (eds.), Neo-Calvinism and Roman-Catholicism, Leiden/Boston 2021 (in print). 70 Some of the books and dissertations they produced are: Matthew Kaemingk, Christian Hospitality and Muslim Immigration in an Age of Fear, Grand Rapids 2018; Brant M. Himes, For a Better Worldliness. Abraham Kuyper, Dietrich Bonhoeffer, and Discipleship for the Common Good, Eugene 2018; Robert Covolo, Fashion Theology, Waco 2020; Matthew Kaemingk/Cory B. Willson, Work and Worship. Reconnecting Our Labor and Liturgy, Grand Rapids 2020. 71 See f.e. John Witte, The Biography and Biology of Liberty : Abraham Kuyper and the American Experiment, Koers 64 (1999), pp. 173–195, reprinted in abridged form in Lugo, Religion, Pluralism, and Public Life, pp. 243–262. 72 Bruce R. Ashford, Every Square Inch. An Introduction to Cultural Engagement for Christians, Bellingham 2015; Bruce R. Ashford/Craig G. Bartholomew, The Doctrine of Creation. A Constructive Kuyperian Approach, Downers Grove 2020.

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to secularize. The burning question was: should Dutch Christians try to reverse this trend and return to the Christian, or even better, Reformed nation it had been (in their opinion) for centuries, or should they join the trend and either secularize Christianity or try to keep up institutions still imbued with Christianity, like the primary school, as long as possible, and keep Christianity alive in the domains of religiosity, charity and morale. Kuyper rejected those options, embracing modern society instead, creating an assertive Reformed presence with institutions and representatives in the public domain, and inviting other groups to do the same. He did not promote a Christian society, but a modern society in which Christians participated. This model is attractive for young American intellectuals who seemed to have no other choice but secularity or insularity, and who appreciate his stress on a strong civil society. Kuyper’s argument is used to make room for Islam in the United States, to develop a Christian view of art, and to motivate Christians to follow Christ also on weekdays in the daily work.

7. Trends This attractiveness of Kuyper seems to be overlooked by people in the Netherlands, who still think their country has been liberated from Kuyper and his pillarized and Christian society in the 1960s. „Few in the contemporary Netherlands have much appreciation for the fact that the nineteenth-century statesman Abraham Kuyper continues to appeal to a wider public imagination, from North American evangelicals to South Korean Presbyterians,“ as historian James Kennedy put it.73 This international trend is relevant in many other countries in the majority world, where civil society is weak or only started to develop, as is Kuyper’s notion of a plural society in nations where the adherence to the dominant religion still defines full citizenship. In China, in Indonesia, and in Latin America scholars study and apply Kuyperian notions. According to Luis Ar#nguiz Kahn, member of Corporacijn Sendas, a Chilean evangelical organization for the promotion of evangelical history, in these countries Kuyper has been known mainly through secondary sources from the United States – authors like Rousas John Rushdoony who have a superficial knowledge of Kuyper – translated to Spanish. With the recent translation activities this handicap can now be overcome, and researchers can go to the primary sources, for it is, according to Kahn, „highly desirable to go deeper in discussing his ideas“.74 He hopes for a more contextual reception of Kuyper’s thought. Kahn does not hope this only for his political and social ideas, but 73 Kennedy, Review. 74 E-mail Luis Aranguiz Kahn to the author, 26 November 2020.

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also for Kuyper’s theology, which is considered by many in the strong pentecostal tradition as anti-revivalist. Contextual reception is needed. Even in South-Africa, where in the last decades Kuyper’s name has been linked to the history of apartheid solely, black theologian Allan Boesak referred to his name as an inspiration for the black liberation movement, by like Kuyper taking up the „challenge, to shape, to subvert, and to humanize history until it conforms to the norm of the kingdom of God.“75 This may be a start, but there is more trouble ahead. A major problem in Latin America as well is in the United States, continents with a strong Christian tradition, is the use of Kuyper by so called dominionists. Rushdoony stressed the notion that we are created to have „dominion“ over God’s affairs on earth. He learned from the kuyperian Dutch-American philosopher Cornelius Van Til at Westminster Theological Seminary to demolish secularist thought. But he took a next step in wanting to demolish secular society. In the case of the United States this requires a societal reconstruction in order to regain a kind of theocracy. This is where Van Til distanced himself from Rushdooney.76 Dominionists tend to use Kuyper, especially his notion of antithesis (which is not that prominent in Kuyper’s works, as Augustijn argued) and his famous expression about Christ’s claim on every „square inch“ of life. Dominionists confuse Christ’s dominion with Christians’ dominion,77 and forget or don’t know about Kuyper’s notion of common grace, our shared humanness.78 Ad fontes, and contextualizing seem to be the remedies to these kinds of popular interpretations. In European democratic countries there is also a developing interest in Kuyper. Sometimes this interest is from evangelical communities who lack a Christian social vision or strong Protestant tradition, like in Italy and France, sometimes because he is valued as a conversation partner in modern societal issues, like in Germany and Great Britain.79 Kuyper’s Stone lectures have been published in French, German, and Italian in 2020 and 2021.80 Also in the European case, Kuyper’s view of society is appreciated best, more than his 75 Boesak, Black and Reformed, p. 97. 76 John R. Muether, Cornelius Van Til. Reformed Apologist and Churchman, Phillipsburg 2008, pp. 216–218. 77 Katherine Stewart, New York Times, January 11, 2021: „Mr. Kuyper is perhaps best known for his claim that Christianity has sole legitimate authority over all aspects of human life.“ 78 Richard J. Mouw, A Real Theocrat. A review of Christian Reconstructionism. First Things, April 2015. 79 See Ulrichs, Abraham Kuyper; Steve Bishop, A History of the Reformational Movement in Britain: The Pre-World War II Years, Koers. Bulletin for Christian Scholarship 80/4 (2014) pp. 1–12; Steve Bishop, A History of the Reformational Movement in Britain. II: The PostWorld-War II Years to the end of the Twentieth Century, Koers 81/1 (2016), pp. 1–20. 80 Abraham Kuyper, Essais sur le calvinisme, Aix-en-Provence 2020; Abraham Kuyper, Calvinismus. Die Stone Lectures von 1898, neu herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs, Göttingen 2021; Abraham Kuyper, Lezioni sul calvinismo. Le Stone Lectures, Princeton 1898, Caltanissetta 2020.

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theological insights. And they are not employed by populist or nationalist ideologues, but mainly presented as applicable for and sustaining the plural character of European societies from a Christian viewpoint. These days, neoCalvinist theology proper is more popular in the mode of Herman Bavinck than in Abraham Kuyper’s. Next to this international trend, there is a Dutch trend to broaden the Kuyper research. An important sign of this development is that a modern and academic biography has been published in 2006 by someone outside of the Christian tradition, historian Jeroen Koch. I have mentioned Kuyper research by Catholics, but Koch’s interest in Kuyper has not been spurred by any religious impulse. Scholarly research of the Catholic, Liberal and ChristianDemocratic traditions is mainly executed by those are related to these traditions, but it gives an impression of Kuyper’s stature and impact, that this biography has been written by an outsider. The time limits put on his project prevented Koch from doing archival research, but his outsider’s position and qualities as a biographer resulted in an attractively, but somewhat sarcastic written, and disputed biography, the second scholarly biography after Kasteel. His focus is mainly on the personality and intellectual life of Kuyper, and not specifically on his political, or theological activities, and offers an extensive historical context. This biography fits in the historical development that pays more attention to Kuyper’s person. Alongside Koch also the work of theologian Arie L. Molendijk is relevant. He is not a sympathizer of the neoCalvinist tradition either, but with his knowledge of the international nineteenth-century theological and philosophical context of Kuyper he analyzed him as a modern intellectual.81 He paid specific attention to Ernst Troeltsch’s and Max Weber’s assessment of Kuyper.82 Within the Netherlands there is scholarly attention on the rise for aspects of Kuyper’s biography that have not been paid much attention to. Scholars work or worked on topics like Kuyper’s leadership style,83 Kuyper’s rhetoric,84 Kuyper as a traveler and a journalist,85 Kuyper and antisemitism,86 Kuyper and

81 Arie L. Molendijk, Neo-Calvinist Culture Protestantism. Abraham Kuyper’ Stone Lectures, Church History and Religious Culture 88 (2008), pp. 235–250; Arie L. Molendijk, Abraham Kuyper. Theoretiker der Moderne, in: Alf Christopherson/Friedemann Voigt (eds.), Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II., München 2009, pp. 116–129. 294–295. 82 Arie L. Molendijk, Protestant Theology and Modernity in the Nineteenth-Century Netherlands, London 2021, ch. 5 (in print). 83 Henk te Velde, Stijlen van leiderschap. Persoon en politiek van Thorbecke tot Den Uyl, Amsterdam 2002, pp. 55–103. 84 Arie L. Molendijk, „Mine“. The Rhetoric of Abraham Kuyper, Journal for the History of Modern Theology/Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 15 (2008), pp. 248–262; Evi Dalmaijer/ Solange Ploeg/Jaap de Jong, „Maranatha“: Kuyper komt eraan! Van preek tot partijtoespraak: de welsprekendheid van Abraham Kuyper, Tijdschrift voor Taalbeheersing 42 (2020), pp. 147–168. 85 Snel, De zeven levens van Abraham Kuyper.

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fundamentalism,87 some from a historical point of view, others also trying to discern the outdated aspects of his thought, and where possible make his ideas relevant for today. Some of this work fits in with larger research themes and makes Kuyper part of comparative studies. I think some qualitative progress has been made in the Kuyper research of the last four decades, both having tamed the anger and the passion that dominated scholars’ view of Kuyper too long. It is hard to avoid sympathy and antipathy when researching Kuyper, „he was a great man, but not a nice one“, as Bratt put it. But we show our sensitivities with an academic detachment, and those who disagree with each other stay in conversation.

8. Desiderata When talking about desiderata in Kuyper research, there is a caveat of a structural nature. Most of the historical Kuyper research has been and is done by Dutch researchers in the field of humanities, who often don’t take into account the international relevance of Kuyper, and still publish on Kuyper in Dutch only, and vice versa international Kuyper researchers who often work in the field of theology and don’t take into account his Dutch historical context. Sometimes a link between the Dutch and the internationals has been made successfully, like in the case of John Halsey Wood’s dissertation on Kuyper and the church, but very often it is hard for researchers to master the Dutch language in its nineteenth century cloth, and to take into full account the Dutch historical context. Translation of Dutch historical publications and of Kuyper’s text is a step forward, but Kuyper’s original language will remain a difficulty, I expect. A desideratum is an extension of the Kuyper research to other disciplines than theology and history. Kuyper was a theologian, but he was way more. The most recent biographical sketch of Kuyper in Dutch, by Johan Snel, explicitly rules out the theological aspect, just because there are many more aspects in Kuyper’s life and work, that never received attention, or were overshadowed by the theological angle from which he was viewed. The philosophers have been interested in Kuyper in the second half of the twentieth century, but they left the scene. Related to this desideratum is a more intensive use of Kuyper’s archive, now online. Together with the availability of De Heraut and De Standaard online (on Delpher.nl) this will help to correct views on Kuyper based on secondary literature on him, or on publications by mediators with 86 Lodewijk Kater, Either Mammon or the Messiah?, Trajecta. Religion, Culture and Society in the Low Countries 28 (2019), pp. 23–44. 87 Tom-Eric Krijger, Was Abraham Kuyper een fundamentalist? Het neocalvinisme langs de fundamentalistische meetlat, NTT Journal for Theology and the Study of Religion 69 (2015), pp. 190–210.

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limited knowledge of the state of the Kuyper research, and will contribute to prevent gross malpresentations like in South-Africa and in the United States. At the same time, new historical research and new contexts will lead to different interpretations, and correct the knowledge we have now. A second desideratum is the strengthening of the institutional infrastructure of the Kuyper research. It is clear from this overview what the importance has been of Princeton as center for Kuyper research. The NRI in Kampen is an alternative, but more hubs would be welcome, especially since Richard Mouw at Fuller Theological Seminary retired, as well as Jim Bratt at Calvin University. Most academic research is done in the United States, and thanks to the language and the large academic culture this has an appearance in other parts of the world. The United States and the world would be served with a Kuyper institution. Anyhow, with or without these desiderata being fulfilled, the next decades of Kuyper research seem more promising compared to the situation half a century ago, the Kuyper researchers being large in number, especially the younger ones, spread all over the globe, and served with an ever growing library of Kuyper literature and with modern research tools.

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Calvinismus mit einem Auftrag in dieser Welt Abraham Kuypers Neo-Calvinismus als Ideologie

1. Kuypers politische Bedeutung Abraham Kuyper gehört zu einer Generation Politikern, die im späten 19. Jahrhundert einen politischen Erdrutsch in den Niederlanden verursachte. Der ,antirevolutionäre‘ Kuyper führte zusammen mit dem Sozialdemokraten Pieter Jelles Troelstra (1860–1930), dem (christlichen) Anarchisten Ferdinand Domela Nieuwenhuis (1846–1919) und dem römisch-katholischen Herman Schaepman (1844–1903) eine Parteipolitik ein, die die nach der Verfassungsreform von 1848 zustande gekommene liberale parlamentarische Politik ersetzte. Kuyper war der älteste und einflussreichste dieser vier genannten Anführer. Seine antirevolutionäre Partei, 1879 gegründet, war die erste moderne politische Partei in den Niederlanden, die mit einem detaillierten Programm ausgestattet war und, auch außerhalb der Wahlzeit, über eine nationale Parteiorganisation und eine ständige Anhängerschaft verfügte, die gehegt, gepflegt und bearbeitet wurde. Zudem führte Kuyper, im Gegensatz zu den anderen, sein eigenes Kabinett (1901–1905). Wenn man Kuyper als Begründer der modernen Parteipolitik in den Niederlanden betrachtet, so ist das, in aller Unbestimmtheit des Begriffs „modern“, nur eine Weise, seine politische Bedeutung zu interpretieren.1 In einer älteren Sichtweise, die eher dem antirevolutionären Selbstbild entspricht, war er der Anführer der erfolgreichen Emanzipation einer benachteiligten Gruppe: Wie Moses das Volk Israel, so hatte Kuyper die Orthodox-Reformierten „aus dem Sklavenhaus geführt“. Zuerst schenkte er den Orthodox-Reformierten ein politisches Bewusstsein, anschließend politische Macht. Seinem Beispiel folgten die Sozialdemokraten und die römisch-katholischen Politiker. Dieses Emanzipationsmodell ist in jüngsten Analysen kritisiert worden. Ein Einwand könnte als „Dornröschenproblem“ bezeichnet werden: Die Suggestion, dass die Gruppe, die es zu emanzipieren gilt, in der Ruhe und der Abgeschiedenheit ihres historischen Schlafraums bereits vollständig geformt war und nur noch von einem Parteiführer wach geküsst werden musste, genauso 1 Gert van Klinken, Actieve burgers. Nederlanders en hun politieke partijen 1870–1918, Amsterdam 2003, S. 71ff.; zum Konzept der Moderne vgl. Peter Wagner, Modernity. Understanding the Present, Cambridge 2012; John Jervis, Exploring the Modern. Patterns of Culture and Civilization, Oxford 1998.

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wie der Prinz die schöne Schläferin Dornröschen wach geküsst hatte. In diesem Fall aber wird unterschätzt, wie sehr die Entwicklung des Selbstbewusstseins, der Organisation und der Macht die Identität dieser Reformierten (respektive der Arbeiter und Katholiken) auch selbst veränderte. Anders ausgedrückt: Das Emanzipationsmodell kann leicht zu falsch konstruierten Kontinuitäten führen, wo doch Dornröschen sich gerade erst nach dem unaufgeforderten Kuss des Prinzen erheblich veränderte. Das Gleiche gilt übrigens auch für den Prinzen. Ein Beispiel für Kuyper und seine reformierten Anhänger : Wo diese Anhänger wie die meisten Niederländer in ihrem Leben, das von Arbeit, Kirche und Familie dominiert wurde, getrennt und abgeneigt waren von allem, was als Politik bezeichnet wurde, entpuppte sich ihr Anführer zu ihrem eigenen Moses und wurden sie selbst zu einer Phalanx von „Männerbrüdern“ (niederländisch: Mannenbroeders) geformt, zu gepanzerten Calvinisten, die für den Glauben und das Vaterland kämpfen.2 Kuyper als einen Politiker zu betrachten, der in den Niederlanden einen neuen Führungsstil einführte, wäre nach den Modellen der modernen Politik und der Emanzipation die dritte Sichtweise der heutigen Geschichtsschreibung auf seine politische Wirksamkeit.3 Dieser Stil war theatralisch und voller überflüssiger Rhetorik und großer Emotionen, was zu einer starken Identifikation des Führers und seiner Anhängerschaft führte: „Euer Streit ist mein Streit“, „Euer Leiden ist mein Leiden“. Dies gehört zu den Geheimnissen des charismatischen Führungsstils, das heißt zu dem des persönlichen charismatischen Führungsstils, nicht zu dem des funktionalen Charismas, wie zum Beispiel bezüglich des Papsttums oder der Monarchie. In seiner idealtypischen Form wird bei diesem persönlichen Führungsstil der Leiter selbst zum Programm.4 „Liste Pim Fortuyn“, eine Partei, die es am Anfang des 21. Jahrhundert für eine kurze Zeit in den Niederlanden gab, drückt dies eigentlich genau aus. Eine „Liste Abraham Kuyper“ hat es in den Niederlanden nie gegeben. Dass aber Kuypers politische Führung der Antirevolutionären Partei und der reformierten Wählerschaft zu dieser Formel tendierte, wurde jedoch schon früh erkannt, wie ein scharfer Meinungsaustausch zwischen Kuyper und seinem 2 Peter van Rooden, Het ontstaan van het orthodoxe-protestantse volksdeel. Godsdienst en moderne massapolitiek, in: ders., Religieuze regimes. Over godsdienst en maatschappij in Nederland, 1570–1990, Amsterdam 1998, S. 169ff., im Besonderen S. 186f.; zum Dornröschenproblem und der nationalen Emanzipation vgl. Niek van Sas, Het Grote Nederland van Willem I. Een schone slaapster die niet wakker wilde worden, in: De metamorfose van Nederland. Van oude orde naar moderniteit 1750–1900, Amsterdam 2005, S. 401ff.; Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1963; Peter Raedts, De uitvinding van de rooms-katholieke kerk, Amsterdam 2013; Johannes P. de Valk, Roomser dan de paus? Studies over de betrekkingen tussen de Heilige Stoel en het Nederlandse katholicisme, Nimwegen 1998. 3 Henk te Velde, Stijlen van leiderschap. Persoon en politiek van Thorbecke tot Den Uyl, Amsterdam 2002. 4 Stefan Breuer, Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994, S. 144ff.

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Mitstreiter und Gegenspieler Alexander de Savornin Lohman (1837–1924) zeigt. Im Jahr 1880, Lohman vertrat die Antirevolutionäre Partei im Parlament und Kuyper benutzte seine Zeitung De Standaard, um rechts und links zu loben und zu tadeln, kam es zu einem Streitgespräch der Meinungen über die Abschaffung der Todesstrafe. Lohman zeigte Sympathie für die Gegner der Todesstrafe, worauf Kuyper sich veranlasst sah, das Prädikat „unchristlich“ zu benutzen. In der folgenden Polemik fragte Lohman sarkastisch, ob Kuyper vielleicht meinte, dass „die Niederlande nur gerettet werden können, wenn eine Gruppe blinder Anhänger, die den Namen reformierter Christen beanspruchen und sich in allen Bereichen ganz einfach an die Formulare [sc. die reformierten Bekenntnisschriften] und an meine [sc. Kuypers] Einsichten halten, durch dick und dünn gehen, sich an der Wahlurne vereinigen, um Männer zu delegieren, die unter meiner Führung den Staatsangelegenheiten eine andere Wendung geben werden.“5

Mit einiger Verzögerung, ihn hatte eine Krankheit getroffen, gestand Kuyper : „Meine Neigung und meine Natur zwingen mich bestimmt zu so etwas. […] Daher mein planmäßiges Bestreben, alles außer meiner Person an historischen Prinzipien zu verknüpfen, und die Prinzipien in Korporationen zu verkörpern.“6

Dies sollte eine klare Parteilinie sowie eine klare Diskussion über die Parteilinie garantieren. Mitte der 1890er Jahren kehrte Lohman nach einer Reihe heftiger Streitereien dennoch zu seinem 1880 formulierten Standpunkt zurück: „Ihre Politik,“ schrieb er jetzt an Kuyper, „ist der des Papstes ähnlich.“7 Wenn dies in niederländischen protestantischen Kreisen schon einen ziemlich ernsten Vorwurf darstellte, so übertraf sich Lohman ein Jahr später, indem er Kuyper als Schüler von Robespierre bezeichnete; das war „nicht als Beleidigung“ gemeint, sondern als „Feststellung“.8 Konkret galt letztgenannter Vergleich der nach Lohmans Meinung unverantwortlichen linken Position Kuypers in Bezug auf die Ausweitung des Wahlrechts, aber diese Bemerkung hatte eine lange Vorgeschichte. Lohman hegte prinzipielle Einwände gegen die antirevolutionäre Parteipolitik, die Kuyper schon seit den frühen 1870er Jahren befürwortet hatte und die 1879 in Kuypers sperrigem Ons Program [Unser Programm], dem antirevolutionären Parteiprogramm mitsamt Erläuterungen, tatsächlich festgeschrieben wurde. Eine Programmpolitik mitsamt einer ausgearbeiteten Blaupause für die Gesellschaft: Zeigte sich hier nicht die jakobinische Disposition des antirevolutionären Anführers?9 5 6 7 8 9

Alexander de Savornin Lohman an Abraham Kuyper, 19. Dezember 1880. Abraham Kuyper an Alexander de Savornin Lohman, 23. Januar 1881. Alexander de Savornin Lohman an Abraham Kuyper, 7. Januar 1893. Alexander de Savornin Lohman an Abraham Kuyper, 22., 25. und 30. Juni 1894. Vgl. die schon früher von Groen van Prinsterer geäußerten Einwände gegen jegliche Parteipolitik: Guillaume Groen van Prinsterer an Abraham Kuyper, 10. Januar 1871.

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Wichtig für meine Argumentation ist die oben zitierte Aussage: „Daher mein planmäßiges Bestreben, alles außer meiner Person an historischen Prinzipien zu verknüpfen, und die Prinzipien in Korporationen zu verkörpern.“ Kuyper hatte als erster in den Niederlanden ein detailliertes politisches Programm vorgestellt, komplett mit Überlegungen zu den Grundlagen der Autorität und der moralischen, oder besser gesagt, göttlichen Weltordnung, sowie detaillierten Betrachtungen über das Verhältnis zwischen den Bürgern und der Regierung, die Verfassung, den Einfluss des Volkes, den Unterricht, die Justiz, die öffentliche Sittlichkeit, die Aufgabe in den Kolonien und die soziale Frage.10 Mit diesem Versuch, ein umfassendes soziales Ideal zu entwerfen und eine Route zu ermitteln, über die dieses Ideal mit politischen Mitteln verwirklicht werden könnte, erfüllt Kuypers antirevolutionäres politisches Programm, und / fortiori sein seit den 1890er Jahren ausgearbeiteter Neo-Calvinismus, die Anforderungen dessen, was der britische Politologe Michael Freeden „Macroideologien“ nennt, wie eben auch der Liberalismus und der Sozialismus Macroideologien sind. Die Grundlage dieser Ideologien ist eine spezifische Idee bezüglich der menschlichen Natur, rationell und selbstbestimmend wie sowohl Liberale als auch Sozialisten meinen – für Letztere wird die menschliche Natur auch durch Arbeit definiert –, oder sündig und unvollkommen wie Christdemokraten wie Kuyper sie sehen: die Menschen sind gefallene Geschöpfe Gottes. Freeden kontrastiert diese Makroideologien mit „thin ideologies“ wie den Nationalismus, der schließlich nicht mehr als die Einzigartigkeit des eigenen Volkes propagiert, gepaart mit der Überlegenheit den anderen Völkern gegenüber, die oft das Gleiche über ihre eigene Nation erwidern.11 Diesen Beitrag über Kuypers Neo-Calvinismus habe ich „Calvinismus mit einem Auftrag in dieser Welt“ genannt. Das mag wie eine Tautologie erscheinen, ist es aber nicht. Unter den Einfluss des lutherischen Pietismus hatte sich auch eine „bevindelijke“, die Welt meidende reformierte Kultur entwickelt, das heißt ein auf religiösen Erfahrungen gegründeter Calvinismus, der in den Niederlanden schon sehr stark war. Kuypers aktiver, welterobernder Calvinismus wird „rationell” genannt. Er zeichnete sich durch ein emsiges Weiterargumentieren aufgrund einmal angenommener Grundsätze aus, obwohl dies zugleich zu einem äußerst flexiblen System führte.

2. Was ist „Ideologie“? Einige Bemerkungen Das Konzept „Ideologie“ wird hier deskriptiv angewendet. Was als Nächstes folgt, ist keine Analyse auf Grund der Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels oder auf Basis einer modernen Diskursanalyse, die alle Ideensysteme 10 Abraham Kuyper, Ons Program, met bijlagen, Amsterdam 1879 (5. Auflage 1907). 11 Michael Freeden, Ideology. A Very Short Introduction, Oxford 2003, S. 97ff.

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per definitionem als verlogen, repressiv und verwerflich abtut. Dem deskriptiven Modell nach ist eine Ideologie ein mehr oder weniger kohärentes Ideensystem, in dem eine klare Darstellung geboten wird in Bezug auf die gewünschte Organisation der Gesellschaft unter Berücksichtigung der Funktionen des Staates, der Rechte und Pflichten der Bürger, der Stellung der Kirche und der Religion, der Wirtschaft, der Bildung, der Presse und so weiter. Ideologien ordnen das empirische Chaos, identifizieren Probleme in der Gesellschaft und lenken die Suche nach Lösungen. Zudem wirkt eine Ideologie mobilisierend: Das Ideal muss eine Unterstützung für eine Bewegung oder Partei generieren, auch unabhängig von dem spezifischen Führer. Ideologien schließen wie auch Religionen die Lücke zwischen Theorie und Praxis. Ohne das Konzept eng definieren zu wollen, hat der deutsche Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher (1922–2016) die Ideologie nahezu mit „Weltanschauung“ gleichgesetzt, in der „ein möglichst umfassendes System von Ideen, besonders zum Verhältnis von Mensch-Gesellschaft-Politik, errichtet wird, welches geeignet ist, die Wirklichkeit sowohl auf eine Formel zu bringen, wie zugleich sie im Interesse von Machtpolitik zu verbiegen oder gar zu verhüllen.“12

In dem Streben nach den Idealen hat die Ideologie eine positive Wirkung, in der Bekämpfung von anderen, abgelehnten Ansichten eine negative. Ideologien werden als wissenschaftliche Wahrheit dargestellt, meinte Bracher zurecht. Dies galt für den Marxismus, den Liberalismus und Kuypers Neo-Calvinismus; die Freie Universität Amsterdam wurde auch gegründet, um Wissenschaft auf der Grundlage der „reformierten Prinzipien“ zu betreiben. Und, um noch ein Beispiel zu nennen, es galt sogar für den Nationalsozialismus, der sich unter anderem auf den Darwinismus stützte. Bracher verfasste seine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert 1982, im letzten Jahrzehnt des ideologisch angeschlagenen „kurzen 20. Jahrhunderts“. Sein Ziel war es, die widerstandsfähige Demokratie durch den Kampf gegen alle „politischen Glaubensrichtungen“ zu stärken. Kuypers Neo-Calvinismus aus der Sicht der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, wird nicht gelingen. Nützlich in der Hinsicht ist es, eine vom russisch-britischen Philosophen Isaiah Berlin (1909–1997) formulierte Unterscheidung zwischen dem politischen Denken des 19. und des 20. Jahrhunderts zu folgen. Das Denken des 19. Jahrhunderts, so meinte Berlin, wurde von „moral passion“, moralischer Leidenschaft, angetrieben. Ganz abgesehen von der Frage, ob es ihnen gelingen würde, versuchten die Ideologen des 19. Jahrhunderts aufrichtig Lösungen für soziale Probleme zu finden. Es ging um „effective thought to find and apply the correct solutions“ – effektive Gedanken, um die richtigen Lösungen zu finden und anzuwenden. Das tota12 Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1982, S. 14.

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litäre Denken des 20. Jahrhunderts, so argumentierte Berlin, negiert die Probleme: „Answers to problems exist not in rational solutions, but in the removal of the problems themselves by means other than thought and argument“: Antworten auf Probleme gibt es nicht in rationellen Lösungen, sondern in der Beseitigung der Probleme selbst durch andere Mittel als Denken und Argumentieren.13 In dieser Hinsicht passte Kuypers Neo-Calvinismus vollkommen zum 19. Jahrhundert. Seine Erscheinung war von moralischer und religiöser Ernsthaftigkeit geprägt, genauso wie es dem Pfarrer gebührte. Wie Brachers „politischer Glaube“ weist diese religiöse Ernsthaftigkeit auf einen weiteren Aspekt politischer Ideologien hin: Sie werden als Pseudoreligionen angesehen. The God That Failed war der Titel eines Bandes von 1949, in dem amerikanische Intellektuelle ihre kommunistischen Sünden gestanden: Irreführende Proselyten einer Ketzerei wären sie gewesen, ihre Apostasie käme als eine Erlösung.14 Heutzutage ist es durchaus üblich, Religion und Ideologie mittels gegenseitiger Begriffe zu analysieren und die politische Bedeutung von Konzepten, die nach der Französischen Revolution entstanden sind, als Wiedergeburt, Auferstehung und Erlösung hervorzuheben. Es geht aber weiter : Sowohl Religionen als auch Ideologien kennen Dogmen und heilige Bücher : Koran und Kapital, oder Bibel und Wealth of Nations. Beide ehren ihre Partisanen, Heiligen und Märtyrer, vom Heiligen Stephanus bis Ch8 Guevara. Auch ihre kirchlichen und politischen Organisationen zeigen eine gewisse Verwandtschaft: Wie oft wurden nicht der römische Katholizismus und der sowjetische Kommunismus wegen ihrer kirchlichen und parteilichen Hierarchien und sogar wegen ihrer Rituale, die sie über Petri Grab beziehungsweise Lenins Mausoleum zelebrieren und zelebrierten, miteinander verglichen?15 Liberale, Nationalisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Anarchisten: Letztendlich sind sie alle Erbauer eines neuen Jerusalems. Wo jede politische Bewegung ihre eigenen Propheten unter ihren überzeugten Intellektuellen fand, da fanden aktivistische Christen ihre Intellektuellen unter ihren überzeugtesten Unterstützern. In der Tat waren die puritanische Führer des 17. Jahrhunderts, wie der politische Philosoph Michael Walzer in The Revolution of the Saints schrieb, „the first advanced intellectuals“ gewesen, die eine Politik propagierten, 13 Isaiah Berlin, Political Ideas in the Twentieth Century [1949], in: Four Essays on Liberty, Oxford 1969, S. 7.10. 14 Richard Crossman (Hg.), The God That Failed, New York 1949; vgl. Maarten van Rossem, Het radicale temperament. De dubbele politieke bekering van een generatie Amerikaanse intellectuelen (1934–1953), Utrecht 1983, S. 97ff. 15 Zu diesen Ansätzen vgl. Karel van het Reve, Het geloof der kameraden. Kort overzicht van de communistische wereldbeschouwing, Amsterdam 1969; Michael Burleigh, Earthly Powers. The Clash of Religion and Politics from the French Revolution to the Great War, New York 2005; ders., Sacred Causes. Religion and Politics from the European Dictators to Al Qaeda, New York 2006; Malise Ruthven, Fundamentalism. AVery Short Introduction, Oxford 2007; James Joll, The Anarchists, 2. Auflage. London 1979, S. 3ff.

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„in which partisanship was based not upon discrete practical issues but upon a formulated conception of what society is and a prophesy of what it is to be. The divines were intellectuals in their reliance upon the Word and in their resolution to speak it out plain for all to hear.“16

3. Die Bausteine von Kuypers Neo-Calvinismus War der Neo-Calvinismus von Kuyper, dem Anführer des von ihm selbst identifizierten „puritanischen Volksteils“, ein zeitgenössisches aggiornamento des Christentums und somit reformierter Glaube, der zur politischen Ideologie expandiert war?17 Sicher ist, dass Kuyper an einer umfassenden und handlungsorientierten Theologie der Gesellschaft gearbeitet hat. „Der Calvinismus“, notierte er in seinen 1898 in Princeton gehaltenen Stone-Vorlesungen, war „ein prinzipielles, allumfassendes oder inklusives System des Lebens, das, aus der Vergangenheit emporgehend, allein im Stande ist, uns in der Gegenwart zu stärken und die Zukunft in die Hand zu nehmen.“ Es gab Richtlinien für „die drei grundlegenden Beziehungen allen menschlichen Lebens: 1. unsere Beziehung zu Gott, 2. unsere Beziehung zu dem Menschen und 3. unsere Beziehung zu der Welt.“18 Dass Kuypers intellektuelle und organisatorische Arbeit zu praktischem Handeln führen sollte, hat Jelle Zijlstra (1918–2001), Premierminister der Antirevolutionären Partei in den Jahren 1966 und 1967, kurz und bündig formuliert. Zusammengefasst „im Sinne Abraham Kuypers“, notierte er, verlief die gesamte christliche Politik nach dem Muster : a) Es gibt eine grundsätzlich erkennbare göttliche Rechtsordnung; b) die tatsächliche Rechtsordnung muss damit in Einklang gebracht worden; c) Christen müssen sich organisieren, um dieses Ziel erreichen zu können.19 Kuyper meinte, der Glauben müsse in die Praxis umgesetzt werden, um es kurz auf marxistische Weise auszudrücken. Es war kein Zufall, dass er die letzte Adaption des Parteiprogramms, die fast 1400 Seiten umfassende Antirevolutionaire Staatkunde von 1916 und 1917, in die zwei Teile „die Prinzipien” und „die Anwendung” aufgliederte. Noch ein paar Worte zur Inklusivität. Seit vielen Jahren fange ich meine Vorlesungen über Religion seit der Französischen Revolution mit einem LehrLern-Gespräch an, das erst dann endet, wenn den Studenten klar ist, dass Religion nicht bloß eine Lebensphilosophie mitsamt einem Gott oder Göttern ist, sondern eben auch eine Institution, eine Gemeinschaft, eine Identität, ein 16 Michael Walzer, zitiert in: Lionel Trilling, Sincerity and Authenticity, Cambridge/Mass. 1972, S. 21. 17 Das reformierte oder puritanische Volksteil: Kuyper, Ons program, S. 24ff. 18 Abraham Kuyper, Het Calvinisme. Zes Stone-lezingen in oktober 1898 te Princeton (N.J.) gehouden, 4. Ausgabe, Soesterberg 2002, S. 39 [Übersetzung: Monica Soeting]. 19 Jelle Zijlstra, Per slot van rekening. Memoires, Amsterdam/Antwerpen 1992, S. 81f.

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Ethos und eine Sprache für Gefühle, und dass sie auch Sinngebung und tägliches Ritual, Tradition und Prophezeiung umfasst. Anschließend erstelle ich zwei Zeitlinien, die die gesamte Weltgeschichte abdecken – die erste der christlichen Lehre nach (Schöpfung, Vertreibung aus dem Paradies, die Geburt und die Kreuzigung Christi, seine Wiederkehr und das Ende der Zeit); die zweite der Auffassung des Marxismus nach (Urkommunismus, Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus und die Zukunft des Sozialismus oder Kommunismus). Danach zitiere ich aus Kuypers Werk: „Zwischen Genesis 3 [sc. dem Sündenfall] und Offenbarung 19 [sc. der Wiederkehr Christi] gibt es einen Widerspruch zwischen Christus und der Welt.“ Dem Marxismus nach ist der Sündenfall übrigens der Moment, in dem die erste Person ein Stück Land einzäunte, dies zum Privateigentum deklarierte und damit den Motor der Geschichte in Gang setzte, den Klassenkampf, der im Christentum sein Pendant im Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Teufel hat.20 Das ideologische Denken wurzelt nicht nur im Fortschrittsglauben, wie Bracher meinte, sondern auch im Christentum.21 Von Partei- und Kirchenmitgliedern wird erwartet, dass sie Seelen gewinnen. Kuyper hat jedoch mehr getan, als nur die politische Relevanz des Christentums zu betonen. In seinem antirevolutionären politischen Programm und seinem Neo-Calvinismus entwickelte er eine Reihe spezifischer Konzepte mit dem Ziel, die Reformation zu vollenden und die Gesellschaft zu organisieren anhand von dem, was er als „Gottes Schöpfungsordnungen“ interpretierte. Zu diesem Zweck sollte zuerst der Gegner bekämpft werden, das heißt: die Revolution, die Kuyper als das „ni Dieu, ni ma%tre“ des Anarchismus oder als „die Lehre und Praxis des Unglaubens“ bezeichnete. Letzteres hatte er von seinem politischen Mentor Guillaume Groen van Prinsterer (1801–1876) entlehnt. In Kuypers Denkbild war das Konzept der Revolution dehnbar. Es bezog sich freilich zunächst auf die Französische Revolution, aber mindestens so gottlos waren in seiner Sicht der Liberalismus und der Sozialismus, der Darwinismus (statt „Selektion“: „Elektion“), die moderne Poesie (die Strophe des Dichters Willem Kloos: „Ich bin ein Gott in meinen innersten Gedanken“) und Multatulis Prosa. Für diejenigen, die diesen niederländischen Autor nicht kennen: Als Kuyper seinen reformierten Lesern klar machen wollte, wer Friedrich Nietzsche war, ebenfalls ein Vertreter der „Revolution“, notierte er : „Nietzsche ist in etwa der Multatuli der Deutschen, […] ein vollkommen Ungläubiger.“22 Anders ausgedrückt: Was nicht gefiel, wurde bald als „Revolution“ gebrandmarkt. Bezeichnenderweise zog Kuyper den Begriff „antirevolutionär“ dem fast identischen „christlich-historisch“ vor: Seine Partei war „also 20 Zu den verschiedenen „Zeitorientierungen“ der wichtigsten Ideologien vgl. Freeden, Ideology, S. 74f. 21 Bracher, Zeit der Ideologien, S. 18.25. 22 Kuyper in: De Heraut, 25. Mai 1892; ders., De verflauwing der grenzen (Vortrag zur Übertragung des Rektorats der Vrije Universiteit, 20. Oktober 1892), S. 5. – Multatuli war das Pseudonym von Eduard Douwes Dekker (1820–1887).

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grundsätzlich eine militante Partei, da sie sich nicht abfinde mit der heutigen Ordnung der Dinge“.23 Auch der Glaube war militant, wie seine Definition der „reformierten Prinzipien“ zeigt: „Kein Augenblick Frieden mit den Bekämpfern von Gottes Wort.“ All das passte in das europäische Klima des späten 19. Jahrhunderts, in dem alles Leben ein Kampf war und ausnahmslos große Taten und Opfer erforderte: für den Aufbau eines Imperiums und die Zivilisationsmission, für den Klassenkampf und für den kapitalistischen Wettbewerb, und eben auch für die politisch erwachte Religion, das „muscular christianity“ der Ultramontaner und der Antirevolutionären. Orthodox-Reformierte konnten auf dreierlei Weise mit ihrem revolutionären Gegner umgehen. Kuyper kennzeichnete diese Attituden im Rahmen der drei zentralen Begriffe des Neo-Calvinismus: „Souveränität im eigenen Kreis“, „allgemeine Gnade“ und „Antithese“.24 Mit „Antithese“, dem klarsten Konzept, verwies Kuyper auf den Kampf aller monotheistischen Gläubigen gegen die Revolution. Dies rechtfertigte in den Niederlanden die Zusammenarbeit der Antirevolutionären und Katholiken gegen die Liberalen und Sozialdemokraten. Auf globaler Ebene würde Kuyper sogar den Islam zu einer Anti-These gegen Naturalismus, Polytheismus und Pantheismus einladen.25 Noch weiter gefasst war das Konzept der „allgemeinen Gnade“. Diese entstand in dem nach der Sintflut geschlossenen „Noachitischen Bund“, mit dem Gott seinen Segen auf alles irdische Leben gegossen hatte. Die „allgemeine Gnade“ beseitigte den Widerspruch zwischen profan und sakral. Die ganze Welt wurde zum Tätigkeitsgebiet der Gläubigen, und es wurde den Antirevolutionären erlaubt, ihren revolutionären Gegnern die Hand zu reichen, denn Gottes Dispens galt auch für die Gottlosen. Dennoch wurde festgestellt, dass es sich bei der „allgemeinen Gnade“ nicht um eine private Gnade handelte, die den Gottlosen eine Aussicht auf die Ewigkeit bot. In krassem Widerspruch zu dem Konzept der „allgemeinen Gnade“ stand das älteste und bekannteste Konzept aus der neo-calvinistischen Trickkiste: „Souveränität im eigenen Kreis.“ Die meisten Kreise, wie der Handel, die Wissenschaft, der Unterricht, die Kunst, die Familie und so weiter, gingen auf die Schöpfungsordnungen zurück. Der Staat bildete einen besonderen Kreis, der die nach dem Sündenfall entstandene Störung des Funktionierens der Kreise in der „zerbrochenen Welt“ regulieren sollte. Noch während Kuypers Lebenszeit verlagerte sich die Bedeutung von „Kreis“ zu „Volksteil“ oder „Säule“; diese neue Bedeutung passte nahtlos zu Groen van Prinsterers „In der Isolation liegt unsere Kraft“. Alles zusammen ergab der Neo-Calvinismus ein flexibles und einfallreiches System. Jede Position innerhalb des demokratischen Spiels konnte damit le23 Kuyper, Ons program, S. 18f.21f. 24 Vgl. Peter S. Heslam, Creating a Christian Worldview : Abraham Kuyper’s Lectures on Calvinism, Grand Rapids 1998. 25 Abraham Kuyper, Om de oude wereldzee, Band I, Amsterdam 1907, S. 16ff. Der Begriff „AntiThese“ wird im Register angeführt.

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gitimiert worden. Schon früher hatte Kuyper diese Demokratie aus ihren liberal-revolutionären Griffen genommen und sie für den Glauben annektiert: „Ich zögere nicht, zu sagen: Von Natur und Wesen her ist das Christentum demokratisch.“26 In dem Sinne war der Neo-Calvinismus als politisch-ideologisches System dem Marxismus in keinerlei Weise unterlegen: Auch der Marxismus fand für jedes gesellschaftliche Phänomen einen Platz im Unterbau oder Überbau oder in der Dialektik zwischen Unter- und Überbau. Der Neo-Calvinismus war in dieser Hinsicht womöglich noch flexibler als der Marxismus: Antirevolutionäre konnten die Gesellschaft bekämpfen, umarmen und meiden.

4. Ideologische Konfigurationen: Kuypers Neo-Calvinismus und andere Ideologien Das führt mich zu meinen abschließenden Ausführungen. Obgleich er sie nie gewollt hatte, wurde Kuyper nicht zu Unrecht zum Begründer der niederländischen „Versäulung“ ernannt. Wenn die Errichtung der weltanschaulichen Parzellierung, die bis etwa 1970 fortlebte, auf eine Person zurückgeführt werden sollte, dann auf Kuyper. Trotz seiner Behauptung, die Reformierten bildeten die eigentliche niederländische Nation („das Herz und der Kern der Nation“)27, war er derjenige, der Bevölkerungsgruppen mit Weltanschauungen verband und in dessen Nachahmung Katholiken, Sozialisten und Liberale alle ihre eigenen politischen Parteien, Organisationen, Zeitungen und Vereine gründeten. Diese Säulenbildung kann, auf jeden Fall was die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen anbelangt, als niederländischer Beitrag zur „Zeit der Ideologien“ angesehen werden. Eine weltanschauliche Neutralität war verdächtig und die Massenorganisationen, die diese Säuleninstitutionen ebenfalls waren, hatten ein begrenztes demokratisches Profil. Die Säulenbildung war ein Pluralismus ohne positive Einschätzung der Pluriformität an sich. Die Führer forderten ihre Anhänger auf, Andersdenkende auf Distanz zu halten, auch wenn dem in der Praxis nicht rabiat nachgekommen wurde. Denn die Antirevolutionären, Liberalen und Katholiken waren durchaus im Stande, der zunehmenden Vielfalt innerhalb der Gesellschaft ideologisch gerecht zu werden. Der Liberalismus wurde wohl als „die Kunst der Trennung“ bezeichnet: Staat von Kirche, Unterricht und Wirtschaft, Mythos von Wissenschaft, Öffentliches von Privatem.28 Im römisch-katholischen politischen Denken bekam die Dezentralisierung eine Grundlage im Konzept der „Sub26 Abraham Kuyper, Confidentie. Schrijven aan den Weled. Heer J.H. van der Linden, Amsterdam 1873, S. 79. 27 Abraham Kuyper, Plancius-Rede, Amsterdam 1884. 28 Michael Walzer, Liberalism and the Art of Separation, in: Political Theory 12 (1984), S. 315ff.

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sidiarität“. Wie bereits erwähnt, kannten die Antirevolutionäre ihre „Souveränität in eigenem Kreis“, hier im Sinne der gesellschaftlichen Sphäre. So vielfältig die religiöse oder philosophische Ablenkung auch war, die relative Verschwommenheit dieser Konzepte förderte den Kompromiss. Konfessionelle protestantischer und katholischer Herkunft sowie einige Sozialdemokraten konnten sich auf dem Gebiet der Sittlichkeit wiedervereinigen, wenn auch jeder mit den eigenen Akzenten. Im Gegensatz zu den Liberalen machten sie keinen Unterschied zwischen privater und öffentlicher Moral, für die die Liberalen das Nützlichkeitsprinzip des geringsten Bösen anwendeten. Für die Konfessionellen war die Sittlichkeit eins und unteilbar, aus religiösen Gründen oder eines beseelten Gemeinschaftsgedankens. Das Ziel war die Durchmoralisierung der Gesellschaft, jede Politik war ethische Politik, auch wenn die, wie bei den Sozialdemokraten, mit sozialen Maßnahmen Gestalt annahm.29 Die Konfessionellen hatten, ebenfalls im Gegensatz zu den Liberalen, ihrer Meinung nach eine allgemein gültige Antwort auf die Frage, wie man leben solle. Zum Schluss eine dritte Konfiguration: die Konvergenz der antirevolutionären, liberalen und sozialdemokratischen Wünsche bezüglich des Staates: der Staat als Resultat des Sündenfalls oder der Klassengesellschaft, der Staat als vorzugsweise so kleines wie mögliches Übel in der Zivilgesellschaft, aber am liebsten überhaupt kein Staat, nach der Umgestaltung der Gesellschaft am Beispiel der Schöpfungsordnungen Gottes; nachdem die sozialistische Revolution und die Diktatur des Proletariats das Privateigentum abgeschafft haben und eine klassenlose Gesellschaft erreicht worden ist; oder, besonders im Wirtschaftsliberalismus, wenn die „invisible hand“ es dem freien Markt ermöglicht, sich zu seinem Gleichgewicht zu „gravitieren“ – dreimal das Newton‘sche Ideal, ein nach unveränderlichen Gesetzen sich selbst korrigierendes Gesellschaftssystem, das weder staatliche noch politische Macht bedarf.30 So sehr Kuypers Antirevolutionäre an dem Ideal festhielten, so weit kam es nicht und konnte es auch nicht kommen, wie sie selbst allzu gut verstanden. Versuchten nicht gerade die Reformierten tagtäglich sich ihrer eigenen Unvollkommenheit zu stellen? Das Streben nach Perfektion war Hybris. Langfristig erwiesen sich Neo-Calvinismus und antirevolutionäre Politik vor allem erfolgreich im Aufbau der eigenen Säule, „Souveränität in der eigenen Säule“ in einem „ideologischen Ghetto“ – der letzte Begriff ist vom englischen Historiker Hugh McLeod.31 Kuypers Systematisierung der reformierten und an29 Mirjam Oostendorp, Liberale, Zedelijkheid en Wetgeving 1881–1911, in: Utrechtse Historische Cahiers 11 (1990), Nr. 4, S. 30.40; Rolf Schuursma, Jaren van opgang. Nederland 1900–1930, Amsterdam 2000, S. 55ff. 30 Karl Marx und Friedrich Engels, Het communistisch manifest, Amsterdam 1976 [ursprünglich 1848], S. 66; Alessandro Roncaglia, A Brief History of Economic Thought, Cambridge 2017, S. 167ff. 31 Hugh McLeod, Religion and the People of Western Europe 1789–1989, Oxford 1997, S. 36.

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tirevolutionären Überzeugungen in ein neocalvinistisches Weltbild hatte deswegen paradoxale Folgen. Einerseits öffneten sich die Fensterläden und wurden die Reformierten aufgefordert, zu allem beizutragen, was das gesellschaftliche und politische Leben zu bieten hatte. Andererseits schallte die Rüge, dass auf allen Seiten eine Katastrophe drohte, und dass Reformierte sich nicht so sehr in als vielmehr gegenüber der Welt stehen sollten. Kuyper war schon früh gewarnt worden: Das Christentum „erschafft keine eigentliche christliche Politik“, urteilte der antirevolutionäre Politiker Justinus van der Brugghen (1804–1863) bereits in den 1850er Jahren.32 Auch Lohman meinte, dass sich die antirevolutionäre Partei auflösen könne, sobald der christliche Schulunterricht gesichert sei. Noch schärfer formulierten einige Personen an der Parteispitze das Problem 1915: „Die größte Gefahr besteht darin, dass man bei der Frage nach dem Zusammenhang von Prinzipien und praktischen Problemen einfach ins Blaue hinein rät und mit Hilfe eines Textes aus der H. Schrift die schwierigsten Angelegenheiten lösen will, damit aber die Religion zum Erreichen von politischen Zielen missbraucht.“33

Das ist eine Einsicht, an die man sich halten sollte. (Übersetzung: Monica Soeting)

32 Justinus van den Brugghen, zitiert in: Pieter Jacobus Oud, Staatkundige vormgeving in Nederland, Teil I: 1840–1940, überarbeitet von J. Bosmans, 11. überarbeitete Auflage Assen 1997, S. 55.185f. 33 Theo Heemskerk Jzn et al., Leider en leiding in de Anti-Revolutionaire Partij, zitiert in: Jan Voerman, Het conflict Kuyper-Heemskerk, Utrecht 1934, S. 84.

Hans-Georg Ulrichs

„Die Angst vor Ihnen [war] fast ergötzlich“: Kuyper und Deutschland Korrespondenzen, Wahrnehmungen und Rezeptionen1 Nicht nur niederländischen Zeitgenossen galt Abraham Kuyper um 1900 wohl als bedeutendster und bekanntester Niederländer. Er war eine europäische Gestalt von Format. Und doch ist er in Deutschland bei seinen Zeitgenossen, bei den Späteren und den Heutigen bis auf sehr wenige Spezialisten eher unbekannt oder verkannt.2 Kuyper fand nicht wirklich eine Heimstatt in Deutschland. Während es in den niederländischen oder nordamerikanischen Kontexten und auf Grund der dortigen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichten bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus Kuyper-Diskurse gab, haben die deutschen politischen und kirchlichen Verhältnisse des 20. Jahrhunderts so etwas nicht ermöglicht. Eine durchgehende Lektüregeschichte Kuypers in Deutschland – oder besser : aus deutscher Perspektive – gab es nicht. Wir stehen de facto immer noch vor einer Entdeckung Kuypers – ein Jahrhundert nach dessen Tod und nach dem Kuyper-Bild von Wilhelm Kolfhaus, das grundlegend zu kritisieren und zu korrigieren ist, wie noch darzustellen sein wird. In zwei Teilen soll das Thema „Kuyper und Deutschland“ traktiert werden: zunächst mit den Verbindungen von hüben nach drüben und den gegenseitigen Wahrnehmungen während Kuypers Lebenszeit (1), und dann mit der – eigentlich ausbleibenden bzw. fehlerhaften – Kuyper-Rezeption im 20. Jahrhundert (2). Nicht eine leitende Idee organisiert diesen Beitrag, sondern vielmehr der Versuch, die geringen Spuren dieses Themas aufzufinden und darzustellen. Insofern werden im Folgenden einigermaßen bescheiden vor allem historische Hinweise aufgeführt. 1 Dieser Beitrag greift auf meine 2018 gehaltene Osnabrücker Antrittsverlesung zurück: HansGeorg Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe des Calvinismus – neu gelesen, Bielefeld 2019. Den Vorträgen des Göttinger Studientages am 25. September 2020 verdanke ich überdies die Kenntnis einiger älterer und aktueller Literatur. – Alle im Folgenden genannten Briefe befinden sich in The Neo-Calvinism Research Institute (www.neocalvinism.org) und sind dort online einsehbar. Die Gegen-Briefe Kuypers befinden sich mutmaßlich in den Nachlässen der entsprechenden Empfänger. 2 Vor den älteren biographischen Werken sei verwiesen auf Jeroen Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006. Aktuell zum Kuyper-Gedenken 2020 erschien eine fulminante NeuEntdeckung Kuypers: Johan Snel, De zeven levens van Abraham Kuyper. Portret van een ongrijpbaar staatsman, Amsterdam 2020. – Aus den nordamerikanischen Kontexten: James D. Bratt, Abraham Kuyper. Modern Calvinist, Christian Democrat, Grand Rapids/M. 2013.

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1. Kuyper und Deutschland bis 1920 Da deutsche Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert Europa weit Beachtung fanden, Deutsch durchaus als lingua franca der Wissenschaft erscheinen konnte, nimmt es nicht wunder, dass Kuyper, der von 1855 bis 1862 studierte und vor dem ersten Pfarramt kirchenhistorische Forschungen betrieb, deutsche und deutschsprachige Literatur zur Kenntnis nahm. Das wurde sicher noch durch seine Editionsarbeiten am Werk von Johannes a Lasco befördert. Auch Kuypers Lehrer und frühe Mitstreiter nahmen deutsche Theologie und kirchliche Diskurse in Deutschland wahr.3 Kuyper fuhr gelegentlich nach Deutschland, besonders später für Kuraufenthalte, zu den deutschsprachigen Eidgenossen hatte er wegen seiner Mutter familiäre Kontakte. Kuypers nicht zuletzt von seinen politischen Gegnern unterstellte Deutschfreundlichkeit wird gegenwärtig differenziert gesehen. Sympathien für Preußen und Deutschland scheint er 1870/1871 gehegt zu haben – es ging eben gegen Frankreich –, und später hat er sich wohl mehr Abwehrkraft gegen alles Östliche eher von Deutschland als von England erhofft. Während Kuypers erste Publikation, die Übersetzung eines politischen Pamphlets mit antiliberaler (!) Positionierung4, unbedeutend ist, sind drei Themen im Hinblick auf Deutschland von Bedeutung: Johannes a Lasco, die Innere Mission und die konfessionellen Kontexte. Zunächst also Johannes a Lasco: Bereits Kuypers prämierter Beitrag über Johannes a Lascos und Johannes Calvins Kirchenbegriff, den er bei einem Preisausschreiben 1859/60 an der Fakultät Groningen einreichte5 – und zwei Jahre später auch Grundlage seiner Dissertation wurde und 1866 zur Gesamtausgabe a Lascos führte –, war in Emden bekannt und führte zu Kontakten mit den dortigen Pastoren Oberkirchenrat Franz Hinderk Hesse (1860–1862) und Nikolas Virtor (1862).6 Zweimal war Kuyper persönlich in 3 Vgl. Roel Kuiper, Der Abschied eines Antirevolutionärs von Deutschland. Abraham Kuyper (1837–1920) und Adolf Stoecker (1835–1909), in: Jahrbuch Zentrum für Niederlande-Studien 9 (1998), Münster 1998, S. 113–138, hier: S. 113–118; ders., Een antirevolutionair afscheid van Duitsland: Abraham Kuyper (1837–1920) en Adolf Stoecker (1835–1909), in: Tijdschrift voor Geschiedenis 111 (1998), S. 220–243. 4 Graaf von Borries, Hanover en Duitschland, Leyden 1860 (dt.: Graf von Borries, Hannover und Deutschland. Aus dem Holländischen übersetzt, Hannover 1861). Vgl. Briefe Franz H. Hesse an Kuyper, Emden, 7. November 1860 und 22. November 1860. – Friedrich Wilhelm Otto Graf von Borries (1802–1883) war Innenminister des Königreiches Hannover. 5 Die Arbeit wurde erst 2005 gedruckt. 6 Jasper Vree, Abraham Kuyper als Erbe a Lascos, in: Christoph Strohm (Hg.), Johannes a Lasco (1499–1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator. Beiträge zum internationalen Symposium vom 14.–17. Oktober 1999 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 14), Tübingen 2000, S. 357–375, hier: S. 358f. – Jasper Vree, der im Juli 2020 starb, hat sich sehr um „den jungen Kuyper“ und den Kirchenhistoriker Kuyper verdient gemacht. Vgl. George Harinck, Kuypers laatste archiefreis (1867), in: TNK 23 (2020), S. 246–251.

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Emden, predigte dort sogar einmal und suchte in ostfriesischen Archiven nach Spuren a Lascos. Es war durchaus entsagungsvoll: „Zijn 25ste verjaarsdag vierde hij treurig en alleen in Aurich.“7 Auch Hermann Dalton (1833–1913), reformierter Pfarrer in St. Petersburg, unterhielt im Vorfeld seines großen Werkes über a Lasco von 1877 bis 1881 und dann 1898 brieflichen Kontakt zu Kuyper, den er im März 1881 fragte, ob er ihm dieses Buch widmen dürfe, was dann auch geschah.8 Das werden wahrscheinlich nicht die einzigen Kontakte Kuypers nach Deutschland wegen des endlich zur Geltung gebrachten europäischen Emder Reformators gewesen sein.9 Sodann war es die Soziale Frage und die Innere Mission als kirchliche Antwort auf diese Herausforderung, die Kuyper auch nach Osten blicken ließ. Schon 1871 gab er ein ursprünglich in Deutsch erschienenes Büchlein Zur Arbeiterfrage eines Landpfarrers mit seiner Einleitung heraus.10 Immer wieder wird Kuyper in einem Atemzug mit Adolf Stoecker (1835–1909) genannt, obwohl Kuyper ihn aufs Ganze gesehen nur selten nennt und die beiden keine ausführliche Korrespondenz unterhielten. Nur ein Brief Stoeckers – von möglicherweise mehreren – ist aus dem Jahr 1879 überliefert, nachdem Kuyper und sein Weggefährte Willem Hovy (1840–1915) Stoecker 1878 in Berlin besucht hatten, wovon allerdings keine Einzelheiten mehr bekannt sind: Stoecker bedankt sich für die Übersendung eines Buches – wahrscheinlich hat Kuyper Stoecker sein kurz zuvor erschienenes Ons Program zugeschickt –, und berichtet: „Hier geht die Christlich-soziale Arbeiterpartei ruhig weiter. Das Socialistengesetz hindert uns ja im Kampf, da die Socialisten sich in öffentlichen Versammlungen nicht mehr mit ihren Ansichten hervorwagen … Sie haben gewiss mit Verwunderung gelesen, dass der Evangelische Oberkirchenrath einen Ukas gegen unsere Sache erlassen hat voll Verkennung und Missverständnisse, da die Mitglieder dieser Behörde der socialen Frage fern stehen“.11

Kuyper wird den Werdegang Stoeckers mitverfolgt haben, aber hat weder in seiner großen Rede auf dem christlich-sozialen Kongress 1891 noch später 7 Snel, Abraham Kupyer, aaO., S. 178. 8 Hermann Dalton, Johannes a Lasco. Beitrag zur Reformationsgeschichte Polens, Deutschlands und Englands, Gotha 1881, S. V: „Herrn Prof. Dr. theol. Abraham Kuyper, dem hochverdienten Herausgeber der Gesamtwerke Laskis, in herzlicher Verehrung und Dankbarkeit.“ Vgl. im Vorwort S. VIIf. 9 Eine neuere Studie zum Thema „Kuyper als Kirchenhistoriker“ scheint aktuell zu fehlen. Vgl. Louis Praasma, Abraham Kuyper als kerkhistoricus, Kampen 1945. 10 De arbeiderskwestie en de kerk. Een woord over het sociale vraagstuk. Naar het Hoogduitsch. Ingeleid door Dr. A. Kuyper, Amsterdam 1871 (Zur Arbeiterfrage. Von einem Landpfarrer für Landpfarrer und für Alle, welche es lesen wollen, Halle 1870). Verfasser und Übersetzer sind nicht zu ermitteln. 11 Brief Adolf Stoecker an Kuyper, Berlin, 23. April 1879. – Stoecker hatte seine Partei ein Jahr zuvor 1878 gegründet. Ons Program hätte ihn interessiert, wenn er es hätte lesen können. Stoeckers Programm umfasste zwei Seiten, Kuypers weit mehr als tausend.

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inhaltlich Bezug auf ihn genommen. In den Stone Lectures kommt Stoecker lediglich im Zusammenhang mit kritischen und ironischen Bemerkungen über den deutschen Kaiser vor. Am Beispiel des Verhältnisses von Kuyper und Stoecker exerziert Roel Kuiper in einem brillanten Aufsatz12 die historischen Korrekturen: Sind Kuyper und Stoecker in einem Atemzug zu nennen, so wie es etwa Stoeckers Schwiegersohn Reinhard Mumm (s. u.) getan hat? – das Gegenteil ist der Fall. Kuyper sei deutschfreundlich und Bewunderer des militaristischen, aber auch irgendwie christlichen Preußen? – vielleicht mit Sympathien 1870/71, aber gerade auf Grund der das Recht missachtenden Machtpolitik Otto von Bismarcks (1815–1898) und des Kaisers danach nicht mehr ; vielmehr wuchs die Kritik am lutherisch geprägten deutschen Nationalprotestantismus. War Kuyper wie Stoecker oder gar in den Spuren von Stoecker ein Antisemit? – gerade wegen Stoecker nimmt Kuyper Abstand von eigenen antijüdischen Aussagen13 und weist erstarkenden deutschen und europäischen Antisemitismus für die plurale niederländische Gesellschaft und für den das „alte Volk“ liebenden Calvinismus ab. Bemerkenswert sind nicht konstruierte ideologische Nähen zwischen Kuyper und etwa Stoecker, sondern dass Kuyper gerade nicht auf Antisemitismus als Ideologoumenon und politisches Medium setzte. Kuyper dürfte, abgesehen vom christlich-sozialen Engagement, von Stoecker politisch nicht allzu viel gehalten haben. Stoecker war ein theologisches und politisches Leichtgewicht, das gerade wegen fehlender geistiger Potenz sich radikalisierend in die Irre begab.14 Schließlich und vor allem sind die reformierten Konfessionsgenossen aufzurufen, die allerdings auch nicht verhindern konnten, dass Abraham Kuyper zeitgenössisch in Deutschland eher am Rande und lediglich innerhalb der Konfessionsschranken wahrgenommen wurde. Als Theologe konnte er trotz seines umfangreichen Œuvres kaum Eindruck machen, da es in Deutschland 12 Kuiper, Abschied eines Antirevolutionärs, aaO.; vgl. bereits ders., Zelfbeeld en wereldbeeld. Antirevolutionairen en het buitenland 1848–1905, Kampen 1992. – Ein jüngerer Versuch, Kuiper zu widerlegen, erscheint weniger überzeugend: Lodewijk Kater, Either Mammon or the Messiah? The Christian-Social tradition in the Netherlands and Germany on the Jewish Question, 1875–1914, in: Trajecta 28 (2019), S. 23–44. 13 Vgl. auch Karin Hofmeester, Antisemitismus in den Niederlanden im 19. und 20. Jahrhundert, in: Horst Lademacher u. a. (Hgg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 9), Münster u. a. 2004, S. 604–630, hier: S. 623–626. 14 Völlig unverständlich ist es, wie Michael Bräutigam, aus Deutschland stammender Dozent an einer evangelikalen Hochschule in Melbourne, vorgibt, einen Aufsatz über Adolf Schlatter, Adolf Stoecker und Abraham Kuyper zu schreiben und damit wohl suggerieren möchte, dass ein Verhältnis zwischen diesen drei Personen bestanden habe. Die beiden Adolfs kannten sich persönlich und hatten Sympathien füreinander. Das Resultat der „Untersuchung“ ist lediglich, dass alle drei die Christen motivieren wollten, sich in die politischen Prozesse einzubringen. Dass dieses politische Engagement bei Kuyper einen gänzlich anderen drive hat, verschweigt Bräutigam – oder es hat sich ihm nicht erschlossen. Vgl. Michael Bräutigam, Protestant European Politics Yesterday and Today : The Example of Adolf Schlatter, Adolf Stoecker and Abraham Kuyper, in: European Journal of Theology 27 (2018), S. 43–54.

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nicht an eigener protestantischer theologischer Prominenz fehlte und nur wenige Theologen Fremdsprachiges – und schon gar nicht Niederländisches – zur Kenntnis nahmen, besser : wegen mangelnder Sprachkenntnisse nicht zur Kenntnis nehmen konnten. Zudem war der reformierte Protestantismus – erst recht ein „Calvinismus“ – in Deutschland letztlich so marginal, dass dieser kaum bedeutende konfessionelle Theologen hervorbringen konnte, die auf Kuyper hätten rekurrieren15, gar mit ihm in einem Atemzug hätten genannt werden oder auch nur einen Resonanzraum für Kuyper hätten darstellen können. Um Kuypers Anliegen, calvinistische Traditionen in die Moderne zu transformieren, zu verstehen, fehlte es den deutschen Reformierten an Potenzen. So sah es jedenfalls der um die Jahrhundertwende beste Kenner reformierter Tradition und Theologie in Deutschland, der Erlanger Professor E.F. Karl Müller : „[T]rotz einzelner bedeutsamer Erscheinungen hat das XIX. Jahrhundert eine wirkungskräftige reformierte Theologie, welche die bleibenden Errungenschaften des Calvinismus allseitig und in gesunder Harmonie mit den berechtigten Ansprüchen der Gegenwart vertreten hätte, nicht hervorgebracht.“

Zwar gäbe es historiographische Bemühungen um „eine große Vergangenheit“, aber „ob es der theologischen Erkenntnis gelingen wird, den alten Inhalt in zeitgemäße Form zu fassen“, müsse die Zukunft erst noch zeigen.16 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wähnten sich die deutschen Reformierten in der Defensive, manche sahen sich im konfessionellen Überlebenskampf. So gab es keinen reformierten Lehrstuhl mehr. Mit der Gründung einer reformierten Landeskirche 1883 in der preußischen Provinz Hannover und der des Reformierten Bundes 1884 gab es wieder wachsendes reformiertes Selbstbewusstsein; Pläne wurden geschmiedet etwa für ein reformiertes Zentralbüro in Berlin – was nicht zu Stande kam – und für eine reformierte theologische Schule, die noch Jahrzehnte auf sich warten ließ. Ein wichtiger Referenzort für die Kontakte Kuypers mit Deutschland war das spätere Wuppertal17, das ja auch geographisch nicht weit von den Niederlanden entfernt war. Hier wirkten bis 1875 Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875), später Paul Geyser18 (1824–1882) und Heinrich Calaminus. Mit Kohlbrügge 15 Spätestens seit Ende der 80er Jahre, also nach der Doleantie von 1886 – wurde in der Reformierten Kirchenzeitung auch über Abraham Kuyper berichtet, bald zumeist von Wilhelm Kolfhaus. Den ersten Kontakt hatte Heinrich Calaminus hergestellt, vgl. Brief Heinrich Calaminus an Kuyper, Elberfeld, 15. August 1879. 16 E.F. Karl Müller, Reformierte Theologie in Deutschland, in: Carl Werckshagen (Hg.), Der Protestantismus am Ende des XIX. Jahrhunderts in Wort und Bild, Band II, Berlin 1902, S. 666–669, hier: S. 669. 17 Dieser „Erinnerungsort“ wird beschrieben in Hans-Georg Ulrichs, „… in schwere Bedrängnis geraten“? Reformierte Erinnerungsnarrative im 20. Jahrhundert, in: ders., Reformierter Protestantismus im 20. Jahrhundert. Konfessionsgeschichtliche Studien (FRTh 9), Göttingen 2018, S. 773–790, hier: S. 776–780. 18 Von Geyser sind nur zwei Briefe an Kuyper erhalten.

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eng verbunden waren sein Schwiegersohn Eduard Böhl und Adolf Zahn – die beiden Letztgenannten hatten bei Johannes Wichelhaus (1819–1858) studiert. Kuyper war ihnen allen ein niederländischer Reformer – jedenfalls bis zur Doleantie von 1886. Heinrich Calaminus (1842–1922)19, führender Aktivist bei der Sammlung der Reformierten, Herausgeber der Reformierten Kirchenzeitung und von 1911 bis 1919 Moderator des Reformierten Bundes, schrieb in den Jahren von 1879 bis 1907 immerhin elf Briefe an Kuyper. Er informierte ihn über die konfessionelle und kirchenpolitische Situation im Reich und sah in Kuyper einen potentiellen Mitstreiter über Landesgrenzen hinweg. Die 1880 gegründete Vrije Universiteit (VU) könne – so Calaminus – einmal ein Zufluchtsort für reformierte Studenten werden20 – man dachte offenbar in europäischen Verhältnissen. Kuyper und Calaminus tauschten sich aus über Personen, auch über mögliche Dozenten an der VU21, Kandidaten für die deutschsprachige Pfarrstelle in Amsterdam22 und Pfarrstellen in Deutschland, wo auch holländisch gepredigt werden sollte. 1882 war Calaminus zu Gast in Kuypers Haus.23 Nach seiner de facto-Abwahl 1905 und der großen Mittelmeer-Reise berief die große Elberfelder Gemeinde Kuyper zu ihrem Pfarrer24 ; er nahm die Wahl nicht an. Calaminus kann sicher als Repräsentant des reformierten mainstreams bezeichnet werden, der trotz seiner Einbindung in die Staatskirche große Sympathien für Kuyper hegte. Ein besonderer deutscher Gesprächspartner war für Kuyper Kohlbrügges Schwiegersohn Eduard Böhl (1836–1903), von dem aus den Jahren 1872 bis 1888 17 Briefe an Kuyper erhalten geblieben sind. Er stand dem mainstream schon kritischer als Calaminus gegenüber. Böhl lehrte reformierte Dogmatik in Wien, unterhielt aber eine reiche Korrespondenz und las niederländische Literatur. Die Freundschaft mit dem Schwiegervater Kohlbrügge möge auch auf ihn übergehen, hoffte Böhl.25 Kuyper nimmt vor allem Böhls Werke wahr, und zwar bereits seit seiner Allgemeinen Pädagogik von 1872, später in der ersten Hälfte der 80er Jahre auch seine Ausführungen über Sünde und Gerechtigkeit; man schonte sich gegenseitig auch nicht bei Unterschieden im Detail – Böhl war durchaus selbstbewusst und belehrte den ein Jahr jüngeren Kuyper. Offensichtlich war auch eine Berufung Böhls an die noch zu grün19 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Von Brandes bis Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes, in: ders. Reformierter Protestantismus im 20. Jahrhundert, aaO., S. 171–211, hier: S. 178–182: Heinrich Calaminus (1911–1919): unermüdlich und unbekannt. 20 Brief Heinrich Calaminus an Kuyper, Elberfeld, 4. März 1880. 21 So vermittelte Calaminus etwa Friedrich Wilhelm Jacob Dilloo (1841–1892), der bis 1886 Hebräisch-Dozent an der VU war, bevor er im Streit mit Kuyper nach Deutschland zurückkehrte; vgl. Brief Heinrich Calaminus an Kuyper, Elberfeld, 30. März 1880. 22 Im Brief vom 12. Februar 1884 teilt Calaminus aus Elberfeld die Nicht-Annahme der bereits zu seinen Gunsten stattgefundene Wahl mit. 23 Brief Heinrich Calaminus an Kuyper, Elberfeld, 24. Juni 1882. 24 Brief Heinrich Calaminus an Kuyper, Elberfeld, 7. Juli 1907. 25 Brief Eduard Böhl an Kuyper, Wien, 20. März 1872

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dende VU in Amsterdam angedacht gewesen.26 Endgültig sagte Böhl Anfang 1880 ab und verwies darauf, kein Parteimann zu sein und in der Staatskirche einen so breiten Strom zu sehen, dass er dort zu unterrichten gedächte.27 Die Freundschaft zwischen Böhl und Kuyper blieb gleichwohl erhalten, auch wenn der Briefkontakt dann 1888 an ein Ende gekommen zu sein scheint. Der sich selbst marginalisierende fundamentalistische Reformierte Adolf Zahn (1834–1900) sprach von Kuyper als „eines Mannes von glänzendem Geschick der Darstellung, homiletischer Meisterschaft und unermüdlicher Thätigkeit. Man vergleicht ihn mit Stahl, Hengstenberg und Stöcker.“28 Zahn kannte Kuyper wahrscheinlich über die Kontexte Hermann Friedrich Kohlbrügges persönlich. Mindestens einmal war er auch in Kuypers Haus zu Gast.29 In den Jahren 1880 bis 1893 unterhielt Zahn brieflichen Kontakt zu Kuyper. Zur Gründung der Vrije Universiteit – Zahn war gerade nach wenigen Jahren in Elberfeld nach Stuttgart verzogen und hielt das Reformiertentum in Deutschland für aussichtslos verderbt: Es gäbe vielleicht noch fünf oder sechs Calvinisten im Lande30 – bot er Teile seiner Bibliothek als Geschenk für den Aufbau der VU-Bibliothek an.31 Zahn, Bezieher des Heraut, versuchte dort eigene Artikel zu platzieren.32 Später erbat er Spenden von Kuyper für seine finanzschwache Stuttgarter Gemeinde.33 Zahn bewunderte den „unermüdliche[n] und schroffe[n] Polemiker“, der „seine Feinde zu vernichten [hofft]“.34 Hinter solchen Zuschreibungen steckte nicht zuletzt das Selbstverständnis Zahns, der nach E.F. Karl Müllers Einschätzung „in einer krankhaft-extremen Weise gekämpft [hat], welche die Verständigung auch mit den wirklichen Fortschritten der Zeit ausschloß“.35 Vielleicht träumte Zahn davon, ein deutscher Kuyper zu werden. Das zeitgenössische Bild Kuypers in Deutschland wurde aber besonders vom bereits genannten Wilhelm Kolfhaus (1870–1954), Pfarrer zunächst in Rade[vormwald], dann in Elberfeld (!) und schließlich in Vlotho36, gezeich26 Brief Eduard Böhl an Kuyper, Mondsee, 5. September 1878, und weitere Briefe bis 1880. 27 Brief Eduard Böhl an Kuyper, Wien, 16. Februar 1880. 28 Adolf Zahn, Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert, Stuttgart 1886, S. 192. 29 Brief Adolf Zahn an Kuyper, Stuttgart, 22. September 1887. 30 Brief Adolf Zahn an Kuyper, Stuttgart, 1. Juni 1887. – Insgesamt sind fünf Briefe von Zahn erhalten. 31 Brief Adolf Zahn an Kuyper, Stuttgart, 25. November 1880. – Kontakte bestanden über Dilloo. Zahn und Dilloo hatten zeitgleich in Elberfeld gearbeitet. 32 Brief Adolf Zahn an Kuyper, Stuttgart, 1. Juni 1887. 33 Brief Adolf Zahn an Kuyper, Stuttgart, 11. Juni 1893 [im Archiv wird wohl fälschlicherweise 1883 angegeben]. 34 Zahn, Abriss, aaO., S. 192. 35 Müller, Reformierte Theologie, aaO., S. 669. – Hans-Georg Ulrichs, Art. Zahn, Adolph Johannes Cleophas, in: RGG4 VIII (2005), S. 1778f. 36 Vgl. Art. Kolfhaus, Wilhelm, in: Friedrich Wilhelm Bauks, Die evangelischen Pfarrer in Westfalen von der Reformationszeit bis 1945 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 4), Bielefeld 1980, S. 269, Nr. 3395. – Kolfhaus hat auch ohne herausragende Leitungsämter eine

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net. Er war nicht nur durch Reisen in die Niederlande und durch Korrespondenz37 persönlich mit Kuyper bekannt, sondern war durch De Heraut und andere kirchliche Blätter der Niederlande gut über die Situation und über Personen aus der Perspektive der „Doleerenden“ und dann der Gereformeerden informiert. Kolfhaus, selbst Pfarrer in der Staatskirche, vertrat vehement Kuypers Positionen gegen eine liberale Volkskirche und verteidigte ihn etwa gegen Vorwürfe, klammheimlich selber modern zu sein – sogar gegen in der RKZ abgedruckte Leserbriefe niederländischer Pfarrer der reformierten Kirche38, was er mit Kuyper besprach.39Allerdings musste Kolfhaus einräumen, dass Kuyper durchaus den Traditionsbestand modifizierte. Es sei „nicht zu leugnen, daß Dr. Kuyper kein Calvinist ist in dem Sinne, als wolle er das 19. Jahrhundert in das 16. zurückverlegen. Er bleibt nicht stehen bei Calvin, aber er geht aus von ihm und seinen unvergänglichen, aus der Schrift erhobenen Grundsätzen, er ist kein Nachahmer Calvins, aber ein Erneuerer des Calvinismus auf wissenschaftlichem und praktischem Gebiet. Kuyper kennt unsere Zeit, er lebt mit der modernen Welt und weiß, daß sie berechtigte Ansprüche hat, welchen die Theologie Rechnung tragen muß.“40

Die von Kolfhaus angeregte Übersetzung der Enzyklopädie Kuypers41 wurde nicht realisiert, obwohl Kolfhaus seine Bereitschaft zur Übersetzung bekundet und E.F.K. Müller bei der Deichert’schen Buchhandlung in Leipzig bereits sondiert hatte.42 Möglicherweise hätte dies eine Art Durchbruch für Kuyper in Deutschland bedeutet. Kolfhaus hat jedoch um die Jahrhundertwende mehrere große Reden seines „verehrten Lehrers“ ins Deutsche übersetzt43, freilich

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bedeutende Rolle unter den deutschen Reformierten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gespielt. Am Ende seines Lebens hat er noch drei Monographien zu Johannes Calvin vorgelegt (1939, 1941, 1949). Es liegen acht Briefe von Kolfhaus an Kuyper aus den Jahren von 1896 bis 1900 vor. Wilhelm Kolfhaus, Nachträgliches aus dem kirchlichen Leben Hollands im Jahre 1896, in: RKZ 20 (1897), S. 29f.; ders., Theologisches und Kirchliches aus Holland, aaO:, S. 123f.; dagegen aus niederländisch-hervormder Sicht: Dr. P.J. Kromsigt, Theologisches und Kirchliches aus Holland, in: aaO., S. 188 f.; Wilhelm Kolfhaus, Zur Würdigung Dr. A. Kuypers, in: aaO., S. 221–223; dagegen wiederum P.J. Kromsigt, aaO., S. 277f.282–284 und wiederum eine historische Apologie Kuypers durch Wilhelm Kolfhaus, Die kirchliche Bewegung in Holland, aaO., S. 324–326.330f. Dagegen aus „positiver“ Sicht der Hervormden E. Wolff, Die Entwicklung der niederländischreformirten Kirche in unserem Jahrhundert, in: RKZ 22 (1899), S. 28–30. Vgl. auch Wilhelm Kolfhaus, Aus dem kirchlichen und theologischen Leben Hollands, in: RKZ 22 (1899), S. 196–198; ders., Ein Tag unter den Calvinisten in Holland, in: aaO., S. 236–238 (Bericht über die Jahrestagung der VU 1899 in Middelburg, die Kolfhaus besuchen konnte). Brief Wilhelm Kolfhaus an Kuyper, Radevormwald, 28. Juni 1897. RKZ 20 (1897), S. 222. Brief Wilhelm Kolfhaus an Kuyper, Radevormwald, 10. November 1896. Brief Wilhelm Kolfhaus an Kuyper, Radevormwald, 27. November 1896. – Das Werk war in der Theologischen Literaturzeitung (Reischle) und in der RKZ rezensiert worden. Vgl. Ulrichs, Kuyper, S. 113: Abraham Kuyper, Die Verwischung der Grenzen. Autorisierte Übersetzung von Wilhelm Kolfhaus, Leipzig 1898 (vgl. die Rezension von Josef Bernhard Rü-

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ohne dass Kuyper dadurch hierzulande breitenwirksam geworden wäre. Kolfhaus sah sich als „Mitstreiter“ Kuypers, wie er sich in den Briefen selbst bezeichnete, und er war wohl der beste zeitgenössische Kenner des Kuyperschen Werkes in Deutschland. Besonders durch seine spätere Kuyper-Biographie (s. u.) sollte er dann maßgeblich das deutsche Kuyper-Bild prägen – weit über seine eigene Zeit hinaus. Nicht selten waren die Charakterisierungen Kuypers durch Freunde und Feinde in ihrer Spiegelung nahezu identisch: Lobten die einen seine Entschiedenheit und Überzeugungskraft, mit der er eine schlaff gewordene Kirche zu Recht kritisierte und die logischen Konsequenzen daraus zu ziehen wusste, lehnten die anderen seine Schroffheit und seine Engherzigkeit ab. Konfessionelle Feinde Kuypers gab es in Deutschland nicht, wohl aber protestantische Publizisten und Professoren, die sich an der „volkskirchlichen“ Kritik gegen den „freikirchlichen“ Kuyper orientierten – kein Wunder, bildeten die volkskirchlichen Hervormden doch die weitaus größere kirchliche Gemeinschaft in den Niederlanden gegenüber den freikirchlichen Gereformeerden.44 Eine vergleichbare Separation wollte in Deutschland kaum jemand, vielen schien die Alternative „Freikirche“ zur Staatskirche gefährlich. Nicht untypisch dürften im ostfriesischen Coetus Ende des Jahrhunderts Bedenken laut geworden sein: „In einem Brief der Classis [muss heißen: des Coetus] von Ostfriesland … war die Angst vor Ihnen fast ergötzlich. Dies rührt einmal her aus dem fanatischen Festhalten vieler deutscher Theologen an der Staatskirche, dann aus absoluter Unwissenheit in Betreff der Geschichte der Doleantie.“45

Insgesamt waren dies also keine günstigen Voraussetzungen für die erste Edition der Stone Lectures in Deutschland. Die sechs Jahre nach dem Vortrag 1904 erschienene deutsche Fassung46 – sie ist über die erste Auflage nicht ling, in: Theologisches Literaturblatt 19 [1898], S. 364f.); Die zwölf Patriarchen. Biblische Charakterstudien, Leipzig 1899; Die Krisis in Südafrika. Ins Deutsche übersetzt von Wilhelm Kolfhaus in Rade, Berlin 1900; Evolutionismus. Das Dogma moderner Wissenschaft. Übersetzt von Wilhelm Kolfhaus, Leipzig 1901. 44 Insofern gab es überproportional viel Sympathie für die freikirchlichen Gereformeerden bei den staats- und landeskirchlichen Reformierten in Deutschland; das änderte sich, als die Hervormden um 1930 Karl Barth für sich – und gegen Kuyper – entdeckten. Vgl. Hans-Georg Ulrichs, „Das kirchliche Leben Hollands mit herzlicher Sympathie verfolgen“. Die reformierten Niederlande in der Wahrnehmung der deutschen Reformierten im 20. Jahrhundert, in: George Harinck/Hans-Georg Ulrichs (red.), Naaste verwanten/Nahe Verwandte. Het gereformeerde protestantisme in Nederland en Duitsland in de twintigste eeuw. Kenmerken, betrekkingen, verschillen, wisselwerkingen/Der reformierte Protestantismus in den Niederlanden und in Deutschland im 20. Jahrhundert. Signaturen, Beziehungen, Differenzen, Wechselwirkungen (ADChartasreeks 36 [Archief- en Dokumentatiecentrum Kampen]), Hilversum/NL 2020, S. 13–59. 45 So berichtet Wilhelm Kolfhaus Kuyper in einem Brief: Radevormwald, 28. Juni 1897. 46 Abraham Kuyper, Reformation wider Revolution. Sechs Vorlesungen über den Calvinismus.

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hinausgekommen – durch Martin und Samuel Jaeger stellte zeitgenössisch vielleicht eine brauchbare Übersetzung dar. Durch Versehen bei der Texterfassung und noch mehr bei der Übersetzung ist sie ohne Korrekturen heute nicht mehr überzeugend, zumal junge Menschen die Frakturschrift höchstens unter nicht unerheblichen Mühen entziffern können. Firmierten die amerikanisch-englischen Fassungen unter „Calvinism“ und die niederländischen unter „Het calvinisme“, wäre ein deutscher Titel „[Der] Calvinismus“ naheliegend gewesen. Der Titel „Reformation wider Revolution“ ist verkürzend und einseitig, pointiert aber die von Kuyper geforderte prinzipielle Entscheidung mit historischen Anspielungen.47 Und doch führt der von den deutschen Herausgebern gewählte Titel aufs Ganze gesehen auf eine falsche Spur, was bei den beiden Editoren nicht wundern kann: Sie sahen in Kuyper den Anti-Modernen und Anti-Liberalen – Samuel Jaeger (1864–1927) wurde erster Leiter der im Jahre 1905 eröffneten Kirchlichen Hochschule Bethel, einer dezidiert antimodernen Gründung.48 Teile dieser Übersetzung waren bereits in der Zeitschrift Reich Christi erschienen.49 Die Zeitschrift Das Reich Christi. Monatsschrift für Verständnis und Verkündigung des Evangeliums wurde von Johannes Lepsius (1858–1926) herausgegeben, der persönlich mit Kuyper bekannt war ; noch 1907 kam es mit Samuel Jaeger zusammen zu einer Begegnung zwischen Lepsius und Kuyper in den Niederlanden. In der angloamerikanischen oder deutschen Heiligungsbewegung, die Lepsius repräsentierte und in der auch Samuel Jaeger engagiert war, ist Kuyper sicher nicht gut zu verorten. Insofern ist die Verlagswahl nachteilig für die Rezeption Kuypers gewesen. Laut Vorwort von Samuel Jaeger besaß auch Pfarrer [Gustav] Holtey-Weber (Essen-Katernberg) ein Übersetzungsrecht für die Stone Lectures. Eine andere Übersetzung aus dem reformierten Bereich und eine Publikation etwa in Neukirchen durch Holtey oder auch durch Kolfhaus hätte Kuyper in Deutschland womöglich eine breitere Resonanz beschert. Die deutsche Übersetzung scheint nicht übermäßig rezensiert worden zu sein, die Auflagenhöhe ist nicht bekannt und in deutschen Bibliotheken ist der Band in nur wenigen Dutzenden vorhanden. Insofern scheint es doch etwas spekulativ zu sein, wenn der Calvinismus-Kenner Gerhard Menk meint, Kuypers Calvinismus-Vorlesungen hätten „durch eine Übersetzung … Aufsehen erregt[.]“.50

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Gehalten zu Princetown (!) von Dr. Abraham Kuyper. Übersetzt von Martin Jaeger, GroßLichterfelde 1904. – Vgl. Kuipers, Bibliography, aaO., 1904.22., S. 361f. – Eine Rezension von Martin Schulze, in: Theologische Literaturzeitung 29 (1908), S. 81–85. Ursprünglich war als Titel geplant: Der Calvinismus im Kampfe mit dem Modernismus. Vgl. Kuipers, Bibliography, aaO., S. 362. Samuel Jaeger gehört später in die Vorgeschichte der Gründung des Christlich-Sozialen Volksdienstes. Inwieweit er dort noch Kuyper‘sche Ideen mit eingetragen haben könnte, ist kaum zu zeigen. Im Jahrgang 1903: S. 6–9.49–59.180–203.256–267. Gerhard Menk, Streiflichter zur deutschen und internationalen Forschung über Kalvinismus

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Eine Verbindung Amerika-Deutschland-Kuyper verkörpert ein weiterer origineller reformierter Theologe: Aus den Jahren 1882 bis 1899 sind 15 Briefe von Nicolaus Martin Steffens (1839–1912) an Abraham Kuyper erhalten geblieben.51 Der in Emden geborene Steffens, 1863 von der reformierten Staatskirche zur altreformierten Freikirche konvertiert, war bereits 1872 in die USA ausgewandert. Steffens diskutierte mit Kuyper brieflich über die Freimaurer und die theologischen Entwicklungen in Europa und Amerika. Eine Zeitlang unterhielt er auch Beziehungen zu Kuypers Sohn Frederik, der einige Jahre in den USA weilte. Steffens war wohl auch an den Überlegungen zur Übersetzung der Stone Lectures ins Englische involviert. Mindestens eine Schrift Kuypers übersetzte er ins Deutsche – freilich für die deutschsprachigen Reformierten in Nordamerika.52 Auf völlig andere, nur prima vista überraschende Sympathien sei noch verwiesen, gerade auch im Zusammenhang mit den in den USA gehaltenen Stone Lectures. Man kann Amerika geradezu als Sehnsuchtsort für Kuyper beschreiben. Er ist 1898 mit großem Enthusiasmus dorthin gefahren53 und hat dafür nicht eben ungerne die „inhuldiging“ von Königin Wilhelmina (1880–1962) verpasst. Für deutsche Konservative und Nationalisten waren die USA nicht vorbildhaft, wohl aber für Freiheitsideologen, für Liberale. Auch Max Weber (1864–1920) war fasziniert von Amerika und reiste einige Jahre später als Kuyper dorthin, nämlich im Jahr 1904. Die so genannte WeberTroeltsch-These postulierte neben anderen Zuschreibungen auch eine – wenn auch unterdes wissenschaftlich eher falsifizierte – gewisse sachlogische Nähe zwischen Calvinismus/Presbyterianismus und Kapitalismus. Dabei wird – da der Begriff „Kapitalismus“ aktuell in der Regel kritisch konnotiert ist und er nicht als die freiheitliche Form des Wirtschaftens verstanden wird – oft übersehen, wie der Calvinismus gerade auch in diesem liberalen Entwurf als modern beschrieben wird, wie im übrigen auch die liberale Demokratie westlichen Zuschnitts, für die um 1900 vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika standen, und deren Regierungssystem im feudalen Obrigkeitsstaat des deutschen Kaiserreichs bei Regierenden und traditionellen Eliten kaum auf Sympathie stoßen konnte. Amerika war also der Freiheitsraum für Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Religion. Drei Jahre nach der Amerika-Reise und Puritanismus, in: ders., Zwischen Kanzel und Katheder. Protestantische Pfarrer- und Professorenprofile zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Aufsätze, Marburg 2011, S. 50–78, hier: S. 72f. – Zeitgleich zu diesem Band erscheint ebenfalls bei Vandenhoeck & Ruprecht eine Neu-Edition der Stone Lectures u.d.T. Calvinismus. 51 Diese sind 2013 englisch publiziert worden; nun im Erscheinen begriffen: George Harinck, „Wir leben gegenwärtig unter dem abnehmenden Mond“. Nicolaus Martin Steffens als Leiter in den Übergangsjahren (1878–1895) der Reformed Church im Westen Michigans, Münster 2021. 52 Die Fleischwerdung des Worts, von Dr. A. Kuyper. Vom Verfasser autorisierte Übersetzung nebst Vorwort von N.M. Steffens, D.D., Dubuque, IA, 1903. 53 George Harinck, Varia Americana. In het spoor van Abraham Kuyper door de Verenigde Staten, Amsterdam 2016.

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besuchte Weber 1907 die Niederlande – da hatte Kuyper seinen Zenit schon überschritten und war mit der Reise um das Mittelmeer beschäftigt. Weber wird Ideen Kuypers doch wohl schon vorher kennen gelernt haben, aber seit 1907 war er ihm sicher ein Begriff, auch durch eigene Lektüre.54 Er galt ihm nicht zuletzt als jemand, der die Kirche als bloße „Gnadenanstalt“ ablehnte, sondern in den Gemeindegliedern „religiös Qualifizierte“ sah und deshalb eher den „Sektentypus“ von Kirche vertrat.55 Ernst Troeltsch (1865–1923), der Weber teilweise in Amerika 1904 begleitet hatte, hat in seinen „Soziallehren“ 1912 angemerkt, dass er Kuypers Stone Lectures56 zwar „als Buch eines Dogmatikers und Politikers“ für „höchst lehrreich“ und „glänzend ausgeführt“ hielt, es „als historische Leistung dagegen sehr irreführend“ fand.57 Troeltsch nimmt die dynamische Fortschreibung des Calvinismus bei Kuyper wahr, kritisiert sie nicht grundsätzlich, kann dieses „Manifest des modernen Calvinismus“58 aber auch – ironisch? – als „amerikanisierte[n] Neucalvinismus“ bezeichnen.59 Troeltsch hat auch die grundsätzlichen Unterschiede der Vorstellungen eines christlichen Staates im deutschen Luthertum – unter Nennung Stahls und Bismarcks – und im angelsächsischen Calvinismus gerade auch in der Interpretation Kuypers betont.60 So war ihm Kuyper ein „moderne[r] Calvinist[.]“61 Diese Charakterisierung könnte Kuyper gefallen haben, jedenfalls schickte er Troeltsch sein letztes großes Werk, die Antirevolutionaire Staatkunde. Troeltsch bedankte sich im November 1916 für die Zusendung, freute sich nach eigenen Worten auf die Lektüre dieses Werkes „eines Mannes, dem ich bei aller Verschiedenheit des Standpunktes bisher schon so reiche Belehrung verdanke.“62 Neben direkten Korrespondenzen nimmt Kuyper durchaus auch divergente „Stimmungen“ aus Deutschland und dem deutschsprachigen Gebiet zum Ende des Jahrhunderts auf, auch in den Stone Lectures: Obwohl sich große wirtschaftliche und wissenschaftliche Fortschritte abzeichneten, gäbe es 54 Vgl. die editorischen Hinweise in Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus/Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904–1920, hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube (Max Weber Gesamtausgabe 18), Tübingen 2016, S. 76 mit Anm. 74; S. 96. 55 Vgl. Weber, Die protestantischen Sekten, S. 515–517. – Hier wird neben Kuyper wieder Stoecker genannt, der wohl weg von einer nur nominellen Staatskirche hin zu einer bewussten Volkskirche mit presbyterial-synodaler Ordnung wollte. 56 Bezüge in Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften 1), Tübingen 31923, S. 703.731f.738f. 57 AaO., S. 607, in Anm. 309. Vgl. auch Arie L. Molendijk, Abraham Kuyper. Theoretiker der Moderne, in: Alf Christophersen/Friedemann Voigt (Hgg.), Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II., München 2009 (Festschrift für Friedrich Wilhelm Graf zum 60. Geburtstag), S. 116–129.294f., hier: S. 129. 58 Troeltsch, Soziallehren, aaO., S. 732. 59 AaO., S. 771, in Anm. 418. 60 Vgl. aaO., S. 769–773. 61 AaO., S. 738. – Zur Perspektive Troeltschs vgl. den Beitrag von Martin Laube in diesem Band. 62 Brief Ernst Troeltsch an Kuyper, Berlin, 12. November 1916.

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durchaus berechtigten Pessimismus, beispielhaft repräsentiert bei Friedrich Nietzsche (1844–1900).63 Oder Kuyper setzt sich mit weithin rezipierter popularisierter Wissenschaft auseinander wie mit den Ideen Ernst Haeckels (1834–1919). Die wahrnehmbare Dekadenz des fin de siHcle sei ein Krisenzeichen, wofür gerade auch deutsche Denker stünden. Kuyper nimmt politische Trends aus Deutschland wahr : etwa eine staatliche Übermacht mit ideologischer Diktatur. So kritisiert Kuyper retrospektiv – neben der „Revolution“ ist ihm in den Stone Lectures ein deutscher Pantheismus mit seiner Staatsverherrlichung, womit Hegel gemeint ist, der zweite große ideologische Gegner – und es klingt doch wie eine Warnung vor den kommenden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts: „Der Staat darf keine Wucherpflanze sein, die alles Leben aufsaugt.“ (S. 89) Wenn der Mensch nicht relativiert, nämlich in Bezug auf Gottes Souveränität verstanden werde, und er nicht politisch-gesellschaftlich handle, dann „kommt … ein soziales und politisches Leben auf, in dem der Parlamentarismus geschwächt ist, der Ruf nach einem Diktator stets lauter hörbar wird“ (S. 177). Zu solchen diktatorischen Phänomenen gehörte laut Kuyper bereits der zeitgenössische Imperialismus, also das Streben nach Herrschaft über Teile der Welt, der staatliche „Hunger nach Machtausbreitung“: Es sei ruinöses Unterfangen, „sich zu See und zu Land von Kopf bis Fuß zu waffnen“ (S. 177). Das werden die Imperialisten in Europa – auch jene in Deutschland – nicht gerne gelesen haben. Manche (außen-)politischen Beurteilungen Kuypers waren umstritten, sind aber zu erklären. Seine Sympathien für Deutschland während des Ersten Weltkrieges, in dem die Niederlande „neutral“ waren64, blieben nicht unumstritten, auch seine Reisen und Kuraufenthalte in Deutschland der letzten Lebensjahre nicht.65 Am Abend des 18. April 1916 folgte Kuyper einer Einladung des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921) zu Gespräch und Essen im kleinsten Kreis: „Für vollste Diskretion ist selbstverständlich Sorge getragen.“66 Von Bethmann Hollweg suchte in dieser Zeit nach Möglichkeiten eines Verständigungsfriedens, bis er im Juli 1917 von Hardlinern abgelöst wurde. Kuyper publizierte seine Sympathien für

63 Ob Kuyper ungebrochen positiv von Nietzsche beeindruckt ist, wie Molendijk zu meinen scheint (ders., Kuyper, aaO., S. 127)? Hat er diesen nicht vielmehr als kongenialen Interpreten einer gefährdeten Gegenwart verstanden und insofern durchaus ambivalent ,gewürdigt‘? Vgl. Kuypers Auseinandersetzung mit Nietzsche in: Kuyper, Verwischung der Grenzen, aaO. (niederländisches Original: De verflauwing der grenzen. Rede bij de overdracht van het rectoraat aan de Vrije Universiteit op 20 October 1892 gehouden door Dr. A. Kuyper, Amsterdam 1892). Vgl. Koch, Kuyper, S. 416–418. 64 George Harinck, „Die kleine Frucht einer sehr großen Erwartung“. Die protestantischen Kirchen in den Niederlanden und ihre Bemühungen um gesellschaftliche Verantwortung im Ersten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, hg. von Hans-Georg Ulrichs in Verbindung mit Veronika Albrecht-Birkner (FRTh 3), Neukirchen-Vluyn 2014, S. 272–298. 65 Vgl. auch Koch, Kuyper, S. 552–554. 66 Brief des Reichskanzlers des Deutschen Reiches an Kuyper, Berlin, 18. April 1916.

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Deutschland – in Deutschland67, aber auch in den Niederlanden68, wo er dafür heftig kritisiert wurde. 1917 übersandte Kaiser Wilhelm II. dem ehemaligen Ministerpräsidenten Kuyper zum 80. Geburtstag einen Blumenstrauß. Kuypers hier aufblitzende pro-deutsche Haltung ist wohl zu erklären mit seiner kritischen Haltung einerseits England gegenüber, die neben seinen Bedenken über den englischen Imperialismus69 auf Grund des Burenkrieges und der englischen Gräuel in Südafrika entstanden war70, andererseits Frankreich gegenüber, weil er in diesem Mutterland der Aufklärung einen moralischen Verfall während des 19. Jahrhundert konstatierte und schließlich die Kirche ab 1905 aus dem Staat heraus gedrängt sah. Möglicherweise verleiteten ihn seine Sympathien für Deutschland auch dazu, eine entschlossene Kritik an die mit Deutschland koalierende Türkei wegen des Armenier-Genozids abzulehnen, obwohl er noch in den Stone Lectures für die ArmenierMorde Mitte der 90er Jahre klare Worte gewählt hatte. 1899 hatte Kuyper gar „der Amsterdamer internationalen Konferenz in Sachen der Armeniermorde“ präsidiert.71 Auch Lepsius konnte ihn – anders als Liberale – während seines Aufenthaltes in den Niederlanden nicht überzeugen und umstimmen.72 Zwei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg starb Kuyper am 8. November 1920. Seine Beerdigung geriet zu einer Demonstration seiner außerordentlichen Bedeutung für Kirche, Staat und Öffentlichkeit. Kuypers Kontexte unterschieden sich von deutschen Verhältnissen. Er nahm wie viele seiner Zeitgenossen die deutschen Diskurse wahr, baute aber keine intensiven Kontakte auf. Der gelegentlich genannte Friedrich Julius Stahl (1802–1861) war schon tot, als Kuyper politisch auftrat. Er spielt als Korrespondenzpartner Guillaume Groen van Prinsterers (1801–1876), dem Begründer der niederländischen Antirevolutionären, eine Rolle, aber nicht bei Kuyper73, der in jüngeren Jahren gerade auch die Unterschiede zu Stahl be67 Die Niederlande. Von Staatsminister a.D. Dr. Abraham Kuyper, ehemaligem Königlich Niederländischen Ministerpräsidenten, in: Die Woche 18 (1916), Nr. 52, 23. Dezember 1916, S. 1821–1825. 68 Vgl. sein Editorial Pro Duitsch, in: De Standaard, Nr. 13959, 13. Oktober 1917. 69 Vgl. Koch, Kuyper, S. 553. 70 Vgl. Kuyper, Krisis in Südafrika, aaO. (das französische Original war ebenfalls 1900 erschienen). – Vgl. Chris A.J. van Koppen, De Geuzen van de Negentiende Eeuw. Abraham Kuyper en ZuidAfrika, Maarssen 1992; vgl. auch den Beitrag von Christine Lienemann-Perrin in diesem Band. 71 August Schowalter, Art. Kuyper, Abraham, in: RGG III (1912), S. 1910–1912, hier: S. 1911. 72 Kuyper habe „aufgrund seiner pro-deutschen Position“ Lepsius‘ „proarmenische Arbeit öffentlich“ verraten, so Hermann Goltz/Axel Meissner, Deutschland, Armenien und die Türkei 1895–1925. Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Teil 3: Thematisches Lexikon zu Personen, Institutionen, Orten, Ereignissen, München 2004, S. 303. Vgl. die beiden Briefe Lepsius‘ an Kuyper vom 20. September 1917 und 12. Oktober 1917. 73 Auch Otto Weber behauptet, dass „Kuyper … durch die Vermittlung von Groen van Prinsterer ohne Frage durch Julius Stahl beeinflußt“ sei – und legt damit eine falsche Fährte. Vgl. Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik. Erster Band, Neukirchen-Vluyn (1955) 51977, S. 171, Anm. 4.

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tonte, wenn er auf ihn rekurrierte.74 Gesinnungsgenossen sah Groen van Prinsterer in Stahl und seinen Anhängern, wie etwa auch in Ernst Ludwig von Gerlach (1795–1877). Auch Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) gehört zu Groen, nicht jedoch zu Kuyper. Sie mögen allesamt gegen den Liberalismus und für einen christlichen Staat gestritten haben, taten dies aber anders als Kuyper nicht mit einem emanzipatorischen Impetus – sie wollten keine plurale Demokratie des Rechts, sondern einen nicht-demokratischen nationalen Machtstaat. Kuyper nahm die Unterschiede wahr und pointierte auch später noch: „Van Stahl was ,antirevolutionair‘, maar op zijn Duitsch.“75 Vollends wird der Unterschied deutlich zu Stoecker, mit dem Kuyper nur früh Kontakt hatte und nur über das gemeinsame Thema eines sozialen und christlichen Protestantismus. Stoeckers Irrwege erkannte Kuyper früh und so beschleunigte Stoecker sogar Kuypers „Abschied“ von Deutschland. Kuyper identifizierte den Grund der basalen und nicht aufzuhebenden Differenzen in der konfessionellen Matrix: Er, Kuyper, war nun einmal calvinistisch-niederländisch und deshalb für Freiheit von unten nach oben, die anderen Genannten waren lutherisch-deutsch und darum obrigkeitsstaatlich.76 Die deutsche Machtpolitik eines Bismarck77 oder Kaiser Wilhelms II. nahm Kuyper mit Sorge zur Kenntnis. Insgesamt darf wohl geurteilt werden, dass Deutschland nicht den prägendsten Referenzrahmen für Kuyper darstellte, wenn es auch nicht unbedeutend war. Kuyper konnte keine Heimstatt in Deutschland finden. Aber das lag nicht an Kuyper, sondern an den Deutschen, die jeweils nur mit ihren eigenen Interessen Kontakt zu Kuyper suchten. Es ist nie zu spät für eine Re-Vision, die die Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhunderts aber verhindert hat. So setzte sich das Nicht-Verstehen auch über den Tod Kuypers fort.

74 Abraham Kuyper, Het Calvinisme oorsprong en waarborg onzer Constitutioneele Vrijheden, tweede druk, Amsterdam 1874, S. 12, online www.sources.neocalvism.org: Stahl sei antirevolutionär, aber betone bei der konstitutionellen Monarchie vor allem die Monarchie, stünde in der lutherischen Tradition und hätte selbst betont, dass die Calvinisten zum Republikanischen neigten, außerdem bestünden unterschiedliche Staatsrechtslehren in Deutschland und Holland, so dass man also Stahl nicht rezipieren könne. 75 Abraham Kuyper, Antirevolutionair, in: De Standaard, 7. Juni 1894, zitiert nach Koch, Kuyper, aaO., S. 390. 76 Eine größere Nähe müsste zu Reformierten in der Schweiz nachzuzeichnen sein, wahrscheinlich weniger zu den staatskirchlich-Zürcher Zwinglianern als zu den Calvinisten, später besonders zu den Jungreformierten, s. u. 77 Kolfhaus, Kuyper, aaO., S. 46.59.142 (sehr kritisch zu Bismarck: S. 112). Auch wird Kuyper wohl nicht derart „militaristisch“ aufgetreten sein, wie Kolfhaus es beschreibt: aaO., S. 124f.

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2. Wahrnehmungen Kuypers und seines „Erbes“ in Deutschland nach 1920 Die Chancen, produktiv mit einem solchen Entwurf weiterzudenken, hat man in Deutschland liegen lassen oder gar nicht erst beginnen können, weil die „Rezeption“ Kuypers hier nicht zuletzt wegen der Vorherrschaft der Theologie Karl Barths unbefriedigend blieb und man die post festum negativ empfundene Wirkungsgeschichte zunächst marginal, in den politisierten 70er und 80er Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts dann umso befriedigender wahrnahm, konnte man Kuyper so doch rasch als theologischen Gegner identifizieren, da er anti-modern, anti-liberal und anti-aufgeklärt gewesen sei – mit schlimmen Folgen, habe er doch nicht nur für die – heute eher relativierte – Versäulung der niederländischen Gesellschaft, sondern auch als Ideengeber für – freilich nur – wenige niederländische Nationalsozialisten und für die südafrikanische Apartheid gestanden. Kuyper ist zudem mit seinen deutschen Freunden und Rezipienten nicht eben gut gefahren: Sie haben ihn verkürzt und kontextuell falsch verstanden und waren weit entfernt von seinem Genie. Der wohl wichtigste Parteimann Kuypers in Deutschland auch nach dessen Tod war der bereits genannte westfälische Pfarrer Wilhelm Kolfhaus, bekannt als Publizist innerhalb des reformierten Protestantismus, besonders auch wirksam in der Reformierten Kirchenzeitung und durch eigenständige Publikationen und Forschungsbeiträge, nicht zuletzt über Johannes Calvin und Karl Barth, den er bis zum Ende seiner Tätigkeit in Deutschland (1935) öffentlich verteidigte. Kolfhaus, schon in jungen Jahren auf Kuyper aufmerksam geworden (s. o.), schrieb zahlreiche Artikel über seinen Helden, von denen nicht weniges auch in seine Kuyper-Biographie von 192478 einfloss – bislang die einzige im deutschsprachigen Raum. Nicht unerwähnt seien einige kleinere Broschüren, die Kolfhaus nach Kuypers Tod edierte.79 Nun hat gerade Kolfhaus den ihm auch persönlich bekannten Kuyper mit dessen niederländischen Kontexten durch Verkürzungen missverstanden und durch die Einzeichnung in deutsche Verhältnisse mindestens verzeichnet: Wenn Kuyper von „Volk“ oder von „national“ redet, kann er nicht den nationalprotestan78 Wilhelm Kolfhaus, Dr. Abraham Kuyper 1837–1920. Ein Lebensbild, Elberfeld 1924, 21925. Über Kolfhaus vgl. Kuipers, Bibliography, aaO., 1897.09, S. 276. – Für die Kuyper-Biographie erhielt Kolfhaus 1924 einen theologischen Ehrendoktor von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Unumstritten war diese Biographie allerdings nicht: vgl. die Rezensionen von Pfr. Bonn (Elberfeld), in: RKZ 74 (1924), S. 238f.; Adolf Lauffs, Dr. Abraham Kuyper. Zur freundlichen Auseinandersetzung mit D. Wilhelm Kolfhaus, in: aaO., S. 245f. 79 Abraham Kuyper, Die Kirche Jesu Christi. Worte aus Reden und Schriften, mit einer Einleitung hg. von Wilhelm Kolfhaus, Berlin 1926; Wilhelm Kolfhaus, Um die Zukunft des Volkes. Ein Blatt aus dem Lebensbuch Dr. Abraham Kuypers, Barmen 1927; ders., Christusbekenntnis und Politik, Elberfeld 1933.

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tischen Volksbegriff meinen, den Kolfhaus im Kontext des deutschen Protestantismus im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verwendet.80 Kolfhaus hat weder gesellschaftlich noch sprachlich einen wichtigen Unterschied zwischen Deutschland und den Niederlanden verstanden: „In den Niederlanden besaß die Religion die Funktion, die in Deutschland der Nationalismus erfüllte. Sie lieferte … jenes alle anderen zurückdrängende Identitätsmuster, für das in Deutschland das Nationalbewußtsein sorgte.“81

Der politische Protestantismus in Deutschland, dem Kolfhaus nahestand, war nationalistisch, der politische Protestantismus in den Niederlanden dagegen konfessionalistisch. Kuypers Engagement für eine Mitgestaltung einer demokratischen Gesellschaft82 – die Kolfhaus dann auch noch nahezu negiert83 – ist etwas ganz anderes, nämlich durchaus etwas Emanzipatorisches, den Pluralismus bejahend, als wenn Kolfhaus erst nach (!) 1918 rückwärtsgewandt gegen staatliche Maßnahmen und Gesetze in der von ihm ohnehin abgelehnten Demokratie der Weimarer Republik opponiert. Manche Parallelen zu deutschen Personen scheinen doch eher von Kolfhaus‘ Haltung und weniger von der Kuypers bestimmt zu sein, etwa bei Stoecker, Stahl und bei Bismarck. Sogar Kolfhaus kann es nicht dabei belassen, in Kuyper den AntiLiberalen zu sehen, sondern sieht, wie dieser gerade auch mit den Stone Lectures „mitten im modernen Leben“ steht84, er „das Erbe der Reformation … mit den wirklichen Errungenschaften des modernen Lebens in Beziehung zu bringen“ bestrebt ist85, keine Repristination anstrebt, sondern „das Erbe der Väter in neuem Licht erglänzen zu lassen“ versucht86, um eine „Annäherung an das moderne Denken“ herzustellen, selbst wenn dieses eine „grundsätzlich verschiedene[.] Zielsetzung“ aufweist.87 „Kuyper … und seine 80 Das ist umso irritierender, als Kolfhaus selbst zitieren muss, dass Gottes „Volk“ nichts mit „Nation“ zu tun habe, vgl. Kolfhaus, Kuyper, aaO., S. 205. 81 So Hermann von der Dunk (1986), zitiert nach Horst Lademacher, Vrijheidsstreven – democratie – emancipatie. Enkele opmerkingen over de grondslagen van de politieke cultuur in Nederland en Duitsland, in: Jürgen C. Hess/Friso Wielenga (Hgg.), Duitsland en de democratie 1871–1990, Meppel/Amsterdam 1992, S. 221–237, hier: S. 225. 82 Vgl. Lademacher, Vrijheidsstreven, aaO., S. 227. 83 Kolfhaus, Kuyper, aaO., S. 120, behauptet, Kuyper habe gemeint, Ziel der parlamentarischen Arbeit sei nicht die Befestigung einer Regierung, sondern die „Ausbreitung des Volkseinflusses auf die Obrigkeit“. Eine Diffamierung von Demokratie findet sich aaO., S. 127: „Herrschaft einer Klasse über alle anderen“; vgl. auch aaO., S. 135: „zu vermeidende demokratische Klippen“. Für Kuyper schien (!) nicht „die demokratische Regierungsform die für ein freies Volk angemessenste zu sein“ (S. 135f.), sie war sie ihm ganz zweifellos, gerade weil er darauf bestand, dass die Regierung die Souveränität in den eigenen Kreisen und die der Sphären zu respektieren habe, sich also zurücknähme. Eine absolute, absolutistische weltliche Macht kann und darf es nicht geben. 84 Kolfhaus, Kuyper, aaO., S. 174. 85 AaO., S. 175. 86 AaO., S. 186. 87 AaO., S. 187, vgl. auch S. 188.

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Kampfgenossen waren voll Begeisterung dem modernen Leben zugewandt“.88 Kuyper politisch und weltanschaulich einfach den Konservativen zuzuschlagen, erscheint unzutreffend – jedenfalls in zeitgenössischen deutschen Kontexten. Ideengeschichtlich und in vergleichender europäischer Perspektive mag dies möglicherweise angehen. Neben eigenen Eindrücken, die Karl Barth durch Besuche in den Niederlanden89 und durch niederländische Korrespondenzpartner empfing, dürfte seine Haltung gegenüber Kuyper und dessen Erbe von Kolfhaus und dem gleich aufzurufenden Theodorus Lambertus Haitjema geprägt sein. „Das Zurückblicken auf eine normative Vergangenheit ist“, so Barth zu Beginn seiner Lehrtätigkeit in Göttingen im Hinblick auf Kuyper und seine Anhänger, „auf Ganze gesehen, nicht reformierte Art.“90 Wohl auch wegen seiner Vorliebe für kantige Typen wollte Barth dennoch zunächst beim „Geschrei über Kuyper … nicht mit[machen]“, sondern hielt ihn und dessen Nachfolger Herman Bavinck91 (1854–1921) für „Theologen, die jedenfalls Stil hatten.“92 Barths Freund Eduard Thurneysen hatte einen zwiespältigen Leseeindruck von Kolfhaus‘ Kuyper-Buch: Er „fand es als Biographie eigentlich nicht gut – der Mann dahinter hatte sicher mehr Ecken, als es hier erscheint. Man erfährt über seine ,Lehre‘ eigentlich wenig (hatte er keine wirkliche?), und den ,frommen Mann‘ glaubt man nicht so ganz … Eine verborgene Tragik dahinter ahnt man auch durch Kolfhaus hindurch“.93

Später bezeichnete Thurneysen das Buch als „unkritisch und unbrauchbar“.94 Thurneysen las in den Tagen von Barths erster Holland-Reise Kuypers Stone Lectures in deutscher Übersetzung „mit starken Bedenken und ohne viel Zustimmung. Offenbar hast du [sc. Barth] auch gerade nicht mit den Kuyperkreisen wirklich erfreuliche holländische Erfahrungen gemacht.“95 Wie verkürzt oder simplifiziert Kolfhaus zu Werke ging, erhellt aus einem ins Englische übersetzten Aufsatz des Jahres 1930, in dem Kolfhaus Kuyper als 88 AaO., S. 208. 89 Vgl. den wunderbaren Rundbrief Barths an seine Freunde, 4. Juni 1926, in dem er über seine erste Hollandreise berichtet, in: Barth/Thurneysen, Briefwechsel 1921–1930, aaO., S. 413–421. 90 Karl Barth, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1923, hg. von der Karl Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (GA 30), Zürich 1998, S. 45. – Obwohl 1923 Kolfhaus‘ Kuyper-Biographie noch nicht erschienen war, hatte er bereits durch die ihr zu Grunde liegenden Aufsätze in der RKZ maßgeblich das seinerzeitige Bild Kuypers geprägt. 91 Auch Herman Bavinck findet aktuell wieder mehr Beachtung, vgl. etwa James Eglinton, Bavinck. A critical biography, Grand Rapids 2020. 92 Karl Barth, Rundbrief, 18. Mai 1924, in: Karl Barth/Eduard Thurneysen, Briefwechsel, Band 2: 1921–1930, bearbeitet und herausgegeben von Eduard Thurneysen, Zürich 1974 S. 250–256, hier: S. 255. 93 Brief Eduard Thurneysen an Karl Barth, 17. Oktober 1924, in: aaO., S. 278f., hier: S. 279. 94 Brief Eduard Thurneysen an Karl Barth, 7. Juni 1927, in: aaO., S. 502–506, hier: S. 506. 95 Brief Thurneysens an Barth, 9. Juli 1926, in: aaO., S. 426–428, hier: S. 427.

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einen Vorgänger der aktuellen Theologie von Karl Barth und Emil Brunner sah, der manche Aspekte der Dialektischen Theologie antizipiert habe; dafür verweist Kolfhaus auf eine vermeintlich reradikalisierte, nicht mehr liberaltheologische Bibelhermeneutik der damals ,jungen Wilden‘ in der deutschsprachigen Theologie.96 Eine gewisse Wertschätzung erfuhr Kuyper bei den deutschsprachigen Jungreformierten in der Schweiz, die in Deutschland durchaus wahrgenommen wurden.97 Deren Repräsentant Rudolf Grob bezeichnete Kuyper als „unstreitig … grösste[n] Theologe[n] des letzten [sc. 19.] Jahrhunderts“.98 Dass die Schweizer Jungreformierten, die Barth als „widerwärtig“ bezeichnen konnte, Sympathien für Kuyper äußerten, ließ den Niederländer für ihn gewiss noch weniger annehmbar erscheinen.99 Barth – zumal der junge – reagierte ablehnend, wenn Theologen meinten, eine christliche „Weltanschauung“ konstruieren zu können; genau das war allerdings Kuypers Anliegen gewesen. – Eine Geschichte der Jungreformierten in Deutschland ist bislang nicht geschrieben worden; ihr vielleicht wichtigster Vertreter war Otto Weber, der allerdings kaum auf Kuyper rekurrierte (s. u.). Die kurzen Artikel in den Auflagen der RGG und der (T)RE hielten Kuyper in Deutschland während des 20. Jahrhunderts nur marginal in Erinnerung; 96 Wilhelm Kolfhaus, The Significance of Dr. Abraham Kuyper for Reformed Theology, in: Evangelical Quarterly. An international review of Bible and theology in defence of the historic Christian faith 2 (1930), S. 302–312, hier : S. 305f. 97 Vgl. Eberhard Busch, Reformed Theology in Continental Europe, in: Paul T. Nimmo/David A.S. Fergusson (Hgg.), The Cambridge Companion to Reformed Theology, Cambridge 2016, S. 230–247, hier : S. 236. Busch postuliert ohne Belege, dass das Aufkommen der jungreformierten Bewegung auf Kuypers Einfluss zurückgehe. Durchaus verkürzt wird Kuyper hier charakterisiert als ein „conservative pastor who fought first against the liberals, and then against the socialists.“ 98 Vgl. Peter Aerne, Religiöse Sozialisten, Jungreformierte und Feldprediger. Konfrontationen im Schweizer Protestantismus 1920–1950, Zürich 2006, S. 42. Kuyper und sein Erbe waren oft Thema in der Zeitschrift Reformierte Schweizer Zeitung, vgl. aaO., S. 370, Anm. 84. – Wahrscheinlich die allererste deutschsprachige Schrift Kuypers war in der Schweiz erschienen: Abraham Kuyper, Die moderne Theologie des Modernismus. Eine Fata Morgana auf christlichem Gebiet. Aus dem Holländischen übersetzt als Gegenstück zu unsern Schweizerischen Zuständen. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Christoph Johannes Riggenbach, Zürich 1872 (niederländisches Original 1871). 99 Vgl. Aerne, Religiöse Sozialisten, aaO., S. 53. – Möglicherweise wirkte das Kuyper-Bild der Jungreformierten noch negativ bis in die Abschiedsvorlesung des Schweizer Kirchenhistorikers Hans Scholl, der an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal lehrte (Hans Scholl, Von der Reformation zur Revolution – Die beiden Genfer J. Calvin und J.-J. Rousseau vor der Frage nach sozialer Gerechtigkeit, in: ders., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, S. 135–158.). Scholl kann Kuyper unter „romantisch-konservative[.] Kräfte im 19. Jahrhundert“ subsummieren (S. 157); er sieht nicht, dass Kuyper nicht einfach Aufklärung und Revolution ablehnt, sondern auf deren Ambivalenzen hinweist. Dagegen werden dann Philippus Jacobus Hoedemaker und ausgerechnet Theodorus L. Haitjema aufgerufen (vgl. S. 140–142). Letzterer half mit, dass die reformierte Kirchenleitung in Aurich mit theologisch gutem Gewissen sich nicht der Bekennenden Kirche anschließen zu müssen meinte.

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zudem sind sie zumeist von Niederländern100 verfasst und boten also keine deutsche Wahrnehmung. In Deutschland wirksam gewordene niederländische Perspektiven bot Theodorus L. Haitjema (1888–1972), der einen in der von Karl Barth u. a. herausgegebenen Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ publizierten Bonner Vortrag von 1931 zur Abrechnung mit Kuyper aus barthianischer Position nutzte.101 Haitjema, nach Selbstauskunft „ein Gegner Kuypers“102, stilisierte diesen zwar zu einem Heroen mit durchaus guten theologischen Verbindungen – etwa zu Hermann Friedrich Kohlbrügge103 –, wirft ihm dann aber sein „starke[s] Verlangen für die moderne, westeuropäische Kulturwelt“ vor, die ihn auch hinsichtlich seiner Calvin-Rezeption dazu verführe, „daß er alles von Grund auf zu transponieren haben würde, weil er ein moderner Kulturmensch war und Calvin an der antiken, mittelalterlichen Kultur mit allen Zeitgenossen im Reformationszeitalter noch teilhatte.“104 Kuyper sei eigentlich mehr an Kulturphilosophie als an biblischer Theologie interessiert105 und trotz aller Kritik „selbst vom Humanismus infiziert.“106 In Haitjemas Ablehnung Kuypers stecken richtige Beobachtungen, die man jedoch anders als Haitjema selbst durchaus positiv verstehen kann. Als es im Jahr 1932 in der Reformierten Kirchenzeitung zu einer breiteren Diskussion über die Ordination von Frauen kam und Kolfhaus diese mit Verweis auf den Gehorsam gegenüber Bibel und Tradition vehement ablehnte, schrieb Barth einen offenen Brief an den Schriftleiter Kolfhaus und fragte kritisch nach, woher dieser eine solche Vollmacht nähme, nun ausgerechnet in dieser Frage so klar zu sehen, was die den christlichen Gehorsam erheischende göttliche Position wohl sei. Und nicht von ungefähr assoziiert Barth mit die100 Eine interessante Ausnahme stellt die erste Auflage der RGG dar, vgl. Anm. 71. August Schowalter (1870–1940), damals noch Pfarrer in der Pfalz, war als Bernardinum-Stipendiat nach Utrecht gekommen und hatte dort wahrscheinlich Kuyper wahrgenommen. – Später war Schowalter Superintendent in Berlin-Brandenburg und ein tapferer Streiter gegen den Nationalsozialismus. 101 Theodorus L. Haitjema, Abraham Kuyper und die Theologie des holländischen Neucalvinismus, in: Zwischen den Zeiten 9 (1931), S. 331–354. – Susanne Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden. Teil 1: Theologische, kulturelle und politische Rezeptionen (1919–1960) (FSÖkTh 142), Göttingen 2014, legt passim dar, wie reformierte Konfessionalisten in den 20er/ 30er Jahren ihre Barth-Rezeption auch dazu nutzten, die altreformierten Kuyperianer zu attackieren; vgl. etwa Theodorus L. Haitjema, Karl Barths „kritische“ Theologie, deutsche Ausgabe besorgt von Peter Schumacher, Wageningen 1926 (nl.: Karl Barth, Wageningen 1926) (Rezension von Wilhelm Kolfhaus, in: RKZ 76 [1926], S. 160); ders., Der Kampf des holländischen Neu-Calvinismus gegen die dialektische Theologie, in: Ernst Wolf (Hg.), Theologische Aufsätze. Karl Barth zum 50. Geburtstag, München 1936, S. 571–589; Gerrit C. Berkouwer, Karl Barth, Kampen 1936. 102 Haitjema, Kuyper, aaO., S. 353. 103 Haitjema, Kuyper, aaO., S. 338. 104 Haitjema, Kuyper, aaO., S. 340. 105 Haitjema, Kuyper, aaO., S. 340f.344.350. 106 Haitjema, Kuyper, aaO., S. 354. Der nächste Satz: „Und die späteren Verehrer Kuypers noch mehr.“

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sem Kolfhaus-Votum einen Calvinismus, der „in bezug auf … Gehorsam und Ungehorsam gegen Gott aufs genaueste Bescheid zu sagen [in der Lage ist]“. „Ich seufze nicht selten über diesen Calvinismus, wenn ich die Reformierte Kirchenzeitung lese … der Weg Kuypers [ist] nicht der meinige“.107 Kuyper ist für Barth nach dem Bilde Kolfhaus’ geschaffen.108 Der Kirchenkampf hat sowohl auf Seiten der Deutschen Christen als auch auf Seiten der von Barth geprägten Bekennenden Kirche antiliberale Haltungen aktiviert. Auf Kuyperianischer Seite gab es gelegentlich Sympathien für „die Deutschen“, niederländische Nationalsozialisten – allerdings nur sehr wenige – meinten, sich auf Kuypers Idee der Souveränität im eigenen Kreis und auf das „Antirevolutionäre“ berufen zu können. Auch ein reformierter deutscher Nationalsozialist, Otto Weber (1902–1966)109, hatte seinen Antiliberalismus weniger vom Nationalsozialismus als vielmehr von antiliberalen Traditionen innerhalb des Reformiertentums und dabei möglicherweise auch aus Kuyper-Kontexten110, womit er allerdings Kuyper selbst kontextlos missverstand. Wie gut hat nun ausgerechnet der erzlutherische Göttinger Kirchenhistoriker Hans-Walter Krumwiede (1921–2007) die Verhältnisse verstanden, dass er nicht den konservativen und machtaffinen Otto Weber in seinen Kohlbrügge-Kontexten oder die Auricher Kirchenleitung mit dem respektablen Theologen Walter Hollweg (1883–1974) an der Spitze als Nachfolger Kuypers sah, sondern den von der Gestapo verfolgten Friedrich Middendorff (1883–1973): „Mit seinen Aktivitäten [sc. des mutigen Protestes] wird er der legitime Nachfolger des niederländischen Calvinisten Abraham Kuyper … im deutschen Reformiertentum.“111 Das gilt selbst dann, wenn Middendorff als volkskirchlich Reformierter keinen Bezug zu Kupyer hatte, an den sich eher die freikirchlichen Altreformierten orientierten. Auch in der während des „Kirchenkampfes“ entstandenen KD II/1 weist Barth „auf die gründliche (gegenseitige!) Abneigung hin[…], die zwischen 107 Offener Brief Karl Barths an Wilhelm Kolfhaus, Bonn, 12. Juli 1932, in: Karl Barth, Offene Briefe 1909–1935, herausgegeben von Diether Koch (GA 35), Zürich 2001, S. 248–251, hier: S. 251 (zuerst in: RKZ 82 [1932], S. 236f.). Der Herausgeber weist an dieser Stelle hin auf Wilhelm Kolfhaus, Dr. A. Kuyper en Dr. K. Barth, in: Onder eigen vaandel 5 (1930), S. 96–114. Bereits in seiner Kuyper-Biographie hatte Kolfhaus versucht, Kuyper und Barth nebeneinander zu rücken: „Kuyper ist in jeder Hinsicht, nach der Formulierung eines deutschen Schriftstellers der Gegenwart, der Mann der Diastase, theoretisch und praktisch.“ Kolfhaus, Kuyper, aaO., S. 35. Hier muss Kolfhaus allerdings den Gedanken der „allgemeinen Gnade“ völlig ignorieren, um eine derartige Aussage treffen zu können, denn diese steht doch eher im Widerspruch zur Barth‘schen Diastase. 108 Und umgekehrt: Seine Kuyper-Vorstellungen hat Kolfhaus möglicherweise auch auf Barth übertragen und verehrte in ihm den vermeintlich Antimodernen. 109 Otto Weber scheint sich nicht wesentlich auf Kuyper bezogen zu haben. In der Dissertation Vicco von Bülows über Weber (Otto Weber [1902–1966]. Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker [AKiZ B 34], Göttingen 1999) kommt Kuyper kein einziges Mal vor, auch Webers Grundlagen der Dogmatik nennen ihn nur marginal. 110 Vgl. Hans-Walter Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, Göttingen 1996, S. 478. 111 Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, S. 531.

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dem in den Spuren A. Kuypers wandelnden ,historischen Calvinismus‘ und der hier vertretenen reformierten Theologie wirksam ist.“112 Einige Jahre später diagnostizierte Barth „kirchlich konservative[n] Strömungen wie die von Abraham Kuyper und Adolf Stöcker inspirierten“, „die die Geltung und Würde der biblischen Offenbarung in guten Treuen verteidigen wollten“, in Sachen einer „natürlichen Theologie“ eine besondere Naivität.113 Barth folgte dem aus seiner Sicht negativen Kuyper-Bild Kolfhaus‘114, verkannte jedoch, dass gerade Kuyper den Calvinismus nicht als eine „normative Vergangenheit“, sondern vielmehr als sich entwickelnde und verändernde, ja fortzuschreibende Größe darstellte und ihn selber innovativ reformulierte – wie Barth es dann ja auch zunehmend tun sollte. Beide, Kuyper und Barth, sind gerade nicht an Repristination und „Orthodoxie“115 interessiert, sondern agieren als innovative Interpreten der Tradition, Reformulierer, Erneuerer, die ganz bewusst auch politische und gesellschaftliche Zeitgenossen waren. Ein erneuerter Blick Barths auf Kuyper wurde natürlich auch durch spätere niederländische Neocalvinisten wie etwa Klaas Schilder behindert, der heftig gegen Barth polemisierte116 – und damit auch gegen die unterdes überwiegend barthianisch gewordene hervormde Volkskirche –, so dass Barth nicht minder polemisch „die Neo-Calvinisten in den Niederlanden und andernwärts“ als „Menschen unverständigen, kalten und harten Herzens“ zieh – wegen der Kritik an Mozart!117 Barthianer in Deutschland wie etwa Otto Weber haben diese Distanz der Kuyperianer zu Barths Theologie dann gerne betont.118 Die ausgesprochen freundliche Kuyper-Darstellung des wichtigsten Barth-Schülers in den Niederlanden, Kornelis Heiko Miskotte (1894–1976), in der dritten

112 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik I/2: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, Zollikon-Zürich 1937, S. 931. 113 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik II/1: Die Lehre von Gott, Zollikon 1940, S. 195. 114 Das tut auch, allerdings bejahend, Jörg Erb in seinem weit verbreiteten protestantischen „Heiligenkalender“: Jörg Erb, Die Wolke der Zeugen. Lesebuch zu einem evangelischen Namenkalender, dritter Band, Kassel 1958, S. 482–486: Abraham Kuyper, 8. November 1920. 115 Vgl. Karl Barth, Letzte Zeugnisse, Zürich 1969, S. 34: Er, Barth, könne nur lachen über die Zuschreibung von „orthodox“ durch andere. Er respektiere die Leistungen dieser theologiehistorischen Epoche. „Aber ich bin fern davon, selber einer von dieser Schule zu sein … Ich war so liberal [sic!], dass ich [diese alten Orthodoxen] gelesen und dann auch manch Gutes bei ihnen gefunden habe. Aber ,neo-orthodox‘: ich finde es nur komisch, wenn man mir das sagt.“ Wie Kuyper hat auch Barth es entschieden von sich gewiesen, etwas „repristinieren“ zu wollen und konnte sich trotzdem gerne auch auf vormoderne Theologen berufen, ohne selbst voroder antimodern zu sein. 116 Klaas Schilder hatte 1933 in Erlangen, wo Barth unter lutherischen Theologen scharfen Widerspruch fand, promoviert. 117 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik III/4: Die Lehre von der Schöpfung, Vierter Teil, ZollikonZürich 1951, S. IXf. 118 Vgl. Weber, Grundlagen der Dogmatik, S. 171f., Anmerkung 4.

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Auflage der RGG konnte Barth wohl nicht mehr rezipieren, war er in seinen letzten Lebensjahren doch eher mit anderen Themen beschäftigt.119 Ob der späte Barth, nach zahlreichen eigenen Reformulierungen traditioneller Dogmatik und durch eine gewisse Altersmilde mit vielem, was er früher kritisch sah oder gar „bekämpfte“, auch „versöhnt“, Kuyper doch noch gnädiger als in frühen Jahren wahrgenommen hätte – und das dann vielleicht auch aus eigener Anschauung, also nicht mehr abhängig von Kolfhaus und anderen? „Wie wäre es, wenn wir … ein neues Leben beginnen oder doch ein neues Buch oder Heft mit vorläufig ganz leeren … Seiten aufschlagen würden?“120 – So konnte Barth es sogar Brunner gegenüber erhoffen, dem er 1934 ein so entschiedenes „Nein!“ entgegen geschleudert hatte. Barth war bereit, im Gespräch zu bleiben, sogar abgebrochene Gespräche nicht nur aufzugreifen, sondern neu zu beginnen. Das wäre bei Kuyper womöglich auch der Fall gewesen. Es lag nicht an Kuyper, sondern an den Kuyperianern – und auch an den niederländischen Barthianern, die aus konfessionspolitischen Gründen meinten, Kuyper und sein „Erbe“ ablehnen zu müssen, dass kein Gespräch mehr zu Stande kam. Zugespitzt formuliert: Barthianer und Kuyperianer kamen weder in den 20er Jahren noch nach 1945 ins Gespräch, aber Barth und Kuyper hätten möglicherweise einen Weg zueinander gefunden. Sie waren souverän genug, um nicht kleingeistig zu sein – und auch souverän ihrem eigenen Werk gegenüber. Wie nahe sie sich sind, zeigen die Erwägungen Barths in einem Fernseh-Interview im Jahr 1967 über Offenbarungen Gottes auch außerhalb der Bibel: „Der Gott, der sein entscheidendes Wort in Jesus Christus gesprochen hat – der ist kein toter Gott, wie heute die Toren sagen, sondern der ist der lebendige Gott, der auch heute spricht. Und wenn wir Ohren hätten zu hören, dann könnten wir ihn beständig hören. Denn die Welt, in der wir leben, ist von ihm geschaffen. Und wenn wir Augen hätten zu sehen, dann würden wir etwas von Offenbarung wahrnehmen – nicht nur in der Bibel, sondern auch sonst.“ Kommen solche Überlegungen nicht doch sehr nahe bei Kuypers „gemeene gratie“ zu stehen? Barth warnt dann vor zu eindeutigen Behauptungen von solcher menschlicher Gotteserkenntnis und schließt: „[E]s [wird] wohl für uns dabei bleiben müssen, bei aller Offenheit für die Welt, für die Schönheit des Frühlings, der uns da draußen umgibt, auch für das, was in der Geschichte geschieht, entschlossen und geschlossen dorthin zu blicken, wo Gott unzweideutig für sich selber gesprochen hat in Jesus Christus, der wahrer Gott und wahrer Mensch gewesen ist und heute ist und bleiben wird.“121

119 Kornelis Heiko Miskotte, Art. Niederlande, II. Theologie, in: RGG3 IV (1960), S. 1467–1471, hier: S. 1470. 120 Karl Barth-Emil Brunner, Briefwechsel 1916–1966 (GA V), Zürich 2000, S. 304 (26. August 1939). 121 Karl Barth, Gespräche 1964–1968, herausgegeben von Eberhard Busch (KBGA IV), Zürich

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Ein Zweites: Barth sprach seit den 50er Jahren immer betonter von der Freiheit des souveränen Gottes und der darin begründeten Freiheit des verantwortlichen Menschen. Aus der Vorstellung eines großen souveränen Gottes, aus der „Freiheit Gottes“ folgert Barth auch die „Freiheit des Menschen“. „[E]ine große Aufgabe der Kirche“ sei es, „die … Menschen zur Freiheit zu rufen“.122 Auch bei dieser zentralen Konsequenz einer „steilen“ Theologie stehen sich Kuyper und der späte Barth erstaunlich nahe.123 Außerhalb des Barthschen mainstreams wurde selten auf Kuyper verwiesen: Helmut Thielicke hat zwar in seiner Ethik auf Kuyper hingewiesen, aber ihn zum einen bereits durch die Verortung („Das Verhältnis von Kirche und Staat in kontroverstheologischer Sicht“) marginalisiert und zum anderen lediglich wortreich kaschiert, Kuyper in seinen Kontexten gar nicht verstehen zu können.124 Erst nach Ende der Barth-Hegemonie im deutschen Protestantismus findet sich Mitte der 80er Jahre der nicht unkritische Artikel über Abraham Kuyper von Cornelis Augustijn in dem monumentalen Sammelwerk Gestalten der Kirchengeschichte125, sekundiert von kurzen Anmerkungen Hendrikus Berkhofs in seiner deutsch verfassten Theologiegeschichte126 und dem BBKLLemma „Kuyper“ mit der prägnanten Charakterisierung der Person: „K[uyper] war ein visionärer Denker, charismatischer Führer, erstaunlich vielseitig interessierter Mensch, in der Praxis und im menschlichen Verkehr oft schroff und ohne Takt, kurz ein getriebener Weltverbesserer.“127 Alle drei Verfasser sind Niederländer. Wenn man in Deutschland im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auf den Namen Kuyper stieß, dann am ehesten im Zusammenhang mit der Apartheid in Südafrika, die wie in den Niederlanden mit ihren alten Verbindungen an das Kap auch in Deutschland entschiedene Gegner – besonders unter den Reformierten – fand. Dass diese Wirkungsgeschichte umstritten ist und unterdes eine befreiungstheologische Lektüre Kuypers in Südafrika128 und Nordamerika129 kommuniziert wurde, habe ich an anderer Stelle dargelegt.130

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1997, S. 253 (aus: Interview von Heinz Knorr und Rudolf Rohlinger, Westdeutscher Rundfunk, 2. Mai 1966: S. 248–259). AaO., S. 256 (konkret geht es hier um die Rolle der Kirche in Deutschland). Vgl. den kleinen Versuch des Princetoner Bibliothekars, Kuyper und Barth zusammenzuführen: Clifford Blake Anderson, Neocalvinism … Abraham Kuyper? Maybe: www.cardus.ca/ comment/article/neocalvinism-abraham-kuyper (Zugriff 17. Juni 2019). Helmut Thielicke, Theologische Ethik II/2, Tübingen 1958, S. 737–744: Konfessionelle Übergangsformen bei Abraham Kuyper (auch der folgende Abschnitt ist wohl eher ein Missverständnis: Die extreme Theokratie bei Arnold A. van Ruler, aaO., S. 744–756), 41987, S. 785–792. Cornelis Augustijn, Abraham Kuyper, in: Martin Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Band 9,2: Die neueste Zeit II, Stuttgart 1985, S. 289–307. Hendrikus Berkhof, 200 Jahre Theologie. Ein Reisebericht, Neukirchen-Vluyn 1985, S. 117. Adriaan Breukelaar, Art. Kuyper, Abraham, in: BBKL IV (1992), Sp. 846–851. Vgl. den Beitrag von Christine Lienemann-Perrin in diesem Band. Zur Kuyper-Rezeption in Nordamerika vgl. James D. Bratt, Calvinismus in Nordamerika, in: Martin Ernst Hirzel/Martin Sallmann (Hgg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in

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Und schließlich ist auf die beiden jüngsten deutschsprachigen Arbeiten unmittelbar zu Kuyper zu verweisen: Das Calvin-Jubiläumsjahr 2009 brachte einen vorzüglichen Aufsatz von Dirk van Keulen hervor131, der die langandauernde Wirkung Kuypers bis zum damaligen niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende ausführte. Und im Umfeld kultur-protestantischer Theologie Münchner Schule hat Arie Molendijk Kuyper als einen „Theoretiker der Moderne“ gezeichnet.132 Die Stone Lectures wurden während dieses jüngsten Calvin-Gedenkens 2009 aufgerufen als „eine der Kernpublikationen zum Calvinismus [bis in die jüngere Gegenwart]“.133 Gemessen an dieser Einschätzung sind Kuypers Stone Lectures im deutschsprachigen Raum doch eher unbekannt. Allerdings: In deutschen Zusammenhängen bringt aktuell Marco Hofheinz hinsichtlich des Staat-Kirche-Verhältnisses Abraham Kuyper in theologische und sozialethische Diskurse ein. Hofheinz‘ Kuyper-Wahrnehmung ist wohl auch von seiner Orientierung an Karl Barth mit beeinflusst.134 Eine deutsche kirchlich-theologische Rezeptionsgeschichte Kuypers ist nicht gut rekonstruierbar. Selbst in einer neueren Theologiegeschichte eines Reformierten, nämlich bei Jan Rohls, findet sich Kuyper nur auf wenigen Zeilen.135 Und anders als die vierte Auflage der RGG verzichtet die TRE auf einen Artikel zu Abraham Kuyper. Dass man dagegen in fundamentalistischen Kreisen an Kuyper erinnert136, ist zwar von der Wirkungsgeschichte her

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Kirche und Gesellschaft, Essays zum 500. Geburtstag, Zürich 2008, S. 71–94. Bratt zeichnet S. 91f. ein überaus positives Kuyper-Bild und sieht einen Zusammenhang „mit gewissen Formen des Postmodernismus, den Kuypers Kritik an der Macht und am Neutralitätsanspruch um ein Jahrhundert vorweggenommen hatte … Dieser Kuyperianismus [sc. der 60er Jahre] hatte Auswirkungen auf die Rechte wie auf die Linke und rief eine Art evangelikaler [oder müsste es heißen: evangelische? hgu] Befreiungstheologie hervor, die Kritik an Amerikas imperialer Politik im Ausland übte, aber auch gegen das Übergewicht staatlichen Eingreifens im Inland protestierte.“ Eine „organische Schöpfungslehre“ ähnelte dagegen bestimmten Vorstellungen der christlichen Rechte in den USA. AaO., S. 92. Ulrichs, Kuyper, aaO., S. 79–86. Dirk van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, in: Marco Hofheinz u. a. (Hgg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins (Reformed Historical Theology 9), Göttingen 2011, S. 338–359. Vgl. Molendijk, Kuyper, aaO., S. 129. – Vgl. auch den Beitrag von Martin Laube in diesem Band. Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin und der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, herausgegeben von Ansgar Reiss und Sabine Witt, Dresden 2009, S. 31. Marco Hofheinz, Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus. Calvin, Kuyper, Barth und der säkulare, weltanschaulich neutrale Rechtsstaat, in: ders., Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert (FRTh 8), Göttingen 2017, S. 343–369, hier: S. 356–362. – Vgl. auch den Beitrag von Marco Hofheinz in diesem Band. Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Band I: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 758. Vgl. Ron Kubsch, Abraham Kuyper. Vater des Neo-Calvinismus, in: Thomas Schirrmacher/

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nachvollziehbar, lässt sich aber kaum mit Kuyper selbst legitimieren, denn anders als manche seiner „Nachfolger“ war er sicher nicht fundamentalistisch.137 Eine andere Rezeptionsgeschichte, nämlich innerhalb der politischen Theorie, ist in Deutschland ebenso wenig rekonstruierbar, auch wenn gelegentlich in historischen Darstellungen der christlichen Demokratie auf Kuyper und seine Partei verwiesen oder diese gar dargestellt werden.138 In der ersten deutschen Demokratie ordneten sich evangelische Christen bis auf Ausnahmen den konservativen, ja die Republik ablehnenden Parteien zu – diese hätten freilich mit dem überzeugten Demokraten und Anti-Nationalisten Kuyper wenig gemein gehabt. Ein beredtes Beispiel ist eine Kompilation der Stone Lectures in einem bereits vor Kriegsende erstellten, aber erst 1919 gedruckten Sammelband über „Die Protestantische Staatslehre“139, erschienen „im Auftrage der Deutsch-nordischen Richard Wagner-Gesellschaft fu¨ r germanische Kunst und Kultur … und des Staatspa¨ dagogischen Hochstiftes fu¨ r Volkserziehung zum grossgermanischen Volksstaatsgedanken.“ Der Herausgeber Karl Heinrich Leo Walter van der Bleek (1877–1946) missbraucht Texte von Hegel und von Harnack u. a. für einen kruden Nationalprotestantismus – und leider auch von Kuyper. Van der Bleek stellt Textpassagen ohne jegliche Kenntlichmachung zusammen, versteht die niederländischen Kontexte und Formulierungen nicht und übersieht selbst die angeführten Warnungen Kuypers vor nationalstaatlichem Größenwahn. Da keine Briefe zwischen Kuyper und van der Bleek nachzuweisen sind, spricht einiges dafür, dass Kuyper diesen Teil-Abdruck nicht verantwortete.140

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Ron Kubsch (Hgg.), Vergangenheit als Lernfeld. Kirchengeschichtsschreibung am Martin Bucer Seminar, Bonn 2015, S. 255–265. Vgl. Tom-Eric Krijger, Was Abraham Kuyper een fundamentalist? Het neocalvinisme langs de fundamentalistische meetlat, in: Nederlands Theologisch Tijdschrift 69 (2015), S. 190–210. Praktisch wirkungslos blieb eine 1937 angenommene politikwissenschaftliche Heidelberger Dissertation eines amerikanischen Theologen, die stark vom Herkunftsmilieu des Vfs. und der antiliberalen Tradition geprägt ist: Leroy Vogel, Die politischen Ideen Abraham Kuypers und seine Entwicklung zum Staatsmann, Würzburg 1937 (zugl. diss. phil., Universität Heidelberg 1937). Jahrzehntelang wurde kritiklos rekurriert auf Walter Braun, Evangelische Parteien in historischer Darstellung und sozialwissenschaftlicher Beleuchtung (diss. Heidelberg 1936), Mannheim 1939 – bereits aus dem Vorwort erhellt die Übereinstimmung des Vfs. mit dem NSStaat. Kuyper und die ARP werden dort dargestellt aaO., S. 175–189. Abraham Kuyper, Der Calvinismus und die protestantische Staatsidee. Reformation wider Revolution, in: K.H.L. Walter van der Bleek (Hg.), Die protestantische Staatsidee. Der Nordgeist Germaniens im Lichte der deutsch-niederländischen und skandinavisch-baltischen Wissenschaft, unter Mitarbeit von Prof. D. Dr. Adolf von Harnack, … Ministerpräsident A. Kuyper … [u. a.], Leipzig 1919, S. 58–69. Menk, Streiflichter, aaO., hat offenkundig weder den Sammelband noch die Stone Lectures und frühere Arbeiten Kuypers sorgfältig gelesen, sonst hätte er in seinem Referat nicht davon reden können, dass Kuyper mit den Stone Lectures einen Bruch zu früheren Positionen vollzogen hätte. Menk behauptet sogar, dass der Beitrag von 1919 von Kuyper stamme und diesen „nicht

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Mögliche politische Rezipienten in Deutschland hätte man in den Kontexten der christlich-sozialen Bewegung vermuten können, die sich politisch konstituierte als Christlich-Sozialer Volksdienstes (CSVD), der jedoch nur wenigen Jahre von 1929 bis 1933 existierte: Kuyper wird jedoch in den einschlägigen Untersuchungen zum CSVD nicht genannt, er wurde dort also nicht rezipiert und fortgeschrieben – trotz Reinhard Mumms, dem Schwiegersohn Adolf Stoeckers, der im CSVD – wie auch Samuel Jaeger – eine wichtige Rolle spielte. Reinhard Mumm (1873–1932) war nach seiner Funktionärstätigkeit in „christlich-sozialen“ Kontexten an der Gründung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) beteiligt und vertrat diese im Reichstag, verließ die Partei aber Ende der 20er Jahre im Streit mit dem neuen, schroff antisemitischen Vorsitzenden Alfred Hugenberg (1865–1951). Mumm mag Kuyper, dem er persönlich in Utrecht begegnet war, als er mit dem Stipendium Bernardinum dort studieren konnte, geschätzt haben.141 Aber auch er konnte dessen „Weltanschauung“ nicht in deutsche Kontexte transformieren. Selbst bei den wenigen Reformierten im CSVD, wie etwa Friedrich Middendorff in der Grafschaft Bentheim142 und Heinrich Oltmann (1892–1937)143 in Ostfriesland, finden sich keine Bezüge zu Kuyper. Das ist bei den freikirchlichen Altreformierten anders, die stärker als die landeskirchlichen Reformierten den CSVD unterstützten, sich aber grundsätzlich an Kuyper (bis 1920) oder an der Antirevolutionaire Partij (ARP) orientierten. Diese Sympathien konnten so weit gehen, dass Altreformierte im CSVD geradezu etwas Antirevolutionäres – und damit auch etwas Antinationalsozialistisches – sehen konnten. Altreformierte wurden im Dritten Reich vom Unterdrückungsapparat en bloc als national unzuverlässig und latent defaitistisch eingeschätzt.144 Nach 1945 entstand mit der CDU in Deutschland eine konfessionsübergreifende christliche Demokratie – übrigens ein Begriff, den Kuyper gelegentlich verwandte –, bei der sich aufs Ganze gesehen die katholische Sozi-

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störte“, dass sich sein Text „in einem eher rechtskonservativ-völkischen Bande wieder[fand]“. – Vgl. auch den Beitrag von Marco Hofheinz in diesem Band. Vgl. die postum erschienene Autobiographie: Reinhard Mumm, Der christlich-soziale Gedanke. Bericht über eine Lebensarbeit in schwerer Zeit, Berlin 1933, S. 17.23–25. Wenige weitere Nennungen sind marginal, was nicht eben für eine starke Prägung Mumms durch Kuyper spricht. Kuyper wird von Norbert Friedrich, „Die christlich-soziale Fahne empor!“ Reinhard Mumm und die christlich-soziale Bewegung (Konfession und Gesellschaft 14), Stuttgart u. a. 1997, lediglich im Zusammenhang mit Studium und akademischer Qualifikation Mumms genannt, aaO., S. 28f. – Briefe Mumms sind im Kuyper-Archiv nicht erhalten. Vgl. Helmut Lensing, Der Christlich-Soziale Volksdienst in der Grafschaft Bentheim und im Emsland. Die regionale Geschichte einer streng protestantischen Partei in der Endphase der Weimarer Republik, in: Emsländische Geschichte 9 (2001), S. 63–133. Vgl. Paul Weßels, Nicht hoffnungslos, sondern handelnd. Heinrich Oltmann (1892–1937). Ein reformierter Pastor im Kirchenkampf, Wuppertal 2002. Vgl. weitere Beiträge von Helmut Lensing über Reformierte, Altreformierte und Parteien in der Grafschaft Bentheim.

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allehre als ideologische Grundlage durchsetzen konnte, obwohl mit Eugen Gerstenmaier, Hermann Ehlers und anfänglich auch Gustav Heinemann ebenfalls Protestanten mit federführend waren – ihnen war die neo-calvinistische Ideenbildung aber ohnehin nicht präsent und zugänglich. Auf den Parteitagen der CDU nach 1945 traten zwar auch Vertreter aller christlichen Parteien der Niederlande – also neben der Antirevolutionären Partei auch die Christlich-Historische Union (CHU), die Katholieke Volkspartij (KVP)145 und die Staatkundig Gereformeerde Partij (SGP) – mit einigem Pathos auf, aber inhaltlich-ideologisch ist dies nicht nachhaltig gewesen. Man beklagte bestenfalls gemeinsam den Werteverlust der Moderne, wie er im „Dritten Reich“ so manifest geworden wäre. Andere evangelische, vor allem in der reformierten Tradition beheimatete Modelle der Sozialethik und des Staat-KircheVerhältnisses, wie etwa aus der Barth-Schule, wurden dann später im linken politisch-theologischen Spektrum aufgegriffen, nicht jedoch in der deutschen Christdemokratie. Die größte in Deutschland erschienene Würdigung Kuypers als Streiter für Freiheit, Pluralismus, Menschen- und Bürgerrechte findet sich bezeichnenderweise jedoch bei einem nordamerikanischen Rechtshistoriker, nämlich in John Wittes Die Reformation der Rechte, die 2015 in deutscher Übersetzung erschien, und zwar innerhalb seiner „Abschließende[n] Überlegungen: Die Biografie und Biologie der Freiheit im Calvinismus der Frühen Neuzeit.“146 Witte referiert, welche politisch-gesellschaftliche Intentionen und Implikationen der Calvinismus nach Kuyper berge und wie diese in den bürgerlichen Freiheiten in pluralen Demokratien realisiert würden. Gelegentlich „bremst“ er dabei Kuyper in dessen unkritischer Amerika-Euphorie und ironisiert dessen Performance während der Tournee durch die Staaten, nachdem er 1898 in Princeton die Stone Lectures gehalten hatte.

3. Abschluss Da auch nach der Benennung dieser diversen, jedoch divergenten oder gar diffusen Spuren das Thema „Kuyper und Deutschland“ weder zu dessen Lebzeiten noch über die 100 Jahre nach seinem Tod auf einen Nenner gebracht werden kann, intendiert dieser Beitrag vor allem, die Chancen erahnen zu lassen, die eine Beschäftigung mit Kuyper aktuell in deutschen Diskursen böte. Dabei wird man sowohl die unterschiedlichen Kontexte des jeweiligen Landes – einschließlich der Sprache – wie auch den unterdes gewachsenen 145 Diese drei Parteien bildeten 1980 den Christen-Democratisch AppHl (CDA). 146 John Witte Jr., Die Reformation der Rechte. Recht, Religion und Menschenrechte im frühen Calvinismus (Theologische Anstöße 8), Neukirchen 2015 (englisch: The Reformation of Rights, Cambridge 2007), S. 372–399.

Kuyper und Deutschland

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historischen Abstand zu berücksichtigen haben, um geschilderte Fehler der oben aufgelisteten Wahrnehmungen zu vermeiden. Die positive Herausforderung besteht darin, dass hier zu Lande ein neues Nachdenken über Kuyper sich nicht in Traditions- und Wirkungsgeschichten Kuypers verstrickt sehen muss, wie dies in anderen Ländern offenkundig der Fall ist. Umso wünschenswerter erscheint es, dass nicht alte Vorurteile prolongiert würden, weder von theologiehistorischen Simplifikateuren noch von vermeintlich Progressiven, die Kuyper in die Nähe von undemokratischen Ideologen gerückt haben, oder gar von denen, die Kuyper weder wahrgenommen noch gelesen haben, aber umso überzeugter eine vorgefasste Meinung tradieren und nachgerade aggressiv reagieren, wenn neue Interpretationen von Kuypers Werk auftauchen, die alte, ja veraltete, aber liebgewonnene (Vor-) Urteile in Frage stellen. Neben eigenständigen Bemühungen um das Verstehen von Person und Werk dieses bedeutenden Niederländers sollte beachtet werden, welche Wertschätzung seine Person und welche produktiven Fortschreibungen sein Werk mit und seit der Jahrhundertfeier der Stone Lectures 1998 erfahren haben147 und welche überraschenden Einsichten das gegenwärtige globale Gedenken Kuypers und des Neocalvinismus zeitigen.

147 Die extremen Erosionsprozesse in der zurückliegenden Generation namentlich in den Niederlanden können natürlich auch hinsichtlich einer Kuyper-Rezeption nicht übersehen werden, vgl. Jan de Bruijn, Abraham Kuyper, in: George Harinck u. a. (Hgg.), Het Gereformeerde Geheugen. Protestantse herinnerungsculturen in Nederland, 1850–2000, Amsterdam 2009, S. 419–431.

Christine Lienemann-Perrin

Rezeptionen Abraham Kuypers in Südafrika am Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts

Die Publikationen zur Rezeption Abraham Kuypers im Südafrika des 20. Jahrhunderts sind beeindruckend umfangreich. Nur einen kleinen Teil davon habe ich für diesen Beitrag zur Kenntnis nehmen können.1 Die südafrikanischen Autoren, die sich mit Kuyper (1837–1920) bzw. der KuyperRezeption in Südafrika befassen, lassen sich vier Gruppen zuordnen:2 (1) Autoren, die Kuyper persönlich gekannt bzw. unter seinem direkten oder indirekten Einfluss publiziert haben. (2) Autoren, die zwischen 1920 und 1950 vom Kuyper’schen Erbe Gebrauch gemacht haben, um die faktisch bereits existierende Apartheid theologisch weiter zu legitimieren. (3) Autoren, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren das apartheidaffine Kuyper-Bild kritisiert haben, um den „wahren“ Kuyper dagegenzusetzen. (4) Autoren, die angesichts der Herausforderungen Südafrikas im 21. Jahrhundert erneut auf Kuyper Bezug nehmen, sei es in einem affirmativen oder einem kritischen Sinn. Meine Aufmerksamkeit gilt hauptsächlich der letzten Autorengruppe. Das geht freilich nicht, ohne auch einen Blick auf die erste Gruppe während Kuypers Lebenszeit zu werfen. Kuyper ist selbst nie in Südafrika gewesen, hat aber über Südafrika, über die Buren, die englischen Siedler und die schwarze Bevölkerung publiziert. Dazu war er in der Lage, weil er seinerseits von Südafrikanern rezipiert hat, was diese publiziert bzw. ihm berichtet haben: beispielsweise burische Theologiestudenten, die ihm in Amsterdam begegnet sind, und niederländische Zeitgenossen, die nach Südafrika ausgewandert sind und sich dort niedergelassen haben. Der Rezeptionsprozess zwischen Südafrika und den Niederlanden war also von Anfang an wechselseitig und trug zur Entstehung eines Kommunikationsraumes bei, in dem es hinüber und herüber zu Beeinflussungen und geistigen Gegenabhängigkeiten kam. Dieser Phase, die bis 1920 dauerte, wende ich mich im ersten Teil zu, weil sie nicht nur für die Entwicklung der theologisch verbrämten Apartheid-Ideologie, son1 Ich verzichte auf einen breiten Forschungsüberblick und erwähne stattdessen nur jene englischsprachigen Publikationen, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit meinen Ausführungen stehen. Publikationen in Afrikaans und Holländisch sowie Archivmaterialien habe ich nicht berücksichtigen können. 2 Unter den Beiträgen zur Kuyper-Forschung, die ich konsultieren konnte, gab es keine Autorinnen, nur Autoren.

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dern auch für Kuypers Südafrika-Bild, das sich in seinen Schriften niedergeschlagen hat, prägend gewesen ist (1.). Auf die bestens recherchierten Kuyper-Rezeptionen während der langen Zeit zwischen 1920 und Ende der 1980er Jahre gehe ich aus Gründen des begrenzten Raumes nur summarisch ein (2.), um mich anschließend ausführlicher den Rezeptionen im Übergang zum Postapartheid-Staat zuwenden zu können. Die Zeit um 2000 betreffend beschränke ich mich auf zwei Autoren, die Kuyper aus verschiedenen Perspektiven lesen: einerseits aus einer radikal gesellschaftskritischen, befreiungstheologischen Sicht (Allan A. Boesak), und andererseits aus der Sicht einer public theology, die sich eher an gesellschaftlich-integrativen, reformerischen Zielen orientiert (Hayman Russel Botman). Als people of color haben sie in den 1970er und 1980er Jahren gemeinsam gegen die Apartheid gekämpft. Während der Transitionsphase zum neuen Südafrika hat sich Boesak jedoch an Kuyper ausgerichtet und ist Befreiungstheologe geblieben, während sich Russel Botman explizit von Kuyper distanziert und ein universitäres Zentrum für public theology gegründet hat. Für den befreiungstheologischen und den reformtheologischen Zugang kann man an Kuypers Werk und Lebensgeschichte anknüpfen. Es ist zu zeigen, wie sich während der Übergangsphase beide Deutungsstränge im politisch-ethischen Denken und praktischen Handeln von Boesak und Russel Botman niedergeschlagen haben (3.). Ein kurzes Fazit schließt den Beitrag ab (4.).

1. Familienähnlichkeit zwischen burisch-neocalvinistischen Theologen in Südafrika und Kuyper zu Beginn des 20. Jahrhunderts „Familienähnlichkeit“ ist das Stichwort, das mir zu Kuyper und seinen südafrikanischen Zeitgenossen einfällt. Mein Eindruck stützt sich allerdings weder auf Südafrikaner-Zitate in Kuypers Schriften noch auf Kuyper-Zitate in den Werken der Südafrikaner. Auf Familienähnlichkeiten aufmerksam geworden bin ich vielmehr durch beiläufige Hinweise auf Begegnungen zwischen Kuyper und Südafrikanern, die bei Kuyper studiert haben oder sich für eine begrenzte Zeit in Holland aufgehalten haben, vor allem aber auf ähnliches Gedankengut, das beide Seiten miteinander verbindet. Ob Kuyper das meinungsstarke Presseorgan der Gereformeerde Kerk in Suid Afrika (GKSA), Het Kerkblatt, zur Kenntnis genommen hat, ist mir nicht bekannt. Jedoch ist ein Briefwechsel Kuypers mit Südafrikanern, darunter Stephanus Johannes Paulus Kruger (Ohm Krüger, 1825–1904) und Stephanus Jacobus du Toit (1847–1911), erhalten, der auf enge Südafrika-Kontakte hinweist.3 Im ersten 3 Untersucht hat Kuypers Briefwechsel mit Südafrikanern Chris A.J. Van Koppen, De geuzen van de negentiende eeuw, Maarssen 1992. Ein grosser Kenner der Beziehungen zwischen Kuyper und

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Schritt kommen frühe Erwähnungen von Kuyper durch Südafrikaner zur Sprache (1.1), danach ähnliche Denkweisen in Kuypers Werk (1.2).

1.1 Südafrikanische Theologen unter dem Einfluss von Kuyper Im Jahr 1859 wurde jene kleine reformierte Kirche in Südafrika gegründet, in der die Apartheidideologie und -theologie zuerst ausgebildet werden sollte: die Gereformeerde Kerk in Suid Afrika (GKSA, auch „Doppers“ genannt).4 Ein Jahr danach wurde der Name von Abraham Kuyper zum ersten Mal am Kap erwähnt: H.D.P.M. (Piet) Huet lobte „seinen Freund“ Kuyper als Kritiker der modernen Theologie und der liberalen Pfarrerschaft in Holland.5 Zwei Dekaden danach wurde Johannes Izaak Marais (1848–1919) Theologieprofessor in Stellenbosch (1877–1919). Er machte seine Studenten mit der Theologie von Kuyper und Herman Bavinck (1854–1921) bekannt.6 Der Herausbildung einer spezifisch burisch-neocalvinistischen Theologie ging die traumatische Erfahrung der beiden anglo-burischen Kriege von 1880/ 81 und 1899–1902 voraus. Vor allem Letzterer endete für die Buren mit einer vernichtenden Niederlage. Dies hier zu erwähnen ist wichtig, weil der Mythenbildung und Konzeptualisierung der Apartheid die Lebensrealität der Buren als ein von Vernichtung bedrohtes, verlassenes, auf sich selbst gestelltes Volk vorausging. Die Burenrepubliken, deren Gebiete ausgeblutet und verwüstet waren, wurden ab 1902 Teile der britischen Kolonie. In den anschließenden Jahren zielte die Siegermacht darauf, Kultur, Sprache und Religion der Unterworfenen zu eliminieren, was Letztere als einen Totalangriff auf ihre Identität wahrnahmen. In dieser Situation gelang den Buren in kulturell-religiöser Hinsicht eine Befreiung, die sie vor allem vier Südafrikanern mit holländischen Wurzeln verdankten und die eine entscheidende Phase in der Entstehung der theologisch begründeten Apartheid-Ideologie war : Stephanus Südafrika, Gerrit J. Schutte, hat die Beziehungen zwischen der Freien Universität Amsterdam und Südafrika ab 1880 analysiert: Gerrit J. Schutte, Introduction, in: ders./H. Wells (Hgg.), The History of the Relationship between the Vrije Universiteit and South Africa, SAVUSA POEM Proceedings, Rozenberg Publishers 2005, http://rozenbergquarterly.com/the-history-of-the-rela tionship-between-the-vrije-universiteit-and-south-africa-introduction/ (2. Oktober 2020). Für die Hinweise auf van Koppen und Schutte danke ich Jeroen Koch. 4 Die anti-aufklärerische Stossrichtung, der die GKSA möglicherweise die Bezeichnung Doppers (von „auslöschen“) verdankt, verband sie mit Kuypers Aufklärungskritik. 5 Jan Lubbe, „Half-known“. A perspective on a contentious phase in the reception of Abraham Kuyper in South Africa 1960–1990, in: Mary-Anne Plaatjies-Van Huffel/Robert Vosloo (Hgg.), Reformed Churches in South Africa and the Struggles for Justice, remembering 1960–1990, Stellenbosch 2013, S. 173–185, hier: S. 182. Als Autor einer Schrift mit dem Titel „Eine Herde – ein Hirte“ (Eene kudde – een Herder, 1860) hatte sich Huet gegen die 1857 getroffene Entscheidung der Kap-Synode der Nederduitse Gereformeerde Kerk (NGK) ausgesprochen, das Abendmahl nach Hautfarben getrennt auszuteilen. 6 Lubbe, Half-known, S. 183.

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Jacobus du Toit (1847–1911), sein Sohn Jacob Dani[l du Toit (1877–1953), genannt Totius, dessen Schwager Willem Postma (1874–1920) und der Holländer Jan Lion Cachet (1838–1912). Alle Genannten waren theologisch gebildet und hatten Erfahrungen als Gemeindepfarrer erworben. Vater und Sohn Totius übersetzten die Bibel ins Afrikaans, das damals noch die verachtete Sprache der ungebildeten, burischen Landbevölkerung war. Totius erreichte als Dichter in Afrikaans eine Aufwertung dieser Sprache. Seine Gedichte stärkten das Vertrauen der Buren in ihre Erwählung als besonderes – und gegenüber anderen Völkern abgesondertes – Volk mit einem eigenen, göttlichen Auftrag in der Welt. Willem Postma war, wie Kuyper, ein Kritiker der „modernen“ bzw. „freisinnigen“ Theologie und des Staatskirchentums. Er stammte aus Holland, wo er Pfarrer der Christelijke Gereformeerde Kerk in Nederland war, die sich 1834 von der Nederlandse Hervormde Kerk abgespalten hatte. Im Auftrag seiner Kirche ging er 1859 nach Südafrika, um die konservativen Reformierten bei der Gründung die GKSA zu unterstützen. Sein Auftrag war, die Standards des wahren Calvinismus unter den Buren, die sich selbstbewusst „Afrikaaner“ nannten, wachzuhalten. In seinen Gedichten identifizierte Postma das Reich Gottes mit dem Triumph des Afrikaanertums. Von Bekehrung schwarzer Menschen und ihrer Aufnahme in das Reich Gottes war bei ihm nirgends die Rede, nur davon, dass sie gebrochen und beherrscht werden sollten zur Ehre Gottes, wie er 1918 schrieb.7 Rasse und Blut waren seiner Überzeugung nach die physische Basis des Afrikaanervolkes. Für ihn waren die Dordrechter Synode (1616–1618) und Johannes Calvin (1509–1564) wichtige Orientierungspunkte, mit denen er den „modernen Bastard-Liberalismus“ und den „anti-christlichen“ Methodismus bekämpfte. Als Alternative zu Kapitalismus und Materialismus bevorzugte er den christlichen Nationalismus wegen dessen anti-revolutionärer Grundsätze. Alle vier Theologen machten den holländischen Neo-Calvinismus von Guillaume Groen van Prinsterer (1801–1876), Abraham Kuyper und Herman Bavinck in der GKSA-Kirche bekannt.8 Von Groen van Prinsterer, dem Theoretiker des Neo-Calvinismus, übernahmen sie das Motto „In der Isolation liegt unsere Stärke!“, das sie im Bildungswesen umsetzten, indem sie staatsunabhängige, christliche Schulen gründeten. Für Cachet und Postma war das theologische Gedankengut von Kuyper und Bavinck wichtig, für die über allem Gottes Souveränität und die Bibel als alleinige Quelle und Norm 7 Irving Hexham, The Irony of Apartheid. The Struggle for National Independence of Afrikaner Calvinism Against British Imperialism (Text and Studies in Religion, Vol. 8), Lewiston (New York) 1981, S. 48. 8 Nach Groen van Prinsterers Tod 1876 übernahm Kuyper die Leitung der holländischen neocalvinistischen Bewegung und gründete die Anti-Revolutionäre Partei, die erste moderne politische Partei, mit der er 1901 Premierminister geworden ist. Bavinck wurde ab 1902 Nachfolger Kuypers an der Freien Universität in Amsterdam. Wie Kuyper repräsentierte auch er den NeoCalvinismus.

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von Glauben und Handeln standen.9 Die Rettung des sündigen Menschen sei allein Gottes Werk, aber den Nachweis dieser Realität sollten die Gläubigen in ihrer Lebensweise erbringen. Wichtig für Christen sei nicht die religiösemotionale Erfahrung des Glaubens an Gottes Heilswerk, sondern das lebendige Beispiel des veränderten Lebenswandels, sichtbar in der christlichen Gemeinschaft, der Kirche.10

1.2 Kuypers Südafrika-Bild unter dem Einfluss von burisch-südafrikanischen Berichten Wie bereits erwähnt, hat sich Kuyper mit der Kap-Region nur literarisch befasst. Die dort lebenden Volksgruppen hat er mit völkerkundlichen und anthropologischen Begriffen und Vorstellungen seiner Zeit interpretiert. Es wäre allerdings zu einfach, seine Spitzenaussagen über farbige und schwarze Menschen pauschal dem Umstand zuzurechnen, dass er ein „Kind seiner Zeit“ gewesen sei, um über diese Äußerungen gesamthaft hinwegzusehen bzw. sie zu entschuldigen. Den Ausdruck „Rasse“ etwa hat er in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. So hat er beispielsweise die verschiedenen Völker Europas, die für ihn die eine weiße Rasse bildeten, als „Kaukasier/Arier“ zusammengefasst.11 Mischehen zwischen Angehörigen unterschiedlicher kaukasischer Völker hat er ausdrücklich begrüßt. Sie seien die physische Basis für alle höheren Entwicklungsstufen des Menschengeschlechts. Ausgehend vom Hochland Asiens sei, so liest man in den Stone Lectures12, das Menschengeschlecht in gewissen Hauptgruppen auseinandergegangen,

9 Basis von Kuypers Theologie war die calvinistische Lehre von Gottes Souveränität, die er mit einer Schöpfungslehre des Inhalts kombinierte, dass Gott in allen Lebensbereichen regiert, gemäß dem verbreiteten reformierten Motto: „Christ is Lord of All or not at all“ (zit. nach Hexham, Irony, S. 109f.). Unter Christi Reichgottesherrschaft verstand Kuyper die Herrschaft Christi nicht nur über den schmalen Sektor des spirituellen oder religiösen Lebens, sondern über jede Facette des Lebens: „Christ must be Lord of every aspect of life and not just a small area called man’s ‘spiritual’ or ‘religious’ life.“ (Hexham, Irony, S. 111). Deshalb sei die Aufgabe der Christen, die Herrschaft Christi Wirklichkeit werden zu lassen, „by applying Christian principles to every area, thus developing an integrated way of life“ (ebd., mit Hinweis auf die 2. Vorlesung „Der Calvinismus und die Religion“ der Stone Lectures, s. u. Anm. 12). 10 Hexham, Irony, S. 65. Mit ihren diakonischen Tätigkeiten, namentlich der Waisenhilfe, hat die GKSA auch die Buren jenseits ihrer Kirche zu beeindrucken vermocht. 11 Daneben verwendete er den Ausdruck „Rasse“ auch im Sinn von Volksgruppe mit einer bestimmten Hautfarbe, manchmal auch im Sinn von Menschengeschlecht. 12 Abraham Kuyper, Lectures on Calvinism. Six Lectures Delivered at Princeton University Under Auspices of the L.P. Stone Foundation, Grand Rapids 1931. Dt. Übersetzung: Abraham Kuyper, Reformation wider Revolution. Sechs Vorlesungen über den Calvinismus, gehalten zu Princetown, übersetzt von Martin Jaeger, Gr. Lichterfelde 1904. Die Zitate in Haupttext und Anmerkungen beziehen sich auf die deutsche Übersetzung.

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„und ganz dem prophetischen Segensspruch Noahs gemäß sind es ausschließlich die Kinder Sems und Japhets gewesen, die die Entwicklung unseres Geschlechts getragen haben. Von der dritten Hauptgruppe [Nachkommen von Ham, CL] ging niemals ein Anstoß zu höherer Lebenswirkung aus.“13

Die höchste Zivilisationsstufe habe die [weiße, CL] Bevölkerung in Amerika erreicht: „Hier fließt das Blut aus allen Volksstämmen der alten Welt ineinander“.14 Von der „Blutmischung“ (commingling of blood) zwischen Weißen und Ostasiaten hielt er dagegen nichts, weil darin die negativen Eigenschaften beider Seiten zusammenträfen. Vor allem aber missfiel ihm die Blutmischung zwischen Schwarz und Weiß. Diesbezüglich war er mit den burischen Theologen in Südafrika einig.15 Dazu passt, dass er sich sehr abfällig über schwarze Menschen geäußert hat. In De gemeene gratie (Die allgemeine Gnade) schreibt Kuyper, dass die Araber durch ihr schönes Erscheinungsbild auffallen und das der Holländer „durchschnittlich“ sei, während die Hottentotten ihn selbst und seinesgleichen mit Abscheu erfüllten. Dabei vergleicht Kuyper die drei Erscheinungsbilder mit denjenigen eines Löwen, eines Kalbes und einer Ratte.16 Aufschluss über Kuypers Südafrikabild gibt vor allem seine kurze Schrift „Die Krisis in Südafrika“, die 1899 auf Französisch und 1900 in Übersetzung auf Holländisch, Deutsch und Englisch erschienen ist.17 Sie war an ein internationales Publikum in Europa gerichtet, um es auf die Bedrängnis der Buren durch die Engländer im zweiten anglo-burischen Krieg aufmerksam zu machen. Es handelt sich um eine vernichtende Abrechnung mit England, besonders mit dem damaligen britischen Kolonialminister Joseph Chamberlain (1836–1914). Dabei erwähnt Kuyper die schwarze Bevölkerung nur beiläufig. Anders als die Engländer hätten die Buren die „schwarze Gefahr“ erkannt, die 13 Kuyper, Reformation, S. 28. 14 Kuyper, Reformation, S. 30. Mit dieser für das weiße, amerikanische Auditorium schmeichelhaften Bemerkung hat Kuyper zugleich die afroamerikanische Bevölkerung und ihren Beitrag zu den wirtschaftlichen und zivilisatorischen Errungenschaften Amerikas ausgeblendet. 15 So konstatiert auch James D. Bratt eine widersprüchliche Argumentation in Kuypers Umgang mit der Rasssenfrage: „In the United States and his native land, Kuyper applauded ,commingling of blood’ as the fount of social progress and cultural vitality. But in South Africa he praised the Boers’ absolute ban on ,race’ mixture (regarded as ,incest’!) as their highest mark of morality and their only hope for the future.“ James D. Bratt, Abraham Kuyper. Modern Calvinist, Christian Democrat, Grand Rapids/MI 2013, S. 293. 16 Abraham Kuyper, De gemeene gratie (3 Bde., Amsterdam 1902–1904, 2. Bd., vgl. James D. Bratt, Abraham Kuyper: Puritan, Victorian, Modern, in: Luis E. Lugo (Hg.), Religion, Pluralism, and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the Twenty-First Century, Grand Rapids MI/Cambridge UK 2000, S. 3–21, hier : S. 7. 17 Abraham Kuyper, Die Krisis in Südafrika, Berlin 1900; zuerst erschienen unter dem Titel „La crise Sud-africaine“ in der Pariser „Revue des Deux Mondes“ von 1899, anschließend auch auf Englisch (The South-African Crisis, London 1900) Holländisch (De Crisis in Zuid Africa, Amsterdam 1900) und Schwedisch. Laut Angaben in den Fußnoten dieser Schrift stützt sich Kuyper auf Publikationen aus Holland, England, den Burenrepubliken und den englischen Gebieten am Kap; ferner hat er Berichte von Missionswerken in verschiedenen Ländern konsultiert.

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früher oder später in einen Vernichtungskrieg münden könne.18 Kuyper verteidigt die Haltung der Buren in der Sklaverei-Frage: „Sie haben begriffen, daß die Hottentotten und Bantus zu einer niedrigeren Rasse gehören, und daß es Thorheit sein würde, sie in der Familie, im gesellschaftlichen Verkehr und in der Politik als den Weißen gleichstehend zu behandeln.“19

Im Kontrast zum Urteil über Engländer und Schwarze lobt Kuyper die Buren in höchsten Tönen. Sie seien von Pionier- und Eroberungsgeist erfüllt, scharfsinnig, pflegten ein hoch entwickeltes, öffentliches Leben. Buren seien calvinistisch durch und durch geprägt, im Alten Testament zuhause; sie hätten einen mit religiösem Pathos erfüllten Kampfgeist. Sittlich seien sie über jeden Verdacht erhaben. Anders als bei Kolonisten üblich ließen sich Buren nicht mit einheimischen Frauen ein, vermieden also eine Blutmischung.20 Wenn sich Kuyper in den Stone Lectures gegen die Sklaverei ausspricht,21 ist das offenbar nur als ein allgemeiner Grundsatz gemeint, denn davon weicht er im konkreten Fall der burischen Sklavenhalter in Südafrika ab. Im Unterschied dazu befürwortet er an anderer Stelle ein langfristig angelegtes Bildungsprogramm als Vorbereitung für die politische Unabhängigkeit der von Holland kolonisierten Bevölkerung in Ostasien. Im Unterschied zu Groen van Prinsterer verteidigt er die genealogisch und ideell mit den Holländern verwandten Buren in Südafrika in der Krisensituation um 1900.22 Fazit: Bis 1920 kann man von einer wechselseitigen Rezeption zwischen Südafrikanern und Kuyper sprechen. Kuypers Südafrika-Bild war von Berichten der südafrikanischen Buren geprägt, während diese in Südafrika wiedergaben, was sie von Kuyper in Amsterdam gelernt hatten. Das erklärt die Familienähnlichkeit zwischen ihnen.

18 Kuyper, Crisis, S. 18: „Ein allmähliches Aussterben [engl. Version: extinction, CL] wie bei den Indianern Amerikas ist hier nicht wahrscheinlich. […] Schwarz und weiß aber ist auf die Dauer unversöhnlich, und auch das Christentum hat bei den Schwarzen den Rassenhass nicht ausgetilgt». Vgl. dazu Dirk Th. Kuiper, Theory and Practice in Dutch Calvinism on the Racial Issue in the Nineteenth Century, in: Calvin Theological Journal, 21 (1/1986), S. 51–78, hier: S. 70. 19 Kuyper, Crisis, S. 17. 20 Kuyper, Crisis, S. 9. Angesichts des religiös-politischen Liberalismus in Holland haben Kuyperianer damals erwogen, nach Südafrika auszuwandern, weil die „wahren Holländer“ nur noch unter den Buren zu finden seien (Information von Jeroen Koch). 21 In den Stone Lectures schreibt Kuyper in der ersten Vorlesung „Der Calvinismus und die Geschichte“: „[D]er Calvinismus [verurteilt] nicht nur alle Sklaverei und Kasteneinteilung, sondern ebenso entschieden alle verdeckte Sklaverei der Frau und der Armen […] Darum mußte der Calvinismus […] die Freiheit der Völker proklamieren und konnte nicht ruhen, ehe von Obrigkeitswegen und im gesellschaftlichen Leben jeder, der Mensch war, nach dem Bilde Gottes erschaffen, geehrt, gezählt und gerechnet wurde“. Kuyper, Reformation, S. 20. 22 Kuiper, Theory and Practice, S. 74.

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2. Kuyper-Rezeptionen im Zeichen von Aufstieg und Krise der Apartheid: 1920–1987 Zwischen den 1920er Jahren und dem Ende der 1980er Jahre hat sich die Kuyper-Rezeption in Südafrika in höchst unterschiedlichen Richtungen weiterentwickelt. Bis 1948 ist in Südafrika ein Gegeneinander, Nebeneinander und Miteinander von unterschiedlichen calvinistischen Einflüssen aus Holland, England, Schottland und Nordamerika zu beobachten. In dieser Konstellation hat der burische Calvinismus – auch Afrikaaner Calvinismus genannt – seine spezifische Form gewonnen. „Er entstand als unsichere Legierung aus evangelikaler Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts und angepasst-kuyperianischem Neocalvinismus im Schmelzofen des Afrikaaner-Kampfes um kulturelle Identität und politische und wirtschaftliche Macht.“23

In den 1930er Jahren wurden Teile von Kuypers Theologie zunehmend über die GKSA-Kreise hinaus in der weiteren afrikaanssprachigen, weißen Bevölkerung und in anderen reformierten Kirchen Südafrikas24 rezipiert. Zum Lehrkörper der Universität Stellenbosch gehörten in den 1940er Jahren unter anderem F.J.M. Potgieter, E.E. van Rooyen, B.B. Keet, J.J. Müller und T.N. Hanekom – alles Mitglieder der NGK und ehemalige Studenten an der Freien Universität in Amsterdam, die Kuypers Werk in Südafrika bekannt machten.25 Nun erfuhr der niederländische Neo-Calvinismus für den südafrikanischen Kontext und seine kulturellen, rassischen und politischen Probleme eine systematisierende Interpretation. Die Vorstellung der Afrikaaner-Geschichte als Heilsgeschichte verbreitete sich in allen burisch-afrikaanischen Kreisen. In dieser Phase schlugen die Architekten und Ideologen des Afrikaaner-Nationalismus Kapital aus dem Mythos vom Afrikaanertum als dem von Gott auserwählten Volk. Zu den Wortführern gehörten Frederik Johannes Mentz Potgieter (1907–1992) und andere, die ihre Gedanken im reformierten Magazin „Koers in die Krisis“ verbreiteten.26 Ausgiebig bezogen sie sich darin auf Kuyper, formten aber an Schlüsselstellen dessen Ideen im Interesse des Afrikaanertums um. Das „Volk“ der Buren erklärten sie zu einem eigenen Bereich (kring) mit einer speziellen Berufung in der Welt, während Kuyper die „Souveränität 23 John de Gruchy, Befreiung der reformierten Theologie. Ein südafrikanischer Beitrag zur ökumenischen Diskussion (aus dem Englischen übersetzt von Ilse Tödt), München/Gütersloh 1995, S. 40 (Originalausgabe: Liberating Reformed Theology. A South African Contribution to an Ecumenical Debate, 1991). 24 Nederduitse Gereformeerde Kerk (NGK) und Nederduitsche Hervormde Kerk (NHK). 25 Lubbe, Half-known, S. 176. 26 „Koers in die Krisis“ (Kurs in der Krise) wurde von H.G. Stocker und F.J.M. Potgieter herausgegeben.

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der Bereiche“ nicht auf ethnisch verstandene Völker bezogen hatte.27 F.J.M. Potgieter, der sein dreijähriges Studium in Amsterdam 1939 mit einer Dissertation über Calvin abgeschlossen hatte, sprach 1956 in seiner Abschiedsvorlesung in Stellenbosch über das Thema „Vielfältige Entwicklung – der Wille Gottes“.28 Darin bezog er sich auf Kuypers Schrift „Einförmigkeit – Fluch der modernen Gesellschaft“29 sowie auf die Stone Lectures. Potgieter interpretierte die babylonische Sprachenverwirrung als Strafe Gottes für das sündige Streben der Babylonier nach Einförmigkeit unter den Menschen. Er schlug einen Bogen von der irdischen Diversität der Völker zur gottgewollten Getrenntheit der Kirche nach Hautfarben. Die Wirkungen dieser Argumentationslinie lassen sich im Presseorgan der NGK, Die Kerkbode, bis in die frühen 1980er Jahre verfolgen.30 1947 hat der Dichter Totius, inzwischen Universitätsprofessor in Potchefstroom, zusammen mit Evert P. Groenewald (1906–2002), seinem Kollegen, ein Arbeitspapier zum Thema „Politik der Rassentrennung und Vormundschaft“ vorgelegt.31 Darin bemerkte er, in der Bibel werde zwar die Einheit der Menschheit an erster Stelle erwähnt (Genesis 1), aber auch die Diversifizierung der Menschheit nach Rassen, Nationen und Sprachen sei Gottes Werk (Genesis 10 f). Gott sei der höchste „Separator“. Dieses ApartSetzen habe sich durch Zeit und Raum von selbst ausgebreitet und werde von Gott gesegnet (Deuteronomium 7). In der Menschheitsgeschichte gebe es Völker, die andere zu Untertanen gemacht hätten; den herrschenden Völkern sei aber die Vormundschaft über andere von Gott anvertraut worden (Genesis 4; Josua 9). In Christus sei schließlich eine „höhere“ Einheit zwischen den verschiedenen Völkern und Kirchen möglich geworden (Epheser 4,4–6). Weil die Einheit geistlich zu verstehen sei, nivelliere sie die Besonderheiten der Völker aber nicht.32 Dieser Text stieß in der NGK auf große Resonanz und wurde noch 27 Jahre später in der erwähnten Programmschrift der NGK Ras, 27 De Gruchy, Befreiung, S. 38. „Volk“ und „Nation“ wurden öfters auch synonym verwendet. Anders aber z. B. in der Programmschrift „Ras, Volk en Nasie en volkereverhoudinge in die lig van die Skrif“ (gebilligt von der General-Synode der NGK, Oktober 1974), wo von Volk im biologisch-rassischen Sinn und von „Nasie“ im politischen Sinn die Rede ist. Auf Deutsch übersetzt erschien die Programmschrift unter dem Titel: Menschliche Beziehungen der Völkerschaften Süd-Afrikas im Lichte der Heiligen Schrift (englisch: Human Relations and the South African scene in the light of the Scripture). Bezeichnender Weise ist in den übersetzten Titeln weder von Rasse noch von Nation die Rede. 28 Frederik J.M. Potgieter, Veelformige ontwikkeling – die wil van God, Bloomfontein 1956; Lubbe, Half-know, S. 177. 29 Abraham Kuyper, Eenvormigheid, de vloek van het moderne leven, Amsterdam 1869. 30 Lubbe, Half-known, S. 177, kommt zum Schluss, dass Potgieter Kuypers Publikation „Eenvormigheid, de vloek van het moderne leven“ aus dem Zusammenhang gerissen und missinterpretiert habe. 31 Policy of racial segregation and guardianship. Groenewald war damals Neutestamentler in Pretoria. Im Folgenden fasse ich Lubbes Ausführungen zusammen; Lubbe, Half-known, S. 176f. 32 Damit wurde in der NGK immer wieder der Schluss gezogen, dass aus der geistlichen Einheit keine praktischen Konsequenzen für das Zusammenleben und die Lebenslage der Völker folgen.

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Volk en Nasie en volkereverhoundinge in die lig van die Skrif rezipiert.33 Kurz nachdem die Nationale Partei 1948 die absolute Mehrheit erreicht hatte, konnte man im Presseorgan der NGK (Die Kerkbode) lesen: „Als Kirche haben wir bewusst auf eine Trennung dieser beiden Bevölkerungsgruppen [schwarz und weiß, CL] hingearbeitet. In diesem Zusammenhang kann man zu Recht von Apartheid als Kirchenpolitik sprechen.“34 Die Zeit zwischen 1948 bis Ende der 1980er Jahre übergehe ich bis auf wenige Bemerkungen. Zu einem Wendepunkt in der Kuyper-Rezeption kam es 1975 aufgrund der Studien von Irving Hexham, T. Dunbar Moodie und W.A. de Klerk.35 „All three these [sic] authors pointed out Kuyper’s Neo-Calvinism, as particularly found in his Stone Lectures (1898), as an important breeding ground for the Christian-National ,civil religion‘ of Afrikaners.”36 Im Anschluss daran – und angesichts des immer gewaltsameren Vorgehens der Apartheidregierung gegen den schwarzen Widerstand – meldeten sich aus verschiedenen südafrikanischen Kirchen Theologen zu Wort, die das KuyperBild, das im Dienst der Apartheid stand, scharf kritisierten. Dazu gehörten John de Gruchy, Douglas Bax37, Andr8 Du Toit38 und Johan Kinghorn.39 Nun standen sich in Südafrika zwei Kuyper-Bilder frontal und unversöhnlich gegenüber. Zur Entschärfung der Konfrontation hat unter anderem Jan Lubbe beigetragen, der sich bemüht, einseitig-selektive Kuyper-Lektüren zu vermeiden.40 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gingen verschie33 34 35 36 37 38 39 40

Generalsynode der NGK, Ras, Volk en Nasie. Lubbe, Half-known, S. 176 [Übersetzung CL]. Dazu der Literaturüberblick von Lubbe, Half-known, S. 179–182. Lubbe, Half-known, S. 179f. T.D. Moodie, The Rise of Afrikanerdom. Power, Apartheid and the Afrikaner Civil Religion, London 1975; Hexham, Irony ; W.A. De Klerk, The Puritans in Africa. A Story of Afrikanerdom, London 1975. D.S. Bax, A different Gospel. A Critique of the Theology behind Apartheid, Johannesburg 1979. A. Du Toit, No Chosen People: The Myth of the Calvinist Origins of Afrikaner Nationalism and Racial Ideology, American Historical Review 88 (4/1981/1983), S. 920–952. J. Kinghorn (Hg.), Die NG Kerk en Apartheid, Braamfontein 1986. Ferner Nico J. Smith; David J. Bosch und J.C. (Hannes) Adonis. Die erwähnten Autoren gehörten teils reformierten, teils anderen protestantischen Kirchen in Südafrika an. Lubbe, Half-known. Lubbe, Pfarrer in einer NGK-Gemeinde in Bloomfontein, hat als Teilzeitdozent an der theologischen Fakultät der Universität des Freistaates unterrichtet. Er interessiert sich für reformierte südafrikanische Theologen, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Kuyper die Apartheid kritisierten, so wie z. B. Barend Bartolomeus Keet (1885–1974), der von 1911 bis 1913 an der Freien Universität in Amsterdam als Doktorand von Bavinck promoviert wurde und ab 1920 als Professor für Ethik in Stellenbosch tätig war. Bereits in den 1930er und 1940er Jahren hatte Keet auf Karl Barth und die Barmer Theologische Erklärung in der Zeitschrift der NGK, Die Kerkbode, aufmerksam gemacht. In seinem Buch „Die Ethik der Apartheid“ (1957) nahm Keet apartheidkritische Positionen ein. Bei Keet hat auch Frederick Beyers Naud8 (1915–2004), ein herausragender reformierter Apartheidkritiker der 1960er und 1970er Jahre, studiert. Unter Keets Einfluss begann Naud8 während seines Studiums in Stellenbosch die Allianz von Theologie und Nationalismus zu hinterfragen; vgl. Beyers Naud8 in einem Interview mit Ch. Villa–Vicencio, The Spirit of Freedom. South African Leaders on Religion and Politics, Berkeley et al. 1996, S. 219–231, hier: S. 224.

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dene Autoren zunehmend dazu über, sich mit Kuyper für die Überwindung der Apartheid einzusetzen: W.D. Jonker, J.J.F. Durand, D.P. Botha, Chris Loff, Allan A. Boesak und Andries Botha, „a circle of kindred spirits who often unearthed perspectives on social justice and democracy from the convictions of Kuyper“, so Lubbe.41 Dass in Kuypers Werk und Denken Stärken und Schwächen zu finden sind, wurde praktisch von allen eingeräumt. Kontrovers diskutiert wurde jedoch die Frage, inwiefern es möglich und legitim sei, Kuyper trotz seiner Schattenseiten als einen theologischen Denker für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Diese unterschiedlichen Interessen und Lektüren illustriert im Folgenden ein Vergleich von Boesak und Russel Botman.

3. Kuyper-Rezeptionen im Übergang von der Apartheid zum Postapartheid-Staat 3.1 Mit Kuyper die Apartheid überwinden: Das Beispiel von Allan Boesak Allan A. Boesak (*1946), Mitglied der Nederduitse Gereformeerde Sendingkerk (NGSK), korrigierte in den 1970er und 1980er Jahren das die Apartheid legitimierende Kuyper-Bild aus der Perspektive des „wahren“ Kuyper – so, wie er ihn sah. Dass er dazu in der Lage war, verdankte er seinem Doktorstudium in Holland und seiner Begegnung mit James Cone (1938–2018) in den USA. Während burische Theologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr apartheidaffines Kuyper-Bild ihren Lehrmeistern in Holland verdankten, hat 70 Jahre später Boesak gelernt, Kuyper mit den Augen seiner apartheidkritischen Lehrer in Holland zu betrachten und ihn befreiungstheologisch zu lesen. Vor, während und nach dem Übergang zum PostapartheidStaat hat sich Boesak unter Berufung auf Kuyper für die Neugestaltung Südafrikas engagiert. Sein Fokus lag nicht auf der Erforschung des historischen Kuyper ; ihn interessierte Kuyper im Blick auf die Begründung seiner eigenen Positionierung in aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen.42 Mit Kuyper verbinden Boesak vor allem gewisse habituelle und biographische Gemeinsamkeiten. In der politischen Übergangsphase versuchte er als Politiker, die befreiungstheologischen Anliegen der Opposition der 1980er Jahre praktisch umzusetzen. Rückblickend auf diese Zeit hat er später allerdings den Eindruck gewonnen, dass seine Vision einer Reich-GottesPolitik aufs Ganze gesehen gescheitert war. 41 Lubbe, Half-known, S. 184. 42 In seinem Buch Black and Reformed geht Boesak nur am Rande auf Kuyper ein, und zwar im Sinne einer apartheidkritischen Relektüre Kuypers; Allan A. Boesak, Black and Reformed. Apartheid, Liberation and the Calvinist Tradition, Johannesburg 1984, S. 95f. und S. 98.

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Im Folgenden beziehe ich mich hauptsächlich auf Boesaks Rückschau auf sein Lebenswerk in seinem Buch Running with Horses. Reflections on an Accidental Politician.43 Darin betrachtet er 40 Jahre seines Lebens als gesellschaftlich und politisch engagierter Theologe. Seine politische Heimat war und blieb die United Democratic Front (UDF), die er 1983 mitbegründet und geleitet hatte, bis sie in den 1990er Jahren aufgelöst wurde.44 Einige Repräsentanten der UDF wurden am politischen Übergangsprozess beteiligt, so auch Boesak.45 Während der ersten drei Jahre gehörte er dem National Executive Committee46 an; nach den Wahlen von 1994 folgte seine Wahl zum Minister für Wirtschaftsangelegenheiten in der Provinz Western Cape. Damals wirkte er auch im Reconstruction and Development Program der Mandela-Regierung mit. Über seine damalige Rolle schreibt Boesak, er sei ein „accidental politician“ gewesen. In der Formulierung „accidental“ schwingen verschiedene Bedeutungen mit: zufällig, vorübergehend, bei Gelegenheit, verunglückt. Während der Ausflüge in die Partei- und Realpolitik wurde ihm klar, dass er als Theologe und Prediger politische Kompromisse nur als Verrat an der guten Sache sehen konnte.47 In diesem Zusammenhang hat er sich auf Calvin und vor allem auf Kuyper als seine theo-politischen Leitfiguren bezogen. Seine theologische Heimat sah und sieht er nach wie vor in dem, was er den „radikalen“ Calvinismus nennt, und in der Befreiungstheologie: „Ich bin ein Erbe jenes Calvin, der davor gewarnt hat, dass Könige sich vor allem an ihrer eigenen Größe erfreuen.“ Und: „Dem Geiste nach bin ich ein Kind Abraham Kuypers, der gesagt hat: ,Als ein Mann stehe ich, frei und kühn, den Mächtigsten unter meinen Mitmenschen gegenüber […] Im Bereich des Staates gebe ich niemandem nach und verbeuge mich vor niemandem meinesgleichen.‘“48 43 Allan A. Boesak, Running with Horses. Reflections on an Accidental Politician, Cape Town 2009 (Übersetzung der englischen Zitate im Text von CL). 44 Die UDF war ein außerparlamentarisches Oppositionsbündnis von rund 400 Organisationen (NGOs, kirchlichen Gruppen, Frauenrechtsgruppen, Gewerkschaften), deren erstes politisches Ziel die Bekämpfung des kurz zuvor eingeführten Dreikammersystems des Parlaments war. Als die Regierung Pieter Willem Botha (1916–2006) im November 1983 eine Verfassungsreform durchführte, war damit die Schaffung eines Dreikammersystems im Parlament verbunden. Auf diesem Wege wurde die strukturelle Ausgrenzung der schwarzen Bevölkerung im Prozess der politischen Mitbestimmung zementiert. Stattdessen privilegierte man die weiße Vorherrschaft und beteiligte die indisch-stämmige Bevölkerung und die Farbigen durch ihre eigenen Kammern mit marginalen Mitwirkungsrechten am legislativen Prozess. 1985 hatte die UDF 3 Millionen Mitglieder. https://de.wikipedia.org/wiki/United_Democratic_Front_(Südafrika) (27. Juli 2020). 45 Dazu von Allan A. Boesak, The Morning After: Exiles, Inziles and the Loss of Treasure, in: ders., Horses, S. 219–245. 46 Oberstes Exekutivorgan des African National Congress (ANC). 47 „Ein geborener Politiker würde sich wohl der Parteilinie fügen, aber einem Gelegenheitspolitiker wie mir fällt diese Form von political correctness viel schwerer.“ Boesak, Horses, S. 222. 48 Boesak, Horses, S. 220.

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Dieser (Neo-)Calvinismus verkörpert für Boesak eine Theologie der Herrschaft Jesu Christi in jeder einzelnen Facette des Lebens. Nach seiner Überzeugung geht es beim christlichen Zeugnis darum, in die reale Welt einzutreten, um sie herauszufordern, zu unterwandern und von Grund auf umzuwälzen, bis sie den Merkmalen des Reiches Gottes – Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden, Menschlichkeit – voll entspricht. Calvin und Kuyper sind für Boesak vor allem deshalb Vorbilder, weil sie seiner Überzeugung nach in den Gesellschaften ihrer Zeit substantielle Veränderungen bewirkt haben. Geradezu traumatisierend ist für Boesak aber die Zeit gewesen, als er am Verhandlungstisch des National Executive Committee mit Leuten des ExilANC zusammenstieß, die sich mit „realpolitischem“ Spürsinn gegen die prophetisch-visionären Südafrikaner behaupteten, die während der Apartheidzeit im Lande ausgeharrt haben. Boesak schreibt, dass die Träume, Hoffnungen, Ideen und mehr als anderes die Spiritualität, durch die sich die Apartheidgegner zu Hause im Kampf getragen wussten, für die Exilleute nicht existierten.49 Letztere „hatten die Welt, die sie kannten und mit der sie zufrieden waren, nach Südafrika zurückgebracht“ (S. 223). Ein noch größeres Unbehagen ergriff Boesak nach den Wahlen von 1994, als er Minister für Wirtschaftsangelegenheiten wurde. Auch damals hielt er an seiner selbstgewählten Rolle als prophetischer Mahner fest, indem er die überschwänglichen Hoffnungen der einstigen Mitstreiter im Antiapartheidkampf wachhielt. Damit stieß er bei den „Realpolitikern“ der ANC-Regierung allerdings auf Ablehnung. „Running with Horses“ lautet der Haupttitel des erwähnten Buches, eine Anspielung auf ein Bild in Jeremia 12, in dem der Prophet darüber klagt, dass der Weg der Frevler zum Erfolg führt, während die Rechtschaffenen leiden (Jeremia 15). Daraufhin sagt JHWH zu Jeremia: „Wenn du mit denen, die zu Fuß gehen, gelaufen bist und sie dich müde gemacht haben, wie willst du da mit den Pferden um die Wette laufen?“ (Jeremia 12,5) Zu Fuß mit Pferden um die Wette laufen: So beschreibt Boesak die ersten 15 Jahre im neuen Südafrika.50 Der Kampf gegen die Apartheid empfand er als Fußmarsch im Vergleich zum anspruchsvolleren Wettlauf im Aufbau des neuen Südafrika nach der Apartheid. Im Jahr 2008 zieht er Bilanz: „Was wir erhofft hatten, haben wir nicht wirklich erreicht.“ (S. 402) Der in der Verfassung verankerte, nichtrassische Grundsatz wird nach seiner Beobachtung zunehmend ignoriert. In der Politik kehrt man zum ethnozentrierten Denken zurück: Jede Hautfarbengruppe will politische Ziele nur für sich selbst erreichen, weil das leichter ist, als weiterhin am nicht-rassischen Ziel festzuhalten. Wer sich auf den 49 Boesak nennt sie im Unterschied zu den „Exiles“ die „Inziles“ (sinngemäss die zu Hause Gebliebenen). 50 Allan A. Boesak, A Country not Destined for Destruction: The Politics of Hope or the Politics of Delusion. Reflections 25 Years after the Launch of the United Democratic Front, in: ders., Horses, S. 392–405.

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breiten Weg des ethnischen Nationalismus begibt, öffnet der Gewalt, Xenophobie und dem Prinzip der Exklusion Tür und Tor. Mitten im neuen Südafrika lebt die Apartheid-Denkweise auf vielen Seiten wieder auf (S. 398 f.), so Boesak. Nach Erscheinen der Publikation „Running Horses“ hat sich Boesak erneut auf seine Rolle als Befreiungstheologe und prophetischer Mahner konzentriert. Seine Bühne und seine Adressaten haben sich von Südafrika in die USA und zu Weltorganisationen verlagert. Von 2013 bis 2017 hatte er den Desmond Tutu Lehrstuhl für Friedens-, Gerechtigkeits- und Versöhnungsstudien am Christian Theological Seminary (Buttler Universität, Indianapolis) inne. Als ehemaliger Generalsekretär des Reformierten Weltbundes (1982–1991) wird er heute von dessen Nachfolgeorganisation, der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK, engl.: WCRC), häufig zu Grundsatzreden eingeladen. In diesem Rahmen hat er mehrfach zur „globalen Apartheid“ gesprochen, der er alles zurechnet, was Menschen weltweit unterdrückt und was er als „Bedingung des Schwarzseins“ zusammenfasst: „[G]lobal apartheid forces upon oppressed, vulnerable groups and communities – from Indigenous peoples in the Americas to the Rohingya from Myanmar to sweat shop workers in Bangladesh, Vietnam and China, to LGBTQI persons, trafficked women and children in variable, but always vicious forms of slave labour, to religious and ethnic minorities in countries like India, the condition of blackness.“51

In Boesaks Rückschau liegen Streitbereitschaft für eine gute Sache und Enttäuschung über unerfüllte Hoffnungen dicht beieinander. Darin zeigen sich m. E. erstaunliche Parallelen zwischen ihm und Kuypers Theologie und politischer Praxis. 1. In beiden Fällen liegt der Fokus der Theologie beim Beitrag der Kirchen zur Politik. 2. Beide theologischen Profile sind von einem befreiungstheologischen Grundzug geprägt. 3. Für beide steht jeder Zoll der Lebenswirklichkeit im Herrschaftsbereich Jesu Christi und unter Gottes Souveränität.52 4. Wichtig ist für beide der Auftrag, die Gesellschaft in allen Bereichen „reichgottesgemäß“ umzugestalten.53 5. Dazu braucht es Christenmenschen, die unbeugsam an diesem Ziel fest51 Allan A. Boesak, In Search of Our Human Face: Global Apartheid, Global Solidarity, and Global Resistance (WCRC Consultation, Alexandria, Egypt, Nov. 3–7 2019), MS, S. 3f. (Ich danke Margit Ernst-Habib für diesen Hinweis). Mit dem Referat eröffnete Boesak ein Treffen zur strategischen Planung der WGRK. „Das Gewicht der Welt liegt ganz auf uns“, sagte Chris Ferguson, Generalsekretär der WGRK, zu diesem Anlass. Weltrettung als reformiertes Programm? 52 Aber wer entscheidet darüber : der Prophet oder der Politiker? 53 Aber wer weiß aufgrund welcher Kriterien, was genau in einer konkreten Situation „reichgottesgemäß“ ist?

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halten und alles tun, was der Glaube an die Reichgottesherrschaft von ihnen verlangt.

3.2 Ohne Kuyper an der Gestaltung des neuen Südafrika mitwirken: Hayman Russel Botman Hayman Russel Botman (1953–2014) hat sein ganzes Theologiestudium an der Universität von Western Cape verbracht und wurde dort 1994 promoviert (D.Th.). Während Boesaks Studierendenpfarramt an der derselben Universität hat sich Botman als Vertreter der Studierenden und Aktivist in der Antiapartheid-Bewegung engagiert. Zusammen mit Boesak und anderen Absolventen der Western Cape Universität formulierte Botman 1986 das berühmte Belhar Bekenntnis,54 das anschließend von seiner Kirche, der NGSK, angenommen worden ist. Botman spielte auch bei der Einigung zwischen den rassisch getrennten reformierten Kirchen eine Schlüsselrolle.55 Sein akademisches Leben bewegte sich von 1994 an bis zu seinem Tod 2014 zwischen den Universitäten von Western Cape und Stellenbosch. Seine Lehrtätigkeit reichte von Praktischer Theologie, Sozialethik, Missionswissenschaft und Ökumene bis hin zu „öffentlicher Theologie“. In seiner Zeit als Vizekanzler der Universität Stellenbosch gründete er dort das Beyers Naud8 Center for Public Theology (2002).56 Botman gehörte zeitweise einer Task-Group des Bildungsministeriums an und beriet den Minister in Fragen von Religion und Ausbildung. In einem Aufsatz von 2000 befasst sich Botman mit Kuypers Einfluss auf seine Rezipienten im Südlichen Afrika.57 Er kommt zum Schluss, dass Kuyper 54 Das Dokument, in dem die Ablehnung und Überwindung der Apartheid zur Bekenntnisfrage erklärt wird, ist seit 1986 das verbindliche Bekenntnis der Sendingkerk (NGSK). 1994 wurde es zum gemeinsamen Bekenntnis der Uniting Reformed Church in Southern Africa (URCSA), der sich auch die reformierte Kirche für Schwarze (Nederduitse Gereformeerde Kerk in Afrika, NGKA) angeschlossen hat. https://www.reformiert-info.de/Das_Belhar_Bekenntnis-98-0-56-3. html (21. Oktober 2020). 55 Uniting Reformed Churches in Southern Africa (URCSA); Mitglieder sind die farbigen, indischstämmigen und schwarzen reformierten Kirchen, bisher aber nicht die weiße NGK. 56 2013 wurde er vom Princeton Theological Seminary mit dem Kuyper Preis „for Excellence in Theology and Public Life“ geehrt. Ferner wurden ihm vom Hope College in Michigan die Ehrendoktorwürde für seine Verdienste im höheren Bildungswesen und von der Universität Aberdeen ein weiterer Ehrendoktor verliehen. Das Curriculum Vitae von 37 Seiten gibt einen Eindruck von seinen vielseitigen Engagements in Universität, Kirche, Ökumene, Wissenschaft und Politik : http://www.sun.ac.za/english/management/rector/Documents/ 20160321%20H%20Russel%20Botman%20-%20CV%20unabridged.pdf (22. September 2020). 57 H. Russel Botman, Is Blood Thicker Than Justice? The Legacy of Abraham Kuyper for Southern Africa, in: Lugo, Religion, Pluralism, and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the TwentyFirst Century, S. 342–361 (die Zahlen im Text beziehen sich hierauf). Der Aufsatz geht auf ein Referat zurück, das Botman 1998 im Rahmen einer Konferenz zur Erinnerung an die Stone Lectures 1898 in Princeton/NJ gehalten hat.

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bei der Entwicklung der Apartheidideologie erst zwischen 1935 und 1950 ins Spiel gebracht worden ist, als es der weißen NGK darum ging, zwei bereits stark ausgeprägte Grundwerte (core values) der burischen Afrikaaner mit einer dazu passenden theologischen Begründung auszustatten. In Anlehnung an eine These des US-Amerikaners Martin E. Marty (geb. 1928) erwähnt er als zwei Grundwerte burischer Identität und Theologie: die separateness und over-against-ness – also Getrennheit und das Gegen-Andere/Anderes-Sein.58 Die stark ausgeprägte ethnische und sprachliche Diversität der südafrikanischen Gesellschaft habe das Bedürfnis der Buren nach Rückzug in kleine Gruppen von Gleichen verstärkt. In diesem Kontext hätten sie separateness und over-against-ness als Grundwerte entdeckt und Trennwände gegen Außen errichtet, um sich im pluralen gesellschaftlichen Gefüge der eigenen Identität vergewissern und behaupten zu können (S. 348).59 In den 1930er und 1940er Jahren, fährt Botman fort, suchten und fanden dann Theologen der NGK bei Kuyper jene Theologie, die zu ihren Grundwerten der Getrenntheit und des Gegen-Andere-Seins passte. Dem sei Kuypers Sphärentheorie entgegengekommen. Nach Botman hatte die NGK nicht die Absicht, Kuypers theologisches Werk als Ganzes mit all seinen Differenzierungen und inneren Spannungen zu würdigen, sondern daraus nur jene Aspekte herauszufiltern, die mit dem Trennungsprinzip kompatibel waren.60 Botman ist aber der Ansicht, dass nicht nur die Kuyper-Rezeption, sondern auch Kuypers Theologie selbst durch die Grundwerte von Getrenntheit und Gegen-Andere-Sein geprägt ist (S. 354). Er belegt diese These hauptsächlich mit der von mir eingangs erwähnten Schrift „Die Krisis in Südafrika“. Darüber hinaus weist er auf die Gründung der Holländisch-Burischen Vereinigung von 1881 durch Kuyper. Diese Vereinigung, die bis heute existiert, war eine ausgesprochen pro-burische Gründung mit einer anti-schwarzen Stoßrichtung. Wann immer Kuyper sich über die reformierte Kirchenfamilie äußerte, hatte er, so Botman, nie die farbigen und schwarzen Reformierten in Südafrika mit im Blick, sondern immer nur die weißen, burischen Reformierten. Kuyper habe pan-holländische Gefühle exklusiv unter den Nachkommen holländischer Siedler in Transvaal kultiviert (S. 355). Er sei also, so Botman weiter, vom Grundwert der separateness als transnationale, überlegene, holländisch-stämmige Gemeinschaft durchdrungen gewesen. Zum Schluss fragt Botman, ob es nicht an der Zeit sei, Kuypers Vermächtnis als Ganzes hinter sich zu lassen und ein theologisches Profil nach Kuyper – und ohne ihn – auszubilden (S. 359). 58 Botman, Blood, S. 348f.; dazu Martin E. Marty, The Public Church: Mainline-EvangelicalCatholic, New York 1981. 59 Ergänzt wurde diese Devise durch ein missionspraktisches Element, demzufolge Getrenntheit in der Mission den Dienst am Reich Gottes am besten entspreche, denn: «small, strict, tribal churches are more vital” (S. 350). 60 „The DRC … recognized that Kuyper’s theology, for all its dialectical balance, was filtered through separateness and over-against-ness.“ (S. 354)

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„Wir sollten uns fragen, ob Kuypers Vermächtnis uns an die Schwelle einer postkuyperianischen Identität in einer spätmodernen und frühen, postmodernen öffentlichen Sphäre geführt hat, die von den Kräften der Globalisierung und den Erfordernissen einer größeren Ökumene bestimmt wird.“61

In seinen Ausführungen distanziert er sich vom holländischen Kuyper-Forscher, Wilhelm Hendrik Velema (1929–2019), der den – durch seinen Kontext geprägten – „historischen“ Kuyper vom zeitlos gültigen (philosophisch-) theologischen, „wahren“ Kuyper mit dem Ziel löst, nur Letzteren zu rezipieren.62 Wer dies tue, schreibt Botman, blende Kuypers holländischen Tribalismus, seine rassistischen Obertöne, seinen kulturellen und maskulinen Chauvinismus und seine exklusive Sorge für Südafrikaner mit holländischen Wurzeln aus. Wenn alle diese problematischen Seiten in Kuypers Werk ausgeblendet seien, würde vom historischen Kuyper nicht mehr viel übrig bleiben.63 Woran hat sich aber Botman orientiert, wenn er sich an Kuyper vorbei den theologischen Aufgaben im öffentlichen Raum unter den Bedingungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zuwandte? Die theologische Weichenstellung gegen Kuyper war in seinem Denken schon in den 1980er Jahren vorgeprägt, wie sein Aufsatz von 2000 zeigt. Darin geht er auf das Kairos Dokument von 1985 ein.64 Von diesem Schlüsseldokument südafrikanischer Befreiungstheologie hatten apartheidkritische Aktivisten geglaubt, es werde in der Transitionsphase zur „durchschlagenden Antriebskraft beim Denken und Neudenken der Theologie im demokratischen Südafrika“ (S. 356). Doch den Vertretern des Kairos Dokuments sei es, so Botman, nach 1990 nicht gelungen, eine neue theologische Debatte in Südafrika zu entfachen.65 Die Gründe dafür fand er im Dokument selbst: (a) Aufgrund der messianischen Sprache, mit der das Apartheidregime zum Feind Gottes und der Mehrheit des Volkes erklärt wird, sei die Kairos-Theologie in der Übergangsphase mit den Befreiungsbewegungen kollidiert, die den Verhandlungen mit der Regierung 61 „We should ask whether Kuyper’s legacy has taken us to the threshold of a post-Kyperian identity in a late modern and early postmodern public sphere determined by the forces of globalization and the needs for greater ecumenism.“ (S. 359). 62 Wilhelm H. Velema, Abraham Kuyper – Born 150 Years ago: A Study in Strengths and Pitfalls, in: RES Theological Forum 16/2 (June 1988). 63 Man müsse sich fragen, ob es möglich sei „to clean up Kuyper philosophically, without cleaning out Abraham Kuyper, the historical person“ (S. 359). 64 Das Kairos Dokument – Herausforderung an die Kirche. Ein theologischer Kommentar zur politischen Krise in Südafrika (2. revidierte Fassung), in: Rudolf Hinz/Frank Kürschner-Pelkmann (Hgg.), Christen im Widerstand. Die Diskussion um das südafrikanische Kairos Dokument, Stuttgart 1987, S. 9–43. 65 Bei der Feier zum 10jährigen Bestehen des Kairos Dokuments sei die Stimmung sehr gedrückt gewesen. Von Hoffnungslosigkeit, Enttäuschung, Frustration sei viel gesprochen worden, schreibt Molefe Tsele, Kairos and Jubilee, in: H. Russel Botman/Robin M. Peterson (Hgg.), To Remember and to Heal: Theological and Psychological Reflections and Reconciliation, Cape Town 1996, S. 70–78.

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über eine neue Verfassung zugestimmt hatten. Im Gegensatz dazu sei die Kairos-Theologie darauf festgelegt, „im Konflikt zwischen Kirche und Staat durch direkte Aktionen an maximalen Zielen festzuhalten“ (S. 357). (b) Ein weiteres Problem war nach Botman eine fehlende christologische Orientierung im Kairos Dokument. Er vermisst die Frage nach dem Verhältnis von Gottes Willen zur Offenbarung in Jesus Christus. Das hätte die Basis für ein kritisches und zugleich zukunftsweisendes Nachdenken über die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in der Postapartheid-Zeit ermöglicht. Es ist kein Zufall, dass Botman in den 1990er Jahren mit seinen Vorbehalten gegenüber dem Kairos Dokument eine theologische und politische Neuorientierung besser gelungen ist als Boesak. Sie fand im Rahmen der südafrikanischen Variante von public theology das dafür geeignete Forum. In der veränderten gesellschaftlichen Situation gewann für Botman und seine Kollegen in Stellenbosch die Rede von der politischen Öffentlichkeit eine zentrale Bedeutung. Erst aufgrund der verfassungsmäßig garantierten gleichen Rechte für Bürger und Bürgerinnen Südafrikas erhielt die nichtweiße Bevölkerungsmehrheit die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilnahme am öffentlichen Leben. Diese Möglichkeit wird von immer neuen Gruppen, Bewegungen und Individuen genutzt, um an der Gestaltung des neuen Südafrika mitzuwirken. Die politische Öffentlichkeit ist freilich auch zum Synonym für eine stark ausgeweitete Interessendiversität und Orientierungslosigkeit geworden. An die Stelle der single issues und der eindeutigen Konfliktkonstellationen (pro – contra Apartheid) ist eine breite Meinungsvielfalt über Themen getreten, die zuvor in öffentlichen Diskursen kaum eine Rolle gespielt hatten.66 Angesichts des politisch-ethischen Orientierungsbedarfs appellierte die Mandela-Regierung Ende der 1990er Jahre an die Religionsgemeinschaften und Nichtregierungsorganisationen, einen Beitrag zur Bildung eines moralischen und politischen Grundkonsenses der Nation (moral fibre of the nation) beizutragen.67 Kirchen und Theologie waren gefordert, ganz neu über ihre Rolle in der Gesellschaft und gegenüber dem demokratischen Staat nachzudenken.68 Das von Botman gegründete Beyers Naud8 Center ist ein Forum, auf dem der öffentlich-theologische Diskurs dauerhaft ermöglicht worden ist.69 66 So traten rassenbezogene Diskussionen in den Hintergrund zugunsten der Kritik an Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierungen. Dazu Katrin Kusmierz, Theology in Transition. Public Theologies in Post-Apartheid South Africa, Wien/Zürich 2016, S. 195–202. 67 Dazu Katrin Kusmierz/James R. Cochrane, Öffentliche Kirche und öffentliche Theologie in Südafrikas politischer Transformation, in: Christine Lienemann-Perrin/Wolfgang Lienemann (Hgg.), Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften, Stuttgart 2006, S. 195–226, hier: S. 207. 68 Eine Gelegenheit dazu hatten sie z. B. im 1999 im so genannten Multi-Event zum Thema „Religion in Public Life. Transforming Public Life: Religion in the Making of Public Policy and Cultural Values“. Mitgewirkt haben Teilnehmende aus Politik und Zivilgesellschaft, den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften sowie verschiedenen Basisorganisationen; vgl. Kusmierz/Cochrane, Öffentliche Kirche, S. 208f. 69 Seine Aufgabe nimmt das Beyers Naud8 Center (BNC) in folgenden Bereichen wahr : 1.

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4. Fazit Die Kuyper-Rezeptionen in Südafrika ergeben ein höchst unterschiedliches, ja irritierendes Bild. Für die einen ist Kuyper ein Wegbereiter der ApartheidTheologie und Apartheidpraxis gewesen, dessen Denken im Gleichklang mit der Apartheid steht. Diese Sicht ist nach Auffassung anderer ein Zerrbild von Kuyper, dem sie den „richtig“ verstandenen Kuyper entgegensetzen und damit die Apartheid de-legitimieren. Der Dissens zwischen diesen Positionen zeigt sich unter anderem in den unterschiedlichen Bibellektüren, ethischen Kriterien und Auffassungen menschlichen Handelns im Horizont des Gottesreiches. Zugleich zieht sich aber auch eine Kontinuität durch alle Kuyper-Rezeptionen hindurch: die Überzeugung, dass den Christenmenschen im Weltgeschehen und in allen Lebensbereichen verantwortliches Handeln aufgetragen ist. Die verschiedenen Verständnisse des Handelns im Hoffen auf das Reich Gottes, das schon erkennbar ist, dessen Vollendung aber noch aussteht und nicht primär vom menschlichen Tun abhängt, erklären die Divergenzen in der Kuyper-Rezeption. Hier zeigt sich eine Bruchlinie, die innerhalb des reformierten Protestantismus auch sonst begegnet. Der Vergleich zwischen Boesak und Botman illustriert sie erneut im Post-Apartheid Südafrika. Dort wird sie in den nächsten Jahren vermutlich die Auseinandersetzungen um die Kuyper-Lektüren auch weiter prägen. Bei den meisten südafrikanischen Autoren, die sich seit den 1970er Jahren mit Kuyper beschäftigt haben, besteht ein Konsens über die Ambivalenzen in seinem Lebenswerk. Sie werden allerdings unterschiedlich gewichtet, vor allem werden daraus unterschiedliche Folgerungen für den heutigen Umgang mit diesem Erbe gezogen. Gewiss, Kuypers Aussagen zu den Völkern und „Rassen“ waren zeitbedingt; sie waren dem damaligen Sprach- und Wortgebrauch geschuldet. Zurecht ist davor gewarnt worden, eine Epoche der Vergangenheit an heutigen Menschenrechtsstandards zu messen. Problematisch ist es aber, Kuyper mit dem Hinweis, er habe zu seiner Zeit nicht anders denken und schreiben können, grundsätzlich zu entschuldigen. Wenn man seine fragwürdigen Überzeugungen generell der Zeitbedingtheit zurechnet und aus der systematisch-theologischen Reflexion ausblendet, historisiert man ihn nicht nur, sondern relativiert ihn auch als ernstzunehmenden Ge-

Durchführung inter- und transdisziplinärer Diskussionen über Themen von öffentlicher Relevanz; 2. Vermittlung kontroverser Positionen zu strittigen öffentlichen Fragen; 3. Befähigung und Stärkung von Glaubensgemeinschaften, akademischen Akteuren und Institutionen in verschiedenen Bereichen der breiteren Gesellschaft. Insbesondere äußert sich das BNC zu folgenden Problemfeldern: a) Menschenwürde und Menschenrechte; b) Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in globalen Zusammenhängen; 3) Glaube und soziale Identität; 4) Verantwortungsbewusste Bürgerschaft. Für das Statement des BNC vgl. http://www.sun.ac. za/english/faculty/theology/bnc/about-us/ (30. Juli 2020).

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sprächspartner in der kritisch-würdigenden Auseinandersetzung über Sachfragen, die zeitübergreifend wichtig bleiben. Hundert Jahre nach Kuypers Tod ist auf Selbstwidersprüche innerhalb seines Werkes zu achten. Was Kuyper beispielsweise in den Stone Lectures zur Überwindung der Sklaverei geäußert hat, hätte er auch in der konkreten Situation der südafrikanischen Buren zur Geltung bringen müssen. Seine völkerkundlich begründeten Rassismen und deren biblische Legitimation betreffend wäre es etwa wichtig zu wissen, ob es im Übergang zum 20. Jahrhundert andere Bibellektüren gegeben hat, mit denen Kuypers Äußerungen verglichen werden könnten. Belege dafür finden sich vor allem in den USA, was Kuyper allein schon deshalb hätte interessieren müssen, weil er in der (weißen) Bevölkerung die höchste Zivilisationsstufe gesehen und die Emanzipation der Frauen in den USA gelobt hat.70 Seit den 1880er Jahren haben sich auf dem damaligen Höhepunkt der USamerikanischen christlichen Frauenbewegung, die international und überkonfessionell gut vernetzt war, Frauen mit profunden Hebräisch- und Griechischkenntnissen in die von Männern dominierte exegetische Zunft eingemischt.71 Anlass war die weit verbreitete biblische Legitimation der Versklavung von Frauen innerhalb und außerhalb der Ehe, von Nichtweißen in den USA und von der Bevölkerung in den von westlichen Mächten kolonisierten Ländern. Ähnlich wie Bartolom8 de Las Casas im 16. Jahrhundert haben Katharine Bushnell, Elizabeth Andrew, Josephine Butler, Maria Stewart, Helen B. Montgomery, die Inderin Pandita Ramabai und weitere Frauen in den USA und in den asiatischen Missionsländern die Lebensbedingungen von Frauen erforscht und dokumentiert, die männliche Doppelmoral des viktorianischen Zeitalters beim Namen genannt und aufgrund ihrer Bibellektüren an ihre Zeitgenossen appelliert, das elementare Geburtsrecht von Frauen zu respektieren.72 Was hat ihnen die Kraft verliehen, gegen den exegetischen Trend ihrer Zeit die Bibel als befreiende Botschaft für Frauen und für kolonisierte Menschen, die dem weißen Rassismus ausgesetzt waren, zu lesen? Die Missionarin, Ärztin und Sozialreformerin Katharine Bushnell (1855–1946) hat es so ausgedrückt: „Wenn wir unsere Bibeln lesen, dann ziehen wir es vor, genau zu wissen, was der Heilige Geist zu uns spricht, statt zwischen ihren Seiten auf die Meinungen noch so brillanter nicht-inspirierter Männer zu 70 Kuyper, Reformation, S. 190. Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe des Calvinismus – neu gelesen, Bielefeld 2019, S. 69–71. 71 Irmtraud Fischer/Angela Berlis/Christiana de Groot (Hgg.), Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts (Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie, Band 8.1), Stuttgart 2020. 72 Kristin Kobes Du Mez, Globale Aktivitäten und Bibelauslegung durch Frauen im viktorianischen Zeitalter, in: Fischer/Berlis/de Groot, Frauenbewegungen, S. 209–227; Christine Lienemann-Perrin, Bibel-Lektüren von Frauen im Missionskontext. Helen Barrett Montgomery im Vergleich mit Pandita Ramabai, in: aaO., S. 187–208; Joy A. Schroeder, Maria Stewarts Bibelauslegung im Kontext der afroamerikanischen Frauenbewegung, in: aaO., S. 228–248.

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stoßen.“73 Der „Heilige Geist sprach zu ihr“ nicht durch spontane Gefühle, sondern durch zehnjährige konzentrierte Bibelstudien, denen sie ihren exegetischen Scharfsinn verdankte.74 Und Pandita Ramabai, die kritisierte Hindugelehrte, die verdächtige Konvertitin, die streitbare Theologin und pfingstlich-erweckte Christin, die angefeindete Gründerin eines Rettungswerkes für Kinderwitwen und Kastenlose, die provozierende Bibelübersetzerin: Sie hat im wahrsten Sinn des Wortes ein Leben outside the fold gelebt.75 Ausserhalb jeder eindeutig abgrenzbarer Gruppenzugehörigkeit ist sie ihren religiösen Lebensweg in Wahrhaftigkeit gegangen. In einem Brief an Geraldine, eine anglikanische Ordensfrau in England, schreibt Ramabai: „Ich habe ein Gewissen und einen Geist und ein Urteilsvermögen. Ich muss selbst denken und alles tun, was Gott mir gegeben und zu vollbringen anvertraut hat.“76 Bushnell, Montogmery und Ramabai haben während der 1880er Jahre in den US-amerikanischen Medien weit über die Frauenbewegung hinaus große Aufmerksamkeit gefunden.77 Sie konnten jenen, die sich für die Stellung der Frau in Familie, Gesellschaft und in der Bibel interessierten, kaum entgangen sein. In den Stone Lectures hat Kuyper selbst die „Frau als Sklavin des Mannes“ beklagt.78 Freilich scheint sein Frauenbild den Geist der Zeit nicht nennenswert herausgefordert zu haben.79 Wie dem auch sei: Wie die Bibellektüren der erwähnten Frauen zeigen, war es zu Kuypers Zeit durchaus möglich, gegen den Mainstream zu forschen, gegenkulturelle Perspektiven zu gewinnen und danach zu handeln. 73 Kobes Du Mez, Globale Aktivitäten, S. 224. Bestürzt über wiederholte Berichte vom Missbrauch indischer Frauen durch angeblich christliche Männer wandte sie sich ratsuchend ihrer Bibel zu und „suchte im Gebet Erleuchtung im Hinblick auf das, was das Wort über die Pflicht lehrt, die ein Geschlecht dem anderen gegenüber hat.“ AaO., S. 217. 74 Katharine Bushnell, God’s Word to Women. Hundred Bible Studies on Women’s Place in the Church and the Home, Minneapolis 2003 (11916). 75 Nach Johannes 10,16 sagt Jesus: „Ich habe noch andere Schafe, die ausserhalb des Stalles sind.“ 76 „I have a conscience, and mind and judgement of my own, I must myself think and do everything which GOD has given me the power of doing.“ Letters and Correspondence of Pandita Ramabai 1970, S. 59 (Brief von Ramabai an Geraldine vom 12. Mai 1885). Gauri Viswanathan, 1998: Outside the Fold. Conversion, Modernity, and Belief, Princeton NJ 1998. 77 So trat Bushnell 1888 öffentlichkeitswirksam gegen den weißen Sklavenhandel in den USA auf. Vor einem internationalen Publikum kritisierte sie 1893 die Rassenvoreingenommenheit ihrer Zeit, insbesondere die christlichen „Gentlemen“ in ihrer Machtausübung gegenüber Frauen in den kolonisierten Ländern (Kobes Du Mez, Globale Aktivitäten, S. 211.226); die Inderin Ramabai erregte während ihres USA-Aufenthaltes 1886–1888 in der amerikanischen Frauenbewegung großes Aufsehen mit ihren Schilderungen der Situation von indischen Witwen. 78 Kuyper, Reformation, S. 19. Der Frage, ob Kuyper Bushnell und andere Exegetinnen zur Kenntnis genommen hat, habe ich bisher nicht nachgehen können. 79 Im Unterschied zu Bushnell hat Kuyper das einseitige Unterordnungsverhältnis zwischen den Geschlechtern als göttliche Ordnung verteidigt; vgl. ders., De Eerepositie der Vrouw, Kampen 1914; ders., Pro Rege, I, S. 447 ff.; ders., De Gemeene Gratie. Dazu A. van Egmond/Cornelis van der Kooi, The Appeal to Creation Ordinances: A Changing Tide, in: REC Theological Forum 21/ 4 (December 1993), S. 13–25. Ich danke Dirk van Keulen für diese Hinweise.

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Die Relektüren von Kuypers Lebenswerk im Allgemeinen und seinen Äußerungen zu Südafrika im Besonderen finden heute in einem erheblich erweiterten, globalen wissenschaftlichen Kommunikationsraum statt, zu dem Fachleute aller Hautfarben aus allen Teilen der Welt Zugang haben sollten. Darauf macht Russel Botman aufmerksam, wenn er für die Gestaltung des Post-Apartheidstaates „ohne Kuyper“ plädiert. Was aber ist mit Boesak, der darauf beharrt, „Kuyperianer“ zu sein? Hier gilt: Black voices matter ; denn die Stimmen von beiden und von vielen anderen zählen. Es sind allerdings uneinheitliche Stimmen – wie könnte es anders sein? Die angedeutete Bruchlinie zwischen den südafrikanischen Kuyper-Interpretationen zieht sich auch durch die black community in Südafrika. Kuypers Werk in der erweiterten Interpretationsgemeinschaft neu zu lesen heißt, für alle Stimmen ein Ohr zu haben, um anschließend alle Argumente vor dem Hintergrund einer gemeinsamen biblischen Relektüre neu zu prüfen, um zu begründeten, gemeinsamen Einsichten zu gelangen. „Prüfen heißt: Wählen und Verwerfen. Gewählt und angenommen wird, was dem Kommen des Reiches Gottes nicht im Wege steht, was auf die Lebensgesetze der kommenden Welt Gottes vorausweist.“80 Nur so werden die Grenzen und Ambivalenzen der KuyperRezeption im 21. Jahrhundert erkennbar.

80 Heinz Eduard Tödt, Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, S. 75.

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„Just a minor thinker“? Zur Größenordnung in der Formation von Abraham Kuypers politisch-theologischem Denken. Versuch einer dialektischen Würdigung1 1. Vorbemerkung Als ich vor einigen Jahren einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt am Princeton Theological Seminary antrat, sorgte dies für Irritationen. Ich betonte bei meinen Antrittsbesuchen gegenüber Kolleg*innen, dass ich sowohl am „Center for Barth Studies“ als auch am „Abraham Kuyper Center for Public Theology“ mein „sabbatical“ verbringen wolle. Dieses Ansinnen schien indes schwer vermittelbar zu sein, mindestens ebenso schwer wie die Positionen der Namensgeber beider Institutionen.2 Ein mir wohlgesonnener, älterer Kollege sprach seinen Vorbehalt gegenüber meinen Plänen dann auch recht unverblümt aus: Barth, ja natürlich, aber Kuyper?3 Solch eine Beschäftigung lohne sich nun wirklich nicht. Denn: „He is just a minor thinker!“ An Abraham Kuyper (1837–1920) scheiden sich die Geister.4 Die einen halten ihn für ein „Genie“5, das mit seinen Calvinismus-Vorlesungen den faszinierenden „Versuch einer modernen Fortschreibung [statt Repristinierung] des Calvinismus“6 unternommen habe, für die anderen ist Kuyper „just 1 Für Hilfestellung bei den Übersetzungen aus dem Niederländischen danke ich herzlich Herrn Prof. Dr. Gerard den Hertog (Apeldoorn) und für wichtige Hinweise Herrn PD Dr. Hans-Georg Ulrichs (Karlsruhe/Osnabrück). 2 Eine Kampfkonstellation identifiziert etwa Theodorus Lambertus Haitjema, Der Kampf des holländischen Neu-Calvinismus gegen die Dialektische Theologie, in: Theologische Aufsätze. Karl Barth zum 50. Geburtstag, München 1936, S. 571–589. 3 Zu Barth und Kuyper vgl. Clifford B. Anderson, Jesus and the „Christian Worldview“. A Comparative Analysis of Abraham Kuyper and Karl Barth, in: Cultural Encounters 2 (2/2006), S. 61–80. Vgl. auch den Bonhoeffer/Kuyper-Vergleich von Gerard Dekker/George Harinck, The Position of the Church as Institute in Society : A Comparison between Bonhoeffer and Kuyper, in: PSB 28 (1/2007), S. 86–98. 4 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Wo er auftrat, gab es Krach. Vor hundert Jahren starb Abraham Kuyper, der Begründer des Neocalvinismus, in: Zeitzeichen 11/2020, S. 22–24. 5 Hans-Georg Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe des Calvinismus – neu gelesen, Bielefeld 2019, S. 72. Vgl. auch a. a. O., S. 13. Fernerhin: Nicholas P. Woltersdorff, Abraham Kuyper (1837–1920), in: John Witte Jr./Frank S. Alexander (Hgg.), The Teachings of Modern Christianity on Law, Politics, and Human Nature Vol. 2, New York 2006, S. 219–248, hier: S. 219: „He [sc. Kuyper] was an astonishing polymath and an organizational genius.“ Vgl. auch die freilich ganz anders, nämlich evangelikal ausgerichtete Darstellung James E. Goldrick, God’s Renaissance Man. The Life and Work of Abraham Kuyper, New York 2006 (Reprint). 6 Vgl. Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, S. 59.

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a minor thinker“. Oder um die Lagerbildung entlang dieser divergenten Wahrnehmung etwas zu variieren: Während ihn die einen für den kühnen Visionär einer zukunftsfähigen „Public Theology“7 und postmodernefähigen christlichen Ethik8 erachten, wehren sich die anderen mit Händen und Füßen gegen seine Impulse und sein Erbe. Welches dieser beiden Lager hat nun Recht? Anders gefragt: Wer und/oder was ist Kuyper – ein großer oder kleiner Theologe? Körperlich war Kuyper nach allem, was wir wissen, kein Goliath und dennoch hatte sein Auftreten – wie biographische Eingaben immer wieder bestätigen – „etwas Imponierendes“. Nicht umsonst wurde er „Abraham der Gewaltige“9 genannt. Dieses – gar einer altorientalischen Gottheit würdige – Epitheton hat er sich gewiss auch 1898 in Princeton verdient, wo sein Auftritt anlässlich der „Stone Lectures“10 seine Wirkung nicht verfehlte. „Er ist ein geborener Schauspieler, der intuitiv weiß, welche Rolle er in einer bestimmten Situation zu spielen hat.“11 Wie ein spanischer Matador erschien er den Anwesenden, die er in seinen Bann zog. Und man fragt sich noch heute: Was macht(e) – abgesehen von Kuypers virtuoser Rhetorik – das Faszinosum dieser Vorlesungen aus? Bevor ich dieser Frage auf dem Hintergrund der politisch-theologischen Ausführungen Kuypers insbesondere in der dritten Vorlesung („Der Calvinismus und die Politik“, gehalten am 14. Oktober 1898)12 seiner „Stone Lec7 Dies ist etwa die Auffassung von Max L. Stackhouse (1935–2016). Vgl. dazu Friederike van Oorschot, Öffentliche Theologie angesichts der Globalisierung. Die Public Theology von Max L. Stackhouse (ÖTh 30), Leipzig 2014, S. 101–107. Vgl. auch Vincent E. Bacote, The Spirit in Public. Appropriating the Legacy of Abraham Kuyper, Grand Rapids 2005; John Bolt, A Free Church, A Holy Nation. Abraham Kuyper’s American Public Theology, Grand Rapids/Cambridge 2001. Vgl. fernerhin: Michael Welker, Is Theology in Public Discourse Possible outside Communities of Faith?, in: Luis E. Lugo (Hg.), Religion, Pluralism, and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the Twenty-First Century, Grand Rapids/Cambridge 2000, S. 110–122, hier: S. 111. 8 So etwa Guenther Haas, Kuyper’s Legacy for Christian Ethics, in: CTJ 33 (1998), S. 320–349. Vgl. auch James W. Skillen, Why Kuyper Now?, in: Lugo, Religion, Pluralism, and Public Life, S. 365–372. 9 Cornelis Augustijn, Abraham Kuyper, in: Martin Greschat (Hg), Gestalten der Kirchengeschichte Bd. 9/2: Die neueste Zeit II, Stuttgart u. a. 1985, S. 289–307, hier: S. 298. Vgl. Dirk van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, in: Marco Hofheinz u. a. (Hgg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins (RHT 9), Göttingen 2011, S. 338–359, hier: S. 348. 10 Abraham Kuyper, Lectures on Calvinism. Six Lectures Delivered at Princeton University Under Auspices of the L.P. Stone Foundation, Grand Rapids 1931. Dt. Übersetzung: Abraham Kuyper, Reformation wider Revolution. Sechs Vorlesungen über den Calvinismus, gehalten zu Princetown, übersetzt von Martin Jaeger, Gr. Lichterfelde 1904. Auf diese Ausgabe beziehen sich alle Verweise im Fließtext. Als Kommentar zu den Calvinismus-Vorlesung siehe: Peter S. Heslam, Creating a Christian Worldview. Abraham Kuyper’s Lectures on Calvinism, Grand Rapids/ Cambridge 1998. Siehe auch Jeroen Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006, S. 418–428; James D. Bratt, Abraham Kuyper, Modern Calvinist, Christian Democrat, Grand Rapids/Cambridge 2013, Kap. 13. 11 Augustijn, Abraham Kuyper, S. 298. 12 Vgl. Bolt, A Free Church, S. 465 („Itinerary of Abraham Kuyper’s Visit to America in 1898“).

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tures“ nachgehe,13 ist es nötig, einige methodische Bemerkung vorzuschieben.14 Die Frage nach Kuypers Größe beziehe ich dabei, wie zunächst festgehalten werden darf, auf die Formation von Abraham Kuypers politischtheologischem Denken. Um Kuypers Denken Fairness widerfahren zu lassen, kann und soll diese Frage differenziert und dialektisch beantwortet werden.15 Ich benenne jeweils Argumente im Stil von Pro und Contra für dessen Größe und Marginalität. Ob dabei im Ergebnis – verteilt auf Pro und Contra – viel Licht und wenig Schatten zu konstatieren sein wird, oder viel Schatten und wenig Licht, wird sich zeigen. Dass indes die Stärken jeweils nur auf dem Hintergrund der Schwächen identifiziert und benannt werden können und sollen, sowie umgekehrt die Schwächen nur auf dem Hintergrund der Stärken, halte ich im Sinne einer differenzierten und dialektisch verfahrenden Urteilsbildung für ausgemacht. Keine ernsthafte Würdigung wird ohne Kritik auskommen können und keine ernsthafte Kritik ohne Würdigung. Jede Würdigung beginnt mit einer Kritik und jede Kritik mit einer Würdigung. Da es mir im Folgenden um einen Versuch geht, Kuypers politisch-theologisches Denken dialektisch zu würdigen, beginne ich eo ipso mit einer Kritik. Auf dem eingeschlagenen kritischen Weg zeigt sich: Man muss erst einmal bestimmte Schichten abtragen und freilegen, bevor man zu brauchbarem Material vorstößt. Eine solchermaßen stratifizierende Hermeneutik, die gleichsam archäologisch birgt, soll den im Folgenden entfalteten Versuch leiten. Diese Versuchsanordnung dient einem recht verstandenen „Annäherungsversuch“ an Kuyper und sein politisch-theologisches Denken.16 13 Vgl. Kuyper, Reformation und Revolution, S. 71–100. Vgl. als Kommentar zur dritten Vorlesung Heslam, Creating a Christian Worldview, S. 142–166. 14 Im Rahmen einer ausführlicheren Studie wäre es unabdingbar, Kuypers „staatskundliche“ Ausführungen in den „Stone Lectures“ mit seinem Spätwerk, namentlich der zweibändigen „Antirevolutionaire Staatkunde“ (Eerste Deel: De Beginselen [Kampen 1916]; Tweede Deel: De Toepassing [Kampen 1917]), zu vergleichen. Besonders aufschlussreich sind etwa die Darstellung des Verhältnisses von Kirche und Staat in: Antirevolutionaire Staatkunde I, S. 417–486, sowie die Darstellung des Calvinismus (a. a. O., S. 621–719). Zur Genese vgl. Koch, Abraham Kuyper, S. 546–555. 15 Treffend stellt Walter Kreck (Rechter und falscher Respekt vor dem Bekenntnis der Väter, in: Walter Herrenbrück/Udo Smidt [Hgg.], Warum wirst Du ein Christ genannt? Vorträge und Aufsätze zum Heidelberger Katechismus im Jubiläumsjahr 1963, Neukirchen-Vluyn 1965, S. 67–78, hier: S. 67f.) fest: „[W]ir möchten weder zu denen gehören, die in blinder Autoritätsgläubigkeit nur die Gräber der Propheten schmücken, noch zu den theologisch meist leicht befrachteten ewigen Besserwissern, welche die Geschichte der Theologie und Kirche mit sich selbst beginnen lassen, sondern wir gedenken der Väter mit einer Dankbarkeit und Verehrung, aber auch in einer Freiheit, die ich als kritischen Respekt bezeichnen möchte.“ Bei Kuyper (S. 17) heißt es: „Der Calvinismus hat dem Genie nie Weihrauch gestreut. Er hat seinen Helden kein Standbild errichtet, kaum daß man ihren Namen nennt.“ 16 Vgl. Marco Hofheinz, Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus. Calvin, Kuyper, Barth und der säkulare, weltanschauliche neutrale Rechtsstaat, in: Matthias Freudenberg/Georg Plasger (Hgg.), Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Vorträge der achten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 14), Neukirchen-Vluyn 2011, S. 51–77 (wiederab-

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2. Anfälligkeiten oder : Die Schwächen im politisch-theologischen Denken Abraham Kuypers Etwas hemdsärmelig formuliert: Um Kuyper würdigen zu können, muss man sich erst einmal Luft verschaffen und, um die bellikose Metaphorik Kuypers aufzugreifen,17 eine Kanonade an Kritik und Gravamina loswerden, bevor man auch Stärken benennen kann. Nur auf diesem Hintergrund, gleichsam dialektisch eingebettet, wird eine Würdigung erfolgen können. Salopp formuliert: Man muss erst einmal schimpfen wie ein Rohrspatz, bevor man einen leisen Lobgesang anzustimmen vermag. Dazu komme ich nochmals auf die Faszination zurück, die von Kuypers „Stone Lectures“ ausging. Sie ist sicherlich zu einem Gutteil auf eine gewisse Einseitigkeit zurückzuführen, mit der Kuyper seine Geschichtskonstruktion durchführt. Seit Hayden White (1928–2018) wissen wir, dass Historie auch eine rhetorische Gattung ist, die sich bei den Griechen aus dem Epos entwickelt hat.18 Kuypers Einseitigkeit ist auf das Engste mit der hohen Dosis Selbstbewusstsein verknüpft, die er dem „Calvinismus“ injiziert. Einer meiner Studenten hat es nach einer Kuyper-Sitzung in einem Seminar auf den Punkt gebracht: „Kuyper lesen ist wie eine Überdosis Anabolika für den reformierten Zehnkampf des Lebens. Man verspricht sich Muskelkraft und gerät dabei doch nur in die ständige Gefahr des Herzversagens.“ Hat der Student nicht Recht? 2.1 Heroistisch-hagiographische Anfälligkeiten: Kuypers homogenisierendes Calvinismus-Narrativ Bereits wenn wir fragen, was das denn sei – der Calvinismus, werden wir dessen ansichtig, was Kuyper überbetont und/oder ausblendet. Der Calvinismus beginnt für Kuyper – anders als etwa bei Ernst Troeltsch19 – mit Johannes Calvin20, nicht etwa mit Ulrich Zwingli, und endet in der Gegenwart,

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gedruckt in: ders., Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert (FRT 9), Neukirchen-Vluyn 2017, S. 343–369). Vgl. dazu Augustijn, Abraham Kuyper, S. 299. Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, übersetzt von Peter Kohlhaas, Frankfurt a.M. 1991. Vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen Bd. 2 (1912) (UTB 1812), Tübingen 1994 (ND), S. 681.752. Genau genommen mit Johannes Calvin und Johannes a Lasco, als dessen Erbe sich Kuyper ebenfalls versteht. So Jasper Vree, Abraham Kuyper als Erbe a Lascos, in: Christoph Strohm (Hg.), Johannes a Lasco (1499–1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator. Beiträge zum internationalen Symposium vom 14.–17. Oktober 1999 in der Johannes a

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also für Kuyper gewissermaßen mit Kuyper. Dazwischen rekonstruiert er eine betont breite Traditionslinie (vgl. S. 8f.), die von der amerikanischen Revolution (1763–1783), über die „Glorious Revolution“ (1688/89) gegen das Stuartkönigtum, über Wilhelm den Schweiger, den Führer im niederländischen Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien (1568–1648), bis hin zu Calvin verläuft (vgl. S. 78–80). In dieser Sukzession sieht Kuyper das vollmundige Urteil grundgelegt: „Im Calvinismus liegt der Ursprung und die Bürgschaft unserer konstitutionellen Freiheiten“ (71).21 Kuyper neigt hier ganz offenkundig dazu, die kulturelle Prägekraft und den politischen Einfluss des Calvinismus auf die Rechts- und Freiheitsentwicklung sehr hoch einzuschätzen, wenn nicht gar zu überschätzen.22 Anders gesagt: Kuypers Blick auf den Calvinismus ist recht verklärt. Er allein sei in der Lage, dem „Sturm des Modernismus“ (S. 4) zu trotzen, wie Kuypers bereits zu Beginn der „Stone Lectures“ und dann auch am Ende (S. 187) staccato einhämmert.23 Kuypers Traditionslinie Calvin, Niederlande, England und USA als „den drei historischen Ländern politischer Freiheit“ (S. 71) repräsentiert ein reduktionistisches Narrativ, das viele andere Traditionsströme ausblendet und zudem das Feindbild der „gottlosen“ Französischen Revolution („ni Dieu ni maitre“) (S. 16.80.174; vgl. zu deren Terror S. 100) kolportiert.24 Immer dann, wenn er auf die Französische Revolution zu sprechen kommt, ereifert sich Kuyper regelrecht. Man gewinnt bisweilen den Eindruck, als treibe ihm dann ein obsessiver Antimodernismus ungebremsten Schaum vor den Mund. Die Ironie besteht nun freilich darin, dass Kuyper trotz oder gerade auf dem Hintergrund dieser anitmodernistischen Invektiven versuchte, den Calvinismus zu modernisieren bzw. „der christlichen Präsenz eine moderne Form zu geben.“25 Kuyper selbst vertritt paradoxerweise einen mit bestimmten mo-

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Lasco Bibliothek Emden (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 14), Tübingen 2000, S. 357–375. Vgl. Abraham Kuyper, Calvinism: Source and Stronghold of Our Constitutional Liberties (1874), in: James D. Bratt (Hg.), Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids/Cambridge 1998, S. 279–322. So auch John Witte Jr., Die Reformation der Rechte. Recht, Religion und Menschenrechte im frühen Calvinismus, übersetzt von Annette Glaw (Theologische Anstöße 8), Neukirchen-Vluyn 2015, S. 382. Zum Modernismus, den Kuyper stets von der Moderne zu distinguieren bemüht ist, vgl. Abraham Kuyper, Modernism: A Fata Morgana in the Christian Domain (1871), in: Bratt, Abraham Kuyper. A Centennial Reader, S. 87–124. Zum Feindbild der Französischen Revolution muss man freilich beachten, dass in Deutschland die französisch-demokratischen Traditionen im Grunde genommen erst nach 1945 positiv rezipiert wurden und vorher von nationalem Ressentiment geprägt waren. So Walter Grab, Französische Revolution und deutsche Geschichtswissenschaft, in: Sonja Brink/Rainer Schoch (Redaktion), Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland, Nürnberg 1989 (Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg), S. 41–58. Jasper Vree, Art. Kuyper, Abraham, RGG4 4 (2001), S. 1912–1913, hier: S. 1912. So auch Hendrikus Berkhof, 200 Jahre Theologie. Ein Reisebericht, Neukirchen-Vluyn 1985, S. 117.

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dernen Ideen Westeuropas versöhnten, freikirchlich umgeformten und antirevolutionär amalgamierten Heiligungscalvinismus26.27 John Bolt hat bezeichnenderweise von „Abraham Kuyper’s Christian-Historical Political Imagination“ und von „Abraham Kuyper the Poet“28 gesprochen. Die Antithetik (vgl. S. 78) der beiden Traditionsströme, ja der beschworene Antagonismus zwischen den beiden auf Leben und Tod kämpfen Weltanschauungen Modernismus und Calvinismus (vgl. S. 4), spielt eine entscheidende Rolle in seiner Geschichtskonstruktion. Legt man Hayden Whites narrative Modellierung (emplotment) zugrunde, so figuriert Kuypers Erzählweise irgendwo zwischen Romanze und Tragödie, nämlich der romanzenhaften Betonung eines ständigen Fortschreitens der Gesellschaft zum Besseren (etwa in Sachen Freiheitsrechte) bzw. des vom Calvinismus errungenen „ewigen Sieg[es] des Guten über das Böse“ einerseits, und der tragödienhaften Beschreibung des Scheiterns der Menschheit in Revolution und Gottlosigkeit andererseits.29 Grautöne treten jedenfalls bei Kuypers stark homogenisierendem Zugriff zurück und ein wahrnehmungs- und differenzsensibles Phänomen wie das der intrakonfessionellen Pluralität innerhalb des „Calvinismus“ entschwindet im Zuge der Kuyperschen Linienführung.30 Kuyper gehört zweifellos zu jenen Nationalkonservativen des 19. Jahrhunderts, die die Französische Revolution nahezu31 ausschließlich als Herrschaft der Guillotine und des Schreckens charakterisieren. Zu deren positiver Würdigung zumindest bis zur Jakobinerherrschaft sind sie nicht bereit. Arg reduktionistisch, um nicht zu sagen grobschlächtig, fällt etwa Kuypers Einwand gegen Jean-Jacques Rousseau32 und seine Lehre von der Volkssouveränität aus. Die Ausgangsannahme a) eines fiktiven Naturzustandes, b) eines durch Rechtsverzicht bzw. Rechtsübertragung erzielten Vertrages und c) 26 Vgl. Abraham Kuyper, Perfectionism (1879), in: Bratt, Abraham Kuyper. A Centennial Reader, S. 141–163. 27 Ähnlich Roderich Barth, „Retter des Protestantismus“. Der Calvinismus in der Sicht Ernst Troeltschs, in: ZNThG 17 (2010), S. 162–181, hier: S. 179. 28 Bolt, A Free Church, S. 42. So auch ders., Abraham Kuyper as Poet: Another Look at Kuyper’s Critique of the Enlightenment, in: Cornelis van der Kooi/Jan de Bruijn (Hgg.), Kuyper Reconsidered. Aspects of his Life and Works (VU Studies on Protestant History 3), Amsterdam 1999, S. 30–41. 29 Vgl. White, Metahistory, S. 21–25. 30 Ähnlich Witte, Die Reformation der Rechte, S. 383. 31 Immerhin würdigt Kuyper (Reformation wider Revolution, S. 4) die Vernichtung der Tyrannei der Bourbonen, fügt aber sofort hinzu: „[D]as Prinzip der Revolution bleibt antichristlich und hat seither wie ein Krebs weitergefressen, um alles, was für unser christliches Bewußtsein feststand, loszubröckeln und zu unterwühlen.“ 32 Zu Rousseau und dem Calvinismus vgl. indes Hans Scholl, Von der Reformation zur Revolution – Die beiden Genfer J. Calvin und J.-J. Rousseau vor der Frage nach sozialer Gerechtigkeit, in: ders., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, S. 135–158. Vgl. zu Rousseau auch Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 5 1985, S. 153–207.

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eines durch Vertragsabschluss erwirkten Staates gehört zum Argumentationsdreischritt aller klassischen Vertragstheorien und kann keineswegs ausschließlich Rousseau zugeschrieben werden. Sie findet sich bei nahezu allen Kontraktualisten, auch bei Thomas Hobbes und John Locke, ebenso wie im Neokontraktualismus der Gegenwart, etwa bei John Rawls.33 Die naive Historizität des Gesellschaftsvertrages34 wird hingegen von keinem Kontraktualisten vertreten.35 Kuyper verkennt mit seiner Rede vom „Wahn einer auf Fiktion begründeten Volkssouveränität“ (S. 81) deren gewissermaßen transzendentale Anlage. Mit der Lehre von der Staatssouveränität, die Kuyper ebenfalls heftig kritisiert, macht er es sich freilich noch leichter, indem er ihr keinen Namen zuordnet, sondern sie lediglich als „ein Produkt von Deutschlands philosophischem Pantheismus“ (S. 81; vgl. S. 4) kennzeichnet.36 Es handelt sich, wie Kuyper suggeriert, offenbar um einen komplementären Typus zur Volkssouveränität, wobei es schwerfallen dürfte, einen tatsächlichen Vertreter dieses karikaturhaft dargestellten Plädoyers für Staatsapotheose und Rechtspositivismus (vgl. S. 82) zu benennen.37 Hier wurde schlicht ein Pappkamerad aufgebaut.38 Georg Wilhelm Friedrich Hegel jedenfalls kann Kuyper hier nicht ernsthaft vor Augen gehabt haben.39 33 Vgl. Marco Hofheinz, „… der Bund und Treue hält ewiglich.“ Der Bund als Grundmetapher theologischer Ethik, in: ZThK 117 (2/2020), S. 164–195. 34 Vgl. Kuyper, Reformation wider Revolution, S. 81: „Auf calvinistischem Erbe, wie auch in Ihren Konstitutionen, beugt man vor Gott die Knie, aber gegenüber dem Mitmensch erhebt man stolz das Haupt; hier aber, auf dem Standpunkt der Volkssouveränität, ballt man gegen Gott vermessen die Faust, und unterdessen kriecht man als Mensch vor seinem Mitmenschen und vertuscht diese Selbsterniedrigung durch die Fiktion eines vor Tausenden von Jahren durch Vertreter, von denen niemand eine Erinnerung hat, abgeschlossenen ,contract social‘.“ 35 Vgl. Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1996. 36 Vgl. Abraham Kuyper, The Blurring of the Boundaries (1892), in: Bratt, Abraham Kuyper. A Centennial Reader, S. 363–402. 37 Bacote (The Spirit in Public Theology, S. 74) beobachtet: „[P]antheism served as the umbrella ideology that encompassed the thought of figures such as Nietzsche, Darwin, Hegel, and Schleiermacher.“ Eine ziemlich heterogene Gruppierung, möchte man meinen. Vgl. Heslam, Creating a Christian Worldview, S. 101–105. 38 Dazu passt die scharfe Abgrenzung Kuypers: „Hauptziel meines Beweisgangs war, Ihnen zu zeigen, wie der Calvinismus dadurch, daß er ein Gott empfangenes Recht und eine souveräne Autorität auch in den sozialen Lebenssphären handhabt, Protest einlegt gegen die Allmacht des Staates, Protest gegen die abscheuliche Vorstellung, als ob es kein Recht über und außer dem geltenden Gesetz geben könne, und Protest ebenso gegen die Hoffahrt des Absolutismus, der keine grundgesetzlichen Rechte kennt außer als Ausfluß der Fürstengunst“ (S. 90). 39 Dass besagte Vorwürfe Hegel nicht treffen, zeigt etwa Martin Wendte, Der Hegelsche Staat und die Vernunft der Religion, in: Oliver Hidalgo/Christian Polke (Hgg.), Staat und Religion. Zentrale Positionen zu einer Schlüsselfrage des Politischen Denkens, Leipzig 2016, S. 265–278. Vgl. auch die große Hegel-Biographie von Klaus Vieweg, Hegel. Philosoph der Freiheit, München 2019. Fernerhin: Was ist von Hegel geblieben? Fragen an Gunnar Hindrichs, Rahel Jaeggi und Günter Zöller, Information Philosophie Nr. 3/2020, S. 32–36; Jan Rohls, Geschichte der Ethik, Tübingen 21999, S. 471f.

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Noch ein Wort zur recht divergenten Wahrnehmung der Völker und Nationen: Kuypers Amerika-Bild mutet recht schmeichelhaft, um nicht zu sagen unkritisch, an,40 ebenso wie die Stilisierung der Niederlande zum Ursprung und Hort der Gewissensfreiheit (vgl. S. 93.100). Dafür fällt Kuypers Blick auf andere Völker und Länder umso kritischer, um nicht zu sagen despektierlich, aus: „Eine Regierungsform wie die Ihre“, so betont Kuyper an seine USamerikanischen Zuhörer*innen gewandt,41 „würde in China keinen Tag standhalten. Das russische Volk ist selbst jetzt noch nicht reif für irgend welche konstitutionelle Regierungsform. Und unter den Kaffer- und Hottentottenstämmen in Afrika würde selbst eine Verwaltung, wie sie in Rußland besteht, undenkbar sein. Dies alles nun setzt Gott fest und regelt es nach dem verborgenen Ratschluß seiner Vorsehung“ (S. 77)42 – so Kuyper weiter. Diese Zeilen sprechen für sich. 2.2 Triumphalismus-Anfälligkeit: Kuypers theozentrischer cantus firmus Es zeigen sich – bei Lichte betrachtet – bei Kuyper weitere „Anfälligkeiten“, im Blick auf die wir heute, also post festum, gewarnt sein sollten. Ich spreche vorsichtig von „Anfälligkeiten“, da wir hier nicht anachronistisch urteilen sollten, zumal man ja bekanntlich ex post immer schlauer ist. Das gilt etwa für Kuypers Rede von den „Schöpfungsordnungen“ (vgl. etwa die Rede vom Staat als Schöpfungsordnung gegen die Sünde; S. 75; siehe auch S. 84f.122), die uns heute sozialethisch weder in politisch-ethischen noch gar in sexualethischen 40 Ähnlich Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, S. 24; Witte (Die Reformation der Rechte, S. 375.378) bemerkt kritisch: „Er [Kuyper] hüllte sich […] seltsamerweise in Schweigen hinsichtlich der vielen Versäumnisse gegenüber Frauen, Kindern, Schwarzen, Indianern, misshandelten Arbeitern, Armen und verschiedenen Minoritäten jener Zeit.“ Vgl. fernerhin: Heslam, Creating a Christian Worldview, S. 74–84; John Witte Jr., The Biography and Biology of Liberty : Abraham Kuyper and the American Experiment, in: Lugo, Religion, Pluralism, and Public Life, S. 243–262. Reichlich Quellenmaterial zum Amerika-Bild Kuypers findet sich in: Abraham Kuyper, Varia Americana, Amsterdam/Pretoria 1899. 41 Zum Einfluss Kuypers in Nordamerika, der bis in die Gegenwart reicht, vgl. James D. Bratt, Calvinismus in Nordamerika, in: Martin E. Hirzel/Martin Sallmann (Hgg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag (Beiträge zu Theologie, Ethik und Kirche 4), Zürich 2008, S. 71–94, hier: S. 91f.; ders., Reformed Theology in North America, in: Paul T. Nimmo / David A.S. Fergusson (Hgg.), The Cambridge Companion to Reformed Theology, Cambridge 2016, S. 267–284, hier: S. 281f. Mit Blick auf Deutschland führt Eberhard Busch (Reformed Theology in Continental Europe, in: Nimmo/Fergusson, The Cambridge Companion to Reformed Theology, S. 230–247, hier: S. 236) das Aufkommen der jungreformierten Bewegung auf Kuypers Einfluss zurück. 42 Vgl. dazu auch Kuypers „entwicklungsgeschichtliche“ Ausführungen: Kuyper, Reformation wider Revolution, S. 96.99; sowie zum naheliegenden Rassismus-Vorwurf Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, S. 66–69; D.Th. Kuiper, Groen and Kuyper on the Racial Issue, in: van der Kooi/de Bruijn, Kuyper Reconsidered, S. 69–81. Zur Kritik an Kuyper siehe Peter J. Paris, The African and African-American Understanding of Our Common Humanity : A Critique of Abraham Kuyper’s Anthropology, in: Lugo, Religion, Pluralism, and Public Life, S. 263–280.

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Zusammenhängen vorbehaltlos über die Lippen geht.43 Auch auf eine „völkische“ Anfälligkeit Kuypers werde ich noch zu sprechen kommen, möchte aber zunächst bei den wohl signifikantesten „Anfälligkeiten“ Kuypers einsetzen, nämlich der konstantinistischen und triumphalistischen. Sie betreffen den theozentrischen cantus firmus von Kuypers Ausführungen: Als „Grundprinzip des Calvinismus“ (S. 72) macht Kuyper die „absolute Souveränität des dreieinigen Gottes über alles geschaffene Leben“ (S. 72; vgl. S. 41) aus. Von ihr ausgehend werden die Souveränität von Staat (vgl. S. 78–83), Gesellschaft (vgl. S. 83–91) und Kirche (vgl. S. 91–95) im Sinne der Sphärensouveränität und des „Gottesgnadentums“ (vgl. S. 76) abgeleitet.44 Von allen diesen Bereichen wie von allen Völkern und Nationen gilt nach Kuyper : Gott hat sie geschaffen. „Sie bestehen um seinetwillen; sie sind sein Eigentum. Und darum haben alle diese Völker und in ihnen die ganze Menschheit für seine Ehre dazusein“ (S. 74). Kuypers Anfälligkeit spiegelt sich in dem triumphalistischen Ton der „Stone Lectures“ wider, mit dem die neocalvinistisch verstandene Souveränität Gottes zugleich als der königliche Weg der Kultur, Wissenschaft und des Staates dargestellt wird. Der theologie-, kultur- und geistesgeschichtliche Triumphalismus zeigt sich etwa in der ostentativen Abgrenzung seines theonomen Souveränitätsverständnisses von der profanen Volks- und Staatssouveränität. Das folgende lange Zitat veranschaulicht dies: „Daher rühme ich denn sowohl gegenüber der Volkssouveränität der Enzyklopädisten wie gegenüber der Staatssouveränität der deutschen Pantheisten doch die Souveränität Gottes, die als Quell aller Autorität unter Menschen vom Calvinismus proklamiert worden ist. Der Calvinismus vertritt unsere höchsten und besten Bestrebungen dadurch, daß er alle Menschen und alle Völker vor das Angesicht unseres Vaters im Himmel stellt. Der Calvinismus rechnet mit der Tatsache der Sünde, die man zuerst weggezaubert hat und jetzt in seiner pessimistischen Kopflosigkeit als das Wesen unseres Daseins begrüßt; er unterscheidet zwischen der natürlichen Gliederung unseres organischen Zusammenlebens und dem mechanischen Verband, den uns die Obrigkeitsautorität anlegt; er macht die Unterwerfung unter die Autorität leicht, weil er uns in jeder Autorität die Forderung der Souveränität Gottes ehren läßt; er erhebt uns aus einem Gehorsam aus Furcht vor dem starken Arm zu einem Gehorsam um des Gewissens willen; er lehrt uns von dem bestehenden Gesetz zu dem Quell des ewigen Rechtes in Gott aufsehn, und flößt uns den unüberwindlichen Mut ein, rastlos gegen das Unrecht, auch des Gesetzes, im Namen des höchsten Rechtes zu 43 Vgl. Wolf Krötke, Die Schöpfungsordnungen im Lichte der Christologie. Zu Karl Barths Umgang mit einem unabweisbaren Problem, in: ders., Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie (Unio und Confessio 26), Bielefeld 2009, S. 155–178; Hofheinz, Ethik – reformiert, S. 239–248. 44 Zur Wirkungsgeschichte dieser anfälligen Kategorie der „Sphärensouveränität“ vgl. Cynthia L. Rigby, The Christian Life, in: Nimmo/Fergusson, The Cambridge Companion to Reformed Theology, S. 96–113, hier: S. 111f.

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protestieren; und wie mächtig auch der Staat übergreife und die freie persönliche Entwicklung ins Gedränge bringe, über diesem mächtigen Staat leuchtet vor dem Auge unserer Seele stets als noch unendlich mächtiger die Majestät des Königs der Könige, vor dessen Richterstuhl das Recht des Appells für jeden Bedrückten offensteht, und zu dem immerdar unser Gebet aussteigt, daß er unser Volk und in dem Volk uns und unser Haus segnen möge“ (S. 82f.).

Kuyper vergleicht den Calvinismus nicht ohne dekadenztheoretische Anleihen „mit dem allgemeinen Werte-Zerfall der übrigen Welt seither und kommt zum Schluss“45 : „Auf sittlichem Gebiet ist der Calvinismus bisher noch nie an Hoheit der Auffassung und Kraft zur Selbstbeherrschung übertroffen worden. […] Wer dürfte verkennen, dass wenigstens auf sittlichem Gebiet (seit der Reformation) der Calvinismus die Siegespalme davontrug“ (S. 67; vgl. S. 174f.187).

Diesen kulturkämpferisch anmutenden Siegesjubel mag man Kuyper – heute vielleicht weniger denn je – nicht recht verzeihen. Er mutet allzu wohlfeil an. Ja, er beruht im Blick auf ein reflexiv gewordenes historisches Bewusstsein auf einer Scheingewissheit. So hat etwa Hans Scholl in seiner Wuppertaler Abschiedsvorlesung betont: „[Auch] ich halte nun [wie Kuyper ; M.H.] Calvins Institutio für das beste theologische Buch der Kirchengeschichte. Dennoch bin ich froh, dass noch vor der Mitte des 20. Jahrhunderts andere gute Calvinkenner in Holland das neucalvinistische Unternehmen stoppten. […] Haitjema formulierte seine Anfrage an das neucalvinistische Konzept seiner Landsleute von der Freien Universität Amsterdam so: ,Wird da der Calvinist nicht zum Schluss allzu flott als Königsmensch proklamiert, der das Pilgrimskleid vorzeitig von sich wirft?‘“46

Wenn schon Triumphalismus, dann müsste johanneisch47 festgehalten werden: Gesiegt hat ja nicht der Calvinismus, sondern gesiegt hat das Lamm, das die Siegesfahne trägt.48 Das heißt: Wir müssen die Königsherrschaft Christi nicht erst aufrichten und durchsetzen: „Das Kreuz ist, wie Barth sagt, bereits Christi bzw. Gottes Königsthron und die Auferstehung die Offenbarung des gnädigen Urteils Gottes, das er über den Gekreuzigten und mit ihm über alle Menschen gesprochen hat.“49 Das entlastet uns von allen theo- und auch christokratischen Avancen, wie sie ja auch in der Geschichte des Calvinismus 45 Scholl, Von der Reformation zur Revolution, S. 141. 46 Scholl, Von der Reformation zur Revolution, S. 142. Das Zitat von Haitjema findet sich in: Theodorus L. Haitjema, Abraham Kuyper und die Theologie des holländischen Neucalvinismus, in: ZZ 9 (1931), S. 331–354, hier: S. 354. 47 Vgl. Jens-Wilhelm Taeger, „Gesiegt! O himmlische Musik des Wortes!“ Zur Entfaltung des Siegesmotivs in den johanneischen Schriften, ZNW 85 (1994), S. 23–46. 48 Vgl. Walter Kreck, Der Sieg Jesu Christi. 9 Predigten, München 1940. 49 Walter Kreck, Die Versöhnungslehre Karl Barths als kritische Anfrage an den Heidelberger Katechismus, in: RKZ 130 (1989), Theologische Beilage 2/1989, S. 2–8, hier: S. 3.

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(wahrscheinlich nicht ganz selten) geltend gemacht wurden.50 Theozentrischer und christozentrischer also müsste der Triumphalismus Kuypers ausfallen, um nicht theokratisch anfällig zu werden.

2.3 Konstantinistisch-zivilreligiöse Anfälligkeit: Kuypers (Re-) Christianisierungsstrategie Von einer konstantinistischen51 Anfälligkeit bei Kuyper hat etwa der bekannte US-amerikanische Ethiker Stanley Hauerwas gesprochen: „I have the impression […] that this [sc. Kuypers Projekt; M.H.] is […] an extremely Constantinian project, who wants to make the whole world the church and then you can use that world coercively against those who don’t seem to be doing what you think is required.“52

Kuyper votiert freilich gegen die „konstantinistischen Eierschalen“, die in Form von Ausrottung des falschen Gottesdienstes auch am Calvinismus hingen (vgl. S. 92).53 Kuyper spricht sich ebenfalls bedauernd gegen den Scheiterhaufen Servets (vgl. S. 92) wie auch explizit gegen Theokratie aus (vgl. S. 77f.: „Von Theokratie war allein in Israel die Rede, weil Gott in Israel unmittelbar eingriff“).54 Und dennoch ist der Vorwurf Hauerwas‘55 m. E. nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn trotz der von Kuyper nachdrücklich geforderten Trennung von Kirche und Staat56 und der Ablehnung von Cäsaropapismus wie Hierokratie (vgl. S. 98), haben nach Kuyper „beide, Kirche und Staat, jeder auf seinem eigenen Gebiet, Gott zu gehorchen und seiner Ehre zu dienen. Und dazu muß nun“, so Kuyper weiter, „auf beider Gebiet Gottes Wort herrschen, jedoch auf Staatsgebiet nur durchs Gewissen der mit Macht bekleideten Person“ (S. 96). 50 Vgl. Richard J. Mouw, Abraham Kuyper. A Short and Personal Introduction, Grand Rapids/ Cambridge 2011, S. 132ff. 51 Zum Konstantinismus-Vorwurf vgl. auch John Howard Yoder, The Constantinian Sources of Western Social Ethics, in: ders., The Priestly Kingdom. Social Ethics as Gospel, Notre Dame 1984, S. 135–147; vgl. fernerhin: William T. Cavanaugh, What Constantine Has to Teach Us, in: ders., Field Hospital. The Church’s Engagement with a Wounded World, Grand Rapids/Cambridge 2016, S. 157–174. 52 Stanley Hauerwas im Interview mit J. Wilson (Teaching Fellow, Regent College) vom 27. Juni 2018, https://www.youtube.com/watch?v=1BcZlxGt3xs (Zugriff: 31. August 2020). 53 Kuyper formuliert den Beurteilungsgrundsatz: „[N]icht in dem, was der Calvinismus aus der Vergangenheit übernahm, sondern in dem, was er neu schuf, muß der tiefe Grundzug seines Charakters gesucht werden“ (S. 94). Dort z. T. kursiv. 54 Zum Problem der Theokratie bei Kuyper vgl. auch Bolt, A Free Church, S. 303–350. 55 Vgl. zu Hauerwas, Kuyper und dem Konstantinismus-Vorwurf auch Richard J. Mouw, Culture, Church, and Civil Society : Kuyper for a New Century, in: PSB 28 (1/2007), S. 48–63, bes. S. 52–54. 56 Kuyper gibt als sein Programm die Losung aus: „Die freie Kirche im freien Staat“ (S. 91). Vgl. a. a. O., S. 98: „Die Souveränität des Staates und die Souveränität der Kirche bestehen neben einander, und begrenzen, d. h. beschränken, einander gegenseitig.“

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Kuyper träumt unverkennbar von einem christlichen Staat, wobei er die Christlichkeit der Regierung gleichsam „traumwandlerisch“ auf die Ebene der individuellen Person des Machthabenden verlagert. Er habe aus persönlicher Einsicht heraus „nach den Prinzipien, die für die Staatskunst von Christus ausgehen“ (S. 96), zu regieren. Hinsichtlich eines säkularen Staats- und Rechtsverständnisses ist es dann zweifellos befremdlich, wenn Kuyper von der Obrigkeit fordert, der Gotteslästerung entgegenzutreten (vgl. S. 95). Weltanschauliche Neutralität des Staates scheint hier definitiv nicht Kuypers Prämisse zu sein. Sein Aufgabenkatalog für die Obrigkeit (vgl. S. 89.95) widerspricht dem deutlich und Kuyper beruft sich dabei auf das Naturrecht, genauer gesagt den Umstand, dass das „Gottesbewußtsein […] einem jeden von Natur einerschaffen“ (S. 95) sei.57 Und dennoch kann Kuyper festhalten, dass die Obrigkeit „als Obrigkeit die Voraussetzungen entbehrt, um ein Urteil [sc. zur wahren Kirche bzw. zum Wahrheitsbesitz der Kirchen; M.H.] abzugeben, und jedes Urteil hierüber der Souveränität der Kirche zu nahe tritt“ (S. 97; dort z. T. kursiv). „Die Obrigkeit“, so Kuyper in Aufnahme einer Zwei-Reiche-Lehre, „trägt das Schwert, das verletzt, nicht das Schwert des Geistes, das in geistlichen Fragen entscheidet“ (S. 97). Kuypers Position ist – wie wir sehen – in religionspolitischer Hinsicht,58 insbesondere was die Frage der weltanschaulichen Neutralität des Rechtsstaates betrifft,59 alles andere als spannungsfrei.60 Sie erscheint bei Lichte betrachtet als recht reduktionistisch, insofern sie die weltanschauliche Neutralität des Staates nur gegenüber den christlichen Konfessionen, sozusagen als „christlich-ökumenische Neutralität“, nicht aber allgemein religionspolitisch in den Blick nimmt (vgl. S. 98). Der Historiker Gerhard Menk hat in seinem Forschungsüberblick „über Kalvinismus und Puritanismus“ bei Kuyper eine verdeckte bzw. überlagerte Christianisierungsstrategie identifiziert: „Schon hier [sc. in Kuypers Princetoner Vorträgen; M.H.] wurde – wie wenige Jahre später bei Max Weber – die Frage nach dem Kalvinismus als Lebensform aufgeworfen, allerdings völlig anders beantwortet. Denn Kuyper versuchte dem zunehmenden Säkularisierungsprozeß dadurch zu begegnen, daß er einer neuen Ver57 Zum Verhältnis Calvinismus und Naturrecht vgl. Stephen J. Grabill, Rediscovering the Natural Law in Reformed Theological Ethics, Grand Rapids/Cambridge 2006. 58 Vgl. Nicholas Woltersdorff, Abraham’s [sic!] Kuyper’s Model of a Democratic Polity for Societies with a Religiously Diverse Citizenry, in: van der Kooi/de Bruijn, Kuyper Reconsidered, S. 190–205. 59 Vgl. Hans-Richard Reuter, Gleichheit und Differenz in der Religionspolitik – was fordert das Neutralitätsprinzip?, in: ZEE 54 (2010), S. 243–248; ders., Neutralität – Religionsfreiheit – Parität. Grundlagen eines legitimen Religionsverfassungsrechts im weltanschaulichen-neutralen Staat, in: Wolfgang Lienemann/Hans-Richard Reuter (Hgg.), Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Baden-Baden 2005, S. 15–31. 60 Grundlegende Spannungen zwischen den partikularistischen und universalistischen Aspekten in Kuypers Denken beobachtet u. a. auch Heslam, Creating a Christian Worldview, S. 262f.

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christlichung der Welt das Wort redete. Doch wurde dieses Bestreben überlagert durch die veränderte Deutung des Kalvinismus. Nicht die Entwicklung zur kapitalistischen Moderne stand bei Kuyper im Vordergrund, sondern das genaue Gegenteil war der Fall, indem er dem Kalvinismus einen äußerst konservativ-antirevolutionären Mantel umhängte.“61

Das antivolkskirchliche bzw. dezidiert freikirchliche Motiv bei Kuyper muss dieser latenten Rechristianisierungsstrategie nicht notwendigerweise widersprechen,62 da Kuyper das Vertrauen in volkskirchliche Christlichkeit und ihre Durchsetzungsfähigkeit nie besaß und von daher keine andere als eine „freikirchliche“ Option sah.63 Es zeigt sich hier fernerhin eine zivilreligiöse Anfälligkeit: Kuyper votiert zwar entschieden freikirchlich für die Trennung von Kirche und Staat, aber keineswegs für eine Trennung von Religion und Politik.64 Wenn es ihm – wie wir noch sehen werden – um die „Souveränität im eigenen Bereich“ geht und damit sowohl eine Vormundschaft des Staates als auch eine kirchliche Kuratel vermieden werden soll,65 so stellt sich die Frage, welcher Natur das tragende Fundament ist. Kuypers Antwort darauf lautet: Religion bildet die Grundlage des politischen Systems.66 Bereits zu Beginn der 61 Gerhard Menk, Streiflichter zur deutschen und internationalen Forschung über Kalvinismus und Puritanismus, in: ders., Zwischen Kanzel und Katheder. Protestantische Pfarrer- und Professorenprofile zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Aufsätze, Marburg 2011, S. 50–78, hier: S. 72f. Ähnlich urteilt der Amsterdamer Kirchenhistoriker Cornelis Augustijn, der bei Kuyper ebenfalls eine latente Rechristianisierungsstrategie entdeckt: „Sämtliche politische Mittel, die ihm, dem Anführer, zur Verfügung stehen, sollen dem einen Zweck dienen: Der Kern der Nation muß den ihm rechtmäßig zustehenden Platz wieder bekommen und von da aus muß das Volk der Niederlande als Ganzes rechristianisiert werden. Im Grunde“, so Augustijn weiter, „ist Kuyper ein hoffnungsloser Romantiker. In einem geschmacklosen Verschen schildert er sein eigenes Streben: ,Dem Volk zugute’ und alles läuft auf dasselbe hinaus: ,Bis sich das Volk wieder vor Gott beugt.‘ Ein Traum? Natürlich, Kuyper gab sich keinen Illusionen hin. Er selbst hatte festgestellt, daß ,der calvinistische Glaube, im Vergleich zu niedrigeren Formen des Christentums – wie dem Luthertum und, viel schlimmer noch, dem Katholizismus – so tief religiös und in einem so hohen Maße geistlich sei, daß er niemals die große Masse ansprechen werde‘. Aber es war doch auch mehr als ein Traum, nämlich ein Stück typischen Kulturoptimismus‘ des 19. Jahrhunderts. Ebenso wie das Christentum und die abendländische Kultur letzten Endes dank ihrer inneren Kraft und Überlegenheit die nicht-europäischen Religionen und Kulturen in einem freien Wettbewerb der Zivilisationen überwinden würden, so würde schließlich innerhalb der niederländischen Gesellschaft erkannt werden, daß allein die von Gott selbst in die Schöpfung gelegten Strukturen wirklich heilbringend seien.“ Augustijn, Abraham Kuyper, S. 330f. Zum „Romantiker“ Kuyper vgl. Jan de Bruijn, Abraham Kuyper as a Romantic, in: van der Kooi/de Bruijn, Kuyper Reconsidered, S. 42–52; ders., Calvinism and Romanticism: Abraham Kuyper as a Calvinist Politician, in: Lugo, Religion, Pluralism, and Public Life, S. 45–58. 62 Ulrichs (Abraham Kuyper als Ideologe, 21) weist auf die „volkskirchliche“ Kritik gegen den „freikirchlichen“ Kuyper hin. 63 Vgl. Augustijn, Abraham Kuyper, S. 292. 64 Vgl. Witte, Die Reformation der Rechte, S. 376. 65 Vgl. Augustijn, Abraham Kuyper, S. 296. 66 Vgl. dazu auch Kuypers Befürwortung der öffentlichen Präsenz des Gebets in politischer Kultur und Schule (S. 189).

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dritten Vorlesung stellt Kuyper unmissverständlich und d. h. in seinem Fall mit triumphalistisch-kulturkämpferischer Attitüde fest: „Die religiöse Bewegkraft des Calvinismus hat, gerade weil sie nicht bloß die Zweige beschnitt und den Stamm reinigte, sondern bis zur Wurzel des Lebens selber reichte, auch dem politischen Zusammenleben einen eigenen Grundgedanken zugrundegelegt. Daß dies so sein mußte, steht für jeden, der einsieht, daß auch nicht ein politisches System je zur Herrschaft gekommen ist, das nicht seine Grundlage in einer eigenartigen religiösen Anschauung gefunden hätte, schon von selber fest“ (S. 71).

2.4 Die „völkische“ Anfälligkeit und antirevolutionäre Ausrichtung Kuypers Gerhard Menk sieht bei Kuyper den Calvinismus „als gänzlich antirevolutionäres Phänomen“67 bestimmt.68 In der Tat trug Kuypers politische Partei den Namen „Antirevolutionäre“ oder „Christliche-Historische Partei“.69 Besonders übel nimmt Menk es Kuyper, dass dieser unmittelbar nach der deutschen Novemberrevolution 1918, „zu einem besonders prekären Zeitpunkt“70, mit rechtskonservativ-völkischen Kreisen in Deutschland gemeinsame Sache gemacht und den Aufsatz „Der Calvinismus und die protestantische Staatsidee“71, seine letzte zu Lebzeiten in Deutschland veröffentlichte Publikation, zu dem Band „Die protestantische Staatsidee. Der Nordgeist Germaniens im Lichte der deutsch-niederländischen und skandinavischbaltischen Wissenschaft“ (Leipzig: Verlag Friedrich Wilhelm Grunow) beigesteuert habe. Genau dies ist freilich – wie Hans-Georg Ulrichs in diesem Band zeigt – umstritten. Offenbar gibt es keinen brieflichen Verkehr zwischen Kuyper und dem Herausgeber, einem gewissen Walter van der Bleek (1877–1946).72 Von daher ist fraglich, ob Kuyper diesen Text freigegeben hat. Es handelt sich bei Kuypers Beitrag in besagtem Band jedenfalls über weite Strecken der Sache nach um ein Kompilat u. a. aus der dritten Princetoner Vorlesung, die recht 67 Menk, Streiflichter, S. 73. 68 Zum Verständnis des „Antirevolutionären“ vgl. auch Kuyper, Antirevolutionaire Staatkunde I, S. 588–621. 69 Vgl. Augustijn, Abraham Kuyper, S. 295. 70 Menk, Streiflichter, S. 73. 71 Abraham Kuyper, Der Calvinismus und die protestantische Staatsidee. Reformation wider Revolution, in: K.H.L.W. van der Bleek (Hg.), Die protestantische Staatsidee. Der Nordgeist Germaniens im Lichte der deutsch-niederländischen und skandinavisch-baltischen Wissenschaft, Leipzig 1919, S. 58–69. 72 K.H.L. Walter van der Bleek ist nicht nur der Übersetzer des „Löwen von Flandern“, sondern auch des zu Kriegszeiten (1915) erschienenen Werkes „Die Vernichtung der englischen Weltmacht und des russischen Zarismus durch den Dreibund und den Islam“, herausgegeben vom kriegspolitischen Kulturausschuss der deutsch-nordischen Richard-Wagner-Gesellschaft für germanische Kunst und Kultur (Berlin).

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oberflächlich popularisiert und von dem Herausgeber mit einem Fußnotenapparat versehen wurde. In welche Fahrwasser Kuyper damit gerät, sieht man, wenn man die Anmerkungen zu diesem Aufsatz näher betrachtet. Im Fußnotenapparat wird nämlich Kuypers Ablehnung der Französischen Revolution in den Kontext der „Ideen von 1914“ gestellt und der schwedische Staatswissenschaftler und Politiker Rudolf Kjell8n (1864–1922) zitiert, auf den sich auch heute noch Vertreter*innen der „Neuen Rechten“ berufen: „[D]er große Streit besteht nicht bloß zwischen Völkern, sondern zwischen Weltanschauungen (zu welcher Ansicht sich ja auch jetzt Kaiser Wilhelm II. in seiner Rede an Hindenburg bekannt hat) und nicht bloß zwischen verschiedenen Richtungen in der Gegenwart, sondern im Grunde zwischen verschiedenen Epochen: der Weltkrieg ist ein Kampf zwischen 1789 und 1914; ersteres Jahr vertreten durch FrankreichEngland, letzteres durch Deutschland: der in der Gegenwart neuentstandene ,Deutsche Gedanke in der Welt‘ (Rohrbach) hat einen entscheidenden Kampf mit dem französischen Gedanken aus dem Beginn der großen Revolution aufgenommen.“73

Die Antithetik der beiden Traditionsströme, wie sie für Kuypers Geschichtskonstruktion charakteristisch ist, gerät hier durch den herausgeberischen Eingriff ins kriegspolitisch-nationalistische Fahrwasser und der Calvinismus auf die Seite einer pangermanischen Idee. Man sollte indes Kuyper nicht voreilig eine Aufgeschlossenheit gegenüber einem pangermanischen Nationalismus unterstellen, der in breiten gesellschaftlichen Kreisen in und nach dem Krieg bekanntlich nur allzu ungebremst chauvinistisch daherkam. Zudem ist hinsichtlich der Datierung darauf hinzuweisen,74 dass van der Bleek in seinem „Schlußwort“ zu dem Band bemerkt: „Das vorliegende Werk wurde vor dem Umsturz im November 1918 abgeschlossen.“75 Diesen Umstand berücksichtigt Menk leider nicht. Man wird hier also mit Unterstellungen im Blick auf die so genannte „Novemberrevolution“ vorsichtig sein müssen, Kuyper freilich auch nicht voreilig von jeglicher Verortung im konservativen und nationalen Lager dispensieren dürfen.76 Vor allem dort scheint er zumindest in Deutschland in dieser Zeit rezipiert worden zu sein, wobei natürlich gilt: quidquid recipitur, secundum modum recipientis recipitur. Dass Kuyper im Ersten Weltkrieg und darüber hinaus unverhohlen Sympathien für Deutschland und dessen gerade eben abgedankten Kaiser Wilhelm II. artikuliert hat, darf als biographisch gesichert gelten.77 73 Kuyper, Der Calvinismus und die protestantische Staatsidee, S. 62 (Fußnote 1; vom Herausgeber verfasst, der Rudolf Kjell8n zitiert). 74 Diesen Hinweis verdanke ich Hans-Georg Ulrichs. 75 K.H.L.W. van der Bleek, Schlußwort, in: ders., Die protestantische Staatsidee, S. 173–177, hier: S. 178. 76 Vgl. Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, S. 73. 77 Vgl. a. a. O., S. 18. Man stelle Kuypers Einschätzung etwa Karl Barths Einschätzung gegenüber, wie er sie etwa im September 1942 artikulierte: Karl Barth, Die protestantischen Kirchen in

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Abschließend möchte ich noch erläutern, warum hier von einer „völkischen“ Anfälligkeit Kuypers gesprochen wird. Damit sei Kuyper kein völkischer Nationalismus unterstellt, sondern vielmehr auf ein Problem aufmerksam gemacht, dass sich bei Kuyper vor allem in seinem politisch-ethischen Hauptwerk, der „Antirevolutionairen Staatkunde“ (1916f.), zeigt.78 Es betrifft die rassische Grundierung des Volksbegriffs. Genau dies meine ich mit „völkisch“. Kuypers Gebrauch des Begriffs „Volk“ fällt zunächst durchaus differenziert aus. Er beobachtet, auch etymologisch belehrt und durchaus konnotationssensibel, einen äquivoken Begriffsgebrauch.79 Dann aber konnektiert er den Rassebegriff mit dem des „Volkes“. Volk avanciert dadurch zu mehr als einer Sammelbezeichnung für rein sozial definierte Menschengruppen. Der Volksbegriff geht auch über eine rein ethnische Füllung hinaus und dies hat – wie gesagt – mit seiner Konnektierung mit dem Rassebegriff zu tun. Dies ereignet sich im §7 („Volk en ras“) seiner „Antirevolutionairen Staatkunde“, wenn Kuyper dort den physis-Begriff auf den der Rasse anwendet. Es geschieht vorsichtig, aber doch erkennbar, wenn Kuyper sich zunächst gegen eine Überbetonung des physischen Ursprungs von „Rasse“ ausspricht, aber doch festhalten kann: „Jedoch sollte der physische Ursprung nicht allzu einseitig betont werden. Dies würde nämlich dazu führen, dass die beiden Konzepte von Rasse und Volk verschmelzen, wozu nicht nur in Europa, sondern teilweise bereits in Asien und vor allem in Afrika und bei den Ureinwohnern Australiens und Amerikas Anlass bestehen könnte. Die Unterscheidung der Rassen soll im engeren Sinne physisch erfasst werden. Nicht als ob der Unterschied nur physisch wäre. Dies ist deshalb nicht möglich, da eine unbestreitbare Verbindung/Zusammenhang zwischen Seele und Körper besteht.“80

Kuyper agiert aus gutem Grund zögerlich, um dann doch, wenngleich nicht absolut und solitär, Rasse biologisch festzuschreiben. Irritierend ist seine Europa – ihre Gegenwart und ihre Zukunft, in: ders., Eine Schweizer Stimme 1938–1945, Zürich 3 1985, S. 252f. Dazu: Dieter Schellong, Immer wieder reformatorische Theologie? Ein Brief, in: Martin Heimbucher/Joachim Lenz (Hgg.), Hilfreiches Erbe? Zur Relevanz reformatorischer Theologie. FS Hans Scholl, Bovenden 1995, S. 20–30. 78 Zu den „völkischen“ Implikationen vgl. den Abschnitt „het volk“ in Kuyper, Antirevolutionaire Staatkunde I, S. 145–166. 79 Vgl. a. a. O., S. 151–155 (§§4–6): §4: „Twee[rlei begrip van Volk“ (S. 151f.); §5: „Tweeheid gebleven“ (S. 152–154); §6: „Vierderlei beteekenis van volk“ (S. 154f.). 80 A. a. O., S. 155 (eigene Übersetzung: M.H.): „Toch mag op de physische herkomst niet te eenzijdig nadruk worden gelegd. Hierdoor toch zouden de twee begrippen van ras en volk in88nvloeien, iets, waarvoor niet alleen in Europa, maar ten deele reeds in Azi[, en meer nog in Afrika en onder de oorspronkelijke bewoners van Australi[ en Amerika, aanleiding zou kunnen bestaan. Het onderscheid der rassen is in strengen zin physiek te nemen. Niet alsof het verschil uitsluitend physiek ware? Dit toch kan daarom niet, overmits er tusschen ziel en lichaam onloochenbaar verband bestaat.“

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Rede von „Negern“. Dieser in politischer Hinsicht diskriminierungsbezogene Sprachgebrauch befremdet uns heute. Sein Vergleich zwischen „einem Chinesen und einem Neger“ zeigt zudem, wie er bestimmte Stereotypen als psychische Dispositionen im Sinne empirischer Entitäten zuschreibt: „Wenn man einen Chinesen mit einem Neger vergleicht, tritt der Kontrast zwischen der nervösen Unempfindlichkeit des Chinesen und der nervösen Überempfindlichkeit des Negers sofort in den Vordergrund, und wie könnte es anders sein, als dass dieser grundlegende Unterschied die ganze Natur der beiden Gruppen bestimmt? Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass in jeder Rasse neue Unterschiede untergeordneter Art auftreten, die zwar nicht das alles beherrschende Merkmal des Rassenunterschieds leugnen, aber dennoch Variationen in dieser einen Rasse offenbaren, aus denen ein sehr klarer Unterschied in der Entwicklung des Lebens entstand.“81

Gleichsam unterhalb der rassischen Zugehörigkeit konzediert Kuyper zwar sozial bzw. kulturell bedingte Ausdifferenzierungen, aber eben nur als „token“ (Vorkommnisse) eines „types“. So bestimmt Kuyper das Ineinandergreifen von Natur und Kultur hinsichtlich des Rassebegriffs. Anders gesagt: Der Rassebegriff hat bei Kuyper auch die Konnotation der sozialen bzw. kulturellen Konvention. Die Denotation des Rassebegriffs ist bei Kuyper aber eine andere und darin besteht das Problem. Seine rassetheoretischen Darlegungen sind problematisch. Spätestens wenn Kuyper schöpfungs- bzw. vorsehungstheologische Festschreibungen vornimmt, wie in seiner bereits zitierten Bemerkung zu den „Kaffer- und Hottentottenstämmen in Afrika“ in seinen „Stone Lectures“, wird dies evident.82 Bemerkungen wie die, dass „Gott allein die Nationen schuf“ (S. 78; vgl. S. 84f.), zeigen in Kombination mit dem Ordnungsbegriff die schöpfungs- bzw. ordnungstheologische „Überlegitimation“ sozialer bzw. kultureller Kategorien wie Volk, Nation oder eben Rasse. Um nicht missverstanden zu werden: Nicht jede Verwendung des RasseBegrifffs ist a priori als rassistisch zu kennzeichnen. Es geht nicht um ein vorschnelles Verbot des vielschichtigen Rassebegriffs, so als wäre damit das Rassismusproblem bereits gebannt. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist etwa antirassistisch angelegt, auch wenn es in Art. 3 (3) den

81 A. a. O., S. 155f. (eigene Übersetzung: M.H.): „Vergelijkt men een Chinees met een Neger, dan springt terstond het contrast tusschen de nerveuze ongevoeligheid van den Chinees en de nerveuze overgevoeligheid van den Neger in het oog, en hoe zou het anders kunnen, of dit principieele verschil moet geheel den aard der beide groepen beheerschen? Dit neemt echter niet weg, dat in elk ras weder nieuwe verschillen van ondergeschikten aard opkomen, die wel niet het alles beheerschende kenmerk van het ras-onderscheid verloochenen, maar toch variati[n in dit 88ne ras openbaren, waa ruit een zeer duidelijk onderscheid in de ontplooiing van het leven opkwam.“ 82 Vgl. auch a. a. O., S. 148–150 (§3: „Joden, Arabieren, Kuraen, Zigeuners“).

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aktuell vieldiskutierten Rassebegriff gebraucht. Als Analysebegriff ist er gerade für die Antidiskriminierungsarbeit m. E. unverzichtbar.83 Kuyper aber konzipiert „Rasse“ durch die Verwendung des physis-Begriffs als objektives Merkmal, nicht als soziales Konstrukt. Hier liegt die Schwierigkeit bzw. die „völkische“ Anfälligkeit. Anders gesagt: Dass Rasse biologisch und nicht als soziales Konstrukt verstanden wird, darin besteht das Problem. Aktuelles Beispiel: „Wenn einem Schwarzen Mann der Zugang zur Disko verweigert wird, geht der Türsteher nicht davon aus, dass er biologisch der ,schwarzen Rasse‘ angehört, sondern dass Schwarzer Männlichkeit, wie im Falle von George Floyd, gefährliche, negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Das ist gemeint, wenn von Rasse und Geschlecht als soziale Konstrukte gesprochen wird, die zudem mit einander verschränkt sind. Rasse wird also als eine notwendige Kategorie herangezogen, um Diskriminierung zu messen, beispielsweise beim Racial Profiling.“84

Denn: Wenngleich es keine Rasse im Sinne einer biologischen Entität gibt, so wirkt sie dennoch. Gewiss wäre es von Kuyper zu viel verlangt, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einsichten der so genannten „Critical Race Theory“ vorwegzunehmen. Insofern wäre es sicherlich unfair, ihm vorzuwerfen, diesem Paradoxon in seinen Ausführungen nicht gerecht zu werden. Dennoch muss dies heute zur Sprache kommen und benannt werden. Dazu gehört aus theologischer Sicht vor allem, dass schöpfungstheologische Überhöhungen quasi-biologischer bzw. biologistischer Zuschreibungen moniert werden. Um die Gefahr naturalistischer Fehlschlüsse wusste man bereits seit David Humes85 Einspruch gegen die Ableitung von Sollens- aus Seinsaussagen im 18. Jahrhundert und spätestens seit George Edward Moores „Principia Ethica“86 (1903).87

83 Vgl. Cornel West, Race Matters. With a New Introduction, Boston 2017 (Erstauflage 1993); ders., Gerechtigkeit! Über Religion, Rassismus und Demokratie, hg. von Ana Honnacker/Ronja Heymann, Dresden 2020. 84 Cengiz Barskanmaz/Nahed Samour, Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse, unter: https://verfassungsblog.de/das-diskriminierungsverbot-aufgrund-der-rasse/ (Zugriff: 5. November 2020). 85 Vgl. David Hume, Treatise of Human Nature (1739/49), hg. von Lewis Amherst Selby-Bigge, Oxford 21985, S. 455–476. 86 Vgl. George Edward Moore, Principia Ethica, Cambridge 1903, S. 38. 87 Vgl. Christofer Frey, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, S. 41.72.157.

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3. Latenzen. Die leicht übersehbaren Stärken im politisch-theologischen Denken Abraham Kuypers „This said, I have to admit“ – so möchte ich diesen dritten Teil einleiten. Denn es zeigen sich unterhalb der Oberfläche sowohl der Kuyperschen Ausführungen als auch der nötigen Kuyper-Kritik doch auch gewisse Stärken und anschlussfähige Potentiale, aber eben nur auf den zweiten Blick, gleichsam subkutan. Ich möchte hier drei Punkte benennen:

3.1 Sphärensouveränität. Kommunitaristisch anmutende Impulse Kuypers Viel Kritisches lässt sich zu der von Kuyper projektierten „Souveränität im eigenen Kreis“ (S. 83; dort kursiv) ausführen88 – angefangen beim berühmtberüchtigten Modell der Versäulung („verzuiling“), das seinen eigenen kulturellen und historischen Index hat.89 Kuyper ist bekanntlich „einer der wichtigsten Anreger jener Gesellschaftsform gewesen, die man mit dem Ausdruck ,verzuiling‘ bezeichnet.“90 Doch steht die „Versäulung“ nicht für „die zur Erstarrung führende Segmentierung der niederländischen Gesellschaft“91? Geht es nicht um „ein[en] Gesellschaftsaufbau, bei dem sich die einzelnen Teile der Bevölkerung in die eigenen Organisationen zurückziehen und nur über die Führungsspitzen der Kontakt mit den anderen Bevölkerungsschichten aufrechterhalten wird“92 ? Von der gesellschaftlichen Anlage her betrachtet, ist die Verständigungsorientierung und Konsensbereitschaft auf basaler Ebene damit nicht breit aufgestellt. 88 Der Grundgedanke der „Souveränität im eigenen Kreis“ besagt Kuyper (S. 86f.) zufolge, „daß die Souveränität Gottes, wo sie auf Menschen herabsteigt, sich in zwei Sphären teilt, einerseits in die Autoritätssphäre des Staates und andererseits in die Autoritätssphäre der gesellschaftlichen Lebenskreise, und daß in diesen beiden Sphären die ihnen innewohnende Autorität souverän ist, das will sagen, allein Gott über sich hat. Doch darf hier nicht übersehen werden, daß die Art dieser Souveränität in beiden Sphären nicht dieselbe ist. In der Autoritätssphäre des Staates zwingt sie mechanisch, d. h. äußerlich mit starkem Arm; in der Autoritätssphäre des gesellschaftlichen Lebens zwingt sie organisch, d. h. durch moralisches und inhärentes Übergewicht.“ Dort z. T. kursiv. Vgl. auch Abraham Kuyper, Sphere Sovereignty (1880), in: Bratt, Abraham Kuyper. A Centennial Reader, S. 461–490. 89 Zur Versäulung vgl. Arie L. Molendijk, Versäulung in den Niederlanden: Begriff, Theorie, lieu de m8moire, in: Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Grosse Kracht (Hgg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Industrielle Welt (Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Bd. 37), Köln u. a. 2007, S. 307–327. 90 Augustijn, Abraham Kuyper, S. 305. Zur Sphärensouveränität vgl. auch van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, S. 356. 91 Augustijn, Abraham Kuyper, S. 294. So auch van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, S. 357, der „Segmentierung und Erstarrung“ als Negativfolgen nennt. Vgl. fernerhin Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, S. 40f. 92 Augustijn, Abraham Kuyper, S. 294.

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Freilich zeigen sich hier auch Ambivalenzen und d. h. mit dem Schatten auch Licht. So stellt Cornelis Augustijn fest: „Die Isolierung hat zwar verengend gewirkt, hat aber andererseits zu einer eigenen Gestaltung des persönlichen und des gemeinschaftlichen Lebens geführt, und zwar sowohl in Sachen der Moral wie auch des Lebensstils. Zu sehr hat man die Grenzen geschlossen, doch der Einsatz für eine eigene Formung von Wissenschaft und Kultur ist kein geringes Ideal.“93

Geht es also bei der Versäulung nicht auch um eine Stärkung partizipativer Strukturen? Ist nicht die Anschlussfähigkeit an das Subsidiaritätsprinzip ein Pfund, mit dem in diesem Zusammenhang zu wuchern wäre? Auf den zweiten Blick lässt sich ein Bezug, ja zumindest eine gewisse Nähe zu Johannes Althusius (1563–1638) und seinem aus heutiger Sicht kommunitaristisch anmutenden Pathos beobachten. Darauf hat der US-amerikanische Rechtswissenschaftler John Witte Jr. hingewiesen: „Für Althusius waren familiäre, private und politische Vereinigungen [associations im engl. Original; consociationes bei Althusius94] ebenso eindeutige Bereiche von Recht und Liebe, Gerechtigkeit und Billigkeit. Jede Vereinigung war auf das Naturrecht gegründet und unterlag dem allgemeinen Vereinigungsgesetz. Jede Vereinigung wiederum diente als Quelle für das positive oder anwendbare Recht. Jede erließ spezifische Gesetze, um der Vereinigung zu Gerechtigkeit und Billigkeit zu verhelfen und um die Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder zu schützen.“95

Diese Auffassung erinnert in der Tat stark an die „Sphärensouveränität“ Kuypers. Kuyper selbst muss in Althusius „einen frühen Propheten einer eigenständigen Theorie der Sphärensouveränität“96 gesehen haben.97 Die Rückbesinnung auf Gemeinschaften und das Gemeinwohl lag beiden sehr am Herzen und das für unsere Ohren kommunitaristisch anmutende Plädoyer für die Stärkung von (zivilgesellschaftlichen) Basisgemeinschaften mit ihren partizipativen Strukturen (Familie, Nachbarschaft, Gemeinde, Verein etc.) verbindet beide.98 Bei Kuyper heißt es geradezu anti-etatistisch: „Der Staat darf 93 Augustijn, Abraham Kuyper, S. 306. Van Keulen (Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, S. 357) hebt positiv hervor, dass das Versäulungs-Modell „Emanzipation und Initiative“ ermöglicht habe. 94 Vgl. Cornel Zwierlein, Consociatio, in: Corrado Malandrino/Dieter Wyduckel (Hgg.), Politischrechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010, S. 75–100. 95 Witte, Die Reformation der Rechte, S. 221f. (im engl. Original: The Reformation of Rights. Law, Religion, and Human Rights in Early Modern Calvinism, Cambridge 2007, S. 184). 96 So Witte, Die Reformation der Rechte, S. 245. 97 Vgl. Kuyper, Antirevolutionaire Staatkunde I, S. 652f. 98 Ein Desiderat wäre m. E. ein Vergleich zwischen Michael Walzer (Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, übersetzt von Hanne Herkommer, Frankfurt/New York 1992 [Erstauflage 1983], Neuauflage: 2006) und Abraham Kuyper. Bei beiden wird nach meinem

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keine Wucherpflanze sein, die alles Leben aufsaugt“ (S. 89). Ordnungspolitisch99 erteilt Kuyper auch dem Kosmopolitismus eine deutliche Absage, insofern er einen Weltstaat postlapsarisch für unmöglich erachtet (vgl. S. 72f.85).100 Einen solchen „doch gewollt zu haben, war die Vermessenheit des Turmbau’s zu Babel“ (S. 85). Freilich hält Kuyper wie auch Althusius den Menschen mit Aristoteles für ein zo¯on politikon. Wie Althusius direkt im ersten Kapitel seiner „Politica methodice digesta“ (1603; 31614) deutlich macht, geht es in der Politik um konsoziale Gemeinschaftsbildung: „Politik ist die Kunst, die Menschen zusammenzuschließen, damit sie untereinander ein gesellschaftliches Leben begründen, pflegen und erhalten. Deshalb wird sie Lehre vom symbiotischen Leben (symbiotike¯) genannt.“101

Der Mensch ist nach Althusius ein homo symbioticus: Homo homini minister – „[d]ie Symbioten sind also einander Helfende“.102 Wie bei Althusius, so manifestiert sich auch bei Kuyper ein ausgeprägtes organisches Denken oder zumindest ein ausgeprägter organischer Vorstellungsgehalt. So spricht Kuyper etwa vom „organischen Leben der Gesellschaft und dem mechanischen Charakter der Obrigkeit“ (S. 83f.). Als „Reibung und Kollision“ (S. 86) umschreibt Kuyper den Kampf zwischen der Obrigkeit in ihrem Einheitsdrang und den diffundierenden Kräften der Gesellschaft. Bei Kuyper paart sich freilich das organische Denken nicht nur mit dem Schöpfungsordnungsgedanken, sondern auch mit einem nicht unerheblichen Schuss Vitalismus (vgl. S. 10–12), wie er sich im 19. Jahrhundert formierte und zu einem Kampfbegriff wurde, wenn Kuyper etwa von dem den Sphären „einerschaffene[n] Lebensgesetz“ (S. 88) spricht. Kuyper kann auch betonen, dass „das lokale Zusammenleben in Städten und Dörfern einen Lebenskreis bildet, der aus der Notwendigkeit des Lebens selber aufkommt und darum autonom im eigenen Busen sein muß“ (S. 88). Auch das lokale Zusammenleben, welches Althusius so wichtig ist,103 fällt nach Kuyper unter die „Sphärensouveränität“, gehört also zu den Bereichen, in denen es

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Eindruck die Diversität der Lebensbereiche konzeptionell berücksichtigt. Walzer möchte sie in Gestalt von Gerechtigkeitssphären berücksichtigt wissen. Die Gemeinschaftsförderung kleiner, übersichtlicher Gemeinschaften durch den Staat bzw. die Obrigkeit wird bei beiden zur Stärkung partizipativer Elemente projektiert. Vgl. Walter Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik (stw 1282), Frankfurt a.M. 1997, S. 496–567. Zu Kuypers ordnungspolitischen Vorstellungen vgl. Kuyper, Antirevolutionaire Staatkunde I, S. 312–400. Zur „kommunitaristischen“ Verteidigung des Kosmopolitismus vgl. jüngst Martha Nussbaum, Kosmopolitismus. Revision eines Ideals, übersetzt von Manfred Weltecke, Darmstadt 2020. Althusius, Politica I,1. Zit. nach Johannes Althusius, Politik, übersetzt von Heinrich Janssen, hg. von Dieter Wyduckel, Berlin 2003, S. 24. Althusius, Politica I,6 (Politik, S. 25). Vgl. Karl-Wilhelm Dahm, Johannes Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter als Vordenker

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„die Prinzipien des Calvinismus zur Geltung [zu] bringen [gelte]. Mit seinen eigenen Worten: ,Es gibt auf dem ganzen Hof unseres menschlichen Lebens nicht eine winzige Ecke, wo nicht der Ruf Christi, der der Souverän aller Menschen ist, erschallt: Mein.‘“104

3.2 Pluralismusfähigkeit. Der Konnex von Freiheit und Pluralismus nach Kuyper Kuyper hebt bei aller Einseitigkeit der Darstellung in seiner Geschichtskonstruktion die Pluralismusfähigkeit des Calvinismus hervor und stellt damit in gewisser Weise auch seine eigene unter Beweis.105 Dass sich hinter dem „Zauberwort“ des Pluralismus106 auch Hochproblematisches verbergen, ja tarnen kann, wird uns gegenwärtig insbesondere am Beispiel der so genannten „Neuen politischen Rechten“ und des von ihr geforderten „Ethnopluralismus“ deutlich.107 Und doch hilft uns der politische Pluralismus gerade auch demokratietheoretisch weiter, da er nicht einfach etwa mit Carl Schmitt108 die Existenz eines homogenen Volkswillens unterstellt, sondern vielmehr vom Vorhandensein unterschiedlicher Interessen und Interessengruppen in der Gesellschaft und auch im Bereich von Kirche und Konfession ausgeht. Bei „Kuyper at his best“ ist es gerade der Zusammenhang von Freiheit und Pluralismus, den er zu demonstrieren versucht. Freiheit und Pluralismus bedingen sich nach Kuyper wechselseitig: „Freiheit fungiert als Quelle des Pluralismus und der Pluralismus als Bedingung der Freiheit.“109 Nach John Witte sind es „vier [Spiel-]Arten von Freiheit und Pluralismus“110, die Kuyper

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der Demokratie, in: ders. u. a. (Hgg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (Rechtstheorie 7), Berlin 1988, S. 21–41, hier: S. 27f.; Dieter Wyduckel, Einleitung, in: Johannes Althusius, Politik, S. VII–XLVII, hier: S. XXXIX. Augustijn, Abraham Kuyper, S. 293. Vgl. van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, S. 351. Die Grenzen des von ihm konzedierten konfessionellen Pluralismus wurden dabei bereits in den problematisierenden Ausführungen im Kap. 2 sichtbar. Zu Kuypers Pluralismus-Konzeption vgl. Bacote, The Spirit in Public Theology, S. 61–63; Bolt, A Free Church, S. 339–348; Martien E. Brinkman, Kuyper’s Concept of the Pluriformity of the Church, in: van der Kooi/de Bruijn, Kuyper Reconsidered, S. 111–122. Vgl. einführend Rainer Eisfeld, Art. Pluralismus/Pluralismustheorien, in: Dieter Nohlen/Florian Grotz (Hgg.), Kleines Lexikon der Politik, München 62015, S. 469–474. Vgl. Hans-Richard Reuter, Katechonten des Untergangs. Nation und Religion im Denken der deutschen Neuen Rechten, in: BThZ 35 (2018), S. 13–34. Vgl. Clifford B. Anderson, Liberalism versus Democracy? Abraham Kuyper and Carl Schmitt as Critics of Liberalism, in: John Bowlin (Hg.), The Kuyper Center Review, Vol. 4: Calvinism and Democracy, Grand Rapids/Cambridge 2014, S. 54–65. Witte, Die Reformation der Rechte, S. 375. Ebd.

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besonders lobend hervorhebt: die religiöse, die kirchliche, die soziale und die politische Spielart.111 Die Freiheitsrhetorik Kuypers reklamiert dabei die Gewissensfreiheit112 als das „Palladium aller persönlichen Freiheit“ (S. 99) vollmundig und gewiss nicht ohne Geschichtsrevisionismus (oder doch zumindest Geschichtsreduktionismus) für den Calvinismus. Kuyper ist sich dabei aber durchaus bewusst, bestimmte freikirchliche Vertreter zu vereinnahmen, die gegen den Calvinismus agierten.113 So betont Kuyper die „unleugbare[.] Tatsache, daß es nicht selten Baptisten und Remonstranten waren, die vor nun drei Jahrhunderten dies System der freien Kirche gegen den Calvinismus verteidigt haben.“ (S. 92) Zu nennen wäre etwa Roger Williams (1603–1683), der Gründer des Staates Rhode Island. Und dennoch erachtet Kuyper die Gewissensfreiheit als durch den Calvinismus in die Welt gekommen: „Bemerkenswert ist es denn auch, daß die Gewissensfreiheit von Anfang an von unsern calvinistischen Theologen und Juristen gegenüber der Inquisition verteidigt worden ist. Rom durchschaute außerordentlich gut, wie die Gewissensfreiheit das Fundament der kirchlichen Einheit unterwühlte, und ging dagegen an. Aber auch umgekehrt heißt es also erkennen, daß der Calvinismus durch sein lautes Eintreten für die Gewissensfreiheit die Einheit der sichtbaren Kirche im Prinzip preisgab.“ (S. 94; dort z. T. kursiv ; vgl. S. 100)

Im Calvinismus manifestiert sich nach Kuyper ein Ja zum Pluralismus im Sinne der „vielgestaltige[n] Offenbarung der Kirche Christi auf Erden“ (S. 98). Und selbst über die Kirche hinaus kann Kuyper das Wirken der „allgemeinen Gnade“ (S. 110.116)114 konstatieren – etwa im Bereich der Kunst. So hält er etwa unter Berufung auf Calvin fest, dass „die ,artes liberales‘ Gaben sind, die Gott ,promiscue piis et impiis‘, d. h. gleicherweise und ohne Unterschied Gläubige und Ungläubigen zuerteilt hat, ja die zufolge der Geschichte sogar in reicherem Maß gerade außerhalb des Glaubenskreises geglänzt haben.“ (S. 156; vgl. S. 148)

Die Pluralismusfähigkeit115 des Kuyperschen politischen Modells resultiert aus dem projektierten Nebeneinander der autonomen Lebenssphären im 111 Vgl. a. a. O., 375–378. 112 Zur Gewissensfreiheit vgl. auch Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, S. 30. 113 Vgl. etwa zum Puritanismus-Bild Kuyers James D. Bratt, Abraham Kuyper: Puritan, Victorian, Modern, in: van der Kooi/de Bruijn, Kuyper Reconsidered, S. 53–68, bes. S. 65–68 (wiederabgedruckt in: Lugo, Religion, Pluralism, and Public Life, S. 3–21). 114 Zur allgemeinen Gnade vgl. Abraham Kuyper, Common Grace (1902–1904), in: Bratt, Abraham Kuyper. A Centennial Reader, S. 165–201. Dazu: Clifford B. Anderson, A Canopy of Grace. Common and Particular grace in Abraham Kuyper’s Theology of Science, in: PSB 24 (1/2003), S. 122–140. 115 Zur Pluralitätsfähigkeit vgl. auch Augustijn, Abraham Kuyper, S. 204.

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Kampf um die Freiheit, ist also der Disposition nach in der Sphärensouveränität grundgelegt: „[S]o ist der Kampf für die Freiheit nicht nur für einen jeden in seinem Kreis für erlaubt erklärt, sondern sogar zur Pflicht gemacht, nicht dadurch, daß man, wie in der französischen Revolution, Gott beiseite schiebt und den Menschen auf den Thron der Allmacht setzt, sondern gerade dadurch, daß sich alle Menschen, die Behörden eingeschlossen, tief ehrerbietig beugen müssen vor der Majestät des allmächtigen Gottes.“ (S. 91)

Dies ist natürlich hinsichtlich der Verletzung von weltanschaulicher Neutralität des (Rechts-) Staates zutiefst problematisch. Hier artikuliert sich aber bei Kuyper zugleich eine Pluralismus-Wertschätzung: Die Realisierung des Programms „der freien Kirche im freien Staat“ (S. 98) bringt nach Kuyper nämlich einen enormen Pluralismusgewinn mit sich und zwar durch das Zerbrechen einer vorausgehenden Einheit.116 Die Genese der Freiheit beginnt Kuyper zufolge mit dem Einheitsbruch: „[W]o diese Einheit bricht, tagt die Freiheit von selbst“ (S. 94). Der Einheitsbruch wird gleichsam zum Konstitutionsprinzip. Dem säkularen Modernismus wirft Kuyper vor, alle Verschiedenheiten zu leugnen und wegzubuchstabieren (S. 20) und namentlich in Gestalt der Französischen Revolution paganen „Gleichheitsutopien“ zu verfallen und damit die Moderne zu verspielen (S. 21). Kuyper geht so weit, dass er die „Einheit der Religion“ (S. 96) für entwicklungsgeschichtlich primitiv erklärt. Wiederum vitalistisch heißt es bei Kuyper : „Fast bei allen Völkern sieht man denn auch, daß sie mit Religionseinheit beginnen. Gewinnt aber das individuelle Leben bei fortgehender Entwicklung an Kraft, dann ist es eben natürlich, daß diese Einheit sich spaltet, und Vielförmigkeit sich als unabweisbare Forderung einer reicheren Lebensentwicklung geltend macht“ (S. 96f.; vgl. S. 94f.). Hier artikuliert sich bei Kuyper durchaus eine Wertschätzung von Vielfalt.117

116 Es lässt sich nach Kuyper nicht leugnen, „daß der Calvinismus selber tatsächlich einen Bruch in die Einheit der Kirche gebracht, und daß gerade in den calvinistischen Ländern eine reiche Mannigfaltigkeit von allerhand Bildungen auftrat“ (S. 93). Mit nicht geringerem Pathos betont Kuyper, „daß die freie Kirche ausschließlich in den Ländern erblühte, in denen der Odem des Calvinismus zu wehen begann, d. h. in der Schweiz, Niederland, England, Schottland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika“ (ebd.). 117 Vgl. zum Thema Thomas Bauer, Die Vereindeutung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2019, der leider wieder auf die Stereotype von Calvins „Tyrannei der Tugend“ in Genf zurückgreift.

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3.3 Die kleinen Leute. Kuypers sozialdiakonisches Engagement Zu den sympathischen Seiten Kuypers gehört auch seine Hinwendung zu den so genannten „kleinen Leuten“ (kleyne luyden). Bei den „kleinen Leuten“ hat Kuyper „die calvinistische Bevölkerungsgruppe und auch deren Gedankenwelt [vor Augen], so wie sie sich in den Niederlanden vom 16. zum 18. Jahrhundert unter pietistischem Einfluß, vor allem aber auch in der damaligen reformierten Scholastik entwickelt haben. Kuyper möchte dieser Gruppe, die nun zum Teil durch die Abspaltung von 1834 außerhalb der Hervormde Kerk zu stehen gekommen war, ein neues Selbstbewußtsein geben und sie zum Kern der Hervormde Kerk, ja des niederländischen Volkes überhaupt gestalten.“118

Bereits Wilhelm von Oranien habe den „kleinen Leuten“ „das Gelingens seines Unternehmens verdankt“ (S. 31). Freilich hat Kuypers Hinwendung zu den „kleinen Leuten“ auch etwas mit der Überwindung sozialer Gräben und der Erschließung neuer Milieus zu tun.119 Denn man muss sich klarmachen: „Nach Herkunft und Ausbildung gehört er [sc. Kuyper] zu den führenden Kreisen, doch machte er sich schon bald geistig davon los und wurde zum Emanzipator einer reformierten Bevölkerungsschicht, die sich größtenteils aus den untersten Ständen zusammensetzte. Der von Kuyper ausgelöste gesellschaftliche Prozeß war deshalb zuallererst für diesen Teil der Bevölkerung von Bedeutung, doch erfaßte er auch andere sich emanzipierende Gruppen wie Katholiken und Sozialisten.“120

Mit Recht hat der marxistische Historiker Jan Romein Kuyper den „Glöckner der kleinen Leute“121 genannt. Und auch Christian Link hält fest, dass Abraham Kuyper, „der als Theologe und Staatsmann das Ideal der Heiligkeit der Gesellschaft in seiner vielleicht aktivsten Form vertrat, für die Überwindung des sozialen Elends in den Niederlanden so viel getan hat wie kein zweiter.“122 118 Augustijn, Abraham Kuyper, S. 295f. 119 Vgl. Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, S. 33. 120 Augustijn, Abraham Kuyper, S. 290. Vgl. auch van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, S. 344. 121 Jan Romein, Abraham Kuyper. De klokkenist der kleine luyden, in: ders./Annie Romein, Erflaters van onze beschaving. Nederlandse gestalten uit zes eeuwen, Amsterdam 101973, S. 747–770. Vgl. Augustijn, Abraham Kuyper, S. 293: „Als Orthodoxer wurde er [sc. Kuyper] akzeptiert, aber als zu ungestüm gemieden. Zur gleichen Zeit suchte er auch selbst die Isolierung. Durch diese Entwicklung näherte er sich immer mehr der ziemlich breiten Schicht von Gläubigen herkömmlicher Prägung. Mit einem archaisierenden unzutreffenden Ausdruck nannte er sie die ,kleinen Leute‘. Deren Sprachrohr wurde er in zunehmendem Maße.“ 122 Christian Link, Calvin und der Calvinismus. Eine Skizze, in: Heimbucher/Lenz, Hilfreiches Erbe?, S. 97–119, hier : S. 117. Vgl. das Urteil von Berkhof, 200 Jahre Theologie, S. 117: „Daß er [sc. Kuyper] kein Repristinationstheologe wurde, bewiesen seine sozialpolitischen Ideen und

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Marco Hofheinz

Kuypers Engagement in der sozialen Frage123 verdient es also auch in sozialdiakonischer Hinsicht nachdrücklich gewürdigt zu werden. Positiv hervorzuheben ist: Bei Kuyper zeigt sich „die Sorge um den schwachen Menschen und dessen Schutz“124 und zwar in klarer Abgrenzung vom Sozialdarwinismus. So ist etwa festzuhalten: „Kuypers theologische Ansichten [haben] im hohen Maße zur Bildung einer Bevölkerungsgruppe beigetragen […], die von jeher von der Welt abgewandt lebte. Kuypers Schüler sind in der Vorstellung aufgewachsen, die Welt der Politik und der Wissenschaft, ja der Kunst sogar sei für den Christen kein fremdes Terrain, sondern er habe auch da seine Aufgabe zu erfüllen. Es geht um eine ,allumfassende Lebensund Weltanschauung‘.“125

Und gerade darin erweist sich Kuypers Anliegen eben nicht als schichtenspezifisch enggeführt,126 sondern als in der Reichweite geradezu universalistisch grundiert.

4. Fazit Um abschließend nochmals auf die Ausgangsfrage und den Titel des Vortrages zu sprechen zu kommen: Hatte mein älterer Princetoner Kollege also nicht doch Recht? War Kuyper „just a minor thinker“? Der Daumen scheint sich nach allem bislang Ausgeführten doch nicht einfach nur nach unten zu senken. Ein ausschließlich negatives Urteil wäre ebenso undifferenziert wie undialektisch und würde Kuyper gewiss nicht gerecht. Neben den beobachteten Anfälligkeiten, die als mehr oder weniger unübersehbare Schwächen identifiziert wurden, gilt es ebenso, die auch leicht übersehbaren Stärken im politisch-theologischen Denken Kuypers wahrzunehmen. Hinsichtlich eines fairen Urteils sekundiert ausgerechnet Karl Barth zwar nicht im Detail, aber doch auf der Grundsatzebene dem angezählten Kuyper. Denn: Was heißt schon „groß“ oder „klein“ im Blick auf einen Theologen? Es handelt sich schlicht um einen theologischen Kategorienfehler, so gibt Barth in seinem „Schwanengesang“ zu bedenken, der damit nicht nur „Abraham,

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Aktivitäten. Konservative Christen warfen ihm vor, daß sein sogenannter ,Neu-Calvinismus‘ kaum mehr etwas mit Calvin zu tun habe.“ Abraham Kuyper, Manual Labor (1889), in: Bratt, Abraham Kuyper. A Centennial Reader, S. 231–254. Augustijn, Abraham Kuyper, S. 305. A. a. O., S. 303. Augustijn (Abraham Kuyper, S. 289) hat darauf hingewiesen, dass Kuyper „seinen Einfluß deshalb ausüben [konnte], weil er im Namen einer bestimmten Volksschicht sprach und sein Wirken diese Gesellschaftsschicht geformt hat.“

„Just a minor thinker“?

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den Gewaltigen“, sondern auch „Carolus Magnus“ vom Sockel holt:127 Es kommt nicht darauf an, wer der/die Größte ist. „Es mag grosse Juristen, Mediziner, Naturforscher, Historiker, Philosophen geben: es gibt aber – das gehört beiläufig auch zu den ,Existentialien‘ der Theologie – nur kleine Theologen. Es kann aber niemand auch nur ein ganz kleiner, auch nur ein im äussersten Nebenfach, ein auch nur dilettantisch und unbeholfen mit dieser Wissenschaft beschäftigter und also ihrem Gegenstand konfrontierter Mensch sein, ohne dass ihm dieser über den Kopf wächst, ohne dass das Objekt ihm, dem Subjekt gegenüber, unaufhaltsam die Oberhand gewinnt, ohne dass es ihn, der es von sich aus so gar nicht ,haben‘ kann, hat – sodass er seinerseits willig oder unwillig, bewusst oder unbewusst, aber sehr bestimmt ein von ihm nicht nur faszinierter, sondern eben betroffener Mensch wird.“128

Insofern wird man – dialektisch vermittelt – Kuyper wie Barth selbst als kleinen Theologen bezeichnen dürfen,129 aber eben nicht einfach nur als einen „ganz kleinen“ Theologen, „not just a minor thinker“. Denn Kuyper gibt sich selbst immer wieder als ein vom Gegenstand der Theologie, nämlich Gott, auf dem Feld der Politik konfrontierter und betroffener Mensch zu erkennen. Und das ist keine Kleinigkeit für einen politischen Theologen, wie groß oder klein er auch immer sein mag.

127 Vgl. Christian Möller, Karl Barth, der „kleine Theologe“, in seiner großen Bedeutung für die Praktische Theologie, in: Zwischen Mystik und Ratio. FS für Rainer Röhricht, hg. von Siegfried Landau u. a., Waltrop 1989, S. 179–201, hier: S. 179.201. 128 Karl Barth, Einführung in die Theologie, Zürich 31985, S. 86. 129 Man kann vielleicht von dem Impuls eines Kleinerwerdens der Theolog*innen bei Barth sprechen. Vgl. Andreas Pangritz, Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie. Ein Versuch über das Projekt einer „impliziten Theologie“ bei Barth, Tillich, Bonhoeffer, Benjamin, Horkheimer und Adorno, Tübingen 1996.

Martin Laube

Abraham Kuyper als Theologe der Moderne

1. Auf dem „geistigen Schlachtfeld der Gegenwart“1 tobe ein Kampf der „großen Weltanschauungen um die Herrschaft über die Gemüter“2. Es gehe um nicht weniger als die „höchste[.] Daseinsfrage“3 des Menschen und die wesentlichen „Lebensprobleme“4 der Gesellschaft. Der Grund dafür liege in der „totalen und allseitigen Veränderung des modernen Denkens“5, welches die überkommene christliche Ideenwelt tief erschüttert habe. Um sich in diesem Kampf erfolgreich behaupten zu können, müsse das Christentum alle seine Kräfte aufbieten und entschlossen unter Beweis stellen, dass es „bis heute und für immer die Wahrheit ist, die uns frei macht von dem Leid der Welt und der Not der Sünde.“6 Diese knappen Bemerkungen zur zeitgenössischen Lage des Christentums stammen aus dem Jahre 1893. Auf den ersten Blick scheinen sie sich in Diagnose wie Diktion von Abraham Kuypers Sicht der Dinge nicht wesentlich zu unterscheiden: Die Moderne habe das überkommene Christentum in eine tiefe Krise gestürzt; in Kultur und Gesellschaft träten die zersetzenden Schattenseiten dieser Entwicklung offen zutage. Das Christentum müsse daher den Kampf mit den Herausforderungen der Moderne aufnehmen, um die eigene Geltung behaupten und die Errungenschaften der christlichen Kultur und Gesellschaft verteidigen zu können. Bei näherem Hinsehen wird jedoch rasch deutlich, dass sich hinter der scheinbar gemeinsamen Oberfläche zwei von Grund auf gegensätzlich ausgerichtete Programme verbergen. Verfasser der angeführten Passagen ist Ernst Troeltsch; sie bilden das Resümee einer Vortragsreihe, welche dieser in Bonn gehalten und im Jahr darauf unter dem Titel Die christliche Weltan-

1 Ernst Troeltsch, Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen, in: ZThK 3 (1893), S. 493–528; 4 (1894), S. 167–231; wieder in und zitiert nach: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, S. 227–327, hier: S. 324. 2 Ebd. 3 AaO., S. 325. 4 Ebd. 5 AaO., S. 326. 6 AaO., S. 327.

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schauung und ihre Gegenströmungen in der Zeitschrift für Theologie und Kirche publiziert hat. Zunächst fällt auf, dass das wache Bewusstsein für die allgemeine Krisensignatur der eigenen Gegenwart Kuyper und Troeltsch gemeinsam ist – ebenso das Gespür dafür, dass hier weit mehr auf dem Spiel steht als nur die Zukunft des Christentums. Mit dem Mut zur Überspitzung formuliert: Um die Zukunftsfähigkeit des Christentums selbst sind beide, recht besehen, eigentlich weniger besorgt.7 Ihr vorrangiges Augenmerk gilt vielmehr der zukünftigen Gestalt der modernen Welt und Gesellschaft. Deren Grundwert der Freiheit sehen sie in ernster Gefahr, und zu dessen Befestigung suchen sie die Kräfte des Christentums auf neue Weise zu mobilisieren. So stellt Kuyper seine in Princeton gehaltenen Stone Lectures in den Dienst des Nachweises, dass allein der orthodoxe Calvinismus in der Lage sei, jene religiöse, politische und bürgerlicher Freiheit zu bewahren, an deren Ausbildung und Durchsetzung er bereits maßgeblich beteiligt gewesen sei. Troeltsch wiederum beendet seine berühmte Studie zur Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt mit der Feststellung, dass der moderne Freiheitsgedanke einer bleibenden christlichen Grundierung bedürfe, um sich gegen Entstellung und Verkehrung behaupten zu können: „Ich darf daher – wenigstens nach meiner persönlichen Auffassung der Lage – mit dem Ergebnis schließen: Bewahren wir uns das religiös-metaphysische Prinzip der Freiheit, sonst möchte es um Freiheit und Persönlichkeit in dem Augenblick geschehen sein, wo wir uns ihrer und des Fortschritts zu ihr am lautesten rühmen.“8

Doch während sich nun Troeltsch darum bemüht, die Rekonstruktion der kulturgeschichtlichen Verwobenheit von protestantischem Christentum und moderner Welt fruchtbar zu machen für eine aus „wacher Selbstkritik“9 gespeiste nüchterne Mitarbeit am Freiheitsprojekt der Moderne, schlägt Kuyper den entgegengesetzten Weg ein: Er propagiert eine Revitalisierung des orthodoxen Calvinismus, um durch den Rückgang hinter die geschichtliche Wende zur Moderne – zusammengefasst im Symbol der Französischen Revolution – deren freiheitszersetzende Auswirkungen im Ansatz überwinden zu können. Troeltsch kultiviert die Figur einer geschichtlich perspektivierten differenzsensiblen Vermittlung; in seiner späten Geschichtsphilosophie ar-

7 Für Troeltsch vgl. neben der bereits angeführten Schlußpassage auch ders., Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums im Verhältnis zur modernen Philosophie, in: GS II, S. 837–862. 8 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: ders., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906–1913), hg. von Trutz Rendtorff, Berlin 2001 (KGA 8), S. 199–316, hier: S. 316. 9 Ernst Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. von Hans Baron, Tübingen 1925, S. 297–338, hier: S. 337.

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beitet er am Aufbau einer ,europäischen Kultursynthese‘.10 Kuyper hingegen sind eben diese Bemühungen um die Gewinnung eines gemeinsamen Ethos zutiefst zuwider. „Reformation wider Revolution“11 heißt die kämpferische Parole, mit der er allen Vermittlungsversuchen von christlichem Glauben und modernem Geist eine harsche Absage erteilt. Dabei ist er weit davon entfernt, lediglich eine ,vormoderne‘ Vergangenheit repristinieren zu wollen – ganz im Gegenteil: Kuyper forciert die Rückbesinnung auf den Calvinismus, um so die ,modernen‘ Errungenschaften von Freiheit, Demokratie und Pluralismus gerade sichern und verteidigen zu können. Es geht ihm gleichsam darum, das gesellschaftliche Gedeihen der Moderne vor dem zersetzenden Geist des Modernismus zu retten. Zugespitzt formuliert: Kuyper setzt das Ideal einer calvinistischen Moderne gegen die zeitgenössische Verfallsform eines säkularen Modernismus. Damit ist die Situation klar benannt. Es geht um den Kampf zwischen zwei unvereinbaren Weltanschauungen. Der Calvinismus ruht auf dem Bekenntnis der absoluten Souveränität Gottes, der Modernismus hingegen kreist um das Postulat der Autonomie des Menschen. Während es in Paris heiße: „Alle zusammen gegen Gott“, laute der Genfer Wahlspruch: „Alle zusammen vor Gott“ – genauer : „Alle zusammen vor Gott niederkniend und entbrannt für seine Ehre.“12 Eben deshalb vermöge gerade der Calvinismus die Würde und Freiheit des Menschen zu sichern, während der Modernismus die eigenen ,modernen‘ Werte zu verspielen drohe: Dort „beugt man vor Gott die Kniee, aber gegenüber dem Mitmensch[en] erhebt man stolz das Haupt; hier aber […] ballt man gegen Gott vermessen die Faust, und unterdessen kriecht man als Mensch vor seinem Mitmenschen.“13

Zwischen beiden Weltanschauungen gibt es in Kuypers Sicht keinen Spielraum für Zwischentöne und Vermittlungen; es herrsche hier ein „Kampf auf Leben und Tod.“14 Damit wird zugleich das leitende Motiv Kuypers erkennbar : 10 Vgl. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), 2 Bde., hg. von Friedrich Wilhelm Graf, Berlin 2008 (KGA 16). 11 Die deutsche Übersetzung von Kuypers Stone Lectures erscheint im Jahre 1904 unter dem Titel Reformation wider Revolution. Er stammt von den beiden deutschen Herausgebern, Martin und Samuel Jaeger, nachdem der ursprüngliche Vorschlag „Der Calvinismus im Kampfe mit dem Modernismus“ verworfen worden war. Vielleicht wäre diese Variante glücklicher gewesen. Davon jedoch, dass der Titel Reformation wider Revolution „aufs Ganze gesehen auf eine falsche Spur“ führe (Hans-Georg Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe des Calvinismus – neu gelesen, Bielefeld 2919, S. 59), kann keine Rede sein. Denn Kuyper geht es mitnichten „um den Versuch einer modernen Fortschreibung des Calvinismus“ (ebd.; Hervorhebung ML); vielmehr will er den orthodoxen, gerade nicht ,fortgeschriebenen‘ Calvinismus „als die einzig entscheidende, einzig gültige, einzig standhaltende Wehr […] gegen den eindringenden und hinüberströmenden Modernismus“ zur Geltung bringen (Kuyper, Reformation wider Revolution, S. 5). 12 Kuyper, Reformation wider Revolution, S. 21. 13 AaO., S. 81. 14 AaO., S. 4.

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Gegen alle liberalen ,Grenzverwischungen‘ will er die unversöhnliche Alternative, das strikte ,Entweder-Oder‘ von Christentum und Moderne zur Geltung bringen. Angesichts der schleichenden Ausbreitung des modernen Paganismus „muß auf radikale Entschlossenheit gedrungen werden, mit Halbheiten kommen wir nicht weiter und die Oberflächlichkeit stählt uns nicht. Prinzip muß wieder gegen Prinzip, Weltanschauung gegen Weltanschauung, Geist gegen Geist Zeugnis ablegen, und sage es da anders, wer es besser weiß, ich kenne da kein festeres und haltbareres Bollwerk als den noch immer unüberwindlichen Calvinismus.“15

Eben dieser schroffe, unerbittliche und mit seinen schlichten Oppositionen allzu ,kulturkämpferisch‘ wirkende Gestus Kuypers macht die Lektüre seines Œuvres nun jedoch überaus beschwerlich. Massive Bedenken im Blick auf seine historische Rekonstruktion des Calvinismus und dessen weltgeschichtliche Verdienste verknüpfen sich dabei mit einem grundsätzlichen Unbehagen gegenüber dem Versuch einer dezidiert antiliberalen Verteidigung der Freiheit. Im Folgenden sollen zunächst die Bedenken zusammengetragen werden (2.), bevor das skizzierte Unbehagen den Ausgangspunkt bietet, um Kuypers Antiliberalismus als eine Theorie des radikalen weltanschaulichen Pluralismus zu entschlüsseln (3.).

2. Angesichts der weitverzweigten und intensiven Debatten, die seit der Aufklärung über die Frage nach dem ,Wesen des Christentums‘ geführt werden, erscheint es überaus kühn, wenn nicht gar naiv, wie unvermittelt Kuyper in seinen Stone Lectures den Calvinismus als ein selbständiges „Lebensprinzip“16 einführt und bestimmt. Irritierend ist dabei, dass Kuyper dieses Prinzip geradezu ,freihändig‘ und zeitlos-abstrakt meint festlegen zu können. Hier zeigt sich seine grundsätzliche Ignoranz gegenüber den Anforderungen eines reflexiv gewordenen historischen Bewusstseins. Unter ,Calvinismus‘, so Kuyper, sei „die vollendete Evolution des Protestantismus zu verstehen […], die im 16. Jahrhundert die Lebensentwicklung unseres Geschlechts in eine neue und höhere Phase geführt hat.“17 Seine inhaltliche Prägung zeige sich dabei in der Art, wie er die Grundverhältnisse zu Gott, Mitmensch und Welt bestimme: Der Mensch finde sich erstens mit dem ganzen Leben unmittelbar vor Gott gestellt, zweitens als Geschöpf mit allen 15 AaO., S. 195. 16 AaO., S. 8. 17 AaO., S. 37.

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anderen Menschen egalitär gleichgeordnet und drittens gemeinsam zum weltlichen Gottesdienst verpflichtet.18 Zweifellos hat Kuyper damit charakteristische Grundzüge reformiert-calvinistischer Frömmigkeit getroffen, auch wenn er den komplexen Problemen der Verhältnisbestimmung von Christentum und Calvinismus, der inneren Pluralität des Calvinismus selbst sowie seiner geschichtlichen Entwicklungsdynamik vollständig aus dem Wege geht. Allerdings sei ausdrücklich herausgehoben, dass Kuyper gerade kein idealistisch gefasstes ,Entwicklungsprinzip‘ benennen will, sondern vielmehr die in der calvinistischen ,Lebensform‘ beschlossene ,Weltanschauung‘ zum Ausdruck zu bringen versucht. Es geht ihm um die spezifischen Sinndeutungen und Werthaltungen, die – als mehr oder weniger selbstverständliche Grundhaltungen – den ,Habitus‘ der calvinistischen Lebensführung prägen. Insofern wäre zu überlegen, ob sich Kuypers ,Prinzip‘ des Calvinismus vielleicht im Sinne eines Weber‘schen ,Idealtypus‘ verstehen lassen könnte – mit der Pointe freilich, dass es sich dann um ein heuristisches Konstrukt handeln würde, nicht aber um die objektive Wesensbestimmung einer historischen Erscheinung.19 Das wiederum würde die Bereitschaft zu einer fortwährenden kritischen Selbstrelativierung voraussetzen, welche dem Programm und Anliegen Kuypers gerade diametral widerspricht. Ein weiteres Bedenken betrifft die überaus enervierende und engstirnige Penetranz, mit der Kuyper die weltgeschichtliche Überlegenheit des Calvinismus betont und ihm – von der Religionsfreiheit bis zur Blüte der Kunst – alle moderngesellschaftlichen Errungenschaften zurechnet, während der aufgeklärten Moderne die Verantwortung für sämtliche Fehlentwicklungen aufgebürdet werden: „[D]enken Sie daran, wie erst durch den Calvinismus der Psalm der Freiheit aus dem beengten Gewissen zu den Lippen sich drängte, wie unsere konstitutionellen Bürgerrechte erst durch den Calvinismus erobert und gesichert worden sind, und wie zugleich gerade von Westeuropa jene mächtige Bewegung ausging, die Wissenschaft und Kunst aufblühen ließ, dem Handel und Gewerbefluß neue Bahnen erschloß, das häusliche und gesellschaftliche Leben glänzend gestaltete, den Bürgerstand zu Ehren erhob, den Arbeiter als gleichberechtigt neben seinen Patron stellte, die Philanthropie zu reichem Wachstum brachte, und über dies alles durch puritanischen Ernst das sittliche Leben der Menschheit erhöht, gereinigt und geadelt hat.“20

Wohl steht Kuyper mit seinem Urteil über die charakteristischen Modernisierungsimpulse des Calvinismus keineswegs allein. Die berühmte These Max 18 Vgl. aaO., S. 12–25. 19 Vgl. Max Weber, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1922, S. 146–214, hier: S. 190–212. – Einen einführenden Überblick über Webers Konzept des ,Idealtypus‘ gibt Dirk Kaesler, Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt a.M. 21998, S. 229–234. 20 Kuyper, Reformation wider Revolution, S. 33.

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Webers, dass der Calvinismus mit seinem Ethos methodisch-rationaler Lebensführung die Durchsetzung des modernen Kapitalismus befördert habe, ist hinlänglich bekannt.21 Ihr entspricht die allgemeine Hochschätzung des Calvinismus bei Ernst Troeltsch. Er müsse „heute als die eigentliche Hauptmacht des Protestantismus betrachtet werden“22, heißt es in den Soziallehren. Denn während das Luthertum mit seiner mystisch-quietistischen Innerlichkeit „den Problemen des modernen politisch-sozialen Lebens sehr ferne steht“23, habe der Calvinismus „in seiner engen Verbindung mit englischen und amerikanischen Volkseigentümlichkeiten und Institutionen politisch und sozial den modernen Lebensstil, den man als Amerikanismus bezeichnen kann, mit sich verschmolzen und teilweise aus sich erzeugt.“24

Allerdings wird hier sogleich eine markante Differenz zu Kuyper sichtbar : Troeltsch schätzt den Calvinismus wegen seiner inneren Affinität zur Moderne, gerade nicht wegen seiner strikten Resistenz gegen die Moderne. Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Weder Weber noch Troeltsch lassen sich zu der schlichten These verleiten, der Calvinismus habe die moderne Welt und ihre Ordnungen ,hervorgebracht‘ – im Gegenteil: Troeltsch eröffnet das Schlusskapitel seiner Protestantismusstudie mit dem berühmten „Doppelergebnis“25, dass der Protestantismus „die Entstehung der modernen Welt oft großartig und entscheidend gefördert hat, daß er aber auf keinem dieser Gebiete einfach ihr Schöpfer ist. Er hat ihr nur – auf den verschiedenen Gebieten übrigens in sehr verschiedener Weise, überdies je nach Konfession und Gruppe mit verschiedener Kraft und in verschiedener Richtung – größere Freiheit der Entwicklung gewährt.“26

Damit ist zugleich die Perspektive geweitet, um nicht nur den Beitrag des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt in den Blick zu nehmen, sondern auch umgekehrt nach Veränderungen und Umbildungen des Protestantismus im Zuge seines Übergangs in die Neuzeit und Moderne zu fragen. Hier liegt ein zentrales Interesse Troeltschs: Er möchte ausloten, wie sich das Christentum auf die Konstellationen und Herausforderungen der Moderne einstellt – wie es darauf reagiert, sich verändert und seinerseits neue Formen ausprägt. Dass sich das Christentum in diesem Wandel zu behaupten 21 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ehtik und der „Geist“ des Kapitalismus, in: ders., Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, hg. von Wolfgang Schluchter, Tübingen 2014 (MWG I/9), S. 97–425. 22 Ernst Troeltsch, Gesammelte Schriften, Bd. 1: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, S. 605. 23 AaO., S. 607. 24 Ebd. 25 Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, S. 297. 26 Ebd.

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vermag, steht dabei für ihn außer Zweifel; eben daraus schöpft Troeltsch die Gelassenheit, sich den Umbrüchen und ihren krisenhaften Reibungspunkten in unbefangener Offenheit und ohne nervöse Apologetik zu stellen. Kuyper hingegen blendet – wie bereits notiert – die Frage einer geschichtlichen Entwicklung des Calvinismus vollständig aus. Er bleibt bei ihm gänzlich unberührt und ,unbefleckt‘ von allen geschichtlichen Einflüssen und Veränderungen – abgesehen von der unermüdlich betonten Tatsache, in besonderer Weise Verfolgung, Vertreibung und Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Während Troeltsch – sprachlich unglücklich – zwischen primitivem Calvinismus und Neu-Calvinismus unterscheidet27, erklärt Kuyper den orthodoxen Calvinismus zu einem zeitlos-abstrakten Prinzip. Diese eigentümliche ,Enthistorisierung‘ des Calvinismus hängt mit einem weiteren Umstand zusammen. Weber und Troeltsch verbinden ihre protestantismusgeschichtlichen Studien mit dem erklärten Hinweis, dass zwischen Genese und Geltung strikt unterschieden werden müsse: Der Aufweis einer besonderen Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt besage als solcher noch nichts für die Frage seiner normativen Geltung in der Gegenwart.28 Diese Gemeinsamkeit zwischen Weber und Troeltsch besteht unbeschadet der Tatsache, dass sie die Geltungsfrage selbst dann gegensätzlich beantworten.29 Kuyper hingegen setzt seine historische Rekonstruktion der weltgeschichtlichen Verdienste des Calvinismus in betont legitimativer Absicht ein. Eben weil ihm die modernen Errungenschaften von Freiheit, Demokratie und Pluralismus zu verdanken seien, verbiete es sich, „diesen von Gott uns gegebenen Calvinismus als ein ausgespieltes Drama in die historischen Archive zu verbannen. […] Wie die Saatkörner aus dem Sarkophag der Pharaonen, aufs neue der Erde anvertraut, eine mehr als hundertfältige Frucht ergaben, so trägt auch der Calvinismus eine wunderbare Kraft für die Zukunft der Völker in sich. Gegen den Zeitgeist, der uns unser Christentum rauben will, bietet mehr und besser als irgend eine andere Richtung der Calvinismus eine prinzipielle und darum unüberwindliche Wehr.“30

Nun ist es freilich wohlfeil, Kuyper auf verschiedene Mängel, Kurzschlüsse und Versäumnisse seiner historischen Rekonstruktion des Calvinismus hinzuweisen. Die Versuchung dazu ergibt sich aus dem Umstand, dass Kuyper mit 27 Vgl. Troeltsch, Soziallehren, S. 608f. 28 Für Max Weber vgl. ders., Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: ders., Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, hg. von Wolfgang Schluchter, Tübingen 2014 (MWG I/9), S. 242–425.420–423; für Ernst Troeltsch vgl. ders., Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, S. 314–316. 29 Vgl. dazu Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Frankfurt a.M. 2017, S. 165–278. 30 Kuyper, Reformation wider Revolution, S. 33f.

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dem theoretischen und methodischen Rahmen der modernen Religions- und Kulturgeschichte zu arbeiten scheint: Er begreift den Calvinismus als eine unter mehreren ,Weltanschauungen‘, argumentiert zumindest insoweit historisch-teleologisch, dass er den Calvinismus als Höhepunkt der Religionsgeschichte31 und Motor des Übergangs in die Moderne darstellt, und nimmt nicht zuletzt zeitgenössische soziologische Theoriefiguren auf, indem er die in der Moderne sich durchsetzende Ausdifferenzierung selbstständiger Sphären und ,Funktionssysteme‘ voraussetzt.32 Das alles darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Kuyper der elementaren Grundvoraussetzung der modernen Religions- und Kulturgeschichte, dem reflexiv gewordenen historischen Bewusstsein, gerade verschließt – und auch verschließen muss, weil dessen Grundzug einer durchgängig-historisierenden ,Korrelation‘ und Vermittlung des geschichtlich Gegebenen seinem eigenen Programm von Grund auf zuwiderläuft. Dieses hebt darauf ab, der relativistischen, wenn nicht gar nihilistischen Weltanschauung des säkularen Modernismus die rettende Alternative eines auf absolut-göttlichem Offenbarungsgrund ruhenden Calvinismus gegenüberzustellen. Daraus erklärt es sich, dass die bisher genannten Monita, so gewichtig sie sind, am zentralen Anliegen Kuypers auf eigentümliche Weise vorbeigehen. Denn letztlich hat er an einer ,Kulturgeschichte‘ des Calvinismus gar kein Interesse. Sie ist für ihn nur Mittel zum apologetischen Zweck, im Kampf der Weltanschauungen die Überlegenheit des Calvinismus vor Augen zu stellen. Kuyper ist zutiefst davon überzeugt, dass allein der orthodoxe Calvinismus mit seinem Bekenntnis zur absoluten Souveränität Gottes eine tragfähige Grundlage bietet, um weltliche Herrschafts- und Souveränitätsansprüche in ihre Schranken weisen und damit die Entfaltung von Freiheit befördern zu können. Das gelte auf religiösem, politischem und gesellschaftlichem Gebiet gleichermaßen. So hebe das Bewusstsein, unmittelbar vor Gott gestellt zu sein, zunächst alle kirchlichen Vermittlungsansprüche aus den Angeln und begründe die Freiheit eines Gewissens, das eben dieser Bindung an Gott wegen „nie einen Menschen und nie etwas anderes als Gott über sich hat.“33 Für die Autorität des Staates folge daraus Legitimation und Limitation zugleich. Allein ,im Namen Gottes‘ könne eine Herrschaft von Menschen über Menschen gerechtfertigt sein; zugleich werde dieser damit eine kritische Grenze gesetzt. Das Bekenntnis zu Gott bewahre so vor anarchischer Ohnmacht ebenso wie absolutistischer Übermacht des Staates. Eben diese herrschaftskritische Pointe münde schließlich auch in die Anerkennung der Selbstständigkeit gesellschaftlicher Sphären und Lebensbereiche: 31 Vgl. aaO., S. 25–27. 32 Vgl. zu dieser Beobachtung Arie L. Molendijk, Abraham Kuyper. Theoretiker der Moderne, in: Alf Christophersen/Friedemann Voigt (Hgg.), Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II., München 2009, S. 116–129, hier: S. 126f. 33 Kuyper, Reformation wider Revolution, S. 99.

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„Weder das wissenschaftliche Leben, noch das Kunstleben, noch der Landbau, noch die Industrie, noch der Handel, noch die Schiffahrt, noch das Hausgesinde, noch das Familienleben, noch das Gemeindeleben darf gezwungen werden, sich der Gnade der Obrigkeit zu fügen. Der Staat darf keine Wucherpflanze sein, die alles Leben aufsaugt.“34

Hier deutet sich die Aufnahme des reformierten Subsidiaritätsprinzips und dessen Umbildung zur Lehre von der „Souveränität im eigenen Kreis“35 an. Die strikte Unterscheidung von Gott und Welt ist also für Kuyper von alles entscheidender Bedeutung. Erst und allein im Horizont der absoluten Souveränität Gottes gewinne die endliche Freiheit des Menschen Grund, Statur und Halt. Denn nur mit dem Gegenüber Gottes sei das kritische Korrektiv gegeben, um zu verhindern, dass die Errichtung einer Herrschaft von Menschen über Menschen in die Unterwerfung von Menschen unter Menschen umschlage. Eben diese Unterscheidung sieht Kuyper nun aber durch den Modernismus als gefährdet an. Dessen zersetzender Geist macht sich gerade in dem Bemühen bemerkbar, alle Unterschiede zu ermäßigen, Grenzen zu verwischen und Gegensätze aufzuheben.36 Im Hintergrund steht zum einen die Tradition des deutschen Idealismus mit ihrer Grundfigur des spekulativen Begriffs. Zum anderen wird nun erkennbar, dass auch und gerade der moderne Historismus jenen alles nivellierenden ,Vermittlungsmonismus‘ repräsentiert, dem sich Kuyper widersetzen will. Denn hier geht es programmatisch um den Aufweis von Analogien, Korrelationen und Wechselwirkungen. Die Zumutung des historischen Bewusstseins besteht darin, alles vermeintlich zeitlos ,Absolute‘ als selbst wieder geschichtlich geworden, bedingt und mithin veränderlich zu begreifen. Kuyper sieht darin einen fatalen Relativismus am Werk, der keine absoluten Grenzen mehr anerkennt und so schließlich auch die Grunddifferenz von Gott und Welt einzuebnen unternimmt – jene „schärfste Grenzlinie […], mit deren Wegnahme alle anderen Grenzlinien zu Schattenlinien verwischt werden.“37 Der Geist des Modernismus ist für Kuyper also gerade nicht nur an den Radikalismus der französischen Aufklärung gebunden und beschränkt sich auch keineswegs nur auf die spekulative Dialektik des deutschen Idealismus. Vielmehr pflanzt er sich über das historische Bewusstsein in die Mitte des modernen Welt- und Selbstverständnisses ein und prägt nicht zuletzt das liberale Bemühen um Vermittlung, Ausgleich und Kompromiss. Hier liegen die Wurzeln für Kuypers schroffe Kulturkampfattitüde. Denn er kann dem Geist des Modernismus nur erfolgreich entgegentreten, wenn er sich dessen liberalen, alles ergreifenden ,Vermittlungsmonismus‘ prinzipiell vom Leibe 34 35 36 37

AaO., S. 89. AaO., S. 83. Vgl. Abraham Kuyper, Die Verwischung der Grenzen, Leipzig 1898, S. 12. AaO., S. 14.

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hält. Daher will er nicht Brücken bauen, sondern vielmehr einreißen. Kompromiss, Verständigung und Konsens sind für Kuyper keine erstrebenswerten Ideale, sondern die liberalen Pathosformeln jenes nivellierenden Relativismus, gegen den er sich mit allen Kräften zur Wehr zu setzen sucht. Der Calvinismus ist für Kuyper keine positionelle Option in der Moderne; nur als strikt-unversöhnliche Alternative zur Moderne kann er die Aufgabe erfüllen, die Kuyper ihm zuweist. Eben deshalb setzt er auf entschlossene Abgrenzung und beschwört den ,Kampf der Weltanschauungen‘.

3. Spätestens an dieser Stelle wird nun aber auch ein grundsätzliches Unbehagen spürbar. Es knüpft sich an die unduldsam-kompromisslose Härte, mit der Kuyper diesen ,Kampf der Weltanschauungen‘ nicht nur beschwört, sondern – mehr noch – nach Kräften anfacht und forciert. Er geriert sich als entschlossener Verteidiger der Freiheit und bekämpft dafür die Weltanschauung des Liberalismus. Damit steht er keineswegs allein. Sein Eintreten für die Freiheit ist aber nicht nur strikt antiliberal grundiert, sondern atmet auch selbst einen eigentümlich illiberalen Geist. Form und Inhalt treten spannungsvoll auseinander : Kann wirklich überzeugend von Freiheit und Pluralität die Rede sein, wenn programmatisch auf Konflikt statt Konsens, Abgrenzung statt Vermittlung gesetzt wird? Was ist von einer Freiheit zu halten, die mit kulturkämpferischem Pathos und dem Gestus immunisierender Selbstabschottung vorgetragen wird? Widerspricht es nicht der von Kuyper selbst beschworenen reformierten Grundfigur einer strikten ,Verendlichung des Endlichen‘, die eigene Weltanschauung der Relativität geschichtlichen Werdens und Vergehens und der fortwährenden Nötigung zu kritischer Selbstrelativierung faktisch zu entziehen? Wenn sich Freiheit nicht nur auf eine ,Souveränität im eigenen Kreis‘ beschränkt, sondern auch die Freiheit einschließt, eigene Grenzen zu überschreiten und sich von anderem her in Frage stellen zu lassen, kann Kuyper dann mit Fug als Vorkämpfer der Freiheit gelten? Es wäre nun freilich zu schlicht, dieses Unbehagen zum Anlass zu nehmen, sich der herausfordernden Anfrage zu entziehen, die mit Kuypers Kampf gegen die liberal-modernistische Weltanschauung verknüpft ist. Daher soll zum Schluss der Versuch unternommen werden, diese Anfrage in ihrer unabgegoltenen Gegenwartsrelevanz herauszuarbeiten. Dabei sei vorausgeschickt, dass Kuypers Eintreten für die Wahrung der Differenz von Gott und Welt von unverminderter Aktualität und Bedeutung ist, um allen Tendenzen zu einer ,Selbstüberhöhung‘ des Endlichen kritisch entgegentreten zu können. Es zeichnet gerade die reformierte Tradition aus,

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auf eine solche „Protestation wider alle […] Kreaturvergötterung“38 stets besonderen Wert gelegt zu haben. Im Bereich des Politischen folgt daraus die Aufgabe, unablässig die Differenz von Wohl und Heil einzuschärfen und gegen alle überzogenen Autoritätsansprüche des Staates die unüberschreitbare Grenze der Reichweite politischer Herrschaft zu betonen. Mit Recht ergänzt Kuyper zudem, dass es hier um die Wahrung der rechten Balance zwischen Legitimation und Limitation ankommt: So wichtig es ist, politisch-rechtliche Ordnungen um der Freiheit willen zu beschränken, so unverzichtbar ist die Einsicht, dass es umgekehrt politisch-gesellschaftlicher Ordnungen bedarf, um der Freiheit zu ihrer Entfaltung zu verhelfen. Problematisch erscheint jedoch Kuypers Strategie, das Eintreten für jene Differenz in die Gestalt eines weltanschaulichen Kampfes gegen die säkulare Moderne zu überführen. Denn zum einen lässt sich die säkulare Moderne selbst als eine konsequente Umsetzung der Differenz von Gott und Welt verstehen – jedenfalls dann, wenn der säkulare Staat, wie in der Bundesrepublik, seine religiöse Neutralität als Selbstbeschränkung versteht, um sich in religiösen Heils- und Sinnfragen für unzuständig zu erklären.39 Zum anderen mündet die Forderung nach einer ,calvinistischen (Gegen-)Moderne‘ in die Gefahr, eben jene Differenz gerade zu unterlaufen, für deren Geltung sie einzutreten beansprucht. Denn damit wird eine kritische Unterscheidungsfigur zum normativen Konstruktionsprinzip einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung erklärt. Hier schlägt sich jene eigentümliche Dialektik zwischen religiöser Selbstverendlichung und religiöser Selbstermächtigung nieder, die in besonderer Weise gerade dem reformierten Protestantismus zu eigen ist. Die entscheidende Herausforderung Kuypers liegt daher auch an anderer Stelle – nämlich eben dort, wo er von einem unvermeidlichen ,Kampf der Weltanschauungen‘ spricht. Zunächst lässt sich Kuyper als Diagnostiker oder Theoretiker eines radikalen Pluralismus verstehen, gleichsam als ein Herms praeceptus. Denn mit seiner These, dass in der Gestalt von Calvinismus und Modernismus zwei unvereinbare Weltanschauungen miteinander im Kampfe liegen, nimmt er eben jene Bestimmung des Pluralismus vorweg, die sich knapp hundert Jahre später bei Eilert Herms findet: 38 Alexander Schweizer, Die Glaubenslehre der evangelisch-reformirten Kirche, Zürich 1844, Bd. 1, S. 22. 39 Entsprechend trägt in der Bundesrepublik der säkulare Staat selbst dafür Sorge, seine Säkularität nicht zu überschreiten. Davon zeugt zum einen das Religionsverfassungsrecht, zum anderen die nominatio Dei in der Präambel des Grundgesetzes. Dieser Gottesbezug zielt gerade nicht auf eine transzendente Überhöhung der Verfassung, sondern sucht vielmehr das Bewusstsein um ihre Relativität und Endlichkeit zum Ausdruck zu bringen; vgl. dazu Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München 2018, S. 171–188. – Ergänzend ist auf die geradezu sakrosankte Geltung des sogenannten ,Böckenförde-Theorems‘ zu verweisen. Dieses hat keineswegs eine bleibende Verwiesenheit des Staates auf religiöse Legitimation im Sinn, sondern betont die Grenzen des Staates, sich die eigenen Legitimationsgrundlagen selbst beschaffen zu können; vgl. dazu ebenfalls Horst Dreier, aaO., S. 189–214.

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„Die Gesellschaft ist ,pluralistisch‘, wenn in ihr unterschiedliche weltanschaulichethische Überzeugungen miteinander konkurrieren, die nicht mehr durch einen einheitlichen zivilreligiösen Horizont miteinander verbunden sind.“40

Der Begriff der ,Zivilreligion‘ wird von Herms zur Bezeichnung eines grundlegenden weltanschaulich-ethischen Konsenses verwendet, der die Mitglieder einer Gesellschaft miteinander verbindet. In einer radikal pluralistischen Gesellschaft gelte hingegen, „dass die verschiedenen Positionen und Gruppierungen sich nicht einfach gegenseitig unterstellen können, daß sie die alles umgreifende Einheit des Daseins letztlich einheitlich erleben und begreifen. Vielmehr leben sie von der Erfahrung und wechselseitigen Vermutung, daß das eigene Erleben und Begreifen der Einheit des Daseins von anderen nicht geteilt wird.“41

Eben diese Konstellation sieht Kuyper im Gegenüber von Calvinismus und Modernismus gegeben – genauer : Kuyper will darauf hinaus, dass das Gegenüber von Calvinismus und Modernismus als eine solche Konstellation bewusst und begriffen wird. Mithin lässt sich seine Formel vom ,Kampf der Weltanschauungen‘ schließlich so verstehen, dass er zu einem angemessenen Umgang mit einer gesellschaftlichen Konstellation des radikalen Pluralismus aufrufen und anleiten will. Auch hier nimmt er bereits vorweg, was Herms später auf den Begriff bringt: Die Haltung eines relativistischen „Pluralismus der Beliebigkeit“42, der auf das Faktum der Pluralität verschiedener Religionen und Weltanschauungen mit einem Rückzug in den Bereich des Privaten reagiert, kommt nicht in Frage. Gefordert ist vielmehr die Haltung eines „Pluralismus aus Prinzip“43, der aus der Anerkennung, dass es sich bei der eigenen Weltanschauung um eine tragende, das praktische Handeln orientierende Lebensgewissheit handelt, deren notwendige öffentliche Bedeutung ableitet – und eben dies auch den anderen Weltanschauungen zugesteht, so dass daraus der öffentliche Streit der Weltanschauungen erwächst. Eben auf diese Konsequenz steuert Kuyper mit seiner Formel von der ,Souveränität im eigenen Kreis‘ zu. Es geht ihm gerade nicht um ein „lichtscheue[s] Sicheinschließen im eigenen Kreis“44, also eine schiedlich-friedliche ,Versäulung‘. Vielmehr gelte es, im jeweiligen Kreis „ein eigenes Leben zu entwickeln, von diesem so gestalteten Leben sich Rechenschaft zu geben“45, und so heranzuwachsen „für den Streit, der einmal übernommen werden muß.“46 40 Eilert Herms, Pluralismus aus Prinzip, in: ders., Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, S. 467–485, hier: S. 467. 41 AaO., S. 474. 42 AaO., S. 477. 43 Ebd. 44 Kuyper, Die Verwischung der Grenzen, S. 49. 45 AaO., S. 48. 46 Ebd.; Hervorhebung ML.

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Damit ist schließlich das entscheidende Stichwort gefallen. Denn Kuyper schärft unnachgiebig ein, dass die Konstellation des radikalen weltanschaulichen Pluralismus mit dem liberalen Leitbild des verständigungsorientierten Konsenses nicht mehr zu bewältigen ist. Zugespitzt formuliert: Die gängige Vorstellung, die moderne Zivilgesellschaft biete einen Raum, in dem unterschiedliche religiöse, politische und ethische Auffassungen zu Gehör kommen, miteinander ausgetauscht, erwogen und auf der Grundlage eines gemeinsamen Hintergrundkonsenses mit dem Ziel der friedlichen Übereinkunft und Verständigung debattiert werden, ist naiv. Der Pluralismus besteht nicht im Aufblühen eines harmonisch-bunten Straußes von Verschiedenem, sondern bringt harte Kämpfe und Konflikte mit sich – ohne die haltbare Erwartung, diese Konflikte in Konsense überführen zu können. Schärfer formuliert: Anders als der Liberalismus meint, ist der Pluralismus keineswegs als solcher schon ein Wert an sich, sondern stellt vielmehr ein Problem dar. Denn der weltanschauliche Streit kann zwar ausgetragen, muss aber irgendwann auch entschieden werden – und dann gibt es Gewinner und Verlierer. Vielleicht besteht die Herausforderung, die Kuyper uns zu bedenken gibt, eben darin, von der Wohlfühlvorstellung eines harmonischen Pluralismus endlich Abschied zu nehmen und der Tatsache ins Auge zu sehen, dass nicht mehr die ,Dauerreflexion‘, sondern vielmehr der ,Dauerstreit‘ die maßgebliche Signatur der Spätmoderne darstellt. Kuyper selbst hat auf diese Herausforderung reagiert, indem er Christentum und Calvinismus zur weltanschaulichen Streitpartei erklärt. Was aber ist zu tun, wenn man seine Diagnose anerkennen und gleichwohl – oder gerade deshalb – diesen Weg so nicht gehen will?

Margit Ernst-Habib

Begegnungen im liminalen Raum Betrachtungen zu Abraham Kuypers Diskurs über den Islam

1. Der Postkoloniale Diskurs, die Denkmäler und Abraham Kuyper In den letzten Wochen und Monaten wurde in Deutschland verstärkt und manchmal überaus hitzig über den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit diskutiert: Sollen Bismarck-Statuen unter Verweis auf seine Rolle als Wegbereiter des deutschen Kolonialismus und Imperialismus entfernt werden? Sollen Straßen, Plätze, Institute und Apotheken umbenannt werden, wenn ihre Namen unkritisch, gar glorifizierend das Erbe des Kolonialismus widerspiegeln?1 Und was ist mit den großen Philosophen und Philosophinnen, deren Denksysteme und Paradigmen nicht nur die Philosophien der Vergangenheit, sondern auch den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs prägen, deren Denken aber nicht nur Spuren ihres zeitgeschichtlichen Kontextes enthält, sondern auch selber maßgeblich zu eurozentrischem, kolonialistischen und auch rassistischen Weltbildern beiträgt? Müssen etwa Immanuel Kant, Karl Marx und sogar Hannah Arendt von ihren philosophischen Sockeln heruntergeholt werden?2 Diese Diskussion ist – trotz ihrer wohl unvermeidlichen Auswüchse – eine sinnvolle, wenn auch sehr verspätete Diskussion, und für Theologie und Kirche insbesondere dann wichtig, wenn sie sich kritisch und selbst-kritisch mit den Voraussetzungen des eigenen Theologisierens und gerade auch des eigenen Glaubens und Lebens auseinandersetzt. Auf den ersten Blick mag es jedoch nahezu trivial erscheinen, wenn hier ausgerechnet der niederländische Theologe, Staatsmann und Journalist Abraham Kuyper und sein Diskurs über den Islam kritisch aus einer postkolonialen Perspektive3 betrachtet werden soll: Wer auch nur das Geringste 1 Aus der umfassenden Diskussion vgl. z. B. Jürgen Zimmerer, Kein Denkmal ist für die Ewigkeit, ZEITONLINE vom 4. September 2020; abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/2020-09/kolo nialismus-theo-sommer-rassismus-debatten-denkmaeler (Zugriff: 20. Dezember 2020). 2 Zugespitzt gefragt in der Satiresendung des ZDF-Formates Die Anstalt vom 14. Juli 2020 unter dem Titel „Kant, Marx oder Arendt – Wer war rassistischer?“; abrufbar unter https://www.zdf.de/ comedy/die-anstalt/die-anstalt-vom-14-juli-2020-100.html (Zugriff: 20. Dezember 2020). 3 Zu meinem Verständnis postkolonialer Herausforderungen für die Theologie vgl. Margit ErnstHabib, „Politik hat in der Kirche nichts zu suchen“? Zum Spannungsfeld von Religion und Politik aus der Perspektive postkolonialer Theologien, in: Ingo Bultmann/Kai-Ole Eberhardt (Hgg.), Das Spannungsfeld von Religion und Politik. Deutung und Gestaltung im kulturellen Kontext, BadenBaden 2019, S. 31–59, hier: S. 35–51.

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über Kuyper weiß, der weiß selbstredend, dass Kuypers Politik und Theologie dem Zeitalter und Kontext des niederländischen Kolonialismus entstammen. Gerade auch Kuypers Verständnis und Beurteilung des Islams sind daher, wie George Harinck, pointiert festgehalten hat, „not purely theologocial, but are rooted in Dutch colonialism.“4 In den folgenden Betrachtungen soll es daher auch nicht primär darum gehen, Kuyper als imperialistischen Theologen zu entlarven, seinen unleugbaren Eurozentrismus oder folgenreichen Rassismus aufzuzeigen.5 Abraham Kuyper soll mit diesem Beitrag von keinem Sockel gestoßen werden – zumal er sich vermutlich für die meisten Leserinnen und Leser in deutschen Kontexten ohnehin nicht auf einem solchen befunden hat. Stattdessen wird es in den folgenden Beobachtungen zentral um ein anderes Thema gehen, nämlich um Begegnung im liminalen Raum; dabei wird im Folgenden noch zu klären sein, was sich hinter dieser zunächst eher kryptisch anmutenden Bezeichnung verbirgt. Kuypers Begegnungen mit dem Islam in unterschiedlichen Ausprägungen und der Welt des „Orients“6 werden damit zu einer Art Fallstudie, die nachzuzeichnen versucht, wie dieser niederländische Theologe und Staatsmann seinen theologisch und politisch informierten und interessierten Blick auf sein Gegenüber richtet und wie dieser Blick gleichzeitig durch die eigenen Urteile und Vorurteile bestimmt und geprägt ist. Trotz – oder vielleicht gerade wegen? – seiner aus heutiger Perspektive nicht zu übersehenden Vorurteilshaftigkeit7 begegnet den Leserinnen und Lesern seiner Beschreibungen, Analysen und Projektionen hier min4 George Harinck, Abrahm Kuyper’s View of Islam: The Dutch Setting, in: James D. Bratt (Hg.) mit Douglas A. Howard, Abraham Kuyper. On Islam (Abraham Kuyper Collected Works in Public Theology), translated by Jan van Vliet, Bellingham 2017, S. xxxiii–xlii, hier: S. xlii (Herv. von M. E.-H.). 5 Vgl. dazu z. B. Vincent Bacote, Was ,Vader Abraham‘ een Racist?, in: George Harinck/Bas Popkema/Sjoerd Wielenga (Hgg.), Bram. 100 Jaar Abraham Kuyper, Amersfoort 2020, S. 44–47; Jeff Liou/David Robinson, Our Racist Inheritance: A Conversation Kuyperians Need to Have. A report from the Kuyper Center for Public Theology’s recent conference on „Faith and Race“ vom 14. Mai 2015; abrufbar unter https://www.cardus.ca/comment/article/our-racist-inheritance-aconversation-kuyperians-need-to-have/ (Zugriff: 20. Dezember 2020). 6 „Orient“ und „Okzident“ bleiben dabei binäres Gedankenkonstrukt; vgl. dazu unten im dritten Abschnitt die Diskussion zu Edward Saids bahnbrechendem Ansatz in seinem Werk „Orientalism“. 7 Es lohnt sich jedoch, Kuypers Urteile und Vorurteile gegenüber dem Islam und den arabischen Gesellschaften mit denen seiner Zeitgenossen zu vergleichen, wie sie in anderen Reiseberichten zum Ausdruck kommen. Diane B. Obenchain, By What Magic did Muhammad…? The Missiological Implications of Abraham Kuyper’s Observations on Islam, in: Kuyper, On Islam, S. 310–332, hier: S. 310, weist zu Recht darauf hin, dass Kuypers Darstellungen sich radikal etwa von denen unterscheiden, die Mark Twain ca. 40 Jahre vorher in seinen satirischen Reisebeobachtungen gemacht hatte. In seinem immens einflussreichen und das Bild „der Araber/der Muslime“ nicht nur in den USA prägenden Reisetagebuch The Innocents Abroad schildert Twain „Muslime“ unter Verwendung von rassistischen Stereotypen und „continued the philosophical ridicule of established religion, and Islam specifically, as backwards und superstitious“, wie David D. Grafton, Christians and Muslims in the Americas, in: David Thomas (Hg.), Routledge Handbook on Christian-Muslim Relations, New York 2017, S. 402–412, hier: S. 405, festhält.

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destens in Ansätzen ein „instructive model for observing another faith and its cultural ramifications from an informed Christian perspective“8 – ein Modell, das selbstredend mehr als einhundert Jahre später nicht übernommen werden kann oder sollte, das allerdings trotz aller hermeneutischen Vorbehalte auch gegenwärtiger Theologie und Religionswissenschaft nachhaltige Impulse zu geben vermag. Dadurch wird aber indirekt auch eine zweite Begegnung ermöglicht, die Begegnung mit Abraham Kuyper selbst, beziehungsweise mit Hauptgedanken seines theologischen Werkes, welche in seinen Betrachtungen über den Islam und die Kulturen rund um das Mittelmeer wie in einem Spiegel reflektiert werden: „Anyone who has read much of Kuyper and then turns to these pages will experience enough jolts of recognition to start wondering whether Kuyper was seeing Islam clearly or projecting his own ideals upon it. The answer probably lies in the resonance between the two.“9

Die „eigenen Ideale“ Kuypers, seine theologisch-politisch-gesellschaftlichen Kerngedanken, seine „öffentliche Theologie“10 erhalten eine besondere Fokussierung und Schärfe durch ihre Reflexion in Kuypers Blick auf sein Gegenüber. Sein Lob wie seine Kritik, sein Respekt wie auch seine Verachtung in Bezug auf den „Orient“, seine Menschen und Religionsformen, bringen nicht nur die hermeneutischen Kriterien von Kuypers Beobachtungen in den Vordergrund, sondern auch die diesen Kriterien zugrunde liegenden Überzeugung theologischer wie gesellschaftlicher und politischer Natur. Wer Abraham Kuyper ist, was er denkt und glaubt, wird so auf spezifische Weise gerade in seiner Begegnung mit „den Anderen“ für die interessierten Leser und Leserinnen sichtbar.

8 Jordan J. Ballor/Melvin Flikkema, General Editors’ Introduction, in: Kuyper, On Islam, S. vii–x, hier: S. ix. 9 James D. Bratt, Editor’s Introduction, in: Kuyper, On Islam, S. xi–xix, hier : S. xiv. 10 Kuypers neocalvinistisches Weltbild, basierend u. a. auf seinem Verständnis der „Allgemeinen Gnade“, wurde in den letzten Jahrzehnten zu einem der einflussreichsten Versuche, eine „Öffentliche Theologie“ für die Gegenwart zu erarbeiten, „supporting a whole variety of recent forms of public theology“; Dirkie J. Smit, No Ulterior Motive – and Public Theology, in: ders., Essays in Public Theology, Collected Essays I, edited by Ernst M. Conradie, Stellenbosch 2007, S. 139–156, hier : S. 153. Zu Kuypers Verständnis der „Allgemeinen Gnade“ vgl. Hans-Georg Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe des Calvinismus – neu gelesen, Bielefeld 2019, S. 44–49. Zum Thema „Öffentliche Theologie“ vgl. Florian Höhne, Öffentliche Theologie: Begriffsgeschichte und Grundlagen (ÖTh 31), Leipzig 2015.

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2. Liminale Räume und theologische Grenz(über)gänge Die hier verwandten Metaphern der „liminalen Räume“, „Grenzübergänge“ und „Türschwellen“ spielen in postkolonialer Theologie in vielfacher Hinsicht eine bedeutende Rolle, geht es in ihr doch, sehr vereinfacht ausgedrückt, nicht primär um die Zentren der politischen, wirtschaftlichen oder auch theologischen Macht, sondern um das Marginale und Marginalisierte auch im wörtlichen Sinne: Es geht um das am Rande Liegende. Es geht (bildlich formuliert) nicht um die Hauptstadt, sondern um das Land auf beiden Seiten der Grenze, um Zwischenräume, in denen Begegnungen stattfinden, um Schwellen, die überwunden werden (oder eben auch nicht). Kulturen und auch Religionen werden liminal bestimmt, von den Grenzen her, von den sich überlappenden Identitäten, die Hybridität und Ambiguität mit sich bringen. Liminale Räume, Grenzräume und Grenzübergänge werden auf diese Weise zu hermeneutischen Erkenntnisorten.11 Mit dem brasilianischen Theologen V&tor Westhelle lässt sich dabei die hermeneutische Frage stellen, die auch für die Begegnung mit Kuypers Überlegungen zum Islam impulsgebend sein wird: „Ist die Grenze das Ende der eigenen Welt, die durch ein Zentrum definiert wird, oder ist sie ein Fenster, durch das man auf das blicken kann, was jenseits der Grenze liegt, eine Utopie, ein Nicht-Ort oder ein Noch-nicht-Ort? […] Mit anderen Worten, sind Grenzen ein Ende oder ein Anfang? Beinhalten Grenzen einen Anfang und ein Ende? Sind sie beides oder sind sie nichts?“12

Für Abraham Kuyper gilt wohl beides: Der „Orient“ wird ihm zur Grenze der eigenen Welt, die durch sein Zentrum u. a. im niederländischen Calvinismus und Kolonialismus wesentlich mitbestimmt wird; gleichzeitig aber schaut er auch durch das Fenster auf das, was für ihn jenseits der Grenze liegt, und versucht, diesen Ort als Anfang einer Begegnung zu sehen und zu erleben. Dabei ist in Kuypers Beschreibungen ein Zweifaches zu erkennen: Zum einen bringt er, der ehemalige Ministerpräsident der Niederlande, der Staatsmann und Politiker, die (koloniale) Macht immer auch mit sich, verkörpert sie gerade zu, wenn er in Kolonien europäischer Mächte unterwegs ist. Gleichzeitig kann er aber auch die Marginalisierten in der fremden Kultur und Gesellschaft mit Sympathie, Respekt und Interesse erkennen und ihnen bis zu einem gewissen Grad auch begegnen. Begegnungen in liminalen Zwischenräumen, die Anregungen zu herme11 Vgl. dazu auch Paul Tillich, Religiöse Verwirklichung, Berlin 1930, S. 11: „Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis.“ Vgl. dazu auch seine Autobiographie unter dem Titel ders., Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs, Stuttgart 1962. 12 V_tor Westhelle, After Heresy. Colonial Practice and Post-Colonial Theologies, Eugene 2010, S. 121f.; zitiert bei Andreas Nehring/Simon Tielesch, Theologie und Postkolonialismus. Zur Einführung, in: dies. (Hgg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013, S. 9–45, hier: S. 38.

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neutischen Erkenntnissen geben können, werden im Folgenden analog zu dem bereits gekennzeichneten doppelten Ansatz meiner Überlegungen ebenfalls in zweifacher Weise stattfinden: (1) Da sind zum einen Kuypers eigene Begegnungen mit dem Islam, die sein Nachdenken und Theologisieren motiviert und beeinflusst haben – insbesondere die Begegnungen, die sich während seiner Reise um das Mittelmeer („Om de Oude Wereldzee“) in den Jahren 1905 und 1906 ergaben.13 Im Jahr 1907 gab er seinen Reisebericht in einem massiven zweibändigen Werk heraus, besonders prächtig gedruckt und gebunden. Kuyper hatte sich ganz buchstäblich in den Zwischenraum zwischen „Morgenland“ und „Abendland“14 begeben, in das Gebiet, in dem Orient und Okzident aufeinanderstoßen und sich vermischen, und sich „Oosterlinge“ und „Westerlinge“15 begegnen – in der Levante stehen sich für Kuyper Kreuz und Halbmond gegenüber und am Halbmond meint Kuyper das Kreuz fokussierter und klarer zu erkennen.16 In diesen Begegnungen mit dem Islam, aber auch mit orientalischen Kirchen, wird Kuyper die Grenze, der liminale Raum immer wieder zu einem Fenster, durch das er auf die fremde Frömmigkeit, die fremde Religion, die fremde Kultur, die fremde Politik blickt und gleichzeitig zu einem Spiegel, der ihm die eigene Frömmigkeit, Religion, Kultur, Politik widerspiegelt – und wenigsten ansatzweise auch hinterfragen lässt. In diesem Grenzland zwischen Orient und Okzident bewegt sich Kuyper mit dem ambivalenten Gepäck des Europäers seiner Zeit: einer Vorstellung des Orients, der gleichzeitig romantisierter Sehnsuchtsort und abschätzig betrachteter „Rand der Zivilisation“ ist. Zudem war Kuyper niederländischer Staatsmann und Politiker, während des „heyday of Dutch imperialism“17 und als solcher war er „part and parcel of the imperialist project of the West and got to know about Islam in that context.“18 Kuyper ist, um es deutlich zu sagen, als Kolonialisierer, als Kolonialpolitiker in der Welt unterwegs.19 Er war bei weitem auch nicht der einzige Orientreisende 13 Vgl. dazu Bratt, Editor’s Introduction, S. xii–xiv ; Dirk van Keulen, Een blok aan het been? Gereformeerde mannenbroeders in debat over de Islam, Zoetermeer 2011, S. 15–20; Jeroen Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006, S. 491–523. 14 Zwei Begriffe, die selbstredend ebenfalls sorgfältig dekonstruiert werden müssten, die aber hier wegen ihrer Bildlichkeit verwandt werden. 15 So die niederländischen Begriffe bei Kuyper, die im Deutschen etwa mit „Orientale“ und „Westler“ wiedergegeben werden könnten. 16 So Abraham Kuyper, The Asian Danger, in: ders., On Islam, S. 1–40, hier: S. 15. An dieser Stelle scheint auch Kuypers ambivalentes Verständnis von „Rassen“ auf: Zwar gibt es in diesem Gebiet, nach Kuyper, Nachkommen verschiedener „Rassen“, diese wiederum wurden allerdings durch den Islam und seinen „semitischen Geist“ unter vorwiegend semitischen Einfluss gebracht. 17 Harinck, Kuyper’s View on Islam, S. xxxiii. 18 Harinck, Kuyper’s View on Islam, S. xxxvi. 19 Vgl. dazu Harinck, Kuyper’s View on Islam, S. xxxvif.: „Kuyper’s attitude toward Islam as a Christian politician in the colonial debate of the 1870s was one of suspicion, and over the years his political position did not change much. […] He had never met a Muslim and was hardly ever confronted with Islam outside of colonial debates.“

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seiner Zeit, sondern steht in einer langen Tradition von Orientreisen, die in einer Unmenge von Reiseberichten ihren Niederschlag gefunden haben.20 Wie sehr gerade diese Reiseberichte eine Rolle in der Darstellung des „Orients“ im Gegenüber zum „Okzident“ gespielt haben, welche wiederum nicht nur für die Entwicklung und Durchsetzung des Orientalismus (nach Said)21 wichtig waren, sondern auch die Gegenwart noch maßgeblich, wenngleich unreflektiert beeinflussen, ist Gegenstand einer Vielzahl von Studien, nicht nur aus postkolonialer Perspektive.22 (2) Die zweite Begegnung, die für die folgenden Überlegungen eine Rolle spielt, ist die Begegnung mit Abraham Kuyper selbst, auch zwischen ihm und der Theologie der Gegenwart liegen Welten und Grenzen, historische, theologische, menschliche, die uns voneinander trennen und die ihn zum Fremden, zum Anderen machen. Es wäre sicherlich viel einfacher, dieses Fremde und Andere in den Vordergrund zu stellen, um es dann als Projektionsfläche für all das zu nutzen, was postkoloniale Theologie aus gutem Grund kritisiert und dekonstruiert. Damit aber würde ein doppelter Denkfehler einen Gewinn aus der Beschäftigung mit Kuyper verhindern: Zum einen würde durch die Projektion alles Fremden und Anderen, aller eurozentrischen und kolonialistischen Gedanken und Paradigmen auf die Person Kuypers eine selbstkritische Beschäftigung mit den eigenen problematischen Anteilen gegenwärtiger und historischer Theologie unterbleiben. Zum anderen würde keine Begegnung mit Kuyper zustande kommen, die wiederum als Anregung für eine konstruktive Theologie der Gegenwart, im positiven wie im negativen, dienen könnte. Der Ausgang ist offen: Vielleicht überzeugen Kuypers Argumente heute nicht mehr, vielleicht ist ihnen Wert nur über eine Art via negativa zuzusprechen; mindestens aber sollte dieser auch heute noch in bestimmten Strömungen reformierter Theologie weltweit bedeutende Theologe in der Ambivalenz und Ambiguität seiner Zeit hinterfragt werden. Zwischen Kuypers aufgezeichneten Erlebnissen, Gedanken und Interpretationen und heutigen Anfragen und Überlegungen entsteht damit ebenfalls ein liminaler Raum, ein Raum, der von Grenzen und Abgrenzungen bestimmt ist, der aber auch zu Grenzüberschreitungen aufruft, die Althergebrachtes in Frage stellen und zum hermeneutischen Erkenntnisort werden können. Damit 20 Vgl. dazu u. a. Claire Lindsay, Travel Writing and Postcolonial Studies, in: Carl Thompson (Hg.), The Routledge Companion to Travel Writing, New York 2016, S. 25–34, und die bei ihr aufgeführte Literatur (S. 33f.). 21 Vgl. Edward W. Said, Orientalism, London 2003 (Erstveröffentlichung 1978), 2: „Orientalism is a style of thought based upon an ontological and epistemological distinction made between ,the Orient‘ and (most of the time) ,the Occident‘. Thus, a very large mass of writers, among whom are poets, novelists, philosophers, political theorists, economists, and imperial administrators, have accepted the basic distinction between East and West as the starting point for elaborate theories, epics, novels, social descriptions, and political accounts concerning the Orient, its people, customs, ,mind‘, destiny, and so on.“ (Herv. von M. E.-H.). 22 Vgl. Lindsay, Travel Writing, S. 25f.

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wird Kuypers Denken selbstredend nicht mehr verändert, vielleicht aber durchaus Neues und Herausforderndes für ein postkoloniales Theologisieren zum Vorschein gebracht – insbesondere auch für eine gegenwärtige Begegnung mit dem Islam, die heute allerdings unter ganz anderen Vorzeichen steht als Kuypers vor mehr als einhundert Jahren. Kurzgefasst gefragt: Bei und trotz aller Kritik, welche Aspekte in Kuypers Überlegungen könnten als „instructive model for observing another faith and its cultural ramifications from an informed Christian perspective“23 dienen?

3. Abraham Kypers Begegnung mit dem Islam Mit seiner Reise um das Mittelmeer erfüllte sich Abraham Kuyper nicht nur einen lebenslangen Traum, sondern begegnete tatsächlich auch zum ersten Mal24 Muslimen „in a variety of roles, settings, ethnicities, and ritual practises“25, wie James Bratt in seiner Einleitung zum Band On Islam festhält. Dieser bereits mehrfach zitierte Band ist eine 2017 in der Reihe Abraham Kuypers Collected Works in Public Theology herausgegebene Anthologie (und englische Übersetzung) derjenigen Stellen aus Kuypers zweibändigem Werk, die den Herausgebern nach nicht nur auf theologiegeschichtliches Interesse stoßen könnten, sondern zudem eine Hilfestellung für gegenwärtige Diskussionen darstellen: „It [sc. the volume ,On Islam‘] aims to show how an outstanding thinker from a century ago spoke to a now-pressing issue in our own age: how Christians ought to regard Islam and its many adherents in all their variety. […] For our world, chronically gripped by the fear, and occasionally assaulted by the reality, of Islamic militancy, Kuyper’s mode of grappling with the issue and his hopes for a workable conciliation between powerful religious forces offers a beacon for people who wish to take their faith very seriously and yet live at peace with their neighbors.“26

Schon ein eher oberflächlicher Durchgang durch die mehr als dreihundert Seiten des Bandes, die aus seinem bereits erwähnten Werk „Om de Oude Wereldzee“ zusammengestellt wurden, macht Kuypers ganz spezifische und sehr „kuyperianische“ Herangehensweise an diese Begegnungen mit dem 23 Vgl. oben bei Anm. 8. 24 Vgl. dazu Harinck, Kuyper’s View on Islam, S. xxxix: „There was one moment in his life when Kuyper could put his ideas on Islam to the test, and that was when he traveled through Islamic countries in 1905 and 1906 on his great trip around the Mediterranean Sea. […] Since Kuyper never visited the Dutch colonies himself, this the only account of his real-life encounter with Islam and with muslims.“ 25 Bratt, Editor’s Introduction, S. xi. 26 Ballor/Flikkema, General Editors‘ Introduction, S. ix.

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Islam in seinen verschiedenen Formen und an die Kultur des „Orients“ deutlich: (a) Zum einen bringt Kuyper nicht nur die „prejudices and preconceptions of his age, plus some fixed mental habits of his own“27 mit, sondern selbstredend auch das bereits erwähnte Gepäck des Europäers, der sich in den Orient begibt, nämlich die für seine Zeit und seine Herkunft üblichen „wissenschaftlichen“ Vorstellungen eines Orients, wie er vor allem durch die „Orientalistik“28 wenn auch nicht gerade erfunden, so doch weitestgehend konstruiert wurde. Kuyper selbst kann sich in seiner Zeit und seinem Kontext (und auch gegen seine Zeit und seinen Kontext!) bewusst als Calvinisten verstehen und diese Perspektive immer wieder von neuem als hermeneutischen Schlüssel für die Begegnungen auch mit allen Aspekten des „Islamischen“ und „Orientalischen“ verwenden. Er kann sich aber nicht aus der Konstruktion des Gegenübers von Okzident vs. Orient, Christentum vs. Islam, wir vs. die Anderen lösen, oder dieses Gegenüber überhaupt als Konstrukt erkennen. Und es ist genau dieses Konstrukt des Orients und der Orientalistik (und damit auch indirekt des Islams), welches der bereits erwähnte palästinensisch-amerikanische Literaturtheoretiker Edward Said in seinem für postkoloniale Theorien grundlegenden Werk Orientalism dekonstruierte. Said legt dar, wie sowohl die Vorstellung „des Orients“ als auch die Wissenschaft der Orientalistik auf rassistischen, imperialistischen und ethnozentrischen Urteilen im Blick auf „andere“ Kulturen beruhen.29 In der Einleitung zu seinem für postkoloniale Studien zum Standardwerk gewordenen Überlegungen beschreibt Said das Konstrukt von „West“ gegenüber „Ost“, das sich im Orientalismus nicht nur der Vergangenheit ausdrückt und das mehr als deutlich immer wieder auch in den Beschreibungen Kuypers anzutreffen ist. Said versteht Orientalismus als „a way of coming to terms with the Orient that is based on the Orient’s special place in European Western experience. The Orient is not only adjacent to Europe; it is also the place of Europe’s greatest and richest and oldest colonies, the source of its civilization and languages, its cultural contestant, and one of its deepest and most recurring images of the Other. In addition, the Orient has helped to define Europe (or the West) as its contrasting image, idea, personality, experience.“30

Für Kuyper, der 1898 für ein halbes Jahr in den Vereinigten Staaten gewesen war, wird das kontrastierende Bild von „West“ und „Ost“ besonders dann deutlich, wenn er Europa mit den Vereinigten Staaten und dem Osten ver-

27 Bratt, Editor’s Introduction, S. xif.xviii. 28 Vgl. dazu den Sammelband Burkhard Schnepel/Gunnar Brands/Hanne Schönig (Hgg.), Orient – Orientalistik – Orientalismus, Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011. 29 Vgl. Said, Orientalism, S. 203f. 30 Said, Orientalism, S. 1f. (Herv. von M. E.-H.).

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gleicht. In seinen Schlussüberlegungen zu „Om de Oude Wereldzee“ hält er fest: „In America you find your own life, only with the temperature set five degrees higher. Life is richer in resilience, livelier and more energetic, and void of our sometimes thick European legacy. The East, by contrast, is a whole different world and helps us to understand how human life is too rich to be pressed into one mold.“31

Diesen Orient als komplementäres Gegenüber zum Okzident, den Kuyper durchgehend als Kontrast zur westlichen Welt erlebt und analysiert, diesen Orient, den Kuyper zu besuchen glaubt, und den Islam, dem er dort zu begegnen meinte, gab es also und gibt es so bis heute nicht, und doch wird ihm dieses wirkmächtige Konstrukt zur Linse, mit der er alle Erfahrungen und Begegnungen analysiert. Saids Argument aber geht noch tiefer und lässt sich auch auf Kuypers Überlegungen beziehen: Die Konstruktion des „Anderen“, hier insbesondere die Konstruktion des „Orientalen“, dient gleichzeitig zu einer Konstruktion des „Selbst“, der eigenen Identität als Gegenüber zum Fremden, Anderen. Bei Kuyper wird diese Konstruktion des Selbst im Gegenüber zum Fremden immer wieder deutlich: An zentralen Stellen seiner Überlegungen zum Islam stellt er nicht nur immer wieder das Gegensatzpaar von „Oosterling – Westerling“, von Orientalen und Westlern, von Islam und Christentum einander gegenüber, die eine Seite zur Beschreibung der anderen nutzend und eine scharfe Trennlinie und Grenzen zwischen beiden ziehend. Durchgehend finden sich in seinen Beschreibungen binäre Zuschreibungen, die das Konstrukt des Gegenübers zur Bestimmung des Selbst und der eigenen Identität verdeutlichen, etwa wenn er von den „intellectual and volitional aspects of life“ spricht, die für den Westen im Vordergrund stehen, während das orientalische Leben ein „affective und pensive life“32 sei.33 31 Kuyper, On Islam, S. 301. 32 Ebd. 33 Vgl. dazu auch Kuyper, On Islam, S. 39f.: „Let us reach for the higher ideal of enriching the East with our intellectual, technical, and artistic treasures, while in turn, warming our mentality, withered by skepticism, with their more intensive life.“ Auffällig ist hier, wie Kuyper das bekannte binäre Konstrukt, welches insbesondere in und mit der Aufklärung an Bedeutung gewann, des essenziellen Unterschiedes, bzw. einer ontologischen Gegensätzlichkeit von Mann (Intellekt, Technik, Kunst) und Frau (Wärme, Gefühl), hier auf die „Orientalen“ überträgt und damit das Stereotyp des „verweiblichten“ Arabers reproduziert. Lutfi Hamadi/Edward Said, The Postcolonial Theory and the Literature of Decolonization, in: European Scientific Journal June 2014 / Special Edition vol. 2, S. 40f., fassen diese Vorstellung, die insbesondere von Said vorgetragen wurde, mit den folgenden Worten zusammen: „Said argues that what has been written about the East is no more than false assumptions upon which the Western attitudes toward the East were built, justifying and encouraging the European and American colonial and imperial behavior towards the Arab-Islamic peoples and their cultures. Said sees that the long European colonial rule of the East has negatively influenced the most seemingly objective texts on the East even those written by the most knowledgeable and well-meaning Western Orientalists. These texts, according to Said, are highly biased, depicting the Orient as irrational, strange, weak, feminized ‘Other’, contrasted with the rational, familiar, strong, European masculine West. He

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Dieses Konstrukt, das selbstredend keine Erfindung Kuypers ist, sondern eine bereits über Jahrhunderte tradierte Vorstellung, beruht auf der Notwendigkeit einer essenziellen und fundamentalen Gegensätzlichkeit und verhindert damit wahre Begegnungen, bzw. ermöglicht Begegnung mit Menschen, Religionen, Kulturen, Ethnien nur im Rahmen der vorgegebenen Konzepte und Denkmuster. Und noch weiter : In diesem Gegenüber von Okzident und Orient findet die Begegnung von Christen und Muslimen für Kuyper nicht auf Augenhöhe statt; bis auf wenige, wenngleich bedeutende Ausnahmen ist für Kuyper Orientalisches und Islamisches in fast allen Aspekten seinem westlichen Gegenüber unterlegen. Selbstverständlich ist für ihn (westliches) Christentum, westliche Kultur, Politik und Wissenschaft „höher entwickelt“, und der Vorsprung, den islamische Theologie und Wissenschaften für einige Jahrhunderte dem christlichen Gegenüber hatten, sieht er als lang vergangene Blütezeit,34 die für die Gegenwart des Islams keine Bedeutung mehr hat. Der christliche Westen stellt für ihn eine höher entwickelte, geschichtlich notwendige „Evolutionsstufe“ dar, wobei er auch für den Westen Defizite und Verirrungen klarsichtig analysiert und scharfzüngig kritisiert. Aber auch wenn für Kuyper das Christentum die einzig wahre Religion darstellt35 und der reformierte Protestantismus die beste Version davon, so kann Kuyper doch auch immer wieder starke Ähnlichkeiten zwischen seinem calvinistischen Programm und seinem Verständnis des Islam finden – nicht zuletzt in der anti-modernistischen Einstellung beider. (b) Scheint Kuyper hier auch das herkömmliche Bild des überheblichen und ignoranten Kolonialisierers geradezu ungebrochen zu reproduzieren, so ist dies tatsächlich nur die Hälfe des Bildes. Immer wieder kommt Kuyper in seinem Konstrukt des Gegenübers von Orient und Okzident, Islam und Christentum darauf zu sprechen, welche „Schätze“ oder „particular gifts“36 affirms that the West needs to show this difference so that it would legalize the domination of the superior ‘civilized’ West over the inferior ‘primitive’ East.” (Herv. von M. E.-H.) 34 Siehe dazu Kuyper, On Islam, S. 27f.30: „In the social and moral realm, it is quite clear that, of the three monotheistic religions, Judaism and Christianity have reached a much higher pinnacle than has Islam. But one thing must never be lost to our view : Europe did not reach this elevated position on its own but owes it to Asia. Almost without exception, all the seeds of higher development blew into Europe from Asia, and it is most definitely the Semitic peoples to whom Europe owes the greatest debt – and has owed for a long time. […] Europe on its own brought forth almost nothing. […] We [Europeans] represent activism, determination, the tireless quest. We stop at nothing, are never satisfied with our achievements, and are always striving for improvement. To that must be added our ceaseless attempts to intellectually pierce through everything that comes our way, to bring the unconscious into consciousness, to unveil every secret thing. By mind and hand we impose ourselves on nature so as to understand and subject it to our bidding. In all this the Easterner comes up short.” (Herv. von M. E.-H.) 35 Vgl. z. B. Kuyper, On Islam, S. 25: „Thanks […] to the incarnation of the Word, Christianity is the highest, most perfect and consummate revelation, preempting any subsequent additional disclosure.“ 36 Kuyper, On Islam, S. 30.

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der Islam/Orient dem Christentum/Westen anzubieten hat, und wie nur eine Verbindung der Qualitäten und Gaben beider Seiten (selbstredend in dem vorher dargestellten stereotypen Sinn) zu einem harmonischen, vollen Leben führen wird: „If you ask how human development might nonetheless bend toward happiness amid what in so many ways are irredeemable circumstances, the answer is to be found with Easterner. It will not be found in the West. A side of human life has ripened in the East that has not happened with most of us, something for which no excitement or nervous energy can compensate. A harmonious development of heart, head, and hand does not exist on either side. Only if we unite the unique development of the Easterner with our Western civilization will a fuller, higher harmony come into reach. […] We are always poor on one side and rich on the other, and our powers will come to their highest development only when we complement each other. […] Only when Europe and the Middle East trade their respective spiritual treasures in the Levant will we be able to speak of complementary growth. […] The Westerner would do the Easterner in the Levant well by helping him advance economically, but never invade his warmer and happier state of mind with your intellectual unrest.“37

Selbstredend ist dieses Modell einer komplementären Ergänzung auf dem Hintergrund des bereits dargestellten und kritisierten Konstruktes des Gegenübers von Westen und Osten für postkoloniale Begegnungen mit Islam oder Orient nicht zu übernehmen. Andererseits jedoch ist hier die Bereitschaft Kuypers nachdrücklich hervorzuheben, vom Gegenüber Gaben zu erwarten, welche die eigenen Defizite auszugleichen vermögen. Kuypers Erwartung kommt in Ansätzen dabei überraschenderweise dem nahe, was gegenwärtig als Aufgabe und Herausforderung „Komparativer Theologie“ beschrieben wird, welche „die Anderen/die andere Religion“ u. a. als Hilfestellung zum Verstehen und Kritisieren der eigenen „religiösen Tiefengrammatik“ versteht.38 Kuyper ist bekannt für seine Vorstellung von der „Allgemeinen 37 Kuyper, On Islam, S. 31f. (Herv. von M. E.-H.). 38 Vgl. dazu zum Beispiel Klaus von Stosch, Komparative Theologie als Herausforderung für die Theologie des 21. Jahrhunderts, in: ZKTh 130 (2008), S. 401–422, hier : S. 404: „Im Weltbild eines jeden Menschen gibt es diese still wirksamen Elemente des eigenen Weltbildes, die einem nicht bewusst sind und die oft erst durch die Konfrontation mit dem Anderen deutlich werden. Eben diese Konfrontation oder besser: dieses Sich-dem-Anderen-Aussetzen ist die Grundlage dafür, um die eigenen blind befolgten Weltbildelemente reflektieren und in ihrem Wahrheitsanspruch richtig verstehen und verantworten zu können. Es kommt in der komparativen Theologie also viel darauf an, die stumm vorausgesetzten Elemente des fremden oder des eigenen Weltbildes neu zu entdecken. Oft ist dies eine schwierige Aufgabe, aber diese Aufgabe ist nach Ward geradezu konstitutiv für die Theologie überhaupt. Denn im theologischen Nachdenken über religiösen Glauben geht es gerade darum, unbewusste Elemente ans Licht zu heben und die vorgefassten Meinungen über den eigenen Glauben einer kritischen Prüfung zu unterziehen, um so zu einer kohärenten Gesamtposition zu kommen, die die Tiefendimensionen des eigenen und des fremden Glaubens aufarbeitet und einer diskursiven Praxis und damit auch der Wahrheitsfrage zugänglich macht.“ Inwieweit dieses kritische und selbstkritische Vorgehen

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Gnade“, nach der Gott nach dem Sündenfall diese allgemeine Gnade über die ganze Schöpfung ausgegossen hat, die keine soteriologische Wirkung besitzt, wohl aber das menschliche Leben davor bewahrt, vollkommen in der Sünde zu versinken, indem sie aller Menschheit den moralischen Sinn für richtig und falsch verleiht. Hans-Georg Ulrichs fasst diese Wirkung der allgemeinen Gnade nach Kuyper, die eben auch für den Islam gilt, wie folgt zusammen: „Ist der Inhalt der christlichen Religion auch ein tiefes Sündenverständnis, nämlich als Folge, von der Heiligkeit Gottes überwältigt zu sein, kann der Mensch an sich [sc. und so eben auch Musliminnen und Muslime] doch in allen Lebensbereichen gut und Gott gemäß handeln. Trotz Sündenfalls wird diese Erde ,durch die allgemeine Gnade im Stand gehalten.‘“39

Dementsprechend kann Kuyper im Islam auch „Wahrheitselemente“ entdecken, selbst wenn er ihn als „Pseudoreligion“ bezeichnet und das Christentum als die vollständige und nicht überbietbare Religion versteht.40 Es ergibt sich so ein ambivalentes, wenn auch nicht gleichgewichtiges Verhältnis zum und Verständnis vom Islam; für Kuyper ist der Islam zuallererst als Antithese zum Christentum41 zu verstehen und nur danach auch auf positive Aspekte hin zu untersuchen.42 Aber immerhin: Kuyper ist auch auf der Suche nach diesen Wahrheitselementen, von denen er sich Erkenntnis auch für sich, seine Theologie, sein Glaubensleben erwartet. Abrahm Kuyper trat zudem seine Reise um das Mittelmeer an mit einer überraschenden Kenntnis des Islams, seiner Geschichte, Theologie, Frömmigkeit, Ausprägungen und Kultur, motiviert von einer aufgeschlossenen Wissbegierde. Als echter „Renaissance man“43 interessiert er sich für alles: Theologie und Verwaltung, Familienleben und Gottesdienst, Universitäten und Grundschulen, die schönen Künste und die Architektur. Es ist atemberaubend, mit welcher weitreichenden, nahezu liebevollen Kenntnis er nicht nur historische Städte und Stätten besucht, sondern in seinen Beobachtungen und Begegnungen sein Wissen um Tradition, Theologie, Geschichte des Islams und des Orients einwebt. Mit diesem Wissen und dieser Wissbegier untersucht er alle Aspekte des islamischen Glaubens und bringt, seiner zentralen Einsicht folgend, diese immer wieder mit dem Verständnis zusammen, dass es nämlich

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komparativer Theologie von Kuyper tatsächlich umgesetzt wurde, wäre an jeder Stelle jeweils kritisch zu hinterfragen. Ulrichs, Abraham Kuyper, S. 47. Vgl. dazu die Diskussion bei van Keulen, Debat over Islam, S. 70–76. So kann Kuyper, On Islam, S. 24, sogar warnen: „Let this [sc. the appreciation for Islam] lead no one to think that the opposition between Christianity and Islam is not one of principle. I align myself least of all with those who, themselves baptized, sometimes demonstrate a clear and sure advocacy on behalf of Islam. This is only plausible for those who, though still nominal members of the Christian church, have in fact surrendered the essence of the Christian religion.“ Vgl. dazu van Keulen, Debat over Islam, S. 78–80. Bratt, Editor’s Introduction, S. xii; vgl. dort auch zum Folgenden.

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die Religion ist, die alle einzelnen Aspekt miteinander verbindet: die Lehren des Islams wie die verschiedenen Schulen und Ausrichtungen, politische Systeme, mystische Orden, Rituale, historische Entwicklungen, genauso wie gesellschaftliche Verhältnisse, ästhetische Prinzipien, die Rolle der Frau und kulturelle Eigenheiten. Die Weite seines Blickes und die Tiefe seiner Kenntnis ermöglichen – trotz aller Einschränkungen durch die eigene Perspektive – dabei Begegnungen mit dem Islam, mit Musliminnen und Muslimen, auch mit den östlichen Kirchen, die einem weniger informierten und interessierten Menschen vermutlich nicht gelungen wären. Immer wieder stellt man auf den mehr als dreihundert Seiten dieser Anthologie erstaunt fest, mit welcher Hingabe Kuyper sich auf diese Reise und ihre Begegnungen vorbereitet haben muss, bzw. mit welchem Eifer er seine Begegnungen in seinem Reisebericht analysierte und für die Öffentlichkeit festhielt. Er scheut sich nicht bei aller Kritik am Islam, einzelne Tugenden und Praktiken des Islam und seinem Glaubensleben, die er aus Studien und Begegnungen kannte, den Christinnen und Christen seiner Heimat als Vorbild vorzustellen und zur Nacheiferung anzuregen. So konnte er z. B. in seinem späteren Werk Pro Rege (1911–1912) den Christinnen und Christen seiner Zeit geradezu reumütig vorrechnen, „how many times per day, per week, per year all Muslims offered up their praise and prayers to Allah, and how far short of that mark even the most devout Christians fell.“44 Motiviert vor allem auch von politischen Überlegungen (Kuyper verstand den Islam als möglichen – monotheistischen – Verbündeten in einer zukünftigen Auseinandersetzung zwischen Europa/Amerika und dem pantheistischen Asien)45 fordert Kuyper immer wieder Respekt vor und Liebe für Orient und Islam und dass das westliche Christentum seine überhebliche Verblendung46 und Kreuzfahrermentalität aufgeben müsse47 und zu einem harmonischen Verhältnis zu gelangen habe.48 Kuyper formuliert in seinen Überlegungen zur „Asiatischen Gefahr“: The Semitic-monotheistic bond that – in principle – unites Jews, Christians, and Muslims with one another, could revive Islam’s ancient antipathy against all polytheism, thereby preventing the rise of a united Asia. The time may come when having Islam as our monotheistic ally could be worth gold. Could this be a sign that we not let the tradition of the Crusades determine our current course of action but rather, that entirely changed circumstances require an entirely different policy? […] There is so much to gain if we could mutually agree that the opposition between

44 Bratt, Editor’s Introduction, S. xvf. 45 Vgl. dazu den gesamten Abschnitt „The Asian Danger“ in Kuyper, On Islam, S. 1–40. 46 Kuyper, On Islam, S. 32: „To imagine that we in the West hold everything needed for the happiness of the Middle East is a proud delusion.“ 47 Vgl. dazu auch Bratt, Editor’s Introduction, S. xviii. 48 Siehe dazu auch oben bei Anm. 36.

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monotheism and polytheism is stronger than that between the Crescent and the Cross.“49

Kuyper und die von ihm gegründete Anti-Revolutionaire Partij (ARP) waren schon lange vor der Reise um das Mittelmeer der Überzeugung gewesen, dass die Ausbeutung der Kolonien nicht gerechtfertigt war. Für ihn und seine Partei stand nicht zur Frage, „,What can our colonies give us?‘ but rather, ,What would God have us be for our colonies?“50 Als christliche Nation, so Kuyper, könne und solle es keine Ausbeutung oder Kolonisation anderer Länder geben; die Niederlande könnten nur als Treuhänder und Verwalter agieren: „We do not have in mind, please note, […] to keep these peoples under tutelage forever, but rather to take them for what they are, minors, and to accept the threefold moral obligation that binds a guardian to this foster child: (1) to give it moral education; (2) to manage its estate wisely ; and (3) to enable it, if it please [sic!] God, to advance to greater independence.“51

Dieses paternalistische Verständnis Kuypers gehört selbstredend in die Argumentenliste des Kolonialismus zu allen Zeiten und ist aus postkolonialer Sicht als eine menschenverachtende Einstellung zu kritisieren. Kuypers Verständnis stellt jedoch gleichzeitig eine entscheidende Veränderung gegenüber dem Verständnis dar, welches Kolonien ausschließlich als Lieferanten von Ressourcen jeglicher Art für die Kolonialherren verstand. Paternalismus innerhalb des Kolonialismus ist essenziell und unbestreitbar destruktiv, und zwar in Vergangenheit wie Gegenwart – die Sorge um das Wohlergehen der von westlicher Wirtschaft, Politik und Wissenschaft abhängigen Menschen in allen Erdteilen als Auftrag Gottes gewinnt jedoch gerade aus postkolonialer Perspektive an immenser Bedeutung. Wenngleich postkoloniale Theologien die „moral obligation“ der Hauptakteure und Gewinner des gegenwärtigen Neokolonialismus grundlegend anders beschreiben würden, so bleibt Kuypers Weckruf an dieser Stelle gültig, der auf die Verwiesenheit der Kolonialisierer auf die Kolonisierten verweist; man übersetze nur einmal Kuypers Aufforderung in die Gegenwart: nicht zu fragen, was „die Kolonien“ uns geben können, sondern was Gott uns auffordert, für „die Kolonien“ zu sein. Kurz zusammengefasst: In seinen Begegnungen rund um das Mittelmeer weiß Kuyper sich an die Menschen des Orients verwiesen, geht es ihm neben allen politischen Motiven auch um das Wohlergehen dieser Menschen. Er betrachtet weder Muslime und Musliminnen noch andere Menschen des Nahen Ostens, denen er auf seiner Reise begegnet, wie Ausstellungsobjekte in einem Völkerkundemuseum oder der zu seiner Zeit so beliebten „Völker49 Kuyper, On Islam, S. 23f. 50 Harinck, Kuyper’s View on Islam, S. xxxiv (Herv. von M. E.-H.); vgl. dort auch zum Folgenden. 51 Abraham Kuyper, Our Program: A Christian Political Manifesto, übersetzt und herausgegeben von Harry van Dyke, Bellingham 2015, S. 293; zitiert bei Harinck, Kuyper’s View on Islam, S. xxxiv (Herv. von M. E.-H).

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schauen“, sondern in gewisser Weise wie Brüder und Schwestern, in deren Gemeinschaft und gemeinsamen Verantwortung ihn der Vater gestellt hat.

4. Begegnungen in der Familie – Kreuz und Halbmond treffen sich in Asien Der letzte Satz des vorangegangen Abschnittes mag überraschen, wenn er Musliminnen und Muslime mit Christinnen und Christen in eine familiäre Gemeinschaft stellt. Kuyper selber verwendet dieses Bild, wenn er die Auseinandersetzungen zwischen Judentum, Christentum und Islam im Gegenüber zu pantheistischen und polytheistischen Religionen, gegenüber Atheismus und Agnostizismus, als „broedertwist“52, als brüderlichen Streit bezeichnet: „The Jewish and Christian religions were united in their origins, and everybody agrees that Islam belongs there as well. Synagogue, church, and mosque find in Abraham and Moses their historical point of union, while Islam esteems Jesus more highly than do many modern Christians. Within the Semitic sphere, the mutual struggle of Jews, Christians, and Muslims is a family quarrel.“53

Anschließend an diese Bemerkung schildert Kuyper eine Begegnung in Tiberias am See Genezareth, bei der sich der Oberrabbiner für die Religionsfreiheit der Juden in den Niederlanden bei ihm bedankte und der Mufti ihm in der Gegenwart des griechisch-orthodoxen Bezirksgoverneurs die Hand küsste als eine Gelegenheit, bei der er „more powerfully than ever felt a sense of the dormant unity of monotheism in its threefold manifestion.“54 Trotz aller bitteren Trennungen und Feindschaft zwischen den Religionen gerade in dieser Region (Kuyper ist viel zu sehr Realist, als dass er diese nicht wahrnehmen würde), trotz seines bereits geschilderten Verständnisses der absoluten Überlegenheit des Christentums sind für ihn diese drei Religionen doch wie Brüder aneinandergebunden – nicht nur durch das, was Kuyper als „Semitic-monotheistic bond“55 beschreibt, sondern durch das Verständnis der Souveränität Gottes, das in allen drei Religionen eine grundlegende Rolle spielt. Allerdings wird in Kuypers Diskussion dieser familiären Bindungen un52 So im niederländischen Original, Kuyper, Om de oude Wereldzee. Deel 1, S. 16: „Binnen den Semitischen kring is de onderlinge worsteling van Joden, Christenen en Mohammedanen een broedertwist,“ 53 Kuyper, On Islam, S. 16. 54 Ebd. Die Schilderung dieser Szene zeigt mehr als deutlich auf, wie Kuyper sich selbst als Staatsmann und Wohltäter sowohl den Juden als auch den Muslimen gegenüber versteht, und nur in dieser Über- bzw. Unterordnung die Verbundenheit der drei Religionen erlebt. 55 Kuyper, On Islam, S. 23.

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mittelbar sein politisches Interesse an der Betonung dieses Aspektes deutlich: Er hofft darauf, dass in der von ihm befürchteten Auseinandersetzung Europas und Nordamerikas mit Asien der Islam sich auf die Seite des Christentums schlagen möge, weil eben der Unterschied zwischen „Kreuz und Halbmond“ weniger groß sei als der Unterschied zwischen monotheistischen und poly-/ bzw. pantheistischen Religionen. Theologie und Politik verweben sich hier deutlich erkennbar ineinander. Kreuz und Halbmond mögen sich bei Kuyper aus politischen Interessen als Verbündete und Waffenbrüder zusammenfinden; auf gleiche Ebene stellt es sie aus theologischer Perspektive für Kuyper gewiss nicht und er betont dies nachdrücklich immer wieder. Was also ist dann aus der Perspektive postkolonialer Theologien von diesem Verständnis familiärer Begegnungen zu halten, die nach Kuyper zum einem auf einer zutiefst theologischen und spirituellen Gemeinsamkeit, nämlich dem Monotheismus, beruhen, und die zum anderen offensichtlich politisch motiviert und verzweckt sind? Der Kuyper, dem wir hier begegnen, ist uns vermutlich fremd, seine Gedanken können aus der Rückschau nachvollzogen werden, eine Relevanz für gegenwärtiges Theologisieren scheinen sie auf den ersten Blick nicht zu besitzen. Hier stehen zu bleiben hieße allerdings, nicht dem gesamten Kuyper zu begegnen. Ein Schlüssel zu einer produktiven und konstruktiven Beschäftigung mit Kuypers Begegnung mit dem Islam, wie sie sich unter diesem Aspekt darstellt, könnte in seinem bereits erwähnten Verständnis der „Allgemeinen Gnade“ liegen, wie er sie 1898 in seinen berühmten Stone Lectures56 formulierte, insbesondere in Bezug auf das Verständnis von „Religion“.57 Auch die „ungläubigen Völker“, so Kuyper, haben nicht nur ihre eigene Bedeutung in der Geschichte, ihren eigenen von Gott empfangenen Beruf – ihr Bestehen ist als unentbehrlich in den Weltplan Gottes aufgenommen und sie sind Empfänger der Gnade Gottes: „Gottes Gnade geht nicht nur auf die Auserwählten, sondern auch in der ,allgemeinen Gnade‘ über alle Menschen. Sicher, in der Kirche liegt eine Konzentration, aber die Kirche hat Fenster in ihren Mauern, und durch diese Fenster strahlt das Licht des Ewigen über seine ganze Welt aus.“58

Die Mauern der Kirche stellen hier für Kuyper einen der liminalen Räume dar, die ich eingangs beschrieben habe – keine undurchlässige Grenze, sondern Fenster, die das Licht der Gnade Gottes durchscheinen lassen. In dieser Vorstellung lebt auch der Islam unter der allgemeinen Gnade Gottes und spiegelt diese Gnade bis zu einem gewissen Grad wider. Kuyper begegnet einem Islam, der für ihn selbstredend nicht die partikulare Gnade zum Heil „besitzt“, der aber dennoch seine Rolle in Gottes Heilsplan einnimmt – nicht zuletzt etwa in dem Verweis auf Gottes Souveränität oder die Stellung Jesu Christi, die ja 56 Zu den Stone Lectures vgl. Ulrichs, Kuyper, S. 23–60. 57 Vgl. zum Folgenden Ulrichs, Kuyper, S. 46f. 58 Zitiert bei Ulrichs, Kuyper, S. 46.

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gerade auch den Islam prägt und die Kuyper in seiner Begegnung immer wieder hervorhebt. Wenn Kuyper die positiven, wertzuschätzenden Aspekte des Islams beschreibt, dann geschieht dies zwar immer im Gegenüber zu den von Kuyper ausgemachten Defiziten der (westlichen) Kirche, gleichzeitig gewinnt man den Eindruck, dass an diesen Stellen das Licht durch die Fenster in den Kirchenmauern in die Kirche hinein strahlt und sie erhellt. Nach Kuypers Vorstellung (und teilweise auch Fremdprojektionen, wie kritisch anzumerken bleibt) sind theologische Grundaussagen der christlichen Lehre und Religion und das christliche Glaubensleben tatsächlich besser zu verstehen, wenn sie durch das Licht des gelebten Islam erhellt werden. Dieser positiven Wertschätzung des Islam wenden wir uns abschließend im folgenden Abschnitt zu.

5. Begegnungen mit dem Licht aus dem Morgenland? Nach Kuypers Vorstellung ist der Islam seiner Zeit wie der gesamte Nahe Osten zwar in allen Bereichen dem Christentum und dem Westen unterlegen, allerdings verweist er, wie erwähnt, nachdrücklich darauf, dass die Höherentwicklung des Westens „fast ohne Ausnahme“ auf die Samen zurückzuführen ist, die von den „semitischen Völkern“ nach Europa geweht wurden und denen Europa seine Höherentwicklung verdankt. Daneben erstaunt Kuyper immer wieder die Kraft des Islam, über Nationen hinweg eine Einheit zu erzeugen und in vielen Ländern das eingeborene Christentum zu ersetzen – für ihn ein nahezu unlösbares Rätsel, dem er in seinen Überlegungen ein umfangreiches Kapitel (The Enigma of Islam – Het raadsel van de Islam)59 widmet. Eine mögliche Lösung dieses Rätsels sieht Kuyper darin, dass diese Entwicklung ein Gericht Gottes, seine Strafe aufgrund der theologischen Streitigkeiten der östlichen Kirche darstelle. Diese theologischen Auseinandersetzungen hätten nicht nur die Allgemeinheit verwirrt und ermüdet zurückgelassen, so dass sie sich gerne dem einfacheren, wärmeren Islam zuwandten, sondern auch zur Zerstörung der kirchlichen Einheit geführt: „But not only was the unity of the church damaged, Christian zeal turned from its focus on the hidden, mysterious power of faith to nothing more than dialectical skirmishing. What should have been a religion of the heart, blooming in faith, hope, and love, stiffened into nothing more than a crystallization of thought processes that froze the heart. […] The church emitted a glow of light but lacked the true warmth of the sun. […] The destruction of the Eastern church is nothing but the punishment of God upon her infidelity.“60 59 Kuyper, On Islam, S. 165–215. Vgl. dazu van Keulen, Debat over Islam, S. 76–78. 60 Kuyper, On Islam, S. 177–179.

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Kuyper führt diesen Gedanken des Untergangs der Ostkirchen und des Siegeszuges des Islam noch weiter mit Worten und Gedanken, die uns womöglich noch fremder und problematischer erscheinen mögen als das bisher Gesagte. Kuyper schreibt: „The Christian religion would triumph in the church of the West, not the East. The East had been enervated. Only in the West under the impulse of the Germanic people could the church flourish.“61 Wenn Kuyper unter diesen Voraussetzungen also dem Islam seiner Zeit begegnet, dann schwingen die beiden genannten Themen mit: Zum einen hat die Religion des Islam Anteil an der allgemeinen Gnade (und hier finden sich Kuypers stärkste Anknüpfungspunkte an den Islam), zum anderen ist der Islam die Konsequenz des Gerichtes Gottes über die Ostkirchen. Unter diesen Voraussetzungen schaut er auf den Islam und beschreibt seine Vorzüge wie seine dunkleren Seiten, wobei es nicht verwundern wird, dass er die Vorzüge des Islam genau an jenen Punkten aufzeigt, die seinem eigenen theologischen Grundsatzprogramm entsprechen. Es wird hier an jeder Stelle genau zu erkunden sein, ob Kuyper seine eigenen Vorstellungen auf den Islam projiziert oder tatsächlich existierende Übereinstimmungen wahrnimmt.62 Kuyper hebt mehrere Themen des gelebten Islams, wie er ihm begegnet und analysiert, hervor, die sich – wie gesagt – mit seinen eigenen Grundanliegen treffen und die auch heute noch eine interessante Perspektive nicht nur auf den Islam eröffnen. Im Sinne einer komparativen Theologie könnte an dieser Stelle gefragt werden, welches Licht auf unser Theologisieren zurückscheint, wenn wir uns mit diesen von Kuyper aufgezeigten islamischen Schwerpunktthemen beschäftigen (so sie denn als tatsächlich „islamisch“ zu bewerten sind):63 (a) Kuyper begegnet einem Islam, der Glauben, Religion, Frömmigkeit nicht als einen Sektor neben anderen Sektoren versteht, sondern als einen Glauben, der alles durchdringt – Politik, Kultur, Bildung, Kunst, häusliches Leben und öffentliche Angelegenheiten: „Just that was his [Kuyper’s] lifelong dream for Reformed Christianity. Kuyper envied Islam’s freedom from the Modernist erosions in European Christianity.“64 Kuyper hält in seinen Schlussbetrachtungen dazu fest: „Religion is and will always remain the marrow of the life of nations, the central lever of their life force. A religion, once pervasive, governs the whole of life, and its innate desire to promote itself never sleeps. Neither Buddhism nor the religion of Zoroaster

61 Ebd. 62 Die hier gestellte Frage, ob Kuyper den Islam deutlich erkennen konnte oder nur seine eigenen Ideale auf ihn projizierte, markiert dabei eine bleibende Grundsatzfrage, die etwa die postkolonialen Theologien und Theorien immer wieder als hermeneutische Schlüsselfrage gerade auch für die eigene Gegenwart stellen. 63 Zum Folgenden vgl. Bratt, Editor’s Introduction, S. xiv–xvi. 64 Bratt, Editor’s Introduction, S. xv.

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can compare with the Gospel and Islam in comprehending all human life and sinking deep into it.“65

Postkoloniale Theologien können diesem Ansatz in gewisser Weise folgen, wenn sie eine Ent-Privatisierung nicht nur der christlichen Heilsvorstellungen betonen und damit das gesamte menschliche und geschöpfliche Leben in Verbindung mit einem holistischen Heils- und Heiligungsverständnis bringen.66 (b) Kuyper bewundert die ökumenische Einheit des Islam über alle ethnischen, geographischen und historischen Kontexte und Grenzen hinweg, obgleich ihm die unterschiedlichen, kontextuell bedingten Unterschiede der verschiedenen Formen und Ausprägungen des Islam durchaus vor Augen stehen. Für ihn ist der Islam eine Religion der Freiheit,67 die nur auf der Bindung, Verpflichtung und Hingabe der Gläubigen beruht und nicht auf institutionalisierter Bürokratie, die alles Leben und die Herzenswärme aus dem Glauben vertreibt. Dass der Islam keine Priesterklasse kennt, keine institutionalisierte Hierarchie, befreit sie Kuypers Verständnis nach von den Zwängen, unter denen die Kirche zu leiden hat, und die zu einer Aufteilung der Kirche entlang aller möglichen Grenzen führt. Kritisch auf heutige Zustände angewandt lässt sich mit dieser Beobachtung hinterfragen, wie sehr die Kirche heute eine Kirche der Freiheit ist und als solche lebt – und wie Kuypers Theologie dazu beitragen könnte, als befreiende Theologie auch der Kirche die Freiheit zentral in den Fokus zu bringen.68 (c) Und angesichts von Kuypers Theologie nicht überraschend ist die Betonung der Souveränität Gottes immer wieder und an zentraler Stelle; die Beobachtung des kompromisslosen und unnachgiebigen Monotheismus des Islam, den Kuyper in vielen Formen des Christentums der Gegenwart schmerzlich vermisst. Der Islam scheint für Kuyper hier Gott und Gottes Verhältnis zu den Menschen besser und tiefer zu verstehen und zu leben als modernes Christentum. (d) Ein weiterer, immer wieder von Kuyper betonter Gesichtspunkt ist die Wertschätzung Jesu Christi im Islam, die ihm weit über dem zu liegen scheint, was er in den Kirchen und Theologien des modernen Europas vorfindet. Diese Wertschätzung Christi durch den Islam ist für Kuyper ein Gericht über die 65 Kuyper, On Islam, S. 304. 66 Vgl. dazu zum Beispiel meine Überlegungen in Margit Ernst-Habib, Salvator Mundi – Heiland der Welt, in: Marco Hofheinz/Kai-Ole Eberhardt (Hgg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Herausforderungen, Tübingen 2020, S. 209–242, hier: S. 228–232. 67 Vgl. dazu Bratt, Editor’s Introduction, S. xv : „He [sc. Kuyper] could have been repeating the main points of his old campaign for Dutch church reform when he described Islam as a religion as freedom par excellence, dependent on the commitment of the faithful and unthrottled by bureaucracy.“ 68 Vgl. dazu die Deutung der Theologie Kuypers als potentiell befreiende Theologie bei Ulrichs, Kuyper, S. 79–89.

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Margit Ernst-Habib

eigene Kirche: Wenn selbst die Ungläubigen Christus eine solch bedeutende Rolle einräumen, wie kann dann die Kirche Christus so vernachlässigen? Was Kuyper als „Semitic Spirit“ beschreibt und als Mangel in westlichen Kirchen analysiert, wird für ihn gar zur anzustrebenden Spiritualität des Islam: „Whatever warmth of spirit Europe does possess, particularly among its more mystical believers, is owed to neither its intellectualism nor its artistic development but to the spiritual glow that came to us from Semitic Palestine. Christ is from Israel and not from Europe. Precisely for this reason we should have greater insight into the Semitic spirituality of Muslims in the Levant, appreciate it deeply, and restrain our condescension as we consider where they are our superior.“69

Wir verstehen Jesus Christus besser, wenn wir tiefere Einsicht in die Spiritualität des Islams gewinnen – unter der sicher kritisch zu hinterfragenden Voraussetzung der Existenz einer „Semitic spirituality“ ein Gedanke, der in komparativer Theologie impulsgebend wirken könnte.70 Was Kuyper hier beobachtet und an vielen Stellen in seinen Beschreibungen aufnimmt und analysiert, lässt ihm die Begegnung mit dem Islam wenigstens punktuell als Begegnung mit dem Licht aus dem Morgenland71 beschreiben. Kuyper verschweigt auch nicht, was er als dunkle Seite des Islams bezeichnet.72 (a) Da ist zunächst der von ihm so beschriebene Nominalismus und Legalismus des Islam, der nach Kuypers Verständnis die Seele kalt lässt – ein Problem für ihn vor allem deshalb, weil seiner Überzeugung nach der „Oosterling“ über ein viel wärmeres Gemüt und Temperament verfügt als die kühleren Westler (der implizite Orientalismus dieser Beschreibung wurde bereits diskutiert). In diese Leerstelle drängt sich nach Kuypers Beobachtung der Mythizismus, der wiederum die Gefahr ethischen Fehlverhaltens und politischen Fanatismus mit sich bringt. Die fünf Säulen des Islam interpretiert Kuyper als eine externalisierte Religion, die das Innere des Menschen nicht berührt – anders als die von ihm beschriebenen drei Säulen des Christentums, nämlich Glaube, Liebe, Hoffnung. Insbesondere an dieser Stelle mag man sich fragen, ob Kuyper hier tatsächlich der lebendigen und gelebten Spiritualität des Islams seiner Zeit begegnet ist, oder ob sein Urteil zu vorschnell gefällt worden sein mag. 69 Kuyper, On Islam, S. 39 (Herv. von M. E.-H.). 70 Zur Relevanz Kuypers und anderer neo-calvinistischer Theologen für komparative Theologie vgl. zum Beispiel Alexander E. Massad, Epistemological Openness: A Reformed Neo-Calvinist’s Theological Response to Vatican II and Comparative Theology, in: Vladimir Latinovic/Gerard Mannion/Jason Welle O.F.M. (Hgg.), Catholicism Engaging Other Faiths. Pathways for Ecumenical and Interreligious Dialogue, Cham 2018, S. 175–194. 71 Hier kommt nicht von ungefähr Karl Barths „Lichterlehre“ (KD IV/3) in den Sinn; vgl. dazu auch Ulrichs, Kuyper, S. 46. 72 Vgl. auch zum Folgenden Kuyper, On Islam, S. 172–175.

Betrachtungen zu Abraham Kuypers Diskurs über den Islam

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(b) Ein weiterer offensichtlicher Negativpunkt ist für Kuyper die Stellung der Frau im Islam, die er insbesondere auf die Polygamie zurückführt.73 Er beobachtet, dass die Frauen in der öffentlichen Religionsausübung keine Rolle spielen und die Männer dominierten – eine Beobachtung übrigens, die er sehr ambivalent beurteilt. Zum einen fehlt ihm die Wärme, die die Frauen in die christlichen Kirchen und Gemeinde hineinbringen, zum anderen sind die fehlenden Frauen nach Kuyper unzweifelhaft ein Gewinn für den Islam: „Women are involved very little in public religious life. […] This is the precise opposite to the Christian world. In our churches women generally outnumber men; in the mosque there are many more men than women. This is undoubtedly an advantage for Islam. A nation in which males from all walks of life are bound to its religions practices fares uncommonly better than a nation whose religion is more withdrawn from public life and left to women. […] Islam leaves women cold. Many still offer their prayers five times a day but must do so in a whisper because praying out loud is proscribed. The religion of Islam cannot impart an inspirational element to a woman’s daily life.“74

Gerade an dieser Stelle ist wieder die Frage nach dem Ort der Begegnung aufzunehmen: Sagt die Moschee alles über die Beteiligung von Frauen am religiösen Leben des Islam und über ihre gelebte Religion aus? Kann Kuyper, ohne muslimischen Frauen tatsächlich zu begegnen, zu diesem vernichtenden Urteil kommen? Wie würde sich diese Beobachtung verändern, wenn die Stimmen von Frauen gehört würden? (c) Wer Kuypers theologisches und politisches Programm kennt, den wird nicht verwundern, dass Kuyper immer wieder die Stagnation islamischer Bildung und Wissenschaft beklagt, immer wieder auch nach der Schulbildung von Mädchen fragt. Für ihn zeichnen sich die orientalischen Kirchen, gerade auch die der Missionen dadurch aus, dass sie im Gegensatz dazu ein Schwergewicht auf Bildung legen – ohne Missionen, so Kuyper, würden auch die orientalischen Kirchen verdorren und zum Islam konvertieren: „Without […] extensive missionary endeavor, these remnants of early Eastern Church most likely would have been gradually yet completely absorbed by Islam. Especially thanks to these missions‘ comprehensive school system, these churches have not only been sustained but, in many respects, awakened to a new sense of life.“75

(d) Einen zentralen Schwachpunkt, ja eine konkrete Gefahr sieht Kuyper in der zentralen Bedeutung des Gihad, des so genannten Heiligen Krieges gegen die Ungläubigen. Es erstaunt dabei, dass Kuyper, der ansonsten durchaus diffe73 Vgl. dazu van Keulen, Debat over islam, S. 58–66; dort auch eine interessante Betrachtung von Kuypers „calvinistischer Vorstellung von der Rolle der Frau“, die van Keulen zu der berechtigten Frage führt, ob Kuypers calvinistische Vorstellung denn tatsächlich wesentlich von der von ihm geschilderten Vorstellung des Islams abweicht. 74 Kuyper, On Islam, S. 61f. 75 Kuyper, On Islam, S. 211f.

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renziert in den Betrachtungen einzelner Kontexte argumentiert, bei allem Wissen und Gelehrsamkeit den Gihad (gegen die Intentionen des Islam) ausschließlich auf den sekundären Gihad nach außen bezieht, nicht auf den Gihad, der den Kampf im eigenen Selbst gegen alles, was nicht von Gott ist, beschreibt.76 Diese Fehlinterpretation, die sich ja auch in der Gegenwart wiederfindet, führt zu gefährlichen islamophoben Vorurteilen, die wiederum in Politik und Gesellschaft negativ wirken.

6. Schlussüberlegungen Können Kuypers Überlegungen zum Islam nun ein Modell für interreligiöses Theologisieren darstellen? Bietet er eine Hermeneutik an, die sich etwa für komparative Theologie verwenden ließe? Es ist im Laufe der vorhergegangenen Beobachtung zu Kuypers Begegnungen mit dem Islam und heutigen Begegnungen mit Abraham Kuyper deutlich geworden, dass es auf diese Fragen nur ambivalente Antworten geben kann. Immerhin, so kritisch wie Kuyper den Islam, seine Stärken und Schwächen im Kontext seiner Zeit wahrzunehmen versucht, so kritisch können diese Versuche Kuypers und seine Stärken und Schwächen wahrgenommen werden: die Stärken als Impulse für eine Weiterentwicklung des Theologisierens der Gegenwart, die Schwächen als Impulse für selbstkritisches Hinterfragen des Theologisierens der Gegenwart. James Bratt ist daher zuzustimmen: „The very presence of nuance and counterpoint in Kuyper’s presentation deserves emphasis. To him Islam has defects and virtues. It poses threats here and opportunities there. It brings to light both the merits and the defects of Christendom – and especially of Christians. [Islam] is, admirably, all of a piece in its core convictions but not all of a piece in its local articulations, and these invite – indeed, require – any outsiders, Christians included, to take historical, cultural, and political context seriously. That is a word to be heeded in our own tense and heated times.“77

Das letzte Wort soll Abraham Kuyper und seinen Schlussbetrachtungen im Rückblick auf seine Reise „Om de Oude wereldzee“ gehören, und wenn der Kern seiner Überlegungen heute wieder neu gehört werden könnte, dann könnte dies tatsächlich dazu beitragen, Begegnungen aller Art reicher und echter zu machen: „I now understood much more strongly than before embarking on my trip that an excellent way to ward off patriotic overconfidence and smugness is to occasionally transport yourself to an entirely different world. […] The East […] is a whole 76 Vgl. dazu u. a. Kuyper, On Islam, S. 171; Obenchain, Magic, S. 312. 77 Bratt, Editor’s Introduction, S. xvi.

Betrachtungen zu Abraham Kuypers Diskurs über den Islam

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different world and helps us understand how human life is too rich to be pressed into one mold. Under a different sky and out of a completely different motive can emerge an entirely different world. It may no be yours or suit your purposes, but it is no less deserving of appreciation. Journeying through the East you are quickly disabused of our chronic notion that our life is the ideal and that we can do no better than export it everywhere else. Certainly we in northwestern Europe and especially in America have developed and displayed a very potent side of existence, but human life itself is not thereby exhausted.“78

78 Kuyper, On Islam, S. 301 (Herv. von M. E.-H.).

Dirk van Keulen

Gutta cavat lapidem? Abraham Kuyper und die Liturgie in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden

1. Einleitung Die Protestantische Kirche in den Niederlanden (PKN: Protestantse Kerk in Nederland) ist am 1. Mai 2004 als eine Union dreier protestantischer Kirchen gegründet worden: 1. die Niederländisch-Reformierte Kirche (NHK: Nederlandse Hervormde Kerk), 2. die Reformierten Kirchen in den Niederlanden (GKN: Gereformeerde Kerken in Nederland), welche mit Abraham Kuyper verbunden waren, und 3. die Evangelisch-Lutherische Kirche im Königreich der Niederlande (Evangelisch-Lutherse Kerk in het Koninkrijk der Nederlanden). Weil die PKN jedes Jahr mehrere zehntausende Mitglieder verliert, wird seit einigen Jahren über „Kirche 2025“ nachgedacht, gesprochen und geschrieben – wie wird die PKN im Jahre 2025 aussehen? Was schenkt Zukunft und neue Energie und was kann man besser hinter sich lassen? Eine der in diesem Zusammenhang diskutierten Themen ist die Liturgie. Marcel Barnard, Professor für Praktische Theologie und Liturgik an der Protestantischen Theologischen Universität (wo die Pfarrerinnen und Pfarrer für die PKN ausgebildet werden), schrieb ein kleines Buch über Liturgie in der PKN: Zur Ehre Gottes (Tot Gods eer).1 Ziel des Buches ist es, eine Handreichung für Gespräche über die Liturgie auf der Ebene der örtlichen Gemeinden zu bieten. In seinem Buch unterscheidet Barnard fünf Quellen im „liturgischen Leben“ der PKN: 1. die lutherische Tradition; 2. die klassisch-reformierte Tradition; 3. die neocalvinistische Tradition; 4. die „liturgische Bewegung“ und 5. „Praise and Worship“.2 Die ersten drei Traditionen „fallen zusammen“ mit den drei Kirchen, die sich in der PKN uniert haben.3 Kennzeichnend für die neocalvinistische Tradition – die Reformierten Kirchen in den Niederlande (GKN) – würde Abraham Kuypers Buch Unser Gottesdienst (Onze Eeredienst) sein. In diesem Beitrag stelle ich die Frage: Inwiefern ist Kuypers Buch charakteristisch für die Liturgie in der neocalvinistischen Tradition? Wo hat Kuyper Einfluss gehabt? An Hand von diesem Einfluss können wir feststellen, 1 Marcel Barnard, Tot Gods eer. Handreiking voor gesprekken over liturgie, Utrecht 2018. 2 Barnard, Tot Gods eer, S. 37–41. 3 Barnard, Tot Gods eer, S. 37.

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ob Kuyper eine Art neocalvinistische Liturgie begründet hat und diese tatsächlich eine der Quellen für das liturgische Leben in der PKN ist. Am Ende stelle ich auch die Frage, was Kuypers Beitrag für die Liturgie in der PKN heutzutage sein könnte.

2. Kuypers Unser Gottesdienst Für Abraham Kuyper war die Liturgie ein wichtiges Thema, sonst ließe es sich nicht erklären, warum er zwischen dem 6. Juni 1897 und dem 20. Oktober 1901 etwa achtzig Aufsätze über Liturgie im Wochenblatt De Heraut schrieb.4 Obwohl die Besprechung und Analyse der Liturgie noch nicht zu Ende war, schließt er im Oktober 1901 die Aufsatzreihe ab, weil er mit dem Beginn seines Ministerpräsidentenamtes dafür keine Zeit mehr erübrigen kann.5 Zehn Jahre später schreibt er nachträglich die Aufsätze, welche noch fehlten, und sammelt das Ganze in seinem Buch Unser Gottesdienst (Onze Eeredienst). Das Buch wird im Oktober 1911 veröffentlicht und in einer Auflage von 2000 Exemplare gedruckt.6 Das Buch ist in drei Teilen gegliedert. Im ersten einleitenden Teil schreibt er über wiederauflebendes liturgisches Bewusstsein in den Reformierten Kirchen in den Niederlanden (GKN), über die Frage, was Liturgie ist und über praktische Themen wie Singen, Psalmen und Gesänge, Orgelspiel, Ästhetik, Formulargebete, Amtskleidung, Kirchengebäude und Kirchenbau, Verteilung der Sitzplätze und über kirchliche „Hilfsbeamte“ wie Organisten und Küster.7 Der zweite „allgemeine Teil“ hat die eigentliche Liturgie zum Thema. Vom Beginn bis zum Ende erörtert Kuyper alle Bestandteile des sonntäglichen Gottesdienstes in den GKN-Gemeinden.8 Der dritte „spezielle Teil“ ist – wie Kuyper sie nennt – den „kirchlichen Zeremonien“ (kerkelijke plechtigheden) gewidmet: die Taufe und das heilige Abendmahl und ihr Verhältnis, Exkommunikation und Wiederaufnahme, Ordination ins Amt und die Trauung.9 Aus heutiger Perspektiv ist es auffallend, dass Kuyper im ganzen Buch kein einziges Wort über die Beerdigung schreibt. Das ist jedoch daraus erklärlich, dass damals in den protestantischen Kirchen in den Niederlanden die Beerdigung eine Familienangelegenheit war, von zu Hause aus stattfand und dass der

4 Vgl. Tjitze Kuipers, Abraham Kuyper. An Annotated Bibliography 1857–2010, Leiden/Boston 2011, S. 437. 5 Abraham Kuyper, Onze Eeredienst, Kampen 1911, S. 5. 6 Kuipers, Kuyper-Bibliography, S. 437. 7 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 7–160. 8 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 160–349. 9 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 349–557.

Kuyper und die Liturgie in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden 173

Pfarrer – in Kuypers Zeit waren die Ämter von Pfarrer, Presbyter und Diakon nur für Männer zugänglich10 – nicht immer dabei war.11 Kuyper bezeichnet die Kirche als „Sammlung der Gläubigen“ (vergadering der geloovigen). Diesen Zentralbegriff finden wir immer wieder im ganzen Buch.12 Gottesdienst definiert er als eine „öffentliche Sammlung […] der Gemeinde, von der die Mitglieder bekannt sind“. Zusammengerufen von dem Presbyterium, kommen die Mitglieder zusammen, „um zu handeln, d. h. um den Gottesdienst durchzuführen“. Die Sammlung ist öffentlich, damit sie auch ein „Mittel für Propaganda“ ist.13 Heutzutage würde wohl formuliert werden, dass der Gottesdienst auch ein missionarisches Moment hat. Jede Sammlung braucht eine Ordnung. Im Gottesdienst ist diese Ordnung die Liturgie. Darum schreibt Kuyper : „Wo der Diener des Wortes frei ist, um völlig nach eigenem Gutdünken zu handeln, da ist keine Liturgie. Wo umgekehrt seine Freiheit begrenzt ist, da entsteht von sich aus die Liturgie, d. h. eine gewisse feste Form für den Gottesdienst, woran er gebunden ist.“14

Das Zusammensein ist für Kuyper sehr wichtig. Im Gottesdienst ist das Zusammensein ein qualifiziertes Zusammensein. Nicht nur die Mitglieder der Gemeinde kommen untereinander zusammen. Als Gemeinde, als Sammlung der Gläubigen, sucht sie auch ein Zusammensein mit Gott. Darum schreibt Kuyper im allgemeinen und im speziellen Teil seines Buches mehrmals über die Präsenz Gottes in der Liturgie.15 Das Zusammensein mit Gott kann noch näher qualifiziert werden: Die 10 Erst im Jahre 1969 wurden diese Ämter in den reformierten Kirchen in den Niederlanden auch für Frauen zugänglich; vgl. Acta van de Generale Synode van Sneek 1969 en 1970 van de Gereformeerde Kerken in Nederland, Kampen o. J., Art. 198. In der PKN sind von Beginn an alle Ämter für Frauen und Männer zugänglich, obwohl es eine Strömung – den Gereformeerde Bond – gibt, worin die Ämter nur Männern vorbehalten sind. 11 Vgl. Paul Oskamp, Kerkelijke uitvaart, in: ders./Niek Schuman (Hgg.), De weg van de liturgie. Tradities, achtergronden, praktijk, Zoetermeer 1998, S. 337f. 12 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 10 f.12–20.23.38 f.45.52 f.65.68.73.78.84–86.91.97.99.102.105. 107–111.118.120.126f.130f.133f.137–141.153.159f.162f.166.169.172.176.180.187.189–191.195. 204f.209.211.214f.225f.234.236.241.243.248.263.265–267.269.275.283.285.307.317–320.323–325.349. 351.368.370.372. 376.380.458.463.488.491.524.533.552. 13 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 16: „[O]nze gewone godsdienstoefeningen [zijn] niets anders […], dan publieke vergaderingen van […] de Gemeente, waarvan de leden bekend zijn, en die, door den kerkeraad opgeroepen, onder leiding van een der leeraren als voorzitter, samen zijn, niet om te beraadslagen, maar om te handelen, d.i. om uitvoering te geven aan den eeredienst waartoe ze geroepen zijn; en zulks wel onder toelating van het publiek, opdat die eeredienst zelf tevens middel van propaganda zij.“ 14 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 19: „[W]aar de Dienaar des Woords vrij is, om geheel naar eigen goedvinden te werk te gaan, daar is geen liturgie. En omgekeerd waar zijn vrijheid ten deze beperkt is, ontstaat de Liturgie, d.i. zekere vaste vorm voor den eeredienst, waaraan ook hij gebonden is, vanzelf.“ 15 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 196.202f.279.310–312.328.337.407.487f.

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Sammlung der Gläubigen ist nämlich auch eine mit Gott versöhnte Gemeinschaft.16 Darum betont Kuyper, dass der Gottesdienst nicht eine Übung in Religion (oefening in godsdienst), sondern eine Praktizierung der Religion (uitoefening van godsdienst) ist.17 Daraus ergeben sich nach Kuyper drei Bedingungen oder Kriterien der den Gottesdienst ermöglichenden Liturgie. Gottesdienst ist 1. Sammlung der Gläubigen; 2. eine Begegnung zwischen Gott und der Gemeinde; 3. eine Begegnung der Gläubigen untereinander und eine Begegnung „mit dem ewigen Wesen unter Besprengung des Blutes Christi“.18 Die Liturgie muss alle drei Bedingungen ermöglichen. Deshalb schreibt Kuyper : „In diesen drei Bedingungen wurzelt darum jede Liturgie.“19 Diese drei Bedingungen begrenzen die Freiheit des Pfarrers in der Liturgie.20

3. Kuypers Einfluss Die Niederländisch-Reformierte Kirche (NHK), von der sich die Reformierten Kirchen in den Niederlanden (GKN) am Ende des 19. Jahrhunderts getrennt hatten,21 hatte seit 1818 eine Ordnung für die Liturgie, welche in der klassischreformierten Liturgie gründet: Der „Vorgottesdienst“: – Bibellesung – Psalmengesang – Einzug des Pfarrers und des Presbyteriums Danach folgt der eigentliche Gottesdienst: – – – – – – – –

Votum Ansprache (aanspraak/voorafspraak) Gebet Gesang vor der Predigt Bibeltext (über den gepredigt wird) Kollekte Predigt Gebet

16 17 18 19 20 21

Kuyper, Onze Eeredienst, S. 21–26. Kuyper, Onze Eeredienst, S. 27. Kuyper, Onze Eeredienst, S. 25. Kuyper, Onze Eeredienst, S. 26. Kuyper, Onze Eeredienst, S. 25. Die Reformierten Kirchen in den Niederlanden (GKN) sind 1892 als eine Union von zwei früheren Abspaltungen von der Niederländisch-Reformierten Kirche (NHK), nämlich der so genannten Afscheiding (1834) und der Doleantie (1886), gegründet worden.

Kuyper und die Liturgie in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden 175

– Lied (Psalm) – Segen22 Diese Ordnung aber war kein starres Korsett. Der Pfarrer hatte auch viel Freiheit.23 Jeden Sontag konnte er nach Belieben Änderungen in der Liturgie oder an liturgischen Formularen oder Texten durchführen. Im Jahre 1897 haben die Reformierten Kirchen in den Niederlanden (GKN) eine eigene Ordnung für die Liturgie festgelegt, welche sich leicht von der Ordnung von 1818 unterscheidet: – – – –

Votum Schuldbekenntnis und Gebet vor der Predigt, endend mit dem Vaterunser Predigt Gebet für die Not der Christenheit, endend mit dem Vaterunser und dem apostolischen Glaubensbekenntnis – Segen – [Kollekte]24 Es ist nicht klar, an welcher Stelle in dieser Ordnung aus der Bibel gelesen wurde: vor dem Gottesdienst (wie in der Ordnung von 1818) oder unmittelbar vor der Predigt. Ebenso ist nicht klar, an welchen Stellen in der Liturgie gesungen wurde. Diese Ordnung von 1897 war für Kuyper der Anlass, im Juni 1897 mit seinen Aufsätzen über Liturgie im Wochenblatt De Heraut zu beginnen. Diese Ordnung ist also der Ausgangspunkt für alles, was Kuyper über Liturgie in seinem Buch Unser Gottesdienst schreibt. Von Anfang des Buches an macht Kuyper deutlich, dass er mit der Freiheit des Pfarrers in der Liturgie nicht glücklich ist. Obwohl er selbst als junger Pfarrer diese Freiheit auch benutzt hat,25 sei Begrenzung der Freiheit empfehlenswert. Er schreibt über „falschen Spiritualismus“,26 welcher sich in einer Abneigung von Formen und in einer „Willkür“27 in der Liturgie äußert. „Keiner in Gottes Kirche fragte sich mehr, was das rechte Verhältnis zwischen Geist und Form im Gottesdienst war. Unter Pfarrern galt die Regel: ,Jeder Vogel singt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.‘ […] Weder Ordnung, noch Regelmaß, noch

22 Zitiert nach Klaas Willem de Jong, Ordening van dienst. Achtergronden van en ontwikkelingen in de eredienst van de Gereformeerde Kerken in Nederland, Baarn 1996, S. 13. 23 De Jong, Ordening van dienst, S. 44.59. 24 Zitiert nach de Jong, Ordening van dienst, S. 66. 25 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 9: „Ook schrijver dezes heeft deze wisseling meÞ doorleefd. Toen hij in 1863 als predikant optrad, wist hij nog niet beter te doen, dan het voorbeeld zijner oudere collega’s te volgen, en vjjr zijn eerste Doopsbediening, met blauw potlood in het Doopsformulier allerlei passages door te schrappen, en op allerlei punten den tekst gansch willekeurig te veranderen.“ 26 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 36–40. 27 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 8f.18.24.36f.39.53.58.62.65.212.241.268.271.276–278.356.408.503.

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Gleichmaß war mehr wahrzunehmen. Jeder ging seinen eigenen Weg. Jeder ritt sein Steckenpferd.“28

Darum trachtet Kuyper – wie wir sahen – nach „einer gewissen festen Form für den Gottesdienst“.29 Dabei ist er sich bewusst, dass Vorsicht geboten ist. Er schreibt zum Beispiel: „Unsere Arbeit über den Gottesdienst hat nicht den Zweck, überall und sofort vielerlei zu ändern. Wir bieten nichts anderes als eine Studie, die von einem Grundprinzip aus kritisiert und versucht, von diesem Grundprinzip aus aufzubauen, und so einen Beitrag zur künftigen Entwicklung in klarerer Linie liefern will.“30

Änderungen in der liturgischen Praxis brauchen viel Zeit. Darum beendet Kuyper sein Buch mit einem lateinischen Sprichwort „Gutta cavat lapidem“: Steter Tropfen höhlt den Stein.31 Was hat Kuyper ändern wollen? Ist es ihm gelungen, vielleicht erst nach langer Zeit? Und hat das zu einer ,neocalvinistischen‘ Liturgie geführt, die als einer der fünf Quellen für die Liturgie in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden (PKN) gelten kann? Ich gebe sieben Beispiele.

3.1 Amtskleidung Im ersten Teil seines Buches schreibt Kuyper drei Kapitel über Amtskleidung. Darüber gibt es ,viele Missverständnisse‘, schreibt er.32 Nach einem historischen Überblick kommt Kuyper zum prinzipiellen Gesichtspunkt: „Das Böse in allem Gewand ist der Unterschied.“33 In der Sammlung der Gläubigen aber dürfte es keinen Unterschied geben, auch nicht zwischen Amtsträgern und übrigen Gliedern der Gemeinde.34 Amtskleidung führt zur Verkennung des allgemeinen Priestertums der Gläubigen.35 28 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 38: „[N]iemand in Gods kerk [vroeg] meer naar de juiste verhouding tusschen geest en vorm in den eeredienst. Het ,ieder vogeltje zingt zooals het gebekt is‘, werd onder predikanten regel. […] Noch orde, noch regelmaat, noch gelijkheid werd meer waargenomen. Ieder bewandelde zijn eigen paadje. Ieder bereed zijn stokpaardje“ (Kursivierung von Kuyper). 29 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 19. 30 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 174: „Men versta ons dus wel, dat onze studie over den Eeredienst volstrekt niet bedoelt, overal en terstond allerlei veranderingen in te voeren. We geven niets dan een studie, die uit beginsel critiek oefent en uit het beginsel poogt op te bouwen, en daarmeÞ een bijdrage wil zijn ter bevordering van toekomstige ontwikkeling in zuiverder lijn“; vgl. S. 403: „[V]ooral in het kerkelijk leven moet men met het wijzigen van bestaande gewoonten steeds uiterst voorzichtig zijn.“ 31 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 557. 32 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 91. 33 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 98. 34 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 98f. 35 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 98.

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Kuyper hat also – anders als Herman Bavinck (1854–1921)36 – prinzipielle Bedenken gegen Amtskleidung in der Kirche. Trotzdem geht er hier pragmatisch vor. Es gab damals Pfarrer in den Reformierten Kirchen (GKN), die zuvor zur Niederländisch-Reformierten Kirche (NHK) gehörten und deshalb gewöhnt waren, den Gottesdienst in einem schwarzen Talar mit weißem Beffchen zu leiten.37 Diese Pfarrer darf man nicht zwingen, ihre Amtskleidung abzulegen: Wenn sie selbst in ihrem Gewissen davon überzeugt sind, dass sie ihren Talar nicht aus klerikalen Gründen tragen, ist ihre Gewohnheit nicht zu missbilligen. Aber, so fügt Kuyper dazu, wer diese Gewohnheit nicht hat, übernehme sie nicht.38 So würde es im Laufe der Zeit keine Amtskleidung in den Reformierten Kirchen (GKN) mehr geben. Hat Kuypers Ansicht hier Einfluss gehabt? Wenn man die Literatur in Augenschein nimmt, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Antwort bejaht werden muss. So folgt zum Beispiel der Artikel über Amtskleidung in der ersten Auflage der Christlichen Enzyklopädie (1926) – geschrieben vom GKN-Pfarrer Johannes Cornelis de Moor (1878–1926) – völlig Kuypers Ansicht.39 Interessant ist auch die zweite Auflage der Christlichen Enzyklopädie (1956). Der Artikel über Amtskleidung wurde jetzt vom NHK-Professor Alexander Johannes Bronkhorst (1914–1994) geschrieben. Darin findet sich Kuypers Ansicht nicht mehr. Am Ende des Artikels sind aber einige Sätze vom GKN-Professor Klaas Dijk (1885–1968) hinzugefügt. Obwohl er zugibt, dass „es [sc. in den GKN] Pfarrer gibt, die im Talar predigen“, schreibt er trotzdem, dass „die GKN keine kirchliche Amtskleidung kennen“. Seine Argumentation atmet Kuypers Geist.40 Wie viele Pfarrer damals im Talar predigten, ist nicht klar. Es ist möglich, dass es vor dem Zweiten Weltkrieg nur eine kleine Minderheit war. Ein Argument dafür könnte sein, dass in den Gereformeerde Kerken vrijgemaakt, die sich im Jahr 1944 von den GKN abgespalten haben, bis heute Pfarrer keinen Talar tragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Praxis in den GKN aber verändert. Persönliche Erfahrungen machen das klar. Mein Großvater Dirk Veenhuizen (1905–1987) ist von 1932 bis 1969 reformierter (GKN) Pfarrer gewesen. Er predigte im schwarzen Talar. Als kleines Kind durfte ich den Koffer tragen, wenn ich dabei war. Ich bin aufgewachsen in Veenendaal, einem Dorf zwischen Utrecht und Arnheim, in den sechziger und 36 Vgl. Herman Bavinck, Gereformeerde Ethiek, bezorgd, ingeleid en geannoteerd door Dirk van Keulen, Utrecht 2019, S. 538. 37 Im Jahr 1854 hat die Allgemeine Synode der NHK das Tragen eines Talars empfohlen; Handelingen van de Algemeene Synode der Nederlandsche Hervormde Kerk in den jare 1854, ’s Gravenhage 1854, S. 33f. Vgl. Maarten J. Aalders, De komst van de toga. Een historisch onderzoek naar het verdwijnen van mantel en bef en de komst van de toga op de Nederlandse kansels, 1796–1898, Delft 2001. 38 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 102. 39 J.C. de Moor, Art. Ambtsgewaad, in: F.W. Grosheide u. a. (Hgg.), Christelijke Encyclopaedie, Eerste Deel, Kampen o. J. [1926], S. 97f. 40 A.J. Bronkhorst und K. Dijk, Art. Ambtsgewaad, in: F.W. Grosheide/G.P. van Itterzon (Hgg.), Christelijke Encyclopedie I, Kampen 1956, S. 166f.

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siebziger Jahren. Die Reformierte Kirche (GKN) von Veenendaal hatte damals vier Pfarrer: Hendrik Arnoldus (Hein) van Bottenburg (1929–2017), Kornelis Jan (Kees) Arwert (1934–2012), Johan Murk Rients Diermanse (1937–1988) und Ale Pietersma (geb. 1948). Van Bottenburg und Pietersma leitenden den Gottesdienst in einem Anzug; Arwert und Diermanse dagegen trugen einen schwarzen Talar. Die alte Praxis ist also zurückgekehrt – bis heute in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden (PKN). Jede Pfarrerin oder Pfarrer hat die Freiheit selbst zu wählen. Ich habe mich – wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen in der PKN – für einen weißen Talar entschieden.41 3.2 Die kirchlichen Formulare und Formulargebete Am Ende des 19. Jahrhunderts benutzte man in den Reformierten Kirchen (GKN) klassisch-reformierte Formulare für Taufe, Abendmahl, Ordination, Exkommunikation und Wiederaufnahme. Auch gab es die Möglichkeit, im Gottesdienst Formulargebete zu sprechen. Es ist kein Zufall, dass im Jahre 1897 ein eigenes GKN-Gesangbuch (mit Formularen für die Kasualien) erschien.42 Diese Ausgabe wurde herausgegeben vom Kirchenhistoriker Frederik Lodewijk Rutgers (1836–1917) unter Mitwirkung von Kuyper und Bavinck. Die Namen Kuyper und Bavinck wurden genannt, um der Ausgabe Autorität zu verleihen.43 In seinem Buch Unser Gottesdienst macht Kuyper klar, dass er keine Bedenken gegen Formulare und Formulargebete an sich hat. Sie liefern natürlich einen Beitrag zu der von ihm gewünschten „gewissen festen Form“ der Liturgie. Ausführlich setzt er auch auseinander, warum ein „freies Gebet“ im Gottesdienst so schwierig ist und dass verschiedene Argumente zugunsten der Formulargebete anzuführen sind.44 In dieser Hinsicht opponiert er gegen große Gruppen in den Reformierten Kirchen (GKN), die damals das „freie Gebet“ bevorzugten. Obwohl die eigene GKN-Ausgabe der liturgischen Formulare unter Mitwirkung von Kuyper zustande gekommen war, kritisiert er aber in seinem Buch Unser Gottesdienst immer wieder die vorhandenen Formulare und 41 Kuypers Vorzug für weiße Gewänder für alle Gläubigen – „Geen twijfel dan ook, of nu nog, zou het 88nig symbolisch gewaad voor de geloovigen, juist niet het zwarte, maar het blank witte gewaad zijn“ (Kuyper, Onze Eeredienst, S. 100) – spielte dabei übrigens keine Rolle. Vgl. Dirk van Keulen, „Een beschermende jas“, in: Hans Schaeffer/Geranne Tamminga-Van Dijk (Hgg.), Verhalen om te delen. Bij het afscheid van Peter van de Kamp, Amsterdam 2018, S. 127–132. 42 De berijmde Psalmen, met eenige gezangen, in gebruik bij de Gereformeerde Kerken in Nederland; alsmede hare Formulieren van Eenigheid, met de drie oude Geloofsbelijdenissen, en hare Liturgie, met het Kort Begrip en den Ziekentroost, naar den door die kerken vastgestelden tekst uitgegeven door Dr. F.L. Rutgers onder medewerking van Dr. H. Bavinck en Dr. A. Kuyper, Middelharnis 1897. 43 De Jong, Ordening van dienst, S. 66. 44 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 40–46.

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Formulargebete.45 Sie seien viel zu lang. Die Sprache sei veraltet. Die Sätze seien viel zu lang und zu kompliziert. Es fordere äußerste Konzentration, um den Inhalt zu verstehen. Weil die meisten Kirchgänger das nicht aufbringen könnten, schössen die vorhandenen Formulare über das Ziel hinaus. Die englischen Formulargebete seien in dieser Hinsicht viel besser.46 Darum plädiert Kuyper für neue Formulare und Formulargebete. Wiederum fragen wir : Hat Kuyper bei dieser Frage Einfluss gehabt? Ja, seit 1966 sind in den Reformierten Kirchen (GKN) neue Ordnungen und Formulare für die Liturgie eingeführt.47 Aber weil die Kritik an vorhandene Ordnungen und Formulare damals sehr breit getragen wurde, kann man nicht sagen, dass vor allem Kuypers Ansichten dieser Kritik zugrunde lagen.

3.3 Das Schuldbekenntnis Im zweiten Teil seines Buches schreibt Kuyper acht Kapitel über das Schuldbekenntnis.48 Im ersten Kapitel konstatiert er, dass in seinen Tagen in den Reformierten Kirchen (GKN) es kein separates Schuldbekenntnis in der Liturgie gibt. Das Schuldbekenntnis ist gewöhnlich zusammengefügt mit dem Gebet vor der Bibellesung oder der Predigt. Damit spielt er auf die Ordnung für Liturgie in den Reformierten Kirchen (GKN) von 1897 an. Nach Kuypers Ansicht darf man das Schuldbekenntnis nicht mit dem Gebet vor der Predigt vermischen. Darum muss das Schuldbekenntnis als ein separater Teil in der Liturgie zurückgebracht werden – und „am liebsten in einer festen Form“.49 Sieben Kapitel sind anschließend der Form gewidmet. Das Schuldbekenntnis kann entweder vom Pfarrer „als Dolmetscher der Gemeinde“ gesprochen werden oder von der ganzen Gemeinde gesprochen oder gesungen werden – wie, so schreibt Kuyper, in der Anglikanischen Tradition. Weil das Schuldbekenntnis würdig (plechtig) geschehen soll, bevorzugt Kuyper die erste Form.50 Zwei Kapitel folgen über die Formulare für das Schuldbekenntnis. Nach dem vorherigen Punkt wundert es nicht, dass nach Kuyper neue Formulare auch für das Schuldbekenntnis notwendig sind.51 Schließlich folgen vier Kapitel über die Körperhaltung. Nach Kuypers Ansicht ist es passend, wenn die ganze Versammlung der Gläubigen beim Schuldbekenntnis kniet, denn Knien ist eine symbolische Haltung, die das Herunterbeugen der 45 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 47f.220f.397f.407.410f.412.491f.494.512f.517.527.533f.545.551–556. 46 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 47. 47 Vgl. Orden voor de eredienst van de Gereformeerde Kerken in Nederland, vrijgegeven door de Generale Synode van de Gereformeerde Kerken van Middelburg 1965–1966, Kampen 1966. 48 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 205–209.217–241. 49 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 207f. 50 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 217–220. 51 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 220–228.

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Seele vor Gottes Majestät zum Ausdruck bringt.52 Ausführlich schreibt er über die Frage, warum in der protestantischen Tradition in den Niederlanden nicht mehr gekniet wird. Einfach zu sagen, Knien ist katholisch (rooms), ist oberflächlich.53 Kuyper sieht andere Ursachen. Erstens ist hier ein Einfluss der englischen Puritaner, die sich gegen Ritualismus wehrten, spürbar. Auch spielt die Erneuerung des kirchlichen Mobiliars, nachdem in der Kirche nicht mehr begraben wurde, eine Rolle.54 Das Argument, dass man nach Ostern besser stehend beten kann als symbolischer Ausdruck der Auferstehung, kann Kuyper ebenso wie mystische Argumente nicht überzeugen.55 Darum schließt er am Ende kräftig und behutsam: „Das NichtKnien in unseren Reformierten Kirchen ist ein liturgischer Fehler, den wir nicht sofort zu beseitigen versuchen müssen, aber wogegen trotzdem Reaktion geboten und notwendig ist.“56 Hat Kuyper hier Einfluss gehabt? Einerseits kann man sagen: Ja. Aus meiner Jugend erinnere ich mich, dass in jedem Gottesdienst am Sonntagmorgen das Schuldbekenntnis und die Verkündigung der Gnade Gottes – Kuyper gebraucht den Begriff „Absolution“ (absolutie)57 – feste liturgische Bestandteile waren und vom Pfarrer gesprochen wurden.58 Andererseits ist die Antwort: Nein. Knien wurde in den Reformierten Kirchen (GKN) meines Wissens nie praktiziert. Hätte Kuyper hier Einfluss gehabt, hätte man von einer Eigentümlichkeit der neocalvinistischen Liturgie im Unterschied zu anderen protestantischen Kirchen in den Niederlanden reden können.

3.4 Die Zehn Gebote Der Ort der Zehn Gebote in der Liturgie ist in den Reformierten Kirchen (GKN) nach Kuypers Ansicht unklar. Auch das hängt mit der Ordnung für den Gottesdienst aus dem Jahre 1897 zusammen. In dieser Ordnung werden die Zehn Gebote nicht genannt. Dass die Zehn Gebote jeden Sonntag gelesen werden müssen, steht für Kuyper außer Frage. Nur auf diese Weise können die Gebote so ins Gedächtnis und ins Herz der Gläubigen eingeprägt werden, dass sie vom sittlichen Bewusstsein unzertrennbar werden. Auch hier gilt das Gutta cavat lapidem.59 52 53 54 55 56

Kuyper, Onze Eeredienst, S. 229. Kuyper, Onze Eeredienst, S. 228. Kuyper, Onze Eeredienst, S. 230–234. Kuyper, Onze Eeredienst, S. 234–240. Kuyper, Onze Eeredienst, S. 240: „En onze conclusie kan dan ook geen andere zijn, dan dat het niet knielen in onze Gereformeerde kerken een Liturgische fout is te achten, die we nu wel niet plotseling moeten pogen weg te nemen, maar waartegen reactie geboden en noodzakelijk is.“ 57 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 241f. 58 Vgl. Orden voor de eredienst van de Gereformeerde Kerken in Nederland, S. 16f. 59 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 209.

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Die Frage ist aber : An welcher Stelle im Gottesdienst können die Zehn Gebote am besten gelesen werden? Es gibt in der Ordnung von 1897 drei Möglichkeiten. Die erste ist vor dem eigentlichen Gottesdienst. Das wird von Kuyper aber sofort abgelehnt, weil es 1. nicht ehrfürchtig (eerbiedig) ist; 2. nicht alle dann die Gebote hören: Nachzügler sind noch nicht anwesend; und 3. der liturgische Zusammenhang verloren geht.60 Die Zehn Gebote müssen also im Gottesdienst klingen. Dann gibt es aber noch zwei Möglichkeiten: vor der Predigt im Zusammenhang mit dem Schuldbekenntnis und der Absolution oder nach der Predigt. Weil die Zehn Gebote in der mit Gott versöhnten Versammlung der Gläubigen nicht „Zuchtmeister auf Christus hin“ (tuchtmeester tot Christus) sind, sondern Regel der Dankbarkeit61 für die Praxis des Lebens, wählt Kuyper die dritte Möglichkeit.62 Die Zehn Gebote sind zu lesen – nicht zu singen63 – nach der Predigt. Erneut fragen wir : Hat Kuyper hier Einfluss gehabt? Auch hier ist die Antwort doppelt. Später in der Geschichte der Reformierten Kirchen (GKN) haben die Zehn Gebote einen festen Platz in der Liturgie bekommen. Aber es war nicht der Platz, den Kuyper wollte. Die Zehn Gebote wurden verbunden mit dem Schuldbekenntnis und der Verkündigung der Gnade.64 Darum habe ich als Kind die Zehn Gebote immer als den erhobenen Zeigefinger erfahren. Erst viel später während des Studiums der Theologie wurde mir bewusst, dass die Zehn Gebote auch einen anderen Platz in der Liturgie bekommen können und damit einen anderen Klang.65

3.5 Singen Es ist selbstverständlich, dass in den Reformierten Kirchen (GKN) gesungen wurde – obwohl es in der Ordnung von 1897 nicht eindeutig ist, an welcher Stelle in der Liturgie gesungen werden soll. Ohne Zweifel war für Kuyper das Singen ein wichtiges Thema, sonst hätte er wohl kaum vier Kapitel über dieses Thema geschrieben. Die ersten zwei sind der Frage gewidmet, was man singen soll: Psalmen oder Gesänge. Das ist eine Frage, worüber im Laufe der Geschichte des Protestantismus in den Niederlanden heftig gestritten worden ist.66 Kuypers 60 61 62 63 64 65

Kuyper, Onze Eeredienst, S. 211f. Vgl. den Ort der Zehn Gebote im Heidelberger Katechismus von 1563. Kuyper, Onze Eeredienst, S. 212–217. Kuyper, Onze Eeredienst, S. 217. Vgl. Orden voor de eredienst van de Gereformeerde Kerken in Nederland, S. 16.21–23. Vgl. zum Beispiel Dienstboek. Een proeve. Schrift, Maaltijd, Gebed, Zoetermeer 1998, S. 153f.837–846. 66 Vgl. Roel A. Bosch, Evangelische gezangen, in: George Harinck/Herman Paul/Bart Wallet (Hgg.), Het gereformeerde geheugen. Protestantse herinneringsculturen in Nederland, 1850–2000, Amsterdam 2009, S. 551–560.

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Antwort auf die Frage lautet: „Das Recht auf eigene Formulierung steht historisch und kirchenrechtlich fest.“ Darum können Gesänge im Gottesdienst nicht prinzipiell abgelehnt werden.67 Weil aber die Qualität der vorhandenen Gesänge nicht gut ist – Kuyper übte schwere Kritik an das gängige Gesangbuch Evangelische Gezangen (1806)68 der Niederländisch-Reformierten Kirche (NHK) – und weil protestantische Dichter wie Willem Bilderdijk (1756–1831), Isaac da Costa (1798–1860), Nicolaas Beets (1814–1903), Jan J.L. ten Kate (1819–1889) und Johannes Petrus Hasebroek (1812–1896) nur sehr wenige brauchbare Lieder geschrieben haben, bevorzugt Kuyper das Singen der Psalmen.69 Darum beschäftigt er sich im dritten und vierten Kapitel mit den bereimten Psalmen. In den Reformierten Kirchen (GKN) gebrauchte man für das Singen die alte „Statenberijming“ aus dem Jahre 1773.70 Ebenso wie mit den alten kirchlichen Formularen ist Kuyper auch hier kritisch. Nach seiner Meinung ist in vielen bereimten Psalmen wahrzunehmen, dass der Dichter den ursprünglichen Sinn nicht verstanden hat und eigene Gedanken in den Psalm hineingetragen hat. Trotzdem schließt Kuyper behutsam. Er weist die alte „Statenberijming“ nicht komplett ab. Sie soll verbessert werden.71 Mitten in seiner Darstellung über das Singen finden wir noch ein auffallendes Moment. Kuyper schreibt nämlich, dass in der englischen episkopalen Kirche die Psalmen in Prosa rezitierend gesungen werden. Auch hier folgert er behutsam: „Wir sagen nicht, dass es wünschenswert ist, aber es geht. Es hat sich herausgestellt, dass es möglich ist.“72 So zeigt sich Kuyper offen für eine andere Weise des Singens, wie es in den Reformierten Kirchen (GKN) gebräuchlich war. Wiederum fragen wir : Hat Kuyper Einfluss auf die weitere Entwicklung gehabt? Hinsichtlich der Frage „Psalmen oder Gesänge?“ kann man sagen, dass in den Reformierten Kirchen (GKN) immer sowohl Psalmen als auch Gesänge gesungen wurden. Im Laufe der Zeit – vor allem nachdem im Jahre 67 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 55. 68 Evangelische Gezangen, om nevens het boek der Psalmen bij den openbaren godsdienst in de Nederlandsche Hervormde Gemeenten gebruikt te worden; op uitdrukkelijken last van alle Synoden der voornoemde gemeenten bijeen verzameld en in orde gebragt in de jaren 1803, 1804 en 1805, Amsterdam 1806. 69 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 52–61. 70 Vgl. Roel A. Bosch, Die Statenberijming von 1773 in den Niederlanden. Staatliches Bemühen, theologische Grundlagen und kirchliche Rezeption, in: Eckhard Grunewald/Henning P. Jürgens/Jan R. Luth (Hgg.), Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden (Frühe Neuzeit 97), S. 471–480. – In Deutschland sind die Auseinandersetzungen über den Psalmengesang vor allem durch einen Roman bekannt geworden: Maarten ’t Hart, Der Psalmenstreit, München 2007. 71 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 61–69. 72 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 54: „In de Engelsche Episcopale kerk zingt men de Psalmen in proza, onberijmd, juist zooals ze door ons gelezen worden. […] We zeggen niet dat het te verkiezen is, maar het gaat. Het blijkt mogelijk te wezen.“

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1973 ein neues Gesangbuch (Liedboek voor de Kerken)73 eingeführt worden war – haben die Gesänge einen immer größeren Platz eingenommen und die Psalmen zur Seite gedrängt. Die alte „Statenberijmung“ wurde noch lange Zeit unverändert gesungen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Kritik breit und laut im Niederländischen Protestantismus wurde, hat eine interkonfessionelle Gruppe von Dichtern versucht, eine neue Psalmenbereimung herzustellen. Diese ist erst im Jahre 1967 fertig geworden und unter anderem in den Reformierten Kirchen (GKN) eingeführt worden. Das rezitierende Singen von Psalmen wurde dagegen von den Neocalvinisten nie praktiziert.

3.6 Frühtaufe Im dritten, „speziellen“ Teil seines Buches schreibt Kuyper unter anderem über die Sakramente. Eine Frage dabei ist: Wann müssen neugeborene Kinder getauft werden? Kuyper gibt eine konkrete Antwort: Weil im Alten Testament die Beschneidung am achten Tag stattfinden sollte, müssen in der christlichen Kirche Kinder zwischen dem sechsten und dem dreizehnten Tag nach der Geburt getauft werden74 – eine merkwürdige Argumentation. Kuypers Vorzug für die so genannte „Frühtaufe“ hat Widerstand hervorgerufen.75 Wenn ein Kind so kurz nach der Geburt getauft werden sollte, könnte eine Konsequenz sein, dass die Mutter bei der Taufe nicht anwesend sein kann. Nach Kuyper darf Sentimentalität hinsichtlich der Taufe aber keine Rolle spielen. Die Mutter, schreibt er, darf „ihr Kind nicht der Gefahr aussetzen, ungetauft zu sterben“76 – weil für Kuyper die Taufe nicht notwendig für das Seelenheil ist, ist seine Argumentation hier erneut fragwürdig. Hinzu kommt, dass nach Kuyper nur der Vater bei der Taufe anwesend sein muss, weil nur der Vater als „Haupt der Familie“ die Tauffragen zu beantworten hat, obwohl er keine Bedenken dagegen hat, wenn auch die Mutter ihre Einstimmung ausspricht.77 Zugleich mahnt Kuyper auch hier wieder zur Vorsicht.

73 Liedboek voor de Kerken, ’s Gravenhage/Leeuwarden 1973. 74 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 377: „De besnijdenis, die Oud-Testamentisch termijn bepaalde, verschoof het Sacrament acht dagen, waaruit valt af te leiden, dat de juiste termijn van den Doop tusschen de zes en de dertien dagen zal liggen.“ 75 Bavinck hat gegen die Praxis der Frühtaufe opponiert: Herman Bavinck, Ouders of getuigen. Toelichting van art. 56 en 57 der Dordsche kerkorde, Kampen 1901. Vgl. Cornelis Augustijn/ Jasper Vree, Abraham Kuyper : vast en veranderlijk. De ontwikkeling van zijn denken, Zoetermeer 1998, S. 194.226. 76 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 378; vgl. ders., E Voto Dordraceno. Toelichting op den Heidelbergschen Catechismus, Derde Deel, Kampen o. J.3, S. 61f. 77 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 378: „Het beantwoorden der Doopvragen komt ten principale voor rekening van den vader, als het hoofd van het gezin, maar niets belet, dat de moeder er mede instemme.“

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Schwierigkeiten können nicht mit Zwang gelöst werden: „Das Presbyterium leite, aber herrsche nicht.“78 Kuypers Ansicht über die Frühtaufe hat jedenfalls bis in die dreißiger und vierziger Jahre Einfluss gehabt. Das wird zum Beispiel daran deutlich, dass meine Großmutter Johanna van Keulen-Post (1909–1998) nie bei der Taufe ihrer acht Kinder anwesend gewesen ist, weil mein Großvater Isaak van Keulen (1909–1991) Befürworter der Frühtaufe war. Begreiflicherweise ist die Praxis der Frühtaufe nach dem Zweiten Weltkrieg in den Reformierten Kirchen (GKN) verschwunden. 3.7 Kirchenbau Im ersten Teil seines Buches schreibt Kuyper zehn Kapitel über das Kirchengebäude und über Architektur.79 Vom Anfang an betont er, dass eine Kirche nicht ein Heiligtum ist, sondern ein Versammlungsort.80 Sehr konsequent ist darin seine Ansicht über die Gemeinde als Versammlung der Gläubigen durchgeführt.81 Obwohl die Kunst eine Rolle beim Kirchenbau spielt – Kuyper lehnt die Gotik ab und bevorzugt den Stil der Renaissance82 –, hat der Baumeister vor allem mit dem Zweck, wofür das Gebäude gebaut wird, zu rechnen: „[D]er Bau einer Kirche unterscheidet sich, je nachdem die Kirche dienlich ist für den Altardienst oder für die Versammlung der Gläubigen, als Vorhof des Heiligtums, dass im Himmel ist.“83 Weil die Versammlung der Gläubigen zusammenkommt, um zu beten, zu singen, das Wort zu hören, die Sakramente zu empfangen und Almosen zu geben, bevorzugt Kuyper die halbrunde Form eines Amphitheaters.84 Wichtig in der Versammlung der Gemeinde ist nämlich, dass man einander sehen und hören kann. Optische 78 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 378. 79 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 103–145. Zu diesem Thema ist schon oft publiziert worden. Vgl. beispielsweise Regnerus Steensma/Cornelis Albertus van Swigchem, Honderdvijftig jaar gereformeerde kerkbouw, Kampen 1986 (vor allem der Aufsatz von John Vrieze, Abraham Kuyper en het gereformeerde kerkgebouw, S. 60–66); Klaas-Willem de Jong, „Niet meer achteraf, (…) maar in de hoofdstraat.“ De ontwikkeling van het gereformeerde kerkgebouw tot aan de Vrijmaking van 1944, in: Hendrikus Christoffel Endedijk/Jasper Vree, „Niet een handvol, maar een land vol.“ Twee eeuwen protestantse kerkbouw in de Nederlandse ruimte, Zoetermeer 2002, S. 172–205 (vor allem S. 189–192); Marissa J. Melchers, Nederlandse kerkarchitectuur in de twintigste eeuw. Functie en betekenis van het kerkgebouw in een veranderende samenleving, Dissertation Universität Leiden 2011, S. 178–185 (gedruckt 2014). 80 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 103. 81 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 103–105.110f.114f. 82 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 145. 83 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 107: „En zoo nu ook verschilt de bouw van een kerk al naar gelang die kerk zal moeten dienen voor een bediening van het altaar, of wel voor de vergadering der geloovigen, als Voorhof van het Heiligdom dat in de hemelen is.“ 84 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 114f.

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und akustische Motive spielen also eine wichtige Rolle in Kuypers Ideen über den Kirchenbau.85 Kuypers Ideale über Kirchenbau haben Ausdruck in der Architektur der Wilhelminakirche in Dordrecht gefunden, die in den Jahren 1898/1899 unter Leitung des Architekten Tjeerd Kuipers (1857–1942) gebaut wurde. In der Wilhelminakirche ist die halbrunde Form leicht erkennbar. Auch andere Kirchen, welche unter Leitung Kuipers‘ gebaut wurden, spiegeln die Ideale Abraham Kuypers wider. Aber in diesen anderen Kirchen – zum Beispiel die Koepelkirche in Leeuwarden – hat Kuipers niemals mehr die halbrunde Form im wahrsten Sinne des Wortes durchgeführt. Auch andere Architekten wie Berend Tobia Boeyinga (1886–1969), Egbert Reitsma (1892–1976) und Evert Jan Rothuizen (1888–1979) wurden von Kuyper inspiriert. Sie versuchten die Funktion des Kirchengebäudes sichtbar zu machen in ihren Entwürfen, aber benutzten nicht die halbrunde Form. Boeyinga hat übrigens Kuyper auch kritisiert. Seines Erachtens hat der „Theologe Kuyper zu sehr das Gebiet der Architektur betreten.“ Auch kritisiert er den Entwurf der Wilhelminakirche.86

4. Kuypers Bedeutung für die Liturgie in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden Abraham Kuyper hat mit seinem Buch Unser Gottesdienst natürlich Einfluss in den Reformierten Kirchen (GKN) gehabt.87 Er war der erste in den Reformierten Kirchen (GKN), der im prinzipiellen Sinn über Liturgie geschrieben hat. Wenn später in der Geschichte der Reformierten Kirchen (GKN) über Liturgie nachgedacht wurde, hat man Kuypers Buch selbstverständlich gelesen. Die sieben Beispiele – und man könnte mehr Beispiele nennen – machen aber klar, dass in vielen konkreten Teilen der Liturgie Kuypers Einfluss nicht besonders groß gewesen ist.88 Das „gutta cavat lapidem“ ist kaum zur Geltung gekommen. Das Buch Unser Gottesdienst gab Ansätze für eine „neocalvinistische“ Liturgie. Diese „neocalvinistische“ Liturgie ist aber nicht zur Entwicklung gekommen. Darum 85 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 114: „Laat men den Dienst der Sacramenten aanvankelijk ter zijde, en let men uitsluitend op den Dienst des Woords, der Gebeden en der Lofverheffing, dan springt het in ’t oog, dat de vergaderplaats der geloovigen zjj moet zijn ingericht, dat de vergaderde geloovigen elkander zien, en saam zonder te groote inspanning den Dienaar des Woords zien en hooren kunnen.“ 86 Berend T. Boeyinga, Kerkbouw en de kerk aan den Kloppensingel te Haarlem, o.O. [Haarlem] o. J. [1927], S. 8. 87 Eine breitere Analyse bieten: de Jong, Ordening van dienst, S. 41–121; Gerrit Cornelis van de Kamp, Liturgische bewustwording in de Gereformeerde Kerken, in: Martien E. Brinkman (Hg.), 100 jaar theologie. Aspecten van een eeuw theologie in de Gereformeerde Kerken in Nederland (1892–1992), Kampen 1992, S. 163–175. 88 Vgl. de Jong, Ordening van dienst, S. 120; G.C. van de Kamp, Liturgische bewustwording in de Gereformeerde Kerken, S. 174.

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kann Kuypers Buch kaum als eine der fünf Quellen für die Liturgie in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden (PKN) gelten. Damit ist nicht gesagt, dass Kuypers Buch keine Bedeutung mehr für diese Kirche haben kann. Dabei wäre nicht an die sieben Beispiele, die ich genannt habe, zu denken. Obwohl das Beispiel des Kniens im Gottesdienst noch immer aktuell ist. Der Körper spielt jedenfalls im Gottesdienst vieler PKN-Gemeinden kaum eine Rolle. Auch Kuypers Offenheit für eine andere Weise des Singens passt zu der Praxis, dass heutzutage in vielen PKN-Gemeinden nicht nur aus einem Gesangbuch89 gesungen wird, sondern oft Lieder aus mehreren Traditionen gewählt werden. Die Bedeutung von Kuypers Buch ist mehr eine prinzipielle. Die liturgische Praxis in der PKN gleicht in mindestens einer Hinsicht der liturgischen Praxis zu Kuypers Zeit. Ebenso wie damals hat heute jede Pfarrerin oder Pfarrer eine große Freiheit. Die Liturgie kann nach eigenem Gutdünken und nach eigenen Vorzügen zusammengestellt werden. Das hat eine große Vielfarbigkeit und Vielfalt hervorgebracht. Auch jetzt gilt noch der Regel, worüber Kuyper sich beklagte: Jeder Vogel singt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Liturgie wird aktuell oft aus mehreren Quellen zusammengestellt. Zurecht hat Marcel Barnard die liturgische Praxis in der PKN als eine „Bricolage-Liturgie“ bezeichnet: Schneiden und Kleben (knip- en plakwerk).90 Ist in dieser Situation nicht ein Halt geboten? Braucht man in die PKN nicht, was Kuyper „eine gewisse feste Form für den Gottesdienst“ genannt hat? Dazu kommt, dass unter Pfarrerinnen und Pfarrern in der PKN das liturgische Bewusstsein nicht groß ist. Viele tun einfach, was sie selbst „schön“ finden, ohne theologisch zu reflektieren. Auch hier hat Unser Gottesdienst Bedeutung: Mehrmals lädt Kuyper zur Reflexion ein.91 Er schreibt zum Beispiel: „Die Ordnung des Gottesdienstes muss immer liturgisch wohlüberlegt sein.“ Und: „Der Pfarrer muss immer Rechenschaft ablegen können, warum er so gewählt hat und nicht anders.“92 Ich würde mit Blick auf die PKN sagen: In liturgischem Sinne ist viel möglich, vorausgesetzt dass man hinterher bei Fragen erläutern kann, warum man es diesmal so gemacht hat. Das setzt liturgisches Bewusstsein und liturgische Kenntnis voraus. Auf diese Weise könnte Kuypers „gutta cavat lapidem“ noch immer Wirklichkeit werden.

89 Seit 2013 hat die Protestantische Kirche in den Niederlanden ein neues Gesangbuch: Liedboek. Zingen en bidden in huis en kerk, Zoetermeer 2013. 90 Barnard, Tot Gods eer, S. 37. 91 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 210f.271.276–278.317–319.356.358. 92 Kuyper, Onze Eeredienst, S. 278; vgl. S. 358.

Autoren und Autorinnen

Dr. Margit Ernst-Habib, geb. 1968, seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Historische und Systematische Theologie an der Universität des Saarlandes. Verfasserin zahlreicher Arbeiten zu Themen reformierter, feministischer und postkolonialer Theologie in internationalen Kontexten. Prof. Dr. George Harinck, geb. 1958, Hochschuldozent für Kirchengeschichte an der Theologischen Universiteit Kampen und der Vrije Universiteit Amsterdam mit dem Schwerpunkt Geschichte des Neocalvinismus. Verfasser zahlreicher Studien über Abraham Kuyper. Prof. Dr. Marco Hofheinz, geb. 1973, seit März 2012 Professor für Systematische Theologie (Schwerpunkt Ethik) an der Leibniz Universität Hannover, Institut für Theologie. Verfasser zahlreicher Studien zur reformierten Theologie. Dr. Dirk van Keulen, geb. 1963, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Universiteit Kampen, Pfarrer in Rijssen. Herausgeber der Gesammelten Werke von Arnold A. van Ruler. Dr. Jeroen Koch, geb. 1962, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kultur-, Mentalitäts- und Ideengeschichte am Historischen Institut der Universität Utrecht. Verfasser zahlreicher Bücher zum 19. und 20. Jahrhundert, u. a. Abraham Kuyper. Een biografie (Amsterdam 2006). Prof. Dr. Martin Laube, geb. 1965, seit 2011 Professor für Systematische Theologie (Lehrstuhl für Reformierte Theologie) an der Georg-August-Universität Göttingen. Verfasser zahlreicher Arbeiten zu theologiegeschichtlichen und dogmatischen Themen, insbesondere zum Freiheitsverständnis. Prof. Dr. Christine Lienemann-Perrin, geb. 1946, von 1992 bis 2010 Professorin für Ökumene, Mission, interkulturelle Gegenwartsfragen an der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Verfasserin zahlreicher Arbeiten zu Mission, Ökumene und interreligiösem Dialog.

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Autoren und Autorinnen

PD Dr. Hans-Georg Ulrichs, geb. 1966, Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Baden, Privatdozent für Kirchengeschichte an der Universität Osnabrück, Vorsitzender der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus. Herausgeber der deutschen Ausgabe von Kuypers Stone Lectures (Göttingen 2021).

Namensregister

Althusius, Johannes 124–126 Anderson, Clifford B. 31 f., 76, 105, 126 f. Andrew, Elizabeth 102 Arendt, Hannah 147 Arwert, Kornelis Jan (Kees) 178 Ashford, Bruce 34 Augustijn, Cornelis 12, 20 f., 36, 76, 106, 108, 117 f., 123 f., 126 f., 129 f., 183 Bacote, Vincent E. 106, 111, 126, 148 Balkenende, Jan Peter 31, 77 Barnard, Marcel 171, 186 Barth, Karl 7, 18, 61, 68, 70–77, 80, 92, 105, 107, 110, 113 f., 119, 130 f., 166 Bartholomew, Craig 33 f. Bavinck, Herman 17, 22, 28 f., 37, 70, 85 f., 92, 177 f., 183 Bax, Douglas 92 Beets, Nicolaas 27, 182 Berkhof, Hendrikus 76, 109, 129 Berlin, Isaiah 45 f. Bethmann Hollweg, Theobald von 65 Beyers Naud8, Frederick 92, 97, 100 Bilderdijk, Willem 182 Bishop, Steve 33, 36 Bismarck, Otto von 15, 56, 64, 67, 69, 147 Bleek, K.H.L. Walter van der 78, 118 f. Boesak, Allan A. 20, 36, 84, 93–97, 100 f., 104 Boeyinga, Berend Tobia 185 Böhl, Eduard 58 f.

Bolt, John 106, 110, 115, 126 Borries, Friedrich W.O. von 54 Botha, Andries 93 Botha, D.P. 93 Botha, Pieter Willem 94 Botman, Hayman Russell 31, 84, 93, 97–101, 104 Bottenburg, Hendrik Arnoldus (Hein) 178 Bowlin, John R. 32, 126 Bracher, Karl Dietrich 45 f., 48 Brandes, Friedrich 58 Bratt, James D. 12, 25, 31, 33, 38 f., 53, 76 f., 88, 106, 109–112, 123, 127, 130, 148 f., 151, 153 f., 158 f., 164 f., 168 Braun, Walter 78 Bräutigam, Michael 56 Bronkhorst, Johannes 177 Brugghen, Justinus van der 52 Brunner, Emil 71, 75 Busch, Eberhard 71, 75, 112 Bushnell, Katharine 102 f. Butler, Josephine 102 Cachet, Jan Lion 86 Calaminus, Heinrich 57 f. Calvin, Johannes 30 f., 33, 39, 54, 60, 68, 71 f., 76 f., 86, 89, 91, 94 f., 106–110, 112, 114, 127–130 Chamberlain, Joseph 88 Colijn, Hendrikus 17 Cone, James 93 Costa, Izaac da 182 Crocco, Stephen D. 31

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Namensregister

Dalton, Hermann 55 Deursen, Arie van 17 Dicey, Albert Venn 23 f., 28 Diepenhorst, Pieter A. 18 f. Diermanse, Johan Murk Rients 178 Dijk, Klaas 177 f. Dilloo, Friedrich Wilhelm Jacob 58 f. Domela Nieuwenhuis, Ferdinand 41 Dooyeweerd, Herman 21, 29 f. Douma, Jochem 19 Du Toit, Andr8 92 Du Toit, Jacob Dani[l 86 Du Toit, Stephanus Jacobus 84–86 Dunbar Moodie, T. 20, 92 Durand, J.J.F. 93 Eglinton, James P. 25, 34, 70 Ehlers, Hermann 80 Engels, Friedrich 44, 51 Erb, Jörg 74 Ernst-Habib, Margit 14, 96, 147, 165 Freeden, Michael

44, 48

Gerlach, Ernst Ludwig von 67 Gerstenmaier, Eugen 80 Geyser, Paul 57 Gladstone, William Ewart 15 Graham, Lawrence Gordon 32 Grob, Rudolf 71 Groen van Prinsterer, Guillaume 43, 48 f., 66 f., 86, 89 Groenewald, Evert P. 91 Gruchy, John W. de 20, 90–92 Guevara, Che 46

Hart, Maarten ’t 182 Hasebroek, Johannes Petrus 182 Hauerwas, Stanley 115 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 65, 78, 111 Heinemann, Gustav 80 Hengstenberg, Wilhelm 59, 67 Herms, Eilert 143 f. Heslam, Peter S. 25, 28, 31, 49, 106 f., 111 f., 116 Hesse, Franz Hinderk 54 Hexham, Irving 20, 86 f., 92 Hobbes, Thomas 111 Hoedemaker, Philippus Jacobus 71 Hofheinz, Marco 13, 77, 79, 105–107, 111, 113, 165 Hollweg, Walter 73 Holtey-Weber, Gustav 62 Hovy, Willem 55 Huet, H.D.P.M. 85 Hugenberg, Alfred 79 Humes, David 122 Idenburg, Alexander W.F.

22

Jaeger, Martin 62, 87, 106, 135 Jaeger, Samuel 62, 79, 135 Jonker, W.D. 93

22,

Haeckel, Ernst 65 Haitjema, Theodorus Lambertus 70–72, 105, 114 Hanekom, T.N. 90 Harinck, George 12 f., 15, 18, 20–22, 24, 27, 30, 34, 54, 61, 63, 65, 81, 105, 148, 151, 153, 160, 181 Harnack, Adolf (von) 78

Kahn, Luis Ar#nguiz 35 Kant, Immanuel 147 Kasteel, Piet A. 11, 18, 37 Kate, Jan J.L. ten 182 Kater, Lodewijk 38, 56 Keet, Barend Bartolomeus 20, 90, 92 Keller, Timothy J. 32 Keulen, Dirk van 14, 77, 103, 106, 123 f., 126, 129, 151, 158, 163, 167, 177 f. Keulen, Isaak van 184 Keulen-Post, Johanna van 184 Kinghorn, Johan 92 Kjell8n, Rudolf 119 Klerk, W.A. de 92

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Namensregister Kloos, Willem 48 Koch, Jeroen 12 f., 33, 37, 41, 53, 65–67, 73, 85, 89, 106 f., 151 Kohlbrügge, Hermann Friedrich 57–59, 72 f. Kok, John H. 18, 33 Kolfhaus, Wilhelm 12, 53, 57, 59–62, 67–75 Krijger, Tom-Eric 38, 78 Kruger, Stephanus Johannes Paulus (Paul) („Ohm Kruger“) 84 Krumwiede, Hans-Walter 73 Kubsch, Ron 77 f. Kuiper, Roel 54, 56, 89, 112 Kuipers, Tjeerd 185 Kuipers, Tjitze 26 f., 32, 62, 68, 172 Kuyper, Frederik 63 Las Casas, Bartholom8 de 102 Lasco, Johannes a 12, 23, 54 f., 77, 108 f. Laube, Martin 13, 64, 77 Lenin, Wladimir Iljitsch 46 Lensing, Helmut 79 Lepsius, Johannes 62, 66 Lewis, John R. 31, 122 Lienemann-Perrin, Christine 13, 66, 76, 83, 100, 102 Locke, John 111 Loff, Chris 93 Mandela, Nelson 94, 100 Marais, Johannes Izaak 85 Marty, Martin E. 98 Marx, Karl 44, 51, 147 McLeod, Hugh 14, 51 Menk, Gerhard 62, 78, 116–119 Middendorff, Friedrich 73, 79 Miskotte, Kornelis Heiko 74 f. Molendijk, Arie L. 37, 64 f., 77, 123, 140 Montgomery, Helen B. 102 Moor, Cornelis de 177 Moore, George Edward 122 Mouw, Richard 18, 34, 36, 39, 115

Mozart, Wolfgang Amadeus 74 Müller, E.F. Karl 57, 59 f. Müller, J.J. 90 Multatuli (Eduard Douwes Dekker) 48 Mumm, Reinhard 56, 79 Newton, Isaac 51 Nietzsche, Friedrich Oltmann, Heinrich

48, 65, 111 79

Pietersma, Ale 178 Potgieter, Frederik Johannes Mentz 90 f. Puchinger, George 19, 22, 31 f. Ramabai, Pandita 102 f. Rawls, John 111 Reitsma, Egbert 185 Riggenbach, Christoph Johannes 71 Robespierre, Maximilien de 43 Rohls, Jan 77, 111 Romein, Jan 18, 129 Rooyen, E.E. van 90 Rothuizen, Evert Jan 185 Rousseau, Jean-Jacques 71, 110 f. Ruler, Arnold A. van 19, 76, 187 Rushdoony, Rousas John 35 f. Rutgers, Frederik Lodewijk 178 Said, Edward W. 148, 152, 154 f. Savornin Lohman, Alexander F. de 22, 43 Schaay, Jo 22 Schaepman, Herman 41 Schilder, Klaas 18 f., 29, 74 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 21, 111 Scholl, Hans 71, 110, 114, 120 Schowalter, August 66, 72 Schutte, Gerrit J. 20, 85 Servet, Michel 115 Skillen, James W. 31, 106 Smit, Dirk J. 32, 149

192

Namensregister

Snel, Johan 22, 37 f., 53, 55 Soeting, Monica 47, 52 Stackhouse, Max 31, 106 Stahl, Friedrich Julius von 59, 64, 66 f., 69 Steffens, Nicolaus Martin 22, 27, 63 Stewart, Maria 36, 102 Steyn, Martinus Theunis 15 Stocker, H.G. 90 Stoecker, Adolf 54–56, 64, 67, 69, 79 Thielicke, Helmut 76 Thurneysen, Eduard 70 Til, Cornelius van 36 Tillich, Paul 131, 150 Tisza, Istv#n 15 Troelstra, Pieter Jelles 41 Troeltsch, Ernst 13, 37, 63 f., 108, 110, 133–135, 138 f. Tsele, Molefe 99 Ulrichs, Hans-Georg 12 f., 25, 36, 57–61, 65, 77, 102, 105, 112, 117–119, 123, 127, 129, 135, 149, 158, 162, 165 f. VandenBerg, Frank 19 Veenhuizen, Dirk 177 Velema, Wilhelm Hendrik

19, 99

Vi[tor, Nikolas 54 Vogel, Leroy 19, 78 Vollenhoven, Dik 21, 29 f. Vree, Jasper 12, 21, 54, 108 f., 183 f. Vries, Rimmer de 31 f., 34 Vries, Ruth de 31 f. Walzer, Michael 46 f., 50, 124 f. Weber, Max 37, 63 f., 116, 137–139 Weber, Otto 66, 71, 73 f. Westhelle, V&tor 150 White, Hayden 108, 110 Wilhelm II., Kaiser von Deutschland 66 f., 119 Wilhelm (Willem) von Oranien („Wilhelm der Schweiger“) 109, 129 Wilhelmina, Königin der Niederlande 63 Williams, Roger 127 Witte Jr., John 34, 80, 105, 109 f., 112, 117, 124, 126 Wolterstorff, Nicholas 31 Wood, John Halsey 25, 38 Zahn, Adolf 58 f. Zijlstra, Jelle 47 Zwingli, Ulrich 71, 108, 110