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German Pages 200 Year 2014
Annette König Welt schreiben
Lettre
Annette König (Dr. phil.) ist Literaturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin. Sie arbeitet als Literaturredaktorin beim Schweizer Radio und Fernsehen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind CH-Literatur, Globalisierung und Kulturpolitik.
Annette König
Welt schreiben Globalisierungstendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz
Der Druck wurde mit einem Beitrag der Basler Studienstiftung, des Max Geldner-Fonds der Universität Basel und des Werenfels-Fonds der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel unterstützt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Annette König, Verena Stössinger Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2436-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 9 1.
Einleitung | 11
1.1 1.2
Hintergrund, Hypothese und Fragestellung | 11 Textauswahl und Methode | 14
2.
Globalisierung als Begriff und Analysekategorie in den Kultur- und Literaturwissenschaften | 19
2.1 2.2
Definition von Globalisierung und Globalisierungseffekten | 19 Globalisierung als Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften | 21 Forschungsfeld ›Literatur und Globalisierung‹ | 26 Analysekategorien und Indikatoren für Globalisierungseffekte | 33
2.3 2.4
3. 3.1
Globalisierungseffekte in ausgewählter deutschsprachiger CH-Literatur | 37
Beschleunigung und Vernetzung – zwei wesentliche Qualitäten der Globalisierung am Beispiel der Romane von Peter Stamm | 37 3.1.1 Peter Stamm – Agnes, Ungefähre Landschaft und An einem Tag wie diesem im Vergleich | 38 3.1.2 Globalisierungstendenzen im Kontext neuer Technologien | 46 3.2 9/11 als ›global-village-Effekt‹ bei Jürg Amann, Christoph Geiser, Daniel Goetsch, Ruth Schweikert und Matthias Zschokke | 51 3.2.1 Internationale ›(Nach-)9/11-Literatur‹ – Katharina Hacker, Walter Grond, Paulus Hochgatterer und Jonathan Safran Foer | 54
3.2.2 Schweizer ›(Nach-)9/11-Literatur‹ | 60 3.2.3 Alles wird anders, auch in der Schweiz – 9/11 als literarische Zäsur | 70 3.2.4 Ruth Schweikert – Ohio, ein globalisierter Roman | 72 3.3 Interkulturalität – literarische Grundkonstituente im Zuge der Globalisierung? Analyse der Romane von Max Frisch, Martin R. Dean und Perikles Monioudis | 75 3.3.1 Interkulturalität als literarische Grundkonstituente | 75 3.3.2 Max Frisch – Homo faber und Montauk als signifikante Vergleichsgrößen | 82 3.3.3 Kulturelle Identitätsfindungsprozesse in Meine Väter von Martin R. Dean und Land von Perikles Monioudis | 90 3.3.4 Neue Qualitäten von Interkulturalität | 99 3.4 Das globale Bewusstsein bei Hugo Loetscher | 102 3.5 (Neue) Provinzialität – neue Formen der Vernetzung oder der Rückzug ins Eigene, Regionale bei Pedro Lenz, Roland Reichen, Alex Capus und Christoph Simon | 107 3.5.1 Provinz als Mikrokosmos | 107 3.5.2 ›(Neue) Provinzialität‹ als Regionalisierungseffekt | 112 3.5.3 Wirkungsästhetische Authentizität bei Roland Reichen und Pedro Lenz | 114 3.5.4 Vernetzte und kritische Provinzialität bei Christoph Simon und Alex Capus | 121 3.6 One world – the same life? Über die literarische Funktion von Flughafenwartehallen und anderen Nicht-Orten | 129 3.6.1 Der Nicht-Ort – Definitorisches von Marc Augé zum neuen Raumtypus | 129 3.6.2 ›One-world-Effekt‹ oder Räume des Wiedererkennens | 132 3.6.3 Die literarische Funktion von Nicht-Orten – Eine Bestandsaufnahme | 134 3.6.4 Angelika Overath – Flughafenfische | 138 3.7 Globalisierungsdiskurse am Beispiel literarischer Konzepte bei Milena Moser, Martin Suter und Lukas Bärfuss | 150 3.7.1 Globalisierung tangiert uns! | 150 3.7.2 Milena Moser – Möchtegern oder Werbung in eigener Sache | 156 3.7.3 Martin Suter – Der Koch im Kreuzfeuer globaler, wirtschaftspolitischer Machenschaften | 159
3.7.4 Politische Internationalisierung bei Lukas Bärfuss – Hundert Tage | 162 3.8 Ästhetische Strategien | 168 3.8.1 Ästhetische Strategien der CH-AutorInnen im Überblick | 168 3.8.2 Ästhetische Strategie der Ambivalenz bei Milena Moser, Martin Suter und vor allem Lukas Bärfuss | 171
4.1
Synthese & Fazit | 179 Globalisierungstendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz | 179
5.
Literatur | 185
5.1 5.2 5.3
Primärliteratur | 185 Sekundärliteratur | 186 Unveröffentlichte Typoskripte in chronologischer Abfolge | 195
4.
Vorwort
Bereits als Studentin der Germanistik und Politologie habe ich mich mit Vorliebe gesellschaftspolitischen Fragestellungen gewidmet, die der vermittelnden Funktion von Literatur besonders Rechnung trugen. Dieses Erkenntnisinteresse führte mich auf der Suche nach einem spannenden Dissertationsthema von einem zum anderen. In einem anregenden Gespräch unter Freundinnen fiel schließlich das Stichwort Globalisierung. Schlagartig war klar, dass ich von nun an Wege suchen würde, um diesen weiten Themenkomplex mit jenem der deutschsprachigen CH-Literatur – einem meiner Steckenpferde – zu verbinden. Viel Zeit und viel Lektürearbeit gingen ins Land, derweil die konzeptionelle Ausrichtung der vorliegenden Dissertation reifen durfte. Meine Untersuchung stellt sich zur Aufgabe aufzuzeigen, wie Phänomene der Globalisierung über die Erfahrungswelt der AutorInnen in die Literatur Eingang finden, und zu fragen, ob sich daraus sichtbare Tendenzen ableiten lassen. Der Vermittlung literarischer Inhalte verpflichtet, bewege ich mich dabei stets nahe an den Originaltexten. Die Publikation richtet sich daher nicht nur an ein wissenschaftliches Publikum, sondern an alle LeserInnen, die sich gerne mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur aus der Schweiz auseinandersetzen. Der Inhalt dieses Bandes entspricht einer Dissertation an der Universität Basel, die von Prof. Dr. Alexander Honold und Dr. Rolf Keller betreut wurde. Ihnen sei an dieser Stelle ein großer Dank ausgesprochen. Ebenso möchte ich mich bei der Universität Basel für die institutionelle Einbindung und beim Schweizerischen Nationalfonds für die finanzielle Unterstützung bedanken. Namentlich sei auch Verena Stössinger für das
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Lektorat und Jennifer Niediek für die redaktionelle Mitarbeit und Drucklegung herzlich gedankt. Baden, im Mai 2013
Annette König
1. Einleitung 1.1 H INTERGRUND , H YPOTHESE UND F R AGESTELLUNG Die vorliegende Dissertation möchte einen literaturwissenschaftlichen Beitrag zur Diskussion des Globalisierungsphänomens leisten und am Beispiel ausgewählter Globalisierungseffekte aufzeigen, dass Globalisierungstendenzen, die über die Erfahrungswelt der AutorInnen explizit wie implizit in die Literatur einfließen, durchaus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz auszumachen sind. Dieser Grundannahme liegt eine Begriffsdefinition von Globalisierung zu Grunde, die aus dem aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskurs abgeleitet wird, obwohl der Begriff seiner prozesshaften Natur entsprechend äußerst diffus und in der Folge schwer zu definieren ist. Kritische Stimmen mögen vielleicht auch zu Recht behaupten, dass Globalisierung einzig eine weiterführende Eigenschaft der Moderne sei und für unser heutiges vom Neoliberalismus geprägtes modernes Leben stehe. Denn bereits 1848 beschreiben Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem Manifest der Kommunistischen Partei visionär Aspekte der wirtschaftlichen und politischen Dimension der aktuellen Globalisierung. Sie sprechen von der »Exploitation des Weltmarkts durch die Bourgeoisie«1 und der »allseitigen Abhängigkeit der Nationen voneinander«2, was in der aktuellen Lesart mit Neoliberalismus und Interdependenz der Nationalstaaten assoziiert werden kann. Doch erst mit dem Fall der Berliner Mauer 1989, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem beginnenden wirtschaftlichen Aufstieg Chinas ist eine neue Ära des Zusammenwachsens der Welt angebrochen, der als Zäsur im wissenschaftlichen Globalisierungsdiskurs 1 | Vgl. Karl Marx u. Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Dies.: Werke. Bd. 4. Berlin: Dietz 1983, S. 457-493, hier S. 466. 2 | Ebenda, S. 466.
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große Bedeutung beigemessen wird. Diese Zäsur kann als Anfang der heutigen »Globalisierungsrunde«3 betrachtet werden, die sich quantitativ wie auch qualitativ durch ihre immense Beschleunigung und Vernetzung von jener um die Jahrhundertwende deutlich unterscheidet. Doch die Begriffsbestimmung der Globalisierung bedeutet nicht die einzige Herausforderung, sondern auch literaturtheoretische Positionierung. So weit die Annahmen und Erkenntnisse über das Phänomen Globalisierung in den Kulturwissenschaften auseinandergehen, so unterschiedlich sind die Auffassungen darüber, ob kulturwissenschaftliche Ansätze literaturwissenschaftliche Relevanz besitzen oder nicht. Dafür spräche, dass es durchaus eine Tradition in den Literaturwissenschaften gibt, sich mit sozialpolitischen und zeitgeschichtlichen Themen oder Milieus auseinanderzusetzen, um Zeitphänomene in Verbindung mit literarischen Gattungen literaturgeschichtlich verorten zu können. Die detaillierte und untersuchungsleitende Fragestellung der vorliegenden Dissertation lautet daher: Welche Globalisierungseffekte werden auf inhaltlicher, struktureller und sprachlicher Ebene in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz sichtbar? Nebst der Analyse der Globalisierungseffekte und deren Gewichtung im Werk, wird auf struktureller und sprachlicher Ebene fokussiert, ob sich im Zuge der Globalisierung neue literarische Ausprägungen, neue Ausdrucksformen herausbilden, die literaturgeschichtlich von Bedeutung sind. Als peripheres Forschungsziel kann zudem die vermittelnde Funktion von Literatur geltend gemacht werden, für den gesellschaftlichen Wandel im Zuge der Globalisierung zu sensibilisieren. Die Untersuchungseinheit setzt sich aus ausgewählten Romanen und Erzählungen von Schweizer AutorInnen zusammen, die zwischen 1998 und 2010 entstanden und die nach eingehender Vor-Analyse für die Thematik als bedeutsam erachtet worden sind. Die Zeitspanne der Textauswahl begründet sich daher, dass mit dem 9/11 die aktuelle Globalisierungsrunde einen ersten und mit der Wirtschaftskrise 2009 einen zweiten Höhepunkt erreicht hat. Da die literarische Rezeption gesellschaftlicher Phänomene und welterschütternder Ereignisse meist zeitlich 3 | Thomas L. Friedman: Globalisierung verstehen. Zwischen Marktplatz und Weltmarkt. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm. Berlin: Ullstein 1999, S. 16.
1. Einleitung
verspätet erfolgt, liegt der Fokus insbesondere auf jüngeren Publikationen. Die Eingrenzung auf ›deutschsprachige Schweizer Literatur‹, ist in erster Linie geografisch(-politisch) und nicht im Sinne einer ›Nationalliteratur‹ zu verstehen. Die Schweiz, in mitten von Europa gelegen und doch kein Mitglied der Europäischen Union, hat trotz bilateraler Abkommen eine wirtschaftspolitische Sonderrolle inne und demzufolge eine eigene Wahrnehmung des Globalisierungsphänomens. Die Relevanz der vorliegenden Dissertation ist maßgeblich durch das noch recht wenig bearbeitete Forschungsfeld ›Literatur und Globalisierung‹ gegeben. Diese Lücke wird durch den aktuellen Forschungsstand verdeutlicht, die daraus sich ergebende Aktualität der Fragestellung begründet und die Richtigkeit der Grundannahme verifiziert. Literaturwissenschaftliche Publikationen, die sich in ähnlicher Weise der Thematik nähern, sind nur spärlich vorhanden und befassen sich meist nur partiell, dafür höchst eloquent mit Teilaspekten des Globalisierungsphänomens. So erschienen 1991 Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend: Harvard-Vorlesungen von Italo Calvino, 2000 ein von Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra editierter interdisziplinärer Sammelband Literatur im Zeitalter der Globalisierung, 2001 der Artikel Globalisierung – Ein Begriff auch der Literaturwissenschaft? von Matthias Prangel, 2004 eine Werkausgabe German Literature in the Age of Globalisation, herausgegeben von Stuart Taberner, 2005 von demselben Autor eine Gesamtschau über die Deutsche Literatur der 1990er Jahre unter dem Titel German literature of the 1990s and beyond. Normalization and the Berlin Republic sowie ZwischenWeltenSchreiben von Ottmar Ette, Die Erfindung der Welt. Globalität und Grenzen in der Kulturgeschichte der Literatur von Karl S. Guthke, 2006 eine Einführung Interkulturelle Literaturwissenschaft von Michael Hoffmann, 2007 Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur von Elke Sturm-Trigonakis, 2008 Periphere Zentren und zentrale Peripherien? Kulturen und Regionen Europas zwischen Globalisierung und Regionalität, herausgegeben von Wilhelm Amann, Georg Mein und Rolf Parr, im gleichen Jahr Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, herausgegeben von Evi Zemanek und Susanne Krones sowie 2010 ein zweiter Tagungssammelband von Wilhelm Amann, Georg Mein und Rolf Parr unter dem Titel Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven.
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Das verbindende Element, dieser für das Forschungsfeld ›Literatur und Globalisierung‹ wichtigsten und einschlägigsten Werke ist: Sie gehen alle von der Annahme aus, dass Globalisierung in der Literatur sichtbare Spuren hinterlässt. Diese Spuren, hier Globalisierungseffekte genannt, divergieren stark, doch in der Gesamtschau konkretisieren sie einige aus literarischer Perspektive interessante, aus den Kulturwissenschaften abgeleitete Analysekategorien und Indikatoren, auf die zu einem späteren Zeitpunkt einzugehen sein wird.
1.2 TE X TAUSWAHL UND M E THODE Für die Textanalyse wurden Romane und Erzählungen von AutorInnen ausgewählt, die nach dem Ermessen der deutschsprachigen Literaturkritik und der Verfasserin der vorliegenden Dissertation als bedeutend erachtet werden und hinsichtlich der untersuchungsleitenden Fragestellung Erkenntnispotential enthalten. Da der Schwerpunkt auf beiden Auswahlkriterien liegt und nicht einzig auf dem des Erkenntnispotentials, liegt keine Selektion vor, die die Repräsentativität und Validität der Ergebnisse schmälern würde. Vielmehr gewinnen die in den Werken enthaltenen und aufzuzeigenden Globalisierungstendenzen damit an Gewicht und können als exemplarisch für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur angeführt werden. Bei der Auswahl der AutorInnen wurden auch Newcomer berücksichtigt, die am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn stehen und noch nicht über große Publizität verfügen. Auf Grund der Aktualität und der exemplarischen Bedeutung der Texte, musste leider die Textauswahl begrenzt werden, auch wenn viele weitere Werke namhafter AutorInnen, die nun hier unerwähnt bleiben, es verdient hätten, in das Textkorpus aufgenommen zu werden. Die folgende Übersicht listet die AutorInnen mit ihren Texten und den jeweiligen Erscheinungsdaten in alphabetischer Reihenfolge auf. Hellgrau markiert sind die Texte, die schwerpunktmäßig in die Analyse einfließen, grau markiert Texte, die im internationalen Vergleich herangezogen werden. Auf die Anführung weiterer AutorInnen und ihrer Texte, die nur am Rande Erwähnung finden, wird verzichtet.
1. Einleitung
Tabelle I: Übersicht Textauswahl Amann, Jürg
Zimmer zum Hof
Bärfuss, Lukas
Hundert Tage
2008
Capus, Alex
Glaubst du, daß es Liebe war
2003
Dean, Martin R.
Meine Väter
2003
Frisch, Max
Homo faber
1957
Frisch, Max
Montauk
1975
Geiser, Christoph
Wenn der Mann im Mond erwacht
2008
Goetsch, Daniel
Ben Kader
2006
Lenz, Pedro
Der Goalie bin ig
2010
Loetscher, Hugo
Die Augen des Mandarin
1999
Loetscher, Hugo
War meine Zeit meine Zeit
2009
Monioudis, Perikles
Land
2007
Moser, Milena
Möchtegern
2010
2006
Overath, Angelika
Flughafenfische
2009
Reichen, Roland
Aufgrochsen
2006
Schweikert, Ruth
Ohio
2005
Simon, Christoph
Luna, Llena
2003
Stamm, Peter
Agnes
1998
Stamm, Peter
Ungefähre Landschaft
2001
Stamm, Peter
An einem Tag wie diesem
2006
Suter, Martin
Der Koch
2010
Zschokke, Matthias
Maurice mit Huhn
2006
Foer, Jonathan Safran
Extremely Loud & Incredibly Close
2007
Grond, Walter
Der gelbe Diwan
2009
Hacker, Katharina
Die Habenichtse
2006
Hochgatterer, Paulus
Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen
2008
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Die oben aufgeführten Texte werden im Analyseteil auf darin enthaltene Globalisierungseffekte untersucht. Dabei wird der Fokus auf die im weiteren Verlauf der Forschungsarbeit noch zu spezifizierenden Indikatoren für Globalisierungseffekte gelegt (vgl. Tabelle III). Mit Globalisierungseffekten sind die beobachtbaren Auswirkungen von Globalisierungsprozessen auf unsere Umwelt, auf unser Leben gemeint, die durch die Erfahrungswelt des/der AutorIn und seine/ihre Auffassung von sozialer Wirklichkeit in die Literatur einfließen. Es handelt sich bei der Analyse um qualitative Forschung, da über den Untersuchungsgegenstand noch relativ wenig Wissen vorliegt. Diesem Umstand entsprechend ist es umso wichtiger, dass das Vorgehen klar, transparent und nachvollziehbar ist. Das Vorgehen ist induktiv. Es wird wie bei der Erarbeitung der Indikatoren für Globalisierungseffekte vom Einzelfall auf das Allgemeine, Gesetzmäßige geschlossen. Um Globalisierungstendenzen aufzeigen zu können, werden die Globalisierungseffekte aus jedem einzelnen Text herausgelöst und nach ihrer Häufigkeit aufgelistet. Diese Auflistungen haben insofern quantifizierbaren Charakter, dass sie die Systematisierung erleichtern und den Vergleich mit anderen Texten vereinfachen. Verfahrenstechnisch wird eine Kombination von Längs- und Querschnittsanalysen angewandt, da einige AutorInnen mit ihren Romanen über eine Zeitspanne von mehreren Jahren und andere AutorInnen zum mehr oder weniger gleichen Zeitpunkt untersucht und aufeinander bezogen werden. Um die literaturgeschichtliche Aussagekraft der Untersuchung hervorzuheben, erfolgt die Auswertung der Analyse nach thematischen Schwerpunkten, wobei die Gesamtschau aller in den jeweiligen Texten auszumachenden Globalisierungseffekte etwas in den Hintergrund tritt und teils auch an anderer Stelle aufgenommen wird. Der Verlauf der Analyse orientiert sich mehrheitlich nach den Analyseebenen Ort, Kultur, Globalisierung und literaturgeschichtliche Verortung. Um die Texte im Hinblick auf ihren Ästhetisierungsgrad, ihre literarische Adaptionsweise von Globalisierungseffekten sowie ihre literaturgeschichtliche Bedeutsamkeit beurteilen und untereinander vergleichbar machen zu können, wird für die Textanalyse schließlich zudem ein Wer-
1. Einleitung
tungsmodell beigezogen, welches einige Kriterien der Literaturkritik4 aufgreift, die in der folgenden Abfolge gewichtet sind: Tabelle II: Übersicht Kriterien Literaturkritik 1. Originalität/Innovation des Textes auf: •
inhaltlicher Ebene (Themen, Stoffe, Motive)
•
sprachlicher Ebene (Ausdruckskraft, Wortwahl, Wortgewandtheit)
•
struktureller Ebene (Romananlage/Handlungsauf bau)
2. Stimmigkeit/Komplexität des Textes, der einzelnen Textbausteine, bezogen auf: •
Romananlage und Handlungsaufbau
•
Auf bau von Erwartungsspannung und deren Auflösung
3. Sprache/Ausdruck hinsichtlich: •
sprachlicher Kompetenz
•
Kohärenz der ästhetischen Strategie
4. Reflexionsgrad des Textes hinsichtlich: •
Erkenntnisbedeutsamkeit
•
Anregung zur Reflexion
5. Polyvalenz/Offenheit in der Deutbarkeit des Textes, bezogen auf: •
Zeitkritik
•
Auseinandersetzung mit großen literarischen Stoffen und Motiven der Weltliteratur (Liebe, Schmerz, Verlust, Gewalt etc.)
4 | Vgl. Hans-Dieter Gelfert: Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet. München: Beck 2006; vgl. Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (UTB) 2004.
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Das Wertungsmodell ist als Grundlage zu verstehen, welches einen Beitrag zur Herleitung gewisser Argumentationsketten in den thematisch unterschiedlich ausgestalteten Analysekapiteln leisten kann, aber nicht zwingend muss. Es kann beispielsweise damit verdeutlicht werden, warum ein Text in seiner Ästhetisierung und in seiner literarischen Adaption eines Globalisierungseffekts nicht gelungen ist oder umgekehrt einem anderen Text überlegen ist. Als Erstes folgt nun in der theoretischen Standortbestimmung die Definition von Globalisierung und Globalisierungseffekten, dann eine kulturwissenschaftliche Einbettung des Forschungsgegenstandes, seine literaturwissenschaftliche Konkretisierung und last but not least als Quintessenz die daraus kultur- und literaturwissenschaftlich abgeleiteten Analysekategorien und Indikatoren für Globalisierungseffekte (vgl. dazu Tabelle III).
2. Globalisierung als Begriff und Analysekategorie in den Kultur- und Literaturwissenschaften 2.1 D EFINITION VON G LOBALISIERUNG UND G LOBALISIERUNGSEFFEK TEN Globalisierung ist zu einem »buzz-word« 1 unserer Zeit geworden, welches zügig einen Bedeutungswandel vom ursprünglichen Wirtschaftsterminus bis hin zum globalisierungskritischen »Reizwort«2 erfahren hat. Etymologisch ist Globalisierung ein Begriff jüngeren Datums, abgeleitet vom Adjektiv global, welches – seit McLuhan (1962) vom »global village« 3 sprach – und durch die Anführung von Suffixen wie -ismus, -ität und -isierung stetig erweitert worden ist. Er bezeichnet in seiner Bedeutung ganz unverbindlich den Prozess des Wachstums weltweiter, gegenseitig abhängiger Netzwerke über staatliche Grenzen hinweg und hat sich als Schlüsselbegriff von Theorien des sozialen und kulturellen Wandels sowie von jenen der Modernisierung abgelöst. Stand Modernisierung mit ihren gesellschaftlichen Implikationen im Zeichen von Urbanität und Technik4, um zwei Schlagworte zu nen1 | David Held: A Globalizing World? Culture, Economics, Politics. London: Routledge 2000, S. 4. 2 | Dieter Ruloff: Globalisierung – eine Standortbestimmung. Zürich: Rüegger 1998, S. 12. 3 | Vgl. Marschall McLuhan u. Bruce R. Powers: The Global Village. Transformations in World Life and Media in the 21st Century. New York: Oxford University Press 1989. 4 | Vgl. Heidemarie Uhl (Hg.): Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900. Wien: Passagen 1999.
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nen, so können der Globalisierung darüber hinaus neue Qualitäten zugeschrieben werden, wie jene der Technologisierung, Beschleunigung und Vernetzung. Betrachten wir die Titel jüngerer Publikationen zu diesem kulturwissenschaftlichen Forschungsgegenstand, so wird die Bemühung um Abgrenzung von der Moderne offensichtlich: The Consequences of Modernity5, Beyond Modernity6, Modernity at Large 7 oder gar Empire. Die neue Weltordnung.8 Im wissenschaftlichen Diskurs wird Globalisierung als ein in seinem Ausgangs- und Kernpunkt wirtschaftliches Phänomen betrachtet, welches durch den zentralen und beschleunigenden Motor der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien am Leben gehalten und vorangetrieben wird. Der Begriff steht sowohl für den weltumspannenden Fluss von Arbeit, Kapital, Menschen, Ideen, Bildern und Waren, als auch für die »Verschaltung von Kommunikation, Produktion und Konsum«9 und die damit einhergehenden wechselseitigen Prozesse der kulturellen Homogenisierung, Standardisierung und Differenzierung, der »particularization of the universal and the universalization of the particular«.10 Um den Globalisierungsbegriff besser in seiner Vielschichtigkeit und Prozessartigkeit systematisch erfassen zu können, wird im wissenschaftlichen Globalisierungsdiskurs zudem oft zwischen wirtschaftlicher, politischer, ökologischer und kultureller Globalisierung unterschieden, obwohl die Trennschärfe zwischen diesen Bezeichnungen oft verschwom5 | Vgl. Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. 6 | Vgl. Martin Albrow: Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im globalen Zeitalter. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. 7 | Vgl. Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: University of Minnesota Press 2005. 8 | Vgl. Michael Hardt u. Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn. Frankfurt a.M., New York: Campus 2003. 9 | Vgl. Manuel Castells: Das Informationszeitalter. Teil 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Opladen: Leske + Budrich 2001. 10 | Roland Robertson: Globalisation. Social Theory and Global Culture. London, Newbury Park, New Delhi: SAGE Publications 1992, S. 177f.; vgl. auch Appadurai: Modernity at Large und Albrow: Abschied vom Nationalstaat.
2. Globalisierung als Begriff und Analysekategorie
men ist und die Begrifflichkeiten auch mittels Beschreibungskategorien und Assoziationsfeldern nie abschließend definiert werden können. Die Auswirkungen dieser Prozesse, kurz Globalisierungseffekte genannt, auf unser Leben sind offenkundig und werden insbesondere von den Sozial- und Kulturwissenschaften seit den 1990er Jahren untersucht.
2.2 G LOBALISIERUNG ALS F ORSCHUNGSGEGENSTAND DER K ULTURWISSENSCHAF TEN In den jüngeren Kulturwissenschaften wird meist von einem breiten Kulturbegriff ausgegangen, der Kultur als reproduziertes Handeln im Sinne Pierre Bourdieus »Habitus«11, als soziale Praxis und als Referenz auf die Art und Weise, wie Menschen ihren Alltag leben bestimmt.12 Zu diesem anthropologischen Verständnis, Kultur als Lebensweise zu betrachten, gehören zum Beispiel Essgewohnheiten, Mode, Sport, Unterhaltung, Reisen, Massenmedien gleichermaßen wie kulturelle Aktivitäten, Kunst und Literatur.13 Die Kulturwissenschaften versuchen auf dieser Grundlage aufzuzeigen, dass im Zuge der Globalisierung eine globale Kulturindustrie, eine ›Weltkultur‹ 14 ohne nationale Schranken, im Entstehen begriffen ist, die einerseits eine zunehmende Angleichung kultureller Symbole und Lebensformen, andererseits das Entstehen neuer hybrider Kulturen bewirken kann.15 Die materielle Welt wird so nicht bloß als passive Ressource für soziales Handeln verstanden, sondern mischt in den sozialen und kulturellen Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion mit.
11 | Karl H. Hörning u. Julia Reuters: Doing Material Culture. Soziale Praxis als Ausgangspunkt einer realistischen Kulturanalyse. In: Andreas Hepp u. Rainer Winter (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 109-123, hier S. 112. 12 | Vgl. Richard Lee: Globalization, Language, and Culture. Chelsea: Chelsea House Publishers 2006, S. 21. 13 | Vgl. Bernd Wagner: Kulturelle Globalisierung. Zwischen Weltkultur und kultureller Fragmentierung. Essen: Klartext 2001, S. 26f. 14 | Vgl. Peter L. Berger: Die vier Gesichter der globalen Kultur. In: Europäische Rundschau, Bd. 26. (1998), S. 105-114. 15 | Vgl. Wagner: Kulturelle Globalisierung, S. 11-14.
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Dabei gilt darüber Konsens, dass durch die Revolution der neuen Technologien als zentraler und beschleunigender Motor der Globalisierung, – dazu gehören nebst den Informations- und Kommunikationstechnologien auch Verkehrs- und Transportmittel – ein tiefgreifender Wandel unserer räumlichen und zeitlichen Ordnungsmuster stattgefunden hat. Die Vernetzung in globalem Maßstab ermöglicht neue Formen der Gleichzeitigkeit in noch nie da gewesenem Ausmaß. Dabei kommt dem World Wide Web eine besonders große Bedeutung zu. Die neuen Kommunikationstechnologien (wie etwa E-Mail, Skype, Facebook, Twitter, Youtube) vernichten Entfernung, stellen Nähe über Distanz und Distanz in der Nähe her, sowie Abwesenheit an demselben Ort. Durch die neue Macht globaler Imaginationsindustrien, werden lokale Lebensformen mit Vorbildern versetzt, werden wir von Ereignissen erschüttert, die sozial und räumlich weit entfernt sind. Diese »global-village-Effekte«16, die paradoxerweise die Welt zu einem ›globalen Dorf‹ schrumpfen lassen, schärfen den lokalen Blick für das Globale, während gleichzeitig nationale Territorien unterlaufen, Traditionen aufgelöst und die Zirkulation von Menschen, namentlich durch die Verbilligung von Verkehrs- und Transportmitteln, befördert werden.17 Durch die verstärkte Mobilität entwickeln Gemeinschaften, ebenso wie Individuen, Beziehungsnetzwerke, um Albrows Theorie der »sozioscapes«18 aufzunehmen, die losgelöst von einem lokalen Umfeld existieren können. Menschen, die unter globalisierten Bedingungen an einem Ort leben, können daher ein Leben in einem Zustand des unzusammenhängenden Nebeneinanders führen. Das einzelne Individuum ist demzufolge in der Lage, ein Leben in mehreren, sich teilweise überlagernden Sozioscapes zu leben. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ist dadurch immer weniger von einem bestimmten Territorium abhängig.19
16 | Vgl. McLuhan and Powers: The Global Village; Albrow: Abschied vom Nationalstaat, S. 229; Appadurai: Modernity at Large, S. 29; Giddens: Konsequenzen der Moderne, S. 85. 17 | Vgl. Appadurai: Modernity at Large, S. 33ff. 18 | Albrow: Abschied vom Nationalstaat, S. 245. 19 | Peter Noller: Globalisierung, Raum und Gesellschaft. Elemente einer modernen Soziologie des Raumes. In: Berliner Journal für Soziologie 10 (2001), S. 2148, hier S. 21.
2. Globalisierung als Begriff und Analysekategorie
Die Gefahr von traditions- und identitätsauflösenden Konsequenzen 20 einer homogenisierten Weltkultur, die die kulturelle Identität des einzelnen Individuums zu erschüttern und Prozesse der Selbstreflexion auszulösen vermag21, bringt Joseph Stiglitz in einem Interview auf den Punkt: Wenn überall auf der Welt die Menschen die gleichen billigen in China genähten T-Shirts tragen, deren Baumwolle aus Bolivien stammt und die in Korea verarbeitet wurde, dann rückt überall das Wissen um die eigenen kulturellen Schätze und Entwicklungspotentiale in den Hintergrund. 22
Die Einflüsse von Homogenisierungsprozessen auf die Weltkultur werden in den Kulturwissenschaften in der Diskussion um die Ambiguität des Globalisierungsbegriffs im Spannungsfeld – um einige begriffliche Gegensätze zu nennen – von »Homogenisierung«23 oder »McDonaldisierung«24 versus »Hybridisierung«25, »Multiplikation« versus »Diversifikation von Welten«26, »Amerikanisierung«27 versus »Kosmopolitisie-
20 | DRS 2: Kontext. Globalisierung – Verheißung oder Verhängnis? Gespräch mit Joseph Stiglitz vom 05.12.2006. 21 | Castells: Die Macht der Identität, S. 13; Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge: Polity Press 1991, S. 5; Giddens: Konsequenzen der Moderne, S. 72; vgl. Anthony Giddens: Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 51-67. 22 | DRS 2: Kontext. Globalisierung – Verheißung oder Verhängnis? 23 | Appadurai: Modernity at Large, S. 17. 24 | Ebenda, S. 29; Georges Ritzer u. Todd Stillman: McDonaldisierung, Amerikanisierung und Globalisierung. Eine vergleichende Analyse. In: Ulrich Beck, Natan Sznaider u. Rainer Winter (Hg.): Globales Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierung. Bielefeld: transcript 2003, S. 44-68, hier S. 64. 25 | Albrow: Abschied vom Nationalstaat, S. 147 u. 234. 26 | Ebenda, S. 234. 27 | Appadurai: Modernity at Large, S. 17. u. 32.; Roland Robertson: Was heißt nun Amerikanisierung? In: Beck, Sznaider u. Winter (Hg.): Globales Amerika?, S. 327-336, hier S. 328.
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rung«28, »Enttraditionalisierung«29 versus »Fundamentalisierung«30 zum Ausdruck gebracht. Im Zuge der Globalisierung wird es dadurch für das einzelne Individuum entweder unbedeutend, seine kulturelle Identität mittels kulturellen Differenzen, sprich in der Abgrenzung zu anderen kulturellen Identitäten, innerhalb von bestimmten Kategorien wie beispielsweise Nationalität, Tradition oder Geschlecht zu bestimmen oder eben gerade in Reaktion darauf existentiell wichtig.31 Fundamentalisierungs- und Enttraditionalisierungsprozesse gehen dabei Hand in Hand, da sie miteinander stark korrelieren und sich gerade in ihrer gegenläufigen Bewegung verstärken können. Die aktuelle Reaktion der muslimischen Welt auf die Hegemonie Amerikas und Europas verdeutlichen diese Prozesse. 9/11 wurde geradezu zum Sinnbild der Internationalisierung des Terrorismus, der maßgeblich durch den Einsatz neuer Technologien gestärkt wird. Die eigene Biografie wird globalisiert, das eigene Leben wird zum »Ort des Glokalen«.32 Das von Appadurai und Beck angeführte substantivierte Adjektiv glokal wird im Globalisierungsdiskurs in Anlehnung an den von Roland Robertson geprägten Begriff der »Glokalisierung«33 verwendet. Glokalisierung bezeichnet das »Ineinanderblenden von glo-
28 | Ulrich Beck: Verwurzelter Kosmopolitismus. Entwicklung eines Konzepts aus rivalisierenden Begriffsoppositionen. In: Beck, Sznaider u. Winter (Hg.): Globales Amerika?, S. 25-43, hier S. 26. 29 | Vgl. Giddens: Entfesselte Welt, S. 51-85. 30 | Robertson: Was heißt nun Amerikanisierung, S. 330; Arjun Appadurai: Globale ethnische Räume. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 11-40, hier S. 14; Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen. München: Beck 2002, S. 31; Giddens: Entfesselte Welt, S. 65; vgl. Manuel Castells: Das Informationszeitalter. Teil 2: Die Macht der Identität. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 15-23. 31 | Vgl. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Karl H. Hörning u. Rainer Winter (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 393-441. 32 | Ulrich Beck: Was ist Globalisierung. Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 129. 33 | Robertson: Globalisation, S. 173, 177 u. 184.
2. Globalisierung als Begriff und Analysekategorie
bal und lokal«34 und gilt als Grundkonstituente der Globalisierung, die literarisch zu einer neuen Qualität vernetzter Provinzialität führen kann. Die Ortsgebundenheit verliert an Bedeutung, wir leben mehr und mehr »ein Leben in Bewegung«35, ein massenmedial gestütztes und geprägtes, ein transnationales Leben. Interkulturelle Begegnungen resultieren daraus als logische Folge. Funktionale Räume, so genannte Nicht-Orte, um den ins Deutsche übersetzten Terminus »non-lieux«36 von Marc Augé zu verwenden, gewinnen gegenüber herkömmlichen, historischen Orten zunehmend an Bedeutung. Unter Nicht-Orte lassen sich insbesondere funktionale Räume wie Internet-Cafés, Flughafenwartehallen, Autobahnraststätten, Hotels internationaler Ketten, Einkaufszentren, Schnellimbissrestaurants globaler Konzerne etc. subsumieren. Ihnen ist eigen, dass sie Vertrautheit über Funktionalität herstellen können, und damit dem sich darin befindlichen Individuum das Gefühl geben, unabhängig vom konkreten Ort in einer ihm vertrauten Welt zu sein. Gleiche Wirkungsweise kann auch über die Instrumentalisierung durch zum Beispiel Piktogramme, Verbotstafeln, Reklame- und Straßenschriftzüge hergestellt werden. »One-world-Effekte«37 können jedoch auch an Orten auftreten, die historisch gewachsen sind. Beispielsweise zeichnen sich mittlerweile Großstädte auf der ganzen Welt durch ähnliche Standards aus, die aus ihrer wirtschaftlichen Aktivität heraus resultieren. Wirtschaftliche Prosperität im Zuge von Globalisierung geht nicht nur mit marktsegmentierenden Differenzialisierungsprozessen einher, sondern immer auch bis zu einem gewissen Grad mit Standardisierungs- und Homogenisie34 | Roland Robertson: Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 192-220, hier S. 198. 35 | Vgl. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. ÜberLebensWissen, Bd. 2. Berlin: Kadmos 2005. 36 | Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1994, S. 44ff. 37 | Monika Schmitz-Emans: Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. In: Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans u. Kerst Walstra (Hg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 285-315, hier S. 297.
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rungsabläufen, die sich markant auf das Erscheinungsbild, auf die Funktionalität der Großstadt, aber auch auf das Leben per se darin auswirken. Literarisch gesehen kann so eine stereotype Großstadtbeschreibung, oder die Wahl einer x-beliebigen Großstadt als Handlungsort, als ›one-worldEffekt‹ bezeichnet werden, da der Ort auswechselbar erscheint und in seiner Funktion dem/der LeserIn gerade durch seine Unspezifik Vertrautheit suggeriert. Was hier in kompakter Form aus den Erkenntnissen der Kulturwissenschaften resümiert wurde, ist nur ein kleiner Ausschnitt möglicher Analysekategorien und Indikatoren für Globalisierungseffekte, die aber für die Analyse der Romane inhaltlich und strukturell leitend sind und im Folgenden durch die bereits existierenden Ergebnisse aus dem eingangs angetönten Forschungsfeld ›Literatur und Globalisierung‹ konkretisiert und ergänzt werden.
2.3 F ORSCHUNGSFELD ›L ITER ATUR UND G LOBALISIERUNG ‹ Obwohl Literatur Bestandteil eines breit gefassten Kulturbegriffs ist und mittels ihrer durch Phantasie und Fiktion zum Ausdruck gebrachten Virtualität in ihrem Innersten als global betrachtet werden kann, wurde ihr im literaturwissenschaftlichen Globalisierungsdiskurs bis Ende der 1990er Jahre meist nur als Weltliteratur in Verbindung mit Weltkultur Aufmerksamkeit geschenkt. In diesem Kontext wurde Goethes Auffassung von Weltliteratur im Sinne eines transnationalen Kulturraums oder eines international gedachten Forums nationaler, homogener Literaturen und nationaltypischer Repräsentanten oder in Abgrenzung zu einer im Zuge der Globalisierung entstandenen neuen Weltliteratur als Ausdruck für die universelle Erscheinung des Partikularen teils kontrovers diskutiert.38 38 | Vgl. Michael Böhler: National-Literatur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Überlegungen zu den kulturtopographischen Raumstrukturen in der Gegenwartsliteratur. In: Zeitschrift für deutschsprachige Kultur und Literaturen 11 (2002), S. 178-216; Horst Steinmetz: Globalisierung und Literatur(geschichte). In: Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans u. Kerst Walstra (Hg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung, S. 189-201, hier S. 194;
2. Globalisierung als Begriff und Analysekategorie
Der Globalisierung als realexistierendes literaturgeschichtlich relevantes Phänomen, losgelöst von Moderne oder Postmoderne, wurde jedoch nur am Rande Beachtung geschenkt. Dieser Abstinenz setzte 2000 Monika Schmitz-Emans in ihrem miteditierten Sammelband unter dem Titel Literatur im Zeitalter der Globalisierung ein Ende. In ihrem Beitrag zeigt sie auf, dass Wirkungsweisen und Folgen der Globalisierung anhand von Beschreibungskategorien auf literarische Texte einwirken können. Anhand von Handkes Text In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus weist sie nach, dass Verkehrswege darin von konstitutiver Bedeutung sind und als negative Folge der Globalisierung bewirken, dass der eine Handlungsort in die Isolation und der andere, komplementäre Handlungsort als Knotenpunkt im Netz der Verkehrswege zum Inbegriff eines identitätslosen Ortes wird, in dem alle kulturellen Differenzen in Einebnung begriffen sind. Mit der Instrumentalisierung von Namensschildern und Reklame-Schriftzügen wird zudem ein ›one-world-Effekt‹ erzeugt, der für eine Nicht-Kultur des internationalen Massentourismus stehen soll. 39 Handkes Roman leistet nach Schmitz-Emans mit der Darstellung der Ambivalenz zeitgenössischer Vernetzung von Nähe und Ferne und der damit verbundenen Relativierung von trivial-fortschrittsoptimistischen wie einseitig kulturpessimistischen Einschätzungen, mit seiner Reflexion über die Dialektik von Globalisierung und Separierung, von Vernetzung und Isolation einen Beitrag zur Beschreibung und Interpretation von Globalisierungseffekten. Auch der Artikel von Matthias Prangel Globalisierung – ein Begriff auch der Literaturwissenschaft? greift gewisse, von Schmitz-Emans schon beschriebene Kategorien auf, beispielsweise das Element des räumlich-zeitlich Entfernten, des nationalstaatlich Lokalen und transnational Globalen in Verbindung mit dem sich erinnernden globalisierten Bewusstsein der Protagonistin in Uwe Johnsons Roman Jahrestage, welches eine virtuelle Welt des Glokalen in Anlehnung an Robertsons Glokalisierungsbegriff entstehen lässt.40 vgl. Elke Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 26-46. 39 | Schmitz-Emans: Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse, S. 297. 40 | Matthias Prangel: Globalisierung – ein Begriff auch der Literaturwissenschaft? Unter anderem zu Uwe Johnsons Roman Jahrestage. In: Neophilologus 85 (2001), S. 323-334, hier S. 331.
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Diese kulturwissenschaftlich begründete Herangehensweise an das literarische Globalisierungsphänomen wird von Ottmar Ette 2005 fortgesetzt, der den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts literaturwissenschaftlich transareal zu begegnen sucht. In seinem 2005 erschienenen Buch ZwischenWeltenSchreiben verdeutlicht er, wie die heutigen global wirksamen Risiken mittels kultur- und geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung angegangen werden können. Die Erforschung der ›Literaturen ohne festen Wohnsitz‹ eröffne der Literaturwissenschaft die Chance, eine Lebenswissenschaft zum Zusammenleben in Differenz zu entwickeln und die Aufgabe der Philologie neu zu bestimmen. Der Begriff der ›Literaturen ohne festen Wohnsitz‹ dürfe dabei aber nicht mit dem Begriff der Migrationsliteratur oder der Exilliteratur gleichgesetzt werden. Ette begründet dies damit, dass die transarealen, transkulturellen und translingualen Dynamiken im Zeichen eines ständigen und abschließbaren Springens zwischen Orten und Zeiten, Gesellschaften und Kulturen eine ›Literatur ohne festen Wohnsitz‹ in den Mittelpunkt rückten, die als querliegendes Konzept weder in Kategorien wie National-, Migrations-, oder Weltliteratur gänzlich aufgingen oder adäquat beschrieben werden könnten. Als grundlegendem Bestandteil jeglicher Literatur in Bewegung widmet Ette den Traditionslinien der Reiseliteratur, die er hinsichtlich der multi-, trans- und interdisziplinären Bereiche Kulturen, Sprachen, Medien, Zeiten, Räume und Bewegungen untersucht, besondere Aufmerksamkeit.41 Ebenfalls einen Blick über Grenzen hinweg, um damit umso spürbarer die Grenzen menschlicher Existenzerfahrungen aufdecken zu können, wagt Karl S. Guthke in seinem kulturgeschichtlich konzipierten Werk Die Erfindung der Welt 42, in dem er sich mit der Thematik der Globalität und der Grenzen in der Literatur im 18. und 19. Jahrhundert befasst. Beide Autoren bieten interessante literaturwissenschaftliche Anknüpfungspunkte an die kulturwissenschaftliche Konzeption des Glokalen. Wilhelm Amann, Georg Mein und Rolf Parr führen den Diskurs um raumtheoretische Veränderungen in Europa fort. In Periphere Zentren
41 | Vgl. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben, S. 14-23. 42 | Karl S. Guthke: Die Erfindung der Welt. Globalität und Grenzen in der Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen: Narr Francke Attempto 2005.
2. Globalisierung als Begriff und Analysekategorie
oder zentrale Peripherien?43 richten die Editoren das Augenmerk auf die Neuverhandlung des für die Moderne klassisch-asymmetrischen Binarismus von Metropole versus Provinz in Form von Globalität versus Lokalität. Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kultur und Literatur wird 2006 von Michael Hofmann weitergeführt. Der Band Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung untersucht, wie interkulturelle Prozesse mit Modellen und Konzepten der Interkulturalität, Fremdheit und Differenz, unter Mitberücksichtigung kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Folgen, der Hermeneutik des Fremden und der Dekonstruktion nach Derrida aus literarischen Texten herausgefiltert werden können und bietet interessante Möglichkeiten, literaturwissenschaftlich an die Theorie der Hybridisierung, des ›dritten Raumes‹ nach Homi Bhabha44, anzuknüpfen.45 Interkulturalität ist gemäss Hofmann nicht einfach als kultureller Austausch zu verstehen, sondern zielt auf ein intermediäres Feld, welches sich im Austausch der Kulturen als Gebiet eines neuen Wissens herausbildet. Und kulturelle Identität ist nicht durch die vermeintlich objektiv bestehenden kulturellen Differenzen zwischen Herkunftsland und der Mehrheitskultur zu definieren. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass jedes Individuum durch den kulturellen Austausch einen eigenen ›dritten Raum‹ besetzt und eine sich immer wieder neu konstituierende hybride kulturelle Identität erlangt. Der interkulturelle Ansatz ist dahingehend aktuell, als im Zuge der Globalisierung, der sich auflösenden Grenzen und der daraus hervorgehenden Massenbewegungen, im Kontext von Migration und Massentourismus, Interkulturalität eine neue, intensivierte Dimension erhält. Mit
43 | Vgl. Wilhelm Amann, Georg Mein u. Rolf Parr (Hg.): Periphere Zentren oder zentrale Peripherien? Kulturen und Regionen Europas zwischen Globalisierung und Regionalität. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag 2008; vgl. auch Wilhelm Amann, Georg Mein u. Rolf Parr (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag 2010. 44 | Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann u. Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000. 45 | Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 14.
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Das Mädchen aus der Fremde 46, einem Standardwerk zur interkulturellen Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis, führt Norbert Mecklenburg 2008 den interkulturellen Dialog fort. Nebst diesen literaturwissenschaftlichen Ansätzen zum Nachweis von inhaltlichen und strukturellen Reflexen des Globalisierungsphänomens in der Literatur, haben sich mehrere AutorInnen auch mit den Erscheinungsformen einer Literatur der Jahrtausendwende auseinandergesetzt. Diese Ansätze sind insbesondere für eine literaturgeschichtliche Verortung des Globalisierungsphänomens von grosser Bedeutung. Bereits 1991 hat Italo Calvino in seinen auch auf Deutsch publizierten Harvard-Vorlesungen unter dem Titel Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend interessante Werte postuliert, die die Literatur des dritten Jahrtausends prägen könnten: Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielschichtigkeit und Konsistenz, wobei drei dieser Kategorien – jene der Leichtigkeit, Schnelligkeit und Vielschichtigkeit – sich mit den aktuell beobachtbaren Globalisierungsprozessen assoziieren lassen.47 Leichtigkeit bedeutet für Calvino, dem Bau der Erzählung und der Sprache Schwere zu nehmen. Ein Romancier, der Calvinos Idee von Leichtigkeit anhand von Beispielen aus dem zeitgenössischen Leben illustriert, ist Milan Kundera. Sein Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins ist in Wahrheit eine bittere Konstatierung der unausweichlichen Schwere des Lebens. Calvino führt drei verschiedene Möglichkeiten von Leichtigkeit an: Erstens ein Leichtmachen der Sprache. Zweitens die Wiedergabe eines Gedankengangs oder eines psychologischen Vorgangs, in dem subtile, unmerkliche Elemente am Werk sind, die einen hohen Abstraktionsgrad enthalten. Drittens ein visuelles Bild von Leichtigkeit, das einen emblematischen Wert erhält.48 Schnelligkeit illustriert Calvino mit einer alten eindrücklichen Legende von Karl dem Großen, deren Geheimnis in der Ökonomie, dem Rhythmus, in der schnörkellosen Logik des Erzählens, in der ihr innewohnenden Schnelligkeit der Bewegung liegt, die nicht 46 | Norbert Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München: iudicium 2008. 47 | Schmitz-Emans: Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse, S. 307f. 48 | Vgl. Italo Calvino: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend: HarvardVorlesungen. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München, Wien: Carl Hanser 1991, S. 13-48.
2. Globalisierung als Begriff und Analysekategorie
mit dem Erzähltempo verwechselt werden darf. Schnelligkeit im Stil und Denken bedeutet demzufolge vor allem Agilität, Mobilität, Zwanglosigkeit, die maximale Verdichtung der Poesie und des Denkens.49 Calvino veranschaulicht dies mit einer chinesischen Parabel: Zu den vielen Fähigkeiten von Chuang-Tzu gehörte seine Gewandtheit im Zeichnen. Der Kaiser bat ihn, einen Krebs zu zeichnen. Chuang-Tzu sagte, er brauche dafür fünf Jahre Zeit und eine Villa mit zwölf Bediensteten. Nach fünf Jahren war die Zeichnung noch nicht begonnen. ›Ich brauche noch weitere fünf Jahre‹, sagte Chuang-Tzu. Der Kaiser gewährte sie ihm. Nach Ablauf der zehn Jahre nahm Chuang-Tzu die Feder, und in einem Augenblick, mit einer einzigen Handbewegung, zeichnete er einen Krebs, den perfektesten Krebs, den man je gesehen hatte. 50
Vielschichtigkeit als dritter Wert ist für Calvino das Markenzeichen des zeitgenössischen Romans schlechthin: Der Roman als Enzyklopädie, als Erkenntnismethode, als Netz von Verbindungen zwischen Geschehnissen, Personen und Angelegenheiten der Welt.51 Hat Calvino eine erste Ästhetik des Schreibens für das angebrochene Jahrtausend entworfen, so führt die von Stuart Taberner herausgegebene Werkausgabe German Literature in the Age of Globalisation diese Linie weiter. Taberner weist auf die reine Diversität und Mannigfaltigkeit der literarischen Ausdrucksformen der Literatur aus Deutschland hin und führt sozusagen die von Calvino postulierte ›Vielschichtigkeit‹ aus: Gesinnungsästhetik, Unterhaltsamkeit, Realismus, literarisches Fräuleinwunder, Neue Lesbarkeit, Neue Popliteratur, Migrationsliteratur. Inhaltlich und strukturell fallen ihm insbesondere die ostdeutsche Trotzidentität, die inhaltliche Ausprägung lokaler Besonderheiten und kulturellen Differenzen sowie die Adaption von global und lokal in der Kreierung einer neuen Hybridität auf, die das Alltagsleben der Menschen rund um den Globus einander angleicht. 52 In der im darauffolgenden Jahr 2005 erschienenen Gesamtausgabe German literature of the 1990s and beyond. Normalization and the Berlin Re-
49 | Vgl. Calvino: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, S. 49-80. 50 | Ebenda, S. 78f. 51 | Ebenda, S. 137-166. 52 | Vgl. Stuart Taberner: German literature in the Age of Globalisation. Birmingham: Birmingham University Press 2004, S. 15-21.
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public53 widmet sich Taberner der literarischen Debatte um literarische Ausdrucksformen zwischen europäischem Modernismus und amerikanischem Pop seit der Wiedervereinigung von Deutschland. Ergänzend zu dieser Fragestellung stellt er die These auf, dass Globalisierung sich direkt auf den Literaturmarkt und auf die Produktion von Literatur sowie auf die literarischen Ausdrucksformen und die inhaltlichen Schwerpunkte auswirke. Was heute verkauft werde, sei nicht Literatur an sich, sondern Lifestyle. Multinationale Verlagshäuser würden sich nurmehr nach den Verkaufszahlen, nach den größten Absatzmärkten richten. Das Auftreten von AutorInnen in der Öffentlichkeit werde höher bewertet als die literarische Qualität ihrer Bücher. Der Event sei an die Stelle der Rezeption von Literatur getreten.54 Was Taberner antönt, fließt insbesondere in die Diskussion um Popliteratur ein: Popliteratur verstanden als der literarische Versuch, sich inhaltlich, sprachlich und formal der Populärkultur anzupassen, beziehungsweise ihr zum Ausdruck zu verhelfen.55 Was einerseits eine Chance sein könnte, den ›Non-Stop-Horror-Film‹ des täglichen Lebens, der immer schneller läuft, literarisch zu verarbeiten, droht andererseits in Folge der Mechanismen des Literaturmarkts in der Beliebigkeit einer Unterhaltungsliteratur unterzugehen. Ähnliches wird auch in Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000 56 aufgegriffen, obwohl hier die Popliteratur als Modeerscheinung der 1990er Jahre abgetan wird. Aufschlussreich ist der Sammelband hinsichtlich neuer Schreibverfahren (phantomisches Erzählen, virtuelle Begegnungen, Sammelsurium als Schreibverfahren, die Wiederkehr des Dokumentarischen, literarisches Sampling, existenzielle Poetik), die um die Jahrtausendwende zu beobachten sind. Da aber der Untersuchungsgegenstand relativ weitgefasst ist und internationale Erzählliteratur im Zentrum der Analysen steht, sind diese wiederum zu relativieren. Ob ähnliche Schreibverfahren, hier ›ästhetische Strategien‹ genannt, in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz nachzuweisen sind, sei vorerst dahingestellt. 53 | Stuart Taberner: German literature of the 1990s and Beyond. Normalization and the Berlin Republic. Rochester: Camden House 2005. 54 | Vgl. ebenda, S. 1-32. 55 | Thomas Ernst: Popliteratur. Hamburg: Rotbuch 2001, S. 90. 56 | Evi Zemanek u. Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld: transcript 2008.
2. Globalisierung als Begriff und Analysekategorie
Die Ausführungen zu den Globalisierungstheorien der Kulturwissenschaften und ihre literaturwissenschaftliche Konkretisierung und Ergänzung zeigen auf, dass das Globalisierungsphänomen tiefgreifende Implikationen auf die heutige Gesellschaft, auf Kultur und damit eingeschlossen auf Literatur hat. Die Grundannahme, dass Globalisierungstendenzen am Beispiel ausgewählter Globalisierungseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz auszumachen sind, sowie die darauf sich abstützende untersuchungsleitende Fragestellung – Welche Globalisierungseffekte werden in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz auf inhaltlicher, struktureller und sprachlicher Ebene sichtbar? – sind somit hergeleitet und begründet.
2.4 A NALYSEK ATEGORIEN UND I NDIK ATOREN FÜR G LOBALISIERUNGSEFFEK TE Wie ausgangs des letzten Kapitels erwähnt, lassen sich aus den Globalisierungstheorien der Kulturwissenschaften und ihren literaturwissenschaftlichen Konkretisierungen und Ergänzungen für die vorliegende Untersuchung spezifische Analysekategorien ableiten und differenzierte Indikatoren für Globalisierungseffekte operationalisieren, deren logische Validität mehrheitlich durch das sowohl induktive als auch deduktive Vorgehen der Verfasserin gegeben ist. Dabei muss ergänzt werden, dass es sich bei den Indikatoren der Analyseebenen Ort, Kultur und Globalisierung um teils definitorische Indikatoren handelt, die durch die zu untersuchende Merkmalsdimension selbst erst definiert werden, und teils um intern korrelative Indikatoren, die für Teilaspekte eines mehrdimensionalen Sachverhalts stehen. Definitorische Indikatoren werden als 100 Prozent valide betrachtet. Bei den internen korrelativen Indikatoren ist zumindest eine teilweise Gültigkeit gesichert. Anders verhält es sich mit den Indikatoren der Analyseebene literaturgeschichtliche Verortung. Da dieser Indikatorenindex nicht direkt Bestandteil des definierten Globalisierungsbegriffs ist, können die Indikatoren nur schlussfolgernden Charakter haben und müssen hinsichtlich ihrer Gültigkeit relativiert werden. Diesem Mangel wird aber durch die Repräsentativität der Erhebungseinheit und durch die Argumentationsketten Rechnung getragen. Es steht zudem außer Frage, dass gerade be-
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zogen auf die Komplexität des Globalisierungsbegriffs, mit der Auswahl der Analysekategorien und Indikatoren für Globalisierungseffekte kein Vollständigkeitsanspruch erhoben werden kann und sich mögliche ergänzende Indikatoren erst während der Analyse herauskristallisieren. Die folgende Übersicht zeigt auf, dass Globalisierungseffekte auf vier Analyseebenen in der Literatur sichtbar werden: Ort, Kultur, Globalisierung und literaturgeschichtliche Verortung. Die nach Analysekategorien aufgegliederten Indikatoren für Globalisierungseffekte wiederum haben spezifische literarische Erscheinungsbilder, die bedeutsame Rückschlüsse hinsichtlich der Beantwortung der untersuchungsleitenden Fragestellung ermöglichen. Die Übersicht ist in dieser Form als Synthese des aktuellen Forschungsstandes einzigartig und das Copyright dafür liegt bei der Verfasserin. Die Analysekategorien und Globalisierungseffekte an dieser Stelle in ihrer Funktionsweise zu veranschaulichen, wäre jedoch eine äußerste Trockenübung. Diese sollen daher als Auftakt im Analyseteil am Beispiel der Romane von Peter Stamm illustriert und in den weiter folgenden Kapiteln vertieft werden.
2. Globalisierung als Begriff und Analysekategorie
Tabelle III: Übersicht Analysekategorien und Indikatoren für Globalisierungseffekte Analyseebene
Analysekategorien
Indikatoren zur inhaltlichen und strukturellen Analyse der Texte
Ort
Entgrenzung u. Verdichtung von Raum u. Zeit
• Neue Technologien
Glokalisierung
• Transportmittel • Global-village-Effekt • One-world-Effekt
Regionalisierung
• (Neue) Provinzialität
ZwischenWeltenSchreiben
• Leben in Bewegung • Globalisierung der Biografie
Nicht-Orte
• Funktionale Räume
Analyseebene
Analysekategorien
Indikatoren zur inhaltlichen und strukturellen Analyse der Texte
Kultur
Interkulturalität
• Interkulturelle Begegnungen • Kulturelle Differenzen • Kulturelle Identität • Hybridisierung
Fundamentalisierung
• Rückbesinnung auf religiöse, gesellschaftliche u. politische Werte und Traditionen • Internationalisierung des Terrorismus
Enttraditionalisierung
• Emanzipation Mann/Frau • Sexuelle Befreiung
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Analyseebene
Analysekategorien
Indikatoren zur inhaltlichen und strukturellen Analyse der Texte
Globalisierung
Globalisierungsdiskurse
• Wirtschaftliche Globalisierung • Politische Globalisierung • Ökologische Globalisierung • Kulturelle Globalisierung
Analyseebene
Analysekategorien
Indikatoren zur inhaltlichen und strukturellen Analyse der Texte
Literaturgeschichtliche Verortung
Nationale Muster
• Wahl der Handlungsorte • Nationales Selbstverständnis
Zeitkritik
• Visionäre Verarbeitung • Kritik an beschleunigter, vernetzter, hochtechnologisierter Welt
Handlung(sauf bau)
• Neue Formen der Gleichzeitigkeit (Short Cuts, Blendings) • Kernaussage
Identität
• Verhältnis zur Welt • Identitätsbildung (Rolle, Zuschreibungen) • Selbstreflexion
Ästhetische Strategien
• Ökonomie der Sprache • Vielschichtigkeit der Sprache • Schnelligkeit der Sprache • Existentialismus (Krise des Ichs) • Lifestyle, Popliteratur • Intertextualität • Mehrsprachigkeit
3. Globalisierungseffekte in ausgewählter deutschsprachiger CH-Literatur
3.1 B ESCHLEUNIGUNG UND V ERNE T ZUNG – Z WEI WESENTLICHE Q UALITÄTEN DER G LOBALISIERUNG AM B EISPIEL DER R OMANE VON P E TER S TAMM Wie in der theoretischen Begriffsdefinition von Globalisierung erwähnt, können der Globalisierung zwei wesentliche Qualitäten zugeschrieben werden: Beschleunigung und Vernetzung. Ich möchte daher, bevor ich mich den literarischen Ausprägungen von Globalisierungseffekten und -diskursen widme, zwecks literaturgeschichtlicher Verortung der Romane von Peter Stamm die Fragen aufwerfen und zu beantworten suchen, inwiefern nationale Muster, sei es bei der Wahl der Handlungsorte, sei es im nationalen Selbstverständnis der handelnden Romanfiguren, noch eine Rolle spielen. Und ob in den Romanen Zeitkritik an unserer beschleunigten, vernetzten und hochtechnologisierten Welt stattfindet oder gar visionär verarbeitet wird. Als prominente Beispiele im internationalen Vergleich können hierfür unter anderem Ian McEwans Roman Saturday 1 angeführt werden, der den Puls der Zeit anhand eines Tages in London widerzuspiegeln vermag, oder Kazuo Ishiguros Roman Alles, was wir geben mussten2 , welcher eine mögliche Welt im 21. Jahrhundert beschreibt, in der Menschen gentechnisch zu Organspendezwecken gezüchtet und in einem Internat aufgezogen werden. Erwähnenswert auch ein erst kürzlich ins Deutsche über1 | Ian McEwan: Saturday. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Zürich: Diogenes 2007. 2 | Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. München: Karl Blessing 2005.
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setzter enzyklopädischer Gesellschaftsroman Der grössere Teil der Welt3 von Jennifer Egan über die Folgen der digitalen Revolution in einer sich ständig verändernden Welt.4 Betrachten wir nun die drei Romane von Peter Stamm, so fällt auf, dass die Handlungen von den internationalen Vernetzungen der Romanfiguren und von der Wahl unterschiedlichster, mit einer Ausnahme nicht in der Schweiz liegender Handlungsorte dominiert werden und Zeitkritik, wenn auch nicht auf visionäre Weise wie bei Ishiguro, in den Romanen deutlich auszumachen ist.
3.1.1 Peter Stamm – Agnes, Ungefähre Landschaft und An einem Tag wie diesem im Vergleich 5 In Agnes ist die Story in der amerikanischen Großstadt Chicago angesiedelt; obwohl der Ich-Erzähler Schweizer ist, spielt das ›schweizerische Selbstverständnis‹ keine nennenswerte Rolle. Die Schweiz bleibt in wenigen Sätzen, beispielsweise als optionale Wahlheimat für eine eventuelle Familiengründung oder als Land, in dem man zu Weihnachten Lebkuchen bäckt, nur am Rande erwähnt. Auf die Frage von Agnes, wie lange die Schweiz schon unabhängig sei, antwortet der Ich-Erzähler, das wisse er nicht, das sei schwer zu sagen.6 Der Protagonist lebt ein (orts-)ungebundenes Leben und fühlt sich frei, in den Vereinigten Staaten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder irgendwo sonst auf der Welt. Er definiert sich nicht als Schweizer, viel eher als Europäer. Die kulturellen Unterschiede zwischen Amerika und Europa werden denn auch ausführlich zum Thema gemacht und derart in teils willkürlichen, teils umgekehrten Stereotypen wieder aufgehoben, 3 | Jennifer Egan: Der grössere Teil der Welt. Roman. Aus dem Englischen von Heide Zeltmann. Frankfurt a.M.: Schöffling & Co. 2012. 4 | Andrea Köhler: »Ich suche die explosive Qualität.« Ein Gespräch mit Jennifer Egan über ihren preisgekrönten Roman »Der grössere Teil der Welt«. In: Neue Zürcher Zeitung vom 11.02.2012, S. 59. 5 | Vgl. Annette König: Globalisierungstendenzen in den Romanen Agnes, Ungefähre Landschaft und An einem Tag wie diesem von Peter Stamm. (Publiziert Februar 2010). 6 | Peter Stamm: Agnes. Roman. Zürich: Arche 1998, S. 51, 102 u. 124.
3. Globalisierungseffekte
um gerade das Absurde und Überholte von kulturellen Zuschreibungen in der heutigen, von Migration geprägten multikulturellen Welt aufzuzeigen.7 Die Wahl Chicagos als Handlungsort scheint weder für den Handlungsverlauf noch für die Figurenkonstellation relevant zu sein und wird auch nicht genügend ausdifferenziert, um den/die LeserIn eines Besseren zu belehren. Viel mehr präsentiert sich Chicago als eine stereotypisierte amerikanische Großstadt mit anonymen Wolkenkratzern, Straßenschluchten, riesigen Grünanlagen im Stadtinnern und belebten, individualistisch anmutenden Außenquartieren, ganz entgegen der Meinung des Autors: In einem Interview äußert sich Peter Stamm dazu, dass Chicago nicht einfach als Inbegriff einer x-beliebigen amerikanischen Großstadt verstanden werden dürfe, sondern dass er Chicago aufgrund seiner atmosphärischen Wirkungsweise gezielt ausgesucht habe. Sie verkörpere einerseits eine extrem junge Stadt, in der die Menschen viel weniger stark verankert seien als in alten europäischen Städten, in denen einen das Bewusstsein über Werden, Sein und Vergehen ständig begleite. Andererseits werde in Chicago der Gegensatz zwischen Kultur und Natur physisch spürbarer, man fühle sich dem Klima sehr viel stärker ausgesetzt als anderswo.8 Stamm versteht es, in der Gegenüberstellung ›Großstadt – Natur‹, das leise spurlose Verschwinden der menschlichen Existenz subtil deutlich zu machen und eine Unsicherheit sowohl für die Romanfiguren als auch für den/die LeserIn zu produzieren, die für diese Geschichte bezeichnend ist. Das Spiel zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit, zwischen Kultur und Naturgewalt, zwischen Macht und Ohnmacht sowie der Ausgang des Romans, der den/die LeserIn gerade durch die Verwischung der Grenzen zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit verunsichert, kann als literarische Adaption über die Herausforderungen und Risiken einer hochtechnologisierten Welt für das einzelne Individuum verstanden werden. Um Peter Stamm zu zitieren: Agnes ist in seinem Prinzip ein sozialpolitisch-kritisches Buch: Gerade weil wir mehr und mehr in virtuellen Welten leben, wird es umso wichtiger, Wirklichkeit 7 | Stamm: Agnes, S. 86-102. 8 | Gespräch mit Peter Stamm vom 09.09.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht.
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zu erkennen, bzw. zu erkennen, wie Fiktionalität Wirklichkeit verändern kann. Ich kenne Leute, die Fernsehgeschichten nachzuleben versuchen. 9
Stamms Roman Agnes ist raffiniert konstruiert. Er beginnt mit dem Satz: »Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet« 10 und rollt Satz um Satz die Erinnerungen des Protagonisten auf, die auf ihn einstürzen, kurz nachdem er realisiert hat, dass Agnes ihn für immer verlassen hat. Um ihr nah zu sein, betrachtet er eine Videoaufzeichnung eines gemeinsamen Ausflugs in einen Nationalpark. Über das Video als beschleunigendes Medium zur Rekonstruktion des Handlungsverlaufs taucht der/die LeserIn ein in die Retrospektive des Ich-Erzählers und damit auch in jene Geschichte, die der Liebesbeziehung zum tödlichen Verhängnis wird. Eine Geschichte, die, nachdem sie die Gegenwart überholt hat, beide Figuren zu manipulieren beginnt. Am Ende des Romans schließt sich der Kreis, das Video endet und der Ich-Erzähler muss sich erneut der harten Realität stellen, dass Agnes nie mehr zurückkommen wird. Ebenfalls zeitkritisch, doch hauptsächlich auf die Folgen der kommunikationstechnologischen Vernetzung fokussiert, zeigt Stamm in Ungefähre Landschaft am Beispiel des Lebens einer jungen norwegischen Zöllnerin in einer abgelegenen und im Winter gänzlich isolierten Randregion auf, wie unser Leben durch die neuen Kommunikationstechnologien nachhaltig verändert werden kann, wenn wir begreifen, dass ein vernetztes Lebensgefühl nicht nur die Überwindung geografischer Distanzen bedeutet, sondern auch das Überschreiten innerer und zwischenmenschlicher Grenzen. Diese Erkenntnis in Kombination mit den sich im Kontext der neuen Kommunikationstechnologien eröffnenden Möglichkeiten kann für das einzelne Individuum zur Offenbarung eines gänzlich neuen Lebensgefühls werden. Für Kathrine wird diese Erkenntnis gleichbedeutend damit sein, die »ungefähre Landschaft« 11 ihres Lebens mit selbst gesetzten Meilensteinen auf ein Ziel hin auszurichten und ihr Glück zu finden. Das Internet, beziehungsweise der von Kathrine erlernte Umgang damit, wirkt beschleunigend und zugleich motivierend auf den Handlungsverlauf. Hätte Kathrine nicht das Leben ihres Mannes als große Lüge ent9 | Gespräch mit Peter Stamm vom 09.09.2006. 10 | Stamm: Agnes, S. 9. 11 | Peter Stamm: Ungefähre Landschaft. Roman. Zürich: Arche 2001, S. 9.
3. Globalisierungseffekte
larvt und einen losen Kontakt zum Dänen Christian über das Internet aufrechterhalten, dann wäre sie nicht reflexartig Richtung Süden aufgebrochen, in der Hoffnung, in der Begegnung mit Christian einen Ausweg aus ihrer festgefahrenen Lebenssituation zu finden. Auf der Suche nach sich selbst, dem Rat eines im späteren Romanverlauf höchstwahrscheinlich toten Freundes folgend, wagt sie die Reise ins Unbekannte. Doch der Däne entpuppt sich als nicht weltgewandt, reif oder abenteuerlustig. Kathrine erkennt, dass Christian im Innersten ein Kind ist, dass sein aus der Außenperspektive reichhaltiges Leben in Wirklichkeit mehr Schein als Sein ist und er vom Gefühl umgetrieben wird, sein Leben noch gar nicht wirklich begonnen zu haben. Das ›In-der-Welt-Herumkommen‹ ist für ihn keine identitätsstiftende Möglichkeit, sondern Flucht. ›Im Vergleich zu mir… du hast ein Kind, du hast zwei Männer gehabt. Das ist die Welt.‹12 ›Ich habe immer gehofft, dass alles einfach sein könnte. Mehr habe ich nie gewollt. Aber jetzt […].‹13 Christians Aussage kommentiert Kathrine ironisch: ›Willkommen auf der Welt‹.14 Sie realisiert, dass Christian ihr nicht helfen kann, dass sie die alleinige Verantwortung für ihr Leben trägt und diese auch wahrnehmen muss. Auf der Rückreise wird sie in einer Schlüsselszene, die diesen Wandlungsprozess symbolisiert, ihr Kind zum ersten Mal beim Namen nennen und diesem ein Possessivpronomen voranstellen.15 Die Wahl der Handlungsorte: Das kleine norwegische Dorf an der Grenze zu Russland, achtzig Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt und im Winter fast gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten, die Zwischenstationen auf Kathrines Reise in die weite Welt: Hammerfest, Bergen, Oslo, Stockholm, Arhus, Paris, Boulogne, Narvik etc. sowie das Fehlen eines Handlungsortes in der Schweiz zerstreuen jeglichen Verdacht auf ›ein‹ typisch nationales Muster. Die Identifikation von Kathrine mit ihrer Heimat ist zwar stark vorhanden, doch nicht in einem nationalen Sinn. Die Natur, die unendliche Weite des Fjells und die Nordlichter am Himmel, geben Kathrine, deren kulturelle Identität als hybrid bezeichnet werden kann (ihr Vater ist Same, ihre Mutter Schwedin), das Gefühl, mit der Unendlichkeit des Universums verbunden zu 12 | Stamm: Ungefähre Landschaft, S. 89. 13 | Ebenda, S. 104f. 14 | Ebenda, S. 105. 15 | Ebenda, S. 126.
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sein. Schutz und Geborgenheit verkörpert für sie ein einsam gelegener Leuchtturm, zu dem sie immer dann auf bricht, wenn ihr Leben aus der Bahn zu geraten droht. Stamm hat auch hier wie in Agnes den Haupthandlungsort aufgrund seiner atmosphärischen Wirkung ausgesucht. Ob Russland, Finnland, Schweden oder Norwegen, das spielt unter einer dicken Schneedecke keine Rolle mehr. Die wirklichen Grenzen liegen, so Kathrine, zwischen Tag und Nacht, zwischen Winter und Sommer, zwischen den Menschen.16 Auch in Ungefähre Landschaft lässt Stamm die Romanfiguren über kulturelle Differenzen diskutieren und zeigt dabei auf, dass negative kulturelle Zuschreibungen meist zwischenmenschlichen Ursprungs sind und eher aus Unkenntnis und weniger aus kulturellen Differenzen resultieren. Die Lektüre des Romans An einem Tag wie diesem dagegen wird, gerade weil er nationale Muster enthält, zu einer Herausforderung. Paris als erster Handlungsort wird im zweiten Teil des Romans mit einem kleinen ›perfekten‹ Dorf irgendwo in der Nordwestschweiz kontrastiert, welches am Nationalfeiertag aus der Perspektive einer französischen Betrachterin in eine idyllisch anmutende »Spielzeuglandschaft«17 eingebettet liegt. Steht das Schweizer Heimatdorf für die Kindheit des Protagonisten, für eine ihm vertraute und geliebte Landschaft und für eine alte Jugendliebe, die ihn wie ein nur langsam verblassender Schatten während der letzten zwanzig Jahre begleitet hat, so verkörpert Paris weit mehr als eine x-beliebige Großstadt. Paris steht für ›Paris‹, für die Kulisse eines imaginären Films, in dem der Protagonist Andreas seit mehr als achtzehn Jahren die Rolle eines Statisten und Zuschauers inne hat, ohne jemals wirklich mitzuspielen.18 Um den Protagonisten als Statisten darstellen zu können, zeichnet Stamm Paris nicht als pulsierende Metropole, sondern als leblose Kulisse, die so gegenüber dem Handlungsort in der Schweiz an Gewicht verliert. Durch die idyllisierende Darstellung des Schweizer Heimatdorfes zeigt der Autor seine Hauptfigur als Schweizer, der die Schweiz aus persönlichen Gründen verlassen hat und nicht, weil sie ihm politisch zu eng oder 16 | Stamm: Ungefähre Landschaft, S. 13. 17 | Peter Stamm: An einem Tag wie diesem. Roman. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006, S. 161. 18 | Ebenda, S. 17.
3. Globalisierungseffekte
engstirnig geworden ist. Andreas ist und bleibt gerne Schweizer, stellt dies nicht in Frage. Kulturelle Differenzen, die sich durch die Figurenkonstellation ergeben, sind belanglos. Bei einer Diskussion im französischen Lehrerzimmer über das Kopftuchtrageverbot für Musliminnen etwa führt Andreas an, dass man in der Schweiz viel gelassener mit derartigen Problemen umgehe. Infolgedessen wird er als Rassist und misogyn bezeichnet.19 Hinsichtlich eines zeitkritischen Statements des Autors ist die Intention des Romans nicht auf den ersten Blick auszumachen. Zu irritiert ist man als LeserIn von der Plot-Linie: Ein Schweizer in Paris, Lehrer, 48 Jahre alt, Single mit einem regen Sexualleben, erhält die Diagnose, möglicherweise an Krebs erkrankt zu sein. Aus Angst, nun endgültig sein Leben zu verpassen, verkauft er seine Wohnung und begibt sich mit seiner Geliebten Delphine in die Schweiz. Doch die Reise ist nicht eine Fahrt ins Blaue. Er will seine Jugendliebe treffen, um alte Gefühle heraufzubeschwören. Nachdem seine Geliebte nach erfahrenem Reisezweck das Weite gesucht und ein intimes Rendezvous mit seiner Jugendliebe stattgefunden hat, realisiert er, dass diese frühe Liebe gar keine war und nie eine sein wird, dass er niemals in diesem Dorf in der Schweiz bleiben will, dass er Delphine liebt und bereit ist, mit ihr zusammen ein neues Leben zu beginnen, um so seine Angst gegenüber dem Tod zu überwinden. Bei genauer Analyse des Romans wird jedoch ersichtlich, dass Andreas’ Leben als Tourist symptomatisch für ein Leben verstanden werden kann, welches er selbst als große Leere empfindet. Eine Leere, die er durch Zerstreuung temporär auszufüllen versucht. Diese Leere ist zu Beginn des Romans für den Protagonisten ein Dauerzustand: Die Wochenenden zu Hause, an denen er fernsieht, Computerspiele spielt oder liest, die endlose Abfolge von Schulstunden, von Zigarettenpausen und Mahlzeiten, Kinobesuchen und Treffen mit Geliebten und Freunden, die ihm im Grunde nichts bedeuten. »Die Leere war sein Leben, waren die achtzehn Jahre, die er in Paris verbracht hatte, ohne dass sich etwas verändert hatte, ohne dass er sich eine Veränderung wünschte.« 20 Diese Auffassung von Leere als monotone Wiederholung revidiert der Protagonist jedoch im Romanverlauf. Er realisiert während einer Panikattacke auf der Rückreise nach Frankreich, 19 | Stamm: An einem Tag wie diesem, S. 44. 20 | Ebenda, S. 10.
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dass dem so nicht ist. Dass die Leere jenseits der Wiederholung lauert und die Angst vor der Leere in Wirklichkeit die Angst vor der Unordnung, dem Chaos, die Angst vor dem Tod ist.21 Auslösendes Moment für diese Schlüsselszene ist das Abspielen einer DeutschsprachkursKassette. In ähnlich anmutender Wortfolge wie am Anfang des Romans beschreibt der Sprecher ein Leben, welches fast mit jenem von Andreas identisch ist. Der Blick ins eigene Leben, die Erkenntnis, so ereignislos gelebt zu haben, dass er sich nicht einmal seinen Tod vorstellen konnte, erschüttert ihn zutiefst. Zitternd, als hätte er Schüttelfrost, würgend, dann stoßweise und trocken schluchzend lässt er seinen Tränen freien Lauf. Die Gleichförmigkeit seiner Tage war sein einziger Halt gewesen. Sie hatte ihn davor bewahrt, »nur noch ein winziger Punkt in einer bedrohlich leeren Landschaft«22 zu sein. Diese Landschaftsmetaphorik, das Motiv des spurlosen Verschwindens und die Angst davor sind für alle Figuren Stamms bezeichnend: Kathrine verlässt die ›ungefähre Landschaft‹ ihres Lebens. Sie erkennt, dass die Angst, die zur Freiheit dazugehört, überwunden werden kann.23 Agnes hingegen fürchtet sich vor der Endgültigkeit des Todes. Die Kraft der Natur, die jegliche Zivilisation dereinst ungeschehen zu machen vermag, fasziniert und ängstigt sie zugleich. Der Ich-Erzähler in Agnes blendet den Tod weitgehend aus, da er an kein Leben nach dem Tod glaubt und selber keine Spuren hinterlassen will. Dieser (atheistische) Existentialismus trägt vielleicht nicht die Signatur einer Epoche, ist aber typisch für Stamms Protagonisten. Der Ich-Erzähler in Agnes will sich nicht binden, denn Freiheit ist für ihn immer wichtiger gewesen als Glück.24 Er entscheidet sich gegen eine Vaterschaft und lässt so seine Beziehung zu Agnes scheitern. Auch Andreas’ Kinderlosigkeit, sein vermeintlicher Egoismus, der ihn daran hindert, eine wirkliche Beziehung einzugehen, sowie sein nicht authentisches Leben stehen sinnbildlich für einen Menschentypus, der Angst vor dem Leben, vor den wirklich wahren und heftigen Gefühlen hat. Auch Kathrine lebt zu Beginn des Romans aus Angst vor dem wahren Leben in einer gleichgültig anmutenden Gelassenheit, lehnt die Ver21 | Stamm: An einem Tag wie diesem, S. 196. 22 | Ebenda, S. 197. 23 | Stamm: Ungefähre Landschaft, S. 80. 24 | Stamm: Agnes, S. 110.
3. Globalisierungseffekte
antwortung für sich und ihrem Kinde gegenüber ab, indem sie sich von einem gut situierten Mann heiraten lässt, dessen Liebe ihr für einen neuen Bund fürs Leben als ausreichend erscheint, auch wenn sie selber zu Gefühlen ihm gegenüber nicht fähig ist. Das Prinzip der Leere, der Angst vor dem Tod, könnten durchaus als zeitkritisches Statement Stamms gegenüber unserer von Konsum und Zerstreuung geprägten existentialistischen Lebensweise gelesen werden. Ob es dem Protagonisten in An einem Tag wie diesem gelingen wird, seiner nihilistischen Weltanschauung gänzlich entfliehen zu können, wissen wir nicht. Fest steht nur, dass Andreas am Ende des Romans Delphine wiederfindet, wahrscheinlich mit ihr zusammenzieht und sich mit seinem Krankheitsbefund auseinandersetzen wird. Wieviel Zeit ihnen bleiben wird, ist ungewiss und spielt auch keine Rolle mehr. »Die Zukunft war nur ein Tag«.25 Doch trotz aller Selbstreflexion bleibt der Protagonist bis zur letzten Szene tragischerweise unfähig, seine Rolle als Statist in einem Film, als Fremder im Sinne von Camus L’étranger, abzulegen: Sie umarmten sich, drückten sich so fest, dass es wehtat. Delphines Körper war kühl. Über ihre Schulter sah Andreas nicht weit entfernt ein anderes Paar, das sich umarmt, und es war ihm, als beobachte er sich und Delphine, als sei er sehr weit entfernt von allem. Nur das Rauschen der Wellen war ganz nah und umfing ihn. 26
Alle drei Romane zeichnen sich durch eine Ökonomie der Sprache aus. Die kurzen, knappen, schnörkellosen Sätze lassen Bildsequenzen vor dem inneren Auge des/der LeserIn entstehen, die sich ungeachtet von zeitraffenden Verfahrensweisen oder verlangsamenden Rückblenden (letztere werden sehr häufig verwendet) in stetem Tempo aneinanderreihen, ohne beschleunigende Kraft zu entwickeln. Die Handlung wird meist aus einer einzigen Perspektive erzählt. In Agnes verdichtet und beschleunigt sich das Erzählen, nachdem es die Gegenwart ein- und überholt hat, in Ungefähre Landschaft und in An einem Tag wie diesem mit dem Auf bruch, der Reise der Hauptfiguren in ein neues Leben. Die im Kontext der neuen Technologien möglich gewordenen unterschiedlichen Formen von Gleichzeitigkeiten bleiben weitge25 | Stamm: An einem Tag wie diesem, S. 205. 26 | Ebenda, S. 205f.
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hend ungenutzt. Sprunghafte Orts- und Perspektivenwechsel, im Sinne von Short Cuts oder Blendings, welche eine beschleunigende Wirkung auf die Bildabfolge hätten, sind fast keine auszumachen. Nur ganz am Ende des Romans Ungefähre Landschaft. Durch die schnelle Abfolge von Ereignissen, die zeitlich weit auseinander liegen, und durch das Wegzoomen von der Figur Kathrines, wird der/die LeserIn sozusagen aus dem Roman entlassen. Das Leben der Figuren nimmt, ähnlich wie in einem Filmabspann, seinen Lauf: »Später kauften sie eine Wohnung, dann ein Haus. Sie wohnten in Tromsø, in Molde, in Oslo. Randy fuhr in die Ferien zur Großmutter ins Dorf. Er kam zurück. Es wurde Herbst und Winter. Es wurde Sommer. Es wurde dunkel, und es wurde hell.«27 Betrachten wir nun die Romane unter dem Gesichtspunkt darin antizipierter Globalisierungseffekte und -diskurse, so lassen sich aus der qualitativen Inhaltsanalyse heraus erste quantifizierbare Tendenzen erkennen.
3.1.2 Globalisierungstendenzen im Kontext neuer Technologien In allen drei Romanen wird durch die örtliche Positionierung der Hauptfiguren – ein Schweizer in Amerika, ein Schweizer in Paris, eine Norwegerin an der Grenze zu Russland – die Grundvoraussetzung für mögliche interkulturelle Begegnungen gelegt, die auch erfolgen. In Agnes begibt sich der Protagonist auf eine mentale Reise in die Vergangenheit, indem er die an einer ungeplanten Schwangerschaft und später erfolgten Fehlgeburt gescheiterte Liebesbeziehung zu einer Amerikanerin Revue passieren lässt. In Ungefähre Landschaft bestimmt der durch die Begegnung mit einem russischen Seemann und einem dänischen Monteur hervorgerufene Wunsch Kathrines, die Welt zu sehen und zu erfahren, den Handlungsverlauf, nachdem ihr Leben nach dem Scheitern ihrer zweiten Ehe aus dem Ruder zu laufen droht. Der Protagonist in An einem Tag wie diesem begibt sich auf eine physische Reise, mit dem Ziel, endlich die Jugendliebe zu einem französischen Au-pair-Mädchen hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. 27 | Stamm: Ungefähre Landschaft, S. 158.
3. Globalisierungseffekte
Die internationale Vernetzung der Romanfiguren, die Vielzahl an interkulturellen Begegnungen, die sich daraus ergeben und von denen hier gerade nur die Wichtigsten aufgeführt sind, gehen mit überholten kulturellen Differenzen und vermeintlichen identitätsstiftenden kulturellen Zuschreibungen einher. In Agnes lässt der Autor den Protagonisten auf eine Franco-Amerikanerin treffen, die er während Recherchearbeiten zu einem Sachbuch über Luxuseisenbahnen kennen lernt und mit der er eine Affäre beginnt. An einer Neujahrsparty im Hause ihrer Eltern wird er in ein Gespräch über kulturelle Differenzen zwischen Europäern und Amerikanern verwickelt. Amerikaner werden als ›dekadente Wilde‹28 bezeichnet, entgegengesetzt den seriösen, europäischen Männern; Europäer als jene Selfmade-Männer, welche eigentlich die Amerikaner sein sollten; Amerikanerinnen als immer kränkelnde, aber zähe Frauen, die, wenn sie mit einem Mann schlafen, nachher darüber sprechen, wie wenn sie ihm einen Dienst erwiesen hätten, ›weil der Hund Bewegung braucht‹.29 In Ungefähre Landschaft äußern sich drei Schwedinnen, mit denen Kathrine etwas Zeit in Narvik verbringt, negativ über Norweger: Rassisten seien die norwegischen Männer, alles Fischköpfe.30 Neue Kommunikationstechnologien zur Aufrechterhaltung von Kontakten über große Entfernungen hinweg spielen in Ungefähre Landschaft eine bedeutende Rolle. Kathrine lernt von Christian, der für einige Monate in ihrem Dorf weilt, um in der Fischfabrik eine neue automatische Wäganlage zu überwachen, den Umgang mit dem Internet. Nach seiner Abreise hat auch sie einen Laptop mit Internetanschluss und erhält von ihm Mails, die aus den weit entfernten Ländern kommen, in denen er zu Montagen weilt. Die Möglichkeit zu reisen, die Welt zu sehen, wird ihr so erst richtig bewusst. Auch mit Morten, ihrem Jugendfreund, der im späteren Verlauf der Geschichte ihr neuer Lebenspartner und Vater ihres zweiten Kindes werden wird, hält sie nach ihrer Abreise einen losen E-Mail-Kontakt aufrecht. In Stockholm begibt sie sich in ein Internet-Café, ruft ihre E-Mails ab, besucht die Homepage ihres Dorfes, liest die neusten Nachrichten, was sich während ihrer dreiwöchigen Abwesenheit zu Hause ereignet hat, 28 | Vgl. Stamm: Agnes, S. 86. 29 | Vgl. ebenda, S. 102 u. 144. 30 | Vgl. Stamm: Ungefähre Landschaft, S. 122.
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und sieht live über die Webkamera dem Treiben auf dem Dorfplatz zu.31 In der Bibliothek in Narvik lädt sie erneut ihre E-Mails herunter. Und zurück im Dorf kommuniziert sie während mehr als einer Woche mit Morten nur über Mails und lange Telefongespräche, hält so eine Distanz in der Nähe aufrecht, um nichts zu überstürzen. Das Dorf, welches zu Beginn des Romans als abgeschiedener Ort beschrieben wird, der im Winter einzig über die Schiffe der Hurtigrute mit der Außenwelt verbunden ist, erscheint im fortschreitenden Handlungsverlauf erst durch die Möglichkeiten der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, dann durch das nicht mehr statische Leben Kathrines mehr und mehr mit der Welt jenseits des Polarkreises vernetzt. Kathrine und Morten entschließen sich, das Dorf zu verlassen, um in der Hauptstadt der norwegischen Provinz Troms einen Neuanfang zu wagen. Am Ende des Romans steht die Lebensweise von Kathrine und Morten in Tromsö für eine neue Form von vernetzter Provinzialität. ›Global-village-Effekte‹, die diese neue Qualität von Provinzialität noch befördern, sind nur wenige und in gänzlich anderem Kontext in den Romanen enthalten. Andreas äußert sich über eine Örtlichkeit in Paris, die von FilmliebhaberInnen, von Leuten aus aller Welt besucht wird, um »die Wirklichkeit an den verträumten Bildern im Film zu überprüfen«32, und in Agnes stoßen die beiden Hauptfiguren bei einer Live-Übertragung der Neujahrsfeier in New York mit den Feiernden am Fernsehen auf das Neue Jahr an, obwohl in Chicago das neue Jahr aufgrund der Zeitverschiebung erst eine Stunde später Einzug halten wird.33 Fernsehen, Surfen, mentales Eintauchen in computergenerierte Welten findet in Agnes nicht nur während der Neujahrsfeier am Fernsehen statt, sondern gehört zur Romananlage. Der Protagonist beginnt mittels einer Videoaufzeichnung erst assoziativ, dann chronologisch seine Beziehung zu Agnes in einem fortlaufenden Monolog zu reflektieren. Die Videoaufzeichnung rückt Agnes in eine virtuelle Nähe, die mit dem Filmende jäh erlischt. Nebst virtuellen Räumen sind weitere funktionale Räume, sogenannte Nicht-Orte, die von den handelnden Figuren im Gegensatz zu virtuellen Räumen physisch begangen werden, in den Romanen auszumachen. 31 | Stamm: Ungefähre Landschaft, S. 105. 32 | Stamm: An einem Tag wie diesem, S. 17. 33 | Stamm: Agnes, S. 137.
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In An einem Tag wie diesem werden Selbstbedienungsrestaurants, Einkaufszentren, billige Etap-Hotels, Autobahnen oder Autobahnraststätten, in Ungefähre Landschaft das Warenhaus Le Printemps und das McDonalds-Fastfood-Restaurant in Stockholm beschrieben. Kathrine staunt über die künstliche, wunderschöne Atmosphäre des Warenhauses, die in einem starken Gegensatz zu der ihr vertrauten natürlichen Umgebung steht.34 Mit dem McDonalds-Restaurant kann sie sich unmittelbar identifizieren. Das saubere, helle und freundliche Restaurant gefällt ihr. Es erinnert sie an das Fischerheim und die Missionsstationen zu Hause.35 Die Wirkungsweise dieses funktionalen Raumes auf Kathrine kann auch als ›one-world-Effekt‹ bezeichnet werden. ›One-world-Effekte‹, die dem ortsfremden Individuum das Gefühl vermitteln, in einer ihm vertrauten Umgebung zu sein, sind einige in den Romanen auszumachen. In Ungefähre Landschaft betonen sie die Erkenntnis von Kathrine, dass die Welt jenseits des Polarkreises nicht wirklich anders ist als jene zu Hause. Bezeichnungen für multinationale Konzerne wie McDonalds, Sony, Nestlé, Ikea, die in den drei Romanen sporadisch vorkommen, lassen sich direkt mit wirtschaftlichen Globalisierungsdiskursen assoziieren. Gleiches gilt für Regionalisierungsprozesse im Sinne von wirtschaftlichen Marktsegmentierungsstrategien, wie sie am Beispiel der Passagen über die ›Lappenzoos für Touristen‹36 in Ungefähre Landschaft oder ›den Rummelplatz um Stonehenge mit den Souvenirständen‹37 in Agnes sichtbar werden. An einer anderen Stelle findet sich zudem ein direkter Verweis auf die wirtschaftliche Globalisierung. Der Ich-Erzähler in Agnes ist der Überzeugung, dass heute wirtschaftlich dasselbe wie vor hundert Jahren geschehe, nur in globalem Ausmaß, und dass eine Revolution dagegen zum Scheitern verurteilt sei, da leider das Geld die Welt regiere und Macht nur die Reichen hätten.38 Politische und ökologische Globalisierungsprozesse werden nur am Rande thematisiert. Kathrine wird im Gespräch mit einem Praktikanten bei der Europäischen Kommission nach ihrer Meinung über den Wal34 | Stamm: Ungefähre Landschaft, S. 73f. 35 | Ebenda, S. 109. 36 | Vgl. ebenda, S. 93. 37 | Vgl. Stamm: Agnes, S. 32. 38 | Ebenda, S. 146.
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fang und die Überfischung der Meere gefragt und antwortet darauf, dass dort, wo sie herkomme, keine Wale mehr gefangen würden. Einige Seiten weiter hinten erfährt der/die LeserIn hingegen, dass Kathrines Vater, der als Berufsfischer wegen der abnehmenden Fischbestände fast nicht mehr den Lebensunterhalt für seine Familie sichern konnte, damit prahlte, bald einen Wal zu fangen, von dem die Familie zwei Jahre leben könnte.39 In den drei Romanen von Peter Stamm lassen sich gemessen an Globalisierungseffekten und -diskursen Globalisierungstendenzen nachweisen. Am häufigsten sind diese in den Analysekategorien Interkulturalität, Entgrenzung und Verdichtung von Raum und Zeit und ZwischenWeltenSchreiben (vgl. Tabelle III) auszumachen. Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass die Handlung aller drei Romane von Handlungsorten in verschiedenen Ländern, beziehungsweise Kontinenten dominiert wird. Interkulturelle Begegnungen sind tragende Elemente sowohl des Handlungsaufbaus als auch der kausalen Ereignisabfolge. Mentale wie physische Reisen lösen in den Romanen Prozesse der Identitätsfindung und der Selbstreflexion aus. Literaturgeschichtlich betrachtet ist dies kein neues Phänomen. Doch könnte sich bei weiterer Analyse der Gegenwartsliteratur aus der Schweiz diesbezüglich eine verstärkte Tendenz abzeichnen. Ein ›schweizerisches Selbstverständnis‹ wird in den Romanen nicht explizit thematisiert. Es wird einzig in den beiden Schweizer Protagonisten fassbar. Und dieser Sachverhalt könnte auf eine zunehmende Internationalisierung der Romanfiguren in der Gegenwartsliteratur aus der Schweiz hinweisen. Das würde bedeuten, dass sich bei zunehmend globaler Vernetzung, der physische Tätigkeitsradius sowie die kulturelle Herkunft der Romanfiguren internationalisieren. Zeitkritische Statements im Kontext der Globalisierung sind in allen drei Romanen auszumachen: Das manipulative Spiel zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit in Agnes, in Ungefähre Landschaft die Erkenntnis, dass ein vernetztes Lebensgefühl nicht nur die Überwindung geografischer, sondern auch zwischenmenschlicher und innerer Grenzen bedeutet, und in An einem Tag wie diesem, dass Konsum Leere erzeugen kann und Leere in Wirklichkeit die Angst vor der Unordnung, dem Chaos, die Angst vor dem Tod ist. 39 | Stamm: Ungefähre Landschaft, S. 103.
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Was jedoch gänzlich fehlt, ist eine visionäre Auseinandersetzung mit Chancen und Risiken dieser Entwicklung und mit Zukunfts- und Bedrohungsszenarien. Die neuen Technologien und Transportmittel sind Teil der Lebenswelten der Figuren und wirken sich auf deren soziale Praxis und ihre Erfahrung der eigenen Existenz aus. In Ungefähre Landschaft prägen die Kommunikationstechnologien den Handlungsverlauf und wirken auf das Verhältnis der Figuren zur Welt. Sie ermöglichen eine neue Form von vernetzter Provinzialität. Doch literarische Verfahren der Beschleunigung, wie sprunghafte Orts- und Perspektivenwechsel im Sinne von Short Cuts oder Blendings, sowie die im Kontext neuer Technologien möglich gewordenen unterschiedlichen Formen von Gleichzeitigkeit, bleiben in den Romanen weitgehend ungenutzt. Nicht-Orte als funktionale Räume sind in allen drei Romanen dagegen von besonderer Relevanz: In Agnes versucht der Protagonist, über das Abtauchen in eine virtuelle Wirklichkeit, eine Nähe zu Agnes herzustellen, in An einem Tag wie diesem stehen Nicht-Orte gleichsam für die Große Leere in Andreas’ Leben und in Ungefähre Landschaft vermitteln Nicht-Orte Kathrine das Gefühl, zur Welt dazu zu gehören. Aussagen, die assoziativ Globalisierungsdiskursen zugeordnet werden können, finden in den Romanen Anwendung, spielen aber nur am Rande eine Rolle.
3.2 9/11 ALS › GLOBAL- VILL AGE -E FFEK T‹ BEI J ÜRG A MANN , C HRISTOPH G EISER , D ANIEL G OE TSCH , R UTH S CHWEIKERT UND M AT THIAS Z SCHOKKE Der 11. September 2001 markiert aus globalisierungstheoretischer Perspektive eine Zäsur, die den Höhepunkt einer massenmedial und technologisch begünstigten Entgrenzung und Verdichtung von Raum und Zeit darstellt und zugleich eine neue Ära kennzeichnet, in der politische Gewalt systematisch globalisiert wird. 40 Bereits in den 1960er Jahren hat 40 | Vgl. Eric J. Hobsbawm: Globalisierung, Demokratie und Terrorismus. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. München: dtv 2009; vgl. Bruce Hoffman: Terrorismus. Der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt. Aus
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McLuhan postuliert, dass die Welt (medial betrachtet) nur mehr ein Dorf ist und dies bewirkt hat, dass sich der Mensch seiner globalen Verantwortung in erhöhtem Masse bewusst geworden ist.41 McLuhans weitsichtige Aussage findet ihre Entsprechung und Weiterführung ein Vierteljahrhundert später unter anderem in den aktuellen Globalisierungstheorien von Arjun Appadurai, Anthony Giddens und Martin Albrow. Wie Appadurai42 greifen auch Giddens und Albrow die Wirkungsweise von Ereignissen auf, die sozial und räumlich von ganz anderswo herkommen, wenn Albrow die Unmöglichkeit der Nichtwahrnehmung des Entferntesten und Giddens die Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen als Bedeutungskern des globalen Zeitalters hervorheben, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt.43 Was bei Appadurai, Giddens und Albrow noch nicht ausgesprochen, aber spätestens seit dem 9/11 die Zäsur als Hauptkonstituente mitbegründet hat, ist die Beschleunigung, die Gleichzeitigkeit von fernem Ereignis und nahem Ereignisbild, die das Authentische des Bildes verbürgt und so gesehen das Neue verkörpert.44
dem Englischen von Klaus Kochmann. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1999; vgl. Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach. München, Wien: Siedler 1998; vgl. Simon W. Murden: Islam, the Middle East, and the new global hegemony. Boulder: Rienner 2002. 41 | Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding media. Aus dem Englischen von Meinrad Amann. Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1995; vgl. Markus Schroer: Raumgrenzen in Bewegung. Zur Interpenetration realer und virtueller Räume. In: Christiane Funken u. Martina Löw (Hg.): Raum – Zeit – Medialität. Interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien. Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 217-236. 42 | Vgl. Appadurai: Modernity at Large, S. 29. 43 | Vgl. Schroer: Raumgrenzen in Bewegung, S. 217-236. 44 | Goetz Großklaus: Medien-Zeit, Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 132.
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Vermutlich hat in den letzten Jahren vergleichsweise kein anderes Ereignis zeitlich unmittelbar so viele literarische Echos rund um den Globus entstehen lassen. Im literaturwissenschaftlichen Diskurs wird in Folge eine ›(Nach-) 9/11-Literatur‹ verhandelt, die qualitativ und in der stofflichen Ausgestaltung höchst divergent ist. In Anlehnung an zwei interdisziplinäre Studien, die amerikanische und europäische ›(Nach-)9/11-Romane‹ untersuchen45, lassen sich unabhängig von der geografischen Herkunft der AutorInnen vier Text-Gruppen46 unterscheiden: •
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Die erste Gruppe verweigert sich einer direkten Auseinandersetzung mit den Anschlägen. Sie integriert das Ereignis als möglichen Auslöser für die Romanhandlung, welche auf metanarrativer Ebene auf sie einwirkt. Die Schauplätze und Gefühle der Romanfiguren oder auch des/der LeserIn, können so ihre Bedeutsamkeit durch ein Erinnern an die Terroranschläge, durch das Infragestellen der gesellschaftspolitischen Nachwirkungen, des scheinbar angeschlagenen kapitalistischen Systems oder durch das Infragestellen der Richtigkeit einer literarischen Thematisierung des 11. Septembers 2001 erhalten.47 Die zweite Gruppe lässt 9/11 als narratives Element erscheinen, welches für den Handlungsverlauf katalytisch wirkt. 9/11 tritt darin meist als auslösendes, störendes, verunsicherndes Element oder gar als Trauma auf.48
45 | Vgl. Sandra Poppe, Thorsten Schüller u. Sascha Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien. Bielefeld: transcript 2009, S. 103-199; vgl. Zemanek u. Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende, S. 27-55. 46 | Vgl. Christina Rickli: Trauer- oder Traumageschichten? Amerikanische Romane nach 9/11. In: Poppe, Schüller u. Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur, S. 103-120. 47 | Unter anderem Paul Auster: The Brooklyn Follies; Y.B.: Allah Superstar; Michael Cunningham: Specimen Days; Bret Easton Ellis: Lunar Park; Walter Grond: Der gelbe Diwan; Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind; Paulus Hochgatterer: Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen; Philip Roth: Everyman. 48 | Unter anderem Katharina Hacker: Die Habenichtse; Nick McDonell: The Third Brother; Reynold Price: The Good Priest’s Son.
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Die dritte Gruppe bilden Romane, die das Trauma vom 11. September 2001 direkt behandeln und gänzlich den Anschlägen und deren Auswirkungen untergeordnet sind. Es sind Geschichten eines persönlichen Verlustes (in den angeführten Beispielen eines Kindes) durch 9/11. New York als Handlungsort ist dabei nicht wegzudenken.49 Die vierte Gruppe thematisiert zeitgleich unterschiedliche mündige Lebensentwürfe und Schicksale im Post-9/11-New York, wobei die Anschläge retrospektiv stark dominieren.50
Sowohl die dritte als auch vierte Gruppe lassen sich als New Yorker Großstadtromane charakterisieren, wobei die Funktion der Stadt jeweils eine andere sein kann.
3.2.1 Internationale ›(Nach-)9/11-Literatur‹ – Katharina Hacker, Walter Grond, Paulus Hochgatterer und Jonathan Safran Foer Um mittels interessanter Vergleichsmomente eine Brücke zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz schlagen zu können, wird im Folgenden die internationale ›(Nach-)9/11-Literatur‹ am Beispiel vier herausragender Texte kurz illustriert, die sich sowohl durch ihre Originalität, als auch ihre visionäre Zeitkritik auszeichnen und klare Globalisierungstendenzen benennen. Es handelt sich dabei um die Romane Die Habenichtse von Katharina Hacker, Der gelbe Diwan von Walter Grond, Extremely Loud & Incredibly Close von Jonathan Safran Foer sowie die Erzählung Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen von Paulus Hochgatterer. Es muss aber angemerkt werden, dass weitere Romane ebenso erwähnenswert wären, wie beispielsweise Paul Austers Man in the Dark, in dem der Autor seinen schlaflosen Ich-Erzähler eine amerikanische Gegenwart erfinden lässt, in der die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 und der Krieg im Irak nicht stattgefunden haben, dafür aber die USA einen blutigen Bürgerkrieg gegen sich selber führt. 49 | Unter anderem Philip Beard: Dear Zoë; Jonathan Safran Foer: Extremely Loud & Incredibly Close; Joyce Maynard: The Usual Rules; Frédéric Beigbeder: Windows on the World. 50 | Don DeLillo: Falling Man; Julia Glass: The Whole World Over; Siri Hustvedt: The Sorrows of an American; Ken Kalfus: A Disorder Peculiar to the Country; Jay MacInerney: The Good Life; Claire Messud The Emperor’s Children.
3. Globalisierungseffekte
Katharina Hacker – Die Habenichtse In Katharina Hackers Die Habenichtse ist der 11. September 2001 ein Schicksalstag und wird als die Romanhandlung auslösendes Medienereignis aus zwei unterschiedlichen Perspektiven geschildert. An einer Berliner Party kann Jakob, einer der sechs zentralen Figuren der PaarKonstellationen Isabelle und Jakob, Drogendealer Jim und Freundin Mae, sowie das Geschwisterpaar Dave und Sara, die Anschläge via Fernsehübertragung als Hintergrundszenerie mitverfolgen, obwohl er sich eigentlich – wäre der Lauf der Geschichte ein anderer gewesen – zu diesem Zeitpunkt an einem Meeting im World Trade Center hätte aufhalten müssen. Im Wissen, Isabelle, seine zukünftige Frau, an der Berliner Party zu treffen, hat er sich dort jedoch durch Robert vertreten lassen. Als Katalysator beschleunigt 9/11 den weiteren Handlungsverlauf. Robert kommt um. Jakob rückt in der Anwaltskanzlei an seine Stelle nach und zieht mit Isabelle nach London. Der Einsturz der Türme wird zeit-, aber nicht ortsgleich, auch aus der Perspektive von Mae und Jim dargestellt, die fassungslos Zeugen werden, wie »auf dem Bildschirm der zweite der Türme in sich zusammensackte, zeitlupenlangsam, oder wie war das? Ein Trick?«51 Der Anfangssatz des Romans »– Alles wird anders«52 , den ein kleiner Junge namens Dave hoffnungsvoll beim Umzug in ein viktorianisches Reihenhaus in London äußert und der umso schwerer wiegt, weil die häusliche Gewalt gegen Dave und seine Schwester trotz des Umzugs nicht aufhört, der Satz von Mae angesichts der einstürzenden Türme, dass es nie mehr sein würde wie bisher, die ganze Welt, das Leben 53, sowie der von Jakob beschwörend ausgesprochene Satz am Romanausgang »– Es wird anders jetzt […] – Es wird wieder gut«54, korrespondieren mit einer Passage in einer Mail von Andras – eines unglücklich in Isabelle verliebten ehemaligen Mitbewohners und Arbeitskollegen – an Isabelle, in der auf eine Rede von Georges Bush angespielt wird: »Erinnerst Du Dich […] an diesen Spruch von Bush, nichts ist, wie es war?«55, die eine eben51 | Katharina Hacker: Die Habenichtse. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 23. 52 | Ebenda, S. 7. 53 | Ebenda, S. 23. 54 | Ebenda, S. 308f. 55 | Ebenda, S. 194, vgl. auch S. 93.
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so rasche mediale Verbreitung gefunden hat wie die Anschläge selbst.56 Mit Verweisen auf die eskalierende Gewalt (Londoner U-Bahn-Attentat, Irak-Krieg, Afghanistan) und die zunehmende Hysterie, zeigt Hacker auf, dass die politische und gesellschaftliche Welt aus den Fugen geraten und eine Denormalisierung Realität geworden ist, der nur mit emotionaler Distanz begegnet werden kann. Die Romanfiguren zeichnen sich denn auch durch soziale Kälte aus, einer Lesart aktueller Abgestumpftheit und Gleichgültigkeit. Walter Grond – Der gelbe Diwan Das Element der Gleichgültigkeit als Zeitphänomen greift auch Walter Grond auf. Sein Roman Der gelbe Diwan57 gehört zu jenen raren Texten, denen es gelingt, den 11. September 2001 nicht explizit zu erwähnen, aber diesen an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident, zwischen europäischer Geschichte und einem Ausblick in ein globalisiertes neues Jahrtausend wirksam werden zu lassen. Der Roman handelt von Paul Clement, einem arrivierten, weltreisenden Journalisten, bald fünfzig, Vater zweier Kinder und ehemals verheiratet mit Behle, einer modernen Europäerin alevitisch-türkischer Herkunft, mit der er wieder zusammenkommen und Vater eines dritten Kindes werden wird. Während der Vorbereitungen für eine Ägyptenreise auf den Spuren von Gustave Flaubert, die aufgrund der unsicheren politischen Situation vor Ort immer wieder verschoben werden muss, erfährt Paul die Nachricht über den Selbstmord seines ehemals sozialistischen, extravaganten Freundes Johan. Paul bricht zum Begräbnis nach Frankreich auf und taucht unweigerlich in die eigene und europäische Vergangenheit ein, wobei der Autor seinen Protagonisten reichlich über aktuelle Weltthemen sinnieren lässt, ohne dies künstlich aufgesetzt erscheinen zu lassen. Paul Clement wird als kritisch hinterfragender Zeitgenosse dargestellt, der durch die Einwirkung globalisierter Informationsströme zu intellektuellen Höchstleistungen aufläuft und zugleich aufgrund der ständigen Berieselung mit Welthaltigem Gefahr läuft, abgestumpft zu werden, seine eigenen Gefühlswelten verkümmern zu lassen. Erst der Seitensprung 56 | Wilhelm Amann: ›Global Flows – Local Culture‹? Katharina Hacker: Die Habenichtse. In: Amann, Mein u. Parr (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur, 209-222, hier S. 214. 57 | Walter Grond: Der gelbe Diwan. Roman. Innsbruck, Wien: Haymon 2009.
3. Globalisierungseffekte
Behles rüttelt ihn auf, erschüttert seine Gleichgültigkeit über den Weltenlauf und katapultiert ihn durch den Schmerz und die neu entfachte Begierde ins Leben und in die Beziehung zurück. Walter Gronds Roman ist insofern einmalig, als er das Globalisierungsphänomen und den damit in Kontext gesetzten islamischen Fundamentalismus mittels einer geschickten Romananlage und einer psychologisch interessanten Figurenkonstellation verortet. Den Beginn des Globalisierungsphänomens lässt Grond seinen Protagonisten auf das Jahr 1973 datieren, welches durch die ägyptische Rückeroberung des Sinais im Oktoberkrieg und die Ölkrise geprägt war, die zweite Globalisierungsrunde auf das Verschwinden von Ost und West, auf den Siegeszug des Neokapitalismus nach 1989.58 Das Aufkommen des islamischen Fundamentalismus und dessen terroristischen Ausbrüche sieht er als Folge des Verschwindens des Sozialismus, welcher ein Machtvakuum hinterlassen hat. Als Gegenpol zum Neokapitalismus rückt nun der Islam nach. Der Gegenüberstellung OstWest folgt jene von Orient und Okzident. Der Zusammenprall von Islam und westlicher Kultur bleibt für den Protagonisten nicht nur gedankliche Auseinandersetzung oder Wahrnehmung auf Distanz, sondern wirkt bis in seine Ehe hinein, die gefährdet wird durch Behles Seitensprung. Sie versucht zwar ihre alevitisch-türkischen Wurzeln zu ignorieren, verfällt aber doch der Attraktion eines Ägypters, der – als Biograf Johans – außerdem Pauls Rivale ist. Paulus Hochgatterer – Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen Gänzlich entgegen den ästhetischen Strategien von Walter Grond verfolgt Paulus Hochgatterer in seiner Erzählung Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen den Rückzug ins Private. Er situiert die Handlung – drei Freunde und Arbeitskollegen auf einem Fischausflug – zeitgleich mit den Anschlägen von 9/11, indem er den Erzähler eingangs kurz darauf referieren lässt: »Als wir uns treffen, wissen wir nichts von dem, was an diesem Tag passieren soll, weder von der Sache mit dem World Trade Center noch davon, dass Julian in den Bärenklau fallen wird und dann in den Fluss.«59
58 | Walter Grond: Der gelbe Diwan, S. 246. 59 | Paulus Hochgatterer: Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen. Erzählung. München: dtv 2008, S. 9.
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Ohne das Ereignis wortwörtlich nachzeichnen zu müssen, versteht es Hochgatterer, das kollektive Gedächtnis zu aktivieren und einen Handlungsstrang, losgelöst von der eigentlichen Erzählung, zu entfalten. Diese Verfahrensweise hebt den 11. September 2001 auf eine individuelle Erfahrungsebene, jenseits von Werturteilen und Kontextualisierungen. »Wir waren schließlich alle am ›Fliegenfischen‹ […] oder Bier saufen.« 60 Diese Wirkungsweise wird am Ende der Erzählung durch einen erneuten Verweis verstärkt. Einer der Hauptfiguren kommt unablässig den Kopf schüttelnd und blass, mit sichtbarer Mühe, das Lachen zu unterdrücken, von einem Telefonat zurück, um den Freunden mitzuteilen, dass etwas Unglaubliches passiert sei.61 Die dem Ereignis innewohnende Komik, durch die Unfassbarkeit und die Science Fiction anmutende mediale Übertragung ausgelöst, unterstreicht Hochgatterer mittels sureal und absurd wirkender Dialoge, Monologe und Begebenheiten, die die Grenze zwischen Realität und Fiktionalität sanft verwischen. Ob nun Hochgatterer, indem er sich über den konkreten Hergang ausschweigt, den Topos der medialen Zäsur konterkarieren will, sei dahingestellt. Sicher ist, dass er einen leisen, subtilen Text geschaffen hat, der eben durch das Aussparen des konkreten Hergangs der Anschläge und durch den Rückzug ins Private, vielfältige Interpretationsansätze anbietet. Jonathan Safran Foer – Extremely Loud & Incredibly Close Jonathan Safran Foers Roman mit deutschem Titel Extrem laut und unglaublich nah ist das, was er vorgibt zu sein: Eine literarische Adaption des unerträglichen Schmerzes eines neunjährigen Jungen namens Oskar, der seinen Vater bei den Anschlägen auf das Word Trade Center verloren hat. Seine Einsamkeit und Verzweiflung, sein Überlebenswille und seine Trauerarbeit werden bei der Lektüre physisch spürbar, stehen stellvertretend für den Verlust eines geliebten Menschen und wirken so in unglaublicher Wucht auf den/die LeserIn ein. Foer versteht es, durch die Perspektivenwahl, den assoziativen Schreibstil und den Einbezug graphischer Elemente Nähe zu evozieren. Optische Effekte wie Leerseiten, abgedruckte Visitenkarten, farbige Markierungen, Photographien, das 60 | Gespräch mit Alex Capus vom 24.08.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. 61 | Hochgatterer: Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen, S. 112.
3. Globalisierungseffekte
Daumenkino eines falling man in umgekehrter Reihenfolge verstärken die Unmittelbarkeit der Handlung. Die ästhetische Strategie der Nähe findet sich wieder in der Diskrepanz zwischen dem weltweit massenmedial vermittelten Zusammensturz der Zwillingstürme und der Ungewissheit Oskars, wie sein Vater dabei zu Tode gekommen ist. Der Junge hadert damit, dass er, der doch alles hätte wissen müssen, gerade darüber nichts in Erfahrung bringen kann. Dieses Nichtwissen lastet umso schwerer auf ihm, da er an besagtem worst day unfähig war, den letzten Telefonanruf seines Vaters entgegenzunehmen und nur seiner auf den Anrufbeantworter sprechenden Stimme lauschen konnte: »Bist du da? Bist du da? Bist du da? Bist du da? […] Bist du«62 Die Suche nach der Lösung eines Rätsels, ähnlich jenen, die sein Vater ihm zu Lebzeiten gestellt hat, wird für Oskar Sinn und Zweck seines Daseins. Er kann so seinem Vater noch etwas länger nahe sein und hofft, eine Antwort auf dessen Tod zu finden. Durch seine allegorische Odyssee durch New York, auf der Suche nach jemandem namens Black, der ihm das Rätsel lösen helfen kann, wird Oskar zum sozialen Akteur, erzählt seinen Verlust und erfährt, dass er damit nicht alleine und nicht alleingelassen ist. Er begreift, dass jeder anders trauert und findet in dieser Akzeptanz zu seiner Mutter, in deren Schutz und Geborgenheit zurück. Sowohl Foer, Hochgatterer und Hacker ist eigen, dass sie den 11. September 2001 objektiv sachlich darstellen. Werturteile, Schuldzuweisungen werden dabei ausgeklammert. Vielmehr wird die Wirkungsweise von 9/11 auf das einzelne Individuum reflektiert. Einzig Grond verweist nicht explizit auf den 11. September 2001, sondern referiert auf ihn, indem er Okzident und Orient einander gegenüberstellt. Literaturgeschichtlich lassen sich die Texte als Trauergeschichte, als Rückzug ins Private und Ausdruck einer als Zeitphänomen lesbaren Gleichgültigkeit im Zuge der Globalisierung deuten. Allen vier Texten ist eigen, dass sie 9/11 und die damit unabhängig von geografischer Distanz evozierte Nähe als ›globalvillage-Effekt‹ zur Sprache bringen.
62 | Vgl. Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah. Roman. Deutsch von Henning Ahrens. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007, S. 405.
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3.2.2 Schweizer ›(Nach-)9/11-Literatur‹ Man könnte angesichts solch herausragender Beispiele aus Deutschland, Österreich und den USA vermuten, dass die literarische Auseinandersetzung von AutorInnen aus der Schweiz mit dem 11. September 2001 vergleichsweise bescheiden und verhalten ausfällt. Dem ist aber bei eingehender Betrachtung nicht so. Wird bei Jürg Amann, Daniel Goetsch und Christoph Geiser, in Analogie zu den Textgruppen zwei und drei, 9/11 als narratives Element oder gar als Trauma aufgegriffen, so finden sich bei Ruth Schweikert und Matthias Zschokke Textpassagen, die den 11. September 2001 entsprechend der Textgruppe eins als möglichen metanarrativen Auslöser für die Romanhandlung schildern. Als Vertreter der vierten Textgruppe konnte kein relevanter Text aus der Schweiz eruiert werden, der sich mit den Nachwirkungen von 9/11 in New York auseinandersetzt. Gründe dafür können viele sein. Einer ist wohl die Tatsache, dass die geografische Distanz trotz ›globaler Vernetzung‹ eine Rolle spielt, zumal diese Textgruppe mehrheitlich amerikanischen AutorInnen mit einem starken Bezug zu New York vorbehalten zu sein scheint. Jürg Amann – Im Turm Ähnlich wie Jonathan Safran Foer greift Jürg Amann in seiner Erzählung Im Turm 63 das Element der Nähe und der An- und Abwesenheit am selben Ort auf, wobei er sich über den Hergang der Dinge im World Trade Center nicht ausschweigt und seinen Protagonisten durch das Inferno schickt. Der Ich-Erzähler weiß, dass etwas ›da oben‹, oberhalb des 73. Stock, geschehen ist. Alle haben es gehört, haben den Turm wanken gefühlt, ohne zu wissen, warum, haben den Schlag gehört, der in einen unablässig nicht endenden Donner übergegangen ist. Beunruhigt begibt sich der Ich-Erzähler treppensteigend, da die Fahrstühle nicht mehr fahren, im Gedränge ab- und aufwärts strebender Menschen nach unten, erreicht das 44. Stockwerk, in dem es vergleichsweise wieder ruhiger ist, die Menschen noch nicht wirklich alarmiert sind. In der Cafeteria erfährt er via Fernseher über die Katastrophe, über den Einschlag eines Flugzeugs in den nördlichen Turm des World Trade Centers, als ob er davon selber gar nicht betroffen wäre. Dieser Wissensvorsprung rettet ihm das Leben. Er 63 | Jürg Amann: Zimmer zum Hof. Erzählungen. Innsbruck, Wien: Haymon 2006, S. 75-79.
3. Globalisierungseffekte
beginnt zu rennen, will nur hinunter, hinab, hinaus. Fliehend wird er dem Sturz von Gebäudeteilen und sich überschlagenden, kopfüber fallenden Menschen entlang der Außenfassade gewahr. Er versucht, die ihm von unten entgegenkommenden Feuerwehrleute und Sicherheitsbeamten zur Umkehr zu bewegen – vergeblich. Wie er endlich auf der Straße steht, sackt in seinem Rücken der Turm in sich zusammen und er wird von der Druckwelle zu Boden gerissen. Amanns Erzählung ist bemerkenswert. Die Schilderung des Flugzeugeinschlags, des Donners und Getöses, des Brandes, der sprengenden Kraft des Feuers, des schwarz emporsteigenden Rauches und der Schilderung der Reaktion des Protagonisten auf die Umstände, auf seine Wahrnehmung seiner näheren Umwelt, ist ein gelungener Versuch, die Ereignisse im Turm poetisch darzustellen. Amann verfolgt das Prinzip der Verfremdung und Ästhetisierung als poetisches Stilmittel. Der Turm, »in dem sie arbeiteten, in dem sie alle zur täglichen Arbeit zusammengekommen waren« 64, steht als schlichter Begriff für den nördlichen Twin Tower und für das World Trade Center als Symbol amerikanischer Wirtschaftsmacht. Wortreihungen, Wortwiederholungen in abfolgenden Sätzen vermitteln Tiefe, Ausdrucksstärke und ein atemberaubendes Tempo. Die Erzählung tastet sich imaginär an jene Vorkommnisse im Innern der Zwillingstürme heran, an jene tragischen Opfergeschichten, die nie gänzlich aufgeklärt sein werden und über die trotz Erfahrungsberichten Überlebender nie abschließende Gewissheit erlangt werden kann. In Analogie zu Hochgatterer versteht es Amann, insbesondere am Textende jene Bildabfolgen vor dem inneren Auge des/ der LeserIn hervorzurufen, die sich durch die massenmediale Verbreitung der Anschläge in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. Entgegen dem Ich-Erzähler, der den Einsturz des Turmes nicht sehen kann, da er von der Druckwelle kopfüber auf die Erde geworfen wird, sieht der/ die LeserIn das Bild eines rennenden, zu Boden stürzenden Menschen, er ist entsetzt, aufgelöst, grau überpudert mit Staub und Schutt und in seinem Hintergrund breitet sich explosionsartig eine riesige Staubwolke aus, folgt ihm und gibt schließlich den Blick frei auf den in den Himmel ragenden und zugleich in sich zusammensackenden Zwillingsturm. Das Spiel mit Nähe und Ferne, die Verdoppelung des ›global-villageEffekts‹ durch Fernsehübertragung und Anknüpfung an das kollektive 64 | Amann: Zimmer zum Hof, S. 76.
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Gedächtnis, an die Imaginationskraft des/der LeserIn, machen Amanns Erzählung, bezogen auf die hier vorgestellte Thematik – nebst der Tatsache, dass er sich als einziger Autor aus der Schweiz an die Textgruppe drei herangewagt hat –, einzigartig. Daniel Goetsch – Ben Kader In Ben Kader bettet Daniel Goetsch die Identitätssuche seines Ich-Erzählers und Protagonisten in die Beschreibung der Terroranschläge ein, ohne die damit erfolgreich angelegte Erwartungsspannung aufzulösen. Goetsch schildert eingangs die Übertragung des Flugzeugeinschlags, welche der Romanhandlung zeitlich nachgestellt ist, und nimmt erst wieder auf den letzten Zeilen des Romans darauf Bezug, wenn der Ich-Erzähler in Begleitung seiner Freundin über die Großleinwand in der Flughafenhalle Zürich mit dem unfassbaren Ereignis konfrontiert und diesen Tag nicht mehr vergessen wird. Die Wahl eines Nicht-Ortes als vermittelndem Ort der ›Breaking News‹65 ist stimmig. Die Funktionalität des Ortes, welcher seine historische und geografische Bedeutung als Passage verliert, rückt die Welt zusammen, lässt sie als Einheit erscheinen. Eine Ästhetisierung von 9/11 als ›global-village-Effekt‹ wie bei Jürg Amann gelingt dem Autor dennoch nicht. Den darauf referierenden Textpassagen, dem sich über eineinhalb Seiten hinziehenden ersten Satz, der das Unsägliche sagen möchte, fehlt es an sprachlicher Ausdrucksstärke. Die literarische Adapation vermag nicht zu überzeugen. Teils Reportagebericht, teils durch unpassende Bilder erzwungen und einer Übertragung über Großleinwand nicht entsprechend, hätte weniger hier mehr sein, hätte die Imagination gänzlich dem/der LeserIn überlassen werden können: […] werden wir einen dumpfen Schlag vernehmen, eine Faust, die auf eine Daunendecke niedersaust, oder ein Zementsack, der zu Boden plumpst, oder der Aufprall eines Körpers, und das wird sich ständig wiederholen, dieses verstörende Geräusch, während wir in den Fernseher hineinstarren, wo die meiste Zeit gar kein Bild ist, nur Schwärze, flimmerndes Nichts, und wir selbst der Tonspur ausgeliefert, unser Auge, unser liebster Sinn, ohnmächtig, ganz dem Hörsinn überlassen, den Schwingungen eines Schlags und des Ausrufs: Mein Gott, o mein Gott […].66
65 | Vgl. Daniel Goetsch: Ben Kader. Roman. Zürich: Bilgerverlag 2006, S. 254. 66 | Goetsch: Ben Kader, S. 5.
3. Globalisierungseffekte
Für die strukturelle Entwicklung des Romans kommt 9/11 jedoch eine wichtige Rolle zu. Daniel Goetsch verwendet ihn als Initiator, als das den Romanverlauf auslösende Moment, das den/die LeserIn in den Bann schlägt und den Einstieg in die Romanhandlung glücken lässt. Zugleich markiert er eine Schnittstelle, jenseits der kulturelle Zugehörigkeitsbekenntnisse zur Diskussion gestellt oder gar gefordert werden. Die Hauptfigur Dan Kader begibt sich auf die komplexe Suche nach seiner kulturellen Identität, die er lange von sich fern gehalten und verdrängt hat. In der Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte seines französisch-algerischen Vaters – Ben Kader, der im Algerienkrieg an Folterungen (zum Schutz der Gesellschaft vor weiteren Terroranschlägen) beteiligt war und sich auf eine unglücklich endende Liebesbeziehung mit Meriem, einer arabisch-algerischen Unabhängigkeitskämpferin, eingelassen hatte – begibt sich Dan Kader auf eine Reise in die Vergangenheit, die ihn mit seinem mittlerweile verstorbenen Vater versöhnt und vermutlich Miriam, seine Freundin, im übertragenen Sinne wiederfinden lässt. Die Vielschichtigkeit des Romans lässt sich durch die Parallelen zwischen den Figurenkonstellationen – zwischen Dan und Ben, zwischen Miriam und Meriem – und durch das Infragestellen kultureller Zuschreibungen mittels Überzeichnungen und Umkehrungen erahnen, die in der Kritik an der eurozentristischen Sichtweise der arabischen Kultur mit Referenzen auf Edward Said67 und Isabelle Eberhardt 68, in der arabisch-zentristischen Sichtweise der europäischen Kultur sowie in der Thematisierung der französischen Kolonialgeschichte in Algerien69 zum Ausdruck kommt. Sowohl der aktuelle Krieg gegen den Terrorismus, als auch der Algerienkrieg erhalten in diesem Lichte, in Bezugnahme auf 9/11, eine weitere Bedeutungsdimension: jene der Schuldfrage. Der Roman Ben Kader kann so ausgelegt werden, dass zum einen die europäische Kolonialgeschichte den jüngst beobachtbaren Fundamentalisierungsprozessen mit den Weg bereitet hat und zum anderen heute ähnliche Mechanismen wie damals im Gange sind, die durch scheinbar postulierten Zweck die Mittel heiligen.
67 | Vgl. Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009. 68 | Vgl. Goetsch: Ben Kader, S. 9, 56, 60 u. 240. 69 | Ebenda, S. 213-216, Bezugnahme auf Frantz Fanon, Vordenker der Entkolonialisierung.
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So gesehen schließen, am Ende des Romans, die Breaking News über den ›Clash of Civilizations‹ den Kreis und stellen die Frage nach der Bedeutung kultureller Identität, in Abgrenzung von kultureller Zugehörigkeit, wieder in den Raum. Christoph Geiser – Wenn der Mann im Mond erwacht In Christoph Geisers Wenn der Mann im Mond erwacht wird der 11. September 2001 als narratives Element zum diskursiven Höhepunkt erhoben. Der Text verschreibt sich gänzlich der Reflexion des Schreibens und Selbstreflexion des Schreibenden und stellt einen Versuch dar – wie Geiser in einem Brief schreibt –, in assoziierendem Rede- und Sprachfluss Wirklichkeit, Welt, Zeit beständig notierend festzuhalten.70 Mit 9/11, der dem ereignislosen Sommer 2001 ein Ende bereitet, stößt Geiser den/ die LeserIn in den Kerndiskurs über eine Ästhetik des Widerstands in Anlehnung an Peter Weiss.71 Doch so, wie der Diskurs nach Geiser zum Scheitern verurteilt ist, so auch 9/11 in der Entropie der medialen Informationen. Der Akt des Widerstands und die Identifikation mit dem Hijacker Mohammed Atta72 misslingen. Blackout in der Blackbox. Geisers Regelverstoß kritisiert die künstliche Suche nach Welthaltigkeit via Nachrichten-Mitteilungen, zeigt auf, dass deren ›Zuviel-Stand‹ 73 uns abstumpfen und zugleich überfordern. Die Welt ist weggegeben, selbst wenn wir nicht zu spät kommen und uns redlich und permanent bemühen.74 Die einzige Wirklichkeit besteht nur mehr aus Diskursen, die zu Ereignissen 70 | Vgl. Brief von Christoph Geiser vom 21.04.2007 an A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. 71 | Vgl. ebenda. 72 | Mohamed Mohamed el-Amir Awad el-Sayed Atta (September 1, 1968 – September 11, 2001) war ein ägyptischer Student, der in den späten 90er Jahren in Deutschland studierte und mit Ziad Jarrah, Marwan al-Shehhi und Ramzi Binalshibh die Hamburger Zelle formierte, mit der al-Qaida zusammenarbeitete. Atta war der Hijacker des American Airlines Flight 11, welcher als erstes Flugzeug in das World Trade Center gesteuert wurde. 73 | Vgl. Christoph Geiser: Wenn der Mann im Mond erwacht. Ein Regelverstoss. Zürich: Ammann 2008, S. 38. 74 | Nicole Henneberg: Scheitern als Chance. Der Basler Christoph Geiser hat seine große Roman-Trilogie abgeschlossen. In: Basler Zeitung vom 11.08.2008, S. 6.
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werden, zu Flugsand, hinter dem die Wirklichkeit nicht mehr zu finden ist. Geiser analysiert den Anschlag auf das World Trade Center aus dieser Perspektive und entlarvt Erlösungsversprechungen, Illusionen, Fiktionen, Wahnsysteme: Ein Schrecken? Mit vierundzwanzig Stunden Verspätung? […] verspürten wir – oder vernahmen wir’s, wie von fern? fremd?, als säß’s uns, als Fremdes, quasi im Hinterkopf? – ein leises, sehr leises Lachen. […] Das darf doch nicht wahr sein! Oder vielmehr, genauer, der Wahrheit gemäß: Zu schön, um wahr zu sein! Schön? 75 […] Atta, der Attentäter, wußte, was er tat […]. Ein Akt des Widerstands, wir sagten’s, und: ein effektvoller. Spektakulärer. Und, folglich, ästhetisch bewertbar, wie jedes Spektakel und jeder Effekt. Und wir wollten nur Zuschauer sein – Voyeur quasi – zappelnd vorm Fernseher: wenn wir zum x-ten Mal den brennenden Turm sehen, den einstürzenden Turm, Staubwolken, den davonwetzenden Broker im Staub […]!, zum x-ten Mal, sage ich, das Flugzeug (das zweite) im Augenblick der letzten riskanten Kurve […] – zappelnd in Vorfreude auf das Spektakel, infinitesimal kurz vorm Crash!76 […] Nein! Mohammed Atta sei unser Mann, der Mann im Cockpit: der weiß, was er tut, im letzten Augenblick seiner Tat. Stadtplaner; Architekt mit Hochschulabschluß; bürgerlich; Mittelstand; soviel wissen wir. […] Finstrer Fundamentalist! […] Eine Flug-Show, rein ästhetisch womöglich? Das Zeug hochziehn, im letzten Moment? Ein Künstler, der, wir sagten’s, weiß was er tut; weiß, überdies, in dem Augenblick – dem letzten! –, daß er nicht allein ist – einsam in seiner Kunst!, wie jeder andre in dem Augenblick –, sondern daß präzis zwanzig Minuten nach ihm ein Genosse und/oder Bruder sein Kunstwerk vollenden wird, als wär’s sein Zwilling; […].77 […] vor Augen nichts als das Paradies – die ominösen Jungfraun daselbst – […].78 […]Vor den weit geöffneten Augen im reglosen Gesicht nur die Pflicht und ihre Erfüllung: die Mission!, die womöglich historische – […].79 […] auch eine abgewickelte Utopie. Fiktion! Wahn. Schreberscher. 80
75 | Geiser: Wenn der Mann im Mond erwacht, S. 86f. 76 | Ebenda, S. 257. 77 | Ebenda, S. 258. 78 | Ebenda, S. 262. 79 | Ebenda, S. 263. 80 | Ebenda, S. 265.
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Geisers poetischer Existentialismus ist eindringlich und seine Betrachtungsweise von 9/11 einmalig. Er spricht aus, was viele nicht auszusprechen wagen, übt Kritik am Zeitgeist, an Gesellschaft und Politik. Er ironisiert und polemisiert, enthemmt seinem Appetenzverhalten Folge leistend, den 11. September 2001 aus der Perspektive des Nachrichtenjunkies, des wetter- und kulturinteressierten DRS2-Radiohörers, des Widerstandskämpfers, des religiösen Fundamentalisten oder gar des um Perfektion bemühten Künstlers. In einer Rezension wird treffend über Geisers literarische Absicht geschrieben: »Geiser ist überzeugt, dass sich Schreiben als solches nicht begründen lässt. Es lässt sich nur vollziehen. Es hat keine Ursache und schon gar keinen Sinn. Es ist ein Desaster – wie die Zeit, in der wir angekommen sind.«81 Geiser selber bezeichnet seine ästhetische Strategie als eine ›Poetik des Flugsands‹ 82, in der der Text selbst mitunter syntaktisch keinen festen Boden mehr hat. 9/11 wird in Folge relativiert, wird zu etwas Benennbarem, einem Diskurs, der trotz seines fulminanten Einbruchs in den ereignislosen Sommer 2001, wieder vergeht, sich diskursiv auflöst. Sowohl im internationalen als auch im nationalen Vergleich sind Geisers Betrachtungen über das Attentat und den Hijacker Mohamed Atta als Kunstwerk und Künstler einmalig: »[…] keine Ästhetik der Gedenkstätten! […] – auch Ground Zero – […] wird ja Gedenkstätte womöglich […] für Atta, den Attentäter? […] Nein! Keine Gedenkstätten!«83 Matthias Zschokke – Maurice mit Huhn Die Rezeption des 11. Septembers 2001 findet auch bei Matthias Zschokke und Ruth Schweikert ihre Fortsetzung. Nähert sich Schweikert dezidiert gesellschaftskritisch der Thematik an, so wirkt Zschokkes Textpassage im Roman Maurice mit Huhn eher nebensächlich, was aber durchaus dem Romankonzept entspricht. Nicht das Ereignis oder dessen politische Folgen werden aufgegriffen, sondern die falsche oder gar fehlende Betroffenheit der Bürger und der politischen Elite, getrieben von der Gier
81 | Samuel Moser: Am Schreibtisch der Erregung. Christoph Geisers ›Wenn der Mann im Mond erwacht‹. In: Neue Zürcher Zeitung vom 30.09.2008, S. 43. 82 | Vgl. Brief von Christoph Geiser vom 21.04.2007 an A.K. 83 | Geiser: Wenn der Mann im Mond erwacht, S. 287.
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nach mehr Geld und davon, den Kopf ins rechte Licht zu rücken.84 Den Anschlag selber reflektiert Zschokke nicht. In der Gegenüberstellung eines Kochs und einer Kellnerin mit zwei scheinbar vom Ereignis unberührten Gästen, versucht Zschokke die unterschiedlichen Reaktionen auf 9/11 einzufangen. Erstere zeigen sich angesichts der Fernsehübertragung des Zusammensackens der zwei Hochhaustürme äußerst betroffen und werden, entsprechend der Vermutung des Erzählers, vielleicht später bei der amerikanischen Botschaft eine Rose ins Absperrgitter klemmen oder eine brennende Kerze auf den Asphalt davor stellen. Letztere interessieren sich nicht weiter, zahlen und gehen. Doch auf dem Nachhauseweg, in der U-Bahn und anderntags im Café wird zumindest Maurice Zeuge von hör- und sichtbaren Solidaritätsbekundungen, denen er sich nicht entziehen kann, auf die er aber auch nicht spezifisch reagiert. Der kleine Altar – ein Photo von der Freiheitsstatue –, bei dem am kommenden Tag in besagtem Café mit fünfzehn brennenden Teelichtern der schrecklichen Ereignisse gedacht wird, lässt den Protagonisten assoziativ an seinen verstorbenen Vater denken und nicht an die Opfer von 9/11. Zschokke lässt die massenmedial evozierte Nähe der Terroranschläge an seiner Hauptfigur abprallen. Dieses Konzept passt durchaus zu Zschokkes auktorialer Absicht, kontrastierend zu den Sensationsnachrichten aus aller Welt über Belanglosigkeiten, über die Ereignislosigkeit des Lebens seiner Hauptfigur zu schreiben. Durch das Fehlen eines Handlungsaufbaus, steht jeder Romanteil für sich, entsteht durch die Gesamtkomposition ein Rhythmus, der mit seinem langsamen, teils im Augenblick verweilenden, philosophisch-beschaulichen Takt unsere beschleunigte, vernetzte Welt kontrastiert und den Rückzug ins Eigene, Regionale darstellt, so wie der Titel des Romans Maurice mit Huhn einem Gemälde von Albert Anker entlehnt ist und diese Absicht bildhaft unterstreicht. Ruth Schweikert – Ohio In Ruth Schweikerts Roman Ohio wird der 11. September 2001 zum narrativen Element, welches die Geschicke der beiden Hauptfiguren Merete und Andreas miteinander verschränkt, und steht symbolisch für die Unausweichlichkeit von Geschehnissen, die in ihrer Konsequenz alles verändern können. Die Handlung spielt fast genau einen Monat nach den 84 | Vgl. Matthias Zschokke: Maurice mit Huhn. Roman. Zürich: Ammann 2006, S. 173.
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Anschlägen auf die Twin Towers und umkreist die großen Themen und Motive der Weltliteratur: Liebe, Verrat, Tod und Selbstmord. Selbstmord als Ausdruck für die Leiden von Andreas an der Welt, an der Melancholie des 21. Jahrhunderts, an der zunehmenden Unverbindlichkeit bestehender Werte, an der Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels, an einer Spaßgesellschaft, deren vorläufiges Ende unmittelbar nach 9/11 in den Feuilletons verkündet worden ist. »[…] aber das würde vorübergehen, wie alles vorüberging, selbstverständlich, leise und unsichtbar.«85 Andreas’ Freitod steht für ein Sich-Ausklinken aus der Verantwortung, aus dem Schmerz, für einen sich aufopfernden, aber zugleich auch egoistischen Akt, als finale Konsequenz einer unerbittlich existentialistischen Lebenseinstellung. Der Freitod kann zeitkritisch als ein Verstummen in einer Welt verstanden werden, in der die Erreichbarkeit, die Quantität und Reichweite der Informations- und Kommunikationsströme sowie ein hemmungslos ausgelebter Individualismus wichtiger sind als Gemeinschaft, Verständnis und Anteilnahme. Andreas ist tot. Hat ihn der Zeitgeist eines neuen Jahrtausends, in dem sich wie auch in Andreas’ Leben die Begriffe immer weiter von den Dingen entfernen, hat ihn die Aneinanderkettung unzähliger kleiner Verluste umgebracht? Forever Young war die Marke, die sie alle auf der Stirn trugen und die mit der Jahrtausendwende plötzlich ihre Innenseite nach außen gekehrt hatte und jedem Passanten das Geheimnis jener rätselhaften Melancholie offenbarte, mit der sie alle geschlagen schienen: Ich selbst bin das, was ich verlor. 86
Andreas hatte sich verloren, verloren in einem Leben, in einer Beziehung, die nicht mehr war, was sie zu sein schien: kompakt, rund, schimmernd. Seit Merete wenige Tage nach dem 11. September 2001 ihre Liebe verraten hatte und sein Sohn wegen einer Unachtsamkeit seinerseits zwei Wochen später verunfallte und in ein künstliches Koma versetzt werden musste, begannen die Ereignisse für Andreas aus dem Ruder zu laufen; in den 35 Jahren seines Lebens lange vorbereitet und in einem Existentialismus gipfelnd, der ihn selbst vor dem Tod nicht zurückschrecken lässt: »(Es gibt keine Zukunft, sagte Andreas, Zukunft ist eben das, was es nicht gibt.) ›[…] ich suche nicht nach einer persönlichen Botschaft, das wäre 85 | Ruth Schweikert: Ohio. Roman. Zürich: Ammann 2005, S. 161. 86 | Ebenda, S. 93.
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zynisch angesichts der Weltgeschichte.‹ 87 Das einzige Ritual, – als höchst private Religion – gemeinsame Erinnerungen aufleben zu lassen, war ihm abhanden gekommen und hatte seine Kraft, ihn gegen die Zukunft zu wappnen, verloren. Erinnerungen, die ihn nun leise verhöhnten, entpuppten sich als Lügen. »Mit Lügen konnte man halbwegs unbeschadet leben. Aber wie sollte man damit leben, daß sich beinahe jede dieser Lügen einmal wahr und richtig angefühlt hatte?«88 Die Wirkungsweise von 9/11 als Ausdruck für die Melancholie des neuen Jahrtausends ist weit wichtiger, als die darauf referierenden Stellen, die an einer Hand abzuzählen sind: Seine erste Erwähnung findet der 11. September 2001 in einem Frage-und-Antwort-Spiel zwischen den beiden Hauptfiguren. Auf Andreas’ Frage, was ihre allererste Empfindung war, als sie die Türme des World Trade Centers einstürzen sah, antwortete Merete: »(Ein flaues Gefühl in der Magengrube, […], etwas, das zwischen Erregung und Abscheu hinund herflitzte.)« 89 Die zweite Textpassage greift die Anschläge aus der Perspektive älterer deutscher Touristinnen auf, die es als Akt der Zivilcourage betrachten, gerade in solch schwierigen Zeiten nicht auf eine Flugreise zu verzichten, um den Terroristen nicht das Gefühl zu vermitteln, sie hätten etwas erreicht.90 Der dritte Verweis findet sich in einer Szene am Johannesburg International Airport, wo Andreas ungewollt von einem jungen afrikanischen Porter in die Rolle des weißen reichen Europäers gedrängt wird, der fernab der Geschichte Südafrikas Teil jenes Systems geworden ist und sich darüber nicht wunderte, wenn unter dem Adidas-T-Shirt des jungen Porters das Konterfei von Bin Laden spazieren getragen würde, das sich in den Townships verkaufte wie frisches Brot.91 Vor dem Hintergrund des 11. Septembers 2001 lässt Schweikert die gelebten oder im Entstehen begriffenen kulturellen Differenzen zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen prosperierenden und den immer ärmer werdenden Ländern, zwischen Afrika, Europa, Amerika und dem 87 | Schweikert: Ohio, S. 13f. 88 | Ebenda, S. 188. 89 | Ebenda, S. 13. 90 | Ebenda, S. 56. 91 | Ebenda, S. 59f.
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arabischen Raum, zwischen christlichem Fundamentalismus und islamischem Extremismus auf brechen. Der vierte und letzte Verweis setzt sich mit den Selbstmordattentätern und der medialen Internationalisierung des Terrorismus auseinander: Ob die Selbstmordattentäter, dachte Andreas, als sie die Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Center steuerten, wußten, daß sie damit nicht nur Actionfilme und Computergames imitierten, sondern daß schon Adolf Hitler angesichts seiner Niederlage ihre menschenverachtende, größenwahnsinnige Vision vorweggenommen hatte, wie sie Albert Speer in seinen Tagebüchern notierte?: ›Ich erinnere mich, wie er sich in der Reichskanzlei die Filme vom brennenden London, vom Feuermeer über Warschau, von explodierenden Geleitzügen vorführen ließ und welche Gier ihn jedes Mal erfasste […]‹. […] Der einzige Unterschied war vielleicht, dachte er, daß die Drahtzieher des elften September sich für ihren spektakulären Angriff auf die Insignien der westlich-urbanen Zivilisation den helllichten Tag ausgesucht hatten, was die Opferzahlen und die Einschaltquoten der Live-Übertragungen sogleich in die Höhe eines ›historischen Ereignisses‹ schnellen ließ. 92
3.2.3 Alles wird anders, auch in der Schweiz – 9/11 als literarische Zäsur Die Analyse der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz zeigt auf, dass der 11. September 2001 als ›global-village-Effekt‹ nicht nur globalisierungstheoretisch, sondern auch literarisch betrachtet einen Einschnitt markiert. Einen Einschnitt, der literaturgeschichtlich als Beginn eines neuen Zeitabschnittes verstanden werden kann und die Verwendung der Begrifflichkeit einer ›(Nach-)9/11-Literatur‹ durchaus legitimiert. Das Spektrum der thematischen Ausgestaltung des 11. September 2001 ist vielfältig und steht bezüglich Originalität und visionärer Zeitkritik den internationalen Texten in nichts nach. Eine Thematisierung von 9/11 als diskursives Scheitern im Zuge eines massenmedialen ›Zuviel-Stands‹, wie uns Christoph Geiser vor Augen führt, ist in seinem Ansatz so einmalig, wie Jürg Amanns Ästhetisierung der Begebenheiten ›im Turm‹ oder die Texte von Ruth Schweikert und Daniel Goetsch, die dem Leitgedanken ›Alles wird anders‹ folgend – zumindest für die Hauptfiguren – 9/11 in ihre Romane eingearbeitet haben. In Ohio dominiert das 92 | Schweikert: Ohio, S. 96.
3. Globalisierungseffekte
Bewusstsein, dass der 11. September eine Kette unglücklicher Ereignisse losgetreten hat. In Ben Kader verbindet er die aktuelle Gefahr eines Kulturclashs mit der französischen kolonialen Vergangenheit in Algerien. Allen Texten ist eigen, dass sie sich im Spiel um Nähe und Ferne, um An- und Abwesenheit am selben Ort der Thematik annähern. Das Infragestellen und Aufgreifen der weltumspannenden digitalen Revolution steht dabei im Vordergrund. Sei dies nun bei Jürg Amann durch das Paradoxon einer Nachrichtenübertragung von 9/11 im World Trade Center selbst oder bei Geiser über die Verbreitung der unerhörten Begebenheit über »DRS 2 aktuell, ein Sendegefäß für Kultur & Gesellschaft der gehobneren Art«.93 Das Lachen als erste Reaktion auf 9/11 findet sich in Analogie zu Hochgatterer auch in Geisers Text. In Wenn der Mann im Mond erwacht, wird das Lachen des Ich-Erzählers aber überzeichnet und verkörpert nicht einfach das schockartige Erstaunen über die Möglichkeit und Tatsache eines solchen Ereignisses, sondern das Vergnügen an einer derartigen Ästhetik des Widerstandes.94 Alle hier im Kontext des 11. September 2001 vorgestellten Romane aus der Schweiz weisen klare Globalisierungstendenzen auf. Die Erzählung Im Turm lebt hauptsächlich von der Wirkungsweise von 9/11. Maurice mit Huhn und Wenn der Mann im Mond erwacht stehen für einen Rückzug ins Private und sind Texte, die sich, entgegen der aktuellen Beschleunigung und Vernetzung im Kontext neuer Technologien, gerade der Ereignislosigkeit und Belanglosigkeit verschrieben haben. Ben Kader entwickelt seine Dynamik vor dem Hintergrund von 9/11 und der damit einhergehenden Gegenüberstellung von Orient und Okzident. Interkulturelle Fragestellungen und die Suche des Protagonisten nach seiner kulturellen Identität stehen dabei im Zentrum. Ähnlich, mit einer leicht abweichenden Gewichtung, präsentiert sich das Bild in Ohio. Der Roman kreist um die Ich-Krise des Protagonisten, die in der Auseinandersetzung und Begegnung mit Fremdem, Anderem und dem kritischen Infragestellen von Globalisierungsprozessen nicht gelöst werden kann. Unter den Romanen ist einzig Ohio, vergleichbar mit Walter Gronds Der gelbe Diwan und Katharina Hackers Die Habenichtse, in seiner gesamten Anlage ein globalisierter Roman, der die unterschiedlichsten und teils ambivalenten 93 | Geiser: Wenn der Mann im Mond erwacht, S. 83. 94 | Ebenda, S. 87.
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Facetten des Globalisierungsphänomens und des aktuellen Zeitgeistes zu reflektieren vermag.
3.2.4 Ruth Schweikert – Ohio, ein globalisierter Roman Ohio zeichnet sich durch eine enorme Verflechtung der Romanfiguren und Handlungsorte aus. Das Ineinandergreifen der Handlungsorte, der Handlungsstränge, der Zeitebenen, der Erzählperspektiven, der subtil ausgelegten Psychogramme der einzelnen Romanfiguren, sowie die Einbettung der Charaktere in das Zeitgeschehen verdichten den Roman derart, dass jede erneute Lektüre weitere Erkenntnisse über die Befindlichkeiten und Abgründe, über die Beweggründe der Romanfiguren ans Tageslicht zu befördern vermag. Bereits im ersten Kapitel legt Schweikert offen, dass die Haupthandlung in den frühen Morgenstunden des 16. Oktober 2001 in Südafrika, in der Hotelsuite im Blue Water Hotel in Durban, ihren Lauf nimmt und die Story um eine gescheiterte Liebesbeziehung zwischen Merete und Andreas kreist. Eine Liebe, die den beiden irgendwie, irgendwann abhanden gekommen ist. Die Spurensuche führt vom internationalen Handlungsort Durban weg, aber nur fiktiv, in den assoziativen Gedankengängen Andreas’, in Einschüben, Rückblenden und Vorausschauen der auktorialen Erzählinstanz. Das Oberengadin wird Schauplatz von Andreas’ Kindheit und Jugend, der (Wahl-)Heimat seiner Großeltern und Eltern. Zürich wird Schauplatz seiner Ausbildungsjahre als Gynäkologe, seines und Meretes Familienlebens, und das zerstörte Dresden am Ende des Zweiten Weltkrieges jener Ort, den Almut – die Mutter von Andreas – traumatisiert hinter sich lässt, um in einem heimatfernen Tal in den Schweizer Bergen endlich wieder sprechen zu können. Der Ort Ohio, der im Romantitel verheißungsvoll genannt wird, ist nicht Handlungsort per se, sondern symbolisiert vielmehr eine Straße in die Zukunft, den American Dream der Großeltern, der für sie in Celerina wahr geworden ist. Durban dagegen verkörpert einen realen, internationalen und multikulturellen Schauplatz, von dem aus Frachtschiffe Rohrzucker um den Globus verteilen und in dem es alles gibt, in dem sich die halbe Welt wiederzufinden vermag: der Broadway, Beverly Hills, New Germany, Dublin und Sydney.95 95 | Schweikert: Ohio, S. 26 u. 208.
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Trotz aller Multikulturalität repräsentiert er aber zugleich einen Ort der Kolonial- und Apartheidsgeschichte, an dem Andreas, seiner herkömmlichen Identität beraubt, weder als Arzt, noch als Tourist, sondern nur mehr als weißer Europäer wahrgenommen wird. In Durban hatte alles begonnen: die Geschichte Meretes, in die Andreas hineingeriet. Die Wahl Durbans als Handlungsort ist motiviert, kausal bedingt und steht sowohl für Tod und Neubeginn. ›Alles Entscheidende in meinem Leben [so Merete] fängt an mit einem Toten, mit einer Toten, genauer gesagt […].‹96 Als multikultureller Schmelztiegel und wirtschaftliche Metropole wird Durban als eine Global City begriffen, in der der American Dream auch für Andreas hätte wahr werden können. Schweikerts Roman ist in Analogie zu unserer Zeit dicht und schnell. Sie versteht es, die Handlungsorte, die Lebensgeschichten und Migrationshintergründe der Romanfiguren derart ineinander zu verflechten, dass der Handlungsverlauf fatal beschleunigt wird. Schon nur die Schilderung der Herkunftsgeschichten vermag dies zu illustrieren: Andreas Lazzaroni ist zwar Schweizer, doch im Aussehen unverkennbar ein Erbe seiner italienischen Großeltern väterlicherseits, die 1920 ihre Heimatdörfer in den italienischen Bergen oberhalb von San Pellegrino verlassen hatten, um im Oberengadin Arbeit und eine Existenz zu suchen. Andreas’ Vater blieb im Engadin, heiratete aus Konformität ein deutsches Au-pairMädchen, obwohl er sich während eines Spanienaufenthalts in Alejandro verliebt hatte. Merete, Andreas Partnerin, wurde in Südafrika, in Durban, geboren und wuchs in der Schweiz auf. Ihre leiblichen Eltern, vermutlich Südafrikaner mit indischen Herkunftswurzeln, hatte sie nie kennen gelernt. Nationale Muster und daraus resultierende kulturelle Differenzen spielen in Ohio eine wichtige Rolle für den Handlungsverlauf. Das ›schweizerische Selbstverständnis‹ wird angesichts erschütternder Tatsachen als ein sich in Auflösung befindliches nationales Muster verstanden. Nebst dem Schweizer Bankenskandal in Südafrika oder dem Zuger Attentat wiegt insbesondere das Swissair-Grounding schwer, denn so Schweikert: »Die Swissair, […], sei für die meisten Schweizer ihrer Generation – Mittdreißiger, Akademiker, die noch immer sozialdemokratisch wählten, vermutlich aus purer Nostalgie – längst zum einzig vertretbaren
96 | Schweikert: Ohio, S. 155.
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Synonym für Heimat geworden.«97 In einer Rückblende fühlt sich selbst der zehnjährige Andreas bei einem Besuch der Suisse Miniature in Melide verraten, verraten von einer Schweiz, die er als aufgeblasene Kopie des originalen Kleinformats empfindet, verraten von einem Land, das so beharrlich an seiner Erfolgsgeschichte weiterbaute, die Bruchstellen von 1939 und 1945 miteinander vernähte, ohne dass eine Naht sichtbar geworden wäre; ein Land, das nichts verloren hatte, noch nicht mal die Fähigkeit zu trauern, weil es gar nichts zu trauern gab.98 Nicht nur die internationalen Verflechtungen der Romanfiguren, der Handlungsorte und die inhaltlich auszumachenden Globalisierungsdiskurse sind Merkmale dafür, dass Ohio ein globalisierter Roman ist. Die Diskrepanzen und Herausforderungen der globalisierten Welt veranschaulicht Schweikert auch am Beispiel ihrer ProtagonistInnen. Andreas kann mit den individualistischen gesellschaftlichen Umwälzungen der Globalisierung nicht mithalten. Beharrlich hält er krampfhaft an einem traditionellen Partnerschaftsmodell, am Glauben an die Institutionen Familie und Ehe, an der Liebe zu Merete fest. Im Gegensatz dazu Merete, die weder zu Dingen noch zu Menschen eine dauerhafte Beziehung aufzubauen vermag. »›Wenn du mich eines Tages verläßt oder vor mir stirbst‹, hatte Merete am dritten Hochzeitstag noch scherzhaft gesagt, ›dann werde ich traurig sein und verzweifelt, aber ein klein wenig auch erleichtert, so elf, zwölf, dreizehn Prozent.‹«99 Weder Merete noch Andreas verkörpern jene Generation der zehn Jahre jüngeren Männer und Frauen, die wie Schweikert selber schreibt, im Zuge der Globalisierung tendenziell konservativer, aber zugleich auch wendiger, schneller und emanzipierter geworden sind. »Anwältinnen und Consulter, die es problemlos schafften, haushälterisch mit ihren Gefühlen umzugehen, und stolz darauf waren, ein gut geschmiertes Rädchen im Wirtschaftskreislauf abzugeben.«100 Konservativ, so Merete, weil diese Generation, trotz dem Wissen um eine 50prozentige Scheidungsrate, bereit ist, sich auf das Wagnis Ehe und gemeinsames Wohneigentum einzulassen, ungeachtet der damit verbundenen Konsequenzen. Konse-
97 | Schweikert: Ohio, S. 55. 98 | Ebenda, S. 152. 99 | Ebenda, S. 164. 100 | Ebenda, S. 213.
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quenzen und Entscheidungen, die Merete selber nie aus freien Stücken hätte tragen und fällen können. Ihr Entschluss, bei Andreas zu bleiben, ihn nicht zu verlassen und ihr widersprüchliches Verhalten, das langsame Hinarbeiten auf eine von Andreas gefällte unwiderrufliche Entscheidung, entlarven sie als im Grunde der Situation nicht gewachsen.
3.3 I NTERKULTUR ALITÄT – LITER ARISCHE G RUNDKONSTITUENTE IM Z UGE DER G LOBALISIERUNG ? A NALYSE DER R OMANE VON M A X F RISCH , M ARTIN R. D E AN UND P ERIKLES M ONIOUDIS 3.3.1 Interkulturalität als literarische Grundkonstituente Die Auseinandersetzung mit kulturell Eigenem und Fremdem, mit der »Erfindung der Welt«101 im Kontext individueller, aber auch geopolitisch motivierter Identitätsbildungsprozesse ist kein Novum gegenwärtiger Texte, sondern schon immer, seit die Welt in ihrer Globalität verstanden und entdeckt worden ist, Gegenstand mündlicher und schriftlicher Überlieferung. Waren Reiseberichte und ethnografische Studien bereits in der Antike und im Mittelalter literarische Textgattungen, in denen sich Tradiertes und Fiktionales durchmischen, so findet dies unter anderem seine Fortsetzung in den Erkundungsreiseberichten zu Wasser und zu Land im Zeitalter der Entdeckungen, in den Reiseabenteuerromanen des Industriezeitalters oder den Nachstellungen großer Entdeckungsreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.102 Literaturgeschichtlich betrachtet sind Erfahrungen von Alterität meist an historische Begebenheiten und Zeiten politisch-gesellschaftlicher Umwälzungen gebunden. Man denke an die kolonialen und postkolonialen 101 | Vgl. Guthke: Die Erfindung der Welt, S. 9-82. 102 | Vgl. Christof Hamann u. Alexander Honold (Hg.): Ins Fremde schreiben. Zur Literarisierung von Entdeckungsreisen in deutschsprachigen Erzähltexten der Gegenwart. In: Dies.: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Göttingen: Wallstein 2009, S. 9-20, hier S. 9.
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Diskurse oder an die Multikulturalitätsdebatten, die oft Gegenstand literarischen Arbeitens sind. Seit dem Zweiten Weltkrieg weisen zum einen die in den Literaturwissenschaften aufkommenden markierten Literaturzuschreibungen103 – wie jüngst jene der interkulturellen Literatur, die auf eine sich verändernde Situation von MigrantInnen der ersten und zweiten Generation verweist104 und zu deren »Produktionsbedingungen der Umgang mit verschiedenen Kulturen und das Überschreiten von Kulturgrenzen« 105 gehört –, zum andern die Etablierung des Lehr- und Forschungsgebiets der intercultural studies im Zuge des cultural turns in den Geistes- und Sozialwissenschaften auf ein Zunahme interkultureller Fragestellungen hin. Die seit den 1990er Jahren kulturell erfahrbar gewordene Globalisierung widerspiegelt sich in der zeitgleich entstandenen Forschungsrichtung der interkulturellen Literaturwissenschaft. Als vergleichende Entwicklungsforschung hat sie zum Ziel, Kompetenzen für den Umgang mit Alterität, Fremdheit und Differenz zu vermitteln. Im Bereich der deutschsprachigen Literaturwissenschaft ist der Fokus im Besonderen auf interkulturelle Prozesse gerichtet, die in der Interaktion von Text und Empfänger zu beobachten sind.106 In ihrer Konzeption legt die interkulturelle Literaturwissenschaft den Akzent darauf, dass die kulturelle Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft nicht als starres Konstrukt verstanden werden darf, sondern nur ein provisorisches und zeitweiliges Ereignis eines Prozesses darstellt, welches stetig im Wandel begriffen ist.107 Kulturelle Identitäten sind demnach keine homogenen Identitäten, sondern werden, gerade in der Begegnung mit Fremdem, immer wieder ausgehandelt und besetzen durch ihre hybride Disposition einen soge103 | Exilliteratur, jüdisch-deutsche Literatur, Literatur von Migranten, Migrationsliteratur, Gastarbeiterliteratur, deutsch-türkische Literatur, interkulturelle Literatur. 104 | Vgl. Helmut Schmitz: Einleitung. Von der nationalen zur internationalen Literatur. In: Ders. (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam, New York: Rodopi 2009, S. 7-15. 105 | Vgl. Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde, S. 32. 106 | Vgl. Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 8. 107 | Vgl. ebenda, S. 9f.
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nannten ›dritten Raum‹. Einen ›dritten Raum‹, der, so Homi K. Bhabha, wegweisend […] zur Konzeptualisierung einer internationalen Kultur sein könnte, die nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht. Dabei sollten wir immer daran denken, dass es das »inter« – das Entscheidende am Übersetzten und Verhandeln, am Raum da-zwischen – ist, das den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt.108
In einer Zeit weltweiter Zirkulationen von Personen, Waren, Zeichen und Informationen ist Hybridität im Kontext kultureller Globalisierung grundlegendes Charakteristikum der meisten modernen Nationen geworden109, welche die binäre Logik des Entweder-oder in der Moderne mit dem hybriden Prinzip des Sowohl-als-auch abgelöst hat.110 Hybridisierung meint demnach die Vermischung verschiedener kultureller Stile, Formen und Traditionen, aus der etwas Neues entsteht, eine ›globale Melange‹.111 Sitten und Gebräuche lösen sich von existierenden Praktiken, um sich mit neuen Sitten zu neuen Praktiken zu verbinden. Diese allgemeine Hybridbildung prägt heute nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche und Räume.112 Kulturelle Differenz ist nach diesen Überlegungen ebenfalls kein absoluter Zustand mit klar benennbaren Eigenschaften, sondern das Ergebnis von kulturellen Zuschreibungen, welche sich im Prozess der Begegnung vollziehen.113 Differenz steht nicht im Widerspruch zu Identität, sondern ist ihr wesentlicher Bestandteil.114 Als Relationsbegriffe setzen 108 | Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 58. 109 | Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd.2. Hg. u. übersetzt von Ulrich Mehlem. Hamburg: Argument 1994, S. 207. 110 | Kien Nghi Ha: Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen »Rassenbastarde«. Bielefeld: transcript 2010, S. 212. 111 | Vgl. Wagner: Kulturelle Globalisierung, S. 17. 112 | Jan Nederveen Pieterse: Der Melange-Effekt. In: Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 87-124, hier S. 94. 113 | Vgl. Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 11. 114 | Vgl. Stuart Hall: Wann war der Postkolonialismus? Denken an der Grenze. In: Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius u. Therese Steffen (Hg.): Hybride Kultu-
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sich beide wechselseitig voraus und verweisen aufeinander.115 Die Frage nach der Art und Weise, wie kulturelle Differenzen in der Literatur inszeniert, »festgeschrieben, umgeschrieben, ›zerschrieben‹«116 oder ignoriert werden, ist für die Forschungsrichtung der interkulturellen Literaturwissenschaften von zentraler Bedeutung. Sie versucht, kulturelle Prozesse zu reflektieren und zu lokalisieren, die durch den gesellschaftlichen Wandel im Zuge von global flows – Massenmigration, Massentourismus und massenmedialer Vermittlung – losgetreten wurden. Insbesondere die in den letzten zehn Jahren massiv gesteigerte transnationale Migration 117 hat dazu geführt, dass viele Nationen sich zu multikulturellen Einwanderungsgesellschaften mit zunehmend ethnischer und kultureller Diversität entwickelt haben. Die Grenzen zwischen globalen und nationalen Identitäten zeigen sich beispielsweise aufgrund von multikultureller Erziehung, von interkulturellem Heiraten und religiösen Konversionen bei den Individuen selbst.118 Auch die Schweiz mit einem Anteil von mehr als 30 Prozent Personen mit Migrationshintergrund 119 ist eine solch offene Gesellschaft, die sich aus heimischen und fremden Kulturen zusammensetzt. Dieser globale Rahmen prägt das literarische Schaffen im deutschsprachigen Raum. War früher der thematische Blickwinkel bezüglich Fremdheitserfahrungen in die Ferne gerichtet und gewissen Genres vorbehalten, so rückt in Analogie zum Globalisierungsphänomen das Ferne in die Nähe. Begegnungen mit anderen Kulturen im eigenen Land sind ren. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Deutsche Übersetzung von Anne Emmert u. Josef Raab. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246. 115 | Claudia Bickmann: Identität und Differenz als Kernproblem im Dialog der Kulturen. In: Dialektik (1999), S. 24-44; hier S. 27-29. 116 | Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde, S. 11. 117 | Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) hat sich die transnationale Migration von 150 Millionen im Jahre 2000 auf 214 Millionen Personen im Jahre 2011 gesteigert. Mehr unter www.iom.int. 118 | Vgl. Hans-Georg Soeffner: Methodologischer Kosmopolitismus – Die Erhaltung kultureller Vielfalt trotz wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung. In: Jochen Dreher u. Peter Stegmaier (Hg.): Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz. Grundlagentheoretische Reflexionen. Bielefeld: transcript 2007, S. 97-112. 119 | www.bfs.admin.ch
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nicht mehr die Ausnahme, vielmehr die Regel. Die Spielarten der literarischen Auseinandersetzung mit kulturell Eigenem und Fremdem haben sich so gesehen exponentiell gesteigert und beschränken sich nicht auf den Reisetopos mit oder ohne historische Anbindung, der im deutschsprachigen Raum momentan Konjunktur hat und auf das Bewusstsein einer ›neuen deutschen Welthaltigkeit‹120 hindeutet, wie etwa bei Christian Krachts Ferien für immer (1998) und Imperium (2012), Martin R. Deans Meine Väter (2003), Alex Capus’ Reisen im Licht der Sterne (2005), Christoph Simons Planet Obrist (2005), Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005), Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006), Perikles Monioudis’ Land (2007), Lukas Hartmanns Bis ans Ende der Meere (2009) zu beobachten ist. Nebst der These einer ›neuen deutschen Welthaltigkeit‹ verweist die Neuverhandlung des Begriffs der Weltliteratur auf die sich im Zuge der Globalisierung veränderten interkulturellen Rahmenbedingungen. Goethes Konzept der Weltliteratur und sein Umgang mit Kategorien von Alterität wird im postmodernen Diskurs als früher Abwehrkampf gegen kulturelle Homogenisierungsprozesse verstanden, der heutzutage seinen Fortgang in den sich intensivierten Re-Lokalisierungen und Re-Differenzierungen findet.121 Im aktuellen Forschungsstand wird der Globalisierungsdiskurs als ein Merkmal unter Weiteren einer neuen (postkolonialen und damit in fundamentaler Weise interkulturellen122) Weltliteratur verstanden, die von transnationalen Biographien, transnationalen Räumen und De-Platzierungen nationaler Geschichten gekennzeichnet ist.123 Gerade durch den Aspekt transkultureller Überschreitungen von Kultur als Entität ist Weltliteratur hybride geworden und stellt vielmehr die Existenz von Kulturen als Akteure oder Systeme selbst in Frage. Entsprechend diesem
120 | Vgl. Hamann u. Honold (Hg.): Ins Fremde schreiben, S. 9-20. 121 | Vgl. Claudia Liebrand: »Im Deutschen […] mag ich den Faust nicht mehr lesen« Goethes Konzept von Weltliteratur. In: Amann, Mein u. Parr (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur, S. 17-28. 122 | Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 59. 123 | Vgl. Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur, S. 165-240.
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Ansatz wird Kultur als Material, Disposition und nicht als Ziel der Selbstbestimmung verhandelt.124 Diesen theoretischen Überlegungen zur Weltliteratur muss aber angefügt werden, dass gerade in der Interaktion und Abgrenzung mit significant others, im Kampf für Anerkennung von Differenz und gegen diskriminierende Differenz125 sich das Individuum namentlich über seine kulturelle Herkunft selbst definiert126, auch wenn diese kulturelle Herkunft hybride sein sollte. Vor diesem theoretischen Hintergrund erscheint die Annahme, dass Interkulturalität als Folge der Globalisierung literarische Grundkonstituente geworden ist, begründet. Welche Ausprägungen von Interkulturalität nun konkret in ausgewählten Romanen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz auszumachen sind, ob Interkulturalität wirklich als literarische Grundkonstituente bezeichnet werden darf oder nur Formen gesteigerter Intensität nachzuweisen sind, soll in der nachfolgenden Analyse der Romane Meine Väter von Martin R. Dean und Land von Perikles Monioudis untersucht werden. Um eine signifikante Aussage im diachronen Verlauf machen zu können, wird ein Vergleich zu zwei Romanen von Max Frisch, einem Autor, der literaturgeschichtlich betrachtet seiner Zeit immer kritisch-engagiert begegnet ist und daher besondere Relevanz besitzt, gezogen. Es soll untersucht werden, ob in Homo faber (1957) und Montauk (1975) aufgrund ihrer zeitlichen Distanz unterschiedliche Qualitäten von Interkulturalität zu entdecken sind, die sich zweitens in der Gegenwartsliteratur widerspiegeln oder davon unterscheiden. Die Vermutung liegt dabei nahe, dass im Gegensatz zu Homo faber die in Montauk beobachtbaren Formen von Interkulturalität stärkere Parallelen zu jenen in der Gegenwartsliteratur aufweisen dürften. Die Auswahl beider Romane als Vergleichspunkt ist darüber hinaus aufschlussreich, da beide Aspekte 124 | Özkan Ezli, Dorothee Kimmich u. Annette Werberger (Hg.): Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld: transcript 2009, S. 14 u. 16. 125 | Martin Fuchs: Kampf um Differenz. Repräsentation, Subjektivität und soziale Bewegungen: das Beispiel Indien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 11. 126 | Jochen Dreher: Einleitende Bemerkungen. ›Kulturelle Differenz‹ aus wissenssoziologischer Sicht. In: Dreher u. Stegmaier (Hg.): Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz, S. 7-20, hier S. 13.
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eines globalisierten Romans beinhalten, aber in ihrer Distinktion, im Fehlen gewisser Globalisierungseffekte, die Trennschärfe zur Gegenwartsliteratur verdeutlichen können. Bei den Textanalysen wird Interkulturalität in theoretischer Anlehnung an die interkulturelle Literaturwissenschaft, als theoretisches Konstrukt verstanden, welches mittels der Indikatoren: interkulturelle Begegnungen, kulturelle Differenzen (Alterität, Fremdheit, Vertrautheit), kulturelle Identität und Hybridisierung operationalisiert und in Beziehung zu weiteren Analysekategorien und Indikatoren für Globalisierungseffekte gesetzt wird, die bezüglich Interkulturalität und deren literaturgeschichtlicher Verortung Aussagekraft besitzen. Die mehrfach erwähnten Begrifflichkeiten der Differenz, Alterität und Fremdheit lassen sich in Anlehnung an Mecklenburg wie folgt verstehen: Was in analytischer Rede aus der Beobachter-Perspektive Differenz heißt, das heißt in hermeneutischer Rede aus der Mitspieler-Perspektive Fremdheit. Wenn sich der Begriff der Alterität von seiner ursprünglichen Bindung an die Deiktika ego/alter, même/autre127 loslöst, schwebt er zwischen beiden Perspektiven. Die analytische Kategorie der Differenz konstituiert eine Skala, die von identisch über ähnlich/unähnlich bis nichtidentisch/verschieden/anders reicht. Fremdheit dagegen ist ein Interpretament von Differenz/Andersheit 128 , das sich auf Nah- wie Fernzonen der Skala beziehen kann. Gerade das normativ Fremde [Mecklenburg unterscheidet zwischen normativ Fremdem, d.h. dem aufgrund von sozialen Normen als nicht zugehörig Geltenden und kognitiv Fremden, Unbekannten oder Unerkannten129] ist nicht selten das faktisch nur wenig Verschiedene.130
In der Textanalyse wird versucht, den Begrifflichkeiten gerecht zu werden, doch muss angeführt werden, dass die von Mecklenburg vorgeschlagenen Unterscheidungen nicht immer eindeutig zu ziehen sind und daher immer auch bis zu einem bestimmten Grad subjektives Ergebnis des/ der LeserIn bleiben. 127 | Mecklenburg verweist auf: Vincent Cescombes: Das Selbe und das Andere. Frankfurt a.M. 1981. 128 | Mecklenburg verweist auf Harald Weinrich: Wege der Sprachkultur. Stuttgart 1985, S. 197. 129 | Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde, S. 215. 130 | Ebenda, S. 216.
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Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Interkulturalität sich in vielerlei Hinsicht literarisch manifestieren kann: thematisch in der Darstellung von Kulturbegegnungen und Kulturkonflikten, formal anhand von Gattungsadaptionen, Mehrsprachigkeit, Intertextualität, Interdiskursivität, Hybridität 131 oder historisch-soziologisch an den Kontexten der Texte, an ihrer Rezeption sowie an den Lebens- und Produktionsbedingungen ihrer AutorInnen.132
3.3.2 Max Frisch – Homo faber und Montauk als signifikante Vergleichsgrößen Mit Homo faber hat Max Frisch 1957 einen Roman geschaffen, der bis heute an Aktualität nichts eingebüßt hat. Gründe mögen manche sein: Max Frisch war ein herausragender Autor, der in seinem politisch engagierten Schaffen133 immer wieder den Nerv der Zeit getroffen hat, der sprachlich mit seinem knappen, schnörkelfreien Stil, seinem fragmentarischen, episodenhaften Erzählen, seinen Montagetechniken, sowie den thematischen Schwerpunkten von Rolle und Identität, von Älterwerden und Tod, von Beziehungsproblematiken zwischen den Geschlechtern den/die LeserIn wach rüttelt, aufregt, mitdenken und sich selber in Frage stellen lässt. Der Protagonist in Homo faber, Walter Faber, verkörpert mit seiner rationalen, technischen Weltansicht den wirtschaftlichen Aufschwung und technologischen Fortschritt nach dem Zweiten Weltkrieg. Alles ist machbar, kontrollierbar, berechenbar, aber in letzter Konsequenz selbst zu regeln.134 Das Schicksal ist, wenn überhaupt, eine Aneinanderreihung von Zufällen, sonst selbstverantwortet. Mit Frischs Variation des ÖdipusMotivs wird der Protagonist angesichts des Todes von Sabeth, seiner Ge131 | Formal literarisch-künstlerische Verfahren. Beispielsweise die Erlebte Rede oder das wörtliche Übersetzen von Namen, Redensarten und Sprichwörtern aus anderen Kulturkreisen. Vgl. Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde, S. 116 u. 119. 132 | Vgl. ebenda, S. 15. 133 | Annette König: Max Frischs politische Entwicklung zwischen 1957 und 1991. Hochschulschrift Lic. phil. I Universität Zürich, 2005. – Ref.: Michael Andermatt. Erhältlich auf Bestellung in der Zentralbibliothek Zürich. 134 | Vgl. Max Frisch: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 75.
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liebten und Tochter, seines krankheitsbedingten Zerfalls, durch seinen emotionalen Schmerz zurück ins Leben geführt. Was ändert es, daß ich meine Ahnungslosigkeit beweise, mein Nichtwissenkönnen! Ich habe das Leben meines Kindes vernichtet und ich kann es nicht wiedergutmachen.135 Wozu auch zum Fenster hinausblicken? Ich habe nichts mehr zu sehen. Ihre zwei Hände, die es nirgends mehr gibt, ihre Bewegung, wenn sie das Haar in den Nacken wirft oder sich kämmt, ihre Zähne, ihre Lippen, ihre Augen, die es nirgends mehr gibt, ihre Stirn: wo soll ich sie suchen? Ich möchte bloß, ich wäre nie gewesen.136 Ich hänge an diesem Leben wie noch nie, und wenn es nur noch ein Jahr ist, ein elendes, ein Vierteljahr, zwei Monate (das wären September und Oktober), ich werde hoffen, obschon ich weiß, daß ich verloren bin. Aber ich bin nicht allein, Hanna ist mein Freund, und ich bin nicht allein.137
Rolle weicht Identität. Lieber ein elendes Leben, als gar keins, als jenes Leben, welches Walter Faber zuvor, vor der Begegnung mit Sabeth, geführt hat. Das auktoriale Leitmotiv, das in sich zusammenfallende rationale Weltbild des um die halbe Welt gereisten, beruflich erfolgreichen Technikers, taucht fünfzig Jahre später auch unsere globalisierte Welt in kritisches Licht. Hat Frisch bereits damals seinen Protagonisten vor dem Anspruch ständiger Erreichbarkeit flüchten lassen und die Schifffahrt sowie die Notlandung in der Wüste oder den Aufenthalt in Guatemala als entschleunigendes Moment eingeführt, so wäre Entschleunigung als ästhetische zeitkritische Strategie heute ebenso aktuell wie damals. Wasser ringsum, ich stand und genoß es, unerreichbar zu sein […].138 So eine Schiffreise ist ein komischer Zustand. Fünf Tage ohne Wagen! Ich bin gewohnt zu arbeiten oder meinen Wagen zu steuern, es ist keine Erholung für mich, wenn nichts läuft, und alles Ungewohnte macht mich sowieso nervös. Ich konnte
135 | Frisch: Homo faber, S. 72. 136 | Ebenda, S. 192. 137 | Ebenda, S. 198. 138 | Ebenda, S. 71.
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nicht arbeiten. Man fährt und fährt, […], aber es ändert sich überhaupt nichts – nur daß man älter wird!139
Die Internationalisierung der Handlungsorte (USA, Mexiko, Guatemala, Paris, Italien, Griechenland, Cuba, Deutschland, Schweiz etc.), die Internationalisierung der Romanfiguren (ein Schweizer, der sich in seiner Heimatstadt Zürich nicht mehr heimisch fühlt und das Leben eines Berufsreisenden im Dienste der UNESCO führt – »technische Hilfe für unterentwickelte Völker«140; eine deutsche Halbjüdin, die die britische Staatsangehörigkeit besitzt und in Athen lebt etc.), die daraus resultierenden interkulturellen Bezugspunkte kennzeichnen Homo faber als einen Roman beyond modernity, der aber durch das Fehlen gewisser Globalisierungseffekte nicht als globalisierter Roman bezeichnet werden kann. Nebst dem logischen Fehlen neuer Technologien, ›global-village‹- und ›one-world‹-Effekten, dem undifferenzierten und stereotypisierten Frauen- und Männerbild ist der andere Umgang mit Interkulturalität Unterscheidungsmerkmal. Interkulturelle Begegnungen sind in Homo faber bedingt durch die Romananlage (Walter Faber ist Schweizer, Ivy Amerikanerin, Herbert, Sabeth und Hanna sind Deutsche) und den Handlungsverlauf (Reisen nach Guatemala, nach Paris, durch Italien, nach Cuba) bleiben aber mit einer Ausnahme (scheiternde Beziehung von Faber und Hanna möglicherweise aufgrund ihrer jüdischen Konfessionszugehörigkeit) ohne Folgen, da kein kultureller Austausch stattfindet. Fremdes wird nicht reflektiert, sondern durch eine technisch-objektive Blickweise konstatiert: »Ich habe mich schon oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind.« 141 Begegnungen bleiben grundsätzlich auf Distanz gehalten. Kulturelle Identität findet Erwähnung, ist jedoch nicht handlungsrelevant. Walter Faber ist Schweizer, nicht mehr und nicht weniger. Der Schwerpunkt des Romans liegt nicht auf der Auseinandersetzung mit kulturell Eigenem oder Fremdem, sondern auf einer Variation des Ödipus-Motivs, auf Liebe und Tod. Die Begegnung mit seiner Tochter vermag den Protagonisten aus seiner Distanziertheit, Unberührtheit, Ra139 | Frisch: Homo faber, S. 75f. 140 | Ebenda, S. 10. 141 | Ebenda, S. 24.
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tionalität herauslösen. Das Leben wird spürbar, intensiv. Sabeths Lebensfreude, ihre Unvoreingenommenheit und ihr Wissensdurst halten ihm den Spiegel eines Lebens vor, an das er sich nur mehr entfernt, wenn überhaupt, erinnern kann. Die Begegnung mit Sabeth, ihr Tod und seine Krankheit führen dazu, dass er sein Leben radikal ändert, eine Reiseauszeit nimmt, kündigt und nach Athen umzieht. Walter Fabers Credo ›Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind‹, steht in krassem Gegensatz zu seinen stark wertenden, arrogant anmutenden und sarkastischen Äußerungen und Pauschalisierungen, die auf ein Persönlichkeitsdefizit seinerseits hinweisen. Nationale Zugehörigkeiten und der American Way of Life werden besonders häufig beanstandet: Ich weiß nicht, warum er mir auf die Nerven ging, irgendwie kannte ich sein Gesicht, ein sehr deutsches Gesicht.142 […] ich mag die Deutschen nicht, obschon Joachim, mein Freund, auch Deutscher gewesen ist …143 […] dicke Negerin […], Putzerin, […] ich sah ihr Riesenmaul mit den schwarzen Lippen, das Rosa ihres Zahnfleisches […].144 […] [sie] war eine Art von Amerikanerin, die jeden Mann, der sie ins Bett nimmt, glaubt heiraten zu müssen.145 Der Steward hatte einen Plan vor sich, ein französischer Bürokrat, ungnädig, wenn ein Mensch nicht Französisch versteht […].146 Ich fand Athen eine gräßliche Stadt, Balkan, ich konnte mir nicht vorstellen, wo man hier wohnt, Kleinstadt, teilweise sogar Dorf, levantinisch […].147 Ich machte Konversation mit allerlei Leuten, […] sogar mit den alten Jungfern an meinem Tisch, Stenotypistinnen aus Cleveland, die sich verpflichtet fühlten, Europa gesehen zu haben […].148
142 | Frisch: Homo faber, S. 8. 143 | Ebenda, S. 10. 144 | Ebenda, S. 11. 145 | Ebenda, S. 30. 146 | Ebenda, S. 70. 147 | Ebenda, S. 132. 148 | Ebenda, S. 73f.
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The American Way of Life: Schon was sie essen und trinken, diese Bleichlinge, die nicht wissen, was Wein ist, diese Vitamin-Fresser, die kalten Tee trinken und Watte kauen und nicht wissen, was Brot ist, dieses Coca-Cola-Volk, das ich nicht mehr ausstehen kann – Dabei lebe ich von ihrem Geld! […] Schon ihre Häßlichkeit, verglichen mit Menschen wie hier: ihre rosige Bratwurst-Haut, gräßlich, sie leben, weil es Penicillin gibt, das ist alles, ihr Getue dabei, als wären sie glücklich, weil Amerikaner, weil ohne Hemmungen, dabei sind sie nur schlaksig und laut – […]. Was Amerika zu bieten hat: Komfort, die beste Installation der Welt, ready for use, die Welt als amerikanisiertes Vakuum, wo sie hinkommen, alles wird Highway, die Welt als Plakat-Wand zu beiden Seiten, ihre Städte, die keine sind, Illumination, am andern Morgen sieht man die leeren Gerüste, Klimbim, infantil, Reklame für Optimismus als Neon-Tapete vor der Nacht und vor dem Tod – 149
Die Beweggründe zu derartig tendenziösen Aussagen (die man ohne zielgerichtetes Lesen hinsichtlich kulturellen Differenzen möglicherweise überliest), mögen nebst strategischen Motiven, die den Protagonisten in seiner inneren Zerrissenheit darstellen, zu einem bestimmten Grad mit dem damaligen Zeitgeist, den Ressentiments gegenüber Deutschland einhergehen. Was den American Way of Life betrifft, so liegt die Motivation wohl eher in Frischs persönlicher Weltanschauung und seiner sich über die Zeit radikalisierenden politischen Einstellung.150 In Entwürfe zu einem dritten Tagebuch, 2010 von Peter von Matt herausgegeben, äußert er sich vor dem Hintergrund der Ronald-Reagan-Area: »I HATE IT I LOVE IT I HATE IT I DON’T KNOW I LOVE IT […] New York als Wallfahrtsort sozusagen […] über drei Jahrzehnte hin […]. […] Wie dieses Amerika mich ankotzt! LOVE IT OR LEAVE!«151 Auch in Montauk setzt Frisch seine Amerikakritik fort. Er thematisiert den Umgang mit den Missbräuchen von Regierungsvollmachten unter Präsident Nixon und die Ohnmacht der Bevölkerung: Kommt man aus der Subway ans Tageslicht, so gehen die Leute wie vor zwei Jahren, es geht einfach so weiter: Warten bei Rot, Gehen bei Grün. Niemand weiß, was geschieht. Die Zeitungen tun nur so, als wissen sie’s von Tag zu Tag. WATERGATE, 149 | Frisch: Homo faber, S. 175ff. 150 | Vgl. König: Max Frischs politische Entwicklung zwischen 1957 und 1991. 151 | Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 7.
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wenn das nicht wäre. Meine Freunde sind jünger, aber sie kennen schon ihre Ohnmacht. Einzig die Frauen hoffen noch auf Veränderung. […] Reisen? Es steht nicht mehr dafür; überall die gleiche mäßige Zuversicht. Kein Chaos. Es gibt noch alles, sonst könnte das Fernsehen es nicht zeigen: Staatsmänner, die aus dem Flugzeug steigen und winken […]. Im übrigen geschieht nichts, was nicht schon geschehen ist. Umweltschutz als die letzte Aufgabe der Menschheit – 152
Unabhängig von politischen Begebenheiten äußert sich Frisch jedoch grundsätzlich objektiver, mehr ironisierend und weniger aggressiv als fast zwanzig Jahre zuvor in Homo faber, was wohl auch auf seine längeren Aufenthalte in New York zurückzuführen ist: Eine Hundestunde morgens, eine Hundestunde abends. Man muß eben aufpassen, wo man hintritt. Sie hängen an ihren Hunden und Hündchen, das sieht man, sie haben ein Bedürfnis nach Liebe, die Menschen hier, sie lassen sich von Duftmarke zu Duftmarke ziehen und warten ohne Ungeduld, auch wenn’s regnet. […] Eine verschissene Gegend.153
Waren kulturelle Differenzen in Homo faber undifferenziert, so fällt auf, dass Frisch in Montauk oft einen Vergleich zu Europa zieht: Wenn man Amerikanern sagt: I AM A SOCIALIST, so verliert man ihre Achtung nicht, im Gegenteil, sie sind überzeugt, daß man eine Art von Star ist, der sich das leisten kann.154 Ihr Einkommen monatlich: 1080 Dollar, nach Abzug der Steuern: 750 Dollar. Ferien zwei Wochen im Jahr. Das ist hier üblich. Sie kann von Woche zu Woche gekündigt werden, wenn die Firma, die einen blitzenden Wolkenkratzer besitzt, mit Lynn nicht zufrieden ist. Das ist hier so.155
Kulturelle Differenzen werden in Montauk im Haupterzählstrang in der interkulturellen Begegnung und (Liebes-)Beziehung zwischen Lynn, einer Amerikanerin, und dem autobiografischen, erlebenden Ich und 152 | Max Frisch: Montauk. Eine Erzählung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 57f. 153 | Ebenda, S. 16f. 154 | Ebenda, S. 67. 155 | Ebenda, S. 71f.
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erzählenden Er subtil vorgeführt. In der Distanz herstellenden Sprache »HOW DID I ENCOURAGE YOU?«156 werden kulturelle Differenzen beobachtbar.157 Qualitativ ist der Umgang mit Interkulturalität in Montauk ein gänzlich anderer als in Homo faber. Was dort Staffage bleibt und oftmals durch negative Konnotation unterminiert wird, ist in Montauk tragendes Element. Die interkulturelle Begegnung und der kulturelle Austausch namentlich über die Funktion der Sprache lösen beim erzählenden Ich assoziative Denkprozesse aus und ermöglichen das kritisch reflektierte Ineinanderblenden von Vergangenem und Gegenwärtigem. Frisch schreibt über die Sprache als kulturelles Medium: Vielleicht weil es zwischen Lynn und ihm nur die englische Sprache gibt, so daß er das eine und andere, was er sonst aussprechen würde, aus Faulheit nicht ausspricht, fällt ihm in ihrer Gegenwart mancherlei ein, was ihm sonst, wenn er’s aussprechen könnte, gar nicht einfällt; es ist ein Unterschied, ob man in einer Fremdsprache oder in der eigenen Sprache schweigt: schweigend in der Fremdsprache verdränge ich weniger, das Gedächtnis wird durchlässiger …158
Oder an anderer Stelle: Wenn Lynn sich über die Einwohnerzahl in Berlin irrt, so sagt auch er: YOU ARE WRONG, er sagt es unbefangen; keine Revanche, daher braucht er seine Berichtigung nicht abzufedern, nicht zu sagen: I THINK YOU ARE WRONG. Es kommt vor, daß beide etwas nicht wissen, zum Beispiel wann die letzten Indianer auf dieser Insel gelebt haben. Hin und wieder sagt auch Lynn: ARE YOU SURE? Aber er muß sich nicht beherrschen deswegen; eine natürliche Frage.159
Durch die Funktionsweise der englischen Sprache kann Frisch seine angestammten muttersprachlichen Muster überwinden und andere Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen entfalten, die eine unbeschwerte ›schuldfreie‹ Beziehung – »Lynn wird kein Name für eine Schuld«160 156 | Frisch: Montauk, S. 11. 157 | Vgl. Hellmuth Karasek: Bekenntnis auf Distanz. www.spiegel.de/spiegel/ print/d-41406357.html. 158 | Frisch: Montauk, S. 108. 159 | Ebenda, S. 161. 160 | Ebenda, S. 189.
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– ermöglichen. Doch auch in Montauk fehlt in Analogie zu Homo faber die Auseinandersetzung mit Hybridisierungsprozessen und Fragen kultureller Identität, die als Reaktion auf den globalisierungsbedingten interkulturellen ›Kontaktzwang‹161 in der Gegenwartsliteratur beobachtbar sind. Im Gegensatz zu Homo faber rückt Montauk nicht nur qualitativ im Umgang mit Interkulturalität, der Internationalisierung der Handlungsorte und Romanfiguren, sondern auch bezogen auf Enttraditionalisierungsprozesse näher an einen globalisierten Roman heran: I LOVE YOU (Über Liebe, als Beziehung zwischen den Geschlechtern, gebe es nichts Neues mehr zu berichten, das habe die Literatur dargestellt in allen Varianten ein für allemal, das sei für die Literatur, sofern sie diesen Namen verdient, kein Thema mehr – solche Verlautbarungen sind zu lesen; sie verkennen, daß das Verhältnis zwischen den Geschlechtern sich ändert, daß andere Liebesgeschichten stattfinden werden.)162
Verharrt Frisch in Homo faber bei stereotypen Geschlechterrollen und beschreibt Hannas selbstbestimmtes Leben als ›allerhand‹ für eine Frau163, so zeichnet sich in Montauk ein Wandel ab. Lynn wird als moderne Frau charakterisiert und Ingeborg Bachmann als emanzipierte Frau dargestellt, deren Emanzipation aber im Zusammenleben mit Frisch, wegen seines »MALE CHAUVINISM«164 nicht funktionierte: »Nur mein Verhalten von Anfang an und von Tag zu Tag hat eine kluge Frau verleiten können zu der Meinung, ihre Selbstverwirklichung sei Sache des Mannes, der Männer.«165
161 | Vgl. Soeffner: Methodologischer Kosmopolitismus. In: Dreher u. Stegmaier (Hg.): Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz, S. 109. 162 | Frisch: Montauk, S. 89. 163 | Frisch: Homo faber, S. 139. 164 | Frisch: Montauk, S. 94. 165 | Ebenda, S. 94.
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3.3.3 Kulturelle Identitätsfindungsprozesse in Meine Väter von Martin R. Dean und Land von Perikles Monioudis Perikles Monioudis und Martin R. Dean sind zwei Autoren aus der Schweiz, die sich literarisch auf poetische und fantastische Weise mit ihrer eigenen Herkunftsgeschichte auseinandersetzen. Beide, entgegen den assoziativen Erwartungen, welche Namen und südländisches Erscheinungsbild auslösen, Schweizer, in der Schweiz geboren und aufgewachsen, verbindet die Suche nach ihren kulturellen Wurzeln, die Reflexion darüber sowie die Erfahrung kultureller Eigen- und Fremdwahrnehmung, die in beiden Romanen zentral verhandelt werden. Der Protagonist in Perikles Monioudis’ Roman Land wird, wie der Autor selbst, bereits im Kindesalter mit der Herausforderung zweifacher Sozialisation konfrontiert. War für ihn die eigene kulturelle Zugehörigkeit fluktuierend, so wurde ihm von Außen ihre ›Andersartigkeit‹ und ›Fremdheit‹ vor Augen geführt: In einer Umgebung, die nur das von ihm wußte, was er selbst von sich zeigte, würde er in Bedrängnis geraten, das ahnte er schon damals. Unterschiedslos würde man ihn zu Selbstbezichtigungen des Fremden drängen, bis er seine fremde Herkunft haßte.166 Daß die Menschen in der kleinen Kantonshauptstadt etwas mit ihm zu tun hatten, schloß er damals noch aus. Wenn er sich ihnen verbunden fühlte, dann auf äußerliche Weise. Ganz so, wie auch sie ihn wohl sahen, mit Mißtrauen, das über die Jahre, die siebziger Jahre, zwar verschwand, sich zu einem Vertrauen wandelte, das ihm höchstpersönlich entgegengebracht wurde. […] Vertrauen, das er, wie er dachte, verdiente oder nicht verdiente, Mißtrauen, worauf er, wie er dringend vermutete, nur geringen Einfluß hatte.167
Auch Martin R. Dean thematisiert in Meine Väter Fremdheitserfahrungen, die autobiografisch bedingt sind. Für den Protagonisten, als Sohn einer Schweizerin und eines aus Trinidad stammenden Arztes in der Schweiz geboren und aufgewachsen, ohne je seinen leiblichen Vater, ebenfalls aus Trinidad stammend, richtig kennen gelernt zu haben, wird
166 | Perikles Monioudis: Land. Roman. Zürich: Ammann 2007, S. 12. 167 | Ebenda, S. 100f.
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die Vatersuche Anlass zur eigenen Identitätssuche.168 Einer Identität, im Spannungsfeld zwischen von außen herangetragenem und sich selbst zugeschriebenem Exotismus, ›schweizerischem Selbstverständnis‹ und dem Wunsch, ein Trinidader unter Trinidadern zu sein, was nur bedingt mit dem Vater begründet werden kann: Mit Recht hatte sich etwas in Leonie gesperrt, spürte sie doch genau, dass mich etwas von ihr wegzog. Und wenn es auch nicht eine andere Frau war, so doch ein anderes Leben: die unberechenbare, verantwortungslose, extravertierte tropische Seite, um nicht zu sagen: das in mir wuchernde Vaterwesen.169 Einmal mehr ist meine Landung auf der Insel missglückt. Wie oft bin ich hier schon eingetroffen, ohne anzukommen, und hat mich der Wunsch, ein Trinidader unter Trinidadern zu sein, in die verheerendsten Situationen gebracht. Wie oft schon hat mich die Insel wie einen Fremdkörper ausgespuckt. Und trotzdem ahne ich, dass ich diesem Land noch nie so nahe gekommen bin wie jetzt.170
Vielmehr löst das Finden des Vaters Projektionsflächen auf, die den Protagonisten von sich selber ›entfremdet‹ haben und ihn in seine gelebte soziale und kulturelle Wirklichkeit zurückführen: Der tote Budri, der tote Ray [leiblicher Vater des Protagonisten], sie zerren an mir, ihre Rufe durchlöchern mich, ich habe Sehnsucht nach Leonie. Nach meiner Tochter Jennifer. Und nach einer Wirklichkeit, die mir in klaren, kantigen Konturen begegnet, nach Menschen, die berechenbar, verständlich, eigensinnig, komplex und mir näher sind. Näher als meine fernen Verwandten. Freunde, mit denen ich […] über das Leben, das richtige, das verpasste, das erwünschte, das verbotene, das vergessene Leben reden kann.171
168 | Vgl. Beatrice Sandmann: Schreibende Söhne. Neue Vaterbücher aus der Schweiz: Guido Bachmann, Christoph Keller, Urs Widmer und Martin R. Dean. In: Ulrich Breuer und Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 1: Grenzen der Identität und Fiktionalität. iudicium: München 2006, S. 156-171. 169 | Martin R. Dean: Meine Väter. Roman. München: Hanser 2003, S. 24. 170 | Ebenda, S. 372. 171 | Ebenda, S. 389f.
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Perikles Monioudis – Land Perikles Monioudis, Sohn griechischer, aus Alexandria ausgewanderter Eltern, zweisprachig in Glarus aufgewachsen und heute in Berlin wohnhaft, übernimmt in Land Teile seiner Autobiografie als Setting und erzählt die Geschichte zweier junger Menschen aus Berlin. Sie, eine junge Frau, lebt seit acht Monaten als Botanikerin in Barcelona und versucht nach der Trennung von ›ihrem Diplomaten‹, durch örtliche Distanz wieder zu sich selbst zurückzufinden. Durch die Verwendung von bestimmten und besitzanzeigenden Artikeln in Kombination mit funktionalen Begriffen wie die Botanikerin, der Reisende, mein Diplomat etc. setzt Monioudis örtliche und emotionale Distanz sprachlich um. Bedingt durch den südländischen Lebensstil kann die junge Frau bisher ungelebten Formen von Weiblichkeit Ausdruck verleihen, die sie wiederum in ihrem Selbstwertgefühl bestärken. Er, ein griechischstämmiger junger Schweizer aus Glarus, der, in Berlin stationiert, im diplomatischen Dienst der Schweiz steht, begibt sich auf eine Reise ums Mittelmeer – einer familiär und beruflich vertrauten Region –, die ihn über Alexandria, Algier, Athen, Nikosia, Durrës, Genua schließlich nach Barcelona führt, wo er von seiner (Ex-)Freundin definitiv Abschied nimmt: War ich, in Bewegung, unterwegs, nicht erneut dorthin gelangt, wo ich vor langer Zeit weg wollte, ohne wiederkehren zu müssen? War ich nicht immer schon, dachte ich, in jener absoluten Bewegung, die Stillstand hieß? Ich war nach Barcelona gekommen, soviel stimmte, doch was hatte die Botanikerin am Mittelmeer zu tun? Wer war wem wohin gefolgt?172 Er wollte mit seinen Reisen vor allem eins: vergessen, und wohl auch sie vergessen. Vergessen aber wollte sie zuallerletzt.173 Der Reisende war nach Barcelona gekommen, um sich zu verabschieden. Es hatte keinen Zweck, dachte sie, ihn aus der Wüste, die das Meer für ihn war, hinausführen zu wollen. Das mußte jemand anderes tun.174
Auf den Spuren seiner Vorfahren gelingt es dem Protagonisten im Romanverlauf, das lang verloren geglaubte Rezeptbuch seines Großvaters, eines Zuckerbäckers, der ursprünglich von Griechenland nach Alexan172 | Monioudis: Land, S. 130. 173 | Ebenda, S. 175. 174 | Ebenda, S. 242.
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dria ausgewandert war, aufzuspüren. Das Übersetzen und das Nachkochen der aus dem Mittelmeerraum stammenden Rezepte, die sein Vater in der Tradition eines Patisseurs adaptiert hatte, aber Monate vor dem Sechstagekrieg bei seiner Abreise in die Schweiz in Ägypten zurücklassen musste, symbolisiert den sinnlichen und lukullischen Schlüssel des Protagonisten zu seiner kulturell hybriden Identität: »Er buk nach der verinnerlichten, vollständigen Anleitung. Ob seine Übersetzungen aus dem Griechischen, Arabischen, Türkischen, Französischen, Englischen richtig waren, konnte er: schmecken.«175 Durch den Geschmack und den Duft der Backwaren wird der Protagonist wieder in seine Jugend zurückversetzt, die kulturell von zwei damals für ihn getrennten und miteinander nicht zu vereinbarenden Welten geprägt war und deren Kompatibilität er erst während der Adoleszenz entdeckt hatte: Verließ der Junge das Haus, unternahm er bereits mit dem Schritt vor die Tür eine Reise von tausend Kilometern. Auf dieser Reise war er allein. Der Junge lernte, daß eine von ihm noch zu überbrückende Distanz zwischen beiden Welten lag, ein noch zu benennender, bestimmt größtmöglicher Unterschied, der sich eben doch nicht in Kilometern ausmessen ließ: Dieser Unterschied war er sich selbst.176 Zwischen Anpassung und Verweigerung versuchte der Junge, sich selbst zu wählen – nicht, daß ihm etwas anderes übriggeblieben wäre. 177 Daß die eine Welt die andere nicht ausschloß, ahnte er aber erst als Jugendlicher. Er faßte den Vorsatz, sich beide Welten zugänglich zu machen. Darauf hatte er sich selbst gebracht. Denn weder da noch dort ein Erwachsener, der hätte wissen können, was der Jugendliche für sich wußte, niemand, der ihm hätte erklären können, daß man vieles zugleich und gerade damit bei sich selbst war. Wer mochte ihm dahin noch folgen? Bei wem konnte er ohne Rücksicht Grieche sein, der er nicht war, Schweizer, der er nur sein konnte – und umgekehrt?178
Die Reise sowie die Benennung des Protagonisten als ›der Reisende‹ versinnbildlichen dessen kulturellen Identitätsfindungs- und Selbsterkennt-
175 | Monioudis: Land, S. 246. 176 | Ebenda, S. 23. 177 | Ebenda, S. 101. 178 | Ebenda, S. 48.
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nisprozess, der ihm mitunter vor Augen führt, warum er sich als Diplomat für ein Leben in Bewegung entschieden hat: Ich ließ die Städte hinter mir, bloß um sie vor mir zu wähnen, kehrte zurück, um sie zu verlassen, verließ sie, um wiederzukommen, verändert oder unverändert, als derselbe oder als ein anderer, in dieselbe oder die veränderte Stadt, an der ich meine eigene Veränderung ablesen konnte. […] Der Abstand […] zwischen mir und den Städten, zwischen mir in der Stadt und mir in der anderen, ähnlichen oder gänzlich verschiedenen Stadt: in diesem wiederkehrenden Abstand wurde ich mir deutlicher.179
Das ›Sich-selbst-verdeutlichen‹ spiegelt Monioudis in der Artikulation von Differenz zu jenen kulturellen Gemeinsamkeiten wieder, die den mitteleuropäischen, orientalischen Raum zu einer Region zusammenschmelzen lassen: »wo Baklawa überall gleich gut schmeckt und alle das Puffspiel spielen«180 oder »hier, im Orient, wo auch er in der Lage war, für sich Unterscheidungen zu treffen und sich in diesen eingebildeten oder tatsächlichen Unterscheidungen als das zu sehen, was er nicht war: ein auf Anhieb Eindeutiger«181, wo Städte, Lebensgewohnheiten und Menschen sich gleichen: Äußerlich wäre der Reisende mit seinen dunklen Haaren und den braunen Augen nicht von einem Katalanen zu unterscheiden gewesen, falls denn alle Katalanen gleich aussähen, von einem Italiener, einem Griechen, einem Südfranzosen, falls es denn Unterschiede gab, die man hätte genau benennen können. 182
Dem Protagonisten wird auf seiner Reise ums Mittelmeer, in Abgrenzung mit Fremdem und Vertrautem, seine kulturelle Identität bewusst, die trotz nationaler Zugehörigkeit – »Für sich konnte der Junge ohnehin nur Schweizer sein«183 – kein starres Konstrukt darstellt, sondern von Hybridisierungsprozessen durchzogen ist. Die Erfahrung von Fremdheit im 179 | Monioudis: Land, S. 125f. 180 | Zitat von Monioudis an einer Lesung und Diskussion im Rahmen der Basler Gespräche zur Schweizer Literatur der Gegenwart 2007. 181 | Monioudis: Land, S. 10. 182 | Ebenda, S. 180. 183 | Ebenda, S. 24.
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Kontext kultureller Differenz ist für beide Hauptfiguren in ihrem Identitätsfindungsprozess zentral: Sie, in Barcelona eine Fremde, deutsch, blond – »Daß sie aus Deutschland kam, erleichterte die Wahl [eines Spitznamens], man nannte sie Rubia, die Blonde«184; »Er war vernarrt in meine blonden, in meine deutschen Haare […]« 185 –, will sich neu definieren: Sie begriff Barcelona als Kulisse, als flächigen Hintergrund für sich, für sich ganz allein, auf ihm konnte sie sich abzeichnen. Doch was war noch nötig, damit sie sich nun auch von ihren eigenen Umrissen lösen konnte und tatsächlich jemand wurde? Was genau musste sie noch erleben, um sich selbst verstehen zu können?186
Er, mit seinem mediterranen Äußern und seinem kulturellen Background mal als zugehörig, mal als fremd taxiert, findet, dank der Auseinandersetzung mit seiner Herkunft und seiner kulturell hybriden Identität, einen Ausweg aus seiner Rastlosigkeit und zu sich selbst zurück: Nun, da er das Rezeptbuch übersetzt und seine Übersetzungen am Gegenstand, der Patisserie des Mittelmeers, geprüft hatte [und das Band zu seiner (Ex-)Freundin beidseitig gelöst wurde], erschien es ihm ohne Ziel, weiterzureisen. […] Konnte er es bisher kaum erwarten, an Land zu gehen, focht ihn die lange [Schiffs-] Passage jetzt nicht mehr an. Er sah aufs Meer hinaus, dorthin, wo er hergekommen war.187
Martin R. Dean – Meine Väter Identitätsbildung im interkulturellen Kontext ist in Meine Väter von zentraler Bedeutung. Figurationen des Fremden und Vertrauten in Relation mit dem Identitätsfindungsprozess der Hauptfigur Robert, dominieren: Zum einen in der Beziehung zu Leonie, seiner Frau, die – hellhäutig, blond, rational – sein ›alter ego‹ darstellt:
184 | Monioudis: Land, S. 179. 185 | Ebenda, S. 88. 186 | Ebenda, S. 181. 187 | Ebenda, S. 247.
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Eigentlich siehst du gesund aus, sagt sie, wenn man dich sieht, bemerkt man nicht, dass du so viele Löcher mit dir herumträgst. Vielleicht wärst du gesünder, wenn du deine Geschichte kennen würdest.188 Wer immer dieser Mann sein mag, […] dieser Mann habe sich nie um mich gekümmert.189 ›Aber jetzt bist du nicht mehr auf Stippvisite, sondern auf einem Trip. Fünfundreissig deiner vierzig Jahre hast du deinen richtigen Vater verdrängt. Durch nichts warst du zu bewegen, auch nur über seine Existenz nachzudenken. […] Du hattest ihn vergessen, bis ich ihn auf deiner Geburtsurkunde entdeckt habe. Und jetzt schleichst du dich einfach davon, um diesen Mann zu treffen?‹ 190
Dann zweitens in der Beziehung zu Navira, einer indischen Londonerin, die ihn näher an seine indischen Wurzeln heranführt und ihn kurzweilig der Schweiz entfremdet: »Aber Navira hilft mir, meine eigene Hautfarbe neu zu entdecken. […] Ich beobachte ihre Haut in den wechselnden Farben des Tages. […] Und ich spüre die Anziehung, die diese Haut auf mich hat. Mit ihr zusammen werde ich indischer.«191 Drittens: In der Beziehung zu seinem Vater Ray, der nach einem rassistischen Übergriff die Sprache verloren hat, mit dem er nicht mehr teilen kann als die Gegenwart und die Vergangenheit eine Nacht ist, in der der Vater ihm immer wieder entschwindet: »Mein Vater wird mir immer rätselhafter. Nichts von dem, was ich bei ihm erwarte, trifft ein. […] Ich begleite einen Mann, der sich weigert, mein Vater zu werden.«192 Viertens: In der Beziehung zu seinem trinidad-indischen Stiefvater, der ihm lange als leiblicher Vater vorgeführt wird. Fünftens: In der Beziehung zur Schweiz und ihrer Fremdenfeindlichkeit gegenüber AusländerInnen und ›ExotInnen‹, ungeachtet nationaler Zugehörigkeit: »Man hält uns mit Sicherheit für Inder, obwohl wir eigentlich etwas ganz anderes sind: nämlich ein Trinidader, der nach England ausgewandert ist, eine Londonerin mit indischen Vorfahren und ein ebensolcher Schweizer.«193 Und schließlich: In der Beziehung seiner trinidad-indisch-schweizerischen Familie zur Schweiz: »Es 188 | Dean: Meine Väter, S. 11. 189 | Ebenda, S. 23. 190 | Ebenda, S. 22f. 191 | Ebenda, S. 107. 192 | Ebenda, S. 186. 193 | Ebenda, S. 107.
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war eine Einverleibung, das Indische sollte uns wieder einmal gegen das Schweizerische stärken. Es war die Haltung einer Familie, die zur Hälfte fremd war und sich die magischen Abwehrkräfte aus den eigenen Töpfen schöpfen wollte.«194 Der Erkenntnis folgend: »Ähnlichkeit ist wie eine Spiegelscherbe. […] Und Ähnlichkeiten sind das, was einem die Fremdheit nimmt«195, gelingt es dem Protagonisten, seiner inneren Fremdheit beizukommen. Er wird seiner kulturell hybriden Identität gewahr, indem er sich dem vierzig Jahre währenden ihn krankmachenden Vatermangel stellt: »Das halbe Leben habe ich verpasst [häufige Fieberattacken]. Aber meine eigentliche Krankheit ist in keinem Lehrbuch zu finden, sagt Leonie. Vielleicht nennen wir sie einfach ›Vatermangel‹.« 196 Er stellt sich auch dem Fehlen der Vaterkultur und damit dem Nicht-Wissen, was es heißt, ein ›Sinanan‹ zu sein: Ich habe nur wenige Minuten Zeit, ein Sinanan zu werden. So greife ich mit blossen Händen in den Teller, wie es sich nach indischer Sitte gehört. Ich esse, obwohl ich von indischem Essen immer fürchterlich Bauchweh kriege. Obwohl mich das indische Essen für Tage aufs Klo zwingen wird.197
Die Unverträglichkeit indischen Essens symbolisiert das Dilemma der Hauptfigur zwischen dem Wunsch, einer Kultur anzugehören, und dem nur scheinbaren Unvermögen, es zu können, respektive der Unmöglichkeit, Kultur als etwas Festgeschriebenes festzumachen: ›Du kannst das Land [Trinidad] doch nicht betrachten, als ob du ein Fremder wärst. Von dieser Erde haben sich deine Vorfahren ernährt, unter dieser Sonne geschwitzt und unter diesem Sternenhimmel von einem besseren Leben geträumt. Du bist kein Fremder hier. Nicht wahr Ray?‹ 198
Was für Trinidad und Ray eingeklagt wird, könnte ebenso für Robert und die Schweiz gelten, gegen die sich der Protagonist insbesondere in Ausländerfragen zu echauffieren weiß und sich grundsätzlich kritisch194 | Dean: Meine Väter, S. 119. 195 | Ebenda, S. 330. 196 | Ebenda, S. 11. 197 | Ebenda, S. 91. 198 | Ebenda, S. 248.
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distanziert verhält: »[…] ›immer wird einem das Gefühl gegeben, es sei nicht genug Platz für einen da […]‹.« 199 Stellvertretend für seine generelle innere Befindlichkeit bleibt das ›Schweizersein‹ für Robert ein Problem, ebenso wie sein ›Nichtganzschweizersein‹200, das ›Trinidadersein‹ ebenso wie sein ›Nichtganztrinidadersein‹. Stets lockt das Fremde den Protagonisten aus einem kulturellen Identitätsdefizit heraus, wie Dean schreibt, mit dem Angebot der Selbstfindung, auch wenn diese zugleich durch das Fremde bedroht wird201: »›Kommen Sie aus Italien?‹ ›Nicht ganz‹, erwidere ich, ›aus dem Nachbarland, der Schweiz.‹ – Die Reise beginnt mir nun richtig Spass zu machen.« 202 Roberts Identitätsfindungsprozess wäre ohne interkulturelle Begegnung und Abgrenzung gegenüber kulturellen Differenzen undenkbar. Dank der Begegnung mit seinem Vater, mit Navira, mit Verwandten in England und in Trinidad – »Ich bin von neuer Verwandtschaft durchlöchert. Bis jetzt ging ich wie ein Einzelkämpfer durchs Leben, jetzt trabe ich in einer genverwandten Horde«203 –, gelingt es ihm, die väterliche Geschichte nachzuzeichnen. In der Spiegelung und Verzerrung derselbigen zerbricht sein idealisiertes Vaterbild. Er realisiert, dass die Suche nach seiner kulturellen Identität eine nur scheinbare ist, die längst schon vorhanden, in ihrer Natur hybride, einen ›dritten Raum‹ besetzt. Und wird sich bewusst, dass die Frage nach definierter kultureller Identität – »Bin ich für ihn ein skandinavischer respektive helvetischer Inder, ein Halbinder oder ein gar dem Melting-Pot entkrochener Trinidader?204 «205 – für ihn nicht mehr von Bedeutung ist.
199 | Dean: Meine Väter, S. 178. 200 | Martin R. Dean: Fremd Gehen. (Publiziert Februar 2010), S. 1. 201 | Ebenda, S. 3. 202 | Dean: Meine Väter, S. 21. 203 | Ebenda, S. 94. 204 | Das Fehlen von ›Schweizer-Sein‹ markiert symptomatisch das problembelastete Verhältnis zur Schweiz, respektive den Reiz des Fremden als Angebot zur Selbstfindung. 205 | Dean: Meine Väter, S. 17.
3. Globalisierungseffekte
3.3.4 Neue Qualitäten von Interkulturalität In Land und Meine Väter sind interkulturelle Begegnungen durch die vorhandene Internationalisierung der Handlungsorte und der Romanfiguren in der Handlungsanlage enthalten. Sie ermöglichen in Abgrenzung mit kulturell Fremdem oder Vertrautem das Ausloten und Bewusstwerden der eigenen kulturellen Identität der Hauptfiguren. In Land finden sich keine ironischen Überzeichnungen und im Gegenzug zu Meine Väter nur in geringem Ausmaß negative Konnotationen kultureller Differenzen. Vielmehr wird deskriptiv darauf verwiesen, dass kulturelle Zuschreibungen gerade im Mittelmeerraum zu relativieren sind und kulturelle Differenz eher im Vergleich mit nördlichen Regionen zum Tragen kommen: »Sie [Gesichter aus der Mittelmeerregion] standen in einem anderen Verhältnis vor allem zur Sonne, als die Gesichter in Berlin.«206 Die Auseinandersetzung mit Hybridisierungsprozessen dominieren in Land und führen dazu, dass kulturelle Differenzen auf einer Skala von ähnlich/unähnlich, fremd/vertraut mehrheitlich durch das Hervorheben kultureller Gemeinsamkeiten als vertraut/ähnlich aufgelöst werden. Dieser Sachverhalt markiert eine neue Qualität von Interkulturalität, die als spezifisch für das aktuelle Zeitgeschehen erachtet werden kann und bei Dean, mit dem Fokus auf Differenz anzeigende Figurationen des Fremden, als Kehrseite der gleichen Medaille konterkariert wird. Die Erkenntnis von kulturell hybrider Identität markiert bei Monioudis und Dean die dialogische Bereitschaft oder den Wunsch nach dialogischer Bereitschaft zu kulturellem Austausch in einer funktionierenden offenen Gesellschaft, in der Kulturkonflikte durch das Bestreben um gegenseitiges Verständnis, durch die reflektorische Auseinandersetzung mit kulturell Fremdem, Vertrautem und Ähnlichem überwunden werden können. In Land wird der dialogische Aspekt von Interkulturalität in der Tradition von Montauk fortgeführt und ist tragendes Element des Romans. Mit der ästhetischen Strategie der Verlangsamung (angemerkt sei hier die Schiffspassage als entschleunigendes Mittel, die auch Frisch mit gleichem Bestreben in Homo faber eingesetzt hat) und einer Ästhetik der Gleichzeitigkeit, die durch eine mosaikartige Erzähltechnik und einen sprachlichen Pointillis-
206 | Monioudis: Land, S. 180.
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mus207 zum Ausdruck gebracht wird, setzt Monioudis seinen Roman den wirtschaftlichen Mechanismen der Globalisierung entgegen. Er schreibt, wie er anlässlich einer Lesung und Diskussion im Rahmen der Basler Gespräche zur Schweizer Literatur der Gegenwart 2007 bekannte, gegen eine beschleunigte und globalisierte Welt an. Eine globalisierte Welt, die in Meine Väter nebst der beschleunigenden Wirkung der Vatersuche auf den Handlungsverlauf in mehrfacher Hinsicht, sowohl auf zwischenmenschlicher wie auf global-epochaler Ebene, zum Ausdruck kommt. Zum einen wird die Identitätssuche von Vater und Sohn in den Kontext britischer Kolonialgeschichte gesetzt. London als Rechercheziel verkörpert die ehemalige Kolonialmetropole, in der die Fäden eines vergangenen Weltreiches, einer vergangenen Dreiecksbeziehung aus Europa, Karibik und Indien, immer noch zusammen laufen.208 Zum Anderen sind in Meine Väter weitere Indikatoren für Globalisierungseffekte nachweisbar, die als charakteristisch für einen globalisierten Roman betrachtet werden können. Besondere Signifikanz kommt dabei dem Umgang mit den neuen Kommunikationstechnologien zu. Das Internet wird als Reflexionsraum möglicher Identitäten ästhetisiert und in Frage gestellt. Naviras Chatroomerlebnisse209 verdeutlichen die psychologischen Gefahren virtueller, unmittelbarer Nähe und entlarven den virtuellen Raum als funktionalen Nicht-Ort. Und Roberts kommunikative Verweigerung, sein zeitweiliges Schweigen gegenüber Leonie, wiegt im Zeitalter fast uneingeschränkter Erreichbarkeit und Vernetzung umso schwerer und verdeutlicht seinen inneren Rückzug und seine emotionale wie physische Distanznahme zu seinem alltäglichen Umfeld. Die beiden Romane von Dean und Monioudis beinhalten Interkulturalität nicht nur als tragendes inhaltliches Element. Sie gehen noch weiter, da die Auseinandersetzung mit Fremdem und Eigenem auf dem Weg zur Selbstfindung der ProtagonistInnen gleichsam ihr auktoriales Ziel ist. Einem magischen Realismus verpflichtet, trifft Ähnliches auch auf den Roman Im Kongo von Urs Widmer zu. Darin erhält das Leben des 207 | Vgl. Sabine Doering: Der Flüchtling als Flaneur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.01.2008. 208 | Alexander Honold: Globalität in der Schweizer Literatur. In: Amann, Mein u. Parr (Hg.): Periphere Zentren oder zentrale Peripherien? S. 137-146, hier S. 141. 209 | Dean: Meine Väter, S. 142ff.
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Altenpflegers Kuno metaphorisch durch sein langsames Schwarz-Werden im Zuge einer Kongoreise plötzlich eine Bestimmung. Einst von der Stationsschwester Anne abgewiesen: ›Da können Sie warten, bis Sie schwarz sind‹210, erfüllt sich Kunos Liebeshoffnung auf fantastische Weise, und Afrika wird zur Projektionsfläche seiner Wünsche und Selbstbefragungen. Unter den bis anhin im Rahmen des vorliegenden Forschungsprojektes vorgestellten Romanen trifft Gleiches auch auf den Roman von Daniel Goetsch zu. In Ben Kader kreist die Handlung unter dem Vorzeichen der hegemonialen Rolle Europas im Verhältnis zwischen Orient und Okzident um die Frage nach kultureller Identität. Der Vater des Protagonisten, ein in Algerien geborener Franzose, ist Orientalist und wurde 1957 während des algerischen Unabhängigkeitskriegs von Frankreich mit einem heiklen Auftrag nach Algerien gesandt. Mit seinen guten Arabischkenntnissen und seiner Grundeinstellung: Fremd ist eine Zuschreibung und keine Eigenschaft. Ich kann mir alles Fremde zu Eigen machen. 211 Ich war [als Orientalist] längst ein Teil jener Kultur geworden. Und so traute ich mir damals zu, beweisen zu können, dass ich ein Araber bin. 212
musste er gefolterten Widerstandskämpfern ihr Vertrauen zurückgewinnen, sie zur Kooperation überreden und sie durch rhetorische Irreführung, wer nun wirklich Freund, wer Feind sei, letztlich ihrer eigenen Identität berauben: »Während die Soldaten seinen Körper und sein Denken zerstörten, vernichtete ich seine Identität.« 213 In einem autobiografischen Bericht, der seinen Sohn zur Konfrontation mit der lange verdrängten ›Vaterkultur‹ zwingt und zum Schlüssel zu dessen hybrider kultureller Identität wird, zollt er Jahre später den damaligen Begebenheiten Rechnung.
210 | Urs Widmer: Im Kongo. Roman. Zürich: Diogenes 1996, S. 18. 211 | Goetsch: Ben Kader, S. 172. 212 | Ebenda, S. 173. 213 | Ebenda, S. 159.
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3.4 D AS GLOBALE B E WUSSTSEIN BEI H UGO L OE TSCHER Unter den AutorInnen aus der Schweiz verdient ein Autor besonders, im Umgang mit Interkulturalität hervorgehoben zu werden. Einer Interkulturalität, die, fast jeglicher Fremdheit entbehrend, in Kombination mit anderen Indikatoren für Globalisierungseffekte zum Ausdruck eines einzigartigen ›globalen Bewusstseins‹ wird. Hugo Loetscher wagt sich mit seinem Roman Die Augen des Mandarin an ein großes literarisches Motiv der Weltliteratur heran: das Sterben. Mit einer Ästhetik des Schreibens, die als magischer Realismus bezeichnet werden kann, entwirft Loetscher gewissermaßen als Bilanz der eigenen Existenz einen Entwicklungsroman der Menschheit.214 Für einen ehemaligen Angestellten einer in Liquidation stehenden Stiftung namens Past, für ›Einen, der schon vorüber gegangen ist‹, verwischen sich sanft die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Erinnertem und Gegenwärtigem. Mehr und mehr der Sehkraft beraubt, verinnerlicht sich sein Blick. Die an ihn gerichtete Frage eines einem Buch-Schutzumschlag entsprungenen Mandarins aus der Manchu-Dynastie: »KANN MAN MIT BLAUEN AUGEN SEHEN«215 veranlasst ihn, sein Leben in vielfältigster Weise Revue passieren zu lassen. Ein Leben eines weit Gereisten, eines Universalisten, reich an erlebten Geschichten und Bezugspunkten zur ›Drehbühne des historischen Globus‹216; ein Leben voller Neugier und Entdeckerdrang: »Wozu reichen schon sieben mal zehn Jahre, und wenn es hochkommt, acht mal zehn. Was es darüber hinaus alles zu sehen gegeben hätte – die Neugierde wäre dagewesen«217; ein Leben, dem heutigen globalisierten Zeitgeist entsprechend: »Im Grunde ließ ihn jegliches Hintereinander gleichgültig. Mehr als Abfolgen beschäftigten ihn Nebeneinander und Gleichzeitigkeit.«218 Ein Leben, einem globalen Bewusstsein verpflichtet, das vorurteilsfrei einen übergreifenden Wissensraum schafft 214 | Jürg Altwegg: Der Mensch lebt noch im Holozän. Evolutionsroman: Hugo Loetschers »Die Augen des Mandarin«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.12.2000. 215 | Hugo Loetscher: Die Augen des Mandarin. Roman. Zürich: Diogenes 2001, S. 7. 216 | Vgl. ebenda, S. 152. 217 | Ebenda, S. 225. 218 | Ebenda, S. 38.
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und es möglich macht, selbst dem Sterben offen zu begegnen: »ein Sterben kennenzulernen, das sich mit zurückhaltender Überredungskunst meldete, ohne groß zu drängen.«219 Hugo Loetscher ist einer der großen AutorInnen aus der Schweiz, der sich in der Tradition der ›philosophischen‹ Weltreisen220 mit der Welt in ihrer Globalität, im Bewusstsein einer räumlich offenen Weltgesellschaft, auseinandersetzt. Die Beschäftigung mit fernen Kulturen ist ihm Projektionsraum für die Frage nach der eigenen Identität. Die zentrale Frage des Mandarins, »KANN MAN MIT BLAUEN AUGEN SEHEN«, wird im Romanverlauf in wiederkehrenden Variationen, mal selbstreflektierend, mal zeitkritisch, mal mit Erkenntnisgewinn, mal als Bindeglied zwischen Erzählsträngen und Zeitebenen aufgenommen: Weshalb nicht als Merkmal [im Pass] eintragen: ›Blick ins Leere‹, oder genauer: ›Blaugrüner Blick ins Leere‹?221 Wenn schon, hatte sich Past bei Menschen nicht die Augenfarbe gemerkt, sondern den Blick: den guten Blick oder den bösen, einen schweifenden oder zielenden, motzend oder werbend, einen Blick, den er nicht zu sehen brauchte, um ihn zu spüren. 222 War ihm selber nicht schon längst, als seien ihm lediglich Augen geblieben, blaugrüne, die für sich schauten, als ginge der Rest sie nichts an?223 Hätte er nicht am liebsten weggeschaut? Und was war mit den Momenten, wo er einfach umschaltete, zappend, ohne was zu suchen. 224 Als Individuum einer hochindustrialisierten Gesellschaft hatte Past nie die Sehkraft besessen, über die seine prähistorischen Vorfahren verfügten […]. 225 Sollte er dem Mandarin zum Beispiel erklären, daß es den Augen nicht genügte, bloß zu sehen?226
219 | Loetscher: Die Augen des Mandarin, S. 57. 220 | Vgl. Guthke: Die Erfindung der Welt, S. 2f. u. 19f. 221 | Loetscher: Die Augen des Mandarin, S. 10. 222 | Ebenda, S. 10. 223 | Ebenda, S. 31. 224 | Ebenda, S. 225. 225 | Ebenda, S. 14. 226 | Ebenda, S. 222.
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Müßte seine blaugrüne Antwort nicht auch die Augen erwähnen, die nicht glauben mochten, was sie sahen?227 Allein auf sich gestellt, wären Pasts Augen nie zu der Welt gekommen, aus der sie sich gebrochenen Blicks verabschieden werden. 228
Loetscher lässt seinen Protagonisten auf seinen unzähligen Reisen genau ›hinsehen‹. Ein ›Hinsehen‹, welches ihn befähigt, Interkulturalität gleichsam zu verinnerlichen und zu einem globalen Bewusstsein zu transformieren. Kulturelle Differenzen werden von Loetscher mehrheitlich objektiv beschrieben. Wenn Überzeichnungen stattfinden, dann in spielerischem Umgang, mit der Absicht aufzuzeigen, dass sich die Menschen rund um den Globus trotz unterschiedlicher Lebensweisen nicht groß voneinander unterscheiden: ›Damit ist unser Jahrhundert des Wirrwarrs gemeint‹, schob Past dazwischen. ›Was einst Entdeckung hieß, kam zu einem Ende. Im besten Fall noch ein paar weiße Flecken für Ethnologen, wenn auch bald nicht mehr genügend Stämme. Aber nach wie vor eine Welt, in der einer an der Haut des andern reibt. Es könnte sich erweisen, dass unter der Haut des andern die eigene zum Vorschein kommt, wie unter der eigenen die Haut des andern.‹ 229
Der Protagonist sammelt denn auch »Grundsituationen, aus denen ein Gleiches folgt, unabhängig von Zeit und Schauplatz – querweltein«.230 Wobei letztgenannter Begriff als prosaische Formulierung für Globalisierung verstanden werden kann, so wie Loetscher sie für sich erlebte: ›[…] Sie könnten darunter auch Chinesisches finden. Da meinte einer nach einer Liebesnacht: Der Hahn kräht, es wird Tag. Doch die Geliebte beschwichtigt ihn: Es ist nicht der Hahn, es sind Fliegen, die summen, vor dem Fenster nicht Morgenröte, sondern Mondschein.‹ ›[…] Hätte der Hahn zum Ende einer Liebesnacht nicht
227 | Loetscher: Die Augen des Mandarin, S. 223. 228 | Ebenda, S. 226. 229 | Ebenda, S. 350. 230 | Ebenda, S. 350.
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auch ein paar Jahrhunderte später in einer Stadt wie Verona krähen und eine junge Provinzchinesin statt der Lerche die Nachtigall hören können?‹ 231
Oder bezogen auf die Verwendung und Auslegung eines ›globalisierten‹ Kraftwortes im Kontext eines Diskurses um Religion: »[…] Der Atheismus war kurz definiert: ›Es gibt keinen shit.‹ Der Protestant vernahm: ›Es gäbe keinen shit, würde ich härter arbeiten.‹ Da las der Protestant dem Vatikan-Vertreter, der gelacht hatte, das katholische Bekenntnis vor: ›Gibt es shit, habe ich ihn verdient.‹ Worauf der Katholik dem Juden das T-Shirt hinhielt: ›Warum geschieht der shit immer uns.‹ Einzig der arabische Vertreter zeigte sich nicht ungehalten. ›Gibt es shit, ist dies Allahs Wille.‹ […] ›Es wurde beim shit an alle gedacht. Es ist ein demokratisch-allmenschliches Wort. Der Taoist stellt fest: ›Shit passiert nun einmal‹, während der Konfuzianer lehrt: ›Konfuzius sagt, dass shit nun einmal passiert.‹ Demgegenüber glaubt der Buddhist: ›Wenn shit passiert, ist es kein wirklicher shit.‹ Der Zen-Buddhist hingegen meditiert ›über den Klang, der ertönt, wenn shit passiert‹.« 232
Wie bei Monioudis beobachtet, schließt Loetscher Vertrautes mit kultureller Hybridität kurz. In seinem letzten autobiografischen Werk War meine Zeit meine Zeit äußert er sich ganz spezifisch zu seiner Auffassung eines ›schweizerischen Selbstverständnisses‹, dessen Kern er in Analogie zur europäischen Identität 233 als polyzentrisch erachtet: Nationale Identität – in meinem Fall Schweizer-Sein. Das ist das eine. Das deckt nicht ab, was ich sonst bin. Was bin ich sonst noch? Ich bin zugehörig zu einem Land, das viersprachig ist. Das prägt insofern, als mir immer klar war, dass es neben meiner eigenen Sprache noch andere gibt, die meine Identität ausmachen, ob ich sie beherrsche oder nicht. Entscheidend, dass keine Hierarchie gilt, auch keine der Sprache, sondern ein Nebeneinander. 234
Kulturelle Identität auf nationale Zuschreibungen zurückzuführen, lehnt Loetscher ab. Er betrachtet sich als Weltbürger, der an vielen und unter231 | Loetscher: Die Augen des Mandarin, S. 350f. 232 | Ebenda, S. 325f. 233 | Hugo Loetscher: War meine Zeit meine Zeit. Zürich: Diogenes 2009, S. 262. 234 | Ebenda, S. 225.
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schiedlichen Orten zuhause war.235 In Die Augen des Mandarins lässt er Past über das Paradoxon nationaler Hymnen und nationalen Stolzes sinnieren: Warum sollte ein Bengale nicht vom ›goldenen Bengalen‹ singen, nur weil dies ein Inder gedichtet hatte? […] Aber wer hatte schon gewußt, dass das finnische Nationallied aus dem Schwedischen übersetzt worden war und eine Zeitlang Estland als Landeshymne diente. […] Nicht uninteressant wiederum, daß Spanier den einstigen Kolonien die Musik zu ihren Unabhängigkeitsliedern lieferten, für Chile […] wie für Mexiko […]. 236 […] wie nach dem Schlußpfiff [Europapokal oder Weltmeisterschaften] Trainer, Spieler und Betreuer sich in die Arme fielen, wie hinterher das Siegervolk auf den Straßen tanzte und sich die einen Fans mit den Fans der andern prügelten, waren diese Auftritte eine unleugbare Bestätigung dafür, dass es nach wie vor den Stolz darauf gab, etwas und jemand zu sein, wofür man nichts konnte und wofür man nichts geleistet hatte, außer dass man innerhalb bestimmter geographischer Koordinaten und geschichtlicher Zeiträume auf die Welt gekommen war. 237
Interkulturalität versteht Loetscher als zivilisatorischen Prozess, in der Hoffnung, an eine Welt glauben zu können, »in der der Mensch nicht leiden soll für etwas, wofür er nichts vermag – weder für Hautfarbe, Geschlecht noch Neigung«.238 Das globale Bewusstsein wird bei Loetscher nicht nur im Umgang mit Interkulturalität sichtbar, sondern im ganzen Spektrum der von ihm thematisierten globalisierungsrelevanten Indikatoren. Eine ganz zentrale und zugleich ästhetische Rolle kommt dabei den neuen Technologien zu. Loetscher beleuchtet nicht nur kritisch die Möglichkeiten der Cyber-Generation: Ein Stichwort, ein Klick, und ich hole mir Welt herein, zu jeder Tages- und jeder Nachtzeit, ohne dass ich mich erheben und das Zimmer verlasse. Zappen oder Surfen – was aber ist mit dem, was nicht abrufbar ist. Und doch, galt es nicht,
235 | Loetscher: War meine Zeit meine Zeit, S. 232. 236 | Loetscher: Die Augen des Mandarin, S. 44f. 237 | Ebenda, S. 46. 238 | Loetscher: War meine Zeit meine Zeit, S. 381.
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dieses Nichtabrufbare zu suchen? Und aufzubrechen. Unterwegs sein, das war meine Art zu fragen. 239
Er stellt darüber hinaus einen allegorischen Vergleich zwischen ›Sterben‹ und technischem ›Versagen‹ her: »Seine Blackbox sendet nicht mehr«; er starb nicht, sondern »fiel aus dem Bildschirm« und »man kann ihn nicht mehr abrufen«. 240 Ein Endlossargtuch. Davor eine Maus. Nicht eine Friedhofsmaus, die nagt, sondern eine, die klickt. Der Absturz war total. Systemstillstand. 241 Belanglos, dass der Spezialist nicht verfügbar war, um Auskunft zu geben, wie man bei einem Powerbook Totenwache hält, dessen Gedächtnis verstarb. Eine Kerze zum Anzünden wäre zu finden, wenigstens ein Stummel noch vom letzten Kurzschluß her. Und wie war das? Man soll angesichts eines Gestorbenen nur flüstern? Aber es war niemand da, an den Past das Wort hätte richten können. 242
Und schließt so den Kreis …
3.5 (N EUE) P ROVINZIALITÄT – NEUE F ORMEN DER V ERNE T ZUNG ODER DER R ÜCK ZUG INS E IGENE , R EGIONALE BEI P EDRO L ENZ , R OL AND R EICHEN , A LE X C APUS UND C HRISTOPH S IMON 3.5.1 Provinz als Mikrokosmos Globalisierung ist ein mehrdeutiges Phänomen, welches per Definitionem von einander entgegengesetzt wirksamen Prozessen begleitet wird. Robert Robertson hat diesem Sachverhalt mit dem Terminus der ›Glokalisierung‹, dem Ineinanderblenden von Globalem und Lokalem, der Synthese und gleichzeitigen begrifflichen Opposition von Globalisierung und Regionalisierung, Rechnung getragen. Wobei anzumerken ist, dass das Globale immer erst im Augenblick seiner erneuten lokalen Einbettung 239 | Loetscher: War meine Zeit meine Zeit, S. 366. 240 | Loetscher: Die Augen des Mandarin, S. 119. 241 | Ebenda, S. 367. 242 | Ebenda, S. 368.
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Wirksamkeit erhält, denn, so Clifford Geertz »lebt niemand in der Welt im Allgemeinen«.243 In den Kulturwissenschaften herrscht darüber hinaus Konsens, Regionalisierung als »ein Symptom der Gegenbewegung gegen die Globalisierung« zu betrachten und dass es, wie der Soziologe Ralf Dahrendorf treffend formuliert hat, einen neuen Lokalismus gebe, »eine neue Suche nach Gemeinschaft in allen möglichen Formen«.244 Lokalisierungs- und Regionalisierungsprozesse treten somit als Globalisierungseffekte in unterschiedlichen Ausprägungen in Erscheinung: Zum einen als »allmähliche Exterritorialisierung moderner Gesellschaften durch Globalisierung, Digitalisierung und Vernetzung« 245, zum anderen als erstarkter Regionalismus und Lokalismus. Neben Global Cities als Machtzentren haben ebenfalls als zwischenzeitlich randständig betrachtete Regionen durch die neuen Technologien wieder an Einfluss und Stärke gewonnen.246 Räumliche Ordnungsmuster werden zudem oft von einer identitätsstiftenden Dimension begleitet. Im Zuge der Globalisierung wird es vermehrt zum Bedürfnis, die als eigen empfundene Identität gegen eine Mehrheitskultur zu festigen.247 Lokalisierungs- und Regionalisierungsprozesse kennzeichnen somit unter anderem das Bestreben, kultureller Homogenisierung durch Diversifikation beizukommen, sowie den Umstand, kulturelle Vielfalt durch globalisierungsbedingte Marktsegmentierung und Differenzialisierung zu befördern. 243 | Helmut Berking: Einleitung. Raumtheoretische Paradoxien im Globalisierungsdiskurs. In: Ders. (Hg.): Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen. Frankfurt a.M., New York: Campus 2006, S. 12. 244 | Vgl. Ralf Dahrendorf: Anmerkungen zur Globalisierung. In: Peter Kemper u. Ulrich Sonnenschein (Hg.): Globalisierung im Alltag. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 13-25, hier S. 22. 245 | Vgl. Helmut Willke: Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 76. 246 | Wilhelm Amann, Georg Mein u. Rolf Parr: Räume im Fluss. Lokal, global, regional. In: Dies. (Hg.): Periphere Zentren oder zentrale Peripherien?, S. 7-30, hier S. 7. 247 | Vgl. Elisabeth Beck-Gernsheim: Wir und die Anderen. Vom Blick der Deutschen auf Migranten und Minderheiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 23.
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Der Literaturmarkt und das literarische Schaffen bleiben von diesen Mechanismen nicht ausgenommen. Es mag daher nicht überraschen, dass in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz in den letzten Jahren vermehrt wieder Heimatklänge ertönten und mit Lokalkolorit gemalt wurde. In den Feuilletons sowie im wissenschaftlichen Diskurs blieben in der Folge die Diskussionen um ein Wiederaufleben von Heimat-, Regional- und Provinzliteratur und deren Beweggründe und Berechtigungen nicht aus. »Weshalb suchen wir plötzlich unser Heil und Heim in ›Vrenelis Gärtli‹?« 248 hieß eine Artikelüberschrift mit Anspielung auf den gleichnamigen Roman von Tim Krohn. Weshalb sind Romane wie Peter Webers Der Wettermacher (1993) und Tim Krohns Quatemberkinder (1998) im deutschsprachigen Raum Longseller? Was macht die Region – bei Weber das Toggenburg, bei Krohn die abgeschiedene enge Welt zwischen Alm und Alp249, in Urs Mannharts Debütroman Luchs (2004) das hintere Lauenental im Berner Oberland, in der Bergtrilogie Schattwand (2001), Graatzug (2007), Wässerwasser (2009) von Urs Augstburger die Walliser Alpen, bei Alex Capus der wiederkehrende Handlungsort Olten – so besonders? »Weshalb publiziert man Pedro Lenz’ Lexikon der Provinzliteratur und einen ganzen Band Provinzliteratur I mit Dialektgedichten?«250 Was ist das auktoriale Ziel von Romanen, die nebst Helvetismen teilweise oder ganz in Dialekt verfasst sind wie Aufgrochsen (2006) von Roland Reichen, Der Goalie bin ig (2010) und Tanze wi ne Schmätterling (2010) von Pedro Lenz oder in einer dem Glarnerdialekt nachempfundenen Hochsprache 251 geschrieben sind wie Texte von Tim Krohn?
248 | Stefan Zweifel: Heim ins Gärtli. Die Literatur spricht Dialekt und das Kino lernt jodeln. Ursprünglichkeit überall. In welcher Heimat leben die eigentlich? In: Das Magazin 44 (2007), S. 14. 249 | Stefanie Regine Bruns: Das ischt Kunscht? Tim Krohn spazifizottlet durch die Schweizer Berg- und Sagenwelt. In: literaturkritik.de 5 (1999). 250 | Stefan Zweifel: Heim ins Gärtli, S. 14. 251 | Dinah Stratenwerth: Viel zu verzellen. Interview mit Tim Krohn. In: Die Wochenzeitung vom 23.08.2007.
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Stefan Zweifel schlussfolgert in seinem Artikel: »Dass nun die Schweizer Literatur sich einmal mehr freiwillig ins provinzielle Gärtli flüchtet, weil man mit anderen Werken im deutschen Markt untergeht, ist fatal.«252 Doch so vereinfacht und pauschalisierend lässt sich dieses Verdikt nicht erhärten, geschweige denn auf die wirtschaftliche Dimension reduzieren. Denn Provinzhaltigkeit wie auch Welthaltigkeit ist nicht einfach eine Gegebenheit, sondern so Hugo Loetscher253, eine Entscheidung254, aus welchen Beweggründen auch immer. Pedro Lenz schreibt im Nachwort zu seiner Erzählung Tanze wi ne Schmätterling über Muhammed Ali, er wolle sich der Figur des Boxers im Zusammentreffen mit ganz normalen Menschen in Zürich Oerlikon annähern. Es sei für ihn als Schriftsteller wichtig, mit einem literarischen Stoff umzugehen, der sein direktes Lebensumfeld und seine Erfahrungswelt beträfe und nicht die Vereinigten Staaten der 1970er Jahre. 255 Daher auch das Setting in Zürich Oerlikon, begleitet von Begegnungen zwischen ortsansässigen Menschen und dem weltberühmten Boxer, anlässlich von dessen Boxkampf vom 26. Dezember 1971 gegen Jürgen Blin. Auch Alex Capus widmet sich mit Vorliebe dem alltäglich ›Anderen‹, gewöhnlichen Leuten, die etwas Außergewöhnliches gemacht hätten. Sie seien für ihn als Charaktere besonders interessant – keine Superhelden mit magischen Kräften oder Genies, sondern Leute, die er kennen könnte an seinem Wohnort Olten.256 Was die beiden Autoren stellvertretend für eine größere Autorenschaft verbindet, ist ihr literarischer Regionalismus, der in erster Linie eine li-
252 | Stefan Zweifel: Heim ins Gärtli, S. 15. 253 | Vgl. Hugo Loetscher: Lesen statt klettern. Aufsätze zur literarischen Schweiz. Zürich: Diogenes 2003. 254 | Heinz Ludwig Arnold: Provinz als Entscheidung. Hugo Loetschers Schweiz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.01.2004. 255 | Vgl. Pedro Lenz: Tanze wi ne Schmätterling. Die Coiffeuse und der Boxer. Muri: Cosmos 2010, S. 100. 256 | Vgl. Gespräch mit Alex Capus vom 24.08.2006.
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terarische Haltung darstellt 257 und den engeren Lebensbereich zum primären literarischen Motiv macht.258 Wobei hier eigentlich der Ausdruck ›regional‹ nicht für beide Autoren gleichermaßen zutreffend ist. Als eng gefasster Begriff bezieht sich der literarische Regionalismus mitunter auf eingrenzbare Territorien259, was als literaturwissenschaftliches Konzept in Frage gestellt werden muss, da dieses im Zuge der Globalisierung und den damit einhergehenden heterogenen Populationen mit gestreuten Milieus, pluralen Lebensstilen, Migrationskulturen, hybriden kulturellen Identitäten oder zumindest dem Wissen darum, nicht mehr funktionieren kann.260 Fokussiert Capus vermehrt Olten, wobei Olten auch für eine andere Kleinstadt stehen könnte, so wird Pedro Lenz durch seinen Dialektismus Vertreter einer ganz spezifischen Sprachregion. Trotzdem dominieren sowohl bei Lenz als auch Capus nicht das Abbild einer ›Region‹ oder das ausschließliche Schildern eines kleinstädtischen Milieus oder einer Dorfszenerie – weswegen im weiteren Verlauf dieser Forschungsarbeit literarischer Regionalismus mit dem definitorisch weiter gefassten und nicht pejorativ gemeinten Begriff der ›(Neuen) Provinzialität‹ ersetzt wird –, sondern die Wiedergabe zwischenmenschlicher Mikrokosmen, unabhängig von bestimmter regionaler Fixierbarkeit. Ob nun Schummertau, Olten, Bern oder Zürich Oerlikon, die poetische Ökonomie beider Autoren ermöglicht es ihnen, ortsunabhängig im Kleinen das Große, im Besonderen das Allgemeine darzustellen.261 Durch die Simulation von Regionalität wird wirkungsästhetisch Authentizität bei der Leserschaft hervorgerufen und Regionalität sozusagen ›internationalisiert‹.
257 | Regina Hartmann: Regionalität – Provinzialität? Zu theoretischen Aspekten der regionalliterarischen Untersuchungsperspektive. In: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 7 (1997), S. 585-598, hier S. 586. 258 | Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein/Ts.: Athenäum 1982, S. 10. 259 | Vgl. Norbert Mecklenburg: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München: iudicium 1987, S. 50. 260 | Wilhelm Amann, Georg Mein u. Rolf Parr: Räume im Fluss. Lokal, global, regional, S. 19. 261 | Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde, S. 551.
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Ian McEwan äußert hierzu, dass Literatur provinziell, regional verwurzelt sein müsse. Sie beginne immer mit dem Besonderen, dem Partikularen. Er sei der Überzeugung, ein Schriftsteller müsse seine Welt von unten, vom Detail aus auf bauen. Dabei seien die Themen weniger wichtig, vielmehr liege das Entscheidende bei den Details.262 Und der Verleger Kurt Wolf äußerte in einem Gespräch mit Günter Grass: Er wisse, dass sich alle große Literatur auf die Provinz konzentriere, sich in ihr verkrieche, ohne dabei provinziell zu werden; und deshalb sei sie weltweit verständlich.263
3.5.2 ›(Neue) Provinzialität‹ als Regionalisierungseffekt ›(Neue) Provinzialität‹ kann als Indikator für Lokalisierungs- und Regionalisierungsprozesse, unter der Grundannahme von Provinz als Mikrokosmos jenseits regionaler Fixiertheit, verschiedene Ausprägungen annehmen, wobei axiomatisch hier jene der vernetzten Provinzialität, des Rückzugs ins Eigene, Regionale, sowie der kritischen Provinzialität Orientierungspunkte schaffen sollen: ›Vernetzte Provinzialität‹: Durch die globalisierungsbedingte Kompression des Raumes, durch ein hierarchieloses Nebeneinander weit auseinander liegender Orte wird der Topos der Großstadt, Kleinstadt, des Dorfes, der Region oder Landschaft aus seiner nationalstaatlich verfassten Verankerung herausgelöst und in einem neuen Kontext verortet.264 So, wie ein urbanes Lebensgefühl dank der verkehrs- und kommunikationstechnologischen Möglichkeiten in ländlichen Regionen ausgebildet werden kann, so kann umgekehrt in der Großstadt ein enger Provinzialismus gelebt werden.265 Die literarische Darstellung eines traditionellen regionalen 262 | Julika Griem: Wo liegen die Tore zum Paradies, Mr. McEwan? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.07.2007, S. 6. 263 | Vgl. Günter Grass: Nachruf auf Helen Wolff. In: Ders.: Essays und Reden III, 1980-1997. Werkausgabe Bd. 16. Göttingen: Wallstein 1997, S. 399-404, hier S. 401. 264 | Vgl. Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur, S. 223. 265 | Dieter Burdorf u. Stefan Matuschek (Hg.): Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur: Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, S. 9.
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Raumes wird relativiert, weil alternative Lebensformen und Deutungsmuster existieren und über den provinziellen Rahmen hinausweisen.266 Provinzialität ist daher nicht mehr auf ein räumlich-geografisch fixiertes Mentalitätsmuster eines provincialism of mind267 reduzierbar. Sie erscheint als frei wählbarer Lebensraum, der vom realen Lebensgefühl begleitet ist, vernetzt zu sein jenseits einer Wahl zwischen Stadt und Land. Vernetzte Provinzialität steht somit für einen poetisch offenen, in seiner Verflechtung mit der übrigen Welt gezeigten Regionalisierungseffekt. ›Rückzug ins Eigene, Regionale‹: Geschlossene Provinzialität ist im Gegensatz dazu als Kehrseite der Globalisierung zu verstehen, eine Provinzialität, die den Rückzug ins Eigene markiert. Sei dies im Modus eines Gegenstatements zur globalisierten Welt, in der Darstellung eines abgeschotteten, isolierten Raumes mit Fokus auf einen für den modernen, weltgewandten Menschen als anders oder gar fremd empfundenen Mikrokosmos268, sei dies im Modus der Erinnerung, der Darstellung der Provinz aus der Perspektive des Nostalgikers, des Rückkehrers269, »dem sich aktuelle Außen- und frühere Innenperspektive verbinden, wenn ihm die Provinz als Ort und Bedingung seiner Kindheit historisch wird« und »die Begrenztheit der kindlichen Wahrnehmung mit der Begrenztheit des Ortes korrespondiert«.270 Literarisch ist hierzu anzumerken, dass der Aufbruch aus der Provinz oft mit dem Ausbruch des Helden oder auch Antihelden aus der Adoleszenz einhergeht und den Übertritt in eine
266 | Amann, Mein u. Parr: Räume im Fluss, S. 27. 267 | Vgl. Hermann Glaser: Der Gartenzwerg in der Boutique. Mythen der Regression – Provinzialismus heute. Frankfurt a.M.: Fischer 1973, S. 13ff. 268 | Vgl. dazu das Bergdrama Schattwand von Urs Augstburger. Birgit Vanderbeke schreibt dazu: »[…] Formale und erzählerische Rasanz und grosse Raffinesse braucht das, wenn einer sich in eine Gegend begibt, in die die Handys nicht hineinreichen, und da wird es natürlich spannend. Gruselig übrigens auch!« In: Urs Augstburger: Schattwand. Ein Bergdrama. München: dtv 2005, S. 2. 269 | Vgl. Mecklenburg: Die grünen Inseln, S. 235f. 270 | Alexandra Pontzen: Regionalismus und Realismus in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Amann, Mein u. Parr: Periphere Zentren oder zentrale Peripherien? S. 147-162, hier S. 155f.
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nicht mehr von der Herkunft vorgezeichnete Existenz271 markiert. Und die Rückkehr an den Ort der Kindheit symbolisiert die Auseinandersetzung mit Vergangenem, mit Fragen von Herkunft und Identität und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.272 ›Kritische Provinzialität‹: Unter dem Begriff der kritischen Provinzialität werden die seit der Moderne sich verstärkenden, durch Zentralisierung und Abwanderung hervorgerufenen Dichotomien Stadt/Land, Metropole/Provinz, Zivilisation/Natur und die damit einhergehenden Marginalisierungen hinterfragt. Aus kulturkritischer Perspektive werden die Defizite angetönt, die das heutige Leben gegenüber früheren Lebensformen kennzeichnen. Als Opposition gegen politische Stagnation und Repression, gegen globale Gefahren und Risiken wären poetisch verfremdende Gegenbilder, die, wie einst bei Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller, in Gestalt von Dorfgeschichten nationale Identitätsprobleme und elementare zwischenmenschliche Probleme angehen273, durchaus denkbar.
3.5.3 Wirkungsästhetische Authentizität bei Roland Reichen und Pedro Lenz Roland Reichen und Pedro Lenz legen mit Aufgrochsen und Der Goalie bin ig zwei Romane vor, die in ihrer erzählerischen Dringlichkeit darauf aufmerksam machen, dass es eine Welt jenseits medialer Sensation und medialer Interessen gibt. Eine Welt, unabhängig von globalisierungsbedingter Vernetzung und Internationalisierung. Kleine (Gegen-)Welten mit ›unscheinbaren‹ Lebensentwürfen, hässlichen und schmerzhaften Realitäten, mit Nöten und Sorgen, mit Missständen und Tragödien, über die im Normalfall nicht geschrieben würde. Welten, die der Zuversicht, dass alles machbar sei, entbehren und vom wiederholten Scheitern ihrer Bewohner handeln.
271 | Vgl. Alexandra Pontzen: Regionalismus und Realismus in der deutschen Gegenwartsliteratur, S. 156 sowie als literarisches Fallbeispiele Christoph Simon: Planet Obrist. Roman. Zürich: Bilgerverlag 2005. 272 | Literarische Fallbeispiele unter anderem Pedro Lenz: Der Goalie bin ig, Alex Capus Glaubst du, daß es Liebe war?, Peter Stamm: An einem Tag wie diesem. 273 | Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde, S. 553.
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Roland Reichen – Aufgrochsen In Aufgrochsen wird aus der distanzierten Perspektive des auktorialen Erzählers das Leben des dummen Bub und des Friedli nacherzählt. Der Bub ist das Opfer eines Fehlentscheids seiner Mutter, die aus falschem Standesdünkel seine Hirnhautentzündung nicht behandeln lässt. Wegen dieser Unterlassung geistig zurückgeblieben, macht er die Lebenserfahrung, »dass da ein Unterschied ist zwischen Schlagen und Reden. Das Reden, das ist viel schlimmer«.274 Verbalen Attacken und Schlägen vermag er nur mit Völlerei zu begegnen, um so das Durcheinander im Kopf zu besänftigen. Der angegessene Bauch wird Schutzschild und Wutbauch gleichermaßen. Das Friedli, durch ihren Klumpfuß marginalisiert und von ihrem Müeti dominiert, wird Opfer »sexuellen Missbrauchs durch den Lehrkörper«275 und erlernt früh das ›christlich‹ stille Erdulden. In einer arrangierten Hochzeit werden die beiden traurigen Schicksale miteinander verbunden. Doch diese Tragödie ist noch nicht genug: Mit der Geburt ihrer beiden Söhne, Fibi und Phant, erhält die Geschichte eine fatale Wendung und geht sozusagen in eine zweite Runde: »Wahaha!«, brüllt der Bub und verbietet dem schreienden Wurm zu schreien, weil der ist nämlich ein Lumpenhund, der hat jetzt eben einen Scheissdreck gemacht und muss jetzt auch die Folgen davon tragen. Und da schlägt der Bub, der doch geschlagen werden möchte, mit einem Mal selber zu: Fünf-, zehn-, zwölfmal flatzt seine platte Hand auf den kleinen Kopf vom Fibi herunter… 276 Und je länger der Fibi alle paar Wochen unter die Räder vom Bubenranzen kommt, […] desto natürlicher gehören für den Fibi Geschlagenwerden, Kotzenmüssen und anschliessendes Gehätscheltwerden halt auch zusammen. 277
Fibi, der sich mittlerweile dank gezieltem Erbrechen den Schlägen seines Vaters erwehren kann, verinnerlicht den Charakterzug von Friedli, »dass man für die angebliche Liebe einfach alles in Kauf nehmen muss«278, und
274 | Roland Reichen: Aufgrochsen. Roman. Zürich: Bilgerverlag 2006, S. 15. 275 | Ebenda, S. 21. 276 | Ebenda, S. 41. 277 | Ebenda, S. 45. 278 | Ebenda, S. 55.
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reagiert auf das ›Nase Pudern‹ seiner kurzzeitigen Freundin »mit Verständnis und Nachgeben«.279 Die Rezession und die daraus resultierende Arbeitslosigkeit des Buben und des Fibi verschlimmern nicht nur das innerfamiliäre problembehaftete Zusammensein, sondern drängen den Jungen endgültig in die Drogensucht. »Er braucht ja nur ein Alu zu rauchen und die Zimmertür abzuschließen«280 und schon hat Fibi die Unannehmlichkeiten der Arbeitslosigkeit und seines Alltags wieder im Griff. Einem ganz eigenen Duktus folgend, beginnt sein Leben aus den Rudern zu laufen. Friedli versucht all dem tatkräftig zu begegnen und die Familie finanziell über Wasser zu halten. Doch der Nervenzusammenbruch lässt nicht auf sich warten: Es ist nicht das Einzige, was im Friedli zerbricht. Von aussen, da sieht man ihm zwar nichts an, da schaut es nach wie vor aus wie ein Spatz, aber innen drin, da muss man sich das vorstellen wie in einer Küche, wo der Schrank aufspringt, und der ganze Geschirrhaushalt wirft sich auf den ungewaschenen Boden. […] Nicht einmal ein Plastiknapf bleibt jetzt da noch heil in der Innenküche vom Friedli drin […]. 281
Und seit jenem Sonntagnachmittag fühlt sich Friedli »wie ein Ei – innen roh und außen eine zu dünne Schale«.282 Einzig dem Phant gelingt die Flucht aus der provinziellen Enge. Im Gegenzug zu Fibi, der in sich die beiden unvereinbaren Wesen seiner Eltern trägt und daran zerbricht – die Drogensucht und der Alkoholmissbrauch zeugen davon –, wählt Phant die Flucht aus dem Elternhaus – nächtelang bleibt er von zu Hause weg – und eine höhere Bildung als Ausweg. Die Hochschule solls richten, soll ihm als Ausrede dienen, sich in Brasiwil nicht mehr blicken lassen zu müssen. Er zieht nach Friedlis Zusammenbruch nach Bern. Aus der Hochschule wird jedoch nichts. Der neugewonnenen Freiheiten sind zu viele. Als Medienbeobachter für eine in die Schlagzeilen geratene Berner Privatklinik durchforstet er den täglichen Blätterwald nach Skandalmeldungen und allgemeinen medizi279 | Roland Reichen: Aufgrochsen, S. 60. 280 | Ebenda, S. 63. 281 | Ebenda, S. 69. 282 | Ebenda, S. 73.
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nischen Nachrichten. Begleitet von der omnipräsenten Angst, entlassen zu werden, der Lebensangst, ebenfalls »auf dem randmenschlerischen Schrottplatz« zu landen, »auf dem schon der Bub, das Friedli und der Fibi verfaulen«,283 erscheint ihm die Nähe zu Hasi als Tor zur Welt, als einzigen Antrieb aus seiner Lethargie. Doch Hasi setzt Phants fehlende Leidenschaft zu und sie verlässt ihn nach einer unbefriedigten Nacht. Was soll nun aus Phant und Fibi werden? Fibi reitet sich in Zürich wegen seines Junkiedaseins immer weiter in Beschaffungskriminalität hinein. Irgendwie will und will seine Welt einfach nicht mehr in Ordnung kommen.284 Ob er am Ende einer Überdosis erliegt, wird aus dem Text nicht ganz klar: »Wie von selbst rollt sich langsam seine Zunge im Mund zusammen und schiebt sich nach hinten in den Rachen. Er wird nicht wach davon.«285 Phant wiederum leidet an Entzugserscheinungen und schadhaften Nachwirkungen anderer Natur. Aber Hasi kehrt zu ihm zurück. Und die beiden finden sinnigerweise aufs Jahrtausendende fernab, in einem einsamen weltabgewandten Gasthof am Napf, wieder zueinander. Der Ausspruch »Ich glaub, ich bin schwanger« 286 steht stellvertretend für das obligate Neujahrskorkenknallen – den beiden ist zuvor schon der Champagner ausgegangen –; die belustigend misslichen Bedingungen im vermeintlich heimeligen Hospiz, das sich als mindestens dreihundertjähriges Chalet entpuppt hat: Als er folgende Widmung [im Gästebuch] darunter setzt, fällt er beinahe schon aus dem Bett vor Lachen: »Liebes Lisi, lieber Friedu! Würde sich das neue Jahrtausend doch eure ›Frohegg‹ zum Vorbild nehmen. Ich bin sicher, der Messias kehrte dann endlich wieder!« 287
und die Umstände, die die beiden dahin geführt haben – » […] der Phant schwört sich, nie mehr per Internet zu buchen«288 –, stehen für eine sinnbildliche Öffnung ihrer Lebensentwürfe und führen Phant und Hasi 283 | Reichen: Aufgrochsen, S. 75. 284 | Ebenda, S. 81. 285 | Ebenda, S. 107. 286 | Ebenda, S. 112. 287 | Ebenda, S. 112. 288 | Ebenda, S. 110.
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schließlich aus der beengenden und beelendenden Provinzialität, aus dem provincialism of mind ihres Elternhauses hinaus. Durch die skurrile Tatsache, dass gerade das Internet als Inbegriff von Vernetztheit und Welthaltigkeit ihnen einen Aufenthalt fernab von allem, am Ende der Welt beschert hat, und durch Phants Gelächter über die esoterischen Ergüsse anderer Wallfahrer im Gästebuch, gelingt es Reichen auf den letzten Romanseiten, ein dem/der LeserIn vertrautes urbanes Lebensgefühl heraufzubeschwören und Phant und Hasi in die Normalität eines Alltags jenseits provinzieller Enge zu entlassen. Die sprachlichen Regelverstöße in Aufgrochsen, der roh anmutende Versuch des Erzählers, ›grochsend‹ in einer Mischung aus Seufzen, Fluchen und Spucken hochdeutsch zu sprechen und dabei immer wieder zu scheitern, geben dem Roman Tiefe, unterstreichen die zwischenmenschlichen Abgründe. Die Sprache wird selbst zur Dramaturgin. Pedro Lenz – Der Goalie bin ig Die sprachbedingte wirkungsästhetische Authentizität bei Roland Reichen findet sich bei Pedro Lenz in anderer Qualität wieder. Der Goalie bin ig gewinnt nicht wie bei Reichen dank seiner onomatopoetischen Kraft der Sprache an Eindringlichkeit. Vielmehr lebt Lenz’ Spoken-WordRoman vom ›wohlig orgelnden‹ Oberaargauer-Dialekt 289, der dem Protagonisten eine unverwechselbare Stimme verleiht, ihn sozusagen zum Original erhebt. Der Goalie, ein »Stürmi« 290, »ein Plouderi und ein Lafericheib«291, wird zum eigenen Gegenstand seines eigenen Erzählens. Eines Erzählens, das vom inneren Monolog der Titelfigur lebt und in seiner Rückwärtsgewandtheit dem Anti-Helden, der nicht große Stücke auf die Zukunft hält, in der Gegenwart als Stütze dient: Wöu hütt di ganzi verdammti Wäut kes Gedächtnis meh het. Erfoug ma kes Gedächtnis verlide. Und niemer wottsech a irgendöppis erinnere, wöu au di Optimischten und Visionären und die Tussene vom Fernseh und Heftlirotgäberpa289 | Christoph Fellmann: Ode an die Gescheiterten der Provinz. In: Tages-Anzeiger vom 13.04.2010, S. 31. 290 | Pedro Lenz: Der Goalie bin ig. edition spoken script. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2010, S. 5. 291 | Ebenda, S. 178.
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jassen und überhoupt au zäme gäng säge, me mües nume gäng füre luege. Du brichschder es Bei. Macht nüt, muesch füre luege! Du verlürsch der Job. Macht nüt, muesch füre luege! Du verlumpisch. Macht nüt, muesch füre luege! Du hesch Chräbs. Füre luege! He, sorry, wo häre genau? Wo wotsch häre luege, wennde merksch, wies mitder fadegrad z Bode geit? Höretmer doch uf mit däm Gliir! Wenns hinge besser usgseht aus vore, de luegeni lieber hingere. 292
Mit zwischenzeitlichem Scharfblick erkennt er die Gründe seines wiederholten Scheiterns, ohne konsequent dagegenhalten zu können. Denn der jahrelange Drogenkonsum hat Narben zurückgelassen: Chasch nüt Normaus mache, wenn de druffe bisch. Chasch nid einisch eifach säge, so, voilà, jetz gömer dört und dört häre, näme chli öppis z Ässe mit und chli Roten und machenis e schönen Oben […]. Nei, chamen aues nid mache, muesch immer dim elände Flash nocheseckle. 293 Weisch, du chasch das verdammte Züg scho lang dusse ha, i meine körperlech, aber im Gring obe hesches gäng no, im Gring hesches immer. Immer. 294
Ein Jahr Strafvollzug in Witzwil haben ihm seine Kleindealereien für den Eigengebrauch, haben ihm sogenannte Freunde eingebrockt. Und was jetzt? Erschtens machts di fertig, wenn de nid i dä Spunte chasch, wo de gärn ine giengsch. Zwöitens machts di fertig, wenn sie der aahänke, sigsch e Dealer, wenns gar nid stimmt, nie würklech genau gstumme het, wemes würd vo nöchem aaluege. Drittens machts di fertig, wenn de merksch, dass de ungrächt behandlet wirsch, und dass de nüt chasch mache dergäge. 295
Und viertens leidet der Goalie an der Liebe zur schönen Regula, der Serviertochter aus dem ›Maison‹, der Dorfkneipe, die sich letztlich gegen ihn entscheidet und lieber in der Beziehung mit einem Schläger verweilt, als sich auf einen seelenvollen On-Off-Drögeler einzulassen. Desillusioniert
292 | Lenz: Der Goalie bin ig, S. 37f. 293 | Ebenda, S. 19. 294 | Ebenda, S. 27. 295 | Ebenda, S. 59.
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beginnt der Goalie das provinzielle Schummertau mit seinen Bewohnern zu hinterfragen: Und Schummertau isch jo, wemes vo Nöchem aaluegt, nid unbedingt en Ort, wo vo sich us loht lo Feriestimmig ufcho. 296 Eländi verchnorzeti Chrüpplen überau i däm Kaff. 297 […] Schummertau, wo jede jede kennt und niemer am angeren öppis gönnt, ussert vilecht e Grippen oder e Hutusschlag. 298 Söue doch aui verrotten und verfule, mit ihrne Schloftablette-Tröim vom eigete Hüsli mit Parkett und Gartesitzplatz mit Wintergarten und vor dritte Sülen und au dene ganze, zuebetonierte Läbensentwürf. 299 Louf mou bi Tagesliecht z Schummertau usem Polizeiposchten use, ohni dass di öpper gseht wo die kennt. Das chasch grad vergässe. 300
Die Zeit in Witzwil hat ihn zum Außenseiter gemacht. Das Dorf wird ihm zum Inbegriff eines geschlossenen Lebensraumes, eines Ortes, an dem ihm in den Augen der Bewohner immer der Dealer und Loser anhaften wird: »Aber klar, je nachdäm, was fürne Pruef dass de hesch, chunnts vilecht gar nümm so drufaa, ob de vo hie oder vo nöimen angers chunsch. Frömd bisch sowieso.«301 Mit der Goalie bin ig zeichnet Lenz ein Gegenbild zum visionären, weltgewandten und weltoffenen Erfolgstypen, der in unserer globalisierten Zeit, zumindest auf der Seite der Gewinner, als Ideal gilt. Dem Protagonisten gelingt mit dem Umzug nach Bern und dem beruflichen Neustart als »Abwart-Stöuverträtter« der Ausbruch zwar aus der provinziellen Enge, hingegen nicht aus seinem Mikrokosmos, der Drogensucht: »Am Wuchenänd nimeni aube zwüschine wieder e chli Gift […]. […], wöus warm git. Und süsch, wenns mi wieder nimmt, de luegeni haut de.«302
296 | Lenz: Der Goalie bin ig, S. 78. 297 | Ebenda, S. 23. 298 | Ebenda, S. 13. 299 | Ebenda, S. 34. 300 | Ebenda, S. 69. 301 | Ebenda, S. 71. 302 | Ebenda, S. 168.
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Und so lautet die Botschaft von Lenz’ Text: Jeder ist für seinen Mikrokosmos, für das Biotop, das er sich als Lebensumfeld wählt, selber verantwortlich, unabhängig von provinzieller Enge oder weltzugewandter Offenheit. Und offensichtlich hat sich der Goalie damit abgefunden. Seinem Lebenscredo treu bleibend lässt er sich gleichwohl nicht unterkriegen: Aues i auem hani nüt z chlage. Das heisst, eigetlech hätti e Huufe z chlage, vor auem, weni a d Zuekunft dänke. […] Für öppis hetme jo no ne Vergangeheit. Di isch zwar ou nid nume schön, aber die chani wenigschtens eso verzöue, wien ig wott. 303
Pedro Lenz und Roland Reichen verstehen es, provinzielle Enge mit einer gewissen Bissigkeit und Ironie darzustellen und dank dem Überlebenswillen ihrer Hauptfiguren zur Welt hin zu öffnen. Dennoch bleiben beide Romanausgänge mit einer gewissen Melancholie behaftet. Sind die Charaktere fähig, die Gründe für ihr wiederholtes Scheitern zu erkennen und nachhaltig ihr Leben in andere Bahnen zu lenken? In Aufgrochsen markiert Hasis Schwangerschaft metaphorisch einen Neuanfang. Der Ausflug in die Abgeschiedenheit der Natur, durch den Phant und Hasi paradoxerweise zurück in die Welt finden, zeigt, dass ein vernetztes weltoffenes Lebensgefühl nicht eine Frage von Urbanität ist. Beim Goalie wird dem/der LeserIn klar, dass ein Neubeginn nur bedingt möglich ist. Der provinzielle Mief vermag in der Urbanität nicht als Kontrapunkt aufgelöst zu werden. Vielmehr ist die Öffnung hin zur Welt Sache der eigenen inneren Disposition. Fatalistisch harrt der Protagonist dessen was kommen wird. Doch die Hoffnung bleibt, die ersten Schritte sind getan.
3.5.4 Vernetzte und kritische Provinzialität bei Christoph Simon und Alex Capus Wie Pedro Lenz und Roland Reichen schreiben auch Christoph Simon und Alex Capus über Regionalität und Provinzhaltigkeit. Sind die Hauptfiguren bei den Erstgenannten vom Schicksal Gebeutelte, die aus ihrem provinziellen Umfeld nur bedingt ausbrechen können, so zeigt Simon in Luna Llena auf, dass Lokalismus nicht bedeuten muss, von der Welt abgeschnitten zu sein. Die Welt steht nicht außen vor. Sie darf erkundet 303 | Lenz: Der Goalie bin ig, S. 168.
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werden, was denn auch die ProtagonistInnen physisch oder mental, unabhängig von ihrer örtlichen Begrenztheit erfolgreich tun. In Glaubst du, daß es Liebe war wird die Hauptfigur aus ihrem kleinstädtischen Nest vertrieben und erfährt durch die Verbannung, dass es überall auf der Welt Orte gibt, die den Namen Heimat verdienen. Die Distanznahme zu seinem früheren Leben in kleinstädtischem Milieu ermöglicht dem Protagonisten dabei selbstreflektive Einsicht. Ob nun vernetzte und kritische Regionalität tendenziell positivere Lebensumstände generieren und geschlossene Provinzialität die Kehrseite der Globalisierung impliziert, sei dahingestellt, freilich nicht ganz auszuschließen. Christoph Simon – Luna Llena Christoph Simon kartographiert in seinem Episodenroman das Berner Breitenrainquartier. Im Zentrum des Geschehens liegt die Gelateria Luna Llena, die sich in den Neunzigerjahren »zum Sammelplatz […] für allerlei geistreiche und weniger geistreiche Schöpfungen entwickelt: für Stempelbrüder, Strauchdiebe. Klatschweiber, Provinzintellektuelle, Kloträumerinnen, Frevler, Zimtzicken, Exmänner, Hafturlauber…«.304 So denn auch für das Geschwisterpaar Rahel und Kurt König, die miesepetrige Wirtin und den einfühlsamen Eismacher, dem das Gemeinwohl und die Gemeinschaft seiner ›Tränen‹ – dies sein Kosewort für Leute, die er bemitleidet und die ihm besonders am Herzen liegen – an vorderster Stelle stehen: für Bodmer, einen Spieler, Casanova und Langzeitarbeitslosen; für Fisch, den Kellner auf Rollschuhen; für Bianca, die Taschendiebin und große Liebe von Fisch; für Marjorie, eine Versicherungsvertreterin und begnadete Schneiderin extravaganter Garderobe; für Jost Matter, einen Bodybuilder und Bauarbeiter, der nach dem Liebesaus mit Alexandra nur mühsam und nur dank einem von Bodmer und Fisch nicht ganz uneigennützig arrangierten Boxkampf zu alter Lebenslust zurückfindet; für Senka, eine serbische Hebamme, die letztlich erfolgreich um Jost bemüht ist; für Alexandra Jenk, die Quartierprinzessin und Treuhänderin des Luna Llena, der sich Kurt freundschaftlich verbunden fühlt, die aber kaum eingezogen nach ihrer und Josts missglückten Wohnungseinweihungsparty wieder das Weite sucht und in Ägypten Läuterung und die Liebe ihres Lebens findet. 304 | Christoph Simon: Luna Llena. Roman. Zürich: Bilgerverlag 2003, S. 33.
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Ähnlich einer Sitcom schildert Christoph Simon temporeich das Leben und die emotionalen Befindlichkeiten seiner vielfach miteinander verbandelten und in gut funktionierendem sozialen Gefüge verankerten Romanfiguren. Wobei der Hauptschauplatz immer das Berner Breitenrainquartier bleibt. In einem Interview sagt Simon dazu: »Bern ist das, was ich als soziales Gefüge erkennen will und vor dessen Hintergrund ich hervortrete.«305 Der Regionalisierungseffekt ist in Luna Llena in der örtlichen Begrenztheit des Geschehens sichtbar und nicht wie bei Reichen und Lenz in einer explizit postulierten Regionalität, die mittels dialektaler Sprache oder der Schilderung provinzieller Mentalitätsmuster vermittelt wird. Simon setzt Dialekt methodisch ein: um einen Umstand lautmalerisch kritisch zu betonen: »Bopmä … Bopmä …!«306 oder als gezieltes, Nähe und Vertrautheit erzeugendes Kommunikationsmittel: »Da sind sie ja, die Berner!« […] »Sie müssen Rahel sein! Hueretami du blödi Sou!« 307; »Und Baseldeutsch!« fuhr Krautgasser händeschüttelnd fort. »Alexandra brachte die Aufnahmecrew so weit, dass wir am Morgenbuffet im Hotel einander zuriefen: Gisch mer mi Äili zrugg, sunscht gib der ä Kopfnuss […].« 308
Nicht die Region oder die Stadt, sondern die Gelateria als Lokalität ist internationalisierbarer Ausgangs- und Angelpunkt zugleich. Das urbane Breitenrainquartier schafft Authentizität, bietet eine »gemütlichere Art von Freude«309 als das Berner Stadtzentrum, welches im Hintergrund, in einer distanzierten Postkartenwirklichkeit in Erscheinung tritt und dessen Vorzüge von Marjorie, Bodmer und Fisch mehrheitlich als äußerlich taxiert werden: »denkmalgeschützte Bauten, Brunnen und Gassen, Spitzenexemplare der Geranienzucht, Designershops, Schaufensterkunst, standardisierte Verkäuferinnen mit Namensschildern.« 310 305 | Gespräch mit Christoph Simon vom 04.09.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. 306 | Simon: Luna Llena, S. 67. 307 | Ebenda, S. 140. 308 | Ebenda, S. 141. 309 | Ebenda, S. 61. 310 | Ebenda, S. 61.
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Die unterschiedlichen Charaktere aus verschiedenen, dem Durchschnittsbürger wohl vertrauten Milieus bieten dem/der LeserIn Möglichkeiten der Identifikation. Die regionale Spezifik ist dabei von geringer Bedeutung. Ein ›schweizerisches Selbstverständnis‹ ist nicht signifikant. Die Schweiz findet nur am Rande Erwähnung. Zum einen in den Ausführungen Marjories zur Schweizergeschichte, zum anderen in der klischierten Wahrnehmung des Österreichers Krautgasser: »Wir Österreicher denken beim Wort Schweiz zuerst an Ski alpin, Nestlé, Schweizer Franken, Pharmakonzerne.«311 Simons vernetzte Regionalität äußert sich darin, dass er alle seine Figuren in ein Verhältnis zur Welt und zum aktuellen Zeitgeschehen stellt. Bodmer, auf einem Bauernhof im Emmental aufgewachsen, reiste bereits in jungen Jahren als blinder Passagier nach Rio de Janeiro und Buenos Aires, lebte acht Jahre in Florenz, danach in Frankreich und kehrte aus Geldmangel während des Golfkriegs in die Schweiz zurück. Marjorie gelingt ihr beruflicher Karrierestart in Österreich, wo sie als Historikerin und Fachkundige der Schweizer Geschichte endlich zu Ehren kommt. Alexandra nimmt erst eine Auszeit in Ägypten, findet dann in Kairo als Reiseleiterin eine Anstellung und lernt dort ihren zukünftigen Ehepartner, einen erfolgreichen österreichischen Fernsehreporter kennen, dem sie nach Wien folgt. Einzig Kurt, der Eismacher, steht für Tradition und Beständigkeit. Er engagiert sich für ein Quartier, das niemand mehr verlassen möchte. Sein ›Utopia‹ ist eine Insel, auf der es alles hat und gibt, ein überschaubarer friedvoller Ort: »So sieht die Welt aus, so will ich sie haben, ich würde alles auf einer Insel unterbringen […]. Man geht nicht auseinander, weil man mal etwas nicht versteht. Was zählt ist Einigkeit, Freundschaft, liebevolle Verbundenheit. Jetzt sag mir mal, wie ich dir auf tausend Kilometer Distanz liebevoll verbunden bleiben soll. Früher oder später reisst der Faden.« 312
Dass Alexandra ausgerechnet nach Ägypten gehen, dort ihren zukünftigen Ehepartner kennen lernen und ihm in seine Heimat folgen muss, passt Kurt nicht in sein Weltbild. Doch um Verbundenheit bemüht, nutzt Kurt die Errungenschaften der heutigen Zeit, hält mit Alexandra einen 311 | Simon: Luna Llena, S. 142. 312 | Ebenda, S. 127.
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regen E-Mail-Verkehr aufrecht und versucht, sie in ihrem Denken und Handeln zu verstehen. Korrespondierend mit den Wirkungsweisen des Internets, lässt Simon den Eismacher im Breitenrain eine Parallelfeier zum Hochzeitsfest von Alexandra und Georg Krautgasser im entfernten Salzburg ausrichten: »Es war sein erstes Hochzeitsfest und er verknüpfte dieses Ereignis mit den Idealen, die ihm die Unterhaltungsindustrie eingepflanzt hatte. […] Er versuchte alles, um das gesellige Beisammensein zu einem unvergleichlichen Ereignis werden zu lassen.«313 Per Mail erhalten die Breitenrainer die Photos von der Trauung mit folgender schriftlicher Ergänzung, die entfernt an die Live-Schaltung der Länder-Stimmabgabe des Eurovision Song Contests erinnert: »Hochzeit wunschgemäß verlaufen. Salzburg dankt für Segenswünsche und erwidert. Frohes Fest, Breitenrain!«314 Alex Capus – Glaubst du, daß es Liebe war Wie in Luna Llena Simons lockerer, unangestrengter Umgang mit urbaner, vernetzter Lokalität, besticht Capus’ Roman Glaubst du, daß es Liebe war durch einen kritischen Provinzialismus, der in der Schilderung des sich letztlich zum Guten wendenden Werdegangs des Harry Widmer junior das kleinstädtische Leben unerbittlich sarkastisch und eindringlich komisch vorführt. Harry Widmer junior, im Städtchen trotz seines Rufes als »Schweinehund«315 beliebt und bei den Frauen begehrt, übernimmt die Fahrradwerkstatt seines Vaters und verwirklicht mit einer Kreditnahme bei den ›Sauhunden‹ seine hochfliegenden Modernisierungs- und Redimensionierungspläne. Über der erweiterten und zu einem exquisiten Fahrradgeschäft mit modischen Accessoires umgebauten Werkstatt steht in leuchtender Schrift HARRY’S CRAZY BIKE-CORNER, im Schaufenster thront »die Nachbildung eines hundertjährigen Hochrads sowie eine vierzigjährige türkisfarbene Vespa«.316 Zur Eröffnung organisiert Harry junior in großzügiger Weise ein Mountainbike-Rennen und eine Lotterie mit einem teuren Karbonrad als Hauptpreis, welches ausgerechnet Harry 313 | Simon: Luna Llena, S. 178. 314 | Ebenda, S. 185. 315 | Alex Capus: Glaubst du, daß es Liebe war? Roman München: dtv 2005, S. 9. 316 | Ebenda, S. 15.
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Widmer senior gewinnen und nie zu Gesicht bekommen sollte: Eine von vielen im Städtchen gehandelten Harry-junior-Anekdoten. Die Investition erweist sich jedoch als weniger rentabel als angenommen. Die Geschäfte sind mehr Schein als Sein, wie auch die zur Schau getragene Sportlichkeit des Juniors, der im Grunde weder von Sport, noch von Fahrrädern wirklich etwas versteht. Und als eine Gestalt einen grazilen langen Schatten in seinen Laden wirft, nimmt sein Leben eine erste Wendung: [Sie] hatte Mandelaugen, den stolzen, eleganten und zugleich demütigen Gang einer Tempeltänzerin und hörte hierzulande auf den Namen Nancy. […] Gerne würde ich an dieser Stelle berichten, daß sie eine aufsehenerregend exotische Erscheinung war im biederen Städtchen und daß sich die Leute den Hals verdrehten nach der fremdländischen Schönen. Aber das wäre nicht wahr. Die Wahrheit ist, daß Mädchen wie sie in den achtziger Jahren nachgerade zum Stadtbild gehörten – im Katalog begutachtet, gegen Vorauszahlung angefordert und geheiratet von einheimischen Bürgersöhnen, denen einheimische Bürgertöchter zu wenig anschmiegsam waren. 317
In den gemeinsamen Ferien auf den Seychellen ist die Ferienstimmung nicht nur wegen Nancys allmorgendlicher Übelkeit getrübt. Ein Schreiben aus der Schweiz lässt Harrys Laune unter den Gefrierpunkt sinken: Die »Sauhunde«318, mit denen er sich im ›Rathskeller‹ immer aufs prächtigste unterhalten hat, schicken ihm aus sicherer Entfernung ihre Zahlungsaufforderungen, während sich im Briefkasten zu Hause ultimative Rechnungen der Stadtwerke, der Telekom, der Krankenversicherung, der Bank für fällige Hypothekarzinsen einschließlich der Zinseszinsen und Zinseszinsen ansammeln. Da Harry Widmer junior weder Zeit noch Geld hat, um die Angelegenheiten gütlich zu regeln und ihn das unmissverständliche Unwohlsein von Nancy in die Enge treibt, wählt er kurz darauf die Flucht. Nicht fähig, sein Glück im Unglück zu erkennen, simuliert er einen negativen Schwangerschaftstest, dessen positives Pendant er aus dem WC-Fenster in den Garten wirft (eine weitere Harry-Anekdote), stopft die Tageseinnahmen seines Sommerschlussverkaufs in die Brusttasche und hebt ohne Mitteilung Richtung Mexico City ab.
317 | Capus: Glaubst du, daß es Liebe war?, S. 22. 318 | Ebenda, S. 31.
3. Globalisierungseffekte
In zehntausend Kilometer Distanz fühlt sich Harry vor väterlichen Verpflichtungen und vor seinen Gläubigern sicher, deren Leben er über das abonnierte Tagblatt des Heimatstädtchens mit Interesse verfolgt: Für einen ahnungslosen Leser wären die kleinen, unscheinbaren Meldungen vielleicht nichts weiter gewesen als harmlose Nachrichten aus dem ereignisarmen Leben eines unbedeutenden Provinzstädtchens, […] in Harry Widmer juniors Augen aber fügten sie sich zusammen zu Possen und Dramen, Schwänken und Tragödien, alle miteinander verwoben und kapitelweise weitererzählt über Wochen, Monate und Jahre hinweg. 319
Was Harry hingegen nicht im Entferntesten ahnt, ist dass im Gegenzug auch er im Städtchen, von weitem observiert, in aller Munde ist. Den ›Sauhunden‹ ist wohl bekannt, dass er in der Nähe der Provinzhauptstadt Guadalajara in einem mexikanischen Kaff am Meer, welches von Thanksgiving bis Pfingstmontag für ein halbes Jahr vom Massentourismus heimgesucht wird, ansonsten in alltäglicher Eintöne vor sich hin vegetiert, ein neues Zuhause und eine neue Einkunft gefunden hat. HAROLDO’S CRAZY SURF-CORNER erweist sich ungeachtet der Spötteleien zu Hause als lukratives Geschäft. Zum ersten Mal in seinem Leben schreibt Harry schwarze Zahlen. Fünf weitere Jahre ziehen ins Land. Haroldo, ›El Suizo‹ gehört mittlerweile zu den reichsten Männern im Dorf, ist geachtet und respektiert. Anders als andere Auswanderer vermisst er die Heimat nicht, obwohl er tagtäglich an Nancy und an das wohl bald fünf Jahre alte Kind denken muss. Selbst die Todesanzeige seines Vaters im lokalen Tagblatt vermag ihn nicht zur Rückkehr zu bewegen. Manchmal wunderte sich Harry, daß er kein Heimweh empfand. Er, der sich in den engen Gassen des Städtchens wohl und zu Hause gefühlt hatte, wie nie ein Mensch sich zu Hause gefühlt hatte; […] er, der sich nicht hatte vorstellen können, wie Menschen freiwillig leben konnten jenseits der Hügel, die sein Städtchen umgaben. […] Harry Widmer junior hatte in den fünf Jahren seiner Verbannung gelernt, daß es noch andere Städte gab und andere Flüsse. Er hatte gelernt, daß jede menschliche Siedlung auf der Welt ihren ›Rathskeller‹ hat und daß in jedem
319 | Capus: Glaubst du, daß es Liebe war?, S. 66.
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›Rathskeller‹ ein Stammtisch steht und daß an jedem dieser Stammtische ein paar Sauhunde sitzen. 320
Harrys Identitätsfindungsprozess setzt mit dem Heimischwerden in der neuen Umgebung ein. Die Begrenztheit des Ortes, die andere Lebensart, der ungekünstelte Umgang, die Freundschaft zu Angelito, der nackte Überlebenskampf und die Brutalität der Elemente holen Harry in eine Realität zurück, in der er nicht anders auftreten kann, als er in Wirklichkeit ist, und in der Zwischenmenschliches bedeutsam ist und nicht ein lästiges Übel. Egal, ob mal ›Schweinehund‹ oder Prachtkerl, Harry wird authentisch. Örtliche Begrenztheit geht, so Capus, nicht automatisch mit einem provincialism of mind einher. Dieser ist im Grunde ortsunabhängig, da er zum einen von der Art und Weise des bestehenden sozialen Gefüges, zum anderen von der eigenen Disposition abhängt. Drei kurz nacheinander auftretende Ereignisse bringen dann die Einsicht, dass Harry Widmer juniors bis anhin unverbindlich gelebtes Leben so nicht weitergehen kann. Er beschließt auf Anraten von Angelitos thailändischer Frau, seine Schulden zu tilgen, Thailändisch zu lernen und nach dreihundertfünfundsechzig Lektionen, nach Jahr und Tag, sein Exil zu verlassen und sich den Begebenheiten zu Hause zu stellen. »Sechseinhalb Jahre waren vergangen seit Harry juniors überstürzter Flucht. […] die Sowjetunion war zusammengebrochen, Europa hatte eine Union gebildet, und das Internet hatte sich ausgebreitet bis in die hintersten Talschaften der Anden, Alpen und Karpaten«.321 Harry Widmer junior hat sich verändert, nur das Städtchen ist dasselbe geblieben. Einzig über seinem ehemaligen Geschäft schimmert nun in roter Leuchtschrift NANCY’S CRAZY THAI-SHOP. Das Zusammentreffen mit Nancy verläuft ungekünstelt. Nancys Frage: »Glaubst du, daß es Liebe war?«, bleibt im Raum stehen, beantwortet sich aber indirekt selber. Sie erzählen, diskutieren und kommen sich dabei ungelenk und verlegen immer näher. Am nächsten Morgen steht fest, dass Harry als Beschützer seines Sohnes und seiner Schwiegermutter mit den beiden nach Thailand ziehen wird, da seinem Sohn das Schweizer Klima äußerst schlecht bekommt. Nancy dagegen bleibt in der Schweiz.
320 | Capus: Glaubst du, daß es Liebe war?, S. 73. 321 | Ebenda, S. 113.
3. Globalisierungseffekte
Sieben Jahre später hat Harry Widmer auf der Insel Phangan eine Surf-Corner-Dynastie aufgebaut und dabei viel Geld erwirtschaftet. Sowohl seinen mittlerweile dreizehnjährigen pubertierenden Sohn als auch seine Schwiegermutter erträgt Harry mit heiterer Gelassenheit. Einzig, dass er ihr in ihrer Einsamkeit halbe Nächte lang tröstend, über ihr weißes Haar streichend, auf Thai altertümliche Zärtlichkeiten zumurmeln muss, wird ihm allmählich zu viel. Ansonsten wartet Harry treu darauf, daß Nancy endlich ihr Restaurant verkauft und zu ihnen stößt. Aber sie vertröstet ihn Jahr um Jahr. Schließlich muß sie das Geld verdienen, solange sie es verdienen kann. Und als Harry kürzlich die Zeitverschiebung vergaß und sie zu nachtschlafener Zeit anrief, nahm zum ersten Mal ein Mann ab. Ende 322
3.6 O NE WORLD – THE SAME LIFE ? Ü BER DIE LITER ARISCHE F UNK TION VON F LUGHAFENWARTEHALLEN UND ANDEREN N ICHT -O RTEN 3.6.1 Der Nicht-Ort – Definitorisches von Marc Augé zum neuen Raumtypus Globalisierungstheoretisch ist dem französischen Ethnologen und Anthropologen Marc Augé mit seiner Abhandlung über die Ausbreitung neuer Räume323, in deutscher Übersetzung 1994 unter dem Titel Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit erschienen, ein interessanter Erklärungsansatz für neue Raumkonzeptionen der Gegenwart gelungen. Im Zuge des postulierten Übermaßes an Raum als globalisierungsbedingte Implikation – gemeint sind hier unter anderem »Räume der Zirkulation, der Kommunikation [Information] und des Konsums, einschließlich der technischen Mittel, die es ermöglichen, sich in ihnen zu
322 |Capus: Glaubst du, daß es Liebe war?, S. 142. 323 | Marc Augé: Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Le Seuil 1992.
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bewegen oder sie zu konzentrieren«324 – definiert Augé die Begrifflichkeit des Nicht-Ortes in Abgrenzung zu anderen ethnologischen Betrachtungsweisen neu. In theoretischer Gegenüberstellung von Ort und Raum versteht Augé den Raum, in Anlehnung an de Certeau, als einen Ort, »mit dem man etwas macht«325, der Phänomen einer Bewegung ist.326 Der Raum des Reisenden wäre demnach der Archetypus des Nicht-Ortes, da die Reise eine fiktive Beziehung zwischen Betrachter und Landschaft erzeugt und der Reisende immerwährender Zuschauer bleibt.327 Im Gegensatz zu de Certeau aber, dessen Nicht-Orte sich durch narrative Anheftungen an die physikalische Existenz des Ortes ergeben328, ist der Nicht-Ort bei Augé ein Raum, der, entgegengesetzt den Merkmalen eines Ortes, »keine Identität besitzt, sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt« 329 und für den/die BenutzerIn gerade durch das Fehlen jeglicher Identität zu einem Raum absoluter Freiheit wird. Literarisch betrachtet können Nicht-Orte damit zum Spiegel und Projektionsraum der eigenen Identität werden und zugleich in kultureller Hinsicht »das gemeinschaftliche Schicksal der Gattung«330 vor Augen führen. Ihre Anonymität und Funktionalität ermöglichen laut Augé eine historisch neue Erfahrung einsamer Individualität.331 Wobei unklar bleibt, welche Semantik dem Begriff der Einsamkeit zugeordnet wird; in einem fest umgrenzten Raum auf sich alleine gestellt oder vermehrt eigenen Gefühlen und Gedanken ausgesetzt zu sein, muss nicht unbedingt Einsamkeit bedeuten. Denn: 324 | Emanuel Alloa: »Der Tourismus ist möglicherweise die letzte Utopie« – Ein Interview mit Marc Augé. 325 | Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 94. 326 | Vgl. Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter u. Friedemann Kreuder: Einleitung. Das Konzept des Unorts. In: Dies. (Hg.): Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: transcript 2010, S. 9-27, hier S. 17. 327 | Vgl. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 103. 328 | Däumer, Gerok-Reiter u. Kreuder: Einleitung. Das Konzept des Unorts, S. 13. 329 | Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 92. 330 | Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 141. 331 | Vgl. ebenda, S. 121.
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Herrschte nicht an solchen Orten, an denen sich Tausende von individuellen Reisewegen kreuzten, noch etwas von dem ungreifbaren Charme der ungenutzten Flächen und der offenen Baustellen, der Bahnhöfe und Wartesäle, in denen die Schritte sich verlieren, all diese Orte zufälliger Begegnungen, an denen man noch flüchtig die Möglichkeit von Abenteuer spürt, das Gefühl, daß man die Dinge nur ›kommen lassen‹ muß?332
Orte und Nicht-Orte stellen für Augé fliehende Pole dar; der Ort verschwindet niemals vollständig und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her333: »Keines der beiden Extreme wird je Wirklichkeit, vielmehr vermögen beide als Begriffspaar einen Raum in sozialer Hinsicht zu charakterisieren.«334 Nicht-Orte sind per definitionem quantifizierbare, funktionale Räume wie Flugstrecken, Bahnlinien, Autobahnen, mobile Behausungen, die man als Verkehrsmittel bezeichnet (Flugzeuge, Eisenbahnen, Automobile), Flughäfen, Bahnhöfe, Raumstationen, große Hotelketten, Freizeitparks, Einkaufszentren sowie virtuelle Räume wie verkabelte oder drahtlose Netzwerke335 etc., »die in bezug auf bestimmte Zwecke (Verkehr, Transit, Handel, Freizeit) konstituiert«336 und oftmals von Zeichen oder Texten, von ihren Gebrauchsanleitungen337 und Benutzordnungen 338 definiert sind.
332 | Vgl. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 9. 333 | Ebenda, S. 94. 334 | Alloa: »Der Tourismus ist möglicherweise die letzte Utopie« – Ein Interview mit Marc Augé. 335 | Vgl. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 94. 336 | Ebenda, S. 110. 337 | Ebenda, S. 113. 338 | Ebenda, S. 119.
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3.6.2 ›One-world-Effekt‹ oder Räume des Wiedererkennens Durch ihre Abstraktion und Funktionalität werden Nicht-Orte dem/der BenutzerIn mit der Zeit vertraut.339 Autoraststätten, Flughäfen, aber auch das Internet zeichnen sich durch stets ähnliche Standards aus. Sie funktionieren fast überall auf der Welt gleich und vermitteln dem reisenden Individuum das Gefühl einer nicht-fremden Umgebung, das Gefühl, in ein und derselben Welt zu sein, losgelöst von gewohnheitsmäßigen, historischen Bestimmungen. Diese Räume des Wiedererkennens haben sich im Zuge der Globalisierung vervielfacht. Sie lassen einen ›one-world-Effekt‹ entstehen und simulieren einen Zustand der Ähnlichkeit und Vertrautheit, in dem gänzlich fremde Welten nicht mehr vorhanden sind: Der Fremde, der sich in einem Land verirrt, das er nicht kennt (der ›durchreisende‹ Fremde), findet sich dort ausschließlich in der Anonymität der Autobahnen, Tankstellen, Einkaufszentren und Hotelketten wieder. Das Tankstellenschild einer Benzinmarke ist für ihn ein beruhigendes Merkzeichen, und mit Erleichterung entdeckt er in den Regalen der Supermärkte die Toiletten- und Haushaltsartikel oder Lebensmittel multinationaler Konzerne. 340
In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz finden Nicht-Orte als ›one-world-Effekt‹ auffallend oft in Zusammenhang mit Identitätsfindungsprozessen von reisenden Individuen, MigrantInnen oder (zeitweiligen) ExilantInnen Erwähnung. Sei das im Dienste betonter Welthaltigkeit: Bei Loetscher beispielsweise Vergleich zwischen einem Zürcher und einem asiatischen Vorort: »Baugruben, Gerüste und Krane dort wie hier als seien die Bagger, die Betonmischmaschinen und Schubkarren mitgeflogen«341, nur »kehrte mit mir auch nicht derjenige zurück, als der ich aufgebrochen war«.342 Als zeitkritisches Statement wie etwa bei Zschokke, der die Mechanismen der Globalisierung und ihren Einfluss auf unsere Lebenswelten thematisiert: mit Billigstladenketten, ob in Wismar an der Ostsee, in Berlin oder in Genfer Vororten. »Du weißt, wie traurig ich ohne Konditoreien und Cafés werde. Ich verfluchte mei339 | Vgl. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 115. 340 | Ebenda, S. 125. 341 | Loetscher: War meine Zeit meine Zeit, S. 134. 342 | Ebenda, S. 134.
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ne Neugier nach Wirklichkeit und wünschte mich zurück ins Büro.«343 Oder bei Stamm: »Er ging zu McDonald’s und holte sich etwas zu essen. […] Der Hamburger war [nach einer Weile] kalt und schmeckte widerlich, aber Andreas aß ihn trotzdem.«344 Sei das als Rückzugsraum, der Sicherheit und Kontrolle vermittelt: »Das Tuten beruhigte mich, dieses Signal aus den Tiefen des gesichtslosen Telefonnetzes, die Weite, die sich darin erahnen ließ, die Summe aller Möglichkeiten«345 oder als Erkenntnis, dass dem eben nicht immer so ist: In Meine Väter von Martin R. Dean wird eine junge Frau Opfer eines Übergriffs im virtuellen Raum. Von einem Mann im Chatroom angehalten, kommt es zu sexuellen Handlungen. In ihrer Nacktheit wird sie per Mausklick mit Bildern verstümmelter Körperteile bombardiert: »Er wird immer wieder dasein, sobald ich den Computer öffne.« 346 […] »Ja, ich sehe jetzt ein, dass es ein Irrtum war, mit dem Computer aus der Welt zu flüchten. Lange habe ich geglaubt, ich könnte mich im Netz vervielfältigen und mich von meiner Orientierungslosigkeit ablenken. Ich könnte einen fehlenden Finger zu einem Symbol aufladen und dann darüber das Rätsel meines Lebens lösen. Jetzt weiss ich, dass es darauf ankommt, wo ich bin. Ich meine, es ist wichtig, dass nicht nur mein Geist irgendwohin reist, sondern, dass der Körper dabei ist. Ich will mittendrin sein – […].« 347
An anderer Stelle lässt Dean seinen Protagonisten in einen dieses Mal nicht virtuellen, sondern physisch begehbaren Raum, in einen McDonald-Imbiss, flüchten, der ihm Zuflucht und Ruhe gewähren soll. Gefehlt. Sein Zustand verschlimmert sich. Selbst des landesüblichen Englisch beraubt, verlässt er fluchtartig die Lokalität und rettet sich in den botanischen Garten. Beim Durchatmen kehrt die Sprache zurück.348 Der erhoffte ›one-world-Effekt‹ in der internationalisierten Fast-Food-Kette bleibt aus. Die Naturoase, hier zwar domestiziert und ebenfalls zu einem gewissen Grad funktionalisiert, gewährt dem Protagonisten Einhalt und 343 | Zschokke: Maurice mit Huhn, S. 146. 344 | Stamm: An einem Tag wie diesem, S. 104 u. 107. 345 | Goetsch: Ben Kader, S. 41. 346 | Dean: Meine Väter, S. 145. 347 | Ebenda, S. 171. 348 | Ebenda, S. 294.
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vermag diesen innerlich zu mitten. Auch in Flughafenfische thematisiert Angelika Overath das Nicht-Eintreten eines ›one-world-Effekts‹. Durch das Wiedererkennen eines französischen Mineralwasser-Labels an einem Flughafenkiosk stellt sich wider Erwarten kein ›gutes Gefühl‹ ein. Zu Tränen gerührt sehnt sie sich danach, mit ihren Händen Wasser aus einem fließenden Brunnen aufzufangen und zu trinken.349 Die Textbeispiele zeigen auf, dass in der Gegenwartsliteratur aus der Schweiz nicht nur ein Diskurs über die Eigenschaften und Wirkungsweisen von Nicht-Orten in Abgrenzung zu anderen Örtlichkeiten geführt wird, sondern Nicht-Orte gezielt auch instrumentalisiert werden. Sie stehen im Dienste auktorialer Absichten. Die literarische Funktion kann dabei den ›one-world-Effekt‹ überlagern oder ihn gar disfunktionalisieren.
3.6.3 Die literarische Funktion von Nicht-Orten – Eine Bestandsaufnahme In der CH-Literatur finden Nicht-Orte ungeachtet ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutung als Spiegel und Projektionsraum von Identitäten Anwendung. In Glaubst du, daß es Liebe war? von Alex Capus markiert eine turbulente Flugreise als Zäsur den inneren Wandel der zurückkehrenden Hauptfigur.350 In Ben Kader von Daniel Goetsch wird eine Flughafenhalle zum Ereignisvermittler von 9/11, der die Einsicht, ›etwas wird anders sein‹, ins kollektive Bewusstsein transportiert und die veränderte Beziehung zwischen den beiden Romanfiguren mitmeint.351 In Maurice mit Huhn von Matthias Zschokke thematisiert der Protagonist mittels Sinn und Zweck von Flug-, respektive Wochenendstädtereisen sein Verhältnis zur Welt, seine Suche nach Wirklichkeit.352 In Meine Väter von Martin R. Dean wird der Nicht-Ort in seiner literarischen Funktion fast immer zu einem Ort interkulturellen Erfahrens. Ob auf Zugs- oder Autoreisen durch die ländliche Schweiz, durch das naturgewaltige Trinidad oder auf Flugreisen nach England, in die Schweiz, nach Trinidad und wieder zu349 | Angelika Overath: Flughafenfische. Roman. München: Luchterhand 2009, S. 52. 350 | Vgl. Capus: Glaubst du, daß es Liebe war?, S. 109ff. 351 | Vgl. Goetsch: Ben Kader, S. 253f. 352 | Zschokke: Maurice mit Huhn, S. 157.
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rück, nicht der Nicht-Ort, sondern der interkulturelle Erkenntnisgewinn des indischstämmigen Schweizers steht im Vordergrund. Selbst die Flughafentoilette wird zum stillen Ort interkultureller Recherche und ihre Künstlichkeit durch die naturmetaphorischen Betrachtungen seines Benutzers belebt: Der [ein alter Sikh] trug einen kompliziert geschlungenen roten Turban, seine Hände waren lang und knochig, und umständlich zog er sein Glied aus den flatternden Tüchern. Wie ein jahrhundertealter Baumpatriarch stand er neben mir und liess endlos lange sein Wasser. Ungeachtet fielen seine Barthaare auf die Brust, sein Gesicht glich einem umgegrabenen Acker voller Furchen und Narben und sein Blick bohrte sich, starr und unbeirrbar, geradewegs in die Kachelwand, als könne er durch das Loch bis nach Bombay, Jayalapur oder in verwucherte Urwälder schauen. 353
Weiterer Beispiele, die die literarische Funktion von Nicht-Orten illustrieren, wären noch viele. Doch einige Romane gehen konzeptionell über das übliche Maß hinaus. Sie zeichnen sich durch einen besonderen Umgang mit Nicht-Orten und deren Rollen für die Romananlage und den Handlungsverlauf aus. Erwähnenswert sind in diesem Kontext die Romane An einem Tag wie diesem von Peter Stamm, Ohio von Ruth Schweikert und Flughafenfische von Angelika Overath. Auf letztgenannten Roman wird eigens in einem Unterkapitel eingegangen, da hier Nicht-Ort und einziger Handlungsort zusammenfallen. Diese spannende Konstellation sozusagen als Präzedenzfall in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz verdient ausdrückliche Beachtung. Peter Stamm – An einem Tag wie diesem In An einem Tag wie diesem spielen Nicht-Orte: Vororte, Billighotels, Einkaufszentren, Autobahnraststätten, Tankstellenshops, Selbstbedienungsrestaurants, McDonalds, Autoreisen etc. eine tragende Rolle. Sie alle veranschaulichen in ihrer Funktionalität symptomatisch das Innenleben des Protagonisten und beleuchten sein Verhältnis zur Welt. Aus Angst vor der Leere, vor der Unordnung, dem Chaos, vor dem Tod hat dieser seinem Leben durch die Wiederholung immer gleicher Abläufe Halt gegeben. 353 | Dean: Meine Väter, S. 37f.
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Seine identitäts-, relations- und geschichtslose Lebensführung wird mit dem Bild des Nicht-Ortes gleichgeschaltet. Dieser wird in der Literatur oft als unwirklich empfunden: Immer wieder gab es Augenblicke wie diesen [Flughafenbeschreibung], in denen sie es ziemlich unwahrscheinlich fand, am Leben zu sein 354 . [Im Flughafen auf den Abflug wartend] Sie sagt, was machen wir hier bloß, was machen wir hier bloß. Er sagt, vielleicht ist das dieses Zwischenreich, das uns erwartet, wenn wir sterben. Vielleicht sind wir gestorben. 355
Der Nicht-Ort bei Stamm dient dazu, den Protagonisten in den Bannkreis der Unwirklichkeit zu schlagen. Eine Unwirklichkeit, die ihn zu innerer und äußerer Distanznahme befähigt und seine Angst vor dem Tod zeitweilig in Schach hält: Andreas hatte das Zimmer [in billigem Etap-Hotel am Autobahngürtel] seit dem Mittag nicht verlassen. Er hatte stundenlang aus dem Fenster geschaut auf die Autos, die einmal dichter, dann weniger dicht fuhren, die sich gegen Abend stauten, still standen und sich dann langsam wieder in Bewegung setzten […]. Es wurde Nacht. Sie fahren immer so weiter, dachte er, der Verkehr lässt nie nach. Er dachte an seinen Tod, er versuchte daran zu denken. Aber sein Leben war so ereignislos gewesen, dass er sich seinen Tod nicht vorstellen konnte. 356
Doch die Angst kommt plötzlich und ohne Vorwarnung wieder.357 Allein auf einem Autobahnrastplatz übermannen ihn die Emotionen. Der NichtOrt als Metapher für die Ereignislosigkeit des vom Autor skizzierten Lebens des Protagonisten wird am Romanende durch das Meer kontrastiert, welches den Wandel hin zu einem bejahenden Leben versinnbildlicht und die Überwindung einsamer Individualität anzeigt: Das Gefühl von Einsamkeit war schwächer geworden, je weiter er sich von den letzten Menschen entfernt hatte. Jetzt war es ganz verschwunden. Es war ihm, als sei er selbst kein Mensch mehr. Er lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel, 354 | Overath: Flughafenfische, S. 152. 355 | Zschokke: Maurice mit Huhn, S. 163. 356 | Stamm: An einem Tag wie diesem, S. 118. 357 | Vgl. ebenda, S. 118.
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dessen Blau so durchlässig schien, dass er dahinter die Schwärze, die Leere des Weltalls erahnte. Der Wind ließ nicht nach, und das Rauschen der Brandung war ein stetiges Geräusch, die einzelnen Wellen waren nicht zu unterscheiden. 358
Ruth Schweikert – Ohio In Ruth Schweikerts Roman Ohio findet die Klimax einsamer Individualität im Freitod des Protagonisten ihren finalen Akt. Der/die LeserIn realisiert am Romanende, wie Schweikert langsam auf diesen Ausgang hinarbeitet. Relativ früh in der Handlung hält Andreas im Transit des Flughafens Johannesburg Rückschau auf sein Leben, auf die Ereignisse der letzten zwei Wochen, schreibt letzte Postkarten mit Koordinatendurchgabe an Merete und nimmt von seinem Vater (un)wissentlich Abschied. (Un)Wissentlich deshalb, weil er sich einerseits unmittelbar nachher auf unbestimmte Zeit kommunikationstechnologisch seinen Nächsten entzieht und sein Vater andererseits nach Beendigung des Telefonats stirbt. Da Merete Andreas über diesen Umstand nun nicht informieren kann, reist sie nach Durban. Sie kennt seinen Aufenthaltsort und weiß, dass er bis zum 18. Oktober im Blue Waters Hotel zu erreichen ist. Die Wahl von Nicht-Orten (Flughafen, Hotelsuite) als zeitweilige Handlungsorte betont die Relevanz ihrer literarischen Funktion. Akkordiert von den Klängen des Bob Dylan Songs Not dark yet, der den tiefen Abgrund implizit benennt, in den der Protagonist stürzt – wohl derart stimmig, dass Schweikert keine alternativen Worte dafür erfinden will –, und darauf hindeutet, dass für diesen no way out mehr existiert, kann sich Andreas im Transit seinen assoziativen Gedankengängen über das Vergangene nicht erwehren. Doch trotz der Unmittelbarkeit der Geschehnisse, der suggestiven Kraft des Bob Dylan Songs und den schmerzhaften Erinnerungen scheint Andreas durch mehrere Faktoren emotional geschützt: Zum einen befindet er sich in einer depressionsbedingten Gefühlsstarre, die ihm innere Distanziertheit ermöglicht, zum anderen wird dieser Sachverhalt durch die Funktionalität und Unwirklichkeit des Nicht-Ortes intensiviert: […] und die Überwachungskameras liefen, und einen absurden Moment lang fühlte Andreas sich eingemeindet, aufgehoben und sicher; als überwachten die Kameras jeden seiner Gedanken und löschten ihn, nachdem sie ihn für harmlos und 358 | Stamm: An einem Tag wie diesem, S. 203.
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normal befunden hatten; und es kam ihm vor, als hätte tatsächlich ein anderer an seiner Stelle die letzten zwei Wochen gelebt, und er selbst hätte ihn dabei nur beobachtet, akribisch und verständnislos und mit einer aberwitzigen Befriedigung über seinen physischen und psychischen Verfall, der ebenso idiotisch wie unaufhaltsam schien. 359
Als letztem Kreuzpunkt von Merete und Andreas und als Handlungsort des Haupterzählstrangs kommt der Hotelsuite als Nicht-Ort tragende Bedeutung zu. In der Unwirklichkeit der Umgebung, in der absoluten Freiheit des anonymen Raumes, kommt es zwischen den beiden Romanfiguren zu einer letzten Annäherung. Das erneut zueinander in Beziehung treten lässt ihn umso schmerzhafter realisieren, dass es kein Zurück mehr gibt. In Analogie zum Nicht-Ort setzt er seinem identitäts-, relations- und geschichtslosen Leben ein Ende: Er war ein normales kleines Arschloch, nicht besser und nicht schrecklicher als alle da draußen, die reglos in ihren Betten lagen und von kaputten Dingen träumten, die sie nie in ihrem Leben tun würden. Er lebte und rauchte und atmete, und es tat weh, und er wollte, dass es aufhörte. Es war kurz vor halb fünf. Es war Zeit. 360
3.6.4 Angelika Overath – Flughafenfische Flughafenfische ist ein Roman, der in mehrfacher Hinsicht fasziniert: Auf der einen Seite durch den Umstand, dass ein Flughafen zugleich als Nicht-Ort und einziger Handlungsort das Geschehen zentriert. Auf der anderen Seite durch die Fülle an Globalisierungseffekten, die mit Hilfe dieser spezifischen Romananlage freigesetzt werden. Beide Faktoren erlauben es, Flughafenfische ebenso wie Ohio als globalisierten Roman zu bezeichnen. Identitäten – Tobias, Elis, der Raucher In der internationalisierbaren Ortlosigkeit eines Nicht-Ortes, genauer im Transitbereich eines der größten Flughäfen der Welt, im hier genannten Flight Connection Centre, kreuzen sich die Geschicke dreier Menschen:
359 | Schweikert: Ohio, S. 97. 360 | Ebenda, S. 201.
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Tobias Winter, ursprünglich gelernter Schreiner und Tierpfleger, ist seit sieben Jahren Aquarist. Er betreut und wartet das 200 000 Liter Aquarium, »das kleine Meer, das hier im Flight Connection Centre die fensterlosen Fluchten der Einkaufsareale abteilte vom Oval einer Ruhezone, deren Glasfront einen weiten Panoramablick auf die Flugzeuge bot«.361 Mitunter Öffentlichkeitsarbeiter ist er für eine bessere Wohlfühlqualität der Transitreisenden mitverantwortlich und angehalten, auf ihre Fragen und Anliegen gebührend einzugehen. Doch Tobias beobachtet Menschen lieber, als dass er mit ihnen spricht: »Und mit Menschen lebte Tobias Winter am leichtesten, wenn er sie als schwimmendes Muster begriff, als eine in sich bewegte Wassertapete.«362 Neben seinen regulären Arbeitseinsätzen, züchtet Tobias passioniert Seepferdchen und fühlt Momente des Glücks, wenn ihm seine Tiere aus der Hand fressen. In den letzten Jahren ist sein prüfender Blick dabei jedoch zunehmend von den Tieren auf die Spezies der Reisenden übergegangen, obwohl er von dieser Spezies nicht viel hält und sie als unwissend und fahrlässig disqualifiziert. Denn Tobias weiß um die Konsequenzen von Strömungen (erinnert sei an die Globalisierungstheorie der global cultural flows von Appadurai). Er nimmt diese wahr, spürt, wie sie insgeheim durch diesen geographischen Punkt, durch sein Aquarium laufen und das Gleichgewicht der Welt beeinflussen: »Er sah die Linien, in denen sie [die Reisenden] sich verstrickten. Und wenn Tobias von den Korallen in den großen Riffen der Welt las, und er las nun immer häufiger davon, dann registrierte er das als persönliche Botschaft.«363 Denn »er stand in Verbindung mit allen. Er war der stille Messias der Meere.«364 Nicht von ungefähr hat Tobias seinen Forschungsschwerpunkt seit einiger Zeit auf das Sammeln und Klassifizieren von Müdigkeiten ausgeweitet, als »eine Art Schlaf-Futter, eine Art Schlaf-Unterfutter für einen heiligen Mantel, der all jene umschloß, die müde waren und nicht schliefen«.365 Mit besonderem Interesse registriert er jeweils jenen sonderbar, ziehenden Schmerz, das Flimmern, den Sog von Schlafentzug.366 361 | Overath: Flughafenfische, S. 9. 362 | Ebenda, S. 16. 363 | Ebenda, S. 22. 364 | Ebenda, S. 21. 365 | Ebenda, S. 17. 366 | Vgl. ebenda, S. 19.
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Umso mehr kommt die Begegnung mit Elis einem sich zaghaft ankündigenden Erdbeben gleich, das ihn letztlich nachhaltig in seinen Grundfesten erschüttert: Das [Gespräch] dauert länger, dachte er. Irgend etwas will sie. Das Aquarium interessiert sie. Aber da ist noch etwas anderes. Er notierte es als Abweichung. Aber als Müde war sie interessant. Sie war müde, das sah er, sie war bis zur Erschöpfung müde. Ein Extremfall von Müdigkeit. Und dabei überwach. 367
»Die Hand Gottes ist fort, dachte sie. Und jetzt knabbern die Fische an einem Salatkopf. Wenn es weiter nichts ist. Es kam nicht mehr darauf an.«368 Elis, wie ihre Freunde sie nach einer Provinz auf dem Peloponnes in Griechenland nennen 369, lässt sich nach der Begegnung mit Tobias und einem plötzlichen Anflug von Angst – unwissend wovor, wohl aber auf die erahnte Tragweite ihrer Begegnung zurückzuführen –, durch die zeitlosen Raumfluchten der Flughafenhallen treiben und gerät immer wieder in die Brandung von auf sie zu kommender Wellen von Menschen. Sie ist müde und darf es sein. »Nur ein Zwischenstop. Ein Transit.«370 In Wirklichkeit ist Elis ihres Lebens als Photographin überdrüssig, davon, erleuchtete Augenblicke an Hochglanzmagazine zu verkaufen, immer den entscheidenden Moment zu erkennen und dabei ihr eigenes Leben zu verpassen. Als »varimobiler Single ohne Seitenlinie« 371, wie sie sich selber nennt, lebt sie ein heimat- und beziehungsloses Leben, das ähnliche Eigenschaften wie ein Nicht-Ort hat, ein Leben in der Rückschau: »Man sagt, dachte sie, vor dem Tod eines Menschen ziehen seine Lebensbilder vorbei. Wenn das so ist, sterbe ich seit Jahren.«372 Sich vom Schau- und Erinnerungsvermögen lösen, sich der ewigen Mitte des Augenblicks überantworten, das wäre die Lösung: »10 000 Meter über der Erdoberfläche, jeder Entscheidung enthoben
367 | Overath: Flughafenfische, S. 126. 368 | Ebenda, S. 81. 369 | Vgl. ebenda, S. 115. 370 | Ebenda, S. 24. 371 | Ebenda, S. 123. 372 | Ebenda, S. 155.
3. Globalisierungseffekte
[…]. Im Grunde liebte sie diese leeren Stunden im Luftraum. Hier war sie sicher.«373 Anders als auf der Flugreise fühlt sich Elis im Flughafen nicht wohl. Schwindel befällt sie. Die Luft ist sauerstoffarm. Ordentliche Luft sollte es in modernen Großflughäfen geben. Immerhin flog die Menschheit zum Mond!374 Diese Luft hier war gefährlich, es wurde einem schwindelig, man konnte nicht mehr denken. Sie war nie so müde wie auf Flughäfen. (War es eine spezifische Müdigkeit, eine Transitmüdigkeit, unabhängig von der Qualität der Luft?) Sie vergifteten einen. 375
Ohne es zu merken, strandet Elis wieder bei den Plastiksesseln vor den Fischen. Das Aquarium ist für sie der einzig mögliche (Zufluchts-)Ort und lässt sie den Flughafen vergessen.376 Elis mag es, wie Tobias sie im Gespräch auf seine Unterseereise mitnimmt. Unvermittelt fragt sie ihn: »Glauben Sie, daß man sein Leben ändern kann? […] Aber wenn man es ändern könnte […], müßte man dann anfangen oder aufhören zu lieben?«377 In der Sicherheit seiner Anwesenheit, mit Blick auf das Aquarium möchte sie endlich schlafen und schläft ein. »Vermutlich hatte Tobias Winter nun Angst. […] Und auf einmal schien es ihm selbstverständlich zu sein, nach dem Stoff zu greifen und den Mantel wieder ein wenig über ihre Schultern zu ziehen, gerade so, als müsse er sie gegen Zugluft schützen.«378 Wie das Aquarium als Ort inmitten eines Nicht-Ortes die sanften Klänge einer beginnenden Beziehung zwischen Elis und Tobias reflektiert, so kontrastiert dazu der Flughafen, genauer gesagt das Raucherfoyer und die Flughafentoilette, das traurige Ende einer Ehe. Die harte Ernüchterung eines bald emeritierten Biochemikers, – der sich ironischer Weise seit neustem mit bioaktiven Substanzen bei Meerestieren beschäf373 | Overath: Flughafenfische, S. 25. 374 | Vgl. ebenda, S. 154. 375 | Ebenda, S. 154. 376 | Vgl. ebenda, S. 160. 377 | Ebenda, S. 170f. 378 | Ebenda, S. 173.
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tigt, ohne das phänomenale Großaquarium mit einem Blick zu würdigen – sich in der Anonymität seines Lebens zu verlaufen, ein Leben in austauschbaren Welten geführt zu haben: Warum ist sie gegangen? Warum hat sie es gewagt? […] Ich war nicht da, sagte sie. Ich war selten da. Glaube ich. Und sie begann mit diesen Wellnessorgien […] was weiß ich. […] Und das Reisen. Ja, sie wäre gerne mehr mit mir gereist. Aber ich konnte sie doch nicht mitnehmen. Das waren ja keine Reisen. Die ewigen Kongresse. Flughäfen, die alle gleich aussehen, Kongreßzentren, die identisch sind zwischen Hongkong und Hannover, Hotels derselben Ketten. Alles austauschbar. Ich mußte in den Terminkalender schauen, um zu wissen, wo ich bin. 379
Ausgerechnet an einem Nicht-Ort gefangen, will der Raucher einfach nur weg. Doch Nebel und Überlastung verhindern einen Weiterflug. In der Begrenztheit des Raumes ist er schutzlos seinen assoziativen Gedankengängen ausgesetzt und wird sich seiner Einsamkeit bewusst. In seinem Ego verletzt: »Man rechnet nicht damit, daß man mit so einer alten Ehe noch ausrutscht«380, greift er reaktiv, aus der banalen Einsicht heraus, dass das Leben tödlich ist, in einem destruktiven Schub nach Zigaretten und Alkohol. »Der Whisky tut gut. […] Schwimmender Verlust der Schwerkraft, submarines Schwindelgefühl. Trinken ist Tauchen.«381 Die Wirkung bleibt nicht aus. Ungeachtet seiner Selbsteinschätzung, immer Herr der Lage zu sein, entgleitet ihm mehr und mehr die Kontrolle. Auf der Flughafentoilette trifft ihn nebst der Einsicht, »Alles wäre auch anders möglich. Anders möglich gewesen. […] Sie muß es gewußt haben. Ich sage ihr, daß ich es auch weiß. Daß ich sie weiß«382, wortwörtlich der Schlag. Er bricht zusammen: »Wie der Blick im Spiegel bricht. Sekundenklar im Grauen die silberne Schrift.«383
379 | Overath: Flughafenfische, S. 37f. 380 | Ebenda, S. 69. 381 | Ebenda, S. 72. 382 | Ebenda, S. 167. 383 | Ebenda, S. 167.
3. Globalisierungseffekte
Die Synthetisierung von Ort und Nicht-Ort Nicht von ungefähr hat Overath in Flughafenfische den Nicht-Ort Flughafen als Handlungsort ihres Romans ausgesucht. Der Flughafen ist Raum der Zirkulationen, des Verkehrs, des Konsums und des Reisens in einem und verkörpert so den Idealtyp eines Nicht-Ortes. Er bezeichnet Passagen von Menschen, die unterwegs sind, als typische Situation von Globalisierung384 und ist oftmals durch lange Wartezeiten charakterisiert. In dieser Funktion ermöglicht er das Beschreiten vielfältigster Projektionsräume und wird zur perfekten Bühne, auf der Identitätsfindungsprozesse, Beziehungen und Lebensgeschichten von Romanfiguren in Szene gesetzt werden können. Overath arbeitet mit unterschiedlichen Erzählinstanzen und -perspektiven. Den Part des Rauchers hebt sie von jenen von Elis und Tobias durch die Verwendung der Ich-Form ab. Sie markiert ihn in seiner Eigenständigkeit und vermag vielleicht der einsamen Individualität des Rauchers auf diese Weise Nachdruck zu verleihen. Mit der Wahl einer auktorialen Erzählinstanz und dem perspektivischen Erzählen in der abwechselnden Er/Sie-Form signalisiert Overath in den Kapiteln von Elis und Tobias eine Einheit, in der die beiden Figuren mehr und mehr zueinander in Beziehung gesetzt werden. Als einem Retter der Ströme, als Fels in der Brandung von ›Umgeleiteten, Verirrten aus allen Kontinenten‹385 wird der Figur von Tobias besondere Bedeutung beigemessen. Er verkörpert nicht nur eine Konstante ›in den Wogen der Weltenfahrer‹386, sondern synthetisiert Ort und Nicht-Ort und rettet sich selbst vor der Atemlosigkeit der Reisenden in die sichere Welt seines Aquariums: Tobias Winter wollte jetzt allein sein. Wie immer, wenn er sich unbedacht zu sehr in die Reisenden hineinsah, stieg eine laue und mächtige Angst in ihm auf. Er brauchte Luft. Er sollte möglichst schnell ganz nah bei seinen Fischen sein. Am besten wäre es, ein Stück des Riffs zu reinigen. […] Er schloß die Tür und war von der Technik umfangen. 387
384 | Vgl. Gespräch mit Martin R. Dean vom 28.08.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. 385 | Vgl. Overath: Flughafenfische, S. 14. 386 | Vgl. ebenda, S. 16. 387 | Ebenda, S. 46.
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Das Aquarium kontrastiert als autarker Lebensraum – »Aquarien sind künstliche Räume, die leben«388 – den Flughafen, der einzig von seinen BenutzerInnen belebt wird. In sozialer Hinsicht ist das Aquarium als Rückzugsort charakterisiert und Ruhepunkt inmitten der Hektik des Flughafenalltags: Sie leben im Flughafen, dachte sie, Flughafenfische, und sie sah gelbe und blaue, gelb-blaue und flammend rote, grünschimmernde und indigogeschuppte schwebendleichte Tiere, die sich drehten, in den sandigen Grund stießen, einander verfolgten oder suchend an den bewachsenen Steinen herumzupften. […] Und indem sie nun in die Bewegung der Fische sah, schien ihr auf einmal der ganze Raum langsam zur Ruhe zu kommen. 389 Das Aquarium ist wie ein Auge, dachte sie jetzt. Nein, nicht weil die Fische Augen haben und uns vielleicht sehen. Das Aquarium selbst sieht uns. Und sie tauchte ein in den ruhigen Blick, in das Meer hinter Glas. Es ist wie schlafen, dachte sie. Fast wie schlafen. 390
Die langen Textbausteine über das Aquarium und über dessen Bewohner in der Gegenüberstellung mit ausführlichen Flughafen- und Flugreisebeschreibungen versinnbildlichen die Zuversicht, »The awful daring of a moment’s surrender«391 zu riskieren und das Leben nicht im undefinierbaren Überall von Nicht-Orten veröden zu lassen. Overath ist eine ausnehmend gute Beobachterin. Es gelingt ihr, den Flughafen als Handlungsort in stimmigen, gut nachvollziehbaren Bildern zu skizzieren und je nach Befindlichkeit und Perspektive der betrachtenden, respektive agierenden Romanfiguren unterschiedlich zu konnotieren: Tobias nimmt das Flight Connection Centre relativ neutral als zeitlosen Raum war, vor dem, draußen vor dem Glas, wenn die Nacht beginnt, der Nebel zu einer Wand wächst und die Rollfelder, die Startund Landebahnen und die Flugzeuge verschwinden lässt.392 Was ihn viel mehr irritiert, sind die Gewohnheiten der Transitreisenden, ihr fehlen388 | Overath: Flughafenfische, S. 20. 389 | Ebenda, S. 65. 390 | Ebenda, S. 160. 391 | Intertextuelle Verweise auf The Waste Land von T. S Eliot. In: ebenda, S. 14, 18, 163, hier S. 164. 392 | Vgl. ebenda, S. 7.
3. Globalisierungseffekte
des Bewusstsein für die wichtigen Dinge im Leben, ihre Unwissenheit oder ihr Desinteresse dem Aquarium gegenüber. Denn es ist das Beste, was sie vermutlich auf ihren Reisen zu sehen bekommen.393 Tobias erlebt die Reisenden, »wenn sie herabkamen aus der Höhe der gläsernen Halle, Flügellahme auf elektrischen Treppen, über mobile Bänder gleitend mit ihren Rollkoffern, […] als Schwarm«.394 Elis wiederum fühlt sich als Transitreisende als Teil dieses Schwarms: Täuschte sie sich oder hatte sich der Rhythmus der gemeinsamen Fortbewegung beschleunigt? Wir sind ein Volk, skandierte es auf einmal in ihr. Wir sind ein Volk von Umgeleiteten. Unwillkürlich musste sie lachen. Eine Weltfluggesellschaft. 395 Und ergeben, selbst nur ein ferngesteuertes Glied eines zufälligen Weichkörpers, liess sie sich in den Glaskrustenpanzer der Halle voranschieben. 396
Sie nimmt sich und ihre Umgebung überdeutlich wahr: Wie sie sich unwillkürlich nach der langen Flugreise streckt, in kreisförmigen Bewegungen ihre Schultern lockert397, wie sie durch die Gangway – diesen Schlauch – ins Innere des Flughafens gelangt, über Plastiknoppen, dann über längsgeriffelte Förderbänder, über Marmorplatten, dann über Teppichboden schreitet398, wie sie bei der Passkontrolle Erleichterung verspürt, durchgelassen zu werden 399 etc. Vom Flug, von der unzureichenden Versorgung mit Flüssigkeit oder von der sauerstoffarmen Luft im Flughafen ist ihr schwindlig, fühlt Elis sich nicht wohl. Auf der Suche nach einem Getränk geht sie lieber weiter, als dass sie sich in einer Bar, einem Café oder Restaurant hinsetzt: »Sie hatte keine Geduld und nicht die Gelassenheit, die es erträglich macht, in die Augennähe von fremden Gesichtern zu geraten.« 400 Um sich innerlich sicherer zu fühlen, macht sie sich die Funktionalität des Nicht393 | Vgl. Overath: Flughafenfische, S. 15. 394 | Ebenda, S. 13. 395 | Ebenda, S. 28. 396 | Ebenda, S. 24. 397 | Ebenda, S. 23. 398 | Ebenda, S. 27. 399 | Ebenda, S. 49. 400 | Ebenda, S. 51.
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Ortes zu Nutze. Um eine plausible Außenwirkung bemüht, bleibt sie, von einer Fremden ihres Blickes ertappt, unter einer Abflugtafel mit dem Blick nach oben stehen401 oder instrumentalisiert den Gang zur Toilette einzig aus dem Beweggrund, um sich zu bewegen.402 Wie der Raucher kann auch Elis sich assoziativer Gedankengänge nicht erwehren, die der Aufenthalt im Flughafen auslöst. Unter anderem reflektiert sie ihre oberflächliche Beziehung zu einem Piloten, die nicht einmal ein richtiges Ende gefunden hat. Er interessierte sie nicht, war nur angenehm403: »Ich mochte die perfekte Oberfläche […]. Die Hemden waren angenehm. Er war angenehm. Und unverbindlich aufmerksam. Vielleicht kam das vom Fliegen, vielleicht wurde man so, wenn man die Erde alltäglich nur aus großer Höhe sah.«404 Ganz anders Tobias, der sie interessiert, mit dem sie sich gerne unterhält: »Sie empfand es als eine Großzügigkeit, dass er ihr etwas erklärte, etwas, das ihm wichtig schien. Sie waren doch Fremde. Und jetzt nahm er sie mit in seine Unterwasserwelt.« 405 In krassem Kontrast zu Elis, die sich treiben lässt, die sich auf eine längere Zeit im Transit einstellt, will der Raucher einfach nur weg. Sich ans Meer trinken, an den Ort, wo er einst mit seiner Frau bei Ebbe hätte nach England hinüber laufen sollen. Dann wäre vielleicht alles anders gekommen.406 Und ausgerechnet dieser Flughafen liegt am Meer, was für ein Hohn. »Eine Übertreibung der Verspiegelung und Durchsicht, Solardächer, die modernsten Photovoltaikanlagen. Alles vom Feinsten. Aber uns sperren sie ein. Mit einer Klimaanlage, die offensichtlich nicht funktioniert.«407 Rauchfrei. Whisky und Duty-free. Der Raucher sieht sich als Dichter, als Werbetexter seiner Misere, als Gefangener des Handelns unfähig:
401 | Vgl. Overath: Flughafenfische, S. 59. 402 | Vgl. ebenda, S. 110. 403 | Vgl. ebenda, S. 57. 404 | Ebenda, S. 55. 405 | Ebenda, S. 121. 406 | Vgl. ebenda, S. 103. 407 | Ebenda, S. 32.
3. Globalisierungseffekte
Wo sie bloß hin ist? […] Und ich komme nicht weg. 408 Dass ich es jetzt nötig habe, hier zu sitzen. Dass man in diesem verdammten Flughafen nicht rauchen darf. 409 Man kann ja kaum atmen. Die Luft ist so schlecht. Das muss den andern doch auch etwas ausmachen. […] Das hier ist Körperverletzung. 410
Ungeachtet der unkomfortablen Lage fühlt er sich in der Anonymität anderer Raucher sicher. »Niemand sieht mich an. Das ist gut. Ich mache das ja nicht jeden Tag.« 411 Doch Elis nimmt ihn im gläsernen Raucherraum wahr. Wie im Zoo, denkt sie: »Da inhalieren die exotischen Rauchertierchen.« 412 Sie sieht einen Herrn in dunkler Weste und dunklem Jackett, eine Whiskyflasche zwischen den geöffneten Knien haltend. »Kein Blickkontakt, dachte sie, jetzt bitte keinen Blickkontakt.« 413 Der Raucher, mehr und mehr alkoholisiert, sinniert über Luft und Haut, darüber, dass Staub Haut ist, dass sich alle gegenseitig atmen und in ihrer Einsamkeit ineinander übergehen.414 Dem Druck seiner Blase nachgebend, schwankt er schließlich Richtung Flughafentoilette. Strahlende Becken, bestes Porzellan, da hat man mal nicht gespart. Ich schätze das. Und diese filigranen Zielfliegen. Schwarz, in jedem Oval eine. Und das ist ja witzig, jetzt fliegen sie doch, sie kreisen. Sie kreisen. Ich höre sie brummen. Bsssssssssssssss. So ein Quatsch. Sie sind aufgemalt. 415 […] Am Sprung erkennt man den Spiegel. 416
Er erkennt, dass es auch hätte anders kommen können, dass die Liebe echt gewesen ist. Und mit dem letzten Blick wird er sein Spiegelbild gewahr, und wie es zerbricht.
408 | Overath: Flughafenfische, S. 39. 409 | Ebenda, S. 68. 410 | Ebenda, S. 72. 411 | Ebenda, S. 106. 412 | Ebenda, S. 63. 413 | Ebenda, S. 63. 414 | Ebenda, S. 133. 415 | Ebenda, S. 166. 416 | Ebenda, S. 167.
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Hätte die Wirkungsweise des Aquariums als Ort im Nicht-Ort, hätte Tobias den Trinker vor dem Tod, vor dem gemeinschaftlichen Schicksal der Gattung vorerst retten können? Die Bilanz für den Flughafen als NichtOrt fällt nicht gut aus. Er wird als lebensfeindlicher und unwirklicher Raum beschrieben, der ungeachtet seines ›one-world-Effekts‹ bei Elis, dem Raucher und selbst bei Tobias gerade durch die Vielzahl seiner BenutzerInnen und der daraus resultierenden Anonymität die Gefühle der Einsamkeit, der Sehnsucht, der Unsicherheit und des Unwohlseins verstärkt, assoziative Gedankengänge und Erinnerungen herauf beschwört. Gleichwohl beschleunigt der katalytische Effekt des Flughafens Identitätsfindungsprozesse grundsätzlich – mit welchem Ausgang auch immer. Flughafenfische – ein globalisierter Roman Angelika Overath zeigt mit Flughafenfische auf, dass das Globalisierungsphänomen Lebensräume schafft, die es zu hinterfragen gilt. Dass die Frage gestellt werden muss, wie man in einer überindividualisierten und funktionalisierten Welt letztlich am Leben bleibt. Nicht nur mit dem Fokus auf Ort und Nicht-Ort, sondern auch in der Fülle der darin angesprochenen Globalisierungseffekte ist Flughafenfische ein globalisierter Roman, der literaturgeschichtlich Beachtung verdient. Steht der Flughafen für Beschleunigung und Vernetzung, so entschleunigt Overath die Handlung durch die zeitliche und räumliche Begrenztheit der Romananlage. Obwohl in Flughafenfische die informations- und kommunikationstechnologischen Errungenschaften erwähnt werden – viele Reisende nutzen mit ihren Notebooks die Wartezeit als Arbeitszeit, erledigen per Handy wichtige Telefonate oder ihren E-Mail-Verkehr –,so scheinen die Romanfiguren davon unberührt zu sein. Elis will willentlich nicht erreichbar sein, verzichtet auf den Ersatz ihres seit einigen Tagen verlorenen Handys. Selbst ihre E-Mails will sie nicht abrufen. Auf lange Zeit mit Photoaufträgen ausgebucht, hat sie keine Lust, neue Anfragen beantworten zu müssen. Das Geschäft mit dem Fremden, um das Fremde verträglich zu machen und Wirklichkeit als schönen Reiz zu erfinden, beginnt sie in Frage zu stellen. In den Savannenwäldern wurde sie Zeugin der Rituale von Priesterinnen und deren Inszenierung als Models. Kulturimperialismus par excellence. Ein Photograph ließ die Frauen tanzen, immer wieder in
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der richtigen Reihenfolge gehen, mit ihren Fetischen als Fallus-Symbolen zwischen den nackten Brüsten, ungeachtet dessen, dass sie sich dagegen sträubten. Die Bilder gingen mit kuriosen Bildunterschriften rund um die Welt und noch Jahre später tauchten sie in unterschiedlichsten Zusammenhängen in Magazinen auf.417 Oder der Auftrag bei den Tuareg fällt Elis ein. Es war derselbe Photograph, der die Tuareg davon überzeugte, ihre blauen Tücher umzufärben, so dass die Wechselwirkung zwischen den Farben des Sandes, der Kamele und der Kleidung der Männer stimmiger wurde. Den Tuareg gefiel das neue Blau besser als das alte und sie behielten es bei.418 Kulturkontakte mit Folgen sind im Roman weiter keine auszumachen. Der internationale Flughafen ist selbstredend interkulturell, das heißt interkulturelle Begegnungen sind vorprogrammiert, was aber für die Handlung nicht weiter von Belang ist. Overath internationalisiert ihre Romanfiguren nicht nur in ihrer Eigenschaft als mobile Subjekte – Elis und der Wissenschaftler leben ein Leben in Bewegung –, sondern indem sie ihnen keine kulturelle Zugehörigkeit zuschreibt, sie nicht in einem kulturellen Identitätskonflikt zeigt. Wohl aber thematisiert Overath Enttraditionalisierungsprozesse, die immer auch auf kulturelle Verwurzelung hinweisen. Der Raucher, unfreiwillig zu einem varimobilen Single seiner Zeit geworden, muss erfahren, dass traditionelle Rollenbilder durchbrochen werden können, »dass man mit so einer alten Ehe noch ausruschten kann«.419 »Ehe ist der Rahmen. Für welches Bild? Für meine Karriere? […] Sie wusste, dass ich stark war auch durch sie. Und jetzt ist sie gegangen.« 420 Elis realisiert, dass kompatible Welten nicht alles sind, dass ein Leben alleine besser sein kann als das Verweilen in unverbindlichen Partnerschaften, und dass man Liebe wagen muss, um sein Leben nachhaltig zu verändern. Und Tobias wird sich bewusst, dass man erst durch den kühnen Moment von Hingabe zu existieren beginnt. Nicht nur der Flughafen als Beförderer von Massentourismus, selbst das Aquarium wird Gegenstand von Globalisierungsdiskursen. Nebst einer Metapher auf das Leben und die Liebe in der Ortlosigkeit eines 417 | Vgl. Overath: Flughafenfische, S. 159. 418 | Ebenda, S. 158. 419 | Vgl. ebenda, S. 69. 420 | Ebenda, S. 69.
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Nicht-Ortes, ist das Aquarium zum einen Teil der Marktsegmentierungsstrategie des Flughafens und Visitenkarte des Sponsors im Wettbewerb um Reisende und Kunden, und zum andern als Beispiel eines funktionsfähigen Korallenriffs auch ein ökologisches Mahnmal.
3.7 G LOBALISIERUNGSDISKURSE AM B EISPIEL LITER ARISCHER K ONZEP TE BEI M ILENA M OSER , M ARTIN S UTER UND L UK AS B ÄRFUSS 3.7.1
Globalisierung tangiert uns!
Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus der Schweiz ist von darin explizit wie implizit thematisierten Globalisierungsdiskursen nicht ausgenommen. Dies mag nicht wirklich zu erstaunen, da die Mechanismen und Wirkungsweisen der Globalisierung Realität geworden sind und die Erfahrungswelten von AutorInnen und ihre Auffassung von sozialer Wirklichkeit durchdringen. Globalisierung tangiert uns, ob wir es wollen oder nicht. In einer Reihe von Interviews haben Alex Capus, Martin R. Dean, Daniel Goetsch, Milena Moser, Christoph Simon, Peter Stamm, Martin Suter und Matthias Zschokke dazu Stellung genommen. Ihre Statements machen sichtbarer, was unterschwellig in ihrem Schreiben durchzuschimmern vermag. Obwohl sie nicht alle eine im eigentlichen Sinne globalisierte Biografie besitzen, sind ihre Lebensumstände dennoch globalisiert: Alex Capus in Frankreich geboren, mit fünf Jahren in die Schweiz gekommen, der Vater Franzose, die Mutter Deutschschweizerin; vom Lebensgefühl her ein Secondo, lebt und wirkt in Olten und erachtet den Drang von deutschsprachigen SchriftstellerInnen, nach Berlin zu ziehen, als bourgeoises Ritual: Wenn man schreiben will, kann man geradeso gut in Olten oder im Entlebuch bleiben. Heute kann nichts mehr in Berlin, Paris oder New York passieren, das wir in Baden oder Olten nicht mitbekommen würden. Distanzen sind keine geographische Frage mehr, sondern eine soziale. Das Problem ist heute, ob man die Kapa-
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zität hat, sich zu informieren und fortzubewegen. Globalisierung ist ein soziales Phänomen geworden. 421
Martin R. Dean, halb Schweizer, halb Trinidader mit indischen Vorfahren, lebt und arbeitet in der Schweiz und hat, wie er selber bemerkt, erst spät begriffen, dass Identität auch etwas ist, das sich durch Zuschreibungen ereignet. In der Türkei wurde er für jemanden mit türkischen, in Frankreich für jemanden mit maghrebinischen Vorfahren gehalten und in Skandinavien für einen Italiener: »Ich habe in Amerika gelesen, da haben sie mich sofort gefragt, ob ich indische Vorfahren habe. Und ich bin in Indien gewesen, wo sie gefragt haben, ob ich nordindische Vorfahren habe«422, fühlt sich Dean globalisiert. In der heutigen von Mobilität bewegten Zeit, in der, so Dean, viele AutorInnen aus der Schweiz, einen Migrationshintergrund aufweisen, haben sich die Bedingungen für Literatur verändert. »Literatur hat einen Auftrag, der über das Amüsieren hinausgeht« 423: Stuart Hall sagt, dass in dem Maße, wie Identitätsbestimmungsmerkmale, Wohngewohnheiten und traditionelle Stützen wegfallen; das, was einen bestimmt, musst du selbst, als deine eigene Identität herausbilden. […] Für die Existenz heißt das aber, dass eine bestimmte Art von Heimatlosigkeit zum grundlegenden Thema wird. 424
Matthias Zschokke, der in Berlin lebt, empfindet die kulturellen Homogenisierungsprozesse als besonders schmerzhaft. Wie er in Maurice mit Huhn artikuliert, stößt er sich daran, dass die Länder in Europa sich untereinander kulturell mehr und mehr angleichen.425 Er versucht, wie Christoph Simon es formuliert, »der Gleichmacherei, die aus der zunehmenden internationalen Verflechtung in Technik, Handel, Politik und Kultur resultiert« 426, künstlerisch Einhalt zu gebieten. 421 | Gespräch mit Alex Capus vom 24.08.2006. 422 | Gespräch mit Martin R. Dean vom 28.08.2006. 423 | Vgl. ebenda. 424 | Ebenda. 425 | Vgl. Gespräch mit Matthias Zschokke vom 27.04.2007, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. 426 | Gespräch mit Christoph Simon vom 04.09.2006.
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Simon ist dabei überzeugt, dass Literatur einen wichtigen Beitrag zur Diversifikation von Kultur leistet, die Homogenisierungsprozessen entgegen wirkt: Wie Bauern zu Landschaftsgärtnern geworden sind, werden Kulturschaffende zu Lokalgärtnern. Sie machen die Unterschiede zwischen Kulturen wieder deutlich, die davon überdeckt werden, dass man überall auf der Welt beginnt, die gleiche Musik zu hören, die gleichen Kleider zu tragen, das gleiche Zmittag zu essen usw. 427
Auch Peter Stamm stellt irritiert fest, dass Kultur massentauglich werden müsse, um wirtschaftlich noch interessant zu sein. Aber kulturelle Vermischung finde im kleinen Rahmen statt und sei nicht auf Gewinn ausgelegt. Vermischung im Hinblick auf den Weltmarkt beinhalte immer eine Verflachung des Gegenstands. Dem entgegenzuhalten sei, dass wirkliche Globalisierung die Auffächerung einer Vielfalt, ein Nebeneinander von ganz Vielem bedeute428. Denn Mobilität und virtuelle Kontakte würden unsere Gesellschaft wohl langfristig am stärksten prägen. 429 Die Assoziationen der AutorInnen mit dem Globalisierungsbegriff sind vielfältig und bilden den gängigen Diskurs ab, wie die folgenden aus den Gesprächen zitierten Sätze zeigen: »Stetige, anwachsende, unnötige Warenflut, Konzentration von Kapital, Abfließen von Entscheidungskapazitäten gegenüber einer großen Bewegungsfreiheit«430; »wirtschaftliche Globalisierung, kulturelle Öffnung und Mobilität« 431; »überbordendes, elektronisches Kommunikationswesen«432; »Wischiwaschi, das vollkommene Beliebige, die Gleichschaltung von Alltag, die Nivellierung von Unterschieden«433; »die Tatsache, dass Globalisierung EINE Welt suggeriert, die es nur oberflächlich (Grey’s Anatomy hier wie dort), aber in Wirk-
427 | Gespräch mit Christoph Simon vom 04.09.2006. 428 | Gespräch mit Peter Stamm vom 09.09.2006. 429 | Vgl. ebenda. 430 | Gespräch mit Alex Capus vom 24.08.2006. 431 | Gespräch mit Peter Stamm vom 09.09.2006. 432 | Gespräch mit Christoph Simon vom 04.09.2006. 433 | Gespräch mit Matthias Zschokke vom 27.04.2007.
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lichkeit nicht gibt.«434 »Kulturen und Mentalitäten unterscheiden sich im Wesen und in der Realität von Menschen«.435 »Eine fatalere Vergrößerung der Abhängigkeit der Dritten von der Ersten Welt und dem damit einhergehenden Kulturverlust und -konflikt« 436 oder »Globalisierung als Schlagwort«: Freie Finanzströme, Weltbank und IWF, der Coca-Cola-Schriftzug auf einer unverputzten Mauer in einem senegalesischen Dorf, das Internet-Café im Plattenbau in Beijing, die Unmenge an Informationen über beliebige Weltgegenden und Ereignisse, die einen in Echtzeit erreichen. 437
Die Meinungen darüber, inwiefern sich rückblickend die Gesellschaft im Zuge der Globalisierung verändert hat, sind geteilt: Für Alex Capus, Matthias Zschokke und Peter Stamm ist die Gesellschaft offener und für Christoph Simon zivilisierter geworden. Martin Suter erachtet sie als egozentrischer, resignierter, intoleranter und unfreier als vor zwanzig Jahren. Für ihn ist 9/11 auch ein Ereignis, das wie Globalisierung Konflikte zwischen den Kulturen befördert, näherbringt und elektronisch verbreitet. Daniel Goetsch äußert sich ebenfalls in diesem Sinne. Während sich in den vergangenen Jahren Denken und Verhalten vorwiegend am Ökonomischen orientierten, trete jetzt ein neues Verlangen nach Werten hinzu, etwa die Rückbesinnung auf die Nation, das religiöse Bekenntnis, den bürgerlichen Lebensstil, das manichäische Weltbild.438 9/11 wird, außer von Christoph Simon, – der den Schulterschluss von Google mit der chinesischen Regierung nennt –, als bedeutendes Ereignis der Globalisierung bezeichnet. Auf die Frage, wie in der Folge davon unser aktuelles Zeitalter zu benennen wäre, fallen die Antworten unterschiedlich aus:
434 | Gespräch mit Milena Moser vom 28.08.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. 435 | Ebenda. 436 | Schriftlich gestellte und von Martin Suter im Februar 2007 schriftlich beantwortete Fragen. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. 437 | Gespräch mit Daniel Goetsch vom 21.11.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. 438 | Vgl. ebenda.
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Was bei Stamm und Capus noch relativ sachlich klingt: »Zeitalter der Netzwerkgesellschaft« 439, »Zeitalter des Wohlstandproletariats«440 – letzteres bereits mit einem resignierten Unterton, da wir alle, so Capus, als Lohnbezüger und Angestellte multinationaler Konzerne ins Proletariat abgesunken sind –, droht bei den anderen AutorInnen mehr und mehr ins Kulturpessimistische umzukippen. Neue Begriffe kommen auf wie: »Zeitalter der Verwirrung« 441, »Zeitalter der Entfremdung«442 , »Zeitalter der Haltlosigkeit, Ziellosigkeit, Verführbarkeit, Ungesichertheit« 443, »Zeitalter der hilflosen Mündigkeit«444, »Zeitalter der Amerikaner-töten-Islamisten-Ära« 445. Die Aussagen der AutorInnen darüber, was sie über Globalisierung denken und wie Globalisierung ihr Leben tangiert, eröffnet ein farbenprächtiges Kaleidoskop, welches Globalisierung als facettenreichen Gegenstand in sich spiegelnden, symmetrisch-farbigen Mustern sichtbar macht, die sich bei unterschiedlicher Betrachtungsweise immer wieder neu formieren. Dementsprechend könnte die Art und Weise der Rezeption des Globalisierungsphänomens in Texten von AutorInnen aus der Schweiz nicht unterschiedlicher sein. Zum einen wird versucht, das Phänomen der Globalisierung prosaisch auf eine höhere Ebene zu transponieren und dabei in der Ästhetisierung alltäglicher Begebenheiten und Gepflogenheiten einen intellektuellen Mehrwert zu generieren, wie dies beispielsweise Angelika Overath in ihrem Roman Flughafenfische oder Jürg Amann in seiner Erzählung Im Turm gelungen ist; andere widmen sich der Globalisierungsthematik in der Deskription dessen, was war – wie Alex Capus in Patriarchen. Zehn Portraits von Wirtschaftskapitänen, von Gründern großer Schweizer Unternehmen wie Nestlé, Roche, Bally, die als ›urhelvetische‹ Begriffe
439 | Vgl. Gespräch mit Peter Stamm vom 09.09.2006. 440 | Gespräch mit Alex Capus vom 24.08.2006. 441 | Gespräch mit Milena Moser vom 28.08.2006. 442 | Schriftlich gestellte und von Martin Suter im Februar 2007 schriftlich beantwortete Fragen. 443 | Gespräch mit Matthias Zschokke vom 27.04.2007. 444 | Gespräch mit Daniel Goetsch vom 21.11.2006. 445 | Gespräch mit Christoph Simon vom 04.09.2006.
3. Globalisierungseffekte
von global denkenden Ausländern erfunden worden sind446 –, und dem was heute ist. Milena Moser und Martin Suter gehören zu jenen AutorInnen, die Globalisierung physisch erleben respektive erlebt haben. Milena Moser wohnte während acht Jahren in San Francisco, und Martin Suter lebt in Guatemala, Spanien und der Schweiz. In einem Interview äußert er selbstkritisch, dass er mit seiner Lebensweise eben auch vom Nord-SüdGefälle profitiere: vom Luxus, in der Abgeschiedenheit eines guatemaltekischen Dorfes schreiben zu können mit vollem Zugang zu den Informationen und Dienstleistungen des Internets.447 Nicht von ungefähr figurieren Milena Moser und Martin Suter immer wieder mit Büchern nicht nur auf Schweizer Bestsellerlisten, die aufgrund ihres Unterhaltungswerts eine breite Leserschaft erreichen.448 Beispielsweise haben die satirischen Kolumnen Business Class von Martin Suter, die von 1992-2004 wöchentlich in der Weltwoche, dann bis 2007 im Magazin des Tages-Anzeigers erschienen und seither in Buchform erhältlich sind, Kultstatus erreicht und im Zuge der wiederkehrenden Finanzkrisen und der Skandale im mittleren und höheren Management nicht an Aktualität eingebüßt. Milena Moser hat für sich mit dem wiederholten Aufgreifen von Yoga als Lifestylprodukt in Sofa, Yoga, Mord (2003), in Schlampenyoga oder Wo geht’s hier zur Erleuchtung? (2005) und Montagsmenschen (2012) auf die Internationalisierung von Yoga als Massensport eine literarische Antwort gefunden. Dabei schreiben Milena Moser und Martin Suter nicht gegen die globalisierte Welt an. Ihr Schreiben ist eher Ausdruck einer solchen. Ausdruck einer Welt, wie wir sie auch kennen, die auf den ersten Blick vertraut erscheint und klischierte Vorstellungen bedient, bei genauerer Betrachtungsweise jedoch Geheimnisse birgt, Tiefen und Abgründe offenbart. 446 | Vgl. Gespräch mit Alex Capus vom 24.08.2006. 447 | Vgl. Schriftlich gestellte und von Martin Suter im Februar 2007 schriftlich beantwortete Fragen. 448 | In einem Artikel in der Online-Ausgabe des Tages-Anzeigers vom 30.03.2010 werden neun Gründe zu Martin Suters Erfolg erörtert: 1. Suter zeigt Ehrgeiz, 2. Suter bolzt Tempo, 3. Suter bringt gute Klischees, 4. Suter macht Kino, 5. Suter recherchiert, 6. Suter spricht Leserinnen an, 7. Suter denkt positiv, 8. Suter hat Diogenes, 9. Suter ist lieb.
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Nicht die Ästhetik des Schreiben ist hierbei das Ziel, nicht ein literarischer Erkenntnisgewinn, der das bereits Bekannte übersteigt, sondern storytelling in seiner Essenz: die sprachliche Kunst des Weglassens, die Kunst, durch temporeiche Bildabfolgen einen Spannungsbogen zu beschreiben, der den/die LeserIn in Bann zu schlagen vermag. Von Martin Suter wurden denn auch zahlreiche Stücke, Drehbücher und Romane, jüngst Small World (2010), verfilmt. Von Milena Moser 1996 Die Putzfraueninsel.
3.7.2
Milena Moser – Möchtegern oder Werbung in eigener Sache
Es überrascht nicht, dass Milena Moser in ihrem 2010 erschienen Roman Möchtegern den Literaturbetrieb im Allgemeinen und den Umgang mit Literatur im Fernsehen im Besonderen liebevoll parodiert. Liebevoll darum, da die Haupt- und Nebenfiguren mit ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, trotz medialer Aufmerksamkeit und alles durchdringender Gewinnmaximierung bei Sender und kooperierendem Verlag, die wahren Sieger bleiben. Was vom Fernsehsender erst als ›Gaudi‹ angedacht wurde, erfährt eine Eigendynamik, der der Sender am Ende selbst zum Opfer fällt. Die beabsichtigte Verballhornung der ›Kanonenfutter-Kandidaten‹ scheitert. Den Wannabes gelingt es, in ihrem Identitätsfindungsprozess als Schreibende zu reüssieren. Die Hauptfigur ist eine Schriftstellerin namens Mimosa Mein – sinnigerweise mit den selben Initialen wie die Autorin selbst –, die bereits mit 17 Jahren von den Medien als Skandaljungautorin hochstilisiert und gefeiert worden ist. Sie wird aufgrund ihres Skandalpotentials und entgegen ihres Hasbeen-Status zum Jurymitglied einer Reality-TV-Show nach dem Vorbild von Big Brother und anderer Castingshowformate wie Deutschland sucht den Superstar. Die Sendung heißt Die Schweiz sucht den SchreibStar. Zehn Kandidaten leben während sechs Wochen in der SchreibFabrik zusammen und müssen unterschiedliche schriftstellerische Herausforderungen bestehen. Der/die SiegerIn erhält einen Verlagsvertrag sowie einen Werkbeitrag von 100 000 Schweizer Franken. Vermeintlich meinend, in der Jury als Schriftstellerin neben einer bissigen Literaturkritikerin und einem marktorientierten Verleger auf die Förderung von NachwuchsautorInnen Einfluss nehmen zu können, wird
3. Globalisierungseffekte
sich Mimosa Mein dieses Irrtums zu einem Zeitpunkt bewusst, an dem es kein Zurück mehr gibt. Denn niemand hat mit dem durchschlagenden Erfolg der Sendung gerechnet. Schriftsteller sind keine Schauspieler, keine Fernsehmoderatoren und keine Schönheitsköniginnen. Schriftsteller sind keine Schlagersänger. Sie haben keinen Glamour, keinen Prominentenstatus, sie bleiben von der Klatschpresse weitgehend verschont. Doch die Wannabes erregten die Gemüter. Wer sie waren, wie sie lebten – man wollte alles wissen. Die Boulevardpresse verbiss sich in ihre ungeschützten Leben. 449
Umso mehr wachsen Mimosa Mein die um den Sieg ringenden Schreiberlinge wie ›Pelztierchen‹ ans Herz. Sie verfolgt am Livestream jede ihrer Bewegungen, kann von ihnen nicht mehr lassen, ist dem Suchtfaktor des Reality-TVs gänzlich erlegen. Und sie hat keine Lust mehr, der Philosophie der Sendung folgend Menschen vom Schreiben abzuhalten: Ich wollte sie alle einsammeln, die verjagten und verstoßenen Möchtegernschriftsteller, ich wollte sie mit nach Hause nehmen. Ich wollte sie an meinen unverrückbaren Betontisch setzen, ihnen zu essen geben und zu trinken. Frisches Papier und gespitzte Bleistifte. 450
Mimosa Mein wird mit ihren wohlmeinenden Kommentaren vom Jurymitglied zur Schreibmutter der Nation. Die Verlage werden mit Manuskripten überschwemmt und der an der Fernsehsendung beteiligte Verlag plant eine Amateurreihe, um einen noch unerschlossenen Markt, jenen der schreibenden Idioten451, zu eröffnen. Mimosa Mein ihrerseits gründet eine Schreibgruppe und vermag im Austausch mit anderen Schreibenden endlich wieder ein Manuskript fertig zu stellen: die Geschichte ihrer ›Pelztierchen‹. So schließt sich der Kreis. Der Roman ist das Produkt einer Schreibgruppe in Analogie zu Milena Mosers Schreibschule, für welche Möch449 | Milena Moser: Möchtegern. Roman. Frankfurt a.M.: Nagel & Kimche 2010, S. 307. 450 | Ebenda, S. 348. 451 | Vgl. ebenda, S. 374.
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tegern indirekt Werbeträger ist. Werbeträger in eigener Sache, so könnte man Möchtegern ebenfalls betiteln. Der Roman ähnelt konzeptionell einer dem Globalisierungsbegriff innewohnenden Ambivalenz. Denn Milena Moser versteht es, einander widersprechende Standpunkte gleichermaßen einzunehmen: Die schamlose Vermarktung der schreibenden Kunst wird aufs Korn genommen und dennoch milde gebilligt, die sexlastige Trivialschreibe der Bestsellerautorin verulkt und im selben Zug mit einer genialen Aura versehen […], die Rollen von Kritikerin, Verleger, Fernsehleuten sowie eines Schlagersängers und eines Schlagertexters zugleich veralbert und bestätigt. 452
Und als Hauptakt werden die Möchtegerns im Fernsehen zur Belustigung der Nation durch den Fleischwolf getrieben und gleichzeitig zu Kultfiguren erhoben. Milena Moser lässt ihre Hauptfigur immer wieder die Mechanismen der Globalisierung, bezogen auf den Literaturbetrieb, reflektieren und in Frage stellen: Die französischen Ausgaben meiner Bücher verkauften sich besser als alle anderen. Vielleicht, weil meine Übersetzerin besser schrieb als ich. Vielleicht, weil die Franzosen sich nicht in den Verrenkungen von nackten Gliedern verloren, sondern direkt durch sie hindurch und zwischen den Zeilen lasen. 453 Ich existierte. Ganze Fäden, die das weltweite Netz spannte, beschäftigten sich mit mir. Endlose Fäden. All die Frauen, die meine Bücher gelesen hatten, die sich mit mir identifizierten. Waren die am Ende alle verrückt?454 »Mimosa, denk doch mal nach! Du kannst alles haben. Alles machen. Du bist jetzt ein Fernsehstar. Du bist jemand! Du bist jetzt ein … ein people!« 455
452 | Dorothea Dieckmann: Schreiben auf Krankenschein? Milena Moser wirbt mit einem satirischen Roman für ihre Schreibschule. In: Neue Zürcher Zeitung vom 02.03.2010, S. 47. 453 | Moser: Möchtegern, S. 210. 454 | Ebenda, S. 26. 455 | Ebenda, S. 294.
3. Globalisierungseffekte
Doch Mimosa sehnt sich nur mehr nach dem Alleinsein. Nach der Welt innerhalb ihrer vier Wände, die, wie ihr plötzlich klar wird, groß genug ist.
3.7.3
Martin Suter – Der Koch im Kreuzfeuer globaler, wirtschaftspolitischer Machenschaften
Wie in keinem seiner früher erschienenen Romane thematisiert Martin Suter in Der Koch derart deutlich und bissig seinen Unmut über globalwirksame skrupellose Machenschaften in Wirtschaft und Politik, über das gewissenlose Geldverdienen als Leistungsnachweis im Zuge der Globalisierung und die daraus resultierenden Kollateralschäden, über die Perversion, der von Anspruchsgruppen gesteuerten tendenziösen medialen Berichterstattung sowie über die Geringschätzung von politisch motivierten Asylsuchenden. Maravan, ein Tamile, der den Wirren des Bürgerkriegs auf Sri Lanka entflohen ist, arbeitet als Underdog in einem arrivierten Restaurant, in dem die Eliten aus Politik, Wirtschaft und Kulturbetrieb verkehren. Unter ihnen ist Dalmann, ein Networker, der ziemlich gut davon lebt, Beziehungen und Geschäfte zu vermitteln und Informationen selektiv weiterzugeben. Maravan, in seiner Heimat Profikoch der ayurvedischen und molekularen Küche, wird in der Schweiz als Asylbewerber mit N-Bewilligung als Küchenhilfe geringgeschätzt und schließlich wegen eines Rotationsverdampfers, den er sich für ein Küchenexperiment stillschweigend über Nacht aus dem Maschinenpark des Restaurants entliehen hat, gefeuert. Mit Andrea, einer lesbischen Kellnerin, in die er bis zur Begegnung mit Sandana unglücklich verliebt ist – die einzige gemeinsame Nacht mit Andrea hat er seinen ayurvedisch-aphrodisierenden Kochkünsten zu verdanken, die wiederum die Geschäftsidee von Love Food ins Leben rufen –, gründet er einen Cateringservice. Die finanzielle Not seiner Angehörigen auf Sri Lanka zwingen Maravan, sein Gewissen zu ignorieren und den Sprung vom paartherapeutischen Angebot zu lukrativeren diskreten Essen von Geschäftsmännern mit Callgirls zu vollziehen. Die Krankheit seiner Großtante sowie das Verschwinden seines Neffen, der sich als Kindersoldat den Kämpfern der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) angeschlossen hat und um dessen Sicherheit er bemüht ist, zwingen ihn dazu. Die organisierte LTTE
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in der Schweiz, von der er sich als nicht militanter zu distanzieren sucht, ermöglicht die Geldtransfers und fordert zudem ihren Tribut, da sie um seine Schwarzeinkünfte weiß. So bleiben Maravan für sich selber trotz seines guten Verdienstes fast keine Mittel übrig. Als aber seine Tante an einem Herzversagen stirbt – die teuren Medikamente aus der Schweiz zur Behandlung von Diabetes insipidus haben dazu geführt – und er seinen Neffen auf einem Bild im Internet als tot identifiziert, bricht sein Kartenhaus zusammen. Denn zu seiner Hauptklientel gehören ausgerechnet jene Wirtschaftsexponenten, die mit Exporten von Kriegsmaterial aus der Schweiz den Bürgerkrieg in Sri Lanka in Gang halten. Maravan entschließt sich, vor seiner Kündigung ein letztes Mal für Dalmann, den Networker, zu kochen, der von einem äthiopischen Callgirl, in das er sich verliebt hat, zu einem Love Food-Dinner überredet wird. Diese Makeda ist jedoch in Wirklichkeit die Freundin von Andrea und fühlt sich als Äthiopierin von Dalmanns Geschäftspraktiken direkt betroffen; eine Cousine von ihr hat in einem weiteren von den Medien nur wenig beachteten ›Dritte-Welt-Krieg‹ als Kindersoldatin ihr Leben verloren. In der Folge bittet Makeda Maravan darum, erektionssteigernde Pillen unter den Love Food zu mischen, und weiht ihn in ihren Plan ein, den herzkranken Dalmann zu Tode zu vögeln. Doch Maravan verzichtet und nimmt das Geschick Dalmanns in die eigene Hand, indem er jenes Medikament, welches den Tod seiner Großtante bewirkt hat, in einen stimulierenden Aperitif verwandelt. Der Showdown ist perfekt. Dalmann stirbt. Doch die Gerechtigkeit ist von kurzer Dauer und wird von den Entwicklungen in Sri Lanka überschattet: Die sri-lankische Regierung verkündet den Sieg über die LTTE. Doch den unabhängigen Beobachtern und Hilfsorganisationen ist der Zugang zu den Kriegsgebieten verwehrt. Gerüchte über Zehntausende getöteter, verhungerter, seuchenkranker Zivilisten und Kriegsverbrechen auf beiden Seiten kursieren, und wieder sorgt ein anderes Ereignis dafür, dass dieses Drama in der Tagespresse nur am Rande Erwähnung findet: die Frontseiten richten den Fokus auf die globale Bedrohung durch die Schweinegrippe.456 In den Feuilletons wird Martin Suters Roman positiv besprochen, auch wenn Suters Kapitalismuskritik einigen Rezensenten zu weit geht. Doch die Negativschlagzeilen der Jahre 2008 und 2009, allen voran jene über die Finanzkrise als Jahrhundert-Ereignis, welche Europa schließlich 456 | Vgl. Martin Suter: Der Koch. Roman. Zürich: Diogenes 2010, S. 289f.
3. Globalisierungseffekte
in eine tiefe Rezession gestürzt hat, sind Tatsachen, und menschliches Versagen und Skrupellosigkeit haben dabei durchaus auch eine Rolle gespielt. So gesehen ist Suters »Gruselkabinett aus lauter bösen, korrupten, geldgierigen und sexbesessenen Wirtschaftsbossen«457 nicht abwegig. Geschickt setzt Suter die globale Finanzkrise als Handlungsrahmen ein, der den Waffenexport-Deal provoziert. Denn Dalmann hätte auf ein derartiges Geschäft wohl verzichtet, wenn seine üblichen Geschäfte besser gelaufen wären.458 Der Roman zeigt die Kehrseite der Globalisierung, die Schattenglobalisierung, die globale Verstrickung von wirtschaftlichen und politischen Interessen jenseits staatlicher Regulation, und die Handlung spitzt sich in der Figur von Maravan mehr und mehr zu, indem die Kausalität zwischen Waffenexporten von der Schweiz nach den USA, Thailand, Pakistan und der Niederschlagung der LTTE in Sri Lanka immer deutlicher wird. Das Geld, das er seiner Familie schickte, stammte möglicherweise aus den Gewinnen, die einer damit machte, dass er Maravans Landsleuten dabei half, sich gegenseitig umzubringen. Und das Geld, mit dem er die LT TE unterstützte, stammte womöglich von der LT TE, die es wiederum von Leuten wie Maravan … In seinem Kopf drehte sich alles. 459
Und kennt der/die LeserIn das Resultat der Schweizer Abstimmung vom 29.11.2009, bei der die Initiative für ein Verbot für Kriegsmaterialexporten mit 68,2 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt wurde, so kann Martin Suters Roman als politisches Statement verstanden werden, das nicht allein auf seinen Unterhaltungswert bedacht ist, sondern aus einer gewissen Empörung des Verfassers heraus bei dem/der LeserIn soziale Verantwortung einfordern will.
457 | Sandra Kegel: Heisse Ware. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.01.2010. 458 | Suter: Der Koch, S. 144. 459 | Ebenda, S. 265.
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3.7.4
Politische Internationalisierung bei Lukas Bärfuss – Hundert Tage
Die Alimentation von Bürgerkriegen als Folge der Schattenglobalisierung, wie sie Martin Suter in Der Koch aufgreift, ist ein Phänomen, welches seit dem Ende des Kalten Krieges oft mit sogenannten ›neuen Kriegen‹ einhergeht. Ohne die substantiellen finanziellen Hilfen aus Emigrantengemeinden, die korrumpierten Gelder aus regulären staatlichen Hilfeleistungen – Bärfuss schreibt in Hundert Tage dazu: »Unsere Gelder flossen in die Taschen der Reichen, und auch die nächste und die übernächste Generation wird in den Sümpfen verfaulen, Sehnen fressen und saures Hirsebier trinken […]« 460 –, ohne diese gezielten internationalen Aufwendungen wäre die Fortdauer der Qual über Jahrzehnte wie etwa im Nahen Osten, in Schwarzafrika oder in Sri Lanka nicht möglich. Humanitäre Hilfe internationaler Organisationen vermag oft das Schlimmste vor Ort zu lindern. Die Wirkung von Flüchtlingslagern ist jedoch erwiesenermaßen zweischneidig, da sie oftmals zu Zufluchtsorten von Menschen werden, die Verbrechen begangen haben, und kriegsführenden Akteuren als Nachschubzentren und Rekrutierungsorte dienen461: […] diese perfekte Hölle [das Flüchtlingslager Goma], der Vulkan, die Leichen, war nicht die Strafe für die Mörder, sie war die Voraussetzung, damit die Mörder aufgepäppelt wurden. Und es war ein guter Preis, denn alles in allem starben [an Hunger und Seuchen] doch nicht mehr als einige Zehntausend von denen, die einige Hunderttausend umgebracht hatten. Doch ihr Glück war, vor den Augen der betroffenen Welt zu krepieren, und ein Tod vor laufender Kamera ist mehr wert als hundert ungesehene Tode. Und wenn man auch wusste, wer hier starb, und man um das Lager einen Stacheldrahtzaun hätte ziehen müssen, die Mörder einsperren und vor Gericht hätte stellen müssen, so brachte man dies im Namen der Menschenliebe natürlich nicht übers Herz.462
Diese Lager stehen zudem derart unter Sicherheitsvorkehrungen, dass den darin untergebrachten Binnenflüchtlingen eine Emigration nach 460 | Lukas Bärfuss: Hundert Tage. Roman. München: bTb 2010, S. 163. 461 | Herfried Münkler: Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2004, S. 22. 462 | Bärfuss: Hundert Tage, S. 205.
3. Globalisierungseffekte
dem verheißenen Europa unmöglich ist. Denn wie Daniel Goetsch in seinem Roman Herz aus Sand schreibt, der in einem UN-Camp in der Westsahara handelt, wollen diese bloß dasselbe wie die Europäer: Den goldenen Apfel vom Baum pflücken. […] Eine Flut von lebenshungrigen, geldgierigen jungen Männern würde über Europa hereinbrechen. 463 Eure geliebte Toleranz würde wegbröckeln, euer Gefasel von Freiheit würde euch in der Kehle würgen, eure schöne Laubsägedemokratie würde einstürzen. […] Wir können ihnen helfen, Windeln und Milchpulver verteilen, ihnen Hütten bauen, eine Kanalisation, Straßen, Schulen. Wir können sie bestechen, wir können sie mit schönen Worten bezirzen, ihnen Freiheit und Demokratie versprechen. Okay, das haben wir jahrzehntelang getan. Sie flüchten trotzdem. Also bleibt uns nur die Kontrolle. 464
In Regionen, die wirtschaftlich benachteiligt sind, weder über Ressourcen noch über Industrie verfügen, in denen Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit und Hunger Hand in Hand gehen, Untervierzehnjährige mehr als vierzig Prozent der Bevölkerung ausmachen und sich die Jungen, aus Ausweglosigkeit und ihren Allmachtphantasien folgend, sich als Kindersoldaten anheuern lassen (Sonnenbrille und Kalaschnikow gelten als Statussymbol für brutale resexualisierte Gewaltbereitschaft und toxisches Testosteron465), wird Krieg zu einer Lebensform mit einem einzigem Ziel: jenem von Geld und Macht. Solche ›neuen Kriege‹ zeichnen sich nicht mehr durch eine Entscheidungsschlacht aus, sondern durch Massaker und die umfassende Instrumentalisierung von Angst 466, wie das in Ruanda geschehen ist: Aber alles war vergebens, und der Grund dafür war die nackte Angst, die jeden befiel. Und wen sie noch nicht gepackt hatte, dem wurde sie eingeimpft […], eine Angst, von der die meisten von uns keine Ahnung hatten, weil wir sie nie gefühlt hatten […]. Wir begriffen nicht, wie verführerisch die Angst ist, wir hatten keine Ahnung von ihrer rasenden Verbreitung, denn sie bewegte sich in diesem Bantuidiom, in dem alle Zeitungen abgefasst waren, alle politischen Versammlungen 463 | Daniel Goetsch: Herz aus Sand. Roman. Zürich: Bilgerverlag 2009, S. 276. 464 | Ebenda, S. 277. 465 | Vgl. Münkler: Die neuen Kriege, S. 37ff. 466 | Ebenda, S. 29.
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abgehalten und die Sendungen im Radio gesprochen wurden. Die Sprache der Vernunft war Französisch und hielt sich an die Bürozeiten […]. 467
Die vormals fluktuierenden ethnischen Zuschreibungen von Tutsi und Hutu waren durch die belgische Kolonialmacht festgeschrieben worden und die jahrzehntelange Demütigung der Hutus durch den Umstand, dass die Tutsis vormals zu den herrschenden Eliten gehörten und von den Kolonialmächten bevorteilt wurden, säte tiefen Neid und Missgunst. 468 Ein Faktum, das seit der Unabhängigkeit von Ruanda, nach der Machtübernahme der Hutus 1959, immer wieder zu Massakern an den Tutsis, zu Vertreibungen, daraus resultierenden Racheaktionen und 1994 letztlich zum Völkermord geführt hat: In den vierzig Jahren, seit unsere Leute hier ihr Unwesen trieben, galten immer die Kurzen als benachteiligt. Sie hatten zwar die Monarchie gestürzt und beherrschten die Politik, aber sie benahmen sich, als seien sie immer noch die Unterdrückten, als müssten sie sich immer noch vom Joch der Aristokratie befreien. Dieses ganze Pathos, von wegen Bürgergesellschaft und Selbstbefreiung, Republik gegen Monarchie, war für die Direktion der Grund gewesen, zu den Kurzen zu stehen. Und nun erkannten wir, dass wir in all den Jahren die Schweinehunde unterstützt hatten, und verzweifelt suchen wir nach den neuen Opfern. 469
Die innerstaatliche, gezielte Propaganda gegen die Minorität schürte in Folge die Angst vor den nicht minder brutal invasierenden Tutsi-Rebellen und bereitete den Boden für das Unfassbare vor. Lässt Martin Suter in Der Koch in einem Satz seinen tamilischen Protagonisten konstatieren, dass Hilfslieferungen aus der ganzen Welt in Sri Lanka von der LTTE und der Regierung dazu benutzt wurden, ihre Politik zu betreiben470, so erhebt Lukas Bärfuss den Diskurs um politische Globalisierung, in Verbindung von Bürgerkrieg und Entwicklungshilfe und deren Anbindung an globale Begebenheiten und Akteure471, zum Leit467 | Bärfuss: Hundert Tage, S. 130. 468 | Vgl. ebenda, S. 84-89. 469 | Ebenda, S. 152. 470 | Suter: Der Koch, S. 53. 471 | Paul Michael Lützeler: Bürgerkrieg Global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München: Wilhelm Fink 2009, S. 25.
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motiv seines Romans Hundert Tage, wobei vornehmlich die Contras und Risiken von Entwicklungshilfe hervorgehoben werden, die der Romanprotagonist aus seinen persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen abzuleiten im Stande ist. Gehen wir von der Richtigkeit der in Hundert Tage geschilderten Sachverhalte aus – Bärfuss recherchierte für seinen Roman zweieinhalb Jahre (Interviews mit Entwicklungshelfern, Recherchearbeit im Bundesarchiv, Afrikareisen472) –, dann tut er das zu Recht. Denn was hat die Entwicklungshilfe von mehr als zweihundert internationalen Organisationen473 geleistet, wenn nach mehr als dreißig Jahren Hilfe vor Ort, nach Aufbauarbeiten und aufwendigen landwirtschaftlichen Projekten ein Land aus eigenem politischen Kalkül seine Zivilbevölkerung zu Tätern und Opfern machen und annähernd eine Million seiner eigenen Leute innert kürzester Zeit programmatisch umbringen kann? Und dies unter internationaler Observation? Ist Entwicklungshilfe inzwischen zum Bürokratismus verkommen, der innenpolitischen Begebenheiten zu wenig Rechnung trägt? Was bedeutet die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Ziel, einem Regime Demokratie beizubringen, welches grundsätzlich Menschenrechte mit den Füssen tritt und Meinungsbildung über das Medium Radio nicht als Demokratisierungsprozess einsetzt, sondern als Meinungsfreiheit suggerierendes Propagandamittel für einen Völkermord?474 Lukas Bärfuss’ Roman wirft in seiner monologischen Erzählstruktur (ausgenommen davon sind nur die ersten wenigen Romanseiten, in denen ein zweiter Ich-Erzähler auftritt) und seiner harschen Kritik an der internationalen und im Besonderen schweizerischen Entwicklungshilfe, an der Rolle und dem Verhalten der UNO, am Sinn und Zweck von Blauhelmtruppen, die gezwungen waren, »der Schlachterei zuzusehen und sich dabei ihre zarten, friedvollen Seelen zerstören zu lassen«475, an der Ignoranz der politischen Akteure gegenüber der Kolonialgeschichte (Einsatz von belgischen UNO-Soldaten als Friedensstifter476 und Abzug des 472 | Regula Freuler: Ein Ambivalenzhaufen geht nach Afrika. In: NZZ am Sonntag vom 24.02.2008, S. 67. 473 | Bärfuss: Hundert Tage, S. 48. 474 | Ebenda, S. 125. 475 | Ebenda, S. 145. 476 | Ebenda, S. 144.
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Kontingents, als zehn Soldaten zu Tode kamen, ungeachtet der humanitären Katastrophe vor Ort), eine Menge Fragen auf. Fragen, die nicht so leicht beantwortet werden können und die den/die LeserIn zum gedanklichen Dialog auffordern. Bärfuss’ Kritik kann im Kontext politischer Globalisierung verstanden werden, da die Situation in Ruanda nicht einzig durch gescheiterte Entwicklungshilfe mitverantwortet wurde, sondern im Zusammenspiel mehrerer internationaler politischer Akteure den Rahmen fand: Gefährlich war das Strukturanpassungsprogramm des Internationalen Währungsfonds, welches 1990 dazu führte, dass der Kaffeepreis ins Bodenlose fiel und die Ökonomie eines Landes zerstört wurde, welche aus fünfundreißigtausend Tonnen Kaffee bestanden hatte477. In der Folge sattelte die Landwirtschaft auf den extensiven Anbau von Pferdebananen für die Herstellung von Bier478 um, was nachhaltig die Bestrebungen der Entwicklungshilfe, erodierte Böden aufzuforsten, zunichte machte. Der Einsatz der UNO, die ihre Friedenstruppen nach dem Ausbruch der Gewalt von 2 500 auf 270 Soldaten reduzierte und so den Mördern in die Hände arbeitete, wurde zum Rohrkrepierer. Und die US-Regierung verwehrte sich gegen eine bewaffnete humanitäre Aktion, da in Somalia ein derartiger Einsatz kurz zuvor gescheitert war und Ruanda als Land ohne strategischen Wert galt. Dass Bärfuss angesichts solcher Tatsachen die Schweiz in den Fokus seiner Kritik stellt, ist zum einen in Zusammenhang mit einem ›schweizerischen Selbstverständnis‹ zu verstehen, das sich damit brüstet, in der Tradition humanitärer Hilfe zu stehen und besondere Efforts in Ruanda geleistet zu haben. Seit 1963 sind über 400 Millionen Franken aus Bern nach Ruanda geflossen. Zum anderen hängt es mit der zwiespältigen Rolle des kanadisch-schweizerischen Finanzfachmanns Charles Jeanneret zusammen. Er wirkte von 1982 bis im Januar 1993 als persönlicher Berater von Habyarimana, kostete die Schweiz gegen zwei Millionen Franken und war am Prozess mitbeteiligt, der das Land in eine faschistoide Diktatur unter entwicklungspolitischem Banner verwandelt hat.479 Bärfuss schreibt darüber: »Sicher ist nur: Er hat ein paar seiner besten Jahre und 477 | Bärfuss: Hundert Tage, S. 30. 478 | Ebenda, S. 34. 479 | Martin Woker: Arm, aber unglücklich. Vom Sinn schweizerischer Entwicklungshilfe. In NZZ Folio 06/97 – Thema im Herzen Afrikas.
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sein ganzes Wissen für den Machterhalt eines Diktators eingesetzt. Und wir haben sein Gehalt bezahlt.«480 Makaber umso mehr der Sachverhalt, dass die Schweiz zwar guten Willens war, ohne aber das Land in seinem inneren Antrieb zu verstehen; sie nicht erkannt hat, dass das Regime nur daran interessiert war, sich unter dem Deckmantel eines Demokratisierungsprozesses, der einzig auf Machtausübung und -erhalt ausgerichtet war, eine effiziente Infrastruktur zuzulegen: Sie verlangten nach Schreibgerät, und weil Bleistifte nichts Schlechtes sind und das Gute ohne sie nicht geschaffen werden kann, weil jede gute Tat einen Bleistift erfordert, einen Bleistift und einen Lehrer, ein Telefon und eine Straße, weil es keinen besseren Beweis für unsere Redlichkeit gab […], gaben wir ihnen den Bleistift, mit dem sie dann die Todeslisten schrieben, deshalb legten wir ihnen die Telefonleitung, durch die sie den Mordbefehl erteilten, und deshalb bauten wir ihnen die Straßen, auf denen die Mörder zu ihren Opfern fuhren. 481 […] aber jetzt weiß ich, dass in der perfekten Hölle die perfekte Ordnung herrscht, und manchmal, wenn ich mir dieses Land hier ansehe, das Gleichmaß, die Korrektheit, mit der alles abgewickelt wird, dann erinnere ich mich daran, dass man jenes Höllenland auch die Schweiz Afrikas nannte, nicht nur der Hügel und der Kühe wegen, sondern auch wegen der Disziplin, die in jedem Lebensbereich herrschte, und ich weiß jetzt, dass jeder Völkermord nur in einem geregelten Staatswesen möglich ist, in dem jeder seinen Platz kennt und auch nicht der unscheinbarste Strauch zufällig an einer bestimmten Stelle wächst und kein Baum willkürlich gefällt wird, sondern durch einen Beschluss zur Rodung bestimmt wird, […]. 482
Bärfuss schließt den Roman mit fundamentaler Systemkritik am schweizerischen Prinzip der Neutralität: Unser Glück war immer, dass bei jedem Verbrechen, an dem je ein Schweizer beteiligt war, ein noch größerer Schurke seine Finger im Spiel hatte, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog und hinter dem wir uns verstecken konnten. Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen
480 | Bärfuss: Hundert Tage, S. 121. 481 | Ebenda, S. 141f. 482 | Ebenda, S. 178.
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darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obenauf zu bleiben und nicht in der roten Soße unterzugehen. 483
Hundert Tage ist ein engagierter Roman, der durch die meta-historische Verarbeitung des Bürgerkriegs und Völkermords in Ruanda charakterisiert ist. Der/die LeserIn ist angehalten, weitere Recherchen zu unternehmen, um den Anspielungshorizont des Romanes wirklich erkennen zu können.484 So wohnt Hundert Tage eine Appellstruktur inne, die im Zuge politischer Globalisierung nicht nur zu sozialer Verantwortung und dem Infragestellen der Schweizer Entwicklungshilfe in Ruanda aufruft, sondern auch die Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen in Ruanda von der Kolonialzeit bis hin zur Gegenwart einfordert. Mit diesem Anspruch und dieser Qualität ragt Lukas Bärfuss’ Roman aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz deutlich heraus.
3.8 Ä STHE TISCHE S TR ATEGIEN 3.8.1 Ästhetische Strategien der CH-AutorInnen im Überblick Nicht immer ist die Wahl literarischer Vorgehensweisen, mit Hilfe derer Schreibende ihre Ideen, Konzeptionen, Motive und Themen entwickeln, eindeutig motiviert oder einem bestimmten äußeren Umstand zuzusprechen. Bei den im Rahmen dieser Forschungsarbeit analysierten AutorInnen jedoch fällt auf, dass die von ihnen angewandten, sich teils überschneidenden oder ergänzenden literarästhetischen Strategien oftmals argumentativ mit dem Globalisierungsphänomen kurzgeschlossen werden können. Die AutorInnen verfolgen offenbar gezielt literarische Strategien der Globalisierung, die, selbst Globalisierungseffekte, es ihnen ermöglichen, heutige Lebenswelten abzubilden und die handelnden Figuren in ihrem zeitgemäßen Wirken und Denken darzustellen.
483 | Bärfuss: Hundert Tage, S. 208. 484 | Lützeler: Bürgerkrieg global, S. 22.
3. Globalisierungseffekte
Im Zuge der globalisierungsbedingten Verräumlichung von Grenzen und deren Aufhebung und Überwindung tritt hervor, dass Identitätsfindungsprozesse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz in Kombination mit inter- und transkulturellen Fragestellungen eine dominante Rolle spielen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Wahl ästhetischer Strategien hierbei häufig mit einer ›globalisierten Erzählform des assoziativen Erinnerns und Erzählens‹ einhergeht, die wiederum selbst eine übergeordnete literarästhetische Strategie sein kann.485 Hugo Loetscher beispielsweise verpflichtet sich in Die Augen des Mandarin und War meine Zeit meine Zeit einer Strategie der Weltläufigkeit und Wissenspoetik, die es ihm ermöglicht, Autobiografisches mittels assoziativem Erinnern zu verhandeln und seinem globalen Bewusstsein Ausdruck zu verleihen, das maßgeblich von Erfahrungen der Interkulturalität beeinflusst ist. Ähnlich wie Loetscher, ohne aber direkt autobiografisch zu werden, versteht es Ruth Schweikert, in der Wahl einer literarästhetischen Strategie des assoziativen Erinnerns auf mehreren Zeitebenen Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit zu generieren und so ihr Schreiben an das Globalisierungsphänomen anzubinden. Matthias Zschokke und Christoph Geiser bewältigen die globalisierte Gegenwart, indem sie sich mittels einer ästhetischen Strategie des assoziativen Schreibens oder wie Geiser sagt, einer ›Poetik des Flugsands‹, dieser entziehen; sie bilden die Welt in Miniaturen ab und bewegen den/ die LeserIn damit zum Innehalten und Nachdenken. Christoph Geisers Werk ist zudem durchzogen von einer Sprachrhythmik, die die Wirkungsweise seines assoziativen Schreibens noch verstärkt. Pedro Lenz und Roland Reichen unternehmen in ihren Romanen Der Goalie bin ig und Aufgrochsen das Beschreiben von Gegenwelten, die sich globalisierungsbedingter Vernetzung und Internationalisierung radikal entziehen. Als Mittel zum Zweck bedienen sie sich der Wirkungsästhetik dialektaler Sprache. Und auch hier, vornehmlich bei Pedro Lenz in der Figur des Goalies, wird wiederum assoziativ erinnert und erzählt.
485 | Vgl. Michael Grote u. Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 3: Entwicklungen, Kontexte, Grenzgänge. München: iudicium 2009.
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Bei Martin R. Deans Roman Meine Väter spielen zwar Erinnerungen von Drittpersonen für die Rekonstruktion der Vaterfigur eine große Rolle. Der Schwerpunkt des Autors liegt auf einer Strategie der Verfremdung, um die Auseinandersetzung mit autobiografisch motivierten Fragen kultureller Identität zu ermöglichen. Eine Strategie, die insbesondere in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz dann in Erscheinung tritt, wenn die mit der Globalisierung einhergehenden Erfahrungen von Migration, Fremdheit und Hybridisierung zum Anlass und Ausgangspunkt des Schreibens werden.486 Gerade im Kontext von Mobilität und Migration kann zudem das Auftreten einer Strategie der Raumgestaltung beobachtet werden, bei der Nicht-Orte als Metaphern für das Unterwegssein, für das Niemandsland zwischen einem ›Nichtmehrdortsein‹ und einem ›Nochnichtdasein‹487 gesetzt werden. Es kann daher nicht erstaunen, dass in vielen Romanen der Gegenwartsliteratur aus der Schweiz der Reisetopos als Archetypus eines NichtOrtes wiederbelebt wird und funktionale Räume als Haupt- und Nebenschauplätze, als Projektions- und Reflexionsräume sowie als Kreuzpunkte mobiler Lebenspraktiken in Szene gesetzt werden. Dient bei Perikles Monioudis in seinem Roman Land der mediterrane Raum als Sinnbild und zugleich als Projektionsraum für die Erkenntnis des Protagonisten, eine eigene hybride kulturelle Identität zu besitzen, so dient Angelika Overath in Flughafenfische die Raumgestaltung als ästhetisches Mittel, um in der räumlichen Abgrenzung einer Flughafenwartehalle und eines Riffaquariums die Geschicke dreier Menschen zu skizzieren und vor dieser futuristischen Kulisse Liebe und Tod zu verhandeln. Wie Overath platziert Ruth Schweikert in Ohio Liebe und Tod vor dem Hintergrund von Nicht-Orten, die gleichnishaft das innere Niemandsland benennen, dem der Protagonist durch einen suizidären Akt entfliehen will. 486 | Vgl. Karl Esselborn: Neue Zugänge zur inter/transkulturellen deutschsprachigen Literatur. In: Schmitz: Von der nationalen zur internationalen Literatur, S. 43-58, hier S. 52. 487 | Vgl. Andreas Ernst: Ich bin ein jugoslawischer Schriftsteller: Gespräch mit Miljenko Jergović über seine Liebe zu Autos, die Balkantragödie als triviales Genre sowie die Lust der Völker, Opfer zu sein. In: Neue Zürcher Zeitung vom 21.04.2012, S. 61.
3. Globalisierungseffekte
Sowohl bei Monioudis, als auch bei Overath und Schweikert werden die sich überlagernden literarästhetischen Strategien wiederum von einer Erzählform des assoziativen Erinnerns und Erzählens begleitet. Was bei Ruth Schweikert und Angelika Overath bereits in der Romananlage erkenntlich ist, entwickelt Peter Stamm in An einem Tag wie diesem nach und nach. Die Akkumulation von Nicht-Orten, die eine existentielle Leere des Protagonisten symbolisieren, erreicht ihren Höhepunkt in der Schilderung einer Autofahrt, bei der die Entscheidung getroffen wird, sich dem Leben positiv zuzuwenden. Eine literarische Vorgehensweise, die im Kontext von Globalisierung aufgrund ihres konzeptionellen Charakters besondere Beachtung verdient, ist jene der Ambivalenz. Eine Vorgehensweise, die eine engagierte Literatur hervorbringt, die nicht darauf abzielt, ausschließlich eine Krise des Ichs zu verhandeln. Diese ist sekundär. Sie verschreibt sich vielmehr dem Herausarbeiten von Widersprüchen und Zwiespältigkeiten, die die Ambiguität der Globalisierung vor Augen führen, ihre problembehafteten Diskrepanzen benennt und die Romanfiguren in ihrem Denken und Tun in ihrem Spannungsverhältnis beleuchtet. Namentlich drei Romane, die im Brennpunkt des vorgängigen Kapitels über Globalisierungsdiskurse stehen, sind damit zu charakterisieren. Allen voran ist es der Roman Hundert Tage von Lukas Bärfuss. Darin erinnert sich ein selbstreflexives und objektivierendes Ich als Zeitzeuge an die Geschehnisse des vom Bürgerkrieg und Völkermord versehrten Ruanda, ohne dabei eine Perspektive einzunehmen und noch einnehmen zu können, die auf das Bewältigen der eigenen Identitätskrise gerichtet ist.
3.8.2 Ästhetische Strategie der Ambivalenz bei Milena Moser, Martin Suter und vor allem Lukas Bärfuss So diametral unterschiedlich das Schreiben in Sprache, Form und Inhalt von Lukas Bärfuss, Martin Suter und Milena Moser ist, so überraschend ist das Vorhandensein eines gemeinsamen Nenners hinsichtlich der von den AutorInnen angewandten literarästhetischen Strategie der Ambivalenz, die zum einen die Handlungen der Romanfiguren antreibt und sich in ihren gegensätzlichen Gefühlen, Gedanken und Wünschen reflektiert, zum anderen inhaltliche Widersprüche benennt, wobei aber bei Moser
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und Suter die literarästhetische Strategie der Ambivalenz von einer Strategie der Überzeichnung überlagert wird. Mimosa Mein, die Protagonistin in Möchtegern von Milena Moser, will sich für Literatur als Kunst einsetzen, lässt sich aber vom Fernsehen zur Trivialisierung derselben instrumentalisieren. Sie erkennt zwar die marktschreierischen Absichten des Senders, der den Skandal mehr gewichten will als das literarische Können und lehnt sich vehement dagegen auf. Dennoch erliegt sie der Faszination des Reality-TVs, motiviert eine ganze Nation zum Schreiben und begründet zu guter Letzt eine Schreibgruppe, an der, etwas bissig formuliert, auch der schlechteste Schreiberling teilhaben darf. Anders Martin Suter, der die Widersprüchlichkeiten von Maravans Handlungen damit begründet, dass dieser, trotz seines ausgeprägten Sinns für Gerechtigkeit und Ethos, nicht nur aus Unkenntnis der nicht integren wirtschaftspolitischen Machenschaften seiner Kundschaft diese gleichwohl bekocht, sondern weil vom Gewissen alleine schlicht nicht gelebt werden kann.488 Doch alles hat seine Grenzen. Kann er über die Herstellung aphrodisierend wirkender Menus für Callgirls und ihre solventen Freier aus vorweg genanntem Grund noch hinwegsehen, so nicht mehr über eine Klientel, die in Waffenschiebereien verstrickt ist, die ausgerechnet den Bürgerkrieg in Sri Lanka in Gang halten. Seine Fehlbarkeit fordert seine selbstauferlegte Demission als Koch sowie einen ausgleichenden Akt der Gerechtigkeit ein, der im forcierten Tod Dalmanns kulminiert. Lukas Bärfuss – Hundert Tage Gänzlich different zu Milena Moser und Martin Suter, deren auktoriales Ziel im storytelling, in der unterhaltungsgenerierenden Qualität ihrer Romane liegt, sucht Lukas Bärfuss eine Sprache für das nahezu Unaussprechbare zu finden. Dies gelingt ihm mittels einer literarästhetischen Strategie der Ambivalenz, die die Geschehnisse in Ruanda beleuchtet, die verschiedenen daran beteiligten internationalen und innerstaatlichen Akteure ins Kreuzfeuer nimmt und aufzeigt, dass Erklärungsmodelle wie jene von Schuld und Nicht-Schuld nicht weit genug reichen und im Kontext der Globalisierung nicht nur hinterfragt, sondern auch hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit beleuchtet werden müssen. Denn die Folgen 488 | Vgl. Suter: Der Koch, S. 255.
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der Globalisierung sind gerade im postkolonialen Bereich, wie Bärfuss an der Geschichte Ruandas sichtbar macht, katastrophal. Und das Scheitern der Vereinten Nationen nicht einfach bloß auf ein Scheitern der UN-Menschenrechts-Charta zurückzuführen, sondern auf die Weigerung einzelner internationaler Akteure, sich in einem wirtschaftlich uninteressanten Krisengebiet altruistisch die Finger zu verbrennen. Nicht so der Protagonist David Hohl. Er will sich nicht in den Schützengräben des Kapitalismus als Kanonenfutter verschleißen lassen, sondern sich in den Dienst eines Landes stellen, für welches sein bescheidenes Wissen großen Reichtum bedeutet.489 Anstelle von Abenteuer und harter Terrainarbeit erwartet ihn als Mitarbeiter der Schweizer Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe hingegen nur trockene und eintönige Bürolistenarbeit. In den an ein Vivarium anmutenden Räumlichkeiten der Schweizer Botschaft, die die soziale Wirklichkeit der Umgebung nicht stärker kontrastieren könnte, Entwicklungsarbeit, für die es weder Idealismus noch große Theorien braucht, die er aufgrund seiner Beobachtungen in Frage stellt und dennoch leistet. Dem nicht genug: Bereits bei der Hinreise am Flughafen in Brüssel macht Hohl die schmerzhafte Erfahrung, dass sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, der im Grunde reine Empfindung und Affekt ist und nicht auf Weltsicht beruht490, nicht immer willkommen sein muss. Eine junge, attraktive Ruanderin in europäischer Garderobe, Caprihosen, offenen Schuhen, mit rot lackierten Zehennägeln491, wird von den belgischen Zöllnern wegen ihrer Nationalität und aufgrund der kolonialen Vorgeschichte ihres Landes, das einst belgische Kolonie war, schikaniert. David Hohl brennen die Sicherungen durch, als er jenen beleidigenden Ausdruck aus der portugiesischen Sklavenhändlersprache der Afrikanerin gegenüber fallen hört, der, wie er in einem Crashkurs – genauer im Ausreisekurs, Modul zur interkulturellen Kommunikation – gelernt hat, an Niederträchtigkeit kaum mehr zu überbieten ist.492 Wegen seines verbalen Ausbruchs wird er von Sicherheitsbeamten schließlich selbst in Gewahrsam genommen. Und anstelle eines dankbaren Wortes oder zumindest Blickes, erntet er von der jungen Frau ein Schnalzen der Missbilligung und wird gewahr, 489 | Vgl. Bärfuss: Hundert Tage, S. 22. 490 | Vgl. ebenda, S. 6. 491 | Vgl. ebenda, S. 15. 492 | Ebenda, S. 16.
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dass sie nicht die Welt für ihre Impertinenz verachtet, sondern einzig und alleine ihn. Aber was sind seine Ideale noch wert, wenn die Schwachen sich nicht helfen lassen wollten?493 Es würde wohl das Beste sein, diese Afrikaner in ihrer Scheiße sitzen zu lassen, stattdessen Menschen zu suchen, die meinen Einsatz zu schätzen wussten. […] Was hätte diese Frau ein Zeichen gekostet, eine winzige Geste der Wertschätzung? Im Moment, als jemand schwächer war als sie, hatte sie sich auf die Seite der Starken geworfen, auf die Seite der Unterdrücker.494
Trotz seiner Schmach fühlt sich Hohl zu dieser Frau hingezogen. Es drängt ihn danach, ihr zu beweisen, dass er nicht der dumme Junge ist, für den sie ihn offenbar hält. Die Chance dazu erhält er, als er im Zuge des Papstbesuches wegen Nichtbeachtens des Ausgangsverbots der Direktion, in ein Menschengedränge gerät und nur knapp dem Tode entrinnt. Im Krankenhaus wird er von Agathe, jener besagten Afrikanerin, gepflegt. […] ich hatte nie eine größere Fürsorge gesehen, kein milderes Lächeln, keine tiefere Demut. […] ich war glücklich, etwas wiedergefunden zu haben, das ich schon verloren glaubte. Und es fühlte sich an wie Liebe. Liebe für diese sanfte Frau, für dieses Land mit seinen demutsvollen Menschen, Liebe für die Möglichkeit, einer guten Sache zu dienen. 495
Ein Empfinden, das schon bald durch die Umstände des Bürgerkriegs und durch den damit verbundenen Wandel Agathes mit Hohn bestraft wird: » […] aber jedenfalls war dieses ewige Lächeln verschwunden, das Land hatte seine Maske abgelegt«.496 Hundert Tage lang verbleibt Hohl im Hause Amsar. Er realisiert zwar schon in der ersten Nacht, dass sein bleiben in Kigali ein Fehler war. Dennoch lässt er auch die letzte Möglichkeit, Ruanda mit einer Maschine der Air France zu verlassen, verstreichen. Er will sich keines Verrates an Ruanda schuldig machen. Wie sein Vorgesetzter, der seinen Verrat be493 | Vgl. Bärfuss: Hundert Tage, S. 19. 494 | Ebenda, S. 19f. 495 | Ebenda, S. 67. 496 | Ebenda, S. 96.
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reits drei Tage vor der Evakuation in der Wahl seines Schuhwerks zum Ausdruck gebracht hatte. Jahrelang hatte Paul Sandalen getragen. Sozusagen als Zeichen für sein Vertrauen in das kleine Land. Und nun trägt er Wanderschuhe, die ihn sicher aus dem Land hinausbringen sollten. Er ist einer, der im Dienste der Menschheit Entwicklungsarbeit leistet, aber im Grunde nichts anderes ist als »ein Feigling, der lieber seine Frau ansteckte, als ihr zu erklären, dass er nicht der heilige, selbstlose Entwicklungshelfer war, für den sie ihn immer gehalten hatte« 497. Einer, der wegen etwas Alkohol und Sprechgesang gleich seine Beherrschung verliert und nicht nur seine Arbeit, das Fortkommen der Generationen im Sinne hat, sondern hin und wieder durchaus auch einen weiblichen ›Arsch‹.498 Hohls Beweggründe, im Land zu bleiben, sind aber nicht nur ethischmoralischer Natur. Er hofft, Agathe wiederzusehen. Und dies, obschon er inzwischen um ihre wahre Identität weiß. Sie hatte sich zunehmend ihrer Umwelt angepasst, um von ihr nicht abgestoßen zu werden, und sich der extremistischen Partei ihres Bruders angeschlossen, einem Engel des Todes gleich. Es scheint, als verfolge Bärfuss selbst in der Namensgebung seiner Figur die Strategie der Ambivalenz. Denn Agathe, griechisch die Gute, verwandelt sich in eine Gestalt des Bösen. Selbst auf dem Sterbebett im Flüchtlingslager Mugunga zeigt sie sich nicht erstaunt über das Wiedersehen mit Hohl. Die letzte Verblüffung gilt ihrem eigenen Tod, der sie im Moment ihres Sterbens überrascht. Und wieder ertönt dabei ein Schnalzen, dieses Geräusch, wenn die Zunge sich plötzlich vom Gaumen löst; dieses Schnalzen, das am Anfang und am Ende von Hohls Erinnerung an Agathe steht.499 Mehrmals hat Hohl sie auch auf Parteiveranstaltungen begleitet, an denen gegen die Tutsis gehetzt wurde. Einzig die Kraft eines Orgasmus vermochte alle seine Widerstände und Zweifel ihr gegenüber danach innert weniger Sekunden wieder aufzuheben: Die Widersprüche hier unendlich groß, die Schlechtigkeit und Gewalt so offensichtlich, und Agathe fasste meinen Schwanz an, und dann war alles aufgehoben. Es sind Kakerlaken, David, und eine Kakerlake kann keinen Schmetterling gebä497 | Bärfuss: Hundert Tage, S. 167. 498 | Vgl. ebenda, S. 166f. 499 | Vgl. ebenda, S. 207.
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ren, und ich fasste ihr an den Hintern. Ein Tutsi bleibt ein Tutsi, fuhr sie fort, und ich zog ihr den Slip aus […] Niemals war der Sex besser, verdorbener, ausschweifender, niemals schweinischer gewesen als in jener Nacht nach dieser Veranstaltung, und das lag nicht an Agathe, sondern allein an mir. 500
Als Agathe kurz darauf seine Haushälterin Erneste aufgrund ihrer Tutsizugehörigkeit erniedrigt, wird ihm bewusst, dass Sex für sie weniger mit Liebe und Harmonie zu tun hat, vielmehr mit Kampf und Unterwerfung. Ein Umstand, der ihn ungemein erregt und dem er sich nicht zu entziehen vermag: […] Sie beugte sich über die bemitleidenswerte Erneste, Speichel spritzte aus ihrem fluchenden Mund, sie war erfüllt von Abscheu, von Hass, von Zorn, und ich musste mich von diesem Anblick förmlich losreißen, mich innerlich anschreien, endlich einzuschreiten. 501
Bärfuss gelingt es, in der Figur David Hohls aufzuzeigen, wie ein jeder Mensch zum Unmenschen werden kann, wenn er nicht die Fähigkeit besitzt, Ursache und Wirkung zu reflektieren. Und selbst dann noch gibt es ein Handeln, das sich jeglichem Intellekt entzieht, das bloße Empfindung ist und (wie bei Hohl) reiner Affekt. Ein Bürgerkrieg, ein Völkermord ist unvorstellbar und beruht dennoch auf menschlichem Handeln. Bärfuss versucht, sich einem Verständnis auf emotionaler Ebene anzunähern. Er verdeutlicht, wie selbst Hohl mit seinen inneren Widersprüchen im Kampfe begriffen ist. Er realisiert, zögert, interveniert, verurteilt und akzeptiert schließlich dennoch: Indem er seine Beziehung zu Agathe nicht aufkündigt, sich wissentlich von Empfindungen überwallen lässt, die Machtgefühlen zuzuschreiben sind und sich im Hause Amsar zuletzt tatenlos versteckt, anstelle zu fliehen oder einzugreifen. Während der hundert Tage im Hause Amsar wird Hohl von Théoneste, seinem Gärtner, mit dem Notwendigsten versorgt. Dies ist nur möglich, weil Hohl als Schweizer und Entwicklungshelfer eine ungeschriebene Immunität besitzt:
500 | Bärfuss: Hundert Tage, S. 134. 501 | Ebenda, S. 135.
3. Globalisierungseffekte
[…] aber diese Mörder […] hielten mich für einen Verbündeten ihrer Sache, einen Mitarbeiter wie alle Schweizer in den dreißig Jahren zuvor, seit wir in dieses Land gekommen waren. Warum sollte sich daran etwas geändert haben, nur weil sie jetzt Frauen die Brüste abhackten und Schwangeren die ungeborenen Kinder aus dem Leib schnitten? Schließlich waren wir es gewesen, die ihnen die Verwaltung beigebracht hatten, das Wissen, wie man eine Sache von dieser Größe angeht, und es spielt keine wesentliche Rolle, ob man Ziegelsteine oder Leichen abtransportiert. Ja. Sie ließen mich in Ruhe.
Als Hohl realisiert, dass sein Helfer in der Not Erneste umgebracht hat, schlägt er diesen windelweich. Théoneste verschwindet und stellt seine Wasser- und Nahrungslieferungen ein. Hohl verdurstet beinahe, wären da nicht Milizionäre, denen er sich stellt und die ihn mit dem Nötigsten versorgen. Als Théoneste wieder auftaucht, lässt Hohl durch eine Unterlassung Gerechtigkeit walten und liefert ihn paradoxerweise gleichgesinnten Milizionären ans Messer: »Weil ich gerecht sein wollte, wurde ich schuldig, und als ich mich schuldig machte, fühlte ich mich gerecht.«502 Um sein Leben zu retten, schließt sich Hohl militanten Hutus an, statt auf das Wohlwollen der invasierenden und Kigali erobernden TutsiRebellen zu vertrauen. Die Flucht gelingt. Hohl kehrt in ›das Land der Unschuldigen‹503 zurück. Nebst dem Haupterzählstrang widerspiegelt selbst die Rahmenhandlung von Hundert Tage Bärfuss’ Strategie der Ambivalenz, wenn er den zweiten Ich-Erzähler konstatieren lässt, dass erstaunlicherweise gerade jemandem wie David Hohl beschieden war, solches zu erleben, einem Mann, der nicht dazu bestimmt schien, irgendetwas zu erfahren, das über das gewöhnliche Maß menschlicher Katastrophen hinausgeht.504 Oder wenn er feststellt: »Ich weiß, ich müsste nicht mutmaßen, denn er ist ein gebrochener Mann, muss einer sein, nach allem, was er erzählt und – was noch wichtiger ist – nach allem, was er mir verschweigt.«505 Aber klingt so die Erinnerung eines gebrochenen Mannes, dem die Fähigkeit oder der Wille abgesprochen wird, Worte für das Geschehene 502 | Bärfuss: Hundert Tage, S. 195. 503 | Vgl. ebenda, S. 207. 504 | Vgl. ebenda, S. 6 505 | Ebenda, S. 5.
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zu finden?506 Hohl scheint innerlich intakt, auch wenn er selbst betont, dass er in den Jahren nach dem Aufenthalt in Afrika versucht hat, jede Aufregung von seinem Leben fernzuhalten. Was ihn aber nach wie vor zu zynischen Bemerkungen antreibt, ist die Schweizer Überzeugung, genau zu wissen – wie es eben auch die Schweizer Entwicklungshilfe in Ruanda zu wissen meinte –, was GUT und was SCHLECHT ist: Was einer zu tun hat und was zu unterlassen ist. Hier ist es gut, jetzt ist es gut, der Schnee ist gut, ich hoffe nur, sie werden ihn nicht gleich wieder wegräumen mit ihren Maschinen, oder Salz streuen, was noch viel schlimmer ist. Vielleicht lassen sie ihn einmal liegen, vielleicht kriegen sie es einmal übers Herz, sich in ihre Häuser zu verkriechen und für eine Weile einfach nur zuzusehen, wie dieser Schnee aus dem Himmel fällt. Ich wette dagegen. 507
Lukas Bärfuss zieht die literarästhetische Strategie der Ambivalenz konsequent durch. In einer unscheinbaren Aussage Hohls findet sie gleichsam ihren Höhepunkt: »Das Schlimmste ist der Gedanke, den ich in den hundert Tagen immer wieder hatte und der mich bis heute quält, dass es eine Symbiose gab zwischen unserer Tugend und ihrem Verbrechen.«508
506 | Vgl. Bärfuss: Hundert Tage, S. 5. 507 | Ebenda, S. 153. 508 | Ebenda.
4. Synthese & Fazit 4.1 G LOBALISIERUNGSTENDENZEN IN DER DEUTSCHSPR ACHIGEN G EGENWARTSLITER ATUR AUS DER S CHWEIZ Die vorliegende Forschungsarbeit zeigt auf, dass Globalisierungseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz evident sichtbar sind. Die Ergebnisse der Analysen bestätigen, dass der Indikatorenindex für Globalisierungseffekte für alle untersuchten Romane und Erzählungen Gültigkeit besitzt. Die Gewichtung der Globalisierungseffekte in den einzelnen Texten erfolgt nach individuellen Kriterien und den Setzungen der AutorInnen, deren Werke von unterschiedlichen Erfahrungswelten und Auffassungen sozialer Wirklichkeit geprägt sind. Wie die Gliederung der Analyse verdeutlicht, präsentieren sich die Resultate der Untersuchung entlang der Argumentationslinie sich darin abzeichnender und quantifizierbarer Globalisierungstendenzen. Dabei kristallisiert sich übergreifend die vielfältig ausgestaltete literarische Adaption und Rezeption von Beschleunigung und Vernetzung als wesentlicher Qualitäten der Globalisierung heraus, Faktoren, die einen tiefgreifenden Wandel auf sozio-kultureller Ebene hervorgerufen und unsere räumlichen und zeitlichen Ordnungsmuster nachhaltig verändert haben. Die zeitkritische Auseinandersetzung der AutorInnen mit den Wirkungsweisen und Folgen unserer globalisierten Welt erweisen sich dabei als programmatisch. Eine verstärkte Hinwendung zu engagiertem Schreiben ist zu beobachten, welche Aspekte der Vernetzung insbesondere im wirtschaftspolitischen Bereich kritisch in Frage stellt. Es ist bezeichnend, dass dabei häufig eine literarästhetische Strategie der Ambivalenz Anwendung
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findet – die oftmals mit einer ›globalisierten Erzählform des assoziativen Erinnerns und Erzählens‹ einhergeht –, welche sich dem Herausarbeiten von Widersprüchen und Zwiespältigkeiten verschreibt, die zum einen genuiner Bestandteil des Globalisierungsbegriffs sind, und zum anderen dessen Ambiguität vor Augen führen. So gesehen, unterscheidet sich engagiertes Schreiben mit Tendenz zur Ambivalenz von einem engagierten Schreiben früherer Jahre, als man sich seiner gesellschaftspolitischen Position noch sicher war. Insbesondere die in den Kulturwissenschaften postulierten identitätsauflösenden Konsequenzen der Globalisierung, die mit der globalisierungsbedingten Multiplikation von Möglichkeiten der Identitätskonstruktion kontrastieren, werden in den Texten intensiv reflektiert. Die damit korrelierenden Enttraditionalisierungsprozesse spielen dabei eine weniger bedeutsame Rolle als erwartet. Sexuelle Befreiung und die Emanzipation von Mann und Frau finden zwar Erwähnung, werden aber von anderen Globalisierungseffekten überlagert und markieren keinen für die CH-Literatur verallgemeinerbaren inhaltlichen Schwerpunkt. Auffallend ist aber, dass Beziehungsunfähigkeit sowie ein emanzipiertes Frauenbild zunehmend das Verhältnis zwischen den Geschlechtern charakterisiert, was die Vermutung nahelegt, dass, wie Max Frisch prognostiziert hat, heute andere Liebesgeschichten geschrieben werden als früher. Eine neue Befindlichkeit zeichnet sich ab, die, allen anderen Globalisierungstendenzen übergeordnet, einerseits um die Thematisierung kultureller Identitätsfindungsprozesse kreist, die sich darin begründen, dass sich bei zunehmend globaler Vernetzung sowohl der physische Tätigkeitsradius als auch die kulturelle Herkunft der Romanfiguren internationalisieren. Andererseits stellt sie eine Krise des Ichs in den Fokus, eines Ichs, welches sich im Hier und Jetzt über neue Standards definieren muss. In diesem Kontext fällt auf, dass Nicht-Orte (inklusive der Reise als Nicht-Ort-Archetypus) Projektionsräume und Schauplätze von Selbsterkenntnis- und Identitätsfindungsprozessen darstellen und letztere katalytisch befördern. Der Nicht-Ort wird in der CH-Literatur auffallend oft zum erfahrbaren Raum einsamer Individualität. Der Nicht-Ort als literarästhetisches Raumgestaltungsmittel verstärkt so das Gefühl der Romanfiguren, auf sich selber zurückgeworfen zu sein in einer unwirklich anmutenden Umgebung, welche zum einen stabilisierend, zum anderen destabilisierend auf das einzelne Individuum wirkt, aber nicht per
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se einen one-world-Effekt auslöst. Denn auch wenn Globalisierung ONE WORLD simuliert, so existiert diese EINE Welt für das einzelne Individuum nicht, wie die Texte vor Augen führen. Und obwohl existentialistische Fragestellungen immer schon Gegenstand literarischen Schreibens gewesen sind, fällt in der neuen CH-Literatur deren Anbindung an das Globalisierungsphänomen auf. Ob nun auf inhaltlicher, struktureller oder sprachlicher Ebene – die Übergänge sind fließend –, die Krise des Ichs wird neu verhandelt als Produkt einer denormalisierten Welt, die mit 9/11 ein Gesicht erhalten hat. Die gehäufte ästhetische Verarbeitung von 9/11 als historisch-kulturelles Ereignis von globalem Ausmaß ist dafür bezeichnend. Die Schweizer (Nach-)9/11 Literatur nimmt 9/11 zum Ausgangspunkt dezidiert kritischer Betrachtungsweisen über das beginnende 21. Jahrhundert und lässt ihre ProtagonistInnen an der Melancholie, Abgestumpftheit und Gleichgültigkeit des Zeitgeistes reifen oder scheitern. Kulturelle Differenzen oder die Thematisierung von Fundamentalisierungsprozessen finden dabei Erwähnung, werden aber nicht – wie das Postulat eines ›Clash of Civilizations‹ vermuten lassen könnte – zum dominierenden Leitmotiv. Vielmehr symbolisiert 9/11, dass die Welt von heute unter den Insignien der Globalisierung anders, das heißt komplexer und unübersichtlicher geworden ist. Die Romanfiguren kämpfen gegen eine identifikatorische Orientierungslosigkeit an, wobei nicht (pauschal) die Frage nach Identität eine Antwort sucht, sondern insbesondere die nach kultureller Identität und kultureller Abgrenzung. Im Zuge der Massenmigration und der damit global einhergehenden wechselseitigen Durchdringung von Gesellschaften, Kulturen und Ideen, ist Interkulturalität in der CH-Literatur zur literarischen Grundkonstituente geworden. Interkulturalität hat in ihrem hybriden Prinzip des Sowohl-als-auch eine neue Qualität erhalten. Der Schrecken des Fremden, wie ihn Joseph Conrad in Heart of Darkness etwa beschrieben hat, ist, seit die Welt zu einem ›globalen Dorf‹ geschrumpft ist – zumindest in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz – vorbei. Die Romanfiguren erkennen, dass sie das Produkt eines kulturellen Hybridisierungsprozesses sind und ihre Ursprungssehnsucht im Grunde einen Fluchtpunkt darstellt, der sie in ihrer Identitätsfindung voranschreiten lässt.
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Den neuen Technologien kommt dabei nicht selten die Rolle eines Imaginationsraumes zu, der kultureller Identitätssuche Ausdruck verleiht. Doch weit wichtiger ist, dass sie die Handlungsspielräume der Romanfiguren erweitern und verschränken. Sie ermöglichen den AutorInnen, im verdichteten Spiel mit Nähe und Ferne, in der Gleichzeitigkeit von fernem Ereignis und nahem Ereignisbild, in der Verdoppelung eines global-village-Effekts oder in der gezielten kommunikationstechnologischen Verweigerung ihrem Schreiben eine weitere Dimension zu geben. (Neue) (vernetzte) Provinzialität erfährt in diesem Zusammenhang literarisch eine Renaissance. Den identitätsauflösenden Folgen von Entterritorialisierungsprozessen, die durch die digitale Revolution maßgeblich beschleunigt wurden, wird mit der identitätsstiftenden Kraft eines literarischen Regionalismus begegnet. (Neue) Provinzialität stellt dabei eine auktoriale Haltung dar und erhebt den engeren Lebensbereich zum primären literarischen Motiv. Durch die Simulation von Regionalität, mitunter auch durch dialektales Schreiben, wird wirkungsästhetisch Authentizität hergestellt. Es ist aber für die CH-Literatur bezeichnend, dass Ich-Krisen noch immer symbolisch mit der Flucht aus regionaler Abgeschiedenheit, der Überwindung eines provincialism of mind sowie mit dem Erlangen eines vernetzten Lebensgefühls einhergehen. Und dies trotz der Einsicht der Romanfiguren, dass nicht in erster Linie geografische Grenzen, sondern innere und zwischenmenschliche Grenzen überwunden werden müssen, um einen Ausweg aus der Ich-Krise zu ermöglichen. Der globalisierte Roman, wie er sich literaturgeschichtlich in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz verorten lässt, ist kein Roman, der als Gegenbewegung zur Globalisierung gelesen werden kann. Der Begriff lässt sich nur bedingt auf jene Texte anwenden, die sich einem literarischen Regionalismus als Regionalisierungseffekt verschrieben haben. Der globalisierte Roman ist gemäß Definition Ausdruck einer globalisierten Welt, die in ihrer Diskrepanz die Romanfiguren vor neue Herausforderungen stellt und in der es keine Helden, sondern nur mehr Gewinner oder Verlierer gibt. Globalisierungseffekte sind dabei tragende Elemente der Romananlage wie des Handlungsaufbaus. Die Handlungsorte sind internationalisiert als Schauplätze internationaler Akteure oder Kreuzpunkte mobiler Lebenspraxis. Häufig ist dabei ein Zusammentreffen von Nicht-Ort und Handlungsort festzustellen, was gerade in der Herstellung räumlicher Begrenztheit auf die Romanhandlung entschleunigend wirkt. Nationale Muster und
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kulturelle Identität werden dabei entweder verstärkt verhandelt, da die eigene kulturelle Identität als Reaktion auf Globalisierungsphänomene gefestigt werden will, oder spielen in einer globalisierten Welt, in der zunehmend ein Prinzip des Sowohl-als-auch gilt, gar keine Rolle mehr. Strukturell ist der globalisierte Roman durch Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit gekennzeichnet. Das Ineinandergreifen von Handlungsorten, Handlungssträngen, Zeitebenen und Erzählperspektiven geht dabei oftmals mit einer verdichteten globalisierten Erzählform des assoziativen Erinnerns und Erzählens einher und vermag eine beschleunigende Wirkung auf den Sprachduktus zu entfalten. Der globalisierte Roman kann jedoch nicht abschließend in Analogie zum Globalisierungsphänomen definiert werden. Innerhalb der CH-Literatur wird aber eine deutliche Entwicklung sichtbar, die sich aus der Analyse der Texte hinsichtlich darin enthaltener Globalisierungseffekte ableiten lässt. Die Verfasserin der vorliegenden Forschungsarbeit ist sich jedoch bewusst, dass weder für den Indikatorenindex für Globalisierungseffekte, noch für die sich in der Folge abzeichnenden Globalisierungstendenzen in literarischen Texten ein Vollständigkeitsanspruch erhoben werden kann. Dessen ungeachtet leistet die vorliegende Dissertation einen wichtigen und aussagekräftigen Beitrag zur Diskussion des Globalisierungsphänomens und dessen literaturgeschichtlicher Verortung, da bis anhin eine vergleichbar umfangreiche und gründliche Studie nicht existiert. Neu ist insbesondere die relativ breite Anlage und Operationalisierung des Globalisierungsbegriffs sowie dessen Anwendung auf den CH-spezifischen Untersuchungsgegenstand. Die Forschungsarbeit vermag zu zeigen, dass Literatur für den gesellschaftlichen Wandel im Zuge der Globalisierung als Vermittlerin eine bedeutsame Rolle spielt, die über reine sprachliche Ästhetik hinausgeht. Die zeitkritischen Auseinandersetzungen der AutorInnen mit dem aktuellen Zeitgeschehen und deren literarische Ästhetisierung, fördern den Diskurs über aktuelle Problemstellungen, die nicht nur das einzelne Individuum, sondern auch ganze Sozietäten etwas angehen. Als weiterführendes Forschungsvorhaben, das im Rahmen dieser Dissertation nicht berücksichtigt werden konnte, wäre die Erweiterung um einen internationalen Vergleich besonders wünschenswert. Durchaus möglich und vermutlich aussagekräftig wären auch vertiefte, breit angelegte Untersuchungen einzelner Globalisierungseffekte: der Frage beispielsweise, ob der Schrecken des Fremden in der Literatur grundsätzlich
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an ein Ende gekommen ist. Oder die Beantwortung der durch Max Frisch initierten Fragestellung, ob heute in Zusammenhang mit Enttraditionalisierungsprozessen ›andere‹ Liebesgeschichten geschrieben werden als früher.
5. Literatur 5.1 P RIMÄRLITER ATUR Amann, Jürg: Zimmer zum Hof. Erzählungen. Innsbruck, Wien: Haymon 2006. Augstburger, Urs: Schattwand. Ein Bergdrama. München: dtv 2005. Bärfuss, Lukas: Hundert Tage. Roman. München: bTb 2010. Capus, Alex: Glaubst du, daß es Liebe war? Roman. Salzburg: Residenz 2003. Conrad, Joseph: Herz der Finsternis. Roman. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Originalausgabe: ›Heart of Darkness‹ Edinburg/London 1899. München: dtv 2009. Dean, Martin R.: Meine Väter. Roman. München: Hanser 2003. Egan, Jennifer: Der grössere Teil der Welt. Roman. Aus dem Englischen von Heide Zeltmann. Frankfurt a.M.: Schöffling & Co. 2012. Foer, Jonathan Safran: Extrem laut und unglaublich nah. Roman. Deutsch von Henning Ahrens. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007. Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Frisch, Max: Montauk. Eine Erzählung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. Frisch, Max: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Berlin: Suhrkamp 2011. Geiser, Christoph: Wenn der Mann im Mond erwacht. Ein Regelverstoss. Zürich: Ammann 2008. Goetsch, Daniel: Ben Kader. Roman. Zürich: Bilgerverlag 2006. Goetsch, Daniel: Herz aus Sand. Roman. Zürich: Bilgerverlag 2009. Grass, Günter: Nachruf auf Helen Wolff. In: Ders.: Essays und Reden III, 1980-1997. Werkausgabe Bd. 16. Göttingen: Wallstein 1997. Grond, Walter: Der gelbe Diwan. Roman. Innsbruck, Wien: Haymon 2009.
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5.2 S EKUNDÄRLITER ATUR Albrow, Martin: Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im globalen Zeitalter. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998.
5. Literatur
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Welt schreiben
Ruloff, Dieter: Globalisierung – eine Standortbestimmung. Zürich: Rüegger 1998. Said, Edward W.: Orientalismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009. Sandmann, Beatrice: Schreibende Söhne. Neue Vaterbücher aus der Schweiz. Guido Bachmann, Christoph Keller, Urs Widmer und Martin R. Dean. In: Ulrich Breuer u. Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 1: Grenzen der Identität und Fiktionalität. München: iudicium 2006, S. 156-171. Schroer, Markus: Raumgrenzen in Bewegung. Zur Interpenetration realer und virtueller Räume. In: Christian Funken u. Martina Löw (Hg.): Raum – Zeit – Medialität. Interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien. Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 217-236. Schmitz, Helmut: Einleitung. Von der nationalen zur internationalen Literatur. In: Ders. (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam, New York: Rodopi 2009, S. 7-15. Schmitz-Emans, Monika: Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. In: Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans u. Kerst Walstra (Hg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 285-316. Soeffner, Hans-Georg: Methodologischer Kosmopolitismus – Die Erhaltung kultureller Vielfalt trotz wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung. In: Jochen Dreher u. Peter Stegmaier (Hg.): Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz. Grundlagentheoretische Reflexionen. Bielefeld: transcript 2007, S. 97-112. Steinmetz, Horst: Globalisierung und Literatur(geschichte). In: Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans u. Kerst Walstra (Hg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 189-201. Stratenwerth, Dinah: Viel zu verzellen. Interview mit Tim Krohn. In: Die Wochenzeitung vom 23.08.2007. Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Taberner, Stuart: German literature in the Age of Globalisation. Birmingham: Birmingham University Press 2004. Taberner, Stuart: German literature of the 1990s and Beyond. Normalization and the Berlin Republic. Rochester: Camden House 2005.
5. Literatur
Uhl, Heidemarie (Hg.): Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900. Wien: Passagen 1999. Wagner, Bernd: Kulturelle Globalisierung. Zwischen Weltkultur und kultureller Fragmentierung. Essen: Klartext 2001. Woker, Martin: Arm, aber unglücklich. Vom Sinn schweizerischer Entwicklungshilfe. In NZZ Folio 06/97 – Thema im Herzen Afrikas. Zemanek, Evi u. Krones, Susanne (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld: transcript 2008. Zweifel, Stefan: Heim ins Gärtli. Die Literatur spricht Dialekt und das Kino lernt jodeln. Ursprünglichkeit überall. In welcher Heimat leben die eigentlich? In: Das Magazin 44 (2007), S. 14f.
5.3 U NVERÖFFENTLICHTE TYPOSKRIP TE IN CHRONOLOGISCHER A BFOLGE Gespräch mit Alex Capus vom 24.08.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. Gespräch mit Milena Moser vom 28.08.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. Gespräch mit Martin R. Dean vom 28.08.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. Gespräch mit Christoph Simon vom 04.09.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. Gespräch mit Peter Stamm vom 09.09.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. Schriftlich gestellte und von Daniel Goetsch im Vorfeld eines gemeinsamen Gesprächs im November 2006 schriftlich beantwortete Fragen. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. Gespräch mit Daniel Goetsch vom 21.11.2006, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. Schriftlich gestellte und von Martin Suter im Februar 2007 schriftlich beantwortete Fragen. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. Brief von Christoph Geiser vom 21.04.2007 an A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht. Gespräch mit Matthias Zschokke vom 27.04.2007, übersetzt ins Hochdeutsche von A.K. Eigenes Typoskript, unveröffentlicht.
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Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin August 2013, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) »Schloss«-Topographien Lektüren zu Kafkas Romanfragment September 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Madleen Podewski Komplexe Medienordnungen Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift »Ost und West« (1901-1923) Dezember 2013, ca. 450 Seiten, kart., ca. 42,80 €, ISBN 978-3-8376-2497-7
Tanja Rudtke Kulinarische Lektüren Vom Essen und Trinken in der Literatur Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2374-1
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Oktober 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts Juni 2013, 312 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4
Natalia Borisova Mit Herz und Auge Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur Februar 2013, 264 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2295-9
Stephanie Fleischmann Literatur des Desasters von Annual Das Um-Schreiben der kolonialen Erzählung im spanisch-marokkanischen Rifkrieg. Texte zwischen 1921 und 1932 August 2013, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2281-2
Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel November 2013, ca. 360 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2433-5
Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre März 2013, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0
Johanne Mohs Aufnahmen und Zuschreibungen Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche Oktober 2013, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 37,80 €, ISBN 978-3-8376-2491-5
Petra Moser Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten« August 2013, ca. 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2341-3
Stefan Schukowski Gender im Gedicht Zur Diskursreaktivität homoerotischer Lyrik April 2013, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2231-7
Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 März 2013, 322 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8
Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur Juli 2013, 190 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3. Jahrgang, 2012, Heft 2
2012, 208 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN 978-3-8376-2087-0 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 6 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik kann auch im Abonnement für den Preis von 12,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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