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German Pages [418] Year 2015
Pflegewissenschaft und Pflegebildung
Band 10
Herausgegeben von Prof. Dr. Hartmut Remmers
Alexandra Bernhart-Just
Weiterleben oder sterben? Entscheidungsprozesse leidender Menschen
Mit 38 Abbildungen
V& R unipress Universitätsverlag Osnabrück
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0347-9 ISBN 978-3-8470-0347-2 (E-Book) Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Die vorliegende Arbeit wurde 2014 von der Fakultät für Gesundheit, Department für Pflegewissenschaft, an der Universität Witten/Herdecke als Dissertation angenommen. Diese Buchveröffentlichung enthält gegenüber der eingereichten Dissertation geringfügige
Überarbeitungen. Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Weigand / Photocase.de Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort von Silvia Käppeli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort von Hartmut Remmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Allgemeine Entwicklungen im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Erklärungen zu untersuchungsrelevanten Begrifflichkeiten . . . . 1.3 Länder, in denen Sterbehilfe, ärztlich assistierter Suizid und (ärztliche) Beihilfe zum Suizid legal sind . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Schweizerische Bestimmungen zur Beihilfe zum Suizid und Berichterstattungen im Zusammenhang mit der Suizidbeihilfe in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Entwicklungen rund um Palliative Care und die Suizidbeihilfe in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Gründe, sich aus der Sicht der Pflege und der Pflegewissenschaft mit Menschen zu befassen, die erwägen, durch Beihilfe zum Suizid zu sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Forschungsziel und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Standpunkt der Forscherin gegenüber dem Forschungsgegenstand
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3 Stand der Forschungserkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Vorgehen bei der Literaturrecherche und -analyse . . . . . . . . .
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Inhalt
3.2 Der Wissensstand zu Entscheidungsprozessen physisch chronisch Kranker darüber, weiterleben oder sterben zu wollen . . . . . . . . 3.2.1 Religiöse Einstellungen von Ärzten und deren Einfluss auf ärztliche End-of-Life-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Prävalenz und Typus von End-of-Life-Entscheidungen bei Patienten in unterschiedlichen Versorgungssettings . . . . . 3.3 Der Wissensstand zu Faktoren, die den Willen zu leben von physisch chronisch Kranken erhalten oder zu dessen Wiedererlangung beitragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Einflüsse, die auf den Willen zu leben von Krebspatienten im Endstadium wirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Der Wissensstand zu Faktoren, die physisch chronisch Kranke erwägen und entscheiden lassen, ihr Leben durch ärztlich assistierten Suizid oder Sterbehilfe zu beenden . . . . . . . . . . . 3.4.1 Erkenntnisse zu Faktoren, die Menschen in Ländern, in denen ärztlich assistierter Suizid und Sterbehilfe illegal sind, erwägen lassen, ihr Leben zu beenden . . . . . . . . . 3.4.2 Erkenntnisse zu Faktoren, die Menschen in Ländern, in denen ärztlich assistierter Suizid und Sterbehilfe legal sind, entscheiden lassen, ihr Leben auf die eine oder andere Art zu beenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Erkenntnisse aus systematischen Literaturreviews zu Faktoren und Beweggründen, die Menschen nach Sterbehilfe oder PAS ersuchen lassen . . . . . . . . . . . . . 3.5 Schlussfolgerungen zum Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Schlussfolgerungen zu Forschungen über Entscheidungsprozesse physisch chronisch Kranker, weiterleben oder sterben zu wollen . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Schlussfolgerungen zu Forschungen über Faktoren, die den Lebenswillen von physisch chronisch Kranken erhalten und sie nicht erwägen lassen, ihr Leben (durch assistiertes Sterben) zu beenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Schlussfolgerungen zu Forschungen über Faktoren, die physisch chronisch Kranke erwägen lassen, ihr Leben (durch assistiertes Sterben) zu beenden und dies in die Tat umzusetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Schlussfolgerungen zu methodologischen Aspekten eingeschlossener Forschungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4 Methodik – Forschungsansatz, Forschungsmethoden und deren Anwendung im Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Indikation zur Durchführung einer qualitativen Forschung . . . . 4.2 Die Wahl des Forschungsansatzes der Grounded Theory . . . . . . 4.3 Zugang zum Forschungsfeld und Rekrutierung von Informanten . 4.3.1 Aufbau des Zugangs zum Forschungsfeld . . . . . . . . . . . 4.3.2 Rekrutierung der Untersuchungspersonen . . . . . . . . . . 4.4 Forschungsethische Überlegungen und Prüfung des Forschungsvorhabens durch die Ethikkommissionen . . . . . . . . 4.4.1 Informed consent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Die Teilnahme an einem qualitativen Interview und die Beziehungsgestaltung zwischen der Forscherin und den Untersuchungsteilnehmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Die Beendigung qualitativer Forschungsbeziehungen . . . . 4.4.4 Genehmigung des Forschungsvorhabens durch die zuständigen Ethikkommissionen . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Methoden der Datenerhebung und deren Umsetzung . . . . 4.5.2 Methoden und Prozesse der Datenaufbereitung . . . . . . . 4.5.3 Methoden und Prozesse der Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse physisch chronisch Kranker darüber, weiterleben oder sterben zu wollen . . . . 5.1 Persönliche Faktoren und die gewohnte Daseinsweise eines Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Persönliche Faktoren des Menschen . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Die gewohnte Daseinsweise eines Menschen . . . . . . . . . 5.2 Das Auftreten einer physisch chronischen Krankheit, die gesundheitliche Verschlechterung und damit einhergehende Auswirkungen auf das gewohnte Dasein des erkrankten Menschen 5.2.1 Das Auftreten einer physisch chronischen Krankheit . . . . 5.2.2 Gesundheitliche Verschlechterung . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Auswirkungen chronischen Krankseins auf das gewohnte Dasein des erkrankten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der Umgang mit der chronischen Krankheit und krankheitsbezogenen Veränderungen des Daseins durch chronisch Kranke, ihnen nahestehende Bezugspersonen und (Gesundheits-) Fachpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
5.3.1 Der Umgang Kranker mit ihrer chronischen Krankheit und den damit zusammenhängenden Veränderungen ihres Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Der Umgang von nahestehenden Bezugspersonen mit chronisch Kranken und deren Dasein im Kontext chronischen Krankseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Der Umgang von (Gesundheits-)Fachpersonen mit chronisch Kranken und deren Dasein im Kontext chronischen Krankseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise im Kontext chronischen Krankseins durch den chronisch kranken Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Der Gesundheitszustand und dessen Verlauf . . . . . . . . . 5.4.2 Möglichkeiten, Bedeutung und Wirkung der medizinischen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Bedingungen der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Der gesellschaftliche Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Das Sozialsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.6 Das Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.7 Die Möglichkeit der Beihilfe zum Suizid . . . . . . . . . . . 5.4.8 Finanzielle Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.9 Das biologische Lebensende . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.10 Antizipierte Zustandsdimensionen der eigenen Daseinsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Konstellation 1: Zurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise . . . . 5.6 Konstellation 2a: Noch oder wieder zurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen Daseinsweise, solange diese erträglich ist, und nicht mehr zurechtkommen, sobald eine ungewollte Daseinsweise droht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Im Schwebezustand sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Konstellation 2b: Sich abzeichnende Ungewissheit oder Schwierigkeiten, mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise zurechtzukommen . . . . 5.9 Konstellation 3: Nichtzurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise . . . .
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Inhalt
6 Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung der Theorie und Reflexion des Forschungsansatzes . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die theoretische Bedeutung der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Faktoren, die den Entscheid physisch chronisch Kranker darüber, weiterzuleben oder im Gegenteil nicht mehr leben zu wollen, beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Faktoren, die dazu beitragen, dass chronisch Kranke weiterleben wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Faktoren, die dazu beitragen, dass chronisch Kranke den Wunsch entwickeln, ihren Tod beschleunigen und sterben zu können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Der Umgang mit krankheitsbezogenen Veränderungen des Daseins durch chronisch Kranke und Außenstehende . . . . 6.1.5 Die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise im Kontext chronischer Krankheit durch den chronisch kranken Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6 Die Kernkategorie: (Nicht-)Zurechtkommen mit seiner veränderten gegenwärtigen und /oder antizipierten zukünftigen Daseinsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.7 Entscheidungsprozesse chronisch Kranker darüber, weiterzuleben oder durch Suizid(-beihilfe) zu sterben . . . . 6.1.8 Die Bedeutung der gewonnenen Erkenntnisse im Vergleich zu den Annahmen der Forscherin zu Beginn der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.9 Die Bedeutung der Erkenntnisse für bestehende Theorien und Modelle über chronisch Kranke und deren Versorgung sowie das Chronisch-Kranksein . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die praktische Bedeutung der Theorie und Handlungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Relevanz der Erkenntnisse für Gesundheitsfachpersonen . . 6.2.2 Handlungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Reflexion über den angewendeten Forschungsansatz . . . . . . . . 6.3.1 Reflexion über die angewendeten Verfahrensschritte zur Theoriegenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Evaluation der Qualität der generierten Theorie . . . . . . .
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Inhalt
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkürzungsverzeichnis
AIDS
Acquired immunodeficiency syndrome
ALS
Amyotrophe Lateralsklerose
BAG
Bundesamt für Gesundheit
CHUV
Centre hospitalier universitaire Vaudois
COPD
Chronisch obstruktive Lungenerkrankung
EAS
Euthanasia assisted suicide
EAPC
European Association Palliative Care
FMH
Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte
GDK
Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren
HIV
Human immunodeficiency virus
HUG
Húpitaux Universitaires de GenÀve
KEK
Kantonale Ethik-Kommission
MAXQDA2 Softwareprogramm zur qualitativen Datenanalyse MeSH
Medical Subject Headings
MS
Multiple Sklerose
NFP
Nationales Forschungsprogramm
PAD
Physician assisted death/ärztlich assistierter Tod
PAS
Physician assisted suicide/ärztlich assistierter Suizid
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Abkürzungsverzeichnis
SAHD
Schedule of attitudes toward hastened death
SAMW
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften
SDA
Schweizerische Depeschenagentur
SBH
Suizidbeihilfe
SBK
Schweizerischer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner
SBHO
Suizidbeihilfeorganisation
SPUK
Spezialisierte Unterkommission für patientenorientierte, interpretative Forschung
u.a.
unter anderem
vs.
versus
Vorwort von Silvia Käppeli
Die Anzahl chronisch kranker Menschen, die nicht nur erwägen, mittels assistierten Suizids aus dem Leben zu scheiden, sondern dies auch tun, steigt nicht nur in der Schweiz. In ähnlichem Maß scheint die Orientierungs- und Ratlosigkeit derjenigen Beratungsgremien und Entscheidungsträger zuzunehmen, die sich zum Teil seit Jahren um eine »Lösung« dieses emotionsbeladenen gesellschaftlichen Phänomens bemühen. Sie können sich nur auf wenige und wenig überzeugende Fachartikel und Forschungsergebnisse stützen. Mit der vorliegenden Publikation ändert sich dies. Dr. Alexandra Bernhart-Justs außerordentlich gründliche wissenschaftliche Untersuchung von Entscheidungsprozessen, die chronisch kranke Menschen dazu führen, diesen unumkehrbaren Schritt zu realisieren oder aber trotz unerträglichem Leiden darauf zu verzichten, füllt eine wichtige Forschungslücke. Die Autorin führte zwischen 2003 und 2009 narrative Interviews mit 30 volljährigen, chronisch kranken Menschen, mit Angehörigen von durch Suizidbeihilfe Verstorbenen und mit Mitarbeitern einer Suizidbeihilfeorganisation und erfasste ein breites Spektrum an Informationen aus erster Hand. Diese zeigen, dass zu den komplexen Konstellationen, die chronisch kranke Menschen letztlich zu einem positiven oder negativen Entscheid führen, nicht nur die Krankheit oder das Leiden an sich gehören, sondern das Erleben einer bestimmten dadurch bedingten Daseinsweise. Eine weitere Frage ist, ob die Betroffenen sich vorstellen können, absehbare Verschlechterungen ihrer gegenwärtigen Lebenssituation ertragen zu können, und ob sie dies (wagen) wollen. Vieles hängt davon ab, ob sie nach Jahren des Leidens in einer späten Phase ihrer Krankheit noch genügend Kraft haben, den dazu notwendigen Lebenswillen aufzubringen. Die vorliegende Studie illustriert auf eindrückliche Weise, wie es dazu kommen kann, dass chronisch kranke Menschen der fortschreitenden Einbrüche der körperlichen Fähigkeiten, der Verluste von sozialen Rollen und der damit einhergehenden zunehmenden Abhängigkeit, Vereinsamung, Trauer und anderer, u. U. als entwürdigend erlebter Begleiterscheinungen müde sind, und dass Sterben nicht das Schlimmste sein muss, was ihnen ge-
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Vorwort von Silvia Käppeli
schehen kann. Ein wichtiges Fazit aus solchen Erkenntnissen ist, dass sich Menschen, die erwägen, mittels assistierten Suizids aus dem Leben zu scheiden, in einer verletzlichen Situation befinden und eigentlich gerne weiterleben würden, wenn ihre Krankheit, ihre Lebenskraft, ihr soziales Umfeld ihnen dies ermöglichen würde und wenn sie die dazu notwendige Versorgung und Betreuung auf eine Weise erhielten, die ihren subjektiven Bedürfnissen und Präferenzen entspricht. Dank der reichen Information aus erster Hand bergen die Ergebnisse dieser Studie einerseits großes Potenzial für eine Verbesserung der Situation chronisch kranker Menschen, die ihre Leiden nur noch schwer ertragen können. Anderseits tragen sie bei zur Verbesserung des Verständnisses von Außenstehenden für Menschen, deren innere Autonomie ihnen erlaubt, einen solchen Entscheid zu verwirklichen. Die in diesem Buch publizierten detaillierten Forschungsergebnisse klären viele verbreitete Missverständnisse auf, wie z. B., dass Palliative Care in jedem Fall eine Alternative zum assistierten Suizid oder dass assistierter Suizid eine Kurzschlusshandlung sei. Der größere Teil der Mitglieder von Vereinigungen, die assistierten Suizid ermöglichen, trägt sich Jahre oder Jahrzehnte mit dem Gedanken an diese Möglichkeit. Ohne persönlich Stellung zu nehmen für oder gegen assistierten Suizid, schließt die Autorin ihre Untersuchung ab mit Handlungsempfehlungen für Institutionen und Fachleute im Gesundheitswesen, für die Gesundheitspolitik und v. a. auch für den Gesetzgeber und die Gesellschaft als Ganzes. Wettswil am Albis, im Juli 2014
Dr. habil. Silvia Käppeli, PhD, RN
Vorwort von Hartmut Remmers
Bemerkungen zur historischen Anthropologie und Ethik einer Befreiung von unerträglichem, entwürdigendem Leid Die von Alexandra Bernhart-Just vorgelegte Studie zu sehr vielschichtigen, heterogenen Beweggründen körperlich chronisch kranker Menschen, ihr Leben trotz starken Leidens nicht beenden zu wollen, während andere den Wunsch haben, ihren absehbaren Tod nicht nur zu beschleunigen, sondern aktiv herbeizuführen – diese Studie kommt zur rechten Zeit. Denn sie bringt Licht in die innere Verfassung, die tiefsitzenden Gefühle, Hoffnungen und Desillusionierungen von Menschen, die angesichts ihres Leidens für sie fundamentalen Entscheidungsfragen immer weniger ausweichen können. Zur rechten Zeit kommt die im schweizerischen Kontext entstandene Studie auch deshalb, weil sich in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig ein Trend anzukündigen scheint, gesinnungsethischen, teils standespolitisch sekundierten Haltungen ein größeres Gewicht beizumessen als verfassungsrechtlich abgesicherten, weltanschauungsneutralen Garantien des Persönlichkeitsschutzes, welche das Recht auf Selbstverfügung einschließen. Allerdings geben grundrechtliche Garantien noch keine Antworten darauf, wie mit den Anliegen, Bedürfnissen, Wünschen eines durch Krankheit, Leiden und Gebrechen gezeichneten Menschen in concreto umzugehen ist. Dies mag eine ethisch im Einzelnen zu klärende Frage sein. Der kranke, leidende Mensch gehört zur Gruppe derer, die in unserer Gesellschaft als besonders schutzbedürftig gelten. Man muss sich aber auch darüber im Klaren sein, dass eine Kultur der Fürsorge stets einen über menschliche Vernichtungsbereitschaft gelegten dünnen Firnis darstellt. Und ebenso sollte man sich darüber im Klaren sein, dass der leidende Mensch in einer Gesellschaft, deren kulturstiftender Mythos jener eines unbegrenzten Könnens und eines darauf gründenden unaufhaltsamen Fortschritts ist, als das Skandalon empfunden wird. Gewiss hat die moderne Medizin, um nur ein Beispiel zu nennen, großartige
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Vorwort von Hartmut Remmers
Erfolge in der Dimension technischen Könnens, der Behandlung kranker, besonders auch schwerkranker Menschen vorweisen können. Allerdings nährt sie auch Hoffnungen, an die sich teilweise groteske Erwartungen heften: nicht nur, als ließe sich durch immer bessere Prävention (Lebensstil, Vermeidung toxischer Einflüsse etc.) die Entstehung von Krankheiten beliebig hinausschieben; als könne durch immer bessere molekularbiologische und genetische Einsichten in Lebensprozesse Krankheit verhindert, schließlich auch Altern als Risikofaktor für die Entstehung von Krankheiten komplett beeinflusst werden (AntiAging). Bezeichnenderweise finden wir hier eine Sichtweise von Lebensprozessen vor, die durch zeitliche Linearität und Gleichförmigkeit gekennzeichnet ist. Eine originär biologische Sicht- und Denkweise ist dies aber nicht, sondern eine, die durch historisch-kulturell beeinflusste Vorstellungen von Zeitlichkeit geprägt ist. Durchschlagende Wirkungen erzielten vor allem an technisch-medizinische Fortschritte geknüpfte Utopien erst in der frühen Neuzeit mit dem Versprechen, menschliche Leiden nicht nur verringern, sondern auch beseitigen zu können. Recht besehen, handelt es sich hierbei um säkulare Gestalten ursprünglich religiöser, nunmehr innerweltlich transponierter heilsgeschichtlicher Erwartungen. Nicht zuletzt Hegel scheint dieses Säkularisationsschema ursprünglich heilsreligiöser Erwartungen geschichtsphilosophisch als »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« überdehnt zu haben. Allerdings trägt seit der frühen Neuzeit »Fortschritt« einen bereits von Hegel kritisierten technizistischen Zug; macht sich eine Priorisierung des Denkens in Kategorien der Machbarkeit respektive Herstellbarkeit geltend, ohne Rückkoppelung an einen lebensweltlichen Horizont und einer darin verankerten Sinnhaftigkeit des so oder so technisch aufrechterhaltenen oder verbesserten Lebens. Die eigendynamische Verselbstständigung künstlicher Daseinsbedingungen ist ein Charakteristikum unserer modernen Welt. Auf der Grundlage neuester Einsichten in Vorgänge der Natur (naturwissenschaftliche Wende seit der Renaissance) hat sich die moderne Medizin zusehends gegenüber (naturwissenschaftlich gestützten) technomorphen therapeutischen Verfahrensweisen (nunmehr als moderne Datenverarbeitungsprofession) geöffnet. Vor allem auf dieser Ebene avanciert sie zu einer Daseinsmacht sui generis, zu einer Instanz, an welche sich Utopien eines von Leid befreiten Lebens des Menschen heften. Die Folge solcher Utopien muss nicht zwangsläufig darin bestehen, dass ein Leben unter – gelegentlich sogar schmerzvollen – Einschränkungen nicht mehr als ein subjektiv wertvolles Leben empfunden wird. Es gibt allerdings Hinweise, dass in dem Maße, in dem in Gesellschaft und Kultur sich der utopische Horizont guten Lebens auf pure Leidfreiheit verengt und in solcher Weise die Alltagsorientierungen von Menschen bestimmt, Erfahrungen unvermeidlichen Leids umso weniger bewältigt werden können. Eine Reaktionsweise ist nicht nur die,
Bemerkungen zur historischen Anthropologie und Ethik
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schmerzvollen Konfrontationen quasi reflexhaft auszuweichen. Es könnte auch sein, dass mit abnehmender Leidenstoleranz gleichzeitig die (kurzschlüssige) Bereitschaft zur Selbstauslöschung wächst. Inwieweit zwischen verringerter Leidenstoleranz und wachsender Todesbereitschaft korrelative Beziehungen bestehen, ist letztlich unbestimmt. Überhaupt sind Einstellungen gegenüber dem Tod in unserer Gesellschaft als ein gesondertes Thema zu behandeln. Zu einem von den Systembedingungen her auf ökonomisches Wachstum und technischen Fortschritt programmierten optimistischen Bild gesellschaftlichen Lebens passen mit Altern und Krankheit häufig sich manifestierende Leidensphänomene wie beispielsweise (starke) körperliche Beschwerden, kognitive Einbußen, aber auch seelische Nöte nicht. Vorstellungen und Erfahrungen des Leidens stören einen soziokulturell affirmativen Konsens, der allerdings im Falle unvermeidbarer Krisenerfahrungen partiell zerbricht. Eine Krisis zeigt sich beispielsweise darin, dass sich irreduzible, mit menschlichem Leben per se verknüpfte, von unterschiedlichen Sozialformen weitgehend unabhängige Leidenserfahrungen nicht beliebig exteriorisieren und auf diese Weise neutralisieren lassen. Aufgrund seiner überkommenen Verfasstheit hat sich das Medizinsystem gegenüber solchen Erfahrungen zwar immunisieren können, sie verschaffen sich deshalb beispielsweise mit dem Ausbau einer Palliative Care aber umso mehr Gehör. Doch auch diese Anstrengungen eigens auf Minderung umfassenden Leids ausgerichteter Einrichtungen und Organisationen scheinen einer eigentümlichen Dialektik zu unterliegen, die mit dem Supremat des etablierten Medizinsystems und seiner ihm innewohnenden systemischen Zwänge zusammenhängt – nicht zuletzt mit ihren utopischen Versprechen der Machbarkeit auch dort, wo die Versprechen der Heilbarkeit nichtig werden. Vor allem mit der Hospizkultur wurde der Anspruch erhoben, einen Schutz gegenüber grenzenlosen therapeutischen Heileingriffen zu bieten. Allerdings mehren sich Anzeichen einer die palliative Kultur zusehends »kolonialisierenden« Hochleistungsmedizin, und zwar mit dem Versprechen, auch für das krankheitsbedingte Leiden am Lebensende eine technisch in jedem Falle wirksame, beispielsweise schmerztherapeutisch sichere Lösung anbieten zu können. Damit verengt sich die Perspektive tendenziell auf den utopisch fragwürdigen Horizont eines jegliches Leid beseitigenden technischen Fortschritts. So zu argumentieren, provoziert freilich Missverständnisse. Klargestellt werden sollte daher, dass die utopische Perspektive eines kraft technischen Fortschritts zu erzielenden schmerzlosen Lebens einem aus anthropologischen Gründen tief verankerten Streben des Menschen zu entsprechen scheint. Und auch in historischer Betrachtung gehören Wünsche nach Leidensfreiheit unzweifelhaft zu den Antriebskräften eines mit der europäischen Aufklärungsbewegung fest verschmolzenen naturwissenschaftlich-technischen Apriori der
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Vorwort von Hartmut Remmers
Emanzipation von opaken, naturhaften Gewalten. Missverständnisse ergeben sich dann, wenn unterstellt werden könnte, dass utopiekritische Einstellungen ausnahmslos einem höheren, metaphysisch undurchsichtigen Rechtfertigungsinteresse menschlicher Leidenszustände dienen sollen. Demgegenüber können utopiekritische Einstellungen von völlig anderen Interessen geleitet sein: zum einen von einem herrschaftskritischen Interesse daran, inwieweit sich hinter Utopien eines schmerzfreien Lebens negative Utopien einer sich totalisierenden Herrschaft (falscher Propheten) verbergen; zum anderen von einem entwicklungspsychologischen, quasi evolutionstheoretischen Erkenntnisinteresse daran, inwieweit Leidenserfahrungen einen irreduziblen Bestandteil der sozialen Entwicklung und persönlichen Ausdifferenzierung menschlichen Lebens (Individuation) bilden; kurzum: inwieweit sie eine unaufgebbare Bedingung lebensgeschichtlicher wie auch sozialer Lernprozesse sind. Bereits der griechischen Antike war dieser Erfahrungszusammenhang von Leiden und Lernen vertraut: pathemata mathemata lautete die Einsicht Herodots. Dieser Realismus darf allerdings mit einer in jeder Hinsicht inakzeptablen Heroisierung des Leidens nicht verwechselt werden. Es sollte bedacht werden, dass die Akzeptanz von Leiden von seiner Dauerhaftigkeit, Irreversibilität und vor allem davon abhängt, inwieweit es für das Erreichen bestimmter, sehr hoch bewerteter, mit großer Wahrscheinlichkeit persistierender Ziele in Kauf genommen werden kann. Anders lässt sich ein lebensgeschichtlicher »Bildungswert« des Leidens überhaupt nicht verständlich machen. Eine realistische Einstellung gegenüber menschlichem Leid bewahrt vor jenem blinden Vertrauen in technisch-medizinischen Fortschritt, der nicht selten Allmachtsphantasien erzeugte. Dagegen sind Dämpfungseffekte von einer skeptischen Haltung zu erwarten, eingebettet in philosophische Diskussionen um einen Fortschritt, der sich deskriptiv-evaluativ als ein Wandel im Verhältnis des Menschen zu sich selbst als Person (auch als homo patiens) verständlich machen lässt, und zwar auf zwei Ebenen: zum einen als ein Wandel in den ethischen Selbstverhältnissen des Menschen, zum anderen als ein – auf dem Hintergrund eines gesellschafts-, insbesondere rechtsgeschichtlichen Fortschritts zu verzeichnender – Wandel reziproker Schutzgarantien durch Kodifizierung universaler Menschen- und damit Persönlichkeitsrechte. Im Bewusstsein grundrechtlich verbürgter Ansprüche der Person auf Integrität, ihre Unverfügbarkeit für andere, hat die Diskussion um die Rechtmäßigkeit medizinischer Heileingriffe eine ganz neue Bedeutung erfahren. Dabei geht es nicht mehr nur um die Zustimmungspflichtigkeit jeglicher Art von Heileingriffen, mit denen die Unantastbarkeit personaler, körperlicher sowie geistig-seelischer Integrität stets irgendwie auf dem Spiel steht. Vielmehr geht es auch darum, welche Ansprüche leidende Personen gegenüber jenen eigens dafür fachlich
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geschulten und gesellschaftlich lizensierten Akteuren besitzen, Leiden zu mindern, bestenfalls unerträgliches Leiden zu beseitigen. Unzweideutige Hilfspflichten auf der einen Seite, schlechte utopische Versprechen einer leidensfreien Gesellschaft auf der anderen Seite erweisen sich als höchst widersprüchliche Orientierungspunkte. Sie erschweren den Umgang mit Hilfsbedürftigen im Hinblick auf emotionale/motivationale Antriebsressourcen und sie belasten das ohnehin durch Ambiguitäten charakterisierte Verhältnis zum leidenden Menschen. Denn recht besehen lassen sich technizistisch verkürzte Utopien der Leidensfreiheit zum einen – aus einer kritischen medizinsoziologischen Perspektive – als Vexierbild eines hypertrophierten Machtanspruchs, zum anderen – beispielsweise aus der Perspektive einer daseinsanalytischen Psychopathologie (etwa Medard Boss) – als Ausdruck unbewältigter existenzieller Ängste entschleiern; mithin als Reaktionsbildungen, denen möglicherweise ein Sinnlosigkeitsverdacht bislang ungelebten Lebens zugrunde liegt. Anders verhält es sich aus der Perspektive einer philosophischen Ethik, welche sich in politischen Theorien der frühen Neuzeit artikulierte Ansprüche der Vermeidung und Bekämpfung sinnlosen Leids zu eigen macht. Bei Thomas Hobbes zum Beispiel lautete das Gebot zunächst, alles zu tun, um einen vorzeitigen gewaltsamen Tod zu vermeiden. In Anknüpfung an diesen naturrechtlichen Begründungszusammenhang galt es hinfort als legitim und erstrebenswert, im Zeichen wissenschaftlich-technischen Fortschritts jene Spielräume auszudehnen, innerhalb derer Leidenszustände beherrschbar sind. Aufgrund jenes technischen Apriori wurden Distinktionen zwischen gesellschaftlich zugefügtem und biologisch verursachtem Leid zunehmend unscharf. Gleichwohl darf nicht verkannt werden, dass technische Zivilisationen der Moderne auch jene Voraussetzungen schaffen, unter denen personale Autonomie, zum Beispiel als Recht, über sich zu verfügen, geltend gemacht werden kann und damit ebenso Definitionsspielräume eines gelingenden Lebens erweitert werden (Ernst Tugendhat). Nun mögen auf den ersten Blick jene Leidensschicksale, auf die Alexandra Bernhart-Just in ihrer sehr präzisen, auf Tiefenschärfe bedachten Untersuchung ihr Augenmerk richtet, Hoffnungen auf ein gelingendes Leben dementieren. Dies aber könnte ein Trugschluss sein. Denn auch Entscheidungen gegen ein Weiterleben unter irreversiblen Bedingungen subjektiv nicht mehr hinzunehmenden Leidens können Ausdruck einer verbliebenen Souveränität sein; oder anders in Anlehnung an Helmuth Plessner ausgedrückt: einer auch dem gepeinigten Menschen verbliebenen Macht, den letzten Trumpf auszuspielen. Die kontextuellen Voraussetzungen, unter denen Alexandra Bernhart-Just die Entscheidungsprozesse leidender Menschen mikrologisch rekonstruiert, sind die strafrechtlich geregelten Situationen, in denen sterbewillige Menschen sich Hilfe
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bei Dritten suchen dürfen, ohne dass diese sich zu bloßen Erfüllungsgehilfen machen. Die gesetzlichen Regelungen der Schweiz sind Ausdruck jener ethischen Positionen, in denen die Entscheidungssouveränität auch eines schwerstleidenden Menschen unterstellt wird. Sie zu unterstellen, ergibt sich konsequenzlogisch aus der normativen Prämisse eines allen Menschen zuzurechnenden Selbstbestimmungsrechts. Dieses Recht tastet Alexandra BernhartJust nicht an. Ihr Interesse ist vielmehr ein empirisches, indem sie den Verwicklungen, den innerseelischen Konflikten und den Widersprüchlichkeiten derer, die in der Entscheidung stehen, akribisch nachspürt. Diese Zerrissenheiten deutlich zu machen, kann als eine Bereicherung, in manchen Aspekten aber auch als ein Korrektiv avancierter ethischer Positionen betrachtet werden. Wie verhält es sich damit? Zahlreichen ethischen Positionen zur Legitimität von Wünschen zufolge kann der Wunsch eines leidenden Individuums nach Beendigung seines Lebens als berechtigt dann gelten, wenn keine Dritten auf diesen Wunsch Einfluss genommen haben. Allerdings müssen auf einer anderen Handlungsebene zu erwartende Konsequenzen ebenso gewürdigt werden, zum Beispiel das dadurch möglicherweise erzeugte Leid nahestehender Personen. Aus Perspektive einer philosophischen Ethik haben beispielsweise Ludwig Siep und Michael Quante nachdrücklich darauf hingewiesen, dass ein rechtfertigender Umgang mit Wünschen, zu sterben, keineswegs Bemühungen entgegensteht, solche Wünsche durch einen humanen Umgang mit dem Leidenden oder Sterbenden erst gar nicht aufkommen zu lassen. Doch auch bei bester medizinisch-pflegerischer Versorgung kann es Situationen geben, in denen Leiden unerträglich wird und bei nicht mehr ausreichender Möglichkeit der Milderung dieses Leidens der Wunsch nach Lebensbeendigung entsteht. Wie mit diesem Wunsch praktisch umgegangen werden kann, ist eine Frage, auf die prinzipielle ethische Überlegungen eine Antwort zu geben suchen, bei deren Verallgemeinerungsfähigkeit allerdings in einem säkularen Staat von weltanschauungsneutralen Grundsatzüberlegungen auszugehen ist. Es wird deshalb z. B. Menschen ein in freiheitlicher Tradition verankertes Recht auf Selbstverfügung aus religiösen Gründen nicht abgesprochen werden dürfen. Es kann weder eine Verpflichtung auf heroischen Altruismus noch auf Hinnahme eines natürlichen, gegenüber allen medizinisch-therapeutischen Eingriffen abgeschirmten Sterbeprozesses geben. Es sind Leidenszustände möglich, die als entwürdigend empfunden werden. Es ist daher auch daran zu erinnern, dass die grundrechtlich geschützte Würde gleichermaßen ein Schutzrecht und ein Abwehrrecht ist gegenüber manifestem und sublimem Zwang, einem Menschen etwas gegen seinen Willen ansinnen zu wollen. Abgesehen von strafrechtlich liberalen Regelungen wird der assistierte Suizid ethisch kontrovers diskutiert. Dabei sollte man sich klarmachen, dass bereits die
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Beschreibung eines ethischen Problems von den moralischen Überzeugungen dessen, der es beschreibt, abhängig ist. Gerne wird in der Darstellung ethischer Probleme zwischen deskriptiv-kausalen und intentionalen Handlungsaspekten unterschieden. Dabei zeigt sich schon bei Handlungen, die als Unterlassungen (zum Beispiel dem Tod seinen Lauf lassen) beschrieben werden können, dass trennscharfe Unterscheidungen jener Aspekte nicht möglich sind. Bezieht sich das Urteil auf Handlungsfolgen, so wird auch hier, wie beispielsweise Dieter Birnbacher gezeigt hat, weder unter deskriptiven noch unter prinzipiellen Gesichtspunkten zwischen Tun und Unterlassen klar unterschieden werden können. Aus verschiedenen Gründen sollten vorrangig Gesamtziele einer Handlung und nicht Teilabsichten ethisch bewertet werden. Denn Unterscheidungen zwischen »Beabsichtigen« und »Inkaufnehmen« sind nicht für die Begründung ethischer Differenzen geeignet. Auch wenn der Wunsch, vom Weiterleben befreit zu werden, in bestimmten Fällen legitim sein kann, so werden sich daraus Rechtsansprüche nicht ohne weiteres ableiten lassen. Dies gilt vor allem aufgrund möglicherweise konkurrierender Werte. Entscheidend allerdings ist bei der Bewertung von Wünschen, dass die Perspektive jener Personen eingenommen wird, welche Wünsche und dahinter sich verbergende Werte artikulieren. Ludwig Siep hat den wichtigen Hinweis gegeben, dass viele der hier angesprochenen Fragen der Sterbehilfe unter prinzipiellen Erwägungen allein nicht beantwortet werden können, dass sie vielmehr in einer Vielzahl unterschiedlichster Fälle einer situationsethischen Lösung bedürfen. Dazu bedarf es eines situativen Verständnisses, zum dem die hier vorgelegte Untersuchung von Alexandra Bernhart-Just in bemerkenswerter Weise beiträgt. Einmalig ist die Studie von Alexandra Bernhart-Just insofern, als sie meines Wissens zum ersten Male in der Schweiz bei schwer chronisch kranken Menschen die inneren, sehr vielschichtigen, niemals eindeutig feststehenden, zum Teil sehr widersprüchlichen Beweggründe exploriert, ihr Leiden auf sich zu nehmen oder im Falle eines als unerträglich empfundenen Leidenszustands ihr Leben beenden zu wollen und Hilfe bei diesem Schritt zu suchen. Dabei geht es ihr um das subjektive Erleben der betroffenen Personen, deren Stimme bislang in der wissenschaftlichen Literatur wenig vernommen wurde. Alexandra Bernhart-Just stellt die rechtlichen Regelungstatsachen einer straffreien (ärztlichen) Suizidbeihilfe in der Schweiz nicht infrage, ihr ist auch nicht daran gelegen, diese menschliche Optionsmöglichkeit unter ethischen Gesichtspunkten aufs Neue zu diskutieren. Ihr geht es vielmehr um eine empirisch abgesicherte Sicht auf typische Problemkonstellationen. Wie gehen Pflegende mit dieser Problematik um? Wie sieht der Umgang mit Menschen aus, die bekunden, dass sie nicht mehr weiterleben, dass sie ihr Leben aufgrund schweren physischen Leids beenden möchten? Professionell Pflegende
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Vorwort von Hartmut Remmers
können das als eine Kränkung empfinden, als einen indirekten Schuldvorwurf, nicht genügend getan zu haben. Auch aus diesem Grunde möchte die Studie zu einem »besseren Verständnis des subjektiven Erlebens und der Beweggründe Kranker beitragen« (S. 43). Das Bemerkenswerte ist dabei, dass diese Menschen verständlicherweise Konflikte in sich austragen, ob und inwieweit sie mit sich erschwerenden Bedingungen zurechtkommen können/wollen oder den Tod wünschen. Es gibt deutliche Hinweise von Patienten darauf, in bestimmten Situationen Ärzte über sich deutlich ankündigende biologische Veränderungen zu täuschen, um sich Möglichkeiten offenzuhalten, »plötzlich sterben zu können« (S. 325). Das aufbereitete empirische Material erlaubt es Alexandra BernhartJust aber auch, »Alternativen zur Beendigung des Daseins aufzuzeigen« (S. 43). Dennoch besagt ein Ergebnis dieser als multifaktorielle Daseinsanalyse angelegten Studie, dass sich Menschen auch bei medizinisch hochwertigen palliativen Versorgungsmaßnahmen »für einen Ausstieg aus dem Leben entscheiden« (S. 44). In dieser Hinsicht kommt die Autorin zu ähnlichen Ergebnissen wie andere internationale Studien, in denen Menschen mit dem Wunsch, den eigenen Tod zu beschleunigen, untersucht wurden. Damit stellt sich schließlich die Frage, ob Anstrengungen einer positiven Bewältigung schwerer chronischer Krankheit als etwas Selbstverständliches betrachtet werden müssen oder ob nicht ebenso ein unzweifelhaftes Recht auf unwiderruflichen Verzicht, jene von Goethe am Ende seines Lebens beschworene Entsagung (resignatio) anzuerkennen ist. Es erscheint keineswegs abwegig, unter entwürdigenden Leidensumständen den Wunsch, den Tod zu beschleunigen, als Ausdruck einer letzten Kontrolle des eigenen Lebens zu betrachten (S. 360). Auf eine sehr genaue Unterscheidung zwischen gesellschaftlich zugefügtem und biologisch verursachtem Leid ist größter Wert zu legen. Es werden deshalb Anstrengungen erforderlich sein, jenen gewissermaßen in die Lebensgeschichte von Menschen eingebrannten, subjektiven Gründen für einen »Absprung« (Jean Am¦ry) aus dem Leben weitestgehend den Boden zu entziehen. Alles Weitere muss der höchst persönlichen »Freiheit von etwas«, was nur noch als unerträgliche Last und Bürde empfunden wird, überantwortet werden. Dies gebietet der Respekt vor personalem Sein, das gleichzeitig inter-esse und ex-sistere ist. Vielleicht wird dadurch auch die schwere Melancholie, die in einem der letzten großen Gedichte Heinrich Heines (»Ruhelechzend«) dominiert, gemildert. »O Grab, du bist das Paradies Für pöbelscheue, zarte Ohren – Der Tod ist gut, doch besser wär’s, Die Mutter hätt uns nie geboren.«
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Wir freuen uns, die überaus wertvolle Studie von Alexandra Bernhart-Just in unsere Schriftenreihe aufnehmen zu können, und wünschen diesem Band eine große Resonanz. Osnabrück, im Juli 2014
Hartmut Remmers
Danksagung
Diese Dissertation wurde am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Witten Herdecke in Deutschland erstellt. Die Durchführung des Dissertationsprojekts erfolgte aufgrund der Lebensumstände der Autorin und dem Forschungsgegenstand allerdings in der Deutschschweiz. Rückblickend spreche ich allen Menschen meinen Dank aus, die auf irgendeine Art und Weise dazu beigetragen haben, diese Dissertation zu realisieren. Mein größter Dank gilt den chronisch kranken Menschen, ohne die diese Untersuchung nicht möglich gewesen wäre. Sie gewährten mir einen Einblick in ihre subjektiven Daseinswelten im Kontext ihrer chronischen Erkrankung und vertrauten mir ihre Erfahrungen und Überlegungen hinsichtlich ihrer Entscheidung darüber, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen, an. Gleiches gilt auch für die Angehörigen der durch Suizidbeihilfe Verstorbenen und für die Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation Exit, die mit mir sprachen, sowie für die Gatekeeper in den beteiligten Institutionen. Besonderer Dank gilt auch meinem wissenschaftlichen Erstbetreuer Prof. Dr. David Aldridge und meiner wissenschaftlichen Zweitbetreuerin PD Dr. Dr. Silvia Käppeli, die mich über die Zeit der Durchführung dieses Dissertationsprojektes unterstützt und begleitet haben. Auch Herrn Prof. Dr. Wilfried Schnepp, der als Drittbetreuer innerhalb meines Promotionskomitees fungierte, spreche ich meinen Dank für seine wertvollen Hinweise zur Fertigstellung der Dissertation aus. Dem Käthe-Zingg-Schwichtenberg Fonds der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) danke ich für die finanzielle Unterstützung zur Durchführung der Forschung. Ein herzliches Dankeschön sage ich auch all denen aus meinem privaten und beruflichen Umfeld, die mir über die Jahre der Fertigstellung der Dissertation zur Seite gestanden sind.
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Einleitung
Es war ein sonniger Nachmittag im Jahre 2001, als ich einen Radiosprecher hörte, der über die Neuregelung des Zutritts von Suizidbeihilfeorganisationen in Stadtzürcher Alters- und Krankenheimen berichtete und mit Bewohnern1 eines Altersheimes über diese Thematik sprach. Dieselbe Neuregelung wurde noch im Jahre 2001 vom Zürcher Regierungsrat verabschiedet (Stadtrat Zürich, 2000). Die eingespielten Äußerungen der Interviewten riefen Erinnerungen an Patienten in mir hervor, die mir gegenüber während meiner Berufstätigkeit als Pflegende Gedanken äußerten, nicht mehr weiterleben zu wollen, und ihr Weiterleben infrage stellten. Ich fragte mich, woher das Interesse kommt, durch Suizidbeihilfe sterben zu können, und was die Beweggründe von Menschen sind, die in der Schweiz leben und erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, und dies auch tun. Diese Vorgeschichte gab den Anstoß für die vorliegende Forschung. Es interessierte mich, was Leidende in der Schweiz dazu bringt, nicht länger am Leben bleiben bzw. weiterleben zu wollen. Dabei ging es mir nicht um die Abwägung des Für und Wider der Suizidbeihilfe, sondern darum, das subjektive Erleben solcher Menschen zu erschließen und ihre Entscheidungsprozesse zu ergründen. Ich wollte die Stimmen dieser Menschen in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion über die Suizidbeihilfe stellen. Die vorliegende Untersuchung präsentiert die Ergebnisse bzw. eine substantive Theorie über die Prozesse physisch chronisch Kranker Menschen bei ihrer Entscheidung darüber, weiterleben oder sterben zu wollen. Um dem Leser einen Einblick in den Kontext der Untersuchung zu geben, wird zuerst auf allgemeine Entwicklungen im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten eingegangen. Daran anschließend werden untersuchungsrelevante Begrifflichkeiten wie die Sterbehilfe (Euthanasie), ärztlich assistierter Suizid (physician assisted suicide/PAS) sowie die Beihilfe zum Suizid erläutert und aufgezeigt, in 1 Für alle Personen wird die männliche Form gewählt, die immer auch für weibliche Angehörige der angesprochenen Population gilt, soweit nicht eine Spezifizierung der Geschlechter aus sachlichen Gründen erforderlich ist.
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Einleitung
welchen Ländern diese Formen der Lebensbeendigung gegenwärtig rechtlich erlaubt sind. Mit Blick auf den Untersuchungskontext »Schweiz« wird dargelegt, welche Suizidbeihilfeorganisationen existieren, welche Entwicklungen rund um die Palliative Care und die Suizidbeihilfe laufen und was die Gründe dafür sind, sich aus der Sicht der klinischen Pflege und der Pflegewissenschaft mit Leidenden zu befassen, die durch Suizidbeihilfe sterben wollen oder sich für das Weiterzuleben entscheiden.
1.1
Allgemeine Entwicklungen im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten
Wie andere Gesundheitssysteme ist auch das Schweizerische Gesundheitswesen mit der Hochaltrigkeit, der Zunahme chronisch Kranker, mit Multimorbidität und neuen Krankheiten konfrontiert. Ab dem Jugendalter häufen sich chronische Gesundheitsprobleme, was Versorgungsbedürfnisse aufseiten Kranker sowie deren Bezugspersonen auslöst, Fragen nach dem Umgang mit dem Umstand chronischen Krankseins aufwirft und die Gesundheitskosten steigen lässt (Meyer, Kickbusch, Weiss et al., 2009). Unter dem Begriff chronische Krankheit verstehen Curtin & Lubkin (2002: S. 26) »[…]das irreversible Vorhandensein bzw. die Akkumulation oder dauerhafte Latenz von Krankheitszuständen oder Schädigungen […]«. Dieses Verständnis liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde, wenn die Rede von physisch chronisch Kranken ist. Zu den in Europa häufig vorkommenden chronischen Krankheiten gehören Herz- und Kreislauferkrankungen, Krebserkrankungen, Krankheiten des Verdauungssystems und der Atemwege, psychische entzündliche und degenerative Krankheiten sowie Krankheiten der Sinnesorgane (Weltgesundheitsorganisation, 2010). Chronisch Kranken erfahren diverse physische, emotionale und soziale Verluste. Neben Verlusten körperlicher Funktionen, Beziehungsverlusten, Verlusten der autonomen Lebensführung oder Verlusten in Bezug auf den eigenen Lebensentwurf kommt es zu Rollen- und Identitätsverlusten, Aktivitätsverlusten oder zu Einbußen an erfreulichen Emotionen (Ahlström, 2007). Die Erfahrung zeigt, dass etliche chronisch Kranke weiterleben wollen und dass sie um ihr Weiterleben kämpfen. Gegensätzlich dazu zeigen Erfahrungen mit unheilbar Kranken sowie wissenschaftliche Erkenntnisse, dass es allerdings auch chronisch Kranke gibt, die Gedanken entwickeln, nicht mehr weiterleben zu wollen, und deshalb suizidgefährdet sind (Robson, Scrutton, Wilkinson et al., 2010). Diverse Forschungen (siehe Kapitel 3) sowie die Ergebnisse der hier vorliegenden Untersuchung belegen darüber hinaus, dass sich unter physisch chronisch Kranken
Erklärungen zu untersuchungsrelevanten Begrifflichkeiten
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auch solche finden, die sich dafür interessieren, ihr Leben durch Suizidbeihilfe, ärztlich assistierten Suizid oder Sterbehilfe zu beenden.
1.2
Erklärungen zu untersuchungsrelevanten Begrifflichkeiten
Zum besseren Verständnis werden im Folgenden die Begriffe der Sterbehilfe, des ärztlich assistierten Suizids und der Beihilfe zum Suizid erklärt. Da es in dieser Untersuchung um die Beihilfe zum Suizid und nicht um die verschiedenen Formen der Sterbehilfe geht, erfolgt zu Letzteren keine Begriffsklärung. Die European Association for Palliative Care (EAPC) empfiehlt zur Klärung der Begriffe Sterbehilfe und ärztlich assistierter Suizid die in Abbildung 1 dargestellten Definitionen (Materstvedt, Clark, Ellershaw et al., 2003). – »Euthanasia is killing on request and is defined as a doctor intentionally killing a person by the administration of drugs, at that person’s voluntary and competent request.« (Materstvedt et al., 2003, S. 98). – »Physician-assisted suicide is defined as a doctor intentionally helping a person to commit suicide by providing drugs for self-administration, at that person’s voluntary and competent request.« (Materstvedt et al., 2003, S. 98). Abbildung 1: Begriffsdefinitionen zur Sterbehilfe und zum ärztlich assistiertem Suizid
In der Literatur sind nicht nur die obigen Begriffsbestimmungen zu finden, sondern weitere, sich voneinander unterscheidende Definitionen (siehe Abbildung 2). – »Der Begriff der Sterbehilfe bezeichnet Handlungen und Unterlassungen, welche in Kauf nehmen oder zum Ziel haben, möglicherweise oder sicher die Lebensspanne eines auf den Tod kranken Menschen zu verkürzen bzw. den Tod herbeizuführen.« (Bosshard, 2005, S.193). – »Euthanasia is a deliberate intervention or omission with the express intention of hastening or ending an individual’s life, to relieve intractable pain or suffering.« (Sanders & Chaloner, 2007, S. 42). Abbildung 2: Weitere Definitionen zur Sterbehilfe
Die obige Definition von Bosshard lässt die Interpretation zu, dass der Tod bei der Sterbehilfe quasi die unbeabsichtigte Folge eines Behandlungsverzichts oder eine Begleiterscheinung einer medizinisch palliativen Behandlung ist. In der Definition der Euthanasie von Sanders & Chaloner wird hingegen nicht auf den Tod eingegangen, sondern auf die beabsichtigte Lebensverkürzung im Kontext der Leidensbeendigung. Was unter der in der Schweiz praktizierten Beihilfe zum Suizid, auch Suizidbeihilfe genannt, verstanden wird und in der vorliegenden Untersuchung von Relevanz ist, verdeutlichen die aus dem Schweizer Kontext stammenden Begriffsdefinitionen in Abbildung 3.
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Einleitung
– »Beihilfe zum Suizid heißt, einem urteilsfähigen Menschen, der seinem Leben ein Ende setzen möchte, die dafür erforderlichen Mittel zu beschaffen. Bei Patienten in der Terminalphase unterscheidet sich Beihilfe zum Suizid von der aktiven (vom Patienten gewünschten) Sterbehilfe dadurch, dass der Patient fähig sein muss, sich das todbringende Mittel selbst an den Mund zu führen und zu schlucken (oder zu spritzen).« (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK, 2005, S. 1). – »Unter ärztlicher Beihilfe zum Suizid wird der Sachverhalt verstanden, dass ein Arzt einem Patienten eine tödliche Substanz verschreibt oder anderweitig zur Verfügung stellt mit dem Ziel, diesem die Selbsttötung zu ermöglichen.« (Bosshard, 2012, S. 183). Abbildung 3: Begriffsdefinitionen zur Beihilfe zum Suizid
Im Gegensatz zur Sterbehilfe ist den Definitionen zum ärztlich assistierten Suizid oder der Beihilfe zum Suizid zu entnehmen, dass Sterbewilligen in solchen Fällen von Ärzten ein Rezept für ein tödliches Substrat ausgestellt wird und Informationen zu dessen Verwendung bzw. über eine zum Tode führende Handlung vermittelt werden. Die Verabreichung des tödlichen Substrates muss durch den Sterbewilligen selbst erfolgen, das heißt, ohne Einwirkung von Außenstehenden. Im Unterschied zur Sterbehilfe führt beim ärztlich assistierten Suizid oder bei der Beihilfe zum Suizid somit der Sterbewillige die lebensbeendende Handlung selbst aus.
1.3
Länder, in denen Sterbehilfe, ärztlich assistierter Suizid und (ärztliche) Beihilfe zum Suizid legal sind
Zu den Ländern, in denen die Sterbehilfe sowie ärztlich assistierter Suizid unter Einhaltung bestimmter gesetzlicher Sorgfaltskriterien erlaubt sind und deshalb keine Strafverfolgung nach sich ziehen, zählen seit 2001 die Niederlande, seit 2002 Belgien und seit 2009 Luxemburg (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010). In der Schweiz ist die Beihilfe zum Suizid unter Erfüllung bestimmter Voraussetzungen straffrei (Schweizerisches Strafgesetzbuch, 1937). In den Vereinigten Staaten von Amerika ist seit 1997 im Bundesstaat Oregon und seit 2008 im Bundesstaat Washington unter bestimmten Bedingungen ausschließlich der ärztlich assistierte Suizid gesetzlich erlaubt (The Oregon Public Health Division, 2013; Washington State Legislature, 2008). Im Bundesstaat Montana gibt es weder verfassungsrechtlich ein Recht auf ärztlich assistierten Suizid noch existiert ein Gesetz oder ein richterliches Urteil, welches ärztlich assistierten Suizid verbietet. Es gibt allerdings den Fall Baxter vs. Montana aus dem Jahr 2008, wo eine Richterin aufgrund des verfassungsrechtlich zugesicherten Rechts auf individuelle Würde und dem verfassungsrechtlich zugesi-
Länder, in denen Sterbehilfe legal ist
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cherten Recht auf Schutz der Privatsphäre zu dem Schluss kommt, dass urteilsfähige terminal Kranke ein verfassungsrechtlich begründetes Recht besitzen, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen, und sich dabei der Hilfe eines Arztes bedienen dürfen (Montana First Judicial District Court Lewis and Clark County, 2008). Die gesetzlichen Bestimmungen und Verfahren, unter denen die Sterbehilfe und der ärztlich assistierte Suizid straffrei bleiben, sind in den zuvor genannten Ländern und amerikanischen Bundesstaaten unterschiedlich geregelt. In Ländern, in denen die Sterbehilfe oder der ärztlich assistierte Suizid zugelassen sind, zählt zu den rechtlichen Voraussetzungen häufig, dass der Patient volljährig oder ein emanzipierter Minderjähriger sein muss und sie oder er urteilsfähig, handlungsfähig und bei Bewusstsein ist (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008). Die Gesuche müssen freiwillig sein, ohne Druck von Außenstehenden zustande kommen, wohlüberlegt sein, wiederholt erfolgen und schriftlich formuliert werden (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010; The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008). Der Patient muss sich in einem medizinisch aussichtslosen Zustand befinden und ein durch eine ernsthafte, unheilbare Krankheit oder einen Unfall verursachtes anhaltendes, unerträglich physisches oder mentales Leiden aufweisen, welches nicht gelindert werden kann (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010; Washington State Legislature, 2008). In Oregon und Washington wird ausdrücklich eine terminale Krankheit vorausgesetzt, worunter eine unheilbare, irreversible Krankheit verstanden wird, die aller Voraussicht nach innerhalb von sechs Monaten zum Tode führt (The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008). Der Arzt muss den Patienten über den aktuellen medizinischen Gesundheitszustand, seine Prognose und Lebenserwartung informieren und mit dem Patienten über das Gesuch um Sterbehilfe, über therapeutische und palliative Möglichkeiten und deren Konsequenzen sprechen (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010; The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008). Dies schließt auch Informationen über mögliche Risiken und das zu erwartende Ergebnis bei Einnahme des tödlichen Substrats ein (The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008). Der involvierte Arzt muss mit dem Patienten zum Schluss kommen, dass für die Situation des Patienten keine annehmbare Alternative existiert, das Gesuch freiwillig erfolgt und dass das physische oder psychische Leiden beständig andauert (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦
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Einleitung
sociale, 2009; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010; The Oregon Public Health Division, 1994). Zudem muss der behandelnde Arzt einen anderen Arzt hinsichtlich der Feststellung der Unheilbarkeit der Krankheit seines Patienten und dessen Beweggründen für das Gesuch nach Sterbehilfe konsultieren (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010; The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008), wobei der konsultierte Arzt den Patienten ebenfalls untersuchen und von der Dauerhaftigkeit, Unveränderlichkeit und Unerträglichkeit des Leidens überzeugt sein muss. Auch das involvierte Pflegepersonal und die Vertrauenspersonen sind bei Einverständnis des Sterbewilligen über dessen Gesuch nach Lebensbeendigung zu informieren (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009). In Oregon und Washington muss sich der Sterbewillige die tödliche Substanz selbst verabreichen (The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008). Gegensätzlich dazu kann in Belgien und in den Niederlanden der Arzt die tödliche Substanz verabreichen (Kidd & Nys, 2002; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010). Nach der Durchführung der Suizidbeihilfe ist der jeweils involvierte Arzt dazu verpflichtet, einer Kontrollkommission bestimmte Dokumente vorzulegen, die der Prüfung der Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der vorgeschriebenen Prozesse dienen (Kidd & Nys, 2002; The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008). In Luxemburg kann im Voraus schriftlich verfügt werden, unter welchen Gegebenheiten ein Mensch Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchte (MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009). Weiterführende Informationen zu landesspezifischen gesetzlichen Bestimmungen rund um die Sterbehilfe und den ärztlich assistierten Suizid sind auf diesbezüglichen Webseiten zu finden.2 Die Bundesstaaten Oregon und Washington erfassen jährlich die Todesfälle, welche durch Sterbehilfe oder ärztlich assistierten Suizid erfolgten (siehe Abbildung 4). Die Analyse der aus den Jahresberichten stammenden Zahlen aus Oregon und Washington (siehe deathwithdignity.org, doh.wa.gov/dwda) zeigt hinsichtlich der Fälle ärztlich assistierten Suizids einen ansteigenden Trend.
2 Z. B. Oregon und Washington: deathwithdignity.org, doh.wa.gov/dwda/, Niederlande: government.nl, nvve.nl, Belgien: kuleuven.be, Luxemburg: sante.public.lu.
Länder, in denen Sterbehilfe legal ist
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Abbildung 4: Jährliche Todesfälle durch ärztlich assistierten Suizid in amerikanischen Bundesstaaten
Zu vergleichbaren Fällen in Montana, den Niederlanden und Belgien wurden bislang keine jährlichen fortlaufenden Verlaufsstatistiken publiziert. Zu Menschen, die in Luxemburg Sterbehilfe oder assistierten Suizid erwägen, darum ersuchen und ihn realisieren, wurden ebenfalls keine Statistiken gefunden, was vermutlich damit zusammenhängt, dass assistierter Suizid und Sterbehilfe in Luxemburg erst seit dem Jahr 2009 legalisiert sind (MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009). Allerdings geht aus dem ersten Bericht der zuständigen nationalen Kommission für Kontrolle und Evaluation des luxemburgischen Gesetzes über Euthanasie und assistierten Suizid hervor, dass zwischen den Jahren 2009 und 2010 fünf Menschen durch Sterbehilfe starben (Commission Nationale de Contrúle et d‹Evaluation de la loi du 16 mars 2009 sur l‹euthanasie et l‹assistance au suicide, 2011). Nicht zu erkennen ist, ob die Verstorbenen ausschließlich durch Euthanasie oder assistierten Suizid gestorben sind, da eine diesbezügliche Unterscheidung im entsprechenden Bericht nicht vorgenommen wurde. Bei den Verstorbenen handelt es sich um drei Frauen und zwei Männer, die unheilbar an Krebs litten, älter als 60 Jahre waren und im Krankenhaus oder zu Hause durch Euthanasie starben (Commission Nationale de Contrúle et d‹Evaluation de la loi du 16 mars 2009 sur l’euthanasie et l’assistance au suicide, 2011). Aus belgischen und niederländischen Forschungspublikationen, wie beispielsweise Smets, Bilsen, Cohen et al. (2010) oder Buiting, Van Delden, Onwuteaka-Philipsen et al. (2009), können zwar zu bestimmten Jahren statistische Angaben abgeleitet werden, die Daten erschweren aber aufgrund unterschiedlicher landesspezifischer Regelungen einen internationalen Vergleich und in manchen Publikationen ist nicht erkennbar, ob Fälle von Sterbehilfe und ärztlich assistiertem Suizid unterschieden wurden.
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1.4
Einleitung
Schweizerische Bestimmungen zur Beihilfe zum Suizid und Berichterstattungen im Zusammenhang mit der Suizidbeihilfe in der Schweiz
Im Folgenden werden vor dem Hintergrund des Untersuchungsgegenstandes, der Untersuchungspopulation und der landesspezifischen Eigenheiten der hier vorliegenden Untersuchung die gesetzliche Lage und die einzuhaltenden Bestimmungen bezüglich der Beihilfe zum Suizid in der Schweiz erläutert. Die Möglichkeit zur Beihilfe zum Suizid besteht in der Schweiz seit 1941 (Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, 2005) und resultiert aus Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (o. V., 2013, S. 50), welcher die Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord wie folgt regelt: »Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wurde, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.« Diese Rechtslage ermöglicht Schweizer Suizidbeihilfeorganisationen, in den Grenzen des Artikels 115 Beihilfe zum Suizid straffrei anzubieten. Die in der Deutschschweiz bekanntesten Suizidbeihilfeorganisationen sind Exit und Dignitas. Der Verein Exit Deutsche Schweiz existiert seit dem Jahr 1982 und setzt sich für ein selbstbestimmtes Leben und Sterben ein (Exit, 2010). Neben der Mitgliedschaft bietet Exit ihren ca. 65.000 Mitgliedern eine Exit-Patientenverfügung an und berät Interessierte diesbezüglich (Exit, 2010). Die Organisation bietet auch Rechtsschutzleistungen zur Durchsetzung von Patientenverfügungen sowie Beratung und Begleitung bei der Ausführung der Beihilfe zum Suizid durch Freitodbegleiter, auch Sterbehelfer genannt, an (siehe www.exit.ch). Neben Exit existiert seit dem Jahr 1998 der Verein Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben mit zirka 6500 Mitgliedern (siehe www.dignitas.ch). Dignitas bietet seinen Mitgliedern Begleitung, Unterstützung und Beratung rund um das Lebensende, wie zum Beispiel zur Dignitas-Patientenverfügung, zu den Rechten als Patient und zur Suizidbeihilfe, an (Dignitas, 2010). Dass die Suizidbeihilfe in der Schweiz nicht durch einen Arzt erfolgt, sondern durch private Suizidbeihilfeorganisationen, ist im Vergleich zu anderen Ländern einmalig. Dieser Umstand hängt damit zusammen, dass Beihilfe zum Suizid zu leisten nach Ansicht der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte sowie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften nicht zum ärztlichen Auftrag gehört (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), 2013; Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH, 2008). Entscheidet ein Arzt dennoch, einem solchen Gesuch nachzukommen und Suizidbeihilfe zu leisten, ist er für die Prüfung und Einhaltung der ihn betref-
Schweizerische Bestimmungen zur Beihilfe zum Suizid
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fenden und in Abbildung 5 dargestellten Voraussetzungen und Sorgfaltskriterien verantwortlich. – Der Sterbewillige ist urteilsfähig in Bezug auf seinen Entscheid, sein Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden. – Der Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, resultiert aus krankheitsbedingtem unerträglichem Leiden und nicht aus einer vorübergehenden Krise oder einer psychischen Erkrankung oder Störung. – Der Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, erfolgt mit Bedacht, ohne Druck von Außenstehenden und ist dauerhaft (Bilanzsuizid). – Der krankheitsbedingte Zustand des Sterbewilligen begründet die Annahme, dass das Lebensende des Sterbewilligen nahe ist. – Eine unabhängige Drittperson kommt zum gleichen Schluss. – Der Arzt hat alternative Optionen abgeklärt, diese mit dem Sterbewilligen besprochen und auf dessen Wunsch getestet. – Der Arzt und der Sterbewillige haben miteinander diverse persönliche Gespräche geführt. – Bei Sterbewilligen, die eine psychische Erkrankung oder Störung aufweisen, sind hinsichtlich der Suizidbeihilfe Zurückhaltung sowie ein psychiatrisches Gutachten durch einen diesbezüglich fachkompetenten konsiliarischen Arzt gefragt. – Es ist erwünscht, dass der behandelnde Arzt sowie Familienangehörige des Sterbewilligen in das Prozedere rund um die Suizidbeihilfe einbezogen werden. – Für die Abgabe des tödlichen Substrates (Natrium-Pentobarbital) sind eine exakte medizinische Diagnose, eine Indikation, ein Aufklärungsgespräch sowie ein vom Arzt ausgestelltes Rezept erforderlich. – Der Arzt, der das Rezept für das tödliche Substrat ausstellt, ist nicht der gleiche behandelnde Arzt, der auch die Urteilsfähigkeit feststellt. – Der Sterbewillige führt die zum Tode führende »letzte« Handlung selbst aus. – Der Tod durch Suizidbeihilfe gilt als außergewöhnlicher Todesfall und ist der Polizei zu melden. – Personen, die Beihilfe zum Suizid leisten, kann nicht nachgewiesen werden, dass sie aus selbstsüchtigen Beweggründen handeln. – (Bosshard, 2012; Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, 2006; Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW, 2008; Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW, 2012; Schweizerisches Bundesgericht, 2006; Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH, 2008) Abbildung 5: Zu prüfende und zu erfüllende Kriterien betreffend die Suizidbeihilfe in der Schweiz
Das Erfordernis, dass der Sterbewillige den letzten lebensbeendenden Schritt ohne Einwirken eines anderen praktisch selbst vollziehen muss, bedingt von Sterbewilligen zwingend gewisse physische Funktionen und Fähigkeiten (z. B. gewisse Grob- oder Feinmotorik). Eine weitere Besonderheit in der Schweiz ist, dass Artikel 115 des Strafgesetzbuches (o. V., 2013) sowie die Rechtsprechung des Bundesgerichtes bezüglich der Beihilfe zum Suizid laut Urteil vom 23. 11. 2006 (Schweizerisches Bundesgericht, 2006) hinsichtlich der Art der Krankheit (z. B. physisch oder psychisch), der Krankheitsphase (z. B. präterminal, terminal) und des Zeitpunktes (z. B. eine voraussichtliche verbleibende Lebensdauer
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Einleitung
von < 6 Monaten) keine Vorgaben macht. Das Bundesgericht reagiert aber bezüglich der Abgabe des tödlichen Substrates an psychisch kranke Sterbewillige mit Zurückhaltung und fordert ein fundiertes psychiatrisches Fachgutachten (Schweizerisches Bundesgericht, 2006). Gemäß dem erwähnten Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts hat jeder Mensch, gestützt auf die Bundesverfassung und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, grundsätzlich das Recht, über die Art und den Zeitpunkt der Beendigung seines Lebens selbst zu entscheiden, vorausgesetzt, er ist urteilsfähig (Schweizerisches Bundesgericht, 2006). Vor diesem Hintergrund wird Sterbewilligen, die eine physisch chronische Krankheit aufweisen, sich aber nicht zwingend am Lebensende befinden, oder solchen, die eine unheilbare schwere psychische Störung aufweisen, unter bestimmten Voraussetzungen Beihilfe zum Suizid gewährt. Zahlen aus den Jahresberichten der Suizidbeihilfeorganisationen Exit und Dignitas (siehe exit.ch, dignitas.ch) sowie Zahlen des Bundesamtes für Statistik (siehe bfs.admin) belegen einen Anstieg der Fälle, die in der Schweiz zwischen 1996 und 2011 durch Suizidbeihilfe gestorben sind, und eine tendenzielle Abnahme solcher, die jährlich durch Suizid gestorben sind (siehe Abbildung 6).
Abbildung 6: Anzahl Menschen, die in der Schweiz pro Jahr zwischen 1996 und 2011 durch Suizidbeihilfe bzw. Suizid gestorben sind
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Weitere Daten des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik (2012) zu vorkommenden Krankheiten bei der Suizidbeihilfe belegen, dass mehr als 69 % der durch Suizidbeihilfe Verstorbenen eine oder mehrere physische Grunderkrankungen (z. B. Krebs, neurodegenerative Krankheiten, Herzkreislauf- und Lungenerkrankungen, Krankheiten des Bewegungsapparates) aufwiesen, bei weiteren 3 % eine Depression vorlag, zunehmend Frauen durch assistierten Suizid sterben und zirka 75 % der Verstorbenen 65 Jahre oder älter waren (Bundesamt für Statistik, 2012). Betrachtet man zur Ergänzung solcher Statistiken den Informationsgehalt von Deutschschweizer Presseberichten über die Suizidbeihilfe zwischen den Jahren 2001 bis 2012, entsteht der Eindruck, dass manche Darstellungen (siehe Waldmann, 2012) polemisch oder oberflächlich verfasst sind. Neben dem Angebot von Schweizer Suizidbeihilfeorganisationen und dem praktischen Prozedere wird in der Tagespresse (siehe Hofmann, 2009; Maurer, 2002; Meier, 2001; Paone, 2012; Puntas Bernet, 2006; Steudler, 2003; Steudler, 2005; Stoll, 2005; Vögeli, 2009; Vögeli, 2010; Willmann, 2001) über die Tätigkeiten von Suizidbeihilfeorganisationen und Interviews mit Theologen, Ethikern, Ärzten, Juristen oder Politikern berichtet. In Reportagen (siehe Heusser-Markun, 2003; Müller, 2003; Steudler, 2004) wurde dargestellt, wie die Schweizer Suizidbeihilfe im Ausland wahrgenommen wird, wie der »Sterbetourismus« und damit anfallende Kosten zu Lasten der öffentlichen Hand gehen sowie Ermittlungen zur Suizidbeihilfe aufgenommen wurden. Meldungen über den Umgang von Politikern mit der Thematik der Suizidbeihilfe und mit bestimmten Patientenpopulationen, die Suizidbeihilfe für sich erwägen (siehe Holenstein, 2004; Hürlimann, 2010; Vonarburg, 2004), ergänzen die Berichterstattung. Insbesondere in Zeiten, in denen einschränkende Regelungen der Suizidbeihilfe oder die Revision des Artikel 115 im Strafgesetzbuch erwogen werden, diesbezüglich Volksabstimmungen anstehen oder das Schweizerische Bundesgericht Suizidbeihilfefälle beurteilt, streifen Presseberichte (siehe Hofmann, 2010a; Kiener, 2010; Petermann, 2011; Vögeli, 2011; Wehrli, 2010) Themen wie die Willensfreiheit sowie das Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Im Zentrum des Interesses mancher Berichte (siehe Hofmann, 2010b; Staubli, 2007; Tommer, 2008) stehen die Haltung von Ärzten gegenüber der Beihilfe zum Suizid, die Orte, wo die Suizidbeihilfe stattfand, die in die Suizidbeihilfe Involvierten oder die tödlichen Mittel. Auch die Anzahl, das Geschlecht, das Alter, die Religion und die Krankheitsart der durch Suizidbeihilfe Verstorbenen (siehe Hofmann, 2008; Von Lutterotti, 2010) finden Erwähnung. Berichte über das Dasein von Menschen, die durch Suizidbeihilfe in der Schweiz sterben wollen oder gestorben sind, wurden nicht in der Deutschschweizer Tagespresse, sondern in der Deutschen Presse (siehe Grill, 2005) gefunden. Es ist auffallend, dass zu den Entwicklungen und Faktoren, welche Menschen dazu veranlassen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, zu
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Einleitung
ihrem sozialen Umfeld, den involvierten Hausärzten und Pflegefachpersonen, die solchen Menschen begegnen, in Schweizer Printmedien nichts geschrieben steht. Betrachtet man den thematischen Verlauf der Pressemitteilungen zur Beihilfe zum Suizid, entsteht der Eindruck, dass die Inhalte der Berichte durch politische Debatten um die Suizidbeihilfe und von involvierten Experten geprägt sind. Politische und öffentliche Diskussionen über den Umgang mit den Betroffenen und die Gestaltung des Lebensendes setzen sich somit fort, ohne dass das subjektive Erleben der Betroffenen und die Bedeutung ihrer Situation umfassend ermittelt und einbezogen werden. Wo sind die Stimmen der Betroffenen? Sie selbst haben in solchen Diskussionen überwiegend keine Stimme, weshalb unklar ist, was sie erleben und was sie zu ihren Überlegungen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, veranlasst. Das kann dazu führen, dass innerhalb einer Gesellschaft Entscheidungen zur Suizidbeihilfe getroffen werden, welche die Bedürfnisse Leidender nicht ausreichend berücksichtigen.
1.5
Entwicklungen rund um Palliative Care und die Suizidbeihilfe in der Schweiz
Bei unheilbar physisch chronisch Kranken findet eine Verlagerung der Versorgung von der Heilung (Cure) hin zur Linderung von Leiden (Care) statt. Dabei ist das Ziel, den Kranken zu helfen und ihr Dasein im Kontext ihrer Krankheit aus ihrem eigenen Verständnis heraus sinnvoll und mit der von ihnen angestrebten Lebensqualität zu gestalten. Die Realität sieht zum Teil anders aus. Die finanziellen Mittel für eine palliative Versorgung, die unabhängig von der Diagnose und grundsätzlich für Leidende existentiell und bedeutsam sind, fehlen weitgehend. Die zunehmenden Kürzungen finanzieller Mittel ziehen Veränderungen des Gesundheitswesens nach sich, welche mit Qualitätsverlusten in der pflegerischen Versorgung einhergehen können. Die sich so entwickelnde, sich auf das Dringendste beschränkende pflegerische Versorgungsqualität bewirkt, dass eine erstrebenswerte, bedürfnis- und menschenwürdige Versorgung von Kranken und ihren Angehörigen zunehmend verunmöglicht wird. Dies gilt insbesondere für chronisch Kranke, die in ihrer häuslichen Umgebung leben. Auch bestehen offene Fragen über das Verständnis von Palliative Care in der Gesellschaft, über die Lücken in der Palliative-Care-Versorgung Kranker, die Bekanntheit von Palliative-Care-Leistungen, über Defizite in der Bildungs- und Forschungslandschaft rund um Palliative Care und über die Finanzierungsschwierigkeiten palliativer Leistungen (Bundesamt für Gesundheit (BAG) & Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK), 2009), welche Institutionen in einen Überlebenskampf zwingen (Holthuizen,
Entwicklungen rund um Palliative Care und die Suizidbeihilfe in der Schweiz
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2010; Portmann, 2008). Zur Entwicklung, Etablierung und Stärkung der End-ofLife-Care wurde im Jahr 2009 von der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Kantonen die Nationale Strategie Palliative Care 2010 bis 2012 ins Leben gerufen. Die Strategie umfasst die Entwicklung nationaler Leitlinien zu Palliative Care, diesbezügliche Indikationskriterien, gesellschaftliche Aufklärung, Finanzierung und Kosteneffizienz der Palliative Care, Nachforschungen zu bestehenden Palliative-Care-Angeboten in der Schweiz, Bevölkerungsbefragungen und Maßnahmen in den Bereichen Forschung und Bildung (Bundesamt für Gesundheit (BAG) & Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK), 2009). Eine wesentliche Folge der Schritte im Bereich Forschung ist das im Jahr 2011 ausgeschriebene nationale Forschungsprogramm Lebensende (NFP 67) des Schweizerischen Nationalfonds, welches die Erforschung von End-of-Life-Versorgung, -Handlungen, -Verläufe, -Entscheidungen sowie der gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte im Zusammenhang mit dem Sterben und Tod in der Schweizerischen Gesellschaft zum Ziel hat (Schweizerischer Nationalfonds, 2011). Mit Blick auf die Entwicklungen der Suizidbeihilfe in der Schweiz ist festzuhalten, dass der Zürcher Stadtrat im Jahr 2000 beschloss, das Verbot der Beihilfe zum Selbstmord in Kranken- und Altersheimen3 aufzuheben (Stadtrat Zürich, 2000). Seitdem haben Suizidbeihilfeorganisationen Zutritt zu Altersund Pflegeheimen im Kanton Zürich, und bei Erfüllung der erforderlichen Bedingungen ist es Bewohnern erlaubt, unter Zuhilfenahme einer Suizidbeihilfeorganisation durch Suizidbeihilfe zu sterben. Auch im Kanton Bern ist die Beihilfe zum Suizid in Langzeitpflegeinstitutionen grundsätzlich nicht verboten (Verband Berner Pflege- & Betreuungszentren, 2006). Die Universitätsklinik Lausanne (CHUV) und die Genfer Universitätsklinik (HUG) entschieden im Jahr 2007, die Durchführung der Suizidbeihilfe unter bestimmten Gegebenheiten innerhalb der Akutkliniken zuzulassen, während die Universitätsklinik Zürich und die Universitätsklinik Basel dies ablehnen (Foppa, 2007; Gruson & Dayer, 2007; Meier, 2001; Müller, 2007; UniversitätsSpital Zürich, 2007). Aus einer im Jahr 2010 durchgeführten Befragung der Schweizer Bevölkerung zum Thema Sterbehilfe und Suizidbeihilfe resultiert, dass 36 % sich vorstellen können, im Laufe ihres Lebens auf eine Suizidbeihilfeorganisation zurückzugreifen (Schwarzenegger, Manzoni, Studer et al., 2010). Gleich wie zuvor in Zürich und Bern, trat auch in der Stadt Luzern im Juni 2012 eine Regelung zur Beihilfe zum Suizid in städtischen Betagtenzentren in Kraft, welche Institutionen die Durchführung der Suizidbeihilfe bei Erfüllung bestimmter Kriterien grundsätzlich erlaubt (Stadt Luzern, 2011). Das Stimmvolk des Kantons Waadt hat am 17. Juni 2012 einer Volksinitiative zugestimmt, welche erstmalig die Entwick3 Davon ausgenommen sind Krankenhäuser.
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Einleitung
lung einer gesetzlichen Regelung der Suizidbeihilfe in einem Schweizer Kanton zur Folge hat und die Durchführung der Suizidbeihilfe in öffentlichen Institutionen des Gesundheitswesens im Kanton Waadt gestattet (Schweizerische Depeschenagentur (SDA), 2012). Neu für Pflegende an den zuvor geschilderten Entwicklungen ist die mit der Suizidbeihilfe einhergehende unübliche pflegerische Begleitung der Betroffenen, welche bei Pflegenden berechtigte Vorbehalte hervorrufen kann. Im anschließenden Kapitel 2 werden die Gründe, sich aus der Sicht der Pflege und der Pflegewissenschaft mit der Thematik zu befassen, das Forschungsziel und die Forschungsfrage der hier vorliegenden Untersuchung sowie der Standpunkt der Forscherin gegenüber dem Forschungsgegenstand erläutert.
2
Problemstellung
2.1
Gründe, sich aus der Sicht der Pflege und der Pflegewissenschaft mit Menschen zu befassen, die erwägen, durch Beihilfe zum Suizid zu sterben
Die Entwicklungen hinsichtlich der Suizidbeihilfe erfordern Überlegungen und Auseinandersetzungen bezüglich einer Positionierung und möglichen Mitwirkung an der absichtlichen Verkürzung des Lebens von Bewohnern und möglicherweise auch von Patienten. Eine solche Positionierung erfordert allerdings mehr Wissen über das Erleben der Betroffenen. Für die Pflege, die Pflegewissenschaft sowie für Pflegende ergibt sich die Relevanz des Forschungsthemas neben der in Kapitel 1 beschriebenen Problematik auch aus ihrem gesellschaftlichen Auftrag, sich mit menschlichen Bedürfnissen und Problemen zu befassen, welche mit Gesundheit, Krisensituationen und Krankheit zu tun haben (Käppeli, 1993; Spichiger, Kesselring, Spirig et al., 2006). Ein weiterer Grund, sich mit dem Thema aus pflegerischer Sicht zu befassen, ist die Tatsache, dass das Zusammentreffen mit akut oder chronisch Leidenden, mit dem Sterben und dem Tod täglicher Bestandteil des Berufsalltags von Pflegefachpersonen ist (Käppeli, Bernhart-Just & Rist, 2007). Es kommt vor, dass Pflegende in Institutionen des Gesundheitswesens oder im häuslichen Umfeld chronisch Kranken begegnen, die ihnen mitteilen, dass sie lieber sterben als weiterleben möchten, Suizidbeihilfe erwägen und sie mit Äußerungen und Anfragen betreffend die Suizidbeihilfe konfrontieren (Asch, 1996; De Bal, Dierckx de Casterl¦, De Beer et al., 2006; De Beer, Gastmans & Dierckx de Casterl¦, 2004). In Ländern, in denen Sterbehilfe und ärztlich assistierter Suizid gesetzlich erlaubt sind, werden Pflegende zu Beteiligten hinsichtlich diesbezüglicher Entscheidungsprozesse und Praktiken (Dierckx de Casterl¦, Denier, De Bal et al., 2010; Inghelbrecht, Bilsen, Mortier et al., 2010). Die Erfahrung zeigt, dass Pflegenden in der Ausbildung oder im Berufsleben vor allem praktisches Wissen, wie die Betreuung und die Begleitung von Ster-
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Problemstellung
benden und Angehörigen im Sterbeprozess und die Versorgung von Verstorbenen, vermittelt wird. Doch was ist, wenn Pflegende Menschen gegenüberstehen, die nicht mehr weiterleben und durch Suizidbeihilfe sterben wollen? Wer bereitet Pflegende darauf vor? Wie gehen Pflegende mit Menschen um, die solche Äußerungen machen? Werden sie den zuständigen Arzt, einen Seelsorger oder ihre Vorgesetzten informieren? Werden sie den Kontakt zu einer Sterbehilfeorganisation arrangieren? Nicht selten kommt es vor, dass Pflegende in derartigen Situationen hilflos agieren, nicht recht wissen, was sie sagen und wie sie mit solchen Situationen umgehen sollen. Insbesondere Pflegende, die in einer palliativen Institution arbeiten und Menschen begegnen, die durch assistierten Suizid sterben möchten, erleben ethische Dilemmata (Harvath, Miller, Smith et al., 2006). Auch wenn die Suizidbeihilfe aus der Sicht schweizerischer Berufsorganisationen nicht zum medizinischen und pflegerischen Auftrag gehört (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK, 2005; Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH, 2008), erfordern auch Kranke, die durch Suizidbeihilfe sterben wollen, professionelles Handeln von Seiten Pflegender. Um für solche Menschen möglichst unterstützend wirksam werden und um mit entsprechenden Fragen und Situationen hilfreich umgehen zu können, muss neben Erfahrungswissen Außenstehender auch erforderliches (pflege-)wissenschaftliches Wissen aus der Sicht betroffener Kranker über das diesbezügliche Erleben, die Entwicklung solcher Überlegungen und Entscheidungsprozesse darüber, weiterzuleben oder (durch Suizidbeihilfe) sterben zu wollen, generiert und vermittelt werden.
2.2
Forschungsziel und Fragestellung
Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist, einen Einblick in das Was, das Wie und das Warum zu geben, welches physisch chronisch Kranke zu dem Entschluss bewegt, weiterleben oder durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen. Somit bildet den Schwerpunkt der Forschung die Fragestellung: Was veranlasst physisch chronisch Kranke Menschen dazu, nicht länger am Leben bleiben oder umgekehrt weiterleben zu wollen? Die Forschungsfrage durchleuchtet aus der Sicht der Kranken, weshalb sie erwägen, ihrem Leben durch Suizidbeihilfe ein Ende zu setzen, und wie sie zu dem Entschluss gelangen, dies auch zu tun, während andere Kranke mit vergleichbaren Erkrankungen ihrem Leben kein Ende setzen und am Leben bleiben wollen. Dies bezieht neben der Frage nach den subjektiven Wirklichkeiten der Betroffenen im Kontext chronischen Krankseins ihre Lebensumstände sowie persönliche und gesellschaftliche Beweggründe hinsichtlich ihrer Entschlossenheit, ihr Leben zu lassen oder am Leben zu bleiben, mit ein. Zudem sollte
Standpunkt der Forscherin gegenüber dem Forschungsgegenstand
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untersucht werden, wie solche Kranken ihre Situation wahrnehmen, welche Bedeutung, welchen Sinn und Wert sie dieser zuschreiben, wie ihr Verhältnis zum Leben und Tod ist, wie sie und Außenstehende mit der Situation umgehen, wofür es sich mit einem krankheitsbedingten Leiden zu leben lohnt und worin sie die Bedeutung sehen, sterben zu können. Vor diesem Hintergrund und ausgehend von dem zur Durchführung dieser Forschung gewählten Forschungsansatz der Grounded Theory, sollte eine substantive Theorie über die Beweggründe und Entscheidungen physisch chronisch Kranker Menschen, nicht länger am Leben bleiben oder weiterleben zu wollen, generiert werden. Dazu wurden Konzepte entwickelt, die chronisch Kranke zur Beschreibung dessen verwenden, was sie zu dem einen oder anderen Entscheid veranlasst. Es wird aufgezeigt, wie sich die Beziehungen unter den Konzepten gestalten und welches die Kernkategorie ist, die erklärt, was die Erkrankten zu ihrer Entscheidung veranlasst. Das durch diese Untersuchung generierte und zu vermittelnde Wissen soll zu einem besseren Verständnis des subjektiven Erlebens und der Beweggründe Kranker beitragen. Ferner ist das Ziel, an den Beweggründen Leidender anzusetzen und Alternativen zur Beendigung des Daseins aufzuzeigen. Es soll dargelegt werden, inwiefern Einrichtungen des Gesundheitswesens und gesellschaftspolitische Entwicklungen den Bedürfnissen solcher Kranken gerecht werden können. Es liegt vor allem im Interesse der Pflege und der Pflegewissenschaft, Angebote für chronisch Kranke und deren Familienangehörige zu entwickeln, auszubauen und zu verbessern, um ihnen proaktiv und somit präventiv eine wirksame Hilfestellung im Umgang mit einer existenziell bedrohlichen Lebenskrise anbieten zu können, wie sie in dieser Forschung untersucht wird. Auch werden durch diese Untersuchung wichtige Erkenntnisse gewonnen, welche die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pflegenden und anderen Gesundheitsfachpersonen beeinflussen und Diskussionen sowie Entwicklungen zu Themen der palliativen Pflege und der Suizidbeihilfe bereichern. Ausgehend von den Untersuchungsergebnissen werden Handlungsempfehlungen für einen unterstützenden, präventiven sowie situativen Umgang mit solchen Kranken und deren Angehörigen gegeben.
2.3
Standpunkt der Forscherin gegenüber dem Forschungsgegenstand
Vor Beginn der Untersuchung nahm ich an, dass nicht alle Menschen, welche die Möglichkeit haben, ihren Tod durch Suizidbeihilfe herbeizuführen, sich ihr Leben auch wirklich nehmen wollen. Im Fall von Menschen, die den Kontakt zu Suizidbeihilfeorganisationen suchen, ging ich aufgrund von Berichten davon
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Problemstellung
aus, dass, sobald die Betroffenen die Gewissheit haben, dass das ärztliche Rezept für das tödliche Natrium-Pentobarbital für sie zur Verfügung steht und sie ihren Tod wählen können, das Sterbenwollen in den Hintergrund rückt. Ich ging davon aus, dass es den Betroffenen eher darum geht, über einen letzten Ausweg zu verfügen, falls sie nicht mehr imstande sind, ihr Leid oder das durch ihren Zustand bei ihnen nahestehenden Menschen verursachte Leiden zu ertragen. Zudem war für mich fraglich, ob sich die Betroffenen durch ihren eigenen Willen unabhängig oder aufgrund von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, gesundheitspolitischen oder anderen Zwängen für einen Ausstieg aus dem Leben entscheiden. Als Krankenschwester und Pflegewissenschaftlerin verstehe ich es als meine Aufgabe, Menschen, die sich in einer Krisensituation befinden und von den Auswirkungen und Folgen ihrer Gesundheitsprobleme erfasst werden, lebenserhaltend und -fördernd zu begegnen. Treffe ich Menschen, die mir gegenüber äußern, dass sie, anstatt weiterleben zu wollen, lieber sterben möchten, versuche ich, sie zu verstehen. Mit der sich fortlaufend entwickelnden Spitzenmedizin und den damit verbundenen Möglichkeiten ergeben sich für die Betroffenen viele gesundheitliche Vorteile. Allerdings kann nicht verleugnet werden, dass neben diesen Vorteilen auch physische Funktionsverluste, Einschränkungen der Lebensqualität, die Bewältigung des Alltags in Abhängigkeit von lebensnotwendigen Geräten, Identitätskrisen, Sinnfragen, Multimorbidität etc. auftreten. Die Erfahrung zeigt, dass einige Menschen Schwierigkeiten haben, ihre Krankheit und deren Auswirkungen in ihren Lebensalltag zu integrieren und zu bewältigen. Daher ist es mir ein Anliegen, dass die Betroffenen nicht allein von den Möglichkeiten der Medizin profitieren, sondern dauerhaft während ihres chronischen Krankseins kontinuierlich professionelle Pflege, Beratung, Unterstützung und Hilfe zum Selbst- und Fremdmanagement erfahren. Ich bin der Ansicht, dass für Menschen, die überwiegend auf die Hilfe von anderen angewiesen sind, die Symptomlinderung oder Symptomauflösung allein nicht das entscheidende Kriterium ist, welches das Leben für diese Menschen lebbar macht. Ohne Frage ist ein erfolgreiches Symptommanagement ein wesentlicher Faktor, aber einer unter vielen. Wenn auf der einen Seite Investitionen in die Entwicklung der Spitzenmedizin und deren Umsetzung fließen, sollten meiner Meinung nach mindestens genauso viele Investitionen in die darauf folgende Anschlussversorgung Kranker fließen. Nach der Einführung des Lesers in den Hintergrund und den Kontext der vorliegenden Untersuchung sowie in das Forschungsinteresse erläutert Kapitel 3 den Stand der für diese Untersuchung relevanten Forschungserkenntnisse.
3
Stand der Forschungserkenntnisse
Vor dem Hintergrund der Forschungsfrage beleuchtet die anschließende kritisch kommentierte Literaturanalyse den Stand relevanter Forschungserkenntnisse und gibt einen Überblick über Faktoren, die mit Entscheidungsprozessen für oder gegen das Weiterleben in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Das Literaturkapitel ist in fünf Unterkapitel gegliedert. In Kapitel 3.1 ist die Vorgehensweise bei der Literaturrecherche und -analyse beschrieben. Kapitel 3.2 befasst sich mit Forschungserkenntnissen zu Entscheidungsprozessen von physisch chronisch Kranken darüber, weiterzuleben oder zu sterben. Faktoren, die den Willen zu leben beeinflussen, sind Gegenstand von Kapitel 3.3. Gegensätzlich dazu erläutert Kapitel 3.4 Faktoren, die Leidende erwägen lassen, ihr Leben durch Beihilfe zum Suizid, assistierten Suizid oder Sterbehilfe zu beenden. Da sich die verschiedenen landesspezifischen Gesetze und Gesundheitssysteme betreffend den Forschungsgegenstand der vorliegenden Untersuchung voneinander unterschieden, sind die Interpretation von Forschungsergebnissen sowie Vergleiche unter den in verschiedenen Ländern durchgeführten Studien schwierig. Aus diesem Grund wurde Kapitel 3.4 so unterteilt, dass die zu jedem Land vorliegenden Studien und Forschungsergebnisse in separaten Unterkapiteln erläutert werden. So sind die Forschungserkenntnisse aus Ländern, in denen (ärztlich) assistierter Suizid (auch physician assisted suicide/PAS genannt) und Sterbehilfe legal sind, und solche aus Ländern, in denen diese illegal oder rechtlich nicht geregelt sind, gesondert dargestellt. Dies ermöglicht dem Leser, die Fragestellungen und die Forschungsergebnisse vor dem jeweiligen landesspezifischen Hintergrund interpretieren zu können. Die Erläuterungen zum Stand der Forschungserkenntnisse schließen in Kapitel 3.5 mit einer Zusammenfassung und Schlussfolgerungen. Ausgehend vom Forschungsstand und den Forschungslücken erfolgt die Begründung der Relevanz der Fragestellung der hier vorliegenden Untersuchung.
46
Stand der Forschungserkenntnisse
3.1
Vorgehen bei der Literaturrecherche und -analyse
Zur Erstellung des Forschungsproposals wurde eine erste Literaturrecherche in den Jahren 2002 bis 2003 durchgeführt. Als Suchbegriffe wurden die in Abbildung 7 aufgeführten Freitext- und MeSH-Begriffe verwendet. Deutsche Suchbegriffe – (Ärztlich) Assistierter Suizid – – – – –
(Ärztlich) Assistiertes Sterben Unterstützung im Sterben Sterbewunsch, Todesgedanken Gedanken, das Leben zu beenden Wunsch, den Tod zu beschleunigen
– Wunsch, zu leben oder zu sterben – Pläne/planen, sein Leben zu beenden – Sterbehilfe
Englische Suchbegriffe – (Physician-) assisted suicide/PAS – Suicide, assisted – (Physician-) assisted death/PAD – Assistance in dying – Death wishes, death thoughts – Thoughts of ending life – Desire for hastened death, wish to hasten death – Desire to live or to die, wish to die, wish to live – Plans to end one’s life – Euthanasia and active voluntary requests – Attitudes to death, death attitudes
– Haltung/Einstellung gegenüber dem Sterben – Entscheidung(-sprozess) – Decision making (process) – Wille zu Leben/Lebenswille – Will to live – In Kombination mit physisch chroni– In combination with chronic disease, schen Krankheiten, physisch chronisch chronic illness, chronicity (disorders), Kranken/Patienten sowie Faktoren, physical disorders, disabled persons, Motiven, Gründen, Anfragen/Gesuchen patients and factor, motive, reason, request Abbildung 7: Zur Literaturrecherche verwendete Freitext- und MeSH-Begriffe
Die Ergebnisse der ersten Literaturrecherche dienten zur thematischen Sensibilisierung der Forscherin sowie zur Erstellung des Forschungsproposals vor Beginn der Untersuchung. Über den Zeitraum der Untersuchung ließ sich die Forscherin fortlaufend durch automatisierte Literaturrecherchen in elektronischen Literaturdatenbanken (MEDLINE, CINAHL, PsycINFO) mittels E-MailAlerts über neue Publikationen informieren, um über neue, auf den Forschungsgegenstand bezogene Publikationen informiert zu sein. Um den Forschungsdaten möglichst offen und unvoreingenommen begegnen zu können, beschränkte sich die Forscherin während der Zeit der Theoriegenerierung überwiegend auf das Lesen der Abstracts. Die vertiefte Analyse forschungsgegenstandrelevanter Publikationen, insbesondere solcher, die in Bezug zu entwickelten Konzepten, Kategorien und Prozessen des konzeptuellen Modells der generierten Theorie standen, erfolgte erst zu dem Zeitpunkt, als die Theoriebildung schon weit fortgeschritten war, und mündete danach in Kapitel 3, Stand der Forschungserkenntnisse. Die fortwährenden elektronischen Literatursu-
Vorgehen bei der Literaturrecherche und -analyse
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chen sowie die zusätzlich durchgeführten Literatursuchen zu spezifischen, sich im Untersuchungsverlauf entwickelnden Themen verunmöglichten die kontinuierliche Protokollierung aller Suchergebnisse. Dieser Umstand bedingt, dass an dieser Stelle keine Angaben darüber gemacht werden, wie viele und welche Suchergebnisse aus welchen Literaturdatenbanken stammen. Für den Einschluss der identifizierten Publikationen in die Literaturanalyse wurden praktische und methodologische Filter angewendet. So wurden in die Literaturanalyse ausschließlich englisch- und deutschsprachige Publikationen eingeschlossen, deren Titel oder Abstract-Inhalte zu den erwähnten Suchbegriffen in Bezug standen. Davon wurden nur Publikationen berücksichtigt, bei denen es sich um Forschungsberichte, systematische Literaturreviews oder statistische Jahresberichte von Organisationen im Zusammenhang mit (ärztlich) assistiertem Suizid und Suizidbeihilfe handelte. Zudem mussten die Untersuchungsteilnehmer über 18 Jahre alt und physisch chronisch erkrankt sein. Über den Untersuchungszeitraum wurden relevante Publikationen aus den Jahren 1990 bis 2005 in zwei Literaturreviews (siehe Dees, Vernoooij-Dassen, Dekkers et al., 2009; Hudson, Kristjanson, Ashby et al., 2006) integriert, sodass Publikationen vor 2005 nicht gesondert in die Literaturanalyse einbezogen wurden. Die in den anschließenden Kapiteln erläuterten Untersuchungsergebnisse stammen aus recherchierten Veröffentlichungen über den Zeitraum 2005 bis 2010. Ausgeschlossen wurden Publikationen, deren Inhalte ungenügenden, nur indirekten oder keinen Bezug zum Forschungsgegenstand der vorliegenden Untersuchung haben. Dabei handelte es sich um Veröffentlichungen, in denen keine physisch chronische Krankheit der Untersuchungspopulation vorlag oder der Bezug zu (ärztlich) assistiertem Suizid oder zur Sterbehilfe fehlte. Dies galt auch für Untersuchungen, die keine Erkenntnisse zu Merkmalen, Gründen, Entscheidungsaspekten oder Kontextfaktoren darüber lieferten, warum chronisch Kranke Sterbehilfe oder (ärztlich) assistierten Suizid erwägen oder darum ersuchen. Auch Forschungspublikationen, in denen die Untersuchungspopulation an einer bekannten psychischen Erkrankung oder Störung litt, wurden nicht in die Literaturanalyse eingeschlossen, da es Menschen, die an einer psychischen Störung leiden, in der Schweiz zu Untersuchungsbeginn rechtlich nicht gestattet war, ihr Leben durch Beihilfe zum Suizid zu beenden. Zudem besteht die Annahme, dass bei sterbewilligen psychisch Kranken möglicherweise andere Faktoren oder Mechanismen zugrunde liegen als bei physisch chronisch Kranken. Von der Literaturanalyse ausgeschlossen wurden auch Publikationen mit offensichtlich methodologischen Unzulänglichkeiten. Aufgrund dieser Ein- und Ausschlusskriterien wurden 42 Publikationen aus den Jahren 2005 und 2010 in die Literaturanalyse eingeschlossen. Unter diesen befanden sich 37 Forschungspublikationen, drei systematische Literaturreviews und zwei statistische Jahresberichte von Organisationen im Zusammenhang mit (ärztlich) assistiertem Suizid
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Stand der Forschungserkenntnisse
und Suizidbeihilfe. Da manche Fragestellungen und Forschungserkenntnisse der publizierten Studien über den Forschungsgegenstand der hier vorliegenden Untersuchung hinausgehen, wurden nur für die vorliegende Untersuchung relevante Forschungsergebnisse berücksichtigt.
3.2
Der Wissensstand zu Entscheidungsprozessen physisch chronisch Kranker darüber, weiterleben oder sterben zu wollen
Aus der Analyse der recherchierten Publikationen resultiert, dass bislang keine Untersuchung publiziert wurde, in der Entscheidungsprozesse darüber, weiterleben oder durch (ärztlich) assistierten Suizid bzw. durch Sterbehilfe sterben zu wollen, aus der Perspektive physisch chronisch Kranker erforscht wurden. In zwei Studien wurden die Perspektiven von Ärzten zu End-of-Life-Entscheidungen und damit verbundene Faktoren untersucht (siehe Cohen, Bilsen, Fischer et al., 2007; siehe Cohen, Van Delden, Mortier et al., 2008). Die Forschungserkenntnisse dieser Studien werden im Folgenden dargelegt, da sie relevante Kontextbedingungen des Forschungsgegenstandes der hier vorliegenden Untersuchung beleuchten.
3.2.1 Religiöse Einstellungen von Ärzten und deren Einfluss auf ärztliche End-of-Life-Entscheidungen Cohen, Van Delden, Mortier et al. (2008) untersuchten in einer vorwiegend europäisch angelegten Studie, ob die religiöse Einstellung von Ärzten und deren kultureller Kontext ihre Grundhaltung gegenüber End-of-Life-Entscheidungen und ihre Bereitschaft, solche Entscheidungen zu treffen, beeinflussten. Dass die persönliche, religiöse Lebenseinstellung für den Umgang mit End-of-Life-Entscheidungen von Bedeutung ist, gaben am häufigsten Ärzte aus der Schweiz (62 %) an, gefolgt von Ärzten aus Australien (54,2 %), den Niederlanden (47,8 %) und Belgien (45 %) (Cohen et al., 2008). Zwischen den getroffenen Entscheidungen von Ärzten, ärztlich assistierten Suizid auszuüben und ihrer religiösen Einstellung zeigen sich deutliche Unterschiede: Religiöse Ärzte sind in allen Ländern weniger dazu bereit, auf Wunsch von Patienten ärztlich assistierten Suizid auszuüben, und nicht religiöse Ärzte haben bereits häufiger ärztlich assistierten Suizid ausgeübt als religiöse Ärzte (Cohen et al., 2008). Eine Besonderheit zeigen die Ergebnisse aus den Niederlanden, denn dort haben auch religiöse Ärzte ärztlich assistierten Suizid ausgeführt (Cohen et al., 2008).
Der Wissensstand zu Entscheidungsprozessen physisch chronisch Kranker
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Die Autoren der Studie schlussfolgern, dass sich die landesspezifische Rechtsordnung und der kulturelle Kontext, in welchem Ärzte leben, ebenso wie die persönliche religiöse Haltung auf ihr Verhalten in End-of-Life-Entscheidungen auswirken (Cohen et al., 2008). Die obigen Studienergebnisse zeigen, dass unterschiedliche religiöse Haltungen von Ärzten zu unterschiedlichen Einstellungen gegenüber End-of-LifeEntscheidungen und Ergebnissen von ärztlich getroffenen End-of-Life-Entscheidungen führen. Obwohl die Ergebnisse belegen, dass die religiöse Haltung von Ärzten auf deren End-of-Life-Entscheidungen Einfluss nimmt, bleiben Fragen darüber bestehen, wie Ärzte persönlich prozessual vorgehen, um eine bestimmte End-of-Life-Entscheidung zu treffen.
3.2.2 Prävalenz und Typus von End-of-Life-Entscheidungen bei Patienten in unterschiedlichen Versorgungssettings Ein Jahr vor der genannten Studie publizierten Cohen et al. (2007) die Ergebnisse einer anderen Studie, in der sie in verschiedenen europäischen Ländern untersuchten, wie sich End-of-Life-Entscheidungsprozesse hinsichtlich ihrer Prävalenz und ihres Typus bei Patienten unterscheiden, die zu Hause, in Krankenhäusern oder in Alterspflegeheimen sterben, und wie End-of-LifeEntscheidungen zwischen Gesundheitsfachpersonen, Patienten und Angehörigen diskutiert werden. Die Resultate zeigen, dass durch ärztlich assistiertes Sterben (PAS, Sterbehilfe oder lebensbeendende Maßnahmen ohne einen diesbezüglich expliziten Wunsch von Patienten) in Belgien 2,8 %, in Schweden 0,4 %, in der Schweiz 1,5 % und in Dänemark 1,2 % der Menschen starben (Cohen et al., 2007). Entscheidungen für ärztlich assistiertes Sterben wurden in der Schweiz, Belgien und Dänemark mehrheitlich im häuslichen Bereich und weniger in Krankenhäusern oder in Alterspflegeheimen angetroffen (Cohen et al., 2007). Mit Patienten wurden entsprechende Diskussionen in Belgien und Dänemark vorwiegend im häuslichen Bereich und in Krankenhäusern geführt, in der Schweiz am häufigsten in Alterspflegeheimen und im häuslichen Bereich (Cohen et al., 2007). In Schweden wurden keine Diskussionen mit Patienten über assistiertes Sterben angegeben (Cohen et al., 2007). Zudem resultiert aus den Ergebnissen, dass sowohl die Menschen, um die und um deren Leben es in den Entscheidungsfindungsprozessen geht, als auch deren Angehörige wenig aktiv in End-of-Life-Entscheidungen einbezogen waren (Cohen et al., 2007). Die Studienergebnisse verdeutlichen, dass Patienten in den untersuchten Ländern am ehesten im häuslichen Bereich und in Alterspflegeheimen den Tod finden. Im Ländervergleich ist interessant, dass in Belgien viermal mehr Menschen durch assistiertes Sterben in Krankenhäusern sterben. In der Schweiz
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Stand der Forschungserkenntnisse
sterben die wenigsten Patienten durch assistiertes Sterben in Krankenhäusern. Erklärungen dafür können die Präferenzen von Kranken sein oder die in Schweizer Krankenhäusern und Alterspflegeheimen verbreiteten Reglemente, die das Sterben durch assistierten Suizid in der Institution untersagen. Derartige Verbote können bedingen, dass Menschen quasi dazu gezwungen sind, außerhalb von Institutionen und innerhalb ihres häuslichen Umfeldes durch PAS oder Sterbehilfe zu sterben. Denkbar ist aber auch, dass Menschen bereits zu einem Zeitpunkt um PAS oder Sterbehilfe ersuchen, wo sie noch zu Hause leben, weil sie sich nicht in eine Institution des Gesundheitswesens begeben möchten. Anstatt davon auszugehen, dass Sterbeorte End-of-Life-Entscheidungen beeinflussen, liegt ebenso nahe, dass die Präferenzen eines Menschen und die diesen Menschen umgebenden Kontextfaktoren den Ort seines Lebens und Sterbens sowie seine End-of-Life-Entscheidung beeinflussen.
Zusammenfassung Bei den genannten Untersuchungen handelt es sich um rein quantitative Querschnittsstudien, in denen End-of-Life-Entscheidungen aus professioneller Sicht mit entsprechenden Fragestellungen im Zentrum des Forschungsinteresses stehen. Quantitative oder qualitative Studien, in denen mit End-of-Life-Entscheidungen einhergehende Entscheidungsprozesse aus der Sicht von Menschen erfasst und untersucht wurden, die um ärztlich assistieren Suizid, ärztlich assistiertes Sterben (physician assisted death/PAD) oder Sterbehilfe ersuchen, liegen nicht vor.
3.3
Der Wissensstand zu Faktoren, die den Willen zu leben von physisch chronisch Kranken erhalten oder zu dessen Wiedererlangung beitragen
Über den Zeitraum der Literaturrecherche wurde eine Studie veröffentlicht, in welcher der Wille zu leben und damit zusammenhängende Einflussfaktoren bei physisch chronisch Kranken untersucht wurden.
Der Wissensstand zu Faktoren, das Leben zu beenden
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3.3.1 Einflüsse, die auf den Willen zu leben von Krebspatienten im Endstadium wirken Was bei terminal Krebskranken mit einer voraussichtlichen Lebensdauer von einem halben Jahr dazu beiträgt, weiterleben zu wollen, war Untersuchungsgegenstand einer von Chochinov, Hack, Hassard et al. (2005) in Kanada durchgeführten quantitativen Forschung. Aus der Datenanalyse resultieren signifikante Zusammenhänge zwischen dem Willen, zu leben, und psychischen Faktoren (angespannte Aufmerksamkeit, Angst, Depression) einerseits und existenziellen Faktoren (Hoffnungslosigkeit, eine Last für andere zu sein, das Gefühl von Würde, der Wunsch, zu sterben) andererseits (Chochinov et al., 2005). Auch das Erleben und die Zufriedenheit mit der Unterstützung durch Außenstehende (Gesundheitsfachpersonen, Familie, Freunde) sowie die subjektive Beurteilung der Qualität des Lebens korrelierten mit dem Willen, zu leben (Chochinov et al., 2005). Weniger stark war der Zusammenhang zwischen physischen Faktoren und dem Willen, zu leben (Chochinov et al., 2005). Der Wille eines Menschen, zu leben, unterliegt demzufolge multiplen Einflüssen, insbesondere dem subjektiven Erleben und Beurteilen existenzieller psychischer, sozialer und physischer Faktoren des Lebens.
Zusammenfassung Die oben erläuterte quantitative Querschnittsstudie stammt aus Kanada, einem Land, in dem Sterbehilfe und PAS gegenwärtig illegal sind. Studien, in denen der Lebenswille und damit verbundene Aspekte aus der Sicht von chronisch Kranken untersucht wurden, die sich im Spannungsfeld zwischen dem Willen zu leben und dem Entscheid, ihr Leben zu beenden, bewegen und erwägen, legal durch Sterbehilfe oder PAS zu sterben, wurden nicht gefunden. Zudem fehlt es an Forschungen, in denen die Datensammlung longitudinal sowie mittels qualitativer Forschungsmethoden erfolgt.
3.4
Der Wissensstand zu Faktoren, die physisch chronisch Kranke erwägen und entscheiden lassen, ihr Leben durch ärztlich assistierten Suizid oder Sterbehilfe zu beenden
Im folgenden Kapitel wird der Kenntnisstand zu Aspekten erläutert, die Menschen in Betracht ziehen lassen, ihr Leben durch Sterbehilfe, ärztlich assistierten Suizid oder Suizidbeihilfe zu beenden. In Kapitel 3.4.1 werden zunächst For-
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Stand der Forschungserkenntnisse
schungserkenntnisse aus Ländern dargestellt, in denen PAS und Sterbehilfe illegal oder rechtlich nicht geregelt sind. Daran anschließend werden in Kapitel 3.4.2 Forschungserkenntnisse aus Ländern erläutert, in denen Sterbehilfe, PAS und Suizidbeihilfe gesetzlich erlaubt sind. Kapitel 3.4.3 legt Erkenntnisse aus systematischen Literaturreviews zu Faktoren und Beweggründen dar, die Menschen nach assistiertem Sterben oder Suizid ersuchen lassen.
3.4.1 Erkenntnisse zu Faktoren, die Menschen in Ländern, in denen ärztlich assistierter Suizid und Sterbehilfe illegal sind, erwägen lassen, ihr Leben zu beenden Aus Ländern, in denen ärztlich assistierter Suizid oder Sterbehilfe nicht legal sind, wurden 14 Studien aus den Jahren 2005 bis 2010 gefunden. In diesen Studien wurden Aspekte untersucht, die mit Überlegungen von Menschen in Zusammenhang stehen, die um PAS oder Sterbehilfe ersuchen. Auf vier dieser 14 Artikel wird in diesem Kapitel nicht eingegangen, da sie aus dem Jahr 2005 stammen und in die bereits erwähnten Literaturreviews (siehe Dees et al., 2009; Hudson et al., 2006) eingeflossen sind, deren Ergebnisse in Kapitel 3.4.3 erläutert werden. 3.4.1.1 Einstellungen von terminal Kranken gegenüber Sterbehilfe und assistiertem Suizid Da Einstellungen zum assistierten Suizid und Sterbehilfe überwiegend aus der Sicht von Außenstehenden untersucht wurden, entschieden Chapple, Ziebland, McPherson et al. (2006) diesbezügliche Fragestellungen aus der Perspektive Kranker, die an einer terminalen bösartigen oder nicht bösartigen Krankheit litten, mittels eines qualitativen Studiendesigns zu untersuchen. Die Ergebnisse der in England durchgeführten Studie führen Argumente auf, die freiwillige Sterbehilfe oder assistierten Suizid unterstützen oder einer entsprechenden Gesetzesänderung in Großbritannien entgegenstehen (Chapple et al., 2006). Als unterstützende Argumente wurden genannt: Kontrolle haben und diese so lange wie möglich behalten wollen, mit etwas Bestimmtem nicht mehr zurechtkommen, quälende Schmerzen, das Verschwinden der Lebensqualität, das Bedürfnis, wählen zu können, wann und wie man stirbt, und die Möglichkeit haben, entscheiden zu können, wann es genug ist, unerfreuliche Erfahrungen mit dem Sterben, physisches Unbehagen, sich nicht in demütigende, körperliche Zustände bringen zu wollen, der Wunsch unabhängig zu bleiben, Furcht vor kognitiver Beeinträchtigung oder Unfähigkeit, sich am Leben zu erfreuen (Chapple et al., 2006). Weiter angeführt werden das Gefühl, nur noch zu existieren, aber
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nicht mehr zu leben, der Verlust des Lebenssinns/-zwecks, ein einfaches Sterben begrüßen, keinen Sinn im Leiden zu sehen und Versorgungskosten (Chapple et al., 2006). Argumente gegen eine Legalisierung von freiwilliger Sterbehilfe und assistiertem Suizid sind das Risiko des Missbrauchs, das Vertrauen auf Gott sowie Befürchtungen, dass Menschen die Beendigung ihres Lebens nicht ihretwegen erwägen, sondern aus Rücksichtnahme auf ihre Familienangehörigen (Chapple et al., 2006). Die angeführten Gründe für eine Legalisierung freiwilliger Sterbehilfe und assistierten Suizids sind zahlreich und beziehen sich aus der Sicht der Betroffenen auf die Vergangenheit, die Gegenwart sowie die Zukunft. Die Ablehnung der Gesetzesänderung oder Ambivalenz gegenüber der freiwilligen Sterbehilfe sind in religiösen Motiven oder Bedenken begründet, ein derartiges Gesetz könne missbraucht werden. 3.4.1.2 Einstellungen von körperlich behinderten Menschen gegenüber ärztlich assistiertem Sterben Hwang (2005) führte in den USA eine qualitative Forschung durch, um herauszufinden, ob Menschen, die an einer körperlichen Behinderung (Mobilitätseinschränkung) leiden, eine vulnerable Population darstellen und sie die Legalisierung von ärztlich assistiertem Sterben (PAD) billigen oder ablehnen. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der Befragten fand, dass jeder Mensch das Recht darauf hat, zu wählen, in was für einem Zustand er leben möchte (Hwang, 2005). Befragte, welche die Legalisierung von PAD ablehnten, taten dies aus religiösen Gründen, aber auch, weil die Legalisierung von PAD für benachteiligte Menschen mit einem Vulnerabilitäts- und einem Missbrauchsrisiko verbunden ist (Hwang, 2005). Einige Teilnehmer äußerten, das Vulnerabilitätsargument überschatte die tatsächlichen Leiden der Menschen, die PAD ernsthaft erwägen, und wiesen darauf hin, dass kein Mensch PAD begehen würde, nur weil es legal wäre (Hwang, 2005). Befragte, die Risiken für behinderte Menschen sahen, führten diese auf den gesellschaftlichen Druck zurück, gut auszusehen oder schlank zu sein, auf mangelnde medizinische Versorgung, unbehandelte Depression oder auf das Leben in einer Institution (Hwang, 2005). Als Gründe dafür, warum PAD legal zur Verfügung stehen sollte, wurden angegeben: unabwendbare Schmerzen, Vermeidung eines sich in die Länge ziehenden Lebensendes, der Wunsch, nahestehende Bezugspersonen zu schonen, die Bevorzugung von PAD gegenüber dem Leben in einem Alterspflegeheim sowie eine unangemessene Qualität des Lebensstils (Hwang, 2005). Der Vergleich der Untersuchungsergebnisse von Chapple et al. (2006) und Hwang (2005) zeigt Übereinstimmungen hinsichtlich der Argumente für oder gegen eine Legalisierung ärztlich assistierten Sterbens/Suizids. Beide Popula-
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Stand der Forschungserkenntnisse
tionen führen als Argumente für eine Legalisierung von PAD unerträgliche Schmerzen, persönliche Präferenzen bzgl. des eigenen Sterbens und die Lebensqualität an. Als Gegenargumente werden in beiden Untersuchungen neben religiösen Aspekten mit einer Legalisierung verbundene Missbrauchsrisiken genannt. 3.4.1.3 Einstellungen von terminalen Krebspatienten gegenüber der Legalisierung von Sterbehilfe und PAS sowie Faktoren, die mit Wünschen einhergehen, den Tod zu beschleunigen Eine in Kanada von Wilson, Chochinov, McPherson et al. (2007) durchgeführte, prospektiv quantitativ und qualitativ angelegte Untersuchung von palliativ versorgten, terminalen Krebspatienten zeigt, dass die Mehrheit der Befragten der Meinung ist, dass Sterbehilfe und PAS legalisiert werden sollten. Je jünger und je weniger religiös die Befragten waren, desto eher unterstützten sie eine Legalisierung von Sterbehilfe und PAS (Wilson et al., 2007). Genannte Gründe für eine Legalisierung waren: physisches und psychisches Leiden, das Recht auf Autonomie, Zweck-/Sinnlosigkeit, Mitgefühl, Erfahrungen mit dem Sterben anderer und Altruismus (Wilson et al., 2007). Kranke, die sich gegen eine Legalisierung aussprachen, taten dies aufgrund ihrer religiösen und moralischen Ansichten, ihrer einstigen Rolle als Gesundheitsfachperson sowie aus der Überzeugung heraus, dass diese Möglichkeiten negativ seien und derartiges Handeln bei einer guten palliativen Versorgung unnötig sei (Wilson et al., 2007). Mehrere Studienteilnehmer gaben an, dass sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt um Sterbehilfe oder PAS gebeten hätten, wenn diese in Kanada legal gewesen wären (Wilson et al., 2007). Einige würden sofort darum bitten, und mehr als die Hälfte konnte sich vorstellen, zukünftig um ärztlich beschleunigtes Sterben zu bitten, was mit physischen und psychischen Aspekten, antizipierten beunruhigenden Assoziationen, Sinn- und Zwecklosigkeit und der Rücksichtnahme auf Angehörige begründet wurde (Wilson et al., 2007). Verglichen mit Befragten, die nicht um Sterbehilfe oder PAS bitten würden, zeigte sich bei solchen, die einen starken Wunsch nach Beschleunigung ihres Sterben verspürten, dass sie weniger religiös waren, weniger von einer palliativen Versorgung profitieren und mehr belastende körperliche und psychische Symptome aufwiesen (Wilson et al., 2007). Weitere genannte Aspekte waren finanzielle Probleme, spirituelle Krisen, Verlust an Würde, die Unfähigkeit, einen Zustand des Akzeptierens zu erreichen, sowie allgemeine Unzufriedenheit mit dem Leben (Wilson et al., 2007). Gründe für ein aktuelles Interesse an Sterbehilfe oder PAS waren: terminal zu sein, Funktionsverluste zu erfahren, nicht verweilen zu wollen, wirkungslose Behandlungen zu erhalten, es als sinn- und zwecklos ansehen, in einem funktionell beeinträchtigten und sich verschlech-
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ternden gesundheitlichen Zustand weiterzuleben, nur noch zu existieren, ein hohes Alter erreicht zu haben sowie die Annahme, in Kürze sowieso sterben zu müssen (Wilson et al., 2007). Das Leiden drückte sich bei solchen Studienteilnehmern in Schmerzen, anderen physischen Symptomen, negativer Prognose und dem Verlust an Freude am und im Leben aus (Wilson et al., 2007). Andere erlebten sich aufgrund ihres Gesundheitszustandes und damit einhergehenden Pflegebedürfnissen als Last für ihre Angehörigen (Wilson et al., 2007). Auch äußerten Untersuchungspersonen, dass sie bereit wären, zu sterben, und sich wünschten, dass ihr Sterben eintreten möge (Wilson et al., 2007). Manche gaben an, ein gutes Leben hinter sich und keine Angst vor dem Sterben zu haben (Wilson et al., 2007). Einige stellten sich ihr Sterben durch dessen Beschleunigung einfacher vor und hofften, bestehendes und antizipiertes zukünftiges Leiden so vermeiden zu können (Wilson et al., 2007). Im zeitlichen Verlauf zeigten die Ergebnisse weiterer Interviews, dass der zuvor ausgedrückte Wunsch nach einem beschleunigten Sterben bei zwei Befragten instabil war und später nicht mehr bestand (Wilson et al., 2007). Der Wunsch nach einem beschleunigten Sterben hängt bei palliativ versorgten Krebspatienten folglich mit atheistischen Überzeugungen und Assoziationen betreffend den physischen und psychischen Zustand sowie mit sozialen und existenziellen Faktoren zusammen. Ebenfalls von Bedeutung sind die Höhe des erreichten Lebensalters, finanzielle Aspekte, das individuelle Wertesystem eines Menschen sowie die Bedeutung (palliativ-)medizinischer Versorgungsaspekte. Wie die Ergebnisse dieser Studie zeigen, kann der Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens vorübergehend oder anhaltend sein. Die erwähnten Gründe für oder gegen eine Legalisierung von Sterbehilfe und PAS stimmen mit den Resultaten anderer Forschungen (siehe Chapple et al., 2006; Hwang, 2005) überein.
3.4.1.4 Der Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens bei terminalen Krebspatienten sowie Interaktionen zwischen Symptomen und dem Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens Um Wünschen nach Beschleunigung des Sterbens vorbeugen und wirksame Interventionen entwickeln zu können, untersuchten Mystakidou, Parpa, Katsouda et al. (2006) bei terminalen Krebspatienten die Ausprägung des Wunsches nach Beschleunigung des Sterbens sowie die Faktoren, die einen derartigen Wunsch ankündigen. Die Ergebnisse der in Griechenland durchgeführten Studie zeigen, dass der Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens bei einem Viertel der Untersuchten stark ausgeprägt und bei einem Drittel moderat war (Mystakidou et al., 2006). Im Vergleich dieser beiden Gruppen gaben Patienten, deren
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Stand der Forschungserkenntnisse
SAHD-Werte7 niedrig waren, weniger krankheitsbedingte Symptome und eine geringere Belastung durch diese an (Mystakidou et al., 2006). Übereinstimmend damit resultiert aus den Ergebnissen, dass signifikante Korrelationen zwischen dem Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens und Schmerzen, Appetitverlust, Traurigkeit, Fatigue, dem Alter und dem klinischen Zustand (z. B. der Schwere der Krankheit) bestehen (Mystakidou et al., 2006). Am stärksten beeinflusst wurde der Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens durch Appetitmangel, Schmerzen und Traurigkeit (Mystakidou et al., 2006). Mit der Zunahme der Anzahl und Schwere körperlicher Symptome und steigendem Alter nimmt demzufolge die Wahrscheinlichkeit zu, dass ein Kranker den Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens entwickelt.
3.4.1.5 Prävalenz und Prädiktoren des Wunsches den Tod zu beschleunigen bei AIDS-Kranken Rosenfeld, Breitbart, Gibson et al. (2006) erforschten in einer in Amerika durchgeführten quantitativen Studie, das Vorkommen des Wunsches nach Beschleunigung des Sterbens und damit verbundene prädiktive Faktoren bei Patienten, die im fortgeschrittenen Stadium an AIDS erkrankt sind und palliativ versorgt wurden (Rosenfeld et al., 2006). Dreiviertel von ihnen gaben starke oder schlimmste Schmerzen an und bei nahezu jedem dritten Befragten lag eine Depression vor (Rosenfeld et al., 2006). Der Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens war bei fast jedem zwölften Befragten vorhanden und stark ausgeprägt (Rosenfeld et al., 2006). Ein starker Zusammenhang bestand zwischen dem Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens und der Hoffnungslosigkeit, dem Schweregrad einer Depression, dem spirituellen Wohlbefinden, der Lebensqualität, der sozialen Unterstützung und der Angst/dem Gefühl, anderen zur Last zu fallen (Rosenfeld et al., 2006). Für Befragte, die schon einmal eine psychische Behandlung erfahren haben, und solchen, die nicht wieder belebt werden wollen, besteht eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie einen starken Wunsch nach Beschleunigung ihres Sterbens haben (Rosenfeld et al., 2006). Signifikante Zusammenhänge bestehen auch zwischen dem Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens und der Anzahl physischer Symptome, der erfahrenen Belastung durch die Symptome und schmerzbedingten Funktionseinbußen (Rosenfeld et al., 2006). Zur Vorhersage des Wunsches nach einer Beschleunigung des Sterbens erwiesen sich allerdings nur Hoffnungslosigkeit und Depression als zuverlässige Indikatoren (Rosenfeld et al., 2006). Von den 7 Schedule of Attitudes towards Hastened Death (SAHD)-Werte: Dabei handelt es sich um Werte eines Instrumentes zur Messung eines bestehendes Todeswunsches. Je niederiger die Werte sind, desto geringer ist der Todeswunsch.
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Patienten, die gleichzeitig hoffnungslos und depressiv waren, hatte knapp die Hälfte einen starken Wunsch, ihr Sterben zu beschleunigen (Rosenfeld et al., 2006). Bezüglich Alter, Geschlecht, religiösen Aspekten oder der Anzahl Bildungsjahre wurden keine signifikanten Zusammenhänge gefunden (Rosenfeld et al., 2006). Diese Ergebnisse bestätigen die von anderen Autoren (siehe Chapple et al., 2006; Chochinov et al., 2005; Hwang, 2005; Wilson et al., 2007) geschilderte Erkenntnis, dass der Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens mit dem körperlichen Funktionieren, dem spirituellen Befinden, sozialen sowie psychischen Faktoren in Zusammenhang steht. Allerdings wird durch die obigen Resultate die von anderen Forschern (siehe Chapple et al., 2006; Hwang, 2005; Wilson et al., 2007) getroffene Feststellung, dass religiöse Aspekte und ein hohes Alter zur Entstehung oder Hemmung des Wunsches nach Beschleunigung des Sterbens beitragen, nicht bestätigt. 3.4.1.6 Die Auswirkungen sozialer Beziehungen auf die Überlegungen terminal Kranker, ihren Tod zu beschleunigen Auf welche Art und Weise soziale Beziehungen auf die Überlegungen älterer terminal Kranker einwirkten, ihren Tod zu beschleunigen, wurde in den USA von Schroepfer (2008) mit einem Mixed-Methods-Forschungsdesign untersucht. Die Untersuchungsergebnisse belegen, dass im Vergleich zu terminal Kranken, die nicht erwägen, ihren Tod zu beschleunigen, Befragte, die erwägen, ihren Tod zu beschleunigen, eine dürftige oder konfliktgeladene soziale Unterstützung erfahren und eine höhere Anzahl Bildungsjahre aufweisen (Schroepfer, 2008). Zudem besteht eine zweimal höhere Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei Letzteren eine Depression vorliegt und dass sie weniger religiös sind (Schroepfer, 2008). Zusammenhänge zwischen der Überlegung, den eigenen Tod zu beschleunigen, und dem Familienstatus (Lebenspartner, Elternschaft) wurden nicht gefunden (Schroepfer, 2008). Allerdings stellten sich der Typus und die Qualität der sozialen Unterstützung als signifikanter Faktor für die Vorhersehbarkeit von Erwägungen heraus, seinen Tod zu beschleunigen (Schroepfer, 2008). Ob und inwieweit Verantwortungsgefühle von einem Menschen verinnerlicht werden, beeinflusst ebenso, ob dieser eine Beschleunigung seines Todes erwägt oder nicht (Schroepfer, 2008). Interessant ist auch, dass in Situationen, in denen Angehörige Kranke ermutigen, weiterzuleben und mit der medizinischen Behandlung weiterzumachen, manche Befragte der Beschleunigung ihres Todes trotzdem etwas Positives abgewinnen, da dadurch ihr Leiden sowie das ihrer Angehörigen beendet würde (Schroepfer, 2008). Ausgehend von diesen Ergebnissen schlussfolgert Schroepfer (2008), dass soziale Kontrolle keinen Effekt auf Menschen hat, die der Beschleunigung ihres Todes etwas Positives abgewinnen.
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Aus der obigen Forschung resultiert, dass Menschen, die sich sozial positiv unterstützt fühlen, weniger erwägen, ihren Tod zu beschleunigen, als solche, die dürftige oder belastende soziale Unterstützung erfahren. Ob sich Kranke gegenüber nahestehenden Menschen verantwortlich oder nicht verantwortlich fühlen, kann sich demnach unterstützend oder hemmend auf Überlegungen auswirken, den eigenen Tod zu beschleunigen. Aufforderungen von Außenstehenden zum Weiterleben bleiben bei Menschen, die sich von der Beschleunigung ihres Todes positive Auswirkungen versprechen, wahrscheinlich ohne Wirkung. Die Erkenntnis, dass das Schmerzausmaß und der Familienstand keine signifikante Bedeutung für den Wunsch haben, den Tod zu beschleunigen, steht im Widerspruch zu anderen Forschungserkenntnissen (siehe Chapple et al., 2006; Mystakidou et al., 2006; siehe Nissim, Gagliese & Rhodin, 2009; Schroepfer, 2006; Van Oorschot, Schweitzer, Köhler et al., 2005; Voltz, Galushko, Walisko et al., 2010). 3.4.1.7 Angehörigenperspektiven zu den Beweggründen von Verstorbenen, die um Sterbehilfe baten Van Oorschot et al. (2005) stellten zur Untersuchung von Sterbeumständen, der Versorgung Verstorbener, dem Wunsch nach Sterbehilfe sowie Entscheidungen zum Therapieverzicht die Perspektiven von Angehörigen ins Zentrum ihrer quantitativ und retrospektiv angelegten Forschung. Die Studienergebnisse zeigen, dass jeder neunte Hinterbliebene angab, dass sein verstorbener Angehöriger um aktive Maßnahmen zur Beendigung des Lebens bat (Van Oorschot et al., 2005). Als Begründungen für den Wunsch nach Sterbehilfe wurden in absteigender Reihenfolge genannt: starke Schmerzen, Angst vor unwürdigem Sterben, fehlende Kraft, seine Situation auszuhalten, das Gefühl, Bezugspersonen zur Last zu fallen, (Angst vor) Abhängigkeit von anderen, Sinnlosigkeit des Weiterlebens, Angst vor lebensverlängernden Maßnahmen, Verlust von Würde sowie der eigenen Integrität, das Bedürfnis, die Umstände seines Todes zu kontrollieren, Angst vor starken Schmerzen und weiteren physischen Symptomen sowie geringe Lebensqualität (Van Oorschot et al., 2005). Demnach gehören neben physischen, psychischen, existenziellen und sozialen Faktoren auch antizipierte Ängste und Sorgen zu häufigen Gründen für den Wunsch nach Sterbehilfe. 3.4.1.8 Entscheidungstypen und Faktoren im Zusammenhang mit dem Wunsch nach Beschleunigung des Todes Innerhalb einer Validierungsstudie der deutschen Version der SAHD (Schedule of Attitudes Towards Hastened Death) untersuchten Voltz et al. (2010) in
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Deutschland, welche Aspekte des Lebens und Sterbens für Patienten von Bedeutung sind, die eine fortgeschrittene Krebserkrankung aufweisen und eine stationäre Palliativversorgung erhalten. Die Forscher erkannten, dass der Wunsch nach Beschleunigung des Todes in der Grundhaltung eines Menschen entweder keine Option ist oder grundsätzlich in Betracht gezogen wird (Voltz et al., 2010). Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass zwischen einem nicht akuten und einem akuten Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens unterschieden werden kann (Voltz et al., 2010). Patienten mit einem nicht akuten Wunsch sehen den Wunsch, den Tod zu beschleunigen, als eine Option für sich an. Aus der Datenanalyse resultieren drei Entscheidungstypen: Typ 1: »Das Verlangen zu leben, ohne Wunsch, den Tod zu beschleunigen« (Voltz et al., 2010, S. 4, dt. Bernhart-Just) steht für Patienten, die leben und nicht sterben wollten. Typ 2: »Weiterleben wollen, aber als eine Option sehen, den Tod zu beschleunigen« (Voltz et al., 2010, S. 4, dt. Bernhart-Just). Patienten dieses Typs wollten ebenfalls weiterleben, aber für sie stellte die Beschleunigung des Todes eine Option dar, deren Umsetzung sie sich grundsätzlich vorstellen können, falls unerträgliche körperliche Symptome anhalten, sie psychisch leiden, sich als Belastung/Last erleben, Ängste haben, die Situation unerträglich finden oder Fähigkeiten verlieren und den Lebenssinn einbüßen (Voltz et al., 2010). Als schützende Faktoren gegenüber dem Wunsch, den Tod zu beschleunigen, zeigten sich bei Patienten des Typs 2: keine Schmerzen haben, die Erhaltung des gegenwärtigen guten Zustandes, sich geliebt fühlen, das Leben genießen, Mangel an Kraft/ Stärke, Furcht vor dem Tod, wirksames Selbstmanagement emotionaler Belastung, fehlende Erlaubnis, sein Leben zu beenden, und die Sichtweise, die Beendigung des Lebens komme einer Niederlage gleich (Voltz et al., 2010). Trotz des Willens weiterzuleben suchten diese Patienten gleichzeitig aktiv nach Möglichkeiten, ihr Leben (hypothetisch) beenden zu können. Typ 3 steht für : »Das Verlangen zu sterben, aber gleichzeitig um das Leben kämpfen« (Voltz et al., 2010, S. 4, dt. Bernhart-Just). Obwohl Patienten dieses Typs aktuell den Wunsch zu sterben hatten, erlebten sie das Leben als ein Geschenk und der Kampf ums Überleben war bei solchen Patienten immer noch spürbar (Voltz et al., 2010). Der Wunsch, den Tod zu beschleunigen, wurde bei ihnen durch folgende Aspekte gestützt: ein letzter Ausweg aus emotionalem Leiden, physisches Unwohlsein, Fatigue, nicht behandelbare Schmerzen, Wunsch nach einem schnellen Sterben sowie Abhängigkeit von Medikamenten (Voltz et al., 2010). Als schützende Faktoren stellten sich heraus: hilfreiche Gespräche, Angst vor dem möglichen Misslingen eines Suizidversuchs, Kontakt zur Familie, eine sich durch Anteilnahme auszeichnende Partnerschaft, Kontakt zum Hausarzt, fehlende Schmerzen sowie Klärung und Organisation der weiteren Versorgung (Voltz et al., 2010). In der Beschleunigung des Todes für sich eine Option zu sehen, stellt nach Ansicht der Forscher eine Bewältigungsstrategie dar, die
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Menschen hilft, Kontrolle zu behalten (Voltz et al., 2010). Dass trotz des Willens zu leben gleichzeitig der Wunsch nach Beschleunigung des Todes bestehen kann, erklären sich die Forscher damit, dass es beim Wunsch nach Beschleunigung des Todes nicht lediglich um das Gegenteil des Willens zu leben geht (Voltz et al., 2010). Der Wille zu leben und der Wunsch nach Beschleunigung des Todes sind gemäß Voltz et al. eventuell nicht zwei Pole einer Dimension, sondern zwei unabhängige Dimensionen, die miteinander verwoben sind. Deshalb könnten aus Befragungen von Patienten über ihren Willen zu leben keine Aussagen über ihren Wunsch nach Beschleunigung des Todes abgeleitet werden (Voltz et al., 2010). Zudem vermuten Voltz et al. (2010), dass die Patienten vom erstmaligen Aufkommen der Idee, ihr Leben zu beenden, bis zur Umsetzung ihrer Entscheidung einen Prozess durchlaufen. Die Studienergebnisse weisen darauf hin, dass Wünsche nach Beschleunigung des Todes akut oder nicht akut sein können. Interessant ist die Annahme, dass die Patienten im Laufe der Zeit, in der sie den Wunsch hegen zu sterben, einen Prozess durchlaufen sowie die drei Entscheidungstypen, denen die Patienten sowie protektive und ursächliche Faktoren zugeordnet wurden. 3.4.1.9 Entwicklung und Erleben des Wunsches, den Tod zu beschleunigen Nissim et al. (2009) untersuchten in einer qualitativ longitudinalen Studie, wie Menschen mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung den Wunsch nach Beschleunigung des Todes erfahren und wie sich dieser Wunsch entwickelt. Die Ergebnisse zeigen, dass die gleichen Patienten zu verschiedenen Zeitpunkten im Krankheitsverlauf unterschiedliche Erlebensformen zeigten (Nissim et al., 2009). Die Erfahrung des Wunsches, den Tod zu beschleunigen, repräsentieren die drei nachstehend erläuterten Kategorien (Nissim et al., 2009). Der »Wunsch nach Beschleunigung des Todes als ein hypothetischer (Exit-)Plan« (Nissim et al., 2009, S. 168, dt. Bernhart-Just) war für Patienten eine Option, falls die Krankheit und deren Folgen nicht (mehr) kontrolliert werden könnten oder falls Schwachwerden oder Siechtum erlebt würden (Nissim et al., 2009). Ausgelöst wurde der hypothetische Plan durch zahlreiche Befürchtungen im Bezug auf das Sterben (Nissim et al., 2009). Patienten, die den Tod eher mit der Vorstellung eines belastenden Sterbens assoziierten, aber auch Patienten, die den Sterbeprozess akzeptieren können, sahen in dem Plan, »abzutreten«, ein beruhigendes Sicherheitsnetz für sich (Nissim et al., 2009). Die Überlegung, den eigenen Tod beschleunigen zu können, half manchen Patienten, mit ihrem belastenden Zustand umzugehen, und gab ihnen das Gefühl, Herr der Lage zu sein (Nissim et al., 2009). Die »Beschleunigung des Todes als Ausdruck von Verzweiflung« (Nissim et al., 2009, S. 168, dt. Bernhart-Just) stellte sich als kurzes, vorübergehendes Erleben dar, welches durch mentale oder physische Verschlimmerung
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ausgelöst wurde (Nissim et al., 2009). Die Patienten fühlten sich gefangen oder eingeschlossen, existenziell verzweifelt, hilflos und sahen in der Option, »abzutreten«, die einzige Möglichkeit, ihre Hilflosigkeit, Panik und Verzweiflung zu lindern (Nissim et al., 2009). Sich zu sagen, warum und wofür sie lebten, half ihnen, ihre Verzweiflung auszuhalten (Nissim et al., 2009). Das Gefühl von Verzweiflung flachte im Kontext physischer und mentaler Besserung ab und nahm bei Verschlechterung wieder zu (Nissim et al., 2009). Die Grenzpunkte im Hinblick auf die (Un-)Erträglichkeit von krankheitsbedingten Belastungen und Bedrohungen waren individuell verschieden (Nissim et al., 2009). Die »Beschleunigung des Todes als Anzeichen, sich gehen zu lassen« (Nissim et al., 2009, S. 169, dt. Bernhart-Just), entwickelte sich erst in den letzten Lebenswochen und war durch physische Beeinträchtigungen, Abhängigkeit, generelle körperliche und mentale Kapitulation gegenüber dem Sterben, die Ablehnung und den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen sowie einer Art Loslösung vom Leben und Begrüßung des Todes gekennzeichnet (Nissim et al., 2009). Der Wunsch nach Beschleunigung des Todes war in diesem Kontext nicht explizit vorhanden, sondern verkörperte vielmehr den Gedanken an das bevorstehende Sterben (Nissim et al., 2009). Für Nissim et al. (2009) stellt die Beschleunigung des Todes als Anzeichen, sich gehen zu lassen, eine natürliche, zum Lebensende gehörende Reaktion dar. Die drei entwickelten Kategorien interpretieren die Autoren als multidimensionales Erlebnismuster von Wünschen hinsichtlich der Beschleunigung des Todes von Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung (Nissim et al., 2009). Die Forscher ziehen das Fazit, dass mit den identifizierten Mustern diverse Bedeutungen verbunden sind, in denen es nicht einfach darum geht, sich sein Leben zu nehmen (Nissim et al., 2009). Die obigen Forschungsergebnisse veranschaulichen, dass mit der Entwicklung des Wunsches, den Tod zu beschleunigen, das Durchschreiten verschiedener Erlebnis-/Zustandsformen verbunden ist. Das Erleben von physischer Verschlechterung, antizipierten unerwünschten Aspekten, Verzweiflung, Kapitulation sowie Ablösungsprozessen begünstigte den Wunsch, den Tod zu beschleunigen. Es zeigt sich eine Kongruenz mit der Vermutung von Voltz et al. (2010), dass Patienten, die erwägen, ihr Leben zu beenden, verschiedene Zustände durchschreiten. 3.4.1.10 Faktoren, die ältere terminal Kranke motivieren, die Beschleunigung des Todes zu erwägen oder nicht zu erwägen Welche Faktoren ältere terminal Kranke motivieren, eine Beschleunigung ihres Sterbens in Betracht zu ziehen, oder bedingen, dass Menschen eine solche Vorgehensweise nicht erwägen, wurde von Schroepfer (2006) in einer qualitativen Querschnittsstudie untersucht. Die Auswertung der Interviewdaten
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brachte sechs Gemütszustände hervor, in denen sich die Studienteilnehmer befanden (Schroepfer, 2006). Für Zustand 1, weder bereit sein zu sterben noch das Sterben akzeptieren, war charakteristisch, dass Befragte um ihr Leben kämpften, einen starken Lebenswillen hatten und im Sterben nichts Positives sahen (Schroepfer, 2006). Faktoren, die in solchen Fällen eine fehlende Bereitschaft zu sterben bedingten, waren: das Zusammensein mit der Familie, das Leben genießen, unvollendete Tätigkeiten, sich gebraucht fühlen, Aufgaben haben, Verantwortung für etwas tragen, religiöse Überzeugungen, Angst vor dem Sterben, die Überzeugung, Gott wolle, dass man kämpft, die Furcht vor dem Unbekannten sowie davor, im Grab alleine zu sein (Schroepfer, 2006). Bei Zustand 2, nicht bereit sein, zu sterben, aber akzeptieren, dass man sterben wird, nahmen die Interviewten das Sterben und den Tod als natürlichen Teil des Lebens hin, waren aber nicht bereit, selbst schon zu sterben (Schroepfer, 2006). Ihre Einstellung gegenüber dem Sterben wirkte sachlich und sie schienen nachgiebige, ruhige Menschen zu sein (Schroepfer, 2006). Ihre fehlende Bereitschaft zu sterben war bedingt durch: ihre Familie, unerledigte Arbeiten, Freude am Leben und Genuss, die Fähigkeit, im Leben eine aktive Rolle zu spielen, den Erhalt von Hilfsmitteln und emotionaler Unterstützung von Familienmitgliedern und das Gefühl, Verantwortung sowie Sinn zu erfahren (Schroepfer, 2006). Bei Zustand 3, bereit sein zu sterben und das Sterben akzeptieren, fürchteten die Kranken sich nicht vor dem Sterben und sahen im Sterben einen Weg zu einem besseren Ort, waren von der Güte Gottes überzeugt und sprachen von der Wiedervereinigung mit Verstorbenen (Schroepfer, 2006). Für die meisten von ihnen stellte der Tod einen natürlichen Teil des Lebens dar und einige äußerten, Frieden gefunden zu haben, und genossen ihre Lebenszeit (Schroepfer, 2006). Manche konnten ihrer Existenz nichts mehr abgewinnen, einige sagten, dass sie sich freuen würden, wenn sie endlich sterben könnten, und auf diesen Tag warteten (Schroepfer, 2006). Faktoren, die zu Ersterem beitrugen, waren: das Leben nicht länger genießen, das Leben traurig finden oder sich nutzlos, abhängig oder als Last für andere zu fühlen (Schroepfer, 2006). Faktoren, die zur Akzeptanz des Sterbens beitrugen, waren: die Überzeugung, dass der Zeitpunkt des Sterbens Gottes Entscheidung und nicht die eigene ist, keine Angst vor dem Sterben und der Glaube, dass es besser ist, zu sterben als weiterzuleben (Schroepfer, 2006). Für Zustand 4, bereit sein zu sterben, es akzeptieren und sich wünschen (Schroepfer, 2006, S. 134, dt. Bernhart-Just) erwogen die Betroffenen nicht, ihren Tod zu beschleunigen, wünschten sich aber, möglichst bald zu sterben (Schroepfer, 2006). Der Wunsch zu sterben begründete sich bei ihnen dadurch, dass sie das Leben nicht länger genießen konnten, sich nutzlos fühlten, Erschöpfung, Schmerzen, Angst vor zukünftigen Leiden fürchteten und ihre Existenz nicht länger bejahen konnten (Schroepfer, 2006). Faktoren, die der Beschleunigung des Sterbens entgegenwirkten, waren: die
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Familie, die Ansicht, der Zeitpunkt des Sterbens sei Gottes Entscheidung, die Liebe und die Unterstützung durch nahestehende Bezugspersonen und der Wille, auf die Familie Rücksicht zu nehmen (Schroepfer, 2006). In Zustand 5, die Beschleunigung des Sterbens erwägen, aber keinen spezifischen Plan haben, hatten Kranke das Gefühl, ihre Existenz nicht länger bejahen zu können (Schroepfer, 2006). Bezüglich des Entscheids, sein Sterben zu beschleunigen und dazu erforderliche Schritte einzuleiten, zeigten sich bei ihnen jedoch ambivalente Gefühle (Schroepfer, 2006). Psychosoziale Faktoren bewogen diese Menschen stärker als physische Faktoren dazu, die Beschleunigung ihres Sterbens ernsthaft zu erwägen (Schroepfer, 2006). Dass sie über keinen konkreten Plan verfügten, wird auf körperliche Beeinträchtigungen, unzureichende Unterstützung durch Bezugspersonen und religiöse Gründe zurückgeführt (Schroepfer, 2006). In Zustand 6, die Beschleunigung des Sterbens erwägen und einen konkreten Plan haben, erwogen die Interviewten, die Beschleunigung ihres Sterbens in die Tat umzusetzen, und verfügten über einen konkreten Plan, wie sie dies tun würden (Schroepfer, 2006). Die Suizidpläne betrafen zum Beispiel den Abbruch medizinischer Behandlungen oder die Kontaktaufnahme mit einer Suizidbeihilfeorganisation (Schroepfer, 2006). Faktoren, die sie ernsthaft bewogen, ihr Sterben zu beschleunigen, waren: sich nutzlos fühlen, unfähig sein, tägliche Lebensaufgaben zu erledigen, keine Freude mehr am Leben haben, Einschränkungen, Verluste der Fähigkeit, sich zu bewegen oder zu sprechen, Angst vor einem leidvollen, schmerzhaften Sterben und das Miterleben belastender Sterbeereignisse von Bezugspersonen (Schroepfer, 2006). Einen Plan zu haben, gab ihnen das Gefühl von Kontrolle für den Fall, dass ihr Leben für sie unerträglich würde (Schroepfer, 2006). Daneben gab es auch Faktoren, welche die Realisierung des Plans, sein Sterben zu beschleunigen, behinderten: körperliche Beeinträchtigungen, welche einem verunmöglichen, bestimmte lebensbeendende Maßnahmen auszuführen, das Gefühl, dass das Leben immer noch erträglich ist oder die Bezugspersonen nicht mit Suizid belasten zu wollen (Schroepfer, 2006). Manche hatten zu lange mit der Realisierung ihres Vorhabens gewartet (Schroepfer, 2006). Die Befragten in diesem Zustand erlebten ihre Krankheit als unerträglich oder fürchteten, dass es so weit kommen würde (Schroepfer, 2006). Die einzige Lösung, ihrem körperlichen und emotionalen Schmerz zu begegnen, sahen sie darin, ihr Sterben zu beschleunigen (Schroepfer, 2006). Während der Interviews wechselten die Untersuchungspersonen ihren Gemütszustand nicht (Schroepfer, 2006). Allerdings gaben einige an, dass sie sich zu einem früheren Zeitpunkt in einer anderen Lage befanden (Schroepfer, 2006). Dass es sich bei den verschiedenen Gemütszuständen um ein auf alle übertragbares Kontinuum handelt, schließt die Forscherin aus, da sich nicht alle Befragten durch die verschiedenen Gemütszustände bewegten (Schroepfer, 2006). Diese Untersuchungsergebnisse zeigen, dass psychosoziale Faktoren häufiger
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als physische Faktoren Motive für die Beschleunigung des Sterbens sind. Dass chronisch Kranke sich in unterschiedlichen Gemütszuständen befinden, wurde auch in anderen Untersuchungen (siehe Nissim et al., 2009; Voltz et al., 2010) erkannt. Das einige Studienteilnehmer sich zu früheren Zeitpunkten in einem anderen Gemütszustand befanden, stützt die bereits in anderen Untersuchungen geäußerte These, dass chronisch Kranke im Krankheitsverlauf innerhalb eines bestimmten, aber bislang noch unbekannten Prozesses verschiedene Typen des Erlebens durchschreiten kann (siehe Nissim et al., 2009; Voltz et al., 2010). Zusammenfassung In den erläuterten Studien aus Ländern, in denen ärztlich assistierter Suizid und Sterbehilfe gegenwärtig illegal sind, wurden unterschiedliche Forschungsdesigns angewendet. Zwei Forschungen liegt ein Mixed-Methods-Ansatz zugrunde, drei Studien sind rein quantitativ und fünf qualitativ angelegt. Bei den Untersuchungen handelt es sich hauptsächlich um Querschnittsstudien. Nur bei einer Forschung wurde eine longitudinale Datenerhebung realisiert. Die Forschungssamples erfassen neben Menschen, die an körperlichen Beeinträchtigungen oder AIDS erkrankt sind, in sieben Studien vorwiegend terminale Krebspatienten. In einer Studie wurden Angehörige von Verstorbenen, die zuvor palliativ versorgt wurden, befragt. Die Größe der Forschungssamples liegt bei den qualitativen Studien zwischen 27 und 55 Studienteilnehmern und bei den quantitativen und Mixed-Methods-Studien zwischen 96 und 379 Untersuchungspersonen. Die Tatsache, dass Forscher, die den Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens erforschen, häufig in ihrem Sample kaum mehr als 5 bis 31 Untersuchungspersonen verzeichnen, die diesen Wunsch verspüren, deutet auf Schwächen in der Samplingstrategie hin und scheint betreffend der eigentlichen Forschungsabsicht fraglich. Sechs Forschungen wurden in den USA und in Kanada durchgeführt. Vier Forschungen stammen aus Europa (Deutschland, Griechenland, Großbritannien). Untersuchungsgegenstände der Forschungen sind die Einstellungen gegenüber ärztlich assistiertem Suizid und Sterbehilfe von terminalen Krebspatienten und Menschen, die eine körperliche Beeinträchtigung haben. Es wurden Faktoren und Beweggründe, die mit Wünschen nach Beschleunigung des Sterbens einhergehen, und deren Auswirkungen auf diese Wünsche untersucht. Zudem wurden die Entwicklung, die Prävalenz, das Erleben von Wünschen, den Tod zu beschleunigen, sowie diesbezügliche Entscheidungstypen erforscht. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich zu den genannten Untersuchungsgegenständen Bedarf an Forschung zu anderen physisch chronisch kranken Patientenpopulationen ab, die sich nicht in einem terminalen Stadium befinden. Da die Forschungserkenntnisse in Ländern gewonnen wurden, in denen ärztlich assistierter Suizid und Sterbehilfe gegenwärtig illegal sind,
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wäre eine Wiederholung der einen oder anderen Studie in einem Land, in welchem PAS und Sterbehilfe legal erlaubt sind, interessant.
3.4.2 Erkenntnisse zu Faktoren, die Menschen in Ländern, in denen ärztlich assistierter Suizid und Sterbehilfe legal sind, entscheiden lassen, ihr Leben auf die eine oder andere Art zu beenden In den folgenden Kapiteln werden Forschungserkenntnisse zu Menschen erläutert, die innerhalb eines legalen Kontextes Beihilfe zu Suizid, ärztlich assistiertem Suizid oder Sterbehilfe erwägen, darum ersuchen und diese anwenden. Entsprechende Erkenntnisse liegen gegenwärtig aus Belgien, den Niederlanden, drei Bundesstaaten der USA (Oregon, Washington, Montana) und der Schweiz vor. 3.4.2.1 Erkenntnisse zu Faktoren und Beweggründen von Menschen, die in Belgien durch ärztlich assistierten Suizid oder Sterbehilfe gestorben sind Aus Belgien wurden keine Studien gefunden, in denen explizit aus der Sicht physisch chronisch Kranker untersucht wurde, warum sie erwägen, ihr Leben durch ärztlich assistierten Suizid oder Sterbehilfe zu beenden. Um dennoch diesbezüglich relevante Erkenntnisse gewinnen zu können, wurden drei belgische Forschungen in die Literaturanalyse eingeschlossen, in welchen die Prävalenz und die Art medizinischer Entscheidungstypen am Lebensende, die erbrachte Versorgung in den letzten Lebensmonaten und die praktische Ausübung von ärztlich assistiertem Suizid bzw. Sterbehilfe erforscht wurden. Aus diesen Forschungen resultieren wichtige Erkenntnisse zu (Kontext-)Faktoren und Beweggründen von Menschen, die in Belgien durch PAD starben. 3.4.2.1.1 Die Praxis des ärztlich assistierten Suizids und der Sterbehilfe in Belgien Zur Untersuchung medizinischer Entscheidungen am Lebensende wurden in der Studie von Chambaere, Bilsen, Cohen et al. (2010) Todesbescheinigungen aus dem Jahr 2007 analysiert und Ärzten ein Fragebogen zugeschickt. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass in 142 Todesfällen ein explizites Gesuch nach ärztlich assistiertem Sterben (PAD) vorlag und bei 66 weiteren Todesfällen ein solches fehlte. Die soziodemographischen Angaben zeigen, dass von 142 durch PAD Verstorbenen 61,3 % männlich waren (Chambaere et al., 2010). Bei 37 % der Verstorbenen lag das Alter zwischen 1 und 64 Jahren, 42,6 % waren zwischen 65 und 79 Jahren alt und 20,4 % waren 80 Jahre oder älter (Chambaere et al., 2010). Bei 80 % der Verstorbenen lag eine Krebserkrankung vor (Chambaere et
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al., 2010). Die verkürzte Lebenszeit durch PAD wurde bei 44 % auf weniger als eine Woche geschätzt, bei 44 % zwischen ein und sieben Tagen und bei 11 % auf weniger als einen Tag (Chambaere et al., 2010). Bei 50 % war das Zuhause der Todesort, 41 % starben in einem Krankenhaus und 3 % in einem Pflegeheim (Chambaere et al., 2010). Aus ärztlicher Sicht sind die Gründe, warum die Verstorbenen um PAD ersuchten: der Wunsch des Patienten nach PAD, keine Aussicht auf Besserung, neben starken Schmerzen andere schwere Symptome, Erwartung weiteren Leidens und Abnahme der Lebensqualität, der Verlust an Würde, der Wunsch, das Leben nicht unnötig zu verlängern, der Wunsch der Familie nach PAD sowie das Bedürfnis, eine unerträgliche Situation für die Familie zu vermeiden (Chambaere et al., 2010). Auffallend an den Ergebnissen ist, dass ein Teil der Familien die Situation ihrer Angehörigen offensichtlich als unerträglich erlebte und sie den Wunsch nach Realisierung von PAD äußerten. Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich in der Untersuchung von Ganzini, Beer & Brouns (2006), in welcher berichtet wird, dass Familienmitglieder, die das Gefühl haben, durch ihre erkrankten Angehörigen belastet zu sein, ein Gesuch nach PAS eher unterstützen. Ausgehend von diesen Erkenntnissen ist zu bedenken, dass insbesondere belastete Familien dazu beitragen können, dass sich ihre erkrankten Angehörigen auf den Pfad ärztlich assistierten Suizids oder der Sterbehilfe begeben, oder sie darin bestärken, diesen Weg zu verfolgen und in die Tat umzusetzen. 3.4.2.1.2 Die Ausübung von Sterbehilfe seit Inkrafttreten des belgischen Sterbehilfegesetzes Um die Entwicklung der Sterbehilfe in Belgien über die letzten Jahre zu beleuchten, analysierten Smets et al. (2010) Sterbehilfefälle zwischen 2002 und 2007 auf ihre demographischen Merkmale hin und verglichen diese mit den Todesstatistiken von Flandern und Brüssel. Mit Blick auf die klinischen Entscheidungen für die Durchführung von Sterbehilfe untersuchten und verglichen sie die Merkmale zwischen terminalen und nicht terminalen Patienten (Smets et al., 2010). Die Ergebnisse dieser quantitativen Studie veranschaulichen, dass die Häufigkeit der berichteten Sterbehilfefälle von 0,23 % (im Jahr 2002) auf 0,49 % (im Jahr 2007) anstieg (Smets et al., 2010). Die durch Sterbehilfe Verstorbenen waren überwiegend jünger als 80 Jahre und mehrheitlich männlich (Smets et al., 2010). Der Großteil der Verstorbenen litt an einer Krebserkrankung, galt als terminal und starb in einem Krankenhaus oder zu Hause (Smets et al., 2010). Als physische Leiden lagen in absteigender Folge Schmerzen, Kachexie, Erschöpfung, Dysphagie, Erbrechen, Verstopfung, Atemnot, starke Wunden und Blutungen vor (Smets et al., 2010). Unter psychischen Leiden wurden der Verlust der Würde, Verzweiflung und Abhängigkeit subsumiert (Smets et al., 2010). Verglichen mit terminalen Patienten litten nicht terminale Patienten signifikant
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mehr unter psychischen Leiden sowie unter der Abhängigkeit von anderen (Smets et al., 2010). Unter physischen Symptomen litten hingegen mehr terminal kranke Menschen (Smets et al., 2010). Dass alle durch Sterbehilfe Verstorbenen physische und/oder psychische Leiden angaben, deutet darauf hin, dass die Empfindung jeglicher Art von Leiden zum Zeitpunkt der Sterbehilfe unabhängig davon ist, ob Menschen als terminal oder nicht terminal eingestuft werden. Die oben erwähnten physischen und psychischen Faktoren können als mögliche Kontextfaktoren betrachtet werden, die den Prozess hin zum Euthanasiewunsch beeinflussen. 3.4.2.1.3 Der Zusammenhang zwischen der Versorgung in den letzten Lebensmonaten sowie der Prävalenz und Art medizinischer Entscheidungstypen am Lebensende Der Erforschung des Zusammenhangs zwischen der erbrachten Versorgung in den letzten drei Lebensmonaten und der Prävalenz sowie der Art von Entscheidungen am Lebensende gingen Van den Block, Deschepper, Bilsen et al. (2009) nach, indem sie gemeldete Todesfälle retrospektiv analysierten. Von 1690 Todesfällen wurden 22 Fälle der End-of-Life-Entscheidung Sterbehilfe oder ärztlich assistierter Suizid zugeordnet (Van den Block et al., 2009). Bei elf dieser Fälle lag das Alter der Verstorbenen zwischen 65 bis 85 Jahren, vier waren älter als 85 Jahre und die Hälfte war weiblich (Van den Block et al., 2009). Bei den meisten lag eine Krebserkrankung vor (Van den Block et al., 2009). Einige Patienten befanden sich in einem Übergang von Heilung und Lebensverlängerung hin zu Palliation und Wohlbefinden; bei anderen wurde als Behandlungsziel Palliation sowie Wohlbefinden angegeben (Van den Block et al., 2009). Zwischen der End-of-Life-Entscheidung Sterbehilfe oder ärztlich assistierter Suizid und der Beteiligung von Versorgungserbringern und multidisziplinären PalliativeCare-Dienstleistungen wurde kein signifikanter Zusammenhang gefunden (Van den Block et al., 2009). Auffallend ist, dass Patienten, die ein größeres Ausmaß an spiritueller Versorgung erhielten, signifikant stärker gefährdet waren, durch Sterbehilfe oder ärztlich assistierten Suizid zu sterben, als solche, deren spirituelle Versorgung in einem geringeren Ausmaß erfolgte (Van den Block et al., 2009). Dieses Ergebnis erklären sich die Forscher damit, dass eine spirituelle Versorgung Patienten ermutigen kann, ihre Wünsche nach Sterbehilfe oder PAS zum Ausdruck zu bringen, oder dass solche Menschen eine intensivere spirituelle Versorgung erhielten, weil sie nach Sterbehilfe oder PAS fragten (Van den Block et al., 2009). Dass Sterbehilfe und PAS in dieser Untersuchung in stationären Palliativabteilungen auftraten, widerlegt die gängige Ansicht von Gegnern der Suizidbeihilfe, dass Menschen, die Sterbehilfe oder PAS begehen, keinen Zugang zu einer palliativen Versorgung haben. Interessant wäre diesbezüglich, in Erfahrung zu
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bringen, wie lange sich die Verstorbenen vor ihrem Tod in palliativer Behandlung befanden, wie die palliative Versorgung genau aussah, ob sie selbst gewählt wurde oder sie sich für die Verstorbenen quasi zwangsweise aufgrund gesundheitlicher Verschlechterung ergab. Auffällig sind die Bezeichnung und Unterscheidung von Heilung, Lebensverlängerung, Palliation und Wohlergehen, die von den Forschern anscheinend als voneinander losgelöste Behandlungsziele wahrgenommen werden. Diese Unterscheidung entspricht nicht einem integralen Verständnis von Palliative Care. Bei dem Gedanken an Behandlungsziele wie Heilung oder Lebensverlängerung ohne Integration der Förderung von Wohlbefinden und Palliation bleiben zu dieser Studie Fragen zurück. Gleiches gilt für die Datenerfassung zum Ausmaß der erbrachten physischen, psychosozialen und spirituellen Versorgungsinhalte. Hier wären differenzierte definitorische Ausführungen zum Gegenstand und zur Qualität z. B. der erbrachten spirituellen Versorgungsinhalte angezeigt, denn der Hinweis, dass es bei der spirituellen Versorgung um existenzielle und religiöse Aspekte geht, ist für den Leser nicht aufschlussreich. Zusammenfassung Das Forschungsdesign der belgischen Studien ist ausschließlich quantitativ und retrospektiv angelegt. Die Stichprobengröße umfasst in jeder der drei Studien mehr als 1000 Todesfälle. In allen Studien wurden Daten aus Datenregistern analysiert, in denen Todesfälle durch ärztlich assistiertes Sterben (PAD) und Sterbehilfe erfasst wurden. Die Studien liefern Erkenntnisse zu demographischen Daten, der Prävalenz und der Art von End-of-Life-Entscheidungstypen, der Art der End-of-Life-Versorgung, der Ausübung ärztlich assistierten Suizids und Sterbehilfe und der damit einhergehenden Verkürzung der Lebenszeit sowie der Sterbeorte. Zu (Kontext-)Faktoren und Beweggründen von Menschen, die in Belgien durch PAD oder Sterbehilfe gestorben sind, liegen somit einzig rudimentäre Erkenntnisse aus drei quantitativen Forschungen vor. Wissen, das aus qualitativen Studien resultiert, fehlt. So liegen aus der Sicht von Menschen, die in Belgien mit dem Gedanken spielen, durch PAD oder Sterbehilfe zu sterben, und damit verbundenen Entscheidungsprozessen keine Forschungserkenntnisse vor. Wissen fehlt auch dazu, wie es mit dem Lebenswillen von Menschen steht, die erwägen, mittels PAD oder Sterbehilfe zu sterben, und wie es dazu kommt, dass Menschen in Belgien durch PAD oder Sterbehilfe sterben (wollen).
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3.4.2.2 Erkenntnisse zu Faktoren und Beweggründen von Menschen, die in den Niederlanden durch ärztlich assistierten Suizid oder Sterbehilfe gestorben sind In diesem Kapitel werden die Erkenntnisse aus 14 Publikationen erörtert, die im Zusammenhang mit Menschen stehen, die in den Niederlanden um Sterbehilfe oder PAS ersucht haben und so gestorben sind. 3.4.2.2.1 Faktoren, die mit Gesuchen von Patienten nach Sterbehilfe oder ärztlich assistiertem Suizid in Zusammenhang stehen Aus der Sicht von 87 Familienmitgliedern untersuchten Georges, OnwuteakaPhilipsen, Muller et al. (2007) in einer qualitativen, retrospektiven Forschung mittels Interviews die Eigenarten von Menschen, die durch Sterbehilfe oder PAS starben, Gründe für den Wunsch nach Sterbehilfe oder PAS sowie die Bedeutung von Sterbehilfe und PAS für die Qualität des Lebensendes. Die Verstorbenen waren zum Zeitpunkt ihres Todes durchschnittlich 66 Jahre alt, überwiegend an Krebs erkrankt und männlich (Georges et al., 2007). Durch Sterbehilfe starben 97 % und durch PAS 3 % (Georges et al., 2007). Der häufigste Ort des Sterbens war das eigene Zuhause, gefolgt von Krankenhäusern, Pflegeheimen und Hospizen (Georges et al., 2007). Es zeigte sich, dass 79 % der Verstorbenen ihren Familienmitgliedern ihre Überlegungen betreffend Sterbehilfe und PAS bereits lange Zeit vor Auftreten einer Krankheit (1 Woche bis 20 Jahre) mitteilten (Georges et al., 2007). 90 % fanden es nicht schwierig, dem Arzt mitzuteilen, dass sie ein Gesuch nach Sterbehilfe oder PAS gestellt haben, und 74 % schienen mit der Reaktion ihres Arztes zufrieden (Georges et al., 2007). Für 16 % war das Verhalten des Arztes enttäuschend, und 10 % wussten nicht genau, was sie vom Verhalten des Arztes halten sollten (Georges et al., 2007). Gründe dafür, dass Verstorbene um Sterbehilfe oder PAS baten, waren nach Ansicht der Familienmitglieder : keine Belastung für andere sein zu wollen, eine Belastung für andere zu sein, die Einweisung in ein Krankenhaus, hoffnungsloses oder bedeutungsloses Leiden, Verlust an Würde, fehlende Aussicht auf Erholung, Abhängigkeit in täglichen Lebensaktivitäten, generelle Schwäche, Schmerzen, Erstickungsangst, Immobilität, Erbrechen, Lebensmüdigkeit, Depression oder der Wunsch, sich bei Bewusstsein aus dem Leben zu verabschieden (Georges et al., 2007). Laut Familienmitgliedern verbesserte das Sterben durch Sterbehilfe oder PAS die Qualität des Sterbens ihrer Angehörigen, weil durch die verkürzte Lebenszeit aktuelles Leiden gelindert und weiteres Leiden vermieden werden konnte (Georges et al., 2007). Aus Sicht der Angehörigen erfuhren die Verstorbenen durch die Möglichkeit, durch Sterbehilfe oder PAS zu sterben, die Sicherheit, dass ihr Wunsch nach einem würdevolles Sterben akzeptiert würde und ihr Sterben zur richtigen Zeit erfolgen könnte (Georges et al., 2007). Die Verstor-
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benen schienen bereit zu sterben (Georges et al., 2007). Die meisten von ihnen nahmen vor ihrem Tod von nahestehenden Menschen Abschied und starben nach Auffassung ihrer Familie friedlich (Georges et al., 2007). Dass die Verstorbenen ihre Überlegungen zur Sterbehilfe oder PAS bereits lange Zeit vor ihrem konkreten Verlangen mit ihren Familienangehörigen besprachen, spricht dafür, dass die Erwägung und der Entscheid, ein solches Gesuch zu stellen, aus vorausgegangenen Auseinandersetzungs- und Entscheidungsprozessen resultiert. Deutlich wird auch, dass die Beweggründe, die Menschen um Sterbehilfe oder PAS ersuchen lassen, aus dem subjektiven Erleben des gegenwärtigen sowie des antizipierten zukünftigen Daseins resultieren. Entscheidend scheinen vor allem physische, psychische, soziale, existenzielle und behandlungsbezogene Aspekte des eigenen Daseins sowie die Frage, inwiefern die zuvor genannten Aspekte mit dem Wertsystem eines Menschen harmonieren oder davon abweichen. Der Großteil der Verstorbenen war mit der Reaktion des Arztes auf das Verlangen nach Sterbehilfe oder PAS zufrieden. Aufgrund der niederländischen Gesetzeslage sind Ärzte im Umgang mit Menschen, die um Sterbehilfe oder PAS ersuchen, möglicherweise besser ausgebildet und stärker sensibilisiert, sodass sie sich solchen Diskussionen mit Patienten stellen und ihnen offen, zugänglich und teilnehmend begegnen. 3.4.2.2.2 Inzidenz, Merkmale und Gründe von Menschen, die ohne schwere Krankheit um Sterbehilfe oder PAS ersuchen In den Niederlanden zeigen die Erfahrungen mit Sterbehilfe- oder PAS-Gesuchen, dass sich auch ältere Menschen, die keine schwere Krankheit, aber ebenfalls den Wunsch zu sterben haben, mit entsprechenden Gesuchen an Ärzte wenden. Dieser Umstand und die niederländische Gesetzeslage, die Ärzten die Bewilligung von Gesuchen nach Sterbehilfe oder PAS bei nicht Schwerkranken untersagt, veranlassten Rurup, Muller, Onwuteaka-Philipsen et al. (2005b) zur Erforschung der Inzidenz, der Merkmale sowie der Gründe solcher Menschen, nach Sterbehilfe oder PAS zu ersuchen. Die Anzahl der Gesuche aus den Jahren 2000 bis 2001 und die Analyse der Interviewdaten von 410 Ärzten legen dar, dass in den Niederlanden jährlich nahezu 400 Menschen aufgrund von Lebensmüdigkeit um Sterbehilfe oder PAS bitten und dass 30 % der befragten Ärzte mindestens einmal mit einem Gesuch dieser Art konfrontiert wurden (Rurup et al., 2005b). Das Durchschnittsalter von Patienten, die als nicht schwer krank bezeichnet wurden und um Sterbehilfe oder PAS ersuchten, lag bei 81 Jahren (Rurup et al., 2005b). Sie litten z. B. an Arthritis, einer Darmerkrankung, abnehmender Mobilität oder wiesen einen stabilen Zustand nach einer Krebserkrankung auf und manche von ihnen waren multimorbid (Rurup et al., 2005b). Diese sogenannten nicht schweren Krankheitszustände beurteilten 48 % der Ärzte für ihre Patienten als zumutbar (Rurup et al., 2005b). Die Versorgung ihrer
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Patienten beurteilten 72 % der Ärzte als adäquat (Rurup et al., 2005b). Als Gründe für die Gesuche nach Sterbehilfe oder PAS nannten die Ärzte: das Leben satt zu haben, physischen Verfall, Lebensmüdigkeit, fehlender Lebenssinn, Melancholie/Depressivität sowie Einsamkeit (Rurup et al., 2005b). Benannt wurden auch Abhängigkeit, Leiden am Leben, Verschlechterung, Verlust an Würde, Statusverlust, der Wunsch, Angehörigen nicht mehr zur Last zu fallen, Schmerzen, kognitiver Verfall, Tod von Verwandten und die Unfähigkeit, selbstständig zu bleiben (Rurup et al., 2005b). Patienten, die ihren Wunsch zurückzogen, durch Sterbehilfe oder PAS zu sterben, erhielten entweder Antidepressiva, psychosoziale oder psychische Unterstützung oder wurden zur Symptomlinderung in einem Krankenhaus behandelt (Rurup et al., 2005b). Für Patienten, die ihren Sterbewunsch zurückzogen, war es wichtig, fähig zu sein, ihr Leben jederzeit, das heißt, nach ihrem Willen beenden zu können (Rurup et al., 2005b). Neben Patienten, die trotz medizinischer Behandlung bei ihrem Gesuch nach PAS blieben, hielten auch Patienten ohne Behandlung daran fest (Rurup et al., 2005b). Einige Patienten, deren Gesuch abgelehnt wurde, beendeten ihr Leben selbst, indem sie sich erhängten oder nicht mehr aßen (Rurup et al., 2005b). Die Beurteilung, ob Menschen an einer schweren oder an einer nicht schweren Krankheit leiden, irritiert. Ob eine schwere oder nicht schwere Krankheit vorliegt, kann objektiv betrachtet aus der gestellten medizinischen Diagnose eines Patienten abgeleitet werden. Aus der Sicht Kranker ist allerdings maßgeblich, ob eine Krankheit und damit einhergehende Auswirkungen subjektiv als schwer oder nicht schwerwiegend erlebt werden. Darmerkrankungen, die in der obigen Untersuchung als nicht schwere Krankheit betrachtet werden, können für Menschen, die sich zum Beispiel aufgrund eines Reizdarms und damit verbundener Stuhlinkontinenz nicht mehr aus dem Haus wagen, subjektiv gesehen schwere Krankheiten darstellen. Der Rückzug des Gesuches nach Sterbehilfe oder PAS bei den erwähnten Patienten zeigt, dass eingeleitete, von Patienten als hilfreich erlebte Behandlungsmaßnahmen den Wunsch nach PAS und Sterbehilfe in den Hintergrund treten lassen können. 3.4.2.2.3 Charakteristika, Symptome und Gründe von Patienten, die aufgrund von Lebensmüdigkeit um Sterbehilfe bitten Ausgehend von dem Bedürfnis, mehr über Menschen zu erfahren, die aufgrund von Lebensmüdigkeit um Sterbehilfe oder PAS bitten, untersuchten Rurup, Onwuteaka-Philipsen, Jansen-Van der Weide et al. (2005a) das Auftreten von Lebensmüdigkeit im Kontext von Sterbehilfe- und PAS-Gesuchen mittels einer schriftlichen Befragung von 4842 Ärzten. Bei 408 Gesuchen wurde Lebensmüdigkeit als ein wichtiger Grund genannt (Rurup et al., 2005a). In diesen Fällen lag Lebensmüdigkeit bei 282 Krebspatienten, bei 81 schwer erkrankten Patienten
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(z. B. COPD, ALS, MS, Osteoporose) und bei 45 Patienten, die keine schwere Krankheit hatten, vor (Rurup et al., 2005a). Die Mehrheit war weiblich; 47 % waren in einem Alter von 61 bis 80 Jahren und 36 % zwischen 81 bis 100 Jahren (Rurup et al., 2005a). Für 139 Patienten stellte die Lebensmüdigkeit den wichtigsten Grund für das Gesuch nach Sterbehilfe oder PAS dar (Rurup et al., 2005a). Weitere Gründe waren: Schwäche/Müdigkeit, eine Verletzung oder der Verlust von Würde, Behinderung/Immobilität, sinn-/zweckloses Leiden, der Wunsch, der Familie nicht zur Last zu fallen, Depressivität, Schmerzen, Übelkeit und Angst zu ersticken (Rurup et al., 2005a). In 55 % der Fälle bezogen sich die Gründe auf die gegenwärtige, in 8 % auf die zukünftige Situation sowie in 37 % auf die gegenwärtige und zukünftige Patientensituation (Rurup et al., 2005a). Nach Anwendung einer palliativen Behandlung zogen manche Patienten ihr Sterbehilfe- oder PAS-Gesuch zurück; andere hielten ihr Gesuch trotz palliativer Behandlung aufrecht oder lehnten jegliche Behandlung ab (Rurup et al., 2005a). In 23 % der Fälle wurde das Leiden als unerträglich und in 37 % als hoffnungslos empfunden (Rurup et al., 2005a). Als entscheidende Faktoren für die Bewilligung eines Sterbehilfe- oder PAS-Gesuches stellten sich starke Hoffnungslosigkeit, das Fehlen von Behandlungsalternativen, depressive Anzeichen sowie ausgeprägtes, unerträgliches Leiden heraus (Rurup et al., 2005a). Vor dem Hintergrund der untersuchten Patientenpopulation stellt sich die Frage, inwiefern sich die Forscher über das Symptom »Fatigue« im Rahmen der Symptomerfassung Gedanken gemacht haben, denn die größte Gruppe der Untersuchten stellten Krebspatienten dar, die erfahrungsgemäß häufig unter Fatigue leiden. Der üblicherweise gebräuchliche Ausdruck Fatigue wurde von den Forschern nicht als Symptom aufgeführt. Stattdessen wurde »tired«, sprich müde sein, erfasst. Da nicht bekannt ist, wie die Ärzte zu ihrer Einschätzung kamen, dass eine große Anzahl ihrer Patienten aufgrund ihrer Lebensmüdigkeit um Sterbehilfe oder PAS baten und keine systematische Operationalisierung des Konzeptes »Lebensmüdigkeit« erkenntlich ist, bleibt unklar, ob und inwieweit in der Untersuchung tatsächlich das Phänomen »Lebensmüdigkeit« erfasst wurde. 3.4.2.2.4 Das krankheitsspezifische Symptomerleben von Patienten, die um Sterbehilfe oder PAS bitten, und Faktoren, die das Leiden von Patienten unerträglich werden lassen In den Niederlanden bitten erfahrungsgemäß mehr an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder an Krebs Erkrankte um Sterbehilfe oder PAS als herzkranke Patienten. Zur Erforschung krankheitsspezifischer Unterschiede, die im Zusammenhang mit Gesuchen nach Sterbehilfe oder PAS stehen, wurden von Ärzten verfasste Konsultationsberichte und Fragebögen zu 51 ALS-Patienten, 73 Krebspatienten und 61 herzinsuffizienten Patienten analysiert und verglichen (Maessen, Veldink, Van den Berg et al., 2010). Gegenüber Krebs- und ALS-
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Patienten erlebten herzkranke Patienten häufiger : Inaktivität, Kranksein, Fatigue, Atemnot, Hustenreiz und Depressivität (Maessen et al., 2010). Bei den Krebspatienten lagen häufiger Appetitmangel, Schmerzen, Angst, Übelkeit, Erbrechen, Dekubiti, Verwirrtheit und reduziertes Bewusstsein vor (Maessen et al., 2010). Bei ALS-Patienten kamen Nichtaktivsein, Sichkrankfühlen, Fatigue, reduzierter Appetit und Atemnot am häufigsten vor (Maessen et al., 2010). Zu den fünf häufigsten Gründen für unerträgliches Leiden zählen bei herzkranken Patienten: Atemnot, Abhängigkeit, das Wissen, dass das Leiden nur zunehmen wird, Bettlägerigkeit und Schmerzen (Maessen et al., 2010). Im Vergleich dazu stehen bei Patienten, die an einer Krebserkrankung leiden, Schmerzen an erster Stelle, gefolgt von Fatigue, Verlust an Würde, Abhängigkeit und Atemnot (Maessen et al., 2010). Bei ALS-Kranken steht die Angst zu ersticken, an erster Stelle (Maessen et al., 2010). An zweiter Stelle steht, wie bei Herzkranken, die Abhängigkeit und gleich wie bei Krebspatienten folgt an dritter Stelle der Verlust an Würde, gefolgt von Atemnot, Kommunikationsproblemen und der Angst vor weiterer Abhängigkeit (Maessen et al., 2010). Antizipierte Aspekte, wie die Angst zu ersticken und die Angst vor Abhängigkeit, finden sich nur für ALS-Patienten unter den fünf wichtigsten Gründen für unerträgliches Leiden (Maessen et al., 2010). Anhand dieser Ergebnisse schlussfolgern die Forscher, dass bei ALSPatienten eher psychosoziale Gründe und bei Krebspatienten sowie herzkranken Patienten eher physische Gründe zu unerträglichem Leiden beitragen (Maessen et al., 2010). Die Untersuchungsergebnisse belegen aus ärztlicher Sicht, dass die Faktoren, welche unerträgliches Leiden ausmachen, sich je nach Krankheit eines Menschen unterscheiden. Dabei fällt auf, dass nicht lediglich die Krankheitssymptome, sondern auch Antizipation, Ängste und krankheitsbedingte Auswirkungen auf das Daseinserleben und die Daseinsgestaltung Kranker bedingen können, dass das Dasein als unerträglich erlebt wird. Da die Wahrnehmung des eigenen Daseins und des persönlichen Leidens eine subjektive Angelegenheit sind, erscheinen die ausschließlich von Ärzten vorgenommenen Beurteilungen der Situationen und der Leiden von Patienten, die um Sterbehilfe oder PAS ersuchen, einseitig und wenig zweckdienlich. 3.4.2.2.5 Häufigkeiten von und Gründe für End-of-Life-Entscheidungen von ALS-Patienten Antworten auf die Häufigkeiten und Beweggründe für End-of-Life-Entscheidungen von ALS-Patienten geben die Ergebnisse einer retrospektiven Kohortenstudie von Maessen, Veldink, Onwuteaka-Philipsen et al. (2009), in der Entscheidungen am Lebensende (Sterbehilfe, PAS, Sedierung) und damit zusammenhängende Faktoren anhand von Daten über ALS-Patienten verglichen wurden. Aus der Sicht informeller Betreuungspersonen (Lebenspartner/Le-
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benspartnerin, Kinder) wurden zudem Gründe von ALS-Patienten für den Wunsch nach Verkürzung des Lebens erfasst (Maessen et al., 2009). Der Vergleich der Datensätze zeigt eine stabile Anzahl ALS-Patienten, die zwischen 2000 bis 2005 (n=35) und von 1994 bis 1998 (n=41) durch Sterbehilfe oder PAS gestorben sind (Maessen et al., 2009). Die Ergebnisse aus der Befragung informeller Betreuungspersonen zeigen, dass die durch Sterbehilfe oder PAS Verstorbenen über einen hohen Bildungsstand verfügten und die Religion für sie wenig Bedeutung hatte (Maessen et al., 2009). Die Entscheidung, Sterbehilfe, PAS oder tiefe Sedierung zu verfolgen, war mit Hoffnungslosigkeit verbunden (Maessen et al., 2009). Signifikante Zusammenhänge mit depressiven Aspekten, der Versorgungsqualität oder des Gefühls, der Familie zur Last zu fallen, wurden nicht gefunden (Maessen et al., 2009). Im Zusammenhang mit der Qualität der Versorgung gaben 25 % der Familienmitglieder an, dass Symptome bei Verstorbenen nicht ausreichend behandelt wurden, und 20 % erwähnten, dass Hilfsmittel und deren Anwendung unangemessen waren (Maessen et al., 2009). Als Gründe dafür, warum sich ALS-Patienten dazu entschieden, durch Sterbehilfe oder PAS zu sterben, nannten ihre Betreuungspersonen: Angst zu ersticken, keine Chance auf Besserung, Verlust an Würde, Abhängigkeit und Fatigue/generelle Schwäche (Maessen et al., 2009). Unter allen angegebenen Gründen stellt die Angst zu ersticken den häufigsten Grund dar (Maessen et al., 2009). Diese Ergebnisse stützen die Annahme, dass Patienten insbesondere aufgrund ihrer gegenwärtigen und antizipierten Ängste um Sterbehilfe oder PAS ersuchen. 3.4.2.2.6 Die Hintergründe und die Entwicklung von Wünschen nach Behandlungsverzicht und die Beschleunigung des Todes von terminalen Krebspatienten Mit dem Ziel, die palliative Versorgung von Krebspatienten und deren Lebensqualität zu verbessern, untersuchten Georges, Onwuteaka-Philipsen, Van der Heide et al. (2006) die Symptome, Gründe und Faktoren, die mit Gesuchen nach Behandlungsverzicht und der Beschleunigung des Todes von terminalen Krebspatienten zusammenhängen, und verglichen sie mit der Situation von terminalen Krebspatienten, die nicht um eine Beschleunigung des Todes ersuchten. Aus der Datenanalyse resultiert, dass bereits bei Einschluss in die Untersuchung 32 Patienten (38 %) um eine Beschleunigung des Todes, eine terminale Sedierung oder Behandlungsverzicht baten und 44 Patienten (52 %) ein derartiges Gesuch kurz vor ihrem Tod äußerten (Georges et al., 2006). Neun Patienten, die zuvor ein Gesuch gestellt hatten, taten dies zum Zeitpunkt ihres Todes nicht mehr (Georges et al., 2006). Bei einigen Patienten (42 %, n=36), die zu Untersuchungsbeginn kein Gesuch stellten, kam es im Verlauf zu einer Veränderung dahingehend, dass 21 von ihnen um Behandlungsverzicht, terminale
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Sedierung oder Beschleunigung des Todes ersuchten (Georges et al., 2006). Kein Gesuch stellten nach wie vor 38 % der Patienten; weitere 20 % hielten an ihrem ursprünglichen Gesuch fest (Georges et al., 2006). Patienten, die erst im Laufe der Untersuchung ein Gesuch stellten, erfuhren in dieser Zeit eine Zunahme physischer und psychischer Symptome, was bei Patienten, die kein Gesuch stellten, seltener vorkam (Georges et al., 2006). Bei Patienten, die um Beschleunigung des Todes ersuchten, wurden als Gründe dafür generelle Schwäche, hoffnungsloses sowie sinn-/zweckloses Leiden, Verlust an Würde, physische Symptome (Schmerzen, Atemnot, Übelkeit) und der Verlust an Kontrolle über das eigene Leben angegeben (Georges et al., 2006). Abhängigkeit, Fatigue, Kraftlosigkeit, Unwohlfühlen, Schmerzen, depressive Anzeichen und Mühe, die Abhängigkeit zu akzeptieren, kamen bei Patienten, die kurz vor ihrem Tod um Beschleunigung ihres Todes ersuchen, häufiger vor als bei solchen, die kein Gesuch stellten oder nicht um Behandlungsverzicht baten (Georges et al., 2006). Sorgen über Dyspnoe und der Verlust von Würde stellten sich als bestimmende Faktoren heraus, die zu der Äußerung eines Gesuches nach Behandlungsverzicht oder nach Beschleunigung des Todes beitragen (Georges et al., 2006). Die Ergebnisse verdeutlichen auch, dass Gesuche nach Behandlungsverzicht häufiger bewilligt werden als Gesuche, den Tod zu beschleunigen (Georges et al., 2006). Bei bewilligten Gesuchen waren die durchschnittliche Anzahl sowie die Schwere der Symptome signifikant höher als bei abgelehnten Patientengesuchen (Georges et al., 2006). Dass Patienten »erst« ein bis drei Monate vor ihrem Tod um dessen Beschleunigung ersuchen, kann mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Sterbehilfe und PAS in den Niederlanden zusammenhängen. Diesbezüglich ist ein relevantes Kriterium, dass die verbleibende Lebenszeit Sterbewilliger in den Niederlanden unter sechs Monaten liegen muss. Im Gegensatz zu Menschen, die in der Schweiz um Suizidbeihilfe ersuchen, müssen sich jene, die in den Niederlanden um Sterbehilfe oder PAS bitten, das tödliche Substrat nicht selbst verabreichen. Folglich müssen Sterbewillige in den Niederlanden keine Angst davor haben, ihre körperlichen Fähigkeiten zu verlieren, die ihnen ermöglichen würden, sich das tödliche Substrat selbst zu verabreichen. Die Daten zeigen zudem, dass sich Wünsche betreffend der Beschleunigung des Todes bei manchen verändern, bei anderen aber auch stabil bleiben können. 3.4.2.2.7 Unterschiede zwischen terminalen Krebspatienten, die nicht um Sterbehilfe gebeten haben, und solchen, die durch Sterbehilfe gestorben sind Georges, Onwuteaka-Philipsen, Van der Heide et al. (2005) verglichen prospektiv erhobene Daten von 64 terminalen Krebspatienten, die nicht um Sterbehilfe oder PAS ersuchten, mit Daten von 106 zurückliegenden Sterbehilfefällen
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von Krebspatienten, um Merkmale unter diesen Populationen sowie Unterschiede zwischen den Symptomen und deren Behandlung zu identifizieren. Aus den Ergebnissen der vergleichenden Datenanalyse geht hervor, dass Patienten, die nicht um Euthanasie oder PAS ersuchen, häufiger Symptome wie Verwirrtheit und/oder eine unklare Bewusstseinslage aufweisen (Georges et al., 2005). Gegensätzlich dazu wiesen solche, die durch Sterbehilfe oder PAS starben, eine durchschnittlich höhere Anzahl schwerer Symptome auf und fühlten sich häufiger unwohl, gaben vielfach Schmerzen, Husten, Übelkeit, Erbrechen und Verstopfung an (Georges et al., 2005). Zwischen den Untersuchungsgruppen zeigten sich keine Unterschiede in der Symptombehandlung (Georges et al., 2005). Die Einschätzung der Versorgung der Patienten durch die behandelnden Ärzte zeigt, dass in beiden Gruppen bei einer geringen Anzahl von Patienten eine unangemessene Versorgung angenommen wurde, was nach Auffassung der Ärzte nicht dazu beitrug, dass diese Patienten um Sterbehilfe oder PAS baten (Georges et al., 2005). Dass von verwirrten Patienten oder solchen, deren Bewusstseinszustand unklar ist, weniger Gesuche nach Sterbehilfe oder PAS ausgehen, erstaunt nicht. Bedingt durch ihre Bewusstseinsveränderung haben solche Menschen vielleicht kein Bedürfnis, um Sterbehilfe oder PAS zu ersuchen, oder sind gar nicht dazu in der Lage, entsprechende Gesuche zu äußern. Vielleicht werden Sterbewünsche von kognitiv veränderten Menschen aber auch weniger von Außenstehenden erkannt und münden aus diesem Grund und wegen gesetzliche Vorgaben weniger in Gesuchen nach Sterbehilfe oder PAS. 3.4.2.2.8 Sichtweisen zum Leiden von Patienten, die nach Sterbehilfe oder PAS fragen, versus Sichtweisen von Außenstehenden, die über das Vorliegen unerträglichen Leidens befinden Innerhalb des niederländischen Gesetzes zur Sterbehilfe ist das Vorliegen unerträglichen Leidens eines von sechs Kriterien, die als Voraussetzung für die Bewilligung und Ausübung von Sterbehilfe- und PAS-Gesuchen erfüllt sein müssen. Damit geht einher, dass Ärzte sich davon überzeugen müssen, dass Patienten, die um Sterbehilfe oder PAS ersuchen, unerträglich leiden (Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2001). Ob Patienten, die um Sterbehilfe oder PAS ersuchen, leiden, wie sie ihr Leiden erleben, wie Ärzte Leiden erfassen und interpretieren, darauf geben die folgenden Studienergebnisse von Pasman, Rurup, Willems et al. (2009) und Rietjens, Van Tol, Schermer et al. (2009) Antworten.
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3.4.2.2.9 Leidenserfahrungen aus der Sicht von Patienten, die um Sterbehilfe bitten, und Wahrnehmungen des Patientenleidens aus ärztlicher Sicht Pasman et al. (2009) untersuchten in einer qualitativen Studie Eindrücke und Erlebnisse zum Leiden aus Patienten- und aus Arztsicht, indem sie Patienten, deren Gesuche nach Sterbehilfe abgelehnt wurden, baten, ihr Leiden in Interviews zu beschreiben, und sie analog dazu Ärzte, welche diese Patienten behandelten, dazu befragten, wie sie das Leiden ihrer Patienten erfassen und wie sie unerträgliches Leiden beschreiben (Pasman et al., 2009). Bei den Patienten lagen Krebs-, Darm- und Gelenkerkrankungen, neuro-degenerative Krankheiten, respiratorische und kardiovaskuläre Krankheiten vor und einige waren multimorbid (Pasman et al., 2009). Manche litten mental unerträglich, während andere sagten, sie würden ihre Situation nicht als (unerträgliches) Leiden bezeichnen, sondern als schreckliche, furchtbare Umstände, Unannehmlichkeiten, Mühen, wechselhafte Beschwerden und als entsetzliche Situation (Pasman et al., 2009). Unabhängig davon, ob die Patienten ihre Situation als Leiden oder anders bezeichneten, lag bei allen ein anhaltender Wunsch zu sterben vor (Pasman et al., 2009). Ähnlich wie die Patienten bezeichneten auch die Ärzte nicht jedes Leiden als unerträglich (Pasman et al., 2009). Der Vergleich der Einschätzung des Leidens durch Ärzte mit der Einschätzung durch die Patienten zeigt Übereinstimmungen, aber auch Abweichungen (Pasman et al., 2009). So befanden Ärzte zum Beispiel, dass ein Patient, der liest oder Fahrrad fährt, nicht unerträglich leiden kann, da solche Beschäftigungen nach Ansicht der Ärzte mit dem ernsthaften Wunsch zu sterben unvereinbar waren (Pasman et al., 2009). Für Patienten war Lesen hingegen die einzige Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben (Pasman et al., 2009). Obwohl gemäß Patienten Schmerzen Gegenstand ihres Leidens sind, interpretierten sie diese nicht zwingend als unerträglich (Pasman et al., 2009). Patienten sprechen im Zusammenhang mit Leiden eher von Ängsten, nicht länger am Leben teilnehmen zu können, von Abhängigkeit oder mentalem Leiden aufgrund erlebter oder erwarteter Verschlechterung (Pasman et al., 2009). Abhängig zu werden oder bestimmte medizinische Eingriffe über sich ergehen zu lassen, sind Entwicklungen, die einige Patienten nicht akzeptieren wollen: Das ist es, was ihre Situation unerträglich werden ließ (Pasman et al., 2009). Mehr als 50 % der Ärzte assoziierten Leiden mit physischem Leiden und waren der Auffassung, dass (unerträgliches) Leiden dann vorliegt, wenn bei Patienten schwere physische Symptome (anhaltende Fatigue, starke Schmerzen) bestehen (Pasman et al., 2009). Obwohl viele Ärzte verstanden, dass ihre Patienten sterben wollten, hatten einige Mühe damit, psychosoziales Leiden als unerträgliches Leiden zu bezeichnen (Pasman et al., 2009). Da Ärzte ein physisch fokussiertes Verständnis von Leiden aufweisen, kommen die Forscher zum Schluss, dass unter Patienten und Ärzten unterschiedliche Auffassungen darüber existieren, was Leiden ist, ausmacht und unerträglich werden lässt (Pasman
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et al., 2009). Dass Patienten ihr Leiden nicht als unerträglich bezeichnen und sich trotzdem wünschen, nicht weiterzuleben, wird damit erklärt, dass Patienten die Bezeichnung »unerträgliches Leiden« vielleicht für noch schlimmere Zustände aufsparten (Pasman et al., 2009). Das in der obigen Studie erkennbare Ausschlussverhalten von Ärzten – wenn der Patient liest, dann kann er nicht unerträglich leiden – und die daraus resultierende Folgerung über das Vorhandensein oder Fehlen von unerträglichem Leiden erscheint gegenüber Situationen, in denen sich die Patienten befinden, unangemessen. Dass Patienten, die um Sterbehilfe oder PAS ersuchten, ihre Situation nicht als unerträgliches Leiden bezeichneten und trotzdem nicht weiterleben wollten, zeigt, dass der Begriff »unerträgliches Leiden« anders zu definieren und nur bedingt geeignet ist, die Beweggründe des »Nicht-mehrweiter-leben-Wollens« adäquat zu beschreiben. 3.4.2.2.10 Unterschiede in der Wahrnehmung und Beurteilung des Leidens von Patienten durch (Gesundheits-)Fachpersonen Im Gegensatz zur vorherigen Untersuchung wurden in der Studie von Rietjens et al. (2009) Unterschiede in der Wahrnehmung unerträglichen Leidens von Patienten unter verschiedenen Fachpersonen ((Konsiliar-)Ärzten, Mitgliedern eines Sterbehilfe-Review-Komitees) anhand von Fallvignetten untersucht. In einem Fall wurde eine Standardsituation, eine Patientin mit physischem Leiden und begrenzter Lebenserwartung, beschrieben (Rietjens et al., 2009). In einem anderen Fall ging es um einen Patienten mit existenziellem Leiden (Rietjens et al., 2009). Die Untersuchungsteilnehmer wurden unter anderem gefragt, ob sie das beschriebene Leiden als unerträglich bezeichnen würden (Rietjens et al., 2009). Im Fall des Patienten mit existenziellem Leiden (Angst vor zukünftiger Verschlechterung, Angst, anderen zu Last zu fallen), das heißt, nicht physischem Leiden, zeigten sich Abweichungen in der Beurteilung des Leidens zwischen Ärzten, Konsiliarärzten und Mitgliedern des Review-Komitees (Rietjens et al., 2009). Der Gruppenvergleich zeigt, dass die Ärzte weniger von dem Leiden dieser Patienten überzeugt waren (Rietjens et al., 2009). Als am wenigsten unerträglich wurde der Zustand eines Patienten beurteilt, der an einer frühen Demenz litt und einen Verlust an Würde beklagte, sowie die Situation eines Patienten, der lebensmüde war und nicht an einer schweren Krankheit litt (Rietjens et al., 2009). Mit Alter, Geschlecht, Berufserfahrung oder Ausbildungshintergrund der Befragten ließen sich die abweichenden Beurteilungen des Leidens nicht begründen (Rietjens et al., 2009). Die Forscher erklären sich die Unterschiede in der Leidensbeurteilung mit ungleichen Aufgaben und Erfahrungen der Untersuchungspersonen im Zusammenhang mit Sterbehilfegesuchen sowie mit unterschiedlichen persönlichen Einstellungen gegenüber der Ausübung von Sterbehilfe (Rietjens et al., 2009).
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Die Resultate der obigen Untersuchung stützen die Forschungserkenntnisse von Pasman et al. (2009), denn die Ergebnisse beider Studien verdeutlichen, dass Ärzte eher physisches Leiden als psychisches erfassen, nachvollziehen und anerkennen. Scheinbar werden von Ärzten keine standardisierten Einschätzungskriterien für das Vorhandensein von physischem, psychosozialem, existenziellem, hoffnungslosem, unerträglichem Leiden bei Patienten angewendet. Daher unterliegt die Beurteilung und Anerkennung der Situationsbeschreibungen von Patienten darüber, ob ihre Lage hoffnungslos ist oder sie unerträglich leiden, im Rahmen von Sterbehilfe- oder PAS-Gesuchen einer gewissen ärztlichen Willkür. 3.4.2.2.11 Die Verfügbarkeit palliativer Optionen und damit verbundene Auswirkungen auf die Wünsche von Patienten nach Sterbehilfe und PAS Um zu gewährleisten, dass für Patienten, die in den Niederlanden um Sterbehilfe oder PAS ersuchen, alternative Optionen geprüft werden, bevor es zu einer Bewilligung eines Gesuches kommt, müssen Ärzte neben dem Leiden von Patienten auch beurteilen, ob für sie palliative Optionen bestehen. Was für palliative Optionen sind für Patienten verfügbar, die um PAS ersuchen? Wie oft werden sie angewendet und führen zu einem Rückzug von PAS-Gesuchen? Variiert die Häufigkeit, mit der bestimmte palliative Optionen angewendet werden? Was sind Gründe für den Rückzug oder das Fortbestehen von PAS-Gesuchen? Diesen Fragen gingen Jansen-Van der Weide, Onwuteaka-Philipsen & Van der Wal (2006) in einer retrospektiv quantitativen Forschung nach. Aus den von Allgemeinärzten dokumentierten und für die Untersuchung erhobenen 1681 Sterbehilfe- oder PAS-Gesuchen resultiert, dass für mehr als 400 Patienten zum Zeitpunkt ihrer Sterbehilfegesuche palliative Optionen bestanden (Jansen-Van der Weide et al., 2006). Am wenigsten bestanden solche bei Patienten, die durch Sterbehilfe starben (11 %), und am häufigsten bei solchen mit abgelehnten Sterbehilfegesuchen (61 %) (Jansen-Van der Weide et al., 2006). Meistens wurde Medikation als palliative Option und angewendete Palliativmaßnahme genannt (Jansen-Van der Weide et al., 2006). In absteigender prozentualer Häufigkeit waren weitere palliative Möglichkeiten: künstliche Ernährung, Einweisungen in ein Krankhaus, Radiotherapie, Chemotherapie, Bluttransfusionen, Operationen, Antibiotika, künstliche Beatmung, die Aufnahme in ein Hospiz oder Pflegeheim, psychosoziale Optionen sowie mehr Pflege und Fürsorge (Jansen-Van der Weide et al., 2006). Bei Patienten, die durch Sterbehilfe starben, wurden am wenigsten palliative Optionen angewendet und die Aufnahme in ein Hospiz oder Pflegeheim, psychosoziale Angebote oder mehr Pflege und Fürsorge stellten für sie weniger eine Alternative dar (Jansen-Van der Weide et al., 2006). In den anderen Patientensituationen lag der Anteil eingeleiteter Palliativmaßnahmen deutlich höher (Jansen-Van der Weide et al., 2006). Gründe, warum Patienten
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palliative Optionen ablehnten, waren, dass sie nicht zusätzlich zum Leiden noch hospitalisiert werden wollten (Jansen-Van der Weide et al., 2006). Einige befürchteten Nebenwirkungen und versprachen sich durch eine palliative Versorgung keine wirkliche Hilfe, keine Verbesserung ihrer Situation und zweifelten an der Wirksamkeit der Versorgung (Jansen-Van der Weide et al., 2006). Zudem wollten sie auf würdevolle Art sterben (Jansen-Van der Weide et al., 2006). Gesamthaft betrachtet hielten 126 Patienten (54 %) ihr Sterbehilfegesuch auch nach der Anwendung palliativer Maßnahmen aufrecht (Jansen-Van der Weide et al., 2006). Dafür wurden folgende Gründe angegeben: fortbestehendes Leiden, der Wunsch, Kontrolle zu behalten, Furcht (vor Leiden, Sterben, Tod, Verschlimmerung), Verlust an Würde (ungenügende Lebensqualität), Lebensmüdigkeit, Schwäche/Müdigkeit sowie plötzliche Komplikationen (Jansen-Van der Weide et al., 2006). 113 Patienten (46 %) zogen ihr Sterbehilfegesuch zurück, wobei Patienten, die palliative Optionen, wie Medikamente und Radiotherapie, erhielten, ihr Gesuch häufiger zurückzogen als solche, die Chemotherapie, künstliche Ernährung, Bluttransfusionen, künstliche Beatmung und Antibiotika erhielten (Jansen-Van der Weide et al., 2006). Aus diesen Untersuchungsergebnissen resultiert, dass aus ärztlicher Sicht für gewisse Patienten, die um Sterbehilfe ersuchen, durchaus palliative Optionen bestehen. Allerdings wird auch deutlich, dass solche Optionen nicht von allen Patienten akzeptiert werden. Ob und welche Palliativmaßnahmen von Kranken primär bevorzugte Alternativen darstellen und warum Kranke bestimmte Palliativoptionen ablehnen, ist weitgehend unbekannt und bedarf weiterer Forschung. Dass Patienten ihr Sterbehilfegesuch aufgrund der Anwendung palliativer Optionen zurückziehen, weist darauf hin, wie wichtig es ist, dass Patienten, die um Sterbehilfe ersuchen, fundiert informiert und beraten werden. Zugleich scheint die Aussage, dass 46 % ihr Gesuch zurückgezogen haben (Jansen-Van der Weide et al., 2006), nicht evident, da sich darunter gemäß Datenlage auch Patienten befanden, die starben, bevor ihr Gesuch beantwortet wurde, sowie solche, die vor der Ausführung der Sterbehilfe starben, und solche, deren Gesuch abgelehnt wurde. Ungeklärt bleibt auch, was Patienten, die palliative Behandlungsmaßnahmen erfahren haben, dazu veranlasst hat, ihr Gesuch zurückzuziehen. 3.4.2.2.12 Charakteristika von Patienten, die ihr Gesuch nach Sterbehilfe zurückzogen Inwiefern Patientenmerkmale mit dem Rückzug eines Sterbehilfegesuches in Beziehung stehen, wurde in einer quantitativen retrospektiven Untersuchung von Marcoux, Onwuteaka-Philipsen, Jansen-Van der Weide et al. (2005) erforscht. Im Gegensatz zu Patienten, die ihr Sterbehilfegesuch nicht zurückzogen, waren solche, die ihr Gesuch zurückzogen, häufiger traurig und weinten,
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wirkten aber auch häufiger fröhlich und wiesen vielfach mentale Gesundheitsprobleme auf (Marcoux et al., 2005). Der Rückzug von Sterbehilfegesuchen korrelierte positiv mit der Verfügbarkeit alternativer Behandlungsoptionen. Patienten, die ihr Gesuch zurückzogen, wiesen weniger physische Gesundheitsprobleme und weniger hoffnungsloses Leiden auf als solche, für die nicht eindeutig gesagt werden konnte, ob sie ihre Meinung ändern würden (Marcoux et al., 2005). Patienten, die ihr Sterbehilfegesuch nicht änderten, fühlten sich, verglichen mit solchen, die ihr Gesuch zurückzogen, häufiger depressiv und ängstlich. Bei ihnen lagen vermehrt generelle Gesundheitsprobleme, Schmerzsymptome, Verschlechterung, das Gefühl von Verlust an Würde, sinn-/zweckloses oder unerträgliches Leiden vor (Marcoux et al., 2005). Patienten, deren Gesuche von Ärzten abgelehnt wurden, hatten häufig mentale Gesundheitsprobleme und weniger Verdauungsprobleme als solche, die ihr Gesuch zurückzogen (Marcoux et al., 2005). Die Forscher interpretieren Traurigsein, Weinen sowie Fröhlichsein als emotionale Ambivalenz und bei Patienten, die ihr Sterbehilfegesuch zurückzogen, als Hinweis auf die Instabilität des Wunsches, den Tod zu beschleunigen (Marcoux et al., 2005). Bezüglich der letztgenannten Interpretation der Forscher ist zu bedenken, dass es genauso möglich ist, dass Traurigsein, Weinen und Fröhlichsein auch zum Lebensalltag von Menschen gehören, die um Sterbehilfe ersuchen. Eventuell ändern sie ihre Meinung auch deswegen, weil sich die Konstellation ihrer Situation zu ihrem Vorteil verändert hat und ihr zuvor bestandener Wunsch nach EAS damit für sie vorübergehend oder anhaltend unbedeutend geworden ist. 3.4.2.2.13 Charakteristika von Menschen, die um Sterbehilfe ersuchen, und Faktoren, die bedingen, dass Gesuche in Sterbehilfe oder PAS resultieren oder nicht realisiert werden Ersuchen Menschen um Sterbehilfe oder PAS, bedeutet das nicht, dass ihre Gesuche auch bewilligt werden oder bewilligte Gesuche in Sterbehilfe oder PAS enden. Onwuteaka-Philipsen, Rurup, Pasman et al. (2010) untersuchten in einer quantitativen retrospektiven Querschnittsstudie die Inzidenz von Sterbehilfegesuchen unter Patienten, die nicht plötzlich verstarben, die Merkmale von Patienten, deren Gesuche in Sterbehilfe resultierten oder nicht darin resultierten, die letzte Lebensphase von Patienten, die um Sterbehilfe baten oder dies nicht taten, sowie die Gründe von Ärzten, Sterbehilfegesuche zu bewilligen oder abzulehnen. Die Ergebnisse der schriftlichen Befragung von 5344 Ärzten zeigen, dass von 3739 Patienten, die nicht plötzlich starben, 7 % Sterbehilfe wünschten und 2,4 % durch Sterbehilfe starben (Onwuteaka-Philipsen et al., 2010). Die Gründe, warum Ärzte entsprechende Gesuche bewilligten und ausführten, sind: keine Aussicht auf Besserung, Autonomie des Patienten, neben (starken)
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Schmerzen andere (schwere) Symptome, Verlust an Würde, von Patienten erwartetes Leiden, zu belastende, bevorstehende medizinische Behandlungen sowie der Wunsch der Familie (Onwuteaka-Philipsen et al., 2010). Dass Gesuche nicht in Sterbehilfe oder PAS mündeten, erklärt sich zum Beispiel dadurch, dass Patienten bereits starben, bevor über ihre Gesuche befunden wurde, gesetzliche Anforderungskriterien nicht erfüllt wurden und manche Ärzte grundsätzlich nicht dazu bereit waren, Sterbehilfegesuchen nachzukommen (OnwuteakaPhilipsen et al., 2010). Teilweise waren die Sterbehilfe- oder PAS-Gesuche unüberlegt, das Leiden war weder unerträglich noch hoffnungslos, es handelte sich um Gesuche von Patienten, deren Freiwilligkeit fraglich war, oder es bestanden alternative Behandlungsmöglichkeiten (Onwuteaka-Philipsen et al., 2010). Neben einigen Patienten, die ihr Sterbehilfe- oder PAS-Gesuch zurückzogen, gab es auch Patienten, die sich zeitweise in einer Art komatösem Zustand befanden, während ihr Gesuch nach Sterbehilfe geprüft wurde (Onwuteaka-Philipsen et al., 2010). Faktoren, die mit dem Gesuch nach Sterbehilfe, dessen Bewilligung und der Realisierung zusammenhängend, sind: das Alter, die medizinische Diagnose und der Lebens-/Sterbeort (Onwuteaka-Philipsen et al., 2010). Zudem zeigte sich, dass an der Versorgung von Patienten, die um Sterbehilfe ersuchten, in den letzten drei Lebensmonaten auch Palliative-Care-Teams, Psychologen oder Psychiater beteiligt waren (Onwuteaka-Philipsen et al., 2010). Patienten, die durch Sterbehilfe gestorben sind, berichteten in den letzten 24 Stunden vor ihrem Tod häufiger über Müdigkeit, Schmerzen und Erbrechen, verglichen mit solchen, die nicht um Sterbehilfe ersuchten und häufiger verwirrt und komatös waren (Onwuteaka-Philipsen et al., 2010). In der obigen Studie ersuchte im Verhältnis zur Gesamtzahl der untersuchten Fälle eine kleine Gruppe von Patienten um Sterbehilfe. Eine Rolle spielten in diesem Zusammenhang wiederum das Alter, die medizinische Diagnose, physische Beschwerden, existenzielle, medizinische, familiäre (Beziehungs-)Aspekte sowie antizipierte Beschwerden. Dass manche Patienten zu Hause durch Sterbehilfe starben, kann bedeuten, dass sie einfach gerne zu Hause sterben wollten oder es vorzogen, zu Hause zu sterben, anstatt sich auf eine von ihnen antizipierte unerwünschte zukünftige Daseinsform (z. B. Einzug/Leben in einem Alterspflegeheim oder Hospiz) einlassen zu müssen. 3.4.2.2.14 Merkmale, die mit Sterbehilfegesuchen von Patienten einhergehen, und Unterscheidungsmerkmale verschiedener Situationen, die während der Prüfung eines Sterbehilfegesuches auftreten können Aus den bereits beschriebenen Studienergebnissen geht hervor, dass sich im Laufe der Prüfung eines Gesuches nach Sterbehilfe oder PAS verschiedene Situationen wie das Eintreten des biologischen Todes, der Rückzug eines Sterbehilfegesuches oder eine Bewusstseinsveränderung ereignen können. Um
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diesbezüglich Wissen zu generieren, wurden von Jansen-Van der Weide, Onwuteaka-Philipsen & Van der Wal (2005) Informationen über die Merkmale von Sterbehilfegesuchen und das Auftreten damit verbundener Situationen untersucht. Im Jahr vor Beginn der Untersuchung wurde an 2658 Ärzte ein Sterbehilfegesuch gestellt, wovon 940 Fälle in Sterbehilfe resultierten (Jansen-Van der Weide et al., 2005). In 217 Fällen starben die Patienten, bevor die Sterbehilfe ausgeführt wurde, und in weiteren 164 Fällen starben die Patienten, bevor Ärzte über ihre Gesuche eine Entscheidung fällten (Jansen-Van der Weide et al., 2005). Von den gestellten Gesuchen wurden 150 abgelehnt und in weiteren 144 Fällen zogen Patienten ihr Sterbehilfegesuch zurück (Jansen-Van der Weide et al., 2005). Bei der Mehrheit der Patienten lag eine Krebserkrankung vor (Jansen-Van der Weide et al., 2005). Gegenüber Patienten, deren Gesuch abgelehnt wurde, zeigte sich bei jenen, deren Gesuch bewilligt und ausgeführt wurde, dass sie sich häufiger schlecht, müde oder nicht aktiv fühlten, ihr Appetit reduziert war und sie über Schmerzen und Übelkeit klagten (Jansen-Van der Weide et al., 2005). Sie waren am wenigsten ängstlich, depressiv, in einem verklärten Bewusstseinszustand oder verwirrt (Jansen-Van der Weide et al., 2005). Die häufigsten Gründe für Sterbehilfegesuche waren sinn-/zweckloses Leiden, das Gefühl des Verlusts an Würde, Schwäche oder Müdigkeit (Jansen-Van der Weide et al., 2005). Bei Patienten, deren Gesuche abgelehnt wurden, und jene, die ihre Gesuche zurückzogen, begründeten sich die Gesuche nach Sterbehilfe durch die Feststellung, keine Last für die Familie sein zu wollen sowie durch Lebensmüdigkeit und Depressivität (Jansen-Van der Weide et al., 2005). In 88 % der Fälle, in denen Sterbehilfegesuche bewilligt wurden, und in 32 % der Gesuche, die abgelehnt wurden, bestanden keine alternativen palliativen Behandlungsmöglichkeiten (Jansen-Van der Weide et al., 2005). Unerträgliches, hoffnungsloses Leiden lag bei Patienten, deren Gesuche bewilligt wurden, in stärkerem Maß vor als bei Patienten, deren Gesuche abgelehnt wurden (Jansen-Van der Weide et al., 2005). Mit der Ablehnung eines Sterbehilfegesuches einhergehende Faktoren waren: eingeschränkte oder fehlende Urteilsfähigkeit des Patienten, ein geringeres Ausmaß an unerträglichem, aussichtslosem Leiden sowie das Vorhandensein alternativer palliativer Behandlungsmöglichkeiten (Jansen-Van der Weide et al., 2005). Bei Angst vor dem Ersticken, sinn-/zweckloses Leiden und Verlust an Würde wurde einem Sterbehilfegesuch am ehesten entsprochen (Jansen-Van der Weide et al., 2005). Auch die obigen Untersuchungsergebnisse zeigen, dass Sterbehilfegesuchen folgende Aspekte zugrunde liegen: Schmerzen, Übelkeit, Unwohlsein, Inaktivität, reduzierter Appetit, sinn-/zweckloses Leiden, Verlust an Würde, Schwäche, Müdigkeit, keine Last für die Familie sein zu wollen, Lebensmüdigkeit, Depressivität, ein stärkeres Ausmaß unerträglichem und hoffnungslosem Leiden sowie Angst zu ersticken. Diese Erkenntnisse stimmen mit den Ergebnissen der
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vorherigen Studien überein. Eingeschränkte Urteilsfähigkeit sowie alternative palliative Behandlungsmöglichkeiten sind auch dieser Studie zufolge Gründe, weshalb Sterbehilfegesuche abgelehnt werden. 3.4.2.2.15 Die Einhaltung gesetzlicher Anforderungskriterien im Zusammenhang mit der Handhabung von Gesuchen nach Sterbehilfe oder PAS Um prüfen zu können, inwieweit die gesetzlichen Anforderungskriterien zur Sterbehilfe und PAS in den Niederlanden eingehalten werden, müssen Ärzte über jeden Todesfall durch Sterbehilfe oder PAS der regional zuständigen Prüfungskommission Bericht erstatten (Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2001). In diesem Zusammenhang wurde von Buiting, Gevers, Rietjens et al. (2008) in einer quantitativen retrospektiven Studie anhand von 158 Sterbehilfe- und PAS-Fällen untersucht, wie Ärzte belegen, dass sie den gesetzlichen Anforderungen zur Prüfung von Sterbehilfe- und PAS-Gesuchen und deren Ausübung entsprechen. Die Ergebnisse der Dokumentenanalyse zeigen, dass die Ärzte überwiegend (bis auf einen Fall) dokumentierten, dass sich die Patienten zum Zeitpunkt ihres Sterbehilfegesuches über dessen Folgen sowie über ihre gesundheitliche Situation bewusst waren (Buiting et al., 2008). Als Anzeichen dafür dokumentierten Ärzte, dass die Patienten bei klarem Verstand waren, ihre Gesuche mehrfach wiederholten, keine mentalen Einschränkungen vorlagen und sie sich ihrer Situation und Aussichten bewusst waren (Buiting et al., 2008). Die Ärzte befanden, dass alle Gesuche nach Sterbehilfe ohne äußeren Druck erfolgten (Buiting et al., 2008). Die folgenden von Ärzten aufgeführten Faktoren sollten dokumentieren, dass die durch Sterbehilfe Verstorbenen unerträglich litten: physische Symptome (Schmerzen, Atemnot, Fatigue, Übelkeit, Erbrechen, Inkontinenz, Diarrhöe, Verstopfung, Kachexie, Furcht), Funktionsverluste (Bettlägerigkeit, reduzierter Appetit, Unvermögen zu essen, zu schlucken, zu sprechen) und andere Aspekte (zunehmende Abhängigkeit, Verschlechterung, allgemeines Unbehagen, Einsamkeit, das Gefühl, eine Last/Belastung für Angehörige zu sein, seelisch-geistige Erschöpfung, Verlust der Autonomie, Verlust an Identität, Verlust an Würde) (Buiting et al., 2008). Die dokumentierte Abwesenheit von Behandlungsalternativen, insbesondere kurativer Behandlungsalternativen, das Fehlen von Behandlungsalternativen zur Symptomlinderung oder Kombinationen von beidem wurden als Kriterium dafür genannt, dass das Leiden der Patienten hoffnungslos war (Buiting et al., 2008). Die Ärzte wandten auch palliative Behandlungen an (z. B. Medikation, Radio- oder Chemotherapie) (Buiting et al., 2008). In 35 % der Fälle bestand nach Ansicht der Ärzte die Möglichkeit, das Leiden der Patienten mittels Sedativa, Schmerzmedikamenten, Radio- oder Chemotherapie oder mittels familiärer, häuslicher Pflege zu lindern (Buiting et al., 2008). In 81 % der Fälle standen Patienten solchen Möglichkeiten aber negativ gegenüber und lehnten diese ab (Buiting et al., 2008).
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Die obige Studie ist ein Beispiel dafür, dass die Berichterstattung über Sterbehilfefälle häufig wenig Aufschluss darüber gibt, wie Ärzte zu der Ansicht kommen, dass Patienten sich über ihre gesundheitliche Situation und die Folgen von Sterbehilfegesuchen bewusst sind oder dass Gesuche von Patienten (un-) freiwillig und (un-)überlegt erfolgen. Gleiches gilt für die Beurteilung, ob Gesuche nach Sterbehilfe ohne äußeren Druck erfolgen, ob unerträgliches, hoffnungsloses Leiden vorliegt oder wie Patienten über ihre Situation und Prognose von Ärzten informiert werden. Obwohl aus den Untersuchungsergebnissen hervorgeht, dass es Patienten gibt, die verfügbare palliative Behandlungsoptionen ablehnen, bleiben die Gründe dafür verborgen. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, wie Ärzte der Einhaltung der gesetzlichen Anforderungskriterien im Rahmen von Sterbehilfegesuchen nachkommen. Gleichzeitig deuten sie aber auch darauf hin, dass bislang offenbar keine einheitlichen, standardisierten Verfahrensweisen und Methoden zur klinischen Durchführung der Prüfung von Sterbehilfegesuchen existieren und standardisierte Vorgehensweisen diesbezüglich noch ausstehen. Ob ein Arzt mithilfe anerkannter Verfahren Kennzeichen für bestimmte Phänomene oder Gegebenheiten aufgrund des subjektiven Erlebens Kranker einschätzt, die um Sterbehilfe ersuchen, oder durch seinen subjektiven Eindruck zu seiner Beurteilung und seinem Entscheid kommt, scheint ihm selbst überlassen zu sein. Zusammenfassung Die Forschungsdesigns der 14 Untersuchungen zu Menschen, die in den Niederlanden durch Sterbehilfe oder PAS verstarben, sind mehrheitlich quantitativ, retrospektiv angelegt. Drei Studien liegt ein qualitatives Forschungsdesign zugrunde. Bis auf eine longitudinale Studie handelt es sich um Querschnittsstudien. In einer Untersuchung erfolgte die Datenerhebung longitudinal. Studien, in denen bestimmte Patientengruppen untersucht wurden, fokussierten sich auf terminale Krebspatienten, ALS-Patienten, herzkranke Patienten und solche, die keine »schwere oder schlimme« Krankheit hatten. In 13 der 14 Forschungspublikationen wurde nicht die subjektive Sicht der Menschen untersucht, die um Sterbehilfe oder PAS ersuchten, sondern die Sicht von Außenstehenden (Ärzte n=12, Familienmitglieder n=1) erhoben. In einer anderen Studie wurden zehn Leidende interviewt, deren Gesuch nach Sterbehilfe oder PAS nicht bewilligt wurde. Forschungserkenntnisse aus Untersuchungen, in denen explizit die Menschen befragt wurden, die in den Niederlanden erwogen, durch Sterbehilfe oder PAS zu sterben, und die diese Möglichkeit erhielten, wurden nicht gefunden. So liegen keine Erkenntnisse darüber vor, wie das subjektive Erleben solcher Menschen aussieht, welche Sichtweisen sie teilen, unter welchen Beschwerlichkeiten sie leiden, was sie dazu bewegt, PAS oder Sterbehilfe zu erwägen, wie dieser Wunsch weiter reift,
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andauert oder wieder in den Hintergrund gerät und welche Kontextfaktoren und Entscheidungsprozesse damit verbunden sind. 3.4.2.3 Erkenntnisse zu Faktoren und Beweggründen von Menschen, die in den USA durch ärztlich assistierten Suizid gestorben sind Zur Ermittlung des Erkenntnisstandes zu Beweggründen von Menschen, die in den Bundesstaaten Washington, Montana und Oregon ärztlich assistiertes Sterben erwogen haben und auf diese Art gestorben sind, wurden vier Forschungspublikationen sowie statistische Jahresberichte des Oregon Department of Human Services und des Washington State Department of Health analysiert. Wie die Situation von Bürgern ist, die im Bundesstaat Montana ärztlich assistiertes Sterben erwägen und dadurch sterben, kann hier nicht erläutert werden, weil den Menschen in Montana erst seit dem Jahr 2010 gesetzlich erlaubt ist, ihr Leben durch PAD zu beenden, und noch keine Publikationen vorliegen. 3.4.2.3.1 Gründe, warum Bürger Oregons um ärztlich assistiertes Sterben ersuchen – die Sichtweisen terminal Kranker Um die Gründe zu untersuchen, warum sich Bürger Oregons für ärztlich assistiertes Sterben interessieren und inwiefern dieses Interesse von ihnen verfolgt wird, befragten Ganzini, Goy & Dobscha (2009) 56 in Oregon wohnhafte terminal Kranke, die um ärztlich assistiertes Sterben (PAD) ersucht oder eine diesbezügliche Organisation kontaktiert hatten. Die Untersuchten waren mehrheitlich an Krebs erkrankt und ein Drittel von ihnen erhielt eine Hospizversorgung (Ganzini et al., 2009). Wichtige Gründe für das Gesuch nach PAD waren antizipierte zukünftige physische Symptome und Funktionsverluste (z. B. Schmerzen, Atemnot, Fatigue, Verlust der Ausscheidungsfunktionen), die antizipierte zukünftige Unfähigkeit, sich selbst versorgen zu können, das Vermeiden-Wollen der Abhängigkeit von anderen, eine befürchtete schlechte zukünftige Lebensqualität, der Verlust von Unabhängigkeit, der Wille, die Umstände des Todes kontrollieren zu wollen, sowie der Wunsch, zu Hause zu sterben (Ganzini et al., 2009). Genannt werden auch das Gefühl, Kontrolle zu haben, der Verlust des Selbstgefühls, nicht wollen, dass andere für einen sorgen, bereit sein zu sterben, sich selbst als Last/Belastung erfahren, der Verlust an Würde, das Miterleben von schlechten Sterbe-/Todesfällen und die Sorge um zukünftige Verwirrtheit (Ganzini et al., 2009). Gegenwärtige physische Symptome, Mangel an Unterstützung, depressive Stimmung, Unfähigkeit, für sich sorgen zu können, schlechte Lebensqualität, Unfähigkeit, erfreuliche Aktivitäten auszuführen, oder existenzielle Aspekte (z. B. sinn-/zweckloses Leben) gelten als weniger wichtig (Ganzini et al., 2009). Dass die Untersuchungspersonen eher dazu tendierten, weiterleben als sterben zu wollen, und sie die von ihnen anti-
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zipierten Aspekte als Gründe für ihr Gesuch nach PAD wichtiger als gegenwärtige physische Beschwerden beurteilten, lässt die Forscher annehmen, dass sich die Befragten mit ihrem Gesuch nach PAD vor einer als unerträglich beurteilten Zukunft schützen möchten (Ganzini et al., 2009). Folglich resultieren die Gründe, die Menschen dazu bewegen, um PAD zu bitten aus früheren und gegenwärtigen Erfahrungen, aber vor allem auch aus antizipierten unerwünschten Daseinsformen. 3.4.2.3.2 Gründe, warum Bürger Oregons um ärztlich assistiertes Sterben ersuchen – die Sichtweisen von Familienmitgliedern terminal Kranker Der zuvor erläuterten Untersuchung ging eine Studie von Ganzini, Goy & Dobscha (2007) voraus, in der 68 Familienmitglieder zu den Beweggründen befragt wurden, warum ihre terminal überwiegend an Krebs erkrankten Angehörigen mittels ärztlich assistiertem Sterben (PAD) in Oregon gestorben sind. Als wichtige Gründe sahen die Familienmitglieder : den Willen, die Umstände des Todes zu kontrollieren, Angst, zukünftig eine schlechtere Lebensqualität zu haben, das Gefühl des Verlusts an Würde, Angst, nicht mehr für sich sorgen zu können und seine Unabhängigkeit zu verlieren (Ganzini et al., 2007). Weitere Gründe sind: der Wille, zu Hause zu sterben, Angst vor schlimmeren Schmerzen, abnehmende Lebensqualität, Bedenken, sein Selbstgefühl zu verlieren, sich als Last für andere erleben, nicht wollen, dass andere für einen sorgen, schlechte Sterbe-/Todeserfahrungen sowie ein zukünftiger Mangel an Energie (Ganzini et al., 2007). Physische und psychische Aspekte wie Atemnot, depressive Stimmung oder der Verlust der Ausscheidungsfunktionen wurden als unwichtig eingestuft (Ganzini et al., 2007). Für die Familienmitglieder selbst zählen zu den wichtigsten Gründen für PAD: Bedenken, eine Last zu sein, gegenwärtige und zukünftige schlechte Lebensqualität, Schmerzen, der Wunsch nach Kontrolle und der Verlust des Selbstgefühls (Ganzini et al., 2007). Der Vergleich der durch PAD Verstorbenen mit solchen, die nicht durch PAD starben, zeigt, dass Erstere eine Abnahme ihrer Lebensqualität befürchteten und die Unfähigkeit, für sich selbst sorgen zu können, für sie von starker Bedeutung war (Ganzini et al., 2007). Aus den erläuterten Studien von Ganzini et al. aus den Jahren 2009 und 2007 geht nicht hervor, ob die verwendeten Samples der zwei Studien etwas miteinander zu tun haben. Möglicherweise sind die Befragten der obigen Studie die gleichen Angehörigen der von Ganzini et al. im Jahr 2009 publizierten Untersuchung. Auffallend und interessant ist, dass die Familienangehörigen überwiegend die Zukunft betreffende (hypothetische) Aspekte benennen, welche bedeutsame Gründe darstellen, die ihre verstorbenen Angehörigen dazu bewogen, nach PAD zu ersuchen. Die Ergebnisse der Studie von Ganzini et al. aus dem Jahr 2009 stützen die Ergebnisse der von denselben Autoren 2007 veröffentlichen Untersuchung, indem sich Übereinstimmungen zu den am wich-
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tigsten erachteten Gründen für das Gesuch nach PAD zeigen. Die Kranken sowie ihre Familienmitglieder gaben als Gründe an: das Bedürfnis nach Kontrolle über das eigene Sterben, die Erwartung einer schlechteren zukünftigen Lebensqualität, Bedenken, sein Selbstgefühl zu verlieren und die Angst vor zukünftigen Schmerzen. Abweichungen zeigen sich darin, ob die als bedeutsam beurteilten Themen die Gegenwart oder die Zukunft betreffen. 3.4.2.3.3 Informationsstand und Übereinstimmungen zwischen Familienmitgliedern und ihren kranken Angehörigen in Bezug auf ärztlich assistierten Suizid Ob die Einstellung von Familienmitgliedern gegenüber ärztlich assistiertem Suizid (PAS) die Haltung und das Verhalten von Kranken beeinflusst, die erwägen, ihr Leben mittels PAS zu beenden, wurde von Ganzini et al. (2006) in einer quantitativen Querschnittsstudie untersucht. Die Befragungsergebnisse der 98 Familienmitglieder von 135 Bürgern Oregons mit fortgeschrittener Krebserkrankung verdeutlichen, dass 50 % ein Gesuch ihres Angehörigen nach PAS unterstützen würden (Ganzini et al., 2006). Weitere 30 % wären dagegen und 19 % waren diesbezüglich unentschlossen oder wollten keine Position beziehen (Ganzini et al., 2006). Einige Erkrankte gehen davon aus, dass ihre Angehörigen sie unterstützen würden, falls sie sich zu PAS entscheiden würden. Gegenteilig jener Angehörigen gaben diesbezüglich allerdings an, dass sie gegen PAS wären (Ganzini et al., 2006). Die Forscher fanden aber auch heraus, dass von zehn Patienten, die sich vorstellen konnten, zukünftig nach PAS zu fragen, keiner ein Rezept für das tödliche Substrat beantragte, wenn/da deren Angehörige strikt gegen PAS waren (Ganzini et al., 2006). Betreffend die Einschätzung von Familienmitgliedern darüber, ob ihre erkrankten Angehörigen den Wunsch zu sterben haben und wie stark sie an PAS und an der Ausstellung eines Rezepts für das tödliche Substrat interessiert sind, bestehen nur geringe Übereinstimmungen mit den tatsächlichen Wünschen der Angehörigen (Ganzini et al., 2006). Differenzen zeigen sich darin, dass 19 Familienmitglieder angaben, sie hätten mit ihrem erkrankten Angehörigen über die Einstellung zu PAS diskutiert, wohingegen die Kranken selbst sagten, dass dem nicht so sei (Ganzini et al., 2006). Elf berichteten, sie hätten ihre Haltung gegenüber PAS mit ihren Familienmitgliedern diskutiert, was von diesen jedoch nicht bestätigt wurde (Ganzini et al., 2006). Zudem geht aus den Resultaten hervor, dass für Familienmitglieder, die das Gesuch nach PAS unterstützen, die Religion weniger bedeutsam ist und sie das Gefühl haben, durch die Situation ihres erkrankten Angehörigen selbst unter gesundheitlichen Folgen zu leiden (Ganzini et al., 2006). Die Ergebnisse dieser Untersuchung deuten darauf hin, dass Menschen, die extrem gegen PAS eingestellt sind, ihre Angehörigen davon abhalten können, um PAS zu ersuchen. Ob der Grund dafür tatsächlich die ablehnende Haltung von
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Familienmitgliedern gegenüber PAS ist oder ob noch andere Mechanismen wirken, geht aus den Ergebnissen nicht hervor und sollte untersucht werden. Des Weiteren kann aufgrund der Ergebnisse nicht angenommen werden, dass Familienangehörige genau wissen, ob ihre erkrankten Angehörigen den Wunsch haben, sterben zu wollen, und wie es um das tatsächliche Ausmaß des Interesses ihres Angehörigen an PAS steht. 3.4.2.3.4 Die Wahl des Zeitpunktes zur Beschleunigung des Todes sowie Aspekte, die Menschen in ihren Überlegungen, ihren Tod zu beschleunigen, voranschreiten lassen Antworten zu diesen Themen liefern die Ergebnisse der longitudinalen qualitativen Untersuchung von Starks, Pearlman, Hsu et al. (2005), in welcher mit Patienten und Familienmitgliedern retrospektiv sowie prospektiv halbstrukturierte Interviews durchgeführt wurden. Die meisten von ihnen gaben an, dass ihr Interesse, den Tod zu beschleunigen, mit ihrer religiösen oder spirituellen Überzeugung in Einklang steht (Starks et al., 2005). Sie waren der Ansicht, Gott wolle nicht, dass sie leiden, oder sie fürchteten keine moralische Verurteilung ihres Handelns (Starks et al., 2005). Alle litten auf irgendeine Art und Weise, was mit zahlreichen Erfahrungen des Verlusts physischer, psychischer oder sozialer Funktionen zusammenhing, die das Selbstgefühl, die Zukunft und den Sinn des Lebens untergruben (Starks et al., 2005). Auslöser dafür waren das Miterleben des sich in die Länge ziehenden Sterbens nahestehender Menschen sowie entsprechende Medienberichte (z. B. Terry Schiavo) (Starks et al., 2005). Solche Erfahrungen bestärkten die Patienten in bedeutsamen Werten wie unabhängig zu bleiben, ein Leben in einem Alterspflegeheim und Krankenhausaufenthalte zu vermeiden und die Umstände des Todes zu kontrollieren (Starks et al., 2005). Betreffend der zeitlichen Abstimmung und der Umstände des Todes zeigte sich, dass die Patienten zwischen einem Monat und 20 Jahren mit ihrer Krankheit lebten und ab dem ersten Tag bis zu drei Jahren ihren Tod planten (Starks et al., 2005). Viele sprachen schon vor langer Zeit mit ihren Angehörigen über die Idee, ihren Tod beschleunigen zu wollen (Starks et al., 2005). Manchen Patienten stand das tödliche Substrat seit mehreren Monaten zur Verfügung, aber sie benutzen es nicht, sondern sahen in ihm eine Art Absicherung, die ihnen das Gefühl gab, Kontrolle über ihre Zukunft zu haben (Starks et al., 2005). Die Bereitschaft der Patienten, ihren Kampf mit ihrer Krankheit zu beenden, war in allen Gesprächen spürbar (Starks et al., 2005). Unterschiede zeigten sich hinsichtlich der Schwelle, ab wann die Krankheit und deren Folgen schwerer wogen als die angenehmen Seiten des Lebens (Starks et al., 2005). Eine prognostizierte Lebenszeit von weniger als einer Woche führte dazu, dass Patienten entschieden, zu sterben, und dies in Kürze realisierten (Starks et al., 2005). Wurde eine verbleibende Lebenszeit von unter einem Monat prognostiziert, löste das das
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Gefühl aus, zwar terminal zu sein, aber nicht schnell genug zu sterben (Starks et al., 2005). Patienten, denen eine Lebenszeit von bis zu sechs Monaten oder mehr prognostiziert wurde, wollten mit der Beschleunigung ihres Todes einer von ihnen antizipierten bedrohlichen Verschlimmerung ihres gesundheitlichen Zustandes zuvorkommen, welche ihnen die selbstständige Einnahme des tödlichen Substrates verunmöglichen könnte (Starks et al., 2005). Gründe, seinen Tod nicht zu beschleunigen, waren das unerwartet positive Erleben eines Hospizaufenthaltes, welches zu einer Meinungsänderung führte, der Verlust der physischen Fähigkeit oder der Entscheidungsfähigkeit, sich das tödliche Substrat selbst verabreichen zu können, oder der plötzliche Tod (Starks et al., 2005). Der gewählte Tag zum Sterben wurde von manchem Sterbewilligen so gelegt, dass Zeit für eine bestimmte Art Abschied(-sfest) von nahestehenden Menschen blieb (Starks et al., 2005). Zudem wurden der Tag des Sterbens und die damit verbundenen Abläufe mit daran Beteiligten und deren Zeitressourcen abgestimmt (Starks et al., 2005). Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass der Entscheid, seinen Tod zu beschleunigen, nicht aus dem Nichts heraus, im Kurzschluss oder leichtfertig getroffen wird. Viele Patienten scheinen vorher die ihnen angebotenen medizinischen Behandlungsformen auszuschöpfen. Deutlich wird auch, dass sich die meisten Menschen lange Zeit vor dem eigentlichen Zeitpunkt der Beschleunigung des Todes mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen. Insbesondere Kranke, die eine unerwünschte Zukunft antizipierten, beabsichtigten, Kontrolle über ihr zukünftiges Dasein und Sterben zu behalten. Dass manche Patienten in dem ihnen zur Verfügung stehenden tödlichen Substrat eine Absicherung sehen, die ihnen ermöglicht, Kontrolle über ihre Zukunft zu haben, zeigt, wie groß die Angst vor dem Verlust der Unabhängigkeit, der Selbstbestimmung bzw. vor der Abhängigkeit von Entscheidungen anderer bezüglich des Lebens und Sterbens ist und wie versucht wird, unerwünschte Daseinsformen zu bewältigen. Nach dieser Übersicht von Forschungsergebnissen folgt die Beschreibung der Datenlage der Departments of Human Services der Bundesstaaten Oregon und Washington. 3.4.2.3.5 Oregon Seit dem Jahr 1998 liegen statistische Daten aus Jahresberichten des Oregon Department of Human Science zu Bürgern vor, die im Bundesstaat Oregon leben und ärztlich assistierten Suizid (PAS) erwogen haben und auf diese Weise gestorben sind. Die zusammenfassende Statistik über die Jahre 1998 bis 2009 zeigt, dass in dieser Zeit in Oregon 460 Menschen durch die Verabreichung eines tödlichen Substrates gestorben sind (Oregon Department of Human Services, 2010). Unter den Verstorbenen waren 244 (53 %) Frauen und 216 (47 %) Männer (Oregon Department of Human Services, 2010). Die vier größten Altersgruppen
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sind die 75- bis 84-Jährigen (29 %), die 65- bis 74-Jährigen (27 %), die 55- bis 64Jährigen (20 %) und die über 85-Jährigen (11 %) (Oregon Department of Human Services, 2010). Über 95 % der Verstorbenen gehörten der weißen Bevölkerung an, 46 % waren verheiratet, 22 % verwitwet und 23 % geschieden (Oregon Department of Human Services, 2010). Mehr als ein Drittel hatte einen akademischen Abschluss. Bei mehr als 80 % lag eine Krebserkrankung vor (Oregon Department of Human Services, 2010), andere waren an Amyotropher Lateralsklerose (7 %), chronischer Lungenerkrankung (3 %) und HIV/AIDS (1 %) erkrankt (Oregon Department of Human Services, 2010). Über 85 % erhielten eine hospizähnliche Versorgung (Oregon Department of Human Services, 2010). Zu den bedeutsamen problematischen Themen am Lebensende zählten: der Verlust an Autonomie (90 %), die Abnahme der Fähigkeit, an Aktivitäten teilzunehmen, die das Leben angenehm machen (87 %), das Gefühl des Verlusts an Würde (85 %), der Verlust der Kontrolle über Körperfunktionen (57 %), die Sorge, eine Last für die Familie, Freunde und fürsorgliche Menschen zu sein (36 %), unzureichende Schmerzkontrolle oder damit zusammenhängende Bedenken (22 %) sowie die Sorge um finanzielle Auswirkungen der Behandlung (2 %) (Oregon Department of Human Services, 2010). Der Ort des Sterbens war in 95 % der Fälle die häusliche Umgebung, in 4 % Alterspflegezentren und in 0,2 % ein Krankenhaus (Oregon Department of Human Services, 2010). Dass der Großteil der Verstorbenen in eine hospizähnliche Versorgung integriert war, löst Fragen aus: Wie sah die hospizähnliche palliative Versorgung konkret aus und wo und seit wann fand sie statt? Wie erlebten die Kranken die Qualität und den Nutzen der palliativen Versorgung? Wie erleben palliativ versorgte Menschen ihre Situation? Wogen Themen wie der Verlust an Würde und Autonomie, die reduzierte Fähigkeit, an erfreulichen Aktivitäten teilzunehmen, mehr als die erfahrene Palliativ-/Hospiz-Versorgung? Auffallend ist auch, dass in Oregon durch PAS Verstorbene überwiegend zu Hause starben. Diese Tatsache wirft Fragen auf, deren Untersuchung zur Klärung der Umstände beitragen kann, die Kranke dazu bewegen, ihr Leben zu beenden: Lassen sich Kranke von einer Institution des Gesundheitswesens zum Sterben durch PAS nach Hause zurückverlegen, weil sie gerne dort sterben wollen? Leben Menschen, solange sie dazu in der Lage sind, zu Hause und entschließen sich irgendwann dazu, durch PAS zu Hause zu sterben, weil sie dadurch vermeiden wollen, in eine Langzeitpflegeinstitution oder eine palliative Institution ziehen zu müssen? Derartige Fragen sollten in zukünftige Forschungen einfließen. 3.4.2.3.6 Washington Im Bundesstaat Washington ist seit März 2009 ein Gesetz in Kraft, das terminal kranken Bürgern Washingtons ermöglicht, zur Beendigung ihres Lebens einen
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Arzt um die Verschreibung eines tödlichen Substrats zu ersuchen. Aus dem ersten statistischen Jahresbericht des Washington State Department of Health geht hervor, dass 36 Menschen im Alter zwischen 48 und 95 Jahren im Jahr 2009 infolge der Einnahme eines tödlichen Substrats verstarben (Washington State Departement of Health, 2009). Die meisten litten an einer Krebserkrankung (Washington State Departement of Health, 2009). Die für die Verstorbenen bedeutsamen Themen am Lebensende waren: der Verlust an Autonomie (100 %), abnehmende Fähigkeit, an Aktivitäten teilnehmen zu können, die das Leben angenehm machen (91 %), ein Verlust an Würde (82 %), der Verlust der Fähigkeit, Körperfunktionen zu kontrollieren (41 %), inadäquate Schmerzkontrolle oder diesbezügliche Sorgen (25 %), die Angst, der Familie, Freunden, fürsorglichen Menschen zur Last zu fallen (23 %), und finanzielle Auswirkungen der Behandlung (2 %) (Washington State Departement of Health, 2009). Der Vergleich der Jahresberichte aus Oregon und Washington zeigt, dass beide Organisationen die gleichen Kategorien zur Beschreibung bedeutsamer Themen am Lebensende verwenden. Dies vereinfacht den Vergleich der Kategorien in den zwei Bundesstaaten. Die vordefinierten Kategorien sind jedoch abstrakt gehalten und beschränken sich auf sieben Themen. Eine solche Abstraktion und die damit einhergehende Reduktion der Aspekte, die für Kranke bedeutsam sind, blendet möglicherweise wichtige ursächliche Themen aus und verleitet zu einer gewissen Simplifizierung der Beweggründe, die Menschen erwägen lassen, ihr Leben zu beenden, und die diesen Beschluss auch tatsächlich realisieren. Eine differenzierte Betrachtungsweise der Beweggründe würde ermöglichen, Einflussfaktoren auf diese zu reflektieren, geeignete Interventionen zu entwickeln und zu implementieren, um ursächlichen Faktoren diverser Beweggründe präventiv und situativ wirksam begegnen zu können. Zudem assoziiert die Bezeichnung »End-of-Life concerns«, dass es sich bei den kategorialen Themen um Aspekte handelt, die eher am Lebensende bedeutsam sind. Wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, ob diese Themen tatsächlich erst am Lebensende oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt innerhalb des Krankheitsprozesses von Relevanz sind, liegen bislang erst punktuell vor. Die Untersuchungsergebnisse von Ganzini et al. (2009) zeigen diesbezüglich beispielsweise, dass der Verlust an Würde und an Unabhängigkeit bedeutsame Gründe sind, die Menschen veranlassen, nach PAS zu fragen. Das belegt, dass solche Themen für manche Menschen bereits zu einem früheren Zeitpunkt von hoher Relevanz sind. Zusammenfassung Die Forschungsdesigns der Untersuchungen aus den USA sind überwiegend quantitativ. Die Anzahl der eingeschlossenen Untersuchungspersonen liegt in den quantitativen Untersuchungen zwischen 56 und 98. Die Studiendaten
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wurden mehrheitlich aus der Sicht von Familienangehörigen terminaler Krebspatienten erhoben. Einer Studie liegt ein qualitatives retro- sowie prospektives longitudinales Design zugrunde. Im Zentrum der erläuterten Forschungsstudien stehen die Gründe, die Bürger Oregons ärztlich assistiertes Sterben erwägen und realisieren lassen, der Informationsstand, Übereinstimmungen zwischen Familienmitgliedern und ihren erkrankten Angehörigen in Bezug auf ärztlich assistierten Suizid, die Terminierung der Beschleunigung des Todes sowie Faktoren, welche die Betroffenen hinsichtlich der Beschleunigung ihres Sterbens antreiben. Forschungen, in denen Faktoren untersucht wurden, die Menschen helfen, trotz ihrer Krankheit weiterzuleben, oder in denen Entscheidungsprozesse rund um PAS aus der Sicht von Kranken prozessual beleuchtet wurden, existieren nicht. 3.4.2.4 Erkenntnisse zu Faktoren und Beweggründen von Menschen, die in der Schweiz durch Beihilfe zum Suizid gestorben sind Im Zusammenhang mit Beweggründen von Menschen, die in der Schweiz um Beihilfe zum Suizid ersuchten und auf solche Weise gestorben sind, wurden zwei quantitativ retrospektive Untersuchungen sowie eine retrospektive Follow-upFallstudie gefunden. 3.4.2.4.1 Beweggründe von Menschen, nach Suizidbeihilfe zu ersuchen, und Gründe von Ärzten, entsprechenden Gesuchen nachzukommen Fischer, Huber, Furter et al. (2009) analysierten retrospektiv medizinische Berichte und persönliche Briefe von 165 Menschen (Situationsschilderungen von Menschen, die sich an eine Schweizer Suizidbeihilfeorganisation wandten), die zwischen 2001 bis 2004 in Zürich durch Beihilfe zum Suizid starben. Die erhobenen Berichte wurden nach Beweggründen untersucht, die Menschen um Suizidbeihilfe ersuchen ließen und Ärzte zur Ausstellung des Rezeptes veranlassten (Fischer et al., 2009). Die Ergebnisse zeigen, dass Ärzte häufig die gleichen physischen, sozialen und psychisch-existenziellen Beweggründe für die Unterstützung nach Beihilfe zum Suizid dokumentierten wie die Sterbewilligen (Fischer et al., 2009). Unter entsprechenden Beweggründen finden sich: Schmerzen, neurologische Symptome, Immobilität, Atemnot, Schlafveränderungen, Konzentrationsverlust, visuelle und akustische Beeinträchtigungen und der Verlust der Kontrolle über Körperfunktionen (Fischer et al., 2009). Weitere Faktoren sind soziale Isolation, der Bedarf an Langzeitpflegeversorgung, das Bedürfnis nach Kontrolle der Umstände des eigenen Todes, das Gefühl des Verlusts an Würde, körperliche Schwäche, abnehmende Fähigkeiten, an Aktivitäten teilzunehmen, die das Leben angenehm machen, Lebensüberdruss oder Lebensmüdigkeit und folgenreiche medizinische Behandlungen (Fischer et al.,
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2009). Der Vergleich der von den Ärzten dokumentierten Beweggründe mit den Beweggründen, die die durch assistierten Suizid Verstorbenen äußern, bringt aber auch Abweichungen zum Vorschein. Das zeigt die Häufigkeit, mit der einzelne Gründe genannt werden (Fischer et al., 2009). So liegt die Häufigkeit der von Ärzten und Betroffenen genannten Beweggründe bei eher objektiv erfassbaren Themen (z. B. Atemnot) nah beieinander, während sie bei psychischexistenziellen Themen, die subjektiv erfahren werden, auseinanderfällt (z. B. Kontrollbedürfnisse hinsichtlich des Sterbens) (Fischer et al., 2009). Die Ergebnisse belegen, dass multifaktorielle Beweggründe Menschen dazu veranlassen, nach Beihilfe zum Suizid zu ersuchen. Zudem wird deutlich, dass die Wahrnehmung der Beweggründe, warum sich Menschen für Beihilfe zum Suizid interessieren, zwischen Ärzten und den an Beihilfe zum Suizid Interessierten teilweise übereinstimmt, aber auch voneinander abweicht. 3.4.2.4.2 Faktoren, die mit Sterbefällen der Suizidbeihilfeorganisationen Exit und Dignitas in Zusammenhang stehen Im Jahr zuvor untersuchten Fischer, Huber, Imhof et al. (2008) die Dokumente von 421 Verstorbenen, die mit den Schweizer Suizidbeihilfeorganisationen Dignitas oder Exit starben, auf Unterschiede im Bezug auf die beiden Organisationen. Interessant ist an den Ergebnissen für die hier vorliegende Studie, dass mehr Frauen als Männer durch Suizidbeihilfe starben und die Mehrheit (74,8 %) der Verstorbenen eine zum Tode führende Krankheit aufwies (Fischer et al., 2008). Am häufigsten lagen maligne Krankheiten vor, gefolgt von neurologischen Krankheitsbildern, weiteren Krankheiten wie Blindheit, Paralyse, genereller Schwäche, kardiovaskulären oder Atemwegserkrankungen, rheumatologischen Krankheitsbildern, Schmerzsyndromen, mentalen Krankheiten und HIV/AIDS (Fischer et al., 2008). Auffallend ist die zunehmende Anzahl Verstorbener, die keine zum Tode führende Krankheit aufwiesen (Fischer et al., 2008). Die Forscher sehen den Grund dafür, warum ältere Menschen Suizidbeihilfe in Anspruch nehmen, eher darin, dass sie ihr Leben zu belastend finden, und weniger in einem tödlichen oder hoffnungslosen medizinischen Zustand (Fischer et al., 2008). 3.4.2.4.3 Gründe von hospitalisierten Patienten, nach Suizidbeihilfe zu ersuchen Aus der von Wasserfallen, Chiol¦ro & Stiefel (2008) publizierten Follow-upFallstudie zu Patienten (n=6), die im Krankenhaus um Suizidbeihilfe ersuchten, resultiert, dass die Suizidbeihilfegesuche mit schweren, lebensbedrohlichen Krankheitssituationen, ausbleibender Besserung, einer Verschlechterung des Zustands, totaler Abhängigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens oder mit Schmerzen in Zusammenhang standen und eine wirksame Schmerzlinderung einen Rückzug des Suizidbeihilfegesuches bewirken kann.
Der Wissensstand zu Faktoren, das Leben zu beenden
95
Zusammenfassung Die Analyse der Forschungsberichte aus der Schweiz veranschaulicht, dass zwischen 2005 bis 2010 zwei quantitativ retrospektive Untersuchungen und eine retrospektive Follow-up-Fallstudie publiziert wurden, die dem recherchierten Forschungsgegenstand entsprechen oder diesen inhaltlich streifen. Zur Datenerhebung wurde auf medizinische Dokumente von Ärzten sowie auf Briefe von Menschen zurückgegriffen, die in der Schweiz durch Beihilfe zum Suizid gestorben sind sowie auf die Dokumentation von Fällen, in denen sich Patienten für Suizidbeihilfe interessierten und um diese ersuchten. Gegenstand des Forschungsinteresses sind die Beweggründe, die Menschen dazu veranlassen, nach Beihilfe zum Suizid zu ersuchen und bestimmte Kontextfaktoren (Geschlecht, Alter, Familienstand, Abstammung, medizinische Diagnosen und Krankheitssymptome, die Mitgliedsdauer bei einer Suizidbeihilfeorganisation, der Sterbeort, der das tödliche Substrat verschreibende Arzt, die Art und Weise der Verabreichung des Pentobarbiturats). Ungeklärt bleibt, welche Hintergründe und Faktoren die Beweggründe von Menschen bedingen, die an Beihilfe zum Suizid interessiert oder durch diese gestorben sind, wie Menschen zu dem Entschluss kommen, auf diese Art zu sterben, und warum andere physisch Kranke sich gegen die Möglichkeit entscheiden.
3.4.3 Erkenntnisse aus systematischen Literaturreviews zu Faktoren und Beweggründen, die Menschen nach Sterbehilfe oder PAS ersuchen lassen Aus dem von Monforte-Royo, Villavicensio-Chvez, Tomz-Sbado et al. (2010) durchgeführten Review von 282 Artikeln im Zusammenhang mit dem Wunsch, den Tod zu beschleunigen, resultiert, dass dem Wunsch nach Beschleunigung des Todes multifaktorielle Ursachen zugrunde liegen, die physischen Symptomen, psychosozialen Aspekten, existenziellem Leiden und sozialen Faktoren zugeordnet werden können. Als ursächliche Faktoren werden genannt: reduzierte Fähigkeit, an erfreulichen Aktivitäten teilzunehmen, Furcht vor Schmerzen, Autonomieverlust, das Gefühl, anderen physisch und finanziell zur Last zu fallen, das Gefühl des Verlusts an Würde und Bedeutung im Leben, der Verlust an Kontrolle im Allgemeinen und an Körperfunktionen, Sorgen über das Wann und Wie des Sterbens, Depression, Hoffnungslosigkeit, Schmerzen, inadäquate Symptomkontrolle, physisches Leiden, Sorgen, Fatigue, Atemnot, Fortschreiten der Krankheit und Verschlechterung des Gesundheitszustandes, Einsamkeit, mangelnde soziale Unterstützung, Verlust sozialer Rollen (Monforte-Royo et al., 2010). Der Wunsch nach Beschleunigung des Todes kann fluktuieren und im Gegenteil instabil sein und wird als Ruf nach Lebenshilfe sowie als Wunsch
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Stand der Forschungserkenntnisse
verstanden, sein Leben zu beenden (Monforte-Royo et al., 2010). Als initiale Ursachen für den Wunsch, seinen Tod zu beschleunigen, stellen sich mangelnde Unterstützung und soziale Isolation heraus (Monforte-Royo et al., 2010). Zudem wird vermutet, dass sich hinter dem Entscheid und dem Gesuch nach Euthanasie Sehnsüchte nach Verbundenheit, Fürsorge und Respekt verbergen (MonforteRoyo et al., 2010). Dem integrativen Literaturreview von Dees et al. (2009) zu Definitionen von Leiden und Leidenserfahrungen sind an die 100 Beweggründe zu entnehmen, die im Zusammenhang mit unerträglichem Leiden und PAS- oder Sterbehilfegesuchen stehen. Zu biographischen Beweggründen gehören ein hohes Lebensalter und negative Sterbeerfahrungen (Dees et al., 2009). Krankheits- und behandlungsbezogene Beweggründe sind das Vorliegen einer terminalen Krankheit, das Fortschreiten schwerer Krankheit, unerwünschte Nebenwirkungen, das Fehlen hilfreicher Behandlung, die Erfahrung ungenügender Schmerzkontrolle sowie die Ausreizung vorhandener Ressourcen (Dees et al., 2009). Belastend wirken Situationen physischer Veränderung, Verschlechterung, Behinderung, Immobilität und das Empfinden, die gegenwärtige Situation sei mit dem Leben unvereinbar und unerträglich (Dees et al., 2009). Dies gilt auch für eine hohe Prävalenz schwerer physischer Symptome (Dees et al., 2009). Beweggründe im Zusammenhang mit Aktivitäten des täglichen Lebens sind Zustandsveränderungen wie unfähig sein, für sich selbst zu sorgen, ans Bett gebunden sein, Abhängigkeit und Hilfe für die persönliche Versorgung zu brauchen (Dees et al., 2009). Unter den Faktoren finden sich auch psychische Beweggründe wie vielfältige Ängste und Befürchtungen (Dees et al., 2009). Ebenfalls genannt werden Entmutigung, Verzweiflung, (schwere) Depression/depressive Stimmung, psychische Störungen, Hoffnungslosigkeit, Fehlen von Hoffnung auf (Ver-)Besserung und ein (durch physische Symptome) starkes Gefühl der Belastung (Dees et al., 2009). Existenzielle Beweggründe, die Menschen nach Euthanasie oder PAS ersuchen lassen, sind Mangel- oder Verlusterfahrungen, die das Selbst, die Würde, die Autonomie, die Unabhängigkeit, die Resilienz, die Kontrolle (über Körperfunktionen), das Interesse und das Erleben von Freude betreffen. Dazu zählen auch Erfahrungen wie Lebensmüdigkeit, (schweres, existenzielles, mentales, hoffnungsloses, physisches) Leiden, schlechte Lebensqualität, die Unfähigkeit zu eigenen Aktivitäten oder zur Teilhabe an Aktivitäten des Lebens, die Freude bereiten, das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, die Sinn- und Zwecklosigkeit des Weiterlebens, Reduziertsein auf das bloße Existieren und seine Lebensaufgaben abgeschlossen haben (Dees et al., 2009). Zu Beweggründen, die mit dem persönlichen Wertesystem von Menschen verbunden sind, gehören: ungewolltes Dahinsiechen, der Wunsch, zu Hause zu sterben, der grundsätzliche Wunsch nach Kontrolle und nach einfacherem Sterben (Dees et al., 2009). Als weitere Gründe werden angeführt: Leiden vermeiden, Abhilfe
Der Wissensstand zu Faktoren, das Leben zu beenden
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schaffen, um nicht verlassen zu werden, der Wunsch, die Umstände des eigenen Sterbens und Todes zu kontrollieren (Dees et al., 2009). Weitere Beweggründe sind das Beibehalten von Autonomie über das Sterben, der Wille zu leben sowie der Wunsch oder die Bereitschaft, zu sterben (Dees et al., 2009). Beweggründe, die aus der Bewältigungsfähigkeit eines Menschen resultieren, sind beispielsweise adaptive Schwierigkeiten, die Schwierigkeit seine Situation zu akzeptieren, die Unfähigkeit, sein Leben zu bewältigen/mit seinem Leben zurechtzukommen, Unzufriedenheit mit dem Leben oder eine wahrgenommene Schwere des Lebens. Soziale Beweggründe sind Altruismus gegenüber der Familie, familienbezogene Gründe wie Erschöpfung oder Krankheitserfahrungen, das Gefühl, eine Belastung für die Familie zu sein, der Verlust sozialer Rollen, Rache, soziale Isolation, Mangel an sozialer Unterstützung sowie die Beziehungen zu anderen (Dees et al., 2009). Beweggründe finanzieller Art sind (Sorgen über) Kosten der medizinischen Versorgung und sich selbst als finanzielle Belastung für andere sehen (Dees et al., 2009). Auch die Prozessabfolge bzw. die gesetzlichen Bestimmungen im Zusammenhang mit der Gesuchstellung nach PAS und Sterbehilfe selbst gelten als Beweggrund. Als Gründe für PAS-/Sterbehilfegesuche ohne Vorliegen einer schweren Krankheit werden angegeben: mit dem Leben abgeschlossen haben, (physische) Verschlechterung, Lebensmüdigkeit, kein Lebensziel haben, Melancholie, Depression, Einsamkeit, Abhängigkeit, leiden am Leben, Verlust an Würde und Status, nicht länger eine Last für die Familie sein wollen, Schmerzen, kognitive Verschlechterung, der Tod eines nahestehenden Menschen sowie die Unfähigkeit, unabhängig zu leben (Dees et al., 2009). Aus der Sicht von Familienmitgliedern stellen sich folgende Gründe für PAS-/Sterbehilfegesuche: keine Kraft mehr haben, gegen die Krankheit anzukämpfen, Insomnie, bestehendes Interesse an assistiertem Suizid lange Zeit vor Auftreten der Krankheit, der Wunsch nach Kontrolle über Art und Zeit seines Sterbens, die Aussicht auf zukünftiges unerträgliches Leiden, die Unmöglichkeit, seine persönliche Integrität wiederzuerlangen, akute Ereignisse, Schwachheit, Verletzlichkeit, der weitere Krankheitsverlauf, die Bereitschaft, weiterzukämpfen, und die Bereitschaft anderer, einem bei der Beschleunigung des Sterbens zu helfen (Dees et al., 2009). Die Autoren des Literaturreviews kommen zum Schluss, dass unerträgliches Leiden im Zusammenhang mit PASoder Sterbehilfegesuchen Ausdruck einer subjektiv wahrgenommenen, aktuell bestehenden oder einer noch bevorstehenden Bedrohung des Selbst und des Seins eines Menschen ist (Dees et al., 2009). Ergänzend aus den zuvor erwähnten Beweggründen gehen aus dem von Hudson et al. (2006) durchgeführten Literaturreview von 35 Forschungsstudien weitere Faktoren hervor, warum Patienten mit fortgeschrittener Krankheit sich die Beschleunigung ihres Sterbens und Todes wünschen. Zu diesen zusätzlichen Beweggründen gehören: Suizidgedanken, die ungenügende Qualität der sozia-
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Stand der Forschungserkenntnisse
len Unterstützung, eingeschränktes spirituelles Wohlbefinden, antizipiertes physisches Leiden, der Wunsch, den Sterbeprozess abzukürzen, schlechte Qualität der Versorgung, Alkoholsucht/-abhängigkeit, Traurigkeit, ungelinderte psychische Aspekte sowie der Wunsch, seine Unabhängigkeit zu behalten (Hudson et al., 2006). Im anschließenden Kapitel 3.5 folgen Schlussfolgerungen zum Forschungsstand und zu Forschungslücken, vor deren Hintergrund die Relevanz des Forschungsgegenstandes und der damit verbundenen Fragestellung der hier vorliegenden Untersuchung erläutert werden.
3.5
Schlussfolgerungen zum Forschungsstand
Neben Faktoren, die den Lebenswillen beeinflussen und Menschen vom assistierten Sterben abhalten, wurden Faktoren untersucht, die im Zusammenhang mit dem Vorkommen, der Entstehung und Entwicklung von Gedanken und Wünschen sowie daraus resultierenden Gesuchen nach assistiertem Sterben stehen. Bezogen auf das Lebensende wurde das Symptomerleben Kranker erforscht. Zu End-of-Life-Entscheidungen wurden Entscheidungstypen, deren Prävalenz, damit zusammenhängende Einflussfaktoren sowie die in Entscheidungen involvierten Personen erfasst. Im Zusammenhang mit dem Entwicklungsgang assistierten Sterbens wurde erforscht, welche Situationen während der Prüfung von PAS- oder Sterbehilfegesuchen vorkommen. Untersucht wurden auch die praktische Durchführung der Sterbehilfe oder PAS sowie die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen im Umgang mit PAS- und Sterbehilfegesuchen. Zudem wurden verschiedene Aspekte der (palliativ-)medizinischen Versorgung im Kontext von PAS und Sterbehilfe erforscht sowie Einstellungen gegenüber dem assistierten Sterben.
3.5.1 Schlussfolgerungen zu Forschungen über Entscheidungsprozesse physisch chronisch Kranker, weiterleben oder sterben zu wollen Die Forschungsarbeiten zu Entscheidungen am Lebensende lassen erkennen, dass die Forscher End-of-Life-Entscheidungen meist aus der Perspektive von Außenstehenden und daraus resultierenden Fragestellungen untersuchen. Zudem fällt auf, dass in der Forschungsliteratur fast ausschließlich von medizinischen End-of-Life-Entscheidungen die Rede ist. Dieser Begriff assoziiert, dass primär Ärzte End-of-Life-Entscheidungen treffen. Letzteres mag für urteilseingeschränkte Menschen zutreffen. Bei urteilsfähigen Menschen sollten einer zu treffenden End-of-Life-Entscheidung allerdings Überlegungen und
Schlussfolgerungen zum Forschungsstand
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Entscheidungsfindungsprozesse des kranken Menschen vorausgehen. Der Begriff »patient-related end-of-life decision« existiert in der Forschungsliteratur allerdings nicht. Auffallend ist auch, dass die Forschungserkenntnisse oft die Ausgänge von End-of-Life-Entscheidungen repräsentieren (z. B. die Anzahl Menschen, die durch eine bestimmte End-of-Life-Entscheidung an bestimmten Orten gestorben sind). Wie Kranke zu ihrer Entscheidung kommen und was diesbezüglich vor sich geht, ist so gut wie kein Thema innerhalb der vorliegenden Forschungsarbeiten. Aus der subjektiven Sicht Kranker, die sich mit Gedanken beschäftigen, ihr Leben zu beenden oder weiterzuleben, das heißt die End-of-Life-Entscheidungsfindungsprozesse durchleben, Entscheidungen treffen, schließlich um Sterbehilfe oder PAS bzw. PAD ersuchen und diese durchführen oder dies gerade nicht tun, liegen bislang kaum Forschungsarbeiten vor. Vor diesem Hintergrund besteht ein Forschungsbedarf zum subjektiven Erleben und den Lebenswelten physisch chronisch Kranker, die Gedanken in sich tragen, ihr Leben zu beenden oder weiterleben zu wollen. Es bestehen Forschungslücken zur prozessualen Entstehung und dem Voranschreiten von Überlegungen, Wünschen und Entscheidungen physisch chronisch Kranker, weiterleben oder sterben zu wollen, und daraus resultierenden Handlungen. Dementsprechende Erkenntnisse sollten aus der subjektiven Sichtweise Kranker gewonnen werden, die in Ländern leben, in denen PAS oder Sterbehilfe legal ist. Die Generierung solcher Forschungserkenntnisse ist für ein vertieftes Verständnis der erwähnten Phänomene, die Einschätzung von Menschen, die sich in derartigen Situationen befinden, sowie für die Entwicklung von Interventionen, die helfen, solchen vorzubeugen oder entgegenzuwirken, von zentraler Bedeutung. Die Erforschung des subjektiven Erlebens und der Lebenswelten physisch chronisch Kranker ist zentral, da diese die Grundlage ihrer Entscheidungsfindungsprozesse sowie der von ihnen getroffenen Entscheidungen bilden. Da Gesundheitsfachpersonen an End-of-Life-Entscheidungen beteiligt sind, existiert auch Forschungsbedarf darüber, wie zum Beispiel Ärzte prozessual betrachtet zu ihrer Entscheidung kommen.
3.5.2 Schlussfolgerungen zu Forschungen über Faktoren, die den Lebenswillen von physisch chronisch Kranken erhalten und sie nicht erwägen lassen, ihr Leben (durch assistiertes Sterben) zu beenden Ausdrückliche Forschungserkenntnisse zu Faktoren, die den Lebenswillen von physisch chronisch Kranken positiv oder negativ beeinflussen, sind rar. Es wurde keine Forschungsarbeit gefunden, in welcher der Wille zu leben von physisch chronisch nicht terminal Kranken untersucht wurde, die im Rahmen gesetzlich erlaubter Sterbehilfe oder PAS zu sterben erwägen. Ausgehend davon
100
Stand der Forschungserkenntnisse
zeichnet sich aus der Sicht physisch chronisch nicht terminal Kranker, die in einem Land leben, in dem es gesetzlich erlaubt ist, durch Sterbehilfe, PAS oder Beihilfe zum Suizid zu sterben, ein Forschungsbedarf über den Willen ab, weiterzuleben oder durch assistiertes Sterben zu sterben. Da Veränderungen des Lebenswillens vermutlich prozessual ablaufen, sollten nach Möglichkeit longitudinale Untersuchungsdesigns verwendet werden. Die Gewinnung solcher Forschungserkenntnisse ist von hoher Relevanz, um mehr über den Lebenswillen von physisch chronisch Kranken zu erfahren und um auf Faktoren, die den Lebenswillen bei dieser Population brechen, erhalten oder dazu beitragen, diesen zurückzugewinnen mit geeigneten Maßnahmen reagieren zu können. Für die Bereitstellung einer wirksamen Palliativversorgung ist zudem Wissen über die Faktoren erforderlich, die dazu beitragen, dass Kranke am Leben bleiben wollen, sich auf eine solche Versorgung einlassen und nicht erwägen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Damit können derartige Forschungsarbeiten auch einen Beitrag zur (Suizid-)Prävention im Kontext assistierten Sterbens leisten.
3.5.3 Schlussfolgerungen zu Forschungen über Faktoren, die physisch chronisch Kranke erwägen lassen, ihr Leben (durch assistiertes Sterben) zu beenden und dies in die Tat umzusetzen Zu Faktoren und Beweggründen, die mit Wünschen nach Beschleunigung des Sterbens einhergehen, liegen bereits Forschungsarbeiten vor. Einige Studien stammen aus Ländern, in denen jegliche Formen assistierten Sterbens verboten sind. Die Mehrheit der Studien stammt allerdings aus den Niederlanden und Oregon, Staaten, in denen ärztlich assistierter Suizid und/oder Sterbehilfe legal sind. Faktoren, die Menschen dazu veranlassen, assistiertes Sterben zu erwägen und zu realisieren, wurden in bisherigen Forschungsarbeiten überwiegend bei terminal Kranken untersucht. Forschungsbedarf besteht hinsichtlich der Beweggründe von physisch chronisch Kranken, die nicht terminal sind und in Staaten leben, in denen Formen assistierten Sterbens erlaubt sind, denn zu dieser Population liegen gegenwärtig nur Forschungserkenntnisse aus einer Schweizer Studie vor. Zu der in der Schweiz unter bestimmten Bedingungen erlaubten Beihilfe zum Suizid fehlen wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie terminale oder nicht terminale physisch chronisch Kranke ihre Situation erleben, welche Hintergründe und Faktoren sie dazu führen, sich für die Beihilfe zum Suizid zu interessieren oder diese in Anspruch zu nehmen und wie bei solchen Menschen der Entschluss reift, tatsächlich durch Suizidbeihilfe zu sterben oder im Gegenteil davon abzulassen. Ebenfalls interessiert, warum andere physisch chronisch Kranke sich nicht für den Weg der Beihilfe zum Suizid
Schlussfolgerungen zum Forschungsstand
101
interessieren. Zudem besteht in der Schweiz auch Forschungsbedarf im Zusammenhang mit der Durchführung der Beihilfe zum Suizid, damit verbundenen Sterbeorten und diesbezüglichen Gegebenheiten. Bislang existieren keine wissenschaftlichen Daten darüber, wo Menschen, die erwägen, durch Beihilfe zum Suizid zu sterben, gerne sterben würden, und was es für sie bedeutet, an dem von ihnen bevorzugten Orten sterben zu dürfen oder nicht sterben zu können. Auch fehlt es an Untersuchungen und Wissen über bestehende Reglemente in Schweizer Institutionen des Gesundheitswesens zum Umgang mit Menschen, die assistierten Suizid erwägen und beabsichtigen, so zu sterben. Die Generierung von Forschungserkenntnissen zu den zuvor genannten Schwerpunkten ist relevant, um entsprechende Situationen physisch, chronisch Kranker erkennen und erfassen sowie deren Entwicklung und damit verbundene Kontextfaktoren verstehen zu können. Derartige Forschungsarbeiten werden aber auch gebraucht, um ausgehend von den dadurch gewonnenen Erkenntnissen im Gesundheitswesen sowie gesamtgesellschaftlich Ansatzpunkte und Interventionen ableiten und entwickeln zu können, die solchen Menschen helfen, ihr Leben so lange wie möglich weiterleben und auf die von ihnen gewünschte Art sterben zu können.
3.5.4 Schlussfolgerungen zu methodologischen Aspekten eingeschlossener Forschungen Vom methodologischen Standpunkt aus betrachtet, verwenden die Forscher in den gesichteten Studien zahlreiche synonyme Begrifflichkeiten im Kontext assistierten Sterbens. In den Forschungsberichten sind die Begrifflichkeiten nur vereinzelt definiert, und wenn Definitionen vorliegen, variieren diese vielfach. Diese Umstände erschweren die Durchführung von Literatursuchen sowie den Vergleich untersuchter Populationen und Forschungsergebnisse. Das Design der 37 gesichteten Forschungen ist überwiegend quantitativ (25 quantitativ, acht qualitativ angelegte Studien, drei Mixed-Method-Studien, eine Follow-up-Fallstudie). Es gibt mehr retrospektive als prospektive Studien und mehr Querschnittsstudien als longitudinale Studien. Bei den Studienteilnehmern handelt es sich überwiegend um Patienten, die an einer terminalen Krebserkrankung leiden, sowie um an ALS oder AIDS Erkrankte. Auffallend ist auch, dass Interventionsstudien im Zusammenhang mit physisch chronisch Kranken, die Sterbehilfe, PAS oder Suizidbeihilfe erwägen, bislang fehlen. Dass Forscher, die den Wunsch nach Beschleunigung des Sterbens/Todes erforschen, in ihrem Sample teilweise nur sehr wenige Untersuchungspersonen verzeichnen, die einen solchen Wunsch verspüren, deutet auf Schwächen in der Samplingstrategie hin und scheint betreffend der eigentlichen Forschungsabsicht fraglich. In
102
Stand der Forschungserkenntnisse
manchen Studien ist nicht differenziert beschrieben, welche medizinischen Diagnosen bei den Untersuchungspersonen vorlagen. Was für Patienten und Krankheitsbilder sich dahinter verbergen, bleibt der Interpretation der Leserschaft überlassen. In vielen Studien wurden die Forschungsdaten nicht von unabhängigen Forschungspersonen, sondern von Ärzten erhoben, die selbst in die Versorgung der Patienten, zu denen sie Daten erfassten, involviert waren. Dies kann einen Bias bezüglich der Forschungsergebnisse mit sich bringen. Die Forschungsdaten wurden entweder multiperspektivisch oder allein aus der Sicht von Patienten (n=16), Ärzten (n=13) oder Familienangehörigen (n=6) erfasst. In mehreren Forschungen (n=9) wurden auch reine Daten aus Patientendokumentationen, wie zum Beispiel Sterbeurkunden, erhoben. Zu bedenken ist, dass Forschungserkenntnisse, welche Annahmen von Außenstehenden repräsentieren, nicht zwingend die subjektiven Sichtweisen und Motive der Menschen wiedergeben, die ihr Leben durch ärztlich assistierten Suizid oder Sterbehilfe beendet haben. Da das Erleben des persönlichen Daseins eine subjektive Angelegenheit ist, sind ausschließlich von Außenstehenden vorgenommene Beurteilungen des Leidens von Patienten, die um Sterbehilfe oder PAS ersuchen, einseitig und wenig zweckdienlich. Darüber hinaus ist der Informationsgehalt mancher Forschungsdaten und daraus abgeleiteter Erkenntnisse, insbesondere aus quantitativ angelegten Studien, zum Teil aufgrund abstrakter, undifferenzierter Kategorisierungen, die mit der Datensammlung beginnen und sich über die Ergebnisdarstellung hinziehen, dürftig und daher fragwürdig. Im Rahmen der Literaturrecherche und -analyse sowie im Laufe der Durchführung der vorliegenden Untersuchung nahm die Anzahl der Forschungspublikationen im Zusammenhang mit assistiertem Sterben seit dem Jahr 2004 stetig zu, und der Ansatz einiger von ihnen ähnelt der vorliegenden Untersuchung. Zum Zeitpunkt der Planung der hier vorliegenden Untersuchung (zwischen den Jahren 2002 bis 2004) lagen keine Forschungsarbeiten und -erkenntnisse zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung vor. Der damalige sowie der gegenwärtige Stand der Forschungserkenntnisse, insbesondere die bestehenden Forschungslücken, begründen die Relevanz des Forschungsgegenstandes und der Fragestellung der vorliegenden Forschung allerdings auch heute noch. Der Analyse und Beschreibung des gegenwärtigen Erkenntnisstandes und der daraus resultierenden Forschungslücken schließt sich im folgenden Kapitel 4 die Darstellung der methodologischen Herangehensweise innerhalb dieser Untersuchung an.
4
Methodik – Forschungsansatz, Forschungsmethoden und deren Anwendung im Forschungsprozess
Zu Beginn dieses methodologischen Kapitels wird aufgezeigt, warum für die Durchführung der vorliegenden Forschung ein qualitativer Forschungsansatz gewählt wurde (Kapitel 4.1), und begründet, warum die Forscherin sich entschied, sich an den Ansätzen der Grounded Theory zu orientieren (Kapitel 4.2). Daran anschließend wird geschildert, wie der Zugang zum Forschungsfeld hergestellt und wie die Rekrutierung der Untersuchungsteilnehmer organisiert wurde (Kapitel 4.3). Dem folgen die Erläuterung forschungsethischer Überlegungen und die Prüfung des Forschungsvorhabens durch die Ethikkommissionen (Kapitel 4.4). Im Hinblick auf die Datensammlung, Datenaufbereitung, Datenanalyse und deren Synthese werden schließlich damit verbundene methodische Verfahrensschritte beschrieben (Kapitel 4.5).
4.1
Indikation zur Durchführung einer qualitativen Forschung
Aus der Forschung ist bekannt, dass zwischen der Einschätzung von ursächlichen Faktoren für assistiertes Sterben durch Außenstehende und den subjektiv erlebten Gründen der Menschen, die assistiertes Sterben für sich erwägen, Abweichungen bestehen (Marcoux et al., 2005). Um Kenntnisse über die ursächlichen Faktoren zu erhalten, welche chronisch Kranke dazu bewegen, weiterzuleben oder ihr Leben im Gegenteil durch Suizidbeihilfe zu beenden, sind quantitative Untersuchungsdesigns mit Außenstehenden demzufolge bedingt effektiv. Die Forscherin geht davon aus, dass Faktoren, die Menschen helfen, ihr Leben weiterzuführen, oder die sie im Gegenteil dazu veranlassen, nach Unterstützung für assistierten Suizid zu suchen, nicht losgelöst vom Kontext des Daseins sind. Aus diesem Grund war in der vorliegenden Untersuchung eine systemische Betrachtungsweise sowie eine damit einhergehende Generierung umfassender, valider Daten erforderlich. Neben Faktoren, die bei physisch chronisch Kranken Gedanken und Entscheidungen auslösen, ihr Leben zu beenden, sollten auch beeinflussende Kontextfaktoren aufgedeckt werden, die
104
Methodik
ursächliche Faktoren/Beweggründe entstehen lassen und aufrechterhalten. Zusätzlich ging es darum, das Erleben der damit verbundenen Daseinsweise aus der unmittelbaren Sicht dieser Menschen zu erfassen. Unter Beachtung dieser Aspekte bot sich ein qualitatives Forschungsdesign an. Gemäß Flick, Von Kardoff & Steinke (2009) ist das Ziel qualitativer Forschung, die Aufdeckung und Gewinnung eines vertieften Verständnisses über die subjektiven Erfahrungen, Sichtweisen und sozialen Wirklichkeitskonstruktionen von Menschen im Kontext ihrer Lebenswelten zu beschreiben. Die Anwendung qualitativer Forschungsmethoden unterstützt die Erfassung und das Verstehen von Lebenssituationen und -umständen, Prozessen, Bedeutungen, Bedingungen des Handelns sowie der Eigenschaften damit zusammenhängender Gefüge (Flick et al., 2009). Demzufolge erlauben qualitative Forschungsdesigns Einblicke in kontextuelle Hintergründe und Faktoren, die Menschen ermöglichen, sich für das Weiterleben zu entscheiden, oder sie im Gegenteil dazu veranlassen, um Unterstützung für assistierten Suizid zu ersuchen. Zudem ermöglichen solche Forschungsdesigns, die Beweggründe und solchen zugrunde liegenden Faktoren innerhalb eines individuellen Kontextes sowie darin wirkende Umstände und Zusammenhänge zu beleuchten. Vor diesem Hintergrund und dem Ziel, die Forschungsfrage dieser Untersuchung beantworten zu können, dem Forschungsgegenstand gerecht zu werden und den damit verbundenen Phänomenen mit offenen Erhebungsmethoden zu begegnen, entschied sich die Forscherin, eine qualitative Querschnittsstudie durchzuführen, die je nach Möglichkeit fallbezogen longitudinal angelegt ist. Zur Konkretisierung der Durchführung der Forschung galt es darüber hinaus, den Forschungsansatz zu wählen, das heißt, kongruente, qualitative Verfahren zur Datenerhebung und Datenanalyse zu sichten, zu bestimmen und den daraus resultierenden Arbeitsprozess innerhalb des Forschungsvorhabens abzuleiten.
4.2
Die Wahl des Forschungsansatzes der Grounded Theory
Das Ziel der vorliegenden Forschung war, aus der Sicht physisch chronisch Kranker zu ergründen und zu erklären, was sie dazu veranlasst, am Leben zu bleiben und ihrem Leben kein Ende zu setzen, und was andere chronisch Kranke erwägen lässt, nicht länger am Leben zu bleiben und ihrem Leben durch Beihilfe zum Suizid ein Ende zu setzen, und wie sie zu dem Entschluss kommen, dies tatsächlich zu tun. Um herauszufinden und zu verstehen, was, wie, wann, wo, warum geschieht, welchen Prozess physisch chronisch Kranke im Hinblick auf die oben erwähnten Phänomene durchlaufen und was ihr Verhalten erklärt, entschied die Forscherin, sich am Forschungsansatz der Grounded Theory zu orientieren. Laut Corbin & Strauss (2008) und Bryant & Charmaz (2007) liegt
Die Wahl des Forschungsansatzes der Grounded Theory
105
den Ansätzen der Grounded Theory die Auffassung zugrunde, dass sich Menschen entsprechend der Bedeutung, welche Entwicklungen, Prozesse, Aspekte etc. für sie haben, verhalten. Dabei sind Bedeutungen so verschiedenartig wie Menschen und abhängig von ihrem Kontext (Bryant & Charmaz, 2007; Corbin & Strauss, 2008). Durch die Anwendung eines Ansatzes der Grounded Theory kann untersucht werden, was in Situationen geschieht, welche sozialen Kräfte das Verhalten von Menschen bestimmen und welche Prozesse sie im Umgang mit bestimmten Phänomenen durchlaufen. Diese können mittels einer dabei aus den Forschungsdaten generierten, konzeptuellen Theorie erklärt werden (Corbin & Strauss, 2008; Glaser, 1992; Glaser, 2003; Glaser, 2007; Strauss & Corbin, 1996). Grounded-Theory-Ansätze sind Verfahrensweisen und Arbeitsschritte zur Sammlung und Analyse von Forschungsdaten (Bryant & Charmaz, 2007; Charmaz, 2006; Corbin & Strauss, 2008; Glaser, 1992; Glaser, 2003; Strauss & Corbin, 1996; Strübing, 2004). Die Besonderheit von Grounded–Theory-Ansätzen liegt in der Verflechtung von Datenerhebung und -analyse (Charmaz, 2006; Corbin & Strauss, 2008; Strauss & Corbin, 1996). Damit ist gemeint, dass die Datensammlung und -analyse nicht linear, sondern zirkulär verläuft und sich über den gesamten Forschungsprozess erstreckt (Flick, 2010). Dementsprechend war der Studienverlauf der vorliegenden Untersuchung so angelegt, dass sich die Forscherin über den gesamten Forschungsprozess immer wieder in das Forschungsfeld begab, Daten erhob, diese aufbereitete, nach und nach analysierte und aus diesem Prozess heraus schrittweise eine gegenstandsbegründete Theorie entwickelte. Bei der Datenerhebung und -analyse sind die zentralen Bestandteile der Methodologie der Grounded Theory das theoretische Sampling (Verfahren zur Datenerhebung), das Schreiben von Memos, bestimmte Kodierverfahren und die Methode des konstanten Vergleichens (Charmaz, 2006; Corbin & Strauss, 2008; Glaser, 1978; Glaser, 1992; Glaser, 1998; Glaser & Strauss, 1999; Strauss, 2007; Strauss & Corbin, 1996). Im Mittelpunkt stehen die Erzeugung von theoretischen Konzepten, von Kategorien, ihren Dimensionen und Beziehungen zu- und untereinander sowie die Bildung von Hypothesen, die den Forschungsgegenstand, damit zusammenhängende Phänomene und deren Veränderung (z. B. ein Verhalten oder Problem) erklären und begründen (Charmaz, 2006; Corbin & Strauss, 2008; Glaser, 1978; Glaser, 1992; Glaser, 1998; Glaser & Strauss, 1999; Strauss, 2007; Strauss & Corbin, 1996). Aus der Anwendung des Grounded-Theory-Ansatzes resultiert ein theoretisch konzeptioneller Bezugsrahmen zu einer generierten Theorie, mit dem ein Phänomen (z. B. ein Verhaltensmuster) erklärt werden kann, welches für die untersuchten Personen sowohl relevant als auch problematisch sein kann (Glaser, 1992). Der ursprüngliche Ansatz der Grounded Theory wurde 1967 von Glaser und Strauss entwickelt und von Strauss und Corbin, Glaser sowie Charmaz weiterentwickelt (Charmaz, 2006; Corbin & Strauss, 2008; Glaser, 1978;
106
Methodik
Glaser, 1998; Glaser, 2003; Glaser, 2007; Glaser & Strauss, 1999; Strauss, 2007; Strauss & Corbin, 1996). Da somit verschiedene wissenschaftliche Positionen und damit verbundene methodologische Stile und Verfahrensschritte die Methodologie der Grounded Theory betreffend existieren, musste die Forscherin entscheiden, welche Verfahrensschritte sie zur Durchführung der vorliegenden Forschungsarbeit anwenden wollte. Um die Entscheidung treffen zu können, verglich die Forscherin die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der methodologischen Positionen von Glaser (Glaser, 1978; Glaser, 1992; siehe Glaser, 1998; Glaser, 2003; Glaser, 2005; Glaser, 2007), Glaser & Strauss (siehe Glaser & Strauss, 1999; Glaser & Strauss, 2005), Strauss & Corbin (siehe Strauss & Corbin, 1996), Corbin & Strauss (siehe Corbin & Strauss, 2008) sowie von Charmaz (siehe Charmaz, 2006). Um mehr über die praktische Anwendung des Ansatzes der Grounded Theory zu lernen, besuchte die Forscherin im Jahr 2004 ein von Barney Glaser geleitetes dreitägiges Seminar »Grounded Theory Troubleshooting« in New York. Im Laufe dieses Seminars riet Barney Glaser den Seminarteilnehmern bezüglich der methodologischen Verfahrensschritte zur Theoriegenerierung: »You have to find your own creative process.« Diese Aussage verdeutlichte der Forscherin, dass sie im Rahmen der hier vorliegenden Forschungsarbeit in Anlehnung an die verschiedenen Grounded-Theory-Stile ihren eigenen methodologischen Weg beschreiten musste. Davon ausgehend bestimmte die Forscherin Strategien zur Datensammlung und -analyse. Letztere sind in Abbildung 8 dargestellt. Was sich hinter den jeweiligen Verfahrensschritten verbirgt und wie diese in der vorliegenden Untersuchung angewendet wurden, wird in den weiteren Kapiteln beschrieben. Nachdem feststand, wie die Forscherin hinsichtlich der Datenerhebung und -analyse vorgehen würde, bereitete sie den Zugang zum Forschungsfeld und damit zu potenziellen Untersuchungsteilnehmern vor.
Die Wahl des Forschungsansatzes der Grounded Theory
107
Abbildung 8: Ausgewählte Verfahrensschritte zur Theoriegenerierung in Anlehnung an die Variationen der Grounded-Theory-Verfahrensstile
108
4.3
Methodik
Zugang zum Forschungsfeld und Rekrutierung von Informanten
4.3.1 Aufbau des Zugangs zum Forschungsfeld Zur Vorbereitung der Datensammlung musste die Forscherin zunächst Zugang zum Forschungsfeld erhalten. Das bedingte diverse Vorarbeiten, wie die Auswahl der Institutionen, die mit potenziellen Informanten in Beziehung standen, die Kontaktaufnahme und Information über das Forschungsvorhaben. Um Menschen begegnen zu können, die erwägen, aus dem Leben zu scheiden, wurde Kontakt mit den Schweizer Suizidbeihilfeorganisationen Exit8 und Dignitas9 aufgenommen. Die Zusammenarbeit mit Exit konnte für die vorliegende Untersuchung etabliert werden. Neben Exit erklärten sich auch acht Institutionen des Gesundheitswesens (drei Krankenhäuser, ein ambulanter Pflegedienst, vier Alterspflege- und Krankenheime) aus deutschsprachigen Regionen der Schweiz dazu bereit, der Forscherin beim Auffinden von Informanten, die weiterleben oder sterben wollten, und bei der Kontaktaufnahme behilflich zu sein. Da die Untersuchungsorte das jeweilige Lebensumfeld der zu Befragenden darstellten, gehörten zum Forschungsfeld Krankenhäuser, Alterspflege- und Krankenheime, die häusliche Umgebung, Hospize und palliative Abteilungen in Gesundheitsinstitutionen.
4.3.2 Rekrutierung der Untersuchungspersonen Die mündliche und schriftliche Information und Anfrage potenzieller Informanten zur Teilnahme an der Untersuchung in den genannten Institutionen erfolgte mithilfe sogenannter Gatekeeper (Schlüsselpersonen/Türöffner). Als Gatekeeper fungierten Mitglieder des pflegerischen und medizinischen Behandlungsteams (z. B. behandelnde Ärzte, zuständige Pflegeexperten, Pflegefachpersonen), da davon ausgegangen wurde, dass sie über das Befinden der von ihnen betreuten Menschen am besten informiert sind. Bei der Suizidbeihilfeorganisation Exit erfolgte die Anfrage an potenzielle Untersuchungsteilnehmer über Mitarbeiter der Organisation. Die Institutionen, die der Forscherin bei der Kontaktaufnahme zu potenziellen Untersuchungsteilnehmern behilflich sein wollten, wurden vor Beginn der Studie über das Untersuchungsvorhaben schriftlich und mündlich informiert. Daneben besprach die Forscherin mit den Gatekeepern die Art und Weise der Rekrutierung. Die Gatekeeper kontaktierten 8 Exit-Vereinigung für humanes Sterben, exit.ch. 9 Dignitas Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben, dignitas.ch.
Forschungsethische Überlegungen und Prüfung des Forschungsvorhabens
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Menschen, die an einer physisch chronischen Krankheit litten und Äußerungen wie: »Ich möchte lieber sterben als noch weiter leiden zu müssen«, »Ich mag so nicht mehr leben«, »Ach, lassen Sie mich doch sterben« etc. formulierten. Ergänzend zu Menschen, die physisch, chronisch krank waren und nicht mehr leben wollten, wurden auch chronisch Kranke gesucht, die sich selbst als »Kämpfernatur« bezeichneten oder von anderen so eingeschätzt wurden. Gemeint sind damit Menschen, die trotz ihrer gesundheitlichen Situation über Kraft, Hoffnung und Willen zu leben verfügen. Die schrittweise Rekrutierung der Informanten erfolgte gemäß den in Kapitel 4.5.1.2 beschriebenen Strategien zum Sampling und damit verbundenen Überlegungen für die fortlaufende Rekrutierungsstrategie. Die Gatekeeper informierten die potenziellen Informanten über die Untersuchung und händigten ihnen den Informationsbrief für Untersuchungsteilnehmer und die Einwilligungserklärung aus. Nach einigen Tagen erkundigte sich die Forscherin zuerst beim Gatekeeper und dann bei der angefragten Person, vorausgesetzt, sie war mit der Kontaktaufnahme einverstanden. Alle potenziellen Informanten, welche die Selektionskriterien erfüllten, wurden von der Forscherin telefonisch sowie schriftlich über den Sinn und Zweck der Studie aufgeklärt und zur Teilnahme an der Untersuchung angefragt. Nach Ablauf der vereinbarten Bedenkzeit erkundigte sich die Forscherin telefonisch nach der Bereitschaft zur Teilnahme oder wartete eine entsprechende Mitteilung durch die angefragte Person ab. Erklärte sich ein Betroffener zu einem Gespräch mit der Forscherin bereit, wurde ein geeigneter Ort und Zeitpunkt für das Gespräch vereinbart. Zeitpunkt und Ort der Gespräche richteten sich nach den Wünschen der Forschungsteilnehmer. Zur Ausweitung der Datenerfassung wurden auch bedeutsame Kontaktpersonen (z. B. Angehörige, Mitarbeiter von Suizidbeihilfeorganisationen) mittels eines Interviews in die Untersuchung einbezogen.
4.4
Forschungsethische Überlegungen und Prüfung des Forschungsvorhabens durch die Ethikkommissionen
Die Teilnahme an der Untersuchung war freiwillig. Zum Schutz der Würde und Rechte der zu Befragenden orientierte sich die Forscherin an der HelsinkiDeklaration (World Medical Association Declaration of Helsinki, 2002) sowie an der von Cutcliffe & Ramcharan (2002, S. 1000 ff.) beschriebenen Vorgehensweise des »Ethic-as-a-Process Approach«. Dies führte dazu, dass die Berücksichtigung forschungsethischer Aspekte in dieser Untersuchung als iterativer Prozess über den gesamten Forschungsprozess verstanden wurde. Im Fokus des ethischen Interesses standen die freiwillige Teilnahme an den qualitativen In-
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Methodik
terviews, der Umgang mit den Untersuchungsteilnehmern, die Beendigung qualitativer Forschungsbeziehungen sowie die Gewährleistung eines fortlaufenden »informed consent«, falls mit Informanten mehrere Interviews geführt werden sollten.
4.4.1 Informed consent Die Erzielung des Einverständnisses zur Teilnahme an der Untersuchung erfolgte zu Beginn der Forschungsbeziehung im Rahmen des Erstkontaktes. Die Untersuchungspersonen dokumentierten mit der Unterzeichnung des Informed-consent-Formulars ihr Einverständnis zur Teilnahme an der Studie. War es den zu Befragenden nicht möglich, die Einverständniserklärung selbst zu unterzeichnen, bestätigte ein ermächtigter Stellvertreter das Einverständnis für die betroffene Person und deren freiwillige Teilnahme an der Untersuchung. Neben dieser Erklärung wurde versichert, dass im Rahmen des »informed consent« die Frage bei einem erneuten Interview wieder aufgeworfen werde. Da zwei Untersuchungsteilnehmerinnen mehrmals befragt wurden, erfolgte die Ermittlung des Einverständnisses zur Teilnahme an der Untersuchung prozesshaft. So kam es, dass innerhalb der Datenerhebung der Kontakt zwischen der Forscherin und einigen Untersuchungsteilnehmern nicht einmalig war, sondern sich wiederholte. In Anbetracht der Interviewtechnik und des möglicherweise eingeschränkten gesundheitlichen Zustandes der zu Befragenden lässt sich eine gewisse Widersprüchlichkeit erkennen. Wie sollten kranke Untersuchungsteilnehmer mit Ausdrucksschwierigkeiten ihre Sichtweise kundtun? In Untersuchungen mit ähnlicher Problematik zeigte sich, dass es bei entsprechender Flexibilität der Interviewerin möglich ist, mittels einer anwesenden Drittperson oder durch die Niederschrift von Informationen auch mit verbal stark eingeschränkter Kommunikation Daten zu sammeln (Käppeli & Mathis-Jäggi, 2001). So bestand im Falle von verbalen Schwierigkeiten die Möglichkeit, dass der Interviewerin von einer anwesenden Vertrauensperson die Gesprächsinhalte übersetzt werden. Die Forscherin war sich darüber bewusst, dass es in diesem Falle zu einem Bias der Daten hätte kommen können, was vom Standpunkt der Validität her betrachtet problematisch ist. Die zu Befragenden wurden darauf aufmerksam gemacht, dass ihnen aus der Verweigerung der Teilnahme an der Studie keine Nachteile entstehen. Sie erhielten für ihre Teilnahme keine finanzielle Abgeltung. Für die Informanten ergab sich aber möglicherweise durch die Reflexion und die damit verbundene Bewusstseinserweiterung ein therapeutischer Nutzen. Die Tonbänder sowie alle schriftlichen Unterlagen wurden von der Forscherin verwaltet und vor dem
Forschungsethische Überlegungen und Prüfung des Forschungsvorhabens
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Zugriff Dritter geschützt. Im Anschluss an die Transkription der Interviews wurden die Tonbänder vernichtet. Die Transkriptionen wurden anonymisiert, sodass sie keine Rückschlüsse auf die interviewten Personen zulassen. Zusätzliche schriftliche Unterlagen wurden ebenfalls anonymisiert.
4.4.2 Die Teilnahme an einem qualitativen Interview und die Beziehungsgestaltung zwischen der Forscherin und den Untersuchungsteilnehmern Im Folgenden sowie in Abbildung 9 sind Aspekte und Techniken aufgeführt, welche die ethisch verantwortliche Vorgehensweise und Beziehungsgestaltung innerhalb des Forschungsprozesses verdeutlichen. Die Forscherin – »vermied es, den Untersuchungsteilnehmern eine Verbindung vorzutäuschen, welche sie dazu veranlasst, mehr zu erzählen, als sie beabsichtigen« (Stacey, 1999, zitiert nach Cutcliffe & Ramcharan, 2002, S. 1002, dt. Bernhart-Just) – war sich der laufend wiederherzustellenden Einverständniserklärung bewusst und nahm das Vorhandensein des Einverständnisses über den Forschungszeitraum immer wieder auf – »stellte sicher, dass kein Zwang oder Druck auf die Untersuchungsteilnehmer hinsichtlich der Einwilligung zur Teilnahme an einem Interview« (Knox, Mok & Parmenter, 2000, zitiert nach Cuttcliffe & Ramcharan, 2002, S. 1002, dt. Bernhart-Just) oder »der Fortsetzung des Interviews ausgeübt wurde« (Brown & Thompson, 1997, zitiert nach Cutcliffe & Ramcharan, 2002, S. 1002, dt. Bernhart-Just) – achtete die Autonomie der Untersuchungsteilnehmer, indem sie diese an ihr Recht erinnerte, ihre Teilnahme an der Untersuchung jederzeit widerrufen zu können. Den Untersuchungsteilnehmern entstanden daraus keinerlei Nachteile. – »erkannte, wenn die Forschung aufdringlich oder störend wurde, und reagierte entsprechend« (Stalker, 1998, zitiert nach Cutcliffe & Ramcharan, 2002, S. 1002, dt. Bernhart-Just) – »stellte einen einfühlsamen und überlegten Umgang in der Beziehung zu […]« den Untersuchungsteilnehmern sicher (Booth, 1998, zitiert nach Cutcliffe & Ramcharan, 2002, S. 1002, dt. Bernhart-Just) – »unterschied zwischen individuellem Einverständnis und dem Einverständnis von nahestehenden Personen, und versuchte, eine angemessene Einwilligung zu erzielen« (Clear & Horsfall, 1997, zitiert nach Cutcliffe & Ramcharan, 2002, S. 1002, dt. Bernhart-Just; Lloyd, Preston-Shoot & et al., 1996, zitiert nach Cutcliffe & Ramcharan, 2002, S. 1002, dt. Bernhart-Just) Abbildung 9: Aspekte zur Vorgehensweise und Beziehungsgestaltung innerhalb des Forschungsprozesses
Innerhalb des Forschungsprojektes stellte sich die Frage, was für die Untersuchungsteilnehmer die potenziellen Risiken und der Nutzen der Teilnahme an einem Interview sind. Der Beweis, dass das Sprechen mit Menschen über ihre Vergangenheit und ihr subjektives Erleben unangenehme Emotionen oder
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Methodik
Traumatisierungen hervorruft, ist nicht schlüssig erbracht. Laut dem Literaturreview von Gysels, Evans & Higginson (2012) gehen mit dem Erlebnis, an einem qualitativen Interview teilgenommen zu haben, für terminale Patienten zwar vereinzelt schmerzvolle Gefühle einher, der Großteil der Befragten fühlt sich dadurch allerdings nicht belastet, sondern empfindet ein Interview als hilfreich (Gysels et al., 2012). Obwohl die Untersuchungsteilnehmer während des Interviews aus der Fassung geraten können, drücken sie meistens Dank darüber aus, dass jemand ihre Geschichte oder ihre Erfahrungen angehört hat (Morse & Field, 1995). Für die Untersuchungsteilnehmer der hier durchgeführten Untersuchung konnten die Gespräche demzufolge auch einen Effekt haben, der sie dazu veranlassen konnte, ihren Entscheid zu überdenken. Im Zusammenhang mit den vorherigen Ausführungen wurde in dieser Untersuchung eine Herangehensweise gewählt, welche den persönlichen Kontakt, das Verständnis für die Situation, aktives Zuhören und empathisches Verhalten integriert.
4.4.3 Die Beendigung qualitativer Forschungsbeziehungen Das Ziel dieser qualitativen Forschung war, das Erleben Kranker, deren Lebenssituation und Verhalten zu verstehen, was vereinzelt mehrmalige, tiefe und vertraute Kontakte mit den Untersuchungsteilnehmern erforderte. Eine Voraussetzung dazu war der Aufbau einer einfühlsamen und harmonischen Forschungsbeziehung. Mit der Entwicklung derart vertraulicher Beziehungen entstand jedoch auch die ethische Frage: Wie verhält sich die Forscherin am besten, um eine derart vertraute Beziehung zu beenden? Zu bedenken war diesbezüglich, dass im Falle von einsamen und schutzlosen Menschen die Verfügbarkeit der Forscherin während des Interviewprozesses für den Untersuchungsteilnehmer eine Art zwischenmenschliche Abhängigkeit hätte hervorrufen können. Möglicherweise hätten erregende, schmerzvolle und intime Gedanken und Gefühle entstehen können, die vielleicht einen gewissen Grad an Abhängigkeit von der fürsorgenden Person, in diesem Fall von der Forscherin, hätten hervorrufen können. Die Beendigung der Beziehung erfolgte deshalb einfühlsam, um eine Traumatisierung des Gegenübers zu minimieren. Im Sinne des von Peplau (1988) gewählten Begriffes der Auflösung der Beziehung ging es um eine schrittweise Lockerung der Identifikation mit der Forscherin und um die Stärkung der Fähigkeit des Untersuchungsteilnehmers, allein zurückbleiben zu können. In einigen Situationen hielten die Beziehungen infolge der Forschungsinterviews an und erstreckten sich über einen Zeitraum von einigen Wochen oder mehreren Monaten. Am Schluss des Interviews wurden die Untersuchungsteilnehmer darüber informiert, dass, falls sie noch irgendetwas im
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 113
Hinblick auf das Untersuchungsthema oder den Forschungsprozess besprechen möchten, sie willkommen seien und mit der Forscherin Kontakt aufnehmen dürften.
4.4.4 Genehmigung des Forschungsvorhabens durch die zuständigen Ethikkommissionen Vor Beginn der Untersuchung wurde das Forschungsvorhaben im Sommer 2003 von der spezialisierten Unterkommission für patientenorientierte, interpretative Forschung (SPUK) der kantonalen Ethikkommission des Kantons Zürich geprüft. Die SPUK stimmte dem Forschungsgesuch unter der Voraussetzung zu, dass die Forscherin bestimmte vorgeschlagene Auflagen erfüllt. Die Forscherin realisierte die Vorschläge und die kantonale Ethikkommission (KEK) erteilte das nihil obstat. Da die SPUK für kantonale Einrichtungen des Gesundheitswesens im Kanton Zürich zuständig ist, musste für die an der Studie beteiligten städtischen Einrichtungen des Gesundheitswesens ein weiteres Gesuch bei der Ethikkommission der städtischen Krankenhäuser eingereicht werden. Von Letzterer wurde das Forschungsvorhaben ebenfalls positiv beurteilt, vorausgesetzt, die Forscherin würde auch den von dieser Kommission erneut erteilten Auflagen und Empfehlungen nachkommen. Die Forscherin nahm die verlangten Änderungsvorschläge ebenfalls vor und reichte die angepassten Dokumente bei der zuständigen Ethikkommission erneut ein. Im Januar 2004 benachrichtigte die Kantonale Ethikkommission die Forscherin über den positiven Beschluss, die Durchführung des Forschungsvorhabens zu genehmigen (siehe Anhang 1).
4.5
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung
In den folgenden Kapiteln werden die methodischen Verfahrensschritte und deren praktische Umsetzung, die Aufbereitung erhobener Forschungsdaten und das Vorgehen bei der Datenanalyse innerhalb der vorliegenden Untersuchung beschrieben.
4.5.1 Methoden der Datenerhebung und deren Umsetzung Zu Beginn wird die zur Datensammlung angewendete Methode und die Durchführung des narrativen Interviewverfahrens dargestellt. Daran anschlie-
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Methodik
ßend werden methodologische Strategien innerhalb des initialen und fortlaufenden Samplings, deren praktische Anwendung sowie das Forschungssample beschrieben. Der Erläuterung der Aufbereitung der erhobenen Interviewdaten folgt die Beschreibung der Datenanalyse unter Anwendung verschiedener Kodierverfahren.
4.5.1.1 Methode und Durchführung des narrativen Interviewverfahrens Im Rahmen der Befragung von Untersuchungsteilnehmern ist für die Wahl der Interviewtechnik entscheidend, dass die gewählte Interviewform die benötigten Daten zum Forschungsgegenstand hervorbringt (Flick, 2010; Helfferich, 2005). Bei der Planung der vorliegenden Untersuchung ging die Forscherin davon aus, dass zur Beantwortung der Forschungsfrage voraussichtlich Angaben zur Demographie, zum subjektiven Erleben, zu den Beweggründen, zum Kontext und Prozessen etc. aus der Sicht potenzieller Untersuchungsteilnehmer gebraucht werden. Gemäß Glinka (1998, S. 9) stellt das narrative Interview : »[…] eine besondere Form des offenen Interviews dar. In der gemeinsam mit dem potenziellen Erzähler herzustellenden Interviewsituation wird der Informant darum gebeten und darin unterstützt, seine eigenen Erlebnisse als Geschichte zu erzählen.«
Die narrative Interviewform wurde gewählt, weil sie sich dazu eignet, subjektiven Erfahrungen der Lebenswelt, komplexer Umstände, deren Entwicklungen und Zusammenhänge sowie den zeitlichen Hergang erzählerisch zu rekonstruieren (Glinka, 1998). Zudem steht die narrative Interviewform mit dem zugrunde gelegten methodologischen Ansatz der Grounded Theory in Einklang. Die Interviews wurden mit physisch chronisch Kranken und vereinzelt mit nahestehenden Bezugspersonen Kranker, sogenannten »significant others« (Angehörigen, Mitarbeitern von Suizidbeihilfeorganisationen), geführt. Mit dem Einverständnis der zu Befragenden wurden die Interviews auf Tonband aufgezeichnet. Der Gesprächsort war in allen Interviewsituationen das situative Lebensumfeld der Studienteilnehmer. In Anlehnung an Glinka (1998) bestand der Ablauf der Interviews aus drei Phasen: der Aushandlungsphase, der Haupterzählung und dem Nachfrageteil. Die Aushandlungsphase Die narrative Interviewmethode sieht nicht vor, dass sich die Forscherin mit einem vorstrukturierten Interviewleitfaden in die Interviewsituation begibt, sondern sie stellt zu Beginn des Interviews eine erzählstimulierende Frage(siehe Abbildung 10). Damit setzte die Interviewerin einen Erzählstimulus, der das Ereignis fokussierte, welches für die Forschung von Interesse war.
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 115
Erzählstimulus für Menschen, die sterben wollten »Frau/Herr… Sie haben ja bereits im Informationsbrief gelesen, dass mich interessiert, wie Sie persönlich Ihr Leiden erleben, welche Bedeutung es für Sie hat, wie Ihre Lebensumstände sind und insbesondere, wie Sie zu der Überlegung/ Entscheidung gekommen sind, sterben zu wollen.«
Erzählstimulus für Menschen, die weiterleben wollten »Frau/Herr… Sie haben ja bereits im Informationsbrief gelesen, dass mich interessiert, wie Sie persönlich Ihr Leiden erleben, welche Bedeutung es für Sie hat, wie Ihre Lebensumstände sind und insbesondere, wie es Ihnen gelingt, Kraft zum Leben zu schöpfen und mit Ihrem Leiden zu leben?«
»Frau/Herr … ich habe keine »Frau/Herr … ich habe keine vorgefertigten Fragen, die ich an Sie vorgefertigten Fragen, die ich an Sie richten möchte. Ich würde mich freuen, richten möchte. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir im Bezug auf Ihre Krankheit wenn Sie im Bezug auf Ihre Krankheit erzählen würden, wie alles begann und wo erzählen würden, wie alles begann und wo Sie heute stehen. Nehmen Sie sich so viel Sie heute stehen. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie mögen. Ich werde Sie nicht Zeit, wie Sie mögen. Ich werde Sie nicht unterbrechen. Ich mache mir ein paar unterbrechen. Ich mache mir ein paar Notizen. Wenn Sie mit dem Erzählen fertig Notizen. Wenn Sie mit dem Erzählen fertig sind, können wir eine Pause einlegen. sind, können wir eine Pause einlegen. Wenn wir fortfahren, werde ich Ihnen zu Wenn wir fortfahren, werde ich Ihnen zu dem, was ich mir notiert habe, und dem, dem, was ich mir notiert habe, und dem, was Sie mir erzählt haben, gegebenenfalls was Sie mir erzählt haben, gegebenenfalls ein paar Nachfragen stellen.« ein paar Nachfragen stellen.« Abbildung 10: Erzählstimuli und Zusatzinformationen an die Interviewpartner
Falls ein Untersuchungsteilnehmer keinen Zugang zu der narrativen Erzählform fand oder mit dieser Schwierigkeiten hatte, stand der Forscherin ein von ihr entwickelter Interviewleitfaden zur Verfügung. Die Haupterzählung Während der Forschungsteilnehmer über die eigenen Erlebnisse und deren Entwicklung erzählte, war es die Rolle der Forscherin, den Informanten durch aufmerksames und einfühlsames Zuhören zu unterstützen und damit zum weiteren Erzählen anzuregen. Nachdem der Untersuchungsteilnehmer seine Darstellung zu Ende gebracht hatte, beendete er diese meist von sich aus mit einer Äußerung wie: »Ja, so ist das gekommen. Das ist so das, was ich Ihnen erzählen kann. Jetzt müssen Sie mich fragen.« Der Nachfrageteil Im Anschluss an die Haupterzählung prüfte die Forscherin, welche Themen durch den Forschungsteilnehmer angesprochen wurden und welche Informationen unverständlich waren oder nicht zur Sprache kamen. Bei Unklarheiten stellte die Forscherin thematische Nachfragen. Im Verlauf der Untersuchung wurden im Nachfrageteil der Interviews zunehmend Fragen gestellt, die der
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Methodik
Forscherin dazu dienten, benötigte Informationen zur Theoriebildung zu generieren. Dies geschah mittels eines von der Forscherin im Zuge der Theoriebildung fortlaufend weiterentwickelten Interviewleitfadens. Die Interviewfragen wurden fortlaufend zur Prüfung und Anreicherung entwickelter Konzepte, Kategorien, Hypothesen etc. angepasst und abhängig von den Gesprächsthemen in den jeweiligen Interviews verwendet. Die Informanten wurden in diesen Fällen mit verständnisfördernden narrativen oder eng formulierten Fragestellungen aufgefordert, weitere Hintergrundinformationen zu Vorkommnissen zu erläutern. Die Begegnung mit den Untersuchungsteilnehmern endete jeweils mit der Phase der Verabschiedung. Um den Rekrutierungsprozess potenzieller Untersuchungsteilnehmer, den Ablauf des narrativen Interviews sowie die Praktikabilität damit verbundener erzähl- und verständnisgenerierender Fragen zu testen, führte die Forscherin zu Beginn der Untersuchung einen Pilottest in zwei Interviewsituationen durch. Der Zeitpunkt und die Dauer der Interviews richteten sich nach den Möglichkeiten und Wünschen der Befragten. 4.5.1.2 Samplingstrategien im Kontext der Methodologie der Grounded Theory Ausgehend von den zentralen Bestandteilen des Grounded-Theory-Ansatzes ist für die Datenerhebung charakteristisch, dass diese nach dem Verfahren des theoretical Samplings erfolgt. Laut Charmaz (2006, S. 96) meint theoretical Sampling: »[…] seeking pertinent data to develop your emerging theory. The main purpose of theoretical sampling is to elaborate and refine the categories constituting your theory. You conduct theoretical sampling to develop the properties of your category(ies) until no new properties emerge.«
Neben der Suche geeigneter Daten zur Theoriebildung und der sorgfältigen Ausarbeitung von Kategorien und deren Eigenschaften soll das fortlaufende Sampling (Auswahl von Untersuchungsteilnehmern, Ereignissen, Informationen) schrittweise auf der Basis der theoretischen Konzepte und Kategorien geschehen, die aus der Analyse der Daten hergeleitet werden (Charmaz, 2006; Corbin & Strauss, 2008; Strauss & Corbin, 1996). Glaser (1978, S. 36) formuliert dies so: »Theoretical sampling is the process of data collection for generating theory whereby the analyst jointly collects, codes, and analyzes his data and decides what data to collect next and where to find them, in order to develop his theory as it emerges.«
Von diesem Verständnis ausgehend, lenken die aus den erhobenen Daten entwickelten Konzepte und Kategorien, welche Daten als Nächstes gesammelt werden sollen (Corbin & Strauss, 2008). Mit der strikten Datensammlung gemäß
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 117
dem theoretischen Sampling geht gewissermaßen der Anspruch einher, dass Forscher, geleitet von den sich entwickelnden Konzepten, nahezu prophetisch vorausahnen können, bei welchen potenziellen Untersuchungsteilnehmern sie genau die Daten vorfinden, die sie für die fortlaufende, sukzessive Theoriebildung benötigen, und beliebig Zugang zu den Personen haben können, bei welchen die Vorkommnisse auftreten könnten, um die benötigten Daten kontinuierlich erheben zu können. Ein solches Vorgehen stellt eine Idealform des Samplings zur Theorieentwicklung dar, die abhängig von den jeweiligen Forschungsbedingungen Umsetzungsprobleme mit sich bringen kann (Corbin & Strauss, 2008; Fendt & Sachs, 2008; Paris & Hürzerler, 2008; Truschkat, KaiserBelz & Reinartz, 2007). Für die Forscherin der vorliegenden Untersuchung stellte die Realisierung des theoretischen Samplings in Anbetracht der realen Forschungsbedingungen eine Herausforderung dar, weil die konzeptgeleitete Datenerhebung mit der Rekrutierung von Untersuchungsteilnehmern verbunden war, die der Forscherin etwas über die Konzepte erzählen und ihr so Daten liefern sollten. Da es nicht unzählige physisch chronisch Kranke gibt, die erwägen, ihr Leben möglicherweise durch Beihilfe zum Suizid zu beenden, war die Anzahl potenzieller Forschungsteilnehmer begrenzt. Auch konnte nicht davon ausgegangen werden, dass infrage kommende Untersuchungsteilnehmer uneingeschränkt zu einem Interview mit der Forscherin bereit sein würden. Diese Forschungsbedingungen ließen die Forscherin annehmen, dass die Rekrutierung von Informanten in der Realität eher auf ein Gelegenheitssampling als auf ein rein theoretisches Sampling hinauslaufen würde. Mit dem womöglich eher zu realisierenden Gelegenheitssampling würden der Umsetzung des theoretischen Samplings Grenzen gesetzt, wodurch das fortlaufende Sampling nur bedingt theoretisch (konzeptgeleitet) umgesetzt werden könnte. Ebenfalls erschwerend für die Umsetzung des theoretischen Samplings zeichnete sich ab, dass das Forschungsfeld für die Forscherin weitestgehend »verschlossen« war und potenziell interessierende Phänomene und die zur schrittweisen Datenerhebung erforderlichen Untersuchungspersonen für die Forscherin nicht offenkundig waren. In diesem Zusammenhang realisierte die Forscherin, dass sie nur vermuten kann, bei welchen potenziellen Untersuchungspersonen sie entsprechende Daten finden würde. Ob, bei wem und wann sie die für die weitere Theorieentwicklung erforderlichen Daten tatsächlich finden würde, war genauso ungewiss wie die Bereitschaft dieser Menschen zur Teilnahme an den Interviews. Um, ausgehend von diesen sich abzeichnenden potenziellen forschungsmethodologischen Umsetzungsproblemen, die Grundidee des theoretischen Samplings trotzdem so gut wie möglich umsetzen zu können, passte die Forscherin die Samplingstrategie unter Berücksichtigung der Grundprinzipien der Methodologie der Grounded Theory an die realen Forschungsgegebenheiten an und entschied sich für eine Mischform aus theoretischem Sampling und
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Gelegenheitssampling. Wie diese Mischform von der Forscherin angewendet wurde, ist im Weiteren beschrieben. Das initiale Sampling Um sicherzustellen, dass die Forscherin je nach Verlauf der Datenanalyse und damit verbundenen konzeptuellen Überlegungen für das theoretische Sampling Untersuchungspersonen in unterschiedlichen Lebenssituationen rekrutieren könnte, ging sie anfangs selektiv vor. So wurden bei der Planung der Forschung bewusst Institutionen und Gatekeeper gesucht, die in Beziehung zu physisch chronisch Kranken standen, die sich in einem Krankenhaus, einem Alters- oder Pflegezentrum, einem Hospiz oder im häuslichen Umfeld befanden. Die Forschungsbeziehung wurde zu mehreren Gatekeepern verschiedener Institutionen aufgebaut, damit die Forscherin immer dann einen Informanten für ein Gespräch gewinnen konnte, wenn sie ausgehend vom Stand der Analyse vorhergehend erhobener Daten sowie zeitlich gesehen für eine weitere Datenerhebung bereit war. Außerdem wollte die Forscherin in Zeiten, in denen sich die Rekrutierung von Informanten schwierig gestaltet, über Ausweichmöglichkeiten verfügen. Ausgehend vom Forschungsgegenstand der vorliegenden Studie, bildeten erwachsene, physisch chronisch Kranke, die erwogen, aus dem Leben zu scheiden, oder im Gegenteil weiterleben wollten, die Untersuchungspopulation. Diese wurden hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes als Experten verstanden. Dementsprechend wurden zur Rekrutierung potenzieller Untersuchungsteilnehmer innerhalb des initialen Samplings gezielt die in Abbildung 11 aufgeführten Selektionskriterien definiert. Erwachsene Frauen und Männer – die an einer physisch chronischen Krankheit leiden und lieber sterben als weiterleben wollen oder im Gegenteil dazu »Kämpfernaturen« sind und am Leben festhalten, sprich weiterleben möchten – die zu Hause, im Krankenhaus, in einem Alters- oder Pflegezentrum, in einer palliativen Einrichtung/Hospiz leben Abbildung 11: Selektionskriterien für potenzielle Untersuchungsteilnehmer
Damit interessierte Untersuchungsteilnehmer in die Studie aufgenommen werden konnten, mussten zudem nachstehende Einschlusskriterien erfüllt sein (siehe Abbildung 12).
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 119
Die Untersuchungsteilnehmer – sind über ihre Krankheit informiert – sind volljährig und urteilsfähig – sind in einem Zustand, der es ihnen erlaubt, an einem Gespräch teilzunehmen – verstehen die deutsche Sprache in Wort und Schrift – haben keine aktuell bekannte psychische Grunderkrankung – sind zu einem Gespräch mit Frau Bernhart-Just bereit – haben selbst die Einverständniserklärung zur Teilnahme an der Untersuchung unterzeichnet oder ihre gesetzliche Vertretungsperson haben dies getan Abbildung 12: Einschlusskriterien für potenzielle Untersuchungsteilnehmer
Die Art der physisch chronischen Krankheit, das Krankheitsstadium sowie die Art der medizinischen Behandlung waren keine Selektionskriterien. So wurden in die Untersuchung Menschen eingeschlossen, die an einer beliebigen physisch chronischen Krankheit erkrankt waren und die sich in unterschiedlichen Krankheits- und Behandlungsphasen befanden. Während des initialen und fortlaufenden Samplings erfolgte die Rekrutierung von Untersuchungsteilnehmern demzufolge kriteriengestützt und von vornherein im Sinne einer maximalen Variationsbreite. Durch die breite Anlage des Forschungsfeldes und des initialen Samplings erhielt die Forscherin von Untersuchungsbeginn an Zugang zu Informanten, die sich in unterschiedlichsten Lebenslagen befanden. Zugleich gewährleistete dies über den gesamten Forschungsprozess eine breite Variation an Informanten und damit auch an Informationen über die Bedeutung verschiedener Umstände hinsichtlich vorkommender Phänomene, Konzepte, Prozesse und deren Ergebnissen. Das gezielt breit angelegte Sampling erlaubte der Forscherin, so weit wie möglich fortlaufend konzeptgeleitet nach Untersuchungspersonen suchen und bei ihnen erforderliche Daten zu auftretenden, interessierenden Vorkommnissen sammeln zu können, die zur sukzessiven Theoriebildung benötigt wurden. Das fortlaufende Sampling Innerhalb des fortlaufenden Samplings stellte die Forscherin kontinuierlich Überlegungen im Sinne des theoretischen Samplings an und wählte für das Vergleichen von Vorkommnissen in den Daten die Fälle aus, in denen die interessierenden theoretischen Konstrukte (Konzepte und Kategorien) offensichtlich waren (theorie-/konstruktbasiertes Sampling). Das theoretische Sampling von Untersuchungsteilnehmern, das heißt, die Entscheidung, zu wem die Forscherin als Nächstes zur Erhebung neuer Daten hinsichtlich bestimmter Vorkommnisse gehen würde, konnte praktisch nur begrenzt umgesetzt werden, da die Wahl des nächsten Untersuchungsteilnehmers sich danach richtete, wo (in welcher Institution) dieser gefunden wurde (convenience sampling/Gelegenheitssampling). Das fortlaufende Sampling war demzufolge eine Mischform aus theoretischem Sampling und Gelegenheitssampling. Während des Kodie-
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rens wurden die von Strauss & Corbin (1996) und die von Corbin & Strauss (2008) empfohlenen Techniken des selektiven, zufälligen, systematischen, bestätigenden und widerlegenden Samplings angewendet. Beim selektiven Sampling wurden beispielsweise Daten zu Kranken erhoben, die nicht Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation waren, um dann zur Datenerhebung von chronisch Kranken überzugehen, die Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation waren. Das systematische Sampling kam unter anderem dadurch zur Anwendung, dass jede Person, die die Einschlusskriterien erfüllte und für ein Gespräch bereit war, in die Untersuchung eingeschlossen wurde. Es wurden Daten erhoben, die auf weitere, noch nicht identifizierte Kategorien schließen ließen und diesbezügliche Vergleiche zur Aufdeckung von neuen, ähnlichen, gleichen und abweichenden Aspekten ermöglichten. Zufällig verlief das Sampling insofern, als die Forscherin letztendlich die Informanten nehmen musste, die sich ihr als Nächstes zur Verfügung stellten. Um während der Theoriebildung die Fälle und Daten identifizieren zu können, die relevant und reichhaltig sind, wurden auch die von Draucker, Martsolf & Rusk (2007, S. 1143) beschriebenen Strategien des »intensity sampling«, »typical case sampling«, »extreme or deviant case sampling«, »stratified purposeful sampling« sowie das »theory-based or operational construct sampling« berücksichtigt. Das Sampling und somit die Datensammlung werden unter Anwendung des Grounded-Theory-Ansatzes so lange fortgeführt, bis aus neuen Daten keine neuen Eigenschaften, Ausmaße, Abweichungen von Kategorien und Muster mehr auftauchen, das heißt, die Kategorien sozusagen theoretisch gesättigt sind (Corbin & Strauss, 2008; Glaser, 2001). In der vorliegenden Untersuchung wurde das Sampling so lange durchgeführt, bis der Einbezug weiterer Fälle und der Vergleich diesbezüglicher Vorkommnisse die entwickelten Kategorien und deren Eigenschaften stützten und keine neuen Aspekte mehr auftraten. 4.5.1.3 Auswirkungen der Samplingstrategien auf die Datensammlung und den Verlauf der Rekrutierung des Forschungssamples Basierend auf den zuvor beschriebenen Vorgehensweisen im Rahmen des initialen und fortlaufenden Samplings suchte und wählte die Forscherin potenzielle Informanten, so weit möglich unter Anwendung des theoretischen Samplings. Da der Prozess der Datenerhebung von der sich aus den Daten entwickelnden Theorie geleitet werden sollte, erfolgte die Anfrage potenzieller Informanten und die Durchführung der Interviews schrittweise. So versuchte die Forscherin erst dann wieder ein Gespräch zu führen, nachdem das vorhergehende Interview transkribiert und von ihr analysiert worden war. Aufgrund der realen Forschungsbedingungen gelang der Forscherin dieses Vorhaben nur bedingt. Sie sammelte immer dann neue Daten, wenn ein Gatekeeper sich bei ihr
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 121
meldete, weil sich eine für die Forscherin möglicherweise forschungsrelevante Gesprächsgelegenheit anbot oder der Stand der Datenanalyse dies erforderte. Im letzteren Fall kontaktierte die Forscherin die Gatekeeper, um potenzielle Gesprächspartner ausfindig zu machen und einen Kontakt herzustellen. Unter Anwendung der erläuterten Samplingstrategien und des in Kapitel 4.5.3 erläuterten Prozesses der Datenanalyse erstreckte sich die Datenerhebung über den Zeitraum von Februar 2004 bis April 2009. Während dieser Zeit wurden nach und nach 67 Personen zur Teilnahme an der Untersuchung angefragt. 13 der angefragten Personen wollten nicht an der Untersuchung teilnehmen. Die genannten Gründe für die Nichtteilnahme an der Untersuchung waren: dass es sich bei einigen um dringende Fälle hinsichtlich der Beihilfe zum Suizid handelte, für manche alles schon schwierig genug war, die Angefragten nicht auch noch die Bürde eines Gespräches auf sich laden wollten, ihr Befinden/ ihr Zustand es nicht zuließ, ein Gespräch zu führen, sie keine Lust auf Gespräche hatten oder beim Gedanken daran keine Freude empfanden. Eine Frau war nicht in der Stimmung zu einem Gespräch, weil sie Tage zuvor eine gesundheitlich schlechte Nachricht erhalten hatte, andere wollten nicht noch einmal alles thematisieren. Manche fanden, das Thema sei Privatsache. Andere sagten aufgrund von Sprechschwierigkeiten, Hörschwierigkeiten, Atemnot ab oder weil sie keine Tonbandaufnahme wollten. In vier Fällen schloss die Forscherin die Teilnahme an der Untersuchung im Einvernehmen mit potenziellen Informanten aus, weil diese fremdsprachig waren, bereits im Sterben lagen oder mit ihrer Gesamtsituation belastet waren. Darüber hinaus gab es Fälle, in denen die Forscherin potenzielle Informanten nicht erreichte oder sich diese nicht wie vereinbart zur Terminvereinbarung meldeten. In zwei Situationen starben angefragte Informanten eines biologischen Todes, bevor das Interview stattfinden konnte, und zwei weitere potenzielle Informanten begingen Suizid durch die Einnahme von Schlaftabletten bzw. durch Sprung aus dem Fenster. Die anderen 39 Personen entschieden sich zur Teilnahme an der Untersuchung. Ihre Motivation, an der Untersuchung teilzunehmen, sahen die Informanten darin, dass die Forschungsarbeit der Suizidbeihilfeorganisation Exit helfen würde, dass sie die Teilnahme an einem Interview als eine Abwechslung für sich sahen, dass sie bereit waren, der Forscherin mit ihren Erfahrungen zu helfen, dass sie hofften, mit ihrer Teilnahme etwas bewirken zu können, oder dass sie einfach Interesse hatten, mitzumachen. Mit 37 dieser Personen wurde jeweils ein Interview geführt. Zwei Untersuchungsteilnehmer wurden mehrmals interviewt. Mit einer Frau wurde über ein Vierteljahr monatlich ein Interview geführt. In einem anderen Fall wurden mit einer Frau sechs Interviews über einen Zeitraum von elf Monaten durchgeführt. Von vier Untersuchungspersonen konnten die Interviews nicht in die Datenanalyse einbezogen werden, da die Tonbandaufnahmen aufgrund sehr leiser Aussprache nur punktuell verstanden werden konnten. Das
122
Methodik
definitive Forschungssample setzte sich aus insgesamt 35 Untersuchungsteilnehmern zusammen. Die Forscherin führte 37 Interviews mit 30 physisch chronisch Kranken Schweizern, die in der Deutschschweiz wohnten (siehe Abbildung 13, S. 124 – 129). Bei den Untersuchungspersonen lagen überwiegend Krankheiten der Sinnesorgane, des Gastrointestinaltraktes, des Herzgefäßsystems, des Muskel- und Bewegungsapparates, des Nervensystems sowie des respiratorischen Systems vor. Nahezu ein Drittel litt an einer Krebserkrankung. Ein weiteres Drittel war multimorbid erkrankt. Unter den Befragten befanden sich 19 Frauen und elf Männer. Ihr Alter lag zwischen 35 bis 97 Jahren. Zwei Drittel waren zwischen 70 bis 97 Jahre alt. Von den Studienteilnehmern waren 16 reformiert, acht katholisch und sechs aus der Kirche ausgetreten. Als gläubig bezeichneten sich 13 Personen und zwei gaben an, spirituell zu sein. Einige Personen gaben an, weniger, nicht im kirchlichen Sinn oder gar nicht gläubig zu sein. In Partnerschaft lebten sechs Informanten, 24 waren verwitwet, geschieden oder ledig geblieben und folglich alleinstehend. Neunzehn Personen hatten Kinder. Der gegenwärtige Lebensort war bei 20 Untersuchungspersonen ihr Zuhause, acht lebten in einem Alterspflegeheim, eine Person lebte in einem Hospiz und eine andere Person in einer Palliativabteilung eines Krankenhauses. Von den 30 Befragten hatten 22 eine Patientenverfügung ausgefüllt. Über eine Mitgliedschaft bei der Suizidbeihilfeorganisation Exit verfügten 20 Untersuchungspersonen. Zum Zeitpunkt der Interviews bestand die Mitgliedschaft dieser Personen bei Exit zwischen einem Monat und 22 Jahren. Bei der Mehrzahl der Befragten bestand die Mitgliedschaft seit vielen Jahren. Für acht von ihnen lag das Rezept für das tödliche Substrat zur Einlösung bereit. Neun Studienteilnehmer hatten zum Zeitpunkt des Interviews ein Gesuch zur Ausstellung eines entsprechenden Rezeptes gestellt und befanden sich in dem damit verbundenen Prüfungsprozedere. Drei weitere Befragte hatten kein Gesuch für die Ausstellung des Rezeptes gestellt. Die Dauer der Interviews lag zwischen 42 bis 230 Minuten. In elf Situationen betrug die Gesprächsdauer unter einer Stunde, in 24 Situationen ein bis zwei Stunden, in fünf Situationen zwei bis drei Stunden und in zwei Situationen drei bis vier Stunden. Rückblickend stellte die Forscherin bei (Sterberegister-)Recherchen im Jahr 2011 fest, dass von den 20 Untersuchungspersonen, die zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation waren, tatsächlich 16 durch Suizidbeihilfe gestorben sind. Zehn der 16 durch Suizidbeihilfe Verstorbene starben innerhalb eines Jahres nach dem Interview. Vier weitere Studienteilnehmer starben zwischen 13 und 24 Monate und zwei im Laufe von drei bis vier Jahren nach dem Interview durch Suizidbeihilfe. Eine Untersuchungsperson starb trotz ihrer Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation nicht durch Suizidbeihilfe. Zu drei weiteren Studienteilnehmern liegen keine Daten vor. Von den zehn Untersuchungspersonen, die keine Mit-
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 123
gliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation besaßen, sind fünf Personen im Zeitraum von weniger als zehn Monaten und zwei Personen nach einem Jahr bzw. von vier Jahren nach Durchführung der Interviews verstorben, zwei weitere lebten im Jahr 2011 noch und zu einer Person konnten keine Angaben eruiert werden.
D
C
A
Knochenkrebs
Polymialgia W Rheumatica M Polyneuropathie, armbetonte Tetraparese, irreversible Kontrakturen der Flexorsehnen an Händen und Füßen Darmkrebs M
X
M
W
Pankreaskrebs
W
70
80
77
97
65
Katholisch
Reformiert
Reformiert Reformiert
Reformiert
Sex Alter Konfession
Diagnose
Int. Nein
Ja
Partner- Nein schaft
Verheiratet
Redakteur, DiplomKaufmann Geschäftsführer
Maurer, Ofenbauspezialist
Leiterin Personalabteilung Hausfrau
Kinder Beruf
VerJa witwet Geschie- Ja den
Verheiratet
Zivilstand
Haus
Haus
Ja
Ja
07/ 2004 07/ 2004
Läuft
10/ 2003 04/ 2004
Ja
Läuft
Läuft
72 min
67 min
90 min
20 min
09/2004
07/2005
06/2004
10/2003
Mitglied Rezept Datum Dauer Durch SBHO Int. Interview SBH gestorben Ja Ja 9/ 55 min 10/2003 2003
Alters-/ Ja Pflegeheim Alters-/ Ja Pflegeheim
Haus
Lebensort
124 Methodik
Reformiert
85
94
Multiinfarkte, M diverse Beschwerden W Arthrose, Makuladegenerierung, Tumor, diverse Beschwerden
M
N
Katholisch
84
W
Polyarthrose
EI EII EIII EIV EV EVI
Zivilstand
Verwitwet
Verwitwet
Konfes- Ledig sionslos
Sex Alter Konfession
Diagnose
Int.
Fortsetzung
Ja
Nein
Nein
Lebensmittelkaufmann Verkäuferin
Sekretärin
Kinder Beruf
Ja
02/ 2005
76 min
05/2005
Mitglied Rezept Datum Dauer Durch SBHO Int. Interview SBH gestorben 230 min 04/2006 Ja Läuft 09/ 120 min 2004 94 min 11/ 140 min 2004 98 min 01/ 82 min 2005 04/ 2005 06/ 2005 08/ 2005 Ja Nein 02/ 64 min unbe2005 kannt
Alters-/ Ja Pflegeheim
Wohnung
Wohnung
Lebensort
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 125
Zustand nach Schleudertrauma Diskushernien, Herzklappenentzündung/ ersatz, Schlaganfall, Multiple Sklerose Neuropathie, Augenprobleme Pankreaskopfkrebs Makuladegenerierung Morbus Bechterew Zustand nach Apoplex Rheuma, Osteoporose
P
U
T
S
O
R
Q
Diagnose
Int.
Fortsetzung
75
86
W
W
83
84
W
W
67
83
W
M
51
W
Zivilstand
Reformiert
Konfessionslos Katholisch Katholisch Reformiert
Reformiert
Ja
Ja
Ja
Ja
Nein
Nein
Verkäuferin
Sozialarbeiterin Sozialarbeiterin
Filialleiter, Manager Serviererin
Hotelfachfrau
Kosmetikerin Buchhalterin
Kinder Beruf
Geschie- Ja den
Verheiratet
Verheiratet Verwitwet Ledig
Verwitwet
Konfes- Ledig sionslos
Sex Alter Konfession
Wohnung
Haus
Wohnung
Wohnung
Haus
Wohnung
Wohnung
Lebensort
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Läuft
Nein
Läuft
Ja
Ja
Läuft
08/ 2005
04/ 2005 05/ 2005 06/ 2005 06/ 2005
04/ 2005
111 min
74 min
82 min
81 min
120 min
95 min
05/2007
08/2009
09/2005
12/2006
05/2005
01/2007
Mitglied Rezept Datum Dauer Durch SBHO Int. Interview SBH gestorben Ja Ja 03/ 170 min 01/2008 2005
126 Methodik
Leberkrebs
Multiples Myelom Progressive Muskelatrophie Nervenquetschung im Wirbelkanal, Verdacht auf Morbus Parkinson Osteoporose, Bandscheibenvorfall, Reizdarm Brustkrebs
AF
AG
BI BII BIII
AK
AJ
AH
Diagnose
Int.
Fortsetzung
86
63
85
69
61
W
W
W
W
87
M
W
Verwitwet
Verwitwet Ledig
Ledig
Zivilstand
Reformiert
Ja
Ja
Nein
Ja
Nein
Chefarztsekretärin, Buchhändlerin Aktivierungs-/Beschäftigungstherapeutin
Palliativstation
Wohnung
Lebensort
Nein
Ja
Nein
Ja
06/ 2004 07/ 2004 08/ 2004
04/ 2008
04/2008
09/2004
86 min
46 min 42 min 55 min
Mitglied Rezept Datum Dauer Durch SBHO Int. Interview SBH gestorben DamenWohnung Ja Ja 06/ 45 min 06/2007 schneiderin 2007 MechaniAlters-/ Ja Läuft 09/ 71 min unbeker Pflegeheim 2007 kannt SchriftWohnung Ja Nein 10/ 91 min ohne stellerin 2007 Exit 05/2008 Hausfrau WG mit Ja Läuft 02/ 72 min unbeTochter 2008 kannt
Kinder Beruf
Geschie- Ja den
Konfes- Versionslos witwet
Reformiert
Reformiert Reformiert Reformiert
Sex Alter Konfession
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 127
AD
AB
Z
K
84
W
75
63
66
83
W
W
77
W
Katholisch Katholisch Konfessionslos
Katholisch
Reformiert Reformiert
Sex Alter Konfession
Lungenkrebs, M COPD MakuladeM generierung, Asthma, Gleichgewichtsstörung, Osteoporose
Multiple Sklerose Zustand nach Oberschenkelhalsbruch, Diabetes Zustand nach Apoplex Brustkrebs
F
I
Diagnose
Int.
Fortsetzung
Ja
Ja
Nein
Geschie- Ja den Verhei- Ja ratet
Ledig
Bäcker/ Konditor
Wohnung
Nein
Nein
Nein
Alters-/ Nein Pflegeheim
Nein
Nein
Nein
Nein
11/ 2006 12/ 2006 12/ 2006
01/ 2005
137 min
63 min
51 min
56 min
lebt
01/2007
04/2007
04/2006
Mitglied Rezept Datum Dauer Durch SBHO Int. Interview SBH gestorben Alters-/ Nein Nein 11/ 60 min unbePflegeheim 2004 kannt Alters-/ Nein Nein 01/ 44 min 05/2009 Pflegeheim 2005
Lebensort
Direktions- Wohnung sekretärin OP-Pfleger Hospiz
Tierpflegerin
Arztsekretärin Konfiserieverkäuferin
Kinder Beruf
Geschie- Ja den
Verwitwet Verwitwet
Zivilstand
128 Methodik
Diagnose
Sex Alter Konfession
Zivilstand
Kinder Beruf
AI
02/ 2009
04/ 2009
Nein
Nein
87 min
100 min
08/2009
lebt
Mitglied Rezept Datum Dauer Durch SBHO Int. Interview SBH gestorben Alters-/ Nein Nein 02/ 46 min 12/2008 Pflegeheim 2008
Lebensort
ReforVerJa ChemieSpinalkanal- M 88 miert witwet ingenieur stenose, Tetraparese, Zustand nach Dekompression M 35 Katho- Ledig Nein Student Wohnung Nein AM Enzephalolisch myeloradikulitis, Osteoporose, Tetraplegie, Ateminsuffizienz AN Glioblastom, M 38 Konfes- Ledig Nein Journalist Wohnung Nein Basaliom sionslos Abbildung 13: Merkmale der Untersuchungsteilnehmer – physisch chronisch Kranke (n=30)
Int.
Fortsetzung
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 129
130
Methodik
Zur Erweiterung der Sichtweisen auf den Forschungsgegenstand der vorliegenden Untersuchung wurde auch mit drei Bezugspersonen von physisch chronisch Kranken, die durch Beihilfe zum Suizid starben, je ein Interview geführt (siehe Abbildung 14). Interview AT
Sex Datum Gespräch W 09/2004
Dauer Gespräch 52 min
Beziehung zu chronisch Kranken
Tochter, deren Vater durch Suizidbeihilfe starb AC W 12/2006 89 min Tochter, deren Vater durch Suizidbeihilfe starb AL W 06/2008 182 min Ehefrau, deren Mann durch Suizidbeihilfe starb Abbildung 14: Merkmale der Bezugspersonen von Kranken, die durch Suizidbeihilfe starben (n=3)
Zudem wurden zur Komplettierung bereits vorhandener Daten und zur Validierung daraus entwickelter Konzeptkodes und Kategorien auch zwei Interviews hinsichtlich der Erfahrungen und Sichtweisen von Mitarbeitern der Suizidbeihilfeorganisation Exit durchgeführt (siehe Abbildung 15). Interview V
Sex Datum Gespräch W 03/2005
Dauer Gespräch 67 min
Beziehung zu chronisch Kranken
Mitarbeiter einer Suizidbeihilfeorganisation AE M 01/2007 82 min Mitarbeiter einer Suizidbeihilfeorganisation Abbildung 15: Merkmale der Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation Exit (n=2)
Wie die erhobenen Daten fortlaufend über den Untersuchungszeitraum aufbereitet und im Kontext der fortlaufenden Theoriebildung analysiert wurden, wird im Folgenden erläutert.
4.5.2 Methoden und Prozesse der Datenaufbereitung Zu Beginn der Untersuchung wurde ein Teil der Interviews von der Forscherin transkribiert. Durch die finanzielle Unterstützung des Forschungsvorhabens erfolgte die Transkription der Tonbänder im Verlauf der Untersuchung teilweise durch eine studentische Hilfskraft. Diese wie auch alle weiteren in die Untersuchung involvierten Personen oblagen und obliegen dem vertraulichen Umgang mit den Daten sowie der Einhaltung der Datenschutzgesetzgebung. Die auf Tonband aufgenommenen Erzählungen der Untersuchungsteilnehmer wurden wörtlich transkribiert. Erzählungen, die in Schweizerdeutsch erfolgten, wurden
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 131
ins Hochdeutsche übersetzt. Um die Untersuchungsteilnehmer, weitere involvierte Personen und Institutionen vor einer Identifizierung zu schützen, wurden entsprechende Daten in den Interviewtranskripten anonymisiert. Die realen Namen der Studienteilnehmer, der Institutionen, der Örtlichkeiten und der involvierten Personen wurden entfernt und in willkürlich gewählte Schweizer Familiennamen geändert. Nach der Transkription wurden die Interviews nochmals gehört und die Interviewtexte auf ihre Richtigkeit geprüft. Zur Vorbereitung für die Analyse der Interviewtranskripte wurden diese in das Softwareprogramm MAXQDA2 (Softwareprogramm zur qualitativen Daten-/ Textanalyse) transferiert. Die aufbereiteten Daten wurden von der Forscherin wie im Anschluss beschrieben analysiert.
4.5.3 Methoden und Prozesse der Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung Im Gegensatz zu experimentellen Untersuchungsdesigns ist die Datenanalyse im Sinne der Grounded Theory nicht an spezielle Datentypen, Forschungsrichtungen oder theoretische Interessen gebunden. Im Einklang mit dem Ziel, eine neue Theorie zu generieren, vertritt die Grounded Theory ein Vorgehen, bei welchem über den gesamten Forschungsprozess in Begriffe gefasste Hypothesen generiert und Zusammenhänge zwischen diesen Konzepten hergestellt werden (Glaser & Strauss, 1999). Hierzu gehört unter anderem das theoretische Sampling und die Methode des ständigen Vergleichens (Glaser & Strauss, 2005; Strauss & Corbin, 1998). Durch diese Verfahren werden die sich verdichtenden konzeptionellen Zusammenhänge überprüft, indem das Herausgefundene durch die wiederholte Sammlung von Daten bekräftigt, modifiziert oder im Hinblick auf die allgemeine Gültigkeit des Ergebnisses kontrolliert wird. Die so verlaufende graduelle Integration der entwickelten Konzepte führt zu einer oder mehreren Schlüsselkategorien und somit zum Kern der entstehenden, in den Daten begründeten Theorie (Glaser & Strauss, 2005; Strauss & Corbin, 1998). Der Prozess der Datenanalyse erfolgte in dieser Untersuchung kongruent zu der von Strauss & Corbin (1996) und Corbin und Strauss (Corbin & Strauss, 2008) beschriebenen Methodologie der Grounded Theory des dreistufigen aufeinander aufbauenden Kodierverfahrens (offenes, axiales, selektives Kodieren), der Methode des konstanten Vergleichens, dem Schreiben von Memos und den zuvor erläuterten Samplingstrategien. Das Kodieren ist ein fortlaufender Prozess innerhalb der Datenanalyse zur Theoriebildung (Glaser, 1992) und wird von Charmaz (2006, S. 43) verstanden als »[…] categorizing segments of data with a short name that simultaneously summarizes and accounts for each piece of data. Your codes show how you select, separate, and sort data to begin an
132
Methodik
analytic accounting of them.« Aus der Sicht der Entwickler der Methodologie der Grounded Theory benötigen Forscher zur Theoriegenerierung aus Daten zwingend theoretische Sensibilität (Glaser, 1978; Strauss & Corbin, 1996). Darunter verstehen Corbin & Strauss (2008, S. 19): »The ability to pick up on subtle nuances and cues in the data that infer or point to meaning.« Zu theoretischer Sensibilität gelangen Forscher aufgrund ihres beruflichen sowie persönlichen Erfahrungswissens, durch den Forschungsprozess selbst sowie aus der Beschäftigung mit Fachliteratur (Glaser, 1978; Strauss & Corbin, 1996). Dies erfordert, während der Datenanalyse innezuhalten, zu überdenken, Spuren in den Daten zu verfolgen, Vergleiche anzustellen, Möglichkeiten zu sehen, Verbindungen herzustellen, Fragen an die Daten zu stellen, diesbezügliche Ideen zu entwickeln und eine Theorie zu konstruieren (Charmaz, 2006). In dieser Untersuchung erreichte die Forscherin theoretische Sensibilität, indem sie theoretische Hypothesen über den Inhalt der erhobenen Daten, deren Bedeutung sowie über die Beziehungen unter den Daten anstellte, sprich theoretisierte.
4.5.3.1 Das offene Kodieren Das Ziel des ersten Kodierschrittes, des offenen Kodierens ist, erhobene Daten zu kodieren und dadurch ein Set von vorläufigen Konzeptkodes respektive Kategorien aus den Daten zu generieren und die Eigenschaften und Dimensionen (Ausmaße) der entwickelten Kategorien zu bestimmen (Corbin & Strauss, 2008; Strauss & Corbin, 1996). Ein Konzept gibt die Idee(n) wieder, die ein Datensegment beinhaltet, während eine Kategorie eine höhere Ebene darstellt, unter welche Konzepte subsumiert werden, wenn ihre Eigenheiten gleich sind (Corbin & Strauss, 2008). Um relevante Konzepte, Kategorien und deren spezifische Eigenschaften aufzudecken und zu prüfen, inwiefern diese empirisch relevant sind, wird während des offenen Kodierens ein offenes Sampling (gezielt, systematisch, zufällig oder als Mischform kombiniert) gegenüber Personen, Orten, Dokumenten etc. angewendet (Strauss & Corbin, 1996). Um relevante, vorläufige Konzeptkodes und (Sub-)Kategorien zu generieren, las die Forscherin die Interviews zunächst Zeile für Zeile und stellte dabei von Glaser (1978) vorgeschlagene analytische Fragen an das Datenmaterial (siehe Abbildung 16). – Wovon handeln die Daten? Was geschieht in den Daten? – Auf welche Kategorie oder Eigenschaft einer Kategorie deutet das Ereignis hin? – Was ist für das Hauptproblem und den Prozess verantwortlich? Was erklärt, begründet das Hauptproblem und den Prozess? – Was für ein Muster (Verhaltensmuster) zeigt sich in Bezug auf die Vorkommnisse? Abbildung 16: Fragen an das Datenmaterial
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 133
Neben dem Stellen von Fragen an die Daten wurde fortlaufend die Methode des ständigen Vergleichens angewendet, bei welcher es sich um eine »[…] comparative analysis as a strategic method for generating theory« (Glaser & Strauss, 1999, S. 21) handelt. Indem die erhobenen Daten fortlaufend auf darin vorkommende Ereignisse, Daten mit Konzepten, Konzepte mit weiteren Konzepten, Konzepte mit Kategorien, Kategorien mit anderen Kategorien und deren Dimensionen, Fälle mit anderen Fällen und Typen verglichen und kontrastiert wurden, konnten Ähnlichkeiten wie auch Unterschiede ausgemacht werden und die Entwicklung und Verfeinerung der Kategorien sowie so die Theoriebildung voranschreiten (Bryant & Charmaz, 2007; Corbin & Strauss, 2008; Glaser & Strauss, 1999). In der vorliegenden Untersuchung begann das permanente Vergleichen mit dem Lesen und der Analyse der erhobenen Daten. Die Datenvergleiche wurden innerhalb eines Interviewtranskriptes, zwischen den Daten verschiedener Interviewtranskripte, zwischen Interviews innerhalb einer Gruppe (chronisch Kranke, die leben wollen, chronisch Kranke, die erwogen, ihr Leben mittels Beihilfe zum Suizid zu beenden, nahestehende Bezugspersonen, Mitarbeiter von Suizidbeihilfeorganisation) und zwischen verschiedenen Gruppen (z. B. chronisch Kranke ohne Mitgliedschaft in einer Suizidbeihilfeorganisation im Vergleich zu Menschen mit einer derartigen Mitgliedschaft, chronisch Kranke im Vergleich zu Angehörigen oder Mitarbeitern einer Suizidbeihilfeorganisation) vorgenommen (stratified purposeful sampling). Dieses Vorgehen führte dazu, dass Datensegmente des erhobenen Datenmaterials mit einem Konzeptkode versehen wurden, der zusammenfasst und erklärt, worum es in dem kodierten Datensegment geht (siehe Abbildung 17). Zitat Herr Arnold: »Neeein – ich sage ja, ich habe Ihnen ja gesagt, wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, mit diesen Schmerzen, mit dieser Pflege, die ich hier, die brauche ich immer zum – weiterleben – das wird ja nicht besser. Dann würde ich, meine Kräfte gingen langsam weg und dann weiß ich nicht, wenn ich im Rollstuhl bin, wie lange ich noch leben muss mit diesen, mit dieser Qualität – also – dann bin ich im Rollstuhl, dann bin ich – bin ich nichts mehr wert, sage ich nur noch ja, nein, ––––– wollen Sie ins Bett?, Jaa.« (Interview A: 402)
Vorläufige Konzeptkodes - Anhalten des gegenwärtigen Zustandes - Schmerzen erfahren - Bedarf an und die Art der Pflege - Keine Aussicht auf Besserung haben - Antizipation drohender gesundheitlicher Verschlechterung und damit verbundene Folgen für das zukünftige Leben des Kranken (Kräfteverlust, Veränderung des Selbstwertgefühls, Nichts-mehr-wert-Sein, Abnahme der Lebensqualität) - Ungewissheit darüber, was kommt - Angst vor weiteren gesundheitlichen Problemen
134
Methodik
Fortsetzung Zitat Vorläufige Konzeptkodes Frau Odermatt: »Und ––– weil, auch wenn - In einem schlechten Zustand sein ich es mit Exit mache, mit xy (Name des - Gesundheitliche Ereignisse erfahren: Mitarbeiters einer stürzen Suizidbeihilfeorganisation), hat gemerkt - Manchmal Angst haben, nicht mehr zu am Telefon, dass ich in schlechtem Zustand funktionieren bin und dass ich eben diese Stürze gemacht - Manchmal Angst haben, nicht mehr habe und dass ich manchmal Angst habe, zurechnungsfähig zu sein ich funktioniere –– ich bin nicht mehr - Das subjektive Erleben des physischen/ zurechnungsfähig. Und dann hat xy (Name psychischen Zustands/Befindens löst des Mitarbeiters einer Bedarf aus, weitere Schritte hinsichtlich Suizidbeihilfeorganisation) auch gesagt: Suizidbeihilfe zu unternehmen ›Ja, dann müssen Sie Schritte - Mitarbeiter einer Suizidbeihilfeorganiunternehmen, bevor es so weit ist, denn sation erläutert, unter welchen Umwenn es so weit ist, geht es dann nicht ständen Suizidbeihilfe nicht mehr geht mehr.‹« (Interview EVI: 165) Abbildung 17: Kodierbeispiel innerhalb des offenen Kodierens
Die Konzeptkodes wurden mit weiteren Daten auf Ereignisse, Handlungen, Interaktionen, Ähnlichkeiten, Unterschiede, Muster sowie weitere Konzeptkodes, Dimensionen und damit verbundene Prozesse verglichen. Durch das fortlaufende Vergleichen endeten die Konzept-Kodes in vorläufigen Kategorien und ihren Merkmalen (Glaser, 1992). Ein Beispiel hierzu zeigt Abbildung 18. Vorläufige (Sub-)Kategorie Phänomen: Angst/Panik/Bedrücktheit vor Ungewolltem/ungewollter Daseinsweise Spezifische Eigenschaften (Häufigkeit, Ausmaß, Intensität, Dauer): manchmal, gegenwärtig, antizipativ
Konzeptkode Angst vor weiteren gesundheitlichen Problemen Angst, nicht mehr zurechnungsfähig zu sein Angst, nicht mehr zu funktionieren Abbildung 18: Beispiel für die Zuordnung von Konzept-Kodes in eine Kategorie
Im Laufe der Datenanalyse und Theoriebildung diente das ständige Vergleichen der Forscherin dazu, die Beziehungen zwischen generierten Konzept-Kodes und Kategorien herauszuarbeiten und Hypothesen durch weitere Datenvergleiche zu entwickeln, abzugleichen, zu sichern, Anpassungen und Neuordnungen vorzunehmen, die Eigenschaften der Kategorien zu komplettieren und neue Ereignisse oder Themen in den Daten aufzudecken. Parallel zur Analyse der Daten, zur Generierung von Konzepten, Kategorien und dem ständigen Vergleichen schrieb die Forscherin Memos. Unter Memos wird das Schreiben analytischtheoretischer Notizen oder Texte und das Zeichnen von Diagrammen zu den erzeugten Konzepten, Kategorien, Prozessen etc. verstanden, die für die Generierung der Theorie und deren Vervollkommnung wesentlich sind (Strauss &
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 135
Corbin, 1996). Memos entspringen dem Prozess des ständigen Vergleichens und dienen ebenfalls dazu, theoretische Überlegungen über Konzept-Kodes, Kategorien und deren Beziehungen untereinander zu entwickeln und zu dokumentieren (Charmaz, 2006; Glaser, 1978). Mit Diagrammen lassen sich Prozessabläufe und Beziehungen zwischen Konzepten aufzeigen sowie Verbindungen unter Kategorien skizzieren (Corbin & Strauss, 2008; Strauss & Corbin, 1996). Eine Memo-Notiz zu einem Konzept-Kode zeigt Abbildung 19. Titel: Angst vor weiteren gesundheitlichen Problemen Die Angst vor weiteren gesundheitlichen Problemen resultiert aus der Überzeugung der Betroffenen, dass diese noch auf sie zukommen werden, ihren Befürchtungen, dass ihnen etwas zustoßen könnte (z. B. stürzen) und sie dadurch weitere gesundheitliche Folgen und damit verbundene Auswirkungen auf ihr Leben (z. B. irgendwann im Rollstuhl sein, nicht mehr man selbst sein, zunehmende Abnahme der Lebensqualität) erleiden könnten. Dadurch, dass die physische Krankheit chronisch ist, droht eine Fortsetzung gesundheitlicher Beschwerden. Das Bewusstsein darüber, dass vorhandene gesundheitliche Beschwerden noch zunehmen und noch neue, zusätzliche Beschwerden hinzukommen könnten, löst bei den Betroffenen Angst aus. Abbildung 19: Beispiel-Memo zum Konzept-Kode »Angst vor weiteren gesundheitlichen Problemen«
Memo-Notizen zu der Kategorie »Angst/Panik/Bedrücktheit vor Ungewolltem/ ungewollter Daseinsweise« finden sich in Abbildung 20. Titel: Angst/Panik/Bedrücktheit vor Ungewolltem/ungewollter Daseinsweise Die Betroffenen haben eine Art Lebensangst. Sie haben Angst vor dem Dasein, Existenzangst, da sie ihr weiteres Dasein als Bedrohung für ihre sowieso schon beeinträchtigte Lebensqualität und ihre Absicht betrachten, sich den Weg der Suizidbeihilfe offenzuhalten. Neben der Art des subjektiven Erlebens des gegenwärtigen Daseins treiben Ängste und Befürchtungen bezüglich des antizipierten Daseins, das Fortschreiten des Entscheidungsprozesses darüber, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, an und führen dazu, dass sich chronisch Kranke, die Mitglied bei einer Suizidbeihilfeorganisation sind, von der Phase der Mitgliedschaft und der Ausstellung einer Patientenverfügung zur nächsten Phase (der Beantragung des Rezepts für das Natrium-Pentobarbital) zur Einnahme des tödlichen Substrates hinbewegen. Abbildung 20: Beispiel-Memo zu einer Kategorie
In der vorliegenden Arbeit wurde in den Daten auch nach den von Glaser (1978) erwähnten strukturellen und psychischen gesellschaftlichen Prozessen gesucht, welche das gesuchte Hauptphänomen bedingen. Der Begriff »Prozess« versteht sich als »[…] ongoing responses to problems or circumstances arising out of the context. Responses can take the form of action, interaction, or emotion. Responses can change as the situation changes« (Corbin & Strauss, 2008, S. 229).
136
Methodik
Kongruent dazu suchte die Forscherin in den Daten nach Prozessen, welche die Untersuchungsteilnehmer durchlaufen, und fertigte dazu zahlreiche, sich über den Prozess der Datensammlung und -analyse entwickelnde Diagramme zu Beziehungen und Verbindungen unter den Konzepten, den Kategorien und zu Prozessverläufen an. Da die narrativen Interviews reichhaltige Informationen zu den Untersuchungspersonen und deren Kontext hervorbrachten, schrieb die Forscherin basierend auf den Interviewtranskripten zu jedem Informanten eine zusammenfassende Kurzgeschichte, um sich schnell einen Überblick über die in den Interviews auftauchenden wesentlichen Vorkommnisse und damit verbundenen Abläufe verschaffen zu können. Als sich im Rahmen des offenen Kodierens erste Phänomene (Ereignisse, Themen) aus den Daten abzeichneten und aus diesen Konzeptkodes entwickelten, überlegte die Forscherin, welche Daten sie als Nächstes sammeln sollte, um die Kodes hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Beziehungen zu anderen Kodes entwickeln zu können, und wo sie entsprechende Daten am ehesten finden konnte. Die schrittweise Festlegung von Daten, die als Nächstes erhoben werden sollten, wirkte sich auf die Suche nach entsprechenden Interviewpersonen, auf den Fokus der Gesprächsinhalte und die Formulierung von Interviewfragen aus. So wurden beispielsweise Interviewfragen gestellt, die dazu dienten, auf die entwickelten Konzeptkodes und Kategorien in Interviews zu fokussieren, um sie zu validieren und zu sättigen. Durch neue Interviewfragen erhobene Daten beeinflussten die weitere Entwicklung der Konzepte respektive Kategorien. 4.5.3.2 Das axiale Kodieren Der zweite Schritt des Kodierverfahrens, das axiale Kodieren, geht in der praktischen Anwendung zum Teil parallel mit dem offenen Kodieren einher (Corbin & Strauss, 2008) und ist dazu da, aus den Daten Beziehungen zwischen den Kategorien und Konzepten aufzudecken, die im offenen Kodieren erzeugt wurden (Strauss & Corbin, 1996). Dies geschah unter Anwendung des von Strauss & Corbin (1996) beschriebenen Kodierparadigmas. Dazu lag der Fokus jeweils auf einer bestimmten, sich entwickelnden Kategorie, um diese mit identifizierten Subkategorien und deren Konzept-Kodes in Beziehung zu setzen. Die Analyse der Daten wurde wiederum von den im offenen Kodieren beschriebenen Analysefragen geleitet. Zur Anwendung des von Strauss & Corbin (1996) beschriebenen Kodierparadigmas wurden die in Abbildung 21 aufgeführten zusätzlichen Analysefragen angewendet.
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 137
– Was ist der Kontext und was sind die spezifischen Eigenschaften, die zu dem Phänomen gehören, was sind Bedingungen, in denen die Strategien/das Verhalten stattfindet? – Was sind die ursächlichen Bedingungen, die das Phänomen entstehen lassen und aufrechterhalten? – Welche Strategien, welche(s) Verhalten(-smuster) dienen dazu, das Phänomen zu bewältigen, damit umgehen zu können? – Was sind intervenierende Bedingungen, welche die Strategien/das Verhalten fördern oder hemmen? – Was sind die Konsequenzen, die aus den Strategien/dem Verhalten resultieren? Abbildung 21: Analysefragen
Die Anwendung des Kodierparadigmas ist am Beispiel der Kategorie »Angst/ Panik/Bedrücktheit vor Ungewolltem/ungewollter Daseinsweise« in Abbildung 22 dargestellt. Phänomen
– Angst/Panik/Bedrücktheit vor Ungewolltem/ungewollter Daseinsweise Spezifische Eigenschaften des Phäno- – Gegenwärtig, antizipativ, manchmal anmens haltend vorhanden, belastend Kontext der Angstbewältigung unter – (Zunahme der) Verschlechterung der geBedingungen, bei denen Angst auftritt sundheitlichen Situation, plötzlich auftretende gesundheitliche Ereignisse (z. B. Stürze) Ursächliche Bedingungen – Chronisch krank sein – Ungewissheit – Anhalten und Fortschreiten chronischer Krankheit und damit verbundene gegenwärtige und antizipierte beeinträchtigende Auswirkungen auf das Leben – Antizipation der Zunahme bestehender gesundheitlicher Probleme und das potenzielle Auftreten neuer Probleme Handlung/Interaktion/Strategien zur – Ausstellen einer Patientenverfügung Angstbewältigung – Erwerb der Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation – Weitere Schritte in Richtung Suizidbeihilfe Intervenierende Bedingungen – Bezugspersonen akzeptieren Überlegungen hinsichtlich Suizidbeihilfe – Arzt stellt das Rezept für das tödliche Substrat aus – Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation zeigt Mitgliedern auf, unter welchen Bedingungen die Inanspruchnahme von Suizidbeihilfe nicht mehr möglich ist
138
Methodik
Fortsetzung – Keine unerwünschten lebenserhaltenden Maßnahmen über sich ergehen lassen müssen – Unterstützung durch eine Suizidbeihilfeorganisation in Anspruch nehmen können Abbildung 22: Die Anwendung des Kodierparadigmas am Beispiel »Angst/Panik/Bedrücktheit vor Ungewolltem/ungewollter Daseinsweise« Konsequenz(en)
Um Beziehungen zwischen den entwickelten Kategorien aufdecken, bereits entdeckte Beziehungen validieren und die Dimensionen zu den entwickelten Kategorien analysieren zu können, wurden die vorliegenden Daten theoretisch gesampelt. Die realen Forschungsbedingungen brachten mit sich, dass die Forscherin auch im Rahmen des axialen Kodierens zur Datenerhebung neue Untersuchungsteilnehmer nicht ausschließlich im Sinne des theoretischen Samplings gewinnen und entsprechende Daten erheben und analysieren konnte. Zeitweise wurden überlappend zur Analyse zuvor erhobener Daten und zur laufenden Theoriebildung weitere Interviews zur Datenerhebung durchgeführt. Die im Laufe der Untersuchung erhobenen Daten und Fälle ermöglichten der Forscherin allerdings, während des Samplings und des ständigen Vergleichens von Beziehungen und Variationen beim axialen Kodieren, abhängig von der fokussierten Kategorie, gezielt aus den vorhandenen Fällen (Daten) jene auswählen zu können, die bezogen auf die fokussierte Kategorie reich an Informationen waren, bei denen ein bestimmtes Phänomen also intensiv auftrat (intensity sampling, extreme/deviant case sampling). Darüber hinaus wurden zum Vergleich der entwickelten Kategorien auch Fälle ausgewählt, die veranschaulichten, was hinsichtlich der jeweils fokussierten Kategorie typisch, normal, gegenteilig oder eher ungewöhnlich ist (typisches Fall-Sampling). Mittels der Methode des ständigen Vergleichens wurde in den Daten nach Anzeichen für Unterschiede unter Veränderungen und Prozessen gesucht. Diesbezüglich wurden auch Fälle ausgewählt, die Merkmale bestimmter Untergruppen aufdeckten (z. B. chronisch Kranke, die in einer Institution des Gesundheitswesens leben, versus Kranken, die zu Hause leben) (stratified purposeful sampling). Während des axialen Kodierens erstellte die Forscherin ausgehend von den erhobenen Daten mittels des Softwareprogramms MindManager 7 auch zu jedem Untersuchungsteilnehmer ein Mind-Map, in welchem die entwickelten Kategorien und diesen zugeordnete Konzept-Kodes dargestellt wurden. Die Struktur der Mind-Maps orientierte sich am Kodierparadigma von Strauss & Corbin (1996). Zur Theoriebildung wurden fortlaufend Theorieskizzen in Form von Diagrammen entworfen und entwickelt. Die Umsetzung des offenen und axialen Kodierverfahrens, der Samplingverfahren, der Methode des ständigen Vergleichens, das Schreiben von Memos und Kurzgeschichten sowie die Ent-
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 139
wicklung der Mind-Maps zu den jeweiligen Untersuchungsteilnehmern ermöglichten der Forscherin, zunehmend theoretisch gesättigte Kategorien zu generieren. Zur Synthese der entwickelten Kategorien und den ihnen untergeordneten Konzeptkodes fertigte die Forscherin außerdem ein integratives MindMap an, das ebenfalls nach dem Kodierschema von Strauss & Corbin (1996) strukturiert wurde. Über die Anfertigung des integrativen Mind-Maps war es der Forscherin möglich, aus den analysierten Daten sukzessive einen konzeptuellen Bezugsrahmen in Form von Konzeptkodes, Kategorien und ihren Eigenschaften und Beziehungen untereinander zu generieren.
4.5.3.3 Das selektive Kodieren Das selektive Kodieren stellt gemäß Strauss & Corbin (1996) den dritten und letzten Prozessschritt des Kodierverfahrens dar, in welchem die Kernkategorie ausgewählt und mit anderen Kategorien in Beziehung gesetzt wird. Unter der Kernkategorie wird »[…] das zentrale Phänomen, um das herum alle anderen Kategorien integriert sind«, verstanden (Strauss & Corbin, 1996, S. 94). Gemäß diesem Verständnis werden die Beziehungen zwischen der Kernkategorie und anderen Kategorien validiert, unvollständig entwickelte Kategorien durch Vergleiche mit weiteren Daten angereichert und dadurch eine Vervollständigung des theoretischen Bezugsrahmens angestrebt (Strauss & Corbin, 1996). Das Sampling dient in diesem Kodierschritt dazu, das entwickelte konzeptuelle Modell der generierten Theorie unter verschiedenen Gegebenheiten zu testen und vervollständigen zu können. Dies geschieht, indem Fälle ausgewählt werden, die sich für die Prüfung der Beziehungen zwischen den Kategorien, der Anreicherung wenig entwickelter Kategorien und der Suche nach Ausnahmen, Abweichungen und Veränderungen eignen (Draucker et al., 2007; Strauss & Corbin, 1996). Um die Kernkategorie bestimmen zu können, stellte die Forscherin an die im axialen Kodieren entwickelten Kategorien sowie an die Beziehungen unter den Kategorien die in Abbildung 23 aufgeführten Fragen. – Was geschieht innerhalb des Forschungsgegenstandes? – Was ist das Hauptphänomen/-problem? Abbildung 23: Analysefragen
Im Laufe der Datenanalyse entdeckte die Forscherin vier Muster (Konstellationen) in den Daten, die die Kernkategorie/das Hauptphänomen (siehe Abbildung 24), den Handlungskontext, die damit verbundenen Konsequenzen, die intervenierenden Bedingungen und die Handlungsstrategien spezifizieren und begründen, unter welchen Bedingungen einige chronisch Kranke weiterleben
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Methodik
wollen und unter welchen Bedingungen es dazu kommt, dass andere erwägen oder sich entscheiden, ihr Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden. Konstellation 1 – Zurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise Konstellation 2a – Noch oder wieder zurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen Daseinsweise, solange diese erträglich ist, und nicht mehr zurechtkommen, wenn eine ungewollte Daseinsweise droht Konstellation 2b – Sich abzeichnende Ungewissheit oder Schwierigkeiten, mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise zurechtzukommen Konstellation 3 – Nichtzurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise Abbildung 24: Die vier handlungsleitenden Muster der Kernkategorie
Nachdem die Forscherin die Muster der Kernkategorie entdeckt hatte, ordnete sie diese innerhalb des axialen und selektiven Kodierens und validierte die Bestandteile der sich entwickelnden Theorie an den Daten. Gedanken und Antworten im Zusammenhang mit der generierten Theorie fasste die Forscherin in Memos zusammen. Zu den vier aufgedeckten Mustern der Kernkategorie leitete die Forscherin hypothetische Aussagen ab. Die Validierung der hypothetischen Aussagen erfolgte an den erhobenen (Fall-) Daten. Dabei zeigte sich, dass sich die theoretischen Aussagen über die aufgedeckten Konstellationen als geeignet erwiesen. Dürftig entwickelte Kategorien wurden durch die Wiederholung der beschriebenen Schritte zur Datenerhebung und -analyse angereichert und dadurch verdichtet. »(Nicht-)Zurechtkommen mit seiner veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise« wurde als Kernkategorie ausgewählt, weil die aufgedeckten Muster dieser Kernkategorie (Konstellationen 1 bis 3) die Verhaltens-/Handlungsvariationen der hier untersuchten physisch chronisch Kranken erklären. Nach der Auswahl der Kernkategorie wurden deren Eigenschaften und Dimensionen bestimmt, die das jeweilige Phänomenmuster des (Nicht-)Zurechtkommens hervorrufen, und die Kernkategorie mit den Kategorien (ursächliche Faktoren/Bedingungen, Kontext, Strategien, intervenierende Bedingungen, Prozesse, Konsequenzen) in Beziehung gesetzt. Die von der Forscherin fortlaufend entwickelten Diagramme führten zur Ordnung der Kategorien sowie zur Synthese der generierten Bestandteile der Theorie. Mit der Umsetzung der beschriebenen theoriegenerierenden Verfahrensschritte bei der Datenerhebung und -analyse wurde so auf induktive Weise eine substantive Theorie generiert, welche die Bedingungen erklärt, die bei physisch chronisch Kranken die Bereitschaft sowie den Entschluss reifen lassen, sterben oder im
Datensammlung, Datenverarbeitung, Datenanalyse und Synthese zur Theoriebildung 141
Gegenteil weiterleben zu wollen. Somit wurde deutlich, welche Faktoren und Konstellationen von persönlichen, situativen und gesellschaftlichen Aspekten den Wunsch beeinflussen, zu sterben oder eben weiterzuleben. Die Beschreibung der generierten Theorie folgt im anschließenden Kapitel 5.
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse physisch chronisch Kranker darüber, weiterleben oder sterben zu wollen
Unter Menschen, die physisch chronisch krank sind, finden sich solche, die ihr Leben bis zu ihrem biologischen Tod weiterleben, und andere, die mit dem Gedanken spielen oder dazu entschlossen sind, ihr Leben unter bestimmten Bedingungen durch Suizidbeihilfe zu beenden. In Anbetracht der großen Bedeutung solcher Entscheidungsprozesse für die Gesellschaft und insbesondere für Gesundheitsfachpersonen haben diesbezügliche Forschungsaktivitäten in den letzten Jahren stetig zugenommen. Eine Theorie, welche die Prozesse, die zu der einen oder anderen Entscheidung führen, erklären, liegt allerdings bislang nicht vor. Aus diesem Grund sind auch die solche Prozesse beeinflussenden Bedingungen und Kontexte schwer einzuordnen. Das übergeordnete Ziel dieses pflegewissenschaftlichen Forschungsprojektes war deshalb, solche Prozesse zu explorieren, was bedeutet, zu untersuchen, was physisch chronisch Kranke veranlasst, weiterzuleben oder ihrem Leben durch Suizidbeihilfe ein Ende zu setzen. Ausgehend von der Forschungsfrage der vorliegenden Untersuchung liefert die im Folgenden beschriebene Theorie Erkenntnisse und Erklärungen über persönliche, biografische, alters-, gesundheits- und versorgungsbezogene, finanzielle und biologische Umstände sowie über kontextuelle, soziale und gesellschaftliche Faktoren, die zu dem einen oder anderen Entscheid führen. Die Theorie zeigt die subjektiven und objektiven Wirklichkeiten, das Befinden sowie die Lebensumstände der zur Diskussion stehenden Population auf. Zudem verdeutlichen die theoretischen Ausführungen die Bedeutung der Situation für die Betroffenen selbst sowie für Mitbetroffene. In Abbildung 25 ist das konzeptuelle Modell mit den zentralen Bausteinen der Theorie dargestellt (siehe nächste Seite). Das Modell gibt einen Überblick über die Faktoren, Phasen und Konstellationen, welche die Kranken letztlich zu ihrem Entscheid veranlassen, weiterleben oder sterben zu wollen. Das Zusammenwirken all dieser Elemente auf horizontaler und vertikaler Ebene führt dem Betrachter die Komplexität und Dynamik des Geschehens vor Augen und verdeutlicht, weshalb sowohl die Entscheidung weiterzuleben als auch die Entscheidung zu sterben für Außen-
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Abbildung 25a: Das konzeptuelle Modell der substantiven Theorie über die Entscheidungsprozesse physisch chronisch Kranker weiterleben oder sterben zu wollen
Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
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Abbildung 25b: Das konzeptuelle Modell der substantiven Theorie über die Entscheidungsprozesse physisch chronisch Kranker weiterleben oder sterben zu wollen
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
stehende schwer nachvollziehbar ist. Die Theorie und somit auch deren Darstellung im Modell wurden aus den Aussagen der Studienteilnehmer abgeleitet. Die modellhafte Darstellung der von den Interviewten beschriebenen Einflussgrößen und deren Zusammenwirken sind folgendermaßen angeordnet: An den beiden Rändern des Modells sind die zentralen Faktoren aufgeführt, welche die vertikal abgebildeten Phasen (1 – 9), die horizontal dargestellte Kernkategorie sowie ihr zugeordnete Schlüsselkategorien und die daraus resultierenden Konstellationen (1, 2a, 2b und 3) konstituieren. Die aufgeführten Phasen erfolgen in Wirklichkeit nicht zwingend linear. Es sind iterative, miteinander verflochtene und progressive Bestandteile eines kaskadenförmigen Prozesses, der von Kranken in unterschiedlichen Zeitspannen durchlebt wird. Die Reihenfolge der Phasen ist somit ein Annäherungsversuch an die Entwicklung der Begebenheiten, wie sie von Menschen im Kontext chronischen Krankseins erfahren werden. In den nachstehenden Kapiteln werden die generierte Theorie erläutert, deren Bestandteile sowie die Verbindungen unter den Theoriebausteinen erklärt und mit gehaltvollen, treffenden Zitaten der Befragten belegt. Die theoretischen Erklärungen folgen der Logik der vertikal dargestellten Phasen und den darin zum Tragen kommenden Einflussfaktoren und Konstellationen, die das Entscheidungsverhalten der Studienteilnehmer erklären. Kapitel 5.1 erläutert persönliche Faktoren dieser Menschen und Aspekte ihrer gewohnten Daseinsweise. Das Auftreten einer physisch chronischen Krankheit, gesundheitlicher Verschlechterung und deren Auswirkungen auf das Dasein der Erkrankten sind Gegenstand von Kapitel 5.2. Daran anschließend werden in Kapitel 5.3 die Bewältigungskompetenzen chronisch Kranker, das Verhalten ihrer Bezugspersonen sowie das Erleben ihrer medizinischen Versorgung dargelegt. Kapitel 5.4 erläutert die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise im Kontext chronischen Krankseins durch den chronisch kranken Menschen im Zusammenhang mit intrapersonalen und kontextuellen Faktoren, die abhängig vom subjektivem Erleben der Erkrankten Beweggründe darstellen, weiterleben oder sterben zu wollen. In den Kapiteln 5.5 – 5.9 werden die einzelnen (Daseins-)Konstellationen im Kontext chronischen Krankseins, daraus resultierende Entscheide darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, die Planung und Ausführung von Maßnahmen zur Realisierung der getroffenen Entscheidung und deren Folgen erläutert.
Persönliche Faktoren und die gewohnte Daseinsweise eines Menschen
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Persönliche Faktoren und die gewohnte Daseinsweise eines Menschen
Den Ausgangspunkt der generierten Theorie stellen persönliche Faktoren und die gewohnte Daseinsweise eines Menschen (Phase 1) dar. Die persönlichen Faktoren stehen für die Eigenschaften eines Menschen. Die gewohnte Daseinsweise fokussiert auf die zurückliegende, dem jeweiligen Menschen vertraute Art und Weise, zu leben. Die Kategorien persönliche Faktoren und die gewohnte Daseinsweise eines Menschen sind durch die in Abbildung 26 aufgeführten Konzepte dimensionalisiert. Persönliche Faktoren eines Menschen Die gewohnte Daseinsweise eines – Persönlichkeitsmerkmale Menschen – Lebensalter – Der gewohnte Gesundheitszustand – Glaubenshaltung – Gewohnt sein, Leidenschaften/Lieb– Soziale Lebensumstände lingsbeschäftigungen nachgehen zu – Prägende Lebenserfahrungen können – Medizinische Kenntnisse – Das gewohnte Selbstverständnis – Einstellungen und Überzeugungen über – Die Bedeutung des bereits gelebten Lebens das Leben, Sterben, den Tod und die Suizidbeihilfe – Werte-/Präferenzsystem Abbildung 26: Konzepte der Kategorien »persönliche Faktoren« und »gewohnte Daseinsweise« eines Menschen
5.1.1 Persönliche Faktoren des Menschen 5.1.1.1 Persönlichkeitsmerkmale Die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen sind mitentscheidende Faktoren dafür, dieser sich eine aktive Beendigung seines Lebens vorstellen kann oder diese anstrebt, während diese Möglichkeit in der Vorstellung anderer erst gar nicht existiert oder abgelehnt wird. Unter Erkrankten, in deren Gedankenrepertoire eine aktive Beendigung ihres Lebens nicht vorkommt oder nicht infrage kommt, finden sich vor allem solche, zu deren Eigenarten es gehört, dass sie sich eher passiv statt aktiv verhalten. Sie setzen sich selten aktiv zur Wehr, neigen eher dazu, wenig in das sie betreffende Geschehen einzugreifen, und lassen eher mit sich geschehen, was mit ihnen geschieht. Einige haben zwar eine Patientenverfügung ausgestellt, doch sie stellt nahezu das Maximum an schützenden Maßnahmen vor krankheitsbedingten Veränderungen der eigenen Daseinsweise dar. Manche lassen zu, dass nicht sie selbst, sondern der jeweils auf sie wirkende Kontext bestimmend auf den Lauf ihres Lebens einwirkten. Sie zeigen sich nicht
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
schwach, verfügen über die Kompetenz, sich an Situationen anzupassen und schaffen es, mit ihrer Situation umzugehen. Kranke, für die eine Beendigung ihres Lebens undenkbar ist, tendieren dazu, sich auf ihr Schicksal einzulassen, dieses anzunehmen und es zu tragen. Fr. Burri: »Aber wenn ich sehe, die Leute im 4. Stock, da denke ich: Nein, also, so lange leben möchte ich nicht, nein. Aber das kann man eben nicht bestimmen, oder? Man muss es akzeptieren, wie es kommt.« I: »Also, nehmen Sie es auch wie es kommt?« Fr. Burri: »Ja. Ich muss es nehmen wie es kommt, oder. Ich kann nichts machen, oder.« (Frau Burri, I: 147 – 151).
Für Menschen mit einer fatalistischen Persönlichkeit gibt es im Grunde genommen »nur« die Option, weiterzuleben. Zu sterben oder bewusst weiterzuleben, nehmen sie nicht als Option für sich wahr. Stattdessen ist die Fortsetzung ihres Lebens für sie Programm. Verglichen mit Kranken, die als fatalistisch, anpassungswillig beschrieben werden können, sind solche, die erwägen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben, von ihrem Naturell her willensstark, freiheitsliebend und selbstbestimmt. Sie wollen selbst über ihr Leben sowie ihr Sterben verfügen und unter Kontrolle haben, was, wann, wo mit ihnen geschieht. Hr. Niederberger : »Mein Freund, der war auch sehr krank. Anfang der Achtzigerjahre und das, schlussendlich, das kann ich gleich vorwegnehmen, führte uns damals auch ein bisschen zu Exit. Das war dann, wenn ich mich recht zurückerinnere, relativ neu, diese Organisation. Man hat recht viel darüber gelesen und es hat mich fasziniert als junger Mensch, eigentlich fasziniert, dass ich dachte, wunderschön, dass es so etwas gibt, das einem, wenn es mal so weit ist, zumindest die Freiheit lässt, was will man, wie will man – ins Jenseits gehen.« (Herr Niederberger, D: 29 – 31).
Selbstbestimmte Persönlichkeiten versuchen, soweit es ihnen wichtig und möglich ist, zu lenken und zu steuern, wie sie leben, was mit ihnen geschieht und wie sie sterben. Sie lassen sich nicht fremdbestimmen, nehmen aktuelle oder mögliche Entwicklungen, die sie selbst betreffen, nicht einfach gott- oder schicksalsergeben hin, sondern werden im Sinne ihrer Überlegung, durch Suizidbeihilfe sterben zu können, selbst aktiv. Sie nehmen sich die Freiheit, selbst zu bestimmen, ob, unter welchen Umständen, wann und auf welche Art und Weise sie sich von ihrem Leben erlösen würden. Dinge, die ihnen nicht gefallen, lassen sie nicht über sich ergehen. Abhängig von der Bedeutung dessen, was ist oder zukünftig auf sie zukommen kann, verspüren sie das Bedürfnis, aktiv zu werden. Sie nehmen Einfluss auf Ereignisse, indem sie sich zum Beispiel gegen etwas wehren oder schützen sowie Umstände infrage stellen. Die Realisten unter ihnen wollen sich keine Illusionen über das Älterwerden und ihnen möglicherweise bevorstehende Daseinsweisen machen und sehen stattdessen den von ihnen wahrgenommenen Tatsachen ins Auge. Sie realisieren ihre gegenwärtige Situation, machen sich bewusst, was mit ihnen geschieht, und antizipieren, was mit
Persönliche Faktoren und die gewohnte Daseinsweise eines Menschen
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ihnen zukünftig noch passieren kann. Dieser antizipative Mechanismus kann Angst vor einer ungewollten Daseinsweise auslösen, die dazu beitragen kann, dass Leidende erwägen, lieber zu sterben als weiterzuleben. Menschen, die eine Beendigung ihres Lebens in Erwägung ziehen, überlassen von ihrer Persönlichkeit nichts dem Zufall. Dies geht so weit, dass einige Kranke vorbereitende Maßnahmen bezüglich ihres Sterbens, ihres Todes sowie ihres postmortalen Zustandes organisieren. Zusammengefasst sind Fatalistischsein, Passivsein, Hinnehmen, Sicheinlassen, Annehmen, Akzeptieren, Sichanpassen und Um-sein-Leben-Kämpfen demzufolge wesentliche Persönlichkeitsmerkmale, die dazu beitragen, dass Kranke weiterleben wollen. Leidende, die sich mit der Möglichkeit befassen, ihr Leben unter Umständen zu beenden, oder die sich dazu entschieden haben, kennzeichnet hingegen, dass sie selbstbestimmt, willensstark, freiheitsliebend, skeptisch, kritisch, kontrollbedürftig, kämpferisch und aktiv sind. Sie nehmen Einfluss, widersetzen sich, sind vorbereitet und antizipatorisch. 5.1.1.2 Lebensalter Auch das erreichte persönliche Lebensalter und dessen Bedeutung sind Faktoren, die Kranke dazu bewegen, weiterzuleben oder zu sterben. Finden sie ihr Lebensalter zu niedrig, um zu sterben, und haben sie noch bestimmte Absichten hinsichtlich ihres Lebens, dann motiviert sie das, weiterzuleben. Die Höhe des Lebensalters beeinflusst aber auch die Bereitschaft, bestimmte zusätzliche gesundheitliche Beeinträchtigungen auf sich zu nehmen. Wenn das erreichte Lebensalter als hoch wahrgenommen wird, kann das die Bereitwilligkeit senken, mit bestehenden und zukünftigen Einschränkungen seines Daseins zu leben, wodurch eine innere Bereitschaft entsteht oder »reifen« kann, sein Leben unter bestimmten Umständen zu beenden. Einige Patienten finden, dass ihr Lebensalter hoch genug oder zu hoch ist, um weiterzuleben. Zusammenhängend damit ist auch der Lebensüberdruss ein Grund dafür, warum manche sterben wollen. Einige warten seit Jahren vergeblich auf ihr biologisches Sterben, was ihrerseits umschlägt in eine abnehmende Bereitschaft oder sogar Widerwillen, weiterzuleben. Dies hat zur Folge, dass solche Menschen sterben wollen und selbst nach Wegen suchen, ihr Leben durch Suizid(-beihilfe) zu beenden. Fr. Schulthess: »Wir finden, wir werden zu alt. Und, irgendwann ist es einfach Zeit, dass man aufhört. […]. Er (Ehemann) ist schon lange pensioniert, 25 Jahre. […]. Und, dann hat er aber schon, im Alter von 75 hat er gesagt, er finde, jetzt es reicht […]. Er hat einfach gewartet und gedacht, vielleicht sterbe ich. Aber er ist nicht gestorben, weil es ihm gut geht, eigentlich. Und jetzt ist er 90 und findet, es reicht jetzt. Und das – über das sprechen wir. Und ich begreife seinen Entscheid, dass er sagt, er hat jetzt genug.« (Frau Schulthess, AT: 94, 106 – 110).
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Für mehrere Kranke ist ihr Lebensalter der Hauptbeweggrund dafür, weiterleben oder aber sterben zu wollen. Für andere ist ihr Alter »nur« ein flankierender, zusätzlicher Beweggrund, sterben zu wollen. Das Lebensalter wird von Kranken auch zur Legitimierung ihres Vorhabens angeführt, durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen. Durch die abnehmende Gewilltheit, weiterzuleben, wird die Bereitschaft, sein Leben unter bestimmten Umständen zu beenden, verstärkt und diesbezügliche Entscheidungsprozesse werden in Gang gesetzt. 5.1.1.3 Glaubenshaltung Gläubigsein, Religiössein, Spirituellsein oder diesbezügliche gegenteilige Haltungen sind ebenfalls wichtige Faktoren im Zusammenhang mit der Entscheidung, weiterzuleben oder sterben zu wollen. 5.1.1.3.1 Gläubig oder spirituell orientiert sein Gläubig oder spirituell orientiert zu sein, gibt manchen Kranken das Gefühl, nicht alleine zu sein, spendet ihnen Kraft sowie Halt im Leben und hilft einigen, mit ihrem krankheitsbedingten Schicksal umzugehen, das heißt, ihr damit einhergehend verändertes Dasein zu akzeptieren und ertragen zu können. Hr. Beck: »[…] – Man muss ja lernen, mit dieser Krankheit umzugehen. Und ich – jeder Mensch hat so ein bisschen seine – Theorien, wie er das machen will und wie er das anstellt. […] Ich habe auch mein System, das ich jetzt habe, womit ich diese Krankheit akzeptieren konnte.« I: »Was hat Ihnen geholfen, das zu akzeptieren, Hr. Beck?« Hr. Beck: »Ja, vor allem der Glaube. Der Glaube hat mir geholfen, das zu akzeptieren. Im normalen Rahmen, wissen Sie. Ich bin nicht jemand, der mit dem Herrgott hausieren geht. Ich bin jemand, der still, im stillen Kämmerlein, oder. Aber, ich muss Ihnen sagen, es hat mir schwer geholfen. Es – ist etwas, wo ich gemerkt habe: Halt, da ist ja noch etwas anderes. Das ist ja – da ist ja auch noch etwas da, das einem helfen kann. Und ich habe es merklich gespürt, dass mir das hilft. Also, es ist – nach wie vor ist es das, was mich am Leben erhält, oder. Ja, ja. Wissen Sie, nicht laut und krachig und so oder mit zwanzig Leuten zusammen, sondern alleine. Da bin ich alleine, das mache ich im stillen Kämmerlein.« I: »Also, beten Sie dann oder denken Sie über den Glauben nach?« – Hr. Beck: »Ja, ich mache beides. […]. Ich sage immer : Ich muss nur mit meinem Chef da oben reden. Oder? – Tue ganz normal mit dem, wie mit ihm sprechen. Und es gibt mir einfach ein gutes Gefühl? Das auf alle Fälle. Und – ich bete und ich studiere über den Glauben nach, ja.« I: »Jetzt haben Sie gesagt, Sie haben ja schon viel gesundheitlich mitgemacht. War der Glaube denn schon immer für Sie ein Halt?« Hr. Beck: »Ja. Jawohl. […]. Ja, jeder Mensch hat Seines, woran er sich halten kann. Ich halte mich halt daran fest, oder. Ja, weil, etwas muss man haben, woran man sich festhalten kann. Sonst schaffen Sie es nicht, mit so einer Krankheit.« (Herr Beck, AB: 135 – 155).
Diese Gegebenheit kann den Willen und die Bereitschaft, mit seiner veränderten Daseinsweise weiterzuleben, positiv beeinflussen, was wiederum bedingt, dass
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solche Kranke ihr Dasein im Kontext ihres chronischen Krankseins bis zum Eintritt ihres biologischen Todes zu Ende führen. Demzufolge kann der Glaube tief religiöse Menschen davon abhalten, sich ihr Leben zu nehmen. Obwohl gläubig oder spirituell zu sein einigen Erkrankten hilft, mit ihrem krankheitsbedingten Dasein weiterzuleben, sind sie dadurch nicht vor dem Wunsch geschützt, lieber sterben als weiterleben zu wollen. Einige möchten lieber sterben als weiterleben, weil sie dadurch von ihrem Dasein erlöst werden oder eine potenzielle Daseinsweise am liebsten vermeiden wollen. Sehen solche Kranke für sich aufgrund ihres Glaubens und damit verbundenen Überzeugungen keinen Weg darin, ihr Leben durch Suizid(-beihilfe) zu beenden, treffen sie auch keinen Entscheid, so sterben zu wollen. Stattdessen ersuchen sie Gott darum, sie von ihrem Dasein zu erlösen, oder sehnen sich danach, dass ihr Wunsch zu sterben auf biologische Art und Weise in Erfüllung geht. Neben Leidenden, für die eine Beendigung ihres Lebens aufgrund ihrer religiösen Haltung keine Option darstellt, gibt es auch Gläubige, die trotz religiöser Einwände darüber nachdenken oder entschieden haben, in einer bestimmten Situation mit Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen, um sich von einer ungewollten Daseinsweise zu erlösen oder einer solchen zuvorzukommen. Der Gedanke, sein Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden, kann Gläubigen Mühe bereiten, aber dennoch finden manche von ihnen Wege, entsprechende Überlegungen und Entscheidungen ohne Gewissenskonflikte vor sich selbst und anderen zu legitimieren. Bei Gläubigen, die gegenüber der eigenen Lebensbeendigung durch Suizid(-beihilfe) frei von religiösen Bedenken sind, kommt eine frei denkende Haltung, das heißt, eine Verbindung von Glaube und innerer Freiheit, zum Ausdruck. Solche Kranken glauben zum Beispiel nicht an einen strafenden Gott. Sie gehen von einem gütigen Gott aus und fürchten sich nicht. Hr. Niederberger : »Ich bin gläubig. Ich bin römisch-katholisch. Ich bin gut katholisch erzogen worden. Ich war nie ein Kirchengänger ; ich war nie, weiß der Kuckuck ein ›Frömmeler‹. Ich glaube an ein Jenseits. – Ich glaube nicht an einen alten Mann, mit einem weißen Bart, der da irgendwo auf einen wartet. Ich glaube einfach, dass die – diese – Erde und all das, was man über das All heute erfährt, all diese unwahrscheinlichen Entdeckungen und wenn man die Natur beobachtet und so weiter – kann mir einfach niemand weismachen, es gäbe da nicht eine überirdische Macht, wie immer die auch ausschaut, die das Ganze steuert – wo die Zentrale ist usw., das weiß ich nicht, ist auch egal – aber das gibt mir dann einen bestimmten Glauben; ich sage es jetzt mal so – das andere ist etwas anderes, dass ich einfach überzeugt bin, dass mir diese Kraft nicht böse ist, wenn ich entscheide, wann ich gehen möchte, weil dann müsste ich ja im gleichen Atemzug sagen, ja, aber dann dürft ihr mir ja auch keine Schmerzmittel geben, – dann dürft ihr ja aber das ganze Ärztetum auch nicht ständig intelligenter werden lassen, – nech, also, das ist meine Optik und so weit auch mein Verstehen von der ganzen Angelegenheit.« (Herr Niederberger, D: 157 – 159).
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Manche Kranke finden in der Spiritualität eine Lösung für sich. Das Praktizieren von Zen-Meditation, das Erleben von »Lichtmomenten« oder das Empfangen übersinnlicher Zeichen gibt spirituellen Menschen das Gefühl, einen besonderen Schutz und Kraft zu haben, trotz chronischer Krankheit und damit einhergehenden Auswirkungen weiterzuleben. 5.1.1.3.2 Bedingt oder gar nicht gläubig oder spirituell sein Neben gläubigen Kranken gibt es auch solche, die sozusagen bedingt gläubig sind. Das heißt, sie sind nicht ausgeprägt (gott-)gläubig; sie haben nichts mit Gott zu tun oder sind auch nicht spirituell. Der Umstand, nicht gläubig zu sein, bringt für solche Kranken mit sich, dass sie keine religiösen Bedenken kennen oder Hürden hinsichtlich der Beendigung ihres Lebens überwinden müssen. Sie kennen keine religiös bedingten Ängste oder Bedenken, die sie vom Gedanken und Entscheid, ihr Leben zu beenden und zu sterben, abhalten könnten. Nicht streng gläubig oder gar nicht gläubig zu sein, bedingt bei solchen Erkrankten die Auffassung, dass ihr Leben und Sterben in ihren Händen liegt und die Entscheidung darüber einzig ihnen obliegt. Fr. Rieger : »Und da ich auch nicht übermäßig gläubig bin, sondern von der Kirche enttäuscht wurde und eigentlich nur noch das glaube, was ich glauben will und wo ich das Gefühl habe, das ist richtig. Dann nehme ich mir auch das heraus, dass wenn ich liegen sollte und nicht mehr selbst essen oder einfach mich nicht mehr selbst versorgen kann, dass ich dann – gehen kann. […].« (Frau Rieger, Q: 19).
Was sie nicht erfahren, ist die von tiefgläubigen oder spirituellen Patienten erfahrene Kraft zu leben, das Gefühl, nicht alleine zu sein, sondern durch seinen Glauben an Gott die Situation besser akzeptieren zu können. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass chronisch Kranke, die überzeugte Gläubige sind, oder Menschen, die einen spirituellen Zugang zum Leben haben, ihr krankheitsbedingt verändertes Dasein überwiegend als zufriedenstellend und akzeptabel erleben, keine Angst vor ihrer zukünftigen Daseinsweise haben, mit ihrem Dasein zurechtkommen und dadurch bereit sind, weiterzuleben. Dass einige gläubig oder spirituell orientierte Kranke mit ihrer veränderten Daseinsweise eher zurechtkommen als solche, die weder religiös noch spirituell sind und dazu neigen, sich gewissen Begebenheiten und potenziellen Schicksalsschlägen zu widersetzen, kann damit zusammenhängen, dass gläubige und spirituelle Patienten in Verbindung mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, die dazu beitragen, dass Menschen weiterleben wollen, ihre Situation gewissermaßen als gottgewollt hinnehmen und sie akzeptieren. Entscheidungswege dazu, weiterleben oder sterben zu wollen, verlaufen demnach je nach religiöser und spiritueller Haltung des Kranken und der damit verbundenen Auswirkungen anders.
Persönliche Faktoren und die gewohnte Daseinsweise eines Menschen
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5.1.1.4 Soziale Lebensumstände Der soziale Lebensumstand umfasst das Vorhandensein, die Inexistenz und den Verlust von bedeutsamen sozialen Beziehungen, die soziale Wohn- und Lebensform eines Menschen sowie die Bedeutung und die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen und deren Auswirkungen. Kranke stehen in Beziehung mit Familienangehörigen, Freunden, Bekannten, Nachbarn, Gesundheitsfachpersonen und Bewohnern in Gesundheitsinstitutionen und beurteilen die Qualität ihrer sozialen Beziehungen und deren Nutzen für sich. Das Vorhandensein oder das Fehlen sowie die Qualität sozialer Beziehungen, die Tatsache, ob Kranke alleine oder mit anderen leben und wohnen, die Frage, ob sie ausreichende Hilfe und Unterstützung erhalten oder eben nicht, sind bedeutsame Faktoren für den Entscheidungsprozess darüber, weiterzuleben oder sterben zu wollen. 5.1.1.4.1 Das Vorhandensein bedeutsamer sozialer Beziehungen Der Zivilstand bzw. die Existenz von bedeutsamen Familienmitgliedern und Freunden sind Voraussetzungen dafür, dass Kranke grundsätzlich von ihnen nahestehenden Bezugspersonen emotionale sowie praktische Fürsorge und Unterstützung erfahren können und sozial eingebunden sind. Fr. Rickenbach: »Also, ich muss sagen, es kommt praktisch täglich – irgendjemand kommt immer. Also, entweder ist es meine Nachbarin oder ein Kollege von mir. Der kommt hierhin – der ist Taxichauffeur – der kommt hierhin zum Mittagessen. Oder ein anderer Kollege kommt schnell einen Kaffee trinken. Oder, Telefon – ich – also, ich muss eines sagen, ich bin – natürlich bin ich viel alleine. Ich bin viel alleine. Ich brauche auch meine Zeit, in der ich alleine sein kann. Weil, ich mag es heute auch nicht mehr ertragen, dass dauernd jemand um mich herum ist. Aber ich bin nicht einsam. Und das ist ein himmelweiter Unterschied. Ich bin zwar oft alleine und ich will auch oft alleine sein, aber ich bin nie einsam, nie. Ich habe immer jemanden, den ich anrufen kann und sagen: ›Du, kannst du nicht schnell‹ – und – das ist – super. Also, ich – und das ist etwas, wo ich sagen muss, wo ich wahnsinnig froh bin. Darum eben, mein Freundeskreis, der ist wahnsinnig wichtig für mich. Weil, ich habe – mit meinem Bruder habe ich keinen Kontakt mehr, will ich keinen Kontakt mehr. Mein Vater ist auch nicht mein bester Freund. Der ist zwar 94, aber das heißt nichts. Wen ich noch habe, ist meine Stiefmutter, das ist die zweite Frau von meinem Vater, mit der ich ein sehr gutes Verhältnis habe. Sie wohnt noch fünf Minuten, – also, sie wohnen beide noch fünf Minuten von hier weg. Und sie kümmert sich auch sehr um mich. Und – also, ich habe Leute. Ich bin alleine, aber ich bin nicht einsam, also – […].« (Frau Rickenbach, P: 234 – 237).
Besonders für Leidende, die sich aufgrund chronischen Krankseins und der damit verbundenen Auswirkungen in schweren, belastenden Lebenssituationen befinden, können Familienangehörige und Freunde lebensunterstützende Weggefährten sein, wenn sie mit Leidenden schwierige Lebensabschnitte zu-
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
rücklegen und sie dabei unterstützen, diese durchzustehen. Bei einigen Kranken gibt die Beziehung zu einem nahestehenden Menschen oder einem Haustier den täglichen Impuls weiterzuleben. Solange sie eine Verantwortung und Verpflichtung gegenüber einem Menschen oder Tier tragen, entscheiden sie nicht einfach, zu sterben. Sie überlegen sich vielmehr, was mit diesem Menschen oder diesem Tier passiert, wenn sie sterben, und stellen deren Versorgung sicher, bevor sie sich entschließen, zu sterben. Folglich können Verantwortungs- und Verpflichtungsgefühle Kranke vom Entscheid abhalten, in Kürze durch Suizidbeihilfe zu sterben, und bedingen, dass sie sich entscheiden, am Leben zu bleiben, bis die Verantwortung übertragen oder beendet ist. 5.1.1.4.2 Die Inexistenz und der Verlust bedeutsamer sozialer Beziehungen Verglichen mit Kranken, die über bedeutsame Beziehungen verfügen, steht alleinstehenden Kranken keine familiäre Unterstützung zur Verfügung. Keine eigene Familie zu haben bzw. spärliche oder fehlende bereichernde soziale Beziehungen können, besonders im Alter und im Falle von schwierigen gesundheitsbezogenen Lebensereignissen, zur Folge haben, dass Kranke das Gefühl erfahren, auf sich selbst gestellt zu sein und mit ihrem Leben alleine fertig werden zu müssen. Frau Rieger : »[…]. Mein Mann ist dann gestorben und dann wurde es natürlich – vielleicht hat es noch ein bisschen mit beigetragen, dass ich sonst ziemlich viel, auch Schweres durchmachen musste. Und plötzlich allein dazustehen ohne Verwandtschaft, also, ohne – meine Geschwister sind alle gestorben. Wissen Sie, wir waren sechs Kinder.« (Frau Rieger, Q: 7 – 8).
Einige Kranke erwägen, ihr Leben unter bestimmten Umständen zu beenden, weil sie ohnehin keine sozialen Beziehungen mehr haben, die sich durch eine besondere Bindung oder starke Verbundenheit auszeichnen, und sie keine Verantwortung und Verpflichtung mehr für andere Menschen tragen. Dieses Erleben gibt manchen das Gefühl, quasi »nur« noch für sich selbst verantwortlich zu sein und sich niemandem gegenüber verpflichtet zu fühlen, weiterzuleben. Die Inexistenz oder der sukzessive Verlust bedeutsamer sozialer Beziehungen kann einen Verlust an sozialem (Rück-)Halt im Leben zur Folge haben. Letzteres kann den subjektiv erlebten Wert des Daseins schmälern und bewirken, dass Kranke ihren Lebenssinn verlieren, was sie dazu veranlassen kann, Kontakt mit einer Suizidbeihilfeorganisation aufzunehmen und irgendwann nicht mehr weiterleben, sondern sterben zu wollen. Zudem tun sich einige Kranke aufgrund ihrer sozialen Ungebundenheit mit der Entscheidung, durch Suizidbeihilfe zu sterben, leichter.
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5.1.1.4.3 Mit nahestehenden Menschen zusammenwohnen Die soziale Lebens- und Wohnform, das Zusammenleben mit geliebten Menschen, jemanden zu haben, der einem beisteht oder in der Nähe von geschätzten Bezugspersonen zu leben gibt manchen Kranken Kraft, mit ihrem Dasein zurechtzukommen und weiterleben zu wollen. Das Leben in sozialer Gemeinschaft ermöglicht, krankheitsbezogene Herausforderungen gemeinsam in Angriff zu nehmen und erlaubt manchen Kranken, auf eine für sie akzeptable Art und Weise weiterzuleben, was sich auf die Bereitschaft und den Willen weiterzuleben förderlich auswirken und zur Folge haben kann, dass manche Patienten ihr Leben bis zu ihrem biologischen Tod zu Ende führen. Hr. Mosimann: »Ja, und jetzt ist die Situation so, solange das – bei mir so ist, wie es jetzt ist, mir ist, das Leben ist mir wohl und – meine Frau guckt gut nach mir, und solange das so ist, kommt Exit nicht infrage.« (Herr Mosimann, C: 52).
Was für den einen eine mit den eigenen Wert- und Präferenzvorstellungen vereinbare Lebensform bis zum Tode ist, stellt für andere eine Lebensform dar, auf die sie sich nur so lange einlassen wollen, bis das Eintreten bestimmter unerwünschter Zustandsveränderungen absehbar wird. Ein Beispiel dafür sind Erkrankte, die aus Rücksichtnahme auf ihre Mitmenschen entscheiden, zu sterben, wenn sich ihr Zustand verschlimmert. 5.1.1.4.4 Alleine wohnen Neben den oben erwähnten Lebens- und Wohnsituationen gibt es auch Kranke, die zwar Familienangehörige haben, aber aufgrund der Umstände alleine wohnen und nicht kontinuierlich von ihren Bezugspersonen versorgt werden. Fr. Sommer : »Ja, ich denke einfach, wissen Sie, die Tochter könnte mich auch nicht pflegen kommen. Und ich könnte auch nicht zur Tochter. Wissen Sie, die hat ein zweites Stockwerk, oder. Und dann hat sie eine Marmortreppe hinauf. Und ohne Geländer und da könnte ich nie alleine hinauf und hinunter. Natürlich hat es unten eine Toilette, oben, Dusche, Bad, Badewanne und Dusche. Wäre gut und recht, hätte ich noch gerne. Aber das würde die Tochter sicher auch belasten und das will ich auch nicht, dass sie immer mit mir die Treppe rauf und runter muss, und mit mir Duschen und – ja, man könnte ja die ambulante Pflege haben, natürlich. – Aber ich weiß, sie hat nicht gerne so alte Leute.« (Frau Sommer, U: 678 – 682).
Ähnlich wie bei Leidenden, die alleinstehend sind und deswegen keine Unterstützung durch Bezugspersonen erfahren, löst auch der Umstand, alleine zu wohnen, das Gefühl aus, allein mit sich und seinem Leben dazustehen und allein zurechtkommen zu müssen, das heißt, alleine zusehen zu müssen, wie man mit seinem Dasein im Kontext chronischen Krankseins und damit verbundenen Entwicklungen zu Hause fertig wird. Im Zusammenhang mit Überlegungen und Entscheidungen Kranker darüber,
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weiterleben oder sein Leben beenden zu wollen, ist auch von Bedeutung, wie Kranke die Qualität ihrer sozialen Beziehungen beurteilen und welche Wirkung daraus resultiert. Manche verfügen über gute, tragende Beziehungen, während andere Beziehungen haben, die konfliktbeladen, wenig unterstützend sind oder ihnen nicht das Erhoffte einbringen. 5.1.1.4.5 Lebensunterstützende Auswirkungen guter, hilfreicher sozialer Beziehungen In schwierigen Lebenssituationen wie Krankheit, gesundheitlichen Einschränkungen und Pflegebedürftigkeit über gute, wohltuende Beziehungen zu verfügen, gibt manchen Erkrankten das Gefühl, dass Menschen für sie da sind, die sie »tragen«. Gut tun Kranken Menschen, die einfühlsam, nett, aufmerksam, liebevoll, diskussionsfreudig, fürsorglich und zuverlässig sind, die sich um sie bemühen, sich für sie engagieren, ihnen ermöglichen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen und sie »nicht hängen« lassen. Beziehungen wie diese bedeuten Zuwendung und ermöglichen, dass sich Kranke begleitet und unterstützt fühlen, dass sie sich in der Obhut anderer Menschen oder an einem Ort gut aufgehoben fühlen, sich von ihrer gegenwärtigen belastenden, krankheitsbedingten Lebenssituation ablenken können, dass sie sich fallen lassen können und sich sicher sind, wieder »aufgehoben« zu werden. Manchen tun vor allem Menschen gut, die Anteilnahme zeigen, praktische Hilfe leisten oder etwas mit ihnen unternehmen. Von bedeutsamen Menschen begleitet zu werden, emotionale sowie praktische Unterstützung zu erfahren, gibt ihnen Mut, Hoffnung und Zuversicht und bewirkt, dass sie sich umsorgt, verstanden und nicht alleine fühlen. Anteilnahme zeigt ihnen, dass sie für andere wichtig sind, was bei ihnen Zugehörigkeitsgefühle auslöst und den Sinn, weiterzuleben, erhält und fördert. Über hilfreiche, kraftspendende, bereichernde, bedeutsame soziale Beziehungen zu verfügen, diese leben, pflegen und mit anderen gute Diskussionen führen zu können, am gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können, mitten im Leben zu sein, das Leben zu sehen und zu spüren, gibt Kranken das Gefühl, in bedeutsamer Gesellschaft zu sein, was ihnen Freude bereitet und ihnen Halt und Kraft geben kann, mit dem Leben weiterzumachen. Gute soziale Beziehungen geben dem Leben einiger Kranker Sinn, da durch sie das Gefühl erfahren wird, noch für etwas zu leben. Fr. Schulthess: »[…] dann muss man sich sagen: Ja, also, für was existiere ich eigentlich noch? Und ich existiere noch – eben, für viele Beziehungen und viele Erfahrungen, immer noch. – […] Ich meine, das ist das, was die Simone de Beauvoir sagt. Solange man Interesse für jemanden hat, oder für etwas, so ist das einfach ein Lebensgefühl, das wichtig ist.« (Frau Schulthess, T: 306).
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Der so erfahrene Lebenssinn bedingt bei einigen, weiterleben zu wollen. Ein gutes Verhältnis zu Bezugspersonen, die gegen Suizidbeihilfe sind, die Leidenden gegenüber ihre Zuneigung ausdrücken und ihnen vermitteln, sie nicht verlieren zu wollen, kann altruistisch veranlagte Kranke von dem Entscheid abhalten, zu sterben. Gute, hilfreiche Beziehungen sind somit wichtige lebensunterstützende Ressourcen. Da soziale Beziehungen aber nicht sämtliche Anliegen chronisch Erkrankter kompensieren können, gibt es auch Fälle, in denen sie »nur« begrenzt oder vorübergehend, das heißt, bis zu dem Zeitpunkt helfen, ab welchem sich der Zustand Kranker mehr und mehr verschlimmert oder anhaltend unerträglich wird. Der Lauf des Lebens bedingt, dass auch beziehungsreiche Kranke Freunde, Angehörige und Bekannte durch den Tod verlieren und ihr vertrauter Freundeskreis sich sukzessive verkleinert. Menschen zu verlieren, mit denen man über Jahre vertraut war, mit denen man über »alles« reden konnte, stellen einschneidende Beziehungsverluste dar und können Gefühle wie die Verbundenheit oder Zusammengehörigkeit mit dem Leben porös werden lassen. 5.1.1.4.6 Lebenserschwerende Auswirkungen unbefriedigender sozialer Beziehungen Neben Kranken, die ihre sozialen Beziehungen positiv erleben, gibt es auch gegensätzliche Erfahrungen. Beispiele für unbefriedigende soziale Beziehungen sind Begegnungen, die in Streitereien enden, Bezugspersonen, die Leidenden nicht die gewünschte Zeit widmen, oder solche, die, wenn sie gebraucht werden, nicht die erhoffte Hilfsbereitschaft erweisen. Fr. Odermatt: »Ich musste für diesen Notrufanschluss, musste ich Kontaktpersonen angeben, die dann, ja, einen Schlüssel haben, zur Wohnung. Einen Schlüssel habe ich bereits hier bei jemandem im Haus. Den habe ich schon länger, nicht im Zusammenhang mit der Krankheit, und dann habe ich eine Nichte angefragt. Die, die Arthrose hat, und sie kannte das und hat gesagt, ja, das kenne ich. Meine Schwiegermutter war ja, ihre Schwiegermutter war ja sehr – gehandicapt und Rollstuhl und also, sie kannte das – die andere Nichte von der ich auch gesprochen habe – die habe ich auch angefragt und – habe gesagt: ›Ich habe einen im Haus und einen bei xy.‹ Und dann hat sie gesagt: ›Ja, könntest du nicht jemanden, der in der Nähe wohnt, fragen, zum Beispiel Fr. xy in der Straße.‹ Und dann habe ich gesagt: ›Ja, also, die habe ich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen und nicht gesprochen, und die ist noch voll berufstätig.‹ Sie ist nämlich Alten-, gelernte Altenpflegerin. Aber das, da wurde mir bewusst, – nein, da hast du eigentlich keine Unterstützung, wenn man so reagiert.« (Frau Odermatt, EII: 274 – 278).
Bezugspersonen, die keine praktische Unterstützung anbieten, keinen lebensförderlichen Beistand oder Rückhalt geben und das Gefühl vermitteln, dass andere ihnen gleichgültig sind, erschweren einigen Kranken die Weiterführung
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ihres Lebens und lassen sie abwägen, ihr Leben zu beenden anstatt weiterzuleben. Auch Beziehungssituationen, in denen Familienangehörige und Bekannte weit entfernt wohnen, familiäre Beziehungen belastet sind, unter Familienmitgliedern nicht offen kommuniziert wird, Kranke sich von Angehörigen nicht verstanden fühlen, kein enges Verhältnis oder Zugehörigkeitsgefühl zu Familienmitgliedern besteht und Familienmitglieder sich gegenseitig nicht um ihr Wohl kümmern, tragen dazu bei, dass Kranke erwägen, ihr Leben zu beenden. Ausgehend von den vorherigen Ausführungen ist festzuhalten, dass der soziale Lebensumstand ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit Entscheidungen darüber ist, weiterzuleben oder sein Leben zu beenden. Entscheidend ist, ob ein Kranker in einer Partnerschaft lebt oder alleinstehend ist, Familienangehörige oder Freunde existieren oder fehlen und ob er mit bedeutsamen Bezugspersonen zusammen oder alleine wohnt. Das Vorhandensein familiärer und freundschaftlicher, sich gegenseitig »tragender« sozialer Beziehungen ist eine wesentliche Voraussetzungen dafür, sozial eingebunden zu sein und Fürsorge sowie Unterstützung erfahren zu können. Im Hinblick auf den Entscheid, weiterleben oder sterben zu wollen, sind allerdings das subjektive Erleben und Beurteilen der Qualität sozialer Beziehungen und deren Nutzen für die Erkrankten der ausschlaggebende Punkt. Ob Beziehungen als gut, hilfreich und unterstützend erlebt werden oder unbefriedigend sind und sich Leidende mit ihrer Lebenssituation und ihren Bedürfnissen allein gelassen fühlen, ist von besonderer Relevanz. 5.1.1.5 Prägende Lebenserfahrungen Warum manche chronisch Kranke bis zum Eintritt ihres biologischen Todes leben und andere mit Gedanken spielen oder dazu entschlossen sind, ihr Leben unter bestimmten Bedingungen durch Suizidbeihilfe zu beenden, lässt sich auch auf die persönlichen Lebenserfahrungen zurückführen. Im Laufe ihres Lebens machen Menschen prägende Erfahrungen in Bezug auf die gesundheitlichen Probleme von ihnen nahestehenden Menschen und deren medizinischer Versorgung. Sie erleben die Gestaltung des Daseins und die Versorgung von Menschen in Alters- und Pflegeheimen und hören eindrückliche Geschichten von kranken, hilfsbedürftigen Menschen. Manche haben Erfahrungen als pflegende Angehörige gemacht und Einsichten in das Sterben und den Tod gewonnen. Sie haben selbst Erfahrungen mit dem Kranksein, mit Krankheitssymptomen, medizinischen Behandlungen und mit der Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen gemacht. Zurückliegende oder gegenwärtige prägende Lebenserfahrungen geben Menschen ein Gefühl dafür, was es heißt, zu leben und zu leiden. Sie sind weitere Beweggründe dafür, warum einige von ihnen entscheiden, unter bestimmten Umständen weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben.
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5.1.1.5.1 Das Erleben der gesundheitlichen Probleme von Bezugspersonen und deren medizinische Versorgung Die persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen bezüglich Krankheitsereignissen und -verläufen, den damit verbundenen Krankheitssymptomen und -zuständen, der Wirkung der medizinischen Versorgung und den damit verbundenen Auswirkungen auf das Dasein eines nahestehenden Menschen lösen bei manchen Erkrankten Überlegungen aus, unter bestimmten Gegebenheiten weiterleben oder sterben zu wollen. Fr. Rieger : »[…]. Und dann kam der Arzt, und dann hat er sie (ihre Schwester) so angeschaut und hat so ein bisschen ––– und dann sagt er : Jaja, Frau xy (Name ihrer Schwester), das wird schon wieder, das machen wir wieder gut. Und sie haben sie nicht mehr bestrahlt. […]. Aber dann ist sie noch fünf oder sechs Wochen im Krankenhaus gewesen. Und nach drei Wochen – sie bekam so eine Infusion mit Schmerzmitteln – und – nach drei Wochen kam ich ja ins Krankenhaus. – Sie war nicht weit vom Lift weg – da habe ich sie schon beim Aussteigen aus dem Lift schreien hören. Dann habe ich sie, – bin ich sofort ins Zimmer, dann hat sie gesagt: ›Sie haben mir die Infusion weggenommen und jetzt habe ich so Schmerzen.‹ Da habe ich gesagt: ›Das gibt’s doch nicht.‹ Habe die Schwester verlangt, die Schwester hat gesagt: ›Das hat der Arzt an – also, –.‹« I: »Angeordnet?« Fr. Rieger : »Ja. Dann habe ich den Arzt verlangt, und dann ist der Arzt gekommen. Da habe ich den Sohn noch angerufen, da ist er dann auch gekommen. Und dann hat der Arzt zu mir gesagt: ›Ja, wissen Sie, mit der Infusion hat Ihre Schwester Wasser auf der Lunge bekommen.‹ Und dann wurde ich so wütend, dass ich gesagt habe – natürlich nicht im Zimmer von meiner Schwester, wir waren also, in einem anderen Raum – habe ich gesagt: ›Wissen Sie, Herr Doktor, Sie wissen ganz genau, dass meine Schwester stirbt, dass Sie am Sterben ist. Spielt das noch eine Rolle, dass sie Wasser auf der Lunge bekommt? Aber es spielt eine Rolle, dass sie keine Schmerzen mehr hat. Und, wenn Sie das jetzt nicht machen, dann hole ich sie heute Abend aus dem Krankenhaus. Ich unterschreibe Ihnen, ich hole sie aus dem Krankenhaus.‹ Und dann ging es keine zwei Stunden, dann hatte sie wieder eine Infusion. Also ich meine, man kann ja – es hat so ausgesehen, wie wenn die sehen wollten, wie lange die das noch aushält. Nein. Also, das hat mir dann alles geholfen.« I: »Also haben eigentlich Ihre Erfahrungen –?« Fr. Rieger : »Ja, genau. Haben mir geholfen, in die Exit zu gehen.« (Frau Rieger, Q: 235 – 240).
Bei einigen Menschen lösen solche Erfahrungen existenzielle Überlegungen aus wie: Wie würde ich das meistern? Was würde ich machen? Würde ich das überhaupt mitmachen oder würde ich mir ein Ende setzen? Gesundheitsprobleme und vererbbare Krankheiten von Familienangehörigen veranlassen Kranke, Schlüsse darüber zu ziehen, wie es vor diesem Hintergrund um ihre Gesundheit steht. Negative Eindrücke und Gefühle im Zusammenhang mit kranken Bezugspersonen lösen Ängste, Bedenken und Besorgnis aus, die Gedanken und Entscheidungen nach sich ziehen, unter ähnlichen Umständen selbst lieber sterben als weiterleben zu wollen. Sie bewirken, dass einige danach
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streben, dass ihnen so etwas nie passiert. Aus Angst vor unerwünschten Entwicklungen haben einige Menschen das Bedürfnis, zu ihrem Schutz Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen. Das Bedürfnis nach Schutz und die Erwägung, sein Leben unter bestimmten Umständen durch Suizidbeihilfe zu beenden, hat manche Menschen bereits veranlasst, Mitglied bei einer Suizidbeihilfeorganisation zu werden, als sie noch gesund waren dazu. 5.1.1.5.2 Erfahrungen als pflegender Angehöriger Manche Personen, die einen ihnen nahestehenden Menschen gepflegt haben, machten dadurch eindrückliche, zum Teil belastende Erfahrungen, indem sie miterlebten, wie sich das physische und psychische Funktionieren ihres Angehörigen durch eine chronische Krankheit veränderte und die Fähigkeiten der selbstständigen Lebensführung abnahmen. Die Folgen solcher Entwicklungen waren zum Beispiel Persönlichkeitsveränderungen, Zurechnungsunfähigkeit, Ausgeliefertsein, Dekubiti sowie damit verbundene Auswirkungen (z. B. Schmerzen oder nicht mehr über sich selbst entscheiden können). Solche Umstände stellen insbesondere für manche Menschen, die zuvor die Rolle als pflegender Angehöriger innehatten, so unerträgliche Daseinsweisen dar, dass sie sich auf keinen Fall selbst erleben möchten, sondern vermeiden wollen. Aus Angst, in eine solche Situation zu geraten, entscheiden sie, den Weg der Suizidbeihilfe einzuschlagen. Sie werden Mitglied bei einer Suizidbeihilfeorganisation, stellen eine Patientenverfügung für sich aus oder gehen noch einen Schritt weiter. Fr. Spörri: ––– »Und eben, als mein Mann so schwer krank war, ich habe ihn ja lange zu Hause gehabt ––– und dazwischen im Krankenhaus wieder und wieder daheim –– und da habe ich gedacht, also – es ist kein Leben, ––– es ist einfach irgendwie. – Gut, mein Mann hat diesbezüglich noch Glück gehabt, er hat immer gesagt, er habe keine Schmerzen. ––– Er hat immer gesagt, er habe keine Schmerzen. ––– Aber ich finde es einfach, wenn man einen Menschen einfach am Leben erhalten will ––– unbedingt ––– das finde ich nicht richtig. Das finde ich nicht gut. –– Und darum bin ich ja dann – mein Mann ist gestorben, 1985 ––– und ich bin dann grad, 1987, in die Exit ––– habe ich mich angemeldet. Ich habe gedacht, also, das muss mir nicht passieren –––.« I: »Mhm. Also, was meinen Sie, das muss mir nicht passieren?« Fr. Spörri: »Ja, dass ich dann nichts mehr sehe und nur noch vollständig ––– auf Fremdes angewiesen bin.« (Frau Spörri, O: 455 – 484).
5.1.1.5.3 Einblicke in die Gestaltung des Daseins und die Versorgung von Menschen in Alters- und Pflegeheimen Aus den Schilderungen mehrerer Kranker geht hervor, dass ihre Einblicke in das Dasein und die Versorgung von Menschen, die in einem Alters- oder Pflegeheim leben, bei ihnen negative Eindrücke und Gefühle hinterlassen haben. Die Ver-
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sorgung von Bewohnern erleben sie nicht als eine fürsorgliche Pflege, sondern als eine abfertigende, rein äußerliche Pflege, die das Ziel verfolgt, Menschen gewissermaßen »einfach« physisch am Leben zu erhalten. Verglichen mit Menschen, die selbst in der Rolle eines pflegenden Angehörigen waren und mit ihrem hilfe- und pflegebedürftigen Angehörigen vertraut waren, kennen Gesundheitsfachpersonen die Bewohner von Alters- und Pflegeheimen meist nicht so gut, dass sie zum Beispiel die Körpersprache nicht mitteilungsfähiger Bewohner richtig interpretieren. Deshalb können auf die Bewohner nicht so eingehen, wie es wünschenswert wäre. Das hat zur Folge, dass eine den tatsächlichen Bedürfnissen entsprechende pflegerische Versorgung der Bewohner möglicherweise ausbleibt. Beobachtungen und Erfahrungen wie diese bewirken bei einigen Menschen, dass sie das Leben in einem Alters- oder Pflegeheim mit einem kümmerlichen Dasein assoziieren. Die Vorstellung, in einem Alters- oder Pflegeheim zu leben, ist für manche so undenkbar, dass sie die Fortsetzung ihres Daseins in so einem Heim nicht als Option für sich sehen. Da sich ihnen vor diesem Hintergrund keine für sie annehmbare Option offenbart, entwickeln sie das Bedürfnis, eine solche Daseinsform zu vermeiden, einer solchen Entwicklung gegenüber vorzubeugen und schützende Maßnahmen zu ergreifen. In der Folge entscheiden sie, Mitglied bei einer Suizidbeihilfeorganisation zu werden und zu gegebener Zeit durch Suizidbeihilfe zu sterben. Hr. Ramsauer : »Ja, das – wissen Sie. Ich hatte großes Glück. Sie (Ehefrau) war sehr lieb, sie war ganz – sie war natürlich immer eine liebe Frau. Und äh, sie war nur still, wurde immer stiller, saß dann da auf dem Stuhl oder da am Fenster, hat hinausgeschaut. Ich habe sie dann, in der letzten Zeit, hab ich – sie konnte mir nicht mehr helfen in der Küche. Ist gar nichts mehr – ist einfach nichts mehr gegangen. Und hat einfach alles über sich ergehen lassen müssen. Und dann nachher im Heim –, äh, ist halt – sie war im xy (Name des Alterspflegeheims). Und es waren gute Leute dort und ich kann ihnen keine Vorwürfe machen. Aber sie haben meine Frau nicht gekannt und ich habe sofort gesehen: Jetzt muss sie abführen, beispielsweise. Und ich konnte ihr helfen dabei. Aber diese Leute – die konnten das nicht, die haben das nicht gewusst.« I: »Die konnten das nicht deuten?« Hr. Ramsauer : »Nein. Ich habe das gespürt. Ich habe das sofort gesehen. Wenn sie so einen roten Kopf bekommen hat und angefangen hat, unruhig zu werden, dann wusste ich: Jetzt drückt es.« I: »Da wussten Sie, was los ist – was sie braucht.« Hr. Ramsauer : »Jaja. Eben, ich habe sie eben gekannt. Und wenn man noch abhängig wird von Leuten, die einen nicht kennen, können sie einem nicht helfen. Sie können – sie helfen – die haben das Beste gemacht, also, sicher, aber sie konnten es nicht. […]. – Es sind, also, 60 Jahre, wo – ich meine Frau jeden Tag gesehen habe. Und wir haben ein sehr reiches Leben gehabt miteinander. Und da kennt man – da weiß man eigentlich – man spürt einfach. Und äh, darum hat es mir so ausgehängt, fast, als ich sie weggeben musste. Weil ich wusste, die machen alles, das Beste. […]. Und, eben, wenn sie dann das erlebt haben an einem Menschen, den sie gerne haben, dann denken sie: so nicht, so ––– und das ist der Grund für Exit.« (Herr Ramsauer, M: 122 – 140).
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5.1.1.5.4 Eindrückliche Geschichten von Kranken Menschen kennen diverse Geschichten über Kranke, die für ihre Erwägung, durch Suizidbeihilfe zu sterben, nicht unerheblich sind. Sie handeln von Leidenden, die sich dazu entschieden haben, durch Suizidbeihilfe zu sterben, und im letzten Moment von diesem Vorhaben zurücktraten oder mit der Umsetzung zögerten und dann schwere Krankheitsereignisse erlitten. Aus Schilderungen von Menschen, die in einem Alters- oder Pflegeheim leben und Gesundheitsfachpersonen gegenüber äußerten, genug vom Leben zu haben, offenbart sich, dass sie bei diesen kein Gehör fanden. Dieses Wissen lässt manche Kranken annehmen, dass ihre Selbstbestimmung im Alters- oder Pflegeheim betreffend die Suizidbeihilfe in Fremdbestimmung münden könnte und dass es womöglich besser ist, vor dem Einzug in ein Alters- und Pflegeheim zu entscheiden, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Geschichten über Menschen, die sich weigerten, sich medizinisch behandeln zu lassen, verdeutlichen, dass solche teilweise zum Sterben abgeschoben und woanders hinverlegt wurden. Aus Erzählungen über Menschen, die sich nicht in eine Institution des Gesundheitswesens begeben wollten, geht hervor, dass sie und ihre Familienmitglieder in der Folge mit der Gestaltung ihres weiteren Daseins quasi allein gelassen wurden. Zudem bringen Aussagen über Verstorbene zutage, dass Gesundheitsfachpersonen nicht immer in Übereinstimmung mit den End-of-Life-Präferenzen von Patienten handeln und dass manche Angehörige nicht zulassen, dass erkrankte Angehörige sterben. I: »Ich habe noch eine Frage zur Patientenverfügung. Warum haben Sie die gemacht? Sie haben gesagt, Sie haben zwei. Eine beim Hausarzt und eine bei Exit, gell?« Fr. Strub: »Ja, weil ich einmal mit dem Hausarzt darüber geredet habe. Und dann hat er gesagt, ja er findet – die von Exit jetzt nicht so gut. Er hätte selbst eine. Und da habe ich gesagt: ›Ja, stellen wir die doch auch noch aus. Mir ist es egal, nach welcher es geht. Und – meistens geht es ja dann trotzdem nicht danach.‹ Weil ich jetzt von einigen weiß, wenn halt dann die Sanität kommt, dann machen sie doch, was sie wollen. Da nützt es dann nichts mehr. Da muss man vorher den Leuten schon sagen: ›Holt dann nicht die Sanität!‹ Da vorne haben sie einen 95–jährigen Mann mit einem Herzinfarkt noch stundenlang wiederbelebt. Das ist absurd, so was. Mit oder ohne Patientenverfügung.« (Frau Strub, AH: 243 – 3 – 244).
Die Quintessenz solcher Geschichten ist, dass bei einigen Kranken Misstrauen und Angst gegenüber medizinischen und sozialen Versorgungskontexten geweckt wurden, woraus der Gedanke entstand, dass ihnen einiges erspart bleiben wird, wenn sie sich zum richtigen Zeitpunkt dazu entscheiden, durch Suizidbeihilfe zu sterben, und dieses Vorhaben auch realisieren.
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5.1.1.5.5 Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Sterben und Tod von Bezugspersonen und deren Auswirkungen Obwohl etliche chronisch Kranke bereits mehrere ihnen nahegestandene Menschen durch den Tod verloren haben und deren Verlust bedauern, schildern sie diesbezüglich eher wenig ausdrücklich positive oder belastende Sterbe- und Todeserlebnisse. Aus einigen Äußerungen geht hervor, dass als angenehm erlebte Sterbe- oder Todesereignisse, wie zum Beispiel ein plötzlicher Tod, bewirken können, dass sie selbst auf eine solche Art sterben wollen. Die Hoffnung, plötzlich auf biologische Art zu sterben, bewirkt, dass Kranke, die Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation sind, sich nicht darauf fixieren, unbedingt durch Suizidbeihilfe zu sterben, sondern diese nur für den Notfall vorsehen. Sterbeund Todesereignisse, die einen fortschreitenden oder vollständigen Verlust bedeutsamer sozialer Beziehungen nach sich ziehen, tragen dazu bei, dass es einige Kranke immer weniger im Leben hält. Der Wunsch, durch Suizidbeihilfe zu sterben, wird auch durch schlechte Sterbe- und Todessituationen (z. B. Schuldgefühle gegenüber Angehörigen, die alleine gestorben sind) ausgelöst und kann dazu führen, Verstorbenen in den Tod folgen zu wollen. Auch miterlebte, für einen selbst unvorstellbare schwierige Leidens- und Sterbesituationen erzeugen erste Gedanken und bringen Entscheidungsprozesse ins Rollen, in bestimmten Situationen durch Suizid(-beihilfe) sterben zu wollen. Fr. Nüesch: »[…]. Und nachher, das mit Exit ist das erste Mal gefallen; ich habe schon gedacht, dass es in die Richtung geht. Er hat ja schon vor Jahren, als seine Freundin an Krebs gestorben ist, da hat er schon gesagt: ›Das passiert mit mir dann nie, wenn ich mal irgendwie so etwas haben sollte, dann gebe ich mir früh genug ein Kügelchen.‹ Das heißt, also, er würde sich – erschießen, wenn mal irgendetwas so in der Richtung sein sollte. Dass er so sterben müsste und so leiden müsste wie seine Freundin dann gelitten hat. Die Frau, mit was ist sie gestorben, mit sechzig, einundsechzig oder so.« I: »Und das war seine Lebensgefährtin?« Fr. Nüesch: »Jaha, und das ist jetzt schon mehr als zehn Jahre her und dann tatsächlich, als ich – die Wohnung ausräumen musste, – das war im – Dezember, Januar, Februar. Da haben wir alles zusammen ausgeräumt, den Keller. Als wir den Keller ausgeräumt haben, ist eine – Pistole hervorgekommen mit Munition, mit allem drum und dran. Aber, eben ––– ja, das hat mir dann schon Gedanken gemacht, und ich bin nicht groß erschrocken, aber dann im September hat er mir gesagt – eben mit dieser Exit – dass er sterben will. Er sieht keine Besserung. […].« (Frau Nüesch, Tochter, AT:16 – 20).
5.1.1.5.6 Eigene Erfahrungen mit Krankheit, Krankheitssymptomen und deren medizinischer Behandlung Menschen verfügen über Krankheitserfahrungen, Erinnerungen an Krankheitssymptome und an deren medizinische Behandlungen und Wirkung. Diesbezügliche zurückliegende positive und negative Erfahrungen stellen ebenfalls Beweggründe innerhalb von Entscheidungsprozessen darüber dar,
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weiterleben oder sterben zu wollen. Der positive Verlauf einer Krankheit, das heißt, der Rückgang oder das Verschwinden von Krankheitssymptomen, die Wiederkehr verloren geglaubter physischer Fähigkeiten und der subjektive Eindruck, sich von Krankheitsereignissen gut erholt zu haben, sind Beispiele für positive Krankheitserinnerungen. Negative Krankheitserfahrungen sind am eigenen Leib erfahrene schwere Krankheiten, schwer zu ertragende oder unerträgliche Symptomerfahrungen (z. B. Schmerzen), das Fehlen eines effektiven Symptommanagements trotz medizinischer Behandlungen und infolgedessen keine ausreichende Symptomlinderung. Anhaltende, belastende Krankheitserfahrungen bringen manchen Kranken an den Punkt, dass er bestimmte Krankheits- und Behandlungserfahrungen zukünftig nie mehr mitmachen will. Sie können der Grund dafür sein, keinen Sinn mehr im Leben zu sehen. I: »Ähm, ––– ja, vielleicht noch, Sie haben ja gesagt, Sie sind schon lange Exit-Mitglied.« Fr. Reber : »Ja.« I: »Was hat Sie ursprünglich dazu veranlasst, äh, vor Jahren, Exit-Mitglied zu werden?« Fr. Reber : »Das war so, weil ich so viel krank war. Ich hatte wirklich Tage, an denen ich mir gesagt habe: Das hat eigentlich alles keinen Sinn mehr. […].« (Frau Reber, N: 176 – 179).
Erfahrungen wie diese rufen Befürchtungen und Ängste vor dem Wiederauftreten von Symptomen oder Komplikationen und daraus resultierenden Auswirkungen hervor. Die Krankheitserfahrungen eines Menschen beeinflussen auch seinen Umgang mit wiederkehrenden oder neu auftretenden gesundheitlichen Problemen. Menschen, die negative Krankheitserinnerungen aufweisen und unerwünschte Krankheitsereignisse zukünftig umgehen oder sich von diesen erlösen möchten, neigen dazu, Mitglied bei einer Suizidbeihilfeorganisation zu werden. Wiederkehrende oder neuauftretende schlimme Krankheitserfahrungen stellen für Mitglieder von Suizidbeihilfeorganisationen Cut-OffPunkte (Schwellenpunkte) für den Entscheid dar, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Ausschlaggebend ist, ob ein Mensch denkt, bei einem schlimmen Krankheitsereignis handle es sich um etwas Vorübergehendes oder um etwas Bleibendes. Wenn die Symptome und deren Auswirkungen bleibenden Charakter haben, ist zentral, ob der betroffene Mensch der Ansicht ist, dass sich sein Zustand noch verschlimmert, die Ärzte seine Symptome in Griff haben oder in den Griff bekommen oder ob gegenüber den Krankheitssymptomen eine gewisse medizinisch-therapeutische Machtlosigkeit besteht. Werden die Symptome aus der Sicht Leidender nicht ausreichend gelindert und macht das Aushalten der Beschwerden für sie keinen Sinn, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Falle einer bestehenden Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation entscheiden, in absehbarer Zeit durch Suizidbeihilfe zu sterben. Die Lebenserfahrungen eines Menschen beeinflussen dessen Einstellungen und Überzeugungen gegenüber Leben, Sterben, Tod, der Suizidbeihilfe sowie
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dem persönlichen Werte- und Präferenzsystem, da bestimmte Lebenserfahrungen das Bewusstsein eines Menschen hinsichtlich (un)gewollter Daseinsweisen schärfen. Infolge prägender negativer Lebenserfahrungen denken einige Kranke daran, mit einer Suizidbeihilfeorganisation in Kontakt zu treten und entsprechende Vorbereitungen zu treffen, um jederzeit entscheiden zu können, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Dabei tragen die Rückkehr und das Andauern positiver oder negativer prägender Lebenserfahrungen zur Bekräftigung und dadurch zur Reifung der Erwägung sowie des Entschlusses bei, weiterzuleben oder zu sterben. 5.1.1.6 Medizinische Kenntnisse Aufgrund ihres medizinischen Wissens und ihrer Erfahrungen werden sich einige Kranke darüber bewusst, was auf sie gesundheitlich noch zukommen kann und was das für ihr Dasein mit sich bringen kann. Kranke, die über medizinisches Fachwissen verfügen, antizipieren ihr zukünftiges gesundheitliches Dasein ihrer Ansicht nach realistisch. Fr. Knauer : »[…]. Ähm, das Schlimme ist ja, dass ich jetzt weiß, dass mein Rücken – also, die – die Wirbel sind so aufeinander, dass da kaum mehr was ist. Und mir hat jetzt mein Hausarzt gesagt, wenn ich wieder falle, ich bin x-mal im Krankenhaus. Die beiden Knie müssten gemacht werden. Die Schultern müssten gemacht werden. Also, ein wandelndes Ersatzteillager im Endeffekt. Ich kenne mich auch zu gut aus. Ich war zu lange im Krankenhaus und weiß, was – was das bedeutet. […].« (Frau Knauer, AK: 120 – 123).
Stehen im Zentrum der Bewusstwerdung ungewollte Daseinsweisen, resultiert daraus bei manchem eine Bestärkung der Erwägung, zu sterben. 5.1.1.7 Einstellungen und Überzeugungen über das Leben, Sterben, den Tod und die Suizidbeihilfe
Überlegungen und Entscheidungsprozesse darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, werden auch durch die persönliche Einstellung und die Überzeugungen betreffend das Leben, das Sterben, den Tod und die Suizidbeihilfe geprägt. Dabei sind die persönlichen Einstellungen und Überzeugungen eines Menschen nicht per se gegeben. Ihr Ausgangspunkt sind zum Beispiel die Persönlichkeitsmerkmale, die Glaubenshaltung und die Lebenserfahrungen eines Menschen. Einstellungen und Überzeugungen beeinflussen sich auch untereinander. So bedingt die Ansicht, dass das Leben nicht per se wertvoll ist, zum Beispiel die Auffassung, dass es nicht richtig ist, Menschen unter allen Umständen am Leben zu erhalten. Persönliche Einstellungen und Überzeugungen existieren nicht für
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sich alleine. Sie wirken auf das Werte- und Präferenzsystem eines Menschen ein, das heißt, das von ihm Gewollte und Ungewollte spiegeln sich in diesem wider. 5.1.1.7.1 Einstellungen und Überzeugungen zum Leben 5.1.1.7.1.1 Überzeugungen zu einem wertvollen oder zu einem nicht mehr lebenswerten Leben Mehrere Kranke sind der Überzeugung, dass der Umstand, »rein« physisch zu leben, nicht per se wertvoll ist, sondern zu einem wertvollen Leben mehr gehört. I: »Mhm. Und seit wann, ––– also, wann sind Sie Mitglied geworden bei Exit? Fr. Strub: »Vielleicht vor zehn Jahren oder so.« I: »Ja. Und was hat Sie damals bewogen?« Fr. Strub: »Ja, als ich sah, dass man das kann, hat mich das sofort überzeugt.« I: »Warum?« Fr. Strub: »Ja, weil ich finde, der Mensch muss nicht einfach so, äh, um jeden Preis am Leben erhalten werden. Ich finde, das Leben hat nicht einfach a priori einen Wert. Natürlich ist es – das Leben ist a priori ein Wert. Aber für mich, finde ich, es muss mehr sein, weder nur einfach, ähm, ––– noch leben.« (Frau Strub, AH: 218 – 223).
Entscheidend ist, wie man lebt. Ein wertvolles, lebenswertes Leben wird damit gleichgesetzt, dass man schmerzfrei ist, denken, seine Lebenszeit außerhalb des Bettes verbringen kann, verlorene Selbstpflegefähigkeiten durch therapeutische Lernprozesse wieder zurückerlangt und in bestimmten besonders wichtigen Bereichen wieder selbstständig wird. Liebe, Freundschaft, Mitgefühl und auf Anteilnahme basierende Beziehungen, eine menschenwürdige Versorgung, sich gut fühlen, andere nicht belasten sowie am Leben teilnehmen können tragen dazu bei, den subjektiv erlebten Wert des Lebens zu erhalten. Als nicht mehr lebenswert wird das Leben beurteilt, wenn zum Beispiel kognitive Funktionen beeinträchtigt sind, man nicht mehr dazu in der Lage ist, sich von seiner Situation abzulenken, oder wenn man von der Willkür anderer abhängig ist. Überzeugungen darüber, unter welchen Umständen das eigene Leben nicht mehr lebenswert ist, schmälern auch das Selbstwertgefühl und lösen die Ansicht aus, in einem solchen Fall nichts mehr wert zu sein. 5.1.1.7.1.2 Überzeugungen darüber, ob das eigene Leben einen Lebensinhalt hat oder nicht Aus den Überzeugungen chronisch Kranker geht hervor, dass zu einem Leben mit Lebensinhalt Aufgaben, Verantwortung und Pflichten gehören, die einen fordern. Fr. Schmid: »Jaja, das ––– ist mir sehr wichtig. Also, ich glaube, wenn ich nur noch am Morgen aufstehe und warte, bis das Frühstück kommt, am Mittag warte, bis ich das Mittagessen bekomme, und am Abend ebenso, und dann ins Bett. Nein, also, das ist für mich kein Leben. Da würde jetzt Doktor xy sagen: ›Ja und dann können Sie in den
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Garten gehen und die schönen Blumen anschauen und das Wasser und so weiter.‹ Aber das ist nicht, ––– das ist schön als Zugabe, aber ––– das ist kein Lebensinhalt.« I: »Was macht für Sie Lebensinhalt aus? Was wäre ––– worauf wollen Sie da nicht verzichten? Oder was wäre für Sie nicht –.« Fr. Schmid: »Aufgaben haben. ––– Ist doch schön, wenn man einmal so wie an den Rand seines Könnens gehen kann. ––– Oder ein Abenteuer, ––– das Gefühl gehabt zu haben: es war nicht immer leicht, aber es war gut. […].« (Frau Schmid, S: 362 – 366).
Darauf zu warten, dass andere einem dabei helfen, alltägliche Grundbedürfnisse aufrechtzuerhalten, stellt für mehrere Kranke einen Mangel an Lebensinhalt dar. Fehlt es Kranken an Lebensinhalt, kann das zur Folge haben, dass sie ihr Leben mit einem sinnlosen Leben gleichsetzen, was bei ihnen Gedanken nach sich ziehen kann, sterben zu wollen. 5.1.1.7.1.3 Überzeugungen zu menschenunwürdigen Daseinsweisen Sich physisch überwiegend in einem gewissermaßen inaktiven Zustand zu befinden, beurteilen manche Kranke als menschenunwürdiger Zustand. Fr. Rieger : »Aber dennoch, ich finde, es gibt nichts Unmenschlicheres, als wenn der Mensch noch da liegt und nicht mehr Mensch ist. […?]. Das ist jetzt mein Glaube. Und mein Glaube war immer so: Wenn du im Leben anständig bist, dann bist du es auch im Sterben. Anständig leben und anständig sterben. Und, was nachher kommt, das –––.« (Frau Rieger, Q: 191).
Zustände, die von Kranken als menschenunwürdig erlebt werden, entsprechen nicht mehr ihrer Überzeugung von einem Dasein als Mensch. 5.1.1.7.1.4 Sein Schicksal tragen müssen Kranke, die mehr oder weniger bewusst entscheiden, weiterzuleben, sind davon überzeugt, dass ihr krankheitsbedingt verändertes Dasein ihr Schicksal ist, dem sie sich ergeben, fügen, das sie annehmen, mit dem sie sich abfinden, das sie aushalten oder mit dem sie leben müssen. Hr. Gubser: »Ja, über was willst du nachdenken? Ich meine, du musst dich jetzt einfach dem Schicksal fügen. ––– Aber, ––– wenn du einfach nichts mehr selbst unternehmen kannst und immer auf Hilfe, Führungshilfe angewiesen bist ––– du kannst nicht einmal alleine das Fleisch schneiden im Teller und so. Ja, was will man da? Ich habe keine Perspektive mehr, oder. Das ist das Problem. Vorher, als ich noch gesehen habe, war ich voller Ideen und wollte dies und jenes machen. Für mich gab es kein Problem. Ich kannte kein technisches Problem und nichts, so. Ich hätte doch alles selbst reparieren können und so. Das geht heute nicht mehr. Wenn Beatrice sagt: ›Du, jetzt geht das oder jenes nicht‹, dann müssen wir irgendjemanden engagieren. Ich kann es nicht mehr und das ist für mich ––– ich habe früher alles selbst gemacht. Ich habe auch das Telefon hier hineingelegt, ich habe das Elektrische in der ganzen Wohnung alles gemacht. Viel –––
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wirklich alles, was man konnte, habe ich selbst gemacht. Und jetzt geht nichts mehr.« (Herr Gubser, AD: 323 – 3 – 328).
Fatalistische Persönlichkeiten sind der Überzeugung, dass ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als ihr Dasein zu ertragen und am Leben zu bleiben. Sie haben zum Teil keine Vorstellung davon, was sie gegen ihre Situation tun könnten. Die Ansicht, sein Schicksal ertragen zu müssen, ist somit ein Faktor, der manche Kranken weiterleben lässt. Andere, die überlegen und entscheiden, ihr Leben zu beenden, charakterisiert, dass sie sich ungewollten Lebensereignissen nicht aussetzen oder fügen wollen. 5.1.1.7.1.5 Man muss dankbar sein, zu leben, und das Leben genießen Zum Teil kursiert unter chronisch Kranken auch die Überzeugung, dass jeder Tag ein geschenkter Tag ist, man über jeden Lebenstag dankbar sein und man das Leben genießen muss, solange man noch existiert. Fr. Egger : »Ja, das ist es. Ich, ich bin sehr lebhaft gewesen, sehr interessiert für alles. Ich hatte überall mitgemacht und an allem Freude gehabt. Und dann plötzlich ist alles weg.« I: »Mhm. Es wird immer weniger, so wie Sie jetzt erzählen, gell?« Fr. Egger : »Ja. Aber es sind jetzt halt doch schon vier Jahre. Andere machen es nicht mehr so lange, wenn sie einen Hirnschlag gehabt haben. Müsste ich eigentlich dankbar sein. Das bin ich vielleicht zu wenig.« (Frau Egger, K: 509 – 517).
5.1.1.7.1.6 Negative Überzeugungen zur medizinischen Versorgung Manche Kranken denken bezüglich bestimmten Behandlungsmöglichkeiten, dass diese Quälerei sind, nicht die gewünschte Wirkung bringen, einem schaden und das Leben aufgrund der Nebenwirkungen nicht mehr lebenswert ist. I: »Und mit Ihrem Hausarzt haben Sie Möglichkeiten besprochen, eben es gäbe ja auch die Möglichkeit, zu sagen, gut, wenn es einem jetzt schlechter geht, dass man Medikamente, Morphium nimmt. Haben Sie das auch diskutiert?« Hr. Schaer : »Ja, er hat mir gesagt. ›Ja, wissen Sie, […] ––– wenn Sie diese Verfügung machen, dann werden sie einfach schmerzfrei gehalten. ––– Man versucht, Sie dann schmerzfrei zu halten.‹ –––« I: »Aber das wäre für Sie auch nicht infrage gekommen?« Hr. Schaer : »Nein. Das wird zunehmend schwieriger […?]. Irgendwann nützt dann auch Morphium nichts mehr […?] nicht so toll. […?] ––– so verladen, dass letztlich das Morphium Sie […?]. Das müsste man dann eigentlich wahrscheinlich im Endstadium –– ich möchte das gar nicht rausfinden.« (Herr Schaer, R: 1255 – 1266).
Gegenüber lebensverlängernden/-erhaltenden Maßnahmen bestehen Überzeugungen, dass diese ohne erkennbaren Sinn oder um jeden Preis nicht sinnvoll sind.
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5.1.1.7.1.7 Keinen Sinn im Aushalten von Leiden sehen Unter chronisch Kranken finden sich auch solche, die keinen Sinn darin sehen, ihr verändertes Dasein bis zum Eintreten des »natürlichen« Todes auszuhalten. Hr. Schaer : ––– »Ich finde es ––– ich rede jetzt absolut subjektiv. Ich finde, es ist vollkommen unnötig, blöd und unverträglich, wenn ich bis zur absoluten Hinfälligkeit warten muss, dass ich da abtreten darf. Was soll der Blödsinn?! ––– […] – es ist volkswirtschaftlich absoluter Blödsinn. ––– Was soll das!? Es besteht keine Aussicht –––.« (Herr Schaer, R: 868 – 874).
Sie entscheiden sich lieber dazu, auf ein entsprechendes Dasein zu verzichten und durch Suizidbeihilfe zu sterben. 5.1.1.7.1.8 Einstellungen zu einem Leben in einer Institution des Gesundheitswesens Dem Leben in einer Institution des Gesundheitswesens gewinnen einige Kranke für sich nichts ab. Zu einem Leben im Alters- oder Pflegeheim bestehen bei ihnen negative Überzeugungen wie beispielsweise, dass das Leben dort deprimierend ist, man dort teilnahmslos ist und abgefertigt wird, dass man mit Menschen zusammen ist, die unzurechnungsfähig oder schwierig sind, dass man ausgeliefert ist und man alles über sich ergehen lassen muss. Fr. Rickenbach: »[…]. Ein Kollege, der Taxichauffeur, hat gefunden: ›Also, äh, das (Suizid) darf man einfach nicht machen. Also, du ––– aus religiösen Gründen.‹ Da habe ich gesagt: ›Komm lass mich in Ruhe. Ich habe nichts zu tun mit Gott, was soll das?‹ Und ich habe ihm dann gesagt: ›Du, sag einmal, wenn ich jetzt in ein Pflegeheim komme, dann ist es –.‹ Ich weiß das aus eigener Erfahrung – am Anfang kommen dich noch viele Leute besuchen. Und dann kommen sie dann vielleicht einmal in der Woche, und dann das nächste Wochenende denken sie dann schon: Ja, nein, heute muss ich noch das und das machen, ich gehe dann nächste Woche zu Petra. Und es zieht sich dann immer mehr und mehr hinaus. Am Schluss kommt nämlich niemand mehr, oder. Und ich bin dann ganz alleine. Und ich habe zu ihm gesagt: ›Schau, ich bin dann die, die dort drin sitzt und irgendwie dahinvegetiert. Du lebst dein Leben weiter, aber ich bin dort und ich vegetiere irgendwie dahin. Und für dich ist nur wichtig, dass ich lebe, aber wie ich lebe, ist dir völlig egal. Also musst du einfach akzeptieren, dass ich das machen will, dass ich so nicht leben will und sonst musst du einfach schauen, wie du irgendwie damit fertig wirst. Weil ich will das machen. Ich werde das machen. Aber alles andere ist dein Problem, weil, es ist mein Leben, und ich entscheide, was ich damit mache, und niemand anders. […].‹« (Frau Rickenbach, P: 297).
5.1.1.7.1.9 Wenn ich nicht auf gewollte Art leben kann, mache ich Schluss Vor dem Hintergrund, dass nicht nur wichtig ist, dass man lebt, sondern wie man lebt, sind einige Kranke der Ansicht, dass sie ihr Leben lieber beenden wollen, wenn sie nicht mehr auf die von ihnen gewollte Art leben können.
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Fr. Schulthess: »[…]. Also, schließlich, wenn man ein Leben gehabt hat, das ausgefüllt war, so muss es eben einmal ein Ende geben. Dass es einfach – also, ich habe einen Bruder, der hat einen Schlag gehabt vor 15 Jahren. Der ist jetzt in einem Pflegeheim. Lange Jahre hat seine Frau sich um ihn bemüht und jetzt ist er im Pflegeheim, und er vegetiert weiter. Der ist gesundheitlich nicht so schlecht dran und das finden wir so entsetzlich, dass man denkt, also lieber sagen: Jetzt habe ich genug.« I: »Also, das wären so auch ein Stück weit dann Gedanken, die Sie sich machen: Was ist, wenn ich dann in so einem Heim wäre?« Fr. Schulthess: »Ja. Ja, dann kann ich eben nichts mehr machen, glaube ich. Da pflegen sie einen aber irgendwie ist das nur noch äußerlich. […].« (Frau Schulthess, T: 164 – 166).
5.1.1.7.2 Einstellungen und Überzeugungen zum Sterben und Tod 5.1.1.7.2.1 Jeder Mensch soll sterben können, wann er will Die Erkrankten vertreten überwiegend die Ansicht, dass jeder Mensch selbst über den Zeitpunkt und die Art seines Sterbens bestimmen und entscheiden dürfen soll. Da man den Menschen hilft, zu leben, stellen sich manche die Frage, warum man dem Menschen nicht auch helfen sollte, sterben zu können. Fr. Spörri: »Aber eben, es sollte also so weit kommen, dass jeder Mensch sterben kann, wenn er will. So weit muss es einfach kommen. […].« (Frau Spörri, O: 1363 – 3 – 1365).
Bezüglich des Sterbens und des Todes existieren Überzeugungen, dass die Beendigung des Lebens einem vieles erspart. Teilweise wird das Sterben als angenehmes Ereignis wahrgenommen, weil es Entlastung und Erlösung von der Krankheit und der ungewollten Art des Daseins mit sich bringt. Die Möglichkeit des selbstbestimmten Sterbens wird als ein Ausweg gesehen, der einem in der Not sowie im Bestehen des Lebens helfen kann. 5.1.1.7.2.2 Über Leben und Tod entscheidet jemand anderes Die Überzeugung, dass der Mensch weder zu bestimmen noch zu entscheiden hat, wann und wie er auf die Welt kommt und von dieser geht, findet sich einzig bei gläubigen chronisch Kranken. Sie sind der Ansicht, dass niemand außer Gott oder eine andere höhere Gewalt zu bestimmen hat, wann der Mensch auf die Welt kommt oder von dieser geht. Hr. Beck: »Ich meine, ich denke über Leben und Tod, da entscheidet jemand anders bei uns. Also, da können wir nicht – da können weder wir noch die Ärzte können das entscheiden. Außer man macht dann Suizid. Aber, das ist ja gar nicht zur Sprache gekommen. Also – von dem reden wir gar nicht. Aber ich denke über Leben und Tod entscheiden ja nicht wir. Das macht jemand anderes und das ist auch gut so, oder?« (Herr Beck, AB: 74 – 76).
In der Folge existiert für Leidende, die mit dieser Vorstellung konform gehen, die Möglichkeit, das eigene Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden, per se nicht, das
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heißt, sie kommen gar nicht auf die Idee, selbst über die Art und Weise oder den Zeitpunkt ihres Sterbens entscheiden zu wollen. Stattdessen leben sie ihr Dasein im Kontext ihrer Krankheit weiter. 5.1.1.7.2.3 Einstellungen und Überzeugungen zur Suizidbeihilfe und Suizidbeihilfeorganisationen Die Möglichkeit der Suizidbeihilfe ist bei manchen Menschen seit Jahren oder nahezu ein Leben lang Thema, das heißt, überwiegend viele Jahre vor dem Auftreten einer chronischen Krankheit. Viele wissen seit Langem, dass es Suizidbeihilfe(-organisationen) gibt. Sie haben darüber gelesen, durch Bekannte davon gehört, die Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation waren und durch Suizidbeihilfe gestorben sind. 5.1.1.7.2.4 Überzeugungen zur Suizidbeihilfe als persönliche Option Die meisten Kranken, die in der Suizidbeihilfe grundsätzlich eine Option für sich sehen, haben weder familiäre Bedenken noch Hemmungen oder Gewissenskonflikte, so zu sterben, und haben sich bereits vor Jahren dazu entschieden, Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation zu werden. Für sie ist die Option, durch Suizidbeihilfe zu sterben, von Vorteil, weil sie in Zukunft nicht auf eine von ihnen antizipierte ungewollte Art und Weise bis zu ihrem biologischen Tod weiterleben wollen. I: »Was wäre für Sie der Vorteil, mit diesem Medikament sterben zu können?« Fr. Schulthess: »Dann müsste ich nicht denken, ich wäre noch abhängig oder ich hätte Schmerzen oder ich müsste weiterexistieren.« I: »Mhm. Existieren.« Fr. Schulthess: »Das wäre eigentlich wirklich der Grund. Aber ich muss gestehen, dass ich es für mich, äh, noch nicht so richtig erfasst habe. Durch das, dass wir miteinander diskutieren, natürlich besinnt man sich und ich bin auch der Ansicht, dass wenn man einfach immer älter wird und immer abhängiger, dass das, äh, ja, irgendwie keine Berechtigung zum Leben ist, eigentlich.« (Frau Schulthess, T: 249 – 245).
Solche chronisch Kranken sind der Ansicht, dass sie lieber durch Suizidbeihilfe sterben, als ein ungewolltes Dasein führen zu müssen. Der Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, ist für manche eine Alternative zu einem ungewollten Leben in einem Alters- oder Pflegeheim. Stirbt man durch Suizidbeihilfe, muss sich niemand mehr mit einem befassen und man fällt niemandem zur Last. Begrüßt wird von solchen Kranken, dass sie mittels der Suizidbeihilfe die Freiheit haben, bestimmen und entscheiden zu können, wie und wann sie sterben. Zu wissen, von der Suizidbeihilfe(-organisation) Gebrauch machen zu können, aber nicht zu müssen, wirkt auf sie beruhigend. Für viele stellt die Suizidbeihilfe den letzten Ausweg aus einer bestehenden oder potenziellen unerträglichen Daseinsweise dar, in der sie keine andere Möglichkeit mehr für
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sich sehen. Die Suizidbeihilfe(-organisation) wird als Bestandteil der »persönlichen Ausrüstung« für den Notfall im Leben gesehen und mit Erlösung gleichgesetzt. Chronisch Kranke entscheiden sich für die Suizidbeihilfe, weil diese sie in die Lage versetzt, mit dem von ihnen gewollten oder aber ungewollten Dasein fertig zu werden. Das Sterben durch Suizidbeihilfe stellen sie sich vorwiegend angenehm und einfach vor, da sie nach ihrer Ansicht bereit sein müssen, zu gehen, und sie nur »Ja« sagen können. Durch Suizidbeihilfe zu sterben, ist für die meisten annehmbarer, als sein Leben auf andere Art und Weise zu beenden. Eine andere Form der Lebensbeendigung kommt für die meisten von ihnen nicht infrage. Eine diesbezügliche Ausnahme ist eine Patientin, die sich aufgrund der von ihr ungewollten, aber bei der Suizidbeihilfe erforderlichen Anwesenheit Dritter dazu entschied, zu gegebener Zeit mit Schlafmitteln Suizid zu begehen, anstatt durch Suizidbeihilfe zu sterben. Einige Kranke haben noch keine endgültige, aber eine eher offene Position gegenüber der Option eingenommen, durch Suizidbeihilfe zu sterben. 5.1.1.8 Das persönliche Werte- und Präferenzsystem Chronisch Kranke, insbesondere solche, die erwägen oder entschieden haben, ihr Leben durch Suizid(-beihilfe) zu beenden, haben klare Ansichten, wie sie sich ihr Dasein vorstellen und welche Daseinsweisen bzw. -konstellationen für sie unvorstellbar und inakzeptabel sind. Es sind die subjektiven Wertvorstellungen, Präferenzen, Wünsche, Bedürfnisse, Abneigungen und Zielvorstellungen eines Menschen, die das persönliche Werte- und Präferenzsystem bilden. In ihm spiegelt sich das von einem Menschen Gewollte und Ungewollte hinsichtlich seines gegenwärtigen und zukünftigen Daseins, seines Sterbens und seines Todes wider. Das Gewollte bilden Faktoren des Daseins, nach denen einige Leidende streben, weil diese für sie bedeutsam sind und ihnen helfen, im Kontext chronischen Krankseins weiterzuleben. Das Ungewollte beinhaltet Faktoren, denen manche Kranke gegenüber abgeneigt sind, weshalb sie diese vermeiden möchten. Die im Weiteren beschriebenen Erläuterungen des Gewollten und Ungewollten zeigen die Zusammenhänge und Folgen zwischen den Werten und Präferenzen Kranker, ihren Überlegungen und ihrem Entscheid darüber, (noch) weiterzuleben oder sterben zu wollen, sowie ihr damit zusammenhängendes Verhalten auf. Zudem wird deutlich, wie das persönliche Werte- und Präferenzsystem durch Persönlichkeitsmerkmale, das Lebensalter, die sozialen Lebensumstände, die Glaubenshaltung etc. beeinflusst wird. Abbildung 27 gibt einen Überblick über die Faktoren, die den Gegenstand des Gewollten und Ungewollten und somit das individuelle Werte- und Präferenzsystem bilden. Die Faktoren werden in den sich anschließenden Kapiteln »Das Gewollte« und »Das Ungewollte« und den diesen zugeordneten Unterpunkten erklärt.
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Das persönliche Werte- und Präferenzsystem Das Gewollte Das Ungewollte Gewolltes hinsichtlich der eigenen geUngewolltes hinsichtlich der eigenen gegenwärtigen und zukünftigen Daseinsgenwärtigen und zukünftigen Daseinsweise weise – Auf gewollte Art und Weise leben – Auf ungewollte Art und Weise leben – Am gewollten Ort wohnen und leben – An einem ungewollten Ort leben – Auf gewollte Art durch Gesundheits– Auf ungewollte Art medizinisch verfachpersonen versorgt werden sorgt werden – Sich gut aufgehoben wissen und fühlen – Der Verlust der Selbstbestimmung, Zu– Entscheidungsfreiheit und Selbstberechnungs- und Urteilsfähigkeit stimmung im Leben und Sterben haben – Weitere gesundheitliche Verschlechteund behalten rungen und damit einhergehende Be– Niemanden belasten, niemandem zur einträchtigungen auf sich nehmen Last fallen, Rücksicht auf andere neh- – Niemanden belasten wollen men – Gewolltes aufgeben – Sich ungewollte Umstände ersparen – Es so weit kommen lassen, dass einem und/oder von diesen erlöst werden etwas Ungewolltes zustößt – Sicherheit haben, auf ungewollte Ent– (Noch lange) Weiterleben wicklungen vorbereitet zu sein – Weiterleben (solange es für einen selbst geht) – Noch bestimmte letzte Dinge tun Ungewolltes hinsichtlich des eigenen LeGewolltes hinsichtlich des eigenen Lebensendes und Sterbens bensendes und Sterbens – Auf ungewollte Art sterben – Auf gewollte Art sterben können – An einem gewollten Ort sterben können – An einem ungewollten Ort sterben – Gehen können, wenn das Gewollte ab- – Am Sterben gehindert werden nimmt und/oder das Ungewollte näher – Über das eigene Sterben entscheiden – Zu einem ungewollten Zeitpunkt sterrückt ben – Lieber durch Suizidbeihilfe sterben als auf ungewollte Art und Weise weiterle- – Andere durch einen Suizid erschrecken – Ärzte wegen seines Vorhabens, durch ben müssen Suizidbeihilfe zu sterben, in eine – Die Möglichkeit haben/behalten wollen, schwierige Lage bringen aus dem Leben gehen und sterben zu – Hürden überwinden müssen, um durch können Suizidbeihilfe sterben zu können – Zur gewollten Zeit sterben können – Offen über das Sterben und Suizidbei- – Warten, bis es für das Sterben durch Suizid(-beihilfe) zu spät ist hilfe sprechen können und/oder sein – Wegen Suizidbeihilfe ins Gerede komVorhaben verheimlichen men und/oder von Außenstehenden – Den Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, zum gewünschten Zeitpunkt bedrängt werden – Seinen Entscheid aufgeben, durch Suidurchführen können und seine Entzid(-beihilfe) zu sterben scheidungsfähigkeit nicht gefährden – Aus dem Leben gehen und/oder Schluss – Seinem Leben ein Ende setzen und sterben machen respektive sterben – Seinen Entscheid durch Suizidbeihilfe – Etwas anderes als in Kürze durch Suizu sterben, beibehalten und durchstezidbeihilfe sterben hen
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Fortsetzung Das persönliche Werte- und Präferenzsystem Das Gewollte Das Ungewollte Gewolltes nach Eintreten des Todes – Anderen etwas von sich hinterlassen Abbildung 27: Faktoren des Gewollten und Ungewollten
5.1.1.8.1 Das Gewollte Das Gewollte hat aus der Sicht chronisch Kranker zum Gegenstand, wie sie leben und wie sie sterben wollen. Unter dem Gewollten werden Faktoren dargelegt, die für Leidende wichtig sind und gegeben sein müssen, um auf die von ihnen gewollte Art und Weise leben und sterben zu können. Die Faktoren beziehen sich auf das gewollte gegenwärtige und zukünftige Dasein, das Lebensende sowie auf den postmortalen Zustand. 5.1.1.8.1.1 Gewolltes hinsichtlich der eigenen gegenwärtigen und zukünftigen Daseinsweise 5.1.1.8.1.1.1 Auf gewollte Art und Weise leben Für die Mehrheit chronisch Kranker ist es wichtig, auf die von ihnen gewollte Art und Weise leben zu können. Sie wollen und brauchen physisch und psychisch Kraft, um mit ihrem täglichen Leben fertig zu werden. Einige betonen, dass sie funktionsfähig, bei Kräften und bei Bewusstsein sein und bleiben wollen, da eine Voraussetzung, um durch Suizidbeihilfe sterben zu können, ist, dass man über einen klaren Verstand verfügt. Das heißt, man muss zurechnungs- und urteilsfähig sein. Plötzlich nicht mehr über sich entscheiden zu können, stellt daher aus der Sicht Kranker eine Gefahr für die Möglichkeit dar, durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen. Zugleich wird ein klares Bewusstsein als Voraussetzung dafür gesehen, da sein zu können. Wenn sie nicht mehr klar denken können, hat das Leben für einige keinen Sinn mehr. Kranke wollen kommunizieren können, schmerzfrei sein, sich gut und wohlfühlen. Sie wollen in interessanter Gesellschaft sein, Beziehungen pflegen und Gespräche führen können. Bei vielen kommt ihr Wille, ihre Selbstständigkeit zu erhalten, zum Ausdruck. Sie wollen unabhängig bleiben und so viel wie möglich selbst machen. Sich nicht mehr selbst versorgen zu können, ist für mehrere ein Motiv, sterben zu wollen. Sie haben klare Vorstellungen über die von ihnen gewünschte Lebensqualität. Sie wollen sich mit etwas beschäftigen, das ihnen Freude bereitet, etwas arbeiten oder unternehmen können. Sie wollen in die Natur, auf teilnehmende Art in der Welt existieren und Einfluss nehmen. Manche betonen, dass sie Leben um sich herum brauchen und sie mit gesunden, aktiven Menschen zusammen sein
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wollen. Ihr Leben muss für sie lebenswert sein. Sie wollen Erleichterung ihrer physischen Beschwerden erfahren und mehr Lebensqualität haben. Wie das folgende Zitat verdeutlicht, wollen chronisch Kranke nicht einfach »nur« leben, sondern etwas vom Leben haben und ihre Lebenszeit auf eine für sie zufriedenstellende Art verbringen: Hr. Mosimann: »Es geht ja nicht darum irgendwie da – künstlich das Leben zu verlängern – um jeden Preis, sondern ––– es geht mir darum, die Zeit, die ich noch lebe, das irgendwie auf anständige Art und Weise zu verbringen, und ja, nachher ist es einfach fertig.« (Herr Mosimann, C: 289).
5.1.1.8.1.1.2 Am gewollten Ort wohnen und leben Vielen Kranken ist es wichtig, in ihrer gewohnten Umgebung, dort, wo sie sich wohl und aufgehoben fühlen, leben und bleiben zu können. Für viele ist das ihr gewohntes Zuhause: Fr. Trüb: »[…] die Ärztin hat dann auch angeboten, die lehnt das (Suizidbeihilfe), also, mehr oder weniger, mhm, ja, ab.« I: »Die Hausärztin?« Fr. Trüb: »Ja, ja. Sie hat dann zwar das Rezept ausgestellt, weil mein Mann hat dann längere Zeit mit ihr diskutiert – aber sie sagt, ja, eben heute hat man auf der medizinischen Seite auch die Möglichkeit, eben, schmerzfrei zu leben. – Aber mir ist nicht nur das Schmerzfreie, ich möchte, eigentlich möchte ich auch in meinem Bereich bleiben. Also, da ins Krankenhaus und da angehängt werden, an den Tropf und dann – ja, Schmerzmittel da durch den Tropf kriegen und dann liegst du und liegst und liegst und das ist nicht meine Philosophie und also, da sage ich dann auch lieber ein halbes Jahr früher, als dann da lange liegen.« (Frau Trüb, W: 80 – 82).
Die eigene Wohnung ist von besonderem Wert, da diese die gewohnte, vertraute Umgebung darstellt und es sich finanziell nirgendwo so günstig wohnen und leben lässt. Andere wollen in ihrem Wohnquartier bleiben, können sich aber vorstellen, in eine dortige Institution des Gesundheitswesens zu ziehen. Manche wählen ihren Lebensort bewusst danach aus, was für ihre gegenwärtige Lebenssituation praktisch ist, und entscheiden zum Beispiel, in ein Palliativzentrum zu gehen. Kranke, die entschieden haben, ihr Leben in einer Institution des Gesundheitswesens zu verbringen, wollen wissen, dass sie dort, wo es ihnen gefällt, weiterleben und wohnen bleiben können. Andere wollen die Gewissheit haben, dass sie zur Not von dort wieder weggehen können. Solche, die in einer Institution des Gesundheitswesens leben, bevorzugen mehrheitlich ein eigenes Zimmer, wo sie sich wohlfühlen und für sich sein können. Sie wollen mit Menschen zusammenleben, mit denen sie sich wohlfühlen. Insbesondere wenn sich fremde Menschen ein Zimmer teilen müssen, ist von Bedeutung, ob sie sich sympathisch sind. Mehrere Erkrankte, die in ihrem Zuhause wohnen bleiben wollen, ziehen es vor, ihr Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden, da sie nicht in einer Institution des Gesundheitswesens leben wollten.
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5.1.1.8.1.1.3 Auf gewollte Art durch Gesundheitsfachpersonen versorgt werden Den Kranken ist es wichtig, auf die von ihnen gewollte Art von Professionellen versorgt zu werden. Kranke, die in einer Institution des Gesundheitswesens leben, haben genaue Vorstellungen davon, wie sie dort betreut werden möchten. Wesentlich ist für sie zum Beispiel, dass sie sich mit den Angestellten in ihrer Muttersprache verständigen können, das heißt, dass das Betreuungspersonal Deutsch versteht und spricht. Manche möchten jemanden an ihrer Seite haben, wenn es ihnen schlecht geht und sie traurig sind. Andere wünschen sich eine kontinuierliche Bezugspflegeperson. Sie wollen Betreuungspersonen, die machen, was sie ihnen sagen, und die Anteil nehmen. Wichtig sind Ärzte, die schauen, ob man noch etwas machen kann, und sie nicht im Stich lassen. Die Kranken wollen eine gute, professionelle, pflegerische Versorgung erfahren, die sich durch einen menschenwürdigen, wertschätzenden Umgang mit ihnen und eine einwandfreie Pflege auszeichnet. Dazu gehört, dass Pflegefachpersonen die Bedürfnisse Kranker erfassen und diesen nachkommen und Kranke die Ekelgefühle von Pflegefachpersonen nicht miterleben müssen. I: »Was löst das denn bei Ihnen aus, wenn jemand Junges kommt und Sie putzt und Sie spüren, da ist irgendwo Ekel? Wie ist das für Sie?« Hr. Arnold: »Was ist das für mich, wenn ich das spüre, dass ich nicht sauber bin und dann erst sehe, wenn der Kot in der Einlage ist und ich einen entzündeten Hintern habe? – und mich dann nicht wehren kann – was nützt, was – was ist denn das? ––– Ich wünsche ihnen das nicht, dass Sie jemals in diese Lage kommen. – Ich wünsche das keinem, – keinem Feind, keinem Feind. – Jeder Mensch hat Freunde und Feinde – aber das wünsche ich keinem, so was. […].« (Herr Arnold, A: 423 – 3 – 428).
Manche Patienten betonen, dass Gesundheitsfachpersonen mit ihnen angemessen kommunizieren, sie aufklären und informieren sollen, da sie die Wahrheit über ihre Krankheit und deren Verlauf wissen wollen. Andere wollen keine Behandlungsmaßnahmen mit ungewissem Ausgang mitmachen. 5.1.1.8.1.1.4 Sich gut aufgehoben wissen und fühlen Leidende, die sich in die Obhut einer Institution des Gesundheitswesens begeben, wollen hinsichtlich ihrer pflegerischen und medizinischen Versorgung sowie ihres Lebensortes in guten Händen sein und sich gut aufgehoben wissen und fühlen. I: »[…]. Sie haben dann von Palliative Care erfahren, wo haben Sie davon erfahren oder welche Bedeutung hatte das für Sie, als Sie davon gehört haben?« Fr. Kirchhofer : »Ja ––––– (seufzt), ich weiß gar nicht mehr, wo ich davon gehört habe. ––– Also, ganz genau, was es ist, habe ich dann schon erst im xy (Name des Krankenhauses), als ich von der Kur zurückkam, gehört. Aber – irgendwie – ich glaube im xy (Name eines anderen Krankenhauses) hatte ich mal mit einer Pfarrerin gesprochen über die Möglichkeit, keine Chemo zu machen und einfach an einen Ort zu gehen wie das xy (Name
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eines Hospizes).« I: »Also, in ein Hospiz?« Fr. Kirchhofer : »Und die hat dann das Palliativzentrum erwähnt und hat mir auch gesagt, es hätte einen sehr guten Film darüber gegeben. – Ich habe den zwar noch nicht gesehen, aber trotzdem und ich habe mir dann gedacht, ich bin Einwohnerin von xy (Wohnortname) und, also, kann ich mich ja mal darum kümmern und – es hat einen guten Ruf. ––– Und dann habe ich mich mal darum gekümmert und dann wurde zufälligerweise so rasch etwas frei – und ja.« I: »Ja – und dann konnten Sie hierher.« Fr. Kirchhofer : »Und für mich hat es einfach die Bedeutung, ich – muss ja nicht dableiben, ich kann ja, wenn es mir wirklich gut ginge, kann ich wieder raus, kann ich wieder irgendwo anders wohnen. Ich bin ja jetzt nicht eigentlich hier – verurteilt zu sterben, wenn es anders geht. Aber ich bin hier, wenn es so sein sollte, gut aufgehoben. Das war mir ein Anliegen.« (Frau Kirchhofer, B I: 196 – 204).
5.1.1.8.1.1.5 Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung im Leben und Sterben haben und behalten Ihre persönliche Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung stellt für viele Kranke bedeutsame Gegebenheiten dar, die sie im Leben sowie im Sterben leben und bewahren möchten. Insbesondere solche, die selbstbestimmt sind und ein Bedürfnis nach Kontrolle haben, die Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation sind und die einen Weg darin sehen, ihr Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden, wollen die Freiheit haben, wählen und entscheiden zu können, wann und wie sie aus dem Leben gehen. Aus diesem Grunde treffen einige Vorkehrungen, indem sie eine Patientenverfügung ausstellen. Die Selbstbestimmung und die Entscheidungsfreiheit ist auch bei medizinisch-diagnostischen und therapeutischen Behandlungsentscheidungen relevant. Sie wollen selbst entscheiden, was sie medizinisch-therapeutisch machen lassen und was andere mit ihnen machen dürfen. Hr. Ramsauer : »Ja, das ist das gewesen. Also, das ist so ungefähr meine Krankheitsgeschichte. Und aus dem heraus sehen Sie einfach, dass ich im Moment, wo ich nicht mehr über mein Leben selbst verfügen kann, will ich abtreten. Ich will nicht, dass sich Leute jahrelang um mich kümmern müssen und ich einfach weiterexistiere, aber nicht mehr da bin.« (lacht) I: »Also, was macht es für Sie aus da zu sein? Was gehört für Sie dazu?« Hr. Ramsauer : »Ja, für mich – was gehört dazu? Eben, das Entscheiden darüber, was ich tue und mache. Wenn ich das nicht kann, – äh – ich meine, ein Tier lebt einfach. Aber so kann ich, – könnte ich nicht leben. – Ich kann es nicht ausdrücken, eigentlich. – Ich will über mich verfügen können. Ich will entscheiden können. Das mache ich oder das mache ich oder das lasse ich zu oder das lasse ich nicht zu. Aber, wenn ich nur einfach als, äh, – eben, ich habe das bei meiner Frau erlebt wie das etwas Furchtbares ist, wenn man entpersönlicht ist.« (Herr Ramsauer, M: 116 – 120).
Sie wollen bestimmen können, wann sie genug vom Leben haben, entscheiden können »Jetzt ist Schluss!«, und das zur Suizidbeihilfe eingesetzte tödliche Präparat (Natrium-Pentobarbital) dann zu sich nehmen können, wann sie es
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wollen. Einige erwarten, dass ihre Bedürfnisse und Wünsche, das heißt, ihr Wille bezogen auf ihr Leben und Sterben, von anderen respektiert werden. Manchen ist es wichtig, dass andere sie unter bestimmten Umständen sterben lassen oder für sie »Schluss machen«, wenn sie selbst nicht mehr für sich entscheiden können. 5.1.1.8.1.1.6 Niemanden belasten, niemandem zur Last fallen und Rücksicht auf andere nehmen Mehrere Kranke wollen weder ihnen nahestehende Menschen noch andere mit ihrem Leben auf physische, psychische oder finanzielle Art belasten. Sie wollen ihre Angehörigen schonen. Hr. Schaer : »[…]. Ich möchte dann abtreten, wenn ich aus Rücksichtnahme ––– auf meine liebe Frau, der wirklich überhaupt nichts zu viel ist. Sie läuft mir viel zu viel nach. Sie holt mir viel zu viel über die Treppen und – und ich kann nicht mehr so viel Treppen steigen im Moment. ––– Ich möchte nicht, dass ich für meine Frau – einen Zustand bilde, der sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit oder darüber hinaus bringt. – Um dazu dann ein Krankenhaus zu benutzen, ––– und es kommt dann einfach auch – es ist volkswirtschaftlich absoluter Blödsinn. ––– Was soll das!? Es besteht keine Aussicht. – Und es entstehen mit einem Apparat Kosten, die eigentlich überhaupt nicht zu tragen sind, und es besteht ––– eine Platzoccupation, wo andere ––– mit anderer Ausgangslage durchaus diesen Platz brauchen könnten. Nicht drankommen, weil da einer wartet, bis die Augen zugehen. Was soll der Blödsinn?! Jetzt dürfen Sie mir jede Gegenfrage stellen. Das ist mein Grund, dass ich sage: Ich entscheide, wann ich das Barbiturat einnehmen will.« (Herr Schaer, R: 868 – 880).
Einige wollen ihren Bezugspersonen ermöglichen, ihr eigenes Leben zu führen, und ihre Angehörigen entlasten. Manche ziehen es vor zu sterben, weil durch ihr Weiterleben ihrer Ansicht nach nur unnötige Kosten anfallen würden. Einen positiven Nebeneffekt sehen Sterbewillige auch darin, dass sie anderen Kranken, die eine bessere Ausgangslage als sie selbst haben, durch ihren Tod im Krankenhaus oder im Altersheim Platz machen. Das Bedürfnis, niemanden zu belasten und auf andere Rücksicht zu nehmen, stellt bei manchen Leidenden ein begleitendes Motiv dar, sterben zu wollen. 5.1.1.8.1.1.7 Sich ungewollte Umstände ersparen, von diesen Ruhe bekommen und erlöst werden Mehreren chronisch Kranken ist es ein Anliegen, sich diverse selbst antizipierte oder von Gesundheitsfachpersonen antizipierte ungewollte Entwicklungen und Umstände ersparen und sich von bestehenden, ungewollten Zuständen befreien zu können. I: »Und, so andere Lebensformen, wie jetzt mit Unterstützung oder in einem Alterszentrum, können Sie sich das vorstellen für sich?« Fr. Knauer : »Nein. Nein eben nicht.
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Nein. Nein, ich sehe – da oben, gar nicht weit von mir, im schwarzen, so Backsteingebäude sind Pflegewohnungen eingerichtet worden. Und da bin ich – ich bin ja immer schwimmen gegangen. Und jetzt kann ich ja nicht mehr. […]. Und dann habe ich diese Leute gesehen. Die saßen da auf ihren Balkonen. Da habe ich eben gedacht: Nein. Die können – die geben da auch Rollstühle – ich kann ja nirgends mehr hingehen. Und dann einfach sitzen und warten, bis der Tod kommt. […]. Ich möchte das nicht – dasselbe haben. […]. Ich möchte das einfach nicht. Ich habe aber schon früher immer gesagt, ich werde nicht alt. Irgendwie habe ich das gespürt. Es ist mein Weg. Es ist ganz bestimmt mein Weg. Sonst würde ich auch nicht so – so leicht gehen. Andere, die denken immer : Ja, jetzt nehme ich mir halt das Leben, wenn (betont) – aber bei mir ist das ganz klar. Es gibt keine Alternative.« I: »Und was hat Sie dazu bewegt, zu sagen, jetzt ist der richtige Zeitpunkt zu gehen? Wieso jetzt?« Frau Knauer : »Diese Hüfte, die nicht in Ordnung war. Die hat mich dazu bewegt, zu sagen: So nicht mehr. Also, es hieß, die muss wieder operiert werden. Und als mir mein Arzt sagte, die Knie sind dann nachher auch fällig. Das waren so die Dinge, die mich eigentlich dazu bewegt haben. Und die Schmerzen im Rücken, die immer stärker wurden. Es ist nicht nur eins. Es sind – ja.« I: »Hat es dann noch damit zu tun, zu sagen, ja, so -, wenn Sie jetzt gehen, auf der einen Seite sich von den Schmerzen zu befreien oder loszulösen?« Fr. Knauer : »Ja, sicher. Dass ich keine Schmerzen mehr haben werde, finde ich toll […].« (Frau Knauer, AK: 398 – 413).
Neben Schmerzen oder ausstehenden Operationen wollen solche Kranken von sich fernhalten, in Zukunft auf den Rollstuhl angewiesen zu sein oder in eine Situation zu geraten, in der sie den Rest ihres Lebens in einer Institution des Gesundheitswesens verbringen müssen. Andere wollen von ihrer Krankheit und der Art ihres Daseins erlöst werden. 5.1.1.8.1.1.8 Sicherheit haben gegenüber ungewollten Entwicklungen, vorbereitet und abgesichert zu sein Etliche Kranke beschäftigt, was mit ihnen passieren wird, das heißt, wohin sie ihr Dasein im Kontext chronischen Krankseins führen wird. Ausgelöst durch derartige Fragen haben sie das Bedürfnis, gegenüber ungewollten Gegebenheiten und dem Eintreten oder Fortschreiten ungewollter Entwicklungen etwas in der Hand zu haben, das sie bei Bedarf zu gegebener Zeit anwenden können. Das Bedürfnis, vorbereitet zu sein, veranlasst chronisch Kranke dazu, für den Fall, dass sich ihr gesundheitlicher Zustand verschlechtert und sie irgendwann nicht mehr leben wollen, vorzusorgen und diesbezügliche Notwendigkeiten zu erledigen, solange es ihnen noch gut geht. Viele wollen nicht lediglich ihr Leben, sondern auch ihr Sterben und ihren Tod organisiert wissen. Manche wollen Gewissheit haben, dass sie, wenn es ihnen einmal schlecht geht, an Mittel kommen, um sich das Leben nehmen zu können. Sie wollen Sicherheit haben, gegenüber ungewollten Ereignissen alles Erforderliche vorbereitet zu haben, um irgendwann durch Suizidbeihilfe sterben zu können.
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Hr. Ramsauer : »Also, die Aneurysmaoperation, die hat mich, also, sehr stark zurückgebracht. Und, weil mir die Ärztin gesagt hat, ich neige zu Multiinfarkten, ist nun die Gefahr groß, dass ich plötzlich nicht mehr über mich selbst entscheiden kann.« I: »Ja.« Hr. Ramsauer : »Nicht. Und darum habe ich dann bei der Ärztin auch diese Patientenverfügung gemacht und mich gleichzeitig bei Ihnen angemeldet.« I: »Also, nicht bei mir. Ich komme nicht von Exit.« Hr. Ramsauer : »Nein, also bei.« – I: »Bei der Sterbehilfeorganisation.« Hr. Ramsauer : »– Bei der – bei der – Firma. Also, bei der –.« – I: »Bei Exit.« Hr. Ramsauer : »Exit. Bei Exit. So habe ich das Menschenmögliche gemacht. Dass, wenn irgendwas, – wenn ich nicht mehr selbst entscheiden kann, dass –. Ich will nicht – ich will nicht abhängig werden von – und lange – also, einfach vegetieren. Das will ich nicht. Wenn ich nicht mehr entscheiden kann, dann macht man Schluss.« (Herr Ramsauer, M: 96 – 106).
5.1.1.8.1.1.9 Weiterleben (solange es für einen selbst noch geht) Neben chronisch Kranken, die grundsätzlich mit ihrem Leben weitermachen, die das Leben noch genießen und ihren Willen zu leben nicht verlieren wollen, finden sich auch jene, die nur so lange weiterleben wollen, wie es für sie tolerabel ist. Fr. Rickenbach: »[…]. Man sieht mir einfach nichts an, aber die Strapazen – ich meine, die sitzen in mir drin, und die sitzen tief, und – ich bin heute einfach so weit, dass ich sage: Ich will leben, aber ich will nicht mehr zu jedem Preis leben. Also, es gibt einen gewissen Punkt, wo ich sagen muss: So weit und nicht weiter. Wo ich dann einfach sagen muss: Nein, da hört es auf. […].« (Frau Rickenbach, P: 174).
5.1.1.8.1.1.10 Noch bestimmte letzte Dinge tun Einige Kranke wollen in ihrem Leben noch bestimmte Dinge tun, für die sie noch etwas Zeit brauchen. I: »[…]. Aber Sie sind jetzt schon so eingestellt, dass Sie noch leben möchten? Oder wie ist das? Wie erleben Sie das?« Fr. Sommer : »Ja, bis im Mai schon.« I: »Einfach nur bis zum Mai?« Fr. Sommer : »Ja, ja. (lacht). Da muss man also schon fast lachen, aber es ist so.« I: »Ja. Das ist für Sie einfach so ein fixer Zeitpunkt?« Fr. Sommer : »Ja, ja. Die Weihnachten sind vorbei, ich konnte die Geschenke noch machen. Und nachher die xy – die Lehrerin heißt xy, – die hat auch im Januar Geburtstag. Der könnte ich auch noch das Geburtstagsgeschenk – sie bekommen immer hundert Franken und die obere, die hat im September. Ja, die hat jetzt dann gleich. Dann muss ich da hundert Franken, ja nicht vergessen. Die Tochter auch. Das habe ich einmal vergessen. Hat sie mir aber vorgehalten.« (Frau Sommer, U: 717 – 722).
Manche, die beabsichtigen, durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen, sind der Meinung, vorher aufräumen zu müssen, weil sie geplant haben, zu sterben. Sie wollen persönliche Gegenstände entsorgen, finanzielle und erbrechtliche Angelegenheiten ordnen, sich noch einmal mit Menschen treffen, die ihnen etwas bedeuten, oder wollen sozusagen ein verborgenes Abschiedswiedersehen
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veranstalten. Solange sie noch bestimmte Dinge tun wollen, nehmen sie sich die Zeit dafür und bleiben nach Möglichkeit auch so lange am leben. 5.1.1.8.1.2 Gewolltes hinsichtlich des eigenen Lebensendes und Sterbens 5.1.1.8.1.2.1 Auf gewollte Art sterben können Mehrere chronisch Kranke haben genaue Vorstellungen davon, wie sie gerne sterben wollen. Gewünscht ist beispielsweise eine gute, menschenwürdige Situation zum Sterben. Sie wollen vermeiden, schrecklich zu sterben, oder wollen ihr Sterben abkürzen können. Vielen wäre es am liebsten, wenn sie auf biologische Art möglichst plötzlich, schnell sterben könnten, ohne selbst nachhelfen zu müssen. Sie wollen anständig, schmerzlos, schön, ruhig, friedlich und einfach sterben und stellen sich vor, »ein Tränklein« zu nehmen und einzuschlafen. Mehrere wollen das Wie ihres Sterbens bestimmen. Dieses Bedürfnis lässt sie dafür sorgen, dass ihr Sterben geregelt ist und sie wie von ihnen geplant sterben können. Während manche bevorzugen, alleine zu sterben, wollen andere in Gesellschaft sterben und ihre Bezugspersonen bei sich haben. Die Gestaltung des Sterbens durch Suizidbeihilfe stellen sich einige so vor, dass sie Musik hören oder dass sie mit den Anwesenden noch reden. Es gibt aber auch solche, die Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation sind, für die das biologische Lebensende Vorrang gegenüber dem Sterben durch Suizidbeihilfe hat. Fr. Rieger : »Wissen Sie, ich habe das später – im Moment war’s für mich ja furchtbar. Ich wurde mit meinem Mann noch – ähm, – wir haben nichts zu Mittag gegessen, da habe ich gedacht: Ja, wir gehen jetzt ein Stück. – Es war so schönes Wetter – und dann gehen wir etwas essen. Und dann kamen wir nicht mal mehr in die xy-Straße – ist er zusammengefallen. Da hat mir jemand geholfen, ihn dort ins Caf¦ zu bringen. Und dann wollte ich eigentlich ein Taxi nehmen, da er hat gesagt: Ach, ich kann schon noch nach Hause. Aber er musste zwischendurch dreimal, viermal absitzen. Und wir kamen hier ins Haus und er hat einen Herzinfarkt gemacht. – Ich habe das – an das habe ich überhaupt nie gedacht, und im Moment war’s sicher furchtbar. Aber nachher habe ich bei mir gedacht, es ist für ihn eigentlich noch schön gewesen, dass er noch so schnell sterben durfte – bevor er mich nicht mehr gekannt hätte. Bevor er gar nicht mehr gewusst hätte, wer er ist.« I: »Und für Sie auch?« Fr. Rieger : »Für mich eben auch.« I: »Sie haben ja auch gesagt, Sie hätten es wahrscheinlich nicht ertragen?« Fr. Rieger : »Für mich, ich hätte es kaum verkraftet. Wenn ich jetzt auch immer noch denke, es wäre schön, wenn er da wäre, aber auf der anderen Seite muss ich schon sagen, ich muss es ihm gönnen –– und so möchte ich gehen.« I: »Würden Sie sich das auch wünschen?« Fr. Rieger : »Ja. Korrekt. Ich brauche nicht unbedingt Exit. Also, ich meine –– Exit wäre nur der Notfall. Dafür habe ich aber immer die Patientenverfügung in der Tasche.« (Frau Rieger, Q: 199 – 205).
Manche ziehen einen biologischen Tod durch Altersschwäche oder Krankheit vor und hoffen darauf, durch eine gravierende Gesundheitsverschlechterung
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schnell sterben zu können. Nimmt die Wahrscheinlichkeit des Eintretens ungewollter Entwicklungen und damit verbundener Folgen jedoch aus der Sicht Kranker zu, kann das bewirken, dass das zuvor bevorzugte biologische Sterben an Bedeutung verliert und das Sterben durch Suizidbeihilfe präferiert wird. Neben Kranken, die durch Suizidbeihilfe sterben wollen, gibt es auch solche, die sich zwar wünschen, sterben zu können, ihr Leben aber nicht selbst beenden würden. Da Suizid(-beihilfe) für sie nicht infrage kommt, warten und hoffen sie darauf, von Gott geholt zu werden oder dass der Tod kommt. 5.1.1.8.1.2.2 Am gewollten Ort sterben können Aus den Äußerungen chronisch Kranker resultiert, dass viele von ihnen am liebsten zu Hause sterben wollen. I: »Ja, haben Sie für sich so eine Vorstellung, wo Sie sagen, das will ich auf keinen Fall, oder was wäre das Schlimmste für Sie, was Sie sich vorstellen könnten?« Hr. Mosimann: »Ja, was wäre für mich das Schlimmste, zum Beispiel im Krankenhaus zu sterben oder so –. Das, das wäre für mich die schlimmste Form.« I: »Was würde das für Sie so schlimm machen oder was haben Sie für eine Vorstellung?« Hr. Mosimann: »Ja, einfach, ich möchte in der vertrauten Umgebung – äh, ich möchte in einer vertrauten Umgebung sterben, ich meine, wenn, gut, das kann man sich nicht immer aussuchen aber – äh, ja ––––––––.« I: »Also, wenn es eben geht zu Hause – heißt das?« Hr. Mosimann: »Ja, ja – jaaja – gut, wenn man natürlich -, wenn man natürlich, sagen wir jetzt einen Schlaganfall hätte und so, dann spielt das keine Rolle, wo das ist, nicht, wenn man dann gerade tot umfällt. Aber ich meine sonst, wenn man das so – erwarten muss oder so, nicht im Krankenhaus – wenn möglich.« (Herr Mosimann, C: 125 – 130).
Dies trifft überwiegend auch für Kranke zu, die durch Suizidbeihilfe sterben wollen. Eine Besonderheit sind Leidende, die sich in einer Institution des Gesundheitswesens aufhalten und kein eigenes Zuhause mehr haben und planen, in absehbarer Zeit durch Suizidbeihilfe zu sterben. Ihnen würde es entgegenkommen, wenn in den Räumlichkeiten der Institution, in der sie leben, Suizidbeihilfe durchgeführt werden dürfte, um nicht zusätzliche Anstrengungen, wie zum Beispiel die Organisation und den Transport an einen erlaubten Sterbeort, auf sich nehmen zu müssen. 5.1.1.8.1.2.3 Gehen können, wenn das Gewollte abnimmt und das Ungewollte näherrückt Kranke, die erwägen, ihr Leben unter bestimmten Umständen zu beenden und zu sterben, setzen sich Cut-Off-Punkte. Cut-Off-Punkte sind als Schwellenpunkte und zugleich als Wendepunkte in Bezug auf Entscheidungsprozesse darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, zu verstehen. Sie repräsentieren Faktoren, unter denen sich mancher sagt: »Bis hier hin, aber nicht weiter«. Wenn die von einem Menschen gesetzten Cut-Off-Punkte, das heißt, ungewollte Fak-
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toren einzutreten drohen oder bereits eingetreten sind, kann das zu einem einschneidenden Richtungswandel führen, indem der jeweilige Mensch unter der sich für ihn abzeichnenden Daseinsweise nicht mehr weiterleben, sondern lieber sterben will. Eine solche Entwicklung kann die Option oder Entscheidung, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben, zur Folge haben oder diese aktuell werden lassen. Je näher das Eintreten von Cut-Off-Punkten rückt, das heißt, je bedrohlicher und ungewollter die Umstände sind, desto wahrscheinlicher ist die Entscheidung, sein Leben in Kürze durch Suizid(-beihilfe) zu beenden. So äußern Kranke zum Beispiel, dass sie sterben können wollen, sobald folgende CutOff-Punkte für sie absehbar oder real werden: nicht mehr selbst über sich und sein Leben bestimmen können, nicht mehr selbstständig den Notwendigkeiten des täglichen Lebens nachgehen können, unfähig sein, sich selbst zu Hause zu versorgen und seinen Haushalt zu führen, zunehmende Krankheitssymptome und deren Auswirkungen, gesundheitliche Verschlechterungen und wenn es ihnen schlecht geht. Manche wollen sterben können, wenn ihre Lebensqualität nicht mehr ausreicht und sie mit der ihnen verbleibenden Lebensqualität nicht mehr auskommen. Andere Auslöser, aus dem Leben zu gehen, sind: abhängig werden, drohende oder bestehende Bettlägerigkeit, nicht mehr zu Hause leben zu können und wenn infolgedessen der Einzug in ein Alters- oder Pflegeheim erforderlich wird oder droht. Für manche ist der Zeitpunkt zu sterben da, wenn sie andere mit ihrem Zustand belasten und sie ihre Bezugspersonen an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit bringen. Weitere Cut-Off-Punkte sind, wenn chronisch Kranken der Rollstuhl droht oder Gesundheitsfachpersonen ihnen sagen, dass sie nichts mehr für sie tun können. Einige wollen aus dem Leben gehen können, sobald ihnen ihr Leben zu schwer wird. Das Gefühl, nichts mehr zu können, tritt vor allem im Zusammenhang mit einer als abnehmend und unerträglich empfundenen Lebensqualität und damit verbundenen unerträglichen Folgen auf. Hinzu kommen Grenzpunkte wie eine Situation, die für einen nicht mehr tragbar ist; sie merken, dass es nicht mehr geht, sie es nicht mehr aushalten können oder wollen, und kommen zu dem Schluss, dass es reicht. I: »Jetzt wissen Sie ja, dass das Rezept für Sie da ist; Sie könnten darüber verfügen. – Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht?« Fr. Trüb: – » Äh, jein, an und für sich ist es für mich so, wenn ich das Gefühl habe, dass ich es nicht mehr aushalte oder aushalten will. Dass ich sagen kann, dann, so jetzt möchte ich. Wenn dann immer die Schmerzen, denn so wie jetzt in der letzten Woche, die letzte Woche war es also nicht mehr schön. Also, da habe ich drei-, viermal am Tag da die Tramaltropfen genommen und das hat auch nicht viel genutzt. Vor allen Dingen, weil ich da hinterher dann nicht mehr so zu Kräften komme, wie ich mir das vorstelle, dass ich dann noch einen Garteneinsatz machen kann oder den Haushalt noch führen, und wenn das so anhält, dann würde ich sagen, nein.« (Frau Trüb, W: 160 – 161).
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Die zahlreichen Cut-Off-Punkte, welche chronisch Kranke zu der Entscheidung veranlassen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, verdeutlichen, dass sie dann aus dem Leben gehen können wollen, wenn sie es für nötig befinden. Folglich handelt es sich bei dem Entscheid, wann und in welcher Situation ein Mensch durch Suizidbeihilfe sterben will, um eine Ermessensfrage jedes Einzelnen. Hinsichtlich der Realisierung der Suizidbeihilfe lassen sich verschiedene Dringlichkeitsstufen feststellen. 5.1.1.8.1.2.4 Lieber durch Suizidbeihilfe aus dem Leben gehen und sterben, als auf ungewollte Art und Weise leben müssen Manche Kranke geben ihr Leben lieber »weg«, das heißt, sie wählen Suizidbeihilfe und machen mit ihrem Leben Schluss, statt zu lange zu warten und auf ungewollte Art und Weise weiterzuleben. Fr. Knauer : »[…]. Ich möchte eigentlich lieber gehen, wenn ich noch über etwas lachen kann, wenn ich noch Freude haben kann, als dann, da, so im Rollstuhl herumgeschoben werden. Das ist nicht mein Ding. Deshalb habe ich mich dann so entschlossen.« (Frau Knauer, AK: 123).
5.1.1.8.1.2.5 Die Möglichkeit haben und behalten wollen, aus dem Leben gehen und sterben zu können Mehrere Erkrankte äußern, dass sie dann durch Suizidbeihilfe sterben wollen, wenn für sie ungewollte Ereignisse bereits eingetreten sind oder ihnen ungewollte Entwicklungen drohen, die sie fürchten und vermeiden wollen. Ausgehend von diesem Hintergrund wollen einige die Möglichkeit, durch Suizidbeihilfe sterben zu können, erhalten und behalten. Fr. Rickenbach: »Ich bin schon länger Mitglied. Also, ich habe das immer schon gesagt, also, äh – wenn ich irgendwie im Alter einmal so krank werde, dass ich wirklich nicht mehr für mich schauen kann, dann will ich eigentlich gehen. Also, ich will nicht so abhängig sein von anderen Menschen. Dann will ich eigentlich gehen. Und dann will ich die Möglichkeit haben, dass ich einfach sagen kann: Ich trete ab. Und das ist hier in der Schweiz nur mit der Exit möglich. […].« (Frau Rickenbach, P: 178).
5.1.1.8.1.2.6 Zur gewollten Zeit sterben können Ein Grund dafür, weshalb manche Kranke auf jeden Fall durch Suizidbeihilfe sterben wollen, ist, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt sterben wollen. Solche, die planen, durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen, möchten das tödliche Präparat wann immer sie wollen einnehmen können. Hr. Mosimann: »[…] und habe mich dann mit Exit in Verbindung gesetzt und habe gefunden, ich will das so weit vorbereiten, dass ich da jederzeit – äh, abtreten kann, wenn ich das für nötig befinde.« (Herr Mosimann, C: 18).
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Es gibt Leidende, die möglichst schnell oder bald durch Suizidbeihilfe sterben können wollen, und solche, die irgendeines Tages abtreten wollen, wenn sie es für nötig befinden. Andere würden am liebsten unmittelbar mit ihrem Leben Schluss machen oder das tödliche Substrat so schnell wie möglich einnehmen. Es geht ihnen darum, zum »richtigen« Zeitpunkt gehen zu können. Manche wollen an einem bestimmten Datum oder in einem bestimmten Monat sterben. Auch der Hergang ungewollter Entwicklungen und Ereignisse beeinflusst die Annahme, dass der »passende« Zeitpunkt für die Entscheidung, durch Suizidbeihilfe zu sterben, sukzessive näherkommt oder da ist. Bei der Wahl des Sterbezeitpunktes ist vielen wichtig, Rücksicht auf ihre Angehörigen zu nehmen. So warten einige mit ihrem Sterben, bis ihre Angehörigen aus den Ferien zurück oder die Feiertage vorbei sind. Mehrere wollen den Zeitpunkt ihres Sterbens durch Suizidbeihilfe frühzeitig genug ansetzen, um diese Möglichkeit nicht durch verunmöglichende Vorkommnisse zu verlieren. 5.1.1.8.1.2.7 Offen über das Sterben und die Suizidbeihilfe sprechen können oder sein Vorhaben verheimlichen Chronisch Kranken, die für sich einen Weg darin sehen, möglicherweise durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen, ist es ein Anliegen, entsprechende Überlegungen offen mit anderen besprechen zu können. Zu wichtigen Gesprächspartnern gehören neben Gesundheitsfachpersonen nahestehende Bezugspersonen sowie Familienangehörige. Es gibt aber auch chronisch Kranke, die ihr Vorhaben, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, bestimmten Personen gegenüber gänzlich oder so lange wie möglich verheimlichen wollen. I: »Aber jetzt – wenn Sie sagen, Sie haben – ich bin jetzt eigentlich die erste Person, der Sie den Brief (medizinische Diagnoseschreiben) zeigen. Und Sie haben gesagt, Sie hätten das Gefühl, Sie müssten geheim halten –.« Fr. Odermatt: »Ja – nein, ich muss es natürlich –.« I: »Oder verheimlichen –.« Fr. Odermatt: – »Ich muss es natürlich jetzt dieser Nichte und ihrem Mann sagen, weil ich die eingeweiht habe, was läuft […]. Ich hab ja noch eine andere Nichte. Und die ist vergangene Woche, am Donnerstag, bei mir hereingeschneit. […]. Und – also, ihr habe ich gar nichts angedeutet. Sie kam, sie schneite herein und dann – war sehr nett. Sie hat gesagt: ›Wir essen zusammen, ich koche […].‹ Und da hat sie gesagt: ›[…] wir können ja da räumen und – wegschaffen oder schauen, was man noch aufbewahrt.‹ Also habe ich gedacht: Weiß sie vielleicht etwas von ihrer Cousine, dass ich schon mit Exit Kontakt hatte. Weil sie hat gesagt: ›Das können doch Natascha und ich machen. Du musst doch nicht – und wirf doch nicht alles weg.‹ – Es war ein netter Abend und wir haben in Erinnerung geschwelgt […]. Aber – so direkt habe ich es nicht gesagt, ihr (betont). Aber ich denke, wenn sie sagt: ›Natascha und ich können doch das machen.‹ […]. Und jetzt dachte ich, ich müsste vielleicht mal diese Freundin fragen […]. Wobei ich dann wieder nicht weiß, sie hat die gleiche Frau aus dem xy (Name einer Region), die Haushalt macht, und die darf es nicht wissen. Also, wenn – die sollte nichts davon wissen. […].« I: »Und was würde Sie denn
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davor scheuen, wenn es die anderen wüssten?« Fr. Odermatt: – »Ja, die anderen, also, im Haus zum Beispiel, – ich möchte kein Lauffeuer entfachen. […]. Ich habe das Gefühl, wenn ich da etwas sage, dann kommen sie und bestürmen einen – unter Umständen.« I: »Also, bestürmen – inwiefern bestürmen?« Fr. Odermatt: »Tu das nicht!« (Frau Odermatt, EIV: 43 – 3 – 54).
5.1.1.8.1.2.8 Den Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, zum gewünschten Zeitpunkt durchführen können und seine Entscheidungsfähigkeit nicht gefährden Chronisch Kranken, die sich für die Suizidbeihilfe interessieren, ist es wichtig, dass sie in einem physischen und psychischen Zustand verbleiben, der ihnen erlaubt, einen solchen Entscheid jederzeit treffen und ausführen zu können. Mehrere Kranke wollen ihre Möglichkeit, durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen, nicht gefährden, das heißt, sie wollen keinerlei Risiko eingehen, welches bewirken könnte, dass sie irgendwann nicht mehr selbst entscheiden können. Hr. Niederberger : »[…]. Also, wenn ich jetzt, letzte Nacht, meinen Zimmernachbar gesehen habe, ich bin ja in einem Zweierzimmer, nicht?« I: »Ja.« Hr. Niederberger : – »Und – der Mann ist eingeliefert worden mit, darf ich mich so äußern hier, spielt das keine Rolle?« I: »Ja, ja.« Hr. Niederberger : »Mit einem Lungenkrebs, der auch praktisch über Nacht ausgebrochen ist, mit unwahrscheinlichen Schmerzen. Er hatte gestern Morgen, früh, einen Schmerzanfall. Ich kann das fast nicht beschreiben. Er hatte letzte Nacht, hatte er – alles voll Erbrechen, Durchfall und und und. – Das wäre für mich – ganz sicher der Moment. Ich möchte den Moment aber sogar – ein bisschen früher ansetzen und sagen, wenn ich nun wirklich Schmerzen habe, die mich am Morgen, den Kopf belasten, mich zum Weinen bringen, weil ich dann nicht mehr vermag, ein Gespräch zu führen, sondern nur noch – apathisch im Bett liege, das wäre wahrscheinlich für mich der Moment. Ich möchte ja nicht zuwarten, bis ich nicht mehr entscheiden kann oder die Gefahr eingehen, sondern ich möchte schon versuchen, bei wirklich klarem Verstand sagen, so […].« (Herr Niederberger, D: 194 – 199).
Einige Erkrankte wollen den Entscheid, wann sie durch Suizid(-beihilfe) sterben, möglichst kurzfristig treffen können, da sie nicht zu früh sterben wollen. 5.1.1.8.1.2.9 Die Absicht, bald aus dem Leben zu gehen Unter den Erkrankten finden sich auch solche, die gegenwärtig den Willen haben, aus dem Leben zu gehen, und am liebsten »weg« wären. Sie berichten, dass sie abtreten oder nicht weiterleben wollen: Sie wollen »fertig«, »Schluss machen«, das heißt, ihrem Dasein ein Ende setzen und sterben. Hr. Gubser: »Und äh, das weiß ich nicht. Meine Mutter war auch so ein bisschen – äh, schwermütig. Also, das habe ich vermutlich schon von ihr. Aber, äh, sonst weiß ich von niemandem etwas, dass jemand Suizidgedanken hatte oder irgend so etwas ausgeführt hätte. Aber es hatte wahrscheinlich auch niemand Grund. Wenn es dem Menschen gut geht, wenn der Mensch sieht, geht es ihm ja schon sehr gut. Und dann, wenn man ja
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sieht, kann man ja selbst viel dazu beitragen, dass es einem gutgeht. Aber wenn man nicht mehr sieht, was willst du dazu beitragen? Dann bist du auf Schritt und Tritt auf Hilfe angewiesen. Das ist das Deprimierende, weil niemand – lieber heute als morgen möchte ich diesem Zustand ein Ende machen.« (Herr Gubser, AD: 496 – 501).
Bei anderen Leidenden kommt der Wille, aus dem Leben zu gehen und zu sterben, in der Erwähnung zum Ausdruck, mit der Suizidbeihilfe nicht mehr länger warten zu wollen. Einige wollen von unbefriedigenden, ungewollten Gegebenheiten erlöst werden, wie zum Beispiel von der Art ihres Daseins, dem Gepflegtwerden, ihrer Krankheit, der fremden institutionellen Umgebung, ihrem Körper, der zu nichts mehr taugt. Andere wollen am liebsten einfach liegen bleiben können, sich um nichts mehr kümmern müssen oder Ruhe bekommen. Manche fänden es schön, wenn sie einfach »einschlafen« und sterben könnten. Auffällig ist, dass Kranke diesbezüglich Metaphern wie »abbrechen«, »abtreten«, »gehen«, »Ruhe bekommen«, »von Gott geholt werden«, »erlöst sein«, »Schluss machen« oder »fertig machen« benutzen statt den Ausdruck »sterben« zu verwenden. Die Motive chronisch Kranker, die nicht mehr leben wollen, sind zum Beispiel, dass es ihnen im Zuge gesundheitlicher Verschlechterung nicht gut geht, sie deprimiert sind, weil sie immer auf Hilfe angewiesen sind oder ihrer Meinung nach nichts dazu beitragen können, dass es ihnen wieder gut geht. Andere bringen ihren Willen, nicht mehr leben zu wollen, damit in Zusammenhang, dass sie ihre Lieblingsbeschäftigungen nicht mehr ausführen können, es keine Heilung ihrer Krankheit gibt oder ihnen eine verbleibende Lebenszeit von ein paar Tagen bis Wochen prognostiziert wurde. Es kommt auch vor, dass Kranke, die einen geliebten Menschen durch den Tod verloren haben, diesem in den Tod folgen wollen. Deutlich wird auch, dass der Wille, nicht mehr leben zu wollen oder aus dem Leben zu gehen und zu sterben, abhängig vom subjektiven psychischen und physischen Befinden eines chronisch kranken Menschen und den jeweiligen kontextuellen Gegebenheiten beständig oder episodisch sein kann. 5.1.1.8.1.2.10 Seinen getroffenen Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben beibehalten und durchstehen Chronisch Kranke, die den Willen haben und entschlossen sind, ihr Leben zu einem definierten Zeitpunkt durch Suizidbeihilfe zu beenden, zeigen sich dazu bereit, alles damit Verbundene durchzustehen. I: »Und jetzt, äh, am Donnerstag, wie kommen Sie von hier in Ihre Wohnung?« Fr. Jost: »Ich gehe mit – mit dem Rollstuhl. xy heißt die Organisation. Dass, dann – kann man mit dem Rollstuhl hinten reinfahren.« I: »Das ist so ein Transport?« Fr. Jost: »Ja.« I: »Ja. Und sind Sie noch eine gewisse Zeit zu Hause? Oder wie haben Sie das -?« Fr. Jost: »Nein.« I: – »Von der Zeit her organisiert?« Fr. Jost: »Nein, dann geht es rasch. Das wollte ich nicht. Aber meine Nichte hatte etwas Angst ich könnte da zusammenklap-
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pen. Aber ich habe ihr gesagt: ›Ich will das. Also muss ich das auch durchstehen.‹« I: »Stehen Sie selbst ein bisschen auch davor? Oder wie – wie ist das für Sie, wenn Sie daran denken?« Fr. Jost: »Wie meinen Sie?« I: »Ja, wenn Sie sagen, ähm: Ich will das, also muss ich das auch durchziehen.« Fr. Jost: »Ja.« I: »Ähm, ich denke so, ja, der Gedanke ist schon noch speziell, zu wissen – .« Fr. Jost: »Ja.« I: – »Man ist vielleicht zwei oder drei Tage noch da –.« Fr. Jost: »Nein, ich nehme das ganz ruhig. Ich habe mich genug damit auseinandergesetzt und ich will nichts anderes.« (Frau Jost, AF: 383 – 3 – 402).
5.1.1.8.1.3 Gewolltes nach Eintreten des Todes 5.1.1.8.1.3.1 Anderen etwas von sich hinterlassen Anstatt ihre Ersparnisse für das Leben in einem Alters- oder Pflegeheim zu verbrauchen, möchten manche Kranke ihre Rücklagen und Wertgegenstände lieber ihnen nahestehenden Menschen hinterlassen und ziehen es deshalb vor, zu geeigneter Zeit durch Suizidbeihilfe zu sterben. Fr. Schmid: »Also, ich möchte niemandem zur Last fallen. Ich meine, das ist ja auch – die finanzielle Seite ist ja auch eine Seite, nicht? Ich habe wohl eine rechte Pension, mit der ich sehr (betont) gut leben kann. Und ich habe auch – 100’000.– Franken auf der Bank. Das ist alles schnell weg – die Summe. Meine Schwester hat ja einen Hirnschlag gehabt, und wir haben sie dann acht Jahre gepflegt, in der Familie, so. Und äh, sie ist ein Jahr im Pflegeheim gewesen und es hat sie jeden – jeden Monat über 10’000 Franken gekostet. Und jetzt sind die – Preise noch viel höher. Da zahlen sie bis zu 1000 Franken im Tag. Ja, also, da haben sie bald – oder, etwas (betont) möchte ich meinen Kindern auch hinterlassen.« I: »Also, das hieße, dass sonst auch Ersparnisse für die Pflege und Betreuung draufgehen?« Fr. Schmid: »Das geht alles drauf, ja. Wissen Sie, wenn es mir das wert wäre, wäre es etwas anderes. Aber es wäre mir nur eine Belastung.« (Frau Schmid, S: 232 – 236).
Nach der Erläuterung des Gewollten werden im Folgenden Faktoren erklärt, die für einige Erkrankte das von ihnen Ungewollte ausmachen. 5.1.1.8.2 Das Ungewollte Das Ungewollte bilden Faktoren, die dafür stehen, wie einige chronisch Kranke gegenwärtig und zukünftig weder leben noch sterben wollen. Einige von ihnen haben ungewollte Faktoren wie beispielsweise starke Schmerzen schon einmal selbst erfahren. Bei manchen Kranken sind bereits einzelne oder mehrere ungewollte Faktoren eingetreten oder drohen einzutreten. Die dem Ungewollten zugeordneten Faktoren beziehen sich auf Ungewolltes hinsichtlich der eigenen gegenwärtigen und zukünftigen Daseinsweise sowie auf Ungewolltes in Bezug auf das eigene Lebensende und Sterben.
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5.1.1.8.2.1 Ungewolltes hinsichtlich der eigenen gegenwärtigen und zukünftigen Daseinsweise 5.1.1.8.2.1.1 Auf ungewollte Art und Weise leben Für chronisch Kranke, die Interesse daran haben, irgendwann durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen, ist die Art und Weise ihres Daseins zentral. Sie wollen nicht ein von ihnen ungewolltes Dasein oder ungewollte Beschwerden auf sich nehmen und bis zu ihrem biologischen Lebensende aushalten müssen. Ungewollt ist auch monatelanges Leiden, das heißt, leidvolles Leben oder leidvolles Sterben. Viele führen ungewollte physische Faktoren und daraus resultierende Folgen an. Sie wollen zum Beispiel keine Müdigkeit erfahren und ihre Kommunikationsfähigkeit nicht verlieren, um sich weiterhin ausdrücken und verständlich machen zu können. Andere wollen keine unerträglichen Schmerzen erleiden oder kognitive Beeinträchtigungen erfahren. Es ist ihnen wichtig, nicht zu existieren, ohne da zu sein, das heißt, sie wollen nicht in einem durch Bewusstseinsverlust hervorgerufenem »ausgelöschten« Zustand oder bedingt durch kognitive Veränderungen in einem Zustand der Depersonalisation existieren ohne selbst entscheiden zu können. Insbesondere solche, die sich den Weg der Suizidbeihilfe offenhalten möchten, haben Angst davor, dass ihr Kopf irgendwann nicht mehr funktioniert. Einige haben Angst, zu verdummen. Sie befürchten, dass ihr Gedächtnis, das sie brauchen, um durch Suizidbeihilfe sterben zu können, sie im Stich lassen könnte. Ungewollt ist auch der Umstand, nicht mehr die wesentlichen lebensvoraussetzenden Fähigkeiten und Fertigkeiten zu besitzen und infolgedessen nicht mehr selbstständig den Notwendigkeiten des Lebens nachgehen zu können. Mehrere Kranke wollen nicht von anderen abhängig, hilflos und auf andere angewiesen sein. Die Gründe dafür sind zum Beispiel prägende, belastende Lebenserfahrungen mit abhängig gewordenen nahestehenden Menschen, egoistische Motive oder Rücksichtnahme auf Bezugspersonen. Einige haben durch ihre Krankheit und deren Auswirkungen sukzessive physische Funktionen und Fähigkeiten verloren und dadurch Einschränkungen in ihrer Lebensgestaltung erfahren. Sie wollen nicht noch mehr von ihrer Selbstständigkeit einbüßen und dadurch weiter an Lebensqualität verlieren. Manche fürchten, hinfällig zu werden, sich nicht mehr selbstständig versorgen und pflegen zu können oder bettlägerig zu werden. Fr. Urech: »Ja, also, wie es anfing, da habe ich mal geschrieben und dann habe ich die Broschüre (einer Suizidbeihilfeorganisation) bekommen und dann habe ich immer gedacht, ja, da diskutiert man, ob man eintreten soll oder nicht. Dann hat aber mein Neffe, da habe ich mit meinem Neffen, der ist Arzt, unterschrieben, dass ich keine Schläuche angehängt bekommen will, und das haben meine Söhne, mein Neffe und ich unterschrieben. Also, das habe ich und dann habe ich Exit nicht mehr für so notwendig gefunden. Aber jetzt habe ich einfach Angst, es könnte der Moment kommen. Wenn
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man so im Fernsehen sieht, die verblödeten Menschen, die gefüttert werden, das alles möchte ich nicht. Und sterben muss ich ja doch, ob es nun ein bisschen früher ist oder später. Da habe ich mir das überlegt.« (Frau Urech, X: 153 – 3 – 159).
Andere wollen nicht gepflegt werden, um am Leben bleiben zu können, oder können sich die Pflege, die sie gegenwärtig erhalten, nicht länger vorstellen. Weitere ungewollte Faktoren sind: irgendwann alleine, ohne Lebenspartner weiterleben zu müssen, einsam zu sein, in Ungewissheit zu leben und in schlechte Stimmung oder Panik zu geraten. Die Vorstellung, dahinzusiechen, dahinzuvegetieren, benebelt zu sein, vor sich hinzudämmern oder lahmgelegt zu sein, missfällt. Sie wollen nicht außer Gefecht gesetzt, untätig oder handlungsunfähig sein. Nutzlos zu sein, nichts mehr machen zu können, dazusitzen, nur noch im Bett zu liegen und nicht mehr aus seinen vier Wänden zu kommen, sind ebenfalls unerwünschte Daseinsweisen. Sie wollen ihre Zeit nicht mit Beschäftigungen verbringen, für die sie sich nicht begeistern können. Manche fühlen sich beispielsweise im Alter von 76 Jahren zu jung, um nur noch Däumchen zu drehen oder darauf zu warten, dass das Essen kommt. Derart zu leben, würde das Leben für einige wertlos machen, weil es aus ihrer Sicht keinen Lebensinhalt mehr bietet. Sie sehen in einem derartigen Existieren kein Leben mehr, sondern ein Warten auf den Tod. Einige Kranke sind so lebensdurstig, dass Ruhe das Letzte ist, was sie erleben wollen. 5.1.1.8.2.1.2 Weitere gesundheitliche Verschlechterung und damit einhergehende Beeinträchtigungen auf sich nehmen Ein anderer Aspekt des Ungewollten ist, keine zusätzlichen gesundheitlichen Probleme erfahren und nicht noch mehr Einschränkungen auf sich nehmen zu wollen. Ungewollt ist zum Beispiel der Verlust der kognitiven Fähigkeiten, ein Leben im Rollstuhl, gelähmt sein, sich wund liegen, sich etwas brechen oder sich eine Infektion einhandeln. Einige Kranke sind der Meinung, dass ihr Leben bei Auftreten bestimmter weiterer gesundheitlicher Beschwerden keinen Sinn mehr machen würde. Hr. Mosimann: »[…] das mit dem Denken, das ist für mich, ist das sehr, außerordentlich wichtig ––– wenn man da mal nicht mehr nachkommt oder kein normales Gespräch mehr führen kann, dann hat das Leben für mich einfach keinen Sinn mehr. ––– Wobei mir natürlich klar ist, dass bei jedem Menschen die Schwelle, wann er dann Exit brauchen würde, natürlich an einem anderen Ort ist. ––– Aber dem einen ist das wichtig und dem anderen etwas anderes, so.« ––– I: »Also, wie meinen Sie jetzt die Schwelle genau?« Hr. Mosimann: »Ja, die Schwelle, wo man sagt, so jetzt ist fertig, oder.« I: Aha, Sie meinen, wann man zum Beispiel das Rezept nimmt?« Hr. Mosimann: »Ja oder jetzt hat das Leben keinen Sinn mehr, die ist bei jedem Mensch an einem anderen Ort. Gut, die einen nehmen dann noch sehr viel auf sich, wo ich finde, das würde ich nicht […]. Oder ich könnte mir, ich weiß nicht, das kann man erst immer
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sagen, wenn es konkret ist, aber ich könnte mir zum Beispiel ein Leben im Rollstuhl eigentlich auch nicht vorstellen und für andere ist das durchaus noch lebenswert. Aber ich glaube, ich wollte das nicht, wobei man eben auch noch berücksichtigen muss, mein Alter. Ich bin immerhin, wie gesagt, achtzig geworden und so, vielleicht, wenn man sechzig ist, so oder jünger, dann sieht das auch noch anders aus, da ist man vielleicht auch noch eher bereit, vielleicht etwas, eine Einschränkung auf sich zu nehmen, was man mit achtzig oder so, was ich zumindest mit achtzig nicht mehr auf mich nehmen will.« (Herr Mosimann, C: 239 – 299).
5.1.1.8.2.1.3 An einem ungewollten Ort leben Auffallend ist, dass Kranke, die erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, überwiegend noch in ihrem eigenen Zuhause leben. Bei den meisten von ihnen kommt eine fehlende Bereitschaft zum Ausdruck, ihre örtlich-räumliche Lebens- und Wohnform zu verändern. Die Mehrheit von ihnen stellt sich nicht vor, ihre Wohnung aufzugeben und in ein Alters- oder Pflegeheim zu gehen, da sie damit Schwierigkeiten haben. Sie wollen ihr vertrautes Zuhause nicht aufgeben, ihre Heimatumgebung/ihr Wohnquartier nicht verlassen und woanders leben. Zudem assoziieren sie mit einem Leben im Alters- oder Pflegeheim für sich ungewollte Daseinsweisen, wie zum Beispiel einfach dazusitzen oder zu vegetieren. Mehrere beurteilen das Leben im Alters- oder Pflegeheim als nicht lebenswert und stellen es einem Warten auf den Tod gleich. Gerade für Kranke, die ihrer Ansicht nach zu Hause schön leben, kommt ein Leben in einem Altersoder Pflegeheim einem »riesigen Abstieg« gleich. Die Gründe, nicht in ein Alters- oder Pflegeheim gehen zu wollen, sind vielfältig. Einige fühlen sich zum Beispiel zu lebhaft oder noch nicht alt genug für ein Leben im Altersheim. Manche denken, im Alters- oder Pflegeheim jegliche Selbstständigkeit aufgeben zu müssen oder der Willkür der Mitarbeiter der Institution ausgesetzt zu sein. Andere Gründe sind, dass man im Gegensatz zu seinem Zuhause im Altersheim seine Möglichkeiten, sich beschäftigen zu können, verliert oder man im Altersheim nicht gesund gepflegt, sondern nur am Leben gehalten wird. Fr. Odermatt: »Wenn man einfach beobachtet – wie – Menschen ––– ›lebens-gepflegt« werden, also, gepflegt werden, um am Leben zu bleiben, ––– dann denke ich, ––– ich bin ein unabhängiger Mensch. Dass ich abhängig – sein müsste und das werde ich, wenn es so weiter geht, und ins Altersheim möchte ich nicht. Das habe ich beschlossen, – weil das so deprimierend ist. Ich besuche meine Schwester im Altersheim und mir hat eine Freundin erzählt, da ist die Mutter ins Altersheim gekommen, sie war – wegen körperlicher Behinderungen, aber – in dieser Umgebung ist sie völlig abgefallen und alt geworden. Auch im Kopf, generell. – Ich bin zwar angemeldet im Altersheim xy (Name des Altersheims). Ich gehe ab und zu auch mal dort essen, spreche mit Leuten. Es ist ein sympathisches Altersheim, ––– von dort kommt auch das Essen, ambulante Pflege. Aber ––– ich möchte nicht. Ich möchte nicht.« (Frau Odermatt, EI: 75 – 77).
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Auch rein praktische Gründe bedingen, dass ein Mensch nicht in ein Altersheim ziehen will. So kann ein Altersheim nicht infrage kommen, weil dort zu wenig Pflege angeboten wird. Finanzielle Aspekte spielen insofern eine Rolle, da durch ein Leben in einem Alters- oder Pflegeheim die eigenen Ersparnisse aufgebraucht werden und diese anderen dann nicht mehr hinterlassen werden können. Auch der Zustand der Mitbewohner in Gesundheitsinstitutionen ist ein Grund, nicht in ein Alters- oder Pflegeheim zu ziehen. Diesbezügliche Vorbehalte sind zum Beispiel, dass die Bewohner in Pflegeheimen sehr alt und vielfach nicht mehr urteilsfähig sind. Einige Kranke äußern, dass sie durch den Anblick älterer, gebrechlicher Leute belastet wären und sie sich in einem Heim nicht wohlfühlen würden, da ihnen solche Menschen leidtun. Zudem wollen manche nicht mit ihnen unsympathischen Menschen in einem Zimmer zusammen leben müssen. Neben diesen Gründen besteht auch die Befürchtung, dass Pflegebedürftige in Altersheimen misshandelt werden, und die Angst, sich gegen die Behandlung im Pflegeheim nicht wehren zu können. Mehrere Kranke wurden auf die Möglichkeit angesprochen, in einem Alterspflegeheim zu leben, doch dieser Vorschlag kommt zusammenhängend mit den oben erwähnten Faktoren für die meisten nicht infrage. Für viele ist es nicht nur ungewollt, in einem Altersoder Pflegeheim zu leben. Auch das Krankenhaus oder ein Hospiz sind Orte, an denen einige ihr Leben nicht verbringen wollen. Chronisch Kranke, die sich auf keinen Fall in eine Institution des Gesundheitswesens begeben wollen, versuchen entsprechende Entwicklungen zu vermeiden. So gelangen solche, die noch zu Hause leben und in absehbarer Zeit wahrscheinlich aufgrund physischer Beeinträchtigten und der damit verbundenen erschwerten Alltagsbewältigung in ein Alters- oder Pflegeheim ziehen müssten, an den Punkt, dass sie zu gegebener Zeit entscheiden, lieber durch Suizidbeihilfe zu sterben, als sich auf ein Leben an einem von ihnen ungewollten Ort einzulassen. 5.1.1.8.2.1.4 Auf ungewollte Art medizinisch versorgt werden Zu den medizinischen Versorgungsansätzen und ärztlichen Verhaltensweisen, die für manche Patienten ungewollt sind, gehören die Einweisung in ein Krankenhaus oder eine palliative Institution, bestimmte operative und medikamentöse Behandlungsformen oder »aufpäppelnde« und lebensverlängernde Maßnahmen. Mehrere Patienten wollen keine Krankenhausbehandlung mehr über sich ergehen lassen und sind auch nicht bereit, für eine Schmerzeinstellung in ein Krankenhaus oder ein Hospiz zu gehen, was zur Folge hat, dass diese Möglichkeiten des Symptommanagements sie nicht erreichen. Auch die Versorgung in einem Hospiz oder in einer Palliativstation stellt für einige keine Alternative dar. Die Gründe dafür, nicht in eine Institution des Gesundheitswesens gehen zu wollen, sind mit Assoziationen verbunden wie, dass im Krankenhaus alles untersucht und behandelt wird. Andere wollen auf keinen Fall
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in ein Krankenhaus, weil sie denken, dass Gesundheitsfachpersonen sie dort nicht sterben lassen wollen, sondern sie am Leben halten, sie dort mit Spritzen und Medikamenten »vollstopfen« oder »irgendwo anhängen« und sie dort dann liegen. Oder sie befürchten, von Ärzten als »Versuchskaninchen« betrachtet zu werden. Vereinzelt besteht die Meinung, dass Menschen in Krankenhäusern dahinsiechen. Auch wollen sie nicht auf unbekannte Zeit in einem Krankenhaus liegen, ans Krankenbett gebunden sein und anderen Erkrankten nicht den Platz wegnehmen, für die der dortige Aufenthalt lohnenswerter wäre. Auch ein Haustier zu haben ist ein Grund, warum sich manche nicht in einer Institution des Gesundheitswesens behandeln lassen wollen. Einige Patienten wollen keine Operation mehr, weil sie postoperativ zusätzlich eingeschränkt sein könnten oder der Nutzen von Operationen für sich infrage stellen. Andere wollen keine (Schmerz-)Medikamente einnehmen, durch die sie schlapp und müde werden, weil sie bei klarem Bewusstsein bleiben wollen, weiterhin Gespräche führen möchten, sich nicht ihren Magen mit Medikamenten kaputtmachen oder von Morphium abhängig sein wollen. Gründe, sich gegen bestimmte Behandlungsansätze zu entscheiden, sind, sich die Nebenwirkungen ersparen und lieber noch etwas vom Leben haben zu wollen. Manche Kranke wollen nicht in die »Maschinerie« kommen, die alles tut, um sie am Leben zu halten, das heißt, sie wollen keine sinnlose, künstliche Verlängerung ihres Lebens durch medizinische Maßnahmen, da sich das ihrer Ansicht nach nicht lohnt. Wesentlich ist auch, wie Ärzte sich chronisch Kranken gegenüber verhalten. Mehrere Kranke wollen nicht von Ärzten im Stich oder »hängen« gelassen werden. Solche Gefühle treten dann auf, wenn es von ärztlicher Seite heißt, dass diese nichts mehr für einen tun können, eine Gesundheitsfachperson einem Patienten in seiner Not nicht oder unzureichend zwischenmenschlich oder medizinisch-therapeutisch beisteht und diesen mit seinen Problemen allein lässt. Von Ärzten im Stich oder »hängen« gelassen zu werden, kommt für einige Kranke einem Vertrauensbruch gleich, was sie enttäuschen würde. In einem Fall geschah dies. Einige Kranke berichten, dass es für sie wichtig ist, dass sie über ihre Krankheit, deren Behandlung sowie über die Prognose des Krankheitsverlaufs informiert werden. Es gibt aber auch solche, die keine Klarheit darüber erhalten wollen, ob ihre Krankheit zum Beispiel bös- oder gutartig ist. Letztere sind solche, die sich gegen diagnostische Abklärungen entscheiden und auf mögliche Behandlungsmaßnahmen verzichten. Von Ärzten vorgeschlagene medizinische Behandlungsansätze werden von den Kranken dann als ungewollt beurteilt, wenn die Behandlungsvorschläge und deren potenzielle Folgen mit ihren Erfahrungen, Werten, Präferenzen und Zielen unvereinbar sind. I: »Konnten Sie denn schon mal mit jemandem darüber sprechen, dass man hätte überlegen können, ob es irgendwelche Möglichkeiten gibt –.« Fr. Knauer : »Es gibt eben
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kaum eine Möglichkeit. Es gäbe einen künstlichen Darmausgang als Möglichkeit, eventuell. Aber das kommt für mich, Entschuldigung, das kann ich nicht […?]. Ähm, das Schlimme ist ja, dass ich jetzt weiß, dass mein Rücken – also, die – die Wirbel sind so aufeinander, dass da kaum mehr was ist. Und mir hat jetzt mein Hausarzt gesagt, wenn ich wieder falle, ich bin x-mal ins Krankenhaus. Die beiden Knie müssten gemacht werden. Die Schultern müssten gemacht werden. Also, ein wandelndes Ersatzteillager im Endeffekt. Ich kenne mich auch zu gut aus. Ich war zu lange im Krankenhaus und weiß was – was das bedeutet. Und ich bin ein totaler Realist. Ich möchte eigentlich lieber gehen, wenn ich noch über etwas lachen kann, wenn ich noch Freude haben kann, als dann da so im Rollstuhl herumgeschoben zu werden. Das ist nicht mein Ding, deshalb habe ich mich dann so entschlossen.« (Frau Knauer, AK: 120 – 123).
Bestehen Differenzen zwischen den Versorgungs- und Behandlungsempfehlungen von Gesundheitsfachpersonen und den Vorstellungen Kranker, resultiert daraus, dass entsprechende Empfehlungen für Patienten keine infrage kommenden Alternativen gegenüber den Überlegungen und dem Entscheid darstellen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen. In der Folge kommt es dazu, dass sich solche Kranke zu ihrem eigenen Schutz vor zusätzlichen, von ihnen ungewollten Faktoren und dem Verlust noch vorhandener Fähigkeiten auf gewisse Versorgungsansätze nicht einlassen. 5.1.1.8.2.1.5 Der Verlust der Selbstbestimmung sowie der Zurechnungs- und Urteilsfähigkeit Anderen Menschen gegenüber ausgeliefert zu sein oder sich anderen auszuliefern, liegt mehreren Kranken fern. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, wird häufig in Zusammenhang mit einem sukzessiv fortschreitenden Verlust der Selbstständigkeit oder einer Beeinträchtigung der Kommunikationsfähigkeiten gleichgesetzt. Sich nicht mehr mitteilen zu können, bedeutet für manche, der Willkür anderer ausgesetzt zu sein und sich womöglich nicht wehren zu können. Mehrere Kranke wollen allerdings weder durch andere fremdbestimmt leben noch sterben, sondern haben ein Bedürfnis nach Selbstbestimmung im Leben sowie an dessen Ende. Für Leidende, die sich die Option der Suizidbeihilfe offenhalten oder diese in absehbarer Zeit ausführen möchten, ist der Erhalt ihrer Selbstbestimmung sowie ihrer Zurechnungs- und Urteilsfähigkeit unerlässlich, denn sie wissen, dass ihre Urteilsfähigkeit die wesentliche Voraussetzung für die Beendigung ihres Lebens durch Suizidbeihilfe ist. Fr. Schulthess: »[…]. Also, unsere beiden Mütter, äh, die sind – haben gelebt in einem eigenen Haus, oder Wohnung, mit Hilfen. – Meine Mutter hat zwar gewisse Depressionen gehabt und ziemlich viel Medikamente. Und sie ist einfach eines Morgens – ist sie aufgestanden und hat sich, ich weiß nicht, was – was sie eigentlich im Sinn hatte. Sie ging in die Küche und dann kam sie wieder zurück und dann ist sie plötzlich umgefallen und hatte einen Herzstillstand gehabt. Das ist natürlich eine ideale Möglichkeit. Die gibt es heutzutage nicht mehr. Ich meine, die Idee, dass man dann – eben, für mich
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zum Beispiel, dass ich wieder einen Schlag hätte und zum Beispiel nicht mehr sprechen kann oder nicht mehr verständlich. Ich habe zwei, drei Freundinnen, die nicht mehr richtig reden können. Man – versteht nicht mehr, was sie eigentlich sagen wollen, und das finde ich sehr bedrückend. Und dann ist auch bedrückend, dass man dann nicht mit Exit noch etwas machen kann. Weil, wenn man nicht mehr zurechnungsfähig ist, ist diese Möglichkeit nicht mehr da.« (Frau Schulthess, T: 158 – 160).
Das rechtliche Anforderungskriterium der Urteilsfähigkeit löst bei einigen chronisch Kranken Angst davor aus, diese verlieren zu können, und die Angst wirkt sich auf das medizinisch-therapeutische Adhärenzverhalten negativ aus. So geben solche Patienten an, dass sie aufgrund solcher Angst bestimmte schmerzlindernde Medikamente, die ihren Verstand »vernebeln«, nicht einnehmen. Die Folge dieser Non-Adhärenz ist ein nicht zum Tragen kommendes und dadurch unwirksames Symptommanagement. Wenn die Angst, nicht mehr urteilsfähig und somit nicht mehr entscheidungsfähig zu sein, anhält oder zunimmt und unzureichend behandelte Symptome Kranke unerträglich plagen, können diese Umstände sie dazu veranlassen, mit einer Suizidbeihilfeorganisation in Kontakt zu treten und zu entscheiden, so schnell wie möglich durch Suizidbeihilfe zu sterben, um einem potenziellen Verlust der Urteilsfähigkeit zuvorzukommen oder sich von unerträglichen Symptomen zu befreien. 5.1.1.8.2.1.6 Niemanden belasten wollen Mehrere Kranke wollen grundsätzlich für niemanden, das heißt, weder für ihre nahestehenden Bezugspersonen, die Nachbarn noch den Staat mit ihrem Leben, Sterben oder Tod zu einer Belastung werden. Es ist ihnen ein Anliegen, dass ihre Angehörigen nicht leiden, weil diese sie vielleicht leidend sehen müssten. Einige wollen ihnen eine Belastung durch ihr Sterben (durch Suizidbeihilfe) nicht zumuten oder ersparen. Manche sind der Ansicht, dass ihre Bezugspersonen schon genug gefordert sind, weil auch sie gesundheitlich angeschlagen sind. Aus Gründen wie diesen wollen einige Kranke ihnen nahestehende Menschen nicht noch zusätzlich mit ihren Überlegungen betreffend die Suizidbeihilfe belasten. Das Bedürfnis, niemandem zur Last zu fallen, löst Hemmungen aus, insbesondere bei kranken Bezugspersonen, über Existenzfragen zu sprechen, das heißt, über die eigenen Überlegungen, sein Leben zu beenden und Suizidbeihilfe zu erwägen. Fr. Tanner : »Und jetzt eben habe ich gedacht, wenn es nicht mehr geht, dann hilft mir Exit vielleicht, dass ich sterben kann. […]. Ich bin nicht gewohnt, auf jemanden angewiesen zu sein. Obwohl, meine Tochter beklagt sich nie (betont). Sie ist ein ganz lieber Mensch und ich habe auch das Gefühl – sie sagt immer : Früher hast du mich müssen und jetzt tue ich dich. Jetzt ist das ein Ausgleich und das ist beruhigend für mich. Aber ich möchte ihr trotzdem nicht bis zum Schluss zur Last fallen. Ich weiß ja
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nicht, wie lange. – Ich weiß nur, dass man bei Parkinson – dass das lange Zeit gehen kann, bis man da sterben kann.« (Frau Tanner, AJ: 113 – 3 – 115).
Eine Last für andere zu werden oder zu sein, bezieht sich auch darauf, finanziell zur Last zu fallen, wenn man zum Beispiel in ein Pflegeheim muss. Gepflegt werden zu müssen wird auch damit gleichgesetzt, eine Belastung für andere zu sein. 5.1.1.8.2.1.7 Gewolltes aufgeben Einige Kranke äußern, von ihnen gewollte Gegebenheiten ihres Daseins wie ihr Leben, ihre Umgebung, ihre Beziehungen zu nahestehenden Menschen nicht einfach aufgeben zu wollen. Aufgrund bestehender gewollter Gegebenheiten erfahren sie das Gefühl einer gewissen Lebensfähigkeit, das sie nicht missen wollen und das sie dazu veranlasst, gegenwärtig nicht sterben, sondern weiterleben zu wollen. Fr. Schulthess: »[…], ich bin gewohnt, dass ich immer noch drauskomme, und das war interessant mit den vielen Leuten, die ich da getroffen habe. Auch im Krankenhaus oder nachher war ich noch eine Zeit lang in der Tagesklinik, dass viele sich immer nur um ihr – körperliches Befinden – kümmern können und gar nicht – keine anderen Interessen mehr haben und das hat mir eigentlich Eindruck gemacht. Das heißt, das zeigt mir eine gewisse, äh, Lebensfähigkeit, die ich offenbar noch nicht unbedingt aufgeben will.« (Frau Schulthess, T: 234).
Solange die Gegebenheiten des Daseins eines Menschen überwiegend mit dem übereinstimmen, was dieser Mensch will und was für ihn wichtig oder akzeptabel ist, bleiben auch der Wille und die Bereitschaft bestehen, am Leben festzuhalten, das heißt, weiterleben zu wollen. 5.1.1.8.2.1.8 Es so weit kommen lassen, dass einem etwas Ungewolltes zustößt Chronisch Kranke, die Vorstellungen darüber entwickelt haben, was für sie ungewollte Daseinsumstände sind, wollen das Risiko nicht eingehen, dass ihnen entsprechende Geschehnisse widerfahren. Sie wollen die Risiken vielmehr vermeiden. Einige fürchten sich vor der Verschlimmerung ihrer gesundheitlichen Probleme und dem Verlust ihrer Denkfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Selbstbestimmung oder Urteilsfähigkeit. Andere ängstigen sich davor, dass mit ihnen die gleichen negativen Dinge geschehen, die sie bei anderen miterlebt haben. Es sind antizipierte Assoziationen über das Ungewollte und damit auftretende Ängste, die einige zu der Überlegung veranlassen, es erst gar nicht so weit kommen zu lassen. Fr. Rickenbach: »Mögen Sie sich erinnern, vor ein paar Wochen oder ein paar Monaten? Dieser alte Mann, den man da gefunden hat, den, äh, – die Schwiegertochter oder die Stieftochter ihn so geplagt und geschlagen hat?« […]. I: »Ja, das habe ich, das
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habe ich gesehen.« Fr. Rickenbach: »Und dieser Mann sich nicht wehren konnte.« I: »Das habe ich gesehen.« Fr. Rickenbach: »Und diese Frau ihn geschlagen hat und misshandelt hat bis dort und jenseits raus. […]. Und dort – von dort an habe ich wieder gedacht: Also mein Entscheid ist 100 % richtig. So weit lasse ich es nicht kommen. […]. Also ich will – wobei ich ehrlich sagen muss, ich denke, dass, wenn der Zeitpunkt kommt, dass ich in ein Pflegeheim müsste, in den nächsten paar Jahren, dann würde ich das wahrscheinlich nicht machen. Weil, ob ich mit 75 oder 80 in ein Altersheim gehe oder mit knapp 50 in ein Pflegeheim, ich denke, das ist ein Unterschied. Und, wenn ich – ich mit meiner normal entwickelten Intelligenz, ich bekomme mit, was um mich herum passiert, ich nehme alles voll wahr, ich sehe, was mit mir passiert. Aber ich kann mich nicht mehr ausdrücken, ich kann mich nicht mehr bewegen, ich kann nicht mehr sprechen, ich kann nichts mehr und bin völlig ausgeliefert. Ich kann zum Beispiel, wenn ich jetzt, angenommen ich habe Rückenschmerzen, ich bekomme Rückenschmerzen, ich kann nicht sagen: Ich habe Schmerzen, gebt mir eine Spritze. Ich liege wochenlang mit Schmerzen da und niemand hilft mir, weil es niemand weiß, weil ich es niemandem sagen kann. Das kann es ja nicht sein. Also das kann ja niemand von mir verlangen, dass ich so lebe. Und das mache ich auch nicht. Da weigere ich mich einfach wahnsinnig dagegen. Und ich denke, wenn der Zeitpunkt käme, wo ich nicht mehr alleine leben kann, wo ich aus meiner Wohnung raus müsste und ins Pflegeheim müsste, also, ich glaube, so weit lasse ich es gar nicht kommen. Da würde ich vorher dann wahrscheinlich diese Tabletten (Schlaftabletten) schlucken. Weil das, ich dieses Leben dann wirklich nicht mehr lebenswert finde. […].« (Frau Rickenbach, P: 326 – 332).
5.1.1.8.2.1.9 (Nicht noch lange) Weiterleben wollen Unter chronisch Kranken finden sich auch solche, die nicht ewig oder nicht mehr lange leben wollen. Andere mögen nicht mehr weiterkämpfen, da ihnen zunehmend die Kraft fehlt, um die von ihnen gewollte Art zu leben aufrechterhalten zu können. Mehrere Leidende befinden sich an dem Punkt, nicht mehr weiterleben zu wollen. I: »Wie fühlen Sie sich denn jetzt? Also, durch Ihre Situation mit der Krankheit. Was hat sich für Sie im Leben verändert?« Fr. Jost: »Ja, einfach, dass ich nicht so weiterleben möchte. Was – unheilbar krank sein – wochenlang, monatelang im Krankenhaus liegen. Nichts kann geschehen. Das war für mich unmöglich.« (Frau Jost, AF: 190 – 191).
5.1.1.8.2.2 Ungewolltes hinsichtlich des eigenen Lebensendes und Sterben 5.1.1.8.2.2.1 Auf ungewollte Art sterben Die Kranken haben klare Vorstellungen davon, wie sie nicht sterben wollen. Ihre Vorstellungen über unerwünschte Sterbesituationen beziehen sich nicht nur auf das Wann, sondern auch auf das Wie, die Dauer und die Qualität des Sterbens, auf die Form, Suizid zu begehen, sowie auf das Zugegensein nahestehender Menschen im Falle des Sterbens durch Suizidbeihilfe. Unerwünschte Umstände
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zu sterben sind aus der Sicht chronisch Kranker zum Beispiel, unter Schmerzen, Atemnot oder Erstickungsgefühlen zu sterben. Ein langsames, langes Sterben ist ungewollt. Zudem ist es unerwünscht, »benebelt« zu sterben, das heißt, aufgrund von Medikamenten in einen Zustand zu geraten, in dem man kein normales Gespräch mehr führen kann. Mehrere Kranke wollen nicht elendig oder leidend sterben. Fr. Strub: »Ich finde, ich müsste genauso gut auch eine gute Situation haben zum sterben. Also, nicht zum Beispiel im Krankenhaus. Wie das im Krankenhaus im Allgemeinen gehandhabt wird. Jetzt, meine Mutter, das hat mich versöhnt mit dem Krankenhaus. Da war es wirklich schön.« I: »Also, Ihre Mutter ist im Krankenhaus gestorben?« Fr. Strub: »Ja, aber es ging auch nicht so lange. Sie hat dann einen Herzinfarkt gehabt, und wir konnten da bei ihr sein bis sie gestorben ist, und das fand ich sehr – sehr schön. Auch angenehm mit den Schwestern da.« I: »Und das können Sie sich für sich nicht vorstellen? Oder?« – Fr. Strub: »Doch, aber das wäre ja – vielleicht nicht nötig. Also, das weiß ich ja jetzt nicht. Wenn es möglich wäre, dass man mir zu Hause diese Apparaturen gibt, die es braucht, damit ich nicht einfach so – ähm, auf Schweizerdeutsch sagt man: ›verräble‹, ›verrecke‹. Äh, sagen Sie mir einmal ein schönes Wort in Deutsch?« (Frau Strub, AH: 195 – 201).
Von den Kranken, die sich vorstellen können, ihr Leben irgendwann selbst zu beenden, zieht die Mehrheit Suizidbeihilfe in Betracht und schließt andere Suizidmethoden für sich aus. Die Vorstellung, sein Leben auf eine andere Art als durch Suizidbeihilfe zu beenden, löst Angst aus. Lebensbeendende Methoden wie zum Beispiel ein Suizidversuch mit (zu wenig) Medikamenten wird als zu ungewiss und zu gefährlich betrachtet, da es einem im Falle des Überlebens aufgrund dadurch erworbener zusätzlicher Beeinträchtigungen nachher womöglich noch schlechter geht als vorher. Neben Kranken, die erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, gibt es auch solche, für die Suizid oder Suizidbeihilfe ungewollte Sterbesituationen sind. 5.1.1.8.2.2.2 An einem ungewollten Ort sterben Mehrere Kranke wollen nicht in einem Krankenhaus sterben. Wochen-, monateoder lebenslang in einem Krankenhaus zu liegen und dort zu warten, bis das Ende kommt, sind ungewollte Sterbesituationen, die sich mehrere Kranke lieber ersparen wollen. Auch das Sterben in einem Hospiz oder einer Palliativstation ist für einige keine Alternative. I: »Und so Hospize oder Palliativstationen?« Hr. Schaer : »Ou nein!« I: »Ist das ein Thema gewesen?« Hr. Schaer : »Gar nicht. Das ist gar nichts für mich, weil ich habe mich darüber informiert –.« I: »Was schreckt Sie da ab, wenn ich Sie fragen darf ?« Hr. Schaer : »Die Leute genießen. Das ist für die normalen Leute, die nicht so verschroben sind wie ich, die genießen können, die absolute Fürsorge. Ich finde das eine enorm gute Einrichtung. Sehen Sie, ich bin einer aus der Palette. Ich weiß ganz genau, dass es
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enorm gute Einrichtungen sind – aber nicht für mich –.« I: »Mhm. Könnten Sie sich nicht vorstellen für sich?« Hr. Schaer : »Nein. Wenn ich hier meine Lebensumstände verändern müsste – ist es schon fast zu spät. ––– Das ist mein Denken.« (Herr Schaer, R: 1110 – 1134)
Eine Alternative zum Sterben im Krankenhaus sehen manche Kranke darin, in ihren eigenen vier Wänden zu sterben, vorausgesetzt, die ihnen nahestehenden Menschen wären bereit, sie zu Hause zu pflegen. Diese Möglichkeit stellt allerdings nicht für alle Kranken die präferierte und zudem verfügbare Alternative dar. Ob es sich dabei aus der Sicht der Kranken um eine tatsächliche Alternative handelt, hängt mit den zuvor sowie im Weiteren erläuterten zahlreichen individuellen und kontextuellen Faktoren zusammen. Unter Kranken, die erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, finden sich einige, die nicht zu Hause sterben wollen. Der Grund dafür ist, dass nach Eintreten dieses »unnatürlichen« Todesereignisses die Polizei verständigt wird, was ein unerwünschtes Interesse von Außenstehenden nach sich ziehen kann, was manche umgehen wollen. 5.1.1.8.2.2.3 Am Sterben gehindert werden Einige chronisch Kranke haben Angst, dass Gesundheitsfachpersonen in Institutionen des Gesundheitswesens ihr Sterben nicht zulassen könnten. Fr. Odermatt: »Ich habe so viele Mittel, die ich jetzt nicht mehr nehme, und das […?]. Aber das will ich ja nicht tun. Dann kommt man doch dazu, und dann komme ich ins Krankenhaus, und dann päppelt man mich auf. Und das hat auch keinen Sinn. Ich meine, ich denke, wenn das Herz versagen würde, das wäre. – Übrigens, das habe ich auch dem Doktor xy (Name des Hausarztes) gesagt, als ich ihm von den Herzbeschwerden erzählte, dann sagte ich: ›Ja, das Herz, das macht Sterbehilfe, statt Exit.‹ Ja. Aber es ist dann – heute ist es vom Herz her nicht so schlecht, aber von der Übelkeit her. Was da alles dazu kommt, weiß ich nicht. Aber, eine große Untersuchung, also, wenn ich jetzt dem Arzt berichte, was macht man? Man schickt mich ins Krankenhaus, meldet mich im Krankenhaus an – und dort lässt man einen nicht sterben.« (Frau Odermatt, EV: 113 – 3 – 116).
Diese Angst veranlasst manche dazu, vermeiden zu wollen, in eine Institution des Gesundheitswesens eingewiesen zu werden und sich dort behandeln zu lassen. 5.1.1.8.2.2.4 Über das eigene Sterben entscheiden Auffallend ist, dass Kranke, für die Suizid(-beihilfe) grundsätzlich keine vorstellbare Option ist, sich dadurch auszeichnen, dass sie sich nicht das Recht oder die Freiheit herausnehmen, über die Art und Weise sowie den Zeitpunkt ihres Sterbens zu entscheiden.
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Hr. Beck: »[…]. Nein, das, das mit dem Suizid, das kommt für mich überhaupt nicht infrage, nein. Obwohl ich schwere, schwerste Depressionen hatte und immer noch depressiv veranlagt bin.« I: »[…]. Wieso ist das für Sie nicht infrage gekommen?« Hr. Beck: »Ja, in erster Linie: Ich kann nicht bestimmen, wann ich auf die Welt komme, und ich kann nicht bestimmen, wann ich von dieser Welt gehe. Also, dass ich mir das Recht herausnehme und einfach dann sage: So, jetzt ist fertig. Das finde ich nicht gut, das ist – nein, das ist nicht gut. […].« (Herr Beck, AB: 284 – 288).
Bedingt wird dieser Umstand durch die Persönlichkeitsmerkmale sowie die Glaubenshaltung Kranker. 5.1.1.8.2.2.5 Zu einem ungewollten Zeitpunkt sterben Mehrere Kranke wollen nicht zu einem von ihnen ungewollten Zeitpunkt sterben, sondern dann sterben können, wenn sie es für nötig erachten. Sie erwägen, Suizidbeihilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie ihr biologisches Sterben nicht abwarten wollen. Sie wollen nicht bis zur absoluten Hinfälligkeit warten, um abtreten zu dürfen, oder durchhalten müssen, bis ihr Tod eintritt. I: »Was haben Sie so für ein Bild im Kopf, wenn Sie darüber nachdenken, so weiterzuleben?« Fr. Jost: »Ja, dass das für mich gar nicht infrage kommt. Nachher lebenslang im Krankenhaus liegen und da warten, bis das Ende kommt? Nein, niemals. Ja. Damals habe ich mich sofort wieder bei Exit gemeldet. Und – die Situation klar gelegt. Das kommt für mich nicht infrage. Ich weiß, dass es viele gibt, die das ablehnen. Aber ich wollte so nicht weiterleben.« I: »Mhm, mhm. Also, denken Sie, die Alternative wäre, im Krankenhaus sein zu müssen?« Fr. Jost: »Ja, ja. Ja. Und keine Genesung und dann wochenlang hier liegen und das abwarten, das Ende. Nein. Das kommt für mich nicht infrage.« (Frau Jost, AF: 150 – 161).
5.1.1.8.2.2.6 Andere durch einen Suizid erschrecken Einige Kranke betonen, dass sie ihnen nahestehende Menschen nicht zu Tode erschrecken wollen, wenn diese sie nach ihrem Suizidversuch finden würden, und ziehen deshalb vor, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Fr. Schmid: »[…]es gab eine Zeit in meiner – also, Jugend, so um die 20, da habe ich immer gedacht, wenn mir das Leben zu schwer wird, dann werde ich einfach gehen. Aber was mich abgehalten hat, immer, und auch heute abhalten würde, das wäre die Verantwortung, die ich habe gegenüber den Menschen, die mich dann finden. Ich möchte nicht, dass jemand so erschrecken muss – […]. Aber ich habe keine Hemmungen, mit Exit zu gehen.« (Frau Schmid, S: 102 – 107).
5.1.1.8.2.2.7 Ärzte wegen seines Vorhabens, durch Suizidbeihilfe zu sterben, in eine schwierige Lage bringen Die meisten Patienten, die sich für die Möglichkeit interessieren, durch Suizidbeihilfe zu sterben, wollen nicht, dass ihr (Haus-)Arzt deswegen Schwierigkeiten bekommt. Obwohl Patienten das Recht auf Ausstellung eines ärztlichen
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Zeugnisses über ihre Krankheit und deren Verlauf durch ihren Arzt haben, zeigt die Erfahrung der Mitarbeiter von Suizidbeihilfeorganisationen, dass in Situationen, in denen von ärztlicher Seite die Ausstellung eines solchen Zeugnisses verweigert wird, kaum auf Rechtshilfe zurückgegriffen wird, um einen Arzt zu der Ausstellung eines Arztzeugnisses zu bewegen. Hr. Huber : »Ähm, aber es gibt solche (Ärzte), die so dagegen sind, dass sie sagen: Nein, also, mit Exit will ich nicht kooperieren, das mache ich nicht. Da haben wir einen Rechtsanwalt. Wenn es nötig ist, kann er (der Kranke) das eigentlich erhalten. Aber die meisten Patienten, die wollen das nicht. Die Leute sagen: ›Nein, nein. Ich will nicht, dass mein Hausarzt – dass er Schwierigkeiten bekommt und so.‹« I: »Wechseln die dann eher den Arzt? Oder was machen Sie?« Hr. Huber : »Äh, es gibt einige Fälle. Aber es ist – also, wirklich – also, ähm, ganz, ganz seltene Fälle, wo man, äh, einverstanden ist – ja. Ich finde, dass – die Bindung zwischen Patient und Hausarzt, ich finde das an und für sich positiv. Die wollen den Arzt nicht unter Druck setzen. Die wollen lieber unsere Vertrauensärzte unter Druck setzen (lacht), weil sie nicht bekannt sind.« (Herr Huber, Freitodbegleiter, AE: 197 – 207).
In Situationen, in denen Ärzte ablehnen, eine medizinische Diagnose und ein Rezept für das tödliche Substrat auszustellen, kommt es vor, dass Patienten aus Rücksichtnahme auf ihren Arzt von ihrer Überlegung, durch Suizidbeihilfe zu sterben, absehen. 5.1.1.8.2.2.8 Hürden überwinden müssen, um durch Suizidbeihilfe sterben zu können Einigen Kranken wäre es lieber, wenn sie keinen Aufwand betreiben müssten, um durch Suizidbeihilfe sterben zu können, das heißt, zum Beispiel, dass sie im Falle eines Krankenhausaufenthaltes nach Möglichkeit nicht extra aus der Institution nach Hause oder in eine Sterbewohnung einer Suizidbeihilfeorganisation transportiert werden wollen, um dort durch Suizidbeihilfe sterben zu können. Hr. Niederberger : – »Das Schlimmste, was mir passieren könnte, das wäre, – wenn ich plötzlich jetzt einen – Anfall hätte. Also, zum Beispiel – bin ich dankbar, wenn ich einen Herzanfall habe und ich sterbe daran. Wenn ich jetzt aber einen Herzschlag habe und ich sterbe nicht daran und er – zwingt mich dann aber ans Krankenbett. – Es wäre mir absolut unmöglich – zu Hause zu sein. Ja, was tue ich dann? Dann bin ich ja verloren. Ich müsste dann auch mit allen Tricks und Mitteln versuchen, – dass man mich heimschafft, in mein Bett zu Hause und da denke ich, das gibt dann schon Aufwand, Komplikationen, Schwierigkeiten. Äh, ich könnte mir vorstellen, dass man es durchsetzen kann aber mit einem unwahrscheinlichen Aufwand, – und noch schlimmer wäre ja vielleicht ––– ein Hirnschlag oder irgendetwas im Kopf, das mich plötzlich nicht mehr urteilsfähig macht, – bei dem ich sehr wohl – noch Schmerzen spüre, unglücklich bin, Gefühle habe aber das Ganze einfach nicht mehr exitmäßig – äh – sauber zu Ende führen kann. Ich, ja, so stelle ich mir eigentlich das Schlimmste vor.« ––– I: »Sie haben
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gerade gesagt, eben, dann, wenn Sie im Krankenbett oder ans Krankenbett gebunden wären, dann wären Sie verloren, wie meinen Sie verloren?« Hr. Niederberger : »Exit gegenüber. Ich meine, ich kann ja nur meinen Entscheid treffen.« I: »Ah ja, ja, Sie haben das.« Hr. Niederberger : »Ich meine das in Bezug auf Exit, so herum. – Nein, natürlich hätte ich in einem solchen Moment im Krankenhaus, Herz- oder Hirnschlag oder was auch immer, die weitaus beste Behandlung, aber ich müsste dann Mittel und Wege finden bezüglich Exit. Wie komme ich für einen Tag oder zwei Tage nach Hause. Ich kann das, ich kann den Wunsch äußern, weg mit den Schläuchen, fertig Schluss aber, eben, das wäre dann wahrscheinlich, wenn ich da dann mit Blutung im Krankenauto liege, nur damit ich nach Hause komme und so, das meine ich damit, – ja –.« (Herr Niederberger, D: 203 – 3 – 209).
5.1.1.8.2.2.9 Warten bis es für das Sterben durch Suizid(-beihilfe) zu spät ist Einige Kranke befürchten, irgendwann aus physischen Gründen nicht mehr selbst entscheiden zu und infolgedessen eines Tages nicht mehr durch Suizid (-beihilfe) sterben können. Aus Angst davor will mancher Kranke mit der Ausführung der Suizid(-beihilfe) nicht länger zuwarten. I: »Aber trotz alledem möchten Sie sterben?« Fr. Urech: »Ja, also, ich habe einfach genug. Es ist so, jetzt gibt es hier noch eine Renovation. Wir kriegen neue Fenster, da müssen wir noch zwei Tage aus dem Zimmer. Wir müssen das über uns ergehen lassen und das möchte ich eigentlich lieber nicht. Und so lange hinausschieben – ich habe einfach Angst davor, dass der Geist nachlässt und dass man dann das Exit gar nicht mehr benutzen könnte. Davor habe ich Angst.« I: »Mhm –.« Fr. Urech: »Und deshalb möchte ich nicht zu lange warten.« I: – »Deswegen würden Sie sagen, lieber eher?« Fr. Urech: »Ja.« (Frau Urech, X: 122 – 127).
5.1.1.8.2.2.10 Wegen Suizidbeihilfe ins Gerede kommen oder von Außenstehenden bedrängt werden Manchen Kranken ist es wichtig, kein Gerede über sich und ihr Vorhaben, Beihilfe zum Suizid zu beanspruchen, zu entfachen. Fr. Trüb: »Also, ich hatte, ich habe eine Trauerfeier gemacht anlässlich meines letzten Geburtstages und – gut ich habe nicht gesagt, dass das in dem Sinne eine Trauerfeier ist, sondern ich habe gesagt: So wir verabschieden heute den 65. Geburtstag, und damit war es – und dann hat sich das dann erst, na ja, ich habe es auch nicht allen gleich erzählt. Eben ich wollte das eigentlich vermeiden, dieses Gerede im Dorf und dauernd dieses, jeder, ich weiß noch ein bisschen mehr und mir hat sie gesagt, sie hat schon mehr Schmerzen und da hat sie das gesagt, dass finde ich, also, ––– und ja, mit der Zeit hat sich das dann sowieso halt, das war dann ja nicht zu verhindern. […].« (Frau Trüb, W: 141 – 143).
Einige Kranke, die erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, befürchten, von Außenstehenden mit Ratschlägen bestürmt zu werden. Damit ist gemeint, dass andere ihnen sagen könnten, dass sie das nicht tun sollen, und sie geradezu
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behindern wollen, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Wollen Kranke vermeiden, dass andere von ihren Suizidbeihilfeüberlegungen erfahren, kann sie das dazu veranlassen, ihr Vorhaben zu verschweigen und sich nur ausgewählten Personen anzuvertrauen. 5.1.1.8.2.2.11 Seinem Leben ein Ende setzen und sterben Die Mehrheit der Kranken, die erwägen, vielleicht irgendwann durch Suizidbeihilfe zu sterben, will sich gegenwärtig nicht ihr Leben nehmen, sondern so lange, wie es für sie geht, weiterleben. Fr. Rieger : »Ich habe schon eine Zeit lang darüber nachgedacht. Ich habe schon darüber nachgedacht, als ich meinen Mann noch hatte, weil ich niemals meinem Mann das zumuten wollte, dass er Alzheimer bis zum Schluss aushalten muss. Und ich weiß, dass ich die Kraft nicht mehr hatte. Da habe ich eigentlich schon an Exit gedacht. – Aber, dass ich mich mit Exit in Verbindung gesetzt habe, das ist dann erst gekommen, als ich alleine war. Weil, ich allein, ich weiß nicht, für was ich da sein soll. Und ich möchte einfach nicht noch daliegen und dass die mir da –. Nein, das möchte ich nicht. – Ich habe sicher, wie sagt man, Respekt vor dem Leben, aber nicht vor einem Leben, das wertlos ist. Das ist wirklich kein – ich bin für niemanden mehr verantwortlich. Ich hinterlasse keine Lücke, also, keine große Lücke, sagen wir mal, und – dann möchte ich das nicht. Ich will mir ja nicht das Leben nehmen. […].« (Frau Rieger, Q: 175).
Aus der Sicht eines befragten Mitarbeiters einer Suizidbeihilfeorganisation wollen Leidende, die sich an eine Suizidbeihilfeorganisation wenden, einfach gehen. Sterben wollen sie seiner Ansicht nach im Grunde nicht. 5.1.1.8.2.2.12 Etwas anderes, als in Kürze durch Suizidbeihilfe sterben Einige Leidende sind an dem Punkt angelangt, an dem sie nichts anderes mehr wollen, als in Kürze durch Suizidbeihilfe zu sterben. I: »Und sind Sie noch eine gewisse Zeit zu Hause? Oder wie haben Sie das – von der Zeit her organisiert?« Fr. Jost: »Nein. Nein, dann geht es rasch. Das wollte ich nicht. Aber meine Nichte hatte etwas Angst, ich könnte da zusammenklappen. Aber ich habe ihr gesagt: ›Ich will das. Also muss ich das auch durchstehen.‹« I: »Mhm. Stehen Sie selbst ein bisschen auch davor? Oder – wie ist das für Sie, wenn Sie daran denken?« Fr. Jost: »Wie meinen Sie?« I: »Ja, wenn Sie sagen, ich will das, also muss ich das auch durchziehen. Ich denke so, ja, der Gedanke ist schon noch speziell, zu wissen – man ist vielleicht zwei oder drei Tage noch da – und dann ist fertig.« Fr. Jost: »Nein, ich nehme das ganz ruhig. Ich habe mich genug damit auseinandergesetzt. Und ich will nichts anderes.« (Frau Jost, AF: 383 – 3 – 402).
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5.1.1.8.2.2.13 Seinen Entscheid aufgeben, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben Aus den Äußerungen der befragten Bezugspersonen von Kranken, die durch Suizidbeihilfe gestorben sind, geht hervor, dass sie sich von ihrem Vorhaben, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben, nicht abbringen lassen wollen. Fr. Nüesch: »Aha, ja –––––– (seufzt). – Er hat sich natürlich schon darauf vorbereitet. Er hat ja nichts anderes gewollt. Am Morgen sind die Heimbewohner noch bei ihm im Zimmer gewesen, Frau xy (Name einer Mitbewohnerin) auch und hat ihn bekehren wollen, oder, und da hat er gesagt: Nein, für mich gibt es gar nichts anderes. Ich will das jetzt und jetzt ist der Zeitpunkt festgelegt und fertig und jetzt will ich das und nachher sind wir gekommen. Haben ihn abgeholt. Also, wir mussten mit ihm ja nach xy (Stadtname) in eine Wohnung.« (Frau Nüesch, Tochter, AT: 42).
Die Faktoren des Gewollten und Ungewollten zeigen, was chronisch Kranken hinsichtlich ihres gegenwärtigen und zukünftigen Daseins, Sterbens und Todes wichtig ist und was für sie diesbezüglich ungewollt ist. Darüber hinaus bilden die ungewollten und gewollten Faktoren Gegenstände der persönlichen Werte- und Präferenzsysteme chronisch Kranker ab und verdeutlichen deren Vielschichtigkeit. Die erklärten persönlichen Faktoren sind Teil des Ausgangspunktes der Entscheidungsprozesse physisch chronisch Kranker Menschen darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, was auch für die im Folgenden beschriebene gewohnte Daseinsweise eines Menschen gilt.
5.1.2 Die gewohnte Daseinsweise eines Menschen Die gewohnte Daseinsweise eines Menschen fokussiert auf die zurückliegende, dem jeweiligen Menschen vertraute Art und Weise, zu sein, bevor eine chronische Krankheit auftritt, und umfasst den gewohnten Gesundheitszustand, die Gewohnheit, seinen Leidenschaften und Lieblingsbeschäftigungen nachgehen zu können, das gewohnte Selbstverständnis, das ein Mensch von sich hat, und die Bedeutung des bereits gelebten Lebens. 5.1.2.1 Der gewohnte Gesundheitszustand Im Gegensatz zu Kranken, die bereits ihr Leben lang Gesundheitsbeschwerden aufweisen, diverse Krankheiten hinter sich haben und immer wieder von Krankheitsereignissen eingeholt werden, bezeichnen andere Menschen ihren gewohnten Gesundheitszustand bis zu Beginn ihrer chronischen Krankheit häufig als gut, da sie ihr Leben lang gewohnt waren, gesund zu sein und es nicht kannten, krank zu sein.
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Hr. Niederberger : »Äh, ‹34 ja, ja, ich bin am –– ‹04 bin ich siebzig geworden. Darauf kommen wir ja noch? O.k., nein, bei mir ist es so, ich sage auch gerne etwas über meine private Situation, ich – war bis Dezember, bis vergangenen Dezember, also, das heißt Dezember 2003 kannte ich Kranksein praktisch nicht. Ich hatte mal ein kleines ›Wehwehchen‹, vielleicht mal eine Erkältung, aber zu einem Arzt gehen oder schon ein Krankenhaus, das war ein Fremdwort für mich. Ich hatte, ich war immer gesund, ich dachte immer, ja, das ist von der Familie gegeben. Meine Mutter, die wurde 95 Jahre und war immer kerngesund, die war nie bei einem Arzt und ist dann an einem Herzschlag unerwartet gestorben, und ich dachte eigentlich immer, dass mir hoffentlich auch mal so ein Ableben vergönnt sei.« (Herr Niederberger, D: 21 – 25).
5.1.2.2 Gewohnt sein, seinen Leidenschaften und Lieblingsbeschäftigungen nachgehen zu können Aufgrund ihres guten Gesundheitszustandes waren die meisten Menschen gewohnt, ihren Leidenschaften und Lieblingsbeschäftigungen nachgehen zu können. Sie betrieben zur Verbesserung ihres Wohlbefindens begeistert Sport-, Wellness- oder Entspannungsaktivitäten. Einige übernahmen soziale Aufgaben innerhalb ihrer Familie oder beteiligten sich an gesellschaftlichen Aktivitäten. Sie waren gewohnt, unterwegs zu sein und auf Reisen zu gehen. Fr. Rickenbach: »[…]. Ich war ein sehr spontaner Mensch. Ich habe einfach jetzt auf sofort entschieden, ich gehe heute Abend mit dem und dem essen. Ich rufe an: ›Du hast du Zeit? Kommst du mit?‹ Und ––– oder man hat mich angerufen: ›Du, hast du Lust?‹ Und ich konnte gehen. Ich war wahnsinnig selbstständig. Ich stand immer auf eigenen Füßen. Ich hatte nie einen Mann, der für mich geschaut hat. Ich habe immer selbst für mich geschaut. […].« (Frau Rickenbach, P: 174).
Manche waren künstlerisch, musikalisch oder schriftstellerisch tätig und fanden in ihren Beschäftigungen für sich ein Ventil. Sie waren gewohnt, ihre Interessen leben zu können, sich zu beschäftigen, etwas arbeiten zu können und etwas außerhalb ihres Zuhauses unternehmen zu können. Gegebenheiten wie relative Gesundheit und die Möglichkeit, seinen gewohnten Leidenschaften und Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen, beeinflussen das Selbstverständnis eines Menschen. 5.1.2.3 Das gewohnte Selbstverständnis Das gewohnte Selbstverständnis verdeutlicht die Vorstellung, die ein Mensch von sich selbst hat. Bis zum Auftreten einer chronischen Krankheit nehmen sich viele Menschen als selbstbestimmte, selbstsichere, selbstständige, unabhängige, aktive und lebhafte Individuen wahr, die sich interessieren, reich an Ideen und
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unbeschwert sind. Sie verstehen sich als ein Mensch, der es gewohnt ist, sein Leben selbstständig zu führen, und der in der Lage ist, sich zur Wehr zu setzen. Fr. Tanner : »[…]. Ich fühle mich sonst gut da (bei der Tochter, bei der sie lebt). Aber ich merke, dass ich niemandem mehr etwas nütze. Ich war gewohnt, immer tätig zu sein. Ich war gewohnt, alles selbst zu machen. Und jetzt kann ich nicht einmal mehr, ––– kaum selbst aufstehen, ohne Hilfe. Und das macht mir eben so große Mühe. Dieses Unselbstständigsein. Ich kann nicht mehr kochen. Ich kann nicht mehr einkaufen gehen, nichts mehr. Also, wirklich nichts mehr. Alles macht xy (Name der Tochter).« I: »Xy ist Ihre Tochter?« Fr. Tanner : »Ja, ja. Alles macht sie. Und ich wäre total hilflos, wenn ich xy (Name der Tochter) nicht hätte. Dann müsste ich in ein Altersheim, und es ist eben schöner, zu Hause zu leben als in einem Altersheim.« (Frau Tanner, AJ: 81 – 85).
5.1.2.4 Die Bedeutung des bereits gelebten Lebens Im Hinblick auf die Bedeutung des gelebten Lebens zeigt sich, dass mehrere Kranke ein gutes Leben gehabt haben, gern gelebt haben und ihr Leben positiv bilanzieren. Fr. Odermatt: »[…]. Ich muss immer noch sagen, ich finde, ich habe ein gutes Leben gehabt. Ich bin eigentlich dankbar ––– komme mir irgendwie privilegiert vor. Also, einfach so, wie es abgelaufen ist. Und es lief schon manchmal etwas schief, aber es hat sich immer wieder eingerenkt. […].« (Frau Odermatt, EVI: 322 – 323).
Solche Kranken berichten zum Beispiel, dass sie viel erlebt, gut und intensiv gelebt haben und immer noch leben. Manche betonen, dass sie Freude am Leben hatten und das Leben genossen. Solche, die nahezu ihr Leben lang gesundheitliche Beschwerden aufwiesen und für die ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen Teil ihrer Identität sind, ziehen ebenfalls eine positive Lebensbilanz und fragen sich, ob ihr Leben ohne gesundheitliche Beschwerden für sie genauso gut verlaufen wäre. Die obigen Ausführungen darüber, wie Menschen ihr physisches, psychisches, soziales und existenzielles Dasein vor Auftreten einer chronischen Krankheit erlebten, sind bedeutsam, weil die gewohnte Daseinsweise eines Menschen, wie im Weiteren festgestellt, durch das Auftreten einer chronisch physischen Krankheit Veränderungen erfährt. Zusammenfassung Die bisherigen Erklärungen geben zu erkennen, wie sich die persönlichen Faktoren chronisch Kranker auf ihr subjektives Erleben ihres Daseins und dessen Bedeutung für sie selbst auswirken und welche Auswirkungen daraus auf ihre Überlegungen und Entscheidung darüber resultieren, weiterleben oder sterben zu wollen. Aus den Erläuterungen gehen zahlreiche Bedingungsfaktoren
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hervor (siehe Abbildung 28), die chronisch Kranke zu Überlegungen und Entscheidungen darüber veranlassen, unter welchen Umständen sie weiterleben oder sterben wollen würden und warum für manche im Gegensatz zu anderen quasi »nur« weiterleben infrage kommt. Die Faktoren resultieren aus Persönlichkeitsmerkmalen, dem Lebensalter, der Glaubenshaltung, medizinischen Fachkenntnissen, Einstellungen und Überzeugungen zu Leben, Sterben und Tod, zur Suizidbeihilfe und deren Organisationen, dem persönlichen Werte- und Präferenzsystem, sozialen Lebensumständen, prägenden Lebenserfahrungen und diesbezüglichen Antizipationen. Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Persönlichkeitsmerkmale – Willensstark – Freiheitsliebend – Selbstbestimmt – Kontrollbedürftig – Beeinflussen, was um einen herum geschieht, Dinge selbst in die Hand nehmen und in der Hand behalten – Aktiv – Antizipatorisch/vorausschauend – Vorbereitet/organisiert – Kämpferisch hinsichtlich eigener Ziele – Sich wehren – Sich schützen – Realist/Zweifler/Skeptiker
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen Persönlichkeitsmerkmale – Passiv sein, sich nicht aktiv zur Wehr setzen, mit sich geschehen lassen, sich nicht schwach zeigen, kaum aktiv in Geschehnisse eingreifen – Kompetenz, sich anzupassen/anpassungswillig – Es schaffen, mit der eigenen Situation umzugehen – Sich durch den Kontext fremdbestimmen lassen – Sich auf sein Schicksal einlassen, es annehmen, schicksalsergeben sein, fatalistisch – Altruistisch – Kampfgeist/darum kämpfen, weiterleben zu können Lebensalter – Lebensalter ist zu niedrig, um zu sterben
Lebensalter – Ausreichendes oder hohes Lebensalter erreicht haben – Lebensalter ist zu hoch, um weiterzuleben – Alters-/Lebensüberdruss Glaubenshaltung Glaubenshaltung – Gläubig sein – Nicht gläubig sein – Bedingt gläubig, nicht ausgeprägt/nicht – Spirituell sein streng (gott-)gläubig – Nicht spirituell sein – Frei von religiösen Bedenken sein – Verbindung von Gläubigkeit und Freiheit Medizinische Kenntnisse – Über medizinisches Fachwissen verfügen
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Einstellungen und Überzeugungen zum Leben – Ein wertloses, nicht mehr lebenswertes Leben leben – Ein Leben leben, dass keinen Lebensinhalt mehr hat – Sich in einem menschenunwürdigen Zustand befinden – Keinen Sinn im Aushalten von Leiden sehen – Wenn ich nicht auf gewollte Art leben kann, mache ich Schluss Einstellungen und Überzeugungen zum Sterben und Tod – Jeder Mensch soll sterben können, wann er will Einstellungen und Überzeugungen zur Suizidbeihilfe und Suizidbeihilfeorganisationen – Suizidbeihilfe ist grundsätzlich eine Option Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (physische Faktoren) – Nicht mehr klar denken können, seine Denkfähigkeit nicht verlieren wollen – Keine unerträglichen Schmerzen erleiden wollen – Keine kognitiven Beeinträchtigungen erfahren – Keine extreme Müdigkeit erfahren wollen – Nicht existieren wollen, ohne da zu sein, nicht in einem ausgelöschten, depersonalisierten Zustand existieren wollen – Nicht dahinsiechen, dahinvegetieren wollen
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen Einstellungen und Überzeugungen zum Leben – Ein wertvolles, lebenswertes Leben leben – Ein Leben leben, das Lebensinhalt hat – Ein sinnvolles Leben leben – Sich in einem menschwürdigen Zustand befinden – Sein Schicksal tragen müssen/schicksalsergeben – Man muss dankbar sein und das Leben genießen Einstellungen und Überzeugungen zum Sterben und Tod – Über Leben und Tod entscheidet jemand anderes Einstellungen und Überzeugungen zur Suizidbeihilfe und Suizidbeihilfeorganisationen – Suizid(-beihilfe) ist grundsätzlich eher oder definitiv keine Option Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (physische Faktoren) – Bei Kräften sein – Schmerzfrei sein – Bei klarem Verstand, bei Bewusstsein sein
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (psychisch-existenzielle Faktoren) – Nicht noch mehr von seiner Selbstständigkeit (Autonomie) einbüßen wollen – Seine Selbstbestimmung, Zurechnungsund Urteilsfähigkeit erhalten wollen – Abhängig werden, abhängig sein, nicht abhängig werden wollen – Nicht fremdbestimmt leben wollen – Deprimiert sein – Kein sinnloses Leben führen wollen – Nicht weiter an Lebensqualität verlieren wollen – Wenn die Lebensqualität nicht mehr ausreicht oder man mit seiner Lebensqualität nicht mehr auskommt, wenn die Lebensqualität abnimmt, unerträglich ist – Nichts anderes wollen als in Kürze durch Suizidbeihilfe sterben – Nur so lange weiterleben wollen, wie es für einen selbst tolerabel ist – Nicht mehr ewig oder nicht mehr lange leben wollen – Den Willen haben, abzutreten, aus dem Leben zu gehen und nicht weiterzuleben Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (physisch-psychisches Allgemeinbefinden) – Es geht schlecht, miserabel
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (psychisch-existenzielle Faktoren) – Selbstständigkeit – Unabhängigkeit – Zurechnungsfähig sein – Urteilsfähig sein – Entscheidungsfähig sein, Entscheidungsfreiheit – Selbstbestimmung – Etwas vom Leben haben – Lebenswertes Leben – Lebensqualität – Seine Lebenszeit auf zufriedenstellende Art verbringen – Grundsätzlich mit seinem Leben weitermachen, weiterleben wollen – So lange, wie es für einen selbst geht, weiterleben wollen (Lebenswille)
Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (physisch-psychisches Allgemeinbefinden) – Sich gut/wohlfühlen
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (krankheits- und versorgungsbezogene Faktoren) – Gesundheitliche Verschlechterung – Zunahme der Krankheitssymptome und deren Auswirkungen – Nicht noch mehr gesundheitliche Probleme und Einschränkungen auf sich nehmen wollen – Wenn Gesundheitsfachpersonen nichts mehr für einen machen können – Es gibt nichts, dass es einem wieder gutgeht – Es gibt keine Heilung der Krankheit – Die prognostizierte verbleibende Lebenszeit ist kurz (Tage, Wochen) – Kein bedürfnisgerechtes Symptommanagement, infolge dessen unwirksames Symptommanagement und aufgrund dessen unzureichend behandelte unerträgliche Symptome – Unzureichende Pflege – kann sich die Pflege nicht länger vorstellen – Versorgungsempfehlungen von Gesundheitsfachpersonen kommen nicht infrage – sind für die Betroffene keine Option – Negative Überzeugungen zur medizinischen Versorgung – Negative Einstellungen zu einem Leben in einer Institution des Gesundheitswesens – Wenn man nicht mehr zu Hause leben kann und es erforderlich wird, in einer Institution des Gesundheitswesens leben zu müssen – Sein Leben nicht in einem Alters- oder Pflegeheim respektive in einer Institution des Gesundheitswesen verbringen wollen
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (krankheits- und versorgungsbezogene Faktoren) – Verbesserung des physischen Zustandes – Linderung physischer Beschwerden – Auf gewollte Art von Gesundheitsfachpersonen versorgt werden – einwandfreie Versorgung, die auf Anteilnahme basiert, menschenwürdig und wertschätzend ist – Sich gut aufgehoben wissen und fühlen – Am gewollten Ort wohnen und leben können – Noch zu Hause leben können – Sanfter Übergang vom häuslichen Dasein zu einem Leben in einer Institution des Gesundheitswesens
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (Faktoren rund um das Sterben und den Tod) – Das Wie seines Sterbens bestimmen wollen, geplant sterben wollen – Nicht elendig, leidend sterben wollen – Nicht langsam, lang sterben wollen – Nicht unter Schmerzen, Atemnot, Erstickungsgefühlen sterben wollen – Vermeiden wollen, schrecklich zu sterben, oder sein Sterben abkürzen wollen – Nicht auf das biologische Sterben, den Tod warten wollen – Durch Suizidbeihilfe sterben wollen – Am gewollten Ort (zu Hause) sterben können – Nicht in einer Institution des Gesundheitswesens sterben wollen – Zu einem bestimmten Zeitpunkt sterben wollen – Anderen Verstorbenen in den Tod folgen wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (Aktivitäten des täglichen Lebens) – Seine Mitteilungs-/Kommunikationsfähigkeit nicht verlieren wollen – Nicht bettlägerig werden wollen – Wenn der Rollstuhl droht – Sich nicht mehr selbstständig zu Hause versorgen können – nicht mehr selbstständig Notwendigkeiten des täglichen Lebens nachgehen können – Seine Leidenschaften und Lieblingsbeschäftigungen nicht mehr leben können – Einschränkungen in der Lebensgestaltung – Nicht unselbstständig leben wollen – Nicht untätig sein oder handlungsunfähig sein wollen
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (Faktoren rund um das Sterben und den Tod) – Eine gute menschenwürdige Situation zum Sterben haben – Auf normale, biologische Art sterben wollen
Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (Aktivitäten des täglichen Lebens) – Funktionsfähig sein – Kommunizieren können – Am Leben teilnehmen können – Arbeiten, sich beschäftigen können, sich mit etwas beschäftigen können, das einem Freude bereitet – Draußen sein können
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (Soziale Faktoren) – Irgendwann alleine leben müssen – Einsam sein – Niemanden belasten wollen, niemandem zur Last fallen, auf andere Rücksicht nehmen, wenn man andere belastet und sie an ihre Grenzen bringt – Rücksichtnahme auf Mitmenschen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (Finanzielle Faktoren) – Anderen etwas von sich hinterlassen wollen
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (Soziale Faktoren) – Unter Menschen/in interessanter Gesellschaft sein – Mit Menschen zusammenleben, mit denen man sich wohlfühlt – Rücksichtnahme auf Ärzte und andere nahestehende Menschen, die Suizidbeihilfe ablehnen
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (anderes) – Sich ungewollte Entwicklungen und Umstände ersparen wollen – Sich von bestehenden ungewollten Zuständen befreien/erlösen wollen – Von seinem Dasein erlöst werden/sein wollen/Ruhe bekommen wollen – Das Bedürfnis, vorbereitet zu sein und vorzusorgen – Wenn sich die eigene Situation tatsächlich oder wahrscheinlich in eine ungewollte Richtung entwickelt – Cut-OffPunkte – Wenn ungewollte Ereignisse eingetreten sind oder ungewollte Entwicklungen drohen, die man fürchtet und vermeiden will – Zunahme der Wahrscheinlichkeit, auf ungewollte Art und Weise leben zu müssen – Wenn einem das Leben zu schwer wird, die eigene Situation für einen nicht mehr tragbar ist – Wenn man nicht mehr kann, wenn es nicht mehr geht, wenn man es nicht mehr aushalten kann oder will – Wenn es reicht – Nicht um jeden Preis leben wollen – Kein endloses Leiden, leidvolles Leben wollen – Ungewollte Umstände über sich ergehen lassen müssen (z. B. Renovation/Umzug im Alters-Pflegeheim) – Nicht gepflegt werden wollen, um am Leben zu bleiben – Nicht benebelt sein wollen – Nicht lahmgelegt sein wollen, nicht außer Gefecht gesetzt sein wollen – Anderen gegenüber nicht ausgeliefert sein wollen, der Willkür anderer Menschen nicht ausgesetzt sein wollen – Nicht so lange mit seinem Entscheid, durch Suizid-beihilfe zu sterben warten, bis es dafür zu spät ist
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (anderes) – Respekt gegenüber seinem Willen das Leben und Sterben betreffend – Noch bestimmte letzte Dinge tun wollen – Bestehende gewollte Gegebenheiten seines Daseins nicht aufgeben wollen (z. B. das Gefühl einer gewissen Lebensfähigkeit) – Zu Hause gepflegt werden und dort sterben können – Aufgrund seiner Glaubenshaltung sich nicht das Recht oder die Freiheit herausnehmen, über sein Sterben zu entscheiden
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Soziale Lebensumstände – Inexistenz, Verlust bedeutsamer sozialer Beziehungen – alleine sein – Alleine leben/wohnen – Ohne soziale Verantwortungen und Verpflichtungen sein – Unbedeutende, belastete, unbefriedigende, nicht hilfreiche Beziehungen zu nahestehenden Menschen und Gesundheitsfachpersonen
Prägende Lebenserfahrungen – Negative Eindrücke und Gefühle im Zusammenhang mit gesundheitlichen Problemen von Bezugspersonen und deren Versorgung – Belastende Erfahrungen als pflegende (r) Angehörige(r) – Negative Einblicke in die Gestaltung des Daseins und die Versorgung von Menschen in Alters- und Pflegeheimen – Eindrückliche Geschichten von kranken, hilfsbedürftigen Menschen – Als schlecht erlebte Sterbe- und Todessituationen – Negative, schlimme Krankheitserinnerungen – Negative Versorgungserfahrungen durch Gesundheitsfachpersonen
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen Soziale Lebensumstände – Vorhandensein bedeutsamer sozialer Beziehungen – In bedeutsamer sozialer Gemeinschaft leben – Verantwortungs- und Verpflichtungsgefühle gegenüber Menschen oder Tieren – Auf Anteilnahme basierende gute, wohltuende, liebevolle, tragende, hilfreiche/unterstützende Beziehungen zu nahestehenden Menschen und Gesundheitsfachpersonen Prägende Lebenserfahrungen – Als angenehm erlebte Sterbe- und Todessituationen – Positive Krankheitserinnerungen – Positive Versorgungserfahrungen durch Gesundheitsfachpersonen
Persönliche Faktoren und die gewohnte Daseinsweise eines Menschen
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und EntFaktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid- scheidungen begünstigen, weiterleben zu beihilfe sterben zu wollen wollen Faktoren des persönlichen Werte- und Präferenzsystems (Antizipierte Faktoren) – Angst vor Verschlimmerung gesundheitlicher Probleme – Angst, hinfällig zu werden – Angst, sich nicht mehr selbstständig versorgen zu können – Angst, nicht mehr essen zu können – Angst, gefüttert werden zu müssen – Angst, nicht mehr sprechen zu können – Angst, bewusstlos zu werden – Angst, bettlägerig zu werden – Angst, irgendwann nicht mehr denken zu können – Angst, seine Zurechnungsfähigkeit zu verlieren und nicht mehr zurechnungsund entscheidungsfähig zu sein – Angst, seine Urteilsfähigkeit zu verlieren – Angst, seine Selbstbestimmung zu verlieren – Angst, dass einem etwas zustößt/passiert – Angst, dass mit einem ungewollte Dinge geschehen, die man bei anderen Menschen beobachtet, miterlebt hat – Angst, Gesundheitsfachpersonen lassen einen nicht sterben – Angst, irgendwann nicht mehr durch Suizidbeihilfe sterben zu können Abbildung 28: Aus Phase 1 resultierende Faktoren, welche Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder weiterzuleben
Ausgehend von der Frage, wie bei chronisch Kranken Entscheidungsprozesse darüber verlaufen, weiterleben oder sterben zu wollen, ist festzuhalten, dass die der Phase 1 immanenten theoretischen Kategorien und Konzepte die Ausgangsbasis für solche Entscheidungsprozesse bilden. Die persönlichen Faktoren und die gewohnte Daseinsweise eines Menschen stellen wesentliche fördernde und hemmende Vorbedingungen für das Aufkommen oder Ausbleiben von Überlegungen und Entscheidungen darüber dar, weiterleben oder sterben zu wollen. Einzelne oder kumulierende Faktoren dieser Kategorien und Konzepte bewirken, dass Menschen darüber nachdenken, unter bestimmten Bedingungen lieber nicht mehr leben, sondern sterben zu wollen, dass sie Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation werden und ihr Leben möglicherweise durch Sui-
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
zidbeihilfe beenden. Sie können aber auch das Gegenteil erzielen, dass Menschen sich keine solchen Gedanken machen und sich nicht die Freiheit nehmen, entsprechende Optionen für sich in Betracht zu ziehen. Zum anderen sind die gewohnte Daseinsweise und die persönlichen Faktoren eines Menschen grundlegende Komponenten des subjektiven Erlebens der eigenen vergangenen, gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise sowie der individuellen (Entscheidungs-) Grundlage, auf welcher das Entscheidungsverhalten eines Menschen darüber, weiterzuleben oder unter bestimmten Umständen aus dem Leben zu gehen und zu sterben, erwogen und aktualisiert wird und schlussendlich gründet. Die identifizierten Faktoren stellen somit für die Entscheidungsprozesse darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, bedeutsame Referenzpunkte dar, die von chronisch Kranken in den im Weiteren erklärten Phasen in Beziehung gesetzt werden. Ein anderes wichtiges Resultat aus Phase 1 ist, dass manche Menschen sich bereits lange Zeit vor Beginn einer chronischen Krankheit vorgenommen oder beschlossen haben, unter bestimmten Umständen durch Suizid(-beihilfe) zu sterben. Der Beginn und das Heranreifen des Entscheidungsprozesses, (vielleicht) durch Suizid(-beihilfe) zu sterben, Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation zu werden und eine Patientenverfügung für sich auszustellen, werden demzufolge bei etlichen Menschen bereits lange vor dem Auftreten einer chronischen Krankheit durch bestimmte Triggerereignisse oder ausschlaggebende Erfahrungen ausgelöst. Die gewohnte Daseinsweise eines Menschen vor Beginn einer chronischen Erkrankung erfährt durch das Auftreten einer chronischen Krankheit eine Veränderung. Wie dies geschieht, was das heißt und was die Veränderung der gewohnten Daseinsweise für chronisch Kranke und deren Entscheidungsprozesse darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, bedeutet, erklärt die im Folgenden geschilderte Phase 2.
5.2
Das Auftreten einer physisch chronischen Krankheit, die gesundheitliche Verschlechterung und damit einhergehende Auswirkungen auf das gewohnte Dasein des erkrankten Menschen
Die Kategorien und Konzepte, die Phase 2 konzeptualisieren, erklären das Auftreten einer physisch chronischen Krankheit, einer gesundheitlichen Verschlechterung, von damit einhergehenden Auswirkungen auf das gewohntes Dasein eines Menschen und verdeutlichen die weitgreifende und verwobene Komplexität chronischen Krankseins sowie dessen Auswirkungen.
Das Auftreten einer physisch chronischen Krankheit
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5.2.1 Das Auftreten einer physisch chronischen Krankheit Bei den Krankheiten der Leidenden handelt es sich um endokrine, gastrointestinale, kardiovaskuläre, muskuloskelettale, neurologische und respiratorische Krankheiten, um Krankheiten der Sinnesorgane sowie um Krebserkrankungen. Letztere stellen mehrheitlich Neuerkrankungen dar ; in einigen Fällen liegen aber auch rezidivierende Krebserkrankungen vor. Einige Krankheiten bestehen bei den Erkrankten von Geburt an, andere sind in Zusammenhang mit Verkehrsunfällen, Stürzen oder medizinisch-therapeutischen Behandlungseingriffen aufgetreten. Die Krankheitssymptome traten meist plötzlich auf. Bei einigen Kranken kamen und gingen die Symptome anfangs, bei anderen dauern sie seit Beginn des Krankheitsereignisses an. Manche Krankheiten verliefen anfangs schleichend und wurden als Zufallsbefund diagnostiziert, andere im Zusammenhang mit aufgetauchten Krankheitssymptomen und deren Verschlimmerung. Die Reaktionen der Erkrankten auf die Mitteilung ihrer medizinischen Diagnosen reichen von Ablehnung über Gefasstheit, Erstarrung, Fassungslosigkeit bis hin zu Wut oder einem Wechselbad an Gefühlen. Neben Gefühlen der Erleichterung, Trauer, der Suche nach Erklärungen für die Krankheit und Lebensbilanzierungen kamen bei einigen Kranken bereits bei der Diagnose Gedanken auf, nicht mehr weiterleben zu wollen. I: »Und wie war das? Wie hat man das festgestellt?« Fr. Jost: »Dass ich Brustkrebs hatte?« I: »Mhm.« Fr. Jost: »Ja ich hatte ja einen Knoten. Ich bin ja jedes Jahr zur Kontrolle, zum Frauenarzt gegangen. Und ich habe da einen Knoten festgestellt.« I: »Haben Sie selbst festgestellt?« Fr. Jost: »Ja. Und habe ihm das gezeigt. Dann sagte er : Ja, das ist schon so. Aber, da müssen wir darüber sprechen. Ähm – und ich habe gesagt, ich möchte nicht so weiterleben. Er wollte mir gleich alles wegschneiden. Und das war nur ganz klein. […].« (Frau Jost, AF: 70 – 77).
Während manche an einer chronischen Krankheit erkrankt sind, gibt es andere, die multimorbid sind. Die Krankheitsdauer liegt zwischen einigen Monaten und mehreren Jahrzehnten, wobei die meisten seit mehreren Jahren chronisch krank sind.
5.2.2 Gesundheitliche Verschlechterung Bei mehreren Erkrankten kommt es zusammenhängend mit dem Fortschreiten ihrer chronischen Krankheit und dem sich fortsetzenden Auftreten neuer, zusätzlicher gesundheitlicher Veränderungen zu einer progressiven Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes. Die Kennzeichen gesundheitlicher Verschlechterung sind aus der Sicht Kranker eine Intensivierung physischer Be-
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
schwerden, das Neuauftreten von Symptomen und eine sich damit fortsetzende Kumulation physischer Beschwerden, die Abnahme von körperlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, das anhaltende Erleben schlechter Tage und neu diagnostizierte Krankheitsbefunde. Zu den Eigenschaften gesundheitlicher Verschlechterung gehört, dass diese entweder plötzlich, schnell, langsam, dosiert, progressiv oder über mehrere Jahre schleichend verläuft. Sie kommt, stagniert oder geht zurück, wird als kleiner oder größer, als zweitrangig oder gravierend erlebt. Die Verschlechterung der Gesundheit bezieht sich auf den Körper der Erkrankten, ihre allgemeine körperliche Funktionalität und ihr Allgemeinbefinden. Gesundheitliche Ereignisse, das Wiederauftreten bekannter gesundheitlicher Beschwerden oder deren stetige Verschlechterung tragen zur Wechselhaftigkeit des physischen und psychischen Allgemeinbefindens Kranker bei. Die gesundheitliche Verschlechterung beeinträchtigt die körperliche Funktionsfähigkeit und dadurch die Fortführung des persönlichen Daseins auf gewollte Art und Weise, was eine wesentliche Ursache dafür ist, dass manche Kranke nicht mehr oder voraussichtlich nicht mehr lange zu Hause leben können und langsam ein Einzug in ein Alters- oder Pflegeheim geboten scheint. Die gesundheitliche Verschlechterung schlägt sich auf das psychische Befinden zum Beispiel in Form eines moralischen Tiefs oder einer depressiven Entwicklung nieder. Eine Verschlechterung der Neurokognition löst beispielsweise Ängste aus, irgendwann nicht mehr zu wissen, wer man ist, was einem totalen Kontrollverlust gleichkommen würde. Aus der Erfahrung, dass sich der Gesundheitszustand zunehmend verschlechtert, resultiert die Überzeugung Kranker, dass das, was ist und kommt, schlechter wird. Zusammenhängend damit antizipieren manche Kranke mögliche weitere von ihnen unerwünschte gesundheitliche Verschlechterungen sowie dadurch erforderlich werdende, ungewollte medizinische Behandlungen. Diese Entwicklungen bedingen, dass einige Patienten ihre Aussicht auf Besserung als schlecht beurteilen und aus ihrer Sicht die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer ungewollten Daseinsweise zunimmt. Aussichtslosigkeit und Perspektivlosigkeit sind bedeutsame Faktoren, welche die Entscheidung Kranker zu sterben verstärken. Manche Kranke setzen die anhaltende Verschlechterung ihrer Gesundheit mit einem fortlaufenden körperlichen Sterben gleich. In einigen Fällen bewirken die gesundheitliche Verschlechterung und deren Auswirkungen auf das gewohnte Dasein, dass Kranke sich dadurch ihrer sich immer weiter verändernden Daseinsweise irgendwann nicht mehr gewachsen fühlen oder sich mit ihr nicht mehr abfinden können. Fortschreitende gesundheitliche Verschlechterungen und damit einhergehende ungewollte Auswirkungen erzeugen bei einigen Kranken Gedanken, dass sie etwas unternehmen müssen, es so nicht weitergehen kann, es keinen Sinn mehr hat, sie (so) nicht mehr weiterleben können, sondern nur noch sterben wollen. Rufen die zunehmende gesundheitliche Verschlechterung und
Das Auftreten einer physisch chronischen Krankheit
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deren Folgen Verzweiflungsgefühle bei Kranken hervor, werden diese zur Triebfeder dafür, dass manche von ihnen in ihren Suizidgedanken voranschreiten und Versuche unternehmen, sich das Leben zu nehmen. Wenn Kranke eine massive Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes erleben, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich dazu entscheiden, mit einer Suizidbeihilfeorganisation in Kontakt zu treten. Abhängig vom Ausmaß und der Bedeutung der erlebten oder antizipierten gesundheitlichen Verschlechterung werden manche Kranke quasi physisch dazu gedrängt, über den Zeitpunkt ihres Sterbens durch Suizidbeihilfe in Kürze einen Entscheid zu treffen. Fr. Odermatt: »[…] – neuerdings kommt noch jemand von der ambulanten Krankenpflege, weil ich am Fuß etwas habe, an der Zehe, weil man das verbinden muss. Also, da habe ich auch noch Hilfe. Es ist einfach –– ein bisschen total. Ja.« I: »Also, wie ein bisschen total?« Fr. Odermatt: »Ja, überall beschädigt.« I: »Sie haben gesagt, die Katze, Sie würden jetzt da in Kontakt sein. Wollen Sie denn die Katze jetzt übergangsweise dort unterbringen, sodass Sie in die Erholung können? Oder?« Fr. Odermatt: »Nein, nein.« I: »Was haben Sie sich überlegt?« Fr. Odermatt: »Ich glaube, Erholung liegt nicht mehr drin. Ich glaube, jetzt muss ich den Schritt machen mit Exit. Es geht so (betont) schlecht. Und es nimmt so ständig zu.« (Frau Odermatt, EVI: 51 – 59).
5.2.3 Auswirkungen chronischen Krankseins auf das gewohnte Dasein des erkrankten Menschen Das Auftreten und Fortschreiten chronischer Krankheit und gesundheitlicher Verschlechterung manifestieren sich in Form zahlreicher Auswirkungen auf das Dasein chronisch Kranker (siehe Abbildung 29). – Auswirkungen auf den Körper – Auswirkungen auf die allgemeine Funktionalität und das Funktionserleben – Auswirkungen auf das psychische Befinden – Auswirkungen auf das physische und psychische Allgemeinbefinden – Auswirkungen auf die Gestaltung des Daseins – Auswirkungen auf die Selbst- und Daseinswahrnehmung – Auswirkungen auf das Daseinsmanagement und dessen Resultate Abbildung 29: Auswirkungen chronischer Krankheit auf die gewohnte Daseinsweise des erkrankten Menschen
Wesentlich daran ist, dass sich dadurch das gewohnte Dasein aus der Zeit vor Auftreten einer chronischen Krankheit grundlegend verändert und sich teilweise weiter wandelt. Die nachfolgenden Erläuterungen repräsentieren die krankheitsbedingten Auswirkungen und deren Bedeutung für das Dasein der Erkrankten. Zugleich spiegeln sie Zustandsdimensionen der gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise der Kranken und zeigen deren Zu-
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
sammenhang hinsichtlich der Beweggründe und Entscheidungsprozesse darüber, weiterleben oder sterben zu wollen auf. 5.2.3.1 Auswirkungen auf den Körper Die Auswirkungen auf den Körper sind zahlreich und betreffen zum Beispiel die Bewegung, die respiratorische Funktion, das subjektive Befinden, die Neurokognition oder die Ernährung. Fr. Urech: »Nein, also, laufen, stehen kann ich fast nicht mehr. Den Kopfhörer holen von dort oben, das ist ein Problem, und all diese kleinen Sachen, dann kriegt man genug und will mal Ruhe haben. Das ist eigentlich der Sinn, man möchte Ruhe haben.« (Frau Urech, X: 135 – 136).
Ebenfalls betroffen sind die Haut- und Gewebeintegrität, die physische Regulation, der Schlaf-Wach-Rhythmus, die Selbstwahrnehmung, die Urin- und Stuhlausscheidung, die Kommunikation sowie die Wahrnehmung. Die Kranken leben permanent mit physischen Veränderungen und erleben, dass ihr physischer Zustand mal besser oder mal schlechter ist. Sie spüren, wenn die Auswirkungen auf ihren Körper nachlassen oder langsam wiederkommen. Aufgrund der Zunahme, Abnahme oder dem Neuauftreten physischer Veränderungen erleben sie ihre Funktionalität als wechselhaft und unberechenbar. Sie haben über ihren Körper keine Kontrolle, können sich auf ihren Körper nicht verlassen und wissen folglich nicht, wie es morgen sein wird. Sie haben ihr physisches Dasein nicht im Griff, sondern sind dem Kommen und Gehen der Auswirkungen auf ihren Körper gewissermaßen ausgeliefert. Die Zunahme physischer Beschwerden wird als Verschlechterung gedeutet. Das physische Auf und Ab beeinflusst, ob Kranke gute oder schlechte Tage erleben. Gute Tage und Momente bedeuten, funktionsfähig zu sein und die notwendige Kraft zu besitzen, etwas machen zu können. An guten Tagen leben und atmen sie auf, fühlen sich erleichtert, belebt, schöpfen Zuversicht und Hoffnung. Schlechte Tage gehen zum Beispiel mit plötzlichen Ereignissen wie einem Sturz oder mit der Wiederkehr physischer Veränderungen einher. An schlechten Tagen haben manche das Gefühl, dass sie es »physisch nicht mehr machen«. Einige erleben, dass die Anzahl guter Tage abnimmt und der Zyklus zwischen guten und schlechten Tagen schneller wird. Neben Kranken, deren Körper teilweise erheblich verändert ist, gibt es auch solche, die ihren Körper als wenig oder nur geringfügig verändert erfahren. Durch die Auswirkungen auf ihren Körper fühlen sich manche körperlich beeinträchtigt, funktionsunfähig oder strapaziert. Bei mehreren Kranken erzeugen die Auswirkungen auf den Körper Gefühle, von anderen abhängig zu sein, nichts mehr zu können, Todesahnungen sowie Sorgen, Hilflosigkeit und (Zukunfts-)Angst vor dem antizipierten Unge-
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wollten. Es sind die unerträglichen Auswirkungen auf den Körper, das heißt, einzelne oder sich kumulierende Symptome sowie daraus resultierende Beeinträchtigungen, die bewirken, dass manche die »ewige Ruhe« finden wollen. Andere sehen sich durch ihre kognitiven Veränderungen dazu veranlasst, in ihrem Entscheidungsprozess voranzuschreiten, durch Suizidbeihilfe zu sterben, um diese Möglichkeit nicht zu verlieren. Unerträgliche physische Auswirkungen tragen auch zu Veränderungen der Resultate des Daseinsmanagements wie zum Beispiel dem Gefühl, sich nicht zurechtzufinden oder so nicht leben zu können, bei und bewirken Resignation, Aufgabe, Widerstand, Suizidversuche und Gedanken an die Suizidbeihilfe. Wenn Kranke die physischen Auswirkungen hingegen als erträglich erleben, dann wirkt sich das förderlich auf ihre Bereitschaft aus, am Leben zu bleiben. 5.2.3.2 Auswirkungen auf die allgemeine Funktionalität und das Funktionserleben Chronische Krankheiten, gesundheitliche Verschlechterung und deren Auswirkungen verändern nicht nur den Körper, sondern sind auch ursächliche Faktoren für die Veränderung, Abnahme oder den gänzlichen Verlust der allgemeinen Funktionalität Kranker und ihres diesbezüglichen Funktionserlebens. Mit der allgemeinen Funktionalität ist die funktionale Beschaffenheit (Funktionsfähigkeiten, -störungen oder -verluste) der Kranken gemeint. Sie beeinflusst das Funktionserleben, das heißt, ob sich Kranke als leistungsunfähig oder leistungsfähig erleben, inwieweit sie in der Lage sind, selbstständig zu funktionieren, und inwiefern sie infolgedessen selbstständig existieren können oder nicht. Die körperlichen Funktionsfähigkeiten, welche sie brauchen, um ihr Dasein wie von ihnen gewünscht leben zu können, sind mehr oder weniger gegeben. Gelegentlich scheint es, als seien sie zum Dasein zu wenig und zum Sterben zu viel. Auch das Körpergefühl verändert sich. Manchen kommt der eigene Körper »verbraucht« vor. Einige denken, dass sie über ihre körperlichen Verhältnisse leben, und machen Grenzerfahrungen zwischen Wollen und funktionalem Können. Zentral ist, ob Kranke ihre Funktionsfähigkeit als gegeben, abnehmend, reduziert, fast nicht mehr gegeben erfahren oder diese als gleichbleibend, zunehmend oder wechselhaft erleben. Funktionsunfähig zu sein oder es fortschreitend zu werden, verändert das physische und psychische Allgemeinbefinden, die Gestaltung des Daseins, die Selbst- und Daseinswahrnehmung, die Lebensqualität sowie das Daseinsmanagement. Manche Kranke funktionieren nicht so, dass sie ihr tägliches Dasein geregelt bekommen. Einige Kranke fühlen sich aufgrund ihrer reduzierten Funktionalität nicht mehr »gebrauchsfähig«. Andauernde Wechselhaftigkeit der Funktionalität löst das Gefühl aus, nicht mehr lebens- und existenzfähig zu sein. Nicht zu wissen, was man
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
noch kann und was nicht, löst teilweise Furcht aus. Es scheint, als befänden sich manche Kranke in einer negativen Spirale. Kranke, die bestimmte Funktionalitäten bereits verloren haben, antizipieren, dass dieser Prozess fortschreitet. Damit verbunden droht manchen eine Zukunft, die weitere Verluste bezüglich ihrer Selbstständigkeit und Selbstversorgung, der Bewältigung ihres häuslichen Alltags oder ihrer Lebenswelt mit sich bringen kann. Die Verschlechterung oder der Verlust der Funktionsfähigkeit und damit in gewisser Weise der Fähigkeit, selbstständig zu existieren, erzeugen bei manchen Kranken Gefühle wie nicht mehr zu mögen, am liebsten weg zu sein oder es nicht mehr lange durchzuhalten. Einigen fällt es schwer, mit ihrer Funktionsunfähigkeit fertig zu werden. I: »Wenn Sie so zurückdenken an Ihren Vater, was meinen Sie, warum ist er an den Punkt gekommen, dass er meinte, so könne er nicht mehr leben?« Fr. Nüesch: »Ja, weil er einfach nichts mit den Händen machen konnte und das konnte er nicht akzeptieren.« Frau B. (Bekannte von Fr. Nüesch): »Also, für ihn ist es keine Lebensqualität mehr gewesen, das hat er gesagt.« Fr. Nüesch: »Unmöglich, nein, gar nicht, nichts – überhaupt, das hat er jedem, das hat er jedem Doktor gesagt, allen hat er das gesagt, es ist für ihn nicht lebenswert, so. – Hat nichts selbst machen können. – Was am schlimmsten, am allerschlimmsten für ihn gewesen ist, wenn er auf das WC, das er sich, also, nicht selbst, gar nicht selbst putzen konnte und nicht selbst sich hat fertig machen können, Körperpflege, einfach alles das, das hat er nicht selbst machen können. Sie haben auch eine Standlampe gehabt mit einem Extraschalter, die er mit dem Fuß anmachen konnte, den Fernseher hat er mit dem Daumen bedienen können, Radio hat er an- und abstellen können, weil es so Knöpfe hatte – aber das Allerwichtigste konnte er nicht und das hat, er hat das nicht akzeptieren können. Gar nicht, gar nicht. – Das hat er ja schon in der ersten Woche gesagt: ›Du kennst mich, du weißt es, – das werde ich nie akzeptieren können, wenn das so bleiben sollte – das weißt du.‹ Aber ich habe da ja noch nicht daran gedacht, dass sich das nicht wieder verbessern könnte oder irgendwie ––– hätte ich doch nie gedacht. […].« (Frau Nüesch, Tochter, AT: 143 – 3 – 150 und deren Bekannte).
Sich als funktionsfähig oder funktionsunfähig zu erleben, sind wesentliche Faktoren im Kontext der Überlegungen und Entscheidungen darüber, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben. Einige Kranke entscheiden aufgrund ihrer Funktionsunfähigkeit, sich an eine Suizidbeihilfeorganisation zu wenden und ihren Weg durch Suizidbeihilfe zu sterben, fortzusetzen. Festzuhalten ist aber auch, dass bei vielen chronisch Kranken noch gewisse Funktionalitäten und Funktionsfähigkeiten erhalten sind, was sich darin äußert, dass sie in der Lage sind, etwas zu unternehmen, geistig rege sind, bestimmte Aufgaben und Leistungen noch erfüllen können und sich weitestgehend noch selbstständig versorgen und leben. Bleibt bei Kranken die Funktionsfähigkeit erhalten oder erlangen sie sie wieder und erfahren wieder eine Verbesserung, verbessert sich auch ihre Lebens- und Existenzfähigkeit und sie erfahren dadurch das
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Gefühl, dass »es noch geht«. Das beeinflusst die Entscheidung, noch eine gewisse Zeit weiterleben zu wollen. 5.2.3.3 Auswirkungen auf das psychische Befinden Die krankheitsbedingten Auswirkungen auf das psychische Befinden drücken sich in diversen Emotionen und Überzeugungen aus. Zu den Emotionen zählen beispielsweise: Stimmungsschwankungen, Scham, Hoffnungslosigkeit, Belastetsein, Gefangensein, Deprimiertheit, Ärger, Unzufriedenheit, Lustlosigkeit, fehlende Motivation, seelische Erschöpfung, Ungewissheit, Machtlosigkeit, Rat-/Hilflosigkeit oder Angst. Hr. Gubser: »Ich habe kürzlich da mit diesem Brieföffner, habe ich einmal, da – ich meinte, ich könne dann ––– ich erreiche dann irgendwo die Ader – und habe mir da tief hineingestochen. Sie (Ehefrau) hat dann schon gefragt, was ich da habe. Dann habe ich gesagt: ›Ja, da muss ich irgendwo hängen geblieben sein.‹ Und so habe ich es schon ein paarmal versucht. Aber, eben, ich habe das Gefühl, diese Antidepressiva nützen nur bedingt, oder. Ich bin trotzdem ständig auf einem, äh, psychischen Niveau, also, auf einem psychischen Tiefpunkt, oder.« (Herr Gubser, AD: 256 – 258).
Auch existenzielle Verzweiflung kommt vor. Physische Verlusterfahrungen und deren Auswirkungen verursachen seelische Schmerzen. Keine Hoffnung auf Besserung zu haben, resultiert daraus, physisch keine Besserung, sondern zunehmend gesundheitliche Verschlechterungen zu erfahren und zu wissen, dass bestehende körperliche Beeinträchtigungen für den Rest des Lebens bleiben. In der Folge entwickeln manche Leidenden Suizidgedanken und verspüren Druck, Schritte unternehmen zu müssen, um durch Suizidbeihilfe sterben zu können. Die Anforderungen in der Bewältigung des Alltags im Kontext chronischer Krankheit, die fehlende Kontrolle über den eigenen Körper und das Gefühl, mit seinen physischen Beschwerden fertig werden zu müssen, belasten Kranke und erschöpfen sie seelisch. Es besteht Ungewissheit darüber, was in Zukunft auf einen zukommt; ob der gesundheitliche Zustand so bleiben oder sich noch einmal bessern wird, wie lange man noch leben wird, wie lange verbliebene Fähigkeiten einem noch bleiben oder ob man gewisse Dinge noch machen kann. Das hat zur Folge, dass manche Kranke sich unsicher und schutzlos fühlen. Es bestehen Angstgefühle gegenüber antizipierten krankheitsbedingten physischen Auswirkungen und damit einhergehenden antizipierten ungewollten Daseinsweisen. Einige fühlen sich ausgeliefert und wehrlos gegenüber ihrer Krankheit, deren Auswirkungen und dem sie umgebenden Versorgungskontext. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Ungewollte näherrückt und keine Besserung physischer Beschwerden erfahren wird, bedingen, dass Kranke schwarzsehen. Die Ursachen existenzieller Verzweiflung sind zum Beispiel anhaltendes Un-
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wohlsein, schlechte Tage erleben und Auswirkungen auf das Daseinsmanagement der Kranken. Verzweiflungsgefühle lösen Suizidgedanken aus. Gegensätzlich dazu verfügen manche Kranke aber auch über Zuversicht. Einige sind motiviert, gut gelaunt und frei von (Zukunfts-)Ängsten.
5.2.3.4 Auswirkungen auf das physische und psychische Allgemeinbefinden Das Krankheitsstadium, gesundheitliche Verschlechterungen, bestimmte Krankheitssymptome und deren Auswirkungen auf den Körper und die Psyche beeinflussen auch das Allgemeinbefinden. Bedingt durch das Wechselhafte des Körpers und dessen Funktionalität geht es mit dem Allgemeinbefinden Kranker auf und ab. Manche empfinden sich auf »ganzer Linie«, das heißt, körperlich und seelisch-geistig, in schlechter Verfassung. Sie fühlen sich schlecht, geschwächt, miserabel, am Ende ihrer Kräfte, todkrank oder in einem Zustand völliger Erschöpfung. Fr. Odermatt: »Ich habe Ihnen ja die Diagnose vom Arzt gesagt –– gezeigt, glaube ich, die er gemacht hat zuhanden von Exit. Mit anderen Worten: Sie hat die Nase voll. Das stimmt, irgendwie. Das stimmt. Ich habe immer gekämpft (flüstert). ––– Jetzt mag ich nicht mehr kämpfen. Aber ich muss Entscheidungen treffen. […]. Es muss mir einigermaßen gehen. Wenn ich mich so schlecht fühle –– dann –– es tut mir leid, ich bin, also ––– ähm, Sie haben mich noch anders gekannt. Aber, äh, ich bin wirklich am Ende. Irgendwie bin ich am Ende.« (Frau Odermatt, EVI: 325 – 327).
Der Erschöpfungszustand gleicht einem totalen Erliegen/Zusammenbruch, der aufgrund des als wechselhaft erlebten Körpers, dessen Funktionalität und der psychischen Befindlichkeit anhaltend oder veränderlich sein kann. Das schlechte Allgemeinbefinden mancher Kranker bedingt, dass sie immer weniger dazu in der Lage sind, für sie wichtige Dinge im Alltag zu machen, was bei ihnen Unzufriedenheit erzeugt und zu Überlegungen führt, wie es mit ihnen weitergeht. Wollen sie nicht mehr weiterleben und spüren aufgrund ihres Allgemeinbefindens Dringlichkeit, Schritte betreffend die Suizidbeihilfe einleiten zu müssen, werden sie bei einer Suizidbeihilfeorganisation Mitglied, beantragen das Rezept für das tödliche Substrat und entscheiden, dieses in Kürze in Anspruch zu nehmen. Kranke, die sich zwar weniger wohlfühlen, denen es aber noch zu wenig schlecht geht, um zu entscheiden, mit ihrem Leben Schluss zu machen, leben noch weiter. Gegensätzlich dazu fühlen sich andere Erkrankte einigermaßen gut, noch fit genug und haben noch eine gewisse Lebensfähigkeit. Der Umstand, dass sie anhaltend oder wiederkehrend körperlich und geistigseelisch eine gute Zeit erleben und in ihrem gegenwärtigen Dasein etwas Positives sehen, anstatt es als quälend zu erleben, trägt dazu bei, dass sie sich in einem Zustand des Wohlseins befinden und noch am Leben bleiben wollen.
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Solange sie sich wohl, glücklich, in einer Art Schutzatmosphäre fühlen und nicht den Eindruck haben, anderen zur Last zu fallen, verspüren sie eine gewisse Zufriedenheit und demzufolge auch noch keine Dringlichkeit hinsichtlich der Vorbereitung oder Durchführung der Suizidbeihilfe. 5.2.3.5 Auswirkungen auf die Gestaltung des Daseins Chronische Krankheiten, physische Veränderungen, die wechselhafte und unberechenbare Funktionalität verändern auch die Gestaltung des Daseins chronisch Kranker. Gemeint sind damit für Kranke bedeutsame Dimensionen ihres Daseins, wie ihre Selbstständigkeit, Selbstversorgung, Mobilität, ihr soziales Dasein, ihre private und berufliche Beschäftigung, die Bewältigung ihres häuslichen Alltags sowie ihre örtliche und räumliche Lebenswelt. 5.2.3.5.1 Auswirkungen auf die Selbstständigkeit und die Selbstversorgung Bedingt durch das chronische Kranksein, das wechselhafte physische Befinden und die damit zusammenhängende Funktionalität erleben manche Kranke eine Abnahme ihrer Selbstständigkeit. Manche haben Anteile ihrer Selbstständigkeit unvermittelt verloren, andere werden sukzessive unselbstständig. Die Einbußen der Selbstversorgung zeigen sich darin, dass mehrere Kranke bei alltäglichen Aktivitäten auf Hilfe angewiesen sind. Hr. Arnold: »Die Hände, die Hände, ja, die, ich kann, ich kann nichts selbst anziehen, ich kann nicht mal die Schuhe lösen und Socken ausziehen oder abziehen. Ich brauche für alles Pflege – und das ist, von denen, die dir sagen: ›Du kannst ja von der Vergangenheit leben.‹ Das kann ich doch nicht machen.« (Herr Arnold, A: 62 – 63).
Einige denken, dass sie eigentlich pflegebedürftig sind, möchten liegen bleiben und sich um nichts mehr kümmern müssen. Abhängig von ihrem physischfunktionalen Zustand haben sie an einem Tag das Gefühl, nahezu pflegebedürftig zu sein, und am anderen den Eindruck, dass es wieder geht. Mit zunehmender Abnahme der Selbstständigkeit und Selbstversorgung kündigt sich für einige an, dass sie bald in ein Alters- oder Pflegeheim umziehen sollten. Nicht mehr lange in seiner Wohnung bleiben zu können und sein Dasein deswegen in einem Alters- oder Pflegeheim verbringen zu müssen, ist allerdings eine Entwicklung, die für mehrere Kranke ungewollt ist, weshalb sie diese fürchten und vermeiden wollen. Mit der Abnahme der Selbstständigkeit geht auch eine Veränderung des Nutzens und Wertes des gegenwärtigen und zukünftigen Daseins einher. Im Gegensatz zu Kranken, denen es mithilfe verfügbarer Techniken und Hilfsmittel gelingt, sich selbstständig(er) zu fühlen, zeigt sich bei anderen, dass sie Mühe damit haben, nicht mehr wie gewohnt eigenständig, sondern zunehmend unselbstständig und abhängig zu sein. Aufgrund der abnehmenden
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Selbstständigkeit und der damit einhergehenden Abhängigkeit haben manche Kranke keine Zukunftsperspektive mehr, was bei einigen Gedanken erzeugt, ihr Leben zu beenden, und manche zu dem Entschluss bewegt, einen Suizidversuch zu begehen. Bei Kranken, die mit ihrer reduzierten Selbstständigkeit nicht zurechtkommen, zeigt sich, dass das der Grund ist, weshalb sie durch Suizidbeihilfe sterben wollen. 5.2.3.5.2 Auswirkungen auf die Mobilität Mehrere Kranke sind aufgrund physischer Beeinträchtigungen in ihrer Mobilität eingeschränkt, was dazu führt, dass sie nicht mehr so nach draußen kommen, wie sie wollen, nur noch mit dem Taxi unterwegs sind oder sich genau überlegen müssen, wann sie tagsüber am besten zu Fuß unterwegs sind. Einige haben Angst, dass ihnen etwas passieren könnte, und trauen sich deshalb nicht hinauszugehen. Der Lebensraum und Aktionsradius immobiler Kranker schrumpft auf ihr Zuhause. Der Umstand einer gewissen Immobilität löst bei manchen Sinnfragen zu ihrem Dasein aus. Fr. Sommer : »Ja, ich denke dann halt: Wieso lebst du eigentlich noch? Kannst du nicht recht hinaus. Ja, ich gehe schon, zum Beispiel an den Rhein hinunter. […].« (Frau Sommer, U: 229).
5.2.3.5.3 Auswirkungen auf das soziale Leben Chronisch krank zu sein, wirkt sich auch auf die sozialen Beziehungen, das familiäre und gesellschaftliche Zusammenleben sowie die soziale Teilhabe chronisch Kranker aus. Das Allgemeinbefinden erschwert manchem Kranken, die sozialen Beziehungen zu pflegen. Es gibt aber auch Fälle, in denen das Auftreten einer chronischen Krankheit die sozialen Beziehungen positiv verändert, indem diese sich intensivieren, was als Gewinn erlebt wird. Die krankheitsbedingten Auswirkungen auf das familiäre und gesellschaftliche Zusammenleben drücken sich zum Beispiel als Rollentausch oder Rollenveränderung in der Partnerschaft aus, indem manche Kranke aufgrund physischer Veränderungen von ihrer ursprünglichen Beschützerrolle in die Rolle des zu Beschützenden gedrängt werden. Chronisch krank zu sein schränkt auch die soziale Teilhabe Kranker ein, da sie sich zum Beispiel nicht mehr einfach mit Leuten treffen oder nicht mehr an sozialen Anlässen teilnehmen können. Manche Kranke können keine Besuche mehr machen, weil sie keine Treppen steigen können und kein Lift existiert. Das gesellige Beisammensein ist einschränkt, weil sie selbst keine Gäste mehr bewirten können und deshalb niemanden zu sich einladen. Einige haben aufgrund ihrer physischen Beeinträchtigungen Mühe damit, sich unter Menschen zu begeben, und leiden unter Einsamkeit.
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Fr. Knauer : »Dieser Anus ist damals bei der ersten Operation ––– die ––– eine Lernschwerster hat mir eine ––– einfach einen hohen Einlauf gemacht. Und die kam damit nicht zurecht und dann ist der ganze Muskel zerfetzt.« I: »Wurde das verletzt?« Fr. Knauer :«Mhm, mhm. Hat furchtbar geblutet auch. Das war aber am Anfang nicht so schlimm. Das hat sich dann auch in den Jahren verschlimmert. Das kommt noch dazu. Ich bin eigentlich durch das alles, bin ich gefesselt an mein Haus. Und ich bin nicht dieser Mensch, der ––– die Einsamkeit ist etwas, was ich kaum ertrage. Ich muss damit leben. Aber eben, es ist kein Leben. Es ist kein lebenswertes Leben mehr für mich. Absolut nicht. ––– Die ständigen Schmerzen. Und die Lebensqualität ist nicht gegeben.« (Frau Knauer, AK: 77 – 79).
Einige Kranke erleben sich gewissermaßen auf einem sozialen Rückzug oder als teilnahmslos, weil sie nicht mehr mit anderen Menschen reden mögen, sie lieber allein mit sich sind oder ihren Lebenspartner nicht allein zu Hause zurücklassen wollen. 5.2.3.5.4 Auswirkungen auf die private und die berufliche Beschäftigung Die Auswirkungen der Krankheit auf den Körper, die allgemeine Funktionalität, das Allgemeinbefinden, die Selbstständigkeit, die Mobilität oder das soziale Leben rufen bei Kranken den Eindruck hervor, dass sie bestimmte Dinge oder so gut wie gar nichts mehr selbst machen oder unternehmen können. Dieses Gefühl, nichts mehr zu können, kann vorübergehend, stagnierend oder progressiv sein. Bedingt durch die Krankheitsauswirkungen werden einstige Beschäftigungen, die ermöglicht haben, sich sinnvoll zu betätigen, mit der Zeit immer weniger oder fallen plötzlich ganz weg. Fr. Rickenbach: »Das ist ––– so ziemlich etwas vom Schlimmsten, das mir je passiert ist, ist dieser Schwindel, weil sie sind total gefangen in sich selbst. Sie können nichts mehr machen mit Schwindel, absolut nichts. Also, das ist, ––– ich kann nicht lesen, ich kann mich einzig hierhin legen und fernsehen. Ich muss Ihnen sagen, wenn es keinen Fernseher gäbe, ich würde verzweifeln. Bei mir läuft der Fernseher vom Morgen, wenn ich aufstehe, bis am Abend, wenn ich schlafen gehe. Und Gott sei Dank kann ich mich ablenken mit dem Fernseher. Wenn ich das nicht könnte, ich wäre arm dran. Aber der Fernseher lenkt mich ab. Bei mir läuft immer der Fernseher, dauernd.« (Frau Rickenbach, P: 159).
Manche Kranken interessieren sich zwar noch für bestimmte Dinge, aber sie können sich an diesen nicht mehr aktiv beteiligen oder entsprechend handeln. Das trägt dazu bei, dass sie sich untätig und passiv fühlen und einige das Gefühl entwickeln, dass das, was sie machen können, zu wenig ist, was für sie tragisch ist. Sich nicht mehr wie gewohnt beschäftigen zu können, führt zu einem Verlust an Lebensqualität. Das Gefühl, immer weniger zu können, verändert den Nutzen und somit den Wert des eigenen gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseins und lässt den Lebenssinn schwinden. Die Einschränkung bzw. der
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Wegfall gewohnter Beschäftigungsmöglichkeiten und die Tatsache, »simple« Dinge nicht mehr selbst machen zu können, wirken sich auf das psychische Befinden aus. Bei Kranken, die Mühe damit haben, bestimmte Dinge nicht mehr selbst erledigen zu können, kommt Angst auf, ihr Leben nicht mehr durch Suizidbeihilfe beenden zu können. Durch die Beeinträchtigung der Beschäftigungsmöglichkeiten verändert sich auch die Zukunftsperspektive. Bei manchen Kranken, die einstige Leidenschaften nicht mehr leben können, kommen deshalb Gedanken auf, dass es besser wäre, nicht länger am Leben zu bleiben, sondern mit seinem Leben Schluss zu machen und zu sterben. Andere Kranken sind dagegen in der Lage, sich zu beschäftigen. Sie gehen ihrer Leidenschaft nach und unternehmen etwas, was ihnen Kraft spendet. Eine weitere Folge chronischer Gesundheitsbeschwerden ist eine Reduzierung der Berufsausübung bis hin zu einer vollständigen Aufgabe der Berufstätigkeit, was eine Bedrohung des Lebensunterhaltes mit sich bringen kann. 5.2.3.5.5 Auswirkungen auf die Bewältigung des häuslichen Alltags Die Auswirkungen chronischen Krankseins bereiten Kranken Schwierigkeiten bei der Bewältigung des häuslichen Alltags. Manche können Hausarbeiten noch selbstständig erledigen, was sie zu Hause noch zurechtkommen lässt. Andere fühlen sich mit solcher Arbeit überfordert und bekommen ihren Alltag nicht in den Griff, weil sie vieles nicht mehr alleine schaffen und es ihnen schwerfällt, die sich täglich wiederholenden Arbeiten im Haushalt zu meistern. Sie haben Schwierigkeiten, ihren Alltag, damit verbundene Aufgaben und Vorhaben zu planen, da die Unberechenbarkeit und Wechselhaftigkeit ihres Körpers und seine eingeschränkte Funktionalität ihre Pläne durchkreuzen, etwas Bestimmtes zu tun. Sie können höchstens von einem auf den anderen Tag planen, bestimmte Dinge zu tun oder sich zu verabreden, doch wissen sie auch dann nicht, ob sie die vorgesehenen Arbeiten oder Termine wahrnehmen können. Diese Erfahrung birgt eine stetige Unsicherheit darüber in sich, wie es einem in ein paar Stunden oder Tagen körperlich gehen wird. Der Umstand, nichts planen zu können, wirkt sich auch auf das psychische Befinden Kranker aus, indem sie sich ihrer Krankheit und deren Auswirkungen auf ihr Dasein machtlos und ausgeliefert fühlen. Fr. Rickenbach: »Ja, ich kann nichts mehr planen. Äh, ich kann nicht mehr spontan sein, oder. Meine Spontaneität fehlt völlig in meinem Leben. Ich kann nichts machen, ich habe immer etwas gemacht. Ich habe Handarbeit gemacht. […], ich habe gelesen, ich habe ––– oder ich bin weg, habe mich mit Leuten getroffen, ich war irgendwie ein sehr aktiver Mensch, oder. Ich habe Leute eingeladen, ich habe dauernd Gäste gehabt, ich habe gekocht, ich habe gemacht. Ich kann heute nichts mehr. Ich kann nicht einmal mehr eine Mandarine schälen, oder. Also, ich kann nichts mehr kochen, ich kann keine Zwiebel schneiden, ich kann nichts mehr machen, oder. Äh, ich kann nicht sagen:
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Morgen will ich weg, weil ich weiß nicht, wie es mir morgen geht. Ich kann dann morgens irgendwann einmal sagen: Ja, ist gut, heute kann ich wahrscheinlich gehen. Und wenn es mir halt mittags schlecht geht, dann muss ich wieder absagen, oder. Also, äh, ich kann absolut nichts mehr planen. Ich kann immer nur von einem Tag auf den anderen sagen: Ja, heute kann ich vielleicht das oder heute kann ich vielleicht jenes. Und die Leute wissen bereits, wenn ich sage: ›Du, kommst du dann und dann‹, dass dann auch ein Telefon kommen kann: ›Du, ich kann nicht‹, oder. Es ist ––– ich ––– und das ist etwas, das mich einfach wahnsinnig, das mich wahnsinnig ärgert. Dass ich einfach so ausgeliefert bin, diesen Krankheiten. Ich bin völlig ausgeliefert. Ich bin diesem Schwindel ausgeliefert, ich bin dieser MS (Multiple Sklerose) ausgeliefert. Ich kämpfe zwar dagegen an, aber es nützt nichts. Also, ich bin machtlos gegen die MS und gegen den Schwindel. Und mein Herz macht auch, was es will. Also, ich kann ––– bin völlig machtlos. Ich kann nicht wie damals, nach dem Autounfall mit der Versicherung, kämpfen, um mein Recht oder um mein Leben oder um irgendwas. Das geht nicht mehr, oder.« (Frau Rickenbach, P: 206 – 207).
Manche fühlen sich der Bewältigung ihres häuslichen Alltags kaum bis gar nicht mehr gewachsen. Die Folgen davon sind nicht nur zunehmende Schwierigkeiten, selbstständig alleine zu Hause weiterleben zu können, sondern dass sich mit diesem Umstand gleichzeitig die Notwendigkeit andeutet, seine gewohnte Lebenswelt womöglich in absehbarer Zeit verlassen und in eine Institution des Gesundheitswesens ziehen zu müssen. 5.2.3.5.6 Auswirkungen auf die örtliche und räumliche Lebenswelt Die Tatsache, dass chronisch Kranke in ihrer gewohnten häuslichen Lebenswelt leben und diese Daseinsweise aufrechterhalten wollen, fordert sie in besonderem Maße, da sie ihren Alltagsgeschäften weitestgehend selbst nachkommen wollen und dazu körperlich funktionieren müssen. Der Wunsch, sein Leben in seiner häuslichen Lebenswelt weitestgehend selbstständig aufrechtzuerhalten, bringt einige Kranke an den Rand ihrer Kräfte. Es zeigt sich, dass mehrere allein wohnende Kranke, ob mit oder ohne Unterstützung durch externe Dienstleister, irgendwann bedingt durch ihren Körper, zunehmende Schwierigkeiten bekommen, mit ihrem häuslichen Alltag fertig zu werden. Aufgrund dieser Entwicklung zeichnet sich bei manchen ab, dass sie nicht mehr (lange) in ihrem Zuhause weiterleben können. Einige werden während eines Krankenhausaufenthaltes gewahr, dass sie nicht mehr länger zu Hause bleiben können. Sie müssen sich Gedanken darüber machen, wie es für sie weitergeht, womit sich meistens die Notwendigkeit einer Transition von der häuslichen Lebenswelt in eine Institution des Gesundheitswesens ankündigt. Hr. Grob: »Und dann war die Frage –– konnte ich ja nicht mehr nach Hause. Weil, ich habe keinen Lift, und ich hätte viel Personal haben müssen. Ich habe zu Hause ambulante Pflege gehabt und schon eine Hausfrau und eine Köchin. Das war alles viel zu kompliziert.« I: »Und was hat der Pflegedienst für Sie zu Hause gemacht?« Hr. Grob:
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»Ja, gepflegt.« I: »Also, auch bei der Körperpflege geholfen.« Hr. Grob: »Jaja.« I: »Und die Haushaltshilfe hat Ihnen gekocht, oder?« Hr. Grob: »Ja genau, genau.« I: »Auch geputzt, gewaschen?« Hr. Grob: »Ich kann ja mit einem ––– mit einem Arm nicht kochen. Ich kann auch keine Pfannen halten. Weil das alles zu schwer ist. Das geht gerade noch (hebt etwas). Aber so ein Glas kann ich nicht mehr halten.« I: »Und der Grund dafür, dass Sie dann nicht mehr nach Hause gegangen sind, der war ––?« Hr. Grob: »Ja, das ist, hätte da ––– ich hätte bei mir zu Hause eine –– eine Pflegeabteilung einrichten müssen. Das ist zu kompliziert. Mittlerweile bin ich älter geworden. Und ––– und ich muss ja auch Zahlungen machen. Und ich muss zu Hause –– da kommt der Kaminfeger und der Elektriker und der Dachdecker und, und, und. Man hat ungeheuer viel Arbeit in einem Haus. Das konnte ich alles nicht mehr machen. Rein physisch nicht.« (Herr Grob, AI: 73 – 3 – 87).
Wenn sich die Notwendigkeit ankündigt, in eine Institution des Gesundheitswesens zu ziehen, zeigt sich, dass sich Kranke, mit deren Werte- und Präferenzsystem diese Entwicklung vereinbar ist, dazu bereit erklären. Anders verhält sich die Situation, wenn eine solche Entwicklung dem Werte- und Präferenzsystem Kranker zuwiderläuft, das heißt, wenn ein Mensch nicht in einer Institution des Gesundheitswesens leben will. Kann ein Kranker gegenwärtig oder über kurz oder lang nicht mehr an dem von ihm gewollten Ort bleiben, erwägt und entscheidet er, alles hinsichtlich der Suizidbeihilfe vorzubereiten bzw. lieber nicht länger am Leben zu bleiben, mit einer Suizidbeihilfeorganisation in Kontakt zu treten und durch Suizidbeihilfe zu sterben, anstatt an einem von ihm ungewollten Ort auf eine von ihm ungewollte Art und Weise zu leben.
5.2.3.6 Auswirkungen auf die Selbst- und Daseinswahrnehmung Chronisch krank zu sein bringt auch Veränderungen der Selbst- und Daseinswahrnehmung mit sich, das heißt, Veränderungen des Selbstverständnisses, der Identität und des Körperbildes sowie der Lebensqualität, Lebenskraft, Lebensfreude, des Nutzen und Werts des Lebens, der Lebenslust und des Lebensmutes, des Lebenssinns, des Lebenswillens, des Lebensgefühls und der Zukunftsperspektive. Die Selbst- und Daseinswahrnehmung der Kranken beeinflusst mit, ob sie erwägen und entscheiden, nicht länger am Leben zu bleiben oder weiterzuleben. 5.2.3.6.1 Selbstwahrnehmung Bei mehreren chronisch Kranken kommt es zu einer Veränderung ihres Selbstverständnisses, das heißt, sie erleben, wie sie sich körperlich verändern und wie sich ihre Vorstellung von sich selbst ändert. Vor ihrer Krankheit haben sich manche als selbstständigen, selbstsicheren, geschickten Menschen, als eigener Herr und Meister wahrgenommen. Im Zuge ihrer Krankheit erleben sich
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einige hingegen beispielsweise als »kleines Kind«, »Krüppel«, »kompliziert«, »ungeschickt«, »Belastung für Bezugspersonen«, »unwirsch« oder »greisenhaft«. Mit einem derart negativen Selbstverständnis geht ein Identitätsverlust einher, der zum Beispiel durch das Gefühl Kranker zum Ausdruck kommt, dass von ihnen immer weniger übrig bleibt, sie immer weniger werden, sie nicht mehr sie selbst sind oder sie nicht mehr gegenwärtig sind. I: »Mhm. Was –– was löst denn das – also, wie ist denn das gekommen, dass Sie sich das überlegt haben, ja vielleicht sich das Leben zu nehmen? Oder Ihrem Leben ein Ende zu setzen?« Hr. Gubser : »Eben, darum, weil ich auf einmal ––– ich bin auf einmal nicht mehr da. Ich bin nicht mehr unter den Leuten. Ich bin ––– oder, was heißt nicht mehr unter den Leuten. Ich kann nichts mehr ––– wahrnehmen, oder. Es ist nichts mehr gegenwärtig. Also ––– ja. Wesentlich ––– also, für mich ist Sehen das höchste Gut. Und wenn das einmal weg ist, dann fehlt ––– dann ist man nicht einmal mehr ein halber Mensch. Und dann ist es eben manchmal nicht mehr lebenswert, wenn man so dahinvegetiert, oder.« (Herr Gubser, AD: 258 – 260).
Einige erleben durch ihre reduzierte Funktionalität und deren Folgen einen Zustand des physischen inneren Gefangenseins. Solche Kranken erleben sich in sich gefangen und durch ihren Körper angebunden, was bewirkt, dass sie keine Zukunftsperspektive mehr haben und sich überlegen, wie sie ihrem Zustand abhelfen können. Manche nehmen sich als jemanden wahr der keine Kontrolle über sich und sein Dasein hat. Dass sich einige Kranke gegenüber ihrer gesundheitlichen Entwicklung und der willkürlichen Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen hilflos, machtlos, wehrlos und ausgeliefert fühlen, deutet darauf hin, dass sich mancher in einem schutzlosen Zustand befindet, was zu einer Abnahme des Sicherheitsgefühls führt. Indem sich Kranke als wehrlos und ausgeliefert wahrnehmen, fühlen sie sich allgemein ungeschützt und unsicher, gefährdet und verletzbar. Auch das Körperbild wandelt sich. Kranke, die eine negative Veränderung ihrer Selbstwahrnehmung durchleben, erfahren zum Teil Verluste dessen, was ihre gewohnte Persönlichkeit ausmachte. Sie verlieren gewissermaßen ihr gewohntes Selbst. Jenes Selbst, dass sie aus ihrer Sicht einmal waren, das sie in Erinnerung haben und mit dem sie sich identifizieren. Es ist für sie nicht mehr da, fällt nach und nach weg, löst sich auf. Auch wie Außenstehende chronisch Kranke wahrnehmen, beeinflusst die Veränderung ihrer Selbstwahrnehmung. Manche fühlen sich von Außenstehenden nicht als gleichwertig, sondern als behindert angesehen und behandelt, was als entwürdigend erlebt wird. Einige erleben, dass ihre Selbstbestimmung schwindet und zum Teil in Fremdbestimmung mündet. Manche fühlen sich durch Außenstehende fremdbestimmt, weil diese ihnen gegenüber bestimmend auftreten, sie in ihrem Handeln einschränken und ihnen, ohne dass sie es wollen, Dinge abnehmen oder entziehen. Kranke, die seit Geburt oder vielen Jahren gewohnt sind, mit anhaltenden Einschränkungen zu leben, weisen demgegenüber häufiger eine
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positive Selbstwahrnehmung auf. Dies liegt daran, dass sie ausgehend von ihrer bestehenden Bewältigungskompetenz fortlaufend ein positives Selbstverständnis entwickeln und ihre Identitätsbildung dadurch kongruent zu ihrer positiven Selbstwahrnehmung erfolgt. Deutlich wird auch, dass die Selbstwahrnehmung Kranker und ihre Daseinswahrnehmung miteinander verbunden sind. Chronisch Kranke, deren Selbstwahrnehmung negativ ist, nehmen auch ihr Dasein negativ wahr. Ein negatives Selbstverständnis und damit einhergehende Identitätsverluste verursachen zum Beispiel ein negatives Lebensgefühl, was einen schmälernden Effekt auf die subjektive Wahrnehmung des Nutzens und Wertes des Daseins durch solche Kranken hat und bei ihnen Gedanken sowie Versuche zur Folge hat, sich das Leben zu nehmen. So zeigt sich zum Beispiel, dass Kranke, die das Gefühl haben, dahinzuvegetieren (Lebensgefühl), ihr Leben nicht mehr für lebenswert halten (Nutzen und Wert ihres Lebens). 5.2.3.6.2 Daseinswahrnehmung Die in den vorherigen Abschnitten beschriebenen Auswirkungen chronischen Krankseins beeinflussen, wie Kranke existenzielle Dimensionen ihres Daseins im Kontext ihrer Krankheit wahrnehmen. Die Daseinswahrnehmung ist konzeptualisiert durch die Lebensqualität, das Lebensgefühl, die Lebenskraft, die Lebensfreude, den Nutzen und Wert des gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseins, die Zukunftsperspektive, den Lebenssinn, die Lebenslust, den Lebensmut sowie den Lebenswillen. 5.2.3.6.2.1 Die Lebensqualität Aus der Sicht chronisch Kranker hat Lebensqualität mit Funktionsfähigkeit, Wohlsein, Schmerzfreiheit, Genuss, der Freunde an schönen Dingen des Lebens, bedeutsamen sozialen Beziehungen etc. hat. Bedingt durch physische Veränderungen, die Abnahme der allgemeinen Funktionalität, der Selbstständigkeit und der Mobilität sowie durch die Einschränkungen der Beschäftigung erfahren sie Einbußen der Lebensqualität. Für die Kranken zählt nicht nur, dass sie physisch leben, sondern auch, wie sie ihr Dasein führen können und dass sie vom Leben etwas haben. Vorhandensein und das Ausmaß von Lebensqualität messen und beurteilen die Kranken daran, was sie erleben, können, spüren oder wahrnehmen. Entscheidend ist, ob sie große oder kleine Einbußen oder einen totalen Verlust ihrer Lebensqualität erfahren, ob sie ihre Lebensqualität als intakt, ausreichend, passabel einschätzen oder diese als unzureichend oder gänzlich fehlend beurteilen. Hr. Arnold: »Nein, das ist, das ist für mich keine Lebensqualität mehr mit den Schmerzen, die ich habe und mit der Gefährlichkeit mit der Zeit, ja, oh, wenn das auch
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noch käme, ich habe zu xy (Name der Tochter) gesagt: ›Jessas Maria muss das bei mir auch noch kommen.‹« (Herr Arnold, A: 316).
Aufgrund der erfahrenen Einbußen ihrer Lebensqualität entwickeln Kranke Vorstellungen darüber, mit welcher Lebensqualität sie (noch) oder nicht mehr leben können. Diesbezüglich gibt es für einige Kranke Grenzpunkte (Cut-OffPunkte). Wenn einer oder mehrere dieser Grenzpunkte einzutreten drohen oder erreicht sind, werden Überlegungen und der Entscheid, sein Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden, aktuell oder akut. Abhängig von der Ausprägung des Verlusts an Lebensqualität nimmt dies manchen Kranken ihre Lebensfreude und Lebenskraft. Die abnehmende Lebensqualität erzeugt auch Ungewissheit darüber, ob man mit seiner veränderten, sich eventuell weiter verändernden Daseinsweise zurechtkommen wird. In einigen Fällen führt unzureichende Lebensqualität dazu, dass sich für Erkrankte der Nutzen und Wert ihres Daseins reduziert, sie keine Zukunftsperspektive mehr haben, ihren Lebenssinn hinterfragen und überlegen, was ein derartiges Leben soll. Manche kommen mit der ihnen verbliebenen Lebensqualität nicht zurecht. Dieser Umstand führt bei einigen Kranken zum Schluss, so nicht leben zu können und zu wollen. Die beeinträchtigte Lebensqualität löst zudem Angst vor ungewollten Daseinsweisen aus. Über keine ausreichende Lebensqualität zu verfügen oder allein die Vorstellung davon bewirken, dass der Lebenswille schwindet, und sie in einer entsprechenden Situation gehen können wollen. Verglichen mit chronisch Kranken, die (noch) weiterleben wollen, zeigt sich, dass Umstände wie noch oder wieder in der Lage zu sein, etwas zu unternehmen, sich auf gewollte Art beschäftigen zu können oder sich für etwas zu interessieren zum Erhalt der Lebensqualität beitragen. Wenn Kranke ihrer Ansicht nach noch über eine ausreichende Lebensqualität verfügen und mit dieser zurechtkommen, dann trägt das zum Erhalt ihres Lebenswillens und zur Bereitschaft, weiterzuleben bei. Solange die Lebensqualität intakt ist und bleibt, sehen die Betroffenen keinen Grund, sich das Leben durch Suizidbeihilfe zu nehmen. 5.2.3.6.2.2 Das Lebensgefühl Bedingt durch die Krankheit und deren Folgeerscheinungen verändert sich das Lebensgefühl chronisch Erkrankter teils zum Positiven, teils zum Negativen. Mit Lebensgefühl wird erfasst, inwiefern die Kranken das Gefühl haben, zu leben und lebensfähig zu sein oder nicht. Mehrere erleben, dass ihr Dasein und ihr daraus hervorgehendes Lebensgefühl nicht mehr dem entsprechen, wie es einmal war. Sie haben das Gefühl, dass ihr Dasein kein Leben mehr ist oder sie das Leben bereits hinter sich haben, wodurch ihr Gefühl, zu leben, bereits vor ihrem Tod erloschen ist.
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I: »Gibt es denn was, wo Sie sagen, ja, das ist Ihnen noch wichtig zu erleben? Oder was Ihnen noch wichtig ist, zu erledigen?« Hr. Gubser : ––– »Ja, ich wüsste eigentlich nicht, was. Für mich ––– dadurch, dass ich nicht mehr sehe, ist für mich eigentlich das Leben schon gestorben bevor es so weit ist. Es gibt nichts mehr, an dem ich hängen würde. Also, ich meine außer Beatrice (Name der Ehefrau). Ich meine, es täte mir leid, wenn wir uns jetzt so verabschieden müssten. Aber sonst gibt es nichts, wo ich sagen würde: Das wäre es jetzt noch, das will ich noch erleben. Ja, alles, was du erleben willst, willst du ja auch sehen. Und sehen tue ich es ja nicht.« (Herr Gubser, AD: 463 – 3 – 465).
Andere nehmen ihr Leben als dahinvegetieren, kontinuierliches Sterben oder Warten auf den Tod, wahr. Vor dem Hintergrund des Gewollten und Ungewollten wandelt sich das Leben(-sgefühl) für manche zu einem Risiko. Das Gefühl, nicht mehr zu leben, führt neben der Abnahme des Nutzens und Wertes seines gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseins zu Unzufriedenheit mit seiner Daseinsweise, dem Verlust des Lebenssinns, zur zunehmenden Bereitschaft, aus dem Leben zu gehen und zu sterben, sowie zu Suizidversuchen. Gegensätzlich dazu gibt es aber auch Kranke, die trotz oder gerade wegen ihrer Krankheit das Gefühl haben, zu leben. Manche bewerten ihr Lebensgefühl im Kontext ihrer Krankheit, verglichen mit ihrem Leben vor ihrer Erkrankung, als positiver. Solche Kranken können häufig noch am sozialen Leben partizipieren, was sie in ihrem Lebensgefühl stärkt. Wenn Kranke das Gefühl haben, (noch) zu leben, erfahren sie dadurch das Gefühl, ihr Leben noch weiterführen zu können. Letzteres hilft ihnen dabei, ihr Dasein zu meistern, und unterstützt ihre Bereitschaft, am Leben zu bleiben. 5.2.3.6.2.3 Die Lebenskraft Lebenskraft bezeichnet die Wahrnehmung der seelischen und physischen Kraft, zu leben. Um mit dem täglichen Leben im Kontext chronischen Krankseins fertig zu werden, brauchen Kranke Quellen, aus denen sie Lebenskraft schöpfen. Allerdings erleben mehrere, dass ihre physische und infolgedessen auch ihre seelische Lebenskraft abnimmt oder diese gänzlich fehlt. Einige haben keine Kraft mehr, darum weiterzukämpfen, auf die von ihnen gewollte Art und Weise am Leben zu bleiben. Die jeweilige(n) Krankheit(en), die Krankheitssymptome und deren Auswirkungen, die gesundheitliche Verschlechterung, ein schlechtes Allgemeinbefinden, das zunehmende Lebensalter und die reduzierte Lebensqualität erschweren oder verunmöglichen manchen Erkrankten, ihr Dasein so zu gestalten, dass es ihnen Lebensfreude und Lebenskraft spendet. Zugleich bedingen solche Umstände, dass manche die Substanz ihres Lebens, das heißt, das, was ihr Dasein gegenwärtig und zukünftig ausmacht, als unzureichend erleben und nicht wissen, wovon sie zehren sollen, um leben zu können. Sind die gewohnten Quellen, aus denen sie ihre Lebenskraft geschöpft haben, ungenügend oder versiegt, wirkt sich das auf ihr psychisches Befinden sowie ihr Da-
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seinsmanagement aus. Manche fühlen sich zum Beispiel belastet und haben das Gefühl, mit ihrer Situation nicht mehr zurechtzukommen. Wenn chronisch Kranke keine Lebenskraft mehr haben, dann kann daraus das Nachlassen ihres Lebenswillen resultieren. Fr. Odermatt: »Nein, ich denke –– ja, der Arzt hat kürzlich einmal gesagt, als ich dann dort war und er mir so starke Mittel verschreiben wollte, er hat gesagt: ›Jetzt gehen Sie einmal zu einem Schmerzspezialisten oder in eine Schmerzklinik und lassen sich anders einstellen. Es ist doch ––– ich habe eine Patientin, die ist schlechter dran als Sie, aber es geht ihr –– so, äußerlich gesehen. Aber es geht ihr gut, weil sie alle diese Mittel nimmt. Das ist doch ungerecht‹, hat er gesagt, ›dass Sie so Schmerzen haben müssen.‹ Und dann habe ich, glaube ich, gesagt: ›Ja, ich glaube, es gibt –– ich glaube nicht an Gerechtigkeit.‹ Ich meine, ich bin jetzt, ––– ich habe die Flinte nie ins Korn geworfen, im Grunde genommen, sondern ich habe mich aufgerappelt. Aber jetzt werfe ich die Flinte ins Korn. Es fehlt mir die Kraft.« (Frau Odermatt, EVI: 323).
Andere Kranke verfügen dagegen noch über Quellen, aus denen sie Lebenskraft schöpfen. Sie erfahren Kraft aufgrund physischen und psychischen Wohlbefindens, ihrer Gabe, in »einfachen« Dingen des Lebens Freude und Genuss zu finden, sich sinnvoll zu beschäftigen und etwas zu unternehmen, zu Hause und nicht in einer Institution zu leben, ihrem Glauben oder ihrer Einstellung, ihre Situation hinzunehmen. Zudem spenden bedeutsame, unterstützende soziale Beziehungen, soziale Teilhabe, eine Beziehung zur Natur, eine auf Anteilnahme basierende Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen und ein als wirksam erlebtes, nützliches Symptommanagement Lebensfreude und somit Lebenskraft, um sein tägliches Dasein zu leben. 5.2.3.6.2.4 Die Lebensfreude Die Unberechenbarkeit des Körpers und seiner Funktionalität lassen die Unbeschwertheit des Daseins chronisch Kranker und damit auch ihre Lebensfreude schwinden. Sie erleben, dass einiges langsamer geht und manches mühsamer wird. Verschlingen bestimmte Aktivitäten ihre Energie, erfahren sie dadurch zusätzlich Stress. Manche erleben, dass sie Dinge, die ihnen früher Spaß und Freude bereiteten nicht mehr leben können oder diese ihnen nichts mehr geben. Das trübt ihre Lebensfreude. Einige können sich optisch nicht mehr an Dingen des Lebens erfreuen, weil sie nichts mehr sehen. Allerdings gibt es auch solche, die Lebensfreude durch ihren Glauben, durch Genussgefühle, durch die Fähigkeit, etwas unternehmen zu können, durch Beschäftigungen, die Spaß bereiten, durch wohltuende soziale Beziehungen, durch soziale Partizipation, durch Glücksmomente, durch die Möglichkeit, am gewollten Ort zu leben, durch eine gewisse erhaltene Selbstständigkeit und durch das Gefühl, von anderen nicht vergessen zu werden, erfahren. Solche Erkrankten haben die Gabe, trotz chronischen Krankseins und allem damit Verbundenen Spaß an ihrem Dasein zu
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haben, ihr Leben zu genießen und sich an für sie schönen Dingen des Lebens zu erfreuen. Freude und Spaß am Leben zu haben, sind Faktoren, die das Dasein chronisch Kranker erhellen und sie darin unterstützen, weiterzuleben. I: »Wenn Sie sagen, Sie haben, ähm, Freude an den Beziehungen, und so wie Sie erzählen, scheint es sehr wichtig für Sie zu sein.« Fr. Schulthess: »Ja, das ––– eben ––– das ist der Grund. Und das lässt mich noch, äh, existieren, eigentlich.« (Frau Schulthess, T: 267 – 268).
Wenn die Lebensfreude hingegen nachlässt, wirkt sich das auf das Allgemeinbefinden aus und zeigt Kranken auf, dass es so für sie nicht mehr weitergeht. Manche Kranke treffen den Entscheid, nicht länger am Leben zu bleiben und zu sterben, bewusst dann, wenn sie noch Freude am Leben haben. 5.2.3.6.2.5 Der Nutzen und der Wert seines gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseins Auch der subjektiv erfahrene Nutzen und Wert des gegenwärtigen sowie antizipierten zukünftigen Daseins kann sich verändern. Für manche Kranke lohnt sich das Leben im Kontext ihrer Erkrankung und deren Folgen nicht mehr, da sie vom Leben nicht mehr profitieren. Einige erleben sich als »zu nichts mehr zu gebrauchen« und können mit ihrem Dasein nichts anfangen. Da ihnen ihr gegenwärtiges oder ihr antizipiertes Leben wertlos vorkommt, ist es für sie nicht mehr wert, gelebt zu werden. Fr. Knauer : »Ich bin eigentlich ein positiver Mensch. Eigentlich. Bin ich eigentlich immer noch, würde ich sogar behaupten. Aber es ist einfach nicht mehr lebenswert, jetzt. Ich möchte jetzt einfach nicht mehr. Der Zeitpunkt (betont) ist ––– wie soll ich das sagen, der Zeitpunkt ist da.« (Frau Knauer, AK: 427).
Die Ursachen dafür, warum das eigene Leben als nicht mehr lebenswert wahrgenommen wird, liegen neben krankheitsbedingten Auswirkungen auf den Körper, dessen Funktionalität und das Allgemeinbefinden auch in den Auswirkungen auf die Selbstständigkeit, Beschäftigung, Selbstwahrnehmung sowie in der unzureichenden Lebensqualität, dem verändertem Lebensgefühl und dem fehlendem Lebenssinn. Auch die erwähnten persönlichen Faktoren wie der Verlust sozialer Beziehungen, ein hohes Lebensalter und das individuelle Werteund Präferenzsystem beeinflussen, wie Kranke den Nutzen und Wert ihres Lebens erfahren. Wenn ihr Leben für sie keinen Wert mehr hat, hält manche kaum etwas, andere nichts mehr im Leben zurück. Bei Erkrankten, die nichts mehr im Leben hält und die nicht mehr leben mögen, zeigt sich, dass sie vom Leben Abschied nehmen und manche einen Suizidversuch begehen. In Situationen, in denen Kranke dauerhaft unter physischen Auswirkungen leiden, es ihnen an Lebensqualität fehlt, ihr Leben für sie keinen Nutzen und Wert mehr hat, Aussichtslosigkeit und keine Ausweichmöglichkeiten gesehen werden, verliert auch
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ihre Zukunft an Bedeutung. Verliert das eigene Dasein an Wert und haben Kranke keine Zukunftsperspektive mehr, kann das bei ihnen Hilflosigkeit und Verzweiflung auslösen, ihren Lebenswillen verringern und zu Überlegungen führen, ob sie ihr Dasein mit den bestehenden und ihnen eventuell noch bevorstehenden krankheitsbedingten ungewollten Auswirkungen und Folgen weiterleben wollen. Kranke, denen ihr Dasein nicht mehr viel wert ist, überlegen sich, wie sie ihrem gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Dasein entkommen können. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch Kranke, für die sich das Leben noch lohnt und noch lebenswert ist. Sie erfahren Zufriedenheit mit ihrem Dasein durch die Faktoren, die ihr Leben lebenswert machen, was sie existieren lässt und bewirkt, dass sie noch gerne leben. 5.2.3.6.2.6 Die Zukunftsperspektive Die Zukunftsperspektive steht dafür, wie chronisch Kranke ihre antizipierte zukünftige Daseinsweise erleben. Da die Zukunft ungewiss ist, machen sich manche Sorgen darüber, wie es mit ihnen weitergeht und was auf sie zukommt. Ihre Gedanken drehen sich um potenzielle Probleme und darum, mit welchen Entwicklungen und Gegebenheiten sie noch oder nicht mehr leben können. Dabei stellen die von ihnen antizipierten Probleme für sie drohende Gefahren und Risiken dar, die ihr antizipiertes zukünftiges Dasein zu einem Wagnis werden lassen. Sie wollen nicht noch mehr Beeinträchtigungen und Verluste erfahren und das Risiko eingehen, die Suizidbeihilfe nicht mehr in Anspruch nehmen zu können. Für einige Kranke besitzt ihr Dasein keine Zukunft(-sperspektive) mehr. Dieser Eindruck tritt vor allem dann auf, wenn die Lebensqualität abnimmt und sich infolgedessen das Lebensgefühl zum Negativen verändert. Auch physische Veränderungen, der Rückgang der Selbstständigkeit, Beeinträchtigungen der Beschäftigungsmöglichkeiten, ein negatives Selbstverständnis, ausbleibende Besserung der Situation und fehlende Ausweichmöglichkeiten trüben das Gefühl zur eigenen Zukunft, wodurch das antizipierte zukünftige Dasein als wertlos erlebt wird. Vor dem Hintergrund antizipierter Probleme und Gefahren, dem Wagnis, welches das Weiterleben mit sich bringt, und der wertlosen oder fehlenden Zukunftsperspektive entwickeln manche Kranke Zukunftsängste. Auch Panik sowie schlechte, depressive Stimmung kommen vor. Einige sehen keinen Ausweg und erleben Hilflosigkeit. Aufgrund der fehlenden Zukunftsperspektive kommen manche Kranke an den Punkt, wo sie nicht mehr leben zu können glauben und daher erwägen, ihr Leben zu beenden. Hr. Gubser : »Ja, das ist also ein Ist-Zustand. Es ist immer gleich. Es verbessert sich ja nichts mehr, in dem Sinn. ––– Ich bin jetzt einfach, ––– ich komme mir vor wie ein –– Sträfling mit der Kugel am Bein. Der kann auch nur weg, wenn ihm jemand hilft, die
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Kugel zu tragen. Oder ––– oder wie man sagt, manche Frauen, die im goldenen Käfig sind. So geht es mir doch auch. Es fehlt mir zwar an nichts, also, an nichts Materiellem, so. Aber ––– dann ist gleich fertig. Oder, ich habe ––– wie gesagt, ich habe keine Perspektive mehr. Und das ist ja für die ganze Zukunft. Ob es jetzt für den Moment ist oder wie lange auch immer. Ich ––– ja, wüsste nicht, was ich noch machen wollte. Es gibt keine Ausweichmöglichkeiten mehr. Und dann überlegt man sich eben schon manchmal, wie man diesem Zustand abhelfen könnte. […].« (Herr Gubser, AD: 330).
Dass chronisch Kranke ihre Zukunft mit Spannung und Freude erwarten, zeigt sich in einem Fall. Diesen Kranken kennzeichnet ein relativ junges Alter (35 Jahre), eine langjährige Krankheitsdauer (21 Jahre), die sich im Verlauf leicht gebessert hat und seither bis auf kleinere, erträgliche Komplikationen, relativ stabil ist. Dieser chronisch Kranke war von Krankheitsbeginn an von einem daseinsfördernden Versorgungskontext umgeben, das heißt, (Gesundheits-)Fachpersonen lehrten ihn, sein Leben im Kontext seiner Krankheit mittels bestimmter Techniken und dem Einsatz von Hilfsmitteln weitestgehend selbstständig zu führen. Dieser Fall zeigt, dass man mit zunehmendem Erwerb von Fertigkeiten sein Dasein im Kontext chronischer Krankheit managen kann, Zukunftsperspektiven schrittweise zurückkehren und dadurch Lebensmut erfahren werden kann. Trotz schwerer Behinderung Lebenssinn zu erfahren, steigert den subjektiven Nutzen und Wert des Lebens, gibt Lebensmut, trägt dazu bei, mit seiner Daseinsweise zurechtzukommen, und fördert den Lebenswillen. Andere Kranke legen im Hinblick auf ihre Zukunft eine gewisse Gelassenheit an den Tag. Da sie meinen, nichts gegen ihren Zustand tun zu können, nehmen sie ihre Situation, wie sie ist, und nehmen ihr zukünftiges Dasein, wie es kommt. 5.2.3.6.2.7 Der Lebenssinn Einige chronisch Kranke können mit ihrem Leben nichts anfangen und sehen in ihrem Dasein keinen Sinn mehr. Fr. Spörri: »Ja. ––– Wissen Sie, ich habe das Gefühl –– ich habe es zum Beispiel, wenn ich jetzt am Abend ins Bett gehe (weint fast) ––– ich esse um 6 Uhr zu Abend, was mache ich? Ich kann nicht mehr fernsehen. ––– Ich kann nicht mehr lesen. ––– Dann sitze ich da ––– für was? Für was? ––––– Es bringt nichts mehr, man ist einfach für nichts mehr –––.« I: »Mhm. Haben Sie das Gefühl, dass das Leben keinen Sinn mehr macht?« Fr. Spörri: »Ja, keinen Sinn mehr. Nein, so zu leben, hat keinen Sinn mehr.« (Frau Spörri, O: 577 – 597).
Bei ihnen zeichnet sich ein Zusammenhang zwischen dem Verlust ihres Lebenssinns und unerträglichen Auswirkungen auf ihren Körper, schlechtem Allgemeinbefinden, der Abnahme der Lebensqualität, der Nutz- und Wertlosigkeit ihres Daseins und einem veränderten Lebensgefühl ab. Auch Beeinträchtigungen der Beschäftigung, Todesahnungen sowie das individuelle Werte-
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und Präferenzsystem beeinflussen den Lebenssinn negativ. Die Konsequenzen mangelnden oder fehlenden Lebenssinns sind das Nachlassen der Lebenslust und des Lebenswillens, Gedanken, es wäre besser, sterben zu können, Entscheide, nicht länger am Leben bleiben zu wollen, Suizidversuche sowie der Erwerb der Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation. Gegenteilig dazu gibt es aber auch Kranke, denen es gelingt, ein für sie sinnvolles Dasein zu führen und Lebenssinn zu erfahren, indem sie ihrem Dasein selbst Sinn geben. Solche Kranken kennzeichnet, dass sie für etwas oder jemanden leben und beispielsweise dadurch Sinn erfahren, dass sie sich für die ihnen nahestehenden Menschen interessieren, für diese da sind und Letztere ihnen wiederum mitteilen, wie wichtig sie für sie sind und wie gut sie ihnen tun. Interessieren sich chronisch Kranke noch für bestimmte Dinge des Lebens, verfolgen sie Lebensziele und verfügen über bedeutsame Beziehungen und sinnvolle Aufgaben, dann gewinnt ihr Dasein dadurch Inhalt, Nutzen, Wert und infolgedessen auch Sinn. Allerdings könnte das Auftreten oder die Wiederkehr unerträglicher ungewollter physischer Auswirkungen dazu führen, dass sie keinen Sinn mehr in ihrem Dasein sehen und aufgrund dieser Umstände erwägen, ihr Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden. 5.2.3.6.2.8 Die Lebenslust und der Lebensmut Im Kontext chronischen Krankseins fehlt es einigen Erkrankten an Lebenslust und Lebensmut. Fehlende Lebenslust zeigt sich daran, dass Kranke kein Interesse mehr am Leben haben und ihr Mut zu leben abnimmt oder nicht mehr gegeben ist. Die Gründe dafür sind die krankheitsbedingten Auswirkungen auf den Körper, die gesundheitliche Verschlechterung, die psychischen Auswirkungen und das Gefühl, genug von seinem Leben zu haben. Fr. Odermatt: »Ich möchte eigentlich ––– ja, Illusionen sind immer falsch, man kann nicht von falschen Illusionen reden, aber ich mache mir – der Lebensmut fehlt mir, weil – es kommt ständig etwas Neues dazu.« (Frau Odermatt, EI: 231).
5.2.3.6.2.9 Der Lebenswille Infolge gesundheitlicher Verschlechterung, immer wieder neu auftretenden gesundheitlichen Problemen und damit einhergehenden, zunehmend nicht in den Griff zu bekommenden Auswirkungen auf das Dasein Kranker und den daraus resultierenden fehlenden Lebensmut zeigt sich bei einigen Kranken, dass ihr Lebenswille zerrinnt oder ganz verloren geht. Fr. Trüb: »Ich sehe das ja auch jetzt, wenn die Schmerzen irgendwie eintreten, man hat auch nicht so den Lebenswillen und sagt: Jetzt muss ich und noch eine Pille und noch ne Pille, dann bist du komplett – außer Gefecht gesetzt. Dann liegst du den ganzen Tag und schläfst und so, also, das ist – ne – es ist heute so, jeder Mensch muss sterben. – Gut,
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wenn es zu früh ist, wenn man sich da so was aufgebaut hat und sagt, ja, das ––– noch so schön und bist in der Pensionierung und könntest noch dieses und jenes machen – ne, ja, das ist schon ein Faktor – aber ––– ich kann es nicht ändern. Es ist so –––.« (Frau Trüb, W: 84).
Im Vergleich zu solchen Kranken sind andere bereit, mit den krankheitsbedingten Auswirkungen auf ihr Dasein weiterzuleben. Sie lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Für die eine Gruppe gibt es per se nichts anderes als weiterzuleben. Sie verfügen sozusagen über einen uneingeschränkten Lebenswillen. Die zweite Gruppe verfügt über einen bedingten Lebenswillen. Sie leben vorläufig noch gern, wollen aber nur so lange weiterexistieren, wie ihr Dasein für sie erträglich ist. Zu dieser Gruppe zählen Kranke, die gegenwärtig noch gerne leben, aber zukünftig nicht um jeden Preis leben wollen. Bei Kranken, die über Lebenswillen verfügen, erweisen sich zur Erhaltung des Lebenswillens zum Beispiel folgende an anderer Stelle bereits ausgeführte Faktoren als unterstützend: Persönlichkeitsmerkmale, die Glaubenshaltung, die sozialen Lebensumstände, persönliche Einstellungen und Überzeugungen, Anteil nehmende Gesundheitsfachpersonen, gesundheitliche Linderung und Besserung, Lebensfreude, Möglichkeiten und die Fähigkeit, sich zu beschäftigen, das individuelle Werte- und Präferenzsystem, Hilflosigkeit sowie die Auffassung, keine andere Wahl zu haben.
5.2.3.7 Auswirkungen auf das Daseinsmanagement und dessen Resultate Chronisch krank zu sein, bringt auch Auswirkungen auf die gewohnte Art und Weise, sein Dasein zu managen, und die Fähigkeit, mit seinem Dasein fertig zu werden, mit sich. Bei chronisch Kranken zeigt sich, dass die relative Unbeschwertheit ihres Daseins abnimmt, weil sich dieses durch die Erkrankung partiell oder nahezu vollständig verändert hat und fortlaufend weiter verändert. Die bestehenden und fortschreitenden Veränderungen der Daseinsweisen Kranker verunmöglichen ihnen, das Dasein, welches sie einmal geführt haben, aufrechtzuerhalten und erschweren manchen, ihr tägliches Dasein mit all seinen Anforderungen, Aufgaben und Vorhaben so wie von ihnen gewünscht bestehen zu können. Die Kranken stehen der Herausforderung gegenüber, mit ihrer bestehenden, sich eventuell weiter verändernden Daseinsweise fertig zu werden und ihr Dasein zu meistern. Infolge der Krankheit und deren Auswirkungen reduziert sich zugleich aber die Fähigkeit mancher Kranken, ihr Dasein zu managen, was einer Veränderung der Ergebnisse des Daseinsmanagements gleichkommt. Vor Beginn ihrer Krankheit waren sie mehr oder weniger gewohnt zurechtzukommen. Dieses Gefühl verändert sich für einige Kranke, weil sie, bedingt durch die Auswirkungen ihrer Krankheit, mit bestimmten Aspekten
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ihres Daseins zunehmend Schwierigkeiten bekommen. Das geht bei einigen Kranken so weit, dass sie das Gefühl entwickeln, sich mit gewissen Gegebenheiten und antizipierten Entwicklungen ihres Daseins nicht zurechtzufinden und infolgedessen nicht zurechtzukommen. Hr. Arnold: »Und, jetzt, bin ich natürlich, bin ich, das ist immer wieder die gleiche Situation. Das ist immer die gleiche Situation. Ich finde mich nicht zurecht mit dieser Lebensqualität. Man kann ja nicht von der Vergangenheit leben, nicht? […]. Die Hände, die Hände, ja, die, ich kann, ich kann nichts selbst anziehen, ich kann nicht mal die Schuhe lösen und Socken ausziehen oder abziehen. Ich brauche für alles Pflege – und das ist, von denen, die dir sagen: ›Du kannst ja von der Vergangenheit leben.‹ Das kann ich doch nicht machen. Ich finde mich nicht zurecht […]. Ich finde mich, ich finde mich auch hier im Heim, finde ich mich nicht zurecht, nicht da, von der, ich habe hier alles einigermaßen eingerichtet hier, was noch wünschenswert war da, mehr hatte nicht Platz. Von dem kann ich ja nicht leben, jahrelang noch, das geht nicht, das geht also nicht und die Pflege hier ist mangelhaft.« (Herr Arnold, A: 61 – 65).
Wenn das Gefühl besteht, dass man mit seinem gegenwärtigen oder antizipierten zukünftigen Dasein nicht zurechtkommt, dann können daraus Niedergeschlagenheit, Aufgeben, Widerstand, Suizidversuche, Gedanken an Suizidbeihilfe und der Gedanke, nicht mehr am Leben bleiben zu wollen, sondern (durch Suizidbeihilfe) sterben zu wollen, entstehen. Durch die gesundheitliche Entwicklung und die Veränderung ihres Daseins sind chronisch Kranke aufgefordert, fortlaufend ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten anzupassen und weiterzuentwickeln, um ihr verändertes Dasein (selbst-)wirksam leben und managen zu können. Sie müssen sich neue Fertigkeiten aneignen, was einen fortwährenden Lernbedarf und Lernprozess mit sich bringt. Chronisch Kranke stehen nicht nur der Herausforderung gegenüber, zu lernen, was ihre Krankheit mit sich bringt und wie sie mit deren Auswirkungen umgehen können. Sie sind auch aufgefordert, zu lernen, wie sie ihr verändertes, sich möglicherweise weiter veränderndes Dasein gesamthaft im Kontext chronischen Krankseins unter Berücksichtigung ihres persönlichen Werte- und Präferenzsystems fortlaufend und bestmöglich handhaben können. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie für sich praktische wirksame Verhaltensweisen, Methoden und (Selbsthilfe-)Techniken erlernen, um bestimmten krankheitsbedingten Auswirkungen vorzubeugen, diese selbst handhaben zu können und Krankheitssymptome und andere auftretende Probleme zu erkennen und möglichst lindern und lösen zu können. Zusammenfassung Die vorherigen Ausführungen verdeutlichen, dass und wie chronische Krankheiten, gesundheitliche Verschlechterung und damit einhergehende Auswirkungen auf die gegenwärtigen und zukünftigen Daseinsweisen Erkrankter ein-
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
wirken. Dabei wird deutlich, was es heißt, chronisch krank zu werden und zu sein, was mit dem Dasein Erkrankter geschieht und was das hinsichtlich der Beweggründe und Entscheidungsprozesse darüber, nicht länger am Leben zu bleiben oder im Gegenteil weiterleben zu wollen, für die Kranken bedeutet. Es wird erkennbar, dass die gesundheitlichen Entwicklungen sich häufig als physische Symptome und Beeinträchtigungen manifestieren, welche für chronisch Kranke zahlreiche Verlusterfahrungen mit sich bringen können. Die Auswirkungen chronischen Krankseins betreffen den Körper, seine allgemeine Funktionalität und sein Funktionserleben, das physische und psychische Allgemeinbefinden, die Gestaltung des Daseins, die Selbst- und Daseinswahrnehmung sowie das tägliche Daseinsmanagement. Zudem zeigt sich, dass chronisch Kranke ihre gegenwärtige und antizipierte zukünftige Daseinsweise mit ihrem ursprünglich gewohnten Dasein vor Krankheitsbeginn vergleichen. Das subjektive Erleben Kranker betreffend Ausmaß, Art und Weise der krankheitsbedingten Auswirkungen und gesundheitlicher Verschlechterung beeinflusst, ob und inwiefern das eigene Dasein als nahezu unverändert, verändert oder als fortschreitend verändert erlebt wird. Neben der Veränderung der eigenen Daseinsweise nehmen einige chronisch Kranke auch Gefahren und Risiken wahr, die bei ihnen Ängste gegenüber von ihnen antizipierten zukünftigen Daseinsweisen bewirken. Die aus Phase 2 resultierenden zahlreichen krankheitsbedingten und -bezogenen Veränderungen und Entwicklungen der Daseinsweisen chronisch Kranker stellen ebenfalls Faktoren dar, die zu Überlegungen darüber Anlass geben, nicht länger am Leben zu bleiben oder weiterleben zu wollen (siehe Abbildung 30).
Das Auftreten einer physisch chronischen Krankheit
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Auftreten einer physisch chronischen Krankheit – Mitteilung der Diagnose Gesundheitliche Verschlechterung – Zunahme der Wahrscheinlichkeit, dass das Ungewollte eintritt – Ängste aufgrund der Verschlechterung der Neurokognition – Sich seiner Situation/seinem Dasein nicht mehr gewachsen fühlen – Sich schlecht oder gar nicht mit seiner Situation/seinem Dasein abfinden können – Gedanken, etwas unternehmen zu müssen; so kann es nicht weitergehen – Verzweiflung – Gesundheitliche Verschlechterung übt physisch Druck aus, in Kürze über den Zeitpunkt seines Sterbens entscheiden zu müssen Auswirkungen auf den Körper – Unerträgliche Symptome – Kumulation von Symptomen und deren Auswirkungen – Neurokognitive Veränderungen Auswirkungen auf die allgemeine Funktionalität und das Funktionserleben – Körper ist nicht mehr zu gebrauchen – Anhaltende inakzeptable Beeinträchtigungen und Verlust der Funktionalität – Funktions-, aktions- und existenzunfähig sein Auswirkungen auf das psychische Befinden – Keine Hoffnung auf Besserung – Depressiv, deprimiert sein – Psychischer/moralischer Tiefpunkt – Verzweiflung Auswirkungen auf das psychische und physische Allgemeinbefinden – Physisch und psychisch in einem schlechten Zustand sein
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Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterzuleben
Gesundheitliche Besserung – Sich psychisch »up«, besser, obenauf fühlen
Auswirkungen auf den Körper – Erträgliche Symptome
Auswirkungen auf die allgemeine Funktionalität und das Funktionserleben – Zunahme, Besserung, Fortbestehen oder Wiedererlangen von Funktionalität(en) – Sich lebens-/existenzfähig fühlen Auswirkungen auf das psychische Befinden – Zuversicht, Hoffnung – Aufgestellt, gut gelaunt sein – Frei von (Zukunfts-)Ängsten sein – Sich durch das ausgestellte Rezept beruhigt, erleichtert fühlen, Gewissheit haben Auswirkungen auf das psychische und physische Allgemeinbefinden – Zufrieden sein – Glücklich sein – Physisch und psychisch eine gute Zeit, Wohlbefinden erleben, sich gut fühlen, gut dran sein – Sich lebensfähig fühlen
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Auswirkungen auf die Selbstständigkeit und Selbstversorgung – Reduzierte Selbstständigkeit – (Zunehmende) Abhängigkeit – Ungewollte Entwicklungen (Ankündigung/Notwendigkeit, bald in ein Altersoder Pflegeheim ziehen zu müssen – Mühe damit haben, unselbstständig zu sein, nicht damit zurechtkommen Auswirkungen auf die Mobilität – Immobilität Auswirkungen auf das soziale Leben – Unerträgliche Einsamkeit Auswirkungen auf die private und berufliche Beschäftigung – Einstige Leidenschaften nicht mehr leben können – Mühe damit haben, bestimmte Dinge nicht mehr tun zu können Auswirkungen auf die Bewältigung des häuslichen Alltags – Häuslichen Alltag nicht mehr im Griff haben – Sich der Bewältigung seinen häuslichen Alltags/Daseins nicht mehr gewachsen fühlen, nicht mehr damit fertig werden – Schwierigkeiten, zu Hause weiterleben zu können Auswirkungen auf die örtliche und räumliche Lebenswelt/Lebensraum – Aussicht, nicht mehr lange am gewollten Ort leben/bleiben zu können – Aussicht, in eine Institution des Gesundheitswesens ziehen zu müssen Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung – Sich gefangen fühlen – Negatives Selbstverständnis – Identitätsverlust
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterzuleben Auswirkungen auf die Selbstständigkeit und Selbstversorgung – Sich durch Techniken und Hilfsmittel selbstständig(er) fühlen
Auswirkungen auf die private und berufliche Beschäftigung – In der Lage sein, sich sinnvoll zu beschäftigen, etwas zu machen Auswirkungen auf die Bewältigung des häuslichen Alltags – Seine Haushaltsaufgaben noch selbstständig erledigen können, damit zurechtkommen
Auswirkungen auf die örtliche und räumliche Lebenswelt/Lebensraum – Sich vorstellen können, in eine Institution des Gesundheitswesens zu ziehen Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung Entwicklung eines neuen, positiven Selbstverständnisses und einer neuen, positiven Identität
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen – Auswirkungen auf die Daseinswahrnehmung – Cut-Off-Punkte drohen einzutreten oder sind erreicht – Keine ausreichende Lebensqualität – Sich mit seiner Lebensqualität nicht zurechtfinden – Angst vor ungewollten Daseinsweisen – Das Gefühl, nicht mehr zu leben – Keine Lebenskraft mehr haben – Abnehmende/schwindende Lebensfreude – Sein gegenwärtiges und antizipiertes zukünftiges Dasein ist nicht mehr lebenswert finden – Sich nutzlos, überflüssig fühlen – Keinen Halt mehr im Leben haben – Zukunft verliert an Wert – Keine Zukunftsperspektive mehr haben – Keine Risiken/Gefahren eingehen wollen – Angst, Panik und Hilflosigkeit im Zusammenhang mit seinem antizipierten zukünftigen Dasein – Keinen Ausweg, keine Ausweichmöglichkeiten sehen – Mangelnder, fehlender Lebenssinn – Mangelnde(r), fehlende(r) Lebenslust und Lebensmut – Der Lebenswille zerrinnt, geht verloren – Über einen eingeschränkten Lebenswillen verfügen Auswirkungen auf das Daseinsmanagement und dessen Resultate – Das Gefühl, sich mit seiner Situation nicht zurechtzufinden
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterzuleben Auswirkungen auf die Daseinswahrnehmung – Über eine intakte Lebensqualität verfügen – Das Gefühl, (noch) zu leben – Das Gefühl, (noch) existieren zu können – Über Lebensquellen verfügen und Lebenskraft erfahren – Lebensfreude und Spaß am Leben erfahren – Das Leben lohnt sich noch – Das Leben ist noch lebenswert – Junges Alter – Besserung seiner Situation erleben – Erträgliche Komplikationen – Gesundheitliche Stabilität – Wirksame Fertigkeiten bezüglich seines Daseinsmanagements erwerben – Lebenssinn erfahren – Interesse am Leben/Dasein haben – Über einen uneingeschränkten Lebenswillen verfügen
Auswirkungen auf das Daseinsmanagement und dessen Resultate – Lernen, seine Krankheit und deren Auswirkungen zu akzeptieren und damit umzugehen Abbildung 30: Aus Phase 2 resultierende Faktoren, welche Überlegungen und Entscheidungen darüber begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder weiterzuleben
Die oben aufgeführten Faktoren stimmen in vielen Punkten mit den in Phase 1 erläuterten gewollten und ungewollten Faktoren überein. Daran zeigt sich, dass einige der Faktoren die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, in Phase 2 bereits Tatsache geworden sind. Für manche Erkrankte sind es einzelne, für andere sind es mehrere dieser Faktoren, die sie
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
weiterleben oder entscheiden lassen, ihr Leben zu beenden. Deutlich wird auch, dass das Auftreten einer physisch chronischen Krankheit, insbesondere das Erleben gesundheitlicher Verschlechterung und deren unerträgliche gegenwärtige sowie zukünftige Auswirkungen auf das Dasein der Erkrankten Faktoren sind, welche die Fortsetzung der in Phase 1 begonnenen Überlegungen und Entscheidungsprozesse darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, aufrechterhalten, vorantreiben und zu deren Entwicklung beitragen. Parallel zu den zuvor erläuterten Entwicklungen läuft die im nächsten Kapitel erläuterte Phase 3 ab: Der Umgang, das heißt, die Strategien und das Bewältigungsverhalten chronisch Kranker, ihnen nahestehenden Bezugspersonen und involvierter (Gesundheits-)Fachpersonen.
5.3
Der Umgang mit der chronischen Krankheit und krankheitsbezogenen Veränderungen des Daseins durch chronisch Kranke, ihnen nahestehende Bezugspersonen und (Gesundheits-)Fachpersonen
Mit dem Auftreten einer chronischen Krankheit, der gesundheitlichen Verschlechterung und den Auswirkungen derselben auf das Dasein der Erkrankten beginnen Gesundheitsfachpersonen, medizinisch-diagnostische sowie therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Auch die Kranken selbst und ihre Angehörigen versuchen, mit der veränderten, sich weiter verändernden Daseinsweise im Kontext der Krankheit umzugehen. Im Folgenden wird aus der Perspektive der Kranken dargelegt, wie sie selbst mit ihrem Dasein im Kontext ihrer chronischen Krankheit umgehen, um weiterleben zu können. Dies schließt auch ein, welche Möglichkeiten sie erwägen und ergreifen, um sich vor einem antizipiertem ungewollten Dasein zu schützen und ihr Dasein zu einem bestimmten Zeitpunkt beenden zu können, und welche Vorbereitungen sie für ein allfälliges biologisches Sterben treffen. Da der Umgang chronisch Kranker mit ihrem Dasein, ihre Bereitschaft, am Leben zu bleiben, oder ihr Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, unter dem Einfluss des Kontextgeschehens stehen, wird neben dem Umgang nahestehender Bezugspersonen mit den Kranken auch erläutert, wie diese die Versorgung durch (Gesundheits-)Fachpersonen erleben und wie diese auf ihre Äußerungen bezüglich der Suizidbeihilfe reagieren (siehe Abbildung 31).
Der Umgang mit der chronischen Krankheit
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– Der Umgang Kranker mit ihrer chronischen Krankheit und damit zusammenhängenden Veränderungen ihres Daseins – Der Umgang von nahestehenden Bezugspersonen mit chronisch Kranken und deren Dasein im Kontext chronischen Krankseins – Der Umgang von (Gesundheits-)Fachpersonen mit chronisch Kranken und deren Dasein im Kontext chronischen Krankseins Abbildung 31: Bestandteile von Phase 3
5.3.1 Der Umgang Kranker mit ihrer chronischen Krankheit und den damit zusammenhängenden Veränderungen ihres Daseins Die Erkrankten gehen auf verschiedenste Art und Weise mit ihrem Dasein um. Die Geschehnisse in Phase 2 veranlassen die Kranken zu Strategien und damit verbundenen Verhaltensweisen, die ihnen dazu dienen, ihr gegenwärtiges und zukünftiges gesundheitliches Dasein zu analysieren, zu orten und zu antizipieren. Parallel dazu suchen und entwickeln sie Verhaltensweisen, mit denen sie versuchen, ihr tägliches Dasein zu meistern, mit ihrem Dasein zurechtzukommen und dieses weiterzuführen. Chronisch Kranke, die eine unerträgliche, ungewollte Daseinsweise erleben oder für sich antizipieren, diese fürchten und vermeiden wollen, suchen und greifen nach Möglichkeiten und Wegen, die ihnen dazu verhelfen, sich auf das von ihnen antizipierte ungewollte Dasein vorzubereiten und sich davor zu schützen. Manche bereiten sich auf ihr biologisches und parallel dazu auf ihr Sterben durch Suizidbeihilfe vor. Dazu wählen sie Verhaltensweisen, die ihnen helfen, von ihrem ungewollten Dasein erlöst zu werden, oder die ihnen ermöglichen, sich selbst von ihrem Dasein durch Suizid (-beihilfe) zu erlösen (siehe Abbildung 32). – Analyse und Ortung der eigenen gesundheitlichen Situation und die Bewertung des damit verbundenen gegenwärtigen und zukünftigen Daseins – Versuchen, sein tägliches Dasein zu meistern und weiterzuführen – Sich auf das antizipierte ungewollte Dasein vorbereiten und sich davor schützen – Sich auf sein biologisches Sterben vorbereiten – Sich auf sein Sterben durch Suizidbeihilfe vorbereiten – Es darauf ankommen lassen und hoffen, von seiner gegenwärtigen, unerträglichen und antizipierten ungewollten Daseinsweise erlöst oder verschont zu werden – Sich selbst durch Suizid(-beihilfe) von seiner gegenwärtigen unerträglichen und antizipierten ungewollten Daseinsweise erlösen und Letztere dadurch vermeiden Abbildung 32: Bestandteile des Umgangs der Erkrankten mit ihrer chronischen Krankheit und den damit zusammenhängenden Veränderungen ihres Daseins
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
5.3.1.1 Die Analyse und Ortung der eigenen gesundheitlichen Situation und die Bewertung des damit verbundenen gegenwärtigen und zukünftigen Daseins Das Analysieren und Orten der gesundheitlichen Situation ist aufgrund chronischen Krankseins ein fortlaufender Prozess, der bewirkt, dass die Erkrankten sich über ihre Krankheit, deren Auswirkungen sowie über ihr gegenwärtiges und antizipiertes Dasein und dessen Bedeutung bewusst werden, es interpretieren und beurteilen. Zu diesbezüglichen Strategien und Verhaltensweisen gehören die Suche nach (Ab-)Hilfe, Unterstützung und Linderung bei (Gesundheits-) Fachpersonen und Laien, Information und Prüfung von Optionen, gedankliche Beschäftigung mit seiner gegenwärtigen Situation und antizipierten zukünftigen Daseinsweise, das Abwarten und Selbstbeobachtung, Abwägung und Beurteilung der eigenen Situation sowie selbst aktiv zu werden und nach (Ab-)Hilfe zu suchen. 5.3.1.1.1 Suche nach (Ab-)Hilfe, Unterstützung und Linderung bei (Gesundheits-) Fachpersonen und Laien Es zeigt sich, dass sich Kranke im Zuge gesundheitlicher Ereignisse und Beschwerden zunächst in die Hände von (Gesundheits-)Fachpersonen begeben, an nahestehende Bezugspersonen wenden oder mit bestimmten Institutionen und Organisationen des Gesundheitswesens in Kontakt treten, um ihre gesundheitliche Situation analysieren, orten und damit verbundene gesundheitliche Beschwerden stoppen oder lindern zu können. Fr. Trüb: »Ja, ja. Und – äh – ja, dann haben wir uns, dann bin ich noch beim Homöopathen im Vorjahr in Behandlung gewesen. Dann habe ich den noch konsultiert, mit der Hausärztin und vom Homöopathen hatte ich dann noch die Adresse von A. (Ortsname), in B. (Ortsname). Habe dann damit Kontakt aufgenommen und eigentlich alles miteinander irgendwie abgecheckt und so. Also, im Prinzip hat mir kein einziger irgendwie Hoffnung machen können, dass das, irgendwo – gut wird. – Und – aus dem Grund habe ich mich später dann entschlossen, also, dass ich da, also, nichts, was, was irgendwo chemische Sache ist oder Operation oder so etwas machen lasse.« (Frau Trüb, W: 35 – 37).
5.3.1.1.2 Sich informieren und seine Optionen prüfen Die Kranken informieren und setzen sich mit ihrer Krankheit und deren Folgen auseinander. Sie stellen Ärzten Verständnisfragen zu gesundheitlichen Problemen, informieren sich über Behandlungsmöglichkeiten und holen ärztliche Zweitmeinungen ein. Einige erkundigen sich bei Ärzten über die ihnen verbleibende Lebenserwartung. Manche informieren sich zusätzlich selbst über ihre Krankheit, deren Auswirkungen und Behandlung im Internet und fragen sich: Was für Optionen, Alternativen gibt es? Wo soll ich hin, in ein Altersheim?
Der Umgang mit der chronischen Krankheit
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Einige kommen zu dem Schluss, dass es für sie keine geeignete Option gibt, und prüfen für den Fall, dass sie nicht mehr alleine zu Hause leben können, welche Versorgungsinstitutionen für sie am ehesten infrage kommen, welche aus welchem Grund nicht und wie der Ruf entsprechender Institutionen ist. Diejenigen, die sich für den Weg der Suizidbeihilfe interessieren, informieren sich über damit verbundene Prozedere. I: »Und, ähm, mit Exit, haben Sie denn die Ausstellung des Rezeptes beantragt oder sind Sie jetzt einfach Mitglied?« Fr. Rickenbach: »Ich habe sie beantragt. Äh, ich habe dann, – Ende letztes Jahr dann einmal der Exit – weil ich wollte das einfach auch genau wissen, wie das alles genau abläuft – und habe dann der Exit angerufen und gesagt: Ich möchte gerne mit einer Psychologin sprechen, oder.« (Frau Rickenbach, P: 197 – 198).
Manche fragen ihren Arzt, ob dieser das für sie erforderliche Rezept für das tödliche Substrat ausstellen würde, oder informieren sich bei Geistlichen, ob diese im Falle ihres Todes durch Suizidbeihilfe eine Trauerfeier für sie durchführen würden. 5.3.1.1.3 Sich gedanklich mit seiner gegenwärtigen Situation beschäftigen und seine zukünftige Daseinsweise antizipieren Die gedanklichen Auseinandersetzungen der Kranken drehen sich um den Umgang mit ihrer Situation, das Sterben und die Möglichkeit, Suizid zu begehen. Mehrere überlegen sich: Was kann ich tun? Was mache ich, wenn ich nicht mehr nach Hause kann oder wenn sich die unerträgliche Situation nicht ändern sollte? Durch Gedanken wie: Wie geht es weiter? Was könnte mir noch bevorstehen oder passieren? antizipieren sie ihr zukünftiges Dasein. Einige beschäftigen sich mit Existenzfragen und Sinnfragen wie: Wieso und wofür lebe ich noch? Wozu soll ich hier herumliegen? Macht es Sinn, weiterzuleben und sich pflegen zu lassen? I: »So, der Gedanke, zu sagen: Ja, ich nehme da die Schlaftabletten, ist das für Sie so recht spontan gewesen oder ist das eine längere Überlegung gewesen? Wie war das?« Hr. Imhof: »Ja, man – man diskutiert das etwa: Das wäre besser. –– Alt genug bin ich. Was will ich noch mit den Schmerzen leben, da, jahrelang. Ja, und dann kam ich ins Krankenhaus.« I: »Wo haben Sie denn die Schlaftabletten genommen? Waren Sie da noch – haben Sie da noch zu Hause gelebt?« Hr. Imhof: »Nein, nein, im Altersheim, da.« (Herr Imhof, AG: 171 – 176).
Manche fragen sich, wie weit sie mit medizinischen Therapien gehen wollen, wann es mit ihnen zu Ende geht oder wie sie ihr Leben beenden können. Sie fragen sich, wie sie ihren Alltag bestehen können, wie sie sich am neuen Lebensort zurechtfinden werden oder ob sie mit ihrer verbliebenen Lebensqualität auskommen werden. Zudem tauchen Fragen auf wie: Muss ich mit der Verän-
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
derung meines Daseins und dem, was das mit sich bringt, weiterleben? Was und wie viel kann man noch durchhalten? 5.3.1.1.4 Abwarten und sich sowie andere beobachten Die Kranken warten zunächst ab, ob und wie sich ihr gesundheitlicher Zustand aufgrund medizinisch-therapeutischer Maßnahmen verbessert, wie ihre weitere Zeit verläuft, was ihre veränderte und sich weiter verändernde Daseinsweise für sie bedeutet und wie sie mit dieser umgehen können. Fr. Nüesch: »Aber, eben ––– ja, das hat mir dann schon zu denken gegeben, und ich bin nicht groß erschrocken, aber dann, im September, hat er mir gesagt – eben, mit dieser Exit, – dass er sterben will. Er sieht keine Besserung. Der Arzt hat ihm das auch bestätigt. – Sie probieren jetzt noch, da eventuell die Kraft, die Muskelkraft von den Armen auf die Hände zu übertragen. Er hat Therapie gemacht; er hat den ganzen Sonntag, hat der Übungen gemacht, um die Kraft wiederherzustellen. Alles nichts gebracht. Im Oktober musste man ihn hier im Pflegeheim anmelden – und er hat noch gesagt: »Ich schaue jetzt, wie es mir hier geht, wie es mir gefällt, wie ich zurechtkomme und alles und dann werden wir weitersehen.« (Frau Nüesch, Tochter, AT: 20).
Die Kranken beobachten ihren körperlichen Zustand und neigen dazu, sich selbst zu diagnostizieren. Daneben beobachten sie auch das Dasein sowie den Krankheits- und Behandlungsverlauf anderer Kranker und ziehen daraus Schlussfolgerungen für sich und ihre Situation. 5.3.1.1.5 Seine Situation abwägen und beurteilen Im Laufe chronischen Krankseins wägen mehrere Erkrankte vor dem Hintergrund ihrer Werte, Präferenzen und Bedürfnisse ab, was ihnen am meisten dienen oder schaden könnte. Sie beurteilen den potenziellen Nutzen medizinisch-therapeutischer Maßnahmen und den tatsächlichen Effekt, das heißt, ob sie aufgrund der erfahrenen Behandlung eine Verbesserung, eine Verschlechterung oder keine Veränderung feststellen. Sie beurteilen ihren neuen Lebensort und die Qualität der dortigen Betreuung durch (Gesundheits-)Fachpersonen. Einige stellen fest, dass sie nicht mehr so gesund sind, wie sie dachten, und werden sich darüber bewusst, dass vieles von ihnen nicht mehr so funktioniert, wie es sollte. Im Zuge dieser Bewusstwerdung entsteht bei manchen Kranken das Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann und sie etwas unternehmen müssen. Fr. Odermatt: »[…]. Ich meine, die Schmerzen sind belastend und lähmen mich für so viele Dinge. Nicht nur ausgehen oder all das, es nimmt die Kraft für so vieles und – ähm, sie nehmen nicht ab. Dieses Jahr hat es mit dem Kiefergelenk angefangen. Es hat voriges Jahr, nicht lange vorher, mit dem Schultergelenk angefangen. Also, es kommen einfach alle Sachen, immer wieder neue Sachen dazu. Plus, jetzt die Zunahme der Osteoporose, also, das sind einfach schlechte – Diagnosen. Deshalb müsste ich mal eine Diagnose haben vom Arzt (schriftliche Bescheinigung der medizinischen Diagnose(n)).« I: »Was
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für eine Diagnose wollen Sie vom Arzt haben?« Fr. Odermatt: »Ja, ich müsste eine Diagnose haben, die – Exit verlangt, wenn man nicht direkt moribund ist, sondern wenn man so krank ist, dass man keinen Ausweg mehr sieht, das.« (Frau Odermatt, EII: 169 – 175).
5.3.1.1.6 Selbst aktiv werden und nach (Ab-)Hilfe suchen Gehen die Vorschläge von (Gesundheits-)Fachpersonen an den Werten, Präferenzen und Bedürfnissen der Patienten vorbei, entwickeln einige Eigeninitiative und versuchen selbst, auf ihre Art und Weise mit ihrer Situation fertigzuwerden. Fr. Spörri: »Und dann habe ich einmal im Blick (Name einer Tageszeitung) eine Sendung gelesen von einer Frau – darf ich den Namen sagen?« I: »Ja.« Fr. Spörri: »Von Frau xy (Name), die tut, wie sagt man? Geistheilen? Und dann bin ich zu dieser Frau xy (Name) und die hat am xy-Platz gewohnt. –– Und die hat, da musste ich mich auch hinlegen, und sie hat – sie ist nicht an mich herangekommen (nicht berührt). Sie hat nur so oberflächlich, über mich hinüber.« I: »Mit ihren Händen?« Fr. Spörri: »Ja. Nur so oberflächlich – und da habe ich gemerkt, wie es nachlässt.« I: »Der Schmerz?« Fr. Spörri: »Ja. Und das habe ich etwa drei-, viermal und einmal habe ich so wahnsinnig gehabt und der Sohn war in S. oben in den Ferien und sagte: ›Komm auch zwei, drei Tage hinauf.‹ Habe ich gesagt: ›Du, ich kann nicht, ich habe wahnsinnige Schmerzen.‹ – Und dann habe ich, – sagt er : ›Schau doch, dass es trotzdem geht.‹ Und dann habe ich diese Frau xy (Name) angerufen. Geistheilerin. Habe ich angerufen, habe gesagt, ich könnte zwei, drei Tage nach S. gehen, zum Sohn, aber ich habe so wahnsinnig Rückenweh, und dann hat sie gesagt: ›Halten Sie beide Hände auf den Rücken.‹ Ja, ich habe die Hände auf den Rücken gelegt, und sie hat ganz normal gesprochen mit mir über Wetter oder über irgendetwas. Und dann plötzlich hat sie dann gesagt, nach etwa zehn Minuten: So, jetzt können Sie die Hände wieder nach vorne nehmen. Jetzt haben Sie keine Rückenschmerzen mehr. – Und ich habe meine Hände nach vorne genommen und ich habe keine Rückenschmerzen mehr gehabt.« (Fr. Spörri, O: 231 – 295).
Bleiben die eingeleiteten therapeutischen Maßnahmen ohne Erfolg, kann das dazu führen, dass solche Kranken genug von ihrem Dasein bekommen und selbst aktiv nach Auswegen aus ihrem Dasein suchen, indem sie zum Beispiel Kontakt mit einer Suizidbeihilfeorganisation aufnehmen. 5.3.1.2 Versuchen, sein tägliches Dasein zu meistern und weiterzuführen Neben der Ortung und der Analyse des Daseins zeigt sich, dass alle Kranken zunächst versuchen, mit ihrem veränderten Dasein einen Umgang zu finden und ihr Dasein so gut es ihnen möglich ist und solange sie können zu meistern und weiterzuführen. Allerdings zeigt sich in mehreren Fällen, dass die Erkrankten im Umgang mit ihrem veränderten, sich weiter verändernden Dasein weitestgehend allein gelassen und auf sich gestellt sind.
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Fr. Rickenbach: »Zur Kontrolle. Und dann alle drei Monate, und dann alle sechs Monate, und jetzt muss ich noch einmal jährlich gehen. Jetzt, der ganze Mist an dieser Sache ist, dass ich so eine Herzoperation nochmals vor mir habe, und – so etwa in zehn Jahren, weil die biologische Herzklappe hält ja nur etwa zwölf, wenn es gut geht 15 Jahre – und dann muss man sie ersetzen. Weil ich aber so jung war, hat man gesagt, man tut mir keine künstliche Herzklappe rein, sondern eine biologische, weil so einem jungen Menschen tut man einfach keine künstliche Herzklappe, – also, habe ich wahrscheinlich das Vergnügen, den ganzen Mist nochmals mitzumachen, oder. Und das scheißt mich natürlich gottlos an. Ich habe also meine Rückenprobleme, ich habe MS, ich habe den Schwindel, ich habe meine Herzgeschichte, womit ich ja jetzt leben darf. Wie ich das mache, ist ja völlig egal. Ich stehe ja allein da, damit. Ich kann jetzt einfach schauen, wie ich mit dem ganzen Scheiß irgendwie fertig werde, oder. Und jetzt sagen Sie mir, wie ich das machen soll. – Das ist meine Krankengeschichte bis zum heutigen Tag. – Ja.« (Frau Rickenbach, P: 166 – 167).
Damit ihnen der Umgang mit ihrem Dasein gelingt, suchen sie nach Wegen, entwickeln Strategien und ergreifen Verhaltensweisen, die ihnen helfen, die Auswirkungen ihrer Krankheit und ihres Daseins erträglich zu machen. Die Strategien und Verhaltensweisen, welche chronisch Kranke verfolgen und anwenden, sind wie folgt konzeptualisiert: sich einlassen auf medizinisch-therapeutische Behandlungen und unterstützende Dienstleister, versuchen, seine körperlichen Beschwerden selbst zu lindern, versuchen, seine Funktionalität/ Funktionsfähigkeit zu erhalten, sich beschäftigen und am sozialen Geschehen partizipieren, sich Negativem entziehen, eine optimistische und vertrauensvolle Haltung einnehmen, akzeptable Behandlungs- und Versorgungsbedingungen beanspruchen, sich arrangieren mit seinem veränderten, sich weiter verändernden Dasein und es akzeptieren. 5.3.1.2.1 Sich einlassen auf medizinisch-therapeutische Behandlungen und unterstützende Dienstleister Im Hinblick auf die medizinische Behandlung und die Versorgung der Kranken zeigt sich, dass Letztere sich auf die von (Gesundheits-)Fachpersonen vorgeschlagenen Empfehlungen und Behandlungen dann einlassen, wenn sie mit ihren persönlichen Vorstellungen und Zielen vereinbar sind. Sie probieren aus, ob und was ihnen medizinische Behandlungen, alternative Heilmethoden, bestimmte Hilfsmittel und Geräte sowie unterstützende und entlastende Dienstleistungsangebote zur Linderung ihrer physischen Beschwerden und zur Erleichterung ihres täglichen Daseins bringen. Fr. Knauer : »Ich war dann noch in der Schmerzklinik. Dann haben sie mir die Nervenstränge unten verödet. Die, eben auf diesen Bandscheibenvorfall, was ja auch eine Arthrose geworden ist in all den Jahren, haben sie dann, äh ––– die Nervenstränge verödet. Und das ging dann zwei Wochen gut, aber dann waren die Schmerzen wieder da. Etwas weniger, aber es ist noch da.« I: »Jetzt, Sie haben gesagt, Sie nehmen auch
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Medikamente gegen die Schmerzen.« Fr. Knauer : »Jawohl.« I: »Äh, ist es so, dass Sie einfach das Ausmaß drücken und der Schmerz trotzdem da ist? Oder gibt es auch mal Zeiten, wo Sie schmerzfrei sind?« Fr. Knauer : »Nein, schmerzfrei bin ich nie. Aber es dämpft die Schmerzen. Aber ich nehme wirklich ––– ich bin jemand, der eben nicht so Schmerzmittel isst. Ich nehme sie wirklich nur, wenn ich es kaum mehr aushalte. Also, ich bin jetzt nicht jemand, der, eben, wie –– pünktlich wie das Ührchen –– vielleicht könnte ich sie da besser unter Kontrolle haben. Aber ich habe mittlerweile furchtbare Probleme mit Magen und Darm. Also, ich habe, äh –– stetig Durchfall. […].« (Frau Knauer, AK: 61 – 68).
Manche, die sich auf Therapien und Dienstleistungsangebote einlassen und diese als hilfreich erleben, lernen mit ihren Krankheitssymptomen und ihrem veränderten Dasein besser fertig zu werden, indem sie zum Beispiel Fertigkeiten erwerben, Hilfsmittel anzuwenden, die ihnen ein Stück Selbstständigkeit zurückgeben, neue Beschäftigungsmöglichkeiten erlernen oder lernen, wie sie mit bestimmten Krankheitssymptomen und den Auswirkungen ihrer Krankheit am besten umgehen. Einige nehmen ihre Medikamente regelmäßig ein; andere nehmen sie nicht oder wechseln zwischen Medikamenten hin und her. Es gibt auch solche, die aufgrund des Misserfolgs bisheriger medizinisch-therapeutischer Behandlungen entschieden haben, keine Therapien und Behandlungen mehr zu machen. Deutlich wird, dass mehrere Kranke nicht einfach mit sich machen lassen, was (Gesundheits-)Fachpersonen für gut befinden, sondern sich bei Bedarf zur Wehr setzen. Sie ziehen vor, das Für und Wider medizinischdiagnostischer, medikamentöser oder operativer Behandlungsentscheidungen selbst, in Übereinstimmung mit ihrer Werteorientierung, ihren Überzeugungen, Präferenzen und Bedürfnissen, abzuwägen und erst infolgedessen entsprechende Entscheidungen zu treffen. Manche lassen sich nur dann auf Maßnahmen ein, wenn diese ihnen selbst auch sinnvoll erscheinen. Bei Kranken, die erwägen, nicht mehr am Leben zu bleiben, zeigt sich, dass sie bestimmte Therapien ablehnen, weil diese für sie keinen Sinn mehr machen. 5.3.1.2.2 Versuchen, seine körperlichen Beschwerden selbst zu lindern Neben der Suche nach Hilfe und Linderung bei (Gesundheits-)Fachpersonen versuchen die Kranken, ihre körperlichen Beschwerden selbst zu lindern, indem sie zum Beispiel Schmerzpflaster auftragen, selbst besorgte Medikamente einnehmen, Einreibungen, Dämpfe, kühlende oder wärmende Auflagen, Aufgüsse, Atemtherapie machen oder ihre Hautdefekte selbst versorgen. Fr. Odermatt: – »Ich habe ja starke Schmerzen und vom Arzt bekomme ich – ich nehme wenig, weil, ich merke, ich werde zittrig davon. Und da bin ich, also, einfach zurückhaltend, aber – es ist so, dass ich einfach mehr Pflaster auflege, – weil es von den Schmerzen her, fast, mein – nicht schlafen kann. Ja.« I: »Und die Pflaster, helfen die Ihnen? Also, merken Sie Linderung?« – Fr. Odermatt: »Ja. Ich habe sogar jetzt tagsüber
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oder nachts an den Zehen, wo ich ja auch Knoten habe – und deshalb gehe ich immer zur Pedicure, weil die das abtragen, da mit […?] und da tue ich nachts drauf, und neuerdings morgens, wenn ich die Kniestrümpfe, die gehen nur bis zu den Zehenspitzen, angezogen habe, dann tue ich ein Pflaster drauf, weil ich das manchmal –– das ist so, als ob man mit einem Messer reinstechen würde. Und da kann man, kann man nicht existieren, oder auch nicht schlafen. Also mache ich, hantiere ich mit Pflastern. […].« (Frau Odermatt, EIII: 171 – 202).
5.3.1.2.3 Versuchen, seine Funktionalität und Funktionsfähigkeit zu erhalten Um ihre Funktionalität zu erhalten, aktivieren sich mehrere mit Bewegungsübungen. Sie versuchen, so viel wie möglich selbst zu machen. Hr. Arnold: »[…]. In der Nacht, die ganze Nacht, plötzlich, wecken mich die Schmerzen wieder, hier (zeigt mir, wo an den Händen), die Finger und hier sind die schlimmsten Schmerzen, hier, und dann habe ich einen Zettel dort, muss therapieren, Therapie machen hier, bewegen.« I: »Also, Übungen machen.« Hr. Arnold: »Übungen, jawohl und durch den Tag auch, immer kommen diese Schmerzen und dann muss ich mich, muss ich mich wieder aktivieren – die Hände – mit der kranken Hand, diese kranke Hand aktivieren und dann mit dieser (linken) kranken Hand die rechte kranke Hand aktivieren. Etwas anderes kann ich nicht, ich kann ja nicht noch eine andere Hand nehmen, oder?« (Herr Arnold, A: 133 – 135).
Manche setzen sich kurzfristige Ziele, für die sie üben, um bestimmte Funktionalitäten wiederzuerlangen. Einige versuchen, durch den Verzicht auf die Einnahme von Medikamenten wie beispielsweise Opiaten, funktionsbeeinträchtigende Nebenwirkungen zu vermeiden, um dadurch wieder funktionsfähig zu werden und es zu bleiben, um ihr tägliches Dasein meistern zu können. 5.3.1.2.4 Sich beschäftigen und am sozialen Geschehen partizipieren Die Kranken versuchen, sich auf vielfältige Art und Weise zu beschäftigen und am sozialen Geschehen zu partizipieren, indem sie zum Beispiel lesen, fernsehen, Audiobooks hören, malen, Spaziergänge machen, Hausarbeiten oder Gartenarbeiten erledigen. Sie machen bei Gesellschaftsspielen mit, erfreuen sich an Aktivierungstherapie, gehen zu Ausstellungen oder nehmen an gesellschaftlichen Anlässen teil. Einige versuchen, mit ihrem veränderten Dasein anders umzugehen, und lesen Selbsthilferatgeber ; andere begeben sich in spirituelle Aktivitäten. Manche haben kaum Möglichkeiten, mit Gleichgesinnten in einer Institution des Gesundheitswesens in Beziehung zu treten, da Letztere häufig an Demenz erkrankt sind. I: »Und wie ist es dann am Wochenende dort (im Altersheim)? Was machen Sie dort? Äh, wie erleben Sie das dann, die Zeit dort?« Fr. Tanner : »Ja – […?] ich lese halt meistens. Ich bin die Einzige, die so viel liest, dort. Und manchmal macht man Spiele. Aber nicht oft. Es hat viele, die dement sind. Äh, die tun dann –– ich habe mal versucht
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zu jassen (Karten spielen). Aber das ging nicht, denn –– die Mit-Jasserinnen, die haben dann plötzlich irgendwie umgeschaltet. Dann war der Trumpf ein anderer. (lacht) Ganz eine andere Farbe. Und dann habe ich gemerkt, dass das einfach nicht geht. Bin wieder zurück zu meinen Büchern. Bin einfach lesen gegangen. Ich gehe jeweils nach dem Essen ins Zimmer, zum Lesen. Ich habe keinen Fernseher dort. Und auch keinen Radio. Dann lese ich einfach und mache mir meine Bilder im Kopf selbst.« (Frau Tanner, AJ: 187 – 200).
5.3.1.2.5 Sich Negativem entziehen Einige Kranke entziehen sich bewusst Negativem, das heißt, sie (ver-)meiden oder lenken sich von negativen oder schlimm erlebten Wahrnehmungen und Geschehnissen ab. Mittels verschiedener Beschäftigungen wie beispielsweise Meditation, Gedankenreisen, Fernsehen, Lesen, Radio oder Musik hören, versuchen sie, sich auf andere Gedanken zu bringen und sich von ihrem gegenwärtigen unerträglichen Dasein mental loszulösen und zu entfernen, indem sie sich in eine andere Welt versetzen. Sie suchen nach einem Weg, einem anderen Umgang mit ihrem Dasein und probieren, ihre Einstellung und ihr Denken zu ändern. Um nicht in Panik oder schlechte Stimmung zu geraten, blicken mehrere weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft. Sie legen den Fokus auf die Gegenwart und versuchen, ihr Dasein hier und jetzt zu führen. Sie probieren, sich in eine harmonische Stimmung zu bringen und sich vor negativen Emotionen zu schützen. Sich Negativem gedanklich entziehen zu können, macht das Dasein lebenswerter und hilft, sein verändertes Dasein weiterzuführen. Im Zuge gesundheitlicher Verschlechterung oder der Zunahme belastender Krankheitssymptome zeigen sich allerdings Grenzen in der Anwendung von Ablenkungsstrategien. Fr. Odermatt: »Und ein wichtiger Punkt ist eigentlich – der Buddhismus, der möchte, dass man vom Ich wegkommt. Also, ja, ich schreibe mir so, so gewisse Sachen schreibe ich mir heraus. Also, das und deshalb, also, sie gibt wirklich gute Ratschläge – schlimme Wahrnehmungen vermeiden. Ich gucke praktisch nicht mehr die Tagesschau mit diesen scheußlichen Bildern. Ich höre viel Radio. Aber einfach Ratschläge, und ich tue es, weil ich irgendwie versuche, einen anderen Umgang mit Schmerzen zu finden, weil ich ein bisschen die Tendenz hatte, zu flüchten. Wirklich flüchten von einer Aktivität in die andere, wirklich, Radio, Kreuzworträtsel, das Lesen, und ich meine nicht Quatsch, das nicht, aber – ich – und da sollte man sich ja sammeln und meditieren und da gibt sie eben auch Anleitung und Texte dazu, und – einfach, um mit den Schmerzen besser umgehen zu können und aus diesem Grund, ich habe, gestern kam ich nicht dazu, es gibt Tage, wo ich nicht dazu komme und meditieren ist sehr schwer – meditier mal, meditieren Sie mal, wenn Sie, wenn ich vom Ich wegkommen soll, wenn Sie Schmerzen haben oder so. […].« (Frau Odermatt: EII: 139 – 140).
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In die Vergangenheit zurückzublicken oder sich mögliche Gefahren und »Tatsachen« vor Augen zu führen, kann Kranken den Umgang mit ihrem gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Dasein erschweren. 5.3.1.2.6 Eine optimistische, vertrauensvolle Haltung einnehmen Während manche Kranke kaum mehr Hoffnung haben, verfügen andere über eine optimistische Haltung, die zum Beispiel in Zuversicht, Hoffnung, einer positiven Sichtweise, Humor oder Selbstironie zum Ausdruck kommt. Solche Kranken haben noch Hoffnungen auf Besserung ihrer gesundheitlichen Situation, dass belastende Krankheitssymptome nicht noch einmal auftreten oder dass (Gesundheits-)Fachpersonen für sie noch etwas tun können. Einige schenken den sie behandelnden (Gesundheits-) Fachpersonen ihr Vertrauen und gewinnen ihrer gegenwärtigen Daseinsweise etwas Positives ab. Hr. Beck: »Und es –– eben, da (im Hospiz) gibt es viele gute Leute, also wirklich. Und die helfen einem, und die sind da für einen, wenn es einmal ein bisschen schlechter geht. Und –– tiptop, also – ich könnte jetzt nichts sagen gegen das, da und äh – das hilft mir auch stark, ja. –– Und vor allem auch (betont) das Gefühl einer Familie. Wissen Sie, das ist meine Familie, jetzt, da im weitesten Sinne. Und – das gefällt mir. Das ist etwas Schönes. Weil ich es so erleben kann. Ja.« (Herr Beck, AB: 161 – 163).
Trotz chronischer Krankheit und damit verbundenen Auswirkungen über eine optimistische Haltung und Dankbarkeit zu verfügen, unterstützt die Bereitschaft, sein verändertes Dasein anzunehmen, weiterzuführen und somit (vorerst) am Leben zu bleiben. 5.3.1.2.7 Akzeptable Behandlungs- und Versorgungsbedingungen beanspruchen Die Kranken setzen sich dafür ein, dass sie auf eine für sie akzeptable Art und Weise behandelt und versorgt werden. Sie tun dies, indem sie (Gesundheits-) Fachpersonen ihre Bedürfnisse und Präferenzen bezüglich ihrer Versorgung mitteilen und versuchen, sich gegen nicht bedürfnisgerechte oder gefährliche pflegerische und medizinische Behandlungs- und Versorgungsumstände zur Wehr zu setzen. Frau Kirchhofer : »[…], wir haben, ähm, – einen da – ich weiß nicht, kommt der von Indien oder von wo, der ähm, der desinfiziert nicht vor der Spritze, und ich muss ihm das jedes Mal, ich sage es ihm, weil ich will nicht irgendeine Infektion, kann ich im Moment überhaupt nicht gebrauchen. – Ja, das sei nicht so wichtig. Ja, mein Gott, es ist mein Leben.« (Frau Kirchhofer, BII: 198).
Mehrere nehmen das, was sie gesundheitlich ereilt, nicht als gegeben hin. Sie richten sich immer wieder auf und kämpfen täglich aufs Neue dafür, ihrer Krankheit und deren Symptomen nicht ausgeliefert zu sein, am Ort ihrer Wahl leben und weiterhin am Leben teilnehmen zu können. Einige ersuchen (Ge-
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sundheits-)Fachpersonen um Maßnahmen, die sie in ihrem Selbstmanagement fördern und die ihnen dadurch ermöglichen, ein Stück ihrer Selbstpflegefähigkeiten zurückzuerlangen. Andere kämpfen über Jahre für ihre Rechte gegen Gesundheitsbehörden an, »nur« um überhaupt finanziell existieren zu können. In einigen Fällen machen Kranke auch die Erfahrung, dass (Gesundheits-) Fachpersonen auf ihre wiederholt geäußerten Behandlungs- und Versorgungsbedürfnisse nicht oder nicht wie erwünscht reagieren, was sie resignieren lässt. 5.3.1.2.8 Sich arrangieren mit dem veränderten, sich weiter veränderndem Dasein und es akzeptieren Bei dem Versuch, sein Dasein zu meistern, halten sich manche Kranke an ihren Erinnerungen, ihrer häuslichen Umgebung, dem Glauben oder an Schutzengeln fest. Kranke, die sich mit ihrem veränderten Dasein arrangieren, versuchen, ihr gewohntes Dasein loszulassen und sich auf die Entwicklungen, die ihr verändertes oder sich weiter veränderndes Dasein mit sich bringt, einzulassen. Sie versuchen, Gewesenem nicht nachzutrauern, sondern stellen sich um und auf zukünftige Entwicklungen ein. Manche denken um, stecken ihre Vorstellungen von ihrem Dasein zurück, konzentrieren sich auf ihre verbliebenen Fähigkeiten und reißen sich zusammen, um ihr tägliches Dasein auf die von ihnen gewollte Art und Weise zu bestehen. Sie versuchen, negative Gefühle zu transformieren, indem sie in sich selbst nach neuen Kraftquellen suchen und (Beschäftigungs-) Möglichkeiten sowie Aufgaben wählen, um ihrem Dasein Sinn zu verleihen. Einige schaffen es, ein neues Selbstverständnis und somit eine neue Identität zu entwickeln. Fr. Strub: »Oder, dass es sehr wichtig ist, zu einem Freak-Bewusstsein zu kommen. Das heißt, zu einem Selbstverständnis der eigenen Behinderung, was sogar ein Überkompensieren heißt. Also, ich meine, so wie die Schwulen zum Beispiel in der Schwulenbewegung sagten, alles andere ist ja langweilig. Oder die Schwarzen: Black is beautiful. Äh, solche Sachen haben natürlich auch die Behindertenbewegungen durchdiskutiert. Und –– der Freigedanke ist –– oder auch ein Stück weit der Krüppelgedanke, ist ja, ähm, ja – wir sind der Inbegriff. Wir sind vielleicht Abweichungen. Aber das ist ja sehr spannend, wenn man eine Abweichung von der Norm ist. Also, im Positiven, nur. Und das kann ich auch noch unterschreiben. Aber halt auch wieder die andere Seite auch, dass Abweichung ja auch immer oder oft Schmerz beinhaltet. Verstehen Sie, was ich meine? […]. Also, zur Identität, da würde ich, glaube ich, immer sagen: Behinderung gehört zu mir und die ist gut so. […].« (Frau Strub, AH: 33 – 39).
Einige Kranke besitzen die Fähigkeit, sich ihrer Krankheit und deren Auswirkungen hinzugeben und diese sukzessive in ihr Dasein zu integrieren. Sie akzeptieren, was ist und was zukünftig auf sie zukommt. Sie versuchen, sich in ihr verändertes und sich weiter veränderndes Dasein zu fügen und sich mit diesem abzufinden. Manche halten ihre veränderte Situation aus und führen ihr Dasein
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weiter, weil sie denken, keine andere Wahl zu haben. Parallel zu Versuchen, sein Dasein zu meistern, schützen sich einige vor dem von ihnen antizipierten ungewollten Dasein. Manche wollen sich von ihrem unerträglichen, ungewollten Dasein durch Suizid(-beihilfe) erlösen können oder dies bereits in Kürze tun. 5.3.1.3 Sich auf das antizipierte ungewollte Dasein vorbereiten und sich davor schützen Ausgehend von den erlebten krankheitsbedingten Veränderungen des Daseins und Ängsten vor ungewollten zukünftigen Daseinsweisen, entwickeln mehrere Erkrankte das Bedürfnis, sich auf von ihnen antizipierte ungewollte Daseinsweisen vorzubereiten und sich vor solchen zu schützen. Auffallend dabei ist, dass sich die Kranken gewissermaßen zweigleisig auf das von ihnen antizipierte ungewollte Dasein vorbereiten. Einerseits schützen sie sich mit Maßnahmen, um ihr gegenwärtiges Dasein nicht zu gefährden, sondern dieses auch zukünftig auf gleiche oder noch bessere Art und Weise weiterführen zu können. Durch eine gesunde Ernährung und sportliche Aktivitäten versuchen sie, positive Gegebenheiten ihres Gesundheitszustandes positiv zu verstärken und zu erhalten. Manche sichern sich mit Maßnahmen zur Sturzprävention im häuslichen Bereich und der Installation eines Notrufsystems ab. Einige wagen sich nicht mehr aus dem Haus und unterlassen bestimmte Haushaltstätigkeiten, aus Angst zu stürzen. Kranke, die aufgrund therapiebedingter Nebenwirkungen darin beeinträchtigt sind, mit ihrem täglichen Dasein fertig zu werden, schützen sich, indem sie die Einnahme entsprechender Medikamente nicht länger befolgen. Auch entlastende Dienstleistungsangebote wie Kurzzeitpflege werden in Anspruch genommen, um keine Last für Bezugspersonen zu werden. Parallel dazu schützen sich mehrere Kranke vor ungewollten Veränderungen ihres Daseins und den damit verbundenen Gefahren und Risiken. Sie wollen bestehende, für sie unerträgliche Gegebenheiten und von ihnen antizipierte ungewollte Veränderungen ihres Daseins meiden und versuchen, Kontrolle über diese zu erlangen, indem sie sich darauf einstellen und sich davor absichern. Um auf ungewollte Entwicklungen vorbereitet zu sein und sich solche ersparen zu können, treffen viele frühzeitig Vorkehrungen. Andere treffen dann Vorkehrungen, wenn sich ihre Situation bereits in eine für sie ungewollte Richtung entwickelt. Einige treffen Vorkehrungen durch Ausstellung einer Patientenverfügung, falls ihnen gesundheitlich etwas zustößt oder sie ihr Leben durch Suizid beenden wollen, um vor lebenserhaltenden und verlängernden Maßnahmen geschützt zu sein. Andere schützen sich mit einer Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation, stellen eine Patientenverfügung einer solchen Organisation aus oder beantragen das Rezept für das tödliche Substrat (Natrium-Pentobarbital). Der Erwerb der Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation ist eine Schutz-
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maßnahme, die, ähnlich wie das Abschließen einer Versicherung, zur Grundausstattung des Daseins chronisch Kranker gehört, die sich mehrere von ihnen bereits lange Zeit vor ihrer Krankheit zugelegt haben. I: »Für mich wäre es noch wichtig zu wissen, was –– ja, was denken Sie, warum ist es für Sie so bedeutsam, mit einer Suizidbeihilfeorganisation sterben zu können?« Hr. Schaer : »Ja. Es gibt ja – ich weiß nicht, ich kenne keinen anderen Weg. So, jetzt rein von der Abwicklung her. Und, äh, als ich da denen beitrat, war die Situation noch wesentlich anders, äh – ich habe mich dort eigentlich nicht einmal bis ins Detail informiert, aber die Grundzüge der Zielsetzung dieser Gesellschaft – waren für mich sehr wichtig und entscheidend, dass ich sagte, zum Voraus: Da wirst du gleich Life-time Member, weil das ist Bestandteil deines, ich sage dem jetzt mal, persönlichen Rüstzeugs für später – oder wann das ‹Später’ ist, das weißt du nicht, da gibt’s so viele Möglichkeiten wie Sterne am Himmel, was die Art und den Zeitpunkt anbetrifft. Aber ganz sicher möchtest du bei deiner Entscheidung bleiben. Das ist der eigentliche Grund. Es hätte auch eine andere so geartete Organisation sein können, wenn es das gäbe –.« (Herr Schaer, R: 1223 – 1246).
Einige sorgen mit ihrer Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation vor, um nahestehenden Bezugspersonen nicht mit ihrem krankheitsbedingten Dasein und der damit langfristig erforderlich werdenden Versorgung zur Last zu fallen. Andere bereiten sich darauf vor, dass ihr Dasein irgendwann nicht mehr so wie bisher weitergehen kann. Sie wappnen sich mit Maßnahmen rund um die Suizidbeihilfe, für den Fall, dass sie mit ihrem bestehenden sowie dem von ihnen antizipierten Dasein nicht fertig werden. Da die Möglichkeit des Sterbens durch Suizidbeihilfe an Voraussetzungen wie die Urteilsfähigkeit und die selbstständige Einnahme des tödlichen Substrates gebunden ist, stellen mehrere Kranke durch Schutzmaßnahmen sicher, dass sie die erforderlichen Voraussetzungen stets erfüllen, indem sie Medikamente, die ihren kognitiven Zustand und ihr Urteilsvermögen beeinträchtigen, nicht einnehmen. Mittels der Suizidbeihilfe leiten sie auch Schutzmaßnahmen gegenüber bestehenden und ihnen noch bevorstehenden existenzbelastenden kontextuellen Gegebenheiten ein. Dazu gehören zum Beispiel das Versagen des professionellen medizinisch-therapeutischen Versorgungskontexts, das heißt, wenn (Gesundheits-)Fachpersonen die Linderung von Krankheitssymptomen nicht in den Griff bekommen, nicht mehr wissen, was sie medizinisch-therapeutisch noch machen können, äußern, nichts mehr für Kranke tun zu können; oder wenn Patienten durch (Gesundheits-) Fachpersonen eine unprofessionelle Behandlung erfahren oder einem nicht bedürfnisgerechten Versorgungs- und Beschäftigungskontext ausgesetzt sind. Einige Patienten sichern sich auch für den Fall ab, dass andere (Gesundheitsfachpersonen, Familienangehörige etc.) sie im Stich lassen, sich nicht mehr für sie zuständig fühlen, sich nicht mehr um sie kümmern, sie mit ihrem Schicksal allein lassen oder sie drangsalieren, in ein Alters- oder Pflegeheim zu gehen. Mit
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den Maßnahmen betreffend die Suizidbeihilfe verschaffen sich mehrere Kranke die Möglichkeit, sich von ihrem bestehenden unerträglichen und dem von ihnen antizipierten ungewollten Dasein erlösen zu können. Es gibt auch Kranke, die das Rezept für das tödliche Substrat bereits beantragt haben und mit ihren Vorbereitungen so weit fortgeschritten sind, dass sie eines Tages nur noch sagen müssen: »Jetzt, das ist das Datum.« Derartige Vorbereitungen getroffen zu haben, gibt den Kranken das Gefühl, sich gegenüber von ihnen ungewollten Ereignissen genügend abgesichert zu haben und jederzeit entscheiden zu können: »Jetzt ist Schluss.« Durch das Wissen um das ausgestellte Rezept erfahren sie eine innere Sicherheit, im Notfall über einen letzten Ausweg aus ihrem Dasein zu verfügen und durch Suizidbeihilfe sterben zu können. Dies verschafft ihnen das Gefühl einer gewissen Erleichterung und Beruhigung und trägt dazu bei, dass sich manche noch eine gewisse Zeit auf die Weiterführung ihres Daseins einlassen. Daneben gehören zum Umgang der Kranken mit ihrem Dasein auch Vorbereitungen auf ihr biologisches Sterben und ihr Sterben durch Suizid(-beihilfe). 5.3.1.4 Sich auf sein biologisches Sterben vorbereiten Mehrere Leidende bereiten sich und die ihnen nahestehenden Bezugspersonen auf ihr biologisches Sterben vor, indem sie sich mit ihrem Sterben und Tod auseinandersetzen und Sterbevorbereitungen treffen. Sie teilen ihren Bezugspersonen ihre Wünsche rund um ihr Sterben und ihren Tod mit, setzen ihr Testament auf, besorgen sich einen Beistand oder bestimmen einen Willensvollstrecker. Manche lassen sich auf eine palliative Versorgung ein, wohingegen sich bei Kranken, die Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation sind, zeigt, dass die Möglichkeit, sich in einem Hospiz oder in einer anderen palliativen Einrichtung versorgen zu lassen, für einige gar nicht und für andere nur zur Not infrage kommt, das heißt, wenn sie sich nicht anders zu helfen wissen. I: »Ähm, hat man auch so Möglichkeiten überlegt mit palliativen Maßnahmen? Also, allenfalls auch Hospiz? Ist das einmal ein Thema gewesen für Sie und Ihren Mann?« Fr. Hensel: »Ja. Der Onkologe hat das gesagt. Er hat gesagt, man sollte einmal diese Möglichkeiten anschauen, oder, das Hospiz und so. Es wäre eines in xy (Ortsname), glaube eines in xy (Ortsname) und das andere in xy (Ortsname). Und dann hat der Mann gesagt: ›Ja, müssen wir gar nicht anschauen. Wenn ich müsste, wenn es gar nicht – dann würde ich nach xy (Ortsname) gehen, weil da bin ich daheim, da kann ich gut hingehen.‹ Er hat gesagt: ›Wir gehen das gar nicht anschauen. Ich würde sowieso nicht gehen.‹ Und, wenn es ein Notfall wäre, wäre er nach xy (Ortsname) gegangen.« I: »Also hätte er sich das nicht als, ich sage mal, als Hauptweg vorstellen können?« Fr. Hensel:«Gar nicht, nein, nein.« (Frau Hensel, Ehefrau, AL: 457 – 460).
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Unter den Kranken gibt es auch solche, die spüren, dass ihr Tod näher kommt und die zusammenhängend damit ihre Beerdigung organisieren und sich von persönlichen Wertgegenständen trennen. 5.3.1.5 Sich auf sein Sterben durch Suizid(-beihilfe) vorbereiten Aufgrund bestimmter Erfahrungen und Triggerereignisse entdecken manche Menschen lange vor Beginn ihrer Krankheit die Option der Suizidbeihilfe für sich und treffen entsprechende Vorbereitungen. Andere beschäftigen sich mit dem Weg der Suizidbeihilfe erst mit dem Beginn oder im Laufe krankheitsbedingter Veränderungen ihres Daseins. Gedanken und Erwägungen hinsichtlich der Suizidbeihilfe werden umso wahrscheinlicher, je mehr chronisch Kranke unter ihrem veränderten gegenwärtigen und dem von ihnen antizipierten ungewollten Dasein leiden, ihnen dieses als unveränderlich erscheint oder sie sich mit ihrem Dasein nicht abfinden können. Hr. Arnold: »Ja, letztes Jahr. Jawohl, da kam ich hierher. Vorher war ich immer im Krankenhaus und am 2. Dezember kam noch Herr xy (Arzt) zu mir, und er hat mir gesagt: ›Ja, Sie können jetzt ins Altersheim nach B.‹ Dann habe ich gesagt: ›Ja, das Altersheim ist schon – an und für sich, ist das schon schön gestaltet, aber nach der Meinung der Besucher von denen, die auch Patienten oder Pensionäre sind, ist die Pflege sehr mangelhaft. Ich weiß dann nicht, wie ich mich zurechtfinde und ich brauche, ich würde Sie (seinen Arzt) eventuell noch gebrauchen, um mich zu unterstützen. Äh, wenn ich mich bei Exit anmelden will, wenn ich dann, wenn ich damit nicht besser auskomme, dort. Also, auskomme, mit dieser Lebensqualität dort.‹ Und dann hat er gesagt, er wisse ja, wie ich mich fühle usw. er könnte ohne Weiteres angefragt werden von Exit und das ist ja auch noch in dem Bericht geschrieben, den sie bekommen haben […].« (Herr Arnold, A: 71 – 73).
Kranke, die den Weg der Suizidbeihilfe beschreiten, bereiten sowohl sich selbst wie auch ihr Umfeld auf ihren derartigen Weggang aus dem Leben vor. Zu ihren Vorbereitungen gehören, dass sie ihr Sterben und ihren Tod durch Suizidbeihilfe organisieren. Sie werden Mitglied bei der Suizidbeihilfeorganisation ihrer Wahl und stellen eine Patientenverfügung der Organisation für sich aus. Sie informieren sich bei den Mitarbeitern der Suizidbeihilfeorganisation über das Prozedere, damit verbundene zeitliche Aspekte und halten diesbezüglich Kontakt. Es zeigt sich, dass diese Kranken die behandelnden Ärzte sowie ausgewählte Bezugspersonen in der Regel über ihre Absicht informieren. Sie überlegen sich, wer bei ihrem Sterben dabei sein sollte, fragen Eingeweihte, ob diese sie beim Sterben durch Suizidbeihilfe begleiten, und besprechen mit ihnen die Gestaltung ihres Sterbens. Bei manchen tauchen Unsicherheiten darüber auf, wie sie ihr Anliegen bezüglich der Suizidbeihilfe mit ihrem Arzt ansprechen sollen. Das hat zur Folge, dass einige ihren Arzt indirekt, sozusagen verschlüsselt, in
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Kenntnis setzen, indem sie ihm mitteilen, dass sie »nicht mehr mögen«, und sie davon ausgehen, ihr Arzt versteht, was sie damit meinen. Andere sprechen ihr Interesse an der Suizidbeihilfe mit ihrem Hausarzt direkt und offen an und vergewissern sich vorsorglich darüber, ob ihr Arzt sie bezüglich der Suizidbeihilfe unterstützen wird. Manche Patienten gelangen, wenn sie selbst ohne Erfolg bleiben, über Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation an ihren Arzt mit der Bitte, dass dieser ihnen ein ärztliches Zeugnis und das für die Suizidbeihilfe erforderliche Rezept für das tödliche Substrat ausstellt. Einige versuchen, ihren Arzt von ihrem Leid zu überzeugen, in der Hoffnung, dass dieser ihnen darauf eine medizinische Diagnose sowie das Rezept ausstellt. Spüren Patienten bei ihrem Arzt gegenüber der Suizidbeihilfe Widerstand, zögern manche nicht davor, ihren Arzt an seine Pflicht zu erinnern, ihnen eine medizinische Diagnose auszustellen. Einzelne Patienten wechseln ihren Hausarzt bei derartigen Schwierigkeiten, andere vereinbaren mit ihrem Arzt, dass sie mit Suizidbeihilfe noch zuwarten wollen. Während ein Teil der Kranken offen über ihre Suizidbeihilfeüberlegungen spricht, gibt es andere, die ihre Überlegungen gegenüber nahestehenden Bezugspersonen und (Gesundheits-)Fachpersonen verheimlichen oder entsprechende Gespräche aufschieben. Die Gründe dafür sind zum Beispiel: fehlende Offenheit in der Familie, Bedenken, kranke Familienmitglieder mit Suizidbeihilfeüberlegungen zu entmutigen, andere damit nicht belasten zu wollen, kein Lauffeuer über sich entfachen zu wollen, von anderen nicht bedrängt werden zu wollen oder Ängste, andere könnten dagegen sein. Abhängig von der Reaktion des Arztes zweifeln manche Kranke daran, ob ihr Arzt ihnen das erforderliche Rezept ausstellen wird. Kranke, die sich der Möglichkeit, durch Suizidbeihilfe sterben zu können, noch nicht sicher sein können, erwägen alternative lebensbeendende Möglichkeiten und Methoden. Einige spekulieren darauf, dass ihr Körper Sterbehilfe leistet, die Nebeneffekte palliativer Behandlungsmaßnahmen ihr Leben verkürzen oder dass sie sich durch Behandlungsverzicht sterben lassen könnten. In einem Fall überlegte eine Erkrankte, ob sie ihr Leben anstatt durch Suizidbeihilfe auf andere Art und Weise beenden soll, weil sie das Prozedere der Suizidbeihilfe belastet. Einige denken über Methoden nach, wie sich zu erschießen, sich zu ersticken oder sich zu erfrieren. Erwogen werden auch zu ertrinken, sich zu erhängen, nicht mehr zu essen und dadurch zu verhungern oder seinem Leben durch Medikamentenintoxikation ein Ende zu setzen. Es gibt aber auch Kranke, die sich, falls sie nicht durch Suizidbeihilfe sterben können, ihrem Schicksal ergeben und weiterleben würden. Bei Kranken, die über Gewissheit verfügen, durch Suizidbeihilfe sterben zu können, zeigt sich, mit der Ausnahme eines Falles, dass sie nicht auf eine andere Suizidmethode zurückgreifen würden. Die Ausnahme stellt eine Frau dar, die mit der Gestaltung des Sterbens durch die Suizidbeihilfe nicht einverstanden ist und aus diesem Grunde vorzieht, ihr Dasein zu gegebener Zeit durch Schlafmittelintoxikation zu
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beenden. Haben die Kranken das Rezept für das tödliche Substrat angefordert, warten sie auf das O.K. der Suizidbeihilfeorganisation. Während der Einleitung der mit der Suizidbeihilfe verbundenen Vorbereitungen und auch nachdem das Rezept sozusagen auf Abruf zur Verfügung steht, zeigt sich, dass einige Kranke in einen inneren Zwiespalt geraten. So gibt es Kranke, die hin- und hergerissen sind, medizinisch-therapeutische Vorschläge und Angebote noch auszuprobieren oder nichts mehr machen zu lassen. Deutlich wird auch, dass sich manche durch die für die Suizidbeihilfe erforderlichen Vorbereitungen, die diesbezügliche Kommunikation mit ihrem Arzt und ihnen nahestehenden Menschen sowie durch die mit der Suizidbeihilfe verbundenen Überlegungen und Entscheidungen belastet und damit auf sich allein gestellt fühlen. Zur Vorbereitung auf das Sterben durch Suizidbeihilfe gehören auch Abklärungen der Kranken, ob sie in der Institution, in der sie wohnen, durch Suizidbeihilfe sterben dürfen. Gleich wie bei den Vorbereitungen auf das biologische Sterben bringen sie Administratives in Ordnung, regeln Erbangelegenheiten und treffen Vorbereitungen für ihre Beerdigung. Sie trennen sich von persönlichen Gegenständen und entbinden sich von ihrer Verantwortung gegenüber ihnen nahestehenden Menschen und Haustieren. Kranke, die planen, in absehbarer Zeit durch Suizid (-beihilfe) aus dem Leben zu gehen, nehmen auf offizielle oder inoffizielle Art und Weise Abschied von ihnen nahestehenden Menschen. Aus dem Umgang der Kranken mit ihrem Dasein resultiert zudem, dass mehrere, unabhängig davon, ob sie auf biologische Art oder durch Suizid(-beihilfe) sterben wollen, darauf hoffen, von ihrem gegenwärtigen unerträglichen und dem von ihnen antizipierten ungewollten Dasein erlöst oder verschont zu werden. Kranke, die sich auf ihr Sterben durch Suizid(-beihilfe) vorbereiten, erlösen sich hingegen bei Bedarf selbst von ihrem unerträglichen Dasein und ersparen sich dadurch zugleich antizipierte ungewollte Daseinsweisen. 5.3.1.6 Es darauf ankommen lassen und hoffen, von seiner gegenwärtigen unerträglichen und antizipierten ungewollten Daseinsweise erlöst und verschont zu werden Manche Kranke gehen bewusst gesundheitliche Risiken ein und fordern ihren Tod geradezu heraus, indem sie beispielsweise für sie wichtige Medikamente extra nicht einnehmen oder ihrem Arzt gesundheitliche Beschwerden verheimlichen, weil sie im Grunde sterben wollen. Fr. Odermatt: »[…]. Ich habe in letzter Zeit hier Herzbeschwerden und einmal war das sehr stark.« – I: »Mhm – das haben Sie gesagt.« Fr. Odermatt: »Ja und dann dachte ich, du musst dem Arzt berichten und dann dachte ich, nein, du willst ja eigentlich sterben. Du berichtest nicht dem Arzt, ähm, weil das wäre eine andere Möglichkeit – wegzugehen und ja, im Zusammenhang mit den Herzbeschwerden, das werden Sie aus der
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Liste der Medikamente sehen, die ich nehme. Unter anderem Celebrex und früher Viox, und Sie haben wahrscheinlich gelesen, dass Viox zurückgezogen wurde, weil es Herzbeschwerden macht oder zu Herzinfarkt geführt hat und es ist, es wird erwähnt, dass Celebrex auf der gleichen Basis wie Viox ein Medikament ist. Das nehme ich, täglich und ja, deshalb finde ich, nein, nicht dem Arzt berichten, wenn du Herzbeschwerden hast, weil du möchtest ja eigentlich gehen und das wäre eine elegante Art.« (Frau Odermatt, EII: 163 – 168).
Andere hoffen, nicht mehr lange zu leben, und warten darauf, durch etwas oder jemand anderen als sie selbst von ihrer bestehenden unerträglichen und der ihnen womöglich zukünftig drohenden Daseinsweise erlöst und verschont zu werden. 5.3.1.7 Sich selbst durch Suizid(-beihilfe) von seiner gegenwärtigen unerträglichen und antizipierten ungewollten Daseinsweise erlösen und Letztere dadurch vermeiden Einige Kranke haben bereits durch Medikamentenintoxikation oder Aufschneiden ihrer Pulsadern versucht, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Die Gründe dafür waren: das Erleben gesundheitlicher Verschlechterung, anhaltende unerträgliche Krankheitssymptome, keinen Ausweg aus seiner Situation sehen, das Dasein als für einen allein zu schwer tragbar zu finden, die Aufgabe des Zuhauses, der Druck, in eine Institution des Gesundheitswesens ziehen zu sollen, sowie fehlender Lebenssinn. Liegen bei Kranken die von ihnen ungewollten Cut-Off-Zustände vor oder drohen diese einzutreten und haben sie entschieden, in Kürze durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, vereinbaren sie mit ihren Bezugspersonen und dem zuständigen Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation einen geeigneten Termin sowie eine passende Tageszeit für ihr Sterben. Die Planung des Sterbens durch Suizidbeihilfe umfasst auch die Festlegung des Sterbeortes. I: »Jetzt, ähm, xy (Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation) hat mir gesagt, Sie planen am Donnerstag allenfalls zu gehen.« Fr. Jost: »Ja.« I: »Wie wird das jetzt organisiert? Wie machen Sie das?« Fr. Jost: »Äh, ich gehe in meine Wohnung. Und meine Nichte hat eigentlich viel erledigt für mich. Ich mochte nicht mehr. Und da gehe ich in meine Wohnung. xy (Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation) kommt auch und dann wird das vollstreckt.« I: Und Ihre Nichte kann auch dabei sein? Fr. Jost: »Die ist dabei. Und eine gute Bekannte, die ist auch jeden Tag zu mir in die Klinik gekommen. Eine sehr liebe Dame.« I: »Und die wird auch mit dabei sein?« Fr. Jost: »Die wird mit dabei sein, ja.« I: »Mhm. Ähm, der Zeitpunkt jetzt, das am Donnerstag zu machen – ist das?« Fr. Jost: »Ist nicht speziell. Es ging nicht früher. Ich wäre lieber noch früher.« (Frau Jost, AF: 260 – 273).
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Wenn Kranken von der Institution des Gesundheitswesens, in der sie sich aufhalten, untersagt wird, dort durch Suizidbeihilfe zu sterben, sie nicht mehr über ein eigenes Zuhause verfügen und auch nicht bei ihnen nahestehenden Menschen durch Suizidbeihilfe sterben können, dann müssen sie, um durch Suizidbeihilfe zu sterben, zwangsläufig die dafür vorgesehene Wohnung der Suizidbeihilfeorganisation aufsuchen. Ob sie Maßnahmen ergreifen, um sich schnellstmöglich durch Suizidbeihilfe von ihrem Dasein zu erlösen, hängt mit ihrer gesundheitlichen sowie psychischen Befindlichkeit und damit zusammen, für wie dringlich sie es halten, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Die Absicht, durch Suizidbeihilfe zu sterben, kann wechselhaft sein und von sehr dringlich bis gar nicht aktuell reichen. So rückt der Wille und die Bereitschaft, durch Suizidbeihilfe zu sterben, zum Beispiel im Zuge von Linderung und Besserung seines Zustands in den Hintergrund, während er bei Verschlechterung wieder aktuell werden und es mit der Inanspruchnahme der Suizidbeihilfe plötzlich schnell gehen kann. Altruistische Gründe, Ängste im Zusammenhang mit der Art und Weise des Sterbens durch Suizidbeihilfe oder eine veränderte Sichtweise können dazu beitragen, dass von der Erwägung, durch Suizidbeihilfe zu sterben, Abstand genommen wird und Kranke am Leben bleiben. Im nächsten Abschnitt wird deutlich, dass Beweggründe und Entscheidungsprozesse chronisch Kranker darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, sowie ihr Umgang mit ihrem Dasein, das heißt, ihre Strategien, ihr Entscheid und damit verbundene Maßnahmen weiterzuleben, sich vor einem ungewollten, unerträglichen Dasein zu schützen oder sich davon zu erlösen, auch dadurch beeinflusst werden, wie sich ihnen nahestehende Bezugspersonen ihnen gegenüber verhalten.
5.3.2 Der Umgang von nahestehenden Bezugspersonen mit chronisch Kranken und deren Dasein im Kontext chronischen Krankseins Ein Umstand, der den Umgang chronisch Kranker mit ihrem krankheitsbedingten Dasein beeinflusst, ist das In-Beziehung-Stehen mit Bezugspersonen und deren Verhalten ihnen gegenüber. Von Bedeutung ist, ob chronisch Kranke durch ihre Bezugspersonen Unterstützung im Umgang mit ihrem veränderten Dasein erfahren und wie sie auf die Überlegungen und Entscheidungen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, reagieren (siehe Abbildung 33).
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
– Unterstützung im Umgang mit seinem veränderten, sich weiter veränderndem Dasein durch Bezugspersonen erfahren – Verständnisvolle, nicht loslassende und zurückhaltende Reaktionen von Bezugspersonen auf Überlegungen und den Entscheid, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen – Hinterfragende, ablehnende und verhindernde Reaktionen von Bezugspersonen auf Überlegungen und den Entscheid, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Abbildung 33: Der Umgang von nahestehenden Bezugspersonen mit chronisch Kranken und deren Dasein im Kontext chronischen Krankseins
5.3.2.1 Unterstützung im Umgang mit seinem veränderten, sich weiter verändernden Dasein durch Bezugspersonen erfahren Mehrere Bezugspersonen tragen durch ihre Hilfsbereitschaft in Bezug auf die Bewältigung des häuslichen Alltag und durch das Krankheitsmanagement chronisch Kranker, durch ihre Bereitschaft, den Erkrankten bei sich zu Hause aufzunehmen, durch die Übernahme der Rolle eines pflegenden Angehörigen sowie durch emotionale Anteilnahme, Sorge und ihre beschützende Art dazu bei, dass einige Kranke noch auf die von ihnen gewollte Art weiterleben können. Solche Unterstützung zu erfahren und sich für seine Bezugspersonen nicht als unerträgliche Belastung zu erleben, gibt manchen Kranken das Gefühl, dass die Fortführung ihres Daseins noch möglich und akzeptabel ist, und sie wollen folglich noch weiterleben. Durch ihre Besuche, Telefonanrufe und gemeinsame Unternehmungen bringen Bezugspersonen Abwechslung in den Alltag mancher Kranken und verschaffen ihnen damit Momente des Wohlseins. Sie geben ihnen Ratschläge im Umgang mit Problemen im Zusammenhang mit ihrer Krankheit und deren Symptomen sowie im Umgang mit ihrem veränderten oder sich weiter verändernden Dasein. Manche Bezugspersonen neigen dabei allerdings dazu, die Situation Kranker zu banalisieren und Ratschläge zu geben, die an der Situation, dem subjektiven Erleben und der Werteorientierung der Kranken vorbeigehen. In einem Fall unternahm eine Frau infolge des Druckes ihrer Bezugspersonen, sie müsse in ein Alterspflegeheim gehen, beispielsweise einen Suizidversuch. Manche Bezugspersonen von Kranken sind selbst Mitglied bei einer Suizidbeihilfeorganisation. Die Reaktionen und Einstellungen der Bezugspersonen gegenüber den Suizidbeihilfeerwägungen reichen von Erstaunen, Ignoranz, Nichternstnehmen, Unberührtheit, Gleichgültigkeit, Gefühlskälte, Schock bis zu Mitgefühl, Einverständnis, Hilflosigkeit, Zurückhaltung, Unterstützung oder Ablehnung. I: »Ja. War das für Sie schon immer klar, dass Sie irgendwann mit Exit sterben möchten? Oder ist das –?« Fr. Sommer : »Nein, das war schon immer so.« I: »Mhm. Wie kommt das?« Fr. Sommer : »Ich weiß auch nicht. Und die Tochter, – der wäre das egal.«
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I: »Also, wie hat Ihre Tochter reagiert?« Fr. Sommer : »Eben, sie hat gesagt: ›Ja, wenn du halt nicht mehr leben willst, dann finde ich das auch gut. Du spürst gar nichts, hast dann, äh, nicht einen schlimmen Tod. Oder hättest ja vielleicht, natürlich auch keinen schlimmen. Weil du schon so – ja, – so viele Sachen, viele Schmerzen gehabt hast und so. Ist vielleicht der Körper so schwach, dass es nicht mehr so viel braucht.‹« I: »Also, Ihre Tochter würde das verstehen, oder –?« Fr. Sommer :«Jaja, sie – sie, ich glaube, –– manchmal kommt es mir vor, sie möchte es gerade. Ich weiß nicht, ist es nur wegen dem Geld, oder –––.« I: »Wie kommen Sie da drauf ?« Fr. Sommer : »Sie hat ja sonst genug. Ich weiß es nicht. Also, ich denke es mir. (lacht) Es ist nicht schön, aber –––.« (Frau Sommer, U: 336 – 351).
5.3.2.2 Verständnisvolle, nicht loslassende und zurückhaltende Reaktionen von Bezugspersonen auf Überlegungen und den Entscheid, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Mehrere Bezugspersonen haben Mitgefühl und Verständnis für das Interesse an der Suizidbeihilfe und Respekt gegenüber der Absicht, auf diese Art sterben zu wollen. Dass Bezugspersonen den Entscheid ihres Angehörigen respektieren, kann Folge ihrer eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit der Situation sein. Fr. Nüesch: »[…]. Ich habe das schon verstanden, und ich verstehe das ja schon, dass ein Mensch – ein Junger kann das vielleicht schon akzeptieren, mit dem umgehen, aber er war immer so selbstständig und alles. – Ja, ––– also, beeinflussen konnte man ihn überhaupt nicht. Der kriegte einen richtigen Wutanfall. Gell, der ist er richtig verrückt geworden. Wenn man gesagt hat: ›Du, Papa, du hör, es gefällt dir ja doch hier (im Pflegeheim), du hast deine Leute, du hast alles, man macht alles für dich, und ich komme jede Woche und mache alles.‹ Ja, da hat er so, da ist er aber richtig verrückt geworden, ––– und dann blieb einem ja nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. […].« (Frau Nüesch, Tochter, AT: 22 – 25).
Manche Bezugspersonen bekunden ihr Einverständnis bezüglich der Absicht des Kranken, durch Suizidbeihilfe zu sterben, erklären, dass sie nicht dagegen sind und sich dem Vorhaben nicht in den Weg stellen oder niemanden davon abbringen wollen. Ihr Mitgefühl bewegt manche dazu, den Erkrankten in seinem Anliegen rund um die Suizidbeihilfe zu unterstützen, ihm durch diesbezügliche Prozedere Beistand zu leisten und ein derartiges Sterben mit ihm zu tragen. Bezugspersonen, die das Vorhaben, durch Suizidbeihilfe zu sterben, akzeptieren, stellen auf Wunsch ihrer erkrankten Angehörigen Kontakt zu einer Suizidbeihilfeorganisation her und sind beim Erstgespräch dabei. Sie sind bei der Nachweiserbringung der Voraussetzungen für die Suizidbeihilfe behilflich, setzen sich dafür ein, dass der Sterbewillige am Ort seiner Wahl durch Suizidbeihilfe sterben darf oder organisieren den Transport in das Sterbezimmer der Suizidbeihilfeorganisation. Einige Bezugspersonen drängen ihren sterbewilligen Angehörigen dazu, dass sie den Menschen, die sich ihnen nahe fühlen,
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Gelegenheit geben, Abschied nehmen zu können, oder sträuben sich zum Beispiel dagegen, dass ihre Angehörigen als Sterbedatum ihr Geburtsdatum wählen. Sie nehmen Abschied von dem ihnen nahestehenden Menschen, organisieren ihre Beerdigung und kommunizieren den Tod durch Suizidbeihilfe anderen gegenüber verdeckt oder offen. In einer Situation schlagen Bezugspersonen für den Fall, dass der Weg der Suizidbeihilfe abgelehnt werden sollte, alternative Wege vor, sich das Leben zu nehmen. Bestätigende Aussagen von Bezugspersonen, dass es keine Sünde ist, durch Suizidbeihilfe zu sterben, wirken auf entsprechende Bedenken gläubiger Kranker beschwichtigend und können sie darin bestärken, den Weg der Suizidbeihilfe weiterzugehen. Einige Bezugspersonen teilen dem Erkrankten ihre Zuneigung mit, betonen ihm gegenüber, wie bedeutsam dieser für sie ist und hoffen darauf, dass derartige Äußerungen dazu beitragen, dass dieser noch länger am Leben bleiben möchte. Mehrere Bezugspersonen weisen bezüglich der Überlegungen und dem Entscheid, durch Suizid (-beihilfe) zu sterben, auf die Eigenverantwortlichkeit des Erkrankten hin und halten sich zurück. Andere erklären sich mit dem Vorhaben der Suizidbeihilfe nicht einverstanden, respektieren aber den Entscheid.
5.3.2.3 Hinterfragende, ablehnende und verhindernde Reaktionen von Bezugspersonen auf Überlegungen und den Entscheid, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Einige Bezugspersonen hinterfragen das therapeutische Verhalten der in die Behandlung ihres Angehörigen involvierten Ärzte und überzeugen sich vom Leiden ihres sterbewilligen Angehörigen. Manche versuchen, den Sterbewilligen umzustimmen oder sein Vorhaben hinauszuzögern. Insbesondere streng religiöse Bezugspersonen reagieren auf die Absicht, durch Suizidbeihilfe zu sterben, ablehnend und tendieren dazu, ihren Angehörigen von diesem Vorhaben abzuhalten, ihm Hilfe zu verweigern und nicht bei dessen Sterben durch Suizidbeihilfe dabei zu sein. Fr. Reber : »Es war schwierig, äh, darüber zu sprechen, weil meine Tochter das ablehnt. Sie hält nichts von der ganzen Geschichte. Und für mich – und dann müssen sie zwei Zeugen haben. Und das muss außerfamiliär sein. Ich hab nur eine Nichte, der fällt das natürlich sehr schwer. Die hat zu mir gesagt: Tante, du bist das Einzige noch von der Familie, das ich noch habe. Und wir haben ein sehr gutes Verhältnis. Und das ist jetzt wieder das Umgekehrte. Jetzt macht das mir auch wieder schwere Gedanken, einen schweren Entschluss. Und so, wie ich jetzt wieder bin, ––– ich bin jetzt wieder, wie ich vorher war, also –– dass ich mein Leben vollenden will, natürlich. Und –– ich ihnen –– das nicht zumuten möchte. Meine Tochter, also meine Stieftochter, hat das abgelehnt. Sie wird das also nicht machen, nein. Und ––– und sonst habe ich niemanden, ja. Und das war ein mühsamer Weg, um das Ganze, äh, in das ––– in die richtige Richtung zu
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bringen, zu wissen, was da auf mich zukommt. Und jetzt bin ich natürlich wieder ein bisschen – durcheinander.« (Frau Reber, N: 85 – 86).
Wenn sich der Umgang der Bezugspersonen mit dem Kranken an dessen Werten und Präferenzen orientiert, kann das dazu beitragen, sein Dasein mehr auf die von ihm gewollte Art und Weise leben zu können, und infolgedessen zum Entscheid beitragen, noch am Leben bleiben zu wollen. Wenn das Verhalten der Bezugspersonen und die vorgeschlagenen Optionen die Werteorientierung der Erkrankten nicht berücksichtigt, lässt das bei einigen den Gedanken reifen oder festigt ihren Entschluss, nicht mehr länger am Leben bleiben zu wollen und einen Suizidversuch zu unternehmen. Bezugspersonen, die das Vorhaben, durch Suizidbeihilfe zu sterben, nicht unterstützen, erschweren Suizidbeihilfewilligen mit ihrem Verhalten, die für die Suizidbeihilfe erforderlichen und gewünschten Voraussetzungen erfüllen zu können. Darüber hinaus zeigt sich, dass einige Kranke aufgrund der von ihren Bezugspersonen erfahrenen ablehnenden Haltung gegenüber der Suizidbeihilfe und deren Wunsch, sie bei sich zu behalten, aus Rücksicht auf ihre Bezugspersonen von ihrem Entschluss Abstand nehmen, zu sterben, und sich entscheiden, weiterzuleben. In einigen Fällen wird deutlich, dass eine unterstützende Haltung und entsprechende Verhaltensweisen von Bezugspersonen gegenüber der Absicht, durch Suizidbeihilfe zu sterben, auf solche Überlegungen und Entscheidungsprozesse bekräftigende und beschleunigende Wirkung haben.
5.3.3 Der Umgang von (Gesundheits-)Fachpersonen mit chronisch Kranken und deren Dasein im Kontext chronischen Krankseins Im Laufe des chronischen Krankseins sind die Erkrankten mit zahlreichen (Gesundheits-)Fachpersonen und Institutionen in Kontakt. Zu diesen gehören Ärzte, Psychologen, Psychiater, Pflegefachpersonen, Physiotherapeuten, Ernährungsberater, Sozialarbeiter, Geistliche, Privatangestellte sowie Mitarbeiter von Suizidbeihilfeorganisationen und deren Konsiliarärzte. Im folgenden Abschnitt wird aus der Sicht chronisch Kranker erläutert, wie sie die Versorgung durch (Gesundheits-) Fachpersonen erleben. Im Kern umfasst das, wie sich (Gesundheits-)Fachpersonen ihnen gegenüber verhalten, das Krankheitsmanagement sowie die Versorgungsleistungen und deren Bedeutung für die Kranken. Es geht aber auch um Reaktionen, Verhaltensweisen und vorgeschlagene Alternativen durch (Gesundheits-) Fachpersonen im Zusammenhang mit den Suizidbeihilfeüberlegungen der Kranken (siehe Abbildung 34).
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– Die Versorgung durch Ärzte – Die Versorgung durch nicht-ärztliche (Gesundheits-)Fachpersonen in Institutionen des Gesundheitswesens – Der Umgang mit dem Thema Suizidbeihilfe in Institutionen des Gesundheitswesens – Das Verhalten von Mitarbeitern von Suizidbeihilfeorganisationen Abbildung 34: Kernpunkte im Umgang von (Gesundheits-)Fachpersonen mit chronisch Kranken und deren Dasein im Kontext chronischen Krankseins
5.3.3.1 Die Versorgung durch Ärzte Die Ausführungen mancher Patienten lassen erkennen, dass die Beziehung zwischen ihnen und ihrem Arzt auf Anteilnahme basiert. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Ärzte sich hinsichtlich der Patienten Mühe geben, helfende, empathische Gespräche mit ihnen führen, für sie Weggefährte und Lotse sind oder ihnen Hoffnung, Zuversicht und Aussicht auf Besserung vermitteln. Sie schenken dem subjektiven Erleben der Kranken Glauben, interessieren sich für sie und ihre gesundheitliche Situation, gehen ihren Beschwerden sorgfältig auf den Grund und nehmen sich ihrer an. Die Ärzte signalisieren ihnen, jederzeit für sie da zu sein, und zeigen Bereitschaft, alles Mögliche an Therapien auszuprobieren. Medizinische Therapien zu erhalten, gibt einigen Kranken das Gefühl, dass noch etwas »probiert« wird, man noch etwas »machen« kann und sie sich von ärztlicher Seite nicht »aufgegeben« fühlen. Als Konsequenz einer von Anteilnahme geprägten Beziehung zwischen Ärzten und Patienten zeigt sich, dass Letztere medizinische Therapien besser akzeptieren können und sich ihr psychisches Befinden aufhellen kann. Positive Versorgungserfahrungen durch Ärzte zeichnen sich auch dadurch aus, dass die Patienten merken, dass sich der Arzt für sie engagiert oder ihnen gegenüber freundlich und aufmerksam ist. Führt die medizinische Versorgung dazu, dass belastende Symptomerfahrungen gelindert oder unter Kontrolle gebracht werden, wird das Verhalten von Ärzten als mitfühlend erlebt, und das Arzt-Patienten-Verhältnis als gut erfahren, kann daraus resultieren, dass sich Patienten durch Ärzte unterstützt, von ihnen gut betreut und bei ihnen gut aufgehoben fühlen. Neben solchen positiven Versorgungserfahrungen werden von chronisch Kranken auch negative Erfahrungen gemacht. Sie resultieren zum Beispiel daraus, dass Ärzte zu wenig Zeit für Patienten haben, dass sie die Patienten zu wenig informieren, dass die Patienten das Gefühl haben, von Ärzten für dumm gehalten zu werden, oder dass die Ärzte über zu wenig Fachwissen verfügen. Paternalistisches Verhalten von Gesundheitsfachpersonen wird von einigen Patienten als Übergriff erlebt und veranlasst sie, Gesundheitsfachpersonen zu meiden. Manche Patienten machen die Erfahrung, dass Ärzte nichts von ihren subjektiven Krankheitstheorien wissen wollen, nicht realisieren, wie schlecht es
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den Patienten aus ihrer Sicht geht, sie als Simulanten bezeichnen und ihren gesundheitlichen Beschwerden nicht genau nachgehen oder dass die Ärzte alles auf ihre chronische Krankheit schieben, wodurch sie sich nicht ernst genommen fühlen. Zweifelhafte medizinische Behandlungsvorschläge und -maßnahmen, unsorgfältige Symptomabklärungen, unpersönliches Verhalten und mangelndes Eingehen auf das subjektive Erleben von Patienten durch Ärzte lösen bei manchen Patienten Befremden aus. Sie fühlen sich abgestempelt, unzufrieden mit der Versorgung, was zu einem Vertrauensverlust gegenüber den Ärzten führt. Zudem ziehen solche Versorgungserfahrungen nach sich, dass sich Kranke bei Ärzten nicht aufgehoben fühlen und sie ungern oder gar nicht mehr aufsuchen. Zum Umgang von Ärzten mit den Kranken gehört, dass sie Patienten über ihre medizinische(n) Diagnosen, neue Befunde, Behandlungsmöglichkeiten oder weitere Optionen aufklären. Manche teilen ihnen beunruhigende Prognosen bzgl. der Entwicklung ihrer Krankheit und deren Symptome, zukünftige Behandlungserfordernisse oder die verbleibende Lebensdauer mit und geben diesbezügliche Empfehlungen ab. Manche Empfehlungen kommen Kranken eigenartig vor, gehen an ihren Vorstellungen und Bedürfnissen vorbei und lösen bei manchen Misstrauen gegenüber Ärzten oder Gedanken bezüglich der Weiterführung oder Beendigung ihres Daseins aus. Sind Behandlungsvorschläge von Ärzten mit den Vorstellungen der Patienten unvereinbar, kommen sie nicht zur Anwendung und erzielen somit keinen therapeutischen Nutzen. In einigen Fällen kommen auf ärztlicher Seite Überforderung und therapeutische Machtlosigkeit zum Ausdruck. Manche Ärzte signalisieren Kranken, dass sie für sie nichts mehr tun können, und teilen ihnen (dadurch indirekt) mit, dass sie mit ihrem Zustand leben müssen. Während einige Ärzte eine ausgestellte Patientenverfügung von einer Suizidbeihilfeorganisation selbstverständlich entgegennehmen, legen andere Ärzte Patienten nahe, zusätzlich zu der ausgestellten Patientenverfügung der Suizidbeihilfeorganisation das von ihnen bevorzugte Formular zur Ausstellung einer Patientenverfügung zu verwenden. Im Umgang mit Kranken, die erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, zeigt sich, dass Ärzte solchen Patienten gegenüber Position beziehen. Sie verdeutlichen ihren Standpunkt und teilen Patienten mit, ob sie dazu bereit sind, ihnen ein ärztliches Zeugnis und das Rezept für die Suizidbeihilfe auszustellen oder nicht. Die Kommunikation zwischen Ärzten und Kranken betreffend der Möglichkeit, durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu treten, verläuft unterschiedlich. Einige Patienten haben das Gefühl, gut mit ihrem Arzt über das Thema sprechen zu können. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Ärzte sich gegenüber der Suizidbeihilfe diskussionsbereit, verständnisvoll und kooperativ zeigen und dem Kranken signalisieren, dass er sie diesbezüglich anfragen kann. Manche Ärzte informieren Patienten über die Voraussetzungen der Suizidbeihilfe, ihr Prozedere und darüber, dass diese im Krankenhaus verboten ist. Einige
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Ärzte thematisieren die Suizidbeihilfe von sich aus als eine mögliche Option und stellen bei Erfüllung der notwendigen Voraussetzungen auf Wunsch das für die Suizidbeihilfe erforderliche medizinische Zeugnis sowie das Rezept für das tödliche Substrat aus. In einigen Fällen gestaltet sich die Kommunikation rund um die Suizidbeihilfe zwischen Arzt und Patient schwierig. Manche Ärzte führen die Kommunikation über die Suizidbeihilfe nicht offen und halten sich kurz. Einige Patienten erleben, dass ihr Arzt sich dem Thema gegenüber ausweichend und hinhaltend verhält. Manche Ärzte tendieren dazu, Gespräche über die Suizidbeihilfe abzuklemmen oder abzubrechen, sobald sie ihre diesbezügliche Haltung mitgeteilt haben, womit das Thema für sie erledigt zu sein scheint. Ärzte, die hinsichtlich der Suizidbeihilfe nicht gesprächsbereit sind und sich ablehnend verhalten, lösen bei manchen Patienten Enttäuschung oder Unzufriedenheit aus. Wenn Ärzte keine Kommunikationsbereitschaft gegenüber den Überlegungen von Kranken zeigen, möglicherweise durch Suizidbeihilfe zu sterben, dann besteht die Gefahr, dass es in der Beziehung zwischen Arzt und Patient zu einem Vertrauensbruch kommt, was zur Folge haben kann, dass sich Kranke erst recht an eine Suizidbeihilfeorganisation wenden, ihren Arzt mit deren Hilfe wechseln und somit aus dessen Obhut entschwinden. I: »Und äh, Ihr Arzt? Ihr Hausarzt? Hat der auch eine Patientenverfügung von Ihnen?« Fr. Tanner : »Ja, der will nicht wissen. Der will nichts wissen. Der wollte das nicht annehmen, dass ich bei Exit bin. Er ist dagegen und er hat auch gesagt, mit dem wolle er nichts zu tun haben. Und wenn es mit mir etwas gibt, der kommt schon. Äh, aber er kommt nicht zum Sterben. Und ja, zum Helfen. Er ist absolut dagegen.« I: »Können Sie denn mit ihm darüber sprechen? Oder wie ist das, wenn Sie mit ihm darüber sprechen, über das Thema? Geht das?« Fr. Tanner : »Nein, das geht nicht. Nein. Er ist nicht ein Arzt, mit dem man etwas so – nein, er macht gleich so (winkt ab).« I: »Kann man gar nicht das Thema ansprechen?« Fr. Tanner : »Nein, nein, nein, muss man gar nicht ansprechen. Ich weiß es jetzt. Ich versuche es gar nicht mehr. Ich habe es einmal versucht und dann hat er gesagt – (Telefonklingeln). […]. Nein. nein, er will nichts wissen. Er ist sowieso. Er redet so viel und schnürt einem richtig den Bock, kann man sagen (lacht). Nein, man kann nicht mit ihm über so etwas reden.« I: »Mhm. Und wie ist das für Sie, wenn Ihnen das ein Anliegen ist?« Fr. Tanner : »Ha, ja – jetzt habe ich eben Exit geschrieben, mein Hausarzt wolle das nicht wissen, weil – sie sollen mir einen suchen. Und jetzt haben sie einen, einen Doktor für mich, einen xy (Name eines Arztes).« (Frau Tanner, AJ: 477 – 491).
Einige Ärzte, die der Suizidbeihilfe gegenüber abweisend eingestellt sind, lehnen es ab, Patienten ihre medizinische(n) Diagnose(n) schriftlich zu bescheinigen und ihnen das Rezept für das tödliche Substrat für eine allfällige Durchführung der Suizidbeihilfe auszustellen. Manche Ärzte machen Kranken Gegenvorschläge zur Suizidbeihilfe, wie: in ein Alters- oder Pflegeheim ziehen, mehr ambulante Pflege beanspruchen, eine stationäre Schmerzbehandlung in einem
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Krankenhaus oder einem Hospiz beanspruchen, eine Patientenverfügung ausstellen oder auf biologische Art schmerzfrei sterben. Einige teilen Kranken mit, dass sie ihrer Ansicht nach noch nicht austherapiert seien. Die Reaktionen der Kranken verdeutlichen, dass bestimmte von Ärzten vorgeschlagene Alternativen keinen Anklang finden, weil sie mit den Vorstellungen der Patienten von ihrem gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Dasein unvereinbar sind und für sie dadurch keine wirkliche Option darstellen. Es gibt aber auch Ärzte, die durch ihre Alternativvorschläge und ihre Argumente Suizidbeihilfeinteressierte dazu bringen, sich auf bestimmte alternative Vorschläge einzulassen und ihr Vorhaben hinsichtlich der Suizidbeihilfe zurückzustellen und sich auf das Weiterleben einzulassen. 5.3.3.2 Die Versorgung durch nicht-ärztliche (Gesundheits-)Fachpersonen in Institutionen des Gesundheitswesens Die Versorgung durch nicht-ärztliche Gesundheitsfachpersonen wird von gut bis schlecht erlebt. Mehrere Erkrankte erleben ihnen angenehme, wohltuende, vertrauenswürdige Pflegende, die Anteil nehmen und effektiv etwas mit ihnen erreichen möchten. Manche erleben Gesundheitsfachpersonen, die sich ihnen gegenüber liebenswürdig verhalten und sich für ihre Bedürfnisse einsetzen, als angenehm. Sie empfinden es als hilfreich, um sich in einer Institution des Gesundheitswesens einleben und wohlfühlen zu können. Solche Kranken erfahren Hilfe bei der Selbstpflege, der Medikation und erfahren das Gefühl, versorgt zu sein. Eine ausgezeichnete Pflege zu erfahren, das heißt, eine engagierte, nette, liebevolle, sich kümmernde, zuverlässige pflegerische Bezugspflegeperson zur Seite zu haben, die mit »Herz« pflegt und deren Engagement über ihre Arbeitspflichten hinausgeht, zählt zu den positiven Versorgungserfahrungen mit Gesundheitsfachpersonen. Steht im Zentrum pflegerischen Handelns, dass Leidende sich wohlfühlen, dann ist es umso wahrscheinlicher, dass diese die pflegerische Versorgung positiv wahrnehmen, sofern sie sich durch Pflegende unterstützt und gut versorgt fühlen. Eine effektive Versorgung und Symptomlinderung, Hilfestellungen und das Gefühl, in einer Gemeinschaft zu leben und diese zu erfahren, helfen Kranken, mit ihrem Dasein umzugehen. Manche Kranke fühlen sich durch die Versorgung von Pflegenden aber auch gefährdet und belastet. Es gibt Kranke, die von Pflegenden betreut werden, die eher ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen als die ihren. Auch kommt es vor, dass Pflegefachpersonen Kranken prognostizieren, was auf sie zukommen wird, wenn bestimmte gesundheitliche Probleme eintreten, oder woran sie ihrer Ansicht nach sterben werden. Solche Aussagen von Pflegenden gehen an Kranken nicht spurlos vorbei, sondern wirken im Hinblick auf die von ihnen antizipierten ungewollten Daseinsweisen zusätzlich beunruhigend und Angst
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auslösend oder verstärkend. Manche Gesundheitsfachpersonenkümmern sich nicht unmittelbar um Kranke, sondern lassen sie warten, andere Pflegende lassen die Leidenden Schmerzen aushalten, scheinen »ausgebrannt« und erledigen ihre Arbeit scheinbar unbeteiligt. Einige treten mit unwillkommenen Beschäftigungsangeboten an Kranke heran, die nicht auf deren Bedürfnisse, Interessen und physische Fähigkeiten abgestimmt sind und indirekt mit dazu beitragen, dass chronisch Kranke nicht länger am Leben bleiben wollen. Einige Kranke haben den Eindruck, dass Mitarbeiter von Alters- und Pflegeheimen mit ihrer gesundheitlichen Situation, insbesondere in Bezug auf die Linderung von Symptomen wie zum Beispiel Schmerzen, ratlos und überfordert sind. Einige Pflegefachpersonen scheinen auch mit dem Charakter mancher Kranker überfordert zu sein. Zu negativen Versorgungserfahrungen mit Pflegenden zählen zum Beispiel auch die Zweiklassenpflege, das heißt, wenn Pflegende zuerst Privatpatienten pflegen, das Symptomerleben der Patienten von Pflegenden angezweifelt wird, Leidende mit Pflegenden Auseinandersetzungen führen müssen, um symptomlindernde Medikamente zu bekommen oder Pflegefachpersonen gegen Hygienemaßnahmen verstoßen und dadurch die Gesundheit Kranker zusätzlich gefährden. Die unterschiedlichen Pflegeauffassungen der Pflegenden, die Überlastung und der Zeitmangel von Pflegenden, der partiell als dürftig erlebte Kontakt mit Pflegenden sowie das teilweise mangelnde Deutschverständnis, die Bevormundung oder Versorgung im Eilverfahren finden ebenfalls Erwähnung. Deutlich wird auch, dass mehrere Kranke eine Versorgung durch Pflegende erfahren, die nicht ihren Bedürfnissen entspricht und einer ungenügenden, entwürdigenden pflegerischen Versorgung gleichkommt. Hr. Arnold: »[…]. Wenn man hier einer Pflegerin, Lehrtochter sagt: Sie, ich bin noch nicht sauber gewaschen, geputzt, gewaschen, sie müssen mich noch mit Wasser und Papier müssen sie einen putzen –.« I: »Also, feucht? –.« Hr. Arnold: »Feucht, mit Wasser, nicht ohne Wasser, das ist nämlich das Gröbste, und dann sagt sie: ›Ja was, es ist sauber.‹ Und ich sage: ›Ich spüre es ja. – […]. Machen Sie es so, bitte, wie bei sich selbst – Sie spüren auch, wenn Sie sauber sind. Das braucht man gar nicht zu sehen, das spürt man. Und haben Sie schon daran gedacht, dass Sie ja, wenn Sie sich ja selbst putzen, wenn Sie sich putzen, und Sie haben nicht die gleiche Stellung wie ich, stehend‹ – Und ich helfe ja noch. Ich bücke mich. – Ich probiere mit einer Hand noch ein wenig auf die Seite zu ziehen. Beide Hände kann ich ja nicht benutzen. – Wenn man sich im Klosett putzt, braucht man eine Hand und dann ist das Gesäß nicht in der gleichen Stellung wie jemand, der sich putzen lassen muss, nicht? Und wenn es heißt: ›Ja, das ist sauber, das ist sauber‹, dann sieht man, dass das nicht so ist – was soll man da noch – dann hält man den Mund. Ich habe dem Dings, dem Heimleiter hier, dem habe ich schon nicht nur einmal gesagt, dem habe ich gesagt: ›Sie wollen mich noch mundtot machen. Man darf sich nicht einmal wehren, und ich bin wegen den Händen hier und nicht wegen dem Kopf. Geben Sie mir bitte eine Therapie, wo ich das Putzen therapieren, Therapie nehmen kann, um mich selbst zu putzen.‹ ›Ja, ha, das geht nicht!‹, hat der Heimleiter
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gesagt. ›Also, danke sehr‹ – habe ich schon zwei-, dreimal gesagt zum Heimleiter.« (Herr Arnold, A: 434 – 444).
Die Erfahrungen mit der Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen zeigen, dass Überlegungen und Entscheidungen chronisch Erkrankter, weiterleben oder sterben zu wollen, auch Folgen ihres Versorgungserlebens durch Gesundheitsfachpersonen sind. Ein auf Anteilnahme basierender, unterstützender Versorgungskontext gibt Leidenden Hoffnung, Mut und Zuversicht und fördert, dass sie Gesundheitsfachpersonen als vertrauenswürdig erleben, eine bedürfnisgerechte Versorgung erfahren und mit der Versorgung zufrieden sind. Positive Versorgungserfahrungen mit Gesundheitsfachpersonen helfen Kranken, ihre Situation besser akzeptieren und damit leben zu können, und sind ein wesentlicher Faktor dafür, dass die Kranken ihr Leben im Kontext chronischen Krankseins besser bestehen und weiterleben können. Einige Kranke machen allerdings auch die Erfahrung, dass sie Gesundheitsfachpersonen ihre Versorgungsbedürfnisse mitteilen und trotzdem nicht bedürfnisgerecht versorgt werden, was infolgedessen bei Leidenden Gefühle auslöst, Gesundheitsfachpersonen gegenüber wehrlos und ausgeliefert zu sein und sich in seiner Gesundheit von diesen gefährdet zu fühlen. Fühlen sich Kranke hinsichtlich ihrer Gedanken, Probleme, Anliegen und Gefühle von Gesundheitsfachpersonen im Stich oder sitzen gelassen, sind sie vom Verhalten Letzterer enttäuscht. Von Gesundheitsfachpersonen kein Mitgefühl und keinen Beistand zu erfahren, sondern in seiner Not allein gelassen zu werden, lässt Leidende realisieren, dass sie sich nicht auf die Hilfe von Gesundheitsfachpersonen verlassen können und auf sich selbst gestellt sind. Das Ausbleiben einer würdevollen, bedürfnisgerechten und -befriedigenden Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen und daraus resultierende Gefühle, Gesundheitsfachpersonen gegenüber ausgeliefert zu sein, bewirken, dass es für manche Kranken immer unvorstellbarer wird, ihr Dasein in einem solchen Versorgungskontext weiterzuführen. Versorgungskontexte, in denen Gesundheitsfachpersonen das Bedürfnis vernachlässigen, Fertigkeiten zum Selbstmanagement und zur Selbstpflege zu erlernen, oder Kranke sich durch Gesundheitsfachpersonen fremdbestimmt fühlen, erzeugen bei Leidenden Ernüchterung und Resignation über die Versorgung. Viele Kranke antizipieren ausgehend von ihren Erfahrungen, was ihnen im Kontext ihrer Krankheit noch bevorstehen kann und wie es mit ihrem Leben weitergehen könnte. Negative Versorgungserfahrungen durch Gesundheitsfachpersonen erlebt zu haben, löst bei einigen Angst vor dem von ihnen Ungewollten aus und veranlasst manche, das von ihnen Gewollte zu gewährleisten sowie sich vor dem Ungewollten zu schützen.
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
5.3.3.3 Der Umgang mit dem Thema Suizidbeihilfe in Institutionen des Gesundheitswesens Zum Umgang mit der Suizidbeihilfe in Institutionen des Gesundheitswesens resultiert aus der Situation eines chronisch Kranken der Eindruck, dass mancherorts eine institutionsinterne Regelung im Umgang mit Menschen, die erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, fehlt und es scheinbar Verantwortliche von Institutionen gibt, die derartige Situationen aussitzen. So zeigt sich in einem Fall, dass die zuständigen Leitungspersonen einer Institution, in der ein Bewohner beabsichtigte, durch Suizidbeihilfe zu sterben, weder Handlungsdruck verspürten noch dem in die Situation Involvierten die gewünschte Aufmerksamkeit und Unterstützung in dieser Angelegenheit schenkten. Fr. Nüesch: »Und das Schlimmste, das Allerschlimmste für mich war, dass man ihm – das sollte ja ein Zuhause sein, hier, im Pflegeheim oder? Also, bei uns ist das so (im Alters- und Pflegeheim, in dem sie arbeitet), das ist ein Zuhause. Drum, wenn eine –– eine Sterbeanzeige aufgegeben wird, eine Todesanzeige, dann ist ja immer auch das Heim drauf. Das ist ja wirklich ein Heim für diesen Menschen und nicht nur eine vorübergehende, was weiß ich – und ich kann das hier nicht verstehen und habe auch den xy (Name), hier, der ist im Verwaltungsrat. Ich glaube sogar Präsident, den habe ich zwei-, dreimal kontaktiert und ihm gesagt: ›Wissen Sie was, für jedes Ding haben Sie eine Krisensitzung, die für nichts und wieder nichts wichtig ist, aber so etwas, – ich wünsche Euch nur eines, dass Ihr so etwas nie erfahren müsst.‹ Dass sie nie so etwas – da haben sie gesagt: ›Ja, es brennt ja nicht. Hat er mir gesagt.‹ Da habe ich gesagt: ›Ja, aber – er (ihr Vater) hat Angst. Er hat Angst, dass er plötzlich, die müssen es ja selbst nehmen können, die müssen das Dings (das tödliche Substrat) selbst nehmen können, und er hat einfach Angst, dass er plötzlich nicht mehr dazu im Stande ist, das selbst zu nehmen und er hat Angst, dass er vielleicht irgendwie plötzlich einen Schlaganfall bekommt und nicht mehr richtig im Kopf ist.‹ Vor dem hat er die größte Angst gehabt, dass er das nicht mehr – machen könnte. Das nicht mehr vollziehen könnte. Das habe ich einfach am Allermeisten mitbekommen. Vor dem hat er die größte Angst gehabt. Kommt dir noch etwas in den Sinn (sie wendet sich an ihre Bekannte) – zu der Zeit? – Der ist, also, das ist ganz extrem gewesen.« (Frau Nüesch, Tochter, AT: 28 – 32).
5.3.3.4 Das Verhalten von Mitarbeitern von Suizidbeihilfeorganisationen Um Kranke, die sich für die Suizidbeihilfe interessieren, und deren Bezugspersonen zu informieren, kommt ein Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation zum Aufklärungs-/Erstgespräch zu Besuch. Neben der Erfassung der Situation des sich für Suizidbeihilfe interessierenden Mitglieds und dessen Kontext, des ersten Aufkommens der Erwägung, durch Suizidbeihilfe zu sterben, der eigenen inneren Hürden gegenüber einer eventuellen Durchführung der Suizidbeihilfe, der Abklärung der Entschlossenheit, sterben zu wollen, und der Erfüllung der für die Suizidbeihilfe erforderlichen Voraussetzungen informieren die Mitar-
Der Umgang mit der chronischen Krankheit
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beiter von Suizidbeihilfeorganisationen Interessierte auch über Alternativen zur Suizidbeihilfe. Von den Mitarbeitern der Suizidbeihilfeorganisation erhalten Kranke Informationen über die Voraussetzungen und das Prozedere der Suizidbeihilfe, diesbezügliche Pflichten von Ärzten, Hinweise zu Ärzten und Geistlichen, die der Suizidbeihilfe gegenüber offen eingestellt sind, und Auskunft darüber, ob sie aufgrund ihrer medizinischen Diagnose(n) die Voraussetzungen für die Suizidbeihilfe erfüllen. In schwierigen Kommunikationssituationen wenden sich die Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation auf Wunsch ihrer Mitglieder, stellvertretend für sie, auch an deren (Haus-)Arzt und fordern diesen auf, ihren Patienten ihre medizinische(n) Diagnose(n) schriftlich zu bescheinigen. Im Gegensatz zu dem von manchen Kranken erlebten paternalistischen Verhalten und den Ausflüchten mancher Ärzte erfahren Kranke durch die Mitarbeiter von Suizidbeihilfeorganisationen in ihrem subjektiven Erleben ihres Daseins im Kontext ihrer Krankheit und ihrer damit zusammenhängenden Erwägung, durch Suizidbeihilfe zu sterben, Gesprächsbereitschaft, Aufmerksamkeit, Verständnis, Akzeptanz und bei Erfüllung der diesbezüglich erforderlichen Voraussetzungen Beihilfe zur Realisierung ihres Vorhabens. Mitarbeiter von Suizidbeihilfeorganisationen scheinen für manche Kranke als abrufbare, tolerante, verständnisvolle Gesprächspartner und Weggefährten zur Verfügung zu stehen. Fr. Rickenbach: »[…]. Und xy (Name Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation) ist dann eben gekommen und sie hat mir dann das alles erklärt, und sie ist wirklich sehr nett. Ähm, wir stehen auch weiterhin in Kontakt. Aber ich habe mich mittlerweile entschieden, das nicht mit Exit zu machen, weil mir die Bedingungen, die Exit stellt, einfach nicht passen. Das ist der einzige Grund. Aber ich habe doch eine gewisse Art von Unterstützung innerhalb der Exit, die mir irgendwie hilft. Also, einfach auch Leute, wie xy (Name Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation), jemanden zu haben, der einfach – ihnen das auch nicht ausreden will. Der das so akzeptieren kann. Und ich habe diesen Entscheid für mich gefällt und für sie ist das gut so, oder. Das ist meine Sache. […].« (Frau Rickenbach, P: 198).
Kranke, die Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation sind, werden auch von einem Konsiliararzt der jeweiligen Suizidbeihilfeorganisation besucht. Sie werden über das Prozedere des Sterbens durch Suizidbeihilfe und darüber informiert, dass sie zum Beispiel ihre Bezugspersonen über ihre Überlegungen in Kenntnis setzen, sich überlegen sollen, wen sie bei ihrem allfälligen Sterben bei sich haben möchten, und dass sie von ihren Suizidbeihilfeüberlegungen jederzeit zurücktreten können. Verglichen mit Ärzten, die Patienten gegenüber ablehnen, die medizinische(n) Diagnose(n) schriftlich zu bescheinigen und ein Rezept für das tödliche Substrat auszustellen, machen mehrere Kranke mit Konsiliarärzten der Suizidbeihilfeorganisation die Erfahrung, dass diese, sofern die erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind, sich dazu bereit erklären. Hat
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
sich ein Mitglied entschieden, durch Suizidbeihilfe zu sterben, und sind alle dafür erforderlichen Voraussetzungen erfüllt, leistet der zuständige Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation zum vereinbarten Zeitpunkt Beihilfe zum Suizid. Zusammenfassung Die Erläuterungen beleuchten aus der Sicht chronisch Kranker, wie sie selbst, ihre Bezugspersonen und die involvierten (Gesundheits-)Fachpersonen mit ihnen und ihrem Dasein im Kontext ihrer chronischen Krankheit umgehen, und zeigen, welche Umgangsformen mit den Beweggründen und Entscheidungsprozessen darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, in Zusammenhang stehen und diese beeinflussen. Ausgehend vom Umgang der chronisch Kranken ist festzuhalten, dass jeder Erkrankte zuerst Strategien ersinnt, die ihm dazu dienen, einen Überblick über seine Situation und die damit verbundenen Möglichkeiten zu erhalten. Alle Kranken versuchen zunächst, mit verschiedenen Maßnahmen ihr krankheitsbedingt verändertes Dasein zu meistern, weiterzuführen und am Leben zu bleiben. Parallel dazu bereiten sich mehrere auf von ihnen antizipierte ungewollte Daseinsweisen vor, indem sie sich vor diesen mit verschiedenen Maßnahmen wie der Suizidbeihilfe schützen. Während einige hoffen und es darauf ankommen lassen, durch etwas oder jemand anderen als sie selbst von ihrem Dasein erlöst zu werden, bereiten sich mehrere Kranke sowohl auf ihr biologisches Sterben als auch auf das Sterben durch Suizidbeihilfe vor. Verhaltensweisen, die den Kranken helfen, mit ihrem veränderten Dasein weiterzuleben, sind: der Erwerb von Kompetenzen, die dazu befähigen, mit Krankheitssymptomen besser umzugehen, das Einnehmen einer optimistischen, hoffnungsvollen Haltung, sich an etwas festhalten, das einem Kraft gibt, sich auf sein Dasein einlassen, ein neues Selbstverständnis von sich entwickeln und aus sich heraus nach neuen Kraftquellen und Aufgaben suchen. Als erschwerend für den Umgang mit seinem Dasein und dessen Weiterführung stellen sich die Fokussierung auf das ursprünglich gewohnte Dasein, die Vorstellung von Gefahren und Risiken sowie das Antizipieren ungewollter Daseinsweisen heraus (siehe Abbildung 35). Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid (-beihilfe) sterben zu wollen Der Umgang Kranker mit ihrer chronischen Krankheit und damit zusammenhängenden Veränderungen ihres Daseins
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterzuleben Der Umgang Kranker mit ihrer chronischen Krankheit und damit zusammenhängenden Veränderungen ihres Daseins
Der Umgang mit der chronischen Krankheit
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid (-beihilfe) sterben zu wollen – An Suizidbeihilfe denken und diese erwägen – Sich auf sein Sterben durch Suizidbeihilfe vorbereiten – Erwerb der Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation – Ausstellung einer Patientenverfügung von einer Suizidbeihilfeorganisation – Beantragung der Ausstellung des Rezeptes für das tödliche Substrat – Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterzuleben – Versuchen, sein tägliches Dasein zu meistern und weiterzuführen – Lernen, mit Krankheitssymptomen und seinem veränderten Dasein besser fertig zu werden – Versuchen, seine körperlichen Beschwerden selbst zu lindern – Versuchen, einen anderen Umgang mit seinem Dasein zu finden, probieren, seine Einstellung und sein Denken zu ändern, umdenken – Eine optimistische, vertrauensvolle Haltung einnehmen – Hoffnung haben (auf Besserung etc.) – Sich in eine harmonische Stimmung bringen – Seiner gegenwärtigen Daseinsweise etwas Positives abgewinnen – Über Dankbarkeit verfügen – Kämpfen – Sich an etwas festhalten (Glauben etc.) – In sich nach neuen Kraftquellen und Aufgaben suchen – Ein neues Selbstverständnis und eine neue Identität entwickeln – Aufsuchen von Kriseninterventionsstellen – Akzeptieren, was ist und kommt – Sich auf sein Dasein einlassen – Sich mit seinem veränderten Dasein arrangieren, sein gewohntes Dasein loslassen, sich seiner Krankheit und deren Auswirkungen hingeben und diese in sein Dasein integrieren – Versuchen, sich in sein Dasein zu fügen und sich mit diesem abfinden – Sich auf eine palliative Versorgung einlassen – Sich darauf einlassen, auf biologische Art zu sterben – Fehlende Bereitschaft, sein Leben durch eine andere Art als Suizidbeihilfe zu beenden – Von seinem Vorhaben, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, Abstand nehmen
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und EntFaktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid scheidungen begünstigen, weiterzuleben (-beihilfe) sterben zu wollen – Rückschauen in die Vergangenheit – Weder in die Vergangenheit noch in die – Sich Gefahren, Risiken, »Tatsachen« vor Zukunft blicken – den Fokus auf die Augen führen Gegenwart legen, Gewesenem nicht nachtrauern – Sich Negativem entziehen und sich mental von seinem Dasein loslösen – Darauf hoffen und warten, von seinem – Bewusst gesundheitliche Risiken einDasein durch etwas oder jemanden ergehen und seinen Tod dadurch herauslöst zu werden fordern – Vermeiden von funktionsbeeinträchtigenden medikamentösen Nebenwirkungen – Schutzmaßnahmen ergreifen, um sein Dasein auf gleiche oder bessere Art fortführen zu können Abbildung 35: Aus den Umgangsformen chronisch Kranker resultierende Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder weiterzuleben
Der Umgang von Bezugspersonen mit chronisch Kranken zeigt, dass, wenn sich die Unterstützung durch Bezugspersonen an den Bedürfnissen, Werten und Präferenzen des Erkrankten orientiert, ihnen das am ehesten ermöglicht, ihr Dasein auf die von ihnen gewollte Art und Weise weiterzuführen. In Bezug auf die Überlegungen und Entscheidungsprozesse, weiterleben oder sterben zu wollen, wird deutlich, dass Bezugspersonen, die auf Kranke Druck ausüben, dass sie auf eine von ihnen ungewollte Daseinsweise zu leben, Kranke dadurch veranlassen können, nicht länger am Leben bleiben zu wollen, sodass sie in Betracht ziehen, einen Suizidversuch zu unternehmen. Bezugspersonen, die mit Gleichgültigkeit, Einverständnis oder Unterstützung auf die Erwägung reagieren, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, können Kranke dadurch in ihrem Vorhaben bestätigen oder dazu beitragen, dass Prozedere ausgelöst werden, die Kranke in ihrer Entscheidung bekräftigen, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Denn durch die Bereitschaft einer Drittperson, beim Sterben zugegen zu sein, wird die Realisierung erst möglich. In Situationen, in denen Bezugspersonen gegenüber der Absicht, durch Suizidbeihilfe zu sterben, ablehnend reagieren, ihre Unterstützung verweigern, dem Kranken mitteilen, wie wichtig dieser für sie ist und dass sie ihn nicht verlieren möchten, zeigt sich, dass solche Reaktionen Kranke dazu bewegen können, von ihren Suizidbeihilfeüberlegungen und ihrem Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, abzulassen und am Leben zu bleiben (siehe Abbildung 36).
Der Umgang mit der chronischen Krankheit
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid (-beihilfe) sterben zu wollen Der Umgang von nahestehenden Bezugspersonen mit chronisch Kranken und ihrem Dasein im Kontext chronischen Krankseins – Bezugspersonen, welche die Situation der Befragten banalisieren und ihre Werteorientierung ignorieren – Bezugspersonen, die auf Befragte Druck ausüben, auf eine von ihnen ungewollte Art und Weise zu leben – Mitfühlende, verständnisvolle, akzeptierende, respektierende, bestätigende, unterstützende, zurückhaltende, nicht ernst nehmende, gleichgültige, hilflose Reaktionen von Bezugspersonen auf die Suizidbeihilfeerwägung der Befragten
281 Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterzuleben Der Umgang von nahestehenden Bezugspersonen mit chronisch Kranken und ihrem Dasein im Kontext chronischen Krankseins – Der Umgang der Bezugspersonen mit Befragten orientiert sich an deren Werten und Präferenzen – Bezugspersonen, welche Befragten die gewünschte Unterstützung bieten
– Hinterfragende, nicht loslassende, ablehnende, nicht unterstützende, verhindernde Reaktionen von Bezugspersonen auf Suizidbeihilfeerwägung der Befragten – Bezugspersonen, die Befragten ihre Zuneigung und ihre Bedeutsamkeit für sie aufzeigen – Bezugspersonen, die Befragten mitteilen, sie bei sich behalten zu wollen – Versuche, Befragte umzustimmen, ihr Vorhaben hinauszögern, sie von ihrem Vorhaben abhalten – Befragten seine Unterstützung bezüglich der Suizidbeihilfe verweigern – Bezugspersonen, die Befragten nicht das Gefühl geben, für sie eine unerträgliche Last/Belastung zu sein Abbildung 36: Aus den Umgangsformen der Bezugspersonen resultierende Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder aber weiterzuleben
Mit Blick auf das Verhalten von (Gesundheits-)Fachpersonen zeigt sich, dass sie Leidenden helfen, am Leben zu bleiben, indem sie ihnen das Gefühl geben, für sie noch etwas tun zu können. Unterstützend ist für chronisch Kranke, wenn sie von (Gesundheits-)Fachpersonen versorgt werden, die ihnen gegenüber Anteil nehmen und sie von denen sie Hilfe bekommen, die ihren Bedürfnissen und ihrer Werteorientierung gerecht wird und einer menschenwürdigen Versorgung entspricht. (Gesundheits-)Fachpersonen, die eine unprofessionelle, unzureichende Versorgung erbringen, tragen hingegen dazu bei, dass Kranke erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Der Umgang der (Gesundheits-)Fachpersonen mit chronisch Kranken verdeutlicht in mehreren Fällen, dass die Versorgungsvorschläge der (Gesundheits-)Fachpersonen mit den Bedürfnissen sowie den Wert- und Präferenzvorstellungen (dem Ungewollten und dem Gewollten) mehrerer Kranker unvereinbar sind, weshalb die Vorschläge für sie nicht infrage
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
kommen. Infolgedessen stellen sie, verglichen mit der Suizidbeihilfe, für die Kranken keine interessanten Versorgungsalternativen dar. Dies gilt auch für einige Vorschläge von (Gesundheits-)Fachpersonen, die mit dem jeweiligen Werte- und Präferenzsystem Kranker vereinbar sind, aber keine neuen, effektiven Maßnahmen zur Befriedigung der Anliegen, zur Veränderung des unerträglichen Daseins oder zum Abbau der Ängste darstellen. Solche Vorschläge wurden mehrfach bereits vorher von den Erkrankten selbst in die Wege geleitet oder ausprobiert. Die Aussagen einiger Kranker belegen, dass es hinsichtlich der Thematik der Suizidbeihilfe und der Überlegungen ihrer Inanspruchnahme bei manchen Ärzten an Kommunikationsbereitschaft fehlt. Die Konsequenz des ablehnenden Verhaltens und der fehlenden Gesprächsbereitschaft der Ärzte ist, dass sich manche Patienten mit ihrem Anliegen der Suizidbeihilfe nicht mehr an ihren Arzt wenden, sondern dieses Anliegen direkt mit einer Suizidbeihilfeorganisation besprechen und somit aus der Obhut ihres Arztes entschwinden (siehe Abbildung 37). Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid (-beihilfe) sterben zu wollen Der Umgang von (Gesundheits-)Fachpersonen mit chronisch Kranken und ihrem Dasein im Kontext chronischen Krankseins – Ein gefährlicher, nicht bedürfnisgerechter Versorgungs- und Beschäftigungskontext – Gesundheitsfachpersonen fühlen sich nicht zuständig und kümmern sich nicht um Kranke – Gesundheitsfachpersonen nehmen Kranke nicht ernst – Gesundheitsfachpersonen teilen Kranken mit, dass sie für sie nichts mehr tun können – Eigenartige paternalistische, an den Vorstellungen, Werten und Bedürfnissen der Kranken vorbeigehende, mit diesen unvereinbare, Misstrauen fördernde Versorgung(-svorschläge) – Mangelnde Versorgungsbereitschaft und Versorgungsgrenzen von ambulanten Dienstleistern
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterzuleben Der Umgang von (Gesundheits-)Fachpersonen mit chronisch Kranken und ihrem Dasein im Kontext chronischen Krankseins – Gesundheitsfachpersonen, die gegenüber Kranken Anteil nehmen – Hilfe in schwierigen Lebenslagen durch Kriseninterventionszentren erfahren – Gesundheitsfachpersonen, die Kranken das Gefühl vermitteln, dass man noch etwas machen kann
– Gegenvorschläge zur Suizidbeihilfe und Argumente, die mit den Vorstellungen, Werten und Bedürfnissen der Kranken vereinbar sind und diesen gerecht werden – Akzeptable, bedürfnis-/bedarfsgerechte Versorgung
Die subjektive Wahrnehmung
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid (-beihilfe) sterben zu wollen – Offenheit, Verständnis und Unterstützung gegenüber der Absicht der Kranken, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen – Fehlende Kommunikationsbereitschaft und Abwendung von den Kranken, die durch Suizidbeihilfe sterben wollen, oder Distanzierung von ihrer Absicht – Die Wahl haben, sich zwischen einer Hospizversorgung, einer palliativen Versorgung und der Suizidbeihilfe entscheiden zu können/müssen
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterzuleben
– Kommunikationsbereitschaft gegenüber dem Interesse der Kranken an der Suizidbeihilfe – Versuche, Kranke umzustimmen – Ablehnung und ausbleibende Unterstützung gegenüber dem Vorhaben der Kranken, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen – Das Unterbinden des Kontaktaufbaus zwischen an der Suizidbeihilfe Interessierten in Institutionen des Gesundheitswesens und Suizidbeihilfeorganisationen Abbildung 37: Aus den Umgangsformen der (Gesundheits-)Fachpersonen resultierende Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder aber weiterzuleben
Im anschließenden Kapitel wird dargelegt, wie chronisch Kranke vor dem Hintergrund der bisher erläuterten Phasen ihre veränderte gegenwärtige sowie ihre antizipierte zukünftige Daseinsweise im Kontext ihrer chronischen Krankheit wahrnehmen.
5.4
Die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise im Kontext chronischen Krankseins durch den chronisch kranken Menschen
Basierend auf den erläuterten Phasen 1 – 3 laufen kontinuierlich Wahrnehmungs- und Beurteilungsprozesse chronisch Kranker hinsichtlich ihrer krankheitsbedingt veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise ab (Phase 4). Dies geschieht, indem der Kranke seine Daseinsweise anhand der von ihm subjektiv erlebten gegenwärtigen sowie antizipierten intrapersonalen und kontextuellen Faktoren fortlaufend wahrnimmt, interpretiert und beurteilt. Im Zentrum dieser Prozesse stehen Vergleiche der gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise, mit den von einem Kranken gewollten und ungewollten Daseinsweisen. Es erfolgt ein fortlaufender Abgleich zwischen dem Ist-Zustand des eigenen Daseins und dem gewollten und ungewollten Soll-Zustand. Neben den in den Phasen 1 – 3 erläuterten Faktoren werden dabei weitere, bislang noch nicht beschriebene intrapersonale und kon-
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
textuelle Faktoren berücksichtigt, die ebenfalls im konzeptuellen Modell aufgeführt sind (siehe Abbildung 25a-25b, S. 144 – 145). Es handelt sich dabei um den Gesundheitszustand und dessen Verlauf sowie um die Möglichkeiten, die Bedeutung und die Wirkung der medizinischen Versorgung. Auch das Dasein Kranker in ihrer gewohnten häuslichen Lebenswelt, der Übergang von dieser in eine Institution des Gesundheitswesens sowie das Erleben des Daseins innerhalb einer solchen Institution sind relevant. Ebenfalls von Bedeutung sind Faktoren des gesellschaftlichen Kontextes, des Sozialsystems, Gegebenheiten und Versorgungsleistungen innerhalb des Gesundheitswesens, die Existenz, Legitimität und Rechtsvorschriften betreffend der Beihilfe zum Suizid und die Suizidbeihilfe(-organisationen), finanzielle Aspekte, das biologische Lebensende und antizipierte Zustandsdimensionen der eigenen Daseinsweise. Diese intrapersonalen und kontextuellen Faktoren werden im Folgenden erklärt.
5.4.1 Der Gesundheitszustand und dessen Verlauf 5.4.1.1 Unheilbar chronisch krank sein und bleiben Mit der Unheilbarkeit einer Krankheit und deren Folgen ist verbunden, dass auch gesundheitliche Beeinträchtigungen häufig chronisch sind. Durch die Aufklärung ihrer Ärzte wird den Patienten bewusst, dass sie unheilbar krank sind und bleiben werden. Einige leiden an Krankheiten, über die bislang kaum Erkenntnisse vorliegen. Manche sind bereits ihr Leben lang unheilbar krank und weisen chronische gesundheitliche Schwierigkeiten auf. Die Folgen unheilbaren Krankseins sind bei einigen Erkrankten Hoffnungslosigkeit, der Entscheid, auf bestimmte medizinische Behandlungen zu verzichten, sowie Fragen zur verbleibenden Lebensdauer. Hr. Niederberger : »Aber am anderen Tag, da kam der Onkologe und äh, sagte mir um was es geht, und er war sehr offen. Ich bat ihn auch, sehr offen zu sein, und er sagte mir einfach, dass es ein unheilbarer Krebs ist – mit Metastasen. – Metastasen im Rücken, Metastasen hier und dort und offenbar deshalb auch die Aussage, unheilbar. Und auf meine Frage, die dann natürlich recht rasch kam, ja: ›Was heißt das bezüglich Lebensdauer?‹« (Herr Niederberger, D: 71 – 75).
Zu wissen, dass es für die eigene Erkrankung keine Heilung gibt, dass bestehende, unerträgliche physische Krankheitssymptome und damit verbundene Beeinträchtigungen aller Wahrscheinlichkeit nach lebenslang bestehen bleiben und die einem verbleibende Lebensdauer voraussichtlich relativ kurz ist, nimmt manchen Kranken die Aussicht auf Besserung und lässt einige Suizid(-beihilfe) erwägen.
Die subjektive Wahrnehmung
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5.4.1.2 Altersschwäche Mehrere Kranke erleben, dass ihre Gesundheit und deren Verlauf sich mit zunehmendem Alter zusätzlich verändern, indem ihre körperlichen Kräfte nachlassen, und sie gebrechlich werden. Fr. Odermatt: »Und ich muss auch sagen, das habe ich auch dem xy (Konsiliararzt der Suizidbeihilfeorganisation) gesagt, – eben, wir haben ziemlich lange geredet – und, ich meine, nach all den Operationen, die ich hatte, früher – und äh, da bin ich gut drüber weggekommen. Ich habe eigentlich keine Erinnerungen an die Schmerzen von damals, sondern, es gibt – aber, eben, man war jünger, man hatte noch Kraft, man hatte noch – man war nicht so müde und nicht so hinfällig, hinfällig, ja. […].« (Frau Odermatt, EV: 380).
5.4.1.3 Prognosen zur Krankheit und Lebensdauer Abhängig von der Art und Weise der Mitteilung der ärztlichen Prognose wächst bei manchen Kranken Hoffnung, dass ihre Krankheit gestoppt oder hinausgezögert wird und noch eine gewisse Lebensqualität erreicht werden kann. Bei anderen zeigt sich, dass schlechte Prognosen hinsichtlich des Krankheitsverlaufs und der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten sowie die daraus abgeleitete Erkenntnis, dass es mit ihnen vermutlich nicht mehr besser wird, an ihnen nagen. Infolge geringer Erfolgschancen medizinischer Behandlungen sinkt ihre Behandlungsbereitschaft. Ausgehend von den ärztlichen Prognosen zur Entwicklung ihrer Krankheit und der Behandlungsmöglichkeiten denken manche Patienten, dass ihre Lebenserwartung möglicherweise noch mehrere Jahre beträgt. Anderen Kranken wird von Ärzten prognostiziert, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben haben. Die Prognose einer kurzen verbleibenden Lebenszeit löst bei manchen Kranken Ungewissheit und Angst aus und veranlasst einige dazu, ihr Leben in absehbarer Zeit beenden zu wollen, weil sie, um durch Suizidbeihilfe sterben zu können, die dafür erforderlichen Voraussetzungen erfüllen müssen. I: »Hat man Ihnen auch gesagt, wie lange Sie allenfalls noch zu leben haben?« Fr. Jost: »Zuerst hat man gesagt, es könnte noch Tage gehen. Es könnte Wochen gehen. Es kann aber auch sehr kurz sein. Da habe ich gedacht: lieber gleich.« (Frau Jost, AF: 563 – 566).
5.4.1.4 Das Erleben des Symptomverlaufs und von dessen Auswirkungen Es zeigt sich, dass manche Kranke kaum Krankheitssymptome und damit verbundene Leiden aufweisen. Einige erleben einen Rückgang ihrer Symptome und Beschwerlichkeiten, für andere sind ihre Symptome und Beeinträchtigungen nicht oder weniger schlimm und dadurch erträglich. Es gibt aber auch Kranke,
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die sich verstärkende, kraftraubende, belastende, nahezu unerträgliche Krankheitssymptome und Zustände erleben, die eine Häufung von sich gegenseitig bedingenden Symptomen und deren Behandlung erfahren und die nie frei von belastenden Symptomen sind. I: »Wie ist das bezüglich der Schmerzen, Sie haben gesagt, die Schmerzen sind vor allem beim Gehen da. Was nehmen Sie denn gegen die Schmerzen oder was haben Sie an Medikamenten verschrieben bekommen?« Hr. Mosimann: »Ja, eine ganze Masse, äh, also, zum Beispiel, äh, MST (Morphin), wenn Ihnen das etwas sagt, also, 30 Milligramm sind das. Die Konsequenz davon ist, dass ich kolossal verstopft gewesen bin. Dann musste ich immer wieder Mittel nehmen zum Abführen, und dann ist mir ständig schlecht gewesen. Dann hat man wieder Mittel nehmen müssen gegen das Schlechtsein und so, und dazu habe ich noch ein bisschen Voltaren, so zwei Tabletten am Tag, – ja, das ist es dann eigentlich.« (Herr Mosimann, C: 29 – 30).
Das Anhalten von belastenden, unerträglichen Symptomerfahrungen und deren Auswirkungen sowie das Wissen, dass diese höchstwahrscheinlich lebenslang bestehen bleiben, tragen dazu bei, dass manche Kranke sich ratlos fühlen, sie sich nicht zurechtfinden, entsprechende Symptome nicht noch einmal erleben wollen, so nicht am Leben bleiben wollen und folglich Maßnahmen für einen Suizid oder die Suizidbeihilfe einleiten. Werden belastende Symptome mittels medizinischer Therapien unter Kontrolle gebracht und für Kranke dadurch erträglich, bewirkt das, dass, solange sie ihre Beschwerden im Griff sind, bereit sind, weiterzuleben und dass sie Abstand davon nehmen, ihr Leben beenden zu wollen. 5.4.1.5 Die Entwicklung des Gesundheitszustandes Abhängig vom Erleben des Symptomverlaufs nehmen Kranke eine sich bessernde, eine beständig positive oder negative oder eine sich verschlechternde Entwicklung ihres Gesundheitszustandes wahr. Kranke, die einen Rückgang von Symptomen und deren Auswirkungen erfahren, ihre physischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zurückerlangen oder positive medizinische Untersuchungsbefunde mitgeteilt bekommen, fühlen sich physisch und psychisch besser und erleben dadurch eine positive Entwicklung ihres Gesundheitszustandes. Eine Besserung des Gesundheitszustandes zu spüren, fördert ihr Wohlbefinden, löst Zuversicht aus und entflammt ihren Lebenswillen. Fr. Kirchhofer : –– »Und mittlerweile spüre ich wieder, dass ich langsam wieder zu Kräften komme, also, doch im Moment ein bisschen zuversichtlicher bin, auch was die Chemo betrifft, in der Hoffnung, also, wirklich, dass es – für mich einigermaßen mild abläuft, – und dass es auch was bewirkt – aber ich denke, es wirkt eben schon, nachdem ich jetzt spüre, dass es ––– einige Fortschritte gibt. – So ganz kleine.« – I: »Woran machen die sich für Sie fest, die Fortschritte, was erleben Sie?« Fr. Kirchhofer : »In der
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Bewegung, also, im Aufsitzen können, jetzt, ein Stück weit von selbst, am Anfang konnte ich mich nicht einmal drehen im Bett, jetzt geht es ein bisschen – es geht, der Transfer vom Bett in den Rollstuhl geht schon recht gut, der ging am Anfang gar nicht. – Das Essen natürlich.« ––– I: »Der Geschmack?« Fr. Kirchhofer : »Der Geschmack, ja, der Humor kommt langsam wieder (wir lachen), schleicht sich wieder ein. Ja, und ich schlafe nicht mehr den ganzen Tag, also –– und ich befasse mich in Gedanken wieder ein bisschen mit Malen, vielleicht, dass ich doch wieder ein bisschen, – so wenigstens kleine Farbstiftzeichnungen oder Aquarelle machen kann.« (Frau Kirchhofer, BI: 117 – 131).
Einige Kranke erleben eine positive Stabilität oder ihr Gesundheitszustand bessert sich nicht. Andere erfahren durch die Progression ihrer Krankheit, das Neuauftreten zusätzlicher gesundheitlicher Veränderungen, Beschwerden oder Nebenwirkungen therapeutischer Eingriffe eine sich fortsetzende Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation. Die Folgen fortschreitender gesundheitlicher Verschlechterung sind eine ungewollte Beeinträchtigung ihrer privaten und beruflichen Beschäftigung, des sozialen Lebens, der Selbstständigkeit, der Lebensqualität, der Bewältigung des häuslichen Alltags, der örtlichen und räumlichen Lebenswelt. Entmutigende und zermürbende Auswirkungen beeinflussen das psychische Befinden der Kranken. Die Daseinswahrnehmung mehrerer Kranker wird ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, das heißt, ihr Lebensgefühl, ihre Lebenskraft, ihr Lebensmut und ihr Lebenswille leiden darunter. Trotz solcher Auswirkungen probieren manche, solange es für sie erträglich ist, am Leben zu bleiben. Merken Kranke, die den Weg der Suizidbeihilfe präferieren, dass im Zuge gesundheitlicher Verschlechterung ihre dafür erforderliche Urteilsfähigkeit und ihre funktionellen Fähigkeiten gefährdet sind oder dass sie ihrem Dasein nicht mehr gewachsen sind, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie in ihrem Entscheidungsprozess, zu sterben, voranschreiten, bereit sind, durch Suizid(-beihilfe) aus dem Leben zu gehen und zu ihrer Vorbereitung oder Erlösung diesbezügliche Maßnahmen ergreifen. Die gesundheitliche Verschlechterung sowie damit einhergehende drohende Verlust an Fähigkeiten, die zur Inanspruchnahme der Beihilfe zum Suizid erforderlich sind, drängen diesbezüglich Interessierte dazu, Entscheidungen über den Zeitpunkt ihres Sterbens durch Suizidbeihilfe zu treffen, wenn sie diese Möglichkeit nicht aufs Spiel setzen wollen.
5.4.2 Möglichkeiten, Bedeutung und Wirkung der medizinischen Versorgung Die medizinische Versorgung umfasst die Wahrnehmung und Beurteilung chronisch Kranker bezüglich der Verfügbarkeit medizinischer Behandlungsmöglichkeiten, die Hilfsmittel zum Ausgleich physischer Beeinträchtigungen,
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die Wirkung medizinischer Behandlungen und deren Bedeutung, die Beziehungsqualität zu den Ärzten sowie die emotionalen Reaktionen der Kranken auf das Versorgungserleben durch Gesundheitsfachpersonen. 5.4.2.1 Medizinisch-therapeutische Behandlungsmöglichkeiten Chronisch krank bedeutet, dass es für die Erkrankten noch keine Heilung (-smöglichkeiten) gibt. Während einige Kranke von Gesundheitsfachpersonen darüber informiert werden, dass Behandlungsmöglichkeiten existieren, mit denen das Fortschreiten ihrer Krankheit hinausgezögert, ihre Lebensqualität verbessert und ihr Leben verlängert werden kann, erfahren andere, dass für ihre Beschwerden keine Therapiemöglichkeiten existieren, ihre Beschwerden von medizinischer Seite nicht gelindert werden können und Ärzte nichts für sie tun oder ihnen nicht helfen können. Die Erkenntnis der Kranken, dass keine Heilungschancen bestehen, der Umstand, dass Gesundheitsfachpersonen ihnen keine Hoffnung machen oder ihnen mitteilen, dass nur eine geringe Chance auf einen Behandlungserfolg besteht, lässt manche abwägen, ob und was sie an therapeutischen Maßnahmen überhaupt machen lassen. Die fehlende oder vorhandene Zuversicht, dass es Hoffnung gibt, beeinflusst das Ergebnis des medizinisch-therapeutischen Entscheidungsverhaltens der Kranken. Manche entscheiden aufgrund der Mitteilung, dass es für ihre Krankheit keine Heilung gibt, gewissermaßen unmittelbar, lieber durch Suizidbeihilfe zu sterben, als auf ihr biologisches Lebensende zu warten. Fr. Rickenbach: »[…]. Das letzte Jahr, ich wollte wegen dem Schwindel dann auch unbedingt noch – es kam da einmal im Puls auf dem Schweizer Fernsehen ein Arzt, eine Serie über Schwindel. Wo sie Ärzte hatten, die Schwindel behandelten, und die sind im xy Krankenhaus (Name des Krankenhauses). Und ich wollte unbedingt zu so einem Arzt und noch abklären, ob nicht eventuell doch noch etwas zu machen ist gegen diesen Schwindel, oder. Und dann haben dann die – bin ich dann da hinauf, hatte einen Termin am xy (Datum) September, letztes Jahr, wegen dieser ganzen Geschichte. Und dann kam ich zum Arzt rein, und der hat mir gesagt, dass Antibiotika das Gleichgewichtsorgan im Ohr zerstören können. Und dass ich das hätte. Dass mir die vielen Antibiotika, die ich bekommen hätte, mein Gleichgewichtsorgan zerstört hätten, und darum sei ich, das könne man nicht operieren, man könne gar nichts machen. Darum hätte ich so Schwindel. Und ich habe das nicht geglaubt. Wobei, ich muss sagen, die haben mich nicht untersucht.« (Frau Rickenbach, P: 272 – 273).
5.4.2.2 Hilfsmittel zum Ausgleich physischer Beeinträchtigungen Mit Blick auf Hilfsmittel zum Ausgleich physischer Beeinträchtigungen zeigt sich, dass manche Kranke aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmittel im Leben zurechtkommen. Diese Erfahrung weisen haupt-
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sächlich solche Kranken auf, die ihr Dasein bereits seit Jahrzehnten mit bestehenden körperlichen Behinderungen führen, und gelernt haben, entsprechende Mittel für sich zu nutzen. Hr. Frey : »[…]. Man gewöhnt sich dann dran, dass trotz der Behinderung eigentlich vieles möglich ist. Und auch mit der Technik heutzutage. Dass ich eigentlich sehr selbstständig sein kann. Dass ich – ich brauche zwar schon immer eine Person in der Nähe wegen dem Beatmungsgerät. Falls der Schlauch abfällt. Aber sonst kann ich alleine den PC bedienen, schreiben, meine E-Mails verschicken. Ich kann selbst telefonieren, alles. Und das – wenn ich dann im Bett bin, auf der Seite liege, dann kann ich den Computer zum Beispiel nicht bedienen. Dann ist man schon wieder ein bisschen ausgeliefert, auch. Wieder mehr auf Hilfe angewiesen, man muss wieder rufen. Dass irgend so etwas ist, das ist so ein bisschen – eigentlich, weil die Selbstständigkeit wieder eingeschränkt ist. Das ist eigentlich das Mühsame.« I: »Sind Sie dann am selbstständigsten, sozusagen, wenn Sie in Ihrem Rollstuhl sitzen oder? – Hr. Frey : »Am meisten, ja. Dann schon. Dann – ja.« I: »Äh, sind Sie so in einem bedienerfreundlichen –?« Hr. Frey : »Ja, also, ich kann zwar nicht alleine rausgehen, aus der Wohnung. Ich brauche schon eine Begleitung. Aber ich kann, ja, soweit ich will, tun und lassen, was ich möchte, ja. Ohne immer jemanden zu rufen oder so, ja.« (Herr Frey, AM: 104 – 110).
5.4.2.3 Die Bedeutung der medizinisch-therapeutischen Versorgung Für manche Patienten stimmt ihre medizinisch-therapeutische Versorgung. Dies trifft vor allem dann zu, wenn physische Beschwerden erträglich werden, medizinische Behandlungsoptionen und Versorgungsvorschläge mit den Werten, Präferenzen und Bedürfnissen der Patienten vereinbar und zufriedenstellend sind, kaum oder keine Nebenwirkungen auftreten und die Behandlung dadurch erträglich ist. Einige Patienten erleben eine gewisse Erhaltung ihrer Lebensqualität oder sogar eine Verbesserung und erfahren dadurch, dass es mit ihnen nicht ausschließlich »bergab geht«, sondern dass sich ihr Befinden auch wieder bessert. Manche haben Angst vor medizinischen Eingriffen, fürchten Nebenwirkungen oder sind bestimmten Therapieansätzen gegenüber so abgeneigt, dass sich das auf ihr Adhärenzverhalten in Bezug auf die Krankheitsbehandlung und die damit verbundene Linderung ihrer Symptome negativ auswirkt. Dies ist vor allem der Fall, wenn Behandlungsoptionen und -vorschläge den Vorstellungen der Kranken zuwiderlaufen oder der Erfolg medizinischer Behandlungen unsicher ist. Durch medizinische Therapien werden auch belastende, funktionsbeeinträchtigende Nebenwirkungen erfahren. Einige Nebenwirkungen machen die von Kranken schwer errungenen Fortschritte innert kurzer Zeit zunichte, sodass die Funktionen wieder zurückgewonnen werden müssen. Manche Kranke dürfen aufgrund ihrer medikamentösen Behandlung bestimmten Aktivitäten, die ihr Wohlbefinden steigern würden, nicht mehr nachgehen und erfahren dadurch eine Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität.
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Tritt infolge der medizinischen Versorgung keine Besserung ein, sondern treten stetig neue Beschwerden auf, kann das die Hoffnung auf Besserung zunichtemachen oder verringern, da die Kranken aus ihrem Verständnis heraus nur negative Erfahrungen machen. Bringen therapeutische Ansätze nicht die erwünschte Linderung, sondern verschlechtert sich durch sie das subjektive Befinden zusätzlich, mindert dies das Adhärenzverhalten Kranker und begünstigt hinsichtlich der Medikamenteneinnahme non-adhärentes Verhalten. Fr. Rickenbach: »Ich muss, wenn ich Schmerzen habe, muss ich Morphium nehmen. Ich spritze mir das selbst. Ich habe immer Morphium zu Hause, damit ich, wenn ich Schmerzen bekomme, mir das selbst spritzen kann. Und das ist, also, bis heute so. Ich habe gerade vor ein paar Wochen wieder so einen Schmerzschub gehabt, wo ich wieder vier Spritzen Morphium gebraucht habe. Und das ist schon happig, also, das ist heavy.« I: »Wie oft spritzen Sie denn so am Tag?« Fr. Rickenbach: »Also, ja am Tag nur eine. Also, ich hüte mich, zwei zu spritzen. Weil, ich hasse das. […]. Ich bin ein Mensch, ich muss einen klaren Kopf haben. Äh, ich muss sehen, was um mich herum passiert, ich muss da sein können. Und mit dem Zeug sind Sie das nicht, da schweben Sie irgendwo zwischen Himmel und Erde. Und mir ist das absolut widerlich, also, ich hasse das. Und ich schiebe die Spritze so lange wie möglich raus. Ich denke nachher immer : Ou, du bist ein Idiot gewesen, wieso wartest du so lange. Wenn ich früher spritzen würde, würde es wahrscheinlich auch eher wirken, oder. Aber ich ziehe es dann so lange raus und versuche es mit anderen Medikamenten wegzukriegen, und es nützt dann einfach nichts. Und nach einer Woche muss ich trotzdem eine Spritze machen. Und dann brauche ich drei, vier Spritzen, bis es etwas nützt. Würde ich es am Anfang machen, würde vielleicht eine etwas nützen. Das ist ein Problem, das ich mit mir habe, weil ich einfach diese Spritzen so hasse […]. Da schweben sie dann irgendwo, und bei mir ist es dann eben noch so, dass ich wahnsinnig gegen diese Spritze ankämpfe. Eben gegen diese Wirkung, äh, – dieses Neblige. Und äh das ist eigentlich ein Blödsinn. Ich sollte mich eigentlich einfach fallen lassen. Dann könnte die Spritze auch wirken. Aber ich kämpfe so gegen die Spritze an, dass sie manchmal gar nicht mehr wirkt. […]. Ich hasse Spritzen, immer schon gehasst und werde es in Zukunft hassen. Man gewöhnt sich nie daran, wenn man das selbst muss. Also, ich gewöhne mich nicht daran, bis heute nicht. […].« (Frau Rickenbach, P: 19 – 23).
Die Nebenwirkungen medizinischer Therapien und deren Auswirkungen, die Mitteilung schlechter Untersuchungsbefunde und therapiebedingte Beeinträchtigungen der Lebensqualität nagen am Durchhaltevermögen mancher Kranker. Das Anhalten einer Verschlechterung der Situation und damit einhergehende unerwünschte Daseinszustände bringen manche an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, rufen bei manchen Gefühle hervor, den Zustand nicht lange durchzuhalten, sowie Gedanken, nicht mehr (leben) »zu mögen«.
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5.4.2.4 Die Wirkung der medizinisch-therapeutischen Versorgung durch (Gesundheits-)Fachpersonen und deren Bedeutung Einige Kranke erleben infolge eines wirksamen Symptommanagements durch Gesundheitsfachpersonen, dass andere oder sie selbst ihre Symptome beherrschen und diese auf ein für sie erträgliches Maß lindern. Sie merken, dass sie sich körperlich erholen, ihre Fähigkeiten wieder zurückkehren selbstständig zu etwas machen, sie sich wieder mit etwas befassen können. Dadurch stellen sie eine Besserung ihrer Beschwerden fest. Andere erleben durch die medizinische Behandlung eine Besserung und gleichzeitig aufgrund von Nebenwirkungen eine Verschlechterung oder statt der erhofften Besserung generell eine Verschlechterung ihres Zustandes. Für manche verändert sich nichts, da ihr Zustand gleich bleibt. Es gibt auch Patienten, die aufgrund ihrer in der medizinischen Versorgung unberücksichtigten individuellen Werte und Präferenzen ein für sie ungeeignetes Symptommanagement und erfolglose therapeutische Anstrengungen erleben und deshalb keine Besserung ihrer Beschwerden verspüren. Manche stellen fest, dass medizinisch-therapeutische Behandlungen und der Einsatz von Hilfsmitteln zur Linderung ihrer Beschwerden nicht viel nutzen oder für sie gänzlich nutzlos sind. Es gibt auch Kranke, welche die Erfahrung machen, dass die von medizinischer Seite gängige Behauptung, dass Symptome wie zum Beispiel Schmerzen heutzutage in den Griff zu bekommen seien, in ihrem Fall nicht zutreffend ist. Wenn sich aus der medizinischen Versorgung für Kranke hingegen ein Nutzen ergibt oder sie sich durch die Versorgung von Gesundheitsfachpersonen unterstützt fühlen, erfahren sie dadurch Zuversicht und fühlen sich gut betreut, was ihre Bereitschaft, am Leben zu bleiben, positiv beeinflusst. So zeigt sich, dass eine wirksame medizinisch-therapeutische Versorgung, zum Beispiel ein wirksames Symptommanagement, das subjektive Befinden verbessert und zur Erträglichkeit des Daseins beiträgt. Gesundheitliche Besserung, kleine Fortschritte, das Wiedererlangen verloren geglaubter Fähigkeiten oder die Möglichkeit, selbstständig etwas machen zu können, gibt chronisch Kranken ein Stück Lebensqualität zurück, lässt eine gewisse Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Dasein entstehen und gibt ihnen Kraft, Zuversicht und Hoffnung, weiterzuleben. Gegensätzlich dazu bewirkt eine für Patienten unwirksame, nutzlose Versorgung, dass manche weniger bereit sind, sich medizinisch behandeln zu lassen, oder irgendwann jegliche Behandlungen komplett ablehnen. Wenn Patienten trotz therapeutischer Interventionen keine Besserung der für sie unerträglichen Beschwerden feststellen, diese nicht mehr aushalten können oder Schwierigkeiten haben, ihr Dasein unter derartigen Umständen zu akzeptieren, mindern solche Umstände ihre Lebenslust, schmälern ihren Lebenssinn und tragen dazu bei, dass sie sich mit ihrer Daseinsweise nicht zurechtfinden. Derartige Erfahrungen lösen bei chronisch Kranken Ge-
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danken darüber aus, ob sie am Leben bleiben oder durch Suizid(-beihilfe) sterben wollen, oder sie veranlassen manche, ihren diesbezüglichen Entscheid in die Tat umzusetzen. Hr. Imhof: »Als sie die Schmerzen nicht in den Griff bekommen haben, mit den Spritzen … Das war – und ich –– ich habe dann Schlaftabletten genommen.« I: »Mhm. Wieso haben Sie die Schlaftabletten genommen?« Hr. Imhof: »Ja, weil es einfach – die Schmerzen ziemlich stark waren.« I: »Mhm, mhm. Was wollten Sie mit den Schlaftabletten?« Hr. Imhof: »Ja, hä, was macht man? Aber die genügen nicht, habe ich gemerkt.« I: »Wollten Sie nicht mehr leben?« Hr. Imhof: »Nein.« I: »Mhm, mhm. Und was war so das Schlimmste, was dazu geführt hat, dass Sie gesagt haben: Jetzt mag ich nicht mehr?« Hr. Imhof: »Ja, die Schmerzen. Sie haben sie nicht in den Griff bekommen.« I: »Mhm, mhm. Und da haben Sie keinen anderen Weg mehr gesehen?« Hr. Imhof: »Jaja.« (Herr Imhof, AG: 158 – 170).
Zur Wirkung der medizinisch-therapeutischen Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen zählt auch, wie Kranke die Beziehungsqualität zwischen sich und Ärzten und die damit verbundenen emotionalen Reaktionen erleben. Besteht zwischen Leidenden und Ärzten ein Vertrauensverhältnis, ein Einvernehmen und findet eine annehmbare Kommunikation über das Thema Suizidbeihilfe statt, erleben Patienten die Qualität der Beziehung zwischen sich und ihrem Arzt als (relativ) gut. Manche Patienten haben Angst davor, mit ihrem Arzt über Suizidbeihilfe zu kommunizieren, und bekommen aufgrund dessen ein schlechtes Gewissen, weil sie ihren Arzt mit der Suizidbeihilfe konfrontieren. Mit seinem Arzt nicht wie erhofft über dieses Thema sprechen zu können sowie das Gefühl zu haben, bei Ärzten nicht gut aufgehoben zu sein, belastet das Erleben der Beziehungsqualität. Wenig hilfreich erleben Patienten den Umstand, dass Ärzte, die ihnen keine Handlungsalternativen anbieten, keine Bereitschaft zeigen, ihnen krankheitsbedingte Qualen und Leiden zu ersparen, oder ihnen sagen, dass sie nichts für sie tun können. Manche Ärzte sind gegen Suizidbeihilfe (-organisationen) und lehnen es ab, Patienten, welche die Voraussetzungen für Suizidbeihilfe erfüllen, ein ärztliches Zeugnis und das Rezept auszustellen, das ihnen die Option eröffnen würde, durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen. Derartige Beziehungssituationen und Verhaltensweisen bewirken, dass manche Patienten sich von Ärzten im Stich gelassen fühlen. Einige Kranke fühlen sich von Gesundheitsfachpersonen nicht verstanden und sind über das Symptommanagement, das Kommunikations- und Behandlungsverhalten von Ärzten und von der Medizin an sich enttäuscht. Manche fühlen sich im Umgang mit ihrem Dasein im Kontext ihrer Krankheit weitestgehend alleine, andere erleben sich hinsichtlich der Suizidbeihilfe mit ihren Vorbereitungen allein gelassen und belastet.
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5.4.3 Bedingungen der Lebenswelt Neben dem Gesundheitszustand und dessen Verlauf, den Möglichkeiten, der Bedeutung und der Wirkung der medizinischen Versorgung berücksichtigen die in dieser Phase ablaufenden Wahrnehmungs- und Beurteilungsprozesse der Kranken auch die Bedingungen ihrer Lebenswelt. Damit ist ihr Dasein in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung gemeint, die Transition von der gewohnten Lebenswelt in eine Institution des Gesundheitswesens sowie das Dasein innerhalb einer Institution des Gesundheitswesens. 5.4.3.1 Das Dasein in der gewohnten häuslichen Lebenswelt Mehrere Kranke erfreuen sich an ihrem Dasein in der ihnen vertrauten häuslichen Lebenswelt. Manche erleben, dass sie trotz gravierender krankheitsbedingter Beeinträchtigungen noch gut in ihrer häuslichen Umgebung zurechtkommen, durch diesen Umstand Kraft erfahren und am Leben bleiben wollen. Nehmen die Krankheit und deren Auswirkungen Kranken hingegen ihre Bewegungsfreiheit, sodass sie ihre häusliche Umgebung kaum verlassen können und dadurch sozial isoliert sind, wird das häusliche Dasein zu einer Belastung. Manche erleben, dass sie bedingt durch die aufgetretenen Krankheitsereignisse, die erfolglose medizinische Behandlung, die bleibenden funktionellen Beeinträchtigungen und die ungeeigneten Wohnverhältnisse nicht mehr länger zu Hause bleiben können. Da es für sie immer schwieriger wird, weiterhin zu Hause zu wohnen, wird für sie ein Umzug in ein Alters- oder Pflegeheim wahrscheinlicher und die Aufgabe der eigenen Wohnung absehbar. I: »Erleben Sie auch mal wieder Tage, wo es ab und zu etwas besser geht?« Fr. Odermatt: »Ja, das schon. Aber, die sind seltener, die werden ständig seltener. – Ich meine, auch, also, am Donnerstag, als meine Hilfe (private Haushaltshilfe) kam, ich dachte am Morgen: Ich kann nicht aufstehen, ich habe das – ich bin der Sache nicht gewachsen. Wobei wir ja dann noch einkaufen gehen und zusammen essen gehen und so.« I: »Ah, ja, das machen Sie dann auch, wenn sie da ist?« Fr. Odermatt: »Wenn sie da ist, aber das ist, also, da bin ich – ich muss mich einfach wahnsinnig zusammennehmen. […]. Ich habe ihr gesagt: ›Also, man müsste mich jetzt aus dem Verkehr ziehen.‹ Ähm, aber, das bedeutet Altersheim. […].« I: »Haben Sie da auch mit Ihrer Familie oder irgendjemandem darüber gesprochen, dass Sie sich nicht vorstellen können, ins Altersheim zu gehen? Weil das haben Sie ja mal gesagt.« Fr. Odermatt: »Nein, nein. Altersheim kommt nicht infrage.« (Frau Odermatt, EV: 185 – 190).
Chronisch Kranke, die nicht dazu bereit sind, in eine Institution des Gesundheitswesens zu ziehen, und in der Suizidbeihilfe einen Weg für sich sehen, kommen in der Folge an den Punkt, wo sie sich an eine Suizidbeihilfeorganisation wenden und bevorzugen, durch Suizidbeihilfe zu sterben.
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5.4.3.2 Transition von der gewohnten, häuslichen Lebenswelt in eine Institution des Gesundheitswesens Eine Transition in eine Institution des Gesundheitswesens kann bedeuten, seine vertraute Lebenswelt aufzugeben, seine Wohnung aufzulösen, das heißt, sich von einem Großteil der Dinge, mit denen man verbunden war, trennen zu müssen. Manche Kranke kommen vom Krankenhaus oder der Rehabilitation nie mehr in ihr Zuhause zurück. Sie müssen ihr Zuhause aufgeben, ohne dieses vorher noch einmal aufsuchen zu können. Die Gestaltung und das subjektive Erleben der Transition von der häuslichen Lebenswelt in eine Institution des Gesundheitswesen ist von zentraler Bedeutung, denn ob diese mit den Vorstellungen Kranker harmoniert oder nicht und wie eine Transition abläuft, beeinflusst das psychische Befinden. Anhand Kranker, die in eine Institution des Gesundheitswesens gezogen sind, zeigt sich, dass es ein wesentlicher Unterschied ist, ob sie gewollt und geplant in eine Institution eingetreten sind, sich überlegen konnten, wohin sie wann ziehen und was sie dorthin mitnehmen möchten, oder ob der Einzug ungewollt, notgedrungen und unvorbereitet erfolgte. Der Umstand, ungewollt in eine Institution des Gesundheitswesens zu ziehen und seine Lebenswelt zurücklassen zu müssen, ohne davon Abschied genommen zu haben, hinterlässt bei manchen ein Trauma. Negative Erfahrungen mit der Transition von der häuslichen in eine institutionelle Umgebung, sich gegen seinen Willen damit abfinden zu müssen, in einer Institution des Gesundheitswesens zu sein und bleiben zu müssen, verursachen seelische Schmerzen. In der Folge können solche Leidenden deprimiert und depressiv werden und mit Sterbewünschen oder Suizidüberlegungen reagieren. Fr. Burri: »Und dann, natürlich die anderen Pensionäre, sie können ein paar Tage oder vielleicht eine Woche sich bereit machen und denken: So, jetzt gehe ich ins Altersheim und ich nehme, was ich gerne habe von den Möbeln. Ich bin gegangen von zu Hause, am 1. Januar, ohne Taschentuch. Und ich bin nie mehr in meine Wohnung.« I: »Sind Sie nachher auch nicht mehr?« Fr. Burri: »Nicht mehr. Weil, äh, es gab schon einen Lift, aber es gab auch Treppen, oder, von der Haustüre bis zum Lift. Und ich konnte nie mehr in meine Wohnung. Und das war für mich schrecklich schwer. Und dann, äh, ja, das war einfach, äh, ganz deprimierend. Ich habe viele Male geweint und eine Depression gemacht. […].« (Frau Burri. I: 34 – 36).
5.4.3.3 Das Dasein in einer Institution des Gesundheitswesens Für Erkrankte, die in einer Institution des Gesundheitswesens wohnen, ist von Bedeutung, wie sie die Gestaltung ihres Daseins innerhalb des institutionellen Kontextes erleben. Das heißt, ob sie ihr Dasein an einem solchen Ort als angenehm und akzeptabel oder als unbefriedigend und unannehmbar erfahren. Institutionelle Gegebenheiten, wie eine den Bewohnern zugewandte Grund-
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haltung, den individuellen Bedürfnissen entsprechender Wohnraum, ansprechende Beschäftigungsmöglichkeiten, eine geschmackvolle Einrichtung, eine gute, bedürfnisorientierte pflegerische Versorgungsqualität, gute Verpflegung und ein guter Ruf der Institution geben das Gefühl, gut aufgehoben zu sein, ermöglichen ein interessantes Dasein zu führen und die Vorteile des Daseins in einer Institution zu sehen. Solche Umstände tragen dazu bei, dass Kranke ihr Dasein in einer Institution als angenehm und akzeptabel wahrnehmen und sich wohlfühlen, wodurch sie Kraft zum Weiterleben erfahren. Erleben sie hingegen, dass ihre pflegerische Versorgungsqualität von Lieblosigkeit, Gefühlskälte, Gleichgültigkeit oder Verständnislosigkeit geprägt ist, Hilfsmittel nicht bedürfnisgerecht oder unzureichend sind, das heißt, diese an ihren Bedürfnissen, Werten und Präferenzen vorbeigehen, das Pflegeverständnis fragwürdig ist, der Umgang mit ihnen unangemessen, nachlässig und demütigend ist, Diskontinuität in der pflegerischen Betreuung besteht, die räumliche Unterbringung unbefriedigend und ihr Alltag uninteressant ist, aufgrund dementer Mitbewohner kaum adäquate Gesprächspartner zugegen sind oder der Ruf der Institution schlecht ist, neigen Kranke dazu, die Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen als nicht gut, wenig unterstützend, nutzlos, enttäuschend, schwierig sowie nicht bedürfnisgerecht, gefährdend, unwürdig oder mangelhaft zu bewerten. Die Konsequenzen daraus sind, dass solche Erkrankten auch ihr Dasein insgesamt als unbefriedigend, belastend und demoralisierend erleben. Hr. Arnold: »Es sind alles junge Leute hier (im Alters- und Pflegeheim) – die lernen, das sind 17-, 18-Jährige, 19-Jährige, 20-Jährige, die in der Lehre sind – und die nehmen das nicht so genau, und von der Heimleitung aus wird gesagt, sie müssen halt sagen, – wie und was. Ja, was will man da sagen, – man merkt es ja erst, – wenn man geputzt wird. Dann sage ich oftmals: ›Sie müssen mich selbst putzen, Sie müssen mich putzen (betont die Worte sehr) wie sich selbst. Sie wissen ja, dass Sie auf dem Klosett sitzen, und Sie müssen mich leider stehend putzen.‹ Dann heißt es: ›Es ist gut. Es ist gereinigt.‹ Es ist gut, sagen sie und dann – dann sieht man es in der Einlage, wenn es dort Kot drin hat, nicht? Dann ist es zu spät, dann ist es passiert. Und ich bekomme sofort, am Hintern, bekomme ich – eine Entzündung, – das ist der Ertrag davon.« I: »Mhm, ja.« Hr. Arnold: »Also, das ist auch eine Qualität. Ich meine, das hat, das ist ja hier auch geschrieben, jetzt ist die Zeitung erschienen, die jetzt seit der Zeit, wo ich hier bin, gekommen ist, diese Zeitung war das, (zeigt mir die Zeitung) in welcher das Alters- und Pflegeheim kritisiert wird.« (Herr Arnold, A: 105 – 113).
Kranke wie diese leiden unter den für sie unbefriedigenden, kontextuell-institutionellen Umständen ihres Daseins. Sie sind ratlos und finden sich mit ihrem Dasein unter derartigen Umständen nicht zurecht. Sie entwickeln den Wunsch, zu sterben, wären am liebsten von ihrem Dasein erlöst und hoffen, nicht mehr lange am Leben zu bleiben, oder beenden ihr Leben durch Suizid(-beihilfe).
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5.4.4 Der gesellschaftliche Kontext Die Wahrnehmung und Beurteilung der Daseinsweise durch die Erkrankten umfasst auch das Erleben der Zeit, in der sie leben, sowie die Haltung und das Verhalten der Gesellschaft ihnen gegenüber. 5.4.4.1 Die Zeit, in der man lebt Zusammen mit anderen Beweggründen kann auch das subjektive Erleben der Zeit, in der Kranke leben, für ihren Entscheid, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, mitunter ausschlaggebend sein. So missfällt manchen zum Beispiel das gegenwärtige Weltgeschehen. I: »Wie ist das denn, helfen ihnen die Schmerzmittel gut oder gibt es Zeiten, wo Sie auch Schmerzen haben?« Fr. Urech: »Nein. Ich bin sozusagen schmerzfrei.« I: »Ah ja. Gut.« Fr. Urech: »Ja. – Aber ich lebe in einer anderen Generation und das Leben, wie es jetzt ist, passt mir nicht mehr. Da passe ich nicht mehr hinein. Das ist mein Problem und deshalb möchte ich eigentlich Exit.« (Frau Urech, X: 51 – 52).
5.4.4.2 Die Haltung und das Verhalten der Gesellschaft gegenüber Kranken Mehrere Erkrankte stellen im Alltag anderen Kranken oder sich selbst gegenüber eine rücksichtslose Haltung von anderen fest. Sie haben den Eindruck, dass Menschen, denen es gesundheitlich gut geht, es nicht schaffen, sich in die Lage der Kranken hineinzuversetzen, und dass sie deren Situation kaum nachvollziehen können. Manche erleben zum Beispiel, dass ihre Probleme von ihren Mitmenschen heruntergespielt und nicht ernst genommen werden. Andere stellen fest, dass sich Gesunde gegenüber offensichtlich beeinträchtigten Kranken distanzieren, sich solchen gegenüber intolerant verhalten und lieber unter Ihresgleichen bleiben. Solches Verhalten verletzt einige Kranke und bewirkt, dass sie sich aus der Gesellschaft zurückziehen. Fr. Spörri: »Wissen Sie, ich könnte da oben essen gehen. Und es ist, ja, wirklich gut – ich bin vorher viel raufgegangen zum Essen. […]. Und seit ich ständig schlechter sehe, habe ich Hemmungen. Und jetzt habe ich noch viel mehr Hemmungen. Da hat mir einmal eine Frau gesagt, – sie ist auch nach oben essen gegangen, – dann habe ich gesagt: ›Und wie hat es Ihnen gefallen?‹ Jaa, es habe ihr nicht gefallen. Sie habe sich schon beschwert. Sie sei mit einer Frau am gleichen Tisch, das passe ihr gar nicht. Sie habe gesagt, sie wolle das nächste Mal einen anderen Tisch. Und nachher habe ich sie dann wieder gesehen, und dann habe ich gesagt: ›So, gefällt es Ihnen jetzt oben beim Essen?‹ Sagt sie: ›Nein, ich gehe jetzt nicht mehr nach oben zum Essen.‹ Ich frage: ›Warum?‹ Sagt sie, jetzt haben sie sie wieder neben eine Frau gesetzt, und die hat den Kopf fast im Teller drin während des Essens. Dann habe ich gesagt: ›Die sieht vielleicht
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auch nicht gut.‹ Sagt sie: ›Das ist mir egal. Also, ich gehe jetzt nicht mehr nach oben zum Essen.‹ ––– Und denen, denen es gut geht, die verstehen die anderen nicht mehr. So ist es. I: Mhm. Hat Sie das eigentlich noch mehr dann – abgehalten von –? Fr. Spörri: Ja, ja. Dann bin ich nicht mehr nach oben zum Essen. Das hat es mir dann vermiest.« I: »Mhm. Ja, das Verständnis, gell?« Fr. Spörri: ––– »Ja, ja. Aber essen würde man, also, sehr gut oben.« (Frau Spörri, O: 923 – 963).
Darüber hinaus gibt es unter chronisch Kranken auch solche, die den Eindruck haben, die Gesellschaft maße sich mittels rechtlicher Bestimmungen an, sie hinsichtlich der Umstände, unter denen sie weiterzuleben haben oder unter denen sie sterben dürfen, fremdzubestimmen.
5.4.5 Das Sozialsystem Als wichtige Faktoren im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Beurteilung der Daseinsweise durch chronisch Kranke, insbesondere solcher, die seit frühester Kindheit mit Behinderungen leben, stellen sich auch die Leistungen des Schweizerischen Sozialsystems sowie Integrationsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen heraus. I: »Und, äh, eben, ich denke, das ist ja auch ein Prozess, wenn Sie sagen, – Sie sind jetzt 35 Jahre?« Hr. Frey : »Ja.« I: »Ja, dann sind ja das schon –.« Hr. Frey : »21 Jahre sind das.« I: »21 Jahre.« Hr. Frey : »Ja.« I: »Ich denke, da wächst man ja auch sicher rein?« Hr. Frey : »Selbstverständlich. Also, man sieht auch immer mehr, dass man vieles machen kann, was die anderen auch tun. Es ist, also, in der Stadt xy (Name der Stadt) nicht so kompliziert. Und sonst muss man einfach vielleicht etwas mehr organisieren oder so. Aber grundsätzlich ist es schon gut, zu sehen, und auch wichtig, dass man etwas tun kann. Zumindest bei uns in der Schweiz und so in umliegenden Ländern ist das eigentlich auch mit dem Sozialsystem schon recht gut, dass man nicht so das Gefühl hat, dass man alleine ist. Ja, man kann sich frei bewegen, so weit es geht und so. Es gibt natürlich viele bauliche Hindernisse, aber das sich erst langsam ändert. Ja.« I: »Also, spüren Sie eine Veränderung über die Jahre, dass sich da was tut? Oder würden Sie sagen, am Anfang, so als Sie 20 waren, war das noch ganz anders und heute ist es schon sehr viel besser, oder?« Hr. Frey : »Also, sehr viel besser nicht. Es ist besser geworden. Also, man merkt es, also, bei Bordsteinen und so, wenn man über die Straße geht, dass das viel mehr abgeflacht wird. Bürgersteige hat das schon, aber sonst, Zugang zu Gebäuden und so ist schon immer noch häufig eingeschränkt. Also, das merkt man in der Stadt xy (Name der Stadt), dass das nicht so (betont) große Fortschritte gemacht hat, wie man es vielleicht erwartet. Oder auch im öffentlichen Verkehr und so. Es kommt langsam. Aber häufig gibt es irgendwelche baulichen Hindernisse, die einfach teilweise auch im Denkmalschutz nicht verändert werden können. Oder einfach Dinge, die man nicht so versteht. Ja.« (Herr Frey, AM: 111 – 120).
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5.4.6 Das Gesundheitswesen Chronisch Kranke betrachten ihr Dasein auch im Kontext der Gegebenheiten im Gesundheitswesen und der Bereitschaft, den Möglichkeiten und Grenzen der Anbieter von Gesundheitsleistungen gefragte Versorgungsleistungen zu erbringen. 5.4.6.1 Gegebenheiten im Gesundheitswesen Mehrere Erkrankte nehmen Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen wie beispielsweise Personalabbau oder Subventionsstreichungen für Fahrt- und Transportkosten zur Kenntnis und tragen deren Auswirkungen. Sie erleben einen Mangel an freien Behandlungsplätzen in Krankenhäusern, an Betreuungsoder Wohnplätzen in Alters-, Pflegeheimen und Kurzzeitpflegeeinrichtungen, Zeitknappheit und Überforderung bei Gesundheitsfachpersonen hinsichtlich der an sie im Arbeitsalltag gestellten Aufgaben und Anforderungen, eine Zweiklassenversorgung in der Medizin und Pflege, eine Verschlechterung der allgemeinen Versorgungsqualität, Leistungskürzungen und die daraus resultierenden Einschränkungen ihrer Lebensqualität und nehmen die Versorgung in Einrichtungen des Gesundheitswesens teilweise als eine Abfertigung wahr. Fr. Odermatt: »Ja, Sie waren, sind Krankenschwester ; Sie waren in Pflegeheimen. Sie wissen, wie das – ähm, zugeht und wenn ich meine Schwester besuche, sie ist jetzt schwer, schwieriger geworden, also, sie geht nicht mehr in den Speisesaal; sie ist jetzt in einem Stockwerk mit den schwierigeren Fällen und da gehe ich sie vielleicht holen, also, in letzter Zeit nicht; ich kann sie nicht mehr ; ich kann nicht mit ihr gehen, weil sie auch, zwar keine Arthrose hat, aber auch hinfällig ist, und das ist einfach schrecklich, wie die da am Tisch sitzen, teilnahmslos und – furchtbar, und mein Bruder, der geistig Behinderte, der ein Grenzfall war. Es gab Zeiten, wo er allein leben konnte und dann wieder ausflippte und der, dann wurde er wieder, äh – dann kam er wieder in ein Heim und er war, das war, da war ich noch relativ jung, da war er in einem Altersheim vom Krankenhaus und da habe ich ihn besucht, ich war noch viel jünger, und da habe ich die Schwestern gesehen, das war noch – eine andere Zeit. Aber ich habe gedacht, das sind Heilige, die das machen, wie die mit diesen Menschen umgehen können. Das sind Heilige. Das waren auch alles ältere Schwestern, heute ist das ja auch – ein Problem, überall, das kommt dazu, dass man überall auch da spart und Personal abbaut und das Personal weniger Zeit hat, sich um die Menschen zu kümmern, sondern es wird nur noch abgefertigt und so. Also, das sind einfach Zustände – die ich schlimm finde und für die Zukunft, für das weitere – Leben.« (Frau Odermatt, EI: 177).
Manche beklagen die personelle Diskontinuität in der Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen und die zunehmende Anstellung ausländischer Pflegefachpersonen, die kein Schweizerdeutsch verstehen. Die heutzutage verfügbaren medizinisch-technischen Möglichkeiten zur Behandlung und Lebensverlänge-
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rung stellen für manche Kranke keine Beruhigung dar, wie angenommen werden könnte, sondern wirken auf sie vielmehr alarmierend. 5.4.6.2 Bereitschaft, Möglichkeiten und Grenzen der Anbieter von Gesundheitsleistungen, gefragte Versorgungsleistungen zu erbringen Mehrere Kranke erfahren durch Mitarbeiter von ambulanten Pflegediensten Hilfe bei der Selbstpflege, Medikation, Wundversorgung, im Haushalt und durch Mahlzeitenlieferungen etc. Einige chronisch Kranke bekommen aber auch die Grenzen der Versorgungsbereitschaft und -angebote, der Möglichkeiten und Kompetenzen der Anbieter von Gesundheitsleistungen zu spüren, die bewirken, dass chronisch Kranke nicht länger zu Hause bleiben können und in eine Institution des Gesundheitswesens ziehen müssen. So kommt es zum Beispiel vor, dass ambulante Pflegedienste die Erbringung erforderlicher Versorgungsleistungen ablehnen, was bedingt, dass Erkrankte nicht mehr in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können und entgegen ihrem Willen gezwungenermaßen in ein Alters- und Pflegeheim ziehen müssen. Fr. Peterli: ––– »Und ––– dann hat es geheißen, vom Krankenhaus, ja, jetzt müssen sie zuerst hierher (in ein Alters- und Pflegeheim) gehen. Da habe ich gedacht, vielleicht zur Erholung und dass ich dann wieder nach Hause kann. Und dann hat, habe ich einen Brief bekommen von dem ambulanten Pflegedienst, weil ich gesagt habe, ich gehe jetzt in das Krankenhaus, wenn ich nach Hause komme, gebe ich wieder Bescheid. Aber ich habe gedacht, nach einem Monat oder zwei. Und dann nach einem halbem Jahr sagten sie, ich muss noch hierher (in ein Alters- und Pflegeheim) gehen, habe ich gesagt: ›Ja, dann kann ich grad […?] ‹. Da haben sie gesagt, also, ja, wenn ich ein schwerer Fall bleibe, also, das was sie für mich gemacht haben, können sie nicht mehr kommen. Ich hab schon begriffen, für mich, aber es war schwer zu ertragen.« (weint, schluchzt). (Frau Peterli, F: 92 – 98).
5.4.7 Die Möglichkeit der Beihilfe zum Suizid Die Möglichkeit der Beihilfe zum Suizid, das heißt, die Existenz und die Legalität der Beihilfe zum Suizid und von Suizidbeihilfeorganisationen sowie die gesetzlichen Voraussetzungen der Beihilfe zum Suizid und diesbezügliche Sorgfaltskriterien stellen weitere wesentliche Kontextfaktoren der Wahrnehmungsund Beurteilungsprozesse chronisch Kranker hinsichtlich ihres Daseins dar.
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5.4.7.1 Legalität der Beihilfe zum Suizid und die Existenz von Suizidbeihilfeorganisationen Erst durch die Legalität der Beihilfe zum Suizid in der Schweiz und die Kenntnis über deren Existenz eröffnet sich chronisch Kranken, unter Erfüllung bestimmter gesetzlicher Voraussetzungen, die Möglichkeit, zu erwägen und zu entscheiden, sein Leben durch die Suizidbeihilfe zu beenden. 5.4.7.2 Erforderliche Voraussetzungen, um durch Beihilfe zum Suizid sterben zu können Zu den Voraussetzungen, um durch Suizidbeihilfe sterben zu können, gehört zum Beispiel neben der Fähigkeit, sich das tödliche Substrat selbstständig zu verabreichen, dass die Kranken urteilsfähig sind. Urteilsfähig sein zu müssen, ist ein Kriterium, dessen Erfüllung mehrere Erkrankte beschäftigt, denn manche haben Angst, dass sie aufgrund plötzlicher gesundheitlicher Ereignisse, die sie kognitiv beeinträchtigen könnten, vielleicht irgendwann nicht mehr dazu in der Lage sind, die geforderten Voraussetzungen zu erfüllen, um durch Suizidbeihilfe sterben zu können. Frau Odermatt: »Und – weil, auch wenn ich es mit Exit mache, mit xy (Name Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation), er hat gemerkt am Telefon, dass ich in schlechtem Zustand bin und dass ich, eben, ähm, diese Stürze gemacht habe und dass ich manchmal Angst habe, ich funktioniere – ich bin nicht mehr zurechnungsfähig. Und dann hat er auch gesagt: ›Ja, dann müssen Sie Schritte unternehmen, bevor es so weit ist. Denn wenn es so weit ist, geht es dann nicht mehr.‹« (Frau Odermatt, EVI: 21).
Die Kranken haben Angst, den richtigen Zeitpunkt für ihr Sterben durch Suizidbeihilfe zu verpassen und infolgedessen diese Möglichkeit nicht mehr in Anspruch nehmen zu können. Die Angst, die Voraussetzungen eines Tages womöglich nicht mehr zu erfüllen, und das Wissen um die Verfallsfrist für die schriftlich ausgestellte medizinische Diagnose und das ausgestellte Rezept für das tödliche Substrat veranlassen einige Erkrankte dazu, den Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, lieber etwas früher als zu spät zu treffen.
5.4.8 Finanzielle Aspekte Auch finanzielle Aspekte wie die Mitfinanzierung oder die Eigenfinanzierung der Kosten stationärer Versorgungsformen und -leistungen sowie das Vorhandensein finanzieller Mittel zur Deckung der Lebenshaltungskosten sind Gegenstand der Wahrnehmung und Beurteilung des gegenwärtigen und zukünftigen Daseins durch chronisch Kranke. Der Umstand, finanziell weniger gut
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gestellt zu sein, setzt manchen bezüglich der Inanspruchnahme von Kurzzeitpflege zur Entlastung pflegender Angehöriger oder der Option, sich in einem bestimmten Alters- und Pflegeheim versorgen zu lassen, Grenzen. I: »Was würde das für Sie bedeuten, Altersheim?« Fr. Tanner : »Ja, ich kann nicht – eben, ich bin jetzt im xy (Name eines Altersheimes) und jetzt habe ich wenigstens einmal eine Ahnung, wie das ist. Und dann, äh – es hat ja viele Demente darunter und andere, die noch gut dran sind, mit denen man reden kann. Und dort ist es eigentlich noch […?]. Es hat Patienten. Es ist noch heimelig. Es sind nicht so viele wie da – in den städtischen. Also, ich könnte mich schon reinschicken, aber – nein. Dann ist es auch noch eine Frage vom Geld. Es kostet viel Geld, oder.« I:«Wissen Sie, was das kostet?« Fr. Tanner : »Jaja, etwa 7000 Franken jeden Monat. Und das ist viel für unsere Verhältnisse. Ich meine, wir sind keine reichen Leute.« (Frau Tanner, AJ: 123 – 130).
Um ihr Geld beisammenzuhalten, verzichten manche Kranke bewusst auf die Inanspruchnahme unterstützender Hilfeleistungen, weil sie diese selbst finanzieren müssten. Manche berührt es unangenehm, dass ihre Angehörigen mehr für sie ausgeben, als sie selbst an Rente zur Verfügung haben. Die hohen Kosten, die eine Versorgung in einem Alters- oder Pflegeheim mit sich bringt, veranlassen selbst einige Kranke, die finanziell gut gestellt sind, dazu, auf eine solche Versorgung zu verzichten. Um ihren Angehörigen finanziell nicht zur Last zu fallen und ihnen etwas von sich hinterlassen zu können, bevorzugen sie lieber, zu geeigneter Zeit durch Suizid(-beihilfe) zu sterben. Zudem zeigt sich, dass insbesondere chronisch Erkrankte, die im berufsfähigen Alter sind und aufgrund ihrer anhaltenden gesundheitlichen Beschwerden nicht in gleichem Umfang ihrer Berufstätigkeit nachgehen können wie vor Beginn ihrer Krankheit, durch die damit verbundenen finanziellen Ausfälle Schwierigkeiten bekommen, ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Manche erleben dadurch eine Bedrohung ihrer Existenz.
5.4.9 Das biologische Lebensende Bei Erkrankten, die sich für den Weg der Suizidbeihilfe interessieren, zeigt sich, dass sich mehrere von ihnen der Tatsache der Endlichkeit ihres Lebens sehr bewusst sind und in diesem Faktum eine zusätzliche Legitimierung ihrer Überlegungen und ihres Entscheids sehen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen. Fr. Urech: »[…] deshalb, sterben muss ich ja doch, und ich werde 97 Jahre alt.« (Frau Urech, X: 62).
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
5.4.10 Antizipierte Zustandsdimensionen der eigenen Daseinsweise Neben den erläuterten Auswirkungen chronischen Krankseins auf das Dasein der Erkrankten (Phase 2) antizipieren viele Patienten Zustandsdimensionen ihres zukünftigen Daseins. Die antizipierten Zustandsdimensionen beziehen sich auf mögliche negative Entwicklungen ihres Daseins und betreffen beispielsweise das Werte- und Präferenzsystem, den Gesundheitszustand und mögliche damit einhergehende negative Auswirkungen, die Lebensdauer oder den Verlauf von Krankheitssymptomen. Manche nehmen unerwünschte Gefahren, Risiken und Szenarien vorweg, welche die medizinisch-therapeutische Versorgung betreffen. Einige antizipieren Beeinträchtigungen der Funktionalität, die unter anderem ihre Urteilsfähigkeit einschränken könnten, und ungewollte Veränderungen der Gestaltung ihres Daseins, ihrer Selbst- und Daseinswahrnehmung, ihrer Lebenswelt sowie weitere von ihnen unerwünschte kontextuelle Faktoren. Fr. Schulthess: »[…]. Ich meine, die Idee, dass man dann – eben, für mich zum Beispiel, dass ich wieder einen Schlag hätte und zum Beispiel nicht mehr sprechen kann oder nicht mehr verständlich. Ich habe zwei bis drei Freundinnen, die nicht mehr richtig reden können. Man kann – versteht nicht mehr, was sie eigentlich sagen wollen. Und das finde ich sehr bedrückend. Und dann ist auch bedrückend, dass man dann nicht mit Exit noch etwas machen kann. Weil, wenn man nicht mehr zurechnungsfähig ist, ist diese Möglichkeit nicht mehr da.« (Frau Schulthess, T: 158 – 160).
Durch die Antizipation von Gefahren und Risiken hinsichtlich des zukünftigen Daseins, das heißt, des Ungewollten, entwickeln mehrere chronisch Kranke Sorgen und (Zukunfts-)Ängste. Letztere beziehen sich auf das, was ihnen im Leben sowie im Sterben noch alles bevorstehen kann. Es besteht keine Angst vor dem Tod an sich, sondern Angst vor einem ungewollten Dasein und Sterben. Es geht um das von ihnen Ungewollte. Die Angst vor bestimmten ungewollten Aspekten des Daseins und Sterbens ist ein wesentliches Motiv dafür, die Art und Weise des Daseins und des Sterbens bestimmen zu wollen. Die Wahrnehmung von Gefahren, Risiken und damit einhergehende Ängste rufen Überlegungen und Entscheidungsprozesse darüber hervor, am Leben zu bleiben oder durch Suizid(-beihilfe) sterben zu wollen. Sie beeinflussen diese und lassen sie bestehen. Sie veranlassen die Erkrankten dazu, den Weg der Suizidbeihilfe einzuschlagen, diesbezüglich Maßnahmen zu ergreifen (siehe Phase 3) und von der Phase der Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation über die Ausstellung einer Patientenverfügung bis hin zur Beantragung und Inanspruchnahme des Rezeptes für das tödliche Natrium-Pentobarbital voranzuschreiten.
Die subjektive Wahrnehmung
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Zusammenfassung Aus den Erklärungen zu Phase 4 resultieren die in Abbildung 38 aufgeführten Faktoren, welche die Überlegungen und Entscheidungen chronisch Kranker darüber, durch Suizidbeihilfe sterben oder weiterleben zu wollen, begünstigen. Die Faktoren beziehen sich auf den Gesundheitszustand und dessen Verlauf, auf die verfügbaren Möglichkeiten, die Bedeutung und Wirkung der medizinischen Versorgung, die Bedingungen der Lebenswelt chronisch Kranker, das Erleben des gesellschaftlichen Kontexts, die Leistungen des Sozialsystems, die Entwicklungen im Gesundheitswesen, die Möglichkeit der Beihilfe zum Suizid, die finanziellen Aspekte, das biologische Lebensende sowie die antizipierten Zustandsdimensionen der eigenen Daseinsweise. Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Der Gesundheitszustand und dessen Verlauf – Unheilbar krank sein und bleiben – Anhaltende, belastende, unerträgliche Symptome und Beeinträchtigungen erfahren, die lebenslang bestehen bleiben – Hoffnungslosigkeit, keine Aussicht auf Besserung – Eine prognostizierte kurze verbleibende Lebenszeit – Altersschwäche – Mitteilung schlechter Prognosen betreffend den Krankheitsverlauf und dessen Behandlung – Geringe Erfolgschancen der verfügbaren Behandlungsansätze – Anhaltend schlechter oder sich konstant verschlechternder Gesundheitszustand – Gefährdung der Urteilsfähigkeit und der funktionellen Fähigkeiten, welche für die Suizidbeihilfe erforderlich sind – Sich seines Daseins nicht mehr gewachsen fühlen
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen Der Gesundheitszustand und dessen Verlauf – Erträgliche Symptome und Beeinträchtigungen – Wiedererlangen von Fähigkeiten und Fertigkeiten – Hoffnung vermittelnde Prognosen zum Krankheitsverlauf und dessen Behandlung – Mitteilungen, eine gewisse Lebensqualität erhalten zu können – Erfreuliche Untersuchungsbefunde – Eine anhaltend positive oder sich bessernde Entwicklung des Gesundheitszustandes – Subjektives Wohlbefinden – Zuversicht
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Möglichkeiten, Bedeutung und Wirkung der medizinischen Versorgung – Mitteilungen, dass es keine Heilung, keine Therapiemöglichkeiten gibt und von medizinischer Seite aus nicht geholfen, nichts getan werden kann – Medizinische Versorgungs- und Behandlungsvorschläge, die den Werten, Präferenzen und Bedürfnissen Kranker zuwiderlaufen – Unsichere Behandlungserfolge – Belastende, funktionsbeeinträchtigende Nebenwirkungen – Abneigungen gegenüber medizinischen Versorgungs- und Behandlungsvorschlägen – Beeinträchtigung der Lebensqualität – Medizinische Versorgung bringt nicht die erhoffte Wirkung = ungeeignetes, unwirksames Symptommanagement – Erfahren, dass medizinische Behauptungen/Versprechungen betreffend der Linderung von Symptomen nicht zutreffen – Non-adhärentes Verhalten gegenüber der Medikation – Gefühle, den Zustand nicht länger auszuhalten – Belastete, nicht zufriedenstellende Versorgung durch Ärzte Bedingungen der Lebenswelt – Ein belastetes Dasein in der häuslichen Umgebung führen – Nicht mehr länger zu Hause wohnen bleiben können – Fehlende Bereitschaft, in eine Institution des Gesundheitswesens zu ziehen, und die eigene Wohnung aufgeben müssen – Negative Transitionserfahrung von der häuslichen Umgebung in eine Institution des Gesundheitswesens – Demoralisierender, unbefriedigender, unannehmbarer Versorgungskontext in einer Institution des Gesundheitswesens
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen Möglichkeiten, Bedeutung und Wirkung der medizinischen Versorgung – Behandlungsmöglichkeiten erfahren – Medizinische Versorgungs- und Behandlungsvorschläge sind mit den Werten, Präferenzen und Bedürfnissen Kranker vereinbar und zufriedenstellend – Kaum oder keine Nebenwirkungen durch die medizinische Behandlung – Erhaltung oder Verbesserung der Lebensqualität – Medizinische Versorgung bewirkt, dass Symptome und deren Auswirkungen erträglich sind = wirksames Symptommanagement – Gelernt haben, technische Hilfsmittel für sich zu nutzen, und mit deren Hilfe im Leben zurechtkommen – Besserung des Allgemeinbefindens – Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Dasein – Kraft, Zuversicht, Hoffnung – Positive Versorgung durch Ärzte
Bedingungen der Lebenswelt – In der häuslichen Umgebung zurechtkommen – Zu Hause wohnen bleiben können – Sanfte, akzeptable Transitionserfahrung von der häuslichen Umgebung in eine Institution des Gesundheitswesens – Angenehmer, akzeptabler Versorgungskontext in einer Institution des Gesundheitswesens
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Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen Der gesellschaftliche Kontext – Missfallen über die gegenwärtige Zeit – Rücksichtslose, uninteressierte, ungerührte Mitmenschen
Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, weiterleben zu wollen
Das Sozialsystem – Unterstützende Leistungen des Sozialsystems – Integrationsmaßnahmen für Menschen, die eine Behinderung haben Das Gesundheitswesen – Sparmaßnahmen und deren negative Auswirkungen auf die Versorgungsqualität – Diskontinuität in der personellen Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen – Anstellung ausländischer Pflegefachpersonen, die kein Schweizerdeutsch verstehen – Medizinisch-technische Möglichkeiten zur Behandlung und Lebensverlängerung – Fehlende Bereitschaft, Möglichkeiten und Kompetenzen ambulanter Leistungserbringer, erforderliche Versorgungsleistungen zu erbringen Die Möglichkeit der Beihilfe zum Suizid – Legalität und Existenz der Beihilfe zum Suizid und von Suizidbeihilfeorganisationen – Erforderliche Voraussetzungen, um durch Beihilfe zum Suizid sterben zu können – Ungewissheit und Angst, die erforderlichen Voraussetzungen für die Suizidbeihilfe irgendwann nicht mehr zu erfüllen Finanzielle Aspekte – Hohe Kosten stationärer Versorgungsformen – Anderen finanziell nicht zur Last fallen wollen, sondern ihnen etwas von sich hinterlassen können
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Fortsetzung Faktoren, die Überlegungen und EntFaktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid- scheidungen begünstigen, weiterleben zu beihilfe sterben zu wollen wollen Das biologische Lebensende – Sich bewusst sein, dass man sowieso sterben muss Antizipierte Zustandsdimensionen der eigenen Daseinsweise – Antizipieren von Gefahren und Risiken in Bezug auf das eigene Dasein – Sorgen und Ängste vor ungewollten Aspekten des Daseins und Sterbens Abbildung 38: Aus Phase 4 resultierende Faktoren, welche Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder im Gegenteil weiterzuleben
Abhängig davon, wie ein chronisch Kranker die für ihn bedeutsamen Faktoren seines Daseins wahrnimmt, interpretiert und beurteilt, resultiert daraus eine von vier Varianten des Erlebens, das von einer stimmigen bis hin zu einer unerträglichen veränderten gegenwärtigen Daseinsweise sowie verschiedene Ausprägungen von Ängsten gegenüber der antizipierten zukünftigen Daseinsweise (Phase 4) reicht. Diese sind in Abbildung 25a-25b (S. 144 – 145) horizontal, innerhalb der vertikal dargestellten Konstellationen 1 bis 3, abgebildet. Diese Varianten des subjektiven Erlebens und die damit verbundenen Angstausprägungen sind zugleich die Ursache dafür, wie chronisch Kranke beurteilen, mit ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Daseinsweise im Kontext chronischen Krankseins umgehen zu können (Phase 5). Diese Varianten rufen jeweils ein aus ihnen hervorgehendes bei chronisch Kranken anzutreffendes Muster der Kernkategorie »(Nicht-) Zurechtkommen mit seiner veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise« hervor. Die vier Muster der Kernkategorie reichen vom Phänomen des Zurechtkommens bis hin zum Phänomen, mit seiner gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise nicht mehr zurechtzukommen. Abhängig vom Muster der Kernkategorie, welches ein chronisch Kranker repräsentiert, resultiert als Konsequenz daraus die Zielsetzung für das weitere Dasein sowie die Bereitschaft chronisch Kranker, weiterzuleben oder aus dem Leben zu gehen und durch Suizid(-beihilfe) zu sterben (Phase 6). Diesbezüglich kommen vier Varianten vor, die von einem uneingeschränkten Willen zu leben und sein Dasein weiterzuführen bis hin zum Unwillen, weiterzuleben, und zur Bereitschaft, zu sterben, reichen. Aus dem jeweiligen Muster der Kernkategorie, das ein chronisch kranker Mensch repräsentiert, der Zielbestimmung für das weitere Dasein und der Bereitschaft, zu leben oder im Gegenteil zu sterben, resultieren wiederum vier Entscheidungsvarianten: vom Entscheid, zu leben und auf biologische Art aus dem Leben zu gehen, bis hin zum Entscheid, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben
Konstellation 1
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(Phase 7). Dem Entscheid darüber, weiterzuleben oder sterben zu wollen, schließen sich die Planung und Ausführung von Maßnahmen zur Realisierung des einen oder anderen getroffenen Entscheids an (Phase 8). Dies führt dazu, dass chronisch Kranke entweder Maßnahmen planen und ausführen, die sie in der Fortführung ihres Daseins unterstützen, oder andere Schritte in die Wege leiten, die ihnen ermöglichen, ihr Dasein zu beenden. So trägt der Entscheid, sein Dasein weiterzuführen, dazu bei, dass chronisch Kranke versuchen und möglicherweise lernen, mit ihrer Krankheit umzugehen und diese zu akzeptieren, wohingegen der Entscheid, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben, manche chronisch Kranken dazu veranlasst, sich Gedanken über Suizidmethoden zu machen, Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation zu werden, das Rezept für das tödliche Substrat zu beantragen und dieses bei Bedarf in Anspruch zu nehmen. Die Folge von Maßnahmen, die Kranke im Weiterleben unterstützen, ist, dass solche Kranken am Leben bleiben und irgendwann auf biologische Art sterben (Phase 9). Entscheiden sie sich für lebensbeendende Maßnahmen, gehen chronisch Kranke durch »klassischen« Suizid oder Suizidbeihilfe aus dem Leben. Aus diesen ablaufenden Phasen und den ihnen innewohnenden Varianten resultieren vier zustands- bzw. umstandsbegründete Konstellationen menschlichen Daseins, die von den Kranken repräsentiert werden, innerhalb derer sie sich bewegen und die sie dazu veranlassen, weiterzuleben oder im Gegenteil nicht länger am Leben bleiben zu wollen. Die Konstellationen umfassen vier handlungsleitende Muster der entwickelten Kernkategorie, das heißt, des Zurechtkommens oder des Nichtzurechtkommens mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise sowie damit in Beziehung stehende weitere Phasen, ihnen innewohnende Faktoren, Strategien, Bedingungen und Konsequenzen, die das jeweilige Muster des Zurechtkommens bzw. Nichtzurechtkommens hervorrufen und dessen Konsequenz, den Entscheid am Leben zu bleiben oder durch Suizid(-beihilfe) zu sterben, erklären. Die vier Konstellationen 1 bis 3 sind in Abbildung 25a-25b (S. 144 – 145) vertikal abgebildet und werden in den folgenden Kapiteln erklärt. Zur Veranschaulichung dienen Zitate typischer Fälle von chronisch Kranken, welche die jeweilige Konstellation am besten repräsentieren.
5.5
Konstellation 1: Zurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise
Die für Konstellation 1 ausschlaggebenden Faktoren beziehen sich auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die Glaubenshaltung, die sozialen Beziehungen, die Bedingungen der jeweiligen Lebenswelt, die persönliche Einstellung
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
zu Sterben, Tod und der Suizid(-beihilfe), die Dominanz des eigenen Werte- und Präferenzsystems sowie die Art und Dauer der Krankheit. Ebenfalls ausschlaggebend sind das Erleben des Symptomverlaufs und dessen Auswirkungen auf die gewohnte Daseinsweise eines Menschen, die Entwicklung des Gesundheitszustandes, der Umgang mit seinem eigenen Dasein, die Verfügbarkeit und die Wirkung medizinisch-therapeutischer Versorgungsmöglichkeiten sowie das Erleben der Versorgung(-svorschläge) durch Gesundheitsfachpersonen. Mit Blick auf die persönlichen Faktoren und die gewohnte Daseinsweise sind für Konstellation 1 fatalistische, gläubige Persönlichkeiten typisch, die alleinstehend sind oder in Partnerschaft leben. Es sind der Glaube, der Umstand, mit bedeutsamen Menschen in Beziehung zu stehen, die gewohnte häusliche Lebenswelt oder das angenehme Leben in einer Institution des Gesundheitswesens sowie die Beschäftigung mit Vorlieben, die chronisch Kranken Halt und Kraft geben, zu leben. I: »Und was gibt Ihnen so am meisten Kraft, um zu leben? Was sind die Dinge, die für Sie am wichtigsten sind oder Ihnen helfen?« Herr Frey : »Also, das Allerwichtigste ist eigentlich, dass ich nicht in einer Institution leben muss. Also, in einem Heim oder Krankenhaus. Das ist – das Zu-Hause-Leben und ein bisschen tun und lassen, was man will. Dass man eigentlich – auch nur das Wissen, dass ich, wenn ich möchte, theoretisch könnte ich eigentlich jederzeit rausgehen. Ich müsste mich einfach organisieren. Aber man ist auch – nicht so unter Kontrolle.« I: »Wie meinen Sie, nicht so unter Kontrolle?« Hr. Frey : »Ja, im Krankenhaus, also, es war nicht so, dass man kontrolliert wird. Aber man wusste immer, wer kommt, wer geht und so. Alle haben gesehen und so. Und hier hat man mehr seine Privatsphäre. […].« (Herr Frey, AM: 185 – 186).
Für chronisch Kranke der Konstellation 1 ist bezeichnend, dass sie aufgrund ihrer persönlichen Einstellungen und Überzeugungen zum Sterben, zum Tod und zur Suizid(-beihilfe) grundsätzlich oder gegenwärtig in der Suizid(-beihilfe) für sich keine Option sehen und bei ihnen demzufolge auch keine lebensbeendenden Gedanken und Absichten bestehen. Hr. Bühler : »Äh, ich weiß noch, als meine Mutter starb, wollte ich sogar – habe ich mir überlegt, ich trete einmal, äh, Exit oder, äh, wie heißt die andere?« I: »Dignitas?« Hr. Bühler : »Dignitas bei. Und ich habe das dann – irgendwie wieder vergessen und das verdrängt, dass so etwas einmal auf mich zukommen könnte. Und wollte mich dann nach der Operation wieder dort anmelden. Und dann war ich bei einer Therapeutin, die mir gesagt hat: ›Verzichten Sie doch darauf.‹ Weil, das ist wie so, äh, wie sich schon darauf einstellen, dass man sterben wird. […].« I: »Und was war der Auslöser dafür, dass Sie gedacht haben: Ja, jetzt erkundige ich mich da einmal?« Hr. Bühler : »Eben, es ist das wieder, wir haben es bei der Mutter erlebt, die letzten zwei Wochen, oder, als sie, ja, auf eine – also, gelitten, wobei, ich glaube, sie hat es gar nicht mehr – am Schluss hat sie es gar nicht mehr so wahrgenommen. Wurde vollgepumpt mit Morphium und äh, es ging ihr schon nicht mehr so gut. Sie hat geröchelt, und die letzten paar Tage konnte sie nicht mehr sprechen. Und wir haben uns vorgestellt, das wäre gut, dass man für so eine
Konstellation 1
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Situation dann sagen könnte: So, jetzt gebt mir irgendetwas. Ich will sterben. Und eben, meine Mami hat auch gesagt, sie freue sich auf das Sterben, am Schluss. Und man wusste auch nicht, wie lange es jetzt weitergeht. Aber im Nachhinein muss ich sagen: Nein, das wäre jetzt – also, es ist gut, dass sie nicht so etwas genommen hat. Es ging um ein paar Tage. Und ja, also, ich verurteile das überhaupt nicht, wenn jemand beitritt und eben so vorsorgen will. Und wenn man ein langes Leiden hat. Aber ich habe dann wie gefunden: Nein, da will ich mich jetzt nicht noch so darauf vorbereiten.« (Herr Bühler, AN: 275 – 281).
Auffällig ist, dass das Werte- und Präferenzsystem, das heißt, dass Ungewollte und Gewollte bezüglich des eigenen Daseins, bei Kranken in der Konstellation 1, verglichen mit solchen in den Konstellationen 2 – 3, weniger stark in Erscheinung tritt, also, kaum Thema ist. Bedeutsam ist an Konstellation 1 auch, das trotz unheilbarer Krankheit und deren Auswirkungen von den Kranken keine progressive gesundheitliche Verschlechterung erlebt wird, sondern entweder eine Verbesserung des gesundheitlichen Zustandes, ein ständiges Hin und Her zwischen nahezu gleichbleibenden Zuständen von Verbesserung und Verschlechterung oder das Gefühl einer positiven Stabilität der gesundheitlichen Situation. Das subjektive Erleben Kranker in Konstellation 1 ist davon geprägt, sich mehrheitlich selbstständig zu erleben, sich nicht als Last für andere zu empfinden und sich in der Lage sehen, Beschäftigungen nachzugehen und am sozialen Geschehen teilzunehmen. Unabhängig zu sein oder wieder selbstständig zu werden macht das Dasein solcher Kranken lebenswerter. Momente, in denen sie nicht mehr leben wollen, gibt es in Konstellation 1 nicht; stattdessen dominieren Lebenskraft, Lebensfreude, Lebenssinn, Lebenslust, Lebensmut, Lebenswille und das Interesse, bestimmte Lebensziele zu verfolgen. Hr. Beck: »Ich will auch noch ein bisschen leben. Ich will auch noch – wissen Sie, jetzt einmal ein bisschen das Leben noch genießen. Nicht nur da, äh – arbeiten müssen. Habe gearbeitet, immer, gemacht und getan, und nichts gehabt. Jetzt will ich das Leben – dieses einfache Leben, das ich habe, – will ich jetzt noch etwas genießen. Ja.« I: »Gibt es Dinge, wo Sie sagen: Das ist mir noch wichtig, das möchte ich auf jeden Fall noch gerne machen?« Hr. Beck: »Ja, das gibt es, ja. Ich möchte noch ein paar (betont) Leute sehen. Unbedingt, ja. Aber ich ––.« I: »Also, Menschen, die Sie jetzt länger nicht mehr gesehen haben, oder?« Hr. Beck: »Jawohl, Menschen, die ich länger nicht mehr gesehen habe, ja. Jawohl. Die möchte ich noch gerne sehen. Und äh, ich glaube, das gelingt mir schon. Doch, doch, das schaffe ich schon.« (Herr Beck, AB: 461 – 469).
Der Umgang mit der chronischen Krankheit und den krankheitsbezogenen Veränderungen des Daseins durch chronisch Kranke, nahestehende Bezugspersonen und (Gesundheits-)Fachpersonen gestaltet sich in Konstellation 1 so, dass kaum Tendenzen bestehen, Negatives im gegenwärtigen Dasein zu sehen, und keine explizit ungewollten Daseinsweisen antizipiert werden. Stattdessen werden bezüglich des Daseins Abstriche gemacht und der Fokus wird auf verbliebene
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Fähigkeiten und Fertigkeiten gerichtet, das heißt, auf das, was noch möglich ist und getan werden kann. Charakteristisch für den persönlichen Umgang mit dem eigenen Dasein ist in Konstellation 1 auch, das Leben zu genießen, seinem Dasein trotz Sorgen um alles mit der Krankheit Verbundene etwas Positives abzugewinnen und gegenüber der Entwicklung seines weiteren Daseins eine besonnene Haltung aufzuweisen. I: »Gibt es irgendwas, was sich durch die Jahre für Sie verändert hat?« Hr. Frey : –– »Das ist schwer zu sagen.« I: »Zum Positiven? Oder auch zum Negativen?« Hr. Frey : »Also, positiv denke ich, ist eigentlich, dass – also, ich habe so gelernt, die Dinge – wie sagt man? Die gelassen zu nehmen. Also, es gibt – ich habe schon das Gefühl, dass bei Veränderungen oder irgendwelchen Dingen, die geschehen, dass ich dann einfach nicht so große Stimmungsschwankungen habe. Das – ich bin gewohnt, dass es auch zum Leben gehört. Das denke ich, ist schon positiv, dass ich die Dinge, ja, – nehme, wie sie sind, und –– dann schaut man einmal, was man daraus macht. Ja.« I: »Ist das – entspricht das auch so Ihrem Typ, dass Sie eher sagen würden: Ich nehme es so, wie es kommt, und gucke dann?« Hr. Frey : »Ja, das hat sich schon so entwickelt und gehört jetzt schon zu mir eigentlich, dass ich denke: Ich schaue, ich probiere. Wenn es geht: Gut. Und sonst. Ja, nicht so schlimm.« (Herr Frey, AM: 247 – 252).
Weitere Besonderheiten von Konstellation 1 sind Vertrauen in die medizinischtherapeutische Versorgung zu haben, um sein Dasein zu kämpfen, lernen, mit seiner Krankheit und deren Auswirkungen umzugehen und diese zu akzeptieren, sich abzufinden und zu versuchen, sein Dasein so gut wie möglich zu meistern und fortzuführen. Obwohl für die eigene Krankheit keine Heilungsmöglichkeit besteht, wird in dieser Konstellation die Erfahrung gemacht, dass medizinisch-therapeutisch etwas getan werden kann und getan wird. So existieren in Konstellation 1 Therapiemöglichkeiten, mit denen das Fortschreiten einer chronischen Krankheit sowie das Ausmaß der Krankheitssymptome eingedämmt und der Tod möglicherweise hinausgezögert werden können. Die von Gesundheitsfachpersonen vorgeschlagenen Behandlungs- und Versorgungsvorschläge harmonieren mit den Vorstellungen der Kranken und bewirken, dass diese sich auf medizinisch-therapeutische Behandlungen einlassen und sich diesbezüglich adhärent verhalten. Die erfahrene Versorgung und die eingesetzten technischen Hilfsmittel werden von den Erkrankten als wirksam erlebt und tragen dazu bei, dass sie mit ihrem Leben zurechtkommen. Der Umgang von Gesundheitsfachpersonen mit den Kranken wird als unterstützend erlebt, was zum Beispiel damit zusammenhängt, dass Gesundheitsfachpersonen Anteil nehmen, die Vorstellungen und Präferenzen der Kranken berücksichtigen und sie in ihrem Daseinsmanagement wirksam unterstützen. Darüber hinaus werden in Konstellation 1 bestehende Krankheitssymptome und deren Auswirkungen sowie die Nebenwirkungen medizinischer Therapien von den Kranken als erträglich beurteilt und sie wissen mit solchen umzugehen.
Konstellation 1
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Hr. Beck: »Wissen Sie, der Verlauf, jetzt im Moment, (betont) ist sehr positiv. Und – und ich will – ich meine, wissen Sie, das ist eine schwierige Krankheit. Und ich bin froh, dass ich so gut dran bin. Ich kann ja dankbar sein. Äh, wenn man solche Leute sieht, die Krebs haben, die haben zum Teil furchtbare Verstellungen, äußerlich. Und – und die haben Schmerzen wie verrückt und ja, solches Zeug. Und ich habe jetzt einfach dieses Kästchen (patientenkontrollierte Analgesie/selbstbedienbare Schmerzpumpe), und ich habe keine Schmerzen mehr. Und es geht mir relativ gut. Ich bin – bin hellwach und – ja. Das, ja, das ist wichtig.« (Herr Beck, AB: 443 – 447).
Vor diesem Hintergrund charakterisiert die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise durch chronisch Kranke in Konstellation 1, dass diese als akzeptabel, zufriedenstellend und erträglich erlebt wird. Hr. Bühler : »Und ich habe jetzt auch eine sehr gute Betreuung. Das ist immer kombiniert mit einer Besprechung, mit dieser Ärztin. Und ähm, auch das – ich meine am Morgen, das ist jeweils ein bisschen komisch, weil man ist da im Raum mit anderen Leuten. Einmal habe ich einen gesehen, der hatte so ein Röhrchen da im Bauch. Ich habe es erst gar nicht gecheckt. Das hat mir dann eine erklärt. Das ist, äh, dass der nicht mehr kann, äh – der hat wahrscheinlich irgendwie Kehlkopf –.« I: »Mhm. Krebs, ja.« Hr. Bühler : – »Krebs, oder – ja. Und eben, der kann nicht mehr – der kann ––.« I: »Hatte er dann eine Ernährungssonde?« Hr. Bühler : »Genau, damit er noch ernährt werden kann. Und eben, also, wenn ich mich vergleiche mit so einer Situation, muss ich sagen: Gut es ist, äh – ja, ich weiß genau, wie gefährlich meine Krankheit ist. Und äh, ich weiß, dass das jederzeit sein kann, dass es nur noch ein paar Wochen oder ein paar Monate geht. Aber ähm, bis jetzt ist es – ja, trotz diesen Tagen oder so, es ist gut erträglich. Letztendlich auch, eben, weil ich mir sagen kann: Das bringt mir etwas.« (Herr Bühler, AN: 190 – 194).
Verglichen mit den Konstellationen 2a, 2b und 3 existieren bei Kranken in Konstellation 1 lediglich flüchtige Gedanken und nur geringe Befürchtungen oder Ängste gegenüber potenziellen weniger angenehmen Entwicklungen bzw. antizipierten zukünftigen Daseinsweisen. I: »Ähm, gibt es irgendwas, was Sie gerne vermeiden würden, in Zukunft?« Hr. Frey : »Was ich vermeiden möchte?« I: »Was Sie auf keinen Fall erleben möchten oder wenn es geht nicht erleben möchten?« Hr. Frey : –– »Ich, äh, also, Ängste vor etwas habe ich eigentlich nicht so konkret, muss ich sagen. Eigentlich nicht groß, nein. Es ist, äh, eben, ich, da ich eigentlich immer schaue, was auf mich zukommt, und mich dann entsprechend verhalte, weiß ich nicht genau. Mhm, vielleicht ein bisschen weniger immer : Ja sagen. Aber das ist so mehr charakterlich, dass ich – aus Bequemlichkeit viel sage: O.k., machen wir das so. Das wäre vielleicht eine Veränderung in meinem Charakter. Aber sonst, was ich vermeiden möchte, – nein.« (Hr. Frey, AM: 593 – 596).
Sofern Befürchtungen oder Ängste vorhanden sind, begrenzen sich solche auf die von Ärzten prognostizierte verbleibende ungewisse Lebenszeit, auf unerwünschte Sterbesituationen, den Tod sowie auf postmortale Aspekte. Im Ge-
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
gensatz zu den anderen Konstellationen, besteht bei Erkrankten in Konstellation 1 eine zuversichtliche Haltung gegenüber dem zukünftigen Dasein. Das subjektive Erleben einer zufriedenstellenden, gut erträglichen Daseinsweise, eine zuversichtliche Haltung und lediglich geringfügige Befürchtungen oder Ängste hinsichtlich des zukünftigen Daseins bewirken eine positive Beurteilung der eigenen Kompetenz, mit seiner gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise umzugehen bzw. zurechtzukommen. I: »Ähm, würden Sie sagen, dass Sie mit Ihrem Leben, so wie es sich heute gestaltet, fertig werden und zurechtkommen?« Hr. Frey : »Ja, grundsätzlich schon, ja. Es ist – man könnte vielleicht noch gewisse Dinge ändern. Das, das ist immer so etwas, das man sich überlegen muss.« I: »An was denken Sie denn?« Hr. Frey : »Vielleicht – also, wir haben schon überlegt, dass ich vielleicht eine kleine Wohnung für mich habe. Und meine Eltern in der Wohnung daneben wohnen. Und vielleicht eine Verbindungstüre ist, dass man wie noch mehr, eigentlich sein Leben für sich lebt. Und ganz, also, dass einem das gar nicht abgenommen wird. Dass man alles wirklich selbst machen muss. Dass vielleicht auch die Privatsphäre noch größer wird. Dass man vielleicht noch das Gefühl hat, dass man noch selbstständiger ist und weniger abhängig von anderen Leuten. Das ist vielleicht eine Situation, die – vielleicht in Zukunft zu ändern sein wird. Also, ich denke, so, die Selbstständigkeit ist etwas vom Wichtigsten. Ja.« (Herr Frey, AM: 191 – 194).
Die Konsequenz aus diesen Umständen ist, dass im Bezug auf die Bestimmung der Zielsetzung für das weitere Dasein und die Bereitschaft, weiterzuleben oder im Gegenteil aus dem Leben zu gehen, in Konstellation 1 ein ausdrücklicher Lebenswille vorherrscht, der bewirkt, dass die Kranken ihr Leben nicht beenden, sondern weiterleben wollen. I: »Ja, vielleicht noch: Welche Bedeutung hat das Leben für Sie?« Hr. Frey : »Hm, gute Frage. Welche Bedeutung? Also, – also, ich hänge an meinem Leben. Das ist jetzt eigentlich schon klar. Und ich lebe gerne. Äh, ja und sonst, – also, eigentlich, ich denke einfach, es ist schön, dass ich in der Schweiz leben kann. Also, sagen wir das so. Also, also, rein von der sozialen Struktur und allem, dass ich eigentlich – also, auch wenn einem viele Steine in den Weg gelegt werden oder gewisse Dinge nicht so klappen, habe ich schon das Gefühl, dass in der Schweiz ein Leben im Rollstuhl lebenswert ist. An anderen Orten weiß ich nicht, ob ich so motiviert wäre und so einen Lebenswillen hätte. Wenn ich nicht – also, rein halt durch die Technik, dass man – also, ich habe so eigentlich mein Leben, finde ich, die Bedeutung – eben je mehr ich selbst machen kann, je selbstständiger ich bin, umso lebenswerter ist es für mich, finde ich. Und durch das, denke ich, eben ist es gut, in der Schweiz zu leben oder wenn man jetzt vielleicht in Deutschland ist oder so. Einfach – ja.« I: »Also, setzen Sie lebenswert gleich mit möglichst selbstständig sein, oder?« Hr. Frey : »Die Selbstständigkeit und auch ein – kleines, aber gutes und schönes Netz an Freunden und Bekannten, die hilfsbereit sind und das gerne tun, ja. Und denen ich auch etwas zurückgeben kann.« I: »Sind das so die wichtigsten – ?« Hr. Frey : »Mhm, ja, das sind eigentlich die zwei wichtigsten Dinge, ja.« (Herr Frey, AM: 492 – 497).
Konstellation 2a
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Kongruent damit ergibt sich bezüglich des Entscheids, mit seinem Leben weiterzumachen oder aus dem Leben zu gehen und durch Suizid(-beihilfe) zu sterben, der Wille und Entscheid, weiterzuleben, und die Bereitschaft, auf biologische Art zu sterben. Die damit verbundene Planung und Ausführung von Maßnahmen dient demzufolge der Realisierung der Entscheidung, weiterzuleben. So wird in Konstellation 1 von chronisch Kranken auf medizinisch-therapeutische Angebote zurückgegriffen, die ihnen helfen, mit ihrem krankheitsbedingten Dasein zurechtzukommen, und ihnen ermöglichen, weiterzuleben. Vorbereitungen hinsichtlich des Sterbens beschränken sich in Konstellation 1 auf Maßnahmen zur Vorbeugung einer Lebensverlängerung und auf die Regelung von Erbschaftsangelegenheiten. In der Folge bleiben chronisch Kranke in Konstellation 1 am Leben und sterben aller Voraussicht nach auf biologische Art. Von den untersuchten chronisch Kranken repräsentieren drei Konstellation 1. In Anhang 2 (S. 403 ff.) kann die Fallgeschichte von Herrn Beck eingesehen werden, der Konstellation 1 repräsentiert.
5.6
Konstellation 2a: Noch oder wieder zurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen Daseinsweise, solange diese erträglich ist, und nicht mehr zurechtkommen, sobald eine ungewollte Daseinsweise droht
Wie in Konstellation 1 ist Konstellation 2a geprägt von Persönlichkeitsmerkmalen, der Glaubenshaltung, bedeutsamen sozialen Beziehungen, der Lebenswelt, der Einstellung zum Sterben und zur Suizidbeihilfe, dem subjektive Werteund Präferenzsystem, dem Verlauf der Gesundheit, den Krankheitssymptome und deren Auswirkungen, dem eigenen Umgang mit dem veränderten Dasein sowie der Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen und deren Wirkung. Anders als in Konstellation 1 kommen in Konstellation 2a zusätzlich prägende Lebens- und Krankheitserfahrungen, persönliche Einstellungen zum Leben, Gedanken, unter bestimmten Umständen nicht mehr leben zu wollen, das Verhalten von Bezugspersonen sowie die Antizipation von Gefahren, Risiken und Ängste zum Tragen. Charakteristisch in Bezug auf die persönlichen Faktoren ist in Konstellation 2a, dass es sich bei den chronisch Kranken um gläubige, um nicht sonderlich gläubige oder um konfessionslose Personen handeln kann, die fatalistisch, anpassungswillig oder abwartend sind, die eher zu Willensfreiheit und -kraft, Selbstbestimmung, Antizipation und Widerstand neigen. Auffallend ist, dass Persönlichkeiten, die als fatalistisch, anpassungswillig und abwartend bezeichnet werden können, gläubig sind. Im Gegensatz dazu zeigt sich bei willensstarken, selbstbestimmten, antizipatorischen, sich wehrenden Persön-
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lichkeiten, dass sie entweder atheistisch, nicht im strengen Sinn gläubig oder sie gläubig sind, sich aber unabhängig davon die Freiheit nehmen, Suizidbeihilfe für sich zu erwägen. Die sozialen Beziehungen und die Lebenswelt zeichnen sich in Konstellation 2a dadurch aus, dass die Erkrankten entweder alleine oder mit ihnen nahestehenden Menschen zusammenwohnen oder in einer Institution des Gesundheitswesens leben. In Konstellation 2a bewirken die sozialen Lebensumstände, dass sich die Kranken wohlfühlen. Es bestehen bedeutsame soziale Beziehungen, die für manche Kranken existenziell, unterstützend und lebenserhaltend sind. Aber auch das Gegenteil kommt vor, das heißt, Kranke fühlen sich von ihren Bezugspersonen nicht verstanden. Unabhängig davon, ob Freundschaften bestehen, treten in Konstellation 2a aufgrund fehlender familiärer Beziehungen Gefühle auf, mit seinem veränderten Dasein auf sich allein gestellt zu sein. Ob sie »nur« über Freunde oder auch noch über familiäre Beziehungen verfügen, macht für Kranke einen Unterschied. Entgegengesetzt zu Konstellation 1 sind in Konstellation 2a auch persönliche Lebens- und Krankheitserfahrungen sowie die eigenen Einstellungen zum Leben von Bedeutung. Dazu zählen negative Erfahrungen mit der Krankheit und Versorgung von Bezugspersonen, die Erfahrung von eigenen belastenden, unerträglichen Krankheiten sowie Enttäuschungen hinsichtlich der wirkungslosen Behandlung eigener Krankheitssymptome. Zudem existieren in Konstellation 2a deutliche Ansichten darüber, was zu einem sinnvollen, lebenswerten Leben gehört und unter welchen Umständen das Gegenteil der Fall ist. Es zeigt sich, dass Lebens- und Krankheitserfahrungen sowie die Einstellungen zum Leben Überlegungen und Entscheidungen darüber aufkommen lassen und beeinflussen, weiterzuleben oder unter bestimmten Umständen durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen. Was die persönliche Einstellung über das Sterben, den Tod und die Suizidbeihilfe betrifft, bestehen zwischen Konstellation 1 und 2a Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Die Gemeinsamkeit ist, dass aus dem Verständnis Kranker in Konstellation 2a wie in Konstellation 1 die Suizidbeihilfe keine Option sein kann (siehe dazu S. 308 ff.). Der Unterschied zu Konstellation 1 ist, dass in Konstellation 2a die Möglichkeit der Suizidbeihilfe mehrheitlich erwogen wird, und zwar unabhängig von der Glaubenshaltung. Gläubige Kranke, die in der Suizidbeihilfe eine Möglichkeit für sich sehen, legitimieren sie damit, dass sie nicht an eine sie dafür strafende höhere Macht glauben. In Konstellation 2a kommt der Suizidbeihilfe die Bedeutung eines letzten Auswegs aus einer misslichen Lage zu, einer Freiheit, über sein Sterben zu bestimmen, Erlösung zu erfahren sowie eine persönliche Ausrüstung für sein Dasein zu sein. Ein weiterer Unterschied zu Konstellation 1 ist, dass das subjektive Werte- und Präferenzsystem (das Gewollte und das Ungewollte) in Konstellation 2a dominant ist, das heißt, bei solchen Kranken bestehen klare Vorstellungen über ungewollte und gewollte Daseinsweisen und Sterbesituationen. Diese beziehen sich
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zum Beispiel auf mögliche weitere krankheitsbezogene Entwicklungen und die damit verbundenen Folgen, die Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen sowie die Beschaffenheit und den Ort seines Daseins und Sterbens. I: »Mhm. – Haben Sie denn selbst eine Vorstellung davon, wie Sie gerne sterben würden? Oder was haben Sie da für eine Auffassung?« Fr. Spörri: – »Das muss ich nehmen, wie es kommt. – Nur, ich, bis jetzt bin ich noch nicht abhängig, – von niemandem. Aber, wenn ich abhängig werde, dass ich gar nichts mehr sehe, dann möchte ich nicht mehr leben.« I: »Mhm. Also, im Moment können Sie Ihren Haushalt noch selbst führen?« Fr. Spörri: »Bis jetzt, bis jetzt habe ich immer alles selbst gemacht –.« (Frau Spörri, O: 10 – 621).
Der Umstand, dass es für Kranke Aspekte gibt, die von ihnen ausdrücklich gewollt oder nicht gewollt werden, veranlasst sie dazu, für sich Suizidbeihilfe zu erwägen, und ruft bei ihnen die Einstellung hervor, lieber auf diese Art zu sterben anstatt ihr verändertes Dasein auf ungewollte Art und Weise zu Ende führen zu müssen. Im Hinblick auf das Erleben des Krankheitsverlaufs und damit verbundene Auswirkungen wird in Konstellation 2a gleich wie in Konstellation 1 zum Teil eine gesundheitliche Verbesserung erlebt. Anders als in Konstellation 1 werden daneben aber auch gesundheitliche Rückfälle erfahren, das heißt, der gesundheitliche Zustand und damit verbundene physische Funktionen verschlechtern sich progressiv, oder aber Krankheitssymptome bleiben stabil, ohne dass diesbezüglich eine Verbesserung wahrgenommen wird. In einigen Fällen geht es gesundheitlich Auf und Ab. Die Krankheitssymptome werden in Konstellation 2a mehr oder weniger schlimm erlebt, die Intensität der Symptome nimmt zu oder es kommen immer wieder neue Symptome hinzu. Während das Symptomerleben in Konstellation 1 ohne Einschränkung als erträglich empfunden wird, zeigt sich, dass dieses aus der Sicht chronisch Kranker in Konstellation 2a als noch erträglich erlebt wird. Hr. Niederberger : »Also – ich hatte hier fast eine kleinere Auseinandersetzung mit einer Nachtschwester, weil ich behauptete, in meinem Stadium kann man gar nicht schmerzfrei sein. Nein, ich bin nicht schmerzfrei. Ähm, ich bin, die wünschen ja, eben, das man so eine Benotung gibt. Also, ich würde sagen, ich habe eine 2 – 3, wenn 10 die höchsten Schmerzen sind. – Aber ein gewisses Schmerzsignal ist einfach immer gegeben, sei es im Rücken, sei es, wenn ich mich bewegen muss, jedes Mal die Achsel wieder, also, – nein, schmerzfrei bin ich nicht mehr, wie das vorher war. Aber wie gesagt, erträglich, so.« (Herr Niederberger, D: 225).
Aus dem Vergleich der Auswirkungen der Krankheit auf das gewohnte Dasein Kranker in Konstellation 2a und 1 resultiert, dass die Krankheitsauswirkungen in Konstellation 2a als einschneidend wahrgenommen werden. Neben dem Gefühl, gegenwärtig noch existenzfähig zu sein, entsteht der Eindruck, dass die physischen Funktionen schwächer werden, die Selbstständigkeit abnimmt und
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bedingt durch anhaltende Krankheitssymptome sukzessive weniger getan werden kann. Die Folgen sind Einbußen der Lebensqualität, Gefühle von Sinnund Nutzlosigkeit oder die Schwierigkeit, seinen häuslichen Alltag bestehen und auf Dauer am gewohnten Ort wohnen bleiben zu können. Aus der progressiven gesundheitlichen Verschlechterung und daraus hervorgehenden negativen Auswirkungen für das Dasein chronisch Kranker resultieren körperliche Energieverluste, Anzeichen von Depression, fehlende Aussicht auf Besserung und Gedanken an die Suizidbeihilfe. In Konstellation 2a gibt es aber auch chronisch Kranke, bei denen die Lebensqualität noch intakt ist, das Leben noch Wert besitzt und Sinn macht und der häusliche Alltag noch bewältigt werden kann. Hr. Ramsauer: »Also, im Übrigen, also, meine Lebensqualität ist im Moment, also, noch recht passabel.« (Herr Ramsauer, M: 275).
Sobald das Ungewollte allerdings einzutreten droht oder eingetreten ist, kommen in Konstellation 2a zusammenhängend mit den persönlichen Erfahrungen, den Werten und Präferenzen chronisch Kranker Gedanken auf, nicht mehr leben zu wollen. Der Umgang mit der chronischen Krankheit und den krankheitsbezogenen Veränderungen des Daseins durch die Erkrankten, die nahestehenden Bezugspersonen und die (Gesundheits-)Fachpersonen zeigt, dass die Kranken der Konstellationen 2a das Leben (noch) genießen. Im Unterschied zu Konstellation 1 ist dies in Konstellation 2a jedoch nur so lange der Fall, wie es nach Ansicht der Kranken noch geht. Im Gegensatz zu Konstellation 1, in welcher chronisch Kranke Negatives ausblenden, wird in Konstellation 2a versucht, sich von belastenden Situationen abzulenken. Während in Konstellation 1 Vertrauen gegenüber der medizinischen Versorgung und Therapieadhärenz herrscht, kommen in Konstellation 2a Abneigungen gegenüber bestimmten therapeutischen Maßnahmen, therapeutische Non-Adhärenz und Misstrauen gegenüber der medizinischen Versorgung vor. Fr. Rieger : »Und das war eigentlich maßgebend, dass ich gesagt habe, dass ich dann eigentlich – vorher war ich gar nicht so weit. […?]. Ich weiß es nicht. Ich habe immer gedacht: Ach, wenn du eine Patientenverfügung hast, das genügt. Aber jetzt, mit der Krankheit – weil das, ich habe nämlich immer noch, nicht Angst, aber ich habe noch das Gefühl, weil das – sie noch zu wenig Erkenntnisse über die Krankheit haben. […]. Und dann habe ich Angst bekommen, dass die mich vielleicht noch am Leben erhalten möchten, um zu sehen, wie sich die Krankheit bis zum Schluss auswirkt. Und das wollte ich nicht. Und darum bin ich eigentlich auf Exit gekommen. Weil ich dann dachte, ich meine, – wenn ich trotzdem an einem Herzinfarkt sterbe, ist es ja egal, ob ich jetzt in der Exit bin oder nicht. Aber, wenn das sein müsste, dass ich noch mal ins Krankenhaus komme, was ich nicht, von mir aus nicht will, auf keinen Fall. Aber, wenn ich auf der Straße umfalle, dann komme ich ins Krankenhaus, automatisch. Und wenn sie dann wissen, was ich habe, dann ist das möglich, dass sie mich noch als – Versuchsobjekt betrachten.« (Frau Rieger, Q: 223 – 323).
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Darüber hinaus zeigt sich in Konstellation 2a, dass die Kranken probieren, ihre Beschwerden selbst in den Griff zu bekommen. Es tauchen Gedanken an die Suizidbeihilfe auf und es werden Vorbereitungen für den Fall getroffen, dass einem eine ungewollte Daseinsweise droht oder eine solche eintritt. Der Umgang der Bezugspersonen mit Kranken wird von Letzteren in Konstellation 2a als unterstützend, wertschätzend und zugeneigt erfahren, was ihnen Kraft zum Leben gibt. Im Zusammenhang mit den Überlegungen und Erwägungen Kranker, unter Umständen durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, sind auch die Positionen von Bezugspersonen gegenüber der Thematik der Suizidbeihilfe relevant. Neben Bezugspersonen, welche die Suizidbeihilfe ablehnen oder zu verhindern versuchen, geben andere ihr Wissen zur Suizidbeihilfe weiter und zeigen Verständnis für entsprechende Vorhaben chronisch Kranker. Was die Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen und deren Wirkung anbelangt, ist festzuhalten, dass manche Kranke, wie in Konstellation 1, gute Erfahrungen machen und die medizinische Versorgung als wirksam beurteilen. Im Gegensatz zu Konstellation 1 machen einige Erkrankte allerdings auch schlechte Versorgungserfahrungen. Fr. Rickenbach: »[…] als ich dort oben ankam, habe ich halt dann Schmerzen gehabt, dass es kracht und rumort. Und dann habe ich dort oben gedacht: Jetzt bist du nicht so blöde, jetzt machst du gleich eine Spritze, wartest jetzt nicht noch weiß Gott wie lange. Habe den Arzt verlangt, er solle mir eine Spritze geben: ›Ja, nein, das kann ich Ihnen nicht geben, das ist Morphium, das kann ich Ihnen nicht.‹ Habe gesagt: ›Dann rufen Sie meinem Hausarzt an, sagen Sie es ihm.‹ Zwei bis drei Stunden verstrichen, kein Arzt. Ich wieder geklingelt: ›Ja, was ist los?‹ Ja, der Herr Doktor hat jetzt keine Zeit. Habe gesagt: ›Ich muss dringend eine Spritze haben, das geht einfach nicht.‹ Nichts passiert. Am anderen Tag immer noch kein Arzt gekommen. Schwester gekommen: ›Fräulein, Schwester, ich muss eine Spritze haben, ich habe solche Schmerzen.‹ Ja, sie sage es dem Arzt. Kein Arzt, niemand gekommen. […]. Dann nach zwei bis drei Tagen hat sich dieser Arzt wieder blicken lassen und ich sage: ›Hören Sie, ich habe solche Schmerzen, ich muss eine Spritze haben.‹ Ja, er könne mir keine Spritze geben, ich wolle Morphium und das könne er mir nicht geben. Da sage ich:‹ Ja, Herr Gott noch mal, dann rufen Sie meinen Hausarzt an.‹ ›Jaja, ist gut.‹ Und ist wieder davon gegangen. […]. Das ging etwa vier bis fünf Tage, bis ich endlich eine Spritze bekommen habe. Und ich bin beinahe verreckt vor Schmerzen, weil, dass … der Nacken tut dann so weh. Also, das ist wirklich dann nicht mehr zum Aushalten. […]. Also, ich bin wirklich auf den Knien gegangen. Ich konnte wirklich einfach nicht mehr. Und diese Ärzte haben mich einfach total hängen gelassen. Die haben nichts gemacht, nichts.« (Frau Rickenbach, P: 113 – 115).
Manche Kranken in Konstellation 2a erleben am eigenen Leib, dass Ärzte Krankheitssymptomen gegenüber machtlos sind. Mehrere Ärzte machen therapeutische Vorschläge, die jedoch den Werten und Präferenzen mancher chronisch Kranker zuwiderlaufen. Gelegentlich löst die medizinische Versorgung auch Misstrauen aufseiten Kranker aus. Es kommt vor, dass ärztliche
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Prognosen über den Krankheits- und Symptomverlauf auf Kranke beunruhigend wirken. Im Unterschied zu Konstellation 1 bezieht sich der Umgang von Gesundheitsfachpersonen mit Kranken in Konstellation 2a auch auf die Thematik der Suizidbeihilfe. Einige wenige Ärzte verhalten sich den Anliegen Kranker rund um die Suizidbeihilfe gegenüber aufgeschlossen und unterstützend, andere reagieren auf solche Anliegen abweisend und pikiert. Das kann zu einem Abbruch der Kommunikation führen und bewirken, dass Kranke enttäuscht sind. Hr. Mosimann: – »Mh (räuspert sich) und ähm, dann muss ich noch sagen, das ist für mich eine große Enttäuschung gewesen, ich muss ja auch, das Rezept haben für die tödliche Dosis Barbiturat und äh, ich habe, der Hausarzt hat sich da geweigert, mir da so ein Rezept auszustellen.« I: »Also, der, der Sie schon seit 30 Jahren betreut?« Hr. Mosimann: »Jawohl, und das ist für mich, äh, eine große Enttäuschung gewesen, – äh, insofern, dass ich den Eindruck gehabt habe, er tut sich einfach oder er hat sich einfach abgeschlichen, in der Situation. Ich begreife zwar, dass ein Arzt, äh, Hemmungen haben kann, so – äh, das Rezept auszustellen, aber auf der anderen Seite müsste er einem auch eine Alternative bieten können und das wäre, die, eine gewisse Schmerzfreiheit und das hätte, das kann er mir nicht bieten und wenn er hier in einem Jahr aufhört, kann er für sich in Anspruch nehmen, ich habe nie irgendwie etwas gemacht, was – oder bewusst gemacht, was meinen Patienten geschadet hätte, das kann er für sich in Anspruch nehmen.« (Herr Mosimann, C: 20 – 24).
Manche Ärzte raten von der Suizidbeihilfe ab und reagieren mit Versorgungsversprechungen, in denen sie Alternativen zur Suizidbeihilfe sehen. In einem Fall sieht sich ein Kranker aufgrund dessen dazu veranlasst, von weiteren Vorbereitungen rund um die Suizidbeihilfe vorerst abzusehen. Andere Suizidbeihilfe-Interessierte haben Zweifel gegenüber den von den Ärzten vorgeschlagenen Alternativen und lassen sich darauf nicht ein. Angesichts der subjektiven Wahrnehmung und Beurteilung der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise kennzeichnet Konstellation 2a, dass chronisch Kranke ihre gegenwärtige Daseinsweise mehrheitlich noch oder wieder als erträglich und zufriedenstellend erleben. Hr. Imhof: »[…]. Ja und eben, starke Schmerzen.« I: »Hat man denn die Schmerzen zu behandeln versucht?« Hr. Imhof: »Ja. Ja. Mit Spritzen, Spritzen, Hunderte von Spritzen.« I: »Was für Spritzen haben Sie bekommen? Wissen Sie das?« Hr. Imhof: »Äh, Morphium. Ich habe auch Pflaster, 175.« I: »Immer noch?« Hr. Imhof: »Ja.« I: »Jetzt auch?« Hr. Imhof: »Jaja, jaja. Ohne die geht es nicht.« I: »Mhm. Und wie ist das mit den Pflastern? Wie ist das für Sie?« Hr. Imhof: »Das Beste. Plus Medikament. Aber keine Spritzen mehr. Da war ich froh, als die dann weg waren. Jaja, das ist furchtbar. Jetzt haben sie es im Griff. Ich bin nie ohne Schmerzen, aber doch erträglich.« (Herr Imhof, AG: 114 – 130).
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Auffällig ist, dass im Vergleich zu Konstellation 1 in Konstellation 2a eine stärkere Antizipation von Gefahren und Risiken in Bezug auf das eigene Dasein durch die Kranken erfolgt und bei diesen statt mäßigen Befürchtungen Angst und Unwille gegenüber antizipierten ungewollten Daseinsweisen bestehen. Die antizipierten Gefahren und Risiken konzentrieren sich auf eine mögliche therapeutische Machtlosigkeit von Gesundheitsfachpersonen gegenüber gesundheitlichen Beschwerden, auf Ungewissheit, wie lange einem die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten noch erhalten bleiben, sowie auf mögliche gesundheitliche Ereignisse, die eine Urteilsunfähigkeit bedingen können, womit die Möglichkeit der Suizidbeihilfe nicht mehr gegeben wäre. Darüber hinaus bestehen in Konstellation 2a aber auch Ängste und Unwillen gegenüber ausstehenden medizinisch-operativen Eingriffen, davor, auf ungewollte Art und Weise an einem ungewollten Ort leben zu müssen oder vor unerwünschten Sterbesituationen und dem Verpassen des Zeitpunktes, durch Suizid(-beihilfe) sterben zu können. Fr. Rickenbach: »Also, wovor ich Angst habe, ist, dass ich den richtigen Zeitpunkt verpasse, diese Tabletten zu nehmen, weil ich muss das selbst machen. Das ist hier in der Schweiz so. Also, wenn sie jemandem helfen, dann ist das eigentlich ein Mörder, oder. Äh, ich muss das selbst schlucken können; ich muss diese Tabletten selbst nehmen. Und dort den richtigen Zeitpunkt zu erwischen und nicht zu lange zu warten, dass man die Tabletten eben schon nicht mehr nehmen kann, dass man nicht mehr fähig ist, diese Tabletten zu nehmen, sondern den Zeitpunkt zu erwischen, wo du weißt: Jetzt musst du die Tabletten nehmen, sonst ist es zu spät. Davor habe ich Angst.« I: »Also, dieses Abwägen?« Fr. Rickenbach:«Den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, oder.« (Frau Rickenbach, P: 186 – 188).
Das Erleben einer mehrheitlich noch oder wieder erträglichen gegenwärtigen Daseinsweise sowie die Angst und der Unwille gegenüber antizipierten ungewollten Daseinsweisen bedingen in Konstellation 2a hinsichtlich der Beurteilung der eigenen Kompetenz, mit seinem gegenwärtigen und antizipierten Dasein umzugehen, dass chronisch Kranke noch oder wieder mit ihrer veränderten gegenwärtigen Daseinsweise zurechtkommen, solange diese für sie erträglich ist, und sie nicht mehr zurechtkommen, wenn bei ihnen ungewollte Daseinsweisen bestehen oder ihnen solche drohen. Hr. Ramsauer : »So kann ich, – so kann ich noch existieren. Und wenn es notwendig ist, gehe ich auch in ein Altersheim. Aber nur so lange, wie ich, eben – weil, wenn ich dann dort merke, es geht nicht, dann würde ich auch Exit kommen lassen.« (Herr Ramsauer, M: 156).
Weitere bedingende Faktoren dafür, noch oder wieder mit der veränderten Daseinsweise zurechtzukommen, sind das Gefühl, noch lebensfähig zu sein und mit dem veränderten Dasein noch existieren zu können, bedeutsame soziale Beziehungen, das Interesse am Leben, eine akzeptable Lebensqualität, das Leben
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als noch angenehm und lebenswert zu erfahren, und das Gefühl, für andere keine zu große Belastung zu sein. Zu Faktoren, die bewirken würden, dass chronisch Kranke nicht (mehr) zurechtkommen, zählen: Beeinträchtigungen, welche die verbale Kommunikation verunmöglichen, eine weitere Verschlechterung der gesundheitlichen Situation, einhergehend mit nicht in den Griff zu bekommenden anhaltenden unerträglichen Symptomen, die Bedrohung oder Einschränkung der Selbstbestimmung, das Erleben, für nahestehende Bezugspersonen eine Last zu sein, die fehlenden Kompetenzen, die für eine selbstständige Lebensführung im häuslichen Alltag Voraussetzung sind, oder das Gefühl, dass es reicht oder nicht mehr geht. I: »Mhm. – Sie haben gesagt, letztes Jahr war das, als Sie nicht mehr leben wollten und ähm ––.« Fr. Spörri: »Jaaa, äh, jaaa, –– ich habe mir das, eben – ich habe, ich bin ja Exit beigetreten 1987 und zwar eben, mit diesem Grund, wenn ich sehe, dass es nicht mehr gut geht mit mir, dass ich dann einfach ein Ende machen will. Das habe ich mir immer vorgenommen ––.« I: »Mhm. Das war für Sie so ein Entschluss?« Fr. Spörri: »Ja, ja. Das ist ein fester Entschluss.« (Frau Spörri, O: 804 – 813).
Entscheidend für das Zurechtkommen bzw. den Beginn des Nichtzurechtkommens sind in Konstellation 2a demzufolge das Fortbestehen oder die Wiederkehr gewollter Faktoren des Daseins und das Ausbleiben ungewollter Faktoren. Mit dem Muster : Noch oder wieder Zurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen Daseinsweise, solange diese erträglich ist, und nicht mehr zurechtkommen, wenn ungewollte Daseinsweisen bestehen oder einzutreten drohen, sind bezüglich der Bestimmung der Zielsetzung für das weitere Dasein und der Bereitwilligkeit weiterzuleben oder aus dem Leben zu gehen, Einschränkungen verbunden, das heißt, in Konstellation 2a hat der Wille zu leben bei chronisch Kranken, die sich für Suizidbeihilfe interessieren, Grenzen. Fr. Rickenbach: »[…]. Also, ich muss so sagen, äh, ich weiß nicht, ob Sie das richtig verstehen. Ich will leben, ich will absolut nicht sterben.« I: »Nein, das verstehe ich schon.« Fr. Rickenbach: »Und ich will mich auch nicht umbringen. Ich will das nicht. Ich will nach Möglichkeit 80 Jahre alt werden und an einem natürlichen Tod sterben, an Altersschwäche von mir aus, oder. Ich will meinem Leben kein Ende setzten. Nur, ich will einfach auch nicht um jeden Preis leben. Und das heißt, wenn ich einfach wirklich 100 % von der Willkür von anderen Menschen abhängig bin, dann ist dieses Leben für mich nicht mehr lebenswert. Das kann in einem Altersheim, mit 80, kann das immer noch lebenswert sein. Wenn ich noch am Leben teilnehmen kann auf irgendeine Art und Weise. Aber diese Art, die ich meine, ist, dass ich gar nicht mehr am Leben teilnehmen kann. Dass vielleicht mein Kopf 100 % in Ordnung ist, ich kann denken, ich kann alles, ich bin bei vollem Bewusstsein. Aber ich kann mich nicht mehr ausdrücken, ich kann mich nicht mehr bemerkbar machen, ich kann nicht mehr formulieren. Ich bin der Willkür von ihnen oder von irgendwelchem Pflegepersonal ausgeliefert.« (Frau Rickenbach, P: 313 – 315).
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In Konstellation 2a leben chronisch Kranke noch gern. Es besteht die Absicht, noch so gut und so lange wie möglich weiterzuleben, da aktuell kein Erfordernis besteht, sich das Leben zu nehmen. Fr. Spörri: – »Und äh –– und jetzt bin eben durch xy (Mitarbeiter einer Suizidbeihilfeorganisation) bin ich zum Arzt – zum anderen Arzt gekommen.« I: »Mhm. – Mit dem haben Sie auch schon gesprochen, mit dem neuen Hausarzt?« Fr. Spörri: »Noch nicht, noch nicht genau. Ich weiß nicht, was er mit xy (Mitarbeiter einer Suizidbeihilfeorganisation) besprochen hat. Ich habe ihn nicht gefragt und er hat nichts gesagt. Als ich gekommen bin, hat er nur gesagt zu mir : ›Aber Sie wollen nicht grad jetzt abtreten?‹ Da habe ich gesagt: Nein.« I: »Mhm. Ja, so wie Sie erzählt haben, wollen Sie ja auch noch leben. Oder, so lange, wie es möglich ist.« Fr. Spörri: »Ja, solange es, solange ich es durchhalte. Wenn ich halt merke, es geht einfach nicht mehr, dann –––.« (Frau Spörri, O: 1060 – 1070).
Solange das veränderte Dasein noch erträglich und sozusagen noch lebbar ist, das heißt, solange die Faktoren, die das Zurechtkommen mit der veränderten Daseinsweise bedingen, gegeben sind (das Gewollte), und die Faktoren, die das Nichtzurechtkommen hervorrufen (das Ungewollte), nicht eintreten, ist das Ziel, so lange, wie es geht, mit seinem Leben weiterzumachen, und sich das Leben durch Suizid(-beihilfe) zu nehmen, wenn ungewollte Daseinsweisen drohen. Im Hinblick auf den Entscheid, sein Dasein weiterzuführen oder aus dem Leben zu gehen und durch Suizidbeihilfe zu sterben, ist es in Konstellation 2a so, dass Kranke, die der Auffassung sind, die Dauer ihres Lebens nicht bestimmen zu können, für sich keine Wahl vornehmen, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben und somit auch keinen Entscheid treffen. Für solche Kranken ist das Weiterleben quasi selbstredend vorgegeben. Bei manchen Kranken zeigt sich in Konstellation 2a, dass sie, wie in Konstellation 1, über Lebenswillen verfügen, diesbezüglich aber Grenzen existieren. Infolgedessen entscheiden sie vorerst, weiterzuleben, solange ihr Dasein für sie erträglich ist und beschließen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, falls von ihnen antizipierte ungewollte Daseinsweisen einzutreten drohen. Es wird angestrebt, den endgültigen Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, erst kurzfristig zu treffen, um keine kostbare Lebenszeit zu verschenken und andererseits nicht so lange zu warten, bis es für die Möglichkeit des Sterbens durch Suizidbeihilfe zu spät ist. In einem Fall besteht Unsicherheit darüber, ob die Kranke imstande ist, den Entscheid tatsächlich zu treffen. Die Planung und Ausführung von Maßnahmen bezieht sich in Konstellation 2a folglich darauf, das veränderte Dasein weiterzuführen und zugleich die Möglichkeit zu er- und behalten, sein Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden. Kongruent dazu lassen sich chronisch Kranke beispielsweise auf medizinisch-therapeutische Maßnahmen ein, die ihnen helfen, auf erträgliche Weise zu leben, und gleichzeitig setzen sie sich mit einer Suizidbeihilfeorganisation in Verbindung, erwerben eine entsprechende Mitgliedschaft, stellen eine
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Patientenverfügung aus oder leiten Schritte für die Ausstellung des Rezeptes für das Natrium-Pentobarbital ein. I: »Ähm – also, Sie haben ja, glaube ich, das Rezept von Exit, gell? Das ist ausgestellt für Sie, oder?« Fr. Reber : »Ja, ja. Ja ich hab – das ist alles erledigt. Ich müsste, also, nur sagen: Dann und dann, äh, will ich nicht mehr hier sein. Und äh – aber eben, dann müssen die Zeugen da sein. Ja.« I: »Und da sind Ihre Angehörigen nicht bereit?« Fr. Reber : »Nein.« (Frau Reber, N: 88 – 91).
Die Konsequenz der Gegebenheiten in Konstellation 2a ist, dass chronisch Kranke vorerst am Leben bleiben. Sie sterben entweder auf biologische Art und Weise oder geraten im Laufe der Zeit möglicherweise in Konstellation 2b oder 3 und entscheiden dann, in absehbarer Zeit durch Suizid(-beihilfe) zu sterben. Wie erwähnt, gibt es in Konstellation 2a chronisch Kranke, die mit ihrem veränderten Dasein zurechtkommen und gegensätzlich zu anderen Kranken der Konstellation 2a und zu Konstellation 1 ohne ausdrücklichen Lebenswillen sozusagen »einfach« weiterleben. Wie in Konstellation 1 charakterisiert auch sie, dass sie die Möglichkeit der Beihilfe zum Suizid für sich ausschließen oder nicht als Möglichkeit erkennen, da sie der Überzeugung sind, nicht über die Dauer ihres Lebens bestimmen zu können. Fr. Burri: »[…]. Aber, wenn ich sehe, die Leute im 4. Stock (Pflegeabteilung), denke ich: Nein, also, so lange leben möchte ich nicht, nein. Aber das kann man eben nicht bestimmen, oder? Man muss es akzeptieren, wie es kommt.« I: »Also, nehmen Sie es auch, wie es kommt?« Fr. Burri: »Wie?« I: »Nehmen Sie es dann auch, wie es kommt?« Fr. Burri: »Ja. Ich muss es nehmen, wie es kommt, oder. Ich kann nichts machen, oder. […].« (Frau Burri, I: 147 – 151).
Zu den Persönlichkeitsmerkmalen solcher chronisch Kranker zählen Anpassungswille, eine fatalistische Haltung sowie Zuversicht und Dankbarkeit gegenüber dem Erhalt und der Wirkung medizinischer Therapien. Zudem kennzeichnet sie, dass sie gläubig sind und teilweise durch den Glauben Kraft zum Leben erfahren. Charakteristisch ist für diese Kranken auch eine Zufriedenheit mit den kontextuellen Bedingungen ihrer jeweiligen Lebenswelt, unabhängig davon, ob es sich um eine Langzeitinstitution, eine Palliativinstitution des Gesundheitswesens oder ihr Zuhause handelt. Die institutionelle Versorgung wird als akzeptabel erlebt und die Kranken fühlen sich gut aufgehoben. Die Werte und Präferenzen solcher Kranken beziehen sich zum Beispiel darauf, nicht auf eine von ihnen ungewollte Art und Weise leben zu müssen, nicht noch lange weiterzuleben oder auf gewollte Art sterben zu können. Gleich wie in Konstellation 1 ist ihr Werte- und Präferenzsystem allerdings nicht dominant. Bezüglich der Entwicklung des Gesundheitszustandes werden Besserung, kleine Fortschritte oder eine fortschreitende Verschlechterung erlebt, wobei die Krankheitssymptome und deren Auswirkungen erträglich sind. Den Umgang der Kranken mit
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ihrem Dasein kennzeichnet einerseits das Gefühl, selbst für sein Dasein nichts machen zu können, andererseits die Anpassung, die Akzeptanz, die Hinnahme sowie die Dankbarkeit. Obwohl auch sie in manchen Bereichen ihres Daseins Verluste erfahren, können sie ihnen Wesentliches noch machen. Ähnlich wie in Konstellation 1 wird auch Sinn erfahren, werden bestimmte Dinge des Daseins genossen und dem Dasein Freude und Spaß abgewonnen. Es wird versucht, in der Gegenwart zu leben und die Zukunft auszublenden, was, wie in Konstellation 1, dazu führt, dass wenig negative und ungewollte Daseinsweisen antizipiert werden. Die von den Kranken durch Gesundheitsfachpersonen erfahrene Versorgung basiert auf Anteilnahme und ist geprägt von beruflichem Engagement, der Vermittlung von Hoffnung und der Förderung der Selbstständigkeit in bestimmten Bereichen des täglichen Lebens. Das trägt dazu bei, dass chronisch Kranke ihr verändertes Dasein akzeptieren und ihre Versorgung vorwiegend positiv beurteilen. Trotz bestehender Ängste vor einer zu langen Lebensdauer, vor dem Risiko, sich körperliche Verletzungen zuzuziehen, vor Beeinträchtigungen der kognitiven Fähigkeiten und anfänglichen Schwierigkeiten, sein verändertes Dasein zu akzeptieren, erleben solche Kranke ihr gegenwärtiges Dasein mehrheitlich als erträglich, zufriedenstellend und kommen mit diesem zurecht. Wenn sie spüren, dass ihr biologischer Tod näher kommt, treffen sie diesbezügliche Vorbereitungen. Während chronisch Kranke der Konstellation 1 vermutlich dauerhaft in dergleichen Konstellation verbleiben, zeigt sich, dass es in Konstellation 2a solche gibt, die früher andere Konstellationen zugeordnet worden wären. Es ist die Wechselhaftigkeit der intrapersonalen und kontextuellen Faktoren der jeweiligen Daseinsweisen solcher Kranken, die bewirkt, dass sie sich im Laufe ihrer Erkrankung und deren Fortschreiten in unterschiedlichen Konstellationen befinden. Mehrere Kranke, die sich aktuell in Konstellation 2a befinden, haben sich in der Vergangenheit bereits schon einmal in Konstellation 3, Nichtzurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise befunden haben. Die Cut-Off-Punkte, warum solche Kranken in Konstellation 3 gerieten, waren die Aussicht und der Druck von Außenstehenden, gegen ihren Willen in ein Alters- oder Pflegeheim ziehen zu sollen, eine ungeplante und ungewollte Transition in eine Institution des Gesundheitswesens, unerträgliche Krankheitssymptome und eine diesbezüglich wirkungslose medizinisch-therapeutische Versorgung sowie unerträgliche Nebenwirkungen im Zusammenhang mit medizinischen Behandlungen. Fr. Kirchhofer : »Das ist, war das Schlimmste von Anfang an, diese Müdigkeit anzunehmen. Das ist für mich wirklich – heute, wo ich den größten Teil des Tages wach bin, kann ich mich dem Schlaf auch hingeben, aber eine Zeit lang war das wirklich – schlimm für mich. Und das hat zu dem Gedanken, sterben zu wollen, beigetragen, weil ich mir gedacht habe, so kann ich nicht leben, nicht essen, also, was soll das. Nicht mal
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
ich kann nicht mal zehn Minuten Fernsehen gucken, was ja wirklich, äh, nicht viele Kräfte beansprucht, – und noch vor zwei Wochen hätte ich dieses Gespräch nicht mit Ihnen führen können.« (Frau Kirchhofer, BI: 280 – 283).
Eine Möglichkeit, die Kranke von Konstellation 3 wieder in Richtung Konstellation 2a zurückbrachte, war neben einem Suizidversuch, den sie überlebt haben, dass Gesundheitsfachpersonen ihre Krankheitssymptome und deren Auswirkungen durch eine wirksame Symptombehandlung in den Griff bekamen, wodurch das Symptomerleben erträglich wurde. Bei anderen hing der Wechsel von Konstellation 3 zu 2a mit dem durch medizinische Therapien bedingten Rückgang von Nebenwirkungen, dem erfolgreichen Einleben in eine Institution des Gesundheitswesens, altruistischen Motiven und einer anderen Sicht der Dinge zusammen. In einem Fall existierte Angst, dass das tödliche Substrat im Rahmen der Suizidbeihilfe nicht wie erforderlich wirken könnte. Das führte dazu, dass vom Vorhaben, durch Suizidbeihilfe zu sterben, vorerst Abstand genommen und die Möglichkeit erwogen wurde, auf biologische Art zu sterben. Fr. Reber : »Aber ich muss ehrlich sagen, jetzt bin ich wieder einen Schritt weiter weg davon, und möchte eigentlich – das heißt aber, wir haben noch nicht mit ihm drüber gesprochen, – dass ich mein Leben vielleicht normal (betont) beenden möchte. Ja, und – ich kann nicht sagen, – sehen, wie das ist, denn ich komme ja nachher nicht mehr zurück. Ja, und da werde ich dann am Montag mit xy (Name Mitarbeiter einer Suizidbeihilfeorganisation) darüber sprechen. Ja.« I: »Und was hat jetzt für Sie den Wandel ausgelöst?« Fr. Reber : »Ja, den Wandel hat das ausgelöst, vielleicht auch eine gewisse Angst. Denn, wie Sie vielleicht schon wissen, ich habe keinen Magen mehr.« I: »Ah, das weiß ich nicht. Nein.« Fr. Reber : »Ja. Und äh, das war ziemlich schwierig, weil ich dann das Mittel, das man gibt, nicht schlucken könnte, sondern weil man das jetzt intravenös machen muss. Und äh, das hat mir jetzt ein bisschen Angst gemacht. Und ich sehe es auch jetzt wieder ein bisschen anders. Ja. Und das äh, ist eigentlich jetzt der Grund. […].« (Frau Reber, N: 28 – 36).
Zum Zeitpunkt der Durchführung der Interviews befanden sich sechzehn chronisch Kranke in Konstellation 2a. In Anhang 3 (S. 406 ff.) kann die Fallgeschichte von Herrn Mosimann eingesehen werden, die exemplarisch für Konstellation 2a steht.
5.7
Im Schwebezustand sein
Neben chronisch Kranken, die sich in den Konstellationen 1, 2a, 2b oder 3 befinden, gibt es auch solche, die sich in einem Schwebezustand zwischen den Konstellationen befinden. Aus dem Fall einer Erkrankten, die sich für die Möglichkeit interessiert, entweder durch Suizidbeihilfe oder auf biologische Art
Im Schwebezustand sein
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zu sterben, geht beispielsweise hervor, dass sie sich im Laufe des Untersuchungszeitraums in einem Schwebezustand zwischen den Konstellationen 2b und 3 befand. Bezeichnend für diesen Schwebezustand sind ein innerer Zwiespalt und Unentschlossenheit, was sich zum Beispiel darin zeigt, dass solche Kranken einerseits nicht mehr leben möchten, weshalb sie ihr Sterben durch Suizidbeihilfe vorbereiten, und sich andererseits von Gesundheitsfachpersonen weiter behandeln lassen, weil sie sich eine Erleichterung ihrer Beschwerden erhoffen. I: »Mhm. Ja, gut, wenn Sie sich so mies gefühlt haben.« – Fr. Odermatt: »Ja, nein, es wäre nicht dringelegen. Und dann, dann kommt eben wieder die Schizophrenie: Sollst du eigentlich noch!?« I: »Mhm. Ja, so wie Sie erzählen, eben, es ist wie so ein Zwiespalt, oder, auf der einen Seite?« –. Fr. Odermatt: ––– »Ja, ich sage, das ist ein bisschen schizophren, weil ich lasse mich behandeln, aber – ich meine, es gab Momente, wo es mir so mies ging, dass ich dachte, wenn ich jetzt nicht die Katze hätte, die dann alleine wäre, dann würde ich vielleicht doch mit allen Mitteln, die ich habe, würde ich etwas nehmen. Aber das tue ich nicht.« (Frau Odermatt, EIII: 506 – 513).
Die Unentschlossenheit bezieht sich auch darauf, ob und wie weit Kranke medizinische Behandlungsmöglichkeiten ausprobieren, ob sie sich Hilfsmittel anschaffen sollten oder ob die Behandlung überhaupt noch lohnt. Dieser Umstand erzeugt und offenbart Widersprüchlichkeiten zwischen dem Verhalten der Kranken und ihrem Vorhaben, durch Suizidbeihilfe zu sterben, sowie dem Standpunkt der sie behandelnden Gesundheitsfachpersonen, die ihnen weitere Behandlungen vorschlagen. Fr. Odermatt: »Also, in Bezug auf ––– reden wir mal in Bezug auf Exit. Äh, ich habe einfach beschlossen, dass ich meinem Arzt mal etwas sagen muss, weil die Situation ist irgendwo schizophren, finde ich. Ich gehe zum Arzt und er gibt sich Mühe und meldet mich sogar zum Spezialisten an, und ich mache diese Schritte (hinsichtlich Suizidbeihilfe). Gut, er hat das gewusst, weil ich ihm mal die Exit-Patientenverfügung gegeben habe.« (Frau Odermatt, EIII: 15 – 24).
Manche Kranke geraten in einen Zwiespalt, weil sie den biologischen Tod dem Tod durch Suizidbeihilfe vorziehen. Stellen sie gesundheitliche Beschwerden an sich fest, durch welche sich ihnen die Chance eröffnet, möglicherweise auf biologische Art sterben zu können, dann neigen einige dazu, ihren Arzt nicht über alle ihre gesundheitlichen Veränderungen und damit auftretenden Beschwerden in Kenntnis zu setzen, da sie sich erhoffen, durch diese plötzlich sterben zu können.
326
5.8
Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Konstellation 2b: Sich abzeichnende Ungewissheit oder Schwierigkeiten, mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise zurechtzukommen
Zu den wesentlichen Merkmalen chronisch Kranker in Konstellation 2b gehören wie in Konstellation 1 und 2a die jeweiligen Persönlichkeitsmerkmale, der Lebensort, die Einstellung zum Sterben und zur Suizidbeihilfe, die subjektiven Werte und die Präferenzen, der Gesundheits- und Symptomverlauf und deren Auswirkungen auf das Dasein der Erkrankten, der eigene Umgang mit dem veränderten Dasein, das Verhalten der Bezugspersonen, die Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen und deren Wirkung. Gleich wie in Konstellation 2a spielen in Konstellation 2b auch die eigenen Lebens- und Krankheitserfahrungen, die persönlichen Überzeugungen zum Leben, die Gedanken, unter bestimmten Umständen nicht mehr leben zu wollen, sowie die Antizipation bestimmter Gefahren und Ängste eine Rolle. Was die persönlichen Faktoren anbelangt, wird deutlich, dass es sich in Konstellation 2b, ähnlich wie in Konstellation 2a, um offene, selbstbestimmte, willensstarke und sich widersetzende Persönlichkeiten handelt. Fr. Trüb: »Ja, ja. Das ist – ich habe auch wieder nachgelesen über Ursachen oder wo das herkommen kann. Aber es kann auch bei mir eben bestimmte psychische Elemente beinhalten, weil ich, eben, durch meine Aktivität, ich kann mich einfach nicht mit Situationen so abfinden. Ich muss das regeln wie, ich muss überall reklamieren und – ähm, meinen Senf dazugeben, ob es den Leuten passt oder nicht. Das macht ja, das haben sie auch geschrieben, es vielleicht auch nicht so einfach, man sollte sich lieber treiben lassen und einfach akzeptieren und so. Weiß ich nicht.« (Frau Trüb, W: 176).
Wie in Konstellation 2a sind in Konstellation 2b Kranke anzutreffen, die zwar gläubig, aber der Suizidbeihilfe gegenüber frei eingestellt sind. Das Sterben bedeutet für sie Entlastung. Fr. Schmid: »[…]. Ich meine, es hat ja auch eine religiöse Seite. Ich bin katholisch erzogen, und zwar sehr streng. Aber ich glaube nicht an einen Gott, der verurteilt, wenn man so denkt wie ich.« (Frau Schmid, S: 99 – 100).
In Anbetracht der sozialen Beziehungen und des Lebensortes zeigt sich, dass chronisch Kranke in Konstellation 2b alleine oder zusammen mit dem Lebenspartner noch zu Hause leben und sich dort wohlfühlen. Die sozialen Beziehungen zu Familienangehörigen werden unterstützend wahrgenommen. In Konstellation 2b sehen die Kranken die Suizidbeihilfe für sich als eine Möglichkeit. Ihre Lebens- und Krankheitserfahrungen bewegen sie dazu, den Weg der Suizidbeihilfe einzuschlagen. Das subjektive Werte- und Präferenzsystem chronisch Kranker ist in Konstellation 2b ebenso dominant wie in Konstella-
Konstellation 2b
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tion 2a. Die Kranken wollen nicht auf eine von ihnen ungewollte Art an einem ungewollten Ort leben und sterben. Neben Schmerzfreiheit bevorzugen sie, in ihrer häuslichen Lebenswelt zu bleiben und zu sterben. Besteht das Interesse, anderen etwas von sich zu hinterlassen, kann Unwille aufkommen, seine Ersparnisse für die Kosten, die das Leben in einer Institution des Gesundheitswesens mit sich bringen würde, auszugeben. Mit Blick auf die Krankheit, das Erleben gesundheitlicher Verschlechterung und damit einhergehender Auswirkungen zeigt sich, dass in Konstellation 2b im Gegensatz zu Konstellation 1 und 2a gesundheitlich eine Verschlechterung erlebt wird, das heißt, die Kranken fühlen sich zeitweise schlecht und ihnen widerfahren anhaltende, belastende, sich intensivierende Krankheitssymptome und damit verbundene ungewollte Auswirkungen. Durch die verordneten Medikamente wird keine ausreichende Symptomlinderung erfahren, stattdessen treten durch Medikamente ausgelöste zusätzliche Nebenwirkungen auf. Die anhaltenden Krankheitssymptome sowie die Nebenwirkungen der Medikamente haben negative Auswirkungen auf das Allgemeinbefinden, die Gestaltung des Daseins, die Selbst- und Daseinswahrnehmung sowie auf das Dasein Kranker in der gewohnten häuslichen Lebenswelt. I: »Also, haben Sie eher die Erfahrung gemacht, dass die Schmerzmittel Sie einschränken in Ihrer Alltagsbewältigung?« Fr. Trüb: »Ja, ja. Ja, oder auch Haushalt oder generell. Nur, ich meine, nur wenn ich ständig abliege, also, das tut mir einfach weh. Denn sie gehen ja nicht ganz weg. Entweder nehme ich so starkes Morphium, dass ich benebelt bin und dann den ganzen Tag schlafe und eigentlich gar nicht mehr recht –« (Frau Trüb, W: 162 – 163).
Bei allein lebenden Kranken zeigt sich, dass diese trotz der Unterstützung von Bezugspersonen und ambulanten Pflegediensten entgegen ihrem Willen auf Dauer nicht in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können, womit ihnen die Weiterführung ihres Daseins in einer Institution des Gesundheitswesens bevorsteht. Entgegen den Konstellationen 1 und 2a wird in Konstellation 2b bereits aktuell erwogen, nicht mehr weiterzuleben. Es bestehen Gedanken, das Leben in nicht allzu langer Zeit durch Suizidbeihilfe zu beenden und lieber früh genug zu sterben, anstatt sein Dasein auf ungewollte Art und Weise weiterzuführen. I: »Ähm, jetzt so Ihre Überlegung, irgendwann gegebenenfalls mit Exit zu sterben, welche Bedeutung hat die Zeit für Sie so in dem Ganzen?« Fr. Schmid: – »Das lass ich sehr auf mich zukommen. – Ich habe einmal gedacht, äh, noch diesen Monat. Und jetzt ist aber, mein Schwager ist weg. Und ich muss Rücksicht nehmen auf xy (Name Mitarbeiter Suizidbeihilfeorganisation), die/der dann auch Ferien macht. Das wäre vielleicht dann Ende Juli. – Aber ich kann von einem Tag auf den anderen sagen, wenn die Sachen in Ordnung sind: Ich – ich habe jetzt genug. Andere Leute müssen bereit sein, ohne dass sie es wissen.« I: »Ja. Also, lassen Sie es auf sich zukommen, und –?« Fr. Schmid: »Also, ich, – solange es mir so noch geht, dass ich nicht das Gefühl habe, ich sei
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
jetzt für jemanden eine sehr große Belastung, – das ist für mich schon sehr wichtig, dass ich nicht zur Belastung werde.« (Frau Schmid, S: 255 – 258).
In Konstellation 2b resultiert aus dem Umgang mit der chronischen Krankheit und den krankheitsbedingten Veränderungen des Daseins durch die Kranken, deren Bezugspersonen und Gesundheitsfachpersonen, dass versucht wird, möglichst gesund zu leben und sein tägliches Dasein solange es möglich ist zu meistern und weiterzuleben. Dazu werden ambulante Pflegeleistungen und Notrufsysteme in Anspruch genommen, es wird versucht, in der Gegenwart zu leben und sich an elementaren Dingen des Daseins zu erfreuen. Sich wohlfühlen und bedeutsame Dinge tun zu können, gibt Kraft, weiterzuleben. Die Aussichtslosigkeit der gesundheitlichen Situation und der ungewisse Nutzen verfügbarer therapeutischer Möglichkeiten ziehen bei Kranken Entscheide gegen die Durchführung bestimmter mit den eigenen Werten und Präferenzen unvereinbarer medizinischer Behandlungsvorschläge nach sich. Medikamente zur Symptomlinderung und annehmbare alternativmedizinische Therapieansätze werden hingegen trotz geringer Hoffnung ausprobiert, und es wird abgewartet, wie sich der eigene Zustand entwickelt. Wie in Konstellation 2a kommen auch in Konstellation 2b Misstrauen und Unzufriedenheit gegenüber der Schulmedizin, der medizinischen Versorgung durch Ärzte sowie den Machenschaften der Pharmaindustrie zum Ausdruck. Die Kranken informieren ihre Bezugspersonen sowie ihren behandelnden Arzt über ihre Überlegungen, unter bestimmten Umständen durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen. Finden sie gegenüber ihrem Anliegen rund um die Suizidbeihilfe keine Unterstützung, suchen sie nach anderen Wegen, um an ihr Ziel zu gelangen. I: »Und jetzt die Position von Ihrem Hausarzt, er, also, wie ich Sie verstehe, unterstützt er das (Suizidbeihilfe) nicht aktiv.« Fr. Schmid: »Nein.« I: »Was heißt das jetzt für Sie?« Fr. Schmid: »Also, ich habe noch ein Patenkind, das ist ein jetzt 60-jähriger Jurist (lacht). Also, das ist lustig, ein Patenkind, das 60-jährig ist.« (lacht) I: »Ja.« (lacht) Fr. Schmid: »Und äh, er ist nicht so einer wie ich, aber auch bei Exit.« I: »Er ist auch bei Exit?« Fr. Schmid: »Er ist auch mit dabei. Und er unterstützt mich und spricht jetzt, dieser Tage, mit einem bekannten Arzt, der mir vielleicht das Zeugnis macht.« I: »Ja.« Fr. Schmid: »Und, wenn nicht, hat mir, äh –« I: »Xy (Name Mitarbeiter einer Suizidbeihilfeorganisation)?« Fr. Schmid: »– Ja, gesagt, dass er einen findet.« (Frau Schmid, S: 193 – 205).
Der Umgang von Bezugspersonen mit den Kranken wird von Letzteren als mehr oder weniger unterstützend erlebt. Gegenüber der Erwägung, durch Suizidbeihilfe zu sterben, verhalten sich manche Bezugspersonen mitfühlend, verständnisvoll und unterstützend, während sich andere ereifern. Fr. Schmid: »Es ist in meiner Familie meine Schwester, die ja noch lebt. Die, die keift und die schimpft. Die kommt nur noch alle 14 Tage, äh, wäscht mir den Rücken (lacht),
Konstellation 2b
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aber ist gar nicht einverstanden. Mein Schwager hat gesagt, mit dem kann ich sehr gut sprechen, der hat gesagt: ›Du hast deinen Weg immer gefunden und hast es gut gemacht. Wir sollten dir jetzt nicht im Wege stehen.‹ Im Allgemeinen, sonst stoße ich ja auf viel Widerstand. Also, mit Exit ist man einfach nicht einverstanden. […].« (Frau Schmid, S: 101 – 102).
Mit Blick auf die Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen zeigt sich in Konstellation 2b gegensätzlich zu Konstellation 1 und 2a, dass Ärzte an ihre Grenzen stoßen und Kranken signalisieren, medizinisch nichts mehr für sie tun zu können. Fr. Trüb: »Dann hat man wieder, noch mal, einen Ultraschall gemacht – und aufgrund des Ultraschalls hat man mich dann überwiesen an ein Krankenhaus und dann dieses MRI oder diese Schichtaufnahmen gemacht und dann festgestellt, dass – man sprach am Anfang von einem ›Tumörchen‹.« ––– I: »Tumörchen?« Fr. Trüb: »Tumörchen«. – Na ja und dann hat man mir eigentlich auf die Schulter geklopft und hat dann gesagt, ja, sie wünschen mir alles Gute. –– Mit der Hausärztin hatte ich dann noch ein Gespräch und äh, – sie konnten dann eigentlich nicht hundertprozentig sagen, ist es gutartig oder bösartig, dazu hätte ich eine Biopsie machen lassen sollen. – Das habe ich eigentlich abgelehnt.« (Frau Trüb, W: 27 – 28).
Auf die Anliegen der Kranken hinsichtlich der Suizidbeihilfe reagieren Ärzte wie in Konstellation 2a mit Gegenvorschlägen, Kooperationsbereitschaft oder Ablehnung. Es gibt Kranke, die aufgrund ihrer diesbezüglich geäußerten Überlegungen von ihrem Arzt zu hören bekommen, dass für sie noch medizinischtherapeutische Möglichkeiten bestehen, obwohl sie in den Jahren zuvor keine entsprechenden Therapien veranlasst haben. Ähnlich wie in Konstellation 2a schlagen Ärzte in Konstellation 2b Alternativen (z. B. Möglichkeiten der Palliative Care, Patientenverfügungen) zur Suizidbeihilfe vor. Da die Vorschläge aber, im Unterschied zu Konstellation 1 und partiell auch zu Konstellation 2a, nicht den Werten und Präferenzen der Erkrankten entsprechen und Letztere den Nutzen und die Realisierbarkeit mancher solcher Vorschläge bezweifeln, stellen diese keine adäquaten Optionen für solche Kranken dar. I: »Sie haben eben gesagt, Ihre Hausärztin sei nicht so unbedingt für die Alternative, mit Exit sterben zu können, und Sie hätte Ihnen noch andere Möglichkeiten aufgezeigt. Was hat Sie Ihnen aufgezeigt?« Fr. Trüb: »Also, ja, die Möglichkeit mit der Patientenverfügung, dass ich keine lebensverlängernden Maßnahmen möchte und dann keine Organentnahme und die Sachen. Das heißt aber, man käme ins Krankenhaus und dann wirst du einfach irgendwo angehängt. Dann kriegst du Morphium reingetropft. –– Gut, ich meine, auf der anderen Seite man weiß ja nie, wie es hundertprozentig, ich meine, dass ist jetzt so eine Vorstellung, die man hat, ob sich das dann nachher hundertprozentig so verwirklichen lässt und so eintritt, das ist, das ist – noch eine zweite Frage.« (Frau Trüb, W: 156 – 157).
330
Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
Auf das Ersuchen Kranker bescheinigen behandelnde Ärzte die medizinischen Diagnosen. In einem Fall geschah dies allerdings erst durch Ausübung von Druck auf den Arzt, seiner Pflicht nachzukommen. Aus der subjektiven Wahrnehmung und Beurteilung der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise geht hervor, dass von chronisch Kranken in Konstellation 2b eine sich entwickelnde missliche ungewollte gegenwärtige Daseinsweise erlebt wird. I: »Ist es dann mehr so ein Auf und Ab von den Schmerzen her? Wie erleben Sie das?« Fr. Trüb: »Eben, das ist in der letzten Woche eigentlich so verstärkt aufgetreten. Sonst, wenn ich Tabletten genommen habe, morgens eine, abends eine, dann bin ich eigentlich gut über die Runden gekommen.« (Frau Trüb, W: 213 – 214).
Während in Konstellationen 1 keine oder geringe Ängste gegenüber antizipierten ungewollten Daseinsweisen existieren, bestehen in Konstellation 2b gleich wie in 2a Ängste und der Unwille gegenüber antizipierten, bereits spürbaren, in absehbarer Zeit vielleicht eintretenden ungewollten Daseinsweisen. So stellen die Auswirkungen der Krankheit in Konstellation 2b bereits erhebliche Beeinträchtigungen und absehbare Gefahren für die Gestaltung des täglichen Daseins sowie für das Dasein in der gewohnten häuslichen Umgebung dar. Die Ängste Kranker beziehen sich nicht auf das Sterben an sich, sondern darauf, auf Dauer pflegebedürftig zu sein, von anderen abhängig zu werden oder darauf, dass zu wenig Zeit bleibt, um das erforderliche Prozedere hinsichtlich der Suizidbeihilfe zu durchlaufen. Fr. Trüb: »Ja, ja, das ist schon irgendwie wie ein gewisser panischer Zustand, weil man gedacht hat, ja, wie schnell entwickelt sich das, wie lange habe ich noch Zeit und geht es, generell, so diese Information war eigentlich doch ein bisschen, ja, viel zu schnell. Man hat doch auch noch privat Sachen zu erledigen und abzuwickeln, zu besprechen und was soll nun mit bestimmten Dingen passieren. Also, dass einem da nicht die Zeit wegläuft.« (Frau Trüb, W: 96).
Ausgehend von dem Erleben einer sich entwickelnden misslichen ungewollten Daseinsweise, Ängsten und Unwillen gegenüber einer antizipierten, voraussichtlich in Kürze eintretenden ungewollten Daseinsweise, zeichnen sich in Konstellation 2b für chronisch Kranke, anders als in Konstellation 1 und 2a, Ungewissheiten oder Schwierigkeiten ab, mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise zurechtzukommen. I: »Nehmen Sie da Morphium oder – ?« Fr. Trüb: »Nee, also, ich habe immer Viox genommen. Morgens eine, abends eine und jetzt habe ich, einmal habe ich Morphium letzte Woche, und da war ich dann fast so komplett fast weg. Den ganzen Tag nur geschlafen. Dann habe ich wieder angefangen mit diesen Tramal, das ist so was Ähnliches.« I: »Tramal sind Tropfen, oder Kapseln gibt es, glaube ich, auch?« Fr. Trüb: »Ja, ich habe Tropfen. Aber jetzt, seit dem, es ist einfach immer ein ständiger Schmerz. So
Konstellation 2b
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ein Ziehen. Der wechselt immer, im Rücken, mal hier hinten, also, der springt. Und das ist also – das ist dann nicht mehr, da fehlt mir dann irgendwo die Lebenslust. Da denke ich dann: Ah, schon wieder. Dann tut es hier weh, dann tut es da weh und dann hast du keinen Hunger, magst nichts essen oder kochen und andererseits sollte ich kochen, mein Mann, der braucht ja was.« (Frau Trüb, W: 215 – 220).
Zu den Faktoren, welche die Ungewissheiten und Schwierigkeiten bedingen, mit der veränderten Daseinsweise zurechtzukommen, zählen zum Beispiel gesundheitliche Verschlechterung, Unwohlsein, anhaltende unzumutbare Symptome und deren Auswirkungen auf das gegenwärtige Dasein Erkrankter, das Erleben zunehmenden Unvermögens, das alltägliche Dasein auf gewollte Art und Weise zu bestehen, sowie Unsicherheit darüber, ob und wie lange die anhaltende missliche ungewollte Daseinsweise durchgehalten werden kann. Die sich abzeichnenden Ungewissheiten oder die Schwierigkeiten, mit der veränderten gegenwärtigen sowie antizipierten zukünftigen Daseinsweise zurechtzukommen, führen betreffend der Zielsetzung für das weiteren Daseins und der Bereitwilligkeit, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen, im Unterschied zu den Konstellationen 1 und 2a zum Abflauen des Lebenswillens chronisch Kranker. Das Ziel ist, so lange weiterzuleben, wie es geht, und durch Suizidbeihilfe zu sterben, wenn das ungewollte Dasein fortbesteht und es nicht mehr zu ertragen ist oder das Eintreten einer ungewollten Daseinsweise absehbar wird. I: »Mhm, – jetzt wissen Sie ja, dass das Rezept für Sie da ist; Sie könnten darüber verfügen. – Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht?« Fr. Trüb: – »Äh, jaein, an und für sich ist es für mich so, wenn ich das Gefühl habe, dass ich es nicht mehr aushalte oder aushalten will, dass ich sagen kann, dann: So, jetzt möchte ich. Wenn dann immer die Schmerzen, denn so wie jetzt in der letzten Woche, die letzte Woche war es also nicht mehr schön. Also, da habe ich drei-, viermal am Tag da die Tramaltropfen genommen und das hat auch nicht viel genutzt. Vor allen Dingen, weil ich da hinterher dann nicht mehr so zu Kräften komme, wie ich mir das vorstelle, dass ich dann noch einen Garteneinsatz machen kann oder den Haushalt noch führen und wenn das so anhält, dann würde ich sagen: Nein.« (Frau Trüb, W: 160 – 161).
Bezüglich dem Entscheid darüber, mit dem veränderten Dasein weiterzuleben oder sein Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden, ist festzuhalten, dass Kranke in Konstellation 2b einerseits offen dafür sind, plötzlich auf biologische Art zu sterben, aber gleichzeitig erwägen, in absehbarer Zeit durch Suizidbeihilfe zu sterben. In der Zwischenzeit machen sie eine Entwicklungsphase durch, in der die Bereitschaft wächst, durch Suizidbeihilfe zu sterben, und entscheidungsreif wird. Es handelt sich dabei gewissermaßen um einen Reifungsprozess, der durch beschwerliche, fortschreitende oder anhaltende Auswirkungen der chronischen Krankheit und das spürbare Näherrücken ungewollter Daseinsweisen dazu beiträgt, dass Kranke bereit werden, aus dem Leben zu gehen, und sich ent-
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
scheiden, durch Suizidbeihilfe zu sterben, wenn sie es nicht mehr ertragen. Die Planung und Ausführung von Maßnahmen zur Realisierung der Entscheidung, weiterzuleben, solange es geht, und durch Suizidbeihilfe zu sterben, wenn es nicht mehr auszuhalten ist, gestaltet sich in Konstellation 2b wie in Konstellation 2a zweigleisig. Neben Interventionen, die der Fortführung des veränderten Daseins dienen, werden gleichzeitig für den Fall des Nichtzurechtkommens mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise (Konstellation 3) Maßnahmen eingeleitet. Fr. Schmid: »Also, ich werde jetzt dann wieder mit Exit Verbindung aufnehmen und – auch einmal – noch einmal ganz genau sagen, äh, ich möchte so weit gehen, dass ich wirklich nur noch sagen muss: Jetzt, das ist das Datum.« (Frau Schmid, S: 288).
Die Kranken in Konstellation 2b sind Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation. Sie haben eine Patientenverfügung ausgefüllt und verfügen bereits über das Rezept für das tödliche Substrat oder haben dieses beantragt, um die Möglichkeit, durch Suizidbeihilfe zu sterben, für sich sicherzustellen und bei Bedarf ausführen zu können. Das Vorhandensein des Rezeptes für das tödliche Substrat wirkt auf sie beruhigend. Zu den Vorbereitungen auf das Sterben durch Suizidbeihilfe gehören zum Beispiel Überlegungen zur Gestaltung der Sterbesituation im Kontext der Suizidbeihilfe und die Anfragen an Bezugspersonen, ob sie bereit wären, beim Sterben durch Suizidbeihilfe anwesend zu sein. Eine Kranke nutzte ihre Geburtstagsfeier als verborgene Abschiedsfeier. Die Konsequenz von Konstellation 2b ist, dass solche Kranken vorerst noch am Leben bleiben und entweder durch biologischen Tod oder, sobald sie in Konstellation 3 geraten, möglicherweise durch Beihilfe zum Suizid sterben wollen. Möglich ist aber auch, dass sie im Zuge positiv erlebter Veränderungen ihres Daseins in Konstellation 2a gelangen und infolgedessen von ihrem Vorhaben Abstand nehmen, in Kürze durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen. In Konstellation 2b befanden sich zwei chronisch Erkrankte. In Anhang 4 (S. 408 ff.) ist die Fallgeschichte von Frau Schmid wiedergegeben, welche die Konstellation 2b repräsentiert.
5.9
Konstellation 3: Nichtzurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise
Bezeichnend für Konstellation 3 sind, wie in den vorherigen Konstellationen 1, 2a und 2b, die Persönlichkeitsmerkmale, die Bedingungen der Lebenswelt, das Symptomerleben, die Auswirkungen der Krankheit und deren Symptome auf das Dasein, der eigene Umgang mit dem veränderten Dasein, das Verhalten von Bezugspersonen sowie die Wirkung der medizinisch-therapeutischen Versor-
Konstellation 3
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gung durch (Gesundheits-)Fachpersonen und deren Bedeutung. Im Gegensatz zu Konstellation 1, aber gleich wie in Konstellation 2a und 2b sind in Konstellation 3 auch prägende Lebens- und Krankheitserfahrungen, das subjektive Werte- und Präferenzsystem, die Antizipation von Gefahren und Risiken sowie die Ängste und der Unwille gegenüber antizipierten unerträglichen ungewollten Daseinsweisen relevant. Anders als in den anderen Konstellationen sind in Konstellation 3 auch das Lebensalter, medizinische Kenntnisse sowie das physische und psychische Allgemeinbefinden von besonderer Bedeutung. Zudem besteht in Konstellation 3 bereits der Gedanke, nicht mehr (lange) leben zu wollen, aus dem Leben zu gehen und zu sterben. Bezogen auf die persönlichen Faktoren zeigt sich, dass Kranke in Konstellation 3 von ihren Persönlichkeitsmerkmalen her dadurch auffallen, dass sie sich als Realisten einschätzen. Fr. Odermatt: »[…]. Ich bin ein – ein Realist, – weil, ich mache mir nichts vor und ich weiß, – das geht, alle paar Monate kommt etwas Neues dazu. […].« (Frau Odermatt, EI: 47).
Sie sind selbstbestimmt und weisen im Hinblick auf die Entwicklung ihrer gesundheitlichen Situation und ihres damit verbundenen Daseins eine pessimistische Haltung auf. Einige haben Mühe, Hilfe anzunehmen. Die Tatsache, dass sie ein hohes Lebensalter erreicht haben und das Leben endlich ist, sind zusätzliche Faktoren, die in Konstellation 3 von Kranken zur Legitimierung ihres Vorhabens angeführt werden, durch Suizidbeihilfe zu sterben. I: »Ja. Und Sie haben eben gesagt, dass Sie gedacht haben, Sie möchten so nicht weiterleben.« Fr. Jost: »Ja, auf keinen Fall.« I: »Mhm.« Fr. Jost: »Ja. Und ich habe gefunden, ich bin ja schon so alt.« I: »Wie alt sind Sie, Frau Jost?« Fr. Jost: »Ich werde 87.« (Frau Jost, AF: 138 – 143).
Kranke in Konstellation 3 bezeichnen sich, gleich wie in den vorherigen Konstellationen, entweder als gläubig, als spirituell, als nicht übermäßig gläubig oder gar als nicht gläubig. I: »Eben, wir waren gerade dabei, welche Bedeutung das Sterben oder der Tod für Sie haben.« Hr. Gubser : »Eben, das würde ich, da hätte ich jetzt gar keine Probleme. Der Tod oder das Sterben, das wäre für mich im wahrsten Sinne eine Erlösung. Mit dem einzigen Hintergedanken: Was passiert mit xy (Name der Ehefrau), oder. Aber sonst, – ich bin ja auch nicht fromm oder gläubig in dem Sinne. Wir sind ja auch aus der Kirche ausgetreten. Und ich glaube sowieso nichts von diesen frommen Sprüchen, glaube ich auch nichts mehr. Darum ist der Tod für mich einfach ein Ereignis, in dem Moment vielleicht sogar ein erlösendes.« (Herr Gubser, AD: 400 – 401).
Bezüglich der sozialen Lebensumstände ist für Konstellation 3 bezeichnend, dass Kranke mit Ausnahme eines Falles keinen Lebenspartner (mehr) haben, wobei manche von ihnen erwachsene Kinder haben. Manche erfahren durch
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
ihre familiären Beziehungen zu einem gewissen Grade Unterstützung. Es gibt aber auch Fälle, in denen die erhoffte Unterstützung durch die Familie ausbleibt, wodurch bei den Kranken das Gefühl aufkommt, auf sich gestellt zu sein und allein zurechtkommen zu müssen. Keine engen, sondern belastende familiäre Beziehungen oder örtliche Entfernungen unter den Familienmitgliedern erschweren die Unterstützung Kranker. Fr. Peterli: »Vorher hat meine Tochter fünf Minuten von mir weg gewohnt. Da konnte ich manchmal nur telefonieren: ›Kannst du mir das, mit dem und dem helfen?‹ In fünf Minuten war sie da. Jetzt wohnt sie in xy (Wohnort). Sie haben kein Auto, darum geht es natürlich viel länger, bis sie kommt. Dann kann ich nicht mehr, da sagt sie, da ist nur noch das Ding, dass du ins Krankenheim xy (Name der Institution) gehst –– und wir dich dann so etwa holen können. – Aber ich, ––––– wir gehen immer ein wenig wie im Streit auseinander. Wir haben einfach nicht immer die gleiche Meinung, was ja, was ich verstehe. – Ich bin ihr nicht lästig. – Aber doch hat sie nicht mehr so viel Zeit, mich immer zu besuchen oder so.« (Frau Peterli, F: 18 – 24).
Da sich mit fortschreitendem Alter die Beziehungen zu Freunden und Bekannten durch den Tod reduzieren, verfügen manche Kranke in Konstellation 3 kaum mehr über Vertraute. Mit der Abnahme sozialer Beziehungen gehen ein Verlust des sozialen Rückhalts und sozusagen eine Auflösung der Verbundenheit mit dem Dasein auf der Welt und dessen Bedeutung einher. Die Bedingungen der Lebenswelt Kranker gestalten sich in Konstellation 3 so, dass einige von ihnen, teils allein, teils mit jemandem zusammen noch zu Hause leben. Manche leben in einem Alterspflegeheim. Bei solchen, die ihr Dasein in einer Institution des Gesundheitswesens führen, zeigt sich, dass sie mit der dortigen Versorgung mehr oder weniger unzufrieden sind, weil die institutionelle Versorgung und die Haltung der Gesundheitsfachpersonen an ihren Versorgungsbedürfnissen vorbeigehen. I: »Mhm. Wie ist das jetzt für Sie, hier zu sein? Wie erleben Sie das?« Hr. Grob: »Eben, habe ich Ihnen schon gesagt, Kindergarten mit Gefängnis. Gefängnis ist der eigene Körper. Man braucht mir keine Ketten anzulegen. Ja, ich kann schon nicht aufstehen alleine. Doch aufstehen kann ich. Aber, gar nicht gut. Ich brauche einen Rollstuhl, brauche ein Rollator, brauche Hilfe für die Toilette und Hilfe zum Abziehen, zum Anziehen. Zu Hause wäre das alles sehr teuer und auch nicht machbar gewesen.« I: »Mhm. Und Kindergarten? Können Sie mir das noch erläutern, an was sich das festmacht für Sie?« Hr. Grob: »Ja, so beim: Guten Morgen (theatralisch). Mit den anderen: Guten Morgen, wie geht es ihnen? Wie haben Sie geschlafen? So Small, – können Sie Englisch? Smalltalk. Belanglosigkeiten und 70 %, das haben sie selbst festgestellt, sind dement hier. Also habe ich überhaupt keinen Gesprächspartner. Das ist eigentlich das Schlimmste. In den Krankenhäusern, da war es gut. Da waren normale Leute. Hier sind alle so – weiß nicht. – Nein, das ist das Schwerste, diese – und dann ist – sehr viel Proletariat. Oder, von meinem Bildungsniveau hat es fast keine Leute. Zwei, drei.« (Herr Grob, AI: 190 – 199).
Konstellation 3
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Stellt sich die pflegerische Versorgung von Kranken als ungenügend, demoralisierend, belastend und gefährlich heraus, hat dies bei solchen Erkrankten Ungewissheit und Schwierigkeiten zur Folge, mit dem veränderten Dasein zurechtzukommen. Hr. Arnold: »Sie können das in dieser Zeitung noch nachlesen (zeigt auf die Zeitung der Ortschaft, in der ein Bericht über das Alterspflegeheim erschien). Das Schlimme ist jetzt noch, dass hier ein Bericht drin ist, von dem Altersheim hier und äh, das habe ich ja gewusst, irgendwann habe ich Herrn xy (Name des Arztes) gesagt, ich habe, er hat es, am 4. Dezember kam ich hier her. […]. Vorher war ich immer im Krankenhaus und am 2. Dezember kam noch Herr xy (Name des Arztes) zu mir, und er hat mir gesagt: ›Ja, Sie können jetzt ins Altersheim nach B. (Ortsname).‹ Dann habe ich gesagt: ›Ja, das Altersheim ist schon – an und für sich ist das schon schön gestaltet, aber nach der Meinung der Besucher von denen, die auch Patienten sind oder Pensionäre sind, ist die Pflege sehr mangelhaft. Ich weiß dann nicht, wie ich mich zurechtfinde.‹« (Herr Arnold, A: 67 – 73).
Manche Kranke verfügen über prägende Lebenserfahrungen bezüglich schlechter Sterbesituationen, unerfreulicher Geschichten von Kranken, die ähnliche gesundheitliche Beschwerden wie sie selbst haben, sowie eigene schmerzliche Krankheitserfahrungen und negative medizinische Behandlungserfahrungen. Derartige Erfahrungen verursachen Ängste, sind Gegenstand antizipierter, ungewollter Daseinsweisen und lösen bei chronisch Kranken das Bedürfnis aus, derartige Lebensumstände für sich selbst vermeiden zu wollen. Generationsunterschiede, das heißt, sich verändernde, von den eigenen Vorstellungen abweichende gesellschaftsbezogene Denk- und Lebensweisen führen bei manchen Kranken zu einer inneren Entfremdung gegenüber der Gesellschaft, in der sie leben, und erzeugen Missfallen gegenüber der gegenwärtigen Zeit. Zudem zeigt sich in Konstellation 3, dass bestimmte Entwicklungen innerhalb des Gesundheitswesens wie zum Beispiel Sparmaßnahmen, die Anstellung ausländischer, fremdsprachiger Arbeitnehmer in der Pflege und daraus resultierende negative Auswirkungen auf die Qualität der Versorgung von Kranken beunruhigend wirken. Fr. Odermatt: »Ja, Sie waren, sind Krankenschwester. Sie waren in Pflegeheimen. Sie wissen, wie das, – ähm, zugeht und wenn ich meine Schwester besuche, sie ist jetzt schwer, schwieriger geworden, also, sie geht nicht mehr in den Speisesaal; sie ist jetzt in einem Stockwerk mit den schwierigeren Fällen und da gehe ich sie vielleicht holen, also, in letzter Zeit nicht. Ich kann nicht mit ihr gehen, weil sie auch, zwar keine Arthrose hat, aber auch hinfällig ist, und das ist einfach schrecklich, wie die da am Tisch sitzen, teilnahmslos und – furchtbar, und mein Bruder, der geistig Behinderte, der ein Grenzfall war. Es gab Zeiten, wo er allein leben konnte und dann wieder ausflippte und dann wurde er wieder, äh – dann kam er wieder in ein Heim und er war, da war ich noch relativ jung, da war er in einem Altersasyl vom Krankenhaus und da habe ich ihn besucht, ich war noch viel jünger und da habe ich die Schwestern gesehen, das war noch
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
– eine andere Zeit. Aber ich habe gedacht, das sind Heilige, die das machen, die mit diesen Menschen umgehen können. Das sind Heilige. Das waren auch alles ältere Schwestern, heute ist das ja auch – ein Problem, überall, das kommt dazu, dass man überall auch da spart und Personal abbaut und das Personal weniger Zeit hat, sich um die Menschen zu kümmern, sondern es wird nur noch abgefertigt und so. Also, das sind einfach Zustände, – die ich schlimm finde und für die Zukunft, für das weitere – Leben.« (Frau Odermatt, EI: 177).
In Konstellation 3 bestehen bei chronisch Kranken Überzeugungen darüber, dass das Leben unter bestimmten Umständen nicht mehr lebenswert ist. Hinsichtlich der Einstellungen gegenüber der Suizidbeihilfe sind Kranke in Konstellation 3 an dem Punkt, wo sie aktuell planen, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Die Suizidbeihilfe wird bevorzugt, weil sie einen sicheren Tod herbeiführt. Andere Kranke dieser Konstellation wollen zwar ebenfalls sterben, greifen aber nicht auf Suizid(-beihilfe) zurück. Als Gruppe kennzeichnet sie ihr Glaube, ihre fatalistische Haltung und ihre Ansicht, gegen ihre Situation nichts tun zu können. Wenn Kranke in Konstellation 3 von der Suizidbeihilfe ablassen, liegt dies an Fehlinformationen über erforderliche gesundheitliche Voraussetzungen, um durch Suizidbeihilfe sterben zu können, der Ablehnung des damit verbundenen Sterbeprozederes oder der durch ihren Glauben bedingten Überzeugung der Kranken, ihr verändertes Dasein bis zum biologischen Zeitpunkt ihres Sterbens ertragen zu müssen. I: »Mhm. Es gibt ja auch Menschen, die jetzt, ja, auch irgendwelche Krankheiten haben, die eben zu Exit oder Dignitas gehen. Haben Sie sich das auch einmal überlegt?« Hr. Gubser: »Ja, aber das ist ja gar nicht so einfach. Man müsste ja, dann – eben, man müsste ja, einen – einen Arzt noch, äh – ein entsprechendes Zeugnis ausstellen. Und darum, – wer das dann machen würde, wäre eine andere Frage, oder. […].« I: »Haben Sie da selbst schon darüber nachgedacht?« Hr. Gubser: »Ja. Das kommt ja nur infrage, wenn du entsprechend krank bist. Damit das auch jemand absegnet. Und darum kommt das für mich eigentlich weniger infrage. Wenn ich, eben, ich müsste ja selbst irgendetwas in die Wege leiten. Ich merke je länger je mehr, das ist gar nicht so einfach. Vor allem, weil ich ja die verschiedenen Möglichkeiten nicht ausschöpfen kann, weil ich ja gar nichts sehe. Oder, ich kann ja nicht in den Bahnhof xy (Ortsname), wo es. – Vor einem Jahr hätte ich das noch gekonnt. Jetzt kann ich es nicht mehr. Oder an den See hinunter kann ich auch nicht mehr alleine.« (Herr Gubser, AD: 422 – 433).
Wie in den Konstellationen 2a und 2b ist das individuelle Werte- und Präferenzsystem auch in Konstellation 3 dominant. Das Ungewollte bezieht sich beispielsweise darauf, dass einem schwierige Ereignisse widerfahren, dass man nicht auf eine ungewollte Art an einem ungewollten Ort weiterleben oder sterben möchte, weitere gesundheitliche Verschlechterungen eintreten und man damit einhergehende Beeinträchtigungen auf sich nehmen muss. Ebenfalls zählt dazu, noch weiterzuleben, am Sterben gehindert zu werden, andere zu belasten oder
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mit der Durchführung der Suizidbeihilfe zu lange zu warten, sodass diese irgendwann nicht mehr möglich ist. I: »Mhm, –– also, könnten Sie das so in Stichworten – oder was ist denn Ihre Assoziation, wenn Sie an das Altersheim denken?« Fr. Odermatt: ––– »Ja, jegliche Selbstständigkeit aufgeben, – und – mit vielen Menschen zusammen sein, die nicht mehr zurechnungsfähig sind. ––– Ich habe auch mit Leuten gesprochen, die sich an unseren Tisch gesetzt haben und in diesem Umfeld, ––– wenn sie noch nicht dazugehören, geht das noch, irgendwie. Aber, wenn sie dazugehören – und das ständig um sich haben – und es realisieren, da ist es ja. Manchmal ist es eine Gnade, wenn man diese Dinge nicht mehr realisiert, aber wenn man es noch realisiert, und ich realisiere es noch – dann denke ich –: Nein, – ich möchte nicht.« (Frau Odermatt, EI: 178 – 179).
Das Gewollte bezieht sich auf Erwartungen, dass man in einer Institution des Gesundheitswesens gut versorgt ist, sich einen ungewollten Lebensort und ungewollte Daseinsweisen ersparen, noch bedeutsame Dinge tun, einem nahestehenden Menschen in den Tod folgen, anderen etwas von sich hinterlassen und lieber durch Suizidbeihilfe aus dem Leben gehen kann, als auf ungewollte Art und Weise weiterzuleben. Die Kranken halten Rückblick auf das gewohnte Dasein vor Beginn der Krankheit, was Bedauern und Gefühle der Hilflosigkeit und Ratlosigkeit auslöst. Hr. Arnold: »Wenn ich daran denke, solche Sportanlässe, an denen ich mich in jungen Jahren beteiligt habe, und dann musste ich umstellen auf nordisch, habe ich auch noch betrieben, und jetzt kommt diese – diese Lähmung in beiden Händen, das ist ja wahnsinnig. Ich weiß nicht, was ich machen soll.« I: »Mhm.« Hr. Arnold: »Wäre ich nicht bei Exit, – ja, was, soll ich Selbstmord machen? Was soll ich?« (Herr Arnold, A: 141 – 143).
Bezüglich der Krankheit, dem Erleben gesundheitlicher Verschlechterung und damit einhergehenden Auswirkungen auf das gewohnte Dasein wird deutlich, dass in Konstellation 3 ähnlich wie in 2b seit Auftreten eines gesundheitlichen Ereignisses ein anhaltend schlechter Gesundheitszustand oder eine arg progressive, kumulative gesundheitliche Verschlechterung erlebt wird und weder Aussicht auf Verbesserung des Gesundheitszustandes besteht noch eine Verbesserung in dieser Hinsicht erfahren wird. Hr. Arnold: »Neeein, – ich sage ja, ich habe Ihnen ja gesagt, wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, mit diesen Schmerzen, mit dieser Pflege, die ich hier, die brauche ich immer zum – Weiterleben, – das wird ja nicht besser.« (Herr Arnold, A: 402).
Im Unterschied zu den anderen Konstellationen werden die Krankheitssymptome in Konstellation 3 als zunehmend schlimmer und unerträglich erlebt. Fr. Knauer : »Und dann kommt eben noch etwas dazu, mit dem Sitzen. Das ist ja so ein riesiges Problem mit dieser Diskushernie. Ich habe gedacht, ich kann mal singen gehen. Ich hätte so gerne einmal gesungen. Oder einmal in ein Konzert. Das ist alles –
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
nicht mal essen gehen mit dem Kind. Das heißt, ich bin schon mit meinem Sohn vielleicht fünf- oder sechsmal essen gegangen. Aber wenn Sie dann aufstehen, nachher, das ist so unheimlich schmerzhaft. Das, äh, es macht keinen Spaß mehr.« I: »Wie lange können Sie überhaupt sitzen, so am Stück?« Fr. Knauer : »Also, ich stehe, normalerweise – stehe ich so nach einer Viertelstunde auf. Werde ich jetzt dann auch wieder tun. […], dann stehe ich wieder auf. Und sonst gehen die Schmerzen – gehen dann schon weg. Aber im Moment sind sie fast unerträglich, wenn sie dann durch ein Restaurant gehen müssen, was – die Türen ziemlich weit vorne hat, und das ist ein Spießrutenlauf und so komme ich mir vor. Weil die alle nicht wissen, was hat die Frau, hat die zu viel getrunken. Was man ja sehr viel denkt. Oder : Was ist mit der los. Ja.« (Frau Knauer, AK: 104 – 113).
Es handelt sich um Krankheitssymptome und damit verbundene Auswirkungen, die nicht weggehen, voraussichtlich lebenslang anhalten, intensiver werden oder möglicherweise wiederkommen. Es kommt vor, dass die Krankheitssymptome den Ablauf des Lebensalltags Kranker bestimmen. Manche Kranken sind ihre Symptome leid und der Überzeugung, dass sich ihr verändertes Dasein nicht ändern und ihr Zustand folglich nicht bessern wird. Vor diesem Hintergrund herrscht in Konstellation 3, im Unterschied zu den anderen Konstellationen, Aussichtslosigkeit, da keine Hoffnung auf Besserung besteht. Zusammenhängend mit dem sich verschlechternden Gesundheitszustand, belastenden Krankheitssymptomen und dem zum Teil negativem Versorgungskontext werden in Konstellation 3 von chronisch Kranken anhaltende schwerwiegende, unerträgliche Auswirkungen auf das Dasein erfahren, die für den Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, entscheidend sind. Die beeinträchtigenden Auswirkungen betreffen den Körper, das physische und psychische Allgemeinbefinden, die allgemeine Funktionalität, die Gestaltung des Daseins, die Selbst- und Daseinswahrnehmung sowie das Daseinsmanagement und dessen Resultate. Solchen Kranken fehlt es an körperlicher und psychischer Kraft, um weiterzukämpfen. Manche erleben einen fortdauernden Wegfall ihres Selbst in Bezug darauf, wer und wie sie einmal waren, was sie konnten und gemacht haben. Sie stoßen an Grenzen zwischen dem, was sie tun können, und dem, was sie tun wollen. Dabei treten zunehmend Schwierigkeiten auf, den Lebensalltag zu bestehen. Einige realisieren, dass sie nicht mehr lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können und in eine Institution des Gesundheitswesens ziehen müssen, was mit ihren Vorstellungen unvereinbar ist. Es bestehen Gefühle, in sich oder in seiner häuslichen Umgebung gefangen zu sein. Für solche chronisch Kranken ist ihr eigenes Leben kein Leben mehr. Sie sind der Ansicht, kaum oder keine Lebensqualität mehr zu haben, finden das eigene Leben nicht mehr lebenswert oder sehen im Weiterleben keinen Sinn mehr. Hr. Gubser: »Ja. Ich kann ja praktisch nichts mehr machen, oder. Wir haben ja einen Garten, aber da könnte –, ich kann nichts mehr helfen im Garten. Ich finde ja nicht
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einmal mehr das Werkzeug. Und es geht gar nichts mehr. Ich könnte keinen Rasen mähen und nichts mehr machen.« I: »Mhm. Was ist für Sie so das Schwerste?« Hr. Gubser: »Es ist für mich einfach eine wahnsinnige – wie soll ich sagen – Lebens, –– ein Verlust einer gewissen Lebensqualität, oder.« (Herr Gubser, AD: 112 – 114).
Es wird keine Freude mehr am Leben erfahren und es existieren keine Lebensziele mehr. Manche erleben es als fortlaufendes Sterben ihres Körpers. Sie können nicht mehr, fühlen sich einsam, belastet, deprimiert, erschöpft, konfus, verzweifelt, überfordert und fragen sich, wozu sie noch leben. Einige fühlen sich schlecht, mürbe, marode und erledigt. Fr. Odermatt: »Aber das nimmt zu. Dieses – das ist jeden Tag einfach anders.« I: »Mhm. Es gibt wie keine Beständigkeit, oder wie könnte man das sagen?« Fr. Odermatt: »Ja, ich wache oft am Morgen auf und denke, ich kann nicht aufstehen. Es ist, gut, dann denke ich, vielleicht, wenn ich das Blutdruckmittel nehme. Andererseits nehme ich das schwächere, weil Effortil auch Schwindel macht. Aber – (seufzt) – ich denke manchmal einfach: Eigentlich möchte ich – ich bin pflegebedürftig, so. Ich müsste liegen können und mich um nichts mehr kümmern.« I: »Also, einfach, weil Sie das so sehr anstrengt oder wie?« Fr. Odermatt: »Ja, das ermüdet. Das macht – zermürbt, das zermürbt.« (Frau Odermatt, EV: 241 – 245).
Hinsichtlich der Möglichkeiten und der Wirkung der medizinischen Versorgung zeigt sich in Konstellation 3, dass von Kranken erfahrene medizinische Therapien ihnen nur kurzfristige, aber keine nachhaltige Besserung bringen, das heißt, es wird ein wenig, keine ausreichende oder gar keine Linderung der Symptome und Beschwerden erfahren. Bei einigen Kranken treten durch die medizinische Behandlung zusätzlich Nebenwirkungen auf. Bei manchen Symptomen kann von medizinischer Seite nichts getan werden, um Linderung herbeizuführen. Solche Kranken erfahren, dass sie mit ihren Beschwerden leben müssen und von diesen nie frei sein werden. Die Kenntnis, dass physische Beeinträchtigungen lebenslang bestehen bleiben, bringt einige Kranke auf den Gedanken, das nicht mehr lange mitmachen zu wollen, und lässt sie die Suizidbeihilfe erwägen. Die gesundheitliche Verschlechterung, die anhaltend belastenden, unerträglichen Symptome und deren Auswirkungen wecken Gedanken, nicht mehr (lange) weiterleben und aus dem Leben scheiden zu wollen. Es finden Überlegungen von Kranken darüber statt, wie dem veränderten Dasein abgeholfen werden kann. Aufgrund mangelnder Alternativen reift der Gedanke, sich durch Suizid(-beihilfe) das Leben zu nehmen, mehr und mehr heran und der Wunsch, zu sterben, festigt sich. I: »Und warum jetzt? Was wäre der Grund für Sie, jetzt Schluss zu machen?« Fr. Odermatt: »Weil ich keine Hoffnung habe, dass es irgendwie noch besser wird. Ich merke das ja seit 14 Tagen. Es wird ständig schlimmer. Und ich meine, mit diesen Durchfällen, ich bin geschwächt. Ähm, mir ist jemand in den Sinn gekommen, ich weiß nicht, ob ihnen Meienberg ein Begriff ist. Das war ein Schriftsteller.« I: »Mmm.«
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
(verneinend). Fr. Odermatt: »Ein Journalist und Schriftsteller, ein sehr kritischer, der hat sich einen Plastiksack übergestülpt. Das habe ich auch schon überlegt.« (Frau Odermatt, EVI: 160 – 163).
Bei Kranken, für welche der/die Suizid(-beihilfe) keine Möglichkeit darstellt, besteht der Wunsch, durch eine höhere Macht von ihrem veränderten Dasein erlöst zu werden. Was den Umgang mit der chronischen Krankheit und den krankheitsbezogenen Veränderungen des Daseins durch die Kranken, deren Bezugspersonen und (Gesundheits-)Fachpersonen anbelangt, zeigt sich in Konstellation 3, dass zur Symptomlinderung mehr oder weniger regelmäßig Medikamente eingenommen werden und Therapien und Übungen in der Hoffnung mitgemacht werden, dass Krankheitssymptome und damit verbundene Auswirkungen abnehmen, verschwinden oder nicht schlimmer werden. Eine unregelmäßige Einnahme der Medikation ist vor allem bei Kranken anzutreffen, die Medikamente widerwillig einnehmen oder solche aufgrund von belastenden Nebenwirkungen meiden. Fr. Odermatt: »Aber eben, die Unsicherheit, plus, das hat mir der Arzt, er hat mir genau aufgeschrieben, was mich unsicher macht und zittrig, das sind diese Produkte, die Opiate haben, und das nehme ich relativ wenig und versuche mit Pflaster oder eben mit – Honigmilch.« I: »Ja. Ja.« Fr. Odermatt: »Weil, dann noch zittrig sein und es kommen ja immer wieder Sachen auf einen zu, die man machen muss. Die laufen, Eigentümerversammlung. Ich muss die Abrechnung kontrollieren, da kann ich jetzt nicht plötzlich aussteigen und sagen: Es geht nicht mehr.« (Frau Odermatt, EIII: 687 – 705).
Die Folgen dieser Non-Adhärenz sind, neben der Reduktion medikamentös verursachter Nebenwirkungen, dass das Symptommanagement wirkungslos ist und unerträgliche Symptome bestehen bleiben, mit denen sich einige Kranke nicht abfinden können. Manche versuchen, ihre körperlichen Beschwerden mit eigenen Mitteln zu lindern, um mit den unerträglichen Symptomen besser umzugehen zu können. Einige Kranke setzen ihr Leben auch bewusst aufs Spiel, indem sie wichtige Medikamente nicht länger einnehmen oder dem behandelnden Arzt nicht alle gesundheitlichen Beschwerden mitteilen. Auch Versuche, sich sein Leben durch Medikamentenintoxikation zu nehmen, fanden statt, blieben aber aus der Sicht dieser Kranken ohne Erfolg. In einigen Fällen bewirken die medizinische Fachkenntnis Kranker sowie persönliche Erfahrungen darüber, was bestimmte gesundheitliche Ereignisse und deren Behandlung mit sich bringen, dass sie sich nichts vormachen wollen und auf bestimmte Behandlungsmöglichkeiten verzichten. Fr. Odermatt: »Ja, ja. Und, er (Arzt) hat Vorschläge gemacht. Er hat gesagt: ›Es ist nicht recht, dass sie so leiden müssen. Ähm, es gibt Möglichkeiten, andere medizinische Möglichkeiten. Man hat andere Schmerzmittel, das könnte man auch, äh, stationär machen.‹ Und ich habe gesagt: ›Ich möchte nicht mehr.‹ Und weil ich wirklich (betont)
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nicht mehr möchte, und was ja da drin steht, was neu dazu gekommen ist, dieses Kapaltunnelsyndrom, das zu operieren, eine weitere Operation, so und so viele Wochen meine Hand nicht brauchen, und ob es wieder genug, gleich beweglich wird, ist fraglich. Ich habe einfach Nein gesagt […]. (Frau Odermatt, EIV: 7).
Dass einige Kranke, die sich in Konstellation 3 befinden, nicht auf Suizidbeihilfe zurückgreifen, erklärt sich auch dadurch, dass sie der Auffassung sind, sich mit ihrem veränderten Dasein abfinden und bis zur Erlösung ertragen zu müssen, da sie ihrer Ansicht nach keine andere Wahl haben. Gegensätzlich dazu machen sich andere Kranke Gedanken über ihr weiteres Dasein und setzen sich mit Existenzfragen auseinander. Sie versuchen, so lange, wie es für sie geht, mit ihrem veränderten Dasein weiterzuleben, erfahren aber zunehmend Schwierigkeiten, mit ihrer Situation fertig zu werden und sich damit abzufinden. Hr. Gubser: »Das Einzige, was das Leben wieder leichter machen würde, ist, dass ich wieder etwas sehe. Und das kann man ja nicht mehr rückgängig machen. Es ist jetzt einfach so. Ich muss (betont) mich damit abfinden. Also, ich kann mich nicht, aber ich muss.« (Herr Gubser, AD: 434 – 435).
Sie fühlen sich hilflos, schaffen es nicht mehr, sich immer wieder aufzurichten, und geben irgendwann auf. Manche kommen zum Schluss, dass ihr Dasein so nicht weitergehen kann und sie etwas unternehmen müssen. Wenn sie mit ihrem veränderten Dasein nicht zurechtkommen, überlegen sie sich, durch Suizidbeihilfe aus dem Leben zu gehen und zu sterben. Sie informieren ihren behandelnden Arzt und ausgewählte Bezugspersonen über ihre Überlegungen und Vorbereitungen betreffend der Suizidbeihilfe und fragen sie um Unterstützung. Hr. Arnold: – »Und wenn das auch noch kommt, ich habe den Arzt gefragt, den Heimarzt hier, ich habe ihm gesagt, das will ich. Der weiß auch, dass ich mich bei Exit angemeldet habe. Und dann hat er gesagt, ich solle nur alles, was ich von Exit bekomme, was Ausweise sind, soll ich hier aufs Nachttischen legen. Das ist kein Problem.« (Herr Arnold, A: 265 – 266).
Für den Fall, dass Kranken die Möglichkeit der Suizidbeihilfe versagt wird, werden von ihnen Vorstellungen über mögliche Alternativen entwickelt. I: »Was würde das für Sie heißen, Herr Arnold, wenn es Exit nicht gäbe?« Hr. Arnold: –– Ah, wenn es sie nicht gäbe?« I: »Mhm.« Hr. Arnold: – »Ja, dann gibt es noch Selbstmord, oder?« (Herr Arnold, A: 370 – 374).
Einige Kranke erfahren durch ihre Bezugspersonen Unterstützung, bei anderen bleibt die erhoffte Hilfsbereitschaft aus. In Bezug auf das Vorhaben, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, reichen die Reaktionen der Bezugspersonen von Akzeptanz, Verständnis, Unterstützung und Bestätigung bis hin zu Gleichgültigkeit.
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
I: »War das für Sie schon immer klar, dass Sie irgendwann mit Exit sterben möchten?« Fr. Jost: »Nein, das war schon immer so.« I: »Mhm. Wie kommt das?« Fr. Jost: »Ich weiß auch nicht. Und die Tochter, – der wäre das egal.« I: »Also, wie hat Ihre Tochter reagiert?« Fr. Jost: »Eben, sie hat gesagt: ›Ja, wenn du halt nicht mehr leben willst, dann finde ich das auch gut. Du spürst gar nichts, hast dann, äh, nicht einen schlimmen Tod. Oder hättest, ja, vielleicht natürlich auch keinen schlimmen. Weil du schon, so, ja, so viele Sachen, viele Schmerzen gehabt hast und so. Ist vielleicht der Körper so schwach, dass es nicht mehr so viel braucht.‹« I: »Mhm. Also, Ihre Tochter würde das verstehen, oder?« Fr. Jost: »Jaja. Sie, sie glauben, manchmal kommt es mir vor, sie möchte es gerade.« I: »Ah, ja?« Fr. Jost: »Ich weiß nicht, ist es nur wegen dem Geld, oder?« I: »Wie kommen Sie da drauf ?« Fr. Jost: (lacht) »Sie hat ja sonst genug. Ich weiß es nicht. Also, ich denke es mir (lacht). Es ist nicht schön, aber – .« (Frau Sommer, U: 336 – 351).
Manche Bezugspersonen schlagen alternative Möglichkeiten zur Beendigung des Lebens vor oder versuchen, den Sterbewilligen umzustimmen. In Konstellation 3 haben alle Kranken, die durch Suizidbeihilfe sterben wollen, Bezugspersonen, die bereit sind, sie bei ihrem Sterben zu begleiten. Im Gegensatz zu Konstellation 1 und 2a, in welchen chronisch Kranke einen von Anteilnahme geprägten, überwiegend zufriedenstellenden institutionellen Versorgungskontext durch Gesundheitsfachpersonen erfahren, gibt es in Konstellation 3 Kranke, die mit der Qualität ihrer Versorgung innerhalb einer Institution des Gesundheitswesens unzufrieden sind, weil ihre Versorgungsbedürfnisse von Gesundheitsfachpersonen nicht ausreichend befriedigt werden. Obwohl solche Kranken Gesundheitsfachpersonen auf ihre Pflegebedürfnisse aufmerksam machen, um eine Verbesserung ihrer Versorgungssituation herbeizuführen, erleben einige, dass diese sich ihrer Anliegen nicht annehmen und sich zum Teil nicht für das Wohl der Kranken einsetzen. Manchen scheint nichts daran zu liegen, eine Verbesserung der Versorgungssituation für die Kranken herbeizuführen. Statt aktiv zu werden, weisen sie Zuständigkeiten von sich und geben die Verantwortung an die Kranken zurück. Keine professionelle Hilfe zu erhalten oder zu erleben, dass Gesundheitsfachpersonen einem nicht beistehen, sondern einen in seiner Not alleine lassen, löst Enttäuschung aus. Durch die Tatenlosigkeit aufseiten von Gesundheitsfachpersonen bleiben Kranke mit ihren unerfüllten Versorgungsbedürfnissen allein zurück. Eine Problemlösung oder Verbesserung ihrer Versorgungsqualität bleibt in solchen Situation aus. Wenn Kranke von Gesundheitsfachpersonen kein Mitgefühl erfahren, fühlen sie sich im Stich gelassen und kommen zum Schluss, dass sie sich nicht auf die Hilfe und Unterstützung von Gesundheitsfachpersonen verlassen können. In solchen Fällen stehen Kranke ihrem negativen Versorgungskontext wehrlos und ausgeliefert gegenüber, was sie resignieren lässt. Hr. Arnold: »[…], wenn man hier einer Pflegerin, Lehrtochter sagt: ›Sie, ich bin noch nicht sauber gewaschen, geputzt, gewaschen. Sie müssen mich noch mit Wasser und
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Papier, müssen Sie einen putzen.‹« I: »Also feucht.« Hr. Arnold: »Feucht, mit Wasser, nicht ohne Wasser, das ist nämlich das Gröbste. Und dann sagt sie: ›Ja, was, es ist sauber.‹ Und ich sage: ›Ich spüre es ja‹ – Sie reden jetzt hochdeutsch, nicht? ›Sie (meint sich) spüren es ja, – machen Sie es so, bitte, wie bei sich selbst. – Sie spüren auch, wenn Sie sauber sind. Das braucht man gar nicht zu sehen. Das spürt man und haben Sie schon daran gedacht, dass Sie ja, wenn Sie sich ja selbst putzen, wenn Sie sich putzen und Sie haben nicht die gleiche Stellung, wie ich, stehend.‹ – Und ich helfe ja noch, ich bücke mich. – Ich probiere mit einer Hand noch ein wenig auf die Seite zu ziehen, beide Hände kann ich ja nicht benutzen, – wenn man sich im Klosett putzt, braucht man eine Hand und dann ist das Gesäß nicht in der gleichen Stellung wie jemand, der sich putzen lassen muss, nicht und wenn es heißt: ›Ja, das ist sauber, das ist sauber‹, dann sieht man, dass das nicht so ist, – was soll man da noch, – dann hält man den Mund. Ich habe dem Dings, dem Heimleiter hier, dem habe ich schon, nicht nur einmal gesagt, dem habe ich gesagt: ›Sie wollen mich noch mundtot machen, man darf sich nicht einmal wehren und ich bin wegen den Händen hier und nicht wegen dem Kopf. Geben Sie mir bitte eine Therapie, wo ich das Putzen therapieren, Therapie nehmen kann, um mich selbst zu putzen.‹ Ja, ha, das geht nicht (hat der Heimleiter gesagt). Also, ›Danke, vielmal‹, – habe ich schon zwei-, dreimal gesagt, zum Heimleiter.« (Herr Arnold, A: 429 – 444).
Durch diese negativen Versorgungserfahrungen wird manchen Kranken bewusst, dass sie, sofern sie keine anderen, sie unterstützenden Weggefährten an ihrer Seite haben, auf sich selbst gestellt sind. Zu erfahren, dass das erhoffte Verständnis, die Gesprächsbereitschaft, die Unterstützung durch Gesundheitsfachpersonen ausbleiben, trägt mit dazu bei, dass manche Kranke versuchen, auf ihre Art mit ihrem Dasein fertig zu werden. Dies geschieht nach dem Motto: Wenn andere einem nicht helfen, versucht man, sich selbst zu helfen, zur Not durch Suizid(-beihilfe). Auch andere Kranke erleben im Rahmen ihres Daseins in einer Institution des Gesundheitswesens keinen an ihren Bedürfnissen ausgerichteten Versorgungskontext, sondern eine an den Vorlieben der jeweiligen Gesundheitsfachpersonen ausgerichtete Versorgung. Vereinzelt kommen aufseiten von Gesundheitsfachpersonen auch fehlendes Verständnis und Überforderung im Umgang mit individuellen Versorgungsbedürfnissen Kranker zum Ausdruck. In Konstellation 3 erhalten Kranke, wie in Konstellation 2a und 2b, darüber hinaus von ärztlicher Seite Versorgungs- und Behandlungsvorschläge, die ihnen aufgrund ihrer Bedürfnisse und Präferenzen nicht zusagen oder die aufgrund fehlender Erfolgsaussichten für sie nicht infrage kommen. Fr. Knauer : »[…]. Auch jetzt mit der Hand, ähm, ist jetzt auch noch zu früh. Da müsste man ja dann später – aber ich mache jetzt gar nichts mehr.« I: »Mhm. Und jetzt wäre einfach, äh, die einzige Möglichkeit noch operieren, hat der Hausarzt gesagt?« Fr. Knauer : »Ähm, ja. Jaja. Aber es gibt ja keine Garantie. Ich habe ja gefragt: ›Was habe ich für eine Garantie, dass das gut kommt?‹ Es gibt keine. Aber man muss operieren. Sonst äh wird es immer schlimmer.« I: »Und wieso haben Sie sich jetzt dagegen entschieden gegen die Operation?« Fr. Knauer : »Weil ich gehen will. Weil – ganz einfach, weil ich
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jetzt gehen will. Es gibt – also, für mich ist es ganz klar. Es gibt nicht da irgendein vielleicht da oder vielleicht doch. Es ist ein ganz gerader Weg, und der ist sehr breit und ganz klar.« (Frau Knauer, AK: 275 – 279).
Die prognostischen Aussagen von Gesundheitsfachpersonen über weitere gesundheitliche Gefahren und Beschwerden, erforderlich werdende medizinische Behandlungen und die möglicherweise verbleibende Lebenszeit lösen bei Kranken Angst und Gedanken aus, sterben zu wollen. I: »Mhm. Hat man Ihnen auch gesagt, wie lange Sie allenfalls noch zu leben haben?« Fr. Jost: »Zuerst hat man gesagt, es könnte noch Tage gehen. Es könnte Wochen gehen. Es kann aber auch sehr kurz sein. Da habe ich gedacht: Lieber gleich. Ja.« (Frau Jost, AF: 563 – 568).
Was die Überlegungen Kranker, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, anbelangt, signalisieren manche Ärzte Offenheit, andere sträuben sich gegen solche Vorhaben. I: »Mhm. – Und woher wissen Sie, dass er (Hausarzt) dagegen ist oder was spricht für Sie dafür?« Fr. Odermatt: »Dass er mir andere Formulare gegeben hat für die Patientenverfügung. Und zwar zwei verschiedene, – eine irgendwie noch religiös motiviert, und als ich ihm dann die Patientenverfügung von Exit brachte, hat er mir ja gesagt: ›Von mir werden Sie diese Medikamente nicht bekommen.‹ Also weiß ich das.« (Frau Odermatt, EIII: 393 – 400).
Sind Ärzte nicht bereit, Kranken ihre medizinische Diagnosen zu bescheinigen und das Rezept für das tödliche Präparat auszustellen, wenden sich Kranke an die Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation, bei der sie Mitglied sind, und besprechen mit den sie betreuenden Personen andere Möglichkeiten und das weitere Vorgehen. Infolge anhaltender unerträglicher Symptome, Verlusterfahrungen und schwerwiegender körperlicher Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen ist das Resultat der subjektiven Wahrnehmung und Beurteilung der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise durch die Kranken in Konstellation 3, dass sie ihre gegenwärtige Daseinsweise als mehrheitlich oder gänzlich unerträglich und inakzeptabel erleben. Fr. Odermatt: »Es ist, also, es ist nicht Schmerz an einem Ort, sondern überall und das – macht es – schwer. ––– Es ist manchmal so schlimm (Tränen kullern ihr aus den Augen), dass ich eigentlich – zur Erleichterung, einfach in Tränen ausbreche. Das erlöst mich irgendwie. Nicht aus Selbstmitleid, aber weil man nicht mehr mag.« (Frau Odermatt, EI: 13 – 15).
Wie in den Konstellationen 2a und 2b kennzeichnet Kranke in Konstellation 3, dass sie Gefahren und Risiken antizipieren, die für sie bedrohlich sind, weil ihnen durch diese zusätzlich ungewollte Daseinsweisen widerfahren und sie dadurch für die Suizidbeihilfe erforderliche Fähigkeiten verlieren könnten. Die
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Folgen der Wahrnehmung möglicher gesundheitlicher Risiken und Bedrohungen sind, dass die Fortführung des veränderten Daseins an sich für manche Kranken zum Wagnis wird und von ihnen als solches wahrgenommen wird, solange sie leben. Weiterzuleben ist für sie gefährlich, weil sie bereits einige ihrer Fähigkeiten eingebüßt haben und körperlich nicht noch mehr Schaden erleiden wollen. Leben sie weiter, riskieren sie, dass ihnen noch mehr zustoßen könnte und sie infolgedessen ihr Leben möglicherweise nicht mehr durch Suizidbeihilfe beenden könnten. Um dieses Risiko nicht einzugehen, erwägen einige Kranke, nicht mehr lange leben zu wollen und aus dem Leben zu gehen. Hr. Arnold: »Nein, das ist für mich keine Lebensqualität mehr mit den Schmerzen, die ich habe, und mit der Gefährlichkeit mit der Zeit, ja, oh, wenn das auch noch käme, ich habe zum xy (Name seines Freundes) gesagt: ›Jessas Maria, muss das bei mir auch noch kommen.‹« (Herr Arnold, A: 316).
Neben der Wahrnehmung von Gefahren und Risiken werden in Konstellation 3 starke Ängste und Unwillen gegenüber antizipierten unerträglichen und ungewollten Daseinsweisen erlebt. Die Ängste beziehen sich beispielsweise darauf, gegen seinen Willen ein hohes Lebensalter zu erreichen, in ein Alters- oder Pflegeheim ziehen zu müssen, durch den Tod des Lebenspartners plötzlich alleine und hilflos zu sein, zu stürzen, immobil, bettlägerig, pflegebedürftig zu werden oder kognitive Beeinträchtigungen zu erfahren. Fr. Odermatt: »[…]. Aber wissen Sie, ich bin, ich merke auch, dass es da oben, mit dem Gedächtnis, ähm. Ich habe mir Notizen gemacht, dass es da auch manchmal hapert, also, ja, eben, da habe ich manchmal wirklich das Gefühl, da lässt es mich auch im Stich. Und das ist dann eine neue – ja – Angst […].« (Frau Odermatt, EIV: 470).
Die Voraussetzungen zur Beihilfe zum Suizid schüren bei Kranken in Konstellation 3 starke Ängste davor, urteilsunfähig zu werden und dadurch den richtigen Zeitpunkt für das Sterben durch Suizidbeihilfe zu verpassen. Ist diese Angst sehr stark ausgeprägt, entscheiden Kranke durch Suizidbeihilfe zu sterben, um diese Möglichkeit nicht zu verpassen. Darüber hinaus bestehen aber auch Ängste davor, Überlegungen über die Suizidbeihilfe anderen anzuvertrauen und mit Ärzten über dieses Thema zu sprechen. Das Erleben einer mehrheitlich oder gänzlich unerträglichen, inakzeptablen und ungewollten gegenwärtigen Daseinsweise und bestehende Ängste und Unwillen gegenüber der antizipierten ungewollten Daseinsweise lassen chronisch Kranke in Konstellation 3 zum Schluss kommen, dass sie mit ihrem veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Dasein nicht zurechtkommen. Hr. Arnold: »[…]. Ich bin, jetzt habe ich mich so entschieden, dass ich einfach mit der Lebensqualitätssituation und der Lebens… – -substanz, die ich noch habe, einfach nicht zurechtkomme, oder.« I: »Mhm.« Hr. Arnold: »Ich komme nicht zurecht. – Das ist
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Eine substantive Theorie über die Entscheidungsprozesse
einfach mein letzter Wille, weil, wenn ich sage, von der Vergangenheit, das ist natürlich schon Vergangenheit, wenn man das Bild (vom Engadiner Skimarathon) ansieht, aber, mit dem kann ich nicht leben, wenn ich das Bild noch anschaue – […].« (Herr Arnold, A: 380 – 382).
Das Muster des Nichtzurechtkommens mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise entspringt dem subjektiven Erleben dieser Daseinsweise im Kontext der chronischen Krankheit, den damit verbundenen Auswirkungen sowie dem Zusammenwirken diverser ursächlicher Faktoren. Zu diesen gehören zum Beispiel fortschreitende gesundheitliche Verschlechterung, belastende Auswirkungen der chronischen Krankheit auf das Dasein, das Ungewollte und das Gewollte, Überforderung mit dem häuslichen Alltag und die Unfähigkeit, mit unerträglichen Krankheitssymptomen, der verbliebenen Lebensqualität oder dem Versorgungskontext in einer Institution des Gesundheitswesens zurechtzukommen. Auch fehlende medizinische Behandlungsmöglichkeiten, wirkungslose medizinische Behandlungen und Angst vor antizipierten zukünftigen Daseinsweisen sind bezeichnend. Die Folge davon ist, dass chronisch Kranke unter diesen Umständen nicht leben können und wollen. Das Muster Nichtzurechtkommen mit der gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise kann sich schnell oder langsam weiterentwickeln, fluktuieren oder bestehen bleiben. Verändert sich das subjektive Erleben und die Beurteilung der eigenen Daseinsweise beispielsweise aufgrund eines wirksamen Symptommanagements von Konstellation 3 zu Konstellation 2a, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Bedürfnis, durch Suizidbeihilfe zu sterben, schwindet und die Bereitschaft, mit der veränderten, aktuell wieder erträglichen Daseinsweise weiterzuleben, erneut gegeben ist. Das Nichtzurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise wirkt sich auf die Zielsetzung für das weitere Dasein sowie auf die Bereitwilligkeit, weiterzuleben oder aus dem Leben zu gehen, so aus, dass Kranke in Konstellation 3, im Gegensatz zu den anderen Konstellationen, genug vom Leben haben. Es fehlt ihnen an Lebensmut und Lebenswille. Ihr Ziel ist, so nicht weiterzuleben und dem veränderten und antizipierten Dasein durch Suizid (-beihilfe) in Kürze ein Ende zu setzen. Fr. Knauer : »Ich bin eigentlich ein positiver Mensch. Eigentlich. Bin ich eigentlich immer noch, würde ich sogar behaupten. Aber es ist einfach nicht mehr lebenswert, jetzt. Ich möchte jetzt einfach nicht mehr. Der Zeitpunkt (betont) ist – wie soll ich das sagen. Der Zeitpunkt ist da.« I: »Haben Sie einfach genug von dem, wie es bis jetzt ist?« Fr. Knauer : »Mhm, ja. Ich möchte jetzt einfach gehen. (lacht) Ganz schlicht (lacht). Ja.« (Frau Knauer, AK: 427 – 431).
In Fällen, in denen Suizidbeihilfe für Kranke nicht infrage kommt, ist das Ziel, durch eine höhere Macht erlöst zu werden. Was den Entscheid, sein Dasein
Konstellation 3
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weiterzuführen oder durch Suizidbeihilfe zu sterben, betrifft, zeigt sich in Konstellation 3, dass einige Kranke bereit sind, auf biologische Art zu sterben, was insbesondere für diejenigen zutrifft, die den Weg der Suizidbeihilfe nicht für sich erwägen. Kranke, die hingegen bereit sind, durch Suizidbeihilfe zu sterben, treffen den Entschluss, dies in Kürze oder zu einem bereits definierten Zeitpunkt zu tun. Dabei kommen manche Kranke, bedingt durch die zunehmende Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustands und starker Angst, die Suizidbeihilfe deshalb vielleicht nicht mehr in Anspruch nehmen zu können, in Bezug auf den Zeitpunkt unter Entscheidungs- und Handlungsdruck. I: »Ja. – Also, der Arzt, ähm, was macht der denn jetzt? Also, der stellt Ihnen das (Rezept für das tödliche Substrat) aus? Oder was hat er Ihnen gesagt, wie das jetzt weiterläuft?« Fr. Odermatt: »Ich glaube, das geht dann zu xy (Name Mitarbeiter Suizidbeihilfeorganisation). Ja, dass das einfach vorliegt. Das macht er. Dass das bereit liegt. Ja. Und eben, er hat mir auch gesagt: ›Überlegen Sie sich, wen Sie dabei haben möchten.‹ Und das habe ich ja auch eingefädelt, jetzt.« I: »Also, jetzt sind Sie da auf dem Weg, das abzuklären mit Ihrer Familie?« Fr. Odermatt: »Ja, ja. Und eben, ich rufe heute Abend nochmals an. Weil – im xy (Name eines Kantons), beim Neffen – weil die gesagt hat, wir können doch zusammen kommen, damit man nicht alleine dabei ist, oder so. Ich habe mir auch überlegt, also, diese Rechtsanwältin, die würde wahrscheinlich auch kommen. Und aber, ähm, ––.« I: »Ist das für Sie denn jetzt noch weiter weg oder verspüren Sie da irgendeinen Druck, zeitlich gesehen?« Fr. Odermatt: »Der Druck kommt einfach vom Zustand. Und da glaube ich einfach nicht daran, dass sich das bessert.« (Frau Odermatt, EV: 141 – 148).
Das Weiterleben und Zuwarten hinsichtlich der Durchführung der Suizidbeihilfe stellt sich für manche Kranke als zu großes Risiko dar, welches sie nicht eingehen wollen. Um sicherzugehen, dass sie ihr verändertes Dasein planmäßig mit Suizidbeihilfe beenden können, verzichten sie lieber auf ihr weiteres Leben und entscheiden sich dazu, so schnell wie möglich durch Suizidbeihilfe zu sterben. Während der Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, für einige Kranke ausgereift und klar ist, tun sich andere damit schwer und lassen sich Zeit. Manche haben Schwierigkeiten damit, ihre Überlegungen hinsichtlich der Suizidbeihilfe anderen anzuvertrauen, und neigen zu Verheimlichung, auch deshalb, weil Freunde, mit denen sie darüber hätten reden können, nicht mehr leben. Es zeigt sich, dass Überlegungen rund um die Suizidbeihilfe von manchen Kranken als belastend erlebt werden und sie sich mit ihrem Entscheid alleine gelassen fühlen. Zudem wird deutlich, dass nur durch eine ausgeprägte Verbesserung gegenwärtiger Daseinsumstände das Dasein wieder lebenswert werden würde und nur unter solchen Bedingungen die Entscheidung »weiterzuleben« für die Kranken denkbar wäre. I: »Was macht für Sie das Lebenswerte aus?« Hr. Arnold: – »Wenn Schmerzen fehlen – und mir eine Therapie verordnet wird, dass ich mich selbst putzen kann und die
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Schmerzen weg. – Das, sofort, das wäre kein, ohne Schmerzen und ohne das, das mich so eine 17-, 18- oder 19-Jährige pflegen muss, die das mit Ekel macht, – dann hat sie ja den falschen Beruf oder nicht? Ich habe schon mal, öfters habe ich – ein Gespür gehabt, habe gesagt: Sie lernen den falschen Beruf.‹« (Herr Arnold, A: 411 – 412).
Zur Realisierung des Entscheids, in Kürze durch Suizidbeihilfe zu sterben, treffen die Kranken Vorbereitungen, um jederzeit oder zu einem bereits definierten Zeitpunkt durch Suizid(-beihilfe) sterben zu können. Spätestens zu diesem Zeitpunkt setzen sich Kranke zum ersten Mal oder erneut mit der Suizidbeihilfeorganisation ihrer Wahl in Verbindung oder erwerben eine entsprechende Mitgliedschaft. Sie informieren ihren Arzt und ihre Angehörigen über ihr Vorhaben, stellen eine Patientenverfügung aus, beantragen das Rezept für das tödliche Substrat, planen einen möglichen Zeitpunkt für ihr Sterben durch Suizidbeihilfe und verfassen ihr Testament. Einige planen einen Suizidversuch durch Medikamentenintoxikation, um die mit der Suizidbeihilfe verbundenen Bedingungen zu umgehen, mit denen sie nicht einverstanden sind. Fr. Odermatt: »Ich scheue einfach die unglaublichen Umtriebe, die es (das Sterben durch Suizidbeihilfe) mit sich bringt. – Eben, deshalb überlege ich ab und zu wieder : Könntest du nicht was anderes machen? Um diese Zeremonie abzukürzen, aber, ähm das kann ich nicht tun, wegen der Katze. Und ich habe auch nicht – genügend Mittel.« (Frau Odermatt, EIV: 40 – 41).
Kranke, die nicht beabsichtigen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, aber auch nicht mehr weiterleben wollen, beten zu Gott und bitten ihn, sie zu sich zu holen. Der Ausgang von Konstellation 3 ist, dass einige Kranke wie von ihnen vorbereitet durch Suizidbeihilfe sterben, während andere darauf warten, geholt und erlöst zu werden. Ebenfalls möglich ist auch, dass Kranke aufgrund einer veränderten Sichtweise oder einer einschneidenden, anhaltenden Verbesserung ihres veränderten Daseins sich in Konstellation 2b oder 2a wiederfinden und weiterleben wollen. Neun chronisch Kranke befanden sich zum Zeitpunkt der Interviews in Konstellation 3, welche durch die Fallgeschichte von Herrn Arnold repräsentiert wird (siehe Anhang 5, S. 412 ff.). Nachdem zuvor die auf den Ergebnissen dieser Untersuchung generierte Theorie über die Entscheidungsprozesse physisch chronisch Kranker darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, beschrieben wurde, werden im Folgenden abschließenden Kapitel 6 die theoretische und praktische Relevanz sowie der in dieser Untersuchung angewendete Forschungsansatz diskutiert.
6
Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung der Theorie und Reflexion des Forschungsansatzes
In den folgenden Kapiteln werden die theoretische und die praktische Relevanz der Erkenntnisse der vorliegenden Untersuchung erläutert, Versorgungs- und Handlungsempfehlungen abgegeben sowie der verwendete Forschungsansatz reflektiert.
6.1
Die theoretische Bedeutung der Theorie
Am Anfang dieser Untersuchung stand die Frage, was physisch chronisch Kranke dazu veranlasst, nicht länger am Leben bleiben oder im Gegenteil weiterleben zu wollen. Somit war das Ziel dieser Untersuchung, herauszufinden, welche Faktoren den Entscheid chronisch Kranker beeinflussen, weiterzuleben oder aber nicht mehr weiterleben zu wollen. Dies schließt die Entstehung und Entwicklung von Gedanken, die Erwägung und den Entschluss, das eigene Leben durch Suizidbeihilfe zu beenden und diesen Beschluss in die Tat umzusetzen oder aber weiterzuleben, ein. Die Besonderheit und das Neue an der Theorie und dem dazugehörigen konzeptuellen Modell ist, dass sie, im Gegensatz zu bisherigen Studien, aus der subjektiven Sicht physisch chronisch (nicht terminal) Kranker die multiplen Bedingungsfaktoren (inklusive Ursprüngen und Ursachen) sowie die Entscheidungsprozesse darüber, weiterzuleben oder durch Suizid(-beihilfe) sterben zu wollen, integriert. Darüber hinaus wird prozesshaft erklärt, was diesbezüglich passiert und wie es zu der einen oder anderen Entscheidung kommt. Damit liegen zu diesem Forschungsgegenstand zum ersten Mal wissenschaftlich begründete Aussagen vor, die aus der subjektiven Sicht physisch chronisch (nicht terminal) Kranker gewonnen wurden, die zudem in der Schweiz leben, einem Land, in dem unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen die Möglichkeit besteht, krankheitsbedingt Leidenden Beihilfe zum Suizid zu gewähren. Die Theorie gibt Einblick in das subjektive Erleben physisch chronisch (nicht terminal) Kranker. Sie liefert Aussagen zur Erklärung intrapersonaler sowie kon-
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
textueller Faktoren und Entwicklungen, die zur Entstehung von Beweggründen und sich daraus bildenden (Daseins-)Konstellationen beitragen, die Kranken helfen, weiterleben zu können und zu wollen, oder aber bedingen, dass sie nicht mehr leben können und wollen. Zusammenhängend damit wird dargelegt, wie Entscheide darüber, weiterzuleben oder zu sterben, mit diesen zusammenhängen und unter welchen gegenwärtigen und antizipierten (Daseins-)Konstellationen chronisch Kranke nicht weiterleben können oder wollen. Darüber hinaus werden auch Erklärungen zu Übergängen von einer (Daseins-)Konstellation in eine andere abgegeben und es wird aufzeigt, was passiert, wenn jemand, der zuvor leben wollte, irgendwann nicht mehr leben kann oder leben möchte. Es werden Wahrnehmungs- und Beurteilungsprozesse aufgezeigt, Verhaltensmuster Kranker im Umgang mit ihrem Dasein erläutert sowie das Verhalten von Akteuren wie nahestehenden Bezugspersonen und Gesundheitsfachpersonen beleuchtet. Die gewonnenen Erkenntnisse komplettieren das bestehende Wissen zu Faktoren, welche die Entscheidungsprozesse beeinflussen. Sie helfen, die Entwicklung solcher Entscheidungsprozesse zu verstehen, und tragen dazu bei, ein besseres Verständnis über die Bedeutung des Entscheides zu erlangen. Die Erkenntnisse bereichern dadurch das bestehende Wissen zu Faktoren, die den Wunsch nach Beschleunigung des Todes bei älteren Menschen entstehen lassen, zu Menschen, die um assistierten Suizid ersuchen, sowie zu Theorien über chronisches Kranksein und dessen Bewältigung. Darüber hinaus liefern die Ergebnisse dieser Untersuchung auch wichtige Hinweise darüber, wie chronisch Kranke ihre Lebenszeit verbringen wollen oder auf keinen Fall verbringen möchten.
6.1.1 Faktoren, die den Entscheid physisch chronisch Kranker darüber, weiterzuleben oder im Gegenteil nicht mehr leben zu wollen, beeinflussen Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, dass die Faktoren, die Kranke veranlassen, weiterzuleben oder im Gegenteil durch Suizidbeihilfe zu sterben, multifaktoriell sind, was konsistent ist mit Erkenntnissen aus Studien und Reviews zum Lebenswillen (siehe Carmel, 2012; Khan, Wong, Li et al., 2010), zu Wünschen, den Tod zu beschleunigen (siehe Hudson et al., 2006; siehe Monforte-Royo et al., 2010), und zu Gesuchen nach Euthanasie oder ärztlich assistiertem Suizid (siehe Dees et al., 2009). Die in dieser Untersuchung identifizierten Faktoren und sie bedingenden Ursachen hängen mit Gegebenheiten zusammen, die den persönlichen Einflussfaktoren und der gewohnten Daseinsweise eines Menschen, dem Auftreten sowie der Art der physisch chronischen Krankheit, dem Gesundheitszustand
Die theoretische Bedeutung der Theorie
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und dessen Verlauf sowie dem Ausmaß und der Bedeutung der physischen und psychischen Auswirkungen chronischen Krankseins auf das Dasein eines Menschen zuzuschreiben sind. Die persönlichen Faktoren und die gewohnte Daseinsweise eines Menschen bestimmen maßgeblich mit, ob und inwiefern ein Mensch auf sein Dasein und Sterben Einfluss nimmt oder nicht. Beweggründe, weiterleben oder durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, ergeben sich auch aus dem Umgang Kranker sowie der Bezugspersonen und der (Gesundheits-) Fachpersonen mit ihrer Situation. Auch die Möglichkeiten, die Bedeutung und die Wirkung der medizinischen Versorgung, die Einschätzung und Beurteilung der ergriffenen Bewältigungsstrategien, die Bedingungen der persönlichen Lebenswelt und der gesellschaftliche Kontext, in dem Kranke leben, beeinflussen den Entscheid darüber, weiterleben oder sterben zu wollen. Die Gegebenheiten des Sozialsystems und des Gesundheitswesens, die gesetzliche Möglichkeit in der Schweiz, Beihilfe zum Suizid begehen zu können, finanzielle Aspekte, das biologische Lebensende sowie antizipierte zukünftige Daseinsweisen sind ebenfalls von Bedeutung.
6.1.2 Faktoren, die dazu beitragen, dass chronisch Kranke weiterleben wollen Aus den Resultaten der vorliegenden Untersuchung geht hervor, dass chronisch Kranke, die bis zum Zeitpunkt ihres biologischen Todes weiterleben, eher durch passive, fatalistische Persönlichkeitsmerkmale gekennzeichnet sind. Sie weisen ein eher wenig ausgeprägtes Werte- und Präferenzsystem auf und verfügen über Kompetenzen, sich an ihre veränderte Daseinsweise anzupassen und mit dieser zurechtzukommen. Die Erkenntnis, dass religiöse Kranke durch ihren Glauben Halt und Kraft im Leben erfahren und es solchen Kranken eher gelingt, ihr verändertes Dasein zu akzeptieren, weshalb sie weiterleben wollen, geht mit den Erkenntnissen von Baldacchino & Draper (2001) konform, die ebenfalls herausfanden, dass der Glaube oder eine Neigung zur Spiritualität Kranken hilft, ihr durch die Krankheit verändertes Dasein zu akzeptieren und zu ertragen. Aufgrund der in dieser Untersuchung festgestellten Ansicht gläubiger Kranker, dass Gott allein entscheidet, wann ein Mensch auf die Welt kommt und von dieser geht, ist die Möglichkeit, durch Suizidbeihilfe zu sterben, für solche Kranken quasi ausgeschlossen und stellt keine Option dar. Diese Überzeugung schützt gläubige Kranke aber nicht davor, den Wunsch zu verspüren, lieber zu sterben als weiterzuleben. Statt sich für das Sterben zu entscheiden, ersuchen solche Kranken Gott um Erlösung oder verspüren die Sehnsucht, auf biologische Art zu sterben. Allerdings zeigen die Ergebnisse auch, dass es gläubige Kranke gibt, die keine religiösen Bedenken haben und sich die Freiheit nehmen, zu entscheiden, durch
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
Suizidbeihilfe zu sterben. Das eher wenig ausgeprägte Werte- und Präferenzsystem einiger Kranker bedingt, dass es kaum vorherrschende Differenzen zwischen ihrem persönlichen Werte- und Präferenzsystem und ihrem krankheitsbedingt veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Dasein gibt. Aufgrund der Abwesenheit oder dem nur geringen antizipativen Verhalten mancher Kranker entstehen keine oder »nur« geringfügige Zukunftsängste betreffend der eigenen gegenwärtigen und zukünftigen Daseinsweise. Dies begünstigt, dass das eigene Dasein eher als akzeptabel und erträglich erlebt wird, was wiederum das Phänomen, mit seinem Dasein zurechtzukommen, sowie die Bereitschaft und den Willen, weiterzuleben, fördert. Zudem existieren bedeutsame Co-Faktoren, die zum Entscheid beitragen, (noch) am Leben bleiben zu wollen. Zu diesen zählen: subjektiv Erlebtes, ein nach eigenem Ermessen zu niedriges Lebensalter, Zuversicht, eine optimistische, hoffnungs- und vertrauensvolle Haltung, Dankbarkeit über das Leben, die Überzeugung, das Leben genießen zu müssen und am Leben partizipieren zu können, die Fähigkeit, seinem veränderten Dasein etwas Positives abzugewinnen, der Wunsch, noch bestimmte Dinge zu erleben und das Gefühl, sein Leben gemessen am persönlichem Werte- und Präferenzsystem noch als akzeptabel zu erleben. Bedeutsam sind auch: seinen häuslichen Alltag bewältigen zu können, in seiner häuslichen Umgebung noch zurechtzukommen, die Bereitschaft, sein Dasein in einer Institution des Gesundheitswesens weiterzuführen, eine positive Selbstwahrnehmung, das Gefühl, (noch) zu leben, über Lebensfreude und Lebenskraft spendende Quellen zu verfügen, Lebenssinn zu erfahren und ein uneingeschränkter Lebenswille. Die Bereitschaft, weiterzuleben, unterstützen auch Faktoren wie: positive Krankheitserinnerungen, erträgliche physische Krankheitssymptome und -auswirkungen, als nützlich empfundene medizinische Versorgung, der Erhalt oder das Wiedererlangen ausreichender Lebensqualität, eine Verbesserung des Gesundheitszustandes und der eigenen Situation, das Gefühl, eine gewisse Funktionsfähigkeit zu haben und somit Lebens-/Existenzfähigkeit und Zufriedenheit zu erleben. Lebensunterstützend ist, wenn Ärzte Kranken das Gefühl geben, noch etwas für sie tun zu können, wenn medizinische Behandlungsmöglichkeiten bestehen, welche die Krankheit stoppen, und die Lebensqualität dadurch verbessert wird, wenn das Symptommanagement als wirksam erlebt wird, wenn Kranke Selbstmanagementkompetenzen im Umgang mit ihren Krankheitssymptomen erwerben und wenn sie von Ärzten an ihren Werten, Präferenzen und Bedürfnissen orientierte Alternativvorschläge zur Suizidbeihilfe erhalten. Im Hinblick auf Faktoren, die mit Bezugspersonen zusammenhängen, zeigen die Ergebnisse, dass wichtig ist, dass Kranke sich nicht als Belastung für andere erleben und dass Bezugspersonen ihnen mitteilen, dass sie die Erkrankten bei
Die theoretische Bedeutung der Theorie
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sich behalten möchten. Wenn Bezugspersonen Suizidbeihilfe ablehnen, kommt es vor, dass Kranke aus Rücksichtnahme von ihrem ursprünglichen Vorhaben, zu sterben, ablassen. In Übereinstimmung mit anderen Studien (siehe Murphy, Cooney, Shea et al., 2008; Segal & Needham, 2007) zeigen die hier vorliegenden Ergebnisse, dass fürsorgliche, hilfreiche soziale Beziehungen, die Verantwortung und Verpflichtung gegenüber einer Person sowie die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft chronisch Kranke darin unterstützen, besser mit ihrer Situation zurechtzukommen und weiterleben zu wollen. Auch Khan et al. (2010) betonen in ihrem Literaturreview, dass zur Erhaltung des Lebenswillens Faktoren gehören, wie soziale Einbettung, das Gefühl des Selbst, die Fähigkeit, sein Leben als bedeutsam zu erleben, Religiosität und Spiritualität bzw. spirituelles Wohlbefinden. Aus dem Review von Carmel (2012) resultiert, dass Eigenschaften wie Freude und Zufriedenheit mit seinem Leben sich auf die Erhaltung des Lebenswillens positiv auswirken, wobei dies für Männer eher gilt als für Frauen. Ein weiteres bedeutsames Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist, dass daseinsfördernde, das heißt, bedürfnisorientierte und -gerechte, menschenwürdige Versorgungserfahrungen und -kontexte, die chronisch Kranke vonseiten der Gesundheitsfachpersonen erhalten, ebenfalls bewirken, dass sie weiterleben wollen. Zudem wird die Bereitschaft, weiterzuleben, durch positive Transitionserfahrungen von der häuslichen Umgebung in eine Institution des Gesundheitswesens, durch das Gefühl, in einer Institution gut aufgehoben zu sein, sowie durch Integrationsmaßnahmen für Menschen mit körperlichen Behinderungen gefördert. Betrachtet man die Forschungsfragen und -gegenstände von Studien zum Lebenswillen der letzten 10 bis 15 Jahre (siehe Carmel, 2012; Carmel, Baron-Epel & Shemy, 2007; Chochinov, Tataryn, Clinch et al., 1999; Chochinov et al., 2005), zeigt sich, dass in diesen nicht explizit untersucht wurde, was den Lebenswillen bei physisch chronisch Kranken, insbesondere im Kontext der Entscheidung darüber, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben, aufrechterhält oder durch welche Faktoren sich der Lebenswille bei solchen Menschen konstituiert. Somit können die genannten Erkenntnisse der vorliegenden Studie zu Faktoren, die chronisch Kranken helfen, weiterzuleben, in einem solchen Kontext als neu betrachtet werden. Hinsichtlich der Faktoren, die den Lebenswillen unterstützen, stellen diese Ergebnisse eine Bestätigung sowie eine Bereicherung des bisherigen Wissensstandes dar.
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
6.1.3 Faktoren, die dazu beitragen, dass chronisch Kranke den Wunsch entwickeln, ihren Tod beschleunigen und sterben zu können Als initiale Triggerfaktoren für den Wunsch, seinen Tod zu beschleunigen, stellen sich in dieser Untersuchung bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, das persönliche Werte- und Präferenzsystem und persönliche Einstellungen und Überzeugungen heraus. Ebenfalls wichtige Faktoren sind Ängste und das Bedürfnis, sich vor ungewollten Daseinsweisen zu schützen, Lebensüberdruss, das Auftreten chronischer Krankheit, ungenügendes Symptommanagement und infolgedessen unzureichende Symptomlinderung und keine Aussicht auf Besserung. Die Resultate verdeutlichen, dass die Existenz von Schweizer Suizidbeihilfeorganisationen ermöglicht, dass Menschen die Option der Suizidbeihilfe bereits Jahre oder Jahrzehnte vor dem Auftreten einer chronischen Krankheit für sich »einfädeln«, während andere erst im Laufe einer Erkrankung auf diese Möglichkeit zurückgreifen. Auch prägende negative Lebenserfahrungen hinsichtlich der Versorgung Kranker und Hilfsbedürftiger und als schlecht wahrgenommene Sterbe- und Todessituationen können den Wunsch, seinen Tod beschleunigen, auslösen. Dies steht in Einklang mit den Ergebnissen der Metasynthese von Hendry, Pasterfield, Lewis et al. (2012) über die Sichtweisen und Haltungen gegenüber assistiertem Sterben. Die Schlussfolgerung von Monforte-Royo et al. (2010), dass soziale Isolation und mangelnde Unterstützung explizit initiale Triggerfaktoren für den Wunsch nach Beschleunigung des Todes sind, wird durch die Ergebnisse der vorliegenden Studie nicht bestätigt, da diese Faktoren lediglich als Co-Faktoren auftraten. Aus den Ergebnissen der hier vorliegenden Untersuchung resultieren als Co-Faktoren, die den Entscheid zu sterben mit beeinflussen, auch ein generell bedingter Lebenswille, im Suizid oder der Suizidbeihilfe grundsätzlich eine Option für sich sehen, subjektiv erlebter, abnehmender Nutzen und Wert seines Daseins, der fehlende Lebenssinn, keine Ausweichmöglichkeiten haben, Hilflosigkeit, das Nachlassen der Lebenslust und dadurch die Abnahme des Lebensmutes sowie des Lebenswillens und eine zunehmende Bereitschaft zu sterben. Auch das Gefühl, von Ärzten im Stich gelassen zu sein, Misstrauen und Angst gegenüber medizinischen und sozialen Versorgungskontexten, Sterbeund Todesereignisse geliebter Menschen, das Bedürfnis, niemanden und auch nicht sich selbst zu belasten, der Wunsch, anderen Ersparnisse zu hinterlassen, belastende statt hilfreicher Beziehungen zu Bezugspersonen, negative Transitionserfahrungen sowie ein unbefriedigendes Dasein in einer Alters- oder Langzeitpflegeinstitution tragen zum Entscheid bei, sterben zu wollen. Faktoren, die unmittelbar mit dem definitiven Entscheid in Verbindung stehen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, sind: eine kurze verbleibende Lebensdauer, progressive gesundheitliche Verschlechterung, unerträgliche Beschwer-
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den und sich kumulierende Auswirkungen der Krankheit auf den Körper, daraus resultierende Beeinträchtigungen, mangelnde Funktionsfähigkeit und aufgrund schlechten Allgemeinbefindens die Dringlichkeit, Schritte in Richtung Suizidbeihilfe unternehmen zu müssen. Dass Rücksichtnahme auf Bezugspersonen Menschen sowohl dazu veranlassen kann, weiterzuleben, als auch dazu beitragen kann, den eigenen Tod beschleunigen zu wollen, deckt sich mit der Ansicht von McPherson, Wilson & Murray (2007). Wichtig sind auch: nicht (mehr lange) auf gewollte Art leben zu können, wertlose oder fehlende Zukunftsperspektiven, das Phänomen, mit seiner gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise nicht (mehr lange) zurechtzukommen und nicht weiterleben zu können oder zu mögen, Verzweiflungsgefühle, zunehmende Wahrscheinlichkeit oder das Eintreten von Cut-Off-Punkten (des Ungewollten) und die damit verbundene Angst, die für die Suizidbeihilfe erforderlichen Voraussetzungen (insbesondere die Urteilsfähigkeit) nicht mehr erfüllen zu können, der Unwillen, so weiterzuleben, der Wunsch, aus dem Leben gehen respektive zu sterben, die Aussicht darauf, über kurz oder lang nicht mehr am gewollten Lebensort weiterleben zu können, sowie eine mangelhafte, nicht bedürfnisgerechte, entwürdigende Versorgung durch Gesundheitsfachpersonen. Die in dieser Untersuchung identifizierten Beweggründe dafür, weiterleben oder im Gegenteil sterben zu wollen, resultieren aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Die Ergebnisse heben einige neue Faktoren hervor, die in früheren Studien so nicht zum Ausdruck gekommen sind. Zu diesen Faktoren gehören das persönliche Werte- und Präferenzsystem der Kranken, sprich das von ihnen Gewollte und Ungewollte, prägende, positive und negative Lebenserfahrungen und der Umgang nahestehender Bezugspersonen und Gesundheitsfachpersonen mit Kranken. Zentral sind auch der gesellschaftliche Kontext, die Leistungen des Sozialsystems, Entwicklungen und Gegebenheiten des Gesundheitswesens, die Möglichkeiten und Voraussetzungen betreffend Beihilfe zum Suizid sowie die damit zusammenhängende Angst, die geforderten Voraussetzungen irgendwann nicht mehr zu erfüllen und dann durch Suizidbeihilfe nicht mehr sterben zu können. Weitere Faktoren sind die Versorgungsqualität durch Fachpersonen und die Frage, wie gut Kranke mit ihrem Dasein zurechtkommen.
6.1.4 Der Umgang mit krankheitsbezogenen Veränderungen des Daseins durch chronisch Kranke und Außenstehende Neu an den vorliegenden Untersuchungsergebnissen sind auch die gewonnenen Erkenntnisse darüber, wie physisch chronisch Kranke mit ihrer Situation umgehen und wie sie den Umgang ihrer Bezugspersonen und involvierter Ge-
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sundheitsfachpersonen mit ihnen, insbesondere im Kontext ihrer Erwägung und Entscheidung, zu sterben, erleben. Auch die Feststellung, dass manche Kranke sich bezüglich ihrer medizinischen Versorgung non-adhärent verhalten, um die von ihnen zu erbringenden Voraussetzungen zur Realisierung der Suizidbeihilfe nicht zu gefährden, war bislang unbekannt. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die erforderlichen Voraussetzungen zur Realisierung der Suizidbeihilfe die medizinische Versorgung Kranker konkurrenzieren und dieser zuwiderlaufen können. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Kranke auf bestimmte medizinische Versorgungsansätze verzichten, sprich non-adhärent werden, um für einen eventuellen Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, urteilsfähig zu bleiben. Die Folge davon können ein unwirksames Symptommanagement und dadurch unerträgliche Krankheitssymptome sein, die Kranke zum Entscheid bewegen können, sterben zu wollen. Diese Erkenntnis wurde in früheren Studien nicht thematisiert. Außerdem zeigen die Untersuchungsergebnisse, dass insbesondere die Kranken, die entscheiden, durch Suizidbeihilfe zu sterben, eine palliative Versorgung für sich kategorisch ablehnen. Dieses Phänomen findet in anderen Studien ebenfalls keine Erwähnung. Aus der Sicht der Kranken wird deutlich, wie sie sich selbst und wie sie andere auf ihr Vorhaben und dessen Realisierung vorbereiten und wie ihnen nahestehende Menschen und involvierte Ärzte darauf reagieren. Die Bezugspersonen der Kranken reagieren auf das Vorhaben, zu sterben, je nachdem mit nicht offensichtlichen Reaktionen, Verständnis und Akzeptanz, Bestätigung oder Ablehnung, was auch andere Studien zeigen (Moss, Moss, Black et al., 2005). Die vorliegenden Studienergebnisse belegen darüber hinaus, dass verständnisvolle, bestätigende Reaktionen von Außenstehenden Kranke auf ihrem Weg in Richtung Suizidbeihilfe bestärken und dass ablehnende Reaktionen sie davon abbringen können. Die Resultate dieser Untersuchung offenbaren auch, dass die Kommunikation über die Suizidbeihilfe zwischen Kranken und Ärzten in einigen Fällen unproblematisch verläuft und sich in anderen Situationen schwierig gestaltet. Die Ergebnisse belegen, dass Kranke infolge fehlender Kommunikationsbereitschaft ihres (Haus-)Arztes zum Thema Suizidbeihilfe Kontakt mit einer Suizidbeihilfeorganisation aufnehmen und sich der Obhut ihres Hausarztes entziehen. Diese Resultate deuten darauf hin, dass manche Kranken eher in einem Mitarbeiter einer Suizidbeihilfeorganisation einen verständnisvollen Gesprächspartner und Weggefährten finden als in ihrem Hausarzt. Außerdem legen die Untersuchungsergebnisse nahe, dass eine als unzureichend erlebte Versorgungsqualität sowie von Ärzten vorgeschlagene Versorgungsangebote und -empfehlungen, welche den Bedürfnissen, Werten und Präferenzen Kranker nicht entsprechen, mit dazu beitragen, dass diese nicht länger am Leben bleiben wollen. Die Erkenntnis, dass die Art und Weise, wie Ärzte mit Gesuchen nach assistiertem Suizid umgehen, von Bedeutung ist, wurde auch von Dees, Verno-
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oij-Dassen, Dekkers et al. (2012) erkannt, die den Prozess erforschten, der zur Entscheidung führt, ein Gesuch nach Sterbehilfe zu stellen.
6.1.5 Die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise im Kontext chronischer Krankheit durch den chronisch kranken Menschen Die Ergebnisse der vorliegenden Studie demonstrieren, dass das Auftreten und Fortschreiten chronischer Krankheit, das subjektive Erleben krankheitsbedingter Auswirkungen auf das eigene Dasein sowie das Erleben gesundheitlicher Verschlechterung mit dem Ausbleiben oder der Entstehung von zahlreichen Ängsten und Unwillen gegenüber antizipierten ungewollten Daseinsweisen einhergehen kann. Die Kranken erleben ihr Dasein als nahezu unverändert oder als (fortschreitend) verändert und empfinden es von (eher) erträglich und zufriedenstellend bis hin zu gänzlich unerträglich und inakzeptabel. Das Erleben einer erträglichen oder im Gegenteil unerträglichen Daseinsweise, das Ausmaß der Ängste und der Unwille gegenüber seinem Dasein bilden die Grundlage dafür, wie Kranke ihre Kompetenz beurteilen mit ihrem gegenwärtigen und antizipierten Dasein umgehen zu können. Diese Erkenntnis steht in Einklang mit den Forschungsresultaten von Dees et al. (2011) über die Relevanz unerträglicher Leidenserfahrungen von Menschen, die um ärztlich assistierten Suizid ersuchen. Die in der vorliegenden Studie generierten Varianten des subjektiven Erlebens chronisch Kranker bedingen, ob und wie Kranke mit ihrem Dasein im Kontext chronischen Kranksein zurechtkommen.
6.1.6 Die Kernkategorie: (Nicht-)Zurechtkommen mit seiner veränderten gegenwärtigen und /oder antizipierten zukünftigen Daseinsweise Das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung stellt die Kernkategorie des (Nicht-) Zurechtkommens mit seiner veränderten gegenwärtigen und/oder antizipierten zukünftigen Daseinsweise. Darin finden sich vier Muster : Konstellation 1: Zurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen und der antizipierten zukünftigen Daseinsweise; Konstellation 2a: Noch oder wieder zurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen Daseinsweise, solange diese erträglich ist, und nicht mehr zurechtkommen, wenn eine ungewollte Daseinsweise droht, Konstellation 2b: Sich abzeichnende Ungewissheit oder Schwierigkeiten, mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise zurechtzukommen; sowie Konstellation 3: Nichtzurechtkommen mit der veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise. In Situa-
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tionen, in denen chronisch Kranke mit ihrem Dasein (noch) zurechtkommen, zeigt sich, dass sie aufgrund bestimmter persönlicher Faktoren ihre Krankheit und deren Folgen annehmen und ihr Versorgungs- und Lebenskontext ihnen ermöglicht, weiterzuleben. Hingegen zeigt sich in Fällen, in denen Kranke mit ihrem Dasein nicht zurechtkommen, dass ihre persönlichen Faktoren dazu führen, dass sie nicht bereit sind, ihr Dasein unter allen Umständen fortzuführen, und deshalb erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Zudem offenbart sich bei Kranken der Konstellation 3, dass ihr Versorgungskontext versagt, indem er nicht ihren Bedürfnissen, Werten und Präferenzen und dem, was Kranke wollen bzw. nicht wollen, entspricht. Das Ausbleiben einer bedürfnis- und werteorientierten Versorgung bedingt in diesen Fällen eine ungewollte Daseinsweise und führt dazu, dass solche Kranken selbst nach Auswegen suchen, um sich von ihrer für sie ausweglosen Situation zu befreien. In Kombination mit den zuvor genannten Faktoren trägt das dazu bei, dass solche Leidenden nicht mehr leben können und infolgedessen erwägen und entscheiden, zu sterben. Diese Erkenntnis wurde in früheren Untersuchungen nicht gefunden. Die Beurteilung der eigenen Bewältigungskompetenz oder -fähigkeit, mit seiner gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Daseinsweise (noch) zurechtzukommen oder aber nicht mehr zurechtzukommen, ist eine Reaktion auf die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der eigenen Daseinsweise im Kontext chronischen Krankseins. Die Ausführungen von Lazarus & Folkmann (1984) bestätigen die hier vertretene Ansicht, dass die Bewältigungsfähigkeit und das Bewältigungsverhalten eines Menschen davon abhängen, wie dieser seine Situation selbst bewertet. Die in der vorliegenden Studie identifizierten Muster der Kernkategorie (Konstellationen 1 bis 3) haben Ähnlichkeiten mit den Erlebnismustern, Gemütszuständen und Entscheidungstypen, die in anderen Studien identifziert wurden, die den Wunsch untersuchen, den eigenen Tod zu beschleunigen (Nissim et al., 2009; Schroepfer, 2006; Voltz et al., 2010) und ergänzen sie. Schroepfer (2006) identifizierte sechs Gemütszustände, welche die Bereitschaft und Akzeptanz zu sterben oder einen diesbezüglichen Unwillen, die Erwägungen, das eigene Sterben zu beschleunigen, und das (Nicht-)Vorhandensein diesbezüglicher Pläne repräsentieren, die mit den Konstellationen 1 bis 3 der vorliegenden Studie vergleichbar sind. Die (Daseins-)Konstellationen 1 und 2a haben auch Gemeinsamkeiten mit den von Voltz et al. (2010) identifizierten drei Entscheidungstypen (1. Leben wollen ohne den Wunsch nach Beschleunigung des Todes, 2. Leben wollen mit der Option der Beschleunigung des Todes und 3. Sterben wollen und um das Leben kämpfen). Weitere Übereinstimmungen existieren auch zwischen den Konstellationen 2a, 2b und 3 und den von Nissim et al. (2009) beschriebenen drei multidimensionalen, fluktuierenden Erlebnismustern, die Menschen mit dem Wunsch nach Beschleunigung des Todes
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durchlaufen (der Wunsch den Tod zu beschleunigen, als hypothetischer Todesplan, als Ausdruck von Verzweiflung oder als Zeichen, sich gehen zu lassen). Die Bedeutung des Phänomens des Nichtzurechtkommens wurde auch in den Studien von Bauer, Leenaars, Berman et al. (1997), Chapple et al. (2006) und Dees et al. (2009) erkannt, in welchen Motive für (assistierten) Suizid und Sterbehilfe untersucht wurden. Zudem zeigen sich Ähnlichkeiten zwischen der vorliegenden Konstellation 3, Nichtzurechtkommen mit seiner veränderten gegenwärtigen und/oder antizipierten zukünftigen Daseinsweise, und dem von verschiedenen Autoren im Kontext von Krankheit und dem Wunsch zu sterben beschriebenen Phänomen der »Demoralization« (auf Deutsch Demoralisierung oder auch Entmutigung, Zermürbung). Demoralization wird als anhaltende Bewältigungsunfähigkeit gegenüber intern oder extern ausgelöster seelischer Belastung verstanden (Frank, 1974). Dabei handelt es sich um einen kontextabhängigen, existentiellen Zustand, der von einem auf den anderen Tag fluktuieren kann und alles betrifft, was Menschen denken, tun und fühlen (Connor & Walton, 2011). Demoralization wird im Zuge der Manifestation von gesundheitlicher Verschlechterung, schweren Krankheitssymptomen, von Schwierigkeiten, bestimmte Probleme zu handhaben, von Unverständnis und Bedeutungslosigkeit sowie im Kontext einer Bedrohung erlebt, die Angst, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit sowie das Gefühl nach sich zieht, unfähig zur Bewältigung belastender Aspekte zu sein (Clarke & Kissane, 2002; Clarke, Kissane, Trauer et al., 2005; Kissane, 2004; Sansone & Sansone, 2010). Sie kann in leichter oder schwerer Form vorliegen und im letzteren Falle zu existenzieller Verzweiflung und zur Aufgabe des Lebens respektive zum Entscheid zu sterben führen (Clarke et al., 2005; Kissane, 2004). Ebenso kongruent zu Schroepfer (2006) stellen die Konstellationen 1 bis 3 der hier vorliegenden Untersuchung kein Kontinuum dar, denn die Resultate zeigen, dass manche Kranke in einer Konstellation verharren, während andere mehrere Konstellationen durchlaufen. Das bei einem chronisch Kranken jeweils dominierende Muster der Kernkategorie hat zur Konsequenz, sich für das Weiterzuleben oder das Sterben zu entscheiden.
6.1.7 Entscheidungsprozesse chronisch Kranker darüber, weiterzuleben oder durch Suizid(-beihilfe) zu sterben 6.1.7.1 Faktoren, die den Entscheid, weiterzuleben oder im Gegenteil sterben zu wollen, beeinflussen Die Geschichten chronisch Kranker zeigen, dass die dichotome Sichtweise – entweder leben oder sterben wollen – ihre Situation vereinfacht darstellt. Die
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Ergebnisse verdeutlichen, dass die sich durch intrinsische und extrinsische Faktoren konstituierenden (Daseins-)Konstellationen, insbesondere die subjektive Beurteilung der persönlichen Kompetenz mit seinem Dasein im Kontext chronischen Krankseins zurechtzukommen oder aber nicht zurechtzukommen, die Grundlage dafür bilden, ob chronisch Kranke weiterleben wollen oder nicht mehr leben können und den Entscheid fällen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben. Ob ein chronisch Kranker das Gefühl hat, seine Situation im Griff zu haben und mit seinem Dasein zurechtzukommen, oder ob er seine Situation nicht akzeptieren kann und mit seinem Dasein nicht zurechtkommt, ist für den Entscheid ausschlaggebend. Die Untersuchungsergebnisse verdeutlichen, dass der Entscheid darüber, weiterzuleben oder zu sterben, eine persönliche Reaktion eines Menschen auf sein subjektives Erleben der gegenwärtigen und zukünftigen Daseinsweise im Kontext chronischen Krankseins sowie auf seine Beurteilung der Kompetenz/Fähigkeit ist, mit seinem Dasein (nicht) zurechtzukommen. Diese Betrachtungsweise wird gestützt durch das von Monforte-Royo, Villavicensio-Chvez, Toms-Sbado et al. (2012) entwickelte Erklärungsmodell über das Erleben unheilbar Kranker, die den Wunsch hatten, ihren Tod zu beschleunigen. Aus dem Modell resultiert, dass der Wunsch, den Tod zu beschleunigen, ein reaktives Phänomen auf multidimensionale Erfahrungen ist, das heißt, auf persönliche, physische, psychische und existenzielle Leidenserfahrungen, den Verlust des Selbst in Bezug auf die Körperfunktionen, den Verlust von Kontrolle, Sinn, Hoffnung, Würde, die Angst vor dem Lebensende sowie den Wunsch, nicht auf die bestehende Art und Weise weiterzuleben (Monforte-Royo et al., 2012). Nach Ansicht der Autoren führen umfassendes Leiden, der Verlust des Selbst sowie Ängste zu überwältigender Belastung, die den Wunsch, seinen Tod zu beschleunigen, entstehen lässt (Monforte-Royo et al., 2012). Dieser Wunsch wird als eine Art Kontrolle über sein Leben sowie als Trumpf gesehen, der es erlaubt, sein Leiden und Leben bei Bedarf zu beenden (Monforte-Royo et al., 2012). Allerdings basiert dieses Modell auf Studienergebnissen, die aus Ländern stammen, in denen Euthanasie und ärztlich assistierter Suizid gesetzlich nicht erlaubt sind. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass der Entschluss, durch Suizidbeihilfe zu sterben, durch den Krankheitsverlauf, das subjektive Befinden, die gesundheitliche Verschlechterung und die Eintrittswahrscheinlichkeit dessen, was ein Mensch jeweils vermeiden möchte, beeinflusst wird. Als wichtig erweist sich diesbezüglich das Verhältnis zwischen den Aspekten, nach denen Kranke streben (Gewolltes), und Dingen, die sie vermeiden wollen (Ungewolltes).
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6.1.7.2 Sinn und Zweck des Entscheids, durch Suizidbeihilfe zu sterben Die Möglichkeit der Suizidbeihilfe scheint für chronisch Kranke ein Mittel zu sein, um mit gewollten und ungewollten Daseinsaspekten umzugehen und mit diesen fertig zu werden. Übereinstimmend mit der Äußerung von Sonntag, Bischkopf, Ritz et al. (2003), dass der Tod eine Chance ist, dem Dasein in einem Altersheim zu entgehen, ist ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser Untersuchung, dass einige Kranke entscheiden, durch Suizidbeihilfe zu sterben, um nicht in einer Institution des Gesundheitswesens (Hospiz, Alters- oder Pflegezentrum) leben zu müssen. Das deutet darauf hin, dass der Entscheid, zu sterben, eine Strategie der persönlichen Befreiung von bestehenden ungewollten Daseinsweisen sowie des Schutzes vor antizipierten ungewollten Daseinsweisen ist. Theorien zu Sterbewünschen älterer Menschen unterstützen diese Betrachtungsweise. Rurup, Pasman, Goedhart et al. (2011) beschreiben, dass Menschen, die den Wunsch zu sterben haben, sich in einer für sie inakzeptablen Situation befinden und das Gefühl haben, keine Kontrolle über ihre Situation zu haben, was sie allmählich aufgeben lässt. Persönlichkeitsmerkmale (sich nicht mehr nützlich erleben, keine Last sein wollen, Erwartungen, dass Außenstehende einem bei Bedarf helfen), Bewältigungsstrategien (Schwierigkeiten, mit seiner Situation zurechtzukommen) und soziale Unterstützung (Mangel an sozialen Beziehungen, Einsamkeit) beeinflussen wie mit der Situation umgegangen wird (Rurup et al., 2011). Die Autoren betonen, dass solche Menschen über gute und schlechte Aspekte ihres Lebens und Sterbens nachdenken und nicht in der Lage sind, von ihnen gewünschte Situationen herbeizuführen (Rurup et al., 2011). Bei einigen hielten sich die positiven und negativen Aspekte die Waage, während andere eine Verbesserung oder eine Verschlechterung erlebten oder antizipierten (Rurup et al., 2011). Bei Kranken, die mit ihrem Leben unzufrieden waren, kam infolgedessen der Gedanke ans Sterben auf, was für sie eine Möglichkeit darstellt, sich von ihren Unannehmlichkeiten zu befreien (Rurup et al., 2011). Der Gedanke, sein Leben zu beenden, ist demzufolge eine Art letzter Selbstschutz gegenüber unerwünschten Entwicklungen des Lebens und geben Menschen ein gewisses Gefühl von Kontrolle über ihre Situation (Rurup et al., 2011). Diese Erkenntnisse stützen die Resultate der vorliegenden Untersuchung.
6.1.7.3 Zeitliche Aspekte im Zusammenhang mit Entscheidungsprozessen darüber, weiterleben oder sterben zu wollen Zum zeitlichen Verlauf der Entscheidungsprozesse darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, belegen die Resultate der vorliegenden Studie, dass sich der Gedanke und der Entschluss, durch Suizidbeihilfe zu sterben, oft Jahre vor dem Ausbruch einer chronischen Krankheit in Zusammenhang mit einem auslö-
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
senden Ereignis entwickelt. Dies gilt auch für den Erwerb der Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation. Die Resultate geben zu erkennen, dass der Entscheid nicht ad-hoc, sondern prozesshaft zustande kommt und sozusagen einem inneren Reifungsprozess gleichkommt, der sich schneller oder langsamer entwickeln kann. Verschlechtert sich die Gesundheit langsam, reift der Entscheid im Zuge der Krankheit langsamer heran, da die Auswirkungen der Krankheit das persönliche Dasein nicht plötzlich, sondern sukzessive verändern und mal mehr, mal weniger spürbar sind. Kranken, denen hingegen plötzlich voraussichtlich lebenslang anhaltende gesundheitliche Probleme widerfahren, die eine schlechte Prognose im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand und ihre verbleibende Lebenszeit erhalten, schreiten mit ihren Vorbereitungen und ihrem Entscheid bezüglich der Suizidbeihilfe zügiger voran. Der Entscheid, zu sterben, kann von nicht aktuell über aktuell bis dringlich reichen. Durch das veränderte Dasein im Kontext chronischen Krankseins können Betroffene eine körperliche und psychische Verfassung erlangen, die mit der Zeit zu einer inneren Reife und Festigung führt. Verstärkend wirkt diesbezüglich, wenn Kranke keine Linderung ihrer Beschwerden oder keine Hoffnung auf Besserung erfahren oder Angst vor etwas haben. Diese Annahmen passen mit den Ansichten von Voltz et al. (2010) zusammen, dass Menschen von der Idee bis zur Realisierung ihrer Entscheidung den Tod zu beschleunigen, einen Prozess durchlaufen. Die Resultate der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass diesbezügliche Dringlichkeit im Zusammenhang mit Unwohlsein entsteht sowie dem Erleben schlechter Tage, dem Risiko, weitere gesundheitliche Probleme zu erfahren und wenn Cut-Off-Punkte (hinsichtlich des Ungewollten und Gewollten) einzutreten drohen oder bereits eingetreten sind. Umstände wie diese verstärken Gedanken an die Suizidbeihilfe und vermitteln das Gefühl, sich beeilen zu müssen. Die Schwelle zur Ausführung des assistierten Suizids wird dann überschritten, wenn das Gewollte nicht mehr gegeben ist und das Ungewollte droht. Das, was als entscheidend erachtet wird, ist individuell verschieden. Dieses Ergebnis unterstreicht, dass der Entscheid, wann und in welcher Situation ein Mensch durch Suizidbeihilfe stirbt, eine Ermessensfrage des Einzelnen ist. Ein weiteres Resultat, das als sehr wichtig betrachtet werden kann, ist das von chronisch Kranken wahrgenommene Risiko, zu lange mit einem Entscheid zu warten, sodass es plötzlich für das Sterben im Rahmen der Suizidbeihilfe zu spät ist, weil die dazu erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt werden können. Diesbezüglich deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die aus den Sorgfaltskriterien hervorgehenden Notwendigkeiten wie die Urteilsfähigkeit und die Anforderung, das Natrium-Pentobarbital selbstständig einzunehmen, bewirken, dass sich Kranke aus Angst, den richtigen Moment zu verpassen, vorzeitig entscheiden, zu sterben, wodurch sie möglicherweise auf Monate oder Jahre ihres Lebens verzichten. Über diese Feststellung wurde in bisherigen Studien
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nicht berichtet. Sie kann mit der Eigenheit der gesetzlichen Regelung über Beihilfe zum Suizid in der Schweiz und die damit verbundenen Sorgfaltskriterien zusammenhängen. 6.1.7.4 Wendepunkte in Entscheidungsprozessen darüber, weiterleben oder sterben zu wollen Die Resultate zeigen, dass es in Entscheidungsprozessen, weiterleben oder sterben zu wollen, Wendepunkte gibt. Diese resultieren daraus, dass im Kontext einer physisch chronischen Krankheit das persönliche Dasein keine konstante Gegebenheit ist, sondern bedingt durch intrinsische und extrinsische Veränderungen als unterschiedlich konstant, das heißt, als wechselhaft oder vergänglich zu begreifen ist. Das gilt auch für das subjektive Erleben der eigenen Daseinsweise, die subjektive Beurteilung der eigenen Kompetenz, mit seinem Dasein zurechtzukommen, sowie den Lebenswillen und den Entscheid, weiterleben oder sterben zu wollen. Verändern sich der Zustand und die kontextuellen Umstände Kranker, kann sich in der Folge die Konstellation ändern, in welcher sie sich befinden. Möglich ist auch, dass sich ein Mensch in einem Schwebezustand zwischen den Konstellationen befindet. Welche Konstellation ein Kranker repräsentiert, ist demzufolge nicht statisch, sondern von diversen intrapersonalen und kontextuellen Faktoren abhängig und variabel. Darüber hinaus belegen die Untersuchungsergebnisse, dass Rücksichtnahme auf Außenstehende (z. B. involvierte Ärzte, nahestehende Bezugspersonen), die Mühe haben mit dem Vorhaben Kranker, durch Suizidbeihilfe zu sterben, akzeptable Alternativvorschläge zur Suizidbeihilfe oder ein linderndes, wirksames Symptommanagement Kranke auf Dauer oder vorübergehend davon abhalten können, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Mit einem Wechsel von einer Konstellation in eine andere ist verbunden, dass ein Kranker seinen ursprünglichen Entscheid reflektiert und sich umentscheiden kann. Diese Erklärung stimmt mit der Auffassung von Monforte-Royo et al. (2010) überein, dass der Wunsch nach Beschleunigung des Todes fluktuierend oder instabil sein kann. Er kann zugleich als Hilfeschrei angesehen werden. Die vorherrschenden Beweggründe und Entscheidungsprozesse physisch chronisch Kranker darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, sind komplex und mit iterativ ablaufenden subjektiven Wahrnehmungs- und Beurteilungsprozessen verwoben. Der Entscheid, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben, ist die Folge des vergangenen, gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen, individuellen, intrinsischen sowie extrinsischen Daseinskontextes eines physisch chronisch Kranken Menschen.
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6.1.8 Die Bedeutung der gewonnenen Erkenntnisse im Vergleich zu den Annahmen der Forscherin zu Beginn der Untersuchung Rückblickend auf die ursprünglichen Annahmen der Forscherin vor Untersuchungsbeginn bestätigen die Untersuchungsergebnisse, dass nicht alle Menschen, die Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation sind und das Rezept für Natrium-Pentobarbital beantragen, unmittelbar entscheiden, durch Suizidbeihilfe zu sterben und diesen Beschluss auch ausführen. Es zeigt sich, dass die Kranken (noch) so lange weiterleben wollen, wie es für sie geht. Der Wunsch, das eigene Leben zu beenden, kann eine untergeordnete Rolle spielen, sobald ein Mensch die Gewissheit hat, dass das Rezept für das Natrium-Pentobarbital zur Verfügung steht. Allerdings ist dieser Umstand nicht als endgültig zu verstehen, sondern kann in Abhängigkeit von der (Daseins-)Konstellation, der ein Mensch zugerechnet werden kann, veränderlich oder stabil sein. Die Vermutung, dass manche Menschen für den Fall, dass sie mit ihrem Dasein nicht mehr zurechtkommen, mit dem Rezept über eine Hintertür verfügen wollen, die ihnen ermöglicht, sich ihrem Dasein zu entziehen, wird durch die Untersuchungsergebnisse gestützt. Die Ergebnisse machen auch sichtbar, dass gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren sowie bestimmte Umstände innerhalb des Gesundheitswesens den Entscheid darüber, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben, mit beeinflussen. Im Hinblick auf chronisch Kranke, die durch Suizidbeihilfe sterben wollen, hat sich die Annahme bestätigt, dass einzelne von ihnen Schwierigkeiten haben, ihr Dasein im Kontext ihrer chronischen Krankheit und deren Auswirkungen zu bewältigen. Zudem wurde deutlich, dass das Symptommanagement und die Symptomlinderung allein nicht die entscheidenden Kriterien sind, welche für chronisch Kranke ihr Dasein lebbar machen.
6.1.9 Die Bedeutung der Erkenntnisse für bestehende Theorien und Modelle über chronisch Kranke und deren Versorgung sowie das Chronisch-Kranksein Die Erkenntnisse der hier vorliegenden Untersuchung ergänzen auch bisherige Theorien zu chronischer Krankheit und deren Bewältigung. Die Modelle und Theorien von Schaeffer & Moers (2008), Corbin & Strauss (2004) und Olson, Morse, Smith et al. (2001) über die Auswirkungen chronischer Krankheit und deren Bewältigung durch Kranke beinhalten diverse Verlaufskurvenphasen. Schaeffer & Moers (2008, S. 13 ff.) beschreiben die Phasen »Im Vorfeld der Diagnose«, »Erhalt der Diagnose/Manifestation der Krankheit«, »Restabilisierung«, »Leben im Auf und Ab der Krankheit«, »Beginn der Abwärtsentwicklung« und »Endgültiges Abwärts und Sterben«. Corbin & Strauss (2004, S. 39 ff.)
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untergliedern den Ablauf in »(Prä-, post-)diagnostische Phase« »Akute Phase«, »Normalisierungsphase«, »Stabile Phase«, »Instabile Phase«, »Phasen der Verschlechterung« sowie die »Sterbephase«. Olson et al. (2001, S. 29 ff.) identifizierten im Zusammenhang mit Krankheit und Tod die Stadien »vigilance« (Wachsamkeit), »enduring to survive« (erdulden, um zu überleben), »enduring to live« (erdulden, um zu leben), »suffering« (Leiden), »enduring to die« (erdulden, um zu sterben, Rückzug), »learning to live with altered self« (lernen, mit seinem veränderten Selbst zu leben). Vergleicht man diese Theorien mit den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung, fällt auf, dass sich viele dieser Phasen in ihnen wiederfinden. Allerdings wird auch sichtbar, dass die erwähnten Theorien vor allem Aussagen zum Gelingen respektive zur Akzeptanz des krankheitsbedingt veränderten Lebens und zum biologischen Sterben treffen. Auf chronisch Kranke, die Schwierigkeiten haben, ihr durch chronisches Kranksein verändertes Dasein anzunehmen und die noch Jahre leben können, wird in solchen Theorien nur rudimentär eingegangen. Die in dieser Untersuchung vorkommende und erläuterte Konstellation des Nichtzurechtkommens mit seinem veränderten Dasein, die daraus resultierenden Gedanken, nicht mehr weiterleben zu wollen, sowie die Entscheidungsprozesse darüber, weiterzuleben oder zu sterben, werden in den zuvor erwähnten Theorien nur flüchtig oder gar nicht erörtert. Diese Feststellungen treffen auch für das »Modell der Pflege chronisch Kranker« von Grypdonck (2005, S. 15) und die Ausführungen zur pflegerischen Versorgung chronisch Kranker von Curtin & Lubkin (2002) zu. Die vorliegende Studie ergänzt somit das bestehende Wissen.
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Die praktische Bedeutung der Theorie und Handlungsempfehlungen
Gesundheitsfachpersonen, Institutionen des Gesundheitswesens und die Gesundheitspolitik erhalten durch die generierte Theorie eine Orientierung über die subjektiven Wirklichkeiten Kranker hinsichtlich ihres Daseins im Kontext chronischen Krankseins, zur Versorgung chronisch Kranker, insbesondere solcher, die erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, sowie zur Entstehung und zum Verlauf von Entscheidungsprozessen bezüglich des Weiterlebens und/oder des Sterbens durch Suizidbeihilfe. Darüber hinaus sind die theoretischen Aussagen und Erklärungen auch für die Lehre im Gesundheitswesen, die Justiz, Glaubensgemeinschaften sowie die Öffentlichkeit von Interesse.
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6.2.1 Relevanz der Erkenntnisse für Gesundheitsfachpersonen Für Gesundheitsfachpersonen sind die Theorie und deren konzeptuelles Modell von praktischem Nutzen, weil sie Einflussfaktoren, Phasen und Prozesse erklären, die im Zusammenhang mit Entscheidungen Leidender darüber, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben, bedeutsam sind und ermöglichen, diese einzuschätzen und zu verstehen. Zudem sensibilisieren die theoretischen Ausführungen Gesundheitsfachpersonen für die von Kranken gewollten und ungewollten Daseinsaspekte und ermöglichen durch deren Identifizierung und Berücksichtigung die Gestaltung einer bedürfnisgerechten Versorgung, die Menschen hilft, mit ihrem krankheitsbezogenen Dasein zurechtzukommen. Die Fokussierung und Erfassung des Gewollten und Ungewollten aus der Sicht Kranker ermöglicht Gesundheitsfachpersonen, Differenzen zwischen den von Kranken gewollten und ungewollten Daseinsweisen und ihrem tatsächlich erlebten Dasein frühzeitig zu erkennen. Damit können Gesundheitsfachpersonen an den Faktoren, die Kranke dazu veranlassen, nicht weiterleben, sondern sterben zu wollen, proaktiv ansetzen, ungewollten Daseinsaspekten präventiv begegnen und die Erhaltung sowie Realisierung gewollter Daseinsweisen fördern. Die vier Muster der Kernkategorie (Konstellation 1 bis 3) dienen Gesundheitsfachpersonen zur fortlaufenden Einschätzung der subjektiven Wahrnehmung und Beurteilung des Daseins Kranker im Kontext chronischen Krankseins sowie zur Beurteilung der Kompetenz Kranker, mit ihrer Daseinsweise zurechtzukommen. Dabei gibt die repräsentierte (Daseins-)Konstellation Aufschluss darüber, wo sich ein Mensch im Entscheidungsprozess befindet, und ermöglicht, Veränderungen zu erkennen. Die Erklärungen zu den Entscheidungsprozessen, insbesondere, dass der Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, für Kranke der letzte Ausweg aus einer für sie gegenwärtigen und/oder antizipierten zukünftigen unerträglichen und ungewollten Daseinsweise ist, und sie diese Möglichkeit wählen, weil sie keine anderen für sich akzeptablen Optionen sehen, sind für die Versorgungspraxis chronisch Kranker ebenfalls bedeutsam. Aus der Theorie geht auch hervor, dass der Entscheid Kranker, durch Suizidbeihilfe zu sterben, und dessen Realisierung nicht vorschnell oder unüberlegt erfolgen, was darauf hindeutet, dass es ein Zeitfenster gibt, in dem Kranke gegenüber Versorgungserbringern und Versorgungsangeboten zugänglich sind. Dieses Zeitfenster birgt die Chance, Kranken mit bedürfnisgerechten Alternativen zur Suizidbeihilfe entgegenzukommen. In diesem Zusammenhang zeigt sich allerdings, dass die von manchen Ärzten geäusserten Gegenvorschläge zur Suizidbeihilfe (z. B. das Ausstellen einer Patientenverfügung, ein stationärer Krankenhausaufenthalt zur Schmerzbehandlung, gute Schmerzlinderung im Endstadium oder palliativ
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Versorgungsangebote) nicht immer dem Werte- und Präferenzsystem Kranker entsprechen und dieser Umstand mit dazu beiträgt, dass die Kranken nicht länger am Leben bleiben wollen.
6.2.2 Handlungsempfehlungen Auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse werden im Weiteren Handlungsempfehlungen abgeleitet, die zu einer Verbesserung der Versorgungspraxis chronisch Kranker beitragen und Faktoren stärken könnten, die Kranke veranlassen, weiterzuleben, oder präventiv gegenüber Faktoren wirksam sein könnten, die sie erwägen oder entscheiden lassen, durch Suizidbeihilfe zu sterben. 6.2.2.1 Empfehlungen für Gesundheitsfachpersonen 6.2.2.1.1 Die Gestaltung der Beziehung zwischen Gesundheitsfachpersonen und Kranken Damit sich Kranke, insbesondere solche, die erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, von Gesundheitsfachpersonen verstanden und angenommen fühlen, sind eine partnerschaftlich-therapeutische Beziehung sowie patienten-, problem-, bedürfnis- und präferenzzentrierte empathische Kommunikationsfähigkeiten erforderlich. Die Beziehung zwischen Gesundheitsfachpersonen und Kranken muss von Fürsorge, Respekt, Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Würde, Vertrauen und Engagement geprägt sein und dem Erleben, den Empfindungen, den Bedürfnissen und Interessen des einzelnen Kranken gerecht werden. 6.2.2.1.2 Schwerpunkte innerhalb des Assessments chronisch Kranker Da multifaktorielle Daseinsaspekte dafür verantwortlich sind, dass chronisch Kranke weiterleben wollen oder erwägen, zu sterben, muss auch ihre Versorgung auf einem multifaktoriellen Ansatz basieren. Zentral ist die Erfassung der gesamten, das heißt, der intrinsischen sowie extrinsischen Daseinssituation eines Kranken aus dessen subjektiver Perspektive. Diesbezüglich dient das entwickelte konzeptuelle Modell Gesundheitsfachpersonen als Bezugsrahmen zur Durchführung eines umfassenden, strukturierten, mehrdimensionalen (Re-) Daseins-Assessments. Mit dem Kennenlernen sowie im Laufe der Versorgung chronisch Kranker sollten durch Gesundheitsfachpersonen fortlaufend Informationen zu den Persönlichkeitsmerkmalen, der gewohnten Daseinsweise, der Lebenswelt, den Lebens-, Sterbe- und Todeserfahrungen sowie zum Daseinserleben Kranker erhoben, evaluiert und aktualisiert werden. Der soziale Kontext,
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das heißt, das Vorhandensein, das Fehlen oder Verluste sozialer Beziehungen, deren Qualität und Bedeutung für den Kranken sollte erfasst werden. Auch sollte erfragt werden, welche Bedeutung das persönliche Lebensalter hat, welche Ressourcen, Kraftquellen, Partizipations- und Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen, was dem Kranken (Lebens-)Freude bereitet, ob eine religiöse oder spirituelle Orientierung besteht, welche Bedeutung diese für den Kranken hat und wie der Kranke seine Selbstversorgungskompetenz beurteilt. Um eine Versorgung zu erbringen, die Kranken ermöglicht, weitestgehend entsprechend ihren Vorstellungen leben und sterben zu können, ist es unerlässlich, ihre Einstellungen, Überzeugungen, Werte, Präferenzen, Bedürfnisse und Ziele hinsichtlich der Art und Weise, wie sie leben, versorgt und nicht versorgt werden wollen, zu ermitteln. Vorstellungen zur Gestaltung des Lebens(-endes) und die Einstellung gegenüber einer palliativen Versorgung sollten besprochen werden. Inwieweit will der Kranke über sein Sterben und seinen Tod entscheiden, existiert eine Patientenverfügung, besteht eine Mitgliedschaft bei einer Suizidbeihilfeorganisation oder wird eine solche angestrebt? Daneben sind fortlaufend umfangreiche Informationen über den aktuellen Gesundheitszustand und die Krankheit(en) eines Patienten zusammenzutragen. Diesbezüglich ist auch zu erfragen, wie die Krankheit, die Krankheitssymptome und der Krankheitsverlauf erlebt werden. Ein systematisches Symptomassessment ist durchzuführen, in dem der Status, das Erleben und die (Un-)Erträglichkeit von Krankheitssymptomen erhoben werden. Von besonderer Bedeutung sind, welche Auswirkungen die Krankheit, deren Symptome sowie Alterungsprozesse auf die Daseinsführung und -gestaltung eines Kranken haben. Gesundheitsfachpersonen sollten Kenntnis darüber erlangen, was der Umstand chronischen Krankseins und dessen Auswirkungen beim Kranken auslösen und deshalb das physische und psychische Befinden erfassen. Wichtig ist auch, den Umgang des Kranken mit seiner Krankheit und seinem dadurch veränderten Dasein sowie das Verhalten nahestehender Bezugspersonen und dessen Bedeutung für den Kranken zu erfragen. Da die (Daseins-)Konstellation eines Menschen bedingt, ob er entscheidet, weiterzuleben oder zu sterben, sollten Gesundheitsfachpersonen die Daseinsweisen Kranker und die von ihnen repräsentierte Konstellation (1 bis 3) ermitteln. Dazu ist fortlaufend zu erfassen, wie der Kranke sein gegenwärtiges sowie das von ihm antizipierte zukünftige Dasein wahrnimmt und beurteilt. Dabei ist bedeutsam, welche Daseinsweisen sich ein Mensch für sich vorstellen kann und unter welchen antizipierten Daseinskonstellationen er denkt, nicht mehr weiterleben zu wollen. Zudem ist zentral, worunter der Kranke leidet, ob das eigene Dasein als un- oder erträglich erlebt wird, ob infolgedessen Angst oder ein innerer Unwille gegenüber ungewollten Daseinsweisen vorherrscht und das Bedürfnis besteht, sich vor solchen schützen zu wollen. Zusammenhängend
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damit ist die subjektive Beurteilung der eigenen Kompetenz, mit seinem Dasein zurechtzukommen, zu prüfen. Im Rahmen des (Re-)Daseins-Assessments sollten in Fällen, in denen die klinische Patientensituation es rechtfertigt, mittels Screeningfragen die Suiziderwägungen, -absichten und das aktuelle Risiko für suizidales Verhalten eines physisch chronisch Kranken diagnostiziert werden. Diesbezüglich sollte auch die Bereitschaft bzw. der Wille, weiterzuleben oder aber durch Suizidbeihilfe zu sterben, ermittelt werden. Bestehen Gedanken, sein Leben zu beenden, sind die Auslöser und Beweggründe dafür zu erschließen und die Frage zu klären, ob und warum entsprechende Entscheide als dringlich erlebt werden. Auch die Haltung und die Reaktion von Bezugspersonen sowie deren Bedeutung für den Sterbewilligen sind zu erfragen. Darüber hinaus sollte auch die Bedeutung des gesellschaftlichen Kontextes, relevanter Leistungen des Sozialsystems, finanzieller Aspekte sowie Gegebenheiten und Leistungen des Gesundheitswesens und dessen Bedeutung für den Kranken angesprochen werden. Deuten Zeichen auf suizidales Verhalten hin, sollte der Kranke gefragt werden, ob konkrete Pläne existieren sowie unter welchen Umständen, wie und wann er beabsichtigt, sich sein Leben zu nehmen. 6.2.2.1.3 Aspekte zur Gestaltung der Versorgung chronisch Kranker Die Versorgung chronisch Kranker sollte der Idee eines umfassenden Daseinsmanagements gleichkommen und Kranken dazu verhelfen, mit ihrem täglichen Dasein im Kontext chronischen Krankseins zurechtzukommen und leben zu können. Um in diesem Sinn für chronisch Kranke und ihr soziales Umfeld optimale Versorgungsergebnisse zu erreichen, ist es erforderlich, das Wohlbefinden Kranker zu fördern und gesundheitlichen Komplikationen und Verschlechterung vorzubeugen. Die Ziele der Versorgung sollten die Maximierung der Qualität des Daseins und der Unabhängigkeit Kranker und ihrer Bezugspersonen im Rahmen ihrer Lebensumstände sowie das Erzielen der Fähigkeit sein, an sozialen und kreativen Aktivitäten teilzunehmen. Die Kranken und ihre Bezugspersonen sollten durch die Gesundheitsversorgung auch Hilfe hinsichtlich bestehender Optionen zur Findung von Lösungsansätzen oder dem Treffen von Entscheidungen auf einer informierten Basis erhalten. Durch Informationen über unterstützende Dienstleister in der Nähe des Wohnortes, die Förderung des Zugangs zu solchen Dienstleistern und die Identifizierung und Organisation von erforderlichen Hilfen könnte für Kranke eine gute Versorgung gestaltet werden, unabhängig davon, ob sie in der häuslichen oder in einer institutionellen Umgebung leben. Die Versorgung sollte auch auf die bestehenden und antizipierten zukünftigen Probleme und Ängste Kranker (z. B. in Zusammenhang mit erforderlichen medizinischen Eingriffen, Nebenwirkungen von Medikamenten, Inkontinenz und Unselbstständigkeit, ungewollte lebenserhaltende Maßnahmen, die Notwendigkeit, irgendwann in
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ein Alters- oder Pflegeheim zu müssen) eingehen und darauf abzielen, dass Kranke und ihre Familie die für sie wichtigsten Anliegen und Probleme handhaben können. Insbesondere für Patienten mit komplexen Versorgungsbedürfnissen, die eine kontinuierliche Versorgung und umfassende Gesundheitsleistungen benötigen und im Hinblick auf unerwünschte klinische Ereignisse (z. B. Zunahme der Krankheitssymptome, akute Komplikationen) gefährdet sind, sollte die Gesundheitsversorgung die Kranken dazu veranlassen, sich betreffend evidenzbasierter Empfehlungen adhärent zu verhalten, sodass gewünschte Versorgungsergebnisse erreicht werden können. Um die oben erwähnten Versorgungsziele zu erreichen, sind Versorgungsansätze erforderlich, die nicht nur auf die medizinische Behandlung physischer Krankheitssymptome begrenzt sind, sondern Ansätze der Gesundheitsprävention und -förderung, der Rehabilitation sowie der geriatrischen und der palliativen Versorgung integrieren und im Sinne einer personenzentrierten Versorgung auf die Bedürfnisse Kranker und ihrer Familie abgestimmt sind. Dabei ist es wichtig, eine vorausschauende Planung der Versorgung, basierend auf den aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen eines Patienten, anzubieten. Das beginnt bereits ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung einer chronischen Krankheit und erstreckt sich über die verschiedenen Lebensphasen während der gesamten Lebenszeit (Life Care) chronisch Kranker, sollte also bereits lange vor den letzten Lebensmonaten oder -wochen einsetzen. Die Gestaltung der Versorgung sollte nach den Bedürfnissen und Präferenzen des Kranken erfolgen. Die Versorgungsangebote sollten dabei nach dem Holund Bringprinzip gestaltet sein, das heißt, Kranke sollten zur Inanspruchnahme der für sie erforderlichen Versorgungsangebote entsprechende Institutionen aufsuchen oder diese zu Hause in Anspruch nehmen können. Vor dem Hintergrund der steigenden Zahl von Einpersonenhaushalten und der zunehmenden gesellschaftlichen Mobilität und der damit verbundenen örtlichen Distanz von Familienmitgliedern zu kranken Angehörigen sollte die Gesundheitsversorgung für chronisch Kranke auch Unterstützungsangebote enthalten, die bei Bedarf rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Neben der Abklärung des Versorgungsbedarfs und einem effektiven Krankheits- und Symptommanagement ist das Versorgungserleben aus der Sicht Kranker zu ermitteln. Unerlässlich ist auch, dass die alltägliche Daseinsgestaltung und -bewältigung der Kranken in der Versorgungsgestaltung berücksichtigt wird und die Versorgung Interventionsansätze für Kranke umfasst, die mit ihrem gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Dasein nicht zurechtkommen. Im Fall einer Krisensituation müssen die Kranken wissen, an wen sie sich wenden können. Um aufseiten der Kranken und ihrer Bezugspersonen informierte Entscheidungsfindungsprozesse zu unterstützen und das therapiebezogene Adhärenzverhalten sowie das körperliche Funktionieren zu verbessern, sollten chronisch Kranke und ihre Bezugsperso-
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nen kontinuierlich evidenzbasierte edukative, beratende, unterstützende Versorgungsangebote erfahren. Im Rahmen edukativer Angebote sollten die körperlichen und psychischen Auswirkungen der Krankheit eines Patienten und die möglicherweise bleibenden gegenwärtigen und zukünftigen funktionellen Beeinträchtigungen angesprochen werden, denn diese können die Bedürfnisse eines Kranken sowie die Auswirkungen der Erkrankung auf die Bezugspersonen verändern. Darüber hinaus sollten Kranke und deren Familie durch die Gesundheitsversorgung erfahren, welche Gesundheitsleistungen für sie existieren und wie sie die von ihnen benötigte und gewünschte Versorgung bekommen können. Dies beinhaltet auch, dass Versorgungsoptionen identifiziert werden, Ziele im Hinblick auf eine lebenslange Versorgung definiert und geplant werden, bekannte und neue gesundheitliche Versorgungsbedürfnisse verstanden und besprochen werden und geeignete Ressourcen gefunden und annehmbare Versorgungsoptionen für einen Patienten recherchiert werden. Die Kranken und ihre Bezugspersonen müssen erfahren, was für Versorgungskosten auf sie zukommen und was es für finanzielle Hilfen gibt. Sie brauchen Informationen darüber, wie sie beurteilen können, ob ihre Versorgung gut ist. Zudem ist es auch wichtig, dass Missstände erkannt und beseitigt werden. Ein weiterer Aspekt der Versorgung ist, die Selbstmanagementkompetenz und somit auch die Selbstwirksamkeit Kranker fortlaufend und nachhaltig zu fördern, wiederherzustellen und zu erhalten, denn dadurch können Patienten lernen, wie sie ihren gesundheitlichen Zustand sowie mögliche Komplikationen mit entsprechenden Tools selbst überwachen und ihre kontextuellen Gegebenheiten mithilfe der zur Verfügung stehenden Ressourcen (Dienstleister im Rahmen der häuslichen Versorgung, Hilfsmittel, um unabhängig zu funktionieren, Anpassungen der Wohnungseinrichtung etc.) optimal gestalten können. Mithilfe einer Gesundheitsversorgung, die bezüglich Transitionen von der häuslichen Umgebung in eine Institution des Gesundheitswesens und umgekehrt eine Eintritts- und Austrittsplanung durchführt und die Vorbereitungs-, Begleitungs- und Follow-up-Besuche vonseiten der Gesundheitsfachpersonen umfasst, könnten derartige Übertritte/-gänge für Patienten und deren Bezugspersonen weniger abrupt und mit Bedacht gestaltet werden. Um die Versorgung von (multiplen) chronisch Kranken fortlaufend, umfassend, evidenzbasiert und koordiniert zu gestalten, bieten sich für (mehrfach) chronisch Kranke Versorgungsmodelle wie zum Beispiel das Chronic-Care-Modell, (Chronic) Disease (Self-)Management Programme, Patient Centered Medical Home, Guided Care oder Life Care Planning an (siehe dazu Bodenheimer, Wagner & Grumbach, 2002; siehe dazu Boult, Giddens, Frey et al., 2009; Lorig, Holman, Sobel et al., 2012; Weed & Berens, 2010). Wollen Gesundheitsfachpersonen Überlegungen und Entscheidungen von Kranken, die sterben wollen, entgegenwirken, müssen sie sich deren Anliegen
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frühzeitig so annehmen, dass die Faktoren, welche zum Sterbewunsch beitragen können (z. B. starke Schmerzen, Hilflosigkeit, Ängste, nicht mehr zu Hause bleiben können), erst gar nicht wirksam werden oder an Bedeutung verlieren, und die Umwelt Kranker so gestaltet ist, dass sie ihr Dasein möglichst ihren Vorstellungen gemäß führen können. Dazu müssen Gesundheitsfachpersonen vorausschauend an den Beweggründen ansetzen, die Kranke erwägen lassen, zu sterben, ihnen aufzeigen, dass und welche mit ihren Vorstellungen kongruente Versorgungs- und Behandlungsmöglichkeiten bestehen und die Versorgung gemeinsam mit ihnen im Sinne des Shared Decision Making festlegen, entsprechend planen und einleiten. Neben der Linderung belastender krankheitsbedingter Symptome ist es wichtig, dass die kurz- und langfristigen Auswirkungen chronischen Krankseins, welche den subjektiv empfundenen Wert des eigenen Daseins schmälern, erkannt und relativiert werden und die Daseinsaspekte, welche den subjektiven Wert des Daseins für einen Kranken ausmachen, erhalten, potenziert oder neu gefunden werden. Um den Kranken ein Gefühl von Kontrolle über ihren Zustand zu vermitteln, müssen sie hinsichtlich der von ihnen ungewollten sowie gewollten Daseinsweisen vorausschauend sowie gezielt informiert und beraten werden. Gesundheitsfachpersonen müssen bei Kranken Lernprozesse anregen und sie begleiten, damit sie und ihre Familien Fähigkeiten und Fertigkeiten wiedererlangen oder neu erwerben und mit dem Umstand chronischen Krankseins durch die verschiedensten Phasen ihres Daseins hinweg leben können. Zur Evaluation der Bedeutung und Wirkung der eingeleiteten Versorgung müssen Gesundheitsfachpersonen erfragen, ob Kranke ihre(n) Versorgung(-skontext) als unterstützend erleben oder sich allein gelassen fühlen, wie (un-)zufrieden sie mit der institutionellen Versorgungsqualität sind und ob und wozu hinsichtlich ihrer Daseinsbedingungen und Versorgung Veränderungs- und Handlungsbedarf besteht. Insbesondere wenn Sterbegedanken oder der Wunsch nach assistiertem Suizid vorliegen, sind die multidisziplinäre Versorgung und deren Bedeutung für den Kranken zu prüfen und zu verbessern. Die Versorgung ist so zu gestalten, dass sie den Kranken ermöglicht, mit ihrem krankheitsbedingt veränderten und sich weiter verändernden Dasein zurechtzukommen, und dadurch suizidalen Absichten entgegenwirkt. Wichtig ist, dass die Gegenvorschläge, die Ärzte gegenüber Kranken machen, die sich für Suizidbeihilfe interessieren, den Werten, Präferenzen und Bedürfnissen solcher Kranken entsprechen, denn sonst sehen sie in diesen Vorschlägen keine Alternativen zur Suizidbeihilfe. Dazu gehört auch, dass Ärzte ihre Grenzen in der Versorgung chronisch Kranker erkennen und sie zum Wohle der Kranken rechtzeitig weitere Fachpersonen in die Versorgung involvieren. Hilfreich könnte diesbezüglich ein multidisziplinäres Versorgungsmodell sein, in dem sich Ärzte, spezialisierte Pflegefachpersonen, Physio- und Ergotherapeuten, Sozialarbeiter etc. zusammenfinden und ihre Versorgungsansätze un-
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tereinander für Patienten abstimmen oder zum Beispiel innerhalb einer Gesundheitspraxis an einem Ort angestellt sind und partnerschaftlich zusammenwirken. Dies würde auch ermöglichen, dass alle involvierten Gesundheitsfachpersonen auf die zu einem Patienten erhobenen Daten zugreifen und die Daten im Gesamtzusammenhang analysieren und zur proaktiven und präventiven (Lebens-)Planung, Beobachtung und Überwachung, Erinnerung, Edukation und Befähigung von Patienten verwenden könnten. Um als Gesundheitsfachperson professionell mit Menschen umgehen zu können, die erwägen, ihr Leben durch Beihilfe zum Suizid zu beenden, ist es wichtig, sich selbst auf solche Situationen vorzubereiten und seine eigene Haltung zu ermitteln. Gesundheitsfachpersonen sollten sich Kranken gegenüber der Thematik der Suizidbeihilfe gesprächsbereit verhalten, offen und wertfrei kommunizieren und ihren persönlichen Standpunkt zur Suizidbeihilfe mitteilen. Empfehlungen im Umgang mit Kranken, die um eine Beschleunigung ihres Todes ersuchen, sind an anderer Stelle ausgeführt (siehe Lachman, 2010; Royal College of Nursing, 2011; Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK, 2005). Auch wenn der Entscheid einer Gesundheitsfachperson, Kranke beim Prozedere der Suizidbeihilfe nicht zu unterstützen, mit der herrschenden berufsethischen Haltung der Verbände und Vereinigungen von Gesundheitsfachpersonen übereinstimmt, bleibt die Frage, ob ihre Zurückhaltung gegenüber solchen Gesuchen von Kranken, insbesondere wenn diese nicht in der Lage sind, ihr Vorhaben selbst in die Wege zu leiten, ethisch vertretbar und angemessen ist. 6.2.2.2 Empfehlungen für Institutionen des Gesundheitswesens Die Theorie liefert auch bedeutsame Aussagen zur Versorgung (sterbewilliger) chronisch Kranker in Institutionen des Gesundheitswesens. Die Ausführungen zeigen, dass zum subjektiven Erleben Kranker bezüglich institutioneller Versorgungskontexte und der erlebten Versorgungsqualität positive und negative Versorgungserfahrungen bestehen, die mit der Entscheidung darüber, weiterleben oder sterben zu wollen, in Zusammenhang stehen. Vor dem Hintergrund der Theorie ist es deshalb wichtig, dass in Institutionen des Gesundheitswesens mit angestellten Gesundheitsfachpersonen der Umgang mit und das Verhalten gegenüber Patienten und Bewohnern, insbesondere solchen, die Sterbegedanken oder einen Sterbewunsch äußern oder Beihilfe zum Suizid für sich erwägen, besprochen wird und institutionsinterne Verfahrensanweisungen zum Umgang mit solchen Situationen zur Verfügung stehen. Zusammenhängend damit ist zu überdenken, ob die bei Gesundheitsfachpersonen und in Institutionen des Gesundheitswesens nicht selten anzutreffende strikte Trennung von Palliative Care und Suizidbeihilfe der richtige Ansatz ist oder diese Haltung nicht gerade dazu
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
führt, dass manche Menschen sich erst gar nicht auf ein Dasein in einer Institution einlassen, in welcher ausschließlich Palliative Care angeboten wird und keine Möglichkeit zur Suizidbeihilfe besteht. Denkbar ist zum Beispiel, dass Palliative Care nicht statt der Beihilfe zum Suizid angeboten wird, sondern beide Ansätze als Möglichkeiten im Versorgungsprozess chronisch Kranker betrachtet werden, wobei die Beihilfe zum Suizid als ultima Ratio angesehen werden könnte. Würden sich mehr Verantwortliche von Institutionen des Gesundheitswesens gegenüber der Thematik sowie der institutionsinternen Durchführung der Suizidbeihilfe öffnen, könnte das bewirken, dass sich mehr Menschen auf eine Fortführung ihres Daseins in einer Institution einlassen. Untersagt eine Palliativinstitution, ein Alters- oder Pflegeheim Bewohnern hingegen, durch Beihilfe zum Suizid in den Räumlichkeiten der Institution zu sterben, ist dies eine wichtige Information für Menschen, die Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation sind und sich überlegen, ob und in welcher Institution sie bereit sind, ihr weiteres Dasein zu verbringen. Existieren institutionsinterne Regelungen zum Umgang mit Patienten und Bewohnern, die Suizidbeihilfe erwägen, sollten diese für Interessierte offen zugänglich sein. 6.2.2.3 Empfehlungen für die Gesundheitspolitik Für Gesundheitspolitiker sind die aus den Aussagen chronisch Kranker hervorgehenden positiven Versorgungsansätze und -effekte sowie die sich abzeichnenden Versorgungserfordernisse und -defizite von Bedeutung, denn aus ihnen resultiert, was für eine Versorgung erforderlich ist, wenn diese dazu beitragen soll, dass chronisch Kranke mit ihrem Dasein zurechtkommen und weiterleben, statt durch Suizidbeihilfe zu sterben. Vor diesem Hintergrund sollte im Zentrum gesundheitspolitischer Überlegungen die Frage stehen, wie die Versorgung chronisch Kranker zu gestalten ist, damit keine Gedanken an die Suizidbeihilfe aufkommen und sich solche Menschen auf die Weiterführung ihres Daseins einlassen. Die Gesundheitsversorgung muss so gestaltet sein, dass Menschen keine Angst vor ihrem Dasein im Kontext chronischen Krankseins haben, sondern ihnen ermöglicht, ihr Dasein in Übereinstimmung mit ihren subjektiven Wertvorstellungen leben zu können, und dazu beiträgt, dass Menschen lernen, weiterzuleben, und dadurch das Gefühl erfahren, mit ihrem Leben zurechtzukommen. Es ist nicht damit getan, auf einen Sterbewunsch zu reagieren. Vielmehr muss bereits von Beginn einer chronischen Erkrankung an mit diversen Versorgungsangeboten proaktiv das Thema angegangen werden. Die Gesundheitspolitik muss die Entwicklung und Implementierung von Versorgungsmodellen und -angeboten gewährleisten, welche den unterschiedlichen Versorgungsbedürfnissen der Kranken und ihrer Bezugspersonen in unterschiedlichen Lebensphasen und -situationen Rechnung tragen und von ihnen
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entlastend und nutzbringend erlebt werden. Gebraucht werden integrierte, zugehende und aufsuchbare Langzeitversorgungsmodelle und -angebote für chronisch Erkrankte, die populationsspezifisch und auch bei multimorbid Erkrankten greifen. Mit der Mitteilung der Diagnose einer chronischen Krankheit müssen die Betroffenen automatisch eine fortlaufende Versorgung erfahren, innerhalb derer ein multidisziplinäres Team mit ihnen und ihren Bezugspersonen Versorgungsbedürfnisse erfasst und eine entsprechende gesundheitsfördernde, rehabilitative, palliative und unterstützende Versorgung gestaltet. Wichtig dabei ist, dass Kranke und ihre Bezugspersonen Fähigkeiten erwerben, wie sie selbst mit Krankheitssymptomen, Gesundheitsrisiken und -komplikationen, der Vorbeugung und Behandlung sowie den für sie problematischen Auswirkungen des chronischen Krankseins auf ihr Dasein wirksam umgehen können, wie sie ihr Dasein verbessern und ihr Vermögen, Belastungen zu tolerieren, fördern können. Dazu müssen sie in die Gestaltung ihrer Versorgung einbezogen und in ihrer Selbstkompetenz, ihrem Selbstmanagement und damit in ihrer Selbstwirksamkeit gefördert werden. Diesbezüglich sind edukative Selbstmanagement- und Follow-up-Versorgungsprogramme für chronisch Kranke, Ansätze im Umgang mit für Patienten bedeutsamen Eventualitäten, Ungewissheiten und Unwägbarkeiten etc. erforderlich. Neben der Implementierung, Sicherung und Verbesserung eines exzellenten, patientenorientierten Life Care sowie End-of-Life Care ist Suizidprävention, insbesondere bei älteren Menschen und chronisch Kranken, unerlässlich. Diesbezüglich könnten Beratungsstellen für chronisch Kranke und deren Familien sowie eine von Suizidbeihilfeorganisationen unabhängige Beratungsstelle für explizit Suizidbeihilfeinteressierte und diesbezüglich Involvierte sinnvoll sein. Nicht ausreichend ist, die Versorgung Kranker auf das Krankheits- und das Symptommanagement auszurichten und zu meinen, dass die Entwicklung und Etablierung von Palliative-Care-bezogenen Versorgungsstrukturen und -angeboten Gedanken, lieber sterben als weiterleben zu wollen, sowie das Interesse an der Suizidbeihilfe gänzlich beseitigen. Vielmehr ist zur Kenntnis zu nehmen, dass Palliative Care für manche Menschen keine akzeptable Alternative zur Suizidbeihilfe ist. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn Ärzte Kranken Alternativen zur Suizidbeihilfe vorschlagen, in denen Palliative Care auf Schmerzlinderung, palliative Sedierung, Patientenverfügungen, eine Versorgung in Palliativabteilungen, Hospizen sowie Langzeit(-pflege)institutionen reduziert wird. Vielleicht stellt das in der Schweiz realisierte Versorgungsspektrum der Palliative Care bislang nicht für jeden Menschen eine Alternative zur Suizidbeihilfe dar, weil derartige Versorgungsstrukturen und -angebote gemessen an den Versorgungspräferenzen Kranker zu wenig innovativ und ansprechend entwickelt wurden, um sein Dasein weiterführen zu können und zu wollen. Möglicherweise wird die verfügbare Palliativversorgung auch zu wenig kom-
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
muniziert oder nicht früh genug in die Versorgung chronisch Kranker integriert. Festzuhalten ist, dass für eine exzellente Versorgung chronisch Kranker nicht nur eine gute End-of-Life-Versorgung gefragt ist, sondern eine gute Lebensversorgung (Life Care), die auch am Lebensende gut ist. Entsprechende Angebote können zum Beispiel in Form von kontinuierlichen Konsultation in Gesundheitspraxen, zugehenden Hausbesuchen bei Kranken durch speziell ausgebildete Pflegefachpersonen oder Pflegeexpertinnen (mit erweiterten Kompetenzen, sogenannte Advance Practice Nurses) in Kooperation mit Fachpersonen sowie geschulten, persönlichen Assistenzpersonen oder Laien erbracht werden. Für die ambulante Gesundheitsversorgung kann das an anderer Stelle beschriebene (siehe Boult et al., 2009) und aus dem Amerikanischen stammende Guided-Care-Modell ein vielversprechender, kostenwirksamer Ansatz für eine gute Versorgung älterer, mehrfach chronisch Kranker sein. Es handelt sich dabei um eine Gesundheitsversorgungspraxis, in der Ärzte mit Diplomierten sowie darüber hinaus speziell weitergebildeten Pflegefachpersonen und (Gesundheitsfach-)Angestellten zusammenarbeiten und chronisch Kranken mit komplexen Versorgungsbedürfnissen lebenslang umfangreiche, integrierte Versorgungsleistungen anbieten (Boult et al., 2009). Der mögliche Nutzen der erläuterten Handlungs- und Versorgungsempfehlungen ist, dass durch die Anwendung des konzeptuellen Modells ein Überblick über das Vorhandensein oder Fehlen von Faktoren gewonnen wird, die bei Kranken Entscheidungsprozesse darüber, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben, fördern oder hemmen. Die so gewonnenen Erkenntnisse können Gesundheitsfachpersonen dazu dienen, über das (Entscheidungs-)Verhalten eines Kranken zutreffende Prognosen zu stellen. Durch die konsequente Ausrichtung der Versorgung auf die Bedürfnisse, Werte und Präferenzen chronisch Kranker nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass diese und ihre Bezugspersonen bedürfnisorientierte und präferenzgerechte Versorgungsangebote erfahren. Insbesondere Kranke, die Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation sind, erfahren durch die Realisierung und den Ausbau der angesprochenen Empfehlungen möglicherweise, dass sie auf die von ihnen gewünschte Art und Weise leben können und vielleicht lernen, mit ihrem durch die Krankheit veränderten gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Dasein kurz- und langfristig zurechtzukommen. Das kann auf die Entstehung von Sterbegedanken sowie auf die Erwägung und Entscheidung Kranker, durch Suizidbeihilfe zu sterben, einen präventiven Effekt haben. 6.2.2.4 Empfehlungen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung Die Deutungen zu den Entscheidungsprozessen chronisch Kranker darüber, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben, sind auch für die Lehre im
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Gesundheitswesen relevant, da sie zur Vertiefung der Kenntnisse über das Dasein, die Herausforderungen und Versorgungspräferenzen chronisch Kranker sowie den Verlauf entsprechender Entscheidungen und damit zusammenhängender Einflussfaktoren beitragen. Die Ausführungen darüber, wie Kranke die Kommunikation mit ihrem Arzt über das Thema Suizidbeihilfe erleben, welche positiven sowie negativen Folgen daraus für die Beziehung zwischen Arzt und Kranken resultieren und welche Auswirkungen das auf Entscheidungsprozesse darüber hat, weiterzuleben oder zu sterben, geben zu erkennen, dass bei Gesundheitsfachpersonen Aus-, Fortund Weiterbildungsbedarf hinsichtlich einer patienten- und präferenzzentrierten Kommunikation im Zusammenhang mit der Suizidbeihilfe sowie zu einem sensiblen Umgang mit derartigen Situationen besteht. Demzufolge sollten Gesundheitsfachpersonen und andere involvierte Berufsgruppen durch Lehrveranstaltungen Kenntnisse darüber erwerben, wie Menschen ihr Dasein im Kontext chronischen Krankseins erleben können und welche Versorgungsansätze, -modelle und -angebote für die Kranken existieren und gebraucht werden. Gesundheitsfachpersonen müssen dazu befähigt werden, das Dasein chronisch Kranker strukturiert und umfassend zu ermitteln und sie unter Berücksichtigung ihrer Krankheit(en) entsprechend ihren individuellen Bedürfnissen bestmöglich versorgen zu können. Dazu gehört auch, dass sie Kenntnisse über intrapersonale und kontextuelle Faktoren erwerben, die dazu beitragen, dass physisch chronisch Kranke mit ihrem Dasein zurechtkommen und weiterleben oder aber nicht mehr zurechtkommen und infolgedessen erwägen und entscheiden, durch Suizidbeihilfe zu sterben. Fachpersonen, die chronisch Kranke betreuen, müssen Sterbe- und Suizidgedanken erkennen können, lernen, diese durch geeignete Instrumente einzuschätzen, und Wissen darüber erwerben, wie sie mit solchen Menschen am besten umgehen. 6.2.2.5 Empfehlungen für die Forschung Für die Gesundheits- und Pflegeforschung liefert die Theorie wichtige konzeptuelle Bausteine, Beschreibungen und Erklärungen, die Forschenden zur Untersuchung der Daseinsweisen, der Versorgung, der Überlegungen und der Entscheidungen von chronisch Kranken darüber, weiterzuleben oder durch Beihilfe zum Suizid zu sterben, dienen. Die Gesundheits- und Pflegeforschung sollte zur Versorgung chronisch Kranker untersuchen, wie Kranke ihre Daseinsumstände erleben und für welche ihrer Versorgungspräferenzen entsprechende Versorgungsangebote entwickelt und ausgebaut werden müssen, damit sie ihr Dasein auf eine für sie akzeptable Art und Weise weiterführen können. Die Erforschung der Bedürfnisse chronisch Kranker muss die Anliegen Kranker unterschiedlichen Lebensalters, verschiedener Populationen sowie unter-
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
schiedlicher Krankheitsstadien und -situationen berücksichtigen und ist nicht auf das Lebensende zu beschränken. Um bedürfnisgerechte Palliative-Care-Angebote entwickeln und implementieren zu können, ist zum Beispiel zu untersuchen, was für Assoziationen der Begriff Palliative Care bei Kranken auslöst, was sie darunter verstehen, auf welche entsprechenden Angebote sie sich einlassen würden, was ihnen diesbezüglich wichtig wäre und warum sie sich auf welche Angebote nicht einlassen würden. Betreffend die Suizidbeihilfe sollten die diesbezügliche Kommunikation zwischen Gesundheitsfachpersonen und Kranken und die damit verbundenen Verhaltensweisen sowie die Entscheidungsprozesse von Ärzten untersucht werden. Es fehlen umfassende Kenntnisse darüber, welche Alternativen chronisch Kranken vorgeschlagen werden, ob und inwiefern den Bedürfnissen Kranker, die um Suizidbeihilfe ersuchen, nachgekommen wird und was Menschen dazu bewegt, ihre Erwägung oder ihren Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, rückgängig zu machen. Darüber hinaus fehlt es an Wissen, was die Erwägung und das Sterben durch Suizidbeihilfe bei nahestehenden Bezugspersonen auslöst und wie diese sich Sterbewilligen gegenüber verhalten. Mittels einer Mixed-Method-Forschung sollte untersucht werden, mit welchen Interventionen der Erwägung und dem Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben zu wollen, vorbeugend begegnet werden kann. Interessant zu untersuchen wäre beispielsweise, ob Programme zur Förderung des Selbstmanagements chronisch Kranker sowie bedürfnis- und präferenzgerechte Versorgungsangebote und -leistungen dazu beitragen, dass insbesondere chronisch erkrankte Mitglieder einer Suizidbeihilfeorganisation mit ihrem krankheitsbedingt veränderten gegenwärtigen und zukünftigen Dasein zurechtkommen und sich darauf einlassen, auf biologische Art und Weise zu sterben. 6.2.2.6 Empfehlungen für den Gesetzgeber Zu den verlangten Voraussetzungen und Sorgfaltskriterien betreffend die Beihilfe zum Suizid erklärt die Theorie, dass die geforderte Urteilsfähigkeit sowie die Fähigkeit, den letzten zum Tod führenden Handlungsschritt selbst durchführen zu müssen, bei einigen Kranken Angst schürt, diese Bedingungen irgendwann nicht mehr zu erfüllen. Diese Angst veranlasst manche Menschen zu dem Entscheid, ihr Leben frühzeitig durch Suizidbeihilfe zu beenden, das heißt, möglicherweise noch vor einem tatsächlich absolut unerträglichen Zeitpunkt oder terminalen Stadium. Diese durch die geforderten Voraussetzungen und Sorgfaltskriterien zur Beihilfe zum Suizid ausgelöste Auswirkung auf den Zeitpunkt der Entscheidung Kranker, durch Suizidbeihilfe zu sterben, löst Fragen zu den Folgen der geforderten Kriterien aus und ist für die Justiz von Bedeutung. Bedenklich ist der Umstand, dass Sterbewilligen von Gesundheitsfachpersonen
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Alternativen zur Suizidbeihilfe vorgeschlagen werden, die an den Bedürfnissen, Werten und Präferenzen Kranker vorbeigehen und deshalb für sie keine Option darstellen. Dass die Versorgung in Institutionen des Gesundheitswesens von einigen Kranken als unbefriedigend erlebt wird und dieser Umstand zusätzlich dazu beiträgt, dass sich solche Kranke dazu entscheiden, durch Suizidbeihilfe zu sterben, wirft die Frage nach der Bedeutung solcher Gegebenheiten für das mit der Suizidbeihilfe in Zusammenhang stehende Sorgfaltskriterium auf, dass der Entscheid ohne Druck von Außenstehenden zu erfolgen hat. Keine der befragten Untersuchungspersonen, die durch Suizidbeihilfe sterben wollte und bereits deren Realisierung plante, lag zum Untersuchungszeitpunkt unmittelbar im Sterben. Wie weit ein Mensch unter Berücksichtigung seines krankheitsbedingten Zustandes vom Zeitpunkt seines tatsächlich biologischen Todeszeitpunktes entfernt ist, kann niemand zuverlässig vorhersagen, was die Beurteilung des Kriteriums, dass der Sterbewillige seinem Lebensende nahe sein muss, schwierig macht. 6.2.2.7 Empfehlungen für Glaubensgemeinschaften Für Glaubensgemeinschaften sind die Aussagen interessant, weil sie bestätigen, dass der Glaube chronisch Kranke davon abhalten kann, Suizidbeihilfe zu erwägen, oder sie davon abhält, über den Zeitpunkt des eigenen Sterbens zu entscheiden. Dennoch gibt es gläubige Kranke, die sich die Freiheit nehmen, durch Suizidbeihilfe zu sterben. In einem Fall hat die vorliegende Untersuchung gezeigt, dass ein Kirchenvertreter den Kontakt zu einem Kranken abgebrochen hat, nachdem seine Erwägung, durch Suizidbeihilfe zu sterben, offenkundig wurde. Die christliche Ethik ist gegen jegliche Form des Suizids. Dennoch ist aufgrund der Studienergebnisse die Frage zu stellen, ob eine solche Haltung moralisch und ethisch vertretbar ist und ob das Recht auf Selbstbestimmung über die Art und den Zeitpunkt der Beendigung seines Lebens nicht auch vonseiten der theologischen Ethik vertretbar sein kann und auch Gläubigen, die einen solchen Weg einschlagen, durch Glaubensgemeinschaften Beistand geleistet werden sollte. 6.2.2.8 Empfehlungen an die Gesellschaft Auch die Gesellschaft kann der Theorie einen Nutzen abgewinnen, denn sie gewährt Einblick in das subjektive Erleben der Daseinsweisen chronisch Kranker und ermöglicht es, Entscheidungsprozesse darüber, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben, aus der Perspektive der Kranken zu betrachten. Unsere Reaktionen auf uns nahestehenden Menschen, die erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, und die Qualität unserer Beziehungen haben einen Effekt
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
auf solche Entscheidungsprozesse. Ob chronisch Kranke ihre sozialen Beziehungen überwiegend als positiv oder als negativ erleben, kann ihre Entscheidung darüber, weiterzuleben oder zu sterben, bestärken oder hemmen. Für die Gesellschaft sind die Erkenntnisse der vorliegenden Untersuchung auch von Bedeutung, da wir alle im Laufe unseres Lebens aufgrund unserer Beziehung zu chronisch Kranken auf die eine oder andere Art, für kurz oder lang als Gesundheitsfachperson, Lebenspartner, Kind, Geschwister, Freundin, Arbeitskollege oder Nachbar Weggefährte oder Lebenshelfer sind. Der Erwerb von Wissen über das Daseinserleben und die Faktoren, die chronisch Kranken helfen, weiterzuleben, oder sie entscheiden lassen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, kann einer breiten Öffentlichkeit helfen, sich das subjektive Erleben und die Entscheidungsprozesse chronisch Kranker kontextuell vorzustellen und nachzuvollziehen. Zudem tragen die Untersuchungsergebnisse zur Sensibilisierung und Reflexion bei, wie wir als Gesellschaft den Daseinskontext chronisch Kranker entsprechend ihren Präferenzen und den von ihnen zu bewältigenden Herausforderungen unterstützend (z. B. durch Nachbarschaftshilfe, Unterstützung von Angehörigen oder Freiwilligenarbeit) beeinflussen können, sodass von ihnen gewollte Daseinsweisen aufrechterhalten oder realisiert und ungewollte ferngehalten werden. Gemäß den eigenen Wert- und Präferenzvorstellungen leben zu können, ist eine, wenn nicht die Kostbarkeit des Lebens. Das Problem sind nicht die Kranken, die auf ihre Art und Weise leben und sterben wollen, das Problem liegt vielmehr darin, dass es unserem Gesundheitssystem und uns als Gesellschaft nicht immer gelingt, die Versorgung chronisch Kranker, ihr Alltagsleben, ihre Lebenswelt und ihre Lebens- und Sterbezeit mit ihnen so zu gestalten, dass ihren Wünschen in ausreichendem Maße entsprochen wird. Die Kunst ist, ein Dasein und Sterben leben zu können, das von dem Einzelnen als wertvoll und als lebbar erfahren wird. Als Gesellschaft, insbesondere als Gesundheits- oder Pflegefachpersonen, müssen wir zusammen mit den Kranken und ihrer Familie versuchen, die Dinge, die den subjektiven Wert des Daseins für einen Menschen ausmachen, zu erhalten, Realität werden zu lassen, zu potenzieren oder neu zu finden. Je mehr uns das gelingt, desto mehr werden chronisch Kranke ihr Dasein in dieser Welt als sinnvoll und wertvoll erfahren und weiterleben können und wollen.
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Reflexion über den angewendeten Forschungsansatz
In diesem letzten Kapitel erfolgt eine Reflexion über die in dieser Untersuchung angewendeten Verfahrensschritte zur Theoriegenerierung sowie über die Evaluation der Qualität der Theorie.
Reflexion über den angewendeten Forschungsansatz
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6.3.1 Reflexion über die angewendeten Verfahrensschritte zur Theoriegenerierung Im Hinblick auf den angewendeten Forschungsansatz der Grounded Theory ist rückblickend festzuhalten, dass, obwohl die Entwickler verschiedener Grounded-Theory-Ansätze betonen, dass es sich bei den methodologischen Verfahrensschritten um Empfehlungen nicht um dogmatische Anweisungen handelt und Forscher ihren eigenen methodologischen Weg finden müssen (Charmaz, 2006; Glaser, 1998), die Forscherin durch anfänglich sowie im Laufe des Forschungsprozesses durch sporadisch aufgetretene methodologische Unklarheiten und Unsicherheiten herausgefordert war. Das Bedürfnis, es forschungsmethodologisch betrachtet richtig zu machen, sowie die Erfahrung von »learning by doing« dominierte. Das Sichten der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Stile und Methoden der Grounded Theory ermöglichten der Forscherin, ein Set essentieller Methoden zusammenzustellen und aus diesen bestimmte Verfahrensschritte auszuwählen und festzulegen, die im Kontext der vorliegenden Untersuchung anwendbar schienen und systematisch zur Anwendung kommen sollten. Die Anpassung der methodologischen Verfahrensschritte an die forschungspraktischen Gegebenheiten unter Berücksichtigung der Grundprinzipien der Methodologie der Grounded Theory führte dazu, dass bei der Durchführung der Untersuchung nicht ausschließlich nach Glaser, nach Strauss & Corbin oder nach Charmaz vorgegangen wurde. Die von der Forscherin gewählten forschungsmethodologischen Verfahrensschritte zur Datensammlung und -analyse konnten im Kontext der realen Forschungsbedingungen bis auf die in Kapitel 4 erwähnten Einschränkungen gut realisiert werden. Gut anwendbar waren das initiale, absichtliche Sampling, die Methode der konstant vergleichenden Datenanalyse von Ereignissen, Kodes und Kategorien, das Schreiben von Memos und die Entwicklung von Diagrammen über die Beziehungen und Zusammenhänge unter den Kategorien. Die gewählten Schritte des Kodierverfahrens (offenes, axiales und selektives Kodieren) erwiesen sich im Forschungsprozess allerdings als nicht so linear, wie dies in der Literatur den Eindruck erweckt, da sie sich punktuell vermischten. Die theoretische Sensitivität der Forscherin nahm im Laufe der Untersuchung zu. Durch die angewendeten methodologischen Verfahren wurden bei den Untersuchungspersonen ablaufende Wahrnehmungs-, Beurteilungs-, Verhaltens- und Entscheidungsprozesse sowie die zentrale Kernkategorie respektive die vier Muster der Kernkategorie in Form der Konstellationen 1 bis 3 aufgedeckt und erfasst. Das fortschreitende theoretische Sampling war bei der in dieser Forschung schwer zu untersuchenden Population nicht einfach zu realisieren. Die Durchführung des Forschungsprojektes mit den schwer auffindbaren Informanten erforderte, dass bereits vor Untersuchungsbeginn überlegt wurde,
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
welche Informanten wo zu suchen sind. Solche Überlegungen erst aus dem Untersuchungsverlauf anzustellen, wäre der Forscherin aufgrund der Prüfung durch die Ethikkommissionen und der Zugangsbarrieren im Bezug auf das Forschungsfeld und das Auffinden potenzieller Untersuchungsteilnehmer ohne Gatekeeper nicht möglich gewesen. Das theoretische Sampling leitet die sukzessive Datensammlung und deren Analyse, das heißt, welche Daten im Verlauf der Studie zur Bestätigung oder Erweiterung der Datensätze zu Situationen und Ereignissen gesucht werden (Glaser, 1978). Nicht thematisiert wird dabei allerdings, wie und woher die Forscherin erfährt, dass das als Nächstes angepeilte Subjekt oder Objekt zur Datensammlung tatsächlich über entsprechende Erfahrungen verfügt. In der vorliegenden Studie bestand ausgehend von der schwer zugänglichen und begrenzten Untersuchungspopulation für die Forscherin logistisch, forschungsethisch und forschungspraktisch nicht die Möglichkeit, beliebig auf denkbare Informanten zuzugreifen, denn dies setzt voraus, dass der Forscherin die nützlichsten und geeignetsten Personen bekannt sind, es solche gibt und sie bereit sind, Auskunft zu geben. Um abschätzen zu können, durch welche Informanten der Stand der sich im Prozess der Bildung befindlichen Theorie bestätigt und erforderliche Informationen eingeholt werden können, wird bei der prozesshaften Auswahl von Datenquellen von der Forscherin quasi eine prophetische Gabe darüber abverlangt, wo und bei wem die als Nächstes erforderlichen Informationen zu holen wären, wobei im realen Forschungsprozess nicht zuverlässig vorhersagbar ist, ob ein Informant die erforderlichen Informationen tatsächlich liefert. Auch führten die realen Forschungsbedingungen zeitlich zu Überschneidungen zwischen Datensammlung, Datenbearbeitung und Datenanalyse, was nach sich zog, dass der Prozess nicht in jedem Falle abgeschlossen war, bevor die nächste fallbezogene Datenerhebung erfolgte. Dieser Umstand ist ein weiterer Grund dafür, warum das theoretische Sampling praktisch nicht eins zu eins, wie theoretisch gefordert, realisiert werden konnte. Zudem wurde das theoretische Sampling auch dadurch beeinflusst, dass der Forschungstätigkeit aufgrund der Berufstätigkeit der Forscherin zeitlich Grenzen gesetzt waren. So konnte die Forscherin zugunsten der hier vorliegenden Qualifikationsarbeit bezogen auf das theoretische Sampling im Berufsalltag nicht einfach alles stehen und liegen lassen, wenn sich die Möglichkeit bot, mit einem neuen Informanten zu sprechen. In Bezug auf die Bestandteile des Kodierparadigmas nach Strauss & Corbin (1996) ist festzuhalten, dass es den ins Deutsche übersetzten Begriffen »Kontext« und »intervenierende Bedingungen« in diesbezüglichen deutschen Publikationen an definitorischer Klarheit fehlt, um sie eindeutig verstehen und voneinander abgrenzen zu können. Der Vergleich der englischsprachigen Originalliteratur (siehe Strauss & Corbin, 1998) mit der deutschsprachigen Literatur zur Grounded Theory (siehe Strauss & Corbin, 1996) wirft Fragen zur Genauigkeit
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der deutschen Übersetzung hinsichtlich der Bestandteile des Kodierparadigmas auf. Während in der deutschsprachigen Literatur als Bestandteile des Kodierparadigmas unter anderem »ursächliche Bedingungen«, »Kontext« und »intervenierende Bedingungen« zu finden sind (siehe Strauss & Corbin, 1996, S. 75; siehe Strübing, 2004, S. 27), ist in der englischen Version von »kausalen Bedingungen«, »intervenierenden Bedingungen« und »kontextuellen Bedingungen« (siehe Strauss & Corbin, 1998, S. 131ff, dt. Bernhart-Just) die Rede. Zum besseren Verständnis hat sich diesbezüglich das Lesen der englischen Originalliteratur bewährt. Darüber hinaus hat sich im Laufe der Theoriegenerierung gezeigt, dass das Verhalten und Handeln, das heißt, die Strategien der Informanten, wesentlich mit ihren Zielen zusammenhängen, was zu der Frage führte, warum die Zielthematik (mit welchem Ziel, mit welcher Absicht ein Mensch handelt/interagiert) im Zusammenhang mit dem Kodierparadigma bislang kein explizites Thema ist. Durch die Auseinandersetzung mit und die Anwendung der gewählten methodologischen Verfahrensschritte entstand bei der Forscherin der Eindruck, quasi alle Schritte gleichzeitig machen zu müssen, das heißt, Interviews führen, transkribieren, kodieren, die Methode des permanenten Vergleichens praktizieren, Memos schreiben und Tagebuch über Beobachtungen, Überlegungen und Entscheidungen führen zu müssen. Vor dem Hintergrund der zeitlichen Ressourcen entschied die Forscherin, ihre Zeit primär der Datensammlung, der Datenbearbeitung, der Datenanalyse und der unmittelbar damit verbundenen Dokumentation zu widmen. Dabei war das Ziel, die Dokumentation des Verlaufs des Forschungsprozesses nicht zu kurz kommen zu lassen, sich in dieser aber auch nicht so zu verlieren, dass der Dokumentation des Forschungsprozesses mehr Zeit zukommt als der Theoriegenerierung selbst. In Bezug auf die Rolle als Forscherin und das damit verbundene Verhalten war es der Forschenden wichtig, den Informanten mitzuteilen, dass das Interesse an der Durchführung mehrerer Interviews unabhängig von ihrem Verhalten und ihrer Entscheidung darüber ist, weiterzuleben oder sterben zu wollen. Aus ethischen Gründen verzichtete die Forscherin in der Interviewführung bewusst darauf, Informanten direkt nach der Suizidbeihilfe zu fragen oder das Thema Suizidbeihilfe(-organisationen) anzusprechen, ohne dass die Interviewteilnehmer selbst Mitglied einer Suizidbeihilfeorganisation waren, sie diese Form der Beendigung des Lebens selbst im Interview ansprachen oder sich diese Thematik aus der Situation heraus ergab. Diesbezüglich galt es, die Interviewfragen so zu formulieren, dass interessierende Informationen in Erfahrung gebracht werden konnten, aber die Informanten durch die Interviewfragen nicht auf die Beihilfe zum Suizid gebracht wurden. Aufgrund der Beobachtungen und dem Erfahrenen aus der Perspektive der Forscherinnenrolle sah sich die Forscherin im Laufe des Forschungsprozesses auch ethisch fragwürdigen Situationen ge-
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
genübergestellt, zu denen sie ihr Vorgehen reflektieren musste. In einem Fall wurde die Forscherin mit der Möglichkeit konfrontiert, einer Lebensbeendigung durch Suizidbeihilfe beizuwohnen. Die Forscherin entschied sich in diesem Fall gegen eine solche Teilnahme. Unter anderem war der gewichtigste Grund dafür, dass die Teilnahme der Forscherin in diesem Falle aufgrund einer bestimmten erforderlichen Anzahl Personen zur Durchführung der Suizidbeihilfe diese durch ihre Teilnahme sozusagen erst ermöglicht hätte. Die Forscherin musste sich auch mit fraglichen subjektiven Erklärungen und Verhaltensweisen aufseiten der Informanten auseinandersetzen, wie zum Beispiel, dass diese ihrem behandelnden Arzt gegenüber bestimmte Krankheitssymptome verschwiegen. Manche Aussagen der Untersuchungsteilnehmer deuteten darauf hin, dass sie depressive Anzeichen aufwiesen und möglicherweise Suizid begehen würden. Andere Überlegungen der Forscherin bezogen sich auf den Umgang mit diskutierbaren Beobachtungen und Informationen zur Qualität der medizinischen Versorgung der Untersuchungsteilnehmer oder auf die Ausstellung ärztlicher Zeugnisse im Zusammenhang mit der Suizidbeihilfe. Die zuvor erwähnten Beobachtungen werfen Fragen im Hinblick auf die Versorgung chronisch Kranker und die Praxis betreffend die Suizidbeihilfe auf. Allerdings ist zu den diesbezüglich erläuterten Beobachtungen und Erfahrungen zu bedenken, dass diese aus bestimmten Momentaufnahmen der Forscherin resultieren und infolgedessen nicht als Grundlage für verallgemeinernde Schlussfolgerungen zu verstehen sind.
6.3.2 Evaluation der Qualität der generierten Theorie Zur Evaluation der Qualität und Anwendung einer Grounded Theory finden sich in der Literatur diverse Kriterien. Laut Glaser (1992, S. 15; Glaser, 1998, S. 18) muss eine Grounded Theory die Kriterien »Fit« (die generierten Kategorien, deren Merkmale sowie die Beziehungen unter den Kategorien sind verständlich, passend und geeignet), »Work« (Erklärungs- und Vorhersagekraft der Theorie), »Relevance« (Bedeutsamkeit für den Anwendungsbereich) und »Modifiability« (Theoriegenerierung ist ein nicht abgeschlossener Modifizierungsprozess) erfüllen. Strauss & Corbin (1996) betonen hinsichtlich der Evaluation einer Grounded Theory die Datenqualität, die Adäquatheit des Forschungsprozesses sowie die empirische Verankerung der Theorie. Als wichtig wird erachtet, dass die aus den Daten entwickelte und in diesen begründete Theorie dem untersuchten Forschungsgegenstand gerecht wird, die erklärende Theorie den bisherigen Wissensstand zum Forschungsgegenstand komplettiert und sich für die praktische Anwendung eignet (Strauss & Corbin, 1996). Charmaz (2006) fokussiert in Bezug auf die Evaluation einer Grounded Theory auf die Kriterien
Reflexion über den angewendeten Forschungsansatz
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Glaubwürdigkeit, Originalität, Fülle und Sinn der Theorie sowie deren Brauchbarkeit und Nutzen. Um die Glaubwürdigkeit der Forschung und der generierten Theorie sicherzustellen, wurden reichhaltige narrative Interviews durchgeführt, wortwörtlich transkribiert und dann von Schweizerdeutsch ins Hochdeutsche übertragen, die erläuterten methodologischen Verfahrensschritte angewendet, mit denen mehrfache Überprüfungsprozesse einhergingen (Methode des konstanten Vergleichens) und dem Kriterium »Variation« (Suche und Analyse abweichender Fälle, Variation in Bezug auf das Untersuchungssample, Dimensionen, Eigenschaften, Muster der Kernkategorie) Rechnung getragen. Da interpretative Forschungen dem Einfluss der Forschenden unterliegen, ist ein möglicher Bias durch die Analyse der Interviewtranskripte durch die Forscherin nicht auszuschließen. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, das heißt, um die Datenanalyse zu überprüfen und um diesbezüglich eine möglichst hohe Zuverlässigkeit zu erreichen, fanden Besprechungen (auch bekannt als Peer Debriefings) mit nicht an der Untersuchung beteiligten Personen (erfahrenen Pflegewissenschaftlerinnen) statt. Auf eine Prüfung der Konklusionen zur Theoriegenerierung wurde im Sinne einer kommunikativen Validierung mit den Untersuchungspersonen (sogenannte Member Checks) aus ethischen Gründen verzichtet, weil sich bei einem solchen Versuch mit einer Studienteilnehmerin herausstellte, dass diese Herangehensweise von Informanten als belastend erlebt werden kann. Zudem zeigte sich im Untersuchungsverlauf, dass Studienteilnehmer bereits einige Zeit nach der Durchführung des Interviews durch Suizidbeihilfe gestorben waren und eine kommunikative Validierung somit auch zeitlich gesehen nicht realisiert werden konnte. Eine Stärke der generierten Theorie ist, dass diese den unmittelbaren Befragungen und diesbezüglich gewonnenen Daten physisch chronisch Kranker entspringt, denen die Möglichkeit, durch Suizidbeihilfe zu sterben, nicht hypothetisch, sondern tatsächlich zur Verfügung stand und dass sich die Untersuchungspersonen zum Zeitpunkt der Untersuchung in entsprechenden (Entscheidungs-)Prozessen befanden. Die Beurteilung der vorliegenden Theorie und ihrer Konzepte betreffend die theoretische und praktische Bedeutung, Reichweite, Logik, Verständlichkeit, Funktionalität, den Nutzen und die Resonanz wird durch die Bewertung der Leser sowie im Zuge der Implementierung und praktischen Anwendung im Kontext der Versorgung chronisch Kranker sowie im Zusammenhang mit Entscheidungen physisch chronisch Kranker darüber, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben, erfolgen und deshalb an dieser Stelle nicht weiter thematisiert. In zukünftigen Untersuchungen, die Bezug zum Forschungsgegenstand der vorliegenden Studie haben, sollte ein longitudinales Design und die Eignung einer Mixed-Methods-Forschung erwogen werden. In der vorliegenden Unter-
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Diskussion der theoretischen sowie praktischen Bedeutung
suchung erfolgte die Datensammlung weitestgehend im Querschnitt und nur in zwei Fällen longitudinal, weil einige Studienteilnehmer kurz nach dem ersten Interview durch Suizidbeihilfe starben. Ein Vorteil eines Mixed-Methods-Forschungsdesigns ist zum Beispiel, dass tiefere Einblicke und ein umfassenderes Verständnis komplexer und facettenreicher Phänomene erzielt werden können als durch einen quantitativen oder qualitativen Forschungsansatz allein (Creswell & Plano Clark, 2011). Da in diese Untersuchung ausschließlich deutschsprachige und in der deutschsprachigen Schweiz wohnhafte Informanten eingeschlossen waren, sollten in zukünftigen Forschungen mit gleicher oder ähnlicher Thematik zur Untersuchung kulturell bedingter Unterschiede französisch und italienisch sprechende Untersuchungspersonen eingeschlossen werden. Gesamthaft betrachtet haben sich der Forschungsansatz der Methodologie der Grounded Theory, die gewählten methodologischen Verfahrensschritte sowie die Durchführung narrativer Interviews zur Erkenntnisgewinnung und Beantwortung der Forschungsfrage bewährt. Die Anwendung der Verfahrensschritte zur Datensammlung und Theoriegenerierung brachte eine empirisch verankerte, reichhaltige, praxisrelevante Theorie hervor, die verständliche, umfassende theoretische Erklärungen über die subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen, Faktoren und Beweggründe chronisch Kranker darüber liefert, weiterzuleben oder durch Suizidbeihilfe zu sterben, sowie Verhaltensunterschiede und die ablaufenden (Entscheidungs-)Prozesse aufzeigt, sodass tendenziell vorhersagbar wird, was diesbezüglich passieren kann. Da die Theorie bezogen auf den Forschungsgegenstand den empirischen Gegebenheiten der (Deutsch-)Schweiz entspricht, ist ihre Aussagekraft, Glaubwürdigkeit und Voraussagbarkeit auf diesen kulturell-regionalen, landesspezifischen sowie gesetzlichen Kontext begrenzt und in diesem zu verstehen. Inwieweit die gewonnenen Erkenntnisse respektive die Theorie auf die Situation physisch chronisch Kranker übertragen werden kann, die in anderen Schweizer Sprachregionen oder in einem anderen Land leben, in welchem ärztlich assistierter Suizid oder (ärztliche) Beihilfe zum Suizid gesetzlich erlaubt sind, ist zu prüfen. Als Letztes ist festzuhalten, dass die entwickelte Theorie nicht als endgültig zu betrachten, sondern in Anlehnung an Glaser (1998) im Sinne der Modifizierbarkeit zukünftig mit neuen Daten zu vergleichen und gegebenenfalls kategorial um- und weiterzugestalten ist.
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Anhang 1: Beschluss der kantonalen Ethik-Kommission des Kantons Zürich
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Anhang 2: Fallgeschichte Herr Beck (Konstellation 1)
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Anhang 2: Fallgeschichte Herr Beck (Konstellation 1) Interview AB: »Ich kann nicht bestimmen, wann ich auf die Welt komme, und ich kann nicht bestimmen, wann ich von dieser Welt gehe.« Herr Beck ist 63 Jahre alt und lebt seit vier Monaten in einem Hospiz. Bevor er dort einzog, lebte er alleine in einer Wohnung. Herr Beck ist seit sechs Jahren geschieden, weil seine Frau nicht mehr mit seiner Krankheit umgehen konnte. Er leidet seit ca. einem Jahr an Lungenkrebs und COPD. Bevor Herr Beck vor 15 Jahren aufgrund eines Hirnstamminsultes seinen Beruf aufgeben musste, arbeitete er als Pflegefachmann. Er hat eine Tochter und ist vor ein paar Monaten Großvater geworden. Herr Beck wurde katholisch erzogen. Obwohl er kein praktizierender Katholik ist, glaubt er von sich, gläubig zu sein. Gesundheitlich hat Herr Beck bereits »schlimme Sachen« (geplatzter Blinddarm, Herzoperation, Bypässe) mitgemacht. Vor einem Jahr begann es, dass er immer weniger Luft bekam und nicht mehr weit laufen konnte. Als die Atembeschwerden zunahmen, kam er ins Krankenhaus. Bei einer Computertomographie sahen die Ärzte, dass etwas auf der Lunge ist. Ein Lungenlappen wurde entfernt. Die Biopsie ergab, dass es sich um ein bösartiges Geschwür handelt. Insgesamt bekam Herr Beck 44 Bestrahlungen. Es folgten Chemotherapien. Während dieser Zeit war Herr Beck 312 Monate im Krankenhaus. Die Chemotherapien vertrug er nicht. Er litt unter Atemnot und Atemdepressionen. Weil er mit der Chemotherapie schlechter als vorher dran war, brachen die Ärzte die Chemotherapie ab. Obwohl man ihm eine »fürchterliche« Diagnose gestellt hat, geht es ihm seit dem Abbruch der Chemotherapie zu seiner Überraschung besser. Herr Beck ist voller Tatendrang und hat einen unheimlichen Lebenswillen. Er hat noch viele Sachen vor, für die er noch etwas Zeit braucht. Bezüglich der Mitteilung der Diagnose reagierte Herr Beck geschockt. Er fühlte sich in einem »Wechselbad von Gefühlen« und fiel von »einer Ecke in die andere Ecke«. Er fragte sich, wieso es schon wieder ihn erwischt hatte, und konnte und wollte es am Anfang nicht akzeptieren. Er musste lernen, mit dieser Krankheit umzugehen, und fand einen Weg, wie er seine Krankheit akzeptieren konnte. Die Ärzte sagten ihm bezüglich seiner Prognose: »Sie hätten nicht erwartet, dass ich den Sommer erlebe, oder. Und äh – jetzt habe ich einfach, äh, die Diagnose bis Weihnachten, oder«. Gerade weil er ein Vertrauensverhältnis zu den Ärzten aufgebaut hat, enttäuschten ihn die Äußerungen der Ärzte und lösten Angst und Ungewissheit in ihm aus. Aus den Äußerungen der Ärzte entnimmt Herr Beck, dass er die Weihnachtstage vielleicht nicht mehr erlebt. Zuversicht schöpft Herr Beck aus der positiven Nachricht, dass der Tumor nicht
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weiter gewachsen ist. Zudem findet er, dass es wieder bergaufgeht, da er momentan keinen Sauerstoff braucht. Hinsichtlich seines Lebensendes sagt Herr Beck: »[…] ich denke über Leben und Tod, da entscheidet jemand anders bei uns. Also, da können wir nicht – da können weder wir noch die Ärzte können das entscheiden. Außer man macht dann Suizid. […]. Aber ich denke, über Leben und Tod entscheiden ja nicht wir. Das macht jemand anders. Und das ist auch gut so, oder?«. Von den Ärzten erwartet Herr Beck, dass sie ihn nicht im Stich lassen, denn das würde ihn schwer enttäuschen und er würde das nicht ertragen. Von Ärzten hängen gelassen zu werden, käme für Herrn Beck einem Vertrauensbruch gleich. Er erwartet, dass die Ärzte schauen, ob sie noch etwas machen können, und nicht einfach sagen, dass sie jetzt nichts mehr machen. Alles andere würde ihn schwer enttäuschen und wäre für ihn psychisch eine große Belastung. Herr Beck ist froh, dass er es bislang mit den Ärzten immer gut hatte, und sagt, dass ihm das viel geholfen hat. Er vertraut den Ärzten und erwartet von diesen sozusagen als Gegenleistung, dass sie ihn jetzt nicht hängen lassen. Im Hinblick auf das Akzeptieren seiner Krankheit hat Herr Beck vor allem der Glaube geholfen. Dieser hält ihn nach wie vor am Leben. Herr Beck betet und denkt über den Glauben nach. Herr Beck ist der Ansicht, dass jeder Mensch etwas haben muss, woran er sich festhalten kann, da man es sonst mit so einer Krankheit nicht schaffen würde. Neben dem Halt im Glauben findet Herr Beck Halt durch andere Menschen. Er ist gern unter Menschen und schöpft daraus Kraft zum Weiterleben. Im Hospiz helfen ihm die vielen guten Leute, die für ihn da sind, und vor allem das Gefühl, dort eine Art Familie gefunden zu haben. Regelmäßigen Kontakt hat Herr Beck zu seiner Tochter, zu Kollegen und einer Seelsorgerin. Er freut sich, etwas machen zu können und geht gerne ins Atelier des Hospizes. Schlimm findet er die Wochenenden, da dann im Hospiz weniger los ist, weniger Pflegende da sind und dadurch die freien Stunden nur langsam vorbeigehen. Manchmal geht Herr Beck ein bisschen unter Leute in die Stadt oder in einen nahe gelegenen Park. Zum Einzug in das Hospiz verhalf ihm eine Sozialarbeiterin des Krankenhauses. Sie empfahl ihm, sich das Hospiz anzuschauen. Herr Beck hätte von sich aus gedacht, dass er mit seiner Erkrankung nicht in das Hospiz gehen könne. Nachdem er sich das Hospiz ansah, zog er dort ein. Seine Wohnung löste Herr Beck vom Krankenhaus aus auf, weil er schnell müde wird und dadurch zu Hause nicht mehr alles machen mag. Im Hospiz richtete er sein Zimmer mit privaten Gegenständen ein (z. B. Computer, Poster, ein Weihnachtsbaum, Radio). Seine gesundheitliche Situation hat für Herrn Beck alles verändert. Er musste umdenken und Abstriche machen und konzentrierte sich auf das, was er noch machen kann. Die Beziehungen zwischen ihm und anderen Menschen, z. B. seiner Tochter, haben sich durch die Krankheit zum Guten gewendet und sind
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intensiver geworden. Im Gegensatz zu früher erlebt er sich völlig verändert und aufgeschlossener. Herr Beck hatte auch Momente, in denen er nicht mehr konnte. Er litt unter Depressionen, Todesangst und Angst zu leben. Das Sterben und die Ungewissheit darüber, was nach dem Tod ist, wohin er kommt, machen ihm Angst. Hilfreich ist für ihn die Sicht: »Ich schaue es jetzt so an, wie wenn es dann eine Wiedergeburt wäre in eine neue Welt oder was auch immer. Was dann da auf einen zukommt, das weiß man ja nicht. Es kam ja noch niemand zurück. Aber ich meine, man muss ja einfach Hoffnung haben, dass das gut ist. Und ich denke, Angst in dem Sinne müssen wir ja nicht haben, oder.« Momente, in denen er nicht mehr leben will, hat Herr Beck bislang nicht erlebt. Eher das Gegenteil. Für ihn lohnt es sich, weiterzuleben, weil er das Leben schön findet, sich an den Kontakten mit anderen erfreut und findet, dass es viele schöne Sachen gibt, die man machen kann. Suizid käme für ihn überhaupt nicht infrage, obwohl er depressiv veranlagt ist. Von Suizidgedanken abgehalten hat Herrn Beck in erster Linie seine Auffassung, dass er weder bestimmen kann, wann er auf die Welt kommt, noch, wann er von dieser geht. Er würde sich nicht das Recht herausnehmen, zu sagen: So, jetzt ist fertig, weil er das nicht gut findet. Da Herr Beck es auch nicht gut findet, das Leben sinnlos zu verlängern, hat er im Hospiz eine Patientenverfügung ausgestellt. Zur Schmerzlinderung hat Herr Beck seit einem Monat ein PCA-Gerät, aus welchem er sich selbst Morphiumdosen verabreicht. Er gibt an, damit schmerzfrei zu sein. Im Hospiz zu leben ist für Herrn Beck eine Umstellung. Die vielen Sterbefälle haben ihn psychisch mitgenommen und depressiv werden lassen. Er traf einen seiner Kollegen im selben Hospiz an. Dieser starb vor Kurzem. Herr Beck konnte dessen Sterben nicht gut verkraften. Er holte sich im Kriseninterventionszentrum Hilfe und blieb dort einige Tage, bis es ihm besser ging. Momentan hat Herr Beck das Gefühl, dass seine Situation besser geworden ist und es ihm relativ gut geht. Er fühlt sich hellwach, was für ihn wichtig ist. Im Vergleich mit anderen krebskranken Menschen, die äußerliche Entstellungen oder Schmerzen haben, ist er froh und dankbar, so gut dran zu sein. Was ihn momentan beschäftigt, ist, ob und wie lange er noch leben wird. Er will seinen Willen zu leben nicht verlieren und weiterkämpfen. Im Hinblick auf die Zukunft plant Herr Beck noch, ein guter Großvater für seinen Enkel zu sein und mit diesem Zeit zu verbringen. Er will das Leben, das er jetzt noch vor sich hat, genießen. Dazu gehört für Herrn Beck, noch ein paar Leute wiederzusehen, die er schon länger nicht mehr gesehen hat. Herr Beck denkt, dass er noch »ein Weilchen« im Hospiz bleibt. Er will nicht noch einmal umziehen. Im Hospiz hat man ihm mitgeteilt, dass er bleiben kann. Das ist für ihn beruhigend. Zum Ende des Gespräches bittet mich Herr Beck darum, für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen. Er hat Ungerechtigkeiten erlebt, als er aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden ist, und erläutert, dass man im Alter von 50 bis 65
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Jahren schnell durch das soziale Netz fällt und finanziell an seine Grenzen stößt, wenn es nichts gibt, das einen auffängt. Im Folgemonat nach dem Gespräch, das im Jahr 2007 stattfand, starb Herr Beck.
Anhang 3: Fallgeschichte Herr Mosimann (Konstellation 2a) Interview C: »Für mich ist das einfach – die letzte Chance –, aus der Misere rauszukommen.« Herr Mosimann (80-jährig) lebt zusammen mit seiner Ehefrau und mehreren Katzen im eigenen Haus. Sie haben zwei Söhne und eine Tochter. Herr Mosimann ist reformiert. Früher arbeitete er als Redakteur. Bei Herrn Mosimann wurde vor fünf Jahren (1999) Dickdarmkrebs und Riesenzellartritis diagnostiziert. Die Diagnose hat ihn nicht »umgehauen«, weil es verdächtige Vorzeichen gab. Seine gesundheitliche Situation kommt nicht aus heiterem Himmel, sondern dosiert, eine Verschlechterung nach der anderen. Obwohl er ahnte, dass da etwas ist, hoffte er zugleich, ohne richtig daran zu glauben, es könnte gutartig sein. Er wurde operiert und bekam einen künstlichen Darmausgang. Als der Krebs erneut ausbricht, stellt er fest, dass es nicht stimmt, dass man heute keine Schmerzen mehr erleiden muss. Herr Mosimann hat »tierische« Schmerzen, die ihm den Schlaf rauben. Sein Hausarzt (seit 30 Jahren) hat die Schmerzen nicht im Griff; er scheint machtlos zu sein. Für Herrn Mosimann ist das eine große Enttäuschung, da in Medienberichten meist behauptet wird, man habe die Schmerzen im Griff. Nachdem er 14 Tage lang an »tierischen« Schmerzen leidet, kommt er zu der Auffassung, dass er das nicht noch einmal mitmachen wird, und setzt sich mit Exit in Verbindung. Herr Mosimann möchte alles so weit vorbereiten, dass er, wenn er es für nötig befindet, jederzeit abtreten kann. Herr und Frau Mosimann sind seit zirka neun Jahren (1996) Mitglied bei Exit und haben eine Exit-Patientenverfügung. Herr Mosimann hält Exit für eine nützliche Institution. Eine Möglichkeit, von der man Gebrauch machen kann, aber nicht muss. Zum Zeitpunkt des Interviews ist das Rezept für Herrn Mosimann bereits seit drei Wochen ausgestellt. Eine weitere Enttäuschung ist für Herrn Mosimann, dass sein Hausarzt sich geweigert hat, das Rezept für das Natrium-Pentobarbital (NPB) auszustellen. Er hat das Gefühl, sein Hausarzt entziehe sich der Situation und lasse ihn sitzen. Nach dem Motto: »Jetzt musst du selbst gucken, wie du mit der Situation fertig wirst. Ich unterschreibe nichts und ich kann für dich auch nichts tun, damit es dir weniger weh tut.« Herr Mosimann begreift die Hemmungen seines Arztes. Er erwartet aber, dass dieser ihm eine Alternative, sprich eine gewisse Schmerz-
Anhang 3: Fallgeschichte Herr Mosimann (Konstellation 2a)
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freiheit, bieten kann. Herr Mosimann ist der Ansicht, sein Arzt schade ihm zwar nicht bewusst, erspare ihm gegebenenfalls aber auch nicht tage- oder wochenlange Qualen und Leiden. Als Herr Mosimann vom Nachfolger seines Hausarztes behandelt wird, bekommt dieser die Schmerzen einigermaßen in den Griff. Die Situation verbessert sich und Herr Mosimann leidet nicht mehr allzu stark. Die laufenden Bestrahlungen, welche die Schmerzsituation auch verbessern sollen, bringen für Herrn Mosimann weder eine Verbesserung noch eine Verschlechterung. Obschon er sagt, dass er an sich gut eingestellt ist, sind seine Schmerzen im Sitzen, im Stehen, beim Laufen nicht weg. Es scheint ein Teufelskreis zu sein. Die Schmerzmittel rufen Verstopfungen hervor, worauf er Abführmittel nimmt. Letztere bewirken, dass ihm ständig schlecht ist und er auch dagegen ein Mittel einnehmen muss. Mit der Hilfe seiner Frau hat Herr Mosimann den Kampf gegen seine offenen Wunden gewonnen und seine 112-jährige Inkontinenz (nach einer ProstataOperation) in den Griff bekommen. Die Inkontinenz hat sein Leben mehr verändert als der Krebs. Hinzu kam die Mehrarbeit für seine Frau (Wäsche etc.). Seit der Bestrahlung leidet er unter einem bitteren Geschmack im Mund, was sich negativ auf seinen Appetit auswirkt. Zudem kann Herr Mosimann aufgrund der Schmerzen in den Knien, im Rücken und am Steißbein nicht mehr gut laufen. Damit er einigermaßen aufstehen kann, nimmt er am Morgen seine Schmerzmedikation ein und legt sich noch einmal für eine Stunde ins Bett. Herr Mosimann lässt sich nicht auf Therapien oder Operationen ein, deren Nutzen er in Zweifel zieht. Er macht alles, was sinnvoll ist, aber nicht alles, was man machen könnte. So lehnt er eine erneute Operation des Krebses und die Abklärung weiterer Metastasen ab. Er lässt das auf sich zukommen. Er möchte sein Leben nicht künstlich um jeden Preis verlängern, sondern die Zeit, die er noch lebt, auf anständige Art und Weise verbringen. Das Wichtigste, was für ihn zählt, um leben zu können, ist, mehr oder weniger schmerzfrei zu sein, nicht nur noch im Bett zu liegen und dass sein Verstand noch funktioniert. Wenn er kein normales Gespräch mehr führen kann oder im Rollstuhl leben müsste, hat das Leben für ihn keinen Sinn mehr. Er ist nicht mehr dazu bereit, bestimmte Einschränkungen auf sich zu nehmen. Herr Mosimann hat sich schon immer Gedanken über das Leben und den Tod gemacht. Ihm war schon immer klar, dass er eines Tages vor der Situation steht in der es nicht mehr lange geht. Bleibt die Situation so, wie sie jetzt ist, fühlt er sich ihm Leben wohl, und so lange kommt Exit für ihn nicht infrage. Sollte sich die Situation aber verschlechtern, wird Exit wieder aktuell. Das ausgestellte Rezept beruhigt Herrn Mosimann. Er zieht es allerdings vor, wenn es ohne Exit geht und alles irgendwann auf natürliche Art ein Ende nimmt. Bevor er jedoch mit Schmerzen und durch die Medikamente eingetrübt im Krankenhaus liegt, zieht
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er Exit vor. Auf eine andere Art würde Herr Mosimann sein Leben nicht beenden, da zieht er Exit schon vor. Da er in der vertrauten Umgebung sterben möchte, wäre für ihn das Schlimmste, wenn er im Krankenhaus sterben müsste. Herr Mosimann kann sich vorstellen, dass er von dem NPB Gebrauch macht, wenn die Schmerzen wieder unerträglich werden. Noch einmal möchte er entsprechende Schmerzen nicht mitmachen. Wenn er das Rezept schon gehabt hätte, als er 14 Tage lang starke Schmerzen hatte, hätte er sich schon damals das Leben genommen. Für Herrn Mosimann ist es ein Unterschied, ob man Schmerzen mit Aussicht auf Besserung hat oder weiß, dass diese nie mehr weggehen, sondern nur noch schlimmer werden. Er denkt, dass die Schmerzen, sollten sie erneut auftreten, nicht mehr weggehen, sondern schlimmer werden würden und es für ihn dann keinen Sinn mehr mache, auf die Zähne zu beißen und die Schmerzen auszuhalten. Seine Schmerzen sind immer da, nur hat man sie momentan einigermaßen im Griff. Exit stellt für ihn die letzte Möglichkeit dar, um aus der Misere rauszukommen. Wenn ihm keine andere Möglichkeit mehr bleibt, so wenigstens diese. Seine drei Kinder sind einverstanden mit Exit und dem Entscheid, nicht endlos zu leiden oder eine monatelange Leidenszeit auf sich zu nehmen. Beruhigend ist für ihn, dass seine Frau materiell nicht Not leiden muss, wenn er nicht mehr da ist. Das erleichtert ihm das Fortgehen. Zum Zeitpunkt des Gespräches liegt das Exit-Rezept für Herrn Mosimann bereit. Er stirbt ein Jahr nach dem Interview im Sommer 2005 durch Suizidbeihilfe mit der Suizidbeihilfeorganisation Exit.
Anhang 4: Fallgeschichte Frau Schmid (Konstellation 2b) Interview S: »Ich lass das einfach auf mich zukommen. Das hab ich überhaupt lange gut gekonnt, die Sache reif werden lassen. Eine Eiterbeule muss aufgestochen werden, wenn sie akut ist, aber das muss reifer sein.« Frau Schmid ist 83 Jahre alt, ledig und wohnt alleine in einer Wohnung in der 3. Etage. Sie hat eine Tochter und einen Sohn. Von ihren vier Geschwistern sind schon drei verstorben. Früher arbeitete sie als Sozialarbeiterin. Mit 60 Jahren ließ sie sich frühpensionieren. Sie ist katholisch und lebt nach dem Motto: »Man muss so leben, dass, wenn es einen Gott gibt, man aufgenommen wird, und wenn es keinen Gott gibt, es sich gelohnt hat, gelebt zu haben.« Der Gedanke, irgendwann vielleicht einmal ihr Leben mit Exit zu beenden, kam bei Frau Schmid bereits in ihrer Ausbildungszeit auf. Da sie mit »handicapierten« Menschen arbeitete, fragte sie sich, wie sie das meistern oder ob sie
Anhang 4: Fallgeschichte Frau Schmid (Konstellation 2b)
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sich ein Ende setzen würde. Mit 20 Jahren dachte sie, wenn ihr das Leben zu schwer würde, dann würde sie einfach gehen. Davon abhalten würde sie allerdings ihr Verantwortungsgefühl den Personen gegenüber, die sie auffinden würden. Sie würde niemanden erschrecken wollen. Da sie in Exit einen Weg für sich sah, wurde sie 1983 Mitglied. Sie sagt, dass sie viel über Exit diskutiert habe und dadurch reifer geworden sei. Exit zeichnete sich für sie als der richtige Weg ab, falls sie einmal in eine entsprechende Situation gelangen würde. Frau Schmid berichtet, dass sie ihr Leben lang Schwierigkeiten mit dem Rücken hatte. In den letzten Jahren kamen Probleme mit dem Kopf hinzu. Er wird immer schiefer und sie kann ihn kaum mehr anheben und hinaufsehen. Der Nacken schmerzt, sodass sie manchmal heulen oder schreien könnte. Sie nimmt täglich Schmerztabletten. Beim Essen muss sie aufpassen, dass sie sich nicht verschluckt. Da ihr das Essen der Spitex nicht zusagte, kocht Frau Schmid sich noch selbst. Ihr Schwager erledigt für sie den Einkauf. Beide haben sich einmal geschworen, dass sie sich im Alter helfen würden. Von ihrer Bewegung her kommt sie nur langsam vorwärts. Sie fühlt sich schwach und kann seit einem halben Jahr nicht mehr die Treppe hinauf- und hinabsteigen. Früher bekam sie noch Physiotherapie. Sie erzählt, dass es Tage gibt, an denen sie ihre Füße nicht vom Boden wegbringt. Für sie sind ihre Beine wie zwei Fremde, die nicht zu ihr gehören. Frau Schmid sagt, dass sie von dem, was sie alles machen möchte, nicht einmal ein Zehntel machen kann. Waschen kann sie sich noch alleine. Beim Anziehen bekommt sie an vier Tagen in der Woche Hilfe von der Spitex. Ihr Hausarzt strich ihr einmal über die Fußsohlen stellte daraufhin die Diagnose, dass sie Parkinson habe. Er empfahl ihr, Medikamente zu nehmen, da man sonst nichts dagegen unternehmen könne. Frau Schmid glaubte ihrem Arzt nicht. Als sie sich wegen eines Sturzes den Arm brach und ins Krankenhaus kam, sagte der zuständige Arzt, sie solle die von ihrem Hausarzt verschriebenen Medikamente absetzen, da sie keinen Parkinson habe. Daraufhin wechselte Frau Schmid ihren Hausarzt und ließ sich von ihrer Nichte aus dem Internet Informationen über Morbus Bechterew besorgen. Frau Schmid erkannte sich sofort in den Informationen wieder und kam zu dem Schluss: »Das ist es.« Aufgrund ihrer Symptome ist sie davon überzeugt, dass sie Morbus Bechterew hat. Dazu sagt sie: »Aber man kann ja auch da nichts machen. Und mit 83 Jahren, mein Gott, was wollen sie noch?« Frau Schmid erzählt, dass sie mit ihrem Hausarzt nicht gut über Exit sprechen konnte. Als sie das erste Mal bei ihm war, erzählte sie ihm, dass sie Exit-Mitglied sei, und fragte ihn, ob er ihr gegebenenfalls ein Rezept ausstellen würde. Er gab ihr zu verstehen, dass er nicht prinzipiell gegen Exit sei, aber nicht mitmachen wolle. Als sie von ihm ein gesundheitliches Zeugnis anforderte, weigerte er sich, ein solches zu schreiben. Sie erinnerte ihn daran, dass er zur Ausstellung eines
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Zeugnisses verpflichtet sei. Darauf schrieb er ein Zeugnis, das nach Ansicht von Frau Schmid aber nicht auf sie zutrifft. Ihr Arzt schrieb in das Zeugnis, dass sie leicht depressiv sei, was aus ihrer Sicht nicht stimmt, und dass sie zudem nicht austherapiert sei. Angesichts ihrer Probleme mit den Beinen sagt Frau Schmid: »Und, das wird dazu führen, dass ich, ja, eigentlich in ein Pflegeheim gehöre. Das mache ich nicht mehr. Ich möchte jetzt alles so in Ordnung bringen, dass, wenn dieser Tag kommt, ich nur noch sagen kann: sobald wie möglich.« Von Altersheimen hat Frau Schmid genug und denkt, dass man die Arbeit dort gar nicht so machen kann, wie es erforderlich wäre. Zudem äußert sie die Befürchtung, eine lange Pflege in Anspruch nehmen zu müssen. Am Morgen aufzustehen, auf die Mahlzeiten zu warten und am Abend ins Bett zu gehen, ist für sie kein Leben. Die Möglichkeit, sich in einem Heim z. B. im Park die Blumen anzuschauen, wäre zwar eine schöne Zugabe, es ist aber nicht das, was sie unter Lebensinhalt versteht. Mit Lebensinhalt verbindet Frau Schmid, Aufgaben und Herausforderungen, die sie auch an den Rand ihres Könnens bringen. Zu Hause ist sie mit ihrem Haushalt beschäftigt und genießt es z. B., bei Sonnenaufgang am Fenster zu frühstücken. Obwohl Frau Schmid sagt, dass sie streng katholisch erzogen wurde, glaubt sie nicht an einen Gott, der sie für ihr Denken straft oder verurteilt. Betreffend Exit sagen ihre Kinder und ihr Schwager, dass sie ihr nicht im Weg stehen werden und sie ihren Weg gehen könne. Ihre Schwester dagegen ist offenbar gar nicht einverstanden. Da sie mit dem gesundheitlichen Zeugnis ihres Arztes nicht einverstanden ist, sucht Frau Schmid gegenwärtig die Unterstützung eines Verwandten und hofft, über diesen Kontakt einen anderen Arzt zu finden, der ihr ein Zeugnis ausstellen wird. Zur Verteidigung ihres Hausarztes führt sie an, dass er sich schon nach ihr erkundige. Sie fragt sich allerdings, ob sein Interesse möglicherweise finanzieller Art ist, denn er möchte sie unbedingt in ein Altersheim vermitteln, in dem er in der Kommission ist. Er hat ihr dieses Altersheim empfohlen und ihr »zofenhafte« Behandlung zugesagt, die sie gar nicht möchte. Frau Schmid hat ihrem Arzt immer mitgeteilt, dass sie nicht in ein Altersheim gehen wird. Gerade bei einem besonders teuren Altersheim befürchtet sie, zu schnell abhängig zu werden, da an Patienten mit Behinderungen mehr verdient werde. Dazu kommt, dass sie auch auf keinen Fall jemandem zur Last fallen möchte. Obwohl sie eine gute Rente hat, will sie nicht, dass ihr ganzes Geld fürs Pflegeheim aufgebraucht wird. Sie möchte ihren Kindern etwas hinterlassen. Wenn ihr das Pflegeheim etwas wert wäre, dann wäre es für sie etwas anderes, sie sieht darin aber nur eine Belastung. Frau Schmid fühlte sich seit einigen Wochen schlecht, hat stark abgenommen und hofft darauf, dass ihr Leben vielleicht auf natürlichem Weg enden wird. Viele
Anhang 4: Fallgeschichte Frau Schmid (Konstellation 2b)
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ihrer Sachen hat sie bereits verschenkt. Als Ausschlag dafür, sich mit Exit in Verbindung zu setzen, sieht Frau Schmid den Moment, wo sie bettlägerig wird. Sie beteuert, keine Hemmungen zu haben, mit Exit zu sterben. Sterben zu können bedeute für sie eine Entlastung. Sie stellt sich vor, zu Hause zu sterben, und hat mit ihren Kindern bereits über ihre Kleidungswünsche gesprochen. Sie könnte sich gut vorstellen, am Tag x noch ein wenig miteinander zu sprechen und ein Glas Wein zu trinken. Wichtig ist ihr, keine heulende Gesellschaft um sich zu haben, die ihr Vorwürfe macht. Bezüglich des möglichen Sterbezeitpunkts mit Exit sagt Frau Schmid, dass sie das auf sich zukommen lasse. Sie dachte schon einmal daran, noch diesen Monat zu sterben, aber da Verwandte Ferien machen, möchte sie Rücksicht nehmen. Sobald alles geregelt ist, könne sie von einem Tag auf den anderen sagen, dass sie jetzt genug habe. Solange es so noch gehe und sie nicht das Gefühl habe, für jemanden eine große Belastung zu sein, lasse sie es auf sich zukommen – es müsse noch etwas reifen. Zu einer Belastung wird man nach Ansicht von Frau Schmid, sobald man ganz gepflegt werden muss. Auch hier spielen für sie finanzielle Überlegungen herein. Frau Schmid erzählt, dass ihr von Exit aus gesagt wurde, sie dürfe sich nicht unter Zeitdruck fühlen und könne jederzeit aussteigen. Auf meine Frage, wie ihr Entscheidungsprozess zustande gekommen sei, sagt sie: »Wissen Sie, wenn Sie schon 20 Jahre damit leben, dann reift das einfach.« Gegenwärtig gehe es ihr aber gut und sie stehe in dieser Hinsicht gar nicht unter Druck. Ihre persönlichen Verhältnisse seien gut und sie sei gerne in ihrer Wohnung. Kraft schöpft Frau Schmid aus ihrer Freude an allem Schönen. Sie kann sich an einfachen Dingen erfreuen, z. B. an dem blühenden Kerbel oder einem guten Apfel. Sie sagt, dass sie kein schlechtes Leben gelebt habe. Sie habe auch viel Positives erlebt. Wäre sie ganz gesund gewesen, wäre es ihr vielleicht gar nicht so gut gegangen. Frau Schmid sagt von sich: »Ich glaube, ich bin ein Mensch, der sehr im Jetzt lebt.« Frau Schmid möchte wieder mit Exit Verbindung aufnehmen, da sie alle Vorbereitungen für den Suizid so weit treffen möchte, dass sie nur noch das Datum sagen muss. Frau Schmid hat eine Patientenverfügung ausgefüllt. Zum Gesprächszeitpunkt ist das Exit-Rezept für Frau Schmid in Abklärung. Drei Monate nach dem Gespräch stirbt Frau Schmid im Herbst 2005 durch Suizidbeihilfe mit der Suizidbeihilfeorganisation Exit.
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Anhang 5: Fallgeschichte Herr Arnold (Konstellation 3) Interview A: »Ich finde mich nicht zurecht […]« Herr Arnold (77-jährig) leidet an einer progredienten, schweren Polyneuropathie mit armbetonter Tetraparese und irreversiblen Kontrakturen an Händen und Füßen. Im täglichen Leben (Essen, Ankleiden, Ausscheidungen etc.) ist Herr Arnold auf die Hilfe anderer angewiesen. Geistig wirkt Herr Arnold sehr rege, körperlich ist er gehandicapt. Herr Arnold ist reformiert. Als er noch berufstätig war, arbeitete er als Vorarbeiter im Ofenbau. Herr Arnold hat eine Tochter und zwei Enkelkinder. Als Herr Arnold sich mit seiner Ehefrau nicht mehr verstand, zog er Konsequenzen und ließ sich scheiden. Bevor er ins Altersheim zog, lebte er selbstständig in einer Wohnung. Im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt kam er in die Rehabilitation. Dort wurde er aufgefordert, sich zu überlegen, wo er in Zukunft leben möchte, da er nicht mehr nach Hause könne. Er musste seine Wohnung aufgeben. Seit fünf Monaten bewohnt er mit seinen unentbehrlichsten privaten Gegenständen (Möbel, Bilder etc.) in einem Alten- und Pflegeheim seines Heimatortes ein Einzelzimmer. Trotz seiner körperlichen Einschränkungen ist seine Lebensumgebung (Telefon, Klingel, Rollator) nicht auf seine Fähigkeiten ausgerichtet und erschwert Herrn Arnold die Bewältigung des Alltags. Herr Arnold war ein leidenschaftlicher und vielseitiger Leistungssportler. Seit seinem 39. Lebensjahr leidet er infolge eines Skiunfalls unter Durchblutungsstörungen in den Beinen und damit zusammenhängenden Komplikationen (wiederkehrende offene Wunden). Er leidet stark unter anhaltenden Versteifungen seiner Hände. Hinzu kommen schlimme Schmerzen in Händen und Unterarmen. Er hat kein Gefühl und keine Kraft mehr in seinen Händen und ist dadurch bei den meisten Tätigkeiten auf die Unterstützung anderer angewiesen. Von Therapien mit Stromstößen wirkt er stark in Mitleidenschaft gezogen und dachte, das sei sein Ende. Nachdem verschiedenste Therapien nichts halfen und er erfährt, dass seine Hände definitiv gelähmt sein werden, beginnt er darüber nachzudenken, mithilfe der Suizidbeihilfeorganisation Exit zu sterben. Er plant, mit Exit Kontakt aufzunehmen, falls er mit der veränderten Lebensqualität bzw. Lebenssituation und den Schmerzen nicht zurechtkommt. Bereits im Krankenhaus sucht und findet er für sein Vorhaben insofern Unterstützung, als ihm sein Arzt sein unveränderliches Leiden und seine Zurechnungsfähigkeit schriftlich bescheinigt. Auch der Heimarzt erklärt sich mit Herrn Arnolds Absicht einverstanden. Herr Arnold empfindet die Pflege im Alterspflegeheim als mangelhaft, da sie vornehmlich an seinen Bedürfnissen vorbeigeht. Insbesondere beim Stuhlgang fühlt er sich durch die Pflegenden nicht ernst genommen und erniedrigt. Durch
Anhang 5: Fallgeschichte Herr Arnold (Konstellation 3)
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mangelnde Pflege im Intimbereich ist er weiteren Gesundheitsrisiken (Entzündungen im Analbereich) ausgesetzt. Seine diesbezüglichen Beschwerden bei der Heimleitung bringen keinen Erfolg. Im Gegenteil, der Heimleiter nimmt seine Führungsrolle nicht wahr, sondern fordert Herrn Arnold auf, den Pflegenden gegenüber selbst für seine Bedürfnisse einzutreten. Herr Arnold kommt mit der ihm verbleibenden Lebensqualität, dem Anblick der Mitbewohner und der mangelhaften Pflege nicht zurecht. Er leidet unter seiner scheinbar unveränderlichen Situation. Obwohl Herr Arnold seine Probleme mehrmals diversen Personen (Heimarzt, Heimleiter, Pflegende, Tochter) mitteilt, wird er in seinem Leiden allein gelassen. Problemlösende Reaktionen vonseiten der Gesundheitsfachpersonen, die zur Linderung seiner Situation und somit zur Förderung seines Lebenswillen beitragen könnten und sein Weiterleben erträglicher gestalten würden, bleiben aus. In Herrn Arnold reift mehr und mehr der Gedanke heran, mit Exit sterben zu wollen. Er wird in seinem Vorhaben durch sein Umfeld sogar indirekt bestärkt, da sich niemand im lebenserhaltenden Sinn für sein Wohl einsetzt. Anscheinend macht es niemandem etwas aus, wenn er weg ist. Selbst seine Tochter, die Pflegefachfrau ist, stimmt seinem Sterbewunsch zu und unterstützt ihn darin, anstatt beispielsweise etwas gegen die von ihrem Vater als schlecht erlebte Pflege oder die ihn belastenden Schmerzen zu unternehmen. Alle Involvierten befürworten seine Idee, mit Exit sterben zu wollen, oder können diese nachvollziehen. Die Situation scheint festgefahren und aussichtslos. Herr Arnold weiß nicht, was er noch tun soll. Im Nachhinein bedauert er, dass man ihm nicht schon bei der Stromtherapie einen ordentlichen Stromstoß verpasst hat, denn dann wäre er durch einen Herztod gestorben. Herr Arnold kommt zu dem Schluss, unter den gegebenen Umständen nicht leben zu können. Dazu kommt, dass er seiner Auffassung nach nur noch wenig Lebenssubstanz zu erwarten hat; er empfindet das Leben und die Zukunft als wertlos. Um einer womöglich noch jahrelangen andauernden schlechten Pflege, einer eventuellen Zukunft im Rollstuhl, seinem Leiden und der Aussicht auf weitere Beeinträchtigungen (stärkere Schmerzen, Sturzgefahr, Amputation, Teilnahmslosigkeit etc.) zu entkommen bzw. zuvorzukommen, entscheidet er sich dazu, schnellstmöglich durch Suizidbeihilfe zu sterben. Durch den Kontakt mit Exit bzw. einem Freitodbegleiter trifft Herr Arnold auf jemanden, der ihn ernst nimmt, Anteil an seiner Situation nimmt und mit dessen Hilfe er seinem leidvollen Leben und einer womöglich noch leidvolleren Zukunft ein Ende setzen kann. Die Suizidbeihilfeorganisation Exit bietet Herrn Arnold als Einzige eine Möglichkeit, sein Leiden zu lindern bzw. zu beenden. Für Herrn Arnold und alle anderen erscheint Exit als einzige Alternative, die einen Ausweg aus der leidvollen Situation bietet. Obwohl diese Art der Anteilnahme Herrn Arnold dazu führt, sein Sterben durch Suizidbeihilfe vor-
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zubereiten, wird dies von allen Beteiligten hingenommen. Zum Zeitpunkt des Gespräches ist die Ausstellung des Exit-Rezeptes in Abklärung. Herr Arnold stirbt zwei Monate nach dem Gespräch im Sommer 2004 durch Suizidbeihilfe mit der Suizidbeihilfeorganisation Exit.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1
Begriffsdefinitionen zur Sterbehilfe und zum ärztlich assistierten Suizid
Abbildung 2
Weitere Definitionen zur Sterbehilfe
Abbildung 3
Begriffsdefinitionen zur Beihilfe zum Suizid
Abbildung 4
Jährliche Todesfälle durch ärztlich assistierten Suizid in amerikanischen Bundesstaaten
Abbildung 5
Zu prüfende und zu erfüllende Kriterien betreffend die Suizidbeihilfe in der Schweiz
Abbildung 6
Anzahl Menschen, die in der Schweiz pro Jahr zwischen 1996 und2011 durch Suizidbeihilfe bzw. Suizid gestorben sind
Abbildung 7
Zur Literaturrecherche verwendete Freitext- und MeSH-Begriffe
Abbildung 8
Ausgewählte Verfahrensschritte zur Theoriegenerierung in Anlehnung an die Variationen der Verfahrensstile der Grounded Theory
Abbildung 9
Aspekte zur Vorgehensweise und Beziehungsgestaltung innerhalb des Forschungsprozesses
Abbildung 10 Erzählstimuli und Zusatzinformationen an die Interviewpartner Abbildung 11 Selektionskriterien für potenzielle Untersuchungsteilnehmer Abbildung 12 Einschlusskriterien für potenzielle Untersuchungsteilnehmer Abbildung 13 Merkmale der Untersuchungsteilnehmer – physisch chronisch Kranke (n=30) Abbildung 14 Merkmale der Bezugspersonen von Kranken, die durch Suizidbeihilfe starben (n=3) Abbildung 15 Merkmale der Mitarbeiter der Suizidbeihilfeorganisation Exit (n=2)
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 16 Fragen an das Datenmaterial Abbildung 17 Kodierbeispiel innerhalb des offenen Kodierens Abbildung 18 Beispiel für die Zuordnung von Konzept-Kodes in eine Kategorie Abbildung 19 Beispiel-Memo zum Konzept-Kode »Angst vor weiteren gesundheitlichen Problemen« Abbildung 20 Beispiel-Memo zu einer Kategorie Abbildung 21 Analysefragen Abbildung 22 Die Anwendung des Kodierparadigmas am Beispiel »Angst/Panik/ Bedrücktheit vor Ungewolltem/ungewollter Daseinsweise« Abbildung 23 Analysefragen Abbildung 24 Die vier handlungsleitenden Muster der Kernkategorie Abbildung 25 Das konzeptuelle Modell der substantiven Theorie über die Entscheidungsprozesse physisch chronisch Kranker, weiterleben oder sterben zu wollen Abbildung 26 Konzepte der Kategorien »persönliche Faktoren« und »gewohnte Daseinsweise« eines Menschen Abbildung 27 Faktoren des Gewollten und Ungewollten Abbildung 28 Aus Phase 1 resultierende Faktoren, welche Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder weiterzuleben Abbildung 29 Auswirkungen chronischer Krankheit auf die gewohnte Daseinsweise des erkrankten Menschen Abbildung 30 Aus Phase 2 resultierende Faktoren, welche Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder weiterzuleben Abbildung 31 Bestandteile von Phase 3 Abbildung 32 Bestandteile des Umgangs der Erkrankten mit ihrer chronischen Krankheit und den damit zusammenhängenden Veränderungen ihres Daseins Abbildung 33 Der Umgang von nahestehenden Bezugspersonen mit chronisch Kranken und deren Dasein im Kontext chronischen Krankseins Abbildung 34 Kernpunkte im Umgang von (Gesundheits-)Fachpersonen mit chronisch Kranken und deren Dasein im Kontext chronischen Krankseins
Abbildungsverzeichnis
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Abbildung 35 Aus den Umgangsformen chronisch Kranker resultierende Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder weiterzuleben Abbildung 36 Aus den Umgangsformen der Bezugspersonen resultierende Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder weiterzuleben Abbildung 37 Aus den Umgangsformen der (Gesundheits-)Fachpersonen resultierende Faktoren, die Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder weiterzuleben Abbildung 38 Aus Phase 4 resultierende Faktoren, welche Überlegungen und Entscheidungen begünstigen, durch Suizid(-beihilfe) zu sterben oder weiterzuleben