Handbuch Sterben und Menschenwürde 9783110246452, 9783110246445

Dying is part of life. Dying and Human Dignity offers the reader a complete overview and a profound evaluation of the kn

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German Pages 2118 [2114] Year 2012

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Table of contents :
Abkürzungsverzeichnis
Autorenübersicht
Einleitung
1. Vorklärungen
1.1 „Sterben“: Ereignis und Prozess
1.2 Über den Tod oder: Warum fürchten wir, bald zu sterben?
1.3 Verlorene Kunst: Altersgebrechen angesichts des Todes und ars moriendi aus kulturhistorischer Perspektive
Beginn des Sterbens
1.4 Der Beginn des Sterbens aus pathologischer Sicht
1.5 Beginn des Sterbens aus palliativmedizinischer Sicht
1.6 Beginn des Sterbens aus (gesundheits)sozialrechtlicher Sicht
1.7 Ökonomische Aspekte der Palliativversorgung
Todesverständnisse
1.8 Tod als Ende der Sterbephase
1.9 Der Tod als Konvention. Die (neue) Kontroverse um Hirntod und Organtransplantation
1.10 Die letzten Schritte des Dionys oder: Hat das Recht gute Gründe, vom Hirntodkonzept zu lassen?
Menschenwürde – Konzepte
1.11 Philosophische Konzepte der „Menschenwürde“ und ihre Bedeutung für die Debatte um menschenwürdiges Sterben
1.12 Die Menschenwürde beim Sterben erhalten: Rechtliche Bedingungen
1.13 „Menschenwürde“
1.14 Menschenwürdiges Sterben aus katholischer Sicht
1.15 Menschenwürde und würdiges Sterben im Islam
1.16 Sterbehilfe aus der Sicht der jüdischen Medizinethik
1.17 Die buddhistischen Entsprechungen der Würde des Menschen
1.18 Semantische Kämpfe in einem Textkorpus zum Sterbehilfe-Diskurs
Sterbehilfe
1.19 Sterbehilfe im Recht
1.20 Diskurstheoretische Voraussetzungen und diskurspraktische Bewertungen
2. Die Perspektive des Sterbenden
Hora incerta est
2.1 Abläufe und Phasen des Sterbens
2.2 Hora incerta est
2.3 Hora incerta est – ein Kommentar
2.4. Das tägliche Sterben in uns: Die Apoptose
2.5 Sterben auf der Intensivstation
2.6 Wissen um den Todeszeitpunkt
Der Tod ist mein: ungelebtes Leben, Autonomie, Fürsorge
2.7 Das ungelebte Leben
2.8 Autonomie am Lebensende
2.9 Fürsorge am Lebensende: Philosophische Grundlagen
2.10 Patienten-Selbstbestimmung und ärztliche Fürsorge am Lebensende
2.11 Rechtsphilosophische Argumente zu Fürsorge und Autonomie
Reaktionstypen auf eigenes Sterben
2.12 Reaktionsformen im Angesicht des absehbaren eigenen Todes
2.13 Depressivität angesichts des eigenen Todes
2.14 Kreativität angesichts des Sterbens am Beispiel J.W. v. Goethe
2.15 Suizid: Soziale Relevanz und ethisch-moralische Beurteilung
Persönliche Vorsorge: Demenz und Koma
2.16 Sterben in Demenz
2.17 Wachkoma, Apallisches Syndrom: Wie tot sind Apalliker?
2.18 Chancen und Schwierigkeiten von Patientenverfügungen aus ethischer Sicht
2.19 Zwischen personaler Identität und Risikovorsorge: Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht
3. Perspektiven der Sterbebegleitung
Sterbende professionell begleiten
3.1 Tod und Sterben kommunizieren
3.2 Krebspatienten im Sterbeprozess – Perspektiven und Erfahrungen der Psychoonkologie
3.3 Seelsorge an Sterbenden
3.4 Sterbende im Pflegeheim und ihre Begleiterinnen
3.5 Entwicklung einer Palliativkultur im ambulanten Pflegedienst
3.6 Spezialisierte ambulante palliative Versorgung (SAPV)
3.7 Praxis der Hospize
3.8 Kinderhospize: Palliative Care in einer spezifischen Situation
Die persönliche Begleitung und ihre Probleme
3.9 Palliative Psychoonkologie bei Kindern: Tod und Sprache im klinischen Alltag
3.10 Sterben in der Familie
3.11 Rechtliche Bürden im Umgang mit Fehlgeburten
3.12 Migration, Sterben und Interkulturalität am Beispiel muslimischer Patienten
3.13 Von der Sterbe- zur Lebensbegleitung?
Individuelle Suizidbeihilfe
3.14 Suizidbeihilfe im Nahfeld – Der strafrechtliche Hintergrund
3.15 Ärztliche Suizidbeihilfe - das ethische Dilemma der Assistenz
Professionelle Nahperspektiven
3.16 Die Begleiterperspektive: Der Seelsorger im Umgang mit dem Sterbenden
3.17 Ethische Fragen medizinischer Behandlung am Lebensende
3.18 Vorbereitung auf den Tod: Psychedelische Psychotherapie mit Krebskranken
3.19 Grenzerfahrungen mit psychoaktiven Substanzen
3.20 Musiktherapie
3.21 Palliativmedizinische Perspektive
3.22 Explizite und implizite Einstellungen zur Sterbebegleitung
Die ungebremste Konfrontation
3.23 Sterben in Massakern – Zu Geschichte und Phänomenologie des School Shooting
3.24 Zeugen des Sterbens bei Unfall und gezieltem Anschlag
3.25 Das Lebensende in der Notfallmedizin
3.26 „das lässt keinen kalt“: Polizei als Zeuge des Sterbens/ als Überbringer der Todesbotschaft
3.27 Der Nervenkitzel öffentlicher Lebensgefahr: Grenzen durch Menschenwürde
4. Gesellschaftliche Probleme des Sterbens
Grundbedingungen
4.1 Soziologie des Todes
4.2 Der Sterbekostenansatz – eine kritische Betrachtung
4.3 Menschenwürde und letztwillige Verfügungen
4.4 Der (gesundheits)sozialrechtliche Rahmen persönlicher Sterbevorsorge -Hilfsangebote für Sterbende und ihre Angehörigen
4.5 Staatliche Bestimmungen zum Umgang mit Leichen
4.6 Die liturgisch-rituelle Begleitung von Sterbeprozessen in den christlichen Kirchen Deutschlands
4.7 Tod und Sterben aus islamischer Sicht
4.8 Neue Rituale des Trauerns und Bedauerns
Organisierte Sterbehilfe und Suizidbeihilfe
4.9 Sterbehilfe, Suizidbeihilfe, Krankenmord: Historische Wurzeln im 19. / 20. Jahrhundert
4.10 Moral- und rechtsdeviante Formen: Krankenmord in Deutschland
4.11 Internationales Recht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
4.12 Organisierte Sterbehilfe und Suizidbeihilfe: Neue Tendenzen und Entwicklungen im Vergleich
4.13 Öffentliche Sterbehilfediskurse in Deutschland und in der Schweiz
Sterben im staatlich verantworteten Raum
4.14 Sterben in öffentlichen und privaten Sphären
4.15 Sterben im Gefängnis
4.16 Sterben in geschlossenen Einrichtungen des Maßregelvollzugs
4.17 Tod im staatlichen Gewahrsam
4.18 Todesstrafe
4.19 Wohnungsloses Sterben im öffentlichen Raum
4.20 Sterben in staatlich-exekutiver Indienstnahme
Mediale Verarbeitung
4.21 Magazin, Feature, Talkshow
4.22 Sterben und Tod in der Presse
4.23 Tod und Sterben in Film und Fernsehen
4.24 Inhumanes Sterben in asozialen Netzwerken
4.25 Der Tod im Cyberspace
Kulturelle Verarbeitung
4.26 Literarische Sterbeszenen
4.27 Literarische Todesbewältigung
4.28 Suizid in der Neueren deutschen Literatur
4.29 Menschliches Sterben mit Kinderliteratur begleiten
4.30 Wie klingt der Tod?
4.31 Tod, Sterben und bildende Kunst vom 18. bis 20. Jahrhundert
4.32 Die Inszenierung des sterbenden Menschen im Museum
4.33 Deutsche Bestattungskultur der Gegenwart
Didaktische Verarbeitung
4.34 Mit Schülern das Thema Sterben erarbeiten
4.35 Änderungen des Curriculums der ärztlichen und pflegerischen Ausbildung
4.36 Studentisches Besuchsprojekt für PflegeheimbewohnerInnen
4.37 Weiterbildung und Masterstudiengänge in Palliative Care
4.38 Ethik im Medizinstudium und Ethikberatung in der Klinik
4.39 Das OASIS-Prinzip: Offenheit, Achtsamkeit, Selbstfürsorge, Integration und Spiritualität als praxisrelevante Haltung einer lebendigen Sterbekultur
4.40 Sterben und Tod - Gerontologie und Geriatrie
Stichwortregister
Autorenregister
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Michael Anderheiden, Wolfgang Uwe Eckart (Hrsg.) Handbuch Sterben und Menschenwürde Band 1

Handbuch Sterben und Menschenwürde Herausgegeben von Michael Anderheiden Wolfgang Uwe Eckart In Verbindung mit Eva Schmitt, Hubert Bardenheuer, Helmuth Kiesel, Andreas Kruse und Jürgen Wassmann

Band 1

Redaktion: Eva Schmitt (Leitung)

ISBN 978-3-11-024644-5 e-ISBN 978-3-11-024645-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Autorenübersicht

XV

XIX

Wolfgang U. Eckart und Michael Anderheiden Einleitung 1 1. Vorklärungen

17

Wolfgang Uwe Eckart 1.1 „Sterben“: Ereignis und Prozess

19

Ernst Tugendhat 1.2 Über den Tod oder: Warum fürchten wir, bald zu sterben?

31

Wolfgang Uwe Eckart 1.3 Verlorene Kunst: Altersgebrechen angesichts des Todes und ars moriendi aus kulturhistorischer Perspektive 51 Beginn des Sterbens

71

Andreas Draguhn 1.4 Der Beginn des Sterbens aus pathologischer Sicht

73

Hubert J. Bardenheuer 1.5 Beginn des Sterbens aus palliativmedizinischer Sicht Stephan Rixen 1.6 Beginn des Sterbens aus (gesundheits)sozialrechtlicher Sicht

93

Walter Ried 1.7 Ökonomische Aspekte der Palliativversorgung Todesverständnisse

117

Andreas Draguhn 1.8 Tod als Ende der Sterbephase

119

103

87

VI

Inhaltsverzeichnis

Alexandra Manzei 1.9 Der Tod als Konvention. Die (neue) Kontroverse um Hirntod und Organtransplantation 137 Michael Anderheiden 1.10 Die letzten Schritte des Dionys oder: Hat das Recht gute Gründe, vom Hirntodkonzept zu lassen? 175 Menschenwürde – Konzepte

199

Brigitta-Sophie von Wolff-Metternich 1.11 Philosophische Konzepte der „Menschenwürde“ und ihre Bedeutung für die Debatte um menschenwürdiges Sterben 201 Michael Anderheiden 1.12 Die Menschenwürde beim Sterben erhalten: Rechtliche Bedingungen 213 Wilfried Härle 1.13 „Menschenwürde“

237

Johannes Reiter 1.14 Menschenwürdiges Sterben aus katholischer Sicht Merdan Günes 1.15 Menschenwürde und würdiges Sterben im Islam

259

277

Yves Nordmann 1.16 Sterbehilfe aus der Sicht der jüdischen Medizinethik

307

Eva Sabine Saalfrank 1.17 Die buddhistischen Entsprechungen der Würde des Menschen Ekkehard Felder, Jörn Stegmeier 1.18 Semantische Kämpfe in einem Textkorpus zum Sterbehilfe-Diskurs 329 Sterbehilfe

347

Thomas Hillenkamp 1.19 Sterbehilfe im Recht

349

317

Inhaltsverzeichnis

Ekkehard Felder, Jörn Stegmeier 1.20 Diskurstheoretische Voraussetzungen und diskurspraktische Bewertungen 375 2. Die Perspektive des Sterbenden Hora incerta est

417

419

Hubert J. Bardenheuer 2.1 Abläufe und Phasen des Sterbens Andreas Draguhn 2.2 Hora incerta est

421

427

Michael Anderheiden 2.3 Hora incerta est – ein Kommentar

435

Rüdiger Arnold 2.4. Das tägliche Sterben in uns: Die Apoptose Marco Gruß, Markus A. Weigand 2.5 Sterben auf der Intensivstation

447

Elisabeth Schömbucher 2.6 Wissen um den Todeszeitpunkt

471

441

Der Tod ist mein: ungelebtes Leben, Autonomie, Fürsorge Thomas Fuchs 2.7 Das ungelebte Leben

493

495

Brigitta-Sophie von Wolff-Metternich 2.8 Autonomie am Lebensende 511 Thomas Rentsch 2.9 Fürsorge am Lebensende: Philosophische Grundlagen Wilfried Härle 2.10 Patienten-Selbstbestimmung und ärztliche Fürsorge am Lebensende 539

525

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

Stephan Kirste 2.11 Rechtsphilosophische Argumente zu Fürsorge und Autonomie Reaktionstypen auf eigenes Sterben

555

577

Joachim Wittkowski 2.12 Reaktionsformen im Angesicht des absehbaren eigenen Todes Christine Sattler, Johannes Schröder 2.13 Depressivität angesichts des eigenen Todes

597

Rainer M. Holm-Hadulla 2.14 Kreativität angesichts des Sterbens am Beispiel J.W. v. Goethe Ursula Baumann 2.15 Suizid: Soziale Relevanz und ethisch-moralische Beurteilung Persönliche Vorsorge: Demenz und Koma Andreas Kruse 2.16 Sterben in Demenz

579

611

629

647

649

Hartmut Remmers, Manfred Hülsken-Giesler, Manuel Zimansky 2.17 Wachkoma, Apallisches Syndrom: Wie tot sind Apalliker?

671

Monika Bobbert 2.18 Chancen und Schwierigkeiten von Patientenverfügungen aus ethischer Sicht 697 Michael Anderheiden 2.19 Zwischen personaler Identität und Risikovorsorge: Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht 715

IX

Inhaltsverzeichnis zu Band 2

Inhaltsverzeichnis zu Band 2 Abkürzungsverzeichnis Autorenübersicht

XV

XIX 743

3. Perspektiven der Sterbebegleitung Sterbende professionell begleiten

745

H. Christof Müller-Busch 3.1 Tod und Sterben kommunizieren

747

Monika Keller 3.2 Krebspatienten im Sterbeprozess – Perspektiven und Erfahrungen der Psychoonkologie 765 Wolfgang Drechsel 3.3 Seelsorge an Sterbenden

799

Angelika Feichtner 3.4 Sterbende im Pflegeheim und ihre BegleiterInnen

823

Meike Schwermann 3.5 Entwicklung einer Palliativkultur im ambulanten Pflegedienst Hubert J. Bardenheuer 3.6 Spezialisierte ambulante palliative Versorgung (SAPV) Annedore Napiwotzky 3.7 Praxis der Hospize

839

857

863

Johann-Christoph Student 3.8 Kinderhospize: Palliative Care in einer spezifischen Situation Die persönliche Begleitung und ihre Probleme

913

Franz Resch, Kerstin Westhoff 3.9 Palliative Psychoonkologie bei Kindern: Tod und Sprache im klinischen Alltag 915

895

X

Inhaltsverzeichnis zu Band 2

Manfred Cierpka 3.10 Sterben in der Familie

939

Nadja Müller 3.11 Rechtliche Bürden im Umgang mit Fehlgeburten 959 Ilhan Ilkilic 3.12 Migration, Sterben und Interkulturalität am Beispiel muslimischer Patienten 991 Marcella Cestra, Heidi Emling, Kerstin Herzog 3.13 Von der Sterbe- zur Lebensbegleitung? Individuelle Suizidbeihilfe

1009

1031

Thomas Hillenkamp 3.14 Suizidbeihilfe im Nahfeld – Der strafrechtliche Hintergrund Michael Wunder 3.15 Ärztliche Suizidbeihilfe – das ethische Dilemma der Assistenz Professionelle Nahperspektiven

1033

1055

1075

Wolfgang Drechsel 3.16 Die Begleiterperspektive: Der Seelsorger im Umgang mit dem Sterbenden 1077 Monika Bobbert 3.17 Ethische Fragen medizinischer Behandlung am Lebensende

1099

Stanislav Grof 3.18 Vorbereitung auf den Tod: Psychedelische Psychotherapie mit Krebskranken 1115 Rolf Verres 3.19 Grenzerfahrungen mit psychoaktiven Substanzen

1137

Marco Warth, Gisela Platzbecker, Dorothee von Moreau, Alexander F. Wormit 3.20 Musiktherapie 1151

Inhaltsverzeichnis zu Band 2

Hubert J. Bardenheuer 3.21 Palliativmedizinische Perspektive

1165

Martin Enke, Patric Meyer, Herta Flor 3.22 Explizite und implizite Einstellungen zur Sterbebegleitung Die ungebremste Konfrontation

1175

1201

Wolfgang Uwe Eckart 3.23 Sterben in Massakern – Zu Geschichte und Phänomenologie des School Shooting Joachim Müller-Lange 3.24 Zeugen des Sterbens bei Unfall und gezieltem Anschlag Oliver Gutzeit 3.25 Das Lebensende in der Notfallmedizin

1229

Christine Unrath 3.26 „… das lässt keinen kalt“: Polizei als Zeuge des Sterbens / als Überbringer der Todesbotschaft 1243 Jan Philipp Schaefer 3.27 Der Nervenkitzel öffentlicher Lebensgefahr: Grenzen durch Menschenwürde 1263

1203

1213

XI

XII

Inhaltsverzeichnis zu Band 3

Inhaltsverzeichnis zu Band 3 Abkürzungsverzeichnis Autorenübersicht

XV

XIX

4. Gesellschaftliche Probleme des Sterbens Grundbedingungen

1287

1289

Eric Schmitt 4.1 Soziologie des Todes

1291

Walter Ried 4.2 Der Sterbekostenansatz – eine kritische Betrachtung

1313

Christian Baldus, Johanna Stremnitzer 4.3 Menschenwürde und letztwillige Verfügungen 1329 Stephan Rixen 4.4 Der (gesundheits)sozialrechtliche Rahmen persönlicher Sterbevorsorge – Hilfsangebote für Sterbende und ihre Angehörigen 1347 Diana Zacharias 4.5 Staatliche Bestimmungen zum Umgang mit Leichen

1355

Oliver Krüger 4.6 Die liturgisch-rituelle Begleitung von Sterbeprozessen in den christlichen Kirchen Deutschlands 1383 Karin Hitz 4.7 Tod und Sterben aus islamischer Sicht Sascha Beckerle, Inken Prohl, Katja Rakow 4.8 Neue Rituale des Trauerns und Bedauerns

1395

1417

Inhaltsverzeichnis zu Band 2

Organisierte Sterbehilfe und Suizidbeihilfe

XIII

1437

Wolfgang Uwe Eckart 4.9 Sterbehilfe, Suizidbeihilfe, Krankenmord: Historische Wurzeln im 19. / 20. Jahrhundert 1439 Wolfgang Uwe Eckart 4.10 Moral- und rechtsdeviante Formen: Krankenmord in Deutschland

1461

Silja Vöneky, Mira Chan, Hans Christian Wilms 4.11 Internationales Recht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

1479

Brigitte Tag 4.12 Organisierte Sterbehilfe und Suizidbeihilfe: Neue Tendenzen und Entwicklungen im Vergleich 1515 Markus Zimmermann-Acklin 4.13 Öffentliche Sterbehilfediskurse in Deutschland und in der Schweiz 1531 1547

Sterben im staatlich verantworteten Raum

Klaus Feldmann 4.14 Sterben in öffentlichen und privaten Sphären Rüdiger Wulf, Andreas Grube 4.15 Sterben im Gefängnis

1549

1571

Jörg Kinzig 4.16 Sterben in geschlossenen Einrichtungen des Maßregelvollzugs Dagmar Richter 4.17 Tod im staatlichen Gewahrsam

1595

1619

Dieter Dölling, Christian Laue 4.18 Todesstrafe 1649 Johannes Eurich 4.19 Wohnungsloses Sterben im öffentlichen Raum

1675

XIV

Inhaltsverzeichnis zu Band 3

Ulrich Hufeld, Hannes Rathke 4.20 Sterben in staatlich-exekutiver Indienstnahme Mediale Verarbeitung

1687

1705

Nicola Bardola 4.21 Magazin, Feature, Talkshow Ella Wassink 4.22 Sterben und Tod in der Presse

1707

1715

Matthias Hurst 4.23 Tod und Sterben in Film und Fernsehen

1735

Birgit Richard, Jan Grünwald 4.24 Inhumanes Sterben in asozialen Netzwerken

1765

Karla Misek-Schneider, Gregor Mink, Jürgen Fritz 4.25 Der Tod im Cyberspace 1779 Kulturelle Verarbeitung

1795

Christine Steinhoff 4.26 Literarische Sterbeszenen Christine Steinhoff 4.27 Literarische Todesbewältigung

1797

1815

Karin Tebben 4.28 Suizid in der Neueren deutschen Literatur

1833

Hans-Bernhard Petermann 4.29 Menschliches Sterben mit Kinderliteratur begleiten Silke Leopold 4.30 Wie klingt der Tod?

1845

1881

Klaus Bergdolt 4.31 Tod, Sterben und bildende Kunst vom 18. bis 20. Jahrhundert Reiner Sörries 4.32 Die Inszenierung des sterbenden Menschen im Museum

1899

1921

XV

Inhaltsverzeichnis zu Band 2

Reiner Sörries 4.33 Deutsche Bestattungskultur der Gegenwart Didaktische Verarbeitung

1931

1941

Matthias Raden, Sandra Schellhammer, Oliver Stoltz 4.34 Mit Schülern das Thema Sterben erarbeiten 1943 Thomas Böker-Blum 4.35 Änderungen des Curriculums der ärztlichen und pflegerischen Ausbildung 1967 Matthias Behrends 4.36 Studentisches Besuchsprojekt für PflegeheimbewohnerInnen

1979

H. Christof Müller-Busch 4.37 Weiterbildung und Masterstudiengänge in Palliative Care

1989

Monika Bobbert 4.38 Ethik im Medizinstudium und Ethikberatung in der Klinik

2003

Eva Sabine Saalfrank 4.39 Das OASIS-Prinzip: Offenheit, Achtsamkeit, Selbstfürsorge, Integration und Spiritualität als praxisrelevante Haltung einer lebendigen Sterbekultur 2029 Andreas Kruse 4.40 Sterben und Tod – Gerontologie und Geriatrie Stichwortregister Autorenregister

2073 2085

2051

Abkürzungsverzeichnis a. F. a. M. AABF AAPV Abb. ACT ADL AEDL AE-StB AHORN AIDS AIPCE ARDS ATP AufenthG ausf. BÄK BeamtVG BGB BGH BGHSt BPM BSGE BtÄndG BT-Drs BVerfG BVerwG BvR CERES cf. DANN ders. DGHS DGP DHPV DITIB DJT DLPFC DOA DPG DPT DRZE EAPC ebd. EGMR EKD EMRK

alte Fassung am Main Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu (Deutsche Alevitenföderation) Ambulante Palliative Versorgung Abbildung Association for Children’s Palliative Care activities of daily living Aktivitäten und existenzielle Erfahrungen des Lebens Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung Association of periOperative Registered Nurses Acquired immunodeficiency syndrome Alliance of Independent Press Councils of Europe Acute Respiratory Distress Syndrome Adenosintriphosphat (ATP), Aufenthaltsgesetz ausführlich Bundesärztekammer Beamtenversorgungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Basale Perinatale Matrizen; Entscheidungen des Bundessozialgerichts Betreuungsrechtsänderungsgesetz Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Centrum für religionswissenschaftliche Studien confer Desoxyribonukleinsäure derselbe Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin Deutscher Hospiz- und Palliativverband Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. Deutscher Juristentag dorsolaterale Cortex death on arrival Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin Dipropyltryptamin Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Wissenschaften European Association for Palliative Care Ebenda Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Evangelischen Kirche in Deutschland Europäische Menschenrechtskonvention

XVIII

EMSA EuAlÜbk EuGH fMRT Fn. GDS GG GKV h. M. HeiCuMed Hervorheb. HIV Hg. i. Brsg. i. d. F. i. d. R. i. e. S. i. Übers. v. i. V. m. IAT ICU IGH IPBPR IQWiG IRG JaK JVA KDA KirchE KSK Lk LKV LSD          m. w. N. mcg MDMA        MDS Mio. Mk MUSE NACA NCT Neubearb. NHBCDs NRW NS o. J. o. V. OPS

Abkürzungsverzeichnis

European Medical Students Association Europäische Auslieferungsübereinkommen Europäischer Gerichtshof Magnetresonanz-Tomografie Fußnote Geriatric Depression Scale Grundgesetz gesetzliche Krankenversicherung herrschende Meinung Heidelberger Gesamtcurriculum Hervorhebung Humane Immundefizienz-Virus; human immunodeficiency virus Herausgeber im Breisgau in der Fassung vom in der Regel im engeren Sinn/im eigentlichen Sinn in Übersetzung von in Verbindung mit implizite Automatismem Intensive Care Unit Internationaler Gerichtshof Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen Internationale Rechtshilfe in Strafsachen Jakobus Evangelium Justizvollzugsanstalt Kuratorium Deutsche Altershilfe Entscheidungen in Kirchensachen (auch: Kirchenentscheidungen) Kommandospezialkräfte Lukas Evangelium; Landes- und Kommunalverwaltung Lysergsäurediethylamid mit weiteren Nachweisen Mikrogramm 3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin Medizinischer Dienst der Spitzenverbände Millionen Markus Evangelium Muslimische Seelsorge National Advisory Committee for Aeronautics (Score) Nationales Centrum für Tumorerkrankungen Neubearbeitung Non Heart Beating Cadaver Donors Nordrhein-Westfalen Nationalsozialismus/nationalsozialistisch ohne Jahrgang ohne Verfasser Operationen- und Prozedurenschlüssel

Abkürzungsverzeichnis

PatVerfG PCT PEG PET PSNV PTSD PVS QM R.I.F. RB-EUHb Rn. RR Rspr. s. o. SAMW SAPV SAPV-RL SIDS SMPC StGB StRÄndG SUNY SVG TAB TPG u. a. UA UCLA UCSF UNESCO USD Verf. VGH Vgl. VVDStRL WHO WPflG ZMD ZDv

XIX

Patientenverfügungsgesetz Palliative Care Team Perkutane endoskopische Gastrostomie Positronen-Emissions-Tomografie psychosozialen Notfallversorgung post traumatic stress disorder persistent vegetative state Qualitätsmanagement Requirements Interchange Format Europäischen Haftbefehl Randnummer Rechtsprechnungsreport Rechtsprechnung siehe oben Schweizer Akademie der medizinischen Wissenschaften spezialisierte ambulante Palliativversorgung SAPV-Richtlinie Sudden Infant Death Syndrome Specialised Mobile Palliative Care Strafgesetzbuch Strafrechtsänderungsgesetz State University of New York Soldatenversorgungsgesetz Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag Transplantationsgesetz und andere University of Arizona University of California, Los Angeles; University of California, San Francisco United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization US-Dollar Verfasser Verwaltungsgerichtshof Vergleiche Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer World Health Organization Wehrpflichtgesetz Zentralrat der Muslime in Deutschland zentrale Dienstvorschrift

Hinweis: Abkürzungen juristischer Fachzeitschriften sind in entsprechenden Artikeln bei Erstnennung in den Fußnoten und Literaturverzeichnissen ausgeschrieben; bei Folgenennungen werden nur noch die Abkürzungen genannt. Verweise auf Artikel im Handbuch wurden wie folgt im Fließtext angegeben: (→ s. Kap. X.y, Autor)

Autorenübersicht Anderheiden, Michael: 1.10 Recht, 1.12 Recht, 2.19 Zwischen personaler Identität und Risikovorsorge. Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht, 2.3 Kommentar Arnold, Rüdiger: 2.4 Apoptose vs. Ischämie Baldus, Christian, / Stremnitzer, Johanna: 4.3 Menschenwürdefragen bei letztwilligen Verfügungen Bardenheuer, Hubert J.: 1.5 Der Beginn des Sterbens aus palliativmedizinischer Sicht, 2.1 Abläufe und Phasen des Sterbens, 3.21 Palliativmedizinische Perspektive auf die Grenzen der Fürsorge aus professioneller Sicht, 3.6 SAPV Bardola, Nicola: 4.20 Nachrichten Baumann, Ursula: 2.15 Suizid in der gesellschaftlichen Rückkoppelung einst und jetzt Behrends, Matthias: 4.35 Studentisches Projekt „Bücher sind nicht alles“ Bergdolt, Klaus: 4.30 Tod, Sterben und bildende Kunst vom 18. bis 20. Jahrhundert Bobbert, Monika: 2.18 Chancen und Schwierigkeiten von Patientenverfügungen aus ethischer Sicht, 3.17 Ethische Fragen medizinischer Behandlung am Lebensende, 4.37 Ethik im Medizinstudium und Ethikberatung in der Klinik Böker-Blum, Tom: 4.34 Änderungen des Kurrikulums der medizinischen und pflegerischen Ausbildung Chang, Mira: (siehe Vöneky) Cierpka, Manfred: 3.10 Sterben in der Familie Dölling, Dieter / Laue, Christian: 4.17 Todesstrafe: Deutsche Vergangenheit und gegenwärtige Praxis in den internationalen Beziehungen Draguhn, Andreas: 1.4 Der Beginn des Sterbens aus pathologischer Sicht, 1.8 Tod als Ende der Sterbephase, 2.2 Pathophysiologie Drechsel, Wolfgang: 3.16 Die Begleiterperspektive: Der Seelsorger im Umgang mit dem Sterben, 3.3 Seelsorge an Sterbenden Eckart, Wolfgang Uwe: 1.1 „Sterben“: Ereignis und Prozess, 1.3 Verlorene Kunst: Blüten und Niedergang der ars moriendi aus kulturhistorischer Perspektive, 3.23 Sterben in Massakern – Zu Geschichte und Phänomenologie des School Shooting, 4.10: Moral- und rechtsdeviante Formen: Krankenmord in Deutschland, 4.9 Sterbehilfe, Suizidbeihilfe, Krankenmord: Historische Wurzeln im 19. / 20. Jahrhundert Emling, Heidi: 3.13 Mitengeagierte in Ehrenamt, Selbsthilfegruppe etc.: Das Beispiel der HIV Selbsthilfegruppen Enke, Martin: (siehe Flor) Eurich, Johannes: 4.19 Wohnungsloses Sterben im öffentlichen Raum Feichtner, Angelika: 3.4 Sterbende im Pflegeheim und ihre BegleiterInnen Felder, Ekkehard / Stegmeier, Jörn: 1.18 Semantische Kämpfe in einem Textkorpus zum SterbehilfeDiskurs, 1.20 Diskurstheoretische Voraussetzungen und diskurspraktische Bewertungen Feldmann, Klaus: 4.14 Sterben in öffentlichen und privaten Sphären Flor, Herta / Meyer, Patric / Enke, Martin: 3.22 Explizite und implizite Einstellungen zur Sterbebegleitung – eine neurophysiologische und neurowissenschaftliche Perspektive Fritz, Jürgen: (siehe Misek-Schneider) Fuchs, Thomas: 2.7 Das ungelebte Leben: (Psychologie / Psychiatrie) Grof, Stanislav: 3.18 Vorbereitung auf den Tod: Psychedelische Psychotherapie mit Krebskranken Grube, Andreas: (siehe Wulf) Grünwald, Jan: (siege Richard) Guenes, Merdan: 1.15 Menschenwürde im Islam – Fundierungen islamischen Denkens zur Sterbephase Gutzeit, Oliver: 3.25 Das Lebensende in der Notfallmedizin

XXII

Autorenübersicht

Härle, Wilfried: 1.13: Menschenwürde, 2.10 Patienten-Selbstbestimmung und ärztliche Fürsorge am Lebensende Hillenkamp, Thomas: 1.19 Sterbehilfe im Recht, 3.14 Suizidbeihilfe im Nahfeld – Der strafrechtliche Hintergrund Hitz, Karin: 4.7 Tod und Sterben aus islamischer Sicht Holm-Hadulla, Rainer M.: 2.14 Kreativität am Beispiel J. W. von Goethe Hufeld, Ulrich / Rathke, Hannes: 4.18 Sterben in staatlich-exekutiver Indienstnahme: Der Umgang von Polizei, Grenzschutz und Bundeswehr mit ihren Gefallenen Hurst, Matthias: 4.22 Tod und Sterben in Film und Fernsehen Ilkilic, Ilhan: 3.12 Migration, Sterben und Interkulturalität: am Beispiel muslimischer Patienten Keller, Monika: 3.2 Krebspatienten im Sterbeprozess – Perspektiven und Erfahrungen der Psychoonkologie Kinzig, Jörg: 4.16 Sterben in geschlossenen Einrichtungen des Maßregelvollzugs Kirste, Stephan: 2.11 Rechtsphilosophische Argumente zu Fürsorge und Autonomie Krüger, Oliver: 4.6 Die liturgisch-rituelle Begleitung von Sterbeprozessen in den christlichen Kirchen Deutschlands Kruse, Andreas: 2.16 Sterben in Demenz (Geriatrie, Psychiatrie), 4.39 Sterben und Tod – Gerontologie und Geriatrie Laue, Christian: (siehe Dölling) Leopold, Silke: 4.29 Wie klingt der Tod? Musikalische Darstellungen des Sterbens in der Barockoper Manzei, Alexandra: 1.9 Kulturelle Konstruktionen: Debatte um die Todesbegriffe aus soziologischer Sicht Meyer, Patric: (siehe Flor) Mink, Gregor: (siehe Misek-Schneider) Misek-Schneider, Karla / Fritz, Jürgen / Mink, Gregor: 4.24 Der Tod im Cyberspace Müller, Nadja: 3.11 Rechtliche Bürden im Umgang mit Fehlgeburten Müller-Busch, H. Christof: 3.1 Sterben kommunizieren – Gespräche im Angesicht des Todes, 4.36 Weiterbildung und Masterstudiengänge in Palliative Care Müller-Lange, Joachim: 3.24 Zeugen des Sterbens bei Unfall und gezieltem Anschlag „… und bevor noch jemand kommen konnte …“ akute Sterbebegleitung als Herausforderung der Notfallseelsorge Napiwotzky, Annedore: 3.7 Praxis der Hospize Nordmann, Yves: 1.16 Sterbehilfe aus der Sicht der jüdischen Medizinethik Petermann, Hans-Bernhard: 4.28 Kinder- und Jugendbuchliteratur Prohl, Inken:4.8 Neue Rituale des Bedauerns und Trauerns Raden, Matthias / Schellhammer, Sandra / Stoltz, Oliver: 4.33 Mit Schülern das Thema Sterben erarbeiten Rathke, Hannes: (siehe Hufeld) Reiter, Johannes: 1.14 Menschenwürdiges Sterben aus katholischer Sicht Remmers, Hartmut: 2.17 Wachkoma, Apallisches Syndrom: Wie tot sind Apalliker? Rentsch, Thomas: 2.9 Fürsorge am Lebensende: Philosophische Grundlagen Resch, Franz / Westhoff, Kerstin: 3.9 Palliative Psychoonkologie bei Kindern: Tod und Sprache im klinischen Alltag Richard, Birgit / Grünwald, Jan: 4.23 Inhumanes Sterben in populären Netzwerken Richter, Dagmar: 4.17 Tod im staatlichen Gewahrsam: Erhöhtes Sterberisiko für ausländische Menschen? Ried, Walter: 1.7 Gesundheitsökonomische Auswirkungen, 4.2 Der Sterbekostenansatz – eine kritische Betrachtung

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Rixen, Stephan: 1.6 Beginn des Sterbens aus (gesundheits-)sozialrechtlicher Sicht, 4.4 Der (gesundheits-)sozialrechtliche Rahmen persönlicher Sterbevorsorge: Hilfsangebote für Sterbende und ihre Angehörigen Saalfrank, Eva Sabine: 4.38 Das OASIS-Prinzip: Offenheit, Achtsamkeit, Selbstfürsorge, Integration, und Spiritualität als praxisrelevante Haltung einer lebendigen Sterbekultur; 1.17 Die buddhistischen Entsprechungen zur Würde des Menschen Schellhammer, Sandra: (siehe Raden) Schäfer, Jan: 3.27 Der Nervenkitzel öffentlicher Lebensgefahr: Grenzen durch Menschenwürde Schmitt, Eric: 4.1 Soziologie des Todes Schömbucher-Kusterer, Elisabeth: 2.6 Wissen um den Todeszeitpunkt – Zum Vergleich: indigenes Wissen Schröder, Johannes: 2.13 Depressivität angesichts des eigenen Todes Schwermann, Meike: 3.5 Entwicklungen einer Palliativkultur im ambulanten Pflegedienst Sörries, Reiner: 4.31 Inszenierung des sterbenden Menschen im Museum, 4.32 Deutsche Bestattungskultur der Gegenwart Stegmeier, Jörn: (siehe Felder) Steinhoff, Christine: 4.25 Literarische Sterbeszenen, 4.26 Literarische Todesbewältigung Stoltz, Oliver: (siehe Raden) Stremnitzer, Johanna: (siehe Baldus) Student, Christoph: 3.8 Kinderhospize: Palliative Care in einer spezifische Situation Tag, Brigitte: 4.12 Organisierte Sterbehilfe und Suizidbeihilfe: Neue Tendenzen und Entwicklungen im Vergleich Tebben, Karin. 4.27 Suizid in der Neueren deutschen Literatur Tugendhat, Ernst: 1.2 Die Bedeutung der letzten Lebensphase aus philosophischer Sicht Unrath, Christine: 3.26 „… das lässt keinen kalt“: Polizei als Zeuge des Sterbens / als Überbringer der Todesbotschaft Verres, Rolf: 3.19 Grenzerfahrungen mit psychoaktiven Substanzen Welten des Bewusstseins, Drogen und der große Übergang Vöneky, Silja / Chang, Mira / Wilms, Hans Christian: 4.11 Internationales Recht in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, Analyse und Vergleich Wassink, Ella: 4.21 Sterben und Tod in der Presse – Mediale Selbstbeschränkung: zwischen Tabuisierung und Voyeurismus Weigand, Markus A. / Gruß, Marco: 2.5 Sterben auf der Intensivstation Westhoff, Kerstin: (siehe Resch) Wilms, Hans Cristian: (siehe Vöneky) Wittkowski, Joachim: 2.12 Reaktionsformen im Angesicht des absehbaren eigenen Todes Wolff-Metternich, Brigitta-Sophie v.: 1.11 Philosophische Konzepte der „Menschenwürde“ und ihre Bedeutung für die Debatte um menschenwürdiges Sterben, 2.8 Autonomie am Lebensende – Überlegungen aus philosophischer Perspektive Wormit, Alexander: 3.20 Musiktherapie Wulf, Rüdiger / Grube, Andreas: 4.15 Sterben im Gefängnis – Menschenrechtliche, ethische und praktische Apekte Wunder, Michael: 3.15 Ärztliche Suizidbeihilfe – das ethische Dilemma der Assistenz Zacharias, Diana: 4.5 Staatliche Bestimmungen zum Umgang mit Leichen Zimmermann-Acklin, Markus: 4.13 Öffentlicher Sterbediskurse in Deutschland und in der Schweiz

Wolfgang U. Eckart und Michael Anderheiden

Einleitung Abstract: Sterben gehört in unserer modernen, diesseitsgewandten Lebenswelt zu den wohl am erfolgreichsten aus dem Bewusstsein des Alltags gedrängten Phänomenen menschlicher Existenz. Vor diesem Hintergrund soll das Handbuch eine Bestandsaufnahme des Sterbens in unserem Zeitalter leisten und verschiedene Wissenskulturen interdisziplinär einbinden. Die Bereitschaft, Sterben als multidimensionales Phänomen wahrzunehmen und anzunehmen, ist hierzu eine entscheidende Grundvoraussetzung. Das Handbuch versucht deshalb erst gar nicht, sich mit einer bloßen Darstellung der Sterbeprozesse zu begnügen oder sich auf individuelle oder gesellschaftliche Reaktionen zu beschränken. Vielmehr integriert es diese ohnehin nur analytisch zu unterscheidenden Perspektiven unter besonderer Berücksichtigung des Aspekts der Menschenwürde. So sind zur Erörterung der Frage nach dem biologischen Wie des Sterbens Ärzte und Biologen aufgefordert; Philosophen und Theologen können zur geistigen und spirituellen Situation des Sterbens in unserer Gesellschaft beitragen, Ethnologen und Psychologen sind gefordert, über rezente Sterbeängste und Sterberituale aufzuklären, Literatur- und Kunstwissenschaftler, die Präsenz und Gestaltung des Sterbens in den Gegenständen ihrer Forschung darzulegen, Soziologen und Pflegewissenschaftler, über die Orte des Sterbens in unserer Gesellschaft zu berichten, Juristen, über Rahmenbedingungen zu informieren. Erst die Integration dieser Perspektiven kann einen umfassenden Blick auf das Sterben in unserer Gesellschaft ermöglichen und weitere Diskussionen auch mit dem Ziel von Veränderungen anstoßen. Der einleitende Beitrag positioniert das Handbuch in der gegenwärtigen Sterbedebatte und schlüsselt den Inhalt des Handbuches auf. Dying is surely one of those phenomena of human existence that has been most successfully banned from daily consciousness in our modern world, so attuned to the here and now. Against this background, the handbook is intended to present a kind of inventory of dying in our era, taking various cultures of knowledge into account in an interdisciplinary fashion. The readiness to perceive and to assume dying as a multidimensional phenomenon is a decisive and basic prerequisite to this end. For an explanation of the biological process of dying, physicians and biologists are called upon; philosophers and theologians can contribute to the intellectual and spiritual situation of dying in our society; ethnologists and psychologists are called on to enlighten us with regard to recent fears and rituals of dying; literary and art scholars are called on to describe the presence and form of dying in the objects of their researches; sociologists and scholars of nursing science are called on to report on the place of dying in our society; and legal experts are called on to inform us about the legal framework. Only the integration of these different points of view can lead to a general picture of dying in our society, and trigger further discussion, among other things with the

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intention of achieving changes. The introductory contribution positions the handbook within the current debate on dying, and reveals the content of the handbook. Disclaimer: Die meisten Autorinnen und Autoren benutzen im Handbuch nur die männliche Form. Sie soll, soweit der Zusammenhang dies nicht ausschließt, die weibliche Form umfassen.

Prof. Dr. med. Wolfgang U. Eckart, [email protected], Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität, Im Neuenheimer Feld 327, 69120 Heidelberg Prof. Dr. Michael Anderheiden, [email protected], Friedrich-Ebert-Anlage 6–10, 69117 Heidelberg Juristisches Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Unabdingbar gehört das Sterben zur Conditio humana, so wie die Geburt, die Weltlichkeit oder die Pluralität. Das Sterben und den Tod zu imaginieren, beginnt bereits in der Kindheit mit der Bewusstwerdung der Endlichkeit des eigenen Seins und führt früh zu existentiellen Fragen nach dem Ende des eigenen Seins, meist angestoßen durch das Sterbe-Erleben in der Familie, oder, wenn das fremde Sterben nicht selbst erlebt werden darf, durch die schmerzliche Wahrnehmung des unwiederbringlichen Verlustes einer vertrauten oder geliebten Person. „Werde ich auch sterben?“, „Wann werde ich sterben?“, oder „Wird das Sterben schmerzhaft sein?“, sind Fragen, mit denen bereits in der Kindheit meist Mutter oder Vater konfrontiert werden, und die Antworten auf solche Fragen müssen ehrlich sein: „Alle Menschen müssen sterben“, „Wann wir sterben, ist ungewiss“, auch „wie wir sterben“, kann nicht vorausgesagt werden. Für die meisten Menschen bleibt das eigene Sterben das sicherste und zugleich doch auch hinsichtlich seines Wann und Wie das unsicherste Faktum der eigenen Existenz. Zugleich aber öffnet solch unsichere Gewissheit Raum für Ängste und Sorgen. „Aber sterben! Gehn, wer weiß wohin, daliegen, kalt und regungslos, und faulen! Dies lebenswarme fühlende Bewegen verschrumpft zum Kloß! Und der entzückte Geist getaucht in Feuerfluten oder schaudernd umstarrt von Wüsten ewiger Eisesmassen! Gekerkert sein in unsichtbare Stürme und mit rastloser Wut gejagt rings um die schwebende Erde! Oder Schlimmeres werden, als selbst das Schlimmste, was Fantasie wild schwärmend, zügellos, heulend erfindet: Das ist zu entsetzlich! Das schwerste, jammervollste irdische Leben,

Einleitung

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das Alter, Armut, Schmerz, Gefangenschaft dem Menschen auferlegt, ist ein Paradies gegen das, was wir vom Tode fürchten!“1

So imaginiert Claudio in William Shakespeares Maß für Maß das Sterben und die Unsicherheit des Seins im Tod als schreckliche Vision. Gute Visionen stehen in den meisten der großen Weltreligionen dagegen: Die Nähe zu Gott im Himmel, das Paradies, der ewige Friede, die Erlösung, die Möglichkeit der guten Wiedergeburt. Shakespeares Claudio weiß viel über den Tod und das infernalische Leben danach zu berichten. Heute veranlasst nur die Vision des nahenden Todes zu starrer Schweigsamkeit. Präzise Diagnosen und bekannte Krankheitsverläufe lassen angesichts tödlicher Bedrohung oft verstummen. Auch scheint es vielen angesichts eines weit verbreiteten Glaubensverlustes an das Transzendente müßig, über das Nichts nach dem Sterben zu sprechen, aber das Sterben selbst löst oft Angststarre aus. Hierüber muss deshalb gesprochen sein, denn Sterben ist Leben und bedarf der Gestaltung, so zumindest darf man auch Christa Wolf in ihrem Nachdenken über Christa T. (1968) verstehen, wenn sie schreibt: „Nun also der Tod. Der braucht ein Jahr, und dann ist er fertig, er läßt keinen Zweifel aufkommen, daß er erreicht hat, was möglich war, er scheut die Festlegungen nicht, denn er braucht sie. Daher lässt sich nicht viel über ihn sagen. Müssen wir also vom Sterben sprechen.“2

Und über das Sterben wird inzwischen gesprochen, immer mehr in den letzten Jahren, zwei, vielleicht drei Jahrzehnten, nach einer noch längeren Periode des Verschweigens, Versteckens, Verschämens. Was 1968 bei Erscheinen der „Christa T“ noch Wunsch, Hoffnung, vielleicht drängende Bitte der Autorin war, ist seither in Erfüllung gegangen. Doch wird nicht nur vermehrt über das Sterben gesprochen, es wird auch vermehrt darüber gedacht, wie dem Sterben zu begegnen ist, in Krankenhäusern und Altenheimen, bei Gelegenheit sterbender Verwandter oder Freunde, in der Vorsorge durch „Patiententestamente“ und Betreuungsvollmachten, in der Einrichtung und gemeinschaftlichen Finanzierung neuer, spezialisierter Institutionen wie der Hospize, palliativmedizinischen Stationen und der Spezialisierten Ambulanten Palliativmedizin, in der Ausbildung und Schulung von Ärzten, Pflegern, Polizisten und Seelsorgern, und schließlich in der breiten Öffentlichkeit.3 Es ist wohl nicht über-

1 Shakespeare, Maß für Maß, III, 1. 2 Christa Wolf, Nachdenken über Christa T. (1968), Kapitel 20. 3 Die Deutsche Nationalbibliothek weist für das Schlagwort „Sterben“ bis 1970 eine einzige Veröffentlichung auf (Willi Steinmann, „Immer wieder leben, immer wieder sterben: wie kann man leben, da man sterben muss?“ Freiburg i.B. 1970), bis 1975 sind es 55 Veröffentlichungen u.a. von E. Kübler-Ross, bis 1980 schon 208 Medien, ab dann bis zur Jahrtausendwende etwa 50 Veröffentlichungen pro Jahr (1985 = 418, 1990 = 622, 1995 = 872, 2000 = 1196), seither etwa

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trieben, für die letzten beiden Jahrzehnte geradezu von einer Konjunktur des Sterbediskurses zu sprechen. Hier fallen Tabus: Suizid wird nicht mehr verschwiegen, die Beihilfe dazu auch juristisch differenziert betrachtet, es wird thematisiert, wie auch an den Rändern der Gesellschaft, in Gefängnis, Asyl oder Obdachlosigkeit, gar bei Katastrophen und Unfällen den Sterbenden ein Rest Würde erhalten bleibt. Das Sterben ist Gegenstand von Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften, es findet sich aber gerade auch in den neuen Medien, in Netzen und Blocks bis hin zu virtuellen Spielwelten. Die Wahrnehmung des Sterbens ändert sich damit in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Deutschland rapide. Daraus resultieren spürbare gesellschaftliche Veränderungen, die in der Publizistik ihren Niederschlag finden. Einige Beispiele mögen das belegen: So erschien in der FAZ am 10. Januar 2012 auf Seite 5 außerhalb der privat finanzierten Todesanzeigen in der Rubrik „Personalien“ unter dem Titel „Peter Seidlitz gestorben“ folgende mit dem Namenskürzel „Ha.“ gezeichnete Notiz: „Er war ein „syndicated columnist“, ein „halbfreier“ Journalist also, der aus Moskau, Hongkong, Peking und Sydney berichtete und für mehr als 30 deutschsprachige Zeitungen […] schrieb […] Schreibtischposten […] waren nicht die Sache dieses reisefreudigen Journalisten, dem ein Schlaganfall vor mehr als zehn Jahren das Sprachvermögen weitgehend raubte. In Zürich hat er sich, 64 Jahre alt, Ende vergangener Woche im Kreise von Familie und Freunden von seinem Leben verabschiedet.“

Wäre eine solche Notiz mit dem klaren Hinweis auf einen wohl assistierten Suizid in dieser Zeitung zehn, ja fünf Jahre vorher denkbar gewesen, so ganz ohne abfällige Bewertung des Geschehenen? Nur drei Tage früher, am 7. Januar 2011, berichtete Der Spiegel in seiner onlineAusgabe unter der Überschrift „Junge Bloggerin leidet und stirbt öffentlich“: „Zehn Monate hat sie öffentlich im Internet gegen den Tod gekämpft, jetzt ist sie gestorben: die zwölfjährige Amerikanerin Jessica Joy Rees erlag ihrem Gehirntumor. „Liebe Freunde“, schrieben ihre Eltern auf Facebook, „wir haben gebetet und gebetet und gebetet, dass unsere liebe Jessie noch hier auf Erden geheilt wird, aber Gottes Plan war es, sie dafür in den Himmel zu holen.“ Im März vergangenen Jahres erfuhr Jessica von ihrem Gehirntumor, Operation unmöglich. Im September entdeckten Ärzte einen zweiten Tumor. Bestrahlung und Chemotherapie folgten – und Jessica ließ die Welt auf ihrer Webseite und auf Facebook daran teilhaben, was sie erlebte, dachte, fühlte. […] Gleichzeitig postet sie Bilder von anderen Kindern, die an Krebs erkrankt sind und bat, auch an sie zu denken. […] Seit Jessicas Tod hat sich die Anzahl derjenigen, die ihr auf Facebook folgen, auf über 60000 verdoppelt. Tausende Nutzer reagierten auf die Todesnachricht. […], ihre Webseite ist vorübergehend nicht erreichbar, zu groß ist der Andrang.“

100 pro Jahr, derzeit etwa 2200 Veröffentlichungen. Das Titelschlagwort „Sterben“ weist allein auf dem Server des Südwestdeutschen Bibliotheksverbund am 5. April 2012 um 15:30 Uhr 6726 Einträge auf – Tendenz: täglich steigend!

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Gleich macht der Spiegel online noch auf einen weiteren amerikanischen Teenager aufmerksam, der „Ende vergangenen Jahres […] im Internet extrem viel Aufmerksamkeit“ bekam: „Benjamin Breedlove, 18, hatte am 18. Dezember zwei Videos bei YouTube gepostet, in denen er kein Wort sagte. Er litt seit seiner Geburt an einer Herzkrankheit. In den Videos erzählte er seine Leidensgeschichte und Gedanken mit Hilfe kleiner Karten, die er in die Kamera hielt. Wenige Tage später starb er. Seine Videos wurden zum online-Vermächtnis, insgesamt wurden sie schon fast zehn Millionen mal aufgerufen.“

Der Beitrag schließt mit Angaben unter anderem zu den Links für Jessicas FacebookProfil und ihre Webseite sowie dem zu Benjamins Videos. Keine Frage: Eine solche internationale Beachtung eines sterbenden Kindes oder jungen Erwachsenen war noch vor wenigen Jahren in Deutschland undenkbar. Die Konfrontation des Publikums, dessen Sich-einnehmen-Lassen von fremden, tödlichen Schicksalen hat seither eine andere Qualität. Es ist schwer zu sagen, welche Umstände im Einzelnen diesen Prozess gesellschaftlichen Wandels eingeleitet oder befeuert haben: War ausschlaggebend ein bloßer Generationenwechsel, also das Versterben derjenigen, die noch den Krieg und die Vertreibung aktiv erlebt und dort Sterben so gründlich kennengelernt hatten, dass sie später nichts mehr davon hören wollten? Gibt es ein Anschwellen der Sterbediskurse in anhaltenden Friedenszeiten, so wie auch die moderne Seuchenangst gerade jenseits apokalyptischer Massensterben durch Krankheit zunimmt? Oder sind andere Aspekte ausschlaggebend: Welche Auswirkungen zeigt die Emanzipation der Patienten gegenüber den Ärzten, das Verschwinden der „Halbgötter in Weiß“, für die das Sterben eines Patienten Makel, ja Unbotmäßigkeit sein mochte, zugunsten eines Leitbildes vom aufgeklärten Patienten, der um seinen Zustand, seine Behandlungsmöglichkeiten und um deren Grenzen wissen muss und für den das Sterben irgendwann zur eigenen Krankengeschichte unlösbar dazugehört? Welchen Einfluss nahm die AIDS-Bewegung, die nicht nur als politische Bewegung Homosexualität thematisierte, sondern auch und gerade die Gefahren des Sterbens an einer Seuche, deren Übertragungswege Vorsicht bei jedermann geboten, aber besonders bei jüngeren Erwachsenen, die sich weit weg von Sterben und Tod wähnten? Welche Rolle spielte das öffentlich gemachte Sterben einzelner, zumal weithin als solcher anerkannter moralischer Vorbilder? Man vergleiche hier nur die Verheimlichung der Krankheiten der Päpste Pius XII und Johannes XXIII, das (nach Vorerkrankungen vielleicht gar nicht so) überraschende Sterben von Paul VI und Johannes Paul I mit dem geradezu öffentlichen Sterben Johannes Paul II. Gewiss greifen die Massenmedien Fragen des Sterbens auf, haben sie sogar manches Mal forciert. Aus der „Frühzeit“ der deutschen Fernsehgeschichte denke man an die Fernsehserie „Holocaust“ (ausgestrahlt 1979) oder die breite Bühne, die einem Julius Hackethal eingeräumt wurde (1984). Entsprechende Gerichtsverfah-

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ren genossen weite Aufmerksamkeit (etwa: „Peterle“ oder „Dr. Wittig-Fall 1981-84).4 Seither gibt es eine seriöse öffentlich-rechtliche Berichterstattung über Fragen des Sterbens, bei der jedoch das Spezifische, Überraschende, eben: der Nachrichtenwert in den Vordergrund zu rücken droht. Dieser Teppich des telegenen Sterbens überlagert die seit Jahrhunderten fortdauernden Bemühungen von Kunst und Literatur, ausgefeilte und vielschichtige Dimensionen des Sterbens sichtbar zu machen – oder eben zurückzustellen. Im Alltagsbewusstsein mag auch mehr und mehr eine Rolle spielen, dass das deutsche Fernsehen durch ausländische Sender, die in Deutschland problemlos empfangen werden können und durch das Internet mit ihren wesentlich offeneren Formen der Darstellung ergänzt wird. Noch lässt sich hier vielleicht mit dem Sterben Geld verdienen, wie ein britisches Beispiel aus dem Jahr 2009 zeigte: Jane Goody genoss eine gewisse Prominenz als Teilnehmerin einer (englischen) Big Brother-Show, als sie an Gebärmutterhalskrebs erkrankte und beschloss, ihr Sterben zu vermarkten, um mit den Einnahmen ihren kleinen Kindern das Leben zu finanzieren. Selbst der damalige britische Premierminister hieß ihr Vorhaben während einer Pressekonferenz für gut. Zustimmung kam auch aus dem Deutschen Hospitzverband.5 Dennoch darf nicht übersehen werden, dass die meisten Menschen in Alten- und Pflegeheimen und in Krankenhäusern sterben, häufig genug alleine oder fern ihrer Angehörigen und Zugehörigen, betreut von Pflegepersonal und Medizinern mit ihren sparsamen zeitlichen Ressourcen. Das Sterben zu Hause und im Kreise der Familie ist heute selbst für Menschen mit einem erfüllten Leben die Ausnahme. Vielleicht ist es aber gerade dieser Zwiespalt zwischen dem mehr und mehr als Teil des Lebens wahrgenommenen und bewusst gemachten Sterben einerseits und der Realität des doch weitgehend einsamen Sterbens andererseits, der die Suche nach angemessenen, zum Teil nach ambitionierten Möglichkeiten für die Gestaltung der letzten Lebensphase dringlich erscheinen lässt. Hierin, auch dies ein Befund, haben sich die Verhaltensmuster offensichtlich gegenüber früheren Formen des vorbereitenden Umgangs mit dem Sterben dramatisch geändert. Eine Ars Moriendi als Kunst des guten Sterbens hat heute, trotz anschwellender Sterbediskurse, noch keinen wirklichen Widerhall in der Öffentlichkeit gefunden. Im Spätmittelalter ist sie zentrale Thematik und weist gar eine besondere Textgruppe in der frommen Erbauungsliteratur unter dieser Bezeichnung (ars moriendi) auf. Der Christ wird in seiner Todesstunde angeleitet zu einem guten Sterben, denn in der Todesstunde wird die letzte, unwiderrufliche Entschei-

4 Die damals vorhandene Ratgeberliteratur zum Suizid ließ sich an den Fingern einer Hand aufzählen: Jean Amery, „Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod“ (1976), Milton D. Heifetz und Charles Mangel, „Das Recht zu sterben“ (1976), sowie die deutsche Ausgabe von: Christiaan Barnard, „Glückliches Leben – Würdiger Tod“ (1981). 5 Zu den Umständen s. http: // www.n24.de / news / newsitem_4870429.html; der Bericht beruht auf einer dpa-Meldung.

Einleitung

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dung über die Errettung der Seele getroffen. Auch in der Reformation wird die Textgruppe wenngleich unter erheblicher Bedeutungsverschiebung fortgeführt. Zunehmend rückt dabei auch der Begriff der Euthanasia, allerdings hier noch als Idealtypus des guten, sanften Todes, ins Blickfeld. Euthansia aber meint seit dem frühen 19. Jahrhundert bereits, wenngleich noch zaghaft, das aktive, bewusst in Kauf genommene lebensverkürzende Handeln des Arztes. Vor seinen dramatischen Auswirkungen auf die Moral des Arztes wird sogar eindringlich gewarnt. Unter der modernen Ars moriendi lässt sich heute vielleicht am ehesten das palliative, schützend-umhüllende und begleitende Bemühen um den Sterbenden fassen. Der Weg dorthin verläuft in den letzten Lebensjahren ganz unterschiedlich. In einer dramatisch alternden Gesellschaft mit stetig steigenden Lebenserwartungen geht immer häufiger die Verlängerung des Lebens nicht mehr einher mit einer unbeschwerten Lebensqualität. Gewonnene Lebensjahre sind in körperlicher aber auch geistiger Hinsicht vor dem Hintergrund zunehmend verbreiteter Formen der Altersdemenz immer seltener auch uneingeschränkt gute Lebensjahre. In der letzten Lebensphase sind die wenigsten Menschen noch so mobil, wie sie es selbst wünschten, chronische Krankheiten nehmen zu, immer weniger betagte Menschen kommen ohne auch nur sporadische pflegerische oder medizinische Hilfe aus, oder bewahren sich tatsächliche geistige Frische und eine natürliche Distanz zum Sterben, ohne eben dieses Sterben zugleich zu verdrängen. Das erlaubt Typisierungen, die einerseits als Marken für die Vorwegnahme der Gestaltung des Sterbens dienen mögen, für Betreuungsverfügungen und „Patiententestamente“ etwa, für Vorkehrungen zu Sterbehilfe und assistiertem Suizid. Andererseits bieten diese Typisierungen Ansatzpunkte des Forschens. Entsprechend lässt sich feststellen, wann Patienten nicht mehr kurativ, sondern palliativ behandelt werden, aber es lässt sich auch fragen, wann dieser Übergang stattfinden sollte und was er für das Sterben zu bedeuten hat. Dies verlangt zunächst ein klares Konzept von „Sterben“. So wenig, wie es einen einheitlichen Diskurs des Sterbens gibt, gibt es aber auch einen einheitlichen Begriff von „Sterben“. Wen der Mediziner als sterbenskrank ansieht und deshalb palliativ behandelt, den sieht der Seelsorger womöglich noch gar nicht so sterbensnah, der Jurist denkt eher von Gefährdungslagen her, der Psychologe vielleicht auch, aber unter ganz anderem Blickwinkel. Eine kulturell gewachsene oder gar professionell institutionalisierte Expertise in Fragen „des Sterbens“ gibt es in einer dramatisch akzelerierenden, immer stärker sich ausdifferenzierenden und vor allem sich bis hin zum Jugendlichkeitskult immer jünger wähnenden und sich gebenden Welt schon lange nicht mehr. Selbst Menschen, die Jahrzehnte mit Sterbenden gearbeitet haben, müssen sich eingestehen, nur einen kleinen, fachlich und thematisch eingeengten Ausschnitt zu kennen. Entsprechend flach kommen die zahlreichen Ratgeber und Monographien einher, sobald der Autor oder das kleine Autorenkollektiv die Basis des jeweiligen Faches verlässt, Blicke über den Tellerrand der eigenen Expertise wagt. Wer verlässliche Informationen zu einem so komplexen Thema wie dem Sterben möchte, ist auf eine Vielzahl von Experten

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angewiesen, selbst eine Leitwissenschaft scheint sich vorerst nicht herauszubilden. Nicht nur Vertreter aller klassischen Disziplinen der Universität wie Mediziner und Theologen, Juristen und Philosophen, jedes Mal noch einteilbar in unterschiedliche fachliche Schwerpunkte, kennen eigene Foren zu Aspekten des Sterbens, auch viele neuere Fächer haben sich dem Wissensfeld angenommen, Humangenetiker wie Musiktherapeuten, Psychologen wie Sozialarbeiter, Medien- wie Pflegewissenschaftler, (Gesundheits-)Ökonomen wie Soziologen, Ethnologen wie Religionswissenschaftler, Historiker, Kunsthistoriker, Wissenschaftshistoriker, Medizinhistoriker, Musik- Sprach- und Kulturwissenschaftler, Pädagogen, Risikoforscher, Sozialpädagogen, Psychologen, Psychiater und Ernährungsberater, ein wahres Panoptikum der Fachdiskurse zum Sterben, das ergänzt wird durch eine Vielzahl von Blickwinkeln, die erst in der Gestaltung des Alltags gewonnen werden (Fahrer, Techniker, Handwerker und Bastler) und wissenschaftlich noch nicht oder nur unzureichend erfasst sind. Wer genauer hinschaut, findet sogar noch Lücken in den Diskursen. Diese liegen vor allem zwischen privater Betroffenheit und staatlicher oder doch staatlich alimentierter Sorge, also im gesellschaftlichen Bereich. So haben wir in Deutschland wenig Erfahrung damit, wie große Betriebe damit umgehen, dass rein statistisch gesehen jedes Jahr Dutzende ihrer Arbeitnehmer im arbeitsfähigen Alter versterben. Sollte da niemand dabei sein, der möglichst lange arbeiten möchte, auch noch, nachdem etwa der Krebs als unheilbar diagnostiziert wurde? Niemand, der zu seiner Situation steht? Wie gehen die Firmen mit solchen Situationen um, schulen sie Vorgesetzte und beraten sie Kollegen? Haben sie dafür wie für so vieles andere ein Qualitätsmanagement? Gibt es firmeninterne Usancen, Praktiken, Erfahrungen; Hilfen für Betroffene, deren Familien, ihr Umfeld? Wie flexibel wird reagiert? Eine wissenschaftliche Verarbeitung dieser Fragen ist den Herausgebern bislang nicht begegnet und eine wissenschaftliche Stellungnahme zu möglichen Forschungsansätzen ließ sich auch nicht einholen. Wenig bearbeitet ist auch die Frage, wie kleinere Gemeinschaften damit umgehen, dass ein Freund oder ein Vereinsmitglied etwa über einen längeren Zeitraum verstirbt. Sind die Reaktionen vielfältig oder lassen sich doch klare Handlungsschemata aufzeigen, die bewusst oder unbewusst regelmäßig zur Anwendung kommen? Wir wissen es nicht. Allenfalls exemplarisch lassen sich Einsichten gewinnen, ohne Anspruch auf direkte Verallgemeinerungsfähigkeit. Geht man dagegen von den bearbeiteten Fragestellungen aus, lassen sich zwei unterschiedliche Fragenkreise unterscheiden, einerseits: Was ist Sterben? Andererseits: Gibt es ein humanes, würdiges, gelingendes, menschliches Sterben? Der erste Fragenkreis erscheint auf den ersten Blick deskriptiv zu sein, er ist es aber nicht, weil sich gar nicht so einfach beantworten lässt, was wir mit dem Begriff des „Sterbens“ meinen. Offensichtlich wird der Begriff unterschiedlich gebraucht. Gewiss ist immer der Übergang von Leben in den Tod gemeint, aber wann beginnt dieser Übergang? Ketzerisch ließe sich antworten: Mit der Geburt, gar mit Empfängnis, aber das ist damit unvereinbar, dass meist nur eine letzte Phase des Lebens als „Sterben“ bezeichnet wird, nicht das ganze Leben. Wann also setzt diese „letzte Phase“ des Lebens

Einleitung

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ein? Hier sind sehr unterschiedliche Antworten denkbar: Vom Auftreten einer noch nicht behandelbaren Erkrankung über den Moment, an dem eine an sich behandelbare Erkrankung bei diesem Erkrankten nicht mehr kuriert werden kann hin zu dem Moment, in dem diesem Erkrankten bewusst wird, dass er unheilbar erkrankt ist. Oder stirbt jemand erst in der letzten Phase einer unheilbaren Erkrankung, Minuten, allenfalls Stunden vor Eintritt des Todes, dann, wenn auch medizinischen Laien ohne Weiters ersehen können, dass das Ende eines Menschenlebens unmittelbar bevorsteht? Und wenn wir Sterben damit als Prozess ansprechen, gibt es nicht gar Menschen, die zwar verstorben sind, aber nicht gestorben, die von einem zum anderen Moment dem Hirnschlag oder dem Herzinfarkt erlagen oder einem Verbrechen oder einem Unfall zum Opfer fielen, das sie selbst gar nicht wahrgenommen haben, nicht wahrnehmen konnten: „im Schlaf vom Tode überrascht“ heißt es etwa, aber nicht: „gestorben“? Setzt „Sterben“ ein Bewusstsein beim Sterbenden um seine Situation voraus oder angesichts der zahlreicher werdenden, vor allem älteren Menschen mit ausgeprägter Demenz, zumindest eine Ahnung von der eigenen Situation? Schon individuell ist verschieden, wie wir das Sterben wahrnehmen, hinzu kommen hier wie in anderen Situationen die Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung. In den Fachdiskussionen schließlich gilt der Befund einer geradezu wuchernden Pluralität noch mehr. Es hätte die Herausgeber überrascht, wenn sich dort doch konzeptionell Einheitliches abgezeichnet hätte. Sollen wir uns unter diesen Bedingungen an den Physiologen wenden mit der Frage, wann das Sterben beginnt, den Spezilisten für Fragen gesetzlicher Krankenversicherungen, deren Leistungsspektrum sich beim Eintritt in den anerkannten Sterbeprozess ändern mag, oder den Palliativmediziner, der aus der Erfahrung heraus eine „pattern recognition“ beisteuern kann? Sind solche Sichtweisen auf den Beginn des Sterbens stark kulturgeprägt? Wie gehen zum Vergleich uns sehr fremde Kulturen mit dem Sterben um, ab wann gilt jemand als „sterbend“, gibt es das überhaupt als eigene Kategorie? Wie war es bei unseren Vorfahren? Ist „sterben“ etwas universal Gedachtes oder fest in der westlichen, gar christlichen Kultur verhaftet? Für die Zwecke dieses Handbuches erschien es nötig, den Autorinnen und Autoren eine erste Handreichung als Orientierung zu bieten, die sie aber zur Seite schieben konnten, wenn es ihre Beiträge inhaltlich erforderten. Als Sterbephase sollte grob gesprochen die Lebenszeit angesehen werden zwischen dem Übergang zu einer (potentiellen) palliativmedizinischen Behandlung und dem Eintritt des Todes. In einer ganzen Reihe von Beiträgen wird diese Sterbephase enger definiert, in einigen wenigen ausgedehnt. Dennoch lässt sich der Kern der meisten Beiträge auf die so definierte Phase beziehen. Damit werden Querverweise und auch Bezüge innerhalb des Gesamtwerkes herstellbar, ohne dass der Begriff des Sterbens damit einer eindeutigen Klärung zugeführt werden musste. Denn die gibt es, das sei noch einmal betont, nicht.

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Mit dieser leitenden Frage sachlich eng verbunden sind weitere konzeptionelle Klärungen: Wann genau ist das Ende des Sterbens erreicht, der Tod eingetreten? Lange Diskussionen prägen seit den 1960er Jahren6 die Frage um Hirntodkonzeptionen neben oder an Stelle anderer Konzeptionen, vornehmlich eines Herz-KreislaufKonzeption des Todeseintritts. Doch zeigen die Beiträge dieses Handbuches auch, dass die Unterscheidung der Todeskonzeptionen nur in wenigen Bereichen relevant wird. Das gilt offensichtlich für intensivmedizinische Betrachtungen, für Fragen der Organspende und in Grenzfällen für Fragen des Bestattungs- und Erbrechts. Anfang und Ende des Sterbeprozesses sind daher zwar fraglich wie auch die Perspektive, aus der heraus der Sterbeprozess betrachtet wird. Einzelne Beiträge des Handbuches thematisieren ausführlich die angerissenen begrifflichen Fragen und arbeiten den jeweiligen Diskussionsstand auf. Doch genügt es für die meisten Beiträge, die gewählte Perspektive offen zu legen und die anstehenden Sachfragen in den Vordergrund zu rücken. Dabei werden die Variationen zwischen den Disziplinen offengelegt. Das vorliegende Werk versteht sich also nicht als Lexikon, das für jede Frage die scheinbar eine richtige Antwort bereithält. Eine solche Werkanlage würde der Komplexität des Forschungsgegenstandes „Sterben“ nicht gerecht. Von den Fragen zur Faktizität des Sterbens sind Fragen mit offen evaluativem oder gar normativem Gehalt zu unterscheiden. Gibt es ein „gutes Sterben“, eine „Kunst des Sterbens“ gar nach dem Vorbild einer ars moriendi, die bis in die Zeiten der Aufklärung hinein den Ablauf des Sterbens bestimmte, ritualisierte? Welche Rolle spielt dabei die Menschenwürde, welche spielen Autonomie und Fürsorge? Wie schließlich wirkt das Bild eines guten, humanen, würdevollen, gelingenden Sterbens auf die Wahrnehmung des Sterbevorgangs zurück, welche organisatorischen, institutionellen und rechtlichen Vorkehrungen wären zu treffen, wie sind Menschen auszubilden, die mit Sterbenden zu tun haben, um ihnen ein Sterben zu ermöglichen, das als „gut“, „angemessen“ oder „würdig“ angesehen werden kann? Wie wirken die Erkenntnisse aus der Sterbeforschung schließlich in die Diskussionen um den Inhalt solcher werthaltigen Begriffe wie „Würde“ oder „Menschenwürde“, „Autonomie“ oder „Fürsorge“ zurück? Welche Anforderungen stellen wir an uns als Angehörige und Freunde sterbender Menschen? Wie gehen wir mit unserem eigenen Sterben um? Welche Möglichkeiten und Hilfen gibt es?

6 Die erste eigenständige Veröffentlichung zum Hirntod in Deutschland dürfte auf eine Bonner medizinische Habilitationsschrift aus dem Jahre 1969 zurückgehen: C. Käufer, Die Bestimmung des Todes bei irreversiblem Verlust der Hirnfunktionen. 1971. Aus derselben Zeit stammt die Bonner medizinische Dissertation: S. Schmincke, Probleme der Hirntoddiagnostik bei Organtransplantationen, medizinische, ethische und juristische Aspekte, 1971. Von dieser Ausnahme abgesehen finden die Diskussionen um die ethischen und juristischen Aspekte des Hirntodes erst nach 1990 eine breitere publizistische Basis; die deutschsprachigen Diskussionen wurden bis dahin in Fachzeitschriften sowie innerhalb der Ärzteschaft standesrechtlich geführt.

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Beide Diskussionen, die vermeintlich bloß faktische und die evaluative sind im öffentlichen, künstlerischen, publizistischen, schöpferischen und häufig auch im wissenschaftlichen Umgang mit dem Sterben miteinander verflochten. Das wird besonders deutlich bei Themenfeldern wie Sterbehilfe und assistierter Suizid, Umgang mit sterbenden Demenzkranken und Appalikern, der Begleitung sterbender Kinder. Diese Fragen werden in der Öffentlichkeit verstärkt erst im letzten Jahrzehnt wahrgenommen.7 Wegen dieser Verflechtungen zwischen den Fragenkreisen ist das vorliegende Werk deshalb nicht entlang einer Grenze zwischen Faktizität und Normativität aufgebaut. Vielmehr verfolgt es das Ziel, relevante Fragen des Sterbens in der modernen Gesellschaft in ihrer Breite aufzufächern, sie in einer Tiefe darzustellen, die interdisziplinär Auskunft gibt, deshalb eine klare und verständliche Sprache pflegt, aber nicht glättet, wo Brüche sichtbar wurden. Dem entspricht die Idee eines multidisziplinären Handbuchs, in dem die unterschiedlichsten Disziplinen und praktischen Einsichten zu Wort kommen. In Deutschland über das Sterben zu schreiben ist – besonders für die Generationen der über 50-Jährigen mit schwerer historischer Last beladen. Das historische Bewusstsein, im Land der Planer, Täter und Akklamateure des Holocausts mit sechs Millionen Ermordeten in nahezu ganz Europa zu leben und das Wissen um den als „Euthanasie“ verbrämten hunderttausendfachen Massenmord an Kranken hat dem Schreiben über das Sterben, über den Weg zu ihm und mit ihm, über die Begleitung beim Sterben und auch dem Diskurs über die Hilfe zum Sterben in diesem Land jede Unbefangenheit genommen. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, ruft uns die 1944 verfasste Todesfuge von Paul Celan (1920-1970) unauslöschbar in Erinnerung. Das ist in vielen Beiträgen dieses Bandes zu spüren, und die Herausgeber haben diesem Umstand auch durch zwei Beiträge über die Vordenker einer ungebremst mörderischen Euthanasie und über Akteure des Krankenmordes in Deutschland und den von ihm annektierten oder besetzten Gebieten zwischen 1939 und 1945 Rechnung getragen. Eine Geschichte des Sterbediskurses in Deutschland nach den Erfahrungen des Holocausts allerdings müsste noch geschrieben werden. Sie konnte noch nicht Eingang in diesen Band finden. Hier bleiben Rechnung und Auftrag offen. Gleiches gilt allerdings für deutsche Wege aus der Befangenheit in Diskursen über das Sterben, nicht im Sinne des Abschüttelns einer zu schwer oder zu fremd gewordenen Last, sondern durch neues und tieferes Nachdenken über Menschenwürde im Zusammenhang mit dem Sterben. Dies scheint heute um so wichtiger, als allenthalben spürbar wird, wie manchen zeitgenössischen Philosophen die Menschenwürde selbst und der Diskurs über sie wieder zur Last zu werden scheint, und dies in einem

7 Der älteste Eintrag in der Deutschen Nationalbibliothek zu den Schlagwörtern „Demenz“ und „Sterben“ datiert aus dem Jahre 2003, die Hälfte der stark 100 Einträge zu „Sterben“ und „Kind“ datiert aus dem Jahren ab 2000, die übrige Hälfte aus drei Jahrzehnten davor. Die verschiedenen Fachdebatten sind älter.

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Land, das die Menschenwürde leitend in sein Grundgesetz aufgenommen hat. Als ob nicht der achtlose Umgang mit Menschenwürde in unserer Zeit, auch und gerade im Hinblick auf das Sterben, schon Last genug wäre. Die neuen Probleme mit der philosophisch jedenfalls seit Kant fassbaren Menschenwürde mögen dabei aus dem Konflikt mit einer zweiten Wertkategorie herrühren, der zunächst paradox erscheinen mag, aus dem Konflikt mit der Autonomie. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass gerade der Autonomie im Hinblick auf das „selbstbestimmte“ Sterben heute ein erhebliches Konfliktpotential innewohnt. Autonomes, selbstbestimmtes Sterben hat dieses Potential insbesondere dann, wenn es nicht mehr in den eigenhändig ausgeführten Suizid münden kann, sondern der Assistenz oder Sterbehilfe bedarf. Auch dieser Problemkreis leuchtet in einer Reihe von Beiträgen auf. Die Herausgeber haben versucht, die Vielgestaltigkeit der Perspektiven auf das Sterben und unter den derzeitigen Bedingungen die Vielgestaltigkeit des Sterbens im Handbuch abzubilden. Das erforderte neben der angesprochenen inhaltlichen Offenheit eine übersichtliche Gliederung. Wir haben uns entschlossen, die begriffliche Arbeit zu den Fragen des Sterbens und der Maßstäbe gelingenden Sterbens wie vor allem der Menschenwürde voranzustellen und danach die zwischenmenschliche Einbindung des Sterbens facettenreich abzubilden. Dabei folgt der Aufbau gewissermaßen einer Zwiebel, vom Fokus auf den Sterbenden über die Nähebeziehungen zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Das Handbuch unterscheidet also zwischen der Begleitung der Sterbenden einerseits und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen andererseits, diese Themen bilden den zweiten und den dritten Hauptteil des Handbuches mit mehr als der Hälfte aller Beiträge. Diese Bedingungen wirken alle auf die Situation Sterbender zurück, der wir den ersten Hauptteil widmen. Dabei lassen wir aus naheliegenden Gründen nicht Sterbende selbst zu Wort kommen, sondern nehmen die Fokussierung auf die Sterbenden ernst. Die Beiträge des ersten Hauptteils sollen zunächst in den Stand der medizinischen Forschungen zu den Sterbeabläufen einführen, in Fragen der Physiologie, der Apoptose, des Multiorganversagens und der palliativmedizinischen Erfahrung über Sterbeabläufe. Kontrastiert wird dieses Set von Beiträgen durch eine Abhandlung über „Indigenes Wissen“ zu Sterbeabläufen. Interdisziplinär betrachten wir dann die Perspektive Sterbender, bereits eingebunden in ihre soziale Umgebung. Themen sind ungelebtes Leben, Autonomie und Fürsorge. Die Autoren und Autorinnen stammen aus den vier klassischen Disziplinen der Medizin, Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft (und überschreiten diese Grenzen teilweise bereits in ihren Forschungen). Stark auf die psychische Befindlichkeit Sterbender zugeschnitten ist der nächste Abschnitt mit sich ergänzenden Beiträgen über die Reaktionsformen im Angesicht des eigenen Sterbens, der in einer sozialphilosophischen Betrachtung über den „Suizid in der gesellschaftlichen Rückkoppelung“ sein Echo findet. Der erste Hauptteil zum „Sterbenden vor dem Hintergrund der heutigen Medizin“ nimmt abschließend den Vorlauf in das eigene Sterben in den Blick. Sieben Beiträge

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widmen sich Fragen von Demenz, Wachkoma und Vorsorgemöglichkeiten. Neben Geriater, Palliativmediziner und Intensivmediziner kommen Vertreter der Medizinethik und der Rechtswissenschaften zu Wort, der auch skizziert, wie weit wir um unsere eigenen Befindlichkeiten in einer Sterbesituation jetzt schon wissen und wie wir uns ihnen gegenüber rational verhalten können. Gegenüber diesem stark theoretisch gefärbten ersten Hauptteil kommen im zweiten Hauptteil vermehrt erfahrene Praktiker mit theoretischem Hintergrund zu Wort, wobei klinische Mediziner Praxis und Theorie ohnehin täglich verbinden. Die Autorinnen und Autoren beschreiben etwa die Situation des Sterbens an den verschiedenen Sterbeorten wie Spezialisierte Ambulante Pflegestation oder Hospitz sowie die Arbeit mit Sterbenden aus Sicht von Seelsorge, Palliativpflege und Sozialstation, sie beschreiben den Abschied vom Sterbenden in typischen und weniger typischen Situationen und gehen beispielsweise auf die Möglichkeiten und Erfolge der Musiktherapie ein. Schließlich evozieren sie in lebhaften Bildern die Bedingungen und Notwendigkeiten bei der zufälligen Begegnung mit Sterbenden als Notfallseelsorger, Notfallmediziner und aus der Sicht der Polizei, im Bemühen, den Sterbenden auch in diesen Situationen ein letztes Stück Würde zu wahren. Daneben kommen stärker theoretisch angelegte Beiträge in den drei Abschnitten dieses Hauptteils zum Abschied, zur Fürsorge und ihrer Grenzen und zur ungebremsten Konfrontation mit dem Sterben nicht zu kurz. Hier finden sich dann auch wieder deutlich auf unterschiedliche Menschenwürdeargumentationen bezogene Beiträge etwa zur Sterbehilfe oder zum Nervenkitzel öffentlicher Lebensgefahr. Der dritte Hauptteil führt uns vollends in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Sterbens. Er beginnt mit dem „Normalfall des Sterbens“, thematisiert diesen aus ökonomischer und rechtlicher Perspektive und nimmt die Vorwirkungen des Todseins in den Blick, die gesellschaftlich vorgegeben werden und von denen Abweichungen nur im rechtlichen und theologischen Rahmen möglich sind. Hier wird auch die Möglichkeit diskutiert, für sich neue Rituale des Betrauert- und Erinnertwerdens festzulegen. Im Fokus der Öffentlichkeit und der Wissenschaft stehen diese Perspektiven auf den Normalfall des Sterbens nur selten, sie verdienten aber wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Überproportional prominent finden sich dagegen in der öffentlichen wie der wissenschaftlich-theoretischen Debatte Beiträge zu gesellschaftlich geschaffenen Sondersituationen des Sterbens, die Gegenstand des zweiten Abschnittes in diesem Hauptteil zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind. Hier geht es um die gesellschaftliche Einbettung und Ausformung von Sterbehilfe und Suizidbeihilfe und zum Sterben im staatlich verantworteten Raum bis hin zum Sterben in der derzeit intensiv diskutierten Sicherungsverwahrung. Aber auch das stille Sterben Wohnungsloser im öffentlichen Raum und im Obdachlosenasyl wird im Handbuch plastisch präsentiert. Hier sind die Bezüge zur Menschenwürde jeweils evident. Schließlich widmet sich das Handbuch der medialen, kulturellen und wissenschaftlichen Umsetzung des Sterbens. Hierzu ergibt erst die Gesamtheit der Bei-

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träge ein Bild der gesellschaftlichen Umstände wie der Reflexion. Entsprechend weit fächert sich die Darstellung im Handbuch auf. Das Handbuch ist dem Thema „Sterben und Menschenwürde“ gewidmet, nicht dem Thema „Tod und Menschenwürde“ und auch nicht dem Thema „Sterben und Tod“. So sehr auch das letzte Themenfeld in einzelnen Beiträgen präsent ist, sie fügen sich in die Gesamtthematik des Bandes, für das der Tod nur der Endpunkt des Sterbens, nicht aber (notwendig) sein Fluchtpunkt ist. Diese thematische Selbstbeschränkung dient nicht nur der Fokussierung auf das Sterben, sie trägt auch dem Umstand Rechnung, dass die fast schon populär gewordene Wendung vom „Sterben als Vorlaufen in den Tod“ philosophischer Reflexion entspringen mag, aber selbst dort längst wieder umstritten ist: Die Reflexion über das Sterben mag auch wieder auf das Leben, das ungelebte Leben zumal, zurückverweisen, worauf schon Ernst Tugendhat hinwies. Die Sentenz mag zudem dazu beigetragen haben, den Blick der Wissenschaft für eine eigenständige Sicht auf das Sterben als – wenngleich finalen – Teil des Lebens zu verstellen. Soweit in diesem Handbuch der Tod oder gar die Zeit nach dem Tod bedacht wird, geschieht dies als Gestaltungsmöglichkeit zu Lebzeiten. Das Projekt des Handbuchs ist Teil des Unterfangens der Universität Heidelberg, im Rahmen der Exzellenzinitiative I eine breite interdisziplinäre wissenschaftliche Arbeit zu ermöglichen und zu dokumentieren. Die beiden Herausgeber und zahlreiche Autorinnen und Autoren waren und sind Fellows des Marsilius-Kollegs der Universität. Wir danken für die damit geschaffenen Arbeitsmöglichkeiten. Diese Rahmenbedingungen haben es uns erleichtert, neben praktisch allen Kapazitäten der Heidelberger Universität auch hervorragend ausgewiesene Kenner aus dem In- und Ausland für Originalbeiträge zu gewinnen. Nur in drei Fällen haben wir auf ein anders Vorgehen zurückgegriffen: Wir drucken den bereits angesprochenen Beitrag zur Debatte um das Sterben von Ernst Tugendhat (2001), der (unter dem missverständlichen Titel „Über den Tod“) selbst auf einen fünf Jahre älteren Vortrag zum Thema zurückgeht und die intensive Diskussion über das Sterben in seinen vielen Facetten eine eigene Fundierung verlieh. Eine Wiederveröffentlichung wird auch dem wichtigen Beitrag des Basler Medizinethikers Yves Nordmann über Sterben in jüdischer Perspektive zuteil. Dieser nachhaltig aufklärende Beitrag fand vor wenigen Jahren im Deutschen Ärzteblatt zuerst sein Lesepublikum. Den wichtigen Beitrag, den die Selbsthilfegruppen Betroffner zu einem menschenwürdigen Sterben leisten, versuchen wir in einem Interview einzufangen, weil jeder Tätigkeitsbericht kaum mehr als zufällig erschienen wäre. Der besondere Dank der Herausgeber gilt einer Gruppe von Freunden und Kollegen, ohne deren Ideen und Hilfen dieses Handbuch nicht hätte entstehen können. Dem Alternsforscher Andreas Kruse sei für den Vorschlag gedankt, das Thema „Menschenwürdig sterben“ überhaupt einmal durch ein Handbuch behandeln zu lassen. Es gibt Handbücher zu den verschiedensten Lebens-, Wissens- und Handlungsbereichen, bislang aber keines, das die Forschung zum Sterben in ihrer Breite mit ausgewählten Praxisberichten vereint. Wir haben Kruses Vorschlag vor nunmehr fast vier

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Jahren in der Fachgruppe „Menschenwürde am Lebensende“ des interdisziplinären Forums Bio- und Kulturwissenschaften der Universität Heidelberg sofort angenommen und aufgegriffen. Dass genau diese Untergruppe bestand, geht auf die Initiative des Theologen Wilfried Härle zurück, der stets hervorgehoben hat, wie wichtig der Bereich des Lebensendes für die Reflexion über Menschenwürde ist. Die beiden Mediziner der Gruppe, der Kliniker und Palliativmediziner Hubert Bardenheuer und der Medizinhistoriker Wolfgang Eckart haben beide von vornherein betont, wie bedeutsam die Begegnung der Wissenschaften auf Augenhöhe gerade bei Fragen des Umgangs mit Sterbenden ist. Das betrifft sowohl die tatsächlichen Abläufe wie auch deren Evaluation und die normative Einbindung, die alle selbst wieder in den kulturellen Gesamtzusammenhang einwirken und von dort Impulse beziehen. Die Geistes- und Sozialwissenschaftler in der Gruppe, der Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel, der Ethnologe Jürg Wassmann und der Jurist und Philosoph Michael Anderheiden haben deshalb ihre jeweiligen Fächer als thematisch bedeutsam begriffen und auch versucht, den Blick über ihre Fächergrenzen hinaus zu lenken und nach ExpertInnen des Themas Ausschau zu halten; mit Erfolg, wie sich nunmehr zeigt. Die wesentliche Last der Arbeit am Handbuch lag bei den Autorinnen und Autoren, der Redaktion um Eva Schmitt8 und den beiden Herausgebern. Insbesondere unserer Redakteurin, ohne deren Energie, Sorgfalt und die buchstäblich sorgende Wachsamkeit einer Tigermutter über mehr als 100 AutorInnen und Handbuchbeiträge das Handbuch nie zur Verlagsreife gelangt wäre, gilt unsere tiefe Dankbarkeit. Für ihre umsichtige und wichtige Unterstützung danken wir auch Roxolana Bahrjanyj, Ingrid Baumbusch, Corinna Becher, Douglas Fear (für die Übersetzungsarbeiten), Sandra Hell und Markus Teubner. Schließlich, und deshalb auch an exponierter Position der Einleitung, gilt unser Dank der Heidelberger Exzellenz-Universität und ihrem Marsilius-Kolleg. Beide haben den Herausgebern Heimat gewährt, ihnen auch in schwierigen Arbeitsphasen den Rücken gestärkt und endlich auch materiell das Erscheinen des Handbuchs im De Gruyter Verlag ermöglicht. Die Herausgeber hoffen nun, dass trotz der naturwüchsigen Lasten des Themas die Lesefreude an den hier versammelten Beiträgen besonders hoch sein wird und als Lesefrucht den Informationserwartungen des Publikums entspricht. Heidelberg, Ostern 2012 Michael Anderheiden

Wolfgang Uwe Eckart

8 Romanistin (M.A.) und Kunsthistorikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin in Heidelberg.

1. Vorklärungen

Wolfgang Uwe Eckart

1.1 „Sterben“: Ereignis und Prozess Abstract: Aus biologischer Perspektive ist der Tod kein außergewöhnlicher Vorgang. Er markiert das definitive Ende der funktionalen biologischen Existenz und ist unumkehrbar. Immer steht er am Ende des biologischen Sterbeprozesses. Dieser Prozess der funktionalen biologischen Desintegration kann lang sein oder sich im Falle plötzlicher destruktiver Gewalteinwirkung auf den Körper in Bruchteilen von Sekunden vollziehen. Jenseits solch extremer Ereignisse ist der biologische Ablauf des Sterbens bei allen Lebewesen allerdings gleich. Wichtige Zellen des Körpers erhalten zu wenig oder gar keinen Sauerstoff und sterben deshalb ab, Organe versagen aufgrund von Sauerstoff- und Energiemangel, Gewebe desintegrieren. Scheinbar paradox ereignet sich der Tod des Menschen in einem solchen Prozess der körperlichen Desintegration und Devitalisation allerdings, ohne dass sein Zeitpunkt im Nachhinein exakt feststellbar wäre. Unzweifelhaft ist sein Faktum, etwa beim Einsetzen von Verwesungsvorgängen, fraglich allerdings sein Eintritt. Unsere Todesdefinitionen suggerieren hier nur scheinbare Sicherheit. Sie sind dabei so veränderlich wie das biologische Erscheinungsbild des funktional sterbenden Organismus. Bis 1968 war weltweit anerkannt, dass der Mensch dann tot ist, wenn sein Herz-Kreislauf-System unwiderruflich versagt hat. Seit die Harvard Universität 1968 vor dem Hintergrund des technisch sicheren Herz-Kreislauf-Ersatzes und dem Entscheidungsdruck angesichts einer proliferierenden Transplantationsmedizin den Hirntod als neue Todesdefinition eingeführt hat, sind die Dinge noch komplizierter geworden. Der historischen Genese dieses Problems und den Konsequenzen, die sich aus ihm ergeben, will dieser Beitrag nachgehen. From a biological point of view, death is not an unusual process. It marks the absolute end of functional biological existence and is irreversible. It is always the end point of the biological process of dying. This process of functional biological disintegration can be long, or it can take place within fractions of a second, in cases of sudden destructive effects of force on the body. But, apart from such extreme events, the biological course of dying is the same for all organisms. Important body cells receive too little or no oxygen and therefore die, organs fail owing to a lack of oxygen and energy, tissues disintegrate. Apparently paradoxically, the death of man takes place in such a process of bodily disintegration and devitalization, but without us being able to establish the exact point in time afterward. The fact is undoubted; questionable, however, is when it actually occurs. Our definitions of death suggest only an apparent certainty in this regard. They are as changeable as the biological appearance of the functionally dying organism. Until 1968, the irreversible failure of the circulatory system was recognized worldwide as the certain sign of death. But since Harvard University introduced brain death as the criterion in 1968, against the background of technically viable

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artificial circulatory systems (“heart-lung machines” and the like) and the increasing pressure on decision-making in view of the proliferation of medical transplantation, things have become considerably more complicated. When does the process of dying begin, thus becoming an event, when does it finish, ended by the event of death? What problems and consequences result from the answers to these questions? Keywords: Agonie, Geschichte des Sterbens, Geschichte des Todes, Desintegration, Devitalisation, Todesdefinition, Todeszeitpunkt, Transplantationsmedizin

Prof. Dr. med. Wolfgang U. Eckart, [email protected], Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität, Im Neuenheimer Feld 327, 69120 Heidelberg

„Die Natur zwingt uns zu sterben. Verlaßt diese Welt, sagt sie, wie ihr in sie eingetreten seid. Denselben Weg, den ihr ohne Furcht und Schrecken vom Tod zum Leben gegangen seid, geht ihn zurück nun vom Leben zum Tod! Euer Tod ist ein Teil der Ordnung des Alls, er ist ein Teil des Lebens der Welt.“¹ Michel de Montaigne (1533 – 1592)

Sterben ist bis weit in die Neuzeit der unmittelbare Übergang vom Leben zum Tod. Prozesshaftes ist ihm zunächst nur insofern zueigen, dass vor dem Hintergrund des ganzheitlichen Konzepts der Säftelehre ein allmähliches oder plötzliches Entgleiten der Säftemischung aus ihrem Gleichgewicht aus der zunehmenden Krankeit in den Tod führt. Allenfalls der Kampf um das sich dem Ende zuneigende Leben, die Agonie (gr. ஬ˠ˶˪˜˞, Qual, Kampf) wird konstatiert, aber er ist noch nicht das Sterben, sondern letzter Teil der zum Sterben führenden Krankheit des „Sterbenden“. In Zedlers „Großem vollständigen Universal-Lexicon“ (1744) heißt es hierzu: „Sterben […] heißt gemeinhin und in natürlicher Betrachtung soviel als aufhören zu leben. Von den Thieren insonderheit wird es gesagt, wenn der Umlauff des Geblütes und der Lebens-Säffte aufhöret: gleichwie der Mensch alsdenn stirbt, wenn sich die Seele vom Leibe scheidet.“²

Aber der Schein trügt, so zeigt sich bereits im folgenden Artikel über den „Sterbenden“, denn der Moribunde, dem Tode geweihte Mensch, weist bereits eine Sonderform der Krankheit auf, die nicht mehr zum Leben, sondern nur noch zum Tode führen kann. Die Krisis, der Scheideweg der Krankheit liegt, ganz im hippokratischen

1 Montaigne (2008), S. 51 – 52. 2 Zedler (1744), Sp. 1930.

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Sinn, bereits zurück, und sie hat auf einen Weg geführt, der nur noch zum Sterben und dem unmittelbar nachfolgenden Zustand des Todes führt. „Sterbender“ nämlich, „Heißt derjenige, welcher in seiner Kranckheit so weit gekommen, dass ihn, wie man zu sagen pfleget, der Tod auf der Zunge sitzet, dass er in den letzten Zügen lieget, und jedermann versichert ist, dass er in rechtem Ernst die Zeitlichkeit verlassen wolle, da man denn nichts mehr wünschet, als dass er sanfte sterben möge.“³

Sanft aber ist das Ableben des Sterbenden keineswegs immer. Bei manchen ereignen sich „vor dem Ende gewaltsame und convulsivische Bewegungen des Leibes, die Brust röchelt heftig, die Glieder werden gezuckt und die Augen, verdrehet, und der Leib wirft sich hin und her“. Hier ist Hilfe angesagt, einerseits um den „Tod“ zu „erleichtern“, andererseits aber auch, damit er „beschleunigt und der Qual ein Ende gemacht“ werde. Dieses geschehe, so schreibt Zedler, indem man dem „Sterbenden die Küssen unter dem Bette hervor“ ziehe.⁴ Was aber ist dann der Tod bei den Lebewesen? Hier definiert Zedler zunächst ex negativo, indem er den Tod als „Endschafft oder das Aufhören des Lebens“ beschreibt, auf das Schicksal des „Sterbenden“ also zunächst gar keine Rücksicht nimmt. Sterben, also der Tod, ist somit das Ende des Lebens ohne jeden prozessualen Charakter. Im Detail allerdings präzisiert der Autor dann doch, indem er beschreibt, dass „insbesondere bey den Thieren […] der Tod eine gänzliche Auflösung der Gewercke, woraus der Körper zusammengetzet, oder [sic!] ein Stillstand des Umlauffs des Geblüts oder der LebensSäffte“ genannt werde.⁵

Unklar bleibt bei dieser Definition zumindest der Zeitraum zwischen dem Beginn der „Auflösung der Gewercke“ und der Vollendung dieses Prozesses, also der „gänzlichen Auflösung“. Unter „Gewercken“ versteht Zedler sicher im Gemeinsinn seiner Zeit das Zusammenspiel der organisch-morphologischen Strukturen des Körpers, deren Versagen sich ja auch bereits lange vor dem „Sterben“ als Aufhören des Lebens und Schritt in den Tod vollziehen kann. Ihre gänzliche Auflösung würde im modernen Sinne der Verwesung entsprechen. Interessant ist das dritte Kennzeichen des Todes, das Zedler aufführt, nämlich „das Abscheiden der Seele von dem Leibe, aus Mangel der Wärme, und der Bewegung“.⁶ Man kann also festhalten: Sterben ist für den deutschen Lexikographen Zedler 1744 / 45 der Moment der Trennung der Seele vom Körper. Mit ihm tritt der Tod ein. Er wiederum ist gekennzeichnet durch den Stillstand des Kreislaufs und die „Auflösung der Gewercke“ des menschlichen Körpers. Diese Definition ist

3 4 5 6

Zedler (1744), Sp. 1935. Zedler (1744b), Sp. 1935. Zedler (1745), Sp. 623. Zedler (1745), Sp. 623.

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ihrem Charakter nach auch forensisch verwertbar. Retrograd nämlich bedeutet sie: Ein Mensch, dessen „Gewercke“ sich „aufgelöst“ haben, ist tot. Der Tod ist zuvor eingetreten durch das Versagen des Kreislaufs, bei dessen Ereignis sich die Seele vom Körper geschieden hat. Zedlers Wissen um Sterben und Tod in der ersten Hälfte des 18.  Jahrhunderts reflektiert den noch spärlichen organphysiologischen und pathophysiologischen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft seiner Zeit. Andererseits deutet sich in der durchaus differenten Beschreibung von „Sterben“ als Zeitpunkt des Todeseintritts und des „Sterbenden“ als Menschen in Agonie vor dem Tod ein Wissen um den prozessualen Charakter des Krankseins auf den Tod hin an. Für Johann Georg Krünitz, den Verfasser der aufgeklärten Oekonomischen Encyklopädie, ist der Tod 1844 bereits ganz von der Erregungsphysiologie des 18. Jahrhunderts geprägt: „[…] die Auflösung des physischen Seyns bei jedem thierischen Geschöpfe, nachdem der Lebensgeist, beim Menschen die Seele, daraus entwichen ist; er ist dann das Erlöschen der thierischen Wärme, nebst der damit innigst verbundenen Erregbarkeit, welche dem Willen nicht mehr gehorcht, und diesen zur Einstellung aller Lebensverrichtungen zwingt, womit das Wirken für diese Welt aufhört.“⁷

Dabei orientiert sich Krünitz vor allem an Heinrich Nudows „Versuch einer Theorie des Schlafs“ (1791), in der der Königsberger versucht hatte, Ähnlichkeiten zwischen Tod und Schlaf zu beschreiben. Nudow ist anders als Krünitz allerdings noch überwiegend kartesianisch geprägter Mechanist, wenn er den natürlichen Sterbeprozess und den ihm folgenden Tod im Grunde als Abnutzung der menschlichen Maschine zum Tode beschreibt: „Es ist ein Aufhören aller Lebensverrichtungen durch das Alter, ein Stillstand der Maschine, durch den höchsten Grad ihrer Abnutzung, indem alle Reize und ihre Wirkungen auf die Muskeln und Nerven aufhören, und sich dieses Aufhören nach und nach durch das zunehmende Alter einfindet, so daß der höchste Grad der Trockenheit und Verknöcherung der Maschine ihre weitern Funktionen in Ruhe setzt, das heißt, der Geist seinen Willen auf die Maschine nicht mehr zu deren Thätigkeit anwenden kann, und sie daher verlassen muß, also der Tod eintritt. Die Maschine oder der Körper hat seine ihm vorgesteckten Stadien (das Ziel seines Lebens, nach den Gesetzen der Natur) zu durchlaufen, ihr Stillstand ist der natürliche [Tod].“⁸

Wenig mehr als hundert Jahre später zeigt sich, dass nun – vor dem Hintergrund einer naturwissenschaftlich geleiteten Physiologie und Pathophysiologie, die bereits Stoffwechselprozesse kennt, auch dem Sterbeprozess selbst viel größere Aufmerksamkeit

7 Krünitz (1844), S. 401. 8 Nudow (1791), S. 271.

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gewidmet wird als noch 1744 / 45. So markiert der Tod in Pierer’s Universal-Lexikon 1863 das „Ende des individuellen Lebens“ und damit einen „Zustand“, in dem der „[…] Organismus des Individuums durch das Aufhören des normalen Stoffwechsels u. der auf demselben beruhenden Lebensprocesse der ihm innewohnenden, ihn erhaltenden Kräfte u. dadurch seiner Selbständigkeit verlustig wird, somit als Individuum zu bestehen aufhört u. in seine Grundstoffe zu zerfallen beginnt.“⁹

Einem schnellen Tod geht keine „längere Krankheit“ voraus, ein langsamer Tod vollzieht sich im Todeskampf (Agonie), ein natürlicher Tod vollzieht sich durch eine „in dem natürlichen Wege eintretende Krankheit“, ein „widernatürlicher“ durch Gewalt oder anderen Schaden (Gift) von außen. Durch den Tod wird der Mensch zur Leiche. Vor diesem komplexeren Hintergrund verdichtet sich auch das Sterben als ein zu beobachtender Prozess. Sterben ist für Pierer nun nicht mehr der Eintritt des Todes selbst, sondern der im Detail zu beobachtende und zu beschreibende Prozess, der den „Übertritt aus dem Leben in den Tod“ über einen gewissen Zeitraum kennzeichnet. Der Prozess kann kurz oder lang sein und muss nicht alle Charakteristika aufweisen, aber doch die meisten derer, die Pierer aufführt: Erschlaffen der Muskelkräfte, allgemeine Mattigkeit, eigenes Vorgefühl des Todes, schwindendes Bewusstsein, schneller oder schwacher Herzschlag, schwacher, unregelmäßiger Puls, Erlöschen des „Lebensturgors“, Todesschweiß, Todesangst, Todesröcheln, Brechen der Augen, „irres Umsichgreifen (Flockenlesen)“, Schwinden der Wärme, kaltes Atmen. Als Leiden allerdings will Pierer das Sterben nicht mehr betrachten: „Im Allgemeinen ist aber das S. kein Leidenszustand, ja kann selbst als Gefühl der Beseitigung eines vorhergegangenen Leidens erfreuend sein. Mit dem letzten Athemzuge wird das Leben als entwichen u. der Mensch als gestorben erachtet. […] Gleichzeitig hat nun auch das Herz zu schlagen aufgehört. Der Körper ist gefühllos u. die Reizbarkeit nur noch durch Einwirkung starker u. ungewöhnlicher Reize anzuregen. Alle noh rückständige Röthe der Haut verschwindet, zugleich allmälig alle Körperwärme, die Glieder strecken sich, […] der Körper erstarrt u. der als Tod dem Leben entgegenstehende Zustand ist völlig eingetreten.“¹⁰

Pierer ist zwar noch von vitalistischem Gedankengut (Lebensturgor, Reizbarkeit) beeinflusst, aber das Sterben ist ihm auch bereits ein naturwissenschaftlich-pathophysiologisch beobachtbarer Prozess (Wagner, 1857; Hasselt, 1862). Zur Krankheit, die schließlich den Weg zum Tode gewiesen hat, gehört er als Erlösung vom „Leiden“ allerdings meist schon nicht mehr. Damit hat immerhin der Sterbeprozess eine Sonderrolle im finalen Krankheitsgeschehen des Menschen.

9 Pierer (1863), S. 637. 10 Ebd.

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Was sich in Pierer’s populärwissenschaftlicher Rezeption des Sterbeprozesses hinsichtlich des langsamen Erliegens der Stoffwechselprozesse und der Lebenserscheinungen bereits andeutet, ist in den lexikographischen Behandlungen des Sterbens bereits wenige Jahrzehnte später manifest, auch wenn beim Lemma „Sterben“ häufig auf das des „Todes“ verwiesen wird. So etwa geschieht es in Meyers Großem Konversations-Lexikon 1909. Dort heißt es zum „Sterben“ nach Verweis auf den „Tod“: „Tod [ist] der endültige Stillstand des Lebensprozesses und das Aufhören der äußerlich wahrnehmbaren Lebenserscheinungen. Gewöhnlich betrachtet man als den Moment des Todes denjenigen, in dem die Atmung sistiert. Doch lehrt die tiefere Betrachtung, dass T[od] durch eine so scharfe Grenze voneinander nicht geschieden sind: die Herzschläge können den letzten Atemzug überdauern, die Muskeln noch lange erregbar für künstliche Reize bleiben, und auch andere Organe, wie z.B. der Darm, können für eine gewisse Zeit Lebenserscheinungen zeigen.“¹¹

Hier wird nun also deutlich von der zeitlichen Punktialität des Todes-Momentes zugunsten eines prozesshaften Geschehens Abschied genommen. Das Sterben zum Tode ist ein Prozess, auch wenn das zeitlich verzögerte Absterben bereits dem Tod zugeordnet wird. Diese Tendenz verstärkt und differenziert sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte deutlich. So findet sich zwar auch in der bemerkenswerten Übergangsausgabe des Großen Brockhaus von der Weimarer Republik in die nationalsozialistische Diktatur 1934 unter dem Lemma „Sterben“ wiederum der Verweis auf das Lemma „Tod“, doch geht es in diesem Lemma nun nicht mehr allein um Todes-Definitionen, sonderg ganz dezidiert um den sich in Stufen gestaltenden Sterbeprozess. Der Tod, so wird zunächst definiert, ist „das endgültige Aufhören jeglicher Lebensäußerungen eines Organismus“, aber schon wenig später wird in einem eigenen Absatz auf die „Vorgänge beim Sterben“ verwiesen. Hier geht es nun erstmals ganz deutlich um einen kaskadenartigen funktionalen Prozess und nicht mehr um ein Ereignis. Beim Sterben „[…] fällt gewöhnlich eine der lebensnotwendigen Funktionen zuerst aus, und infolge dieses Ausfallens hören dann die übrigen Lebenstätigkeiten, die ja alle aufeinander angewiesen sind, in bestimmter Reihenfolge auf. Nach den Ausgangsstellen des T[odes] spricht man von Herztod, Gehirntod (langsame Lähmung oder schneller Gehirnschlag, Schlagfluß, Apoplexie) oder Lungentod (Stickfluß, Erstickung, Asphyxie bei Lungenerkrankungen oder Lähmung des Atemzentrums). Nach den Sterbeerscheinungen lässt sich ein einfacher Erschöpfungstod mit langsamer Entwicklung des Sterbens aus krankhaften Zuständen von einem T[od] im Todeskampf (Agonie) unterscheiden. Das Sterben kann sich tagelang hinziehen, aber auch beim plötzlichen und dann häufig unvermuteten T[ode] auf Bruchteile einer Minute beschränkt sein (Sekundentod).“¹²

11 Meyers (1909), S. 584 – 585. 12 Brockhaus (1934), S. 725 – 726.

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Bemerkenswert für die Technik der Lexikographie ist der Umstand, dass sich bestimmte Aussagen über zentrale Lemmata, die nur langsamen Veränderungsprozessen unterliegen, oft über mehrere Folgeausgaben nahezu unverändert halten, also fortgeschrieben werden. So ist dies auch im Falle des Lemmas „Tod“ und des Sublemmas „Sterben“ in den späteren Ausgaben des Brockhaus. Noch in die siebzehnte Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie wird so etwa die Beschreibung des Sterbeverlaufs übernommen, die damit 1973 noch fast identisch mit der des Jahres 1934 ist. Beim „Tod“ liegen die Dinge allerdings in Einzelheiten anders. Er wird zwar 1973 immer noch als „Erlöschen jeder Lebensäußerung eines Organismus“ definiert, im Detail allerdings zeigt sich nun, dass die wachsende Bedeutung der Zellbiologie hier zu Veränderungen geführt hat. So heißt es nämlich weiter: „Der natürliche (physiolog.) T. ist die Folge der normalen Alterungs- und Rückbildungsvorgänge in den Zellverbänden der mehrzelligen Lebewesen.“¹³

Von Apoptose (→ s. Kap. X, Arnold) allerdings, dem genetisch vorprogrammierten Zelltod, ist hier noch nicht die Rede, denn die Geschichte dieser besonderen Forschungsrichtung der Pathophysiologie hat erst 1972 begonnen, konnte also in die Brockhausausgabe von 1973 noch keinen Eingang finden. Neu ist 1973 allerdings die ausführliche Aufnahme des Gehirntodes und seiner Kriterien als anerkannte Definition des Todes. Der organische Tod des Gehirns ersetzt nun alle früheren Todesdefinitionen, und dies hat ganz erhebliche Folgen für die Frage nach dem prozessualen Charakter des Sterbens. Wenige Jahre zuvor hatte einerseits der wachsende Druck, technisch menschliches Leben, auch nach einer unwiderruflichen Zerstörung zerebraler Funktionen oder eines irreversiblen Ausfalls seiner Funktionen, zumindest in seinen vitalen Kreislauffunktionen im Grunde beliebig erhalten zu können, dazu geführt, nach neuen Kriterien der Todesfeststellung zu suchen. Zugleich drängte im Hintergrund die komentenhaft aufsteigende Transplantationsmedizin nach Entscheidungskriterien darüber, wann einem irreversibel Hirnverletzten oder hirnfunktionsgeschädigten Unfallopfer lebenswichtige Organe zur Transplantation entnommen werden dürfen. Vor diesem Hintergrund stellte der 1968 publizierte „Report of the Ad Hoc Committee of Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death“¹⁴ nicht nur einem Meilenstein für die Transplantationsmedizin, sondern auch eine tiefe Zäsur für das Verständnis des Todes und in diesem Zusammenhang auch die Neubewertung des Sterbeprozesses dar. In Anerkennung des irreversiblen Komas wurde so die seit der frühen Neuzeit unumstößliche Vorstellung revidiert, dass ein Mensch erst dann als tot zu gelten habe, wenn sein Herz und die Atmung irreversibel zum Stillstand

13 Brockhaus (1973), S. 729 – 732, hier 729. 14 Journal of the American Medical Association (1968).

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(„Coma dépassé“, Molaret u. Goulon, 1959) gekommen sind. Die Anwendung moderner Medizintechnik (künstliche Beatmung, externe Herzmassage) hatte zur Folge, dass Patienten einen Herz- oder Atemstillstand überleben konnten. Das Ad Hoc Committee der Harvard Medical School nannte zwei Gründe, die eine neue Definition des Todes notwendig erscheinen ließen: „(1) Improvements in resuscitative and supportive measures have led to increased efforts to save those who are desperately injured. Somtimes these efforts have only patial succes so that the result is an individual whose heart continues to beat but whose brain is irreversibly damaged. The burden is great on patients who suffer permanent loss of intellect, on their families, on the hospitals, and on those in need of hospital beds already occupied by these comatose patients. (2) Obsolete criteria for the definition of death can lead to controversy in obtaining organs for transplantation.“

Die Kriterien für die Diagnostik des Hirntodes, die so 1968 durch die Kommission der Harvard-Universität benannt worden waren, bildeten seit dem Ende der 1960er Jahre die Grundlage für die Entnahme von Organen zum Zwecke der Transplantation. In Deutschland definierte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer am 29.  Juni 1991 den Hirntod für seinen Geltungsbereich. Es handele sich bei ihm um einen „Zustand des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms bei einer durch kontrollierte Beatmung künstlich noch aufrechterhaltenen Herz-Kreislauffunktion. Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.“¹⁵

Wichtigstes apparatives Kriterium für den Hirntod ist seitdem das Null-Linien-EEG. Die EEG-Untersuchung soll in Anlehnung an die Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie durchgeführt werden. Ergibt die EEG-Ableitung über einen Zeitraum von mindestens dreißig Minuten eine hirnelektrische Stille, also ein sogenanntes Null-Linien-EEG, so ist die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls ohne weitere Beobachtungszeit nachgewiesen. Die Begründung der Harvard Medical School 1968 schien dem Druck der medizinisch-technischen Entwicklung angemessen, aber sie war doch auch höchst hinterfragenswert, wie schon bald nach der Veröffentlichung der Medizinphilosoph Hans Jonas kritisierte. Nach seiner Ansicht meine der Bericht mit seinem „Primärgrund“, der würdelosen „Sinnlosigkeit bloß vegetativer Fortexistenz“ im Grunde genommen ja nicht den „Tod“ als ultimativen Zustand, sondern liefere stattdessen ein Kriterium eben dafür, ihn „ungehindert stattfinden zu lassen“. Unlauter sei es daher, dass der

15 Bundesärztekammer (1997).

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Bericht beanspruche, „mit diesem Kriterium den Tod selbst definiert zu haben“. Tatsächlich aber sei der Tod als ultimatives Lebensende noch gar nicht gegeben.¹⁶ Die Konsequenzen, die sich aus dieser berechtigten Kritik für den Prozess des Sterbens ergaben, waren erheblich. Sie bedeuteten nämlich nicht mehr und nicht weniger, als dass der Prozess des natürlichen Sterbens einerseits nun durch technische Instrumente prolongierbar geworden war, andererseits durch definitorische Todes-Setzung unter den festgelegten Bedingungen jederzeit unterbrochen werden konnte. Entstanden war so ein Niemandsland zwischen Sterben und Tod, dessen topographische Beschreibung bis heute erhebliche Probleme bereitet. Zugleich war der natürliche Prozess des Sterbens in Konkurrenz getreten zu den berechtigten Wünschen terminal Organkranker nach einem neuen funktionsfähigen Organ für die Transplantation. Die sich aus dieser Kritik ergebende Debatte wurde am 25. Juni 1997 durch den Gesetzgeber beendet, denn der Bundestag beschloss mit großer Mehrheit einen Transplantationsgesetzentwurf, der die bisherige Praxis billigte. Der „Hirntod“ wurde als Tod des Menschen akzeptiert und als Mindestvoraussetzung für eine Organentnahme festgeschrieben. Inzwischen gilt das Transplantationsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 4. September 2007¹⁷ mit seiner Änderung von Artikel 3 des Gesetzes vom 17. Juli 2009.¹⁸ Ein neues Transplantationsgesetz ist zwar in Vorbereitung, an der Hirntod-Setzung wird sich allerdings auch durch dieses Gesetz nichts ändern. Die Veränderungen, die sich aus dieser neuen, durch den Gesetzgeber abgesicherten Definitionslage ergaben, scheinen plausibel als Grundbedingung für die Organentnahme. Der „Tod der Person“ wird in diesem Fall identifiziert, wenn kognitive Fähigkeiten wie Denken und bewusstes Erleben irreversibel ausgefallen sind. Was einst Persönlichkeit ausmachte, ist verloren. Die sich daraus ergebende moralische Frage nach der Zulässigkeit, einen Menschen mit einer solchen Begründung zur Leiche zu machen, aus der auf der Grundlage des Gesetzen Organe beliebig ‚geerntet‘ (to harvest, ist der gemeinsprachliche engl. Begriff für die Organentnahme) werden können, steht hier nicht an. Die Frage ist allerdings, welches Menschenbild hinter einer so technizistischen Sterbeperspektive, wie sie durch das Hirntodmodell vorgegeben wird, eigentlich steht. Immerhin könnte man sich doch auch auf den Standpunkt der Vertreter eines ganzheitliches Menschenbildes stellen, das von der Leib-SeeleGeist-Einheit des ‚vollständigen‘, des ‚ganzen‘ Menschen ausgeht, den Menschen bis zum Tode auch als solche Einheit sieht und fordert. Unter einer solchen Perspektive wird der Hirntod zu einem inakzeptablen Phänomen, das Wort zum Kunstwort und der Hirntote wieder zu einem in seiner restlichen Ganzheit bedrohten Sterbenden.

16 Jonas (1985 / 1990), S. 224. 17 BGBl. I S. 2206. 18 BGBl. I S. 1990.

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Tatsächlich wurde diese Position 1995 – wenngleich erfolglos – vom Berufsverband der Pflegeberufe (DBfK) e.V. vertreten. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Organbedarfs für die Transplantationsmedizin und gleichzeitig sinkenden Zahlen spendebereiter Organdonatoren erscheint die Frage nach dem Recht auf ein ganzheitliches Sterben heute selbst fast schon unmoralisch; gleichwohl ist sie doch nach wie vor berechtigt. Das Ringen der Transplantationsmedizin um die letzte Sterbephase zugunsten eines möglicht funktionsfähigen Spenderorgans lässt zurecht im Hintergrund der Argumentation auch die höchst sensible Frage erkennen, ob nicht das Leben des schwerstkranken Organempfängers unter der Voraussetzung einer erfolgreichen Transplantation und eines erwartungsgemäß arbeitenden Spenderorgans im neuen Körper wertvoller sei als das des hinsichtlich des Weiterlebens hoffnungslosen Spenders. Aufmerksam ist hier allerdings auch die Frage zu berücksichtigen, ob das technisch ermöglichte WeiterSterben des Schwerstverletzten Organdonators ja nicht selbst bereits die unnatürliche Fortschreibung eines Prozesses ist, der dem natürlichen Verlauf anheim gegeben längst durch den Tod abgeschlossen sein sollte. Das ‚geschenkte‘ Weiter-Sterben wäre allerdings vor diesem Argumentationshintergrund weniger ein Geschenk an den Sterbenden als vielmehr eines an den potentiellen Organempfänger, sein prozessualer Charakter nicht natürlich, sondern artifiziell. Hier stehen sich bis in die aktuellen Debatten um die Novellierung des Transplantationsgesetzes unserer Tage kaum überbrückbare Gegensätze gegenüber: So findet sich auf der einen Seite das Argument für eine artifizielle Verlängerung des Sterbens um die natürliche Verlängerung eines anderen Lebens mit den funktionsfähigen Organen des Sterbenden zu ermöglichen, auf der anderen Seite hingegen das der ganzheitlichen Organspendekritiker, die argumentieren, dass der Mensch doch mehr als die Summe seiner Einzelteile darstelle und daher der Sterbeprozess bei der Entnahme von Organen sicher zum Verlust der Ganzheitlichkeit führe und möglicherweise sogar zu einem schwerwiegendes Trauma für den Betroffenen, für seine Angehörigen aber auch für die beteiligten Pflegekräfte werde. Letztere Argumentation der Transplantationsgegner wirft nun allerdings auch Licht auf die bedenkenswerte Frage, wessen Recht das Recht auf ein ungestörtes und unverlängertes Sterben und wessen der Besitz des Sterbeprozesses nun eigentlich ist, Recht und Besitz des Sterbenden oder auch Recht und Besitz seiner Angehörigen oder Begleiter. Der autokognitive Prozess des Sterbens scheint für den hirntot Sterbenden ja zweifellos abgeschlossen zu sein, wenn hirnphysiologisch die Irreversibilität eines Hirntodes vorausgesetzt werden kann. Vorstellungen von einem Fortleben autokognitiver Fähigkeiten Hirntoter scheinen biomedizinisch eher romantischen Visionen zu entspringen als physiologischen Potentialitäten des verlorenen Hirns. Damit ist allerdings der soziale Prozess des Sterbens noch keineswegs abgeschlossen; er verlängert sich um die gleiche Strecke wie die biologische Fortschreibung des funktionell hirnlosen Sterbens bis zum Ende der technischen Erhaltung der Herzkreislauf- und Beatmungsfunktionen. Zweifellos lässt sich eine Teilhabe der Begleitenden am sozialen

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Sterbeprozess des hirnfunktionell verlorenen Patienten konstatieren. Entscheidend ist aber auch hier das Wollen und die bewusste Entscheidung des Sterbenden zu Lebzeiten. Allein in seiner Entscheidungsautonomie liegt es, Bereitschaft zu einer artifiziellen Verlängerung seines Lebens und seines Sterbens über das Erlöschen seiner Hirnfunktionen hinaus zum Zwecke der Organentnahme zu signalisieren.

Literatur Bundesärztekammer, Dritte Fortschreibung der „Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes“ des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer vom 9. Mai 1997. Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) e.V. Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Transplantationsgesetzes vor dem Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages. 24.07.1995. Hasselt, Alexander Willem Michiel van, 1862, Die Lehre vom Tode und Scheintode, Braunschweig. Jonas, Hans, 1985, Technik, Medizin und Ethik: Zur Praxis des Prinzips Verantwortung (1985), Frankfurt am Main. Report of the ad hoc committee of Harvard Medical School to examine the definition of brain death, 1968, in: JAMA, 205, S. 337 – 40. Krünitz, Johann Georg, 1844, Tod, in: Oekonomische Encyklopädie, Berlin. Montaigne, Michel de, 2008, Philosophieren heißt sterben lernen, in: Essais, Erstes Buch, 20. Kapitel, übersetzt von Hans Stilett, Frankfurt am Main, S. 51 – 52. Nudow, Heinrich, 1791, Versuch einer Theorie des Schlafes, Königsberg. Pierer, Heinrich August, 1863, Sterben, in: Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 16, S. 779. Pierer, Heinrich August, 1863, Tod, in: Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 17, S. 637 – 640. Wagner, Hermann, 1855, Der Tod, beleuchtet vom Standpunkte der Naturwissenschaften, Bielefeld. Zedler, Johann Heinrich, 1744a, Sterben, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 39, Sp. 1930 – 1935. Zedler, Johann Heinrich, 1744b, Sterbender, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 39, Sp. 1935 – 1940. Zedler, Johann Heinrich, 1745, Tod, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 44, Sp. 623 – 654.

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1.2 Über den Tod oder: Warum fürchten wir, bald zu sterben? Abstract: Im folgenden selbst schon klassischen Beitrag geht der Verfasser der Frage nach, welchen Beitrag die Philosophie zum Verständnis des Todes leisten kann. Im Mittelpunkt der Erörterung steht dabei die Frage, was überhaupt der Tod sei, und was es an ihm sei, dass ihn uns in der Todesangst fürchten lässt. Dabei stellt Tugendhat Überlegungen an, inwieweit die Todesangst nicht besser als Furcht vor dem Sterben zu verstehen ist und warum diese Furcht rational sein kann. In seinen Überlegungen setzt er sich insbesondere mit den Todesverständnissen des Philosophen Heidegger in „Sein und Zeit“ (1927) und in Thomas Nagel „Death“ (1970) auseinander. Der Beitrag erschien im Suhrkamp-Sammelband „Ernst Tugendhat, Aufsätze, 1992 – 2000“, Frankfurt am Main 2001 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1535) unter dem Titel „Über den Tod“ und wurde uns freundlicherweise vom Verfasser und vom Verlag zum Abdruck in diesem Handbuch zur Verfügung gestellt. In the following contribution, which itself is already a classic, the author examines the question of what philosophy can contribute towards understanding death. The focus of the investigation is on the question of what death actually is, and what it is that makes us so afraid of it, why this fear of death. Tugenhat considers to what extent the fear of death is not more comprehensible than the fear of dying, and why this fear can be rational. In his considerations, he discusses, in particular, the understanding of death as expressed by the philosopher Heidegger in his work “Sein und Zeit” of 1927, and that expressed by Thomas Nagel in his “Death” of 1970. This contribution first appeared in the Suhrkamp anthology “Ernst Tugendhat, Aufsätze, 1992 – 2000”, Frankfurt am Main 2001 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Vol. 1535), under the title “Über den Tod”. The author and the publishers have kindly given us permission to reprint this essay in this handbook. Keywords: Angst vor dem Tod, Furcht vor dem Sterben, ungelebtes Leben, Todesnähe, Tod als Übel, Wert des Lebens, Sinn des Lebens

Prof. Dr. Ernst Tugendhat, em. ord. Prof. der Philosophie, Freie Universität Berlin

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Kann die Philosophie etwas zum Todesverständnis beitragen? Montaigne hat seinen Essay 1, 2o überschrieben „Que philosopher, c’est apprendre à mourir“. Dieser Satz geht, über Cicero, auf Platon zurück.¹ Hugo Friedrich² hat aber glaubhaft gemacht, dass Montaigne, zumindest in seinen späteren Versuchen, sich gegenüber dem Nutzen der Philosophie für das Sicheinstimmen auf den Tod eher skeptisch verhalten hat. Und man wird Montaigne darin gewiss zustimmen können, soweit man sich den Beitrag der Philosophie von einem eigenständigen Zugang, den die Philosophie zu dem Todesphänomen haben könnte, erwartete, wie es bei Platon der Fall war. Freilich, man könnte weitergehen und die Besorgnis zum Ausdruck bringen, dass die abstrakt begrifflichen Mittel der Philosophie schon als solche die Todeserfahrung in ihrer Konkretisierung und Variabilität verstellen. Zweifellos stammen von der Philosophie auch viele Sophismen über den Tod, wie z.B. der epikureische Gedanke, dass am Tod nichts zu fürchten sei, weil wir, wenn wir tot sind, nichts empfinden; als ob die Furcht vor dem Tod in der Furcht vor einem Zustand danach bestünde. Sollte man also nicht einfach sagen: Der Tod ist eben das Ende des Lebens, und wir wissen, dass, wenn auch nicht alle, so doch die meisten Menschen sich vor ihm fürchten, und basta? Wozu noch eine philosophische Klärung? Aber schon, dass wir hier sagen müssen „die meisten“, zeigt, dass dieser Sachverhalt keineswegs eindeutig ist (Montaigne sagte [I, 50]: Cicero ängstigte sich vor dem Tod, Cato wünschte sich ihn, Sokrates war er gleichgültig). Außerdem ist unklar, wenn man von der Furcht, vor dem Tod spricht, was es genau am Tod, ist, wovor wir uns fürchten, Es scheint also ein Klärungsbedarf zu bestehen, und ist das nicht die klassische Ausgangssituation für eine philosophische Frage? Viele Menschen haben nicht nur das eine oder andere Verständnis vom Tod, sondern leben in einem vortheoretischen Konzept, das sie sich zusammengezimmert haben; sie geben etwa Gründe an, warum sie sich vor ihm fürchten oder warum sie sich nicht vor ihm fürchten. So gibt es eine Vielfalt von Meinungen, die sich meist in Wörtern ausdrücken, die ihrerseits häufig vieldeutig oder anbestimmt sind. Damit ist die Frage, ob Philosophie hier etwas beitragen kann, nicht nur positiv beantwortet, sondern auch ein Weg, eine Methode vorgezeichnet. Es gibt, meine ich, keinen eigenständigen philosophischen Zugang, wir können nur von vorgegebenen Ansichten ausgehen, und die philosophische Zutat besteht erstens in Klärung und zweitens in Ergänzung von Einseitigkeiten. Hier wie in so vielen anderen Fällen philosophischer Klärungsbedürftigkeit gilt die Maxime, dass alle Ansichten berücksichtigt werden sollten, sei es, dass sie sich dann als falsch erweisen, sei es, dass sie mit anderen zu integrieren sind, sei es, dass Alternativen offenbleiben. So ergibt sich ein Vorgehen, das unvermeidlich einen subjektiven Ausgangspunkt hat und sich dann schrittweise als klärungs- und ergänzungsbedürftig erweist und allemal unabgeschlossen

1 Cf. Phaidon 64a. 2 Friedrich (1946), 6. Kapitel.

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bleibt. Falls eine Art von Ansichten nicht berücksichtigt wird, liegt darin eine gewisse Willkür, die aber gemildert wird, wenn man sie explizit macht. Ich werde z.B. eine ganze Klasse von Ansichten über den Tod überhaupt nicht berücksichtigen, nämlich die, die eine der Varianten des Glaubens an ein Leben nach dem Tod voraussetzen. Ich bekenne, dass das eine subjektive Entscheidung ist. Ich meine, dass es gute Gründe gibt, einen solchen Glauben nicht zu haben, und daher interessieren mich diese Meinungen zu wenig. Bevor ich mit einem mehr systematischen Versuch beginne, will ich, wie ich mir das angedeutete Hin und Her zwischen Ansichten und philosophischer Klärung vorstelle, an einem Beispiel illustrieren, das für mich – hierin zeigt sich der unweigerlich subjektive Ausgangspunkt – kein beliebiges ist, weil es eigentlich diese Begegnung war, die, ein oder zwei Jahre zurückliegend, mir den Anstoß für die folgenden Reflexionen gab. Ich war in einem Hafenstädtchen in Chile zufällig mit einem alten Mann, viel älter noch als ich, in ein Gespräch geraten. Vor einiger Zeit habe er sich in einer Krankheit befunden und sich gefürchtet, dass sie zum Tod führen könnte. Er habe gegenüber Gott ein Gelübde abgelegt, ihm eine Kirche zu bauen, falls er ihn errette und ihm noch einige Jahre schenke. Gott hatte ihn erhört, und hier war er also und baute. In diesem Fall handelt es sich nicht um eine Ansicht über den Tod, sondern um ein Verhalten, das eine bestimmte Ansicht impliziert, eine Ansicht freilich, die so trivial scheinen kann, dass man sich wundern könnte, warum sie mich aufhorchen ließ. Um das verständlich zu machen, muss ich einen Schritt zurückgehen und sagen, welches vor dieser Begegnung mehr oder weniger die Vorstellung gewesen war, die ich mir vom Tod zurechtgezimmert hatte. Ich hatte mir das Leben wie eine Wurst vorgestellt in zeitlicher Dimension, eine Wurst, die allemal ein Ende in der Zukunft hat, und ob sie nun etwas länger oder kürzer sei, das mache zwar einen Unterschied, aber keinen wesentlichen: Wurst bleibt Wurst. Wie kommt man zu so einer Auffassung? Sie legt sich nahe, wenn man sich klarmacht, dass das Leben irgendwann ein Ende findet; es ist nicht dieser Umstand als solcher, der uns ängstigt, ja es liegt nahe, dass uns, wie es Bernard Williams in einem Aufsatz vertreten hat,³ das Gegenteil ängstigen würde: dass wir das Leben ohne Ende weiterführen müssten. Heißt das dann aber nicht, dass es uns außer in den Fällen, die man als tragisch zu bezeichnen pflegt, beim Tod eines jungen Menschen, der, wie man sagt, sein Leben noch vor sich hat, nicht so schrecklich erscheinen sollte, dass das Leben etwas kürzer statt etwas länger sei? Aber für meinen Alten in Chile war das offenbar der Fall, und was mich nach dieser Begegnung beunruhigte, war, dass seine Auffassung so natürlich wirkte. Aber warum? Worin genau lag der Unterschied zwischen seiner und meiner Auffassung? Seine Auffassung mag deswegen als so natürlich erscheinen, weil beim Leben wie bei allem mehr eben mehr ist als weniger. Doch das hatte ich nicht geleugnet; ich hatte nur gemeint, dieser quantitative Unterschied könne nicht so wesentlich sein. Ange-

3 Williams (1973), Problems of the Self, Cambridge 1973, S. 82 – 100.

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nommen, er wäre nicht alt gewesen), und als er 27 war, hätte ihm eine bruja, wie man in Chile sagt, eine Wahrsagerin also, vorausgesagt, er werde 79 Jahre alt werden; hätte er auch dann ein so großes Gelübde abgelegt, damit Gott ihm noch ein paar zusätzliche Jahre schenke (über die 79 hinaus)? Das wäre nicht undenkbar, aber eher kurios, und gewiss hätte es mich nicht aufhorchen lassen. jetzt wird deutlich, was mich an der Äußerung des Alten betroffen machte. Es war nicht die Bedeutung des Quantitativen, die ich übersehen hatte, sondern dass wir uns zum Tod immer von einem bestimmten Standpunkt aus verhalten, von einem Standpunkt innerhalb der Wurst: Wir sehen weder die Wurst noch ihr mögliches Ende von außen. Was mich also an dieser Geschichte beeindruckte, war die Wichtigkeit der angenommenen Nähe oder Ferne des Todes oder besser gesagt: der Unterschied zwischen der angenommenen Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit seiner Nähe. Mit Nähe möchte ich sagen, dass man glaubt, dass man bald sterben wird. Ein solches Bewusstsein unterscheidet sich nicht nur auf der einen Seite von unserem gewöhnlichen, in dem der Tod uns fern scheint und es einen Phantasieaufwand erfordert, sich vorzustellen, er könnte uns jetzt oder bald treffen; es ist auch auf der anderen Seite zu unterscheiden von dem, was ich die vegetative Todesangst nennen will. Freilich gibt es hier keine scharfen Grenzen: Weder das Bewusstsein der Todesferne ist von dem der Todesnähe scharf unterschieden, noch ist das Bewusstsein von Todesnähe immer scharf unterschieden von der vegetativen Todesangst; aber auch wenn beide eng verbunden sind, meine ich, dass sie begrifflich unterschieden werden sollten. Von vegetativer Todesangst spreche ich, wenn man in einer bedrohlichen Situation zu sein glaubt, die zum Tod führen kann, aber nicht muss, z.B. wenn man verfolgt wird oder von einer Brücke herunterstürzt oder sich in einem abstürzenden Flugzeug befindet usw. Wieder ein wenig anders ist es, wenn man in einer Krankheit im Sterben zu liegen glaubt; in diesem Fall kommt die Bedrohung von innen. Im Unterschied zu der bloßen Vorstellung, man werde bald sterben, sind für die vegetative Todesangst (ich sehe jetzt von dem eben genannten Krankheitsfall ab) bestimmte Ausdrucks- und physiologische Faktoren charakteristisch, die wir ähnlich an anderen Säugetieren wahrnehmen, z.B. Zittern, extrem erhöhte Herztätigkeit usw., wenn ein Kalb in einem Rodeo von Reitern bedrängt wird. Nicht zufällig sprechen wir bei der vegetativen Todesangst von Angst, weil das ein diffuser Zustand ist, der nicht, wie man in der Philosophie zu sagen pflegt, einen bestimmten intentionalen Gegenstand hat, während die Furcht, dass man bald sterben wird (trotz Heideggers abwegiger Rede von der Angst vor dem Tod), die Furcht vor einem klar definierten Ereignis ist (das Ereignis ist natürlich nicht hinsichtlich seines Wann und Wo usw. definiert, aber das ist auch nicht erforderlich: Es ist klar definiert einfach dadurch, dass es das Ereignis ist, das darin besteht, dass einer aufhört zu leben). Während bei der vegetativen Todesangst uns nahestehende andere Tiere zwar nicht genauso, aber doch ähnlich reagieren wie Menschen, ist nicht anzunehmen, dass andere Tiere die Furcht, dass man bald sterben wird, kennen, weil man dafür die Sprache und ein Zeitbewusstsein braucht: man muss das Wort „bald“ verstehen. Sosehr sich beim Men-

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schen beides verbinden kann, wäre es doch falsch anzunehmen, dass, was ich das vegetative Todesbewusstsein nenne, den Höhepunkt der Furcht vor dem baldigen Tod darstellt – etwa wie sich das „schon“ zum „bald“ verhält. Wir können uns den Unterschied der beiden Phänomene etwa an einer Person verdeutlichen, die ihrem Leben ein Ende bereiten will und in dieser Hinsicht ganz unambivalent und ohne Furcht ist und gleichwohl Furcht vor der vegetativen Todesangst hat, die sie für die kurze Übergangszeit des gewaltsamen Sterbens (wenn sie sich z.B. ertränkt) voraussieht. Für die Frage, was es denn ist, wovor genau wir uns fürchten, wenn wir uns vor dem Tod fürchten, scheint mir einiges gewonnen zu sein, wenn wir die Furcht vor der Todesnähe einerseits von dem Bewusstsein, dass wir irgendeinmal sterben werden bzw. dass wir jederzeit sterben können, unterscheiden und sie andererseits auch von der vegetativen Todesangst unterscheiden. Was mich an dem Gelübde meines Alten aufhorchen ließ, ist, dass es, ganz unabhängig davon, ob sich vegetative Todesangst damit vermischt oder nicht, beängstigend sein kann (nicht muss), dass man bald nicht mehr leben wird, obwohl man natürlich immer wusste, dass man irgendwann einmal nicht mehr leben wird, und einen das gewöhnlich so wenig affektiv berührt, dass man es als natürlich ansieht. Es kann einem entscheidend wichtig sein, jetzt, sagen wir mit 81, noch eine Weile weiterzuleben, obwohl einem dieselbe Verlängerung nach 81 früher, als man 27 war, gleichgültig gewesen wäre. Ist also, was man angesichts eines bevorstehenden Todes meist will, so etwas wie eine Galgenfrist, ein Aufschub? Wenn ja, warum? „Nur jetzt nicht sterben, sondern später“: Das, meine ich, ist es, was in dem Gelübde des Alten zum Ausdruck kam. Ich habe von dieser Begegnung erzählt, um an einem Beispiel zu zeigen, wie ich mir die Methode vorstelle, verschiedene Meinungen zu vergleichen, aneinander zu korrigieren, Zweideutigkeiten zu desambiguieren, und wie dazu, in einem so subjektiven Reflexionsbereich, auch die Berechtigung gehört, einige Aspekte zurückzustellen und andere verstärkt zu beleuchten, wenn man das nur explizit macht. Freilich ist dabei auch schon die Frage selbst ein Stück weit verdeutlicht worden. Es ist nicht so klar, was es ist, wovor wir uns fürchten, wenn wir uns vor dem Tod fürchten. Warum, so lässt sich jetzt fragen, fürchten wir uns, falls wir uns überhaupt vor ihm fürchten, nicht vor dem Tod als solchem, sondern wollen nur einen Aufschub? Aber ich will jetzt etwas systematischer vorgehen. Freilich, nach dem, was ich anfangs sagte, kann das nur einen relativen Sinn haben. Der Ausgangspunkt ist unausweichlich subjektiv, von der begrenzten Optik des Reflektierenden abhängig. Es scheint mir aber jetzt vorteilhaft, von philosophischen Ansichten auszugehen, allerdings nur, wenn diese sich nicht, wie die platonisch-stoisch-epikureische Tradition, in einen Gegensatz zu vorphilosophischen Ansichten setzen, sondern sich als deren Interpretation verstehen, also „hermeneutisch“, wie man es mit Heidegger nennen kann. Der methodische Vorteil besteht dann einfach darin, dass es das Vorgehen abkürzt: In einer philosophischen Ansicht treten uns meist vorphilosophische Ansichten schon gebündelt entgegen. Ich will nun – das ist wiederum ganz subjektiv  – von zwei philosophischen Ansichten ausgehen, die als Ausgangspunkt den

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Vorteil haben, dass sie nicht nur entgegengesetzte Auffassungen darstellen, sondern gar nicht auf ein und dieselbe Frage antworten. Jede interessiert sich für etwas, was die andere nicht einmal erwähnt, wie zwei Schiffe, die in einem Fluss aneinander vorbeifahren, ohne voneinander Notiz zu nehmen. Ich meine erstens das Kapitel über das „Sein zum Tode“ in Heideggers Sein und Zeit (1927) und zweitens Thomas Nagels Aufsatz „Death“ (1970).⁴ Heidegger stellt eine Frage, die im christlichen Denken üblich war, aber er stellt sie, wie es wohl erst seit dem 19. Jahrhundert hie und da geschehen ist (ich bin kein Historiker), ohne den christlichen Jenseitsbezug, nämlich was es für das Leben bedeutet, des Todes ansichtig zu sein. Bei Nagel kommt diese Frage nicht vor. Seine Leitfrage ist die Frage, ob und wieso der Tod ein Übel ist. Diese Frage kommt wiederum bei Heidegger nicht vor. Das aber muss nun, wenigstens auf den ersten Blick, äußerst merkwürdig scheinen. Man müsste ja vielleicht nicht unbedingt, wie Nagel es tut, von einem Übel sprechen; vielleicht passt dieses Wort auf den Tod nicht. Allerdings müsste man zeigen, warum nicht. Was jedoch Heidegger tut, nämlich behaupten, dass wir den Tod fürchten oder, wie er zu sagen vorzieht, uns vor ihm ängstigen, ohne zu sagen, warum und was es an ihm ist, das wir fürchten: das bedeutet, etwas als Faktum voraussetzen, statt es verständlich zu machen. Heidegger hat die Wörter „gut“ und „schlecht“ ganz allgemein in Sein und Zeit vermieden, wohl weil er das Normative vermeiden wollte, aber man mag das beurteilen, wie man will, allemal reicht die Verwendung dieser Wörter weit über den Bereich des Moralischen und überhaupt des Normativen hinaus, und ich meine, es handelte sich hier mehr um eine tiefsitzende Antipathie als eine durchdachte Position, wie so manches bei Heidegger. Nun könnte man vielleicht sagen, die Rede von Gütern und Übeln musste für Heidegger allzu objektivistisch klingen, aber es gibt doch eine recht unschuldige Verwendung dieser Wörter, die durchaus subjektivistisch ist: Man nennt Übel diejenigen Dinge, die im allgemeinen vermieden werden wie Schmerzen, Freiheitsentzug, Verlust von Menschen, Verlust von Sachen und schließlich eben auch den Verlust des eigenen Lebens, und Güter diejenigen Dinge, die im allgemeinen erstrebt werden wie Schmerzlosigkeit, Freude, Freiheit, menschliche Beziehungen usw. und schließlich eben (scheinbar): zu leben. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, hier Heidegger näherzukommen, indem man solche objektiv klingenden Wörter wie „schlecht“ und „Übel“ durch subjektive Wörter wie Wünschen einerseits, Vermeidenwollen andererseits ersetzt. Aber irgendein Vokabular dieser Art ist unvermeidlich, um überhaupt verständlich zu machen, warum man Wörter wie „Angst“ und „Furcht“ verwendet und worauf sie sich im jeweiligen Fall speziell beziehen. (In dem Abschnitt über die Furcht gebraucht Heidegger immerhin den Ausdruck „Übel“, aber nur, um Aristoteles zu zitieren.)

4 Abgedruckt in seinen Mortal Questions von 1979 (dt. Nagel, 1984).

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Heidegger gebraucht hier aber doch wenigstens ein Wort, das die angegebene Funktion zu erfüllen scheint. Nur ist es leider, ohne dass Heidegger darauf aufmerksam wird, zweideutig. Es ist das Wort „Worumwillen“. Dieses etwas künstliche Wort (es ist sehr schwer, es in andere moderne Sprachen zu übersetzen) ist die Übertragung des selbst bereits etwas künstlichen, aber bewusst terminologischen Ausdrucks to hou heneka des Aristoteles. Aristoteles verwendet den Ausdruck für das, um willen wovon jemand etwas macht oder überhaupt handelt, also den Zweck, und da dieses Wort bei Aristoteles noch nicht zweideutig war, hatte er keine Hemmungen, es mit dem Guten (in einer bestimmten Verwendung des Wortes) gleichzusetzen. Nun ist die erste starke These in Sein und Zeit, dass der Mensch (oder „das Dasein“, wie Heidegger zu sagen beliebt) sich so auf sein Sein (Leben) bezieht, dass es ihm um dieses geht,⁵ eine Formulierung, die Heidegger später so aufnimmt, dass für den Menschen (ich sage „den“ statt „einen“, um Heideggers Rede von „dem Dasein“ näher zu bleiben) das eigene Sein sein letztes Worumwillen ist. ⁶ Heidegger hat das in einer bestimmten Umwandlung von Aristoteles übernommen. Aber er hätte nun dadurch, dass er das Worumwillen nicht einfach mit Zweck, dem Guten, dem Erstrebten gleichsetzte, der Möglichkeit Rechnung tragen können, dass wir gegebenenfalls den Tod dem Leben vorziehen können. Denn man könnte ja zustimmen, dass das Leben unser letztes Worumwillen ist, also worum es uns letztlich geht, aber doch gleichzeitig finden, dass wir gleichwohl mit Hamlet fragen können, ob es nicht besser ist, tot zu sein, als zu leben. Aber bei Heidegger kommt diese Frage nicht vor; ja, da man, um sie zu stellen, das Wort „besser“ oder ähnliches braucht („whether ‚tis nobler“, sagt Shakespeare) und Heidegger solche Wertwörter nicht verwenden will, kann die Hamletsche Frage bei ihm gar nicht vorkommen. Daß es einem Menschen „um sein Sein“ geht, erscheint daher bei Heidegger wie ein bloßes Faktum, über das sein Wille nicht hinausreichen könnte, wie er es aber doch offenkundig kann, wenn wir vorziehen, nicht mehr zu leben. Das Wort „Worumwillen“ ist zweideutig, weil es einerseits für die Zwecke im Leben steht und andererseits für den Lebensrahmen als solchen. Auch derjenige, der sich sein Leben nimmt, tut dies, weil es ihm um sein Leben geht; das Leben ist der äußerste Bezugspunkt alles seines Wollens. Jetzt lässt sich deutlich sehen, inwiefern sich jenes äußerste Worumwillen, das für uns das Leben ist, von jedem begrenzteren Worumwillen, von bestimmten Zwecken, unterscheidet. Wer einen bestimmten Zweck nicht mehr will, sieht von ihm ab, hat dann eben andere Zwecke; wer hingegen sein Leben nicht mehr will, will es nicht mehr, weil es so ist, wie es ist; er bleibt auch, indem er es zurückstößt, willentlich auf es bezogen. Das Verhältnis des Lebens als Worumwillen zu den übrigen Gütern ist daher nicht einfach hierarchisch. Was ich Heidegger vorwerfe, ist nicht, dass er das Leben nicht als Gut bezeichnete,

5 Heidegger (1927), S. 12. 6 Ebd., S. 84 u. öfter.

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sondern dass er nicht, wenn er schon eine neue Begrifflichkeit entwickelte, der Möglichkeit Rechnung getragen hat, dass man es als „besser“ ansehen kann, dem Leben ein Ende zu setzen. Es hätte, wenn Heidegger das Problem überhaupt erörtert hätte, gute Gründe geben können zu bestreiten, dass das Leben ein Gut ist, erstens weil alle Güter nur sind innerhalb ihrer und weil man es zweitens als schlecht, sogar als unerträglich ansehen kann. Aber dann beginnt natürlich auch die Auffassung vom Tod als Übel fragwürdig zu werden. Gewiss, auch das wird von Heidegger nicht gesagt, aber einfach deswegen nicht, weil er sowohl diese objektiv-wertende als auch eine subjektiv-wertende Terminologie vermeidet. Wieso also haben wir Angst vor dem Tod? Hier führt Heidegger ein weiteres Wort ein, das eine Antwort auf diese Frage geben soll, aber es ist eine Scheinantwort. Es handelt sich um den Ausdruck „das Nichts“ oder, wie Heidegger in Sein und Zeit noch vorsichtiger formulierte, das „Nicht“ oder „die Nichtheit“.⁷ Ist es denn aber evident, dass wir vor dem Nichthaften Angst haben? Fürchten wir uns davor, einzuschlafen? Im Gegenteil, wir wünschen häufig nichts sehnlicher, als zeitweise in dieses Nichts zu sinken. Aber eben vielleicht nur zeitweise? Nun ja, vielleicht ist das der Punkt, aber eben das ist doch vielmehr klärungsbedürftig. Jedenfalls ist es ein Fehlschluss zu sagen: Das Sein des Menschen ist sein Worumwillen, also fürchtet er sich davor, nicht mehr zu sein. Auf die Frage, warum sich, seien es alle Menschen (so Heidegger), seien es die meisten (so fände ich es richtiger formuliert) vor dem Tod fürchten, erhalten wir also von Heidegger keine Antwort, und wir können keine erwarten, weil er die Terminologie, mit deren Hilfe sie zu beantworten wäre, verwirft, ohne eine andere, entsprechend differenzierte an ihre Stelle zu setzen. Was tut nun Nagel? Setzt man sich erst einmal über die Zweideutigkeit hinweg, die sich innerhalb der Rede von Gütern und Übeln zeigte, scheint er die richtige Ausgangsfrage zu stellen: Ist der Tod ein Übel, und wenn ja, inwiefern? Das könnte zu einer Antwort auf die Frage führen, was es am Tod ist, das wir fürchten, wenn wir uns vor ihm fürchten. Nagel verwirft zuerst mit Recht die Auffassung, dass das Torsein ein Übel ist, denn wenn ich tot bin, kann für mich nichts weder gut noch schlecht sein. (Allerdings setzt Nagel hier, ebenso wie ich es getan habe, die Auffassung voraus, dass es kein Leben nach dem Tod gibt, dass also der Tod wirklich ein Aufhören und nicht nur ein Wandel ist.) Das Übel scheint also nur darin bestehen zu können, dass mich der Tod, wie Nagel das zunächst formuliert, der Güter des Lebens beraubt. Diese Redeweise hat nun aber etwas Missliches an sich, das auch viele andere Formulierungen haben, die bei der Beschreibung des Todes verwendet werden, wie wenn man sagt, im Tode verabschiede sich der Sterbende von der Welt. Alle solche Redeweisen implizieren, dass das Subjekt, das diese Tätigkeiten vollzieht (wie Abschiednehmen) oder diese Widerfahrnisse erleidet (wie der Güter beraubt zu werden), irgendwie erhalten bleibt, während es doch in Wirklichkeit aufhört zu existieren. Diese Schwie-

7 Ebd., S. 285 f.

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rigkeit ist freilich eine in der Sprache tief verwurzelte: Auch wenn wir es mit etwas Nichtlebendigem zu tun haben, ergibt sich dieselbe Misslichkeit, wenn wir sagen: „Es hat aufgehört“, als ob noch von ihm zu reden wäre, wenngleich als einem nicht mehr Existierenden. Hier in fehlerhafte Vorstellungen zu geraten ist nur dadurch vermeidbar, dass das einzige Prädikat, das dem Gegenstand, nachdem er aufgehört hat, im Präsens oder Futur zusprechbar ist, eben das des Aufgehörthabens ist. Man kann also, wenn es sich um ein Lebendiges handelt, noch im Präsens sagen: Es ist gestorben, es ist tot. Freilich ist auch das nicht ganz ohne Schwierigkeit, weil immer noch ein Subjekt im Präsens erwähnt wird, aber wenigstens sagt man dann nichts weiter von diesem Subjekt, als dass es nicht existiert. Von Beraubtwerden, Abschiednehmen usw. kann jedoch nicht die Rede sein. Wenn also der Tod als Übel angesehen wird, kann dieses Übel nicht darin bestehen, daß man der Güter des Lebens verlustig geht, sondern nur darin, daß das Leben selbst zu Ende geht, und das könnte heißen, wenn doch der Tod ein Übel ist, dass das Leben selbst ein Gut ist. Nagel führt das nicht in dieser Weise ein, aber er behauptet es, und er befindet sich mit diesem Satz, dass es gut für einen ist zu leben, in einer edlen Tradition, wie sich eben an Aristoteles gezeigt hat. Nagel schreibt: Es gibt Dinge, die das Leben besser machen, andere, die es schlechter machen, aber der Wert des Lebens besteht nicht einfach in dem, was übrigbleibt, wenn man das eine vom anderen abzieht, das Lebendigsein selbst – und d.h. gewisse Faktoren, sagt er, die das bewusste Lebendigsein als solches konstituieren wie Wahrnehmen, Wollen, Tätigsein und Denken – sei schon an und für sich „entschieden positiv“.⁸ Bevor ich das problematisiere, will ich zwei Zusatzgedanken von Nagel erwähnen. Erstens macht er, wie ich finde zu Recht, darauf aufmerksam, dass dieser Wert des Lebens (wenn er denn besteht) offensichtlich ausschließlich nur eine Sache des Bewusstseins sein kann und sich nicht auf das organische Leben bezieht: „Fast jedermann“, schreibt er, „wäre es egal, ob er auf der Stelle tot wäre oder ob er nur in ein Koma fiele, das zwanzig Jahre später, ohne dass er je wieder erwacht wäre, mit dem Tod endete“.⁹ Zweitens bemerkt er in einer Anmerkung: „Manchmal wird behauptet, es sei der Prozess des Sterbens, den wir in Wirklichkeit fürchten. Aber ich hätte eigentlich nichts am Sterben auszusetzen, würde ihm nicht der Tod folgen.“¹⁰ Der letzte Satz ist gewiss eine Übertreibung, aber Nagel will hier die Furcht vor dem Aufhören von der vegetativen Todesangst ähnlich unterscheiden, wie ich es vorhin getan habe. Zurück nun aber zu seiner These, dass das Leben im Sinn des Erlebens  – er fasst die vorhin genannten Faktoren im Wort „experience“ zusammen – unabhängig von allen einzelnen Gütern ein Gut sei. Er gibt, merkwürdigerweise, keine Gründe an und keine näheren Erklärungen, und sein Wort „emphatisch“ ist gewiss verdäch-

8 Nagel (1984), S. 16. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 23.

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tig. Man benützt es, wenn man sich in Wirklichkeit seiner nicht so sicher ist. Man pflegt nicht zu sagen, man sei emphatisch der Meinung, dass 2 + 2 = 4 ist. Vielleicht meinte Nagel, die These vom Leben als Gut folge aus dem Faktum der Furcht vor dem Tod. Aber das wäre ähnlich zirkulär, wie wenn Heidegger die Angst vor dem Tod einfach als Faktum voraussetzt. Auf den naheliegenden Einwand freilich, den man hier gegen Nagel machen könnte: dass es Menschen gibt, die den Tod nicht fürchten, und andere, die ihn sogar suchen, hätte er eine leichte Antwort. Er könnte sagen: Wenn die Übel im Leben ein gewisses Maß überschreiten, können sie das Gut, das im Leben selbst liege, überwiegen. Dies also wäre kein Einwand. Aber ein ausreichender Einwand bestünde doch darin, dass, solange keine Begründung angegeben wird, Nagels These eine bloße Behauptung ist und viele Menschen es umgekehrt sehen. Sie würden entgegnen: „Nein, das bewußte Leben ist als solches neutral. Wieso soll das bloße Bei-Bewußtsein-Sein schon als solches positiv sein?“ „Und wir“, so könnte weiter argumentiert werden, „können das Phänomen, daß die meisten sich vor dem Tod fürchten, durchaus einfacher erklären, nämlich so: du, Nagel, hast ja eben zugegeben“ (das habe freilich nur ich für ihn getan, aber nehmen wir an, er habe es zugegeben), „daß die Übel im Leben den Wert des Lebens überwiegen können; ist es dann nicht näherliegend, von diesem fragwürdigen Wert des Lebens an sich abzusehen und einfach die Übel mit den Gütern zu vergleichen?“ Wer so denkt, braucht nicht den vorhin genannten semantischen Fehler zu begehen, daß, wovor man sich fürchtet, darin bestünde, von den Gütern des Lebens beraubt zu sein; wovor wir uns fürchten, kann aus logischen Gründen zwar immer nur das Aufhören des Lebens sein, nicht das Beraubtwerden der Güter. Aber der Grund, warum einer nicht will, dass das Leben aufhört, kann durchaus eben darin bestehen, dass er meint, dass die Güter im Leben die Übel überwiegen. Man scheint es also so sehen zu können oder auch so, wobei freilich Nagel den Nachteil hat, den jeder hat, der eine unbewiesene und von anderen als uneinsichtig erklärte Annahme macht. Welche Partei hätte mein chilenischer Alter in diesem Streit ergriffen? Betete er um noch ein paar Jahre unter der Voraussetzung, dass in ihnen die Güter die Übel überwiegen würden? Diese Annahme wirkt gerade bei einem alten Mann merkwürdig. Ging es ihm also, wie Nagel nahelegt, lediglich um die Lebensverlängerung als solche? Aber warum? Weil, wie Nagel behauptet, das Leben ein Gut ist, und wenn es länger dauert, ein größeres? Klingt das nicht unwahrscheinlich? Erinnern wir uns, dass die Geschichte des Alten zu einem Phänomen führte, von dem wir bei Nagel nichts hören, die besondere Relevanz der Todesnähe, genauer natürlich: der angenommenen Todesnähe. Nun scheint mir, dass die beiden eben referierten Auffassungen, die von Nagel und die eines von mir fingierten Gegners, in gleicher Weise etwas im unklaren lassen oder sogar falsch sehen, nämlich das Verhältnis zwischen dem Leben einerseits und den Übeln und Gütern andererseits. Beide Parteien scheinen vorauszusetzen, dass das Leben wie ein Behälter oder eine Unterlage ist, sei es, dass es einen eigenen Wert hat oder – nach der anderen Auffassung – keinen. Dem steht eine verbreitete Lebenser-

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fahrung entgegen, die die übrigen Tiere wohl nicht kennen, die die Menschen jedoch häufig befällt und häufig lange erfüllt, nämlich die der Leere, des Überdrusses. Das Leben kann, ohne positive Übel, gleichwohl unerträglich erscheinen, und zwar so unerträglich, dass viele sich gerade deswegen (andere freilich aus anderen Gründen) den Tod wünschen. Dieses Phänomen dürfte es nach Nagel, also wenn das bewusste Lebendigsein schon als solches wünschenswert (oder „ein Gut“) ist, gar nicht geben, ja nicht einmal geben können; nach der anderen Auffassung natürlich noch weniger, da es dort nicht einmal vorkommt, außer als Behälter, also quasi als Tablett: für angenehme Klötzchen einerseits, unangenehme andererseits. In Wirklichkeit scheint jedenfalls ein Teil dessen, was man die Lebensgüter nennt, sich in seinem Gutseinfür-mich gerade auf das Leben zu beziehen, in einer Weise, die häufig so zum Ausdruck gebracht wird, dass man sagt, dass diese Güter  – es sind meist Tätigkeiten, Weisen des Bezogenseins auf andere, aber auch einfach Erlebnisse – es – das Leben – „erfüllen“¹¹, ihm, wie man auch sagt, „Sinn“ geben; anderenfalls erscheint es eben als „leer“, „sinnlos“. Es gibt Güter, die den negativen Gegenpart zu Übeln bilden, z.B. Freiheit gegenüber Freiheitsentzug, aber diejenigen Güter, die dem Leben Sinn geben – es sind wohl immer Verhaltensweisen –, sind nicht von dieser Art, sie haben eine andere Metrik. Ein Unterscheidungsmerkmal scheint zu sein, dass das, was dem Leben Sinn gibt, nie nur, aber immer auch von mir abhängt. Ich erlange z.B. ein Gut, Freiheit, wenn ich aus dem Gefängnis entlassen werde, aber ob das meinem Leben Sinn geben wird, hängt davon ab, ob und was ich mit dieser Freiheit mache. Was folgt daraus für Nagels These vom Eigenwert des Lebens? Erst einmal dasselbe wie vorher, nur mit diesem anderen Begriff. Während Nagel sagt, das Leben als solches sei emphatisch positiv, meine ich, daß das Leben als solches neutral ist, es ist an und für sich ohne Sinn, es kann mir ebensowohl als erfüllt wie auch als leer erscheinen, das aber hängt jetzt auch von mir ab: Ich kann ihm Sinn geben. Und wenn mir das nicht gelingt, finde ich das Leben häufig (nicht notwendigerweise, wie sich zeigen wird) unerträglich: Manche wollen dann lieber tot sein. Das soll natürlich nicht heißen, dass ich in dieser Sinngebung etwas aus nichts schüfe, frei nach Sartre. Wenn ich z.B., wie vorhin, aus dem Gefängnis entlassen werde, ist mir die Freiheit vorgegeben, aber das ist noch nicht an und für sich sinnvoll, und es ist uns natürlich sehr viel mehr vorgegeben, z.B. haben die meisten von uns zwei Beine, aber wir müssen sie in Bewegung setzen, und wir finden Menschen um uns vor und z.B. auch Musik und schöne Kunst usw. Wir befinden uns also in einer bestimmten, günstigeren oder ungünstigeren Umgebung und sind mit Dispositionen ausgestattet, in der Jugend meist mehr als im Alter, aber wir müssen die Dispositionen betätigen, und wenn das in der Weise befriedigen soll, dass es das Leben erfüllt – und das muss es scheinbar, wenn wir das Leben nicht als leer empfinden sollen –, müssen wir sie in

11 Cf. Weigel (1976).

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einer bestimmten Weise betätigen, aber wie, darauf ist wohl nicht generell zu antworten, weil es eine Frage ist, die sich jedem einzeln stellt. Diese Kritik an Nagel verweist natürlich schon auf eine existenzphilosophische Auffassung. Aber bevor ich zu Heidegger zurückkehre, muss ich sagen, wie aus der jetzigen Perspektive Nagels Frage zu beantworten ist. So wie Nagel es darstellt, wäre der Tod schon an und für sich ein Übel, wie das Leben an und für sich ein Gut ist. Man müsste es dann auch vorziehen, dass das Leben gar kein Ende hätte. Dass dies erstens für Wesen, wie wir es sind, deren Bewusstsein im Unterschied zu dem von anderen Tieren auf das Leben selbst bezogen ist, attraktiv wäre und dass dies zweitens, zeitlich, einem todlosen Leben (wenn wir denn die Option hätten) vorzuziehen wäre, ist zumindest umstritten;¹² es liegt eher nahe zu sagen, dass wir dann noch in der einen oder anderen Tätigkeit Sinn finden könnten; aber was wäre dazwischen? Hätte das Leben Sinn? Es scheint sich jedenfalls das, was ich anfangs nahelegte, zu bestätigen, nämlich dass wir uns nicht vor dem Tod im allgemeinen – dass wir einmal sterben werden – fürchten, sondern jeweils jetzt; das heißt: es wäre jetzt ein Übel; aber warum? Nur weil man länger leben will? Vielleicht, aber nun nicht mit Nagels Begründung, denn das Leben ist nicht an und für sich ein Gut. Hingegen ließe sich jetzt sagen: Das Übel bestünde darin, dass ich jetzt durch den Tod die Chance – die letzte Chance – verliere, meinem Leben Sinn – oder mehr Sinn – zu geben. Das würde erklären, warum der baldige Tod uns erschreckt, warum wir einen Aufschub wollen. „Nur nicht jetzt, nur nicht in dieser Sinnlosigkeit sterben.“ Das gäbe zumindest eine Antwort auf die Frage, was am jetzt bevorstehenden Tod das Übel ausmacht. Ich sage nicht, dass es die einzige Antwort ist; sie enthielte aber zugleich eine Erklärung, wieso das Bevorstehen dieses Übels als Herausforderung erlebt wird. Es ist diese Antwort, die zu Heidegger zurückführt. Es ist der Aspekt der Herausforderung, den er im Auge hat. Aber was bedeutet diese Herausforderung bei ihm, denn sie ist offenbar nicht einfach identisch mit dem, was sich eben zeigte? Bei Heidegger sieht es so aus, dass der Mensch, weil es ihm um sein eigenes Leben geht, Angst vor dem Tod hat, haben muss (wenn er nicht uneigentlich existiert), aber wir haben schon gesehen, dass das falsch ist. Diese Auffassung ist die Folge davon, dass Heidegger die Zweideutigkeit im Begriff des Worumwillen nicht gesehen hat und dass er den Wertwörtern ausweicht (Hamlets „ob es besser ist“ ist bei ihm kein möglicher Gedanke). Er hätte sonst seine These so erläutern müssen, dass das Leben das höchste Gut ist, und wir haben eben in der Auseinandersetzung mit Nagel gesehen, dass das nicht stimmt: Das Leben ist nicht ein Gut, sondern es kann, teils durch glückliche Umstände, teils immer auch durch uns, Sinn gewinnen; kann, muss nicht. Die Erfahrung der Leere ist immer die andere Seite für ein Bewusstsein, das sich zeitlich zu seinem Leben verhält. Der eigentliche Kern von Heideggers Gedanke, dass das letzte Worumwillen jedes Menschen sein eigenes Leben ist, ist, dass wir voluntativ nicht

12 Cf. oben S. 40 und Williams (1973).

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nur auf einzelne Inhalte bezogen sind, Zwecke und Tätigkeiten, sondern immer auch auf das eigene Leben, aber auf dies beides, das eigene Leben und die Inhalte, nicht nebeneinander, so dass wir auf das eine und auch auf das andere voluntativ bezogen wären, sondern – wie ich das in der Kritik an Nagel zu zeigen versuchte – so, dass wir durch die Inhalte (und natürlich nur durch sie) dem Leben Sinn geben können oder auch nicht. Es ist freilich nicht abzustreiten, so gibt Heidegger selbst zu, dass wir das Leben als solches vergessen und uns an die Inhalte, die begrenzten Zwecke, gewissermaßen verlieren können. Es ist das, was Heidegger mit dem Wort „Verfallen“ meint. Wenn das aber eine offensichtliche Möglichkeit ist – wir gehen zumeist in isolierten Tätigkeiten, Zielsetzungen und der Vermeidung von Übeln auf –, dann stellt sich die Frage, ob die These von dem voluntativen Bezug auf das Leben als solches vielleicht nur eine philosophische Erfindung ist. Ist er überhaupt phänomenal ausweisbar? Darauf lautet Heideggers Antwort: gerade durch die Angst vor dem Tod. Wenn die Furcht vor dem Tod, wie es sich vorhin in der Kritik an Nagel nahelegte, so verstanden werden kann, dass ich angesichts der Möglichkeit des Nichtmehr-seins davor erschrecke, dass mein Leben leer war – jetzt auch in dem Sinn, dass ich mich an belanglose Inhalte verloren habe –, dann heißt das, dass der Tod mich daran erinnert, dass ich nicht nur dies und das verfolge und befürchte, sondern eben – in all dem – lebe. Im Verhalten zum ‚Tod – dem Ende meines Lebens – werde ich meines Lebens ansichtig. (→ s. Kap. X, Fuchs) Ich meine nun aber – in der Auseinandersetzung mit Nagel wurde es offensichtlich –, dass es nicht nur die Nähe des Todes ist, die uns auf das Leben als solches aufmerksam machen kann. Man kann hier auf die Verzweiflung hinweisen, so wie Kierkegaard sie beschreibt, das Verzweifeln am Leben, weil unsere begrenzten Ziele scheitern oder weil sie uns ausgehen; dann erscheint, gewissermaßen hinter den begrenzten Zielen, das Leben selbst, und dann stößt unser Wollen, wenn wir es so definiert haben, dass es sich in den begrenzten Zielen erschöpft, ins Leere. Das ist nicht die Leere des Todes, sondern des Lebens, und was uns unerträglich scheint, ist nicht der Tod, sondern das Leben; der Tod ist dann nicht das, was wir fürchten, sondern begehren. Der Überdruss angesichts der Sinnlosigkeit und die Erfahrung der Todesnähe sind also zwei gegensätzliche Möglichkeiten, die jedoch darin übereinkommen, dass wir in beiden mit dem Leben als solchem konfrontiert werden, im Gegensatz zu den begrenzten Zielen. Bei Heidegger klingt diese zweite Möglichkeit höchstens am Rande an (in Sein und Zeit kaum, in den Vorlesungen eher; man braucht das nicht nachzulesen, weil man es sich begrifflich klarmachen kann). Schon Heideggers massive Rede vom Nichts und der Angst vor dem Nichts, als ob alles am Leben, was als nichtig erfahren würde, ungefähr dasselbe wäre, hinderte ihn daran, diese zweite Möglichkeit in ihrer Gegensätzlichkeit zur ersten zu erkennen. Dabei ist nicht abzustreiten, dass sich die beiden Erfahrungen durchaus verbinden können. So ist bekannt, dass viele, die in Depression versunken sind und am liebsten sterben würden, wenn sie sich dann durch eine schwere Krankheit, z.B. einen Infarkt, wirklich in Todesnähe sehen, um jeden Preis leben wollen. Auch schließt die Depression

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nicht die Todesfurcht aus, ja es ist naheliegend, dass der Depressive, obwohl er sich den Tod wünscht, ihn gleichzeitig fürchtet, weil er nicht in dieser Verfassung – im Bewusstsein, am Leben vorbeigelebt zu haben – aufhören will. Ich will mit alledem nicht leugnen, dass es auch Menschen gibt, oder besser gesagt Menschen in bestimmten Situationen, die sich den Tod weder wünschen noch ihn fürchten, und man sollte sie nicht, wie Heidegger es tut, in die Ecke der Uneigentlichkeit schieben, in die der Lebensvergessenheit. Es kann verschiedene Gründe geben, warum man den Tod nicht fürchtet und ihn doch nicht sucht, auf der einen Seite ein bestimmtes Gefühl von Sinninsuffizienz, auf der anderen gerade das Gefühl, erfüllt gelebt zu haben. Wer das Bewusstsein hat, sinnvoll gelebt zu haben, dürfte eigentlich, wenn das bisher Ausgeführte stimmt, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hat, keinen Grund mehr haben, sich vor dem Tod zu fürchten. Meine Frage war hier eher hypothetisch: Was am Tod ist es, das man fürchtet, wenn man ihn fürchtet? Einige Antworten scheinen mir falsch oder einseitig, und meine ist gewiss auch einseitig. Zum Beispiel habe ich, Heidegger und Nagel folgend, das Soziale ganz herausgelassen. Man könnte mir entgegenhalten, der Tod sei ein viel komplexeres Phänomen, ein Knäuel von Problemen. Das ist gewiss richtig, aber wenn wir nicht im völlig Unbestimmten bleiben wollen, müssen wir – glaube ich – irgendwo anfangen, aber mit einer Lupe, und dann ergänzen. Worauf es mir ankam, war nicht so sehr, eine bestimmte Antwort zu geben, als einen Diskurs, der schon wenig Neues zu bieten schien, wieder in Gang zu bringen. Zumindest eine Ergänzung ist schon aufgrund meiner eigenen Gedankenführung erforderlich. Auf die Ausgangsfrage, inwiefern – um mit Nagel zu sprechen – der Tod ein Übel ist, oder –unverfänglicher formuliert – warum wir ihn fürchten, fanden wir bei Heidegger gar keine Antwort, bei Nagel eine falsche. Die Frage, zeigte sich, kann nur lauten: Warum fürchten wir, bald zu sterben? Das war das Ergebnis bereits der Auseinandersetzung mit dem chilenischen Alten. Ich habe als eine mögliche Antwort vorgeschlagen: weil wir durch den Tod die Chance verlieren, dem Leben einen Sinn zu geben oder mehr Sinn zu geben. Ich ließ aber offen, dass diese quasi existenzphilosophische Antwort nur eine mögliche ist. Ich bezweifle, dass sie dem chilenischen Alten eingeleuchtet hätte. Er hätte – so meine ich – gesagt, dass er lediglich weiterleben wolle. Aber warum, wenn doch die Übel im Alter die Güter überwiegen? Ich werde nur auf einem Umweg zu einer Antwort kommen, indem ich zuerst die existenzphilosophische Antwort weiter kläre. Ein Begriff, den ich an zentraler Stelle verwendete und im Unklaren ließ, war der der Sinngebung. Ich kann, was ich damit meine, etwa so erläutern (alle Klärungen, so erinnere man sich, sind vorläufig und können verbessert werden): Wenn wir auf der einen Seite selbstvergessen auf irgendeinen Zweck aus sind, erfüllt dieser unser Wollen, aber das bleibt isoliert; und was kommt danach? Wir stehen dann vor der Leere des Lebens; leer, weil unser Wollen nicht mehr oder nur partiell noch greifen kann. Wenn wir hingegen das Leben selbst bejahen können, und das kann immer nur durch Tätigkeiten und Zwecke oder Haltungen, Haltungen auch zu unserem Leiden, geschehen, geben wir dem Leben Sinn. Das

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Leben ist für mich sinnvoll, so möchte ich das quasi definieren, wenn ich mich einerseits nicht in den begrenzten Zwecken verliere, sondern mich auf das Leben selbst beziehe, und ich mir andererseits nicht, weil es mir leer erscheint, den Tod wünsche. Diese Definition ist freilich, bewusst, völlig formal. Gibt es Rezepte? Heidegger verneint das entschieden, ¹³ und letztlich ist das gewiss richtig, nicht nur wegen der Verschiedenheit der Lebenssituationen, sondern weil es dem Umstand widerspräche, dass die Sinngebung nur als Akt der Freiheit verstanden werden kann. Aber wenigstens die formale Charakterisierung des Existenzproblems sollte möglichst angemessen erfolgen, und ich meine, dass es so, wie Heidegger es darstellt, verengt und mit unnötigen Merkwürdigkeiten belastet ist. Die einzige Aussage, die man bei Heidegger darüber findet, wie sich das Bewusstsein der Todesnähe auf das Leben auswirkt, ist, dass es „von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten“ befreie.¹⁴ Das ist sicher eine Seite, aber Heidegger schreibt so, als stehe jeder immer vor einer Menge von Möglichkeiten – das ist sein Wort für die begrenzten Zwecke – und müsse nur wählen. Wieder zeigt sich, dass Heidegger die Situation der Leere, in der jemand wenigstens meint, keine Möglichkeiten zu haben, nicht berücksichtigt. Und dann spricht er so, als gelte es, die „eigenste“ Möglichkeit zu wählen. Dieser Ausdruck: „eigenste Möglichkeit“ schillert in Sein und Zeit. Erstens steht er für den Todesbezug selbst, und hier finde ich den Ausdruck einleuchtend – es handelt sich um etwas, worin jeder ganz auf sich zurückgeworfen, „unvertretbar“ ist¹⁵  –, aber dann, im folgenden Kapitel, verwendet Heidegger den Ausdruck auch inhaltlich, als ob es darauf ankäme, einen bestimmten ganz eigenen Weg zu finden. Durch dieses Insistieren auf Eigenstes und Eigentlichkeit gibt Heidegger seinem Gedanken eine sehr eigene Wendung, durch die das Problem, vor das wir uns wirklich angesichts des Todes gestellt sehen, schon in seiner formalen Fassung vereinseitigt wird. Tolstoi hat in seiner Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ eine allgemeinere Formulierung gewählt, die ich angemessener finde. Heidegger erwähnt diese Erzählung nebenbei in einer Anmerkung¹⁶, aber ich meine, dass das, was Heidegger über das Sein zum Tode sagt, lediglich der Versuch ist, das, was Tolstoi in der Form einer Erzählung beschrieben hat, begrifflich zu fassen – und Tolstoi gelang das ohne die Sophistereien, die sich bei Heidegger finden und von denen ich nur einige genannt habe.¹⁷ Die Einsicht, zu der Iwan Illjitsch am Ende seiner Krankheit und seiner Todes-

13 Heidegger (1927), S. 298. 14 Ebd., S. 264. 15 Ebd., S. 239 f., 263 f. 16 Ebd., S. 254 Anm. 17 Der in systematischer Hinsicht entscheidende Irrtum, der Heidegger im Todeskapitel unterlaufen ist – er macht die Absicht des ganzen Buches zunichte –, besteht darin, dass er glaubte, wenn er vom Tod als Möglichkeit spricht, „Möglichkeit“ im existenzialen Sinn verstehen zu können. Mit Möglichkeiten im existenzialen Sinn meint Heidegger Seinsweisen des Daseins. Der Tod hingegen, der „jeden Augenblick möglich ist“ (d.h. eintreffen kann), lässt sich natürlich nur als

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angst kommt, ist: Ich habe falsch gelebt, mein Wohlbefinden war Täuschung, ich habe nicht gelebt, wie ich gesollt hätte. Ich finde diese Antwort befriedigender, schon weil sie formaler und allgemeiner ist als Heideggers Rede von Möglichkeiten und einer eigensten. Sie scheint auch genau dem zu entsprechen, was ich vorhin meinte, als ich sagte: Ich habe am Leben vorbeigelebt. Heidegger war der Bezug auf ein Sollen offensichtlich unsympathisch, und man wird in der Tat vorsichtig sein müssen, wie das Wort hier zu verstehen ist. Hat Tolstoi es auf Gott bezogen? Er sagt das aber nicht. Und moralisch wird man es auch nicht verstehen können. Ich schlage vor, es so zu verstehen: Ich habe falsch gelebt, d.h. nicht so, wie ich gesollt hätte, wenn ich, wie ich gelebt habe, angesichts des Todes bedauere. Wieder bleibt die Antwort ganz formal, formaler als die Heideggers. Wir müssen nicht Angst vor dem Tod haben, aber wenn wir sie haben, haben wir sie – meine ich – davor. Aber auch diese Aussage scheint zu stark, denn viele Menschen würden mir widersprechen und mit meinem chilenischen Alten sagen: Nicht, weil sie bedauern, wie sie gelebt hätten, hätten sie Furcht vor dem Tod, sondern einfach, weil sie weiterleben wollten. Etwas fehlt also noch. Ich bleibe gleichwohl noch einen Moment bei Tolstoi. Für ihn war die Begegnung mit dem Tod Anlass zur Umkehr, jedoch keiner Umkehr, wie in der christlichen Tra-

Ereignis verstehen, das Ereignis des Aufhörens meines Lebens, und das „Vorlaufen zum Tode“ ist ein Sichverhalten zu diesem Ereignis. Um sich gegen diesen einfachen Tatbestand zu sperren, schreckte Heidegger nicht vor den abenteuerlichsten Sätzen zurück: „Das Zu-Ende-Sein besagt existenzial: Sein zum Ende“ (S. 250). Die Hinzufügung des Wortes „existenzial“ soll die magische Wirkung haben, das Ende als Sein zum Ende zu verstehen, während dieser Ausdruck doch seinen Sinn verliert, wen man nicht zwischen dem Ende und dem „Sein zu“ ihm unterscheidet. Dieselbe Verdrehung wiederholt sich in dem Satz: „Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein ZuEnde-Sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden“ (S. 243). Man kann so eine Definition nicht verbieten, muss sich aber im klaren sein, dass sie impliziert, dass wir immer, wenn wir uns zum Tod verhalten, am Sterben sind. Dass Heidegger das, was man normalerweise als Sterben versteht, demgegenüber als „Ableben“ bezeichnet, wird man wohl nur noch als geschmacklos empfinden können. – Der strukturelle Fehler, der Heidegger hier unterlaufen ist, ist derselbe, den er im § 65 begeht, wenn er behauptet, die existenziale „Zu-Kunft“ sei ursprünglicher als das Künftige, und den schlichten Tatbestand übersieht, dass jemand in der Weise dieser „ZuKunft“ auf sich – sein Leben – nur zukommen kann, wenn vorausgesetzt ist, dass es eine zukünftige Ereignisfolge gibt (cf. Tugendhat (1992), S. 132). Die Grundthese von Sein und Zeit, dass das existenziale Sein ursprünglicher sei, als was Heidegger „Vorhandenheit“ nennt, scheitert also in gleicher Weise bei der Todesanalyse wie bei der allgemeinen Analyse der existenzialen Zeitlichkeit. (Man kann, sobald man diese Fehler durchschaut hat, nur erstaunt mit dem Kopf schütteln.) – Weil der Tod nun einmal ein Ereignis ist, spreche ich im Text dauernd von Furcht vor dem Tod, wo Heidegger von Angst spricht. Wir haben Furcht vor dem Tod, also vor etwas. Gerade wenn man, wie Heidegger es tut, die Angst in der Weise terminologisch von der Furcht unterscheidet, dass die Angst keinen intentionalen Gegenstand hat, ist es sinnwidrig, von der Angst vor dem Tod zu sprechen. Bei einer laxeren Verwendung des Wortes „Angst“, wie sie dem üblichen Sprachgebrauch entspricht, ist gegen diese Redeweise natürlich nichts einzuwenden.

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dition, zu einer Norm. Was man erlebt, ist vielmehr wie eine Verbindung eines Ausrufezeichens mit einem Fragezeichen. Das Beängstigende ist die Unbestimmtheit des Fragezeichens. In der Erzählung erscheint schließlich ein Licht, das die Angst löst. Das wirkt erst einmal wie ein deus ex machina und ist gewiss nicht verallgemeinerbar. Schlicht verallgemeinerbar ist hier wohl nichts, aber lehrreicher erscheint mir, wie Tolstoi das Bewusstsein der Todesnähe in dem zwanzig Jahre früher geschriebenen Roman Krieg und Frieden darstellt. Als Fürst Andrej in der Schlacht von Austerlitz tödlich verwundet wird (er stirbt dann gleichwohl nicht), sieht er, nachdem er rücklings auf die Erde gefallen war, „nichts mehr über sich als den Himmel, den hohen Himmel, der jetzt nicht klar, aber doch unermesslich hoch war, mit ruhig über ihn hingleitenden Wolken“ (III, § 16). Der Hinweis auf die Wolken scheint mir deutlich zu machen, dass nicht der christliche Himmel gemeint ist, sondern unser wirklicher, der wahrnehmbare Himmel. „Wie ist es nur zugegangen“, fragt sich Andrej, „dass ich diesen hohen Himmel früher nie gesehen habe?“ „Ja, alles ist nichtig, alles ist Irrtum und Lüge“, sagt er, ähnlich wie Iwan Ilijitsch sein früheres Leben als Irrtum und Täuschung erkennt, alles „außer diesem unendlichen Himmel“. In den kurzen Momenten, in denen ihm das Bewusstsein wiederkehrt, sieht er immer wieder diesen hohen Himmel, und als zufällig Napoleon, sein früheres Idol, heranreitet und ihn anspricht, würdigt er ihn keiner Antwort. Napoleon erscheint hier als der Inbegriff der begrenzten Ziele, wie groß auch immer sie einem erscheinen mögen. „In diesem Augenblick erschien ihm Napoleon als ein so kleiner, nichtiger Mensch im Vergleich mit alledem, was jetzt zwischen seiner Seele und diesem hohen, unendlichen Himmel mit den darüber hinlaufenden Wolken vorging“ (III, § 19). Es ist ein alter Topos, dass der Mensch angesichts des Todes sich seiner Geringfügigkeit und der Geringfügigkeit seiner Sorgen bewusst werden kann. Wie anders klingt das als die Frage nach der eigensten Möglichkeit. Die Maßstäbe werden zurechtgerückt. In diesem Sinn lässt sich jetzt auch das Licht der späteren Novelle und die dortige Rede von einem Sollen verstehen. Es zeigt sich etwas Offensichtliches, was nur verdrängt worden war. Im gewöhnlichen Leben und auch gerade in der Depression neigt jeder dazu, sich als Universum zu sehen, aber es ist ein Irrtum: Ich bin in der Welt, diese ist das Universum, und ich nur eine Partikel. Der Tod und schon das Altern enthalten die Chance, diesen Irrtum einzusehen und sich gewissermaßen innerhalb des Theaters auf die Seite zu stellen, aus dem Zentrum heraus. Im gewöhnlichen Leben liegt die Vorstellung nahe, dass mein Bewusstsein vielmehr das Theater ist, deswegen empfindet der Depressive diese Leere, obwohl doch das Theater der Welt, wenn man nicht gerade z.B. in einem Konzentrationslager ist, voller Leben ist. Und deswegen erscheint das Aufhören des Lebens, wenn ich das nicht sehe, nicht als ein im Theater Zurück- und schließlich aus ihm Heraustreten, sondern als Aufhören des Theaters selbst, und das wirkt unvorstellbar im Sinn von schrecklich. Für denjenigen hingegen, der den Tod zum Anlass nehmen kann, sich aus dem Zentrum zurückzunehmen, das Napoleonische abzustreifen, verändern sich die Gewichte. Er lässt sich los, indem er sich in die Welt zurück und in dieser an den Rand stellt. Das

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bedeutet nicht, dass er entschwebt (und etwa mit Gustav Mahler sagt „Ich bin der Welt abhanden gekommen“), sondern diese Positionsänderung kann auch zu einer Quelle der Sinngebung seiner konkreten Situation werden. Es ist das, was Fürst Andrej aufgehen wird, wenn er sechs Jahre später zum zweiten Mal, und diesmal endgültig, tödlich verwundet wird. So gesehen, legt der Tod auf die Frage, vor die er stellt, selbst eine Antwort nahe, aber es ist nicht leicht, sie zu ergreifen. Warum nicht? Ich habe vorhin von einem Irrtum gesprochen, und man kann sagen, es ist ja wirklich ein Irrtum, sich als Zentrum der Welt zu sehen, aber es ist, darin muss man Nietzsche recht geben, ein Irrtum, ohne den kein Mensch und kein Lebewesen lebensfähig wäre. Wer sich selbst nicht über alles wichtig nimmt, ist nicht lebensfähig. Es ist das, was die Stoiker mit dem Begriff der Oikeiosis und Rousseau mit dem des amour de soi im Auge hatten. Als Säugling ist jeder allemal für sich das ganze Theater, das Universum. Im Aufkommen und Wachsen des Realitätssinns spaltet sich das dann: Wir lernen, dass wir das Universum uns gegenüber haben und unsere Wünsche mit ihm in Einklang bringen müssen. Aber nach wie vor sind unsere Wünsche das für uns Ausschlaggebende, wir halten an diesem Mikrokosmos fest und wir würden unsere Lebensfähigkeit verlieren, wenn wir uns nicht gegen die Grenzen stemmten, die uns die Realität vorgibt. Jeder Weg hinauf, alle Kreativität, jeder Einsatz, aber wohl auch alles Obensein, alles Glück setzt diese Selbstzentriertheit voraus und impliziert das Risiko der Verzweiflung. Die Gelassenheit, das Sich-los-Lassen ist nicht mehr Realitätssinn, denn in dieser Haltung stemmen wir uns nicht mehr nach außen und haben das Universum nicht mehr uns gegenüber, sondern treten in dieses zurück. Die Rede von einem Irrtum, sich als Zentrum anzusehen, ist also nicht ganz richtig. Weil es ein Irrtum ist, haben wir die Möglichkeit, uns loszulassen und zurückzustellen. Aber weil dieser Irrtum die Bedingung des individuellen Lebens ist, lässt sich das nur als Grenzmöglichkeit verstehen. Mit der Geschichte des Fürsten Andrej ist gleichzeitig die Gegenmöglichkeit, das Am-Leben-Haften meines chilenischen Alten verständlich geworden. Beide Geschichten Tolstois enthalten eine Umkehr. Geschieht diese nicht, dann ist das Weiterlebenwollen um jeden Preis selbstverständlich – nicht weil das Leben ein Gut ist, nicht weil die Güter die Übel überwiegen, sondern weil der Wille zur Selbsterhaltung die erste, grundlegende Komponente der Oikeiosis des Sichwichtig-Nehmens ist, und das ist auch der Grund, warum das Aufhören schrecklich erscheint, wenn man im Zentrum bleibt, d.h. selbst das Theater ist. Diese Reaktion ist jetzt verständlich, aber sie wirkt unter bestimmten Bedingungen irrational, sei es, dass man sich, z.B. im Alter, in einer Situation befindet, in der es außer aufgrund dieses Triebs nicht sinnvoll erscheint, am Leben zu haften, sei es, weil man etwas als schrecklich empfindet, was man nicht als schrecklich empfinden muss, wenn es den anderen Weg gibt, den des Fürsten Andrej. Man kann jetzt das mysteriöse „sollte“, auf das wir in der anderen Geschichte gestoßen waren, so interpretieren, dass der, der sich dem Tod nahe sieht, es bedauern würde, wenn ihm die Entzentrierung nicht

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gelingt, wenn es ihm also nicht gelingt, mit dem Apostel Paulus, wenn auch nicht in seinem Sinne, auszurufen: „Tod, wo ist dein Stachel?“ (Kor. I, 15,55) Man könnte die Gelassenheit vielleicht ihrerseits unter den Realitätssinn subsumieren, weil sie sich besonders dann nahelegt, wenn das Festhalten als irrational erscheint, ähnlich wie wir ein Übermaß an Emotionen zu vermeiden versuchen, wo wir dieses als realitätsunangemessen erkennen, ohne deswegen die Emotionalität als solche zu verachten. Das führt schließlich zur Frage nach der anzustrebenden Ausgewogenheit zwischen Festhalten und Kämpfen einerseits und Loslassen andererseits. Denn um Ausgewogenheit scheint es sich doch handeln zu müssen. Die schlichte Lebensverneinung, wie der Buddha sie lehrte, wirkt ebenso fragwürdig wie die sture Selbstbehauptung. Das Loslassen, die Gelassenheit, ist im übrigen eine Haltung, die wir uns nicht nur dem Tod gegenüber wünschen, sondern in allem unseren Tun und Trachten, und doch wissen wir, dass die Gelassenheit, wenn sie nicht nur als Grenzmöglichkeit verstanden wird, zur Gleichgültigkeit und Apathie führen würde. So scheint unser Leben in einer Gratwanderung zwischen diesen gegensätzlichen Haltungen zu bestehen, deren Verlauf wohl jeder für sich finden muss, wobei der Kompass, die Anzeige des Sich-Verirrens, vielleicht nur in dem vorhin genannten Bedauern besteht. Aber, so könnte man fragen, sind hier nicht einfach eine Reihe von Lebensmöglichkeiten genannt worden, ohne dass klar wurde, welche Verbindlichkeit sie haben oder welche Grundlage, sei es in unserem Wesen, sei es in sonst etwas? Warum müssen wir uns denn z.B. nicht nur auf die begrenzten Ziele, sondern auch aufs Leben selbst beziehen? Und dann: Warum müssen wir, wenn auch nicht uneingeschränkt, Gelassenheit anstreben? Und schließlich: Warum müssen wir die eben angedeutete Ausgewogenheit anstreben? Diese Fragen sind nicht sinnvoll, das „warum müssen wir?“ ist nicht sinnvoll; wir müssen nichts. Die Vorstellung der tradierten Philosophie, dass wir Haltungen einnehmen müssen, und dies, weil sie auf etwas beruhen, erscheint mir nicht sinnvoll. Philosophieren geschieht nicht in dritter Person, in der wir über etwas – und auch über andere und auch über mich selbst – beschreibend und erklärend reden, sondern in erster und zweiter Person, in der wir miteinander über willentliche Einstellungen, tradierte oder auch nicht-tradierte, sprechen – Einstellungen, die wir zu haben glauben oder die wir erstrebenswert finden. Indem wir sie in ihren Implikationen klären, erweisen sich einige als konfus, und es liegt dann nahe, sich von ihnen zu trennen, aber zwingend ist das nicht; sind sie klar, so können wir uns analytisch über ihre Implikationen verständigen, Implikationen, die uns gegebenenfalls so wenig behagen, dass wir uns auch von ihnen trennen wollen könnten; aber auch das ist nicht zwingend. Schließlich zeigen sich bei der Klärung andere Haltungen, die keine unerwünschten Implikationen zu haben scheinen (über das „scheinen“ kommen wir ohnehin nie hinaus), und das kann dann dazu führen – aber wieder nicht zwingend  –, daß wir sie als wirkliche Optionen unseres Wollens (aber nicht unbedingt als ausschließliche) ansehen. Alle Willenseinstellungen, die faktischen und die erstrebten, haben eine mehr oder weniger weitgehende und mehr

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oder weniger verstandene Grundlage, eine historische z.B. oder eine biologisch-anthropologische, aber die Frage, ob es und inwieweit es das eine oder das andere oder ein drittes ist, ist nicht sehr wichtig, weil die Fragen, vor die wir uns gestellt sehen, praktische Fragen sind: Fragen, wie wir leben wollen, nicht Fragen, wie wir sind oder woher wir kommen. Wir wollen im Lichte dessen, was wir zu sein glauben, und je besser wir verstehen, was wir sind, desto klarer unser Wollen; aber das Wollen würde aufhören, ein Wollen zu sein, wenn sich jemand einbildete, dass, weil wir so und so sind, wir so und so wollen müssen. Wir müssen etwas wollen nur relativ zu etwas anderem, was wir wollen.

Literatur Friedrich, Hugo, 1946, Montaigne, Bern. Heidegger, Martin, 1927, Sein und Zeit, Halle a. d. Saale. Nagel, Thomas, 1979, Mortal Questions, Cambridge. Nagel, Thomas, 1984, Über das Leben, die Seele und den Tod, aus dem Engl. übersetzt von Karl-Ernst Prankel u. Ralf Stoecker, Königstein / Ts. Tugendhat, Ernst, 1992, Philosophischen Aufsätze, Frankfurt a.M. Weigel, Helmut (Hg.), 1976, Wie sieht erfülltes Leben aus?, Stuttgart u. Berlin. Williams, Bernard A. O., 1973,„The Macropoulos Case; Reflections on the Tedium of Immorality“, in: Ders., Problems of the Self, Cambridge, S. 82 – 100.

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1.3 Verlorene Kunst: Altersgebrechen angesichts des Todes und ars moriendi aus kulturhistorischer Perspektive Abstract: Eine Ars Moriendi als Kunst des guten Sterbens ist in der Antike allenfalls in der Anmahnung stoischer Duldsamkeit gegenüber dem Tod fassbar. Erst im Mittelalter tritt sie als zentrale Thematik in einer besonderen Textgruppe unter dieser Bezeichnung in Erscheinung und wird zu einer wichtigen Textgruppe der spätmittelalterlichen Erbauungsliteratur. Der Christ wird in seiner Todesstunde angeleitet zu einem guten Sterben, denn in der Todesstunde wird die letzte, unwiderrufliche Entscheidung über die Errettung der Seele getroffen. Auch in der Reformation wird die Textgruppe wenngleich unter erheblicher Bedeutungsverschiebung fortgeführt. Zunehmend rückt dabei auch der Begriff der Euthanasia als Idealtypus des guten, sanften Todes ins Blickfeld. Euthansia meint dabei erst im frühen 19.  Jahrhundert, und auch nur sehr gelegentlich, das aktive, bewusst in Kauf genommene lebensverkürzende Handeln des Arztes. Vor seinen dramatischen Auswirkungen auf die Moral des Arztes wird sogar eindringlich gewarnt. An Ars moriendi as the art of good dying can only be found in the Ancient World in the reminder to practice Stoic patience towards death. Not until the Middle Ages does this “art” occur as the central subject in a group of texts with this designation, becoming a very important text group within the literature of edification of the Late Middle Ages. The Christian is guided towards good dying in his hour of death, for during the hour of death the last, irrevocable decision is made about the saving of the soul. During the Reformation, too, this group of texts continues to be written, albeit with a considerable change in meaning. The concept of euthanasia increasingly occurs, as the ideal type of good and gentle death. Not until the early nineteenth century, and then only very occasionally, did euthanasia come to mean the active and conscious shortening of life through action on the part of the physician. Warnings, indeed, were given out of its dramatic effects on the morale of the physician. Keywords: Ars moriendi, Euthanasie, Sterbebegleitung

Prof. Dr. med. Wolfgang U. Eckart, [email protected], Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität, Im Neuenheimer Feld 327, 69120 Heidelberg

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Alles Menschliche Leben findet sein definitives Ende im Tod. Der Tod ist damit die absolute, unüberschreitbare Grenze des individuellen Lebens. Aber auch die kurze Wegstrecke des Sterbens vor dem Tod ist noch Leben, wenngleich gebrechlich, schwer krank und in Last ertragen. In der europäischen Antike und im Mittelalter wird diese letzte Wegstrecke häufig als große Prüfung in Altersgebrechlichkeit, Krankheit und Lebensunlust beschrieben;¹ während wir jedoch in der Antike über philosophische Lebensanleitungen der Stoa hinausgehend wenig über den Umgang mit solchen Kranken kurz vor ihrem Tod erfahren, entwickelt das Mittelalter eine eigene Kunstfertigkeit im Umgang mit dem Sterben, die sich in einer ganzen Textgruppe, der Ars-moriendi-Literatur reich niederschlägt. Der Gestalt dieser Textgruppe geht der folgende Abriss vom Spätmittelalter bis in die frühe Neuzeit nach. Es zeigt sich dabei ein bemerkenswerter Wandel im Umgang mit dem Sterbenden vom mittelaterlichen Bemühen um Rettung der Seele vor der ewigen Verdammnis über die Festigung und Versicherung im Glauben in den reformatorischen Sterbeschriften bis hin zur Lehre von der Euthanasia als dem guten, sanften Übergang vom Leben in den Tod im 17. und 18. Jahrhundert. Aber Euthansia wurde auch in der frühen Neuzeit gelegentlich bereits als aktive Lebensverkürzung durch den Arzt in auswegloser Situation und dem ausdrücklichen Willen des Sterbenden folgend aufgefasst. Die überwiegende Anzahl der frühneuzeitlichen Sterbekünste richtet sich allerdings auf den sanften Übergang in den Tod, und zu Beginn des 19. Jahrhunderts erheben sich sogar Stimmen, die vor der Entgrenzung ärztlichen Handelns durch die aktive Herbeiführung des Todes in der Sterbephase eindringlich warnen.

1 Lebenskunst angesichts des bevorstehenden Todes – Antike bis Mittelalter In der antiken Welt Europas ist die letzte Wegstrecke des Lebens einerseits mit Weisheit verbunden, andererseits ist sie aber auch bereits durch Torheit gefährdet und nahezu immer von kaum noch zu ertragender körperlicher Last begleitet. Diesem Gesetz der Natur ist nicht zu entrinnen, man muss es vielmehr mit Gelassenheit ertragen, so zumindest will es die römische Lehre der Stoa. Wer dem nicht zu folgen vermag, ist ein Narr am Ende des Lebens: „Wer keine Kraft zu einem sittlich guten und glückseligen Leben in sich selbst trägt, dem ist jedes Lebensalter eine Last; wer aber alles Gute von sich selbst verlangt, dem kann nichts, was das Naturgesetz [naturae necessitas] zwangsläufig mit sich bringt, als ein Übel erscheinen. Dazu gehört in erster Linie das Alter; alle wünschen es zu erreichen; haben sie es dann erreicht, dann beklagen sie sich darüber; so inkonsequent und unlogisch sind sie, die Toren“ (Cic., II, 4).²

1 Vgl. hierzu Eckart (2000). 2 Cicero (1982), S. 23.

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Keinem Geringeren als Marcus Tullius Cicero (106 – 43), dem römischen Politiker, Redner und Philosophen des ersten Jahrhunderts vor Christus, verdanken wir diese Zeilen über die letzten Lebensjahre. Sie finden sich am Anfang des wohl im Jahr 44 v. Chr. entstandenen Dialogs „Cato der Ältere“ über das Alter, den Cicero, schwer durch den Tod der geliebten Tochter Tullia getroffen, bedrückt aber auch bereits durch die „Last“ des eigenen „Alters“, dem Freund Atticus und sich selbst als Trostschrift geschenkt hatte. Kritisch setzt sich der Römer mit den landläufigen Urteilen seiner Zeit über das Greisenalter auseinander. Dass dieses die Kraft der Jugend vermissen lasse, werde aufgewogen durch vorzüglichere Geisteskräfte; auch von einem Mangel an Sinneslust könne keine Rede sein, mürrisches, zänkisches Wesen und Geiz dürfe man nicht in Abhängigkeit vom Alter sehen, sondern müsse es dem Charakter zuschreiben. Und der sich nähernde Tod? Muss man ihn wirklich fürchten in vorgerücktem Alter? Wohl kaum erklärt Cicero: „O wie beklagenswert ist der Greis, der in einem so langen Leben nicht einsehen gelernt hat, dass man den Tod nicht zu achten hat. Entweder haben wir den Tod mit Gleichgültigkeit zu betrachten, wenn er das Leben der Seele ganz auslöscht; oder er ist sogar wünschenswert, wenn er sie zu einem ewigen Leben führt. Ein dritter Fall lässt sich doch wohl nicht finden“ (Cic., IX, 66).

Es ist wahr. In Ciceros idealisierendem Alterslob verliert der letzte Akt des Lebensschauspiels jeden bitteren Beigeschmack. Ruhe, Weisheit und Unabhängigkeit von den Tagesgeschäften (abstractus a rebus gerendis) bestimmen seinen Lauf. Aber Cicero beschreibt nicht, er entwickelt ein Ideal und gewährt damit zugleich einen Blick auf das wirkliche Leben, das eben so beschaffen nicht war, wie wir mit Blick auf den Ausspruch des römischen Komödiendichter Terenz (195 / 190 – 159) vom Alter als Krankheit („Senectus ipsa morbus“, Ter. Phorm., 575) vermuten dürfen. Auch die im ersten Jahrhundert nach Christus niedergeschriebene Klage des römischen Enzyklopädisten Cornelius Celsus (1. Jh. n. Chr.) lässt aufhorchen: Die doch so vielfältig entwickelte Heilkunde lasse gleichwohl nur wenige Leute das Greisenalter erreichen (Cels. De re medic., praef. 5). Tatsächlich ist aus Altersangaben auf Grabsteinen des römischen Imperiums das dritte Lebensjahrzehnt als häufiges Sterbealter errechnet worden, und eine durchschnittliche Lebenserwartung in diesem Bereich dürfte realistisch sein. Mit dem dreißigsten Lebensjahr war bereits ein hohes Alter erreicht, mit dem vierzigsten die Grenze zum Greisenalter sicher überschritten. Wir wissen heute, dass es neben Tuberkulose und Gicht wohl vorwiegend Abnutzungserscheinungen des Bewegungsapparates waren, die dem alternden Menschen der Antike den Lebensabend verbitterten und mit stoischer Gelassenheit kaum zu ertragen waren. Knochenbefunde deuten darauf hin, dass mehr als 80 Prozent der alten römischen Bevölkerung an degenerativen Erkrankungen der Knochen und Gelenke gelitten hat. Der römische Politiker und Redner Plinius der Jüngere, er lebte um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert nach Christus in Rom und an der Südküste des

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Schwarzen Meeres, beschreibt den erbarmenswerten Zustand des gebrechlichen alten Domitius Tullus: „Verkrüppelt und deformiert an allen Gliedern, konnte er sich seines unermesslichen Reichtums nur noch in der Betrachtung erfreuen; nicht einmal mehr das Herumdrehen im Bett war ihm ohne fremde Hilfe möglich. Auch musste er sich die Zähne säubern und bürsten lassen – um nur ein elendes und bedauernswertes Detail herauszugreifen – und wenn er über die Erniedrigung seiner Gebrechlichkeit jammerte, so konnte man oft hören, dann soll er sich sogar vor seinen Sklaven erniedrigt haben.“³

Auch die antike Medizin hat sich dem Alter und seinen Krankheiten zugewandt. Ihrem Hauptvertreter in römischer Zeit, dem ehemaligen Gladiatorenarzt Galenos von Pergamon (129 – 199), verdanken wir die Einordnung der Alterskrankheiten in das System der Qualitäten- und der Humoral- oder Säftepathologie, einer Krankheitslehre, die die ungleichgewichtige, schlechte Mischung der vier Elementarqualitäten (warm, feucht, kalt, trocken) und der Körpersäfte, insbesondere der vier Kardinalsäfte (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle), für alle Krankheitszustände verantwortlich machte. Der Gesundheit hingegen, so nahm man an, liege eine gleichgewichtige, harmonische Mischung der Körpersäfte (Synkrasie, Eukrasie) zugrunde. Wie in einem Koordinatensystem konnten so alle möglichen Krankheiten nach den sie bestimmenden Mischungsverhältnissen erklärt werden. Galenos von Pergamon sah im Alter einen vorwiegend kalten und trockenen Körperzustand⁴. Aus der Dominanz dieser Qualitäten ließen sich nicht nur die äußeren Erscheinungsmerkmale wie eine kalte, dunkle bis bläuliche Haut, sondern eben auch die Alterskrankheiten als Krankheiten der Trockenheit und der Kälte erklären: Apoplexia, Erschlaffung der Nerven, Stumpfsinn, Zittern und Krämpfe, Katarrh, Krankheiten der Luftröhre. Nahezu das ganze Blut schwinde den Greisen und mit ihm zusammen auch die rote Hautfarbe. Und mehr noch, die ganze Verbrennung, Verdauung und Durchblutung, Aufnahmefähigkeit, Ernährung und Appetit, Wahrnehmung und Bewegung, sie alle sind aufs höchste beschädigt. „Was also“, fragt Galen seine Leser am Schluß dieser Beschreibung, „ist das Greisenalter anderes als der Weg in den Untergang?“⁵ Wie sehr unterscheidet sich doch diese nüchterne Zustandsbeschreibung von der idealisierenden Betrachtung Ciceros. Aber Galen beschreibt nicht nur, zeigt nicht nur den Weg in den Untergang, sondern er liefert mit seiner Beschreibung der Alterskrankheiten gleichzeitig eine Anleitung, durch maßvolle Diät das Altern und seine Krankheitserscheinungen zu mildern wenn nicht gar zu verhüten. Der Greis muss seine gesamte Diät auf Wärme und Feuchtigkeit ausrichten. Dazu gehören nicht nur

3 Hier zit. nach Jackson (1988), S. 176. 4 Galen (1964 / 65), Bd. 6, S. 357. 5 Galen (1964 / 65), Bd. 1, S. 582.

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Speise und Trank, sondern auch warme und feuchte Luft, ein ausgeglichenes Verhältnis von Schlafen und Wachen, Ruhe und Bewegung, Liebesleben und Enthaltsamkeit. Der Altersbeschreibung Galens ergeht es wie dem Gesamtwerk dieses berühmtesten römischen Arztes, sie bestimmt geradezu kanonisch das medizinische Wissen der westlichen Welt vom Altertum bis weit in die Neuzeit hinein. Über eine institutionalisierte Altenpflege in der antiken Welt, insbesondere angesichts des bevorstehenden Todes, wissen wir allerdings nichts. Alte und Gebrechliche dürften der häuslichen Pflege überantwortet gewesen sein. Weder die griechischen Poleis noch der römische Staat haben Hospitäler für Arme, Gebrechliche und Kranke geschaffen. Gab es Möglichkeiten, den Tod zu beschleunigen, und wer durfte dabei Beistand leisten? Obwohl im Corpus Hippocraticum (Sammlung hippokratischer und posthippokratischer Schriften, 400 v. Chr  – ca. 100 n. Chr.) dem Arzt unter bestimmten Umständen geraten wurde, von einer Behandlung unheilbar Kranker abzusehen, lässt dieses Werk durchaus auch Ansätze einer Palliativmedizin im modernen Sinn erkennen, in deren Vordergrund die Schmerzlinderung steht. Im hippokratischen Eid treffen wir auf eine der ältesten und bis in die Gegenwart immer wieder herangezogenen antiken Textstellen zur ärztlichen Unterstützung des Todessuchenden. In der entscheidenden Passage heisst es: „Auch werde ich niemandem ein tödliches Mittel geben, selbst dann nicht, wenn ich darum gebeten werde, und werde auch niemanden dabei beraten (…)“. Dieser Teil der Eidesformel als Selbstversicherung des Arztes, dem todsuchenden Patienten auch auf Wunsch nicht beizustehen, um so der Selbstverpflichtung des „Niemals Schaden“ gerecht zu bleiben, wurde etwa im 5. / 4. vorchristlichen Jahrhundert abgefasst. Das strikte Verbot des hippokratischen Eids erscheint vor dem Hintergrund der antiken Alltagsrealität allerdings eher als (vielleicht pythagoräistisch geprägte) idealtypische Vorstellung einer bestimmten ärztlichen oder philosophischen Schule ohne (überregional / diachron) umfassende Verbindlichkeit. Die geistige Haltung zum Themenkreis Sterbehilfe und deren Umsetzung war in der Antike wesentlich vielschichtiger und auch toleranter. Weder die Selbsttötung bei Lebensmüdigkeit (taedium vitae) noch die (Bei-)Hilfe zum Tod galten den Zeitgenossen und einzelnen Philosophenschulen durchgängig als moralisch verwerflich. So scheint, worauf Leven (2005) hinweist, das sogenannte „Euthanasie-Verbot“ im Hippokratischen Eid eher als ein modernes Konstrukt christlicher Prägung denn als zeitloser Ausdruck antiker Arzt-Moral. Das antike Verständnis von Euthanasie als einem „guten Tod“ erschliesst sich insgesamt nicht so leicht, wie es phantasievolle Historisierungsversuche des Euthanasiebegriffs aus aktuellen Anlässen vielleicht nahelegen. Man mag jedoch festhalten, dass es in erster Linie den „leichten“ krankheitsunbeschwerten Tod, den würdevollen Tod des Tugendhaften sowie den schnellen, schmerzfreien und ehrenhaften Tod (des Kriegers) umfasst. Aktive ärztliche Sterbehilfe ist äußerst selten, obwohl der Suizid (sponte ex vita exire) selbst häufig geschätzt, keineswegs aber mit der Verachtung bedacht wurde, die ihm im Christentum entgegengebracht wurde. Epikureismus und Stoa führen die Todesverachtung als philosophisch-sittliche Grundhaltung zur

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Abb. 1: „Die Stunde des Todes“; Blockbuch zur Ars moriendi, unbek. Verfasser, um 1460. Quelle für alle Abb.: (Scan: Cornelia Schneider (Red.): Ars moriendi, Patrimonia Heft 108, Kulturstiftung der Länder, Berlin 1996).

Abb. 2: „Mahn zur Abkehr von weltlichen Dingen“; Blockbuch zur Ars moriendi, unbek. Verfasser, um 1460. Quelle für alle Abb.: (Scan: Cornelia Schneider (Red.): Ars moriendi, Patrimonia Heft 108, Kulturstiftung der Länder, Berlin 1996).

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Abb. 3: „Mahnung zur Duldsamkeit“; Blockbuch zur Ars moriendi, unbek. Verfasser, um 1460. Quelle für alle Abb.: (Scan: Cornelia Schneider (Red.): Ars moriendi, Patrimonia Heft 108, Kulturstiftung der Länder, Berlin 1996).

Abb. 4: „Trost in Verzweiflung“; Blockbuch zur Ars moriendi, unbek. Verfasser, um 1460. Quelle für alle Abb.: (Scan: Cornelia Schneider (Red.): Ars moriendi, Patrimonia Heft 108, Kulturstiftung der Länder, Berlin 1996).

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Vollendung. Leben und Tod sind unversöhnliche Gegensätze und miteinander unvereinbare Formen der Existenz (im Reich der Lebenden und der Toten): „Wenn wir sind, ist der Tod nicht zugegen, wenn aber der Tod ist, sind wir nicht mehr da.“ Erst das Christentum brachte eine neuartige Einrichtung, die sich zuerst in den byzantinischen Fremdenherbergen, den Xenodochien, manifestierte, hervor. Nächstenliebe und das Erbarmen mit den Leiden der Armen, Gebrechlichen, Landfremden und Kranken nahmen einen zentralen Platz im Leben der christlichen Hospitalgemeinschaften ein. In den Stiftungsurkunden dieser Einrichtungen, die sich seit dem 13.  Jahrhundert in einer großen Gründungswelle über ganz Europa ausbreiteten, wurde fast immer der Kreis der Aufzunehmenden klar umrissen, Arme, Bedürftige, Schwache und Sieche (pauperes et egeni, debiles et infirmi). In eben dieser Gruppe dürfen wir das Gros der alterskranken Stadtbewohner vermuten, die aufgrund schwacher wirtschaftlicher Verhältnisse und / oder wegen des Verlustes familiärer Bindung auf die fremde Pflege angewiesen waren. Sie fanden entweder als akut Bedürftige Aufnahme oder sie hatten sich bereits in früheren und besseren Jahren als Pfründner, das heißt als Dauerbewohner, ins Hospital eingekauft. Das Regiment der Spitalmeister war hart, aber man konnte auch, den wirtschaftlichen Verhältnissen des Spitals entsprechend, der körperlichen und geistlichen Hilfe an diesem Orte sicher sein. Ordensgemeinschaften, Bruderschaften, Selbstbewirtschaftung und schließlich auch die Städte trugen zur Sicherung des christlichen Hospitals im europäischen Mittelalter bei. Das mittelalterliche Hospital soll hier nicht idealisiert werden, es gab manche Missstände; festzuhalten bleibt aber doch, daß eben diese Institution, getragen vom kollektiven Glauben an die Ideale praktischer christlicher Nächstenliebe und ihrer gegenseitigen Versicherung, den alten und Gebrechlichen Hoffnungen auf Hilfe erlaubte und sie auch einlöste. Wir dürfen uns aber nicht täuschen in der Bewertung des Alters in jener Zeit. Kriege, Hungersnöte, Pestwellen – besonders die der Jahre 1348 bis 1352 –, Naturkatastrophen und das ganze Notlagenspektrum des Hoch- und Spätmittelalters haben, wie es Peter Borscheid 1987 in seiner Geschichte des Alters beschreibt,⁶ „die Altersgrenze gegenüber den vorangegangenen Jahrhunderten merklich nach vorn verschoben“, die Gesellschaft hat sich an der Schwelle zur Neuzeit verjüngt, Jugendlichkeit ist zum erstrebenswerten Ideal geworden. Das Alter hingegen ist weiter denn je davon entfernt, Krönung des Lebens zu sein. Als höchstes Übel wird es lauthals beklagt, beschimpft, verflucht, der Tod von den betroffenen Alten und den jüngeren Beobachtern der Misere sehnlich erwartet, und sei es um des erhofften und benötigten Erbteils willen. In großer Dichte weisen die literarischen Quellen des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit darauf hin, daß der altersschwache, kranke Mensch seinen jüngeren Mitmenschen und sich selbst nicht mehr als geachtetes Mitglied der Gesellschaft, sondern eher als Last erscheint, so wie ihm selbst bereits „vater vnd muoter […] ein schware burd

6 Vgl. hierzu Borscheid (1987).

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vnd grosse pein“⁷ gewesen waren, wie es der Baseler Buchdrucker und Fastnachtsspielverfasser Pamphilius Gengenbach (1480 – 1524 / 25) 1515 sieht. Das Alter insgesamt scheint dem ausgehenden Mittelalter eine einzige Krankheit gewesen zu sein, was über den Erklärungsansatz Borscheids hinausgehend wohl auch damit zu tun hatte, dass gerade das durch vielerlei körperliche Bürden und Krankheiten belastete Greisenalter vor dem Hintergrund christlicher Heils- und Erlösungserwartung symbolhaft für das durch die Erbsünde erwirkte „Jammertal auf Erden“ stand. In Holbeins berühmtem Totentanz hüpft vor einer alten Frau mit gebeugtem Rücken ein Skelett mit dem Hackbrett, und ein zweites Skelett holt die Knochenhand zum Gnadenstoß aus: „Melior est mors quam vita.“ „Besser ist der Tod als [dieses] Leben.“ Albrecht von Eyb antwortet in seinem Ehebüchlein 1472 auf die Frage, was eigentlich ein Mensch, der alt werde, mehr habe gegenüber einem anderen, der früh sterbe: „Nichtz dann mer sorg, arbeit, verdrießen, schmertzen, kranckheit vnd sünde.“⁸ Kaum treffender hat dies der bereits erwähnte Gengenbach in seinem Fastnachtspiel Die X Alter dyser Welt 1515 zum Ausdruck gebracht. In zwei Strophen seines Spiels heißt es sarkastisch: „Krachen mir dbein vnd trüfft mir dnaß Mir gedenckt wol das es besser was Muß erst am stecken leren gon Das ist mir worlich vngewohn Im lyb bin ich ouch nit gesundt In der kilchen bell ich wie ein hundt Der tüfel hats alter erdacht Das mich hat also ellend gmacht Vnd mir vßgfallen ist min hor Vor zyt trug ich den kopff empor […] Eim bin toub dem andern blind Pfü dich alter du schnöder wind Wie machst so manchen starcken man Das er muß an zwo krucken gan Worlich du bist ein böser Gast All diser welt ain vberlast … Vnd bist so gantz veracht ich sprich Es möchten seichen dhund an dich.“⁹

Vergleichsweise milde klingt es, wenn dem gegenüber der Humanist Erasmus von Rotterdam in seiner an Thomas Morus gerichteten Schrift vom Lob der Torheit (1508) das erste mit dem zweiten Kindesalter, die Kindheit also mit dem Greisenalter, vergleicht:

7 Ebd., S. 14. 8 Ebenda. 9 Gengenbach (1515), hier zit. nach Borscheid (1987), S. 13.

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„Die erste und die zweite Kindheit haben viel gemein: in beiden ist man klein von Statur, zahnlos, milchsüchtig und plapperhaft, vergeßlich, unbekümmert und hilflos. Mehr noch, der Greis reift in dem Maße, in dem er verkindlicht, bis er zuletzt aus der Welt gleitet und sich so wenig wie ein Säugling um die Schrecken von Leben und Tod bekümmert.“¹⁰

Die Zeit davor, auch dies weiß Erasmus, ist schwer, und ob es gelingt, sie zu durchstehen, hängt von den Ärzten und ihren Hilfsmitteln ab, lesen wir zehn Jahre später 1518: „Eine schwere Last ist für den Menschen das Greisenalter, dem man ebensowenig entgehen kann wie dem Tod selbst. Aber es hängt viel von den ärztlichen Werken ab, ob diese Last schwerer oder leichter ist. Denn es ist kein Märchen, dass der Mensch durch die Hilfe der Quintessenz die Altersschwäche ablegen und dann, als hätte er eine Schlangenhaut abgestreift, wieder jung werden kann, wofür es viele Zeugen gibt.“¹¹

2 Ars moriendi versus Euthanasie – Sterbekunst im christlichen Mittelalter Das Christentum löst sich radikal von antiken Vorstellungen der Euthansia oder gar des ärztlich assistierten Suizids. Tötung ist  – festgelegt bereits im alttestamentarischen Dekalog – unerwünscht („Du sollst nicht töten!“) und nur unter eingeschränkten Bedingungen, die Selbsttötung aber niemals statthaft. Sie wird als unsühnbare Todsünde im höchsten Grade verdammt und zieht den Verlust des Ewigen Lebens nach sich. Gleichermaßen einflussreich ist das christliche Verständnis für die Sozialethik: Schmerz, Leid und Tod sind seit der erbsündigen Verfehlung Adams und Evas im Paradies gottgewollte Prüfungen auf dem beschwerlichen Weg des Menschen zum Seelenheil. Dabei gewinnt die Sterbestunde und das Verhalten des Christenmenschen in ihr eine zunehmende Bedeutung. Zur Disposition stehen im mittelalterlichen Verständnis immerhin bedeutende Dinge: Das Seelgedächtnis, die Erlangung des ewigen Heils und die Bedrohung durch ewige Verdammnis. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich als ars moriendi einer der christlichen Moral-Diätetik des Lebens (ars vivendi) nicht nur verwandte, sondern in sie inkorporierte Kunst des Sterbens. Ars Moriendi – die Kunst des (heilsamen) Sterbens – meint ein im Angesicht des immer drohenden Todes bewusst gestaltetes Leben (ars vivendi). Sie war seit dem frühen Christentum zentrale Thematik, u.a. auch im Mönchtum (vgl. Benedikt v. Nursia, Regel 4,47). Literarisch wird die ars moriendi zu einer wichtigen Textgruppe der spätmittelalterlichen Erbauungsliteratur. Der Christ wird in seiner Todesstunde angeleitet

10 Erasmus (1943), S. 22. 11 Erasmus (1518 / 1960), S. 2.

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zu einem guten Sterben, denn in der Todesstunde wird die letzte, unwiderrufliche Entscheidung über die Errettung der Seele getroffen. Die sogenannten Sterbebüchlein sind zunächst als Anleitung für Priester bestimmt, die am Sterbebett seelsorgerischen, letzten Beistand leisten. Sie gehen zurück auf theologische und philosophische Schriften des Mittelalters, die sich mit Todesbetrachtungen beschäftigen. Sie befassen sich mit der gottgefälligen Lebensführung, orientiert an christlichen und ärztlichdiätetischen Geboten, deren Befolgung die Voraussetzung für einen eben solchen Tod darstellt. Außerdem handelt es sich um eine politisch und kirchlich krisengeschüttelte Zeit, in der Christen sich in eine vornehmlich private Frömmigkeit zurückzogen. Der Gebrauch der Ars-moriendi-Literatur im nur eingeschränkt gebildeten niederen Klerus, im lesekundigen niederen Adel und im Bürgertum führt dazu, dass die Texte schließlich auch volkssprachlich verfasst wurden. Dominierten im späten Mittelalter und im frühen 16. Jh. zunächst gelegenheitsungebundene Einzeltexte dieser Art, so wird in der Epoche der Glaubenskämpfe, besonders seit dem Beginn des 17. Jh., eine stärkere Kasualbindung an Leichenbegängnisse und Begräbnisse im Rahmen der größeren Textgruppe der Leichenpredigten fassbar. Verfasser der populären Arsmoriendi-Kasualliteratur waren in der Mehrzahl Geistliche, aber in großer Zahl auch Lehrer und Ärzte. Die Titel dieser Sterbekünste sind recht einheitlich und rekurrieren meist auf die „Kunst“ des Sterbens oder auf die rechte Euthanasia, was fast dasselbe meint und auf die ursprüngliche Bedeutung des Euthanasie-Begriffs zurückweist, der nichts mit unseren aus der historischen Erfahrung berechtigten Assoziationen hinsichtlich des nationalsozialistischen Krankenmordes zu tun hat. Häufig ist auch die bereits im Titel erkennbare Bindung des „seligen Sterbens“ an ein „christliches“ Leben. Zeugnisse der mittelalterlich-frühneuzeitlichen ars moriendi finden wir in einer entsprechenden Textgruppe um die Kunst des Sterbens, wie sie in ganz Europa verbreitet war. Es handelt sich bei diesen Texten um lehrhafte Schriften, die im Spätmittelalter entstanden, sich besonders in der Frühen Neuzeit überaus großer Popularität erfreuten, und die christliche Vorbereitung auf den Tod zum Inhalt hatten, nachdem die ärztliche Kunst an ihre Grenzen gestoßen oder in Seuchenzeiten auf ärztlichen Beistand gar nicht zu hoffen war. Die Aufgabe fiel dann Laien zu, die in der Ars-moriendi-Literatur ebenfalls ihre Hilfsanleitungen fanden. Zu den bekanntesten Ausgangsformen der Ars-moriendi-Literatur zählen das Lehrgedicht Floretus (1478) des Bernhard von Clairvaux (11. / 12.  Jh.), Anselm von Canterburys Admonitio morienti (12. / 14.Jh.), Johannes Gersons (14. Jh.) Opus(culum) tripartitum (1408) sowie das Speculum artis bene moriendi (1452), das seit 1473 als begehrter Wiegendruck auch in deutscher Sprache erschien. Als prototypisch für die Textgruppe darf wohl Johannes Gersons Opus(culum) tripartitum angesehen werden. Der dritte Teil des Opus tripartitum beschäftigt sich dezidiert mit der Kunst des Sterbens (De arte moriendi) und wird in seine Viergliederung in vielen späteren Sterbeihilfeanleitungen des Mittelalters identisch oder leicht modifiziert abgebildet: Der erste Partikel enthält an den Sterbenenden gerichtete Ermahnungen (exhortationes), der zweite enthält Fragen (interrogationes) an den Sterbenden, die sich auf seine Lebensführung und seine

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Bereitschaft zum Sterben beziehen und in späteren Texten auch über Gerson hinaus gehend erweitert werden, der dritte Partikel umfasst Gebete (orationes), der vierte schließlich enthält Vorschriften für den Sterbehelfer (observationes). Der elsässische Prediger Johann Geiler von Kaysersberg übersetzte Gersons Werk um 1481 unter dem Titel „Wie man sich halten sol by eym sterbenden Menschen“ und verfasste 1497 auch eine selbstständige Schrift: Ein ABC, wie man sich schicken sol, zu einem kostlichen seligen tod. Kardinal Capranica schrieb 1452 ein weiteres Sterbebuch, das unter dem Titel Speculum artis bene moriendi (auch Ars bene moriendi) 1473 als Wiegendruck erschien. Verbreitet waren auch die ohne Verfasserangabe gedruckten Texte über die Art bien vivre et bien mourir (1496), die Kunst wol tho steruende; der Speygel der Leyen (1496) oder im angelsächsischen Raum The craft for to dye (1509). Als konstante Formstücke enthalten nahezu alle Textstücke der Ars-moriendiLiteratur dem Vorbild Gersons entsprechend eine Kunst des heilsamen und auf den Tod gerichteten Lebens im engeren Sinne, die einerseits auf die verschiedene Sterbeformen (leiblich, seelisch, asketisch) verweist, sodann die Herkunft des Todes aus der Sünde erklärt und den Entscheidungscharakter der Todesstunde betont, die eine Vorbereitung auf den Tod durch Weltverzicht verlangt. Weiterhin finden sich Anleitungen zur Todesvorbereitung, die an den Sterbenden selbst aber auch an die Begleiter in dieser Stunde gerichtet sind und Mahnungen, Befragungen, Gebete, Gesänge und Anweisungen enthalten. Regelmäßig finden sich auch bestimmte Anweisungstypen, die vor allem die Sterbebegleiter betreffen. Zu ihnen gehören das Vorlesen aus der Bibel, das Vorbeten, Fragen, Ablenkungen von weltlicher Sorge, das Fernhalten der Familie aus dem Sterbezimmer, die Aufforderung zum Sündenbekenntnis, schließlich das Vorhalten von Kreuz und Heiligenbildern und die Verabreichung der Sterbesakramente (Kommunion, Salbung). Ein bedeutendes Element der Textgruppe ist daneben der nachdrückliche Hinweis auf die Anfechtungen durch den Teufel gerade in der Todesstunde¹² verbunden mit der Aufforderung im eigenen Sterben der Nachahmung des Sterbens Christi eingedenk zu sein; hierzu gehören als Anfechtungstrost die meditative Versenkung ins eigene Leid und die Aufforderung zum Bekenntnis des Glaubens. Am Schluss steht die Aufforderung an den Sterbenden, den Tod zuzulassen, häufig mit dem Hinweis auf Hieronymus und seine Aussage, dass nichts törichter sei, als in einem Zustand zu verharren, in dem man nicht zu sterben wagt. Ergänzend zu den mittelalterlichen Ars-moriendi-Anleitungen waren auch Bilder-Artes, die von den fünf Anfechtungen des Teufels in der Todesstunde (de fide, de desperatione, de impatientia, de vana gloria, de avariti, also vom Glauben, von der Verzweiflung, von der Ungeduld, von der Hofart und vom Geiz) handelten. Ihnen gegenüber standen

12 Hiermit hat sich später Luther in seinem Sermon von der Bereytung zum sterben (1519) kritisch auseinandergesetzt und solche Vorstellungen ins Reich der menschlichen Phantasie verwiesen: „Der Tod wird [nur] groß und schrecklich, weil die furchtsame, verzagte Natur dieses Bild sich zu tief einprägt, zu sehr sich vor Augen stellt.“ – Luther, WA 2, 685 – 697.

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fünf Bilder mit den guten Einsprechungen (der Engel). Die häufig kopierten Bilder entstanden wohl um 1408 / 14 oder 1420 / 30. Der Verfasser ist unbekannt und war möglicherweise ein französischer Geistlicher. Mit der Reformation erfährt die Texttradition der Ars-moriendi-Literatur einen Richtungswechsel, wenngleich die ihr folgenden Rituale am Sterbebett, im katholischen Raum ohnehin, sicher zunächst auch in der reformatorischen Laienwelt, wenig modifiziert weiter praktiziert worden sein dürften. Sehr vereinfacht zusammengefasst könnte man sagen, dass der neue Kern des Glaubens und Handels im Angesicht des Todes aus dem Pauluswort „Die Gerechtigkeit Gottes kommt durch den Glauben an Jesus Christus“ (Römerbrief 3.22) und damit nicht mehr ausschließlich aus der terminalen Rückbesinnung- und Rückversicherung des Menschen in Sterbensnot auf seine eigenen guten Werke und seien sie noch so gering gewesen, sondern aus dem Glauben und aus der Gnade Gottes erwächst. Luther sieht in seiner ersten InvocavitPredigt (9. März 1522) die Sterbestunde exemplarisch für die Existenz des Menschen vor Gott. „Wir seindt allsampt zuo dem tod gefodert und wirt keyner für den andern sterben, Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen. In die oren künden wir woll schreyen, Aber ein yeglicher muoß für sich selber geschickt sein in der zeyt des todts.“¹³

Buße in Sündenerkenntnis erwächst allein aus dem Glauben an Gottes Barmherzigkeit durch Christus. Auf diese Weise wird auch das individuelle Verhalten in der Todesstunde zu einem Kernstück der protestantischen Rechtfertigungslehre. Umstritten ist, ob Luther mit seinem „in die oren künden wir woll schreyen“ nur auf die Verkündigung des Evangeliums rekurriert oder auch gegen die Praxis der katholischen Begleitung in der Sterbestunde polemisiert. Da die katholische Praxis tatsächlich nicht selten in solches „Beschreyen“ des Sterbenden ausartete, scheint eine Polemik in diese Richtung nicht unwahrscheinlich. Belegbar ist sie allerdings nicht. Für den Zürcher Reformator Heinrich Bullinger (1504 – 1575) ist es wichtig, dass sich der Mensch sein ganzes Leben auf sein christliches Sterben vorbereite, aber die Menschen würden dies vernachlässigen. In seiner 1535 erschienenen Schrift Bericht der krancken heißt es dazu: „Eigentlich sollten wir das Wichtigste während unseres ganzen Lebens lernen: wie wir christlich und friedlich sterben können. Doch wir sind so nachlässig, wir armselige, verderbten Menschen, daß wir das um einer kleinen Zeitspanne willen bis zuletzt aufsparen. Ja, wer gut stirbt, hat den Sieges- und Ehrenkranz erlangt. Also: Wie und wodurch gelangen wir zu einem friedlichen Lebensende? Es ist die höchste Weisheit, sich dieser Frage zu stellen.“¹⁴

13 Luther, WA 10 III, 1,15 – 2,2. 14 Bullinger (1535), Vorrede.

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Allein die Kapitelüberschriften Bullingers weisen den Weg in die neue reformatorische Ars moriendi, in der es nicht mehr um die Bannung des Teufels in der Stunde des Todes geht, sondern um die Festigung und Selbstversicherung im Glauben an Gott: Der Kranke soll sich in den Willen Gottes schicken (Kap. 1); Das Sterben hat viel Hoffnung und Erleichterung an sich; es löst uns ein für allemal vom Elend (Kap. 3); Die Schönheit, der Glanz, die Freude und die Lust dieser Welt – das soll niemanden gereuen; es ist ja alles nur kurz und unstet (Kap. 4); In der Krankheit nicht zuviel Kummer tragen um Frau, Kinder, Freunde, Reichtum oder Armut (Kap. 5); Die Verheißung des heiligen Evangeliums. In Christus Jesus liegt alles Heil, die Begnadigung und Verzeihung der Sünden (Kap. 6); Der Kranke soll sich nicht Kummer machen über die Abgeltung der Sünde und die Peinigung des Fegefeuers (Kap. 7); Jesus Christus ist die Auferstehung und das Leben, in dem wir auferstehen und ewig leben (Kapitel 8); Der Glaube hat seine Kraft und Auswirkung in Christus (Kap. 9); Aus dem Glauben erwächst Liebe zu Gott und zum Nächsten, nämlich dass wir unseren Feinden vergeben und in allen Leiden geduldig und in aller Anfechtung standhaft sind (Kap. 10). In der Not der Krankheit, auch noch des Todes angesichtig, die Ärzte zu rufen, ist für Bullinger keine Sünde. Es gebe zwar Gläubige, die sich auch in Krankheit und Sterben ganz in Gottes Hand begäben und darauf verzichten würden, ärztlichen Beistand in Anspruch zu nehmen. Dies sei zwar im Glauben richtig, beruhe in der Sache allerdings auf einem Missverständnis: „Diese Leute handeln nicht unrecht, indem sie sich treu in Gott ergeben. Dass sie aber darüber hinaus nicht einmal erkennen, daß Gott in allen seinen Kreaturen durch passende, natürliche Mittel wirkt – das ist ein Mangel und ein Missverstehen. Wir reden aber hier nicht von Wundern und Zeichen, sondern von dem gewöhnlichen Ablauf der Natur, der von Gott eingesetzt und erschaffen ist. […] Also soll ein jeder kranker Mensch auch an sich selbst denken und sich in nichts versäumen; er soll rechtzeitig ärztlichen Rat annehmen, aber nicht so, dass er seine Hoffnung auf diese Ärzte setzt, sondern indem er auf Gott hofft, der hienieden durch seine Schöpfungsmittel wirkt, wie es ihm gefällt.“¹⁵

In Caspar Güttels (1471 – 1542) Sterbe-Büchlein (1539) finden sich vergleichbare Hinweise. Es wird jedoch deutlich, dass auch in der protestantischen Ars-moriendi-Praxis gewissen Ritualen der Sterbebegleitung Raum gewährt wird, wenngleich im neuen, reformatorischen Glaubensverständnis. Wer immer einen Sterbenden trösten will, jeder beliebige Christ „oder kirchen diener“, kann es nur tun mit der „artzney vnd labsal / des allerheiligsten Göttlichen worts“, will Güttel. Zu beachten ist die Rechtfertigungslehre, besonders aber der Umstand, dass einer Verlängerung der Lebenszeit keine Verbesserung der Stellung vor Gott innewohnt. Der Patient und Sterbende soll seine Krankheitsschmerzen Gott nicht als Ausgleich für Sündhaftigkeit anbieten. Die Sterbebegleiter sollen Rücksicht nehmen auf die seelisch bedingte Einschränkung der

15 Ebd., Kap. 2.

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Glaubensfähigkeit in der Not der Stunde und sie sollen auf die Einhaltung situationstypischer Rituale Sorgfalt verwenden. Hierzu gehören für Güttel etwa der Dank des sterbenden Hausvaters an die Ehegefärtin, die Ermahnung, für die Kinder zu sorgen, die Ermahnung der Kinder zum Gehorsam, die Regelung von Besitz- und Erbangelegenheiten, die Herbeirufung des Pfarrers oder Seelsorgers zu Gebet und Sakrament. Solche Ritualbefolgung ist für Güttel bedeutender Teil der „bereytung“ und Garantie des seligen Sterbens. Ars moriendi, darauf weisen viele Autoren der Textgruppe im 16. und 17.  Jahrhundert hin, setzt aber immer auch die christliche ars vivendi voraus. Exemplarisch wird dies im „New Trost büchlin für die Krancken“ (1548) des Joannes Spangenberg (1484 – 1550) deutlich, wo es heisst: „Denn / wer recht und wol lebt / der stirbt auch wol […] Der mensch kann nicht vbel sterben / der allezeit wol gelebt hat. Einem guten leben volget kein böser tod […] Gern sterben / bringt der Glaube. Wol sterben / bringen die früchte des Glaubens.“¹⁶

In literatur- und religionshistorischer Hinsicht ist die Textgruppe der Ars-moriendiSchriften der frühen Neuzeit bereits häufig Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen, bislang jedoch nicht in medizinhistorischer Perspektive. Dies ist erstaunlich, denn die meisten dieser Schriften sind geradezu durchsetzt nicht nur von christlichen Glaubens- sondern auch von durchaus weltlichen Lebens- und Leibesvorstellungen, die im jeweiligen historischen Kontext medizinischer Theorien und Praktiken viel häufiger Lebens- denn Sterbenskünste reflektieren, deren Spektrum von antiken Regeln der Diätetik bis hin zu den makrobiotischen Vorschlägen der Aufklärungsmedizin reicht.

3 Euthanasie und Palliation in der frühen Neuzeit Im Hinblick auf die Frage, ob es in der frühen Neuzeit neben den Sterbekünsten der Ars-moriendi-Textgruppe auch aktive Beihilfe zum Sterben im Sinne des assistierten Suizids gegebnen habe, wird immer gern auf die Utopisten des 16. Jahrhunderts verwiesen. In der Civitas Solis (1623), dem Sonnenstaat des Tommaso Campanella (1568 – 1639), erfahren wir nichts über Krankheit zum Tode oder gar übers Sterben. Nur soviel: „Den Tod fürchten sie nicht, da alle an die Unsterblichkeit der Seele glauben und überzeugt sind, dass diese sich nach dem Verlassen des Körpers mit guten und bösen Geistern, je nach den Verdiensten des gegenwärtigen Lebens, vereinige. Bei Thomas Morus (1478 – 1535) und Francis Bacon (1561 – 1626) hingegen spru-

16 Spangenberg (1548), hier zit. nach Mohr (1979), S. 152.

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deln die Quellen reichlich. Morus beschreibt in seiner berühmten Abhandlung über die Staatsverfassung der Insel „Utopia“ 1517 die aktive Sterbehilfe auf Verlangen: „Ist indessen die Krankheit nicht nur unheilbar, sondern dazu noch dauernd qualvoll und schmerzhaft, dann reden Priester und Behörden dem Kranken zu, da er doch allen Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen, den Mitmenschen zur Last, sich selber unerträglich, seinen eigenen Tod bereits überlebe, solle er nicht […] zögern zu sterben, zumal das Leben, doch nur eine Qual für ihn sei; er solle sich also getrost und hoffnungsvoll aus diesem bitteren Leben wie aus einem Kerker oder aus der Folterkammer befreien oder sich willig von anderen herausreißen lassen […] Wen sie damit überzeugt haben, der endigt sein Leben entweder freiwillig durch Enthaltung von Nahrung oder wird eingeschläfert und findet Erlösung, ohne vom Tode etwas zu merken. Gegen seinen Willen aber töten sie niemanden, und sie pflegen ihn deshalb auch nicht weniger sorgfältig.“¹⁷

Allerdings: Die Utopier bei Morus sind gemäßigte Epikuräer und erstreben ein lustvolles, angenehmes Leben als oberste Maxime. Entbehrt das Leben dieses Aspektes, so endet es in Krankheit aus sich selbst oder es darf beendet werden. Der Kranke, der in dieser Situation den Tod erwünscht oder ihn aus eigener oder mit fremder Kraft herbeiführt, handelt also fromm, göttlichem Willen entsprechend, gottesfürchtig, ehrenvoll. Jeder andere Suizid ist verwerflich: „Sonst aber wird keiner, der sich selbst das Leben nimmt, ohne Billigung des Grundes durch Priester und Senat, der Beerdigung oder der Verbrennung gewürdigt; statt ihn zu begraben, werfen sie ihn schmählich in einen Sumpf“. Francis Bacon ist differenzierter in der Frage der Euthanasia, allerdings nicht in seiner Utopie The New Atlantis (1614 / 1626), sondern in seinem Traktat Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften (1605 / 1783). Dort differenziert er zwischen einer „euthanasia interior“, bei der es um die seelische Vorbereitung auf den Tod geht und einer „euthanasia exterior“, mit der Aufgabe, dem leidenden Menschen sein Lebensende leichter und schmerzloser zu bereiten. Sie ist Pflicht des Arztes und umfasst sowohl palliative Aspekte als auch solcher der Euthanasie: „Ferner halte ich es der Pflicht eines Arztes gemäß, dass er nicht nur die Gesundheit wiederherstelle, sondern dass er auch die Schmerzen und Qualen der Krankheit lindere, und das nicht nur, wenn jene Linderung des Schmerzes als eines gefährlichen Zufalles zur Wiederherstellung der Gesundheit dient und beiträgt; sondern auch dann, wenn ganz und gar keine Hoffnung mehr vorhanden, und doch aber durch die Linderung der Qualen ein mehr sanfter und ruhiger Uebergang aus diesem zu jenem Leben verschafft werden kann.“¹⁸

Thomas Morus und Francis Bacon finden mit ihren Ideen hinsichtlich einer Euthansie bzw. Beihilfe zum Tode bei den Ärzten der Renaissance und der folgenden Jahr-

17 Morus (1960), S. 81. 18 Bacon (1966), hier zit. nach Frewer (2009), S. 215.

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hunderte kaum Widerhall. Der Begriff Euthansia, im Sinne des „guten Todes“ in der antiken Tradition der Stoa allerdings, wird bereits als Signalwort in den Titeln gedruckter Leichenpredigten im Sinne einer Ars moriendi zum guten Sterben durchaus populär, wie an einigen Beispielen zu zeigen ist. Auf einige weniger bekannte Texte dieser Gruppe sei hier deshalb exemplarisch gewiesen.¹⁹ Daneben finden sich besonders im 17.  Jahrhundert zahlreich auch allgemeine Schriften zur Sterbekunst, die den Begriff der Euthanasia im Titel tragen.²⁰ Die Tradition der allgemeinen Sterbekünste im Sinne der alten Textgruppe der Ars-moriendi-Textgruppe ragt bis weit ins 18. Jahrhundert und harrt noch der intensiven Erforschung.²¹ Francis Bacons „Euthanasia exterior“ hatte, wie wir gesehen haben, bereits viel gemein mit der modernen Idee der Palliativmedizin als umhüllender, ummäntelner Medizin angesichts der Unheilbarkeit des Krankheitsbildes. Wie aber steht es mit dem Begriff „palliativ“ in der frühen Neuzeit? Tatsächlich findet auch er sich bereits in der medizinischen Literatur und damit im medizinischen Denken jener Zeit, wie jüngst Michael Stolberg zeigen konnte;²² so etwa in der Chirurgia des Giovanni da Vigo (ca. 1450 – 1525), wo der Verfasser eine „palliatyue cure“ der „eradicatyue cure“ gegenüber stellt. Unter „palliativ“ in diesem Sinne versteht Vigo eine sanfte Kur mit Medikamenten, die das Leiden zwar lindern, die Krankheit aber nicht zu heilen vermögen. Stolberg kann zeigen, dass Begriff und Methode der „palliativen“ Behandlung insbesondere in der chirurgischen Literatur im Verlaufe des 16. Jahrhunderts immer gebräuchlicher werden, bis sie im 17. und frühen 18.  Jahrhundert fest eingebürgert sind.

19 So etwa auf die Euthanasia: sive de firmo spe ac fiducia in […], mortis tempore (Köln 1576) des Martin Eisengrein, auf die Euthanasia Simeonis: bey der Leichbestattung… Christophori von Metzrad (Magdeburg 1600) des Philipp Hahn, die Euthanasia d. i. selige Sterbekunst … bey … Begrebniß … Joh. Krumkrügers (Frankfurt / Oder 1617) des Gregor Arnisaeus, eine ganze Gruppe von Euthanasia Christianorum Leichenpredigten (Freiberg 1620, Wittenberg 1620, Jena 1621 oder Leipzig 1638 ) oder die Euthanasia seu de praeparatione ad felicem mortem tractatus spiritalis (Köln 1628) des Jesuiten Roberto Bellarmino. 20 Exemplarisch etwa das Christianae Euthanasias studium (Dippoldiswalde, 1662) des Martin Steinmetz, die Eydanasia Christiana (Regensburg, 1686) des Andreas Jan oder die Ars artium sive chrematistica et euthanasie sacra (Leipzig, 1696) des August Pfeiffer. 21 Exemplarisch zu dieser Textgruppe: Die Kunst alt zu werden und einmahl seelig zu sterben (Zittau, 1711) des Gottfried Hoffman, der anonym 1721 verfasster Getreue[r] Geleitsmann zur Ewigkeit: Welcher so wohl die Gesunde als Krancke unterrichtet Von der Kunst aller Künsten, wohl zu sterben. Bekannt ist das Sterbelied Johann Sebastian Bachs, das er kurz vor seinem Tod (1750) zu Leipzig fast gänzlich erblindet im Rahmen eines Choralstücks mit dem Titel: „Vor deinen Thron tret‘ ich hiermit …“ (in EGB Nr. 662) komponiert hat. 22 Stolberg (2001), S. 30 – 42.

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4 Sterbekunst und Euthanasie im 18. und frühen 19. Jahrhundert Euthanasia, oder von den Hülfen, erträglich zu sterben lautet ein separates Kapitel im „Entwurf einer allgemeinen Therapie“ (1816) von Johann Christian Reil (1759 – 1813). Für den Arzt und Psychiater ist der Sterbende „eine heilige Sache, für die wir Alles zu thun schuldig sind, was Vernunft und Religion gebietet, von dem wir alle unangenehmen Eindrücke, physische und moralische, abwenden müssen, so weit es uns möglich ist.“²³

Wichtig und deshalb auch gerade für den Arzt anzustreben sei, dass der Mensch „am natürlichen Tod sterbe“, und zwar an einem, „der sanft ist“. Unter einer solchen Euthanasie, die Reil auch „Hinaushelf-Kunst“ nennt, versteht er alle ärztlichen Maßnahmen, durch die die „Plagen der Krankheit gemildert und die Seele gestählt werden, damit sie mit kraftvoller Resignation den Tod erduldet oder das Bewusstsein desselben verdunkelt.“²⁴

Mit den Begriffen der „Hinaushelf-Kunst“ der Begleiter und der auf das im Vergehen begriffene Leben gerichteten „kraftvollen Resignation“ des Sterbenden selbst hat uns Johann Chiristian Reil zwei wunderbare Worte der Sterbekunst geschenkt, die – gleich welcher spirituellen Bindung der Sterbende sich verpflichtet fühlt – ohne Festlegung auf transzendente Heilserwartung und doch gleichwohl nicht ohne Mutund Trostgebung im Sterben sind. Reils Auffassung von der Sterbebegleitung gehörten in die Kitteltasche eines jedes jungen Klinikers. Auch der Göttinger Kliniker und Medizinhistoriker Karl Friedrich Heinrich Marx (1796 – 1877) hat 1826 mit seiner Trias des ärztlichen Handels eine wichtige Erinnerung an die zentralen Aufgaben ärztlicher Fürsorge formuliert: “Tria sunt officia medici: prophylaxis, curatio, euthanasia” („Es gibt drei Pflichten des Arztes: Vorbeugung, Heilung und die Hilfe bei einem guten Tod“)²⁵. Im gleichen Sinne postuliert Christoph Wilhelm Hufeland (1762 – 1836) in seinem „Enchiridion medicum“ (1836) die besondere Hinwendung zum Sterbenden. Hufeland aber will mehr, indem er auf die besondere Verantwortung des Arztes gegenüber dem Leben gerade in seiner letzten, verletzlichsten Phase hinweist und vor dem Überschreiten der Grenze zwischen der Sterbebegleitung und der Lebensverkürzung durch ärztliche Mittel weist. Die moralischen Folgen solcher Grenzüber-

23 Hier zit. nach Frewer (2009), S. 216. 24 Ebenda. 25 Marx (1826), hier zit. nach Frewer (2009), S. 205.

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schreitungen sind unabsehbar und geeignet, das gesamte Gebäude ärztliche Moral zum Einsturz zu bringen: „Nicht blos heilen, sondern auch bei unheilbaren Krankheiten das Leben erhalten und Leiden erleichtern, ist die Pflicht und ein grosses Verdienst des Arztes […] Er soll und darf nichts anderes thun, als Leben erhalten; ob es ein Glück oder Unglück sei, ob es Werth habe oder nicht, dies geht ihn nichts an […] und maasst er sich einmal an, diese Rücksicht mit in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staate; denn ist einmal diese Linie überschritten, glaubt sich der Arzt einmal berechtigt, über die Nothwendigkeit eines Lebens zu entscheiden, so braucht es nur stufenweise Progressionen, um den Unwerth und folglich die Unnöthigkeit eines Menschenlebens auch auf andere Fälle anzuwenden“²⁶.

Hufelands Warnung und besonders der Hinweis auf die Gefahr, die mit der Bewertung eines Menschenlebens an der Messlatte gesellschaftlicher „Nothwendigkeit“ verbunden ist und den Arzt als Mörder unwerten Lebens zum gefährlichsten Menschen im Staate werden lässt, wirken heute fast wie ein Mentekel auf den im späten 19. Jahrhundert vorgedachten und schliesslich im 20. Jahrhundert hunderttausendfach praktizierten ärztlichen Krankenmord. Offensichtlich wusste aber Hufeland bereits um Praktiken, vor denen er 1836 warnte. Zwar waren die Vertreter eines liberaleren Euthanasie- bzw. Sterbehilfegedankens um 1800 noch selten, aber es gab sie durchaus, so etwa Carl Georg Theodor Kortum (1765 – 1824), Stadtarzt in Stolberg bei Aachen, der in Hufeland‘s Journal offen die Lebensverkürzung in hoffnungslosen Fällen mit einer starken Dosis Laudanum (Opium) anpreist oder Christian Ludwig Mursinna (1744 – 1823), Chirurg an der Berliner Charité, der einen finalen Krebspatienten bewusst mit hohen Opiat-Dosen behandelt, um so nicht nur seine unsäglichen Schmerzen zu lindern, sondern auch sein Ableben zu beschleunigen (publiziert im Journal für die Chirurgie, Arzneykunde und Geburtshülfe).²⁷

Literatur Bacon, Francis, 1966, Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, hg. von Johann Hermann Pfingsten [Budapest 1783], Darmstadt. Benzenhöfer, Udo, 1999, Der gute Tod? Euthansie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München. Borscheid, Peter, 1987, Geschichte des Alters. 16.-18. Jahrhundert, Münster. Bullinger, Heinrich, 1535, Bericht der krancken. Wie man by den krancken vnd sterbende[n] menschen handlen / ouch wie sich ein yeder inn siner kranckheit schicken vnnd zum sterben rüsten sölle / kurtzer vnnd einfallter Bericht, Zürich.

26 Hufeland (1836); hier zit. nach der 4. Aufl. (1838), S. 897. 27 Vgl. zu diesen Schriften Stolberg (2011a).

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Eckart

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Beginn des Sterbens

Andreas Draguhn

1.4 Der Beginn des Sterbens aus pathologischer Sicht Abstract: Vom Sterben sprechen wir überwiegend mit Bezug auf die allerletzte Phase des Lebens, also am Übergang vom Leben zum Tod. In der Medizin gibt es reichliches Wissen um diesen Prozess, sowohl aus therapeutischem wie aus wissenschaftlichem oder rechtlichem Interesse. Im Gegensatz zu den unmittelbar dem Tod vorausgehenden Kausalketten ist der Beginn des Sterbens wesentlich schwieriger zu fassen. Wann ist es angemessen, einen Menschen als Sterbenden zu betrachten? Wir werden in diesem Kapitel zunächst einige beispielhafte Verläufe des Lebensendes betrachten. Dabei wird deutlich werden, wie unterschiedlich die letzte Lebensphase von Menschen sein kann. Dennoch lassen sich durchaus typische „Trajektorien“ identifizieren, die in der Literatur als plötzlicher Tod, terminale Krankheit, chronisches Organversagen und Altersschwäche klassifiziert werden. Reihenuntersuchungen haben Charakteristika für jeden dieser Verläufe herausgearbeitet, auf deren Basis eine gezieltere Betreuung und genauere Prognosen der verbleibenden Lebenszeit möglich sind. Allerdings ist das Wissen um die physiologischen Prozesse am Beginn des Sterbens wesentlich weniger weit entwickelt als die umfassenden psychosozialen Datensammlungen. Hier stellen sich noch dringende Aufgaben für die biomedizinische Forschung. Schließlich werden wir feststellen, dass der Beginn des Sterbens eher eine Setzung denn die Feststellung eines Faktums ist. Die Betrachtung eines alten oder kranken Menschen als Sterbender stellt einen Wechsel der Perspektive dar, den medizinisches Personal, Angehörige und der Betroffene selbst je zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlicher Bestimmtheit vornehmen werden. Es wird – und sollte – unmöglich sein, für diese Änderung des Umgangs mit einem Menschen verbindliche naturwissenschaftliche Kriterien anzugeben. We speak of dying for the most part in reference to the final phase of life, in other words, at the point of crossing over from life to death. In medicine today, we have a great deal of knowledge of this process, both from the point of view of therapy and from that of science or law. In contrast to the chain of causation immediately preceding death, the beginning of the process of dying is much more difficult to grasp. When can we say that a person is dying? In this chapter, we will take a look at some cases of the end of life as examples. In so doing, it will become clear how varied the final phase of human life can be. Yet, typical „trajectories“ can be identified, which are classified in the literature as sudden death, terminal illness, chronic organ failure, and frailty. Surveys have worked out characteristics for each of these courses, on the basis of which more suitable care and more exact prognoses of the remaining time to live are possible. However, our

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knowledge of the physiological processes at the start of dying is much less well developed than the comprehensive collections of psychosocial data. In order to provide appropriate care, we urgently need more biomedical research on early alterations preceding death. Finally, we shall establish that the beginning of the process of dying is more a matter of placing, rather than determining, a fact. Regarding an old person, or an ill one, as one dying represents a change in perspective, undertaken at different times and with varying certainty by medical personnel, relatives, and, indeed, by the person concerned himself. It will not, and should not, be possible to give binding scientific criteria for this change in dealing with a person. Keywords: Altersschwäche, Organversagen, plötzlicher Tod, Trajektorien, Todesursache

Prof. Dr. Andreas Draguhn, [email protected], Im Neuenheimer Feld 326, 69120 Heidelberg

Was markiert den Übergang vom gesunden oder kranken Leben zum Sterben? Was ist das überhaupt – Sterben? Wie bei vielen grundlegenden Tatsachen unseres Lebens gibt es auf diese scheinbar einfachen Fragen keine eindeutige Antwort. Ein Arzt wird den Beginn des Sterbens nach anderen Kriterien definieren als die Angehörigen eines alten oder kranken Menschen, Sozial-, Intensiv- und Palliativmedizin haben je unterschiedliche Perspektiven und Interessen, und diese Aufzählung ließe sich für alle anderen wissenschaftlichen oder praktischen Zugänge zu Sterbenden fortsetzen. Auch werden wir retrospektiv den Beginn des Sterbens oft anders – nämlich früher – ansetzen als während der Begleitung eines noch Lebenden. Bei Betrachtung der biologischen Vorgänge am Ende des Lebens fällt auf, dass die Physiologie als Wissenschaft von den Zell-, Organ- und Körperfunktionen erstaunlich wenig vom Sterbeprozess weiß. In einschlägigen Lehrbüchern wird das Sterben meist lapidar als Übergang vom Leben zum Tod definiert, ohne seine charakteristischen Merkmale wirklich herauszuarbeiten. Dies gilt besonders für den Beginn des Sterbens, wenn biomedizinisch fassbare Parameter oft noch weitgehend normal sind. In dieser Phase konzentriert sich die Literatur eher auf das Altern, meist beschrieben als regressiver Prozess zunehmender Funktionseinschränkungen. Das Sterben selbst tritt erst in der Endphase in den Fokus, wenn das Versagen kritischer Organfunktionen unmittelbar zum Tod überleitet. Pathophysiologie, Pathologie und Rechtsmedizin bieten umfassendes Wissen über diese letzten Kausalketten, also „Todesursachen“ im engeren Sinne. Die klinische Medizin kennt natürlich ebenfalls Symptome des Sterbens. Hier geht es aber mehrheitlich nicht um eine eigentliche Medizin des Sterbens, sondern um die Abwendung des Todes oder, in aussichtslosen Situationen, um die Begründung des Therapieabbruchs. Nur die junge Disziplin der Palliativmedizin hat

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sich zur Aufgabe gemacht, das Sterben selbst zu begleiten. Sie erreicht aber nur einen Bruchteil aller Sterbenden, und sie kann kaum auf eine etablierte Physiologie des Sterbens zurückgreifen, jedenfalls nicht am Beginn dieses Prozesses. In diesem Kapitel soll die frühe Phase des Sterbens in den Blick genommen werden. Am Anfang stellen wir vier typische Verläufe des Lebensendes dar, um die Vielfalt der einzelnen Lebens- und Sterbegeschichten zur Geltung zu bringen. Anhand dieser Beispiele sollen Gemeinsamkeiten sowie offene Fragen und Herausforderungen diskutiert werden, die einem umfassenden Verständnis des Sterbens noch im Weg stehen. Zuletzt werden wir auf den praktischen Umgang mit Sterbenden zurückkommen. Unsere These lautet, dass „Sterben“ aus Sicht der Medizin weniger eine Diagnose als eine handlungsleitende Zuschreibung ist. Die Bezeichnung eines Patienten als Sterbender dokumentiert und rechtfertigt eine veränderte Umgangsform, nämlich den Wechsel von kurativer zu palliativer Behandlung. Wie in der gesamten Medizin ist auch dabei physiologisch fundiertes Wissen die beste Grundlage für eine gute Behandlung. Auch hier wäre also eine fundierte wissenschaftliche Beschäftigung mit Physiologie und Pathophysiologie des Sterbens dringend erforderlich.

1 Trajektorien am Lebensende – Typologien des Sterbens Gerontologische Untersuchungen an großen Gruppen alter Menschen haben typische Verläufe des Lebensendes aufgezeigt, die in der englischen Literatur als „trajectories“ bezeichnet werden.¹,² Die meisten dieser Studien basieren auf Befragungen der Betroffenen oder ihrer nächsten Angehörigen. Daher verwundert es nicht, dass die erhobenen Daten überwiegend lebenspraktische Themen und biographische Ereignisse erfassen, über die jeder Befragte Auskunft geben kann. Physiologische oder medizinische Parameter wurden an diesen großen Kollektiven dagegen nicht erhoben. Im Zentrum steht die selbständige Bewältigung von Aktivitäten des täglichen Lebens (engl. activities of daily living, ADL), beginnend mit einfachen Handlungen wie Aufstehen, Ankleiden, Körperpflege, Toilettenbenutzung, Essen usw. Auch der erweiterte Aktionsradius wie Telefonieren, Ausgehen oder selbständiges Einkaufen wird erfasst, hinzu kommen objektive Parameter wie die Inanspruchnahme von ambulanter oder stationärer Pflege. In so genannten Längsschnittstudien werden solche Daten über einen längeren Zeitraum von vielen Freiwilligen gesammelt. Zugleich wird protokolliert, wann einzelne Teilnehmer der Studie verstorben sind. Mit diesen Daten kann man dann retrospektiv den typischen Verlauf des Lebensendes rekonstruieren, ein-

1 Lunney et al. (2003). 2 Covinsky et al. (2003).

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schließlich des subjektiven Wohlbefindens der Betroffenen als vielleicht wichtigstem Gesichtspunkt.³ Aus diesen Untersuchungen haben sich vier Grundformen des Sterbeverlaufs herauskristallisiert, die hier an Beispielen illustriert werden sollen. 1. Der plötzliche Tod. Ein 67-jähriger Rentner bricht auf dem Weg zum Einkauf am Straßenrand zusammen und ist nicht mehr ansprechbar. Der herbeigerufene Notarzt versucht erfolglos, den Patienten zu reanimieren und stellt schließlich den Tod fest. Gravierende Vorerkrankungen waren nicht bekannt. 2. Die terminale Krankheit. Eine 70-jährige, bisher gesunde Frau klagt seit einigen Wochen über Appetitstörungen und anhaltende Übelkeit. Der Hausarzt verweist sie an einen Gastroenterologen, der bei der Magenspiegelung den Verdacht auf ein fortgeschrittenes Magenkarzinom äußert. Nach Sicherung der Diagnose durch die Pathologie wird die Patientin operiert und anschließend einer Chemotherapie unterzogen. Anfangs verbessert sich ihr Zustand, dann kommt es aber zum Wachstum zahlreicher Metastasen, zunehmender Schwäche und anhaltender Übelkeit. Die Patientin verstirbt 18 Monate nach Erstdiagnose in einer Tumorklinik. 3. Das chronische Organversagen. Ein 65-jähriger Arbeiter mit langjähriger Vorgeschichte als Raucher ist über die letzten Jahre hinweg immer kurzatmiger geworden. Er war mehrfach zur Akutbehandlung von schweren Bronchitiden in der Klinik, wo er sich jedes Mal wieder weitgehend erholt hat. In den Intervallen kam er nach eigenen Angaben zuhause „noch ganz gut zurecht“. Jetzt ist er wieder mit starker Atemnot, Fieber und Husten in die Klinik gekommen. Nachdem Antibiotika und Sauerstoffgabe anfangs für eine gewisse Linderung sorgten, verschlechtert sich sein Zustand nach einigen Tagen rapide und er stirbt an Herzversagen. 4. Die Altersschwäche (engl. frailty). Eine 85-jährige Rentnerin versorgt sich seit vielen Jahren allein in der eigenen Wohnung. Dabei ist ihr Aktionsradius stetig kleiner geworden – hatte sie nach dem Tod des Ehemanns anfangs noch Reisen unternommen und regelmäßig Freunde, Kinder und Enkel besucht, verlässt sie die Wohnung jetzt nicht mehr. Das Essen wird von einem Sozialdienst gebracht, und seit einem Jahr wird sie bei der täglichen Körperpflege durch einen ambulanten Pflegedienst unterstützt. Schließlich wird sie dauerhaft bettlägerig und verstirbt nach einigen Wochen intensivierter Pflege zuhause während des Schlafes. Das Ende des Lebens verlief bei den hier geschilderten Menschen jeweils ganz unterschiedlich. Es verwundert daher kaum, dass die Medizin kein einheitliches Bild vom Sterben kennt, und schon gar keinen kanonischen Umgang damit. Jeder Lebende und Sterbende hat eine eigene Geschichte, eigene Erwartungen und Ängste, aber auch eigene physiologische und medizinische Bedingungen, die das Sterben unterschied-

3 Palgi et al. (2010).

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lich verlaufen lassen. Das heißt nicht, dass kein systematisches Wissen über die letzte Lebensphase möglich wäre. Alle empirischen Humanwissenschaften müssen schließlich gemeinsame Muster aus heterogenen Befunden extrahieren. Tatsächlich lassen sich die oben skizzierten Beispiele durchaus als prototypische Verläufe verstehen, deren Merkmale auf viele Menschen zutreffen. Neben der Bedeutung für den Einzelnen ist offensichtlich, dass genaue statistische Kenntnisse über den Verlauf des Lebensendes zu einer verbesserten Organisation des öffentlichen Gesundheitswesens beitragen können.⁴ Allerdings ist nach heutigem Wissen der Verlauf der letzten Lebenszeit nur schwer vorhersagbar, insbesondere in Bezug auf konkrete Hilfsbedürftigkeit.⁵ Dies erschwert die gezielte Vorsorge im Einzelfall deutlich. Wünschenswert wäre es, wenn neben biographischen und sozialwissenschaftlichen Daten auch vermehrt biomedizinische Erkenntnisse erhoben würden, die für den angemessenen Umgang und die Prognose Sterbender elementar wichtig sind.

1.1 Kennzeichen der Sterbephase in verschiedenen Verläufen Was kennzeichnet jeweils das Sterben der vier beschriebenen Patienten? Wer einen plötzlichen Herztod erleidet, durchlebt kaum eine eigentliche Sterbephase. Er ist mit Eintritt der Erkrankung praktisch sofort bewusstlos und wird buchstäblich „aus dem Leben gerissen“. Auf dieses Sterben kann man sich nur im Vorfeld einstellen, etwa durch Gespräche mit den Angehörigen, Abfassung eines Testaments, Abschluss einer Lebensversicherung, aber auch durch Prävention. In der akuten Situation dominiert die kurative Medizin, die natürlich auf die Rettung des Lebens ausgerichtet ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der das akute Sterben so zum Gegenstand technischmedizinischer Maßnahmen wird, provoziert allerdings auch kritische Fragen: ist das Sterben in einem hektischen Chaos aus Kommandos und medizinischen Maßnahmen menschenwürdig?⁶ Wie identifizieren wir diejenigen, die vor allzu invasiver Therapie geschützt werden sollen? Wie gehen wir damit um, dass ein Teil der Patienten durch Intensivtherapie in Zuständen zwischen Leben und Tod gefangen bleibt (siehe Kapitel „Todesdefinition“)? Es ist oft schwierig, den hohen Anspruch an die moderne „Apparatemedizin“ mit dem Wunsch zu versöhnen, bei negativem Ausgang auf ein sanftes Begleiten des Sterbenden „umzuschalten“.⁷ Erfreulicherweise wächst das Bewusstsein für diese Problematik, sowohl in der allgemeinen Bevölkerung (etwa durch die Verbreitung von Patientenverfügungen) als auch innerhalb der Medizin. Heute

4 Murray et al. (2005). 5 Gill et al. (2010). 6 Einen dramatischen Eindruck vom Sterben eines Menschen unter Bedingungen kardiopulmonaler Wiederbelebungsversuche liefert der Bericht von Bihari / Rajajee (2008). 7 Sefrin (2010).

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sterben die meisten Menschen selbst auf Intensivstationen nicht mehr unvorbereitet, sondern nach sorgfältiger Diskussion der Prognose, Gesprächen mit den Angehörigen und abgestufter Reduktion der medizinischen Maßnahmen. Anders verhält es sich mit der terminalen Krankheit. Bei diesem Verlauf kann das Sterben selbst tatsächlich zum Gegenstand der Medizin werden, die dann palliative Sterbebegleitung ist. Der drohende Tod ist für den Spezialisten oft schon bei Diagnosestellung absehbar, während Patienten und Angehörigen die Ausweglosigkeit der Situation meist erst im weiteren Verlauf der Krankheit deutlich wird. Fast immer bleibt eine Zeit, in der sich der Sterbende und seine Begleiter auf das Kommende einstellen können. Wann beginnt bei diesen Menschen nun das eigentliche Sterben? Im Fall der geschilderten Krebserkrankung könnte man rein mechanistisch den Beginn des Sterbeprozesses schon bei Diagnosestellung ansetzen, vielleicht sogar bei Entstehung der ersten Tumorzelle. Dies wäre aber zynisch, denn am Beginn der Erkrankung stehen auch bei aggressiven Krebsformen meist durchaus kurative Ziele. Zunächst wird oft „radikal“ operiert, um möglichst alle bösartigen Zellen zu entfernen. Erst nach Entnahme des Tumors und des umgebenden Gewebes kennt man die genaue Ausdehnung des Krebses und andere prognostisch wichtige Faktoren. Der Patient könnte ja zu denjenigen gehören, die ihre Diagnose besonders lange überleben, vielleicht sogar zu den echten Langzeitüberlebenden. Später treten Komplikationen durch Metastasierung des Karzinoms auf, der Zustand verschlechtert sich. Jetzt wird der lindernde, palliative Charakter der Versorgung mehr und mehr in den Vordergrund treten. Maßnahmen werden nicht mehr daran gemessen, dass sie möglichst viel Tumorgewebe zerstören, sondern daran, dass sie die Lebensqualität des Patienten verbessern. Erst an dieser Stelle hat sich der Übergang vom Kranken zum Sterbenden wirklich vollzogen. „Sterben“ reflektiert also einen bestimmten Umgang mit diesem Menschen, ohne dass es eine biologisch-medizinisch definierte Grenzlinie gäbe. Es gibt keine einzelne fachliche Autorität mit Deutungshoheit über diesen Perspektivwechsel vom Kranken zum Sterbenden. Der Zeitpunkt kann für den Patienten, seine Angehörigen und das medizinische Personal verschieden sein. Bei der Behandlung akuter Komplikationen kann die Haltung zum Patienten sogar vorübergehend wieder kurativen Charakter annehmen. Sichtbarer Ausdruck der endgültig angebrochenen Sterbephase ist für alle Beteiligten schließlich die Entlassung aus dem Krankenhaus „zum Sterben“, sei es in eine palliativmedizinische Einrichtung oder nach Hause. Das chronische Organversagen ist besonders vielgestaltig. In unserem Beispiel wurde ein Patient mit chronischer Bronchitis beschrieben, die im medizinischen Fachjargon als COPD (von engl. chronic obstructive pulmonary disease) bezeichnet wird. Durch entzündlichen Umbau des Lungengewebes kommt es zu einer schleichenden Funktionsminderung der Atmung, die ohne scharfe Übergänge vom typischen „Raucherhusten“ zur Leistungsminderung und schließlich zu schwerer Atemnot bei einfachen Lebensvollzügen führt. Der Zustand wird von vielen Patienten gar nicht als Krankheit im eigentlichen Sinne empfunden, sondern als integraler Teil ihres Lebens,

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mit dem man eben klarkommen muss.⁸ Lediglich die Verschlimmerungen bei akuten Infekten erscheinen dann als Krankheiten, die einer speziellen ärztlichen Intervention bedürfen. So geht es jahrelang bergab, bis eine der akuten Verschlechterungen plötzlich tödlich endet – oft sogar zur Überraschung von Ärzten und Schwestern, die ebenfalls dazu neigen, den terminalen Charakter der Erkrankung und den Verlust an Lebensqualität zu unterschätzen.⁹ Das Sterben durch terminales Organversagen illustriert in besonderer Weise, dass ein humaner, kenntnisreicher Umgang mit Patienten kritisch von spezifischem organbezogenen Fachwissen abhängt. Unser Beispiel der chronischen Bronchitis kann nicht ohne Weiteres auf das Versagen anderer Organe übertragen werden – es scheint tatsächlich typische „Trajektorien“ für verschiedene Organe zu geben. Der hier geschilderte Typus des entry-reentry von Verschlechterungen und zwischenzeitlichen Teilerholungen wurde an Patienten mit Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems oder der Lunge entwickelt.¹⁰ Andere Organe führen zu anderen Verläufen. Zum Beispiel zeigt eine neuere Studie an Patienten mit terminalem Nierenversagen, dass die krankheitsbedingten Einschränkungen im letzten Lebensjahr ziemlich konstant sind, bis sich wenige Wochen vor dem Tod der Zustand der Patienten rapide verschlechtert.¹¹ Dieser Verlauf ähnelte eher der Trajektorie bei bestimmten Krebserkrankungen als der Kurve für COPD. Wieder anders ist der Verlauf bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer, bei denen zunächst die Dissonanz zwischen erhaltener körperlicher Leistungsfähigkeit und Abbau seelisch-geistiger Funktionen im Vordergrund steht. Jeder dieser organtypischen Verläufe erfordert unterschiedliche Hilfen, eine unterschiedliche Aufklärung über das zu Erwartende, und unterschiedliche Leistungen des Gesundheitssystems. Die Kenntnis der typischen Trajektorien ist daher fundamental wichtig. Für die Physiologie am schwierigsten fassbar ist schließlich der Begriff der Altersschwäche (engl. frailty). Man bezeichnet damit Menschen, die durch natürliche Alterung kontinuierliche Einbußen an Funktionen erleben, ohne eigentlich krank zu sein. Auch am Ende des gesunden Alterns steht der Tod. Dieser geht per definitionem mit dem Versagen mindestens eines lebenswichtigen Organs einher, so dass sich prinzipiell stets eine organbezogene Todesursache angeben lässt.¹² Unabhängig von diesen unmittelbaren finalen Wirkungsketten scheint sich in der Biogerontologie ein eigenes Syndrom „Altersschwäche“ zu etablieren, basierend auf großen Befunderhebungen an alten Menschen.¹³ Dem trägt auch die Weltgesundheitsorganisation Rechnung, die

8 Pinnock et al. (2011). 9 Spathis / Booth (2008), Weber (2011), Pinnock et al. (2011). 10 Lynn / Adamson (2003). 11 Murtagh et al. (2011). 12 Bajanowski / Brinkmann (2004), Madea (2003). 13 Lang et al. (2009), Covinsky et al. (2003).

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in der Internationalen Klassifizierung von Krankheiten¹⁴ Altersschwäche als „Allgemeinsymptom“ erwähnt. Tatsächlich scheint es bei einem Teil der Alten ungünstige Konstellationen verschiedener Parameter zu geben, wodurch die „Resilienz“ gegenüber Stressoren (insbesondere Krankheiten) vermindert und der Eintritt des Todes beschleunigt wird. Physische Risikofaktoren umfassen den Verlust an Muskelkraft, ungewollten Gewichtsverlust, eingeschränkte Mobilität und die Abnahme von Sinnesleistungen (z.B. Sehschärfe). Aufgrund solcher Korrelationen lassen sich Testverfahren ableiten, die die Gefährdung alter Menschen, z.B. Hospitalisierung, vorhersagen können. Auch psychologische Faktoren wie nachlassende Gedächtnisleistung, depressive Stimmungslage und Einsamkeit scheinen zu Altersschwäche und baldigem Tod beizutragen, während die Pflege enger Freundschaften protektiv wirkt¹⁵. Schließlich korreliert die zunehmende Hilfsbedürftigkeit bei täglichen Verrichtungen (activities of daily living) mit der Abnahme der Lebenserwartung. Manche dieser Faktoren lassen sich durch Trainingsprogramme beeinflussen, so dass eine gezielte Förderung von Selbständigkeit und Lebensqualität alter Menschen möglich erscheint. Unser Wissen über die Biologie der Altersschwäche ist im Vergleich zu den psychosozialen Studien unterentwickelt. Einige Arbeiten legen nahe, dass gestörten hormonellen Regulationen eine Schlüsselrolle zukommt, insbesondere einer Unempfindlichkeit gegenüber Insulin. Hinzu kommen der erwähnte Muskelabbau, dessen Ursache nicht voll verstanden ist, sowie charakteristische Veränderungen im Immunsystem¹⁶. Ob „Altersschwäche“ wirklich ein definiertes Krankheitsbild wie Masern oder Oberschenkelhalsbruch ist, sei hier dahingestellt. Es scheint aber möglich, Konstellationen von Symptomen festzustellen, die Vorhersagewert für die verbleibende Lebensdauer eines Menschen haben und – noch wichtiger – Möglichkeiten zur Intervention bieten.

2 Die Physiologie des Sterbens – Gedanken zu einer unterentwickelten Wissenschaft Aus dem oben Gesagten folgt, dass Sterben eine große Vielfalt von Lebensverläufen umschreibt, die akut oder schleichend, mit oder ohne erkennbare Krankheit, absehbar oder plötzlich sein können. Gemeinsam ist allen „Trajektorien“ nur der Tod als Endpunkt. Dies findet eine Entsprechung in der Schwerpunktsetzung biomedizini-

14 „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD / 10)“ Version 2011, herausgegeben vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information. 15 Guilley et al. (2004). 16 Fulop et al. (2010).

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scher Forschung. Wir haben gute Kenntnisse über das Sterberisiko bei Krankheiten und die zugrunde liegenden Mechanismen. Wir wissen auch viel über die terminale Phase des Sterbens, insbesondere im Hinblick auf das Versagen lebenswichtiger Organe, den Verlauf der Agonie und die Rekonstruktion der Todesursache.¹⁷ Die Physiologie der frühen Sterbephase ist jedoch unterbelichtet. Welche biologischen Parameter zeigen an, ob ein alter Mensch dem Tod nahe ist? Sind diese Faktoren kausal für das Sterben wirksam? Kann man sie beeinflussen? Kann man die Prognose eines Menschen, der noch nicht in der akuten Sterbephase ist, anhand physiologischer Parameter genauer bestimmen? Welche speziellen Bedürfnisse ergeben sich aus den unterschiedlichen physiologischen Konstitutionen der frühen Sterbephase? Wenn Medizin Menschen auch am Übergang von Alter oder Krankheit zum beginnenden Sterben kompetent begleiten will, wäre es wichtig, neben psychosozialen Informationen auch solches biologisch-medizinische Wissen zu besitzen. Nicht zuletzt wäre eine umfassende Physiologie des Sterbens auch für die Planung der organisatorischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von Medizin nützlich, speziell in den alternden Industriegesellschaften. Es ist naheliegend, dass die kurativ orientierte Medizin den Übergang zum Sterben negativ betrachtet, also als unfavourable outcome, Mortalität, Risiko. Die Vielfalt und die speziellen Eigenschaften der Sterbeverläufe lassen aber auch eine ganz andere Sicht des Sterbens denkbar erscheinen, nämlich als integraler Teil jedes Lebens. Sterben und Tod erscheinen ja biographisch keineswegs immer nur als unerwünschter Endpunkt behandelbarer Krankheiten, sondern stellen eine kürzere oder längere Lebensphase mit sehr eigenem Verlauf dar. Das Erleben dieser Phase ist unter Anderem von spezifischen physiologischen Faktoren bestimmt. Im Idealfall sollte die Begleitung jedes Einzelnen diesen Randbedingungen angepasst sein. Kurz: wir brauchen eine Physiologie des Sterbens. In der finalen Sterbephase wird das Geschehen deutlich von biologischen Ausfallerscheinungen geprägt, die mechanistisch nachvollziehbar sind. Pathologen und Rechtsmediziner können die Ursache-Wirkungs-Ketten, die schließlich zum Ausfall lebenswichtiger Funktionen geführt haben, meist gut rekonstruieren. Bei unserem oben geschilderten Patienten mit chronischer Bronchitis würde man zum Beispiel Umbauprozesse der feinen Lungenbläschen zu großen Hohlräumen finden, die ein Lungenemphysem (vermehrte Luftfüllung der Lunge) bewirken. Ferner lägen Zeichen der akuten Lungenentzündung mit eitrigem Sekret in den Bronchien vor, denn diese Entzündung hatte ja den Aufenthalt im Krankenhaus verursacht. Schließlich führt der Untergang durchbluteten Lungengewebes zu einer schweren Belastung für die rechte Herzkammer, die das Blut nur unter hohem Druck durch die verminderte Zahl erhaltener Kapillaren pumpen kann. Darum wäre diese Kammer erweitert, und die davor liegenden Blutgefäße deutlich vermehrt mit Blut gefüllt (Einflussstauung). Letztlich ist

17 Madea (2003), Bajanowski / Brinkmann (2004), Prien / Hönemann (2004).

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der Patient dann an Herzversagen gestorben. Diese Rekonstruktion erfasst wesentliche Elemente der jüngeren und älteren Vorgeschichte, beginnend bei den Umbauprozessen der Lunge durch das langjährige Rauchen. Sie erklärt die Atemnot, die rasche Ermüdbarkeit, die geschwollenen Beine, und die immer wiederkehrenden akuten Entzündungen. Obwohl das Sterben in diesem Krankheitsbild bereits angelegt war, haben weder der Patient noch seine Betreuer den langjährigen Verlauf als Sterben wahrgenommen. Dieser Aspekt rückte erst in der allerletzten, akuten Sterbephase in den Mittelpunkt. Dies gilt noch mehr für die altersschwache Patientin, die ja eigentlich gar nicht krank war. In der Betreuung dieser Menschen ist es hilfreich, wenn man frühzeitig die jeweils typischen „Trajektorien“ mitdenkt und auf dieser Basis vorausschauend und adäquat mit dem Patienten umgeht. Gute Ärzte und Pflegepersonen werden intuitiv einen solchen angemessenen Umgang pflegen, auch im Hinblick auf das sensible Thema der Prognose. Man wird dem Patienten keine falschen Heilungsversprechen machen und Äußerungen über das mögliche Ende offen begegnen, ohne selbst entmutigende Signale zu geben. Die Palliativmedizin macht dies alles exemplarisch vor, ist aber weitgehend auf die finale Sterbephase bei einem beschränkten Kreis von Personen mit terminaler Krankheit (z.B. Krebs) beschränkt. Bei anderen Menschen herrscht dagegen oft Unsicherheit bezüglich einer realistischen Prognose, wirksamer Präventionsmaßnahmen und zu erwartender Pflegebedürftigkeit – insbesondere in den frühen Phasen zwischen Alter, Krankheit und Beginn des Sterbens. Am Rande sei vermerkt, dass die Biologie des Sterbens auch außerhalb der Humanmedizin große Defizite hat. Dies fängt schon auf theoretischem Niveau an – wir wissen nicht sicher, warum Altern und Tod im Tierreich überhaupt existieren und was die unterschiedliche Lebensspanne verschiedener Spezies determiniert.¹⁸ Auf Ebene der Zellbiologie gibt es dagegen umfassendes Wissen, etwa zur begrenzten Regenerationsfähigkeit von Geweben, zur Kumulation oxidativer Zellschäden über die Lebenszeit, oder zu den verschiedenen Formen des Zelltods. Experimentell ist es sogar gelungen, durch gezielte gentechnische Eingriffe die Lebensspanne von Würmern und Mäusen gezielt zu beeinflussen. Dennoch ist ein systembiologisches Verständnis des Sterbeprozesses für den Gesamtorganismus kaum erkennbar. Versuche, Leben und Sterben als Dynamik komplexer Systeme zu verstehen, werden der Komplexität der biologischen Netzwerke vielleicht eher gerecht als linear-kausale Erklärungen. Die medizinische Literatur ist davon aber bisher kaum beeinflusst worden, die medizinische Praxis gar nicht. Trotz seiner Heterogenität müsste sich das Thema „Sterben“ der wissenschaftlichen Beschreibung nicht prinzipiell entziehen. Vielfalt der Phänomene kennzeichnet die meisten Gegenstände biologischer Forschung, ganz besonders auch in der Medizin. Studenten lernen dies spätestens vor dem Examen bei der leidvollen Paukerei der umfassenden Klassifizierungssysteme von Krankheiten. Einer medizinisch-

18 Ljubuncic / Reznik (2009).

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wissenschaftlichen Erforschung des Sterbens steht also kein prinzipielles Hindernis im Weg. Warum gibt es dennoch vergleichsweise wenige Daten zur Physiologie des Sterbens? Man kann spekulieren, dass ein Grund der Respekt vor der besonderen Lebenssituation Sterbender ist, der invasive Datenerhebung zu Recht ausschließt. Solche Hindernisse erklären aber nicht, warum es kaum tierexperimentelle Studien zum (frühen) Sterben gibt, ganz im Gegensatz zur Erforschung des natürlichen Alterns oder bestimmter Krankheiten. Vielleicht ist es methodisch besonders schwierig, den Beginn des Sterbens zu untersuchen, der durch keine klaren „Marker“ abgegrenzt wird. Der Neglect des Sterbevorgangs in Physiologie und Biologie sollte jedenfalls in unser aller Interesse behoben werden.

3 „Sterben“ als Setzung Abschließend soll die frühe Sterbephase noch einmal aus Sicht der klinischen Medizin betrachtet werden, in der das Thema ja allgegenwärtig ist und durchaus nicht ignoriert wird. Wie bereits angedeutet, erscheint der Beginn des Sterbens hier eher als Zuschreibung denn als Befund: Ein Mensch befindet sich im Sterben, wenn die Ärzte aufhören, seine Krankheit kurativ zu behandeln. In unseren Fallbeispielen würde dies am ehesten bei der Krebspatientin geschehen. Wir haben oben bereits beschrieben, wie sie anfangs noch radikal operiert und chemotherapeutisch behandelt wurde, obwohl die ungünstige Variante von Magenkrebs ein langfristiges Überleben schon nahezu ausschloss. In dieser Phase haben die meisten Patienten noch große Erwartungen an die Therapie, und sie könnten ja tatsächlich zu den in jeder Statistik vorkommenden positiven „Ausreißern“ mit besonders langer Lebensspanne gehören. Erst als sich der Zustand der Patientin deutlich verschlechtert hatte, veränderte sich auch die Haltung zur Erkrankung. Im Bauchraum breiteten sich Metastasen aus, die Schmerzen, Übelkeit und Verdauungsprobleme verursachten. Die Frau magerte extrem ab und litt unter Blutarmut, die sie zusätzlich schwächte. In dieser Phase wird die medizinische Behandlung in fließendem Übergang palliativ und ist schließlich Sterbebegleitung. Ziel ist jetzt die Verbesserung der Lebensqualität. Wenn beispielsweise das Essen nicht mehr ausreichend möglich ist, kann eine Sonde zur Aufnahme von Nahrung direkt durch die Bauchdecke in den Dünndarm gelegt werden. Diese Maßnahme soll das Leben der Patientin erleichtern und wird es auch verlängern, sie stellt aber keine spezifische Therapie der Krebserkrankung mehr dar. Der Perspektivwechsel von „krank“ zu „sterbend“ ist nicht irreversibel. Kommt es beispielsweise durch das Tumorwachstum zu einer akuten Blutung im Bauchraum, so wird der hinzugezogene Chirurg bei noch ausreichendem Allgemeinzustand der Patientin eine Notfalloperation durchführen. Auch wenn er weiß, dass die Patientin todkrank ist, so ist er doch in diesem Moment damit beschäftigt, die akute Lebensbe-

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drohung abzuwenden wie bei jedem anderen Patienten auch – sein Handeln ist also rein kurativ. Der Übergang von kurativer zu palliativer Medizin, vom Kranken zum Sterbenden ist also vom Umgang mit dem Patienten bestimmt und stellt somit eher einen sozialen Bezug als eine Diagnose dar. Sowohl für die Ärzte und Pflegenden als auch für Patienten und Angehörige ist diese Phase oft von Unbestimmtheit und Unsicherheit geprägt. Der Perspektivwechsel erfolgt bei den professionellen Begleitern oft früher als beim Patienten, der ihn manchmal eher unbestimmt, schwankend und nur indirekt erkennbar vollzieht. Gerade im Kontext von Therapieabbruch oder Therapiebegrenzung haben wir – vor dem Hintergrund wachsender medizinischer Möglichkeiten – bisher keine allgemein anerkannte und befriedigende Praxis, die den Patienten ausreichend in Entscheidungen einbezieht.¹⁹ Für die Begegnung mit Menschen in dieser Situation zwischen Hoffen, Angst, Resignation, Ausweichen und Wissenwollen gibt es kein Patentrezept, aber sehr wohl lernbare Kompetenz. Sie fängt damit an zu akzeptieren, dass das Sterben weit früher beginnt als mit dem irreversiblen Ausfall lebenswichtiger Organe.

Literatur Bajanowski, Thomas / Brinkmann, Bernd, 2004, „Todesbegriffe und Todesfeststellung“, in: Brinkmann, Bernd / Madea, Burkhard (Hg.), Handbuch gerichtliche Medizin, Berlin / Heidelberg, S. 13 – 18. Bihari, Shailesh / Rajajee, Venkatakrishna 2008, „Prolonged retention of awareness during cardiopulmonary resuscitation for asystolic cardiac arrest“, in: Neurocritical Care, 9, S. 382 – 386. Covinsky, Kenneth E. / Eng, Catherine / Lui, Li-Yung / Sands, Laura P. / Yaffe, Kristine, 2003, „The last 2 years of life: functional trajectories of frail older people“, in: Journal of the American Geriatrics Society, 51, S. 492 – 498. Fulop, Tamas / Larbi, Anis / Witkowski, Jacek M. / McElhaney, Janet E. / Loeb, Mark / Mitnitski, Arnold / Pawelec, Graham, 2010, „Aging, frailty and age-related diseases“ in: Biogerontology, 11, S. 547 – 563. Gill, Thomas M. / Gahbauer, Evelyne A. / Han, Ling / Allore, Heather G., 2010, „Trajectories of disability in the last year of life“, in: The New England Journal of Medicine, 362, S. 1173 – 1180. Grübler, Beate, 2011, „Wann soll das Leben zu Ende gehen?“, in: Deutsches Ärzteblatt, 108, A 1473-A 1476. Guilley, Edith / Pin, Stephanie / Spini, Dario / Lalived’Epinay, Christian / Herrmann, François / Michel, Jean-Pierre, 2004, „Association between social relationships and survival of Swiss octogenarians. A five-year prospective, population-based study“, in: Aging Clinical and Experimental Research, 17, S. 419 – 425. Hardin, Steven B. / Yusufaly, Yasmin A., 2004, „Difficult end-of-life treatment decisions“, in: Archives of Internal Medicine, 164, S. 1531 – 1534.

19 Grübler (2011), Hardin / Yusufaly (2004).

Der Beginn des Sterbens aus pathologischer Sicht

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Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2011, „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10.Revision“, http: // www.dimdi.de / static / de / klassi / diagnosen / icd10 / htmlamtl / fr-icd. htm?gr50.htm (besucht am 25.08.2011). Lang, Pierre-Olivier / Michel, Jean-Pierre / Zekry, Dina, 2009, „Frailty syndrome: A transitional state in a dynamic process“, in: Gerontology 55, S. 539 – 549. Ljubuncic, Predrag / Reznick, Abraham Z., 2009, „The Evolutionary Theories of Aging Revisited – A Mini-Review“, in: Gerontology 55, S. 205 – 216. Lunney, June R. / Lynn, Joanne / Foley, Daniel J. / Lipson, Steven / Guralnik, Jack M., 2003, „Patterns of functional decline at the end of life“, in: Journal of the American Medical Association, 289, S. 2387 – 2392. Lynn; Joanne / Adamson, David M., 2003, Living well at the end of life. Adapting health care to serious chronic illness in old age, Washington. Madea, Burkhard, 2003, „Ärztliche Leichenschau und Todesbescheinigung: Kompetente Durchführung trotz unterschiedlicher Gesetzgebung der Länder“, in: Deutsches Ärzteblatt, 100, A 3161-A 3179. Murray, Scott A. / Kendall, Marilyn / Boyd, Kirsty / Sheikh, Aziz, 2005, „Illness trajectories and palliative care”, in: British Medical Journal, 330, S. 1007 – 1011. Murtagh, Fliss E.M. / Addington-Hall, Julia M. / Higginson, Irene J., 2011, „End-stage renal disease: A new trajectory of functional decline in the last year of life“, in: Journal of the American Geriatrics Society, 59, S. 304 – 308. Palgi, Yuval / Shrira, Amit / Ben-Ezra, Menachem / Spalter, Tal / Shmotkin, Dov / Kavé, Gitit, 2010, „Delineating terminal change in subjective well-being and subjective health“, in: Journal of Gerontology: Psychological Sciences, 65B(1), S. 61 – 64. Pinnock, Hilary / Kendall, Marilyn / Murray, Scot A. / Worth, Allison / Levack, Pamela / Porter, Mike / MacNee, William / Sheikh, Aziz, 2011, „Living and dying with severe chronic obstructive pulmonary disease: multi-perspective longitudinal qualitative study,“ in: British Medical Journal, 342, d142. Prien, Thomas / Hönemann, Christian W., 2004, „Pathophysiologie der Agonie“, in: Brinkmann, Bernd / Madea, Burkhard (Hg.), Handbuch gerichtliche Medizin, Berlin / Heidelberg, S. 1 – 13. Sefrin, Peter, 2010, „Alte Menschen reanimieren oder lieber sterben lassen?“, gehalten: MEDICA, Messe Düsseldorf, Düsseldorf. Spathis, Anna / Booth, Sara, 2008, „End of life care in chronic obstructive pulmonary disease: in search of a good death“, in: International Journal of COPD, 3, S. 11 – 29. Weber, Nina, 2011, Lungenkrankheit COPD – Das Volk röchelt., http: // www.spiegel.de / wissenschaft / medizin / 0,1518,785779,00.html (besucht am 15.09.2011).

Hubert J. Bardenheuer

1.5 Beginn des Sterbens aus palliativmedizinischer Sicht Abstract: Sterben ist ein höchst individueller Prozess, dessen Verlauf wesentlich von der aktuellen Situation und vom Charakter des Menschen geprägt wird. Während Angst ein dominierendes Symptom des akut lebensbedrohten Patienten darstellt, hat der chronisch kranke Patient zahlreiche Optionen, sich auf den Tod vorzubereiten. Die Palliativmedizin ist aber nicht in der Lage, im Sterbeprozess einen bestimmten Zeitpunkt des Sterbebeginns zu bestimmen. Dying is a highly individual process, whose course is influenced greatly by the particular situation and by the character of the person. While fear is a dominant symptom for patients whose lives are acutely under threat, the chronically ill patient has many options to prepare him- or herself for death. Keywords: Palliativversorgung, Sterbeprozesse, Patientenwunsch, multidisziplinäre Kompetenz, Palliativpflege, Fürsorge, palliative Sedierung

Prof. Dr. med. Hubert J. Bardenheuer, [email protected], Klinik für Anaesthesiologie, Zentrum für Schmerztherapie und Palliativmedizin, Universitäre Palliativstation am Krankenhaus St. Vincentius, Im Neuenheimer Feld 131, 69120 Heidelberg

Sterben ist ein Weg mit unbekanntem Ziel. Diese offensichtlich letzte Reise im Leben ist höchst individuell gestaltet und allein schon deswegen mit Angst besetzt, weil wir über die absolute Einsamkeit hinaus nicht wissen, was uns erwartet. Wann dagegen das Sterben beginnt, lässt sich aus Sicht der Palliativmedizin nicht allgemein sagen. Mehrere Zeitpunkte kommen in Frage, wie der folgende Fall exemplarisch zeigt. Eine 35-jährige Patientin mit metastasiertem Mammakarzinom wird zur weiteren Behandlung in deutlich reduziertem Allgemeinzustand auf die Palliativstation aufgenommen. Die aus den Niederlanden angereiste Patientin hatte mehrere Versuche bei unterschiedlichen medizinischen Einrichtungen unternommen, um in ihrer verzweifelten Lage ärztliche Hilfe und Heilung zu erlangen. – Das Einholen einer Zweit- oder Drittmeinung bei fachkompetenten Ärzten und Institutionen ist in den letzten Jahren modern geworden und hat sich mittlerweile im Bereich der Tumormedizin als nahezu übliches Vorgehen etabliert. So wird beispielsweise in der Schweiz das Einholen von Zweitmeinungen zum ärztlichen Procedere von den Krankenversicherungen unterstützt, um bei Wahleingriffen Kosten zu sparen. Wenn sich der Versicherte verpflichtet, vor bestimmten Opera-

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Bardenheuer

tionen eine ärztliche Zweitmeinung beim Vertrauensarzt der Krankenkasse einzuholen, so gewähren einige Krankenkassen bei den halbprivaten und privaten Zusatzversicherungen einen Rabatt in Höhe von 10 % bis 15 %. Auch wenn der zweitbeurteilende Arzt die Empfehlung abgibt, die Operation nicht durchzuführen, ist der Versicherte in seinem Entscheid, ob er sich operieren lassen will oder nicht, frei. Versäumt ein Versicherter, der die Versicherung mit Zweitmeinung abgeschlossen hat, vor der Operation die Zweitmeinung einzuholen, so muss er in der Regel 10 % der Operationskosten, maximal CHF 3000 selbst bezahlen¹. Die Erfolge der Tumortherapie beruhen wesentlich auf international etablierten Standards strukturierter (Chemo-)Therapiekonzepte, die nicht nur an universitären und hoch spezialisierten Zentren, sondern auch an den Krankenhäusern der Regelversorgung durchgeführt werden. Obwohl der Patient also prinzipiell auf einen hohen, jedem verfügbaren Behandlungsstandard vertrauen kann, ist die aussichtslose medizinische Situation durch die häufig irrationale Vorstellung geprägt, doch noch „irgendwo“ einen Arzt oder eine Einrichtung zu finden, die aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Fachkompetenz helfen kann. Auch die o. g. Patientin hatte diesen Weg der Zweitmeinung beschritten und sich an die Spezialabteilung einer Universitätsklinik gewand, um medizinische Hilfe zu bekommen. Es zeigte sich jedoch bei den wiederholt durchgeführten und Kraft zehrenden diagnostischen Untersuchungen, dass die multiple Metastasierung in Leber, Lunge und Knochen einen neuerlichen Therapieansatz obsolet machten. Zu dieser, die Patientin zutiefst enttäuschenden Perspektive trug bei, dass alle medizinisch sinnvollen und notwendigen Chemo- und Bestrahlungstherapien entsprechend den „Guidelines“ wiederholt durchgeführt worden waren. Neben der Inoperabilität der progredienten Hirnmetastasen bestand auch keine Indikation für die Aufnahme einer nochmaligen Chemotherapie. Letztlich zeigte sich der Tumor therapieresistent. Die Enttäuschung über den negativen Ausgang der medizinisch umfangreichen Untersuchung war der Patientin und den begleitenden Angehörigen anzusehen. Sie hatten gemeinsam den weiten Weg aus den Niederlanden in der Hoffnung auf sich genommen, in einem international renommierten Therapiezentrum letzte Hilfe zu erfahren. Beim Aufnahmegespräch in der Palliativstation zeigte sich die Patientin dementsprechend sehr resigniert und verzweifelt. Obwohl die Verlegung von der onkologischen Station auf die Palliativstation mit der Patientin und den Angehörigen intensiv erörtert worden war und mit ihrem Einverständnis erfolgte, zeigte die Patientin ein tendentiell aggressives Verhalten. Sprachbarrieren existierten keine, doch lehnte sie die neue Umgebung und das ihr unbekannte Personal ab, so dass der erste Zugang zur Patientin durch die emotionale Ausnahmesituation belastet war.

1 http: // www.comparis.ch / krankenkassen / info / glossar / zweitmeinung-second-opinion.aspx

Beginn des Sterbens aus palliativmedizinischer Sicht



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Diese Situation ist für die Palliativmedizin charakteristisch, da die Rolle des nach Heilung suchenden Patienten nicht mehr erfüllt ist. In der Regel handelt es sich um klinisch erfahrene Patienten, die fachlich durch Eigenstudium, kritische Betrachtung von Arztbriefen und Befunden und nicht zuletzt durch das Internet häufig intensiver mit ihrer Erkrankung und den Therapieoptionen vertraut sind als das medizinische Personal bei der Aufnahme. Darüber hinaus bestehen aufgrund der überwiegend langen Krankenhausaufhalte fest verankerte Vorstellungen zur pflegerischen Behandlung und zur ärztlichen Therapie. Erfahrungsgemäß dauert die Phase der Adaptation an die neue Umgebung und das Personal zwischen drei und fünf Tagen. In dieser Zeit ist besonders viel persönliche Aufmerksamkeit jedes Einzelnen notwendig, um die individuellen Spannungen aufzulösen und den Patienten darauf vorzubereiten, über seine eigene Perspektive nachzudenken, um mit ihm die variable, aber zeitlich limitierte Zukunft zu erörtern.

Schon beim ersten Anamnesegespräch äußerte die Patientin dezidiert: „Ich will nicht mehr, ich möchte eine Spritze!“. Der unverhohlene Wunsch nach aktiver Sterbehilfe basierte auf der Tatsache, dass ihre medizinische Situation durch eine aufsteigende komplette Lähmung beider Beine mit Stuhl- und Harninkontinenz charakterisiert war. In dieser Situation ließ die Progression der Lähmung ein Versagen der Atemmuskulatur erwarten, so dass die Patientin sich der Gefahr der langsamen Lähmung der Atemmuskulatur und des Erstickungstodes bewusst war. Da sie in ihrer Heimat wegen der unterschiedlichen Gesetzeslage das Recht auf aktive Sterbehilfe hätte in Anspruch nehmen können, verfluchte sie innerlich ihren Entschluss, eine Zweitmeinung mit negativem Ausgang in einem Land eingeholt zu haben, in dem vermeintlich die Aussicht auf einen grauenvollen Erstickungstod bestand. – Aktive Sterbehilfe ist definiert als gezieltes und tätiges Herbeiführen des Todes und in Deutschland entsprechend § 216 StGB rechtswidrig und strafbar. In einer Umfrage der deutschen Bevölkerung ab 16 Jahren durch das Allensbacher Institut² nach der Zustimmung bzw. Ablehnung der aktiven Sterbehilfe zeigte sich, dass unabhängig von der Zugehörigkeit zur katholischen, evangelischen oder anderen Glaubensgemeinschaft 58 % der Bevölkerung für die aktive Sterbehilfe, 19 % dagegen und 23 % der 1.786 Befragten unentschieden waren. Mehrere Faktoren können dafür verantwortlich gemacht werden, dass in der Bevölkerung trotz der Aussicht auf Strafverfolgung eine breite Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe gegeben ist. Zu diesen Faktoren gehören – die Abhängigkeit, für andere eine Last zu werden, – die enorme Angst vor Isolation in der Sterbephase, – die Angst vor physischem Leiden wie Schmerz und Luftnot, sowie – die Einsamkeit und das damit verbundene unwürdige Sterben.

2 Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 10023, Juli 2008, Bevölkerung BRD ab 16 Jahre.

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Darüber hinaus spielt jedoch auch eine große Rolle, dass die Palliativmedizin und ihr Behandlungsansatz in der breiten Bevölkerung nicht in dem erforderlichen Maß bekannt sind. Offensichtlich ist unbekannt, dass die Palliativmedizin therapeutische Optionen bereit hält, die die subjektiv empfundene Belastung des Sterbeprozesses für den Patienten und die begleitenden Angehörigen erträglich werden lässt. Unabhängig von der persönlichen Auffassung des Autors, dass die aktive Sterbehilfe ein Menschenbild zurückweist, bei dem der Lebensanfang (Geburt), die verantwortliche Lebensgestaltung und das würdige Lebensende eine in sich geschlossene Entität darstellen, hat eine Untersuchung der Universität Rotterdam³ gezeigt, dass erhebliche medizinische Probleme bei der Durchführung der aktiven Sterbehilfe auftreten können. So wurde gezeigt, dass in 23 % Komplikationen wie Krämpfe, Erbrechen und ein langer Todeskampf gegeben war, in 18 % ein nochmaliges aktives Eingreifen notwendig wurde, und sich der Todeseintritt in 10 % der Fälle verzögerte. Bei der 35-jährigen Patientin waren neben Hilflosigkeit und Verzweiflung Wut und Aggressivität die führenden Symptome ihrer emotionalen Situation. In den ersten Tagen standen gegenseitiges Kennenlernen und Verstehen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Patientin, Angehörigen und dem Behandlungsteam. Dabei spielten die praktischen Maßnahmen der fürsorglichen Pflege als initialer Ankerpunkt der Vertrauen schaffenden Maßnahmen eine zentrale Rolle. Begleitend wurde über die liebevolle Pflege und die psychologische Begleitung hinaus versucht, in zahlreichen Gesprächen mit der Patientin und den Angehörigen schrittweise ihr Vertrauen und das der gesamten Familie zu erarbeiten. Ernsthaftigkeit und Verlässlichkeit der ärztlichen Aussagen und Handlungen standen täglich auf dem Prüfstand und wurden wiederholt von der Patientin eingefordert. Als Zeichen der Krankheitsprogression waren die motorische Kraft und die Funktion des rechten Armes rückläufig. Während die Patientin noch die Berührung des Armes spürte, war sie selbst nicht mehr in der Lage, den Arm und die Hand zu bewegen. Zwischen dem 7. und 12. Tag war das Konzept der behandelnden Ärzte zum Umgang mit der unausweichlichen Atemnot am Lebensende die immer wiederkehrende Sorge und das zentrale Gesprächsthema der Patientin. Die Beantwortung der Frage: „Werde ich ersticken?“ stand im Mittelpunkt des Interesses. Dabei war es ihr großes Interesse, so lange wie möglich bei Bewusstsein zu bleiben, um den Kontakt zu ihrer Familie zu erhalten. In dieser angespannten Situation wurde der Patientin und ihrer Familie mehrfach zugesichert, dass bei den ersten Zeichen einer beginnenden Atemlähmung die Indikation zur palliativen Sedierung aus ärztlicher Sicht gegeben sei und diese durch den

3 Universität Rotterdam, Zeitschrift für Palliativmedizin 2001; 2, 34 – 35.

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Einsatz von Analgetika und / oder Sedativa eingeleitet wird. Von besonderer Bedeutung für die Patientin waren die umfassende Aufklärung über den weiteren Verlauf und ihre Zustimmung zur medizinisch indizierten Vorgehensweise. – Palliative Sedierung umfasst die Gabe symptomlindernder Medikamente, ggf. unter Inkaufnahme einer möglichen Lebensverkürzung. Die palliative Sedierung ist rechtlich Gegenstand der „Indirekten Sterbehilfe“ und nicht strafbar. – Passive Sterbehilfe bedeutet, dass der Arzt lebensverlängernde Maßnahmen einstellt, wenn der Patient ausdrücklich erklärt, dass er das wünscht. Diese Form der Sterbehilfe ist ebenfalls nicht strafbar. In der Umfrage des Allensbacher Institutes⁴ wurde auch nach der Zustimmung bzw. Ablehnung der passiven Sterbehilfe gefragt. Hier zeigte sich, dass 72 % der Befragten für die passive Sterbehilfe waren, während 11 % dagegen und 17 % der Befragten unentschieden waren. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die Akzeptanz von medizinischen Maßnahmen zur Erleichterung des Sterbeprozesses enorm hoch ist und den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe zumindest teilweise eliminieren kann. Am 13. Tag der palliativmedizinischen Behandlung stellten sich bei der Patientin fokale Krampfanfälle ein, die sich in Form von Gesichtszuckungen und unkontrollierten Zuckungen in den Extremitäten manifestierten. Am 14. Tag wurde die Lähmung der Gesichtsnerven (Fazialisparese) nachweisbar. Neben Schluckbeschwerden kam es zu ersten subjektiv geäußerten und objektiv nachweisbaren Zeichen der Atemnot (Dyspnoe). In dieser Phase wurde die palliative Sedierung mit niedrig dosiertem Morphin und einem Sedativum eingeleitet. Diese medikamentös über eine Pumpe gesteuerte Therapie führte dazu, dass die Patientin ohne Zeichen einer subjektiven Belastung bei ruhiger Atmung schlief. Am 16. Tag verstarb die Patientin ruhig im Beisein der Familie. Zu welchem Zeitpunkt in dem geschilderten Ablauf das Sterben der jungen Frau begann, vermag die Palliativmedizin nicht zu sagen. Jeder der erwähnten Zeitpunkte kommt dafür in Frage.

Literatur Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 10023, Juli 2008. http: // www.comparis.ch / krankenkassen / info / glossar / zweitmeinung-second-opinion.aspx Universität Rotterdam, in: Zeitschrift für Palliativmedizin 2001; 2, 34 – 35.

4 Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 10023, Juli 2008, Bevölkerung BRD ab 16 Jahre.

Stephan Rixen

1.6 Beginn des Sterbens aus (gesundheits)sozialrechtlicher Sicht Abstract: Die Frage, wann das Sterben beginnt, ist (auch) ein rechtliches Problem, aber nicht für alle Rechtsgebiete gleichermaßen ein Regelungsproblem. Das Gesundheitssozialrecht, also jener Teil des Recht der sozialen Sicherung, der der Versorgung kranker Menschen dient (Recht der gesetzlichen Krankenversicherung [GKV], im Fünften Buch Sozialgesetzbuch [SGB V] geregelt) oder sich im Rahmen des Rechts der sozialen Pflegeversicherung der Versorgung gebrechlicher Menschen widmet, kennt keine Vorschriften, die definieren würden, wann der Prozess des Sterbens beginnt. Das Gesundheitssozialrecht stützt sich vielmehr implizit auf ärztliche Bewertungen, die in verschiedenen Normen rezipiert werden. Allerdings gibt es Versorgungsangebote, die der besonderen Phase des Sterbens Rechnung tragen, etwa die spezialisierte ambulanten Palliativversorgung (SAPV) gemäß § 37b SGB V. Auch in den Versorgungsverträgen mit den Erbringern gesundheitsbezogener Leistungen können Regelungen getroffen werden, die die besondere Situation des Versterbens berücksichtigen. Bislang noch nicht hinreichend geklärt ist die Verknüpfung der individuellen ArztPatienten-Ebene und der versorgungssystembezogenen Ebene in der Sterbephase etwa bei der Frage, ob bzw. inwieweit im Rahmen der GKV oder der Pflege die Beachtung von Patientenverfügungen sichergestellt werden kann. The question of when dying begins is (also) a legal problem, but not a regulatory problem to the same extent for all areas of law. Social security law in the area of health and welfare in Germany, that is, the law on social security to guarantee care for sick people (public health insurance law [GKV], regulated in Book 5 of the German Social Security Law [SGB V]) or to ensure care for invalids within the framework set forth by the Law on Social Nursing Insurance, has no regulations that define the beginning of the process of dying. This part of law, indeed, implicitly relies on evaluations by physicians which are received in different norms. However, there are special care regulations which take the special phase of dying into consideration, such as specialized outpatient palliative care (SAPV) according to § 37b SGB V. Contracts of care with care providers, too, may include stipulations taking the special case of dying into account. The connection between the physician-patient level and that of the care system has been hitherto inadequately clarified with regard to the phase of dying, e.g. the question of to what extent adherence to patient provisions may be ensured, or whether this may be ensured at all, within the framework of public health insurance or care. Keywords: Gesundheitsrecht, Sozialrecht

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Rixen

Prof. Dr. Stephan Rixen, [email protected], Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialwirtschafts- und Gesundheitsrecht, Universitätsstr. 30, 95447 Bayreuth

Nach einem bekannten Wort des Rechtssoziologen Niklas Luhmann, von Hause aus Jurist (wie auch Max Weber), gehört es zum Selbstverständnis positivrechtlichen Denkens, alle Fragen so auf Entscheidbarkeit hin zu stilisieren, als gäbe es Unentscheidbares nicht.¹ „Et si non daretur Deus“, fügt Luhmann hinzu,² was das willentlich Quasifiktionale des Vorgangs unterstreicht, sozusagen einer voluntativen creatio ex nihilo, die dem sozialen Alltag Struktur gibt. Natürlich wissen wir, dass es lebensweltlich Uneindeutiges, subjektiv Unentscheidbares gibt, also all das, was im Dazwischen distinkter Kategorien erlebt wird und eigentlich nur in Grau- und Zwischentönen dargestellt werden kann. Und doch gibt es, ganz dem Profil okzidentaler Rationalität entsprechend, das kulturelle Bedürfnis nach Eindeutigkeit. An deren Herstellung wirkt auch das Recht als Funktion dieser Eindeutigkeitskultur, die Uneindeutiges handhabbar machen muss, mit – als „Kulturfaktum“ und „Bedingung der Kultur“, wie Ernst Cassirer hervorhebt.³ Auch die existenzielle Grenzerfahrung schlechthin, der Vorlauf in den Tod – das Sterben –, ist so zwar offen für je individuelle Deutungen, und doch muss diese individuelle Erfahrung in einem Gemeinwesen, das mit den überindividuellen Folgen des Sterbens konfrontiert ist, vereindeutigt werden. Besonders deutlich lässt sich diese „Vereindeutigungsaufgabe“ des Rechts anhand des Verschollenheitsrechts illustrieren, wo die förmliche Todeserklärung „die Vermutung begründet, daß der Verschollene in dem im Beschluss festgestellten Zeitpunkt gestorben ist.“⁴ „Als Zeitpunkt des Todes ist der Zeitpunkt festzustellen, der nach dem Ergebnis der Ermittlungen der wahrscheinlichste ist.“⁵ Dass der rechtliche Umgang mit dem Tod als dem Ende des Sterbens immer ein aktiv-regulierender Vorgang ist, bringen beispielhaft auch Vorschriften des Bestattungsrechts zum Ausdruck, wonach der Todeszeitpunkt, der auch der Endpunkt des Sterbens ist, nur „möglichst genau“⁶ festzustellen sei,⁷ weil er ein-

1 Luhmann (1993), S. 503. 2 Ebd. 3 Cassirer (1939), S. 105 (= Cassirer (2005), S. 102); dazu Rixen (2007), S. 122. 4 § 9 Abs. 1 Satz 1 Verschollenheitsgesetz . 5 § 9 Abs. 2 Verschollenheitsgesetz. 6 § 15 Abs. 2 Bestattungsgesetz Saarland, § 5 Abs. 1 S. 1 Bestattungsgesetz Sachsen-Anhalt, § 5 Abs. 1 Satz 1 Bestattungsgesetz Schleswig-Holstein. 7 Den Todeszeitpunkt festzustellen, kann nach Lage der Dinge auch unmöglich sein, vgl. § 12 Abs. 1 Friedhofs- und Bestattungsgesetz Hessen: „Leichenschau ist die durch eine Ärztin oder einen Arzt durchzuführende Untersuchung der verstorbenen Person zum Zwecke der Feststellung des Todes, des Todeszeitpunktes oder – falls dies nicht möglich ist – des Todeszeitraums, der Todesart (natürlicher oder nicht natürlicher Tod) und der Todesursache.“

Beginn des Sterbens aus (gesundheits)sozialrechtlicher Sicht

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gedenk der biologischen Prozesse, die in Rede stehen, nur möglichst wenig ungenau (re)konstruierbar ist.(→ s. Kap. 1.8, Draguhn) Der Tod wird bewusst „fest-gestellt“, also aktiv – als Ende des Sterbens – auf den rechtsalltagstauglichen Punkt gebracht.⁸ Wann beginnt das Sterben? Das Sozialrecht, das vor allem Gesundheitssozialrecht ist, weil in Deutschland die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und auch die soziale Pflegeversicherung Teil des Rechts der sozialen Sicherheit sind, gibt darauf keine eigenständige Antwort, wie im Folgenden zu erläutern ist. Auch der Blick in andere Rechtsmaterien hilft weiter. Die Rechtsordnung kennt (etwa im Leichenschaurecht⁹ oder im Strafrecht¹⁰) eine Reihe von Vorschriften, die so ausgelegt werden, dass es die Ärzte sind, die den Tod und den zum Tod führenden Prozess des Sterbens definieren; das gilt, wie sich zeigen wird, auch für das Gesundheitssozialrecht. Sterben und Tod erscheinen als Naturfaktum, das von den Spezialisten für diese Fragen – den Ärzten – „nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft“¹¹ bzw. „entsprechend den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen“¹² festgestellt wird. Rechtstechnisch betrachtet, handelt es sich um eine Verweisung auf Experten, deren fachliche Einschätzung das Recht sich zu eigen macht, ein im Bereich der Technik (und auch die Medizin ist eine Technik) nicht unüblicher Regelungsansatz des Rechts.¹³ Dass der Tod kein brutum factum ist, sondern wie jede Tatsache immer schon eine interpretierte Tatsache,¹⁴ steht außer Streit, seitdem uns bewusst ist, dass die Grenze, die der Tod markiert, nicht mehr vorgegeben, sondern als Folge anthropotechnischmedizinischer Zugriffsmöglichkeiten aufgegeben ist.¹⁵ Und dennoch ist es so, dass es in der ärztlich-medizinischen Praxis Indizien für den herannahenden Tod gibt, die in intersubjektiv nachvollziehbarer sowie sozial konsentierter Weise Indizien des Sterbens sein sollen. Aus der Perspektive des Gesundheitssozialrechts ist es wichtig, den Beginn des Sterbens zu kennen, weil die Situation des Sterbens Leistungsansprüche begrenzen oder auch begründen kann. Was ist damit gemeint? Die Ansprüche auf Krankenbehandlung setzen, so die gängige Formulierung der insoweit zuständigen Sozialge-

8 Rixen (1999), S. 343 ff., S. 348 ff. 9 Beispielhaft § 22 Abs. 2 Bestattungsgesetz Baden-Württemberg: „Die Ärztin oder der Arzt hat unverzüglich eine Todesbescheinigung […] auszustellen, wenn sichere Zeichen des Todes festgestellt wurden. Sichere Zeichen des Todes sind Totenstarre, Totenflecken, Fäulniserscheinungen, mit dem Leben unvereinbare Verletzungen, Hirntod sowie die Erfolglosigkeit der Reanimation nach hinreichend langer Dauer.“ Überblick zum Leichenschaurecht bei Ulsenheimer (2010). 10 Zusammenfassend Ulsenheimer (2008). 11 § 6 Abs. 2 Bestattungsgesetz Niederösterreich. 12 § 6 Abs. 2 Wiener Leichen- und Bestattungsgesetz. 13 Rixen (2003), Rn. 13 f., S. 65 f. 14 Schütz (1971), S. 5 f.; s. auch Husserl (1911 / 1965), S. 66. 15 Aus kulturwissenschaftlicher Sicht Gehring (2010), S. 166 ff.

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richte, Behandlungsbedürftigkeit und Behandlungsfähigkeit voraus.¹⁶ Es muss sich um einen Krankheitszustand handeln, der wenn nicht geheilt, so doch gelindert werden kann (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Auch die Situation des Sterbens ist als solche nicht „heilbar“, aber die mit ihr einhergehenden Begleitumstände können gelindert werden. Palliativmedizinische (einschließlich palliativpflegerische) Maßnahmen sind die angemessenen Behandlungsmaßnahmen, d.h. der Zustand des Sterbens ist auch „behandlungsfähig“, weil gemäß den Regeln ärztlicher Kunst und nach dem Stand der allgemeinen medizinischen Erkenntnisse gerade palliativmedizinische Maßnahmen sich als geeignete Behandlungsmaßnahmen erweisen. Zum Leistungskatalog der GKV gehören demnach auch Ansprüche auf palliativmedizinische Versorgung, wobei die allgemeine palliativmedizinische Versorgung durch niedergelassene Ärzte (§ 28 Abs. 1 SGB V) oder in Krankenhäusern (§ 39 Abs. 1 SGB V) von der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) gemäß § 37b SGB V unterschieden wird. Die Regelung des § 37b SGB V erleichtert die Orientierung darüber, was für den gesamten Bereich der GKV unter dem Beginn des Sterbens zu verstehen ist.¹⁷ Nach § 37b SGB V haben Versicherte mit einer nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung, die eine besonders aufwändige Versorgung benötigen, Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung, die von einem Vertragsarzt (niedergelassener „Kassenarzt“) oder einem Krankenhausarzt zu verordnen ist. Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung umfasst ärztliche und pflegerische Leistungen einschließlich ihrer Koordination insbesondere zur Schmerztherapie und Symptomkontrolle und zielt darauf ab, die Betreuung der Versicherten in der vertrauten Umgebung des häuslichen oder familiären Bereichs zu ermöglichen (→ s. Kap. 3.6, Bardenheuer); hierzu zählen beispielsweise auch Einrichtungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und der Kinder- und Jugendhilfe. Auch Versicherte in stationären Hospizen haben einen Anspruch auf die Teilleistung der erforderlichen ärztlichen Versorgung im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung. Dies gilt nur, wenn und soweit nicht andere Leistungsträger zur Leistung verpflichtet sind. Dabei sind die besonderen Belange von Kindern zu berücksichtigen. Wann das Sterben beginnt, lässt sich diesen Vorschriften nicht präzise entnehmen, es geht um eine Situation mit „begrenzter Lebenserwartung“, ohne dass klar würde, anhand welcher Kriterien sich diese Situation erkennen lässt. Was gemeint ist, lässt sich zumindest näherungsweise den „Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses¹⁸ zur Verordnung von spezialisierter ambulanter Palliativversor-

16 Im Überblick dazu Lang (2010). 17 Rixen (2010), S. 311 – 314. 18 Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist ein Gremium aus Kassen- sowie Leistungserbringervertretern (in erster Linie Ärzte und Krankenhäuser) sowie nichtstimmberechtigten Patientenvertretern, das sozusagen als „kleiner Gesetzgeber“ für die

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gung“¹⁹ (SAPV-RL) entnehmen. Dort liest man, dass „die Lebenserwartung auf Tage, Wochen oder Monate gesunken“ sein muss, und zwar „nach begründeter Einschätzung der verordnenden Ärztin oder des verordnenden Arztes“²⁰. Allerdings: „Insbesondere bei Kindern sind die Voraussetzungen für die SAPV als Krisenintervention auch bei einer länger prognostizierten Lebenserwartung erfüllt.“²¹ Die ärztliche (prognostische) Urteilskraft, an fachlich-professionellen Vorgaben geschult, wird zum Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, was unter begrenzter Lebenserwartung zu verstehen ist. Die ärztliche Einschätzungsprärogative wird rechtlich anerkannt und kaum eingegrenzt. Es geht um Tage, Wochen oder Monate, wobei bei Kindern die Zeiträume sogar noch länger sein können: offenbar nicht nur einige, wenige Monate, die wohl gemeint sein dürften, wenn in der Richtlinie hinter Tagen und Wochen, also vergleichsweise kurzen Zeiteinheiten, Monate erwähnt werden. Auch die von den Krankenkassenverbänden formulierten „Gemeinsamen Empfehlungen nach § 132d Abs.  2 SGB V für die spezialisierte ambulante Palliativversorgung“²² die Qualitätsanforderungen an die Palliative-Care-Teams aufstellen, werden nicht konkreter. Die SAPV solle die Lebensqualität und Selbstbestimmung schwerstkranker Menschen erhalten, fördern und verbessern und ihnen ein menschenwürdiges Leben „bis zum Tod“²³ ermöglichen, wobei nach derzeit vorliegenden Schätzungen „bis zu 10 Prozent aller Sterbenden“²⁴ einen besonderen Versorgungsbedarf hätten, der gerade durch Leistungen der SAPV gedeckt werden müsse. Die Phase „bis zum Tod“ ist offenbar jene des Sterbens, und wer sie durchlebt, gehört zu den „Sterbenden“. Kriterien, die es ermöglichten, das Sterben zeitlich klarer einzugrenzen, fehlen auch hier. Es bleibt bei dem stillschweigend vorausgesetzten Verweis auf die Urteilskraft der Ärzte.²⁵ Auch in Erklärungen der Bundesärztekammer, die sich unter dem Aspekt der Sterbebegleitung auf die Phase des Sterbens beziehen, vermisst man zunächst aussagekräftige Indikatoren, die die Phase des Sterbens zeitlich eingrenzbar machten.

Feinprogrammierung der Leistungen der GKV zuständig ist, vgl. insb. §§ 91 und 92 SGB V. Auch für andere Bereiche des Gesundheitswesens haben die Entscheidungen des G-BA eine – z.T. förmlich anerkannte (vgl. § 7 Bundesbeihilfeverordnung – BBhV) – Vorbild- bzw. Orientierungsfunktion. 19 Abrufbar auf der Homepage des G-BA, www.g-ba.de. 20 § 3 Abs. 3 Satz 1 SAPV-RL. 21 § 3 Abs. 3 Satz 2 SAPV-RL. 22 Stand: 23. 6. 2008, bspw. abrufbar unter http: // www.aok-gesundheitspartner.de / sac / pflege / palliativ / index.html. 23 Nr. 1.1 der Gemeinsamen Empfehlungen. 24 Nr. 2.4 der Gemeinsamen Empfehlungen. 25 Auch die „Gemeinsamen Hinweise von Deutschem Hospiz- und Palliativverband (DHPV) und Deutscher Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) zur Umsetzung der spezialisieren ambulanten Palliativversorgung gemäß §§ 37b, 132d und 92 SGB V und Eckpunkte für einen Mustervertrag“ (Stand: 28. 11. 2008, abrufbar unter www.dgpalliativmedizin.de) enthalten keine Hinweise zur Frage, wann das Sterben beginnt.

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Die Rede ist vom „offensichtliche[n] Sterbevorgang“²⁶, ohne dass ein Kriterium des Offensichtlichen offen gelegt würde. Dann allerdings wird unterschieden: Als Sterbende werden „Kranke oder Verletzte mit irreversiblem Versagen einer oder mehrerer vitaler Funktionen“ bezeichnet, „bei denen der Eintritt des Todes in kurzer Zeit zu erwarten ist.“²⁷ Außerdem ist von Patienten mit infauster Prognose die Rede, „die sich zwar noch nicht im Sterben befinden, aber nach ärztlicher Erkenntnis aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit sterben werden.“²⁸ Gemeint sind also Patienten, bei denen Vitalfunktionen noch nicht irreversibel versagt haben, aber ein solches Versagen absehbar ist. All dies setzt ärztliche Prognosen voraus („nach ärztlicher Erkenntnis“), die auf thematisch einschlägigem (Erfahrungs-)Wissen aufbauen, das um den (absehbaren) irreversiblen Ausfall von Vitalfunktionen kreist, die den unumkehrbaren Zusammenbruch des Organismus zur Folge haben. Die zeitliche Unschärfe ist auch im internationalen Vergleich nichts Ungewöhnliches. Auch hier gibt es definitorische Bemühungen, die terminale Phase einzugrenzen: „The terminal phase can be considered as the period of inexorable and irreversible decline in functional status prior to death.“²⁹ Das könne sich „gradually over days and weeks with a fluctuating but nonetheless ongoing decline in a progressive illness“³⁰ hinziehen. Entscheidend ist der Fokus auf dem (absehbaren) irreversiblen Ausfall von Vitalfunktionen. Am Ende, dies wird einmal mehr deutlich, verweist das positive Recht immer wieder auf die fachlich-professionelle Urteilskraft der Ärztinnen und Ärzte, die auf der Basis internistischer, rechts- und palliativmedizinischer oder sonst thanatologisch relevanter medizinischer Wissensbestände aus Erfahrung wissen, wann Sterben typischerweise beginnt, geschieht, enden wird. Auch dieses Wissen ist anerkennungswürdiges Wissen. Das Recht der GKV unterwirft sich im Allgemeinen hohen Standards der Wissensqualität, das in absteigenden Evidenzstufen „gerankt“ wird. Während am einen Ende der Skala randomisierte klinische Studien (bzw. Übersichtsarbeiten dazu) gleichsam als Goldstandard stehen, befinden sich am anderen Ende, der sog. Evidenzstufe V, „Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Einzelfallberichte, u. ä.; nicht mit Studien belegte Meinungen anerkannter Expertinnen und Experten, Berichte von Expertenkomitees und Konsensuskonferenzen“.³¹ Hierbei geht es um das ganze Erfahrungswissen, das Ärzte im Umgang mit Sterbenden aktivieren – in Deutschland sind dies jährlich ca.

26 27 28 29 30 31

Deutsches Ärzteblatt (DÄ), Jg. 108, H. 7 (2011), A 346. DÄ, Jg. 108, H. 7 (2011), A 347. Ebd. Harlos (2010), S. 1549. Ders., S. 1549. Vgl. Verfahrensordnung des G-BA, 2. Kapitel, § 11 Abs. 3.

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860.000 (Ver-)Sterbende –³² und das, gemessen an den Kriterien der sog. evidenzbasierten Medizin (ebM),³³ stark von den gesammelten Einzelfallerfahrungen „vor Ort“, bei Haus- und Krankenhausärzten, die Sterbende begleiten, lebt. Dieses aus der unmittelbaren Betreuungserfahrung, die das Arzt-Patient-Verhältnis fundiert, gespeiste Wissen bedarf der fachlich Moderation und des professionellen Austauschs, in dem das theoretische Wissen vom Sterben profiliert wird; in privater und institutionalisierter Fort- und Weiterbildung wird dieses Wissen stetig weiter geschärft. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtsklarheit, einem Aspekt der vom Rechtsstaatsprinzip miterfassten Rechtssicherheit (Art.  20 Abs.  3 GG), ist diese kriterielle Unschärfe wenig erfreulich. Die Frage, wer wieso wie lange stirbt, wird der Beantwortung durch ärztliche Experten zugewiesen. Das ist deshalb problematisch, weil demjenigen, der noch stirbt oder nicht mehr stirbt (weil er schon tot ist), der grundlegende menschenrechtliche Status noch zugesprochen oder entzogen wird, ein Lebender zu sein.³⁴ Das wirft die Frage auf, ob Ärzte legitimiert sein können, diese den Schutz des Lebensgrundrechts (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz) präjudizierende Entscheidung zu treffen. Das Problem ist nicht unbekannt. Im Kontext der Transplantationsmedizin gibt es vergleichbare Schwierigkeiten, soweit es um die Feststellung des sog. Hirntodes geht.³⁵ Wer ist legitimiert, den Tod festzustellen? Die Antwort besteht eben nicht nur in einer wertungsfreien Faktenfeststellung, sondern ist immer auch eine (freilich selten hinreichend reflektierte) Bewertung, welcher biologische Zustand eines Menschen noch als Leben oder schon als Tod gelten soll mit der Folge, dass der Schutz des Lebensgrundrechts als der „vitale[n] Basis der Menschenwürde“³⁶ erhalten oder verlustig gehen soll. Das in dem vermeintlich bloß empirisch-naturwissenschaftlichen Faktenproblem mitlaufende Bewertungsproblem (Sollens- oder Werturteilsproblem) macht es erforderlich zu entscheiden, wer solche für ein Gemeinwesen wesentlichen normativen Grundfragen beantworten soll. Nach der sog. Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichts³⁷ kommt hierfür nur der parlamentarische Gesetzgeber in Betracht. Die Versuche, für die Zwecke der Transplantationsmedizin die Todesdefinition der Bundesärztekammer zu überlassen, sind daher unter demokratietheore-

32 Vorläufige Zahl für 2010 des Statistischen Bundesamtes: 858.778, http: // www.destatis. de / jetspeed / portal / cms / Sites / destatis / Internet / DE / Navigation / Statistiken / Bevoelkerung / GeburtenSterbefaelle / GeburtenSterbefaelle.psml (abgerufen am 26.6.2011). 33 Zur Einführung: Kunz u.a. (2007) 34 Rixen (1999). 35 Konkret geht es um die Richtlinien zur Todesfeststellung gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Transplantationsgesetz (TPG). 36 Bundesverfassungsgericht, Urteil des Ersten Senats vom 25. 2. 1975(1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6 / 74), Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Bd. 39, S. 1 – 95, hier: S. 42. 37 Zusammenfassend: Ossenbühl (2007), § 101 Rn. 41 ff., 52 ff.

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tischen Gesichtspunkten durchgreifender Kritik ausgesetzt.³⁸ Entsprechendes ist für den Bereich der GKV anzunehmen. Auch die demokratische Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses wird bestritten,³⁹ wenngleich das Bundesverfassungsgericht darüber noch nicht entschieden hat (ebenso wenig wie über die demokratietheoretischen Probleme der Todesdefinition im Transplantationswesen). Unterstellt man seine demokratische Legitimation, dann könnte der Gemeinsame Bundesausschuss unter dem Aspekt der „ärztlichen Behandlung“ (§ 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V) durchaus auch die Todesfeststellung und, damit zusammenhängend, die Definition der Sterbephase für den Bereich der GKV regeln; das geltende Gesundheitssozialrecht ermächtigt zum Erlass entsprechender Richtlinien (vgl. erneut § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V). Denkbar wären solche Regelungen ggf. auch unter dem Aspekt der Qualitätssicherung (vgl. § 135a Abs. 2 i.V.m. § 137 Abs. 1 SGB V), denn die Qualität der Versorgung muss besonderen Anforderungen genügen, wenn ein Patient zu sterben begonnen hat. Dass der G-BA derartige Regeln plant, ist indes nicht absehbar. Vielmehr spricht alles dafür, dass er, auch soweit es um die Todesfeststellung geht, weiterhin auf die „Regeln der ärztlichen Kunst“ (§ 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V) bzw. den „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ (§ 2 Abs.  1 Satz  3, § 70 Abs.  1 Satz  1 SGB V) verweisen wird, also  – im Klartext  – auf die unter Qualitätsgesichtspunkten (vgl. § 135a Abs. 1 SGB V) sich selbst regulierende ärztliche Urteilskraft. Das gilt auch für andere Akteure der GKV, die durch Verträge (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 69 SGB V) die Qualität der Versorgung im Hinblick auf den Beginn des Sterbens feinprogrammieren könnten. In vergleichbarer Weise ist davon auszugehen, dass es hinsichtlich der Definition der Sterbephase bzw. der Todesfeststellung auch ansonsten keine Normierungsanstrengungen im Rahmen der GKV geben wird. Außerhalb der sog. Regelversorgung gibt es zahlreiche besondere Versorgungsformen (z.B. die sog. integrierte Versorgung, §§ 140a ff. SGB V), die allerdings allesamt mit Blick auf die Frage der Sterbedefinition (bzw. der Todesfeststellung) keine anderen Fragen als die Regelversorgung aufwerfen. Ebenso wenig ist damit zu rechnen, dass das GKV-Recht sich an gesundheitlich relevanten Normierungsprozessen außerhalb des GKV-Rechts wird orientieren können. Es ist nicht absehbar, dass beispielsweise im ärztlichen Berufsrecht („Standesrecht“), wie es in den Berufsordnungen der Ärztekammern geregelt ist, entsprechende explizite Klarstellungen geplant sind. Angesichts des weltanschaulich verminten Geländes, in dem sich bei Fragen von Sterben und Tod jeder Normgeber bewegen muss – permanent der Gefahr ausgesetzt, als zu „lebensschützerisch“ oder zu „liberal“ zu gelten –, ist die Bereitschaft, durch explizite Normierungen für eine präzisere Definition der Sterbephase und damit auch des Sterbebeginns zu sorgen, nicht stark ausgeprägt. Umso wichtiger ist es, durch geeignete berufsrechtliche Anreize (etwa im

38 Höfling (2003). 39 Zusammenfassend: Hauck (2010); Neumann (2010).

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Bereich der Fortbildung oder der Facharzt-Weiterbildung) dafür zu sorgen, dass die Sensibilität für die Frage, wann das Sterben beginnt und welche Folgen dies nicht nur im Rahmen der GKV hat, weiter wachsen kann. Der Befund sieht kaum anders aus, wenn man den Blick in das soziale Pflegeversicherungsrecht richtet. Dort taucht das Wort „Sterben“ an einer Stelle auf, die nicht den Sterbenden im Blick hat, sondern jene, die seine Pflege organisieren: „Dem Auftrag kirchlicher und sonstiger Träger der freien Wohlfahrtspflege, kranke, gebrechliche und pflegebedürftige Menschen zu pflegen, zu betreuen, zu trösten und sie im Sterben zu begleiten, ist Rechnung zu tragen“ (§ 11 Abs. 2 Satz 2 SGB XI). Das Wort „Tod“ findet sich, wie im SGB V, auch im SGB XI nur in administrativen Kontexten.⁴⁰ In den Verträgen könnten unter dem Aspekt der Qualität die Besonderheiten der Pflege im Hinblick auf den Beginn des Sterbens geregelt werden,⁴¹ was aber, soweit ersichtlich, bislang nicht geschieht. Auch das Heimrecht äußert sich zum Beginn des Sterbens nicht, wenngleich das Sterben durchaus thematisiert wird.⁴² Insgesamt ist festzustellen, dass das Thema Sterben und Tod, namentlich die Frage nach dem Beginn des Sterbens, kein explizites Thema des Gesundheitssozialrechts ist. Das Wort „Sterben“ oder die Wendung „Beginn des Sterbens“ kommen im Text des SGB V nicht vor, das Wort „Tod“ nur in administrativen Zusammenhängen, bei denen es nicht um das Arzt-Patient-Verhältnis geht, sondern beispielsweise um die Beendigung des Versichertenstatus durch Tod.⁴³ Der Beginn des Sterbens hängt wesentlich davon ab, ob und wie der Arzt oder die Ärztin vor dem Hintergrund seines oder ihres fachlich-medizinischen (Erfahrungs-)Wissens eine Situation als Fall des (absehbaren) irreversiblen Vitalfunktionsausfalls deutet. Hierbei werden typischerweise auch eigene moralische Postulate und ethische Maßstäbe eine Rolle spielen. Ob bzw. inwieweit die Vorstellungen des Patienten vom eigenen Sterben bzw. dem nach eigenen Maßstäben relevanten Beginn des Sterbens zur Geltung kommen können, gehört zur bislang kaum diskutierten Frage nach der sozialrechtlichen Anerkennung der persönlichen Sterbevorsorge etwa durch sog. Patientenverfügungen sowie nach der sozialrechtlichen Flankierung persönlicher Sterbevorsorge generell.⁴⁴

40 § 49 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Nr. 1 SGB XI. 41 S. etwa § 75 Abs. 2, § 84 Abs. 4 SGB XI. 42 Exemplarisch: „Die Bürgerinnen und Bürger in Betreuungseinrichtungen sollen […] in Würde sterben können“ (§ 1 Abs. 2 Nr. 8 Wohn- und Teilhabegesetz Nordrhein-Westfalen; ähnlich auch § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 Wohnteilhabegesetz Berlin). 43 Vgl. § 19 Abs. 3, § 95 Abs. 7 Satz 1, § 103 Abs. 4 Satz 1, § 189 Abs. 2, § 190 Abs. 1, § 191 Nr. 1 SGB V. 44 Dazu der Beitrag von Rixen in diesem Band (§ 83).

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Rixen

Literatur Cassirer, Ernst, 1939, Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart, Göteborg. Cassirer, Ernst, 2005, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 21, Hamburg. Gehring, Petra, 2010, Theorien des Todes. zur Einführung, Hamburg. Harlos, Mike, 2010, The Terminal Phase, in: Hanks, Geoffrey et al. (Hg.), Oxford Textbook of Palliative Medicine, Oxford, S. 1549. Hauck, Ernst, 2010,„Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) – ein ungeliebtes Kind unserer Verfassungsordnung?“, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS), S. 600 – 612. Höfling Wolfram, 2003, „Kommentierung zu § 16“, in: Höfling, Wolfram (Hg.), Transplantationsgesetz (TPG), Kommentar, Berlin, § 16 Rn. 17 – 30, S. 368 – 372. Husserl, Edmund, 1965, Philosophie als strenge Wissenschaft (1911), Frankfurt a.M. Kunz, Regina u.a., 2007, Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis, 2. Auflage, Köln. Luhmann, Niklas, 1993, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. Lang, Heinrich, 2010, Kommentierung zu § 27 SGB V, in: Becker, Ulrich / Kingreen, Thorsten (Hg.), SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung, Kommentar, 2. Auflage, München, S. 185 – 203. Neumann, Volker, 2010, „Verantwortung, Sachkunde, Betroffenheit, Interesse: Zur demokratischen Legitimation der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses“, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS), S. 593 – 600. Ossenbühl, Fritz, 2007, „Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes“, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Auflage, Heidelberg, § 101 Rn. 1 ff. Rixen, Stephan, 1999, Lebensschutz am Lebensende. Das Grundrecht auf Leben und die Hirntodkonzeption – Zugleich ein Beitrag zur Autonomie rechtlicher Begriffsbildung, Berlin. Rixen, Stephan, 2003, „Einführung“, in: Höfling, Wolfram (Hg.), Transplantationsgesetz (TPG), Kommentar, Berlin, Rn. 1 – 22, S. 59 – 69. Rixen, Stephan, 2007, „Der Embryo zwischen Person und Sache. Zum Umgang von Gesetzgeber und Gerichten mit unscharfen anthropologischen Konzepten – Ein Beitrag zur Rolle des Rechts und der Rechtswissenschaft im kulturwissenschaftlichen Diskurs“, in: Ahrens, Jörn / Biermann, Mirjam / Toepfer, Georg (Hg.), Die Diffusion des Humanen. Grenzregime zwischen Leben und Kulturen, Frankfurt a.M. u.a., S. 121 – 135. Rixen, Stephan, 2010, Kommentierung zu § 37b SGB V, in: Becker, Ulrich / Kingreen, Thorsten (Hg.), SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung, Kommentar, 2. Auflage, München, S. 310 – 314. Schütz, Alfred, 1971, Gesammelte Aufsätze, Bd. 1: „Das Problem der sozialen Wirklichkeit“, Den Haag. Ulsenheimer, Klaus, 2008, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Auflage., Heidelberg Ulsenheimer, Klaus, 2010, „Die Leichenschau“, in: Laufs, Adolf / Kern, Bernd-Rüdiger (Hg.), Handbuch des Arztrechts, 4. Auflage, München, § 133 Rn. 1 ff.

Walter Ried

1.7 Ökonomische Aspekte der Palliativversorgung Abstract: Dieser Beitrag untersucht die Palliativversorgung aus ökonomischer Perspektive. Ausgehend von der umfassenden Beschreibung durch die Weltgesundheitsorganisation, werden Ziele und zentrale Aspekte der Palliativversorgung erläutert. Die ökonomische Analyse zeigt, dass diese Versorgung vielfältige Nutzeneffekte beim Patienten oder bei seinen Angehörigen zu stiften vermag. Die Vermutung, dass bei schwer kranken oder sterbenden Menschen keine nennenswerten Nutzen mehr erzielt werden können, trifft daher nicht zu. Weiterhin lassen sich die Ziele der Palliativversorgung vornehmlich anhand derartiger Nutzeneffekte begründen. Um Maßnahmen identifizieren zu können, die aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive vorteilhaft sind, müssen allerdings auch die Kosten berücksichtigt werden. Damit Maßnahmen, deren Nutzen die Kosten übersteigen, den Patienten zugute kommen können, sind den Leistungserbringern finanzielle Anreize zu setzen, die ihnen eine Umsetzung lohnenswert erscheinen lassen. Fehlende oder unzureichende Anreize können eine wichtige Ursache von Versorgungsmängeln sein This contribution examines palliative care from an economic perspective. Starting with the comprehensive description given by the World Health Organization, the goals and central aspects of palliative care are explained. The economic analysis shows that this type of care can have manifold useful effects on patients or relatives. The idea that severely ill or dying people can no longer be of any economic use is thus incorrect. In addition, the goals of palliative care can be given a solid foundation on the basis of such useful effects in particular. To be able to identify what measures are advantageous from the point of view of macroeconomics, however, the costs must also be taken into account. So that measures which will benefit patients despite costing more than they are of use, the care providers must be given financial incentives that render the realization of such measures attractive. A lack of incentive, or insufficient incentive, can be an important cause of lack of care. Keywords: Palliativversorgung, ökonomische Analyse, Nutzeneffekte für den Patienten

Prof. Dr. rer. pol. Walter Ried, Rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät, Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald, Friedrich-Loeffler-Str. 70, 17487 Greifswald, Lehrstuhl für Allgemeine Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft

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Es gibt wenige Bereiche des menschlichen Lebens, in denen der Fortschritt über viele Jahrzehnte hinweg so beständig Verbesserungen bewirkt hat wie in der medizinischen Versorgung. Neue Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie haben dazu geführt, dass die Lebensqualität der Patienten im Falle einer Erkrankung gesteigert und die Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich erhöht werden konnte. So bewirkt etwa die minimal invasive Chirurgie, dass anstelle einer belastenden Operation, verbunden mit einem längeren stationären Aufenthalt, nun ein wesentlich schonenderer Eingriff mit deutlich verkürzter Rekonvaleszenzzeit erfolgen kann. Ein anderes Beispiel bilden die seit einiger Zeit verfügbaren Arzneimittel-Therapien für HIV-Infizierte, die deren Lebenserwartung im Vergleich zu der Zeit, als das Virus entdeckt worden ist, beträchtlich erhöht haben. Weiterhin seien Fortschritte in der Diagnostik und Therapie von Krebserkrankungen genannt, die ebenfalls signifikante Erhöhungen der Lebenserwartung der Patienten bewirkt haben. Trotz der beeindruckenden Auswirkungen des medizinisch-technischen Fortschritts gibt es immer noch zahlreiche Erkrankungen, die mit einem Todesrisiko für den Patienten verbunden sind. Mehr noch: Diese Erkrankungen können jeweils ein Stadium erreichen, in dem kaum noch oder womöglich gar keine Aussicht auf Heilung mehr besteht. Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass es keinen Spielraum für die Ausgestaltung der Versorgung von Patienten gibt, bei denen die Möglichkeiten der kurativen Medizin nahezu oder sogar vollständig erschöpft sind. Wie eine nähere Betrachtung zeigt, ist diese Vermutung unzutreffend, da in der Regel durchaus noch mehrere Alternativen bestehen, die den Patienten in unterschiedlichem Umfang unterstützen. Daraus resultieren u.a. folgende Fragen: Nach welchen Kriterien ist die Versorgung von schwer kranken Patienten festzulegen? Wie kann eine Umsetzung dieser Versorgung bewerkstelligt werden? Diese Fragen betreffen den Bereich der Palliativversorgung, der im Folgenden aus ökonomischer Perspektive beleuchtet werden soll. Im Vergleich zur kurativen Medizin geht es hier weniger darum, Leben unter allen Umständen zu erhalten, da solche Bemühungen in Konflikt stehen können mit dem Ziel, dem Patienten ein Leben und schließlich ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Wie nicht zuletzt einige spektakuläre Fälle zeigen, ist die moderne Medizin leistungsfähig genug, um eine Lebensverlängerung auch dann zu ermöglichen, wenn zumindest starke Zweifel bestehen, ob dies noch den Interessen des Patienten entspricht. So liegt beispielsweise der frühere israelische Ministerpräsident Ariel Scharon seit über sechs Jahren im Koma, offenbar ohne jede Aussicht, aus diesem Zustand jemals wieder aufzuwachen.¹ Aufsehen erregte vor einigen Jahren der Fall von Terri Schiavo, bei der im Jahr 1990 der Gehirntod festgestellt wurde: Die frühere Versicherungsangestellte starb im März 2005, nachdem ihr Ehemann am Ende eines über mehrere Jahre andauernden

1 Vgl. http: // www.biography.com / people / ariel-sharon-9480655, besucht am 03.04.2012.

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Rechtsstreits mit ihren Eltern schließlich den Abbruch ihrer künstlichen Ernährung gerichtlich durchsetzen konnte.² Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut. Zunächst wird der Begriff der Palliativversorgung erläutert, bevor einige ökonomische Aspekte dieser Versorgung behandelt und diskutiert werden. Zum Abschluss wird ein Fazit gezogen und ein kurzer Ausblick gegeben.

1 Grundlagen 1.1 Zum Begriff der Palliativversorgung Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2002 eine Beschreibung der Palliativversorgung³ vorgelegt, die sich rasch durchgesetzt hat und heute als international anerkannt gelten kann. Demnach ist Palliativversorgung zu verstehen „als Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit den Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen, und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch die frühzeitige Erkennung, fehlerfreie Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art“.⁴ Wie im nächsten Abschnitt noch näher erläutert wird, erweitert ein solches Verständnis den Umfang der Palliativversorgung gegenüber früheren Beschreibungen in mehrfacher Hinsicht und bewirkt insbesondere ein anderes Verhältnis zur kurativen Medizin.⁵ In der deutschsprachigen Literatur wird der Begriff der Palliativversorgung zuweilen in anderer Weise und im Ergebnis enger umschrieben bzw. verwendet. In der Regel bleibt die Palliativversorgung dann auf diejenigen Patienten beschränkt, die unter einer unheilbaren, fortschreitenden und bereits weit fortgeschrittenen Erkrankung leiden, so dass nur noch eine begrenzte Lebenserwartung vorliegt.⁶ Dabei umfasst die

2 Vgl. http: // en.wikipedia.org / wiki / Terri_Schiavo_case, besucht am 03.04.2012. 3 Vgl. World Health Organization (2002), S. 84. 4 Eigene Übersetzung. Vgl. auch Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (2003) und EnqueteKommission Ethik und Recht der modernen Medizin (2005), S. 14, die jeweils leicht modifizierte Versionen verwenden. 5 Auch die Weltgesundheitsorganisation hat früher einen engeren Begriff der Palliativversorgung verwendet, vgl. World Health Organization (1990), S. 11. Dieser beschränkte sich auf Patienten, die unter einer Erkrankung leiden, bei der Maßnahmen der kurativen Medizin nicht (mehr) anschlagen. 6 Vgl. Koch / Mehnert (2006), S. 1075 oder Cremer-Schaeffer / Radbruch (2012), S. 231. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin verwendet den Begriff der WHO für „Palliative Care“, um dann mit der im Text angeführten engeren Beschreibung die Palliativmedizin zu kennzeichnen. Da sie gleichzeitig darauf hinweist, dass Palliativmedizin auch als deutsche Übertragung von „Palliative Care“ verwendet wird, entsteht eine begriffliche Unschärfe, die auch im Zwischenbericht der

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Versorgung nicht nur die Behandlung, sondern auch die Betreuung und Begleitung, wobei letztere die Angehörigen ebenfalls einschließen können. Das Bundesministerium für Gesundheit verwendet auf seinen Webseiten einen deutlich engeren Begriff, indem es die Palliativversorgung auf die „Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen“⁷ eingrenzt und damit Leistungen für Angehörige nicht einbezieht. Die Palliativversorgung nach dem Verständnis der WHO umfasst nicht nur die medizinische Versorgung der Patienten, sondern auch deren Pflege und darüber hinaus noch die Versorgung mit weiteren Leistungen, etwa der Betreuung und der Begleitung. Insofern stellen die Leistungen der Palliativmedizin und der Palliativpflege jeweils Teile der Palliativversorgung dar, ohne jedoch mit dieser identisch zu sein. Im Einklang mit dem Ansatz der WHO erscheint es dann sinnvoll, beispielsweise die palliativmedizinische Versorgung ebenfalls umfassend zu definieren und nicht auf die Versorgung von schwerkranken bzw. schwerstkranken und sterbenden Patienten einzugrenzen.⁸

1.2 Erläuterung Die Beschreibung der WHO enthält vier bemerkenswerte Aspekte. Zunächst bezieht sie sich nicht auf eine bestimmte Erkrankung oder Gruppe von Erkrankungen.⁹ Obwohl in der Praxis bislang die Versorgung von Krebspatienten vorherrscht,¹⁰ ist die Beschreibung so allgemein gehalten, dass sie auch die Versorgung von Patienten einbezieht, die unter anderen, in der Regel chronischen Erkrankungen leiden. Weiterhin bewirkt der Bezug auf eine lebensbedrohliche anstelle einer unheilbaren Erkrankung, dass die Palliativversorgung bereits frühzeitiger zum Einsatz kommen kann: Schon die Diagnose einer derartigen Erkrankung konfrontiert die Patienten mit der Gefahr eines (möglicherweise: baldigen) Todes, so dass sie ab diesem Zeitpunkt auch einen palliativen Versorgungsbedarf aufweisen können. Drittens umfasst die Palliativversorgung nicht nur die Linderung oder Beseitigung der Schmerzen der Patienten, sondern allgemeiner die Kontrolle aller Beschwerden. Zu den Letzteren können einzelne Symptome gehören wie beispielsweise Übelkeit

Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin vorhanden ist; vgl. Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (2003) und Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin (2005), S. 14. 7 Vgl. hierzu: http: // www.bmg.bund.de / krankenversicherung / leistungen / palliativversorgung. html, besucht am 03.04.2012. 8 Im Gegensatz dazu beziehen sich die Entschließungen und Beschlüsse des 114. Deutschen Ärztetags zur palliativmedizinischen Versorgung auf diese enger abgegrenzte Gruppe von Patienten, vgl. Bundesärztekammer (2011), S. 51 ff. 9 Vgl. Sepulveda et al. (2002), S. 92. 10 Vgl. z.B. Meißner (2011), S. A1291.

Ökonomische Aspekte der Palliativversorgung

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oder Erbrechen. Darunter fallen aber auch alle übrigen Probleme, die für das Leiden des Patienten (mit-)verantwortlich sind oder in anderer Weise seine Lebensqualität beeinträchtigen. Schließlich bezieht die Beschreibung der WHO auch die Angehörigen explizit ein, die aufgrund der lebensbedrohlichen Erkrankung des Patienten ebenfalls leiden und durch die Palliativversorgung bei der Bewältigung ihrer Probleme unterstützt werden können. Der weite zeitliche Bezug des von der WHO verwendeten Begriffs hat auch Konsequenzen für das Verhältnis der Palliativversorgung zur kurativen Medizin. Während, einer früher vorherrschenden Vorstellung zufolge, diese Versorgungsform erst zur Anwendung kommen kann, wenn die Möglichkeiten der kurativen Medizin ausgeschöpft sind, kann es nun sinnvoll sein, Patienten gleichzeitig sowohl kurativ als auch palliativ zu versorgen: Nachdem die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung gestellt worden ist, besteht typischerweise noch eine Chance auf Heilung, zumindest im Sinne einer deutlichen Verbesserung des Gesundheitszustands, die man durch den Einsatz der geeigneten Therapie zu realisieren suchen wird. Wenn und insoweit im weiteren Verlauf diese Chance sich dann verringert, wird die Bedeutung der kurativen zu Gunsten der palliativen Medizin zurückgehen. Ist die Erkrankung schließlich unheilbar geworden, rückt die Palliativversorgung ganz in den Mittelpunkt. Diese Überlegungen verdeutlichen zunächst, dass im Verlauf einer lebensbedrohlichen Erkrankung der Übergang zwischen der kurativen und der palliativen Versorgung in der Regel fließend sein wird.¹¹ Ferner gilt es zu berücksichtigen, dass nicht bei allen Patienten der oben geschilderte, ungünstige Verlauf eintreten wird: Da bei Diagnosestellung noch eine Aussicht auf Heilung besteht, wird die eingesetzte Behandlung bei einem Teil der Patienten anschlagen und den möglichen Heilungserfolg auch tatsächlich bewirken. Somit bezieht sich der oben geschilderte Verlauf auf diejenigen Patienten, deren Heilungschancen im Zeitablauf schwinden. Daraus folgt, dass ein Bezug auf Patienten mit unheilbaren Erkrankungen den Begriff der Palliativversorgung im Vergleich zum Ansatz der WHO nicht nur in zeitlicher Hinsicht, bezogen auf den Verlauf der Erkrankung, enger fasst: Der dadurch erfasste Kreis von Patienten fällt ebenfalls kleiner aus, da alle Patienten, die von einer lebensbedrohlichen Erkrankung geheilt werden oder bei denen diese ein unheilbares Stadium nicht erreicht, nicht berücksichtigt werden. Mit der Palliativversorgung wird angestrebt, dem Patienten und seinen Angehörigen zu einer möglichst hohen Lebensqualität zu verhelfen und dafür zu sorgen, dass der Patient sein Leben so weit wie möglich aktiv und in Selbstbestimmung führen kann. Zur Veranschaulichung ist es hilfreich, den speziellen Fall eines Patienten zu betrachten, der unter einer unheilbaren Krankheit leidet und nur noch eine begrenzte

11 Vgl. Mehnert et al. (2006), S. 1087. Die Veränderung der Bedeutung beider Versorgungsformen im Verlauf dieses Übergangs veranschaulichen World Health Organization (2002), S. 84 sowie Davies / Higginson (2004), S. 18, jeweils anhand derselben Abbildung.

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Lebenserwartung besitzt.¹² Selbst wenn weder die Mortalität noch die Morbidität beeinflusst werden können, existieren in der Regel noch Möglichkeiten, die Lebensqualität des Patienten spürbar zu verbessern. Diese umfassen die Beseitigung oder Linderung seiner Schmerzen,¹³ die Bekämpfung oder Kontrolle weiterer belastender Symptome wie beispielsweise Übelkeit oder Luftnot, die Versorgung in der häuslichen oder zumindest der vertrauten Umgebung sowie einen geeigneten Umgang mit den psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnissen des Patienten aufgrund des bevorstehenden Todes. Gerade die letztgenannten Aufgaben schließen auch die Angehörigen des Patienten ein – sei es, dass diese sich an seiner Versorgung beteiligen oder selbst palliativ versorgt werden, etwa in Form einer Begleitung nach seinem Tod. Aus dieser Aufzählung geht hervor, dass bereits die Versorgung des Patienten auch eine umfassende Betreuung oder eine spirituelle Begleitung einschließen und somit weit mehr als eine rein medizinische Versorgung beinhalten kann. Ferner wird deutlich, dass einzelne Komponenten der Palliativversorgung auch für die Angehörigen geleistet werden und deren Lebensqualität erhöhen können, weil sie dann beispielsweise lernen, besser mit dem Schicksal des Patienten umzugehen. Das Ziel der Selbstbestimmung impliziert, dass die Wünsche des Patienten im Rahmen der Palliativversorgung so weit wie möglich respektiert und befolgt werden.¹⁴ Die Umsetzung dieser auf den ersten Blick unproblematisch erscheinenden Forderung erweist sich bei unheilbar Erkrankten indessen als schwierig, wenn entweder der Patient seine Wünsche gar nicht mehr äußern kann oder der begründete Verdacht besteht, dass seine Äußerungen den tatsächlichen Willen nicht korrekt wiedergeben. Allerdings gibt es auch in solchen Fällen noch Möglichkeiten, den mutmaßlichen Willen des Patienten zu ermitteln, auf die weiter unten kurz eingegangen wird.

12 Für Patienten, die unter einer lebensbedrohlichen Erkrankung leiden, aber noch Aussicht auf Heilung haben, gelten die nachfolgenden Ausführungen in entsprechend abgeschwächter Form. So haben beispielsweise Patienten, die mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % die nächsten fünf Jahre überleben, sicherlich geringeren Anlass, sich mit dem Tod zu beschäftigen, als Patienten mit infauster Prognose. Sie werden es aber dennoch in gewissem Umfang tun. 13 In vielen Fällen ist es möglich, den Patienten über weite Strecken schmerzfrei zu halten, vgl. Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin (2005), S. 6. 14 Dabei sind u.a. rechtliche Bestimmungen zu beachten. In Deutschland ist beispielsweise die aktive Sterbehilfe verboten.

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2 Zentrale Aspekte aus (gesundheits-)ökonomischer Perspektive Der ökonomische Ansatz zur Beurteilung einer Situation ist maßnahmenbezogen:¹⁵ Man versucht zu prüfen, ob eine Maßnahme als vorteilhaft einzustufen ist, d.h. ob ihre Vorteile größer ausfallen als die damit verbundenen Nachteile. Dabei sind diese Effekte jeweils im Vergleich zu einer alternativen, idealiter: der nächstbesten Maßnahme, zu ermitteln. In der Fachterminologie bezeichnet man die Vorteile als Nutzen, wohingegen die Nachteile als Kosten firmieren. Während im öffentlichen Sektor eine Maßnahme in der Regel ein großes Projekt darstellt, dessen einmalige Durchführung mit hohen Kosten verbunden ist (z.B. der Bau einer neuen Autobahn), handelt es sich im Gesundheitswesen typischerweise um eher kleine Projekte, die immer wieder durchgeführt werden und erst dadurch hohe Kosten verursachen (z.B. eine andere Therapie für bestimmte Patienten). Der Begriff des Nutzens ist dabei umfassend zu verstehen, denn hierunter fällt grundsätzlich jede Verbesserung der Lage einer Wirtschaftseinheit. Im Gesundheitswesen können Nutzen beispielsweise anfallen als Verbesserungen der Gesundheit eines Individuums oder als zusätzliche Erlöse eines Leistungserbringers. In gleicher Weise wird ein weiter Kostenbegriff verwendet, der spiegelbildlich zum Begriff des Nutzens jede Verschlechterung der Lage einer Wirtschaftseinheit bezeichnet, also beispielsweise Verschlechterungen der Gesundheit eines Individuums oder zusätzlichen Aufwand eines Leistungserbringers. Diese knappen Bemerkungen verdeutlichen, dass die Erfassung von Kosten und Nutzen weit über die Berücksichtigung von finanziellen Effekten hinausgeht und somit auch die ökonomische Perspektive erheblich weiter reicht. Die Beurteilung der Vorteilhaftigkeit einer Maßnahme kann aus verschiedenen Perspektiven erfolgen. Während die einzelwirtschaftliche Perspektive lediglich diejenigen Kosten und Nutzen erfasst, die einer einzelnen Wirtschaftseinheit wie z.B. dem Patienten oder dem Arzt entstehen, berücksichtigt die gesamtwirtschaftliche Perspektive grundsätzlich alle Kosten und Nutzen unabhängig davon, bei welcher Wirtschaftseinheit diese anfallen. Als gesamtwirtschaftlich vorteilhaft (bzw. einzelwirtschaftlich vorteilhaft) bezeichnet man eine Maßnahme, die aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive (bzw. aus einzelwirtschaftlicher Perspektive) als vorteilhaft einzustufen ist. Beide Perspektiven sind wichtig, da sie für unterschiedliche Fragestellungen von Bedeutung sind: Ist eine Maßnahme gesamtwirtschaftlich vorteilhaft, dann lohnt sich ihre Umsetzung für die Gesellschaft insgesamt. Entsprechend bedeutet einzel-wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit, dass die Umsetzung der Maßnahme im Interesse der betrachteten Wirtschaftseinheit liegt.

15 Zur ökonomischen Evaluation vgl. z.B. Leidl (2003) sowie Schöffski (2007).

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Eine für die Gesellschaft insgesamt vorteilhafte Maßnahme läuft Gefahr, nicht umgesetzt zu werden, wenn sie nicht im Interesse sämtlicher Beteiligter liegt.¹⁶ Im Gesundheitswesen kann eine derartige Konstellation beispielsweise dann auftreten, wenn eine neue Therapie zwar die Gesundheit der Patienten erheblich verbessert, der damit verbundene Aufwand einzelner Leistungserbringer aber nicht adäquat vergütet wird. Unter diesen Umständen ist es sinnvoll, dafür zu sorgen, dass die Umsetzung der Maßnahme für alle Beteiligten vorteilhaft wird, etwa durch geeignete Änderungen der Vergütungsregelungen. Das ist grundsätzlich möglich, da für die Gesellschaft insgesamt die Nutzen ja größer als die Kosten ausfallen und der daraus resultierende Nutzenüberschuss auf alle Beteiligten so verteilt werden kann, dass jeder einen Vorteil erzielt.¹⁷ Betrachten wir nun zunächst die Konsequenzen der Erweiterung des Begriffs der Palliativversorgung, die sich aufgrund der oben erläuterten Beschreibung der WHO im Vergleich zu anderen Beschreibungen oder Definitionen ergeben. Der daraus – in Bezug auf den Verlauf einer lebensbedrohlichen Erkrankung – resultierende frühzeitigere Einsatz der Palliativversorgung kann für den Patienten mit mehreren Vorteilen verbunden sein. So ist es möglich und teilweise auch schon empirisch belegt, dass dadurch die verbleibende Lebenszeit verlängert oder die Lebensqualität verbessert werden kann.¹⁸ Weiterhin gelingt es dann mit höherer Wahrscheinlichkeit, den Patienten schmerzfrei zu halten oder seine anderen Symptome bzw. Beschwerden zu kontrollieren.¹⁹ Dies umfasst auch die Unterstützung bei der frühzeitigen Beschäftigung mit dem Tod, die es dem Patienten und den Angehörigen erleichtert, mit dieser schwierigen Situation umzugehen. Schließlich kann der Übergang von einer lebensbedrohlichen zu einer unheilbaren Erkrankung sowohl vom Patienten als auch von seinen Angehörigen besser bewältigt werden, wenn im Rahmen der Palliativversorgung bereits frühzeitig die Möglichkeit angeboten wird, sich unter professioneller Anleitung mit dem Tod zu beschäftigen. Auch diese Effekte bewirken eine Verbesserung der Lebensqualität des Patienten oder seiner Angehörigen und stellen somit Nutzeneffekte dar. Ein zentrales Prinzip der ökonomischen Vorteilhaftigkeitsanalyse stellt der methodologische Individualismus dar, dem zufolge Kosten- und Nutzeneffekte nach

16 Ebenso können Maßnahmen, die gesamtwirtschaftlich unvorteilhaft sind, dennoch angewendet werden, wenn sie im Interesse einzelner Beteiligter sind. 17 In der Praxis kann es sich als außerordentlich schwierig erweisen, geeignete Instrumente zu finden, die derartige Verteilungen des Nutzenüberschusses erreichen. 18 Vgl. Sepulveda et al. (2002), S. 92 oder Temel et al. (2010), S. 738 f. Eine Verlängerung der Lebenszeit bei gegebener Lebensqualität bewirkt einen Nutzeneffekt, sofern der betreffende Gesundheitszustand besser als der Tod eingestuft wird, wovon im Allgemeinen ausgegangen werden kann. Wie unten erläutert wird, können jedoch längere Lebenszeiten, die zu Lasten der Lebensqualität gehen, vom Patienten als schlechter eingestuft werden. 19 Vgl. Sepulveda et al. (2002), S. 92.

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Möglichkeit durch die betroffenen Wirtschaftseinheiten zu bewerten sind. Auf die Palliativversorgung angewandt, bedeutet dies, dass die Bewertungen von Veränderungen der Lebensqualität grundsätzlich durch den Patienten oder seine Angehörigen – je nachdem, bei wem die interessierenden Effekte anfallen – vorzunehmen sind. Dies steht völlig im Einklang mit der in Abschnitt 1.2 erläuterten Zielsetzung, den Willen des Patienten nicht nur zu berücksichtigen, sondern auch die Versorgung nach seinen Wünschen zu gestalten, soweit dies überhaupt möglich und dann auch vertretbar sowie zulässig ist. Der Nutzen des Patienten wird vermutlich höher ausfallen, wenn anstelle einer maximalen Lebenszeit, die nur durch den Einsatz der Hochleistungsmedizin zu erreichen ist und den Patienten dauerhaft zu einem passiven Empfänger von lebenserhaltenden Maßnahmen degradiert, eine kürzere Lebenszeit betrachtet wird, die aber ein in Grenzen aktives Leben bis zum Tod sowie ein Sterben in Würde ermöglicht.²⁰ Allerdings ist es gerade bei schwerstkranken Menschen nicht immer möglich, ihre Einschätzung verschiedener Optionen der Versorgung direkt, d.h. anhand von Gesprächen oder Befragungen, zu ermitteln. Wenn der Patient seinen Willen nicht mehr oder nicht mehr zuverlässig äußern kann, verlangt das oben erwähnte Prinzip, den mutmaßlichen Willen auf anderem Wege zu ermitteln. Dies darf nicht etwa beliebig erfolgen, sondern dergestalt, dass die Wünsche des Patienten so gut wie möglich abgebildet werden. Die Patientenverfügung lässt sich als ein Instrument interpretieren, das genau dieses Ziel umzusetzen versucht, indem der künftige Patient selbst Vorkehrungen für solche Fälle trifft, in denen er sich selbst nicht mehr äußern kann.²¹ Falls eine derartige Verfügung nicht existiert und damit der Wille des Patienten nicht direkt zu ermitteln ist, können Angehörige oder beispielsweise auch die behandelnden Ärzte hinzugezogen werden, um darüber Aufschluss zu erhalten. Auch dies entspricht einer Zielsetzung der Palliativversorgung, der zufolge diese Personengruppen in die Versorgung einzubeziehen sind. Wenn auf Heilung oder deutliche Verbesserungen des Gesundheitszustands keine Aussicht mehr besteht, mag es auf den ersten Blick scheinen, dass Verbesserungen der Lebensqualität des Patienten und daraus entstehende Nutzeneffekte in nennenswertem Umfang ebenfalls nicht mehr zu erreichen sind. Dieser Eindruck trifft jedoch aus zwei Gründen nicht zu. Erstens gibt es auch dann noch mehrere, für den Patienten unter Umständen sehr bedeutsame Komponenten seiner Lebensqualität, die durch die Palliativversorgung beeinflusst werden können: Diese reichen von der Beseitigung oder Linderung seiner Schmerzen über die Kontrolle weiterer Beschwer-

20 Zum Begriff des Sterbens in Würde vgl. Mehnert et al. (2006) sowie Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V., Deutscher Hospiz- und Palliativ Verband e.V., Bundesärztekammer (2010), S. 9. 21 Allerdings kann eine derartige Verfügung angesichts einiger Unwägbarkeiten durchaus problembehaftet sein, vgl. Schmiedebach und Woellert (2006), S. 1134 ff. oder Bundesärztekammer und Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2010).

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den bis hin zur angemessenen psychosozialen Betreuung und spirituellen Begleitung. Mit anderen Worten: Auch bzw. gerade die Lage derjenigen Patienten, die unter einer unheilbaren Erkrankung leiden und nur noch eine begrenzte Lebenserwartung aufweisen, kann durch eine adäquate palliative Versorgung deutlich verbessert werden. Herkömmliche Maße, die vorrangig oder ausschließlich an den Gesundheitszustand des Individuums anknüpfen, erweisen sich indessen als unzureichend, um derartige Effekte angemessen abzubilden.²² Zweitens schätzen Individuen, einer weit verbreiteten und empirisch gut belegten Annahme von Ökonomen zufolge, ganz allgemein Nutzen stiftende Effekte umso höher ein, je weniger sie davon haben. Schwer erkrankte Patienten, die einen schlechten Gesundheitszustand aufweisen und nur über eine geringe Lebensqualität verfügen, würden demzufolge auch kleine Verbesserungen als relativ wertvoll einstufen. Diese Vermutung lässt sich für Patienten, die nur noch palliativ versorgt werden (können), sehr gut bestätigen.²³ Es gibt noch weitere Nutzeneffekte, die vor allem für ausschließlich oder vornehmlich palliativ versorgte Patienten und ihre Angehörigen wichtig sind. Zunächst besteht in aller Regel der starke Wunsch, so lange wie möglich in der häuslichen Umgebung zu verbleiben.²⁴ Da schwer oder gar schwerstkranke Patienten in größerem Umfang Pflege und Betreuung benötigen, kann dieser Wunsch nur erfüllt werden, wenn der dazu nötige Aufwand zumindest teilweise durch Angehörige geleistet wird. Dies ist insbesondere bei älteren Menschen, die allein leben oder deren Partner diese Aufgabe nicht erfüllen kann, nicht ohne weitere Vorkehrungen zu realisieren. Deshalb liegt der Anteil derjenigen Patienten, die außerhalb ihrer häuslichen Umgebung untergebracht sind, gerade unter den schwer kranken und den sterbenden Patienten, in Deutschland recht hoch.²⁵ Ein Verbleib in der vertrauten Umgebung wird jedoch nicht nur die Zufriedenheit des Patienten erhöhen, sondern kann noch weitere Nutzeneffekte bei seinen Angehörigen bewirken: Einerseits gelingt es auf diese Weise besser, einen engen Kontakt zum Patienten zu halten, und andererseits kann die Gelegenheit, durch die Pflege noch etwas für ihn zu tun, für die Angehörigen Nutzen stiftend sein.

22 Für eine empirische Analyse des Zusammenhangs zwischen dem Befinden von Palliativpatienten und ihren Symptomen bzw. Beschwerden vgl. Jansky et al. (2012). 23 Vgl. dazu z.B. Mehnert et al. (2006). 24 Vgl. Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin (2005), S. 32, Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V., Deutscher Hospiz- und Palliativ Verband e.V., Bundesärztekammer (2010), S. 12 oder Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V., Deutscher Hospiz- und Palliativ Verband e.V. (2011). 25 Vgl. z.B. Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (2009). Dies mag auch darauf zurückzuführen sein, dass eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) noch nicht flächendeckend vorhanden ist, vgl. Perner et al. (2006) oder Meißner (2011), S. A 1291. Zur SAPV vgl. Engelmann (2010).

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Ein weiteres Ziel der Palliativversorgung, dem Patienten ein Sterben in Würde oder einen „guten Tod“ zu ermöglichen, lässt sich ebenfalls anhand der damit verbundenen Nutzeneffekte für den Patienten und seine Angehörigen begründen.²⁶ Einem Diktum von Kierkegaard zufolge hat es „unendlich viel zu bedeuten, wie man stirbt“.²⁷ Dies veranschaulicht die große Bedeutung, die gerade der Palliativversorgung sterbender Menschen zukommt. Es ist bekannt, dass selbst geringfügige Verbesserungen der Lebensqualität dann besonders hoch geschätzt werden: So kann beispielsweise das Los von Patienten, bei denen eine Kontrolle ihrer Beschwerden nicht mehr oder kaum noch möglich ist, durch Beistand und Mitgefühl immer noch erleichtert werden, indem ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt und ein Sterben in Würde ermöglicht wird.²⁸ Ebenso können daraus Nutzeneffekte für die Angehörigen entstehen, entweder weil sie selbst diesen Beistand leisten und darin Erfüllung finden oder weil die Beruhigung des Patienten auch ihre Zufriedenheit erhöht. Schließlich können sich weitere Nutzeneffekte für die Angehörigen ergeben, wenn diese im Rahmen der Palliativversorgung über den Tod des Patienten hinaus betreut und begleitet werden. Damit ist gezeigt, dass zentrale Ziele der Palliativversorgung anhand der Nutzeneffekte begründet werden können, die ihre Realisierung beim Patienten und seinen Angehörigen bewirkt.²⁹ Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Maßnahme umzusetzen wäre, die bereits einen Beitrag dazu leistet, diese Ziele zu erreichen: Eine Maßnahme der Palliativversorgung lohnt sich nur dann aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive, wenn die dadurch bewirkten Nutzen größer ausfallen als die dafür einzugehenden Kosten. Insofern stellen die oben angeführten Nutzeneffekte in der Regel lediglich eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Vorteilhaftigkeit einer Maßnahme dar. Allerdings gilt es in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass eine angemessene Versorgung schwer kranker Patienten nicht nur für diesen selbst und seine Angehörigen, sondern darüber hinaus noch weiteren Nutzen zu stiften vermag. Wie das starke ehrenamtliche Engagement der Bevölkerung im Hospizdienst eindrucksvoll belegt,³⁰ schätzen viele Individuen eine derartige Versorgung als so wertvoll ein, dass sie dazu einen Beitrag zu leisten bereit sind. Wie kann eine Umsetzung von als gesamtwirtschaftlich vorteilhaft erkannten Maßnahmen der Palliativversorgung erreicht werden? Oben wurde bereits erläutert,

26 Zur Erläuterung eines „guten Todes“ vgl. Kikule (2003), Jocham et al. (2009) oder Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V., Deutscher Hospiz- und Palliativ Verband e.V., Bundesärztekammer (2010). 27 Zitiert nach Fachgruppe Hospiz-Onkologie-Palliativ-Pflege (2007), S. 22. 28 Vgl. Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin (2005), S. 6. 29 Darüber hinaus können weitere Nutzeneffekte entstehen, da z.B. eine längere Versorgung des Patienten in seiner häuslichen Umgebung auch mit Kostensenkungen verbunden sein kann. 30 In Deutschland engagieren sich derzeit ca. 80.000 Personen ehrenamtlich im Hospizdienst, vgl. Engelmann (2010), S. 578.

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dass dazu die an der Versorgung Beteiligten geeignete Anreize benötigen. Da der Patient und seine Angehörigen von einer guten Versorgung ohnehin profitieren, sind dazu im Wesentlichen die Anreize für die Leistungserbringer zu prüfen. Fehlende oder unzureichende Anreize können bewirken, dass gesamtwirtschaftlich vorteilhafte Maßnahmen nicht oder nur in zu geringem Umfang angewendet werden. Obwohl die Angebotskapazitäten in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich gestiegen sind, weist die gegenwärtige Situation in Deutschland noch erhebliche Versorgungsdefizite auf. Diese dürften im Bereich der Palliativmedizin nicht zuletzt auf eine zu niedrige Vergütung geeigneter ambulanter oder stationärer Leistungen zurückzuführen sein.³¹Ferner erscheint es angezeigt, die verbreitete Tabuisierung des Sterbens aufzuheben, um über eine stärkere gesellschaftliche Anerkennung der Hospizarbeit das ehrenamtliche Engagement der Bürger zu fördern und so die Versorgung in diesem Bereich zu verbessern.

3 Fazit und Ausblick In diesem Beitrag wurde argumentiert, dass die von der WHO im Jahr 2002 vorgelegte Beschreibung der Palliativversorgung und insbesondere die darin enthaltenen Ziele aus ökonomischer Perspektive gut begründet werden können. Eine zentrale Rolle hierfür spielen die Nutzeneffekte, die eine adäquate Versorgung beim Patienten oder bei seinen Angehörigen auslösen, und deren Bewertung durch die Betroffenen selbst. Um eine gesamtwirtschaftlich vorteilhafte Versorgung zu erreichen, sind zunächst geeignete Maßnahmen zu identifizieren und in einem zweiten Schritt ausreichende Anreize für die Beteiligten, insbesondere die Leistungserbringer, zu setzen. Beide Aufgaben erweisen sich als schwierig, da die Nutzeneffekte innerhalb der Gesellschaft weit streuen können, eine direkte Bewertung der beim Patienten entstehenden Effekte keineswegs immer möglich ist und schließlich die benötigten Anreize nicht einfach zu ermitteln und anhand geeigneter Instrumente umzusetzen sind. Die gegenwärtigen Defizite der Palliativversorgung in Deutschland dürften zu einem großen Teil auf diese Probleme zurückzuführen sein. Die ökonomische Analyse der Palliativversorgung weist, verglichen mit anderen Teilbereichen der Versorgung im Gesundheitswesen, einige Besonderheiten auf: So treten Gesundheitseffekte zumindest bei einen größeren Teil der Patienten nicht mehr in nennenswertem Umfang auf. Dennoch sind Verbesserungen der Lebensqualität von Patienten, die unheilbar erkrankt sind und nur noch eine begrenzte Lebenserwartung aufweisen, nicht nur möglich, sondern können für diese von großer Bedeutung

31 Vgl. Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin (2005), S. 74 f., Schindler (2006) oder Meißner (2011), S. A 1291.

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sein. Weiterhin ist es sinnvoll, die Angehörigen einzubeziehen, da sie sich entweder an der Versorgung beteiligen können oder selbst ihrer bedürfen. Darüber hinaus ist das Interesse der Gesellschaft an einer guten Palliativversorgung zu berücksichtigen. Schließlich umfasst die Versorgung weit mehr als nur eine medizinische Versorgung, da die Betreuung und Begleitung des Patienten wie auch seiner Angehörigen ebenfalls darin enthalten sind. Die Ausführungen haben gezeigt, dass die daraus resultierenden Effekte, die vornehmlich als Nutzen anfallen, bei der Bestimmung einer adäquaten Versorgung aus ökonomischer Perspektive zu berücksichtigen sind. Da der Anteil der palliativ zu versorgenden Patienten mit dem Alter steigt, dürfte die demografische Alterung in Deutschland künftig einen zunehmenden Versorgungsbedarf bewirken. Die gesellschaftliche Bedeutung einer adäquaten Palliativversorgung wird daher in den nächsten Jahrzehnten weiter steigen. Nicht zuletzt aus diesem Grund erscheint es wünschenswert, die Bemühungen um eine Lösung der oben genannten Aufgaben noch zu verstärken und auf diese Weise dazu beizutragen, dass nicht nur die Qualität der Versorgung verbessert werden, sondern auch ein Abbau der heute noch bestehenden Versorgungsdefizite erfolgen kann.

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Todesverständnisse

Andreas Draguhn

1.8 Tod als Ende der Sterbephase Abstract: Traditionell verbinden wir mit dem Tod den endgültigen Stillstand aller Lebensfunktionen, insbesondere der Tätigkeit von Herz, Kreislauf und Atmung, gefolgt von späteren Anzeichen wie Leichenstarre und Verwesung. Dies scheint zunächst einfach und eindeutig. In unmittelbarer Nähe des Todes dominiert aber eine wesentlich komplexere und vielschichtige Sicht der Medizin. Durch die technischen Möglichkeiten der Intensivmedizin sind Zustände zwischen Leben und Tod entstanden, denen die hergebrachte Definition nicht mehr gerecht wird. In diesem Kapitel sollen Definition und Erscheinungsbild des klinischen Todes genauer erläutert werden, wobei wir die akuten (unsicheren) und späteren (sicheren) Todeszeichen beschreiben. Anschließend wenden wir uns dem Hirntod als einer zweiten, neueren und parallel gültigen Definition des Todes zu. Hier ist das organische Leben noch weitgehend erhalten, solange künstliche Beatmung und weitere stabilisierende Maßnahmen eingesetzt werden. Dennoch gelten die betroffenen Menschen als tot, ihre Organe können entnommen und die Therapie beendet werden. Auf dieser Basis soll abschließend dargestellt werden, welche Charakteristika des Hirntodes Anlass zu kritischen Diskussionen gegeben haben und weiterhin geben. Die Debatte um den Hirntod berührt unser Selbstverständnis als Person, das von persönlichen Perspektiven, gesellschaftlichen Normen und nicht zuletzt von den stetig erweiterten technischen Möglichkeiten der Medizin abhängt. Eine endgültige, verbindliche und von allen akzeptierte Definition des Hirntodes wird es daher nicht geben. Traditionally, we associate death with the final standstill of all vital functions, especially the functioning of the heart, circulatory system, and respiratory system, followed by later indications such as rigor mortis and decomposition. This seems at first sight to be clear and simple. In the immediate surroundings of death, however, a much more complex and multi-layered view dominates in medicine. The technological possibilities in intensive care medicine have created conditions somewhere between life and death which can no longer be adequately covered by the traditional definition. In this chapter, a more exact elucidation of the definition and appearance of clinical death will be presented; both the acute (uncertain) and later (certain) signs of death are described. Following this, we examine the concept of brain death as a second, more recent definition of death, valid in parallel to the other. In this, organic life is still preserved to a great extent, as long as artificial respiration and other stabilizing measures are applied. Yet the individuals involved are regarded as dead; their organs can be removed and therapy ended. Based on this, the concluding elucidation examines which characteristics of brain death have required critical discussion, and continue to do so. The debate on brain death touches upon our understanding of ourselves as individuals, an understanding dependent on personal views, social norms, and – not

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least – on the constantly expanding technical possibilities offered by medicine. There will thus never be a final, binding, generally accepted definition of brain death. Keywords: Hirntod, klinischer Tod, Herzstillstand, Organspende, Todeszeichen

Prof. Dr. Andreas Draguhn, [email protected], Im Neuenheimer Feld 326, 69120 Heidelberg

Wann ist ein Mensch tot? Im alltäglichen Sprachgebrauch verwenden wir diese Zuschreibung scheinbar ohne jede begriffliche Schwierigkeit. „Meine Eltern sind beide seit Langem tot“ ist eine klare Aussage, die kaum missverstanden werden kann. Die biologische Faktizität des Todes wird dabei implizit vorausgesetzt und nicht problematisiert. Tatsächlich wird ein Gesprächspartner auf obigen Satz kaum mit definitorischen Spitzfindigkeiten reagieren, etwa ob bei den Eltern denn der Hirntod oder ein Herz-Kreislauf-Stillstand eingetreten sei. In der zeitlichen Distanz einer biographischen Schilderung verwenden wir den Begriff des Todes als selbstverständlich – wer tot und begraben ist, ist nicht mehr als Lebender unter uns. Ganz anders stellt sich dies im Nahbereich des Sterbens dar, also am Übergang vom Leben zum Tod. Der unerwartete Anblick eines Sterbenden oder Toten löst oft Angst und Unsicherheit aus, die mit der Suche nach professionellen Helfern beantwortet wird. Diese Hilflosigkeit herrscht oft auch dann, wenn das Sterben eines Menschen zuvor lange absehbar war. Notärzte werden immer wieder zu solchen Patienten in Altenheime gerufen und müssen dann selbst die Entscheidung treffen, ob hier eine medizinische Maximalversorgung geboten ist.¹ Auch die verbindliche Feststellung des Todes ist Spezialisten (in Deutschland: Ärzten) vorbehalten. Die Zuständigkeit der Medizin wächst also, je näher wir von der lebensgeschichtlichen Dimension des Todes zum eigentlichen Sterben kommen. Als Gegenstand der biomedizinischen Wissenschaft entziehen sich Sterben und Tod dem intuitiven Verständnis. Im Folgenden soll es um diesen medizinischen Todesbegriff gehen. Unser Verständnis des Todes hat sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark diversifiziert, denn die erweiterten Möglichkeiten der Intensivmedizin haben Zustände geschaffen, die mit der einfachen Dualität „Leben oder Tod“ nicht mehr angemessen erfasst werden können. Der Verlust elementarer Lebensfunktionen kann maschinell und pharmakologisch kompensiert werden, die scheinbare Irreversibilität des Atem- und Kreislaufstillstandes kann durch „Wiederbelebung“ aufgehoben werden. So kommt es, dass in manchen Fällen nicht mehr jeder Arzt, sondern nur noch ein Gremium von Spezialisten den Tod eines Menschen feststellen kann.

1 Sefrin (2010).

Tod als Ende der Sterbephase

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In der Folge dieser „Klinisierung“ des Todes sind in den meisten Industrieländern zwei alternative, gleichzeitig gültige Todesbegriffe entstanden: „klinischer Tod“ und „Hirntod“.² Auch die nachfolgenden Stadien haben eine Diversifizierung erfahren – mit dem Tod des Menschen ist keinesfalls bereits jede Zelle seines Körpers ausgelöscht. Dieser intermediäre Zustand zwischen klinischem Tod und Untergang aller Körperzellen ist von zunehmender Relevanz für die Transplantationsmedizin, da einzelne Gewebe und Organe noch funktionell erhalten sind und gespendet werden können.

1 Der klinische Tod: Kreislauf- und Atemstillstand Der klinische Tod ist der „gewöhnliche“ Tod, den die meisten Menschen sterben. Er ist durch den irreversiblen Stillstand von Kreislauf- und Atemtätigkeit gekennzeichnet. In der Regel wird eine der beiden Funktionen (Blutzirkulation oder Atmung) zuerst aussetzen. Die jeweils andere Funktion erlischt allerdings zwangsläufig kurz danach  – ohne Blutzufuhr versagt das Atemzentrum im Hirnstamm nach wenigen Sekunden, ohne Atmung kann das Herz mangels Sauerstoff seine Tätigkeit nicht aufrechterhalten. In der Folge des klinischen Todes kommt es nach Minuten bis Stunden zum endgültigen Verlust aller übrigen Organfunktionen. Anfangs ist der klinische Tod allerdings keineswegs notwendig irreversibel, sondern eröffnet prinzipiell die Möglichkeit der Wiederbelebung oder Reanimation. Hierfür steht zumeist nur ein kurzes Zeitfenster von wenigen Minuten zur Verfügung, in dem die lebenswichtigen Organe noch erhalten werden können. Leider ist das Gehirn eines der empfindlichsten Organe für Schädigungen durch Sauerstoffmangel. Daher birgt die Reanimation die Gefahr, dass Herzfunktion, Kreislauf und Atmung wiederhergestellt werden, das Gehirn aber bereits schwerste Schäden erlitten hat. Das Ergebnis kann dann der dissoziierte Hirntod oder ein „vegetativer“ Zustand ohne erkennbare kognitive Funktionen sein – ein „medizinisches Artefakt“, das wahrscheinlich nicht im Interesse des Patienten war. Dieser Ausgang ist aber in der akuten Notfallsituation nicht vorhersehbar, und seine Möglichkeit entbindet nicht von der Pflicht zur Behandlung. Hiervon wird im Zusammenhang mit dem Hirntod-Konzept zu reden sein. In seltenen Fällen kommt es auch nach scheinbar eingetretenem klinischen Tod zu einer spontanen Rückkehr der Vitalfunktionen. Das systematische Wissen über diese „Selbstwiederbelebung“ (autoresuscication) ist gering³, vermutlich tritt sie aber ab einem Zeitraum von 10 Minuten nach dem klinischen Tod ohne Behandlung nicht mehr auf.⁴ Das Zeit-

2 „A definition of irreversible coma. Report of the Ad Hoc Comittee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death“ (1968). 3 Hornby (2010). 4 Adhiyaman (2007).

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intervall zwischen Herzstillstand und endgültigem Funktionsausfall der Organe eröffnet prinzipiell die Möglichkeit der Organspende von warmen, soeben verstorbenen „non-heart-beating donors“.⁵ Hierdurch könnte das Aufkommen von Spenderorganen deutlich gesteigert werden, insbesondere für Nieren. Die Praxis wird in den USA und mehreren europäischen Ländern ausgeübt, darunter Österreich und der Schweiz. Es ist aber unklar, ob die Entnahme lebenswichtiger Organe unmittelbar nach dem klinischen Tod tatsächlich mit der bestmöglichen Behandlung im Interesse des Patienten vereinbar ist. Die deutsche Bundesärztekammer lehnt daher die Gleichsetzung des Herzstillstandes mit dem zur Organentnahme berechtigenden Hirntod ab.⁶ Die Zeichen des klinischen Todes gelten aus den genannten Gründen als „unsichere Todeszeichen“ und verpflichten prinzipiell zu medizinischen Hilfsmaßnahmen. Zur endgültigen Feststellung des Todes müssen weitere Kriterien erfüllt sein: ausreichende Reanimationsmaßnahmen waren ohne Erfolg, Rettungsversuche sind sinnlos (z.B. bei Enthauptung von Unfallopfern), die Kriterien des Hirntodes sind erfüllt, oder es sind bereits sichere Todeszeichen eingetreten. Häufig wird man allerdings auf eine aggressive Intervention verzichten, wenn der Kreislauf- und Atemstillstand am Ende einer vorbestehenden, nicht aufzuhaltenden tödlichen Erkrankung steht, z.B. im Endstadium eines Krebsleidens. Ärzte, Pflegende und Angehörige empfinden solche Situationen oft als rechtliche und ethische Dilemmata, besonders wenn keine klare Patientenverfügung vorliegt. Resultat dieser Unsicherheit kann dann eine medizinische Maximalversorgung sein, die den Tod meist nur wenig hinauszögert, ihm aber jede Ruhe und Würde nimmt.

1.1 Erscheinungsbild Ein klinisch toter Mensch hat keinen tastbaren Puls und atmet nicht spontan. Die erloschene Funktion des Blutkreislaufes führt zu einer auffallend blassen, manchmal durch Rückstau sauerstoffarmen Blutes auch bläulichen Hautfarbe. Je nach Zeitpunkt des Kreislaufstillstandes und Außentemperatur ist die nicht mehr durchblutete Haut des Toten kalt. Der Tote ist bewusstlos, reagiert also weder auf Ansprache noch auf massive äußere Einwirkung (z.B. auf Schmerzreize). Die Pupillen sind weit und verengen sich nicht bei Belichtung – der Ausfall dieses und anderer Reflexe zeigt den Funktionsverlust des Nervensystems an. Entsprechend ist die Muskulatur unnatürlich schlaff, der normale Grundtonus fehlt. Wie oben erwähnt gilt keines dieser Merkmale als sicheres Todeszeichen, da alle Symptome auch bei kritischen, prinzipiell reversiblen Krankheitszuständen vorkommen können. Es ist keineswegs trivial, die Anzeichen des klinischen Todes festzustel-

5 Rady (2010). 6 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (B) (1998).

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len. Schwerkranke können in einen sehr reduzierten Zustand der vita minima übergehen, in dem der Puls sehr schwach ist, die Atmung sporadisch und flach erfolgt und sichtbare Reaktionen auf äußere Reize fehlen. Dies kann auch Fachleute zunächst irreführen, ganz besonders bei Patienten mit Vergiftungen, Unterkühlungen oder schweren Erkrankungen des Gehirns. Wie bei jeder Diagnose gibt es also auch bei der Feststellung des klinischen Todes die Möglichkeit der Fehldiagnose. Die Angst vor dem „Scheintod“ ist nicht neu und hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer regelrechten Hysterie geführt.⁷ Es ist sicher kein Zufall, dass diese Phase mit der Entwicklung erster Reanimationsmaßnahmen und der Medizinalisierung des Todes zusammenfällt, die bis heute den Umgang mit dem Sterben dominiert. Wie oft es unter heutigen Bedingungen zur Feststellung des Todes bei Menschen kommt, die faktisch noch leben, ist unbekannt. Entsprechende Einzelfälle sind jedenfalls belegt.⁸ Insgesamt scheint die Feststellung des Todes in der Ausbildung und im Bewusstsein der Ärzte unzureichend verankert. Die geringe Qualität der Leichenschau ist ein Dauerthema der medizinischen Fachliteratur – beklagt werden fehlende bundeseinheitliche Regelungen, mangelnde Kenntnisse der Ärzte, mangelnde Sorgfalt und eine hohe Fehlerquote von mindestens 45 % bei der Feststellung der Todesursache (auch im Hinblick auf unentdeckte Tötungsdelikte).⁹

1.2 Spätere, sichere Todeszeichen Die oben besprochenen Zeichen des klinischen Todes treten bei oder unmittelbar nach dem Sterben auf. Wenn keine Wiederbelebung erfolgt, führt die postmortale Phase zur Ausbildung der sicheren Todeszeichen, die nach heutigem Wissen den endgültigen Tod des Menschen beweisen.¹⁰ Nach etwa einer halben Stunde kommt es zur Ausbildung von bläulich-violetten Toten- oder Leichenflecken (Livores), da das Blut bei fehlender Kreislauffunktion in die am tiefsten liegenden Regionen des Körpers fällt und sich dort in den Blutgefäßen staut. Anschließend bildet sich die Totenstarre aus, die den Körper in der zuletzt eingenommenen Haltung regelrecht fixieren kann. Dieser rigor mortis lässt sich unmittelbar auf die Biochemie der Muskelkontraktion zurückführen: zur Entspannung eines Muskels müssen sich in den Zellen liegende fadenförmige Proteine (Myofilamente) voneinander lösen. Dazu bedarf es der Bindung des energiereichen Moleküls Adenosintriphosphat (ATP), das nach Erlöschen von Durchblutung und Stoffwechsel nicht mehr gebildet werden kann. Typischerweise beginnt die Totenstarre ein bis zwei Stunden nach Stillstand des Kreislaufs und steigt vom

7 Itterheim (2005). 8 Herff (2010). 9 Madea (2010). 10 Bajanowski (2004).

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Kiefer aus abwärts. Sie löst sich nach zwei bis drei Tagen durch die nun einsetzende Autolyse oder Fäulnis des Gewebes  – das dritte sichere Todeszeichen. „Autolyse“ meint dabei die Auflösung der Zellen durch zelleigene Enzyme, „Fäulnis“ den Abbau von Gewebe durch Bakterien, die überwiegend aus dem nun durchlässig gewordenen Darm kommen. Jetzt verfärbt sich die Haut grünlich, das Netz der Hautvenen zeichnet sich deutlich ab und es kommt zu dem charakteristischen, für die meisten Menschen sehr aversiven Fäulnisgeruch. Zeitverlauf und Ausprägung der sicheren Todeszeichen sind äußerst variabel und hängen neben Alter, Vorerkrankung und Todesumständen besonders von der Umgebungstemperatur ab, was bei der Feststellung des Todeszeitpunktes berücksichtigt werden muss. Zu den Erscheinungsformen des Todes gehören auch Phänomene, die Lebensfunktionen vortäuschen können. Seit überwiegend in Institutionen gestorben wird, sind diese Zeichen kaum noch bekannt, so dass unvorbereitete Beobachter leicht erschrecken. Der Austritt von Luft durch die oberen Luftwege kann Geräusche verursachen, z.B. beim Umlagern des Leichnams. Auch der Abgang von Luft aus dem Darm ist normal, ebenso wie eine letzte Entleerung des Darms durch Erschlaffung der Schließmuskulatur. Die Schrumpfung von Zellen und Geweben der Haut lässt Haare und Nägel stärker hervortreten, was als Wachstum dieser Gebilde fehlgedeutet werden kann.

2 Hirntod In der Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde in den USA die „eiserne Lunge“ eingeführt, die es erlaubte, Patienten mit erloschener Atmungsfunktion über längere Zeit am Leben zu halten. Diese Entwicklung war eine Antwort auf die grassierende Kinderlähmung (Poliomyelitis), eine Viruserkrankung motorischer Nervenzellen, die zur Atemlähmung führen kann. Bei manchen Patienten heilte die Kinderlähmung mit mehr oder weniger starken Residualbefunden aus, andere blieben aber auf die künstliche Beatmung angewiesen. In der Folge wurde diese Therapie auch bei anderen Grunderkrankungen angewandt, so dass man sich ungeplant mit einer wachsenden Anzahl von Patienten konfrontiert sah, die aufgrund einer technischen Neuerung der natürlichen Folge von Atem- zu Kreislaufstillstand und Tod entzogen waren. Nicht wenige dieser Patienten hatten im Zuge ihrer ursprünglichen Erkrankung schwere Hirnschädigungen erlitten und waren tief komatös, d.h. weder ansprechbar noch sonst auf äußere Reize reaktionsfähig. Bei der pathologischen Untersuchung solcher Patienten nach ihrem endgültigen, biologischen Tod fand man charakteristische Veränderungen des Gehirns. Diese konnten bis zu einer weitgehenden Verflüssigung des Schädelinhalts gehen, bei der keine geordneten neuronalen Strukturen mehr nachweisbar waren – dem so genannten „respirator brain“. Man musste davon ausgehen, dass diese Menschen alle Funkti-

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onen verloren hatten, die vom gesunden Hirn abhängen, neben der Atmung also auch die „höheren“ psychischen Prozesse wie Emotionen, Gedächtnis, Wahrnehmung und Bewusstsein. Es schien offensichtlich, dass sie niemals aus ihrer tiefen Bewusstlosigkeit aufwachen und wieder aktiv am Leben teilhaben würden – sie befanden sich also jenseits einer behandelbaren Bewusstlosigkeit im „coma depassé“, das erstmals von den französischen Ärzten Mollaret und Goulon 1959 beschrieben wurde.¹¹,¹² Dieser vorher unbekannte Zustand warf drängende Probleme auf, die nach einer verbindlichen Regelung der Praxis riefen: (1) Eine maximale Therapie aller komatösen Patienten mit chronischer Atemlähmung verlangte mehr Ressourcen als das Gesundheitssystem realistisch zur Verfügung stellen konnte. (2) Ärzte, Pflegepersonal und Angehörige waren mit Patienten konfrontiert, die in vielerlei Hinsicht Schwerkranken glichen, zugleich aber wesentliche Merkmale des Person-Seins verloren hatten. Waren dies wirklich noch lebende Menschen, oder waren sie tote Ansammlungen von Organen im Sinne von „human vegetable(s)“, wie die New York Times 1968 formulierte?¹³ (3) Die neu entstandene Transplantationsmedizin versprach, den Ausfall lebenswichtiger Organe durch Übertragung von Spenderorganen wirksam kompensieren zu können. Waren die Patienten im coma depassé „tot genug“, um als Organspender herangezogen werden zu dürfen? (4) Welche diagnostischen Maßnahmen waren geeignet, um den Zustand des Gehirns solcher Patienten sicher erfassen zu können? Welche Prognose war mit verschiedenen klinischen Befunden verknüpft und welche Konsequenzen hatte dies für die Therapie? Es musste ein verbindlicher Algorithmus für den Umgang mit solchen Patienten gefunden werden. Aus diesem Handlungsdruck heraus entstand an der Harvard University das Ad Hoc Committee zur Untersuchung der Definition des Hirntodes. Im Bericht dieser Kommission von 1968 werden verschiedene Aspekte der neuen Situation aufgegriffen – die Situation der Patienten, das Leid der betroffenen Familien, die Belastung des Gesundheitssystems, und schließlich die Frage der Organspende. Als Ergebnis definierte die Kommission den Hirntod als irreversibles Koma, d.h. Erlöschen jeder feststellbaren Gehirntätigkeit einschließlich der Atmungsfunktion.¹⁴ Zur Feststellung der Irreversibilität wurden wiederholte Untersuchungen im Abstand von mindestens 24 Stunden gefordert, sowie der Ausschluss komplizierender Faktoren (z.B. Vergiftungen). Die „Harvard-Kriterien“ sind vielfach ergänzt und abgewandelt worden, stellen aber bis heute die Grundlage dieses neuen Todesbegriffs dar.¹⁵ Die zahlreichen Präzisierungen und Richtlinien verschiedener Länder, Berufsverbände

11 Mollaret (1959). 12 Bacigalupo (2007). 13 New York Times, 5. August 1968; zitiert nach: Laureys (2005). 14 „A definition of irreversible coma. Report of the Ad Hoc Comittee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death“ (1968). 15 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (A) (1998).

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und sogar einzelner Krankenhäuser unterscheiden sich allerdings im Detail erheblich.¹⁶ Seither kennt die Medizin zwei verschiedene Definitionen von Tod: den klassischen Todesbegriff, definiert durch den Eintritt sicherer Todeszeichen, und den Hirntod, definiert als irreversibles Koma. Befürworter der gegenwärtigen Praxis betonen, dass es sich lediglich um zwei operational verschiedene Wege zur Feststellung eines wesentlich identischen Zustandes handle, nämlich des vollständigen Unterganges eines Menschen als Person.¹⁷ Auch die Bundesärztekammer geht von der Austauschbarkeit beider Definitionen aus: „Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt. Wird vom Arzt ein äußeres sicheres Zeichen des Todes festgestellt, so ist damit auch der Hirntod nachgewiesen“.¹⁸ Kritiker verweisen dagegen auf logische und wissenschaftliche Mängel der Definition sowie darauf, dass die Einführung des Hirntodkonzeptes unser Verhältnis zum Mitmenschen grundlegend in Richtung einer Nutzbarmachung verändere.¹⁹ Einige Argumente dieser Debatte werden am Ende des Kapitels ohne Wertung dargestellt.

2.1 Erscheinungsbild Ein Mensch, auf den die Hirntod-Kriterien zutreffen, unterscheidet sich äußerlich drastisch von einem klinisch toten Menschen. Er ist warm und kann eine normale Hautfarbe aufweisen, sein Herz schlägt spontan und der Puls ist tastbar. In jedem Fall wird er maschinell beatmet, da die autonome Funktion des Atemzentrums die Diagnose des Hirntodes ausschließt. Ebenso wie der klinisch tote Patient wird ein Hirntoter aber weder auf Ansprache noch auf andere äußere Reize mit Anzeichen einer bewussten Wahrnehmung reagieren. Der Rhythmus von Schlafen und Wachen ist erloschen, denn auch diese elementare Funktion wird vom Gehirn (hauptsächlich dem Hirnstamm und dem Hypothalamus) gesteuert. Die Pupillen sind weit und lichtstarr, und es fehlen alle Reflexe, die einer Beteiligung des Gehirns bedürfen. Hierzu gehören zum Beispiel der reflektorische Schluss der Augenlider bei Betupfen der empfindlichen Hornhaut, aber auch Schutz- und Abwehrbewegungen auf Schmerzreize. Lediglich solche Reflexe, die ausschließlich über das Rückenmark vermittelt werden, können noch auslösbar sein. Zu diesen spinalen Reflexen wird in der Literatur auch das Lazarus-Zeichen gerechnet, bei denen komplexe Arm- oder Beinbewegungen bis hin zur scheinbaren Umarmung eines Pflegenden auftreten. Solche Lebensäußerun-

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Laureys (2008). Laureys (2005). Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (A) (1998). Jonas (1985).

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gen können zu einer schweren Belastung für Angehörige und medizinisches Personal werden und nähren die kritische Diskussion des Hirntod-Konzeptes.²⁰ Ein Hirntoter bedarf aufwändiger Pflege und lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen, wobei das Wort „lebenserhaltend“ die Ambivalenz der therapeutischen Situation spiegelt. Durch maschinelle Beatmung müssen die Bilanzen von Sauerstoff, Kohlendioxid und das Säure-Basen-Gleichgewicht ausgeglichen werden. Sehr wichtig und schwierig ist es, Entzündungen und Schädigungen der Lunge zu vermeiden. Der Patient muss künstlich ernährt, mindestens aber mit Flüssigkeit versorgt werden. Oft werden kreislaufstabilisierende Medikamente benötigt, da der Blutdruck stark abfällt. Wasserbilanz und Körpertemperatur können fehlreguliert sein und müssen dann durch entsprechende externe Maßnahmen reguliert werden. Einerseits ist der Hirntote also ein medizinisch intensiv betreuter „Patient“, andererseits gilt er als Toter und damit gar nicht mehr als Person. Manche komplexe Funktionen des Organismus können bei Hirntoten durchaus erhalten bleiben. Hierzu gehören insbesondere solche Vorgänge, die nicht kritisch vom Hirn abhängen wie zum Beispiel Verdauung, Entzündung und Wundheilung, aber auch Wachstum und Reifung des Körpers bei Kindern. Eine jüngere Übersichtsarbeit berichtet über 30 in der Literatur dokumentierte Fälle schwangerer Hirntoter, die insgesamt 12 überlebende Kinder ausgetragen haben.²¹ Es ist umstritten, ob die komplexen und koordinierten Vorgänge im Körper von Hirntoten ohne Restfunktionen des Gehirns erklärbar sind, insbesondere ohne Funktion des im Zwischenhirn gelegenen Hypothalamus, der viele homöostatische Regulationen vermittelt.²² Beispiele von wochen- oder monatelangem „Überleben“ Hirntoter sind allerdings Ausnahmen. In der Regel führt der Funktionsverslust des Gehirns nach wenigen Tagen zu einer zunehmenden Schwäche des Herz-Kreislaufsystems und schließlich zum klinischen Tod.²³

2.2 Hirntod-Diagnostik Das Vorgehen zur Feststellung des Hirntodes ist in allen entwickelten Ländern detailliert geregelt. Allerdings unterscheiden sich diese Regeln international, regional und sogar zwischen einzelnen Kliniken ganz erheblich.²⁴ In der Bundesrepublik Deutschland gelten die Richtlinien der Bundesärztekammer in der Fassung von 1997.²⁵ Hier wird der Hirntod definiert als „Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion

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Ivan / Melrose (2007). Esmaeilzadeh (2010). Truog (1992). Ivan / Melrose (2007). Laureys (2008). Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (A) (1998).

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des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“. Dies ist eine recht umfassende Anforderung an die Diagnose, insbesondere im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien, in denen der Ausfall des Hirnstamms bereits ausreicht. Die Hirnstamm-Definition des Hirntodes wird mit der zentralen Bedeutung dieser Hirnregion gerechtfertigt  – er ist zur Aktivierung der Großhirnrinde notwendig, steuert die Atmung, reguliert den Kreislauf, und er enthält fast alle Leitungsbahnen, die das Gehirn mit der Körperperipherie verbinden. Dennoch lehnen es die weitaus meisten Länder ab, den Hirntod auf den irreversiblen Ausfall nur eines – wenn auch kritisch wichtigenHirnteils zu stützen. Eine noch radikalere Definition wäre der Hirntod als Untergang der Hirnrinde  – also eine Beschränkung auf diejenigen Regionen, denen „höhere“ Funktionen wie Denken, Handeln, Wahrnehmung, Planung, und Bewusstsein zugeordnet werden. Diese Definition würde zahlreiche Menschen mit einschließen, die offenkundig leben, darunter schwer hirngeschädigte Kinder und Patienten im „coma vigile“ (s.u.). Sie hat sich nirgends durchgesetzt.²⁶ Die Diagnose des Hirntodes darf in Deutschland und den meisten anderen Ländern primär klinisch gestellt werden, das heißt ohne aufwändige apparative Untersuchungen. Im Unterschied zum Tod durch Herz-Kreislaufstillstand müssen zwei Ärzte den Hirntod feststellen, die über mehrjährige Erfahrung in der Intensivbehandlung von Patienten mit schweren Hirnschädigungen verfügen.²⁷ Die Feststellung des Hirntodes fußt auf drei Kriterien: dem Nachweis einer schweren Hirnschädigung, dem klinischen Befund und dem Nachweis der Irreversibilität. Voraussetzung für die Diagnose ist außerdem der Ausschluss komplizierender Faktoren, insbesondere Vergiftungen, Wirkungen von Medikamenten, Unterkühlung, Kreislaufschock und prinzipiell reversible Hirnerkrankungen. Im Folgenden sollen die drei wesentlichen diagnostischen Kriterien näher erläutert werden. Hirnschädigung: Die Hirnschädigung kann primär, also von einer Hirnerkrankung ausgehend, oder sekundär, das heißt von einer anderen Erkrankung ausgehend, sein. Primäre Hirnschädigungen sind vor allem Verletzungen, Blutungen und Infarkte des Gehirns, daneben Schäden durch Tumoren oder Entzündungen. Sekundäre Schädigungen sind meistens Folgen eines zu lange anhaltenden Sauerstoffmangels bei Ersticken, Kreislaufstillstand oder Schock.²⁸ Der Schaden kann ursprünglich unterschiedliche Teile des Gehirns betreffen, wobei insbesondere Schädigungen des Hirnstamms schnell zu irreversiblem Funktionsverlust weiterer Kerngebiete führen. In diesem tiefen Hirnteil befinden sich das Atemzentrum und ein großes und heterogenes Gebiet, das im Mikroskop eine netzartige Struktur aufweist und daher als retikuläre Formation

26 Laureys (2005). 27 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (A) (1998). 28 Heckmann (1996).

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zusammengefasst wird. Die Formatio reticularis ist für die Aktivierung der Hirnrinde notwendig, so dass ohne dieses „aufsteigende Aktivierungssystem“ alle mentalen und emotionalen Funktionen erlöschen, die den Wachzustand des Gesunden kennzeichnen. Anatomisch liegt der Hirnstamm – ebenso wie das Kleinhirn – unterhalb einer zeltartigen Falte der Hirnhaut, die als Tentorium cerebelli bezeichnet wird. Man spricht daher von einer „infratentoriellen“ Schädigung. In dieser Situation könnten aber andere Hirnteile zumindest strukturell noch intakt sein. Es ist dann (zumindest in Deutschland) notwendig, den nachfolgenden Ausfall höherer Areale, insbesondere der Hirnrinde, durch apparative Verfahren wie EEG oder Durchblutungsmessungen nachzuweisen. Erst wenn das gesamte Gehirn nicht mehr durchblutet wird und somit unweigerlich zerstört ist, kann dann der Hirntod diagnostiziert werden. Klinischer Befund: Der Hirntote befindet sich in einem tiefen Koma, das heißt, er darf auf starke Reize nicht die Augen öffnen oder irgendeine andere vom Gehirn abhängige Reaktion zeigen. Hierzu verwendet man stark schmerzhafte Manipulationen im Kopfbereich, z.B. Nadelstiche in die Nasenschleimhaut, festen Druck auf die Austrittspunkte des Trigeminus-Nerven usw. Ferner werden verschiedene Reflexe überprüft, die von Kerngebieten im Hirnstamm vermittelt werden. Zu diesen unwillkürlichen, stereotypen Reaktionen gehören der oben bereits erwähnte Cornealreflex (Schluss der Augenlider nach Betupfen der Hornhaut der Augen), die Verkleinerung der Pupillen bei direkter Belichtung, der okulo-zephale Reflex (bei einer schnellen Kopfdrehung werden die Augäpfel in die Gegenrichtung gedreht und so das Blickfeld konstant gehalten), der Würgereiz bei Berührung des Rachens mit einem Spatel, der Hustenreiz bei Berühren tiefer Abschnitte der Luftröhre mit einem durch den Beatmungsschlauch eingeführten Katheter. Erst nachdem der Ausfall all dieser Reflexe gesichert ist, wird die spontane Atmung überprüft. Diese besonders elementare vitale Funktion hängt ebenfalls von der Funktion neuronaler Netzwerke im Bereich des Hirnstamms ab. Würde ein tief bewusstloser Patient spontan atmen, könnte er also per Definitionem nicht hirntot sein, da wesentliche Teile seines Hirnstammes offenbar funktionieren. Die Prüfung der Spontanatmung erfordert die zeitweise Unterbrechung der künstlichen Beatmung. Um zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen, wird hierzu abgewartet, bis der Gehalt des Kohlendioxids im Blut auf einen sehr hohen Wert angestiegen ist (technisch formuliert: 60 mmHg Partialdruck, wobei 40 mmHg normal sind). Dies würde beim Gesunden einen enorm starken Atemreiz auslösen, verbunden mit dem Gefühl der Atemnot. Um weitere Schädigungen des Gehirns zu vermeiden wird vor dem Apnoe-Test mit reinem Sauerstoff beatmet und während der Prozedur über einen parallelen Schlauch zusätzlich Sauerstoff in die Lunge gegeben. Alle Untersuchungen müssen dem Zustand des Patienten angepasst werden  – bei einem Motorradfahrer mit schweren Verletzungen der Halswirbelsäule kann man natürlich keine schnelle Kopfdrehung durchführen, bei einem Patienten mit langjähriger vorbestehender Lungenerkrankung mag der Grenzwert von 60 mmHg Kohlendi-

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oxid durch Gewöhnungseffekte keinen sehr starken Atemreiz mehr darstellen usw. In derartigen Zweifelsfällen sehen die Richtlinien der Ärztekammer zusätzliche Absicherungen über apparative Untersuchungen vor, insbesondere die Registrierung elektrischer Hirnaktivität im Elektroencephalogramm (EEG) und physikalische Methoden zur Messung der Hirndurchblutung, die bei einem irreversibel geschädigten Hirn zum Erliegen kommen muss. Die Komplexität und Tragweite dieser Entscheidungen erklären, warum die Diagnose „Hirntod“ nur von erfahrenen Intensivmedizinern durchgeführt werden darf. Irreversibilität: Schließlich erfordert die Diagnose „Hirntod“, dass der Zustand irreversibel ist, also keine Aussicht auf Besserung besteht. Dies geschieht in der Praxis durch zweimalige Untersuchung des Patienten in zeitlichem Mindestabstand von 12 Stunden (bei primären Hirnschädigungen) oder drei Tagen (bei sekundärer Schädigung). Alternativ kann der einmalig erhobene klinische Befund durch technische Verfahren ergänzt werden, die entweder die elektrischer Inaktivität im EEG (Nulllinie) oder die fehlende Durchblutung des Gehirns nachweisen. Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder haben eine wesentlich höhere Toleranz gegenüber Sauerstoffmangel und eine bessere Regenerationsfähigkeit des Nervensystems. Daher werden bei diesen Patienten wesentlich höhere Anforderungen an die diagnostische Absicherung gestellt. Wenn nach diesen Kriterien der Hirntod von zwei Spezialisten festgestellt und dokumentiert wurde, gilt der Patient als tot, genauso, als seien sichere Todeszeichen wie Leichenflecken, Leichenstarre oder Fäulnis festgestellt worden. Den Zeitpunkt des Todes bestimmt in diesem Fall also kein physiologisches Ereignis, sondern vielmehr der Moment der endgültigen Feststellung. Der Mensch ist tot, wenn er als tot deklariert wird.

2.3 Differentialdiagnose Wie beim klinischen Tod (Herz-Kreislauf-Stillstand) muss auch die Diagnose des Hirntods von alternativen Zuständen abgegrenzt werden. Hier sollen zur Illustration zwei schwere Funktionsstörungen des Gehirns erwähnt werden, die in jedem Fall einem lebenden Menschen zuzurechnen sind: der „vegetative Status“ (coma vigile) und das „locked in“-Syndrom. Beim coma vigile ist die Funktion der Hirnrinde, also des Neocortex, weitestgehend erloschen. Diese Patienten sind nicht zur gezielten Kommunikation fähig und reagieren auf äußere Reize nur unspezifisch. Für Menschen im vegetativen Status wurde verschiedentlich das Wort „human vegetable“ verwendet, das aber bereits 1968 von der New York Times auch auf Hirntote angewandt wurde. Tatsächlich ist die begriffliche, praktische und rechtliche Unterscheidung zwischen lebenden Menschen mit Verlust der Hirnrindenfunktion und Hirntoten weder unter

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Laien noch bei Ärzten ausreichend klar²⁹. Patienten im coma vigile haben eindeutig basale Hirnfunktionen, die sich durch Öffnen der Augen, spontane Atmung, reflektorische Bewegungen, Schlaf-Wach-Rhythmen und viele weitere sichtbare Lebenszeichen äußern. Neben dem Hirnstamm und dem Hypothalamus mögen auch solche Gebiete funktionsfähig sein, die an der Entstehung von Emotionen beteiligt sind. Obwohl apparative Untersuchungen einen deutlich reduzierten Metabolismus des Gehirns anzeigen, mag bei diesen Menschen sehr viel mehr an subjektiver Erlebnisfähigkeit erhalten sein, als ihre geringen und unspezifischen Äußerungen ahnen lassen.³⁰ Es gibt also fließende Übergänge zu einem „Restbewusstsein“ (minimally conscious state), das manchmal auch zeitlich fluktuierend bei einem Menschen vorkommen kann. In jedem Fall gebietet es der menschliche Umgang mit solchen Schwerkranken, mit dieser Möglichkeit zu rechnen. Dies wird durch eine kürzlich erschienene Studie untermauert, in der Patienten mit diagnostiziertem coma vigile oder minimally conscious state aufgefordert wurden, sich zwei unterschiedliche Szenarien vorzustellen. Fünf von 54 Patienten zeigten bei den beiden verschiedenen Vorstellungen klar unterschiedliche Muster von Hirnaktivität. Ein Patient war sogar in der Lage, mit Hilfe dieser verschiedenen Hirnaktivierungen einfache Ja / Nein-Fragen zu „beantworten“.³¹ Ganz anders ist das „locked in“-Syndrom zu beurteilen, das auf sehr kleinen Läsionen an definierten Stellen des Gehirns (meist im Bereich des Hirnstamms) beruhen kann. Diese Patienten sind bei vollem Bewusstsein, ihre Wahrnehmung, Erinnerung und Intelligenz sind nicht getrübt. Sie können sich aber nicht mehr äußern, da fast alle Verbindungen zur Muskulatur an einer kritischen Stelle unterbrochen wurden. Im Extremfall bleiben nur noch vertikale Augenbewegungen möglich, da diese speziellen Bewegungen durch ein höher gelegenes Kerngebiet gesteuert werden. Natürlich sind diese Patienten nicht tot. Dennoch soll dieses schwere Krankheitsbild hier erwähnt werden, da es beispielhaft illustriert, welcher Anstrengung es bedarf, Mitmenschen mit Störungen der Kommunikation adäquat zu behandeln. Der französische Journalist Jean-Dominique Bauby hat hiervon eindrucksvoll Zeugnis abgelegt.³² Wir müssen davon ausgehen, dass Patienten mit „locked in“-Syndrom in der Vergangenheit (nur damals?) von medizinischem Personal und Angehörigen oft nicht als vollwertige Personen wahrgenommen und behandelt wurden. Die Gleichsetzung von Kommunikationsfähigkeit mit Bewusstsein ist ebenso falsch wie die Gleichsetzung von Bewusstseinsfähigkeit mit dem Menschsein. Die Diagnose des Hirntodes ist, wie oben beschrieben, an ein genau vorgeschriebenes aufwändiges Procedere gekoppelt. Daher sollte eine Fehldiagnose hier so gut

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Laureys (2005). Panksepp (2007). Monti (2010). Bauby (1997).

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ausgeschlossen sein, wie dies bei menschlichem Handeln überhaupt möglich ist. Dennoch tragen Kritiker des Hirntod-Konzeptes immer wieder Berichte über falsche Diagnosen vor, d.h. über Patienten, bei denen der Funktionsverslust eben nicht vollständig oder nicht irreversibel war.³³

3 Zustände nach dem Tod Gemäß den oben beschriebenen Definitionen wird ein Mensch für tot erklärt, sein Leben als Person ist erloschen. Die anschließenden Vorgänge lassen sich bei genauer Betrachtung jedoch noch in verschiedene Phasen unterteilen, bevor der gesamte Körper untergegangen ist. Dies kann wichtige praktische Konsequenzen haben. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass der klinische Tod (Stillstand von Atmung, Herztätigkeit und Kreislauf) im Prinzip reversibel ist, solange die lebenswichtigen Organe noch nicht endgültig zerstört sind. Tatsächlich überstehen viele Gewebe den klinischen Tod des Menschen um Minuten bis Stunden. Durch Anschluss des Verstorbenen an eine Herz-Lungen-Maschine lassen sich diese Überlebenszeiten ganz erheblich verlängern. Solche Menschen könnten als „non heart-beating donors“ für Organtransplantation in Frage kommen. Die internationale Diskussion über diesen Weg ist noch nicht abgeschlossen, in Deutschland ist die Praxis jedoch bisher verboten. Nach Sistieren von Kreislauf und Atmung dauert es mehrere Tage bis alle Zellen im Körper eines Menschen „gestorben“ sind. Die Metapher vom Tod der Zelle meint hier den strukturellen Untergang durch Apoptose oder „Zelltod“ im engeren Sinne. Viele Zellen erhalten ihre Integrität nach dem systemischen Tod des Köpers erstaunlich lange, wobei Spermien mit mehreren Tagen wohl den Rekord halten.³⁴ Wenn es gelingen sollte, in dieser Phase des „intermediären Lebens“.³⁵ Stammzellen zu gewinnen und zur Rekonstruktion von Organen zu verwenden, könnte dies langfristig Alternativen zur Transplantation ermöglichen. Erst am Ende aller zellulären Lebensvorgänge steht der biologische Tod. Der Mensch ist keine Person mehr, sein Körper aber – bis zur vollständigen Desintegration – noch ein Leichnam.³⁶

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Müller (2011). Collins (2001). Bajanowski (2004). Madea (2003).

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4 Kritik des Konzeptes vom Hirntod Dieses Kapitel stellt die in der Medizin geltenden Definitionen des Todes dar. Es kann keine umfassende Kritik leisten, sondern allenfalls begriffliche Klärungen, die die Bildung einer eigenen Meinung erleichtern. Dennoch soll nicht ausgeblendet werden, dass die Definition des Hirntodes seit dem Bericht der Harvard-Kommission von 1968 kritisiert wurde und wird. Bereits damals protestierte der deutsche Philosoph Hans Jonas energisch gegen die Verfügbarmachung des Lebens im Dienste der Transplantationsmedizin.³⁷ Inzwischen wurden die Definition und ihr Begründungszusammenhang mehrfach überarbeitet. Der neuere Bericht des Ethikrates des amerikanischen Präsidenten von 2008³⁸ revidiert an mehreren Stellen die ursprünglichen Aussagen der Harvard-Kommission von 1968, hält aber an der Definition des Hirntodes im Wesentlichen fest. Wichtige Grundlagen der alten Definition werden jetzt zurückgewiesen, zum Beispiel dass mit dem Verlust der Hirnfunktion die „integrative Funktion des Organismus als Ganzes“ irreversibel erloschen sei. Dies steht in zu offensichtlichem Widerspruch zu den Beobachtungen von Kreislauffunktion, Temperaturregulation, Verdauung, Wundheilung, Schwangerschaft und Wachstum solcher Hirntoter, die nach der Diagnose noch längere Zeit „leben“.³⁹ Die Sicht auf das Hirn als Zentralorgan des ganzen Menschen erfährt Kritik aus der Hirnforschung selbst⁴⁰ und aus philosophischer Perspektive.⁴¹ Der wissenschaftliche Beirat der Deutschen Ärztekammer formuliert ebenfalls in seiner Stellungnahme von 1997 vorsichtiger als in älteren Aussagen. Hieß es zuvor einfach: „Der Hirntod ist der Tod des Menschen“, so gilt jetzt: „Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt“. Wie jeder medizinische Begriff unterliegt das Konzept vom Hirntod also offenbar einer Entwicklung in Auseinandersetzung mit der klinischen Erfahrung und dem wissenschaftlichen Fortschritt. Auch das scheinbar eindeutige Kriterium der Irreversibilität wird kontrovers diskutiert, da bei Abbruch der Therapie – besonders bei Entnahme von Spenderorganen  – ja gar nicht mehr geprüft werden kann, ob der Patient wirklich nicht aus dem Zustand zurückkehren konnte. Die klinische (nicht-apparative) Diagnose der Bewusstlosigkeit steht vor der Schwierigkeit, dass „Bewusstsein“ weder klar definiert noch neuronal-mechanistisch verstanden ist. Es gibt überraschende Befunde hoch-

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Jonas (1974). The President’s Council on Bioethics (2008). Shewmon (1998). Roth (1995). Fuchs (2009).

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differenzierter Reaktionen und Erinnerungen bei scheinbar tief bewusstlosen Patienten, die zur Vorsicht mahnen.⁴² Kritiker des Konzeptes vom Hirntod bringen weiterhin vor, dass es während der Organentnahme zu Schmerzreaktionen käme, die ein Erleben des Eingriffes möglich scheinen lassen. Dies sei am massiven Anstieg des Blutdruckes, der Ausschüttung von Stresshormonen und Abwehrbewegungen erkennbar. Daher haben britische Anästhesisten die Durchführung einer regulären Narkose während der Organentnahme gefordert.⁴³ In der Praxis wird bei der Operation tatsächlich nicht nur die Muskulatur pharmakologisch relaxiert, sondern es werden auch Anästhetika gegeben, die Schmerzwahrnehmung und Bewusstsein ausschalten. Müsste man dies bei einem Toten wirklich tun? Besondere Bedeutung hat das Konzept des Hirntodes für die Rechtfertigung der Organspende. Es gibt Kritiker, aber auch Befürworter der gegenwärtigen Praxis, die anstelle immer neuer Verfeinerungen der Begriffe eine radikale Wende fordern: man möge endlich aussprechen, dass „Hirntote“ ganz offensichtlich leben und müsse in der Konsequenz eben von der Regel abgehen, lebensnotwendige Organe nur von Toten zu nehmen. Dies impliziert eine Aufhebung des Tötungsverbotes und damit einen radikalen Wandel unserer Rechtsordnung.⁴⁴ Auch die klinische Praxis scheint diesen Begriffswandel mit zu vollziehen: in vielen Ländern werden derzeit Kommissionen gebildet, die unter den noch lebenden Patienten von Kliniken im Vorgriff auf den Hirntod gezielt nach potentiellen Organspendern Ausschau und die Zahl der Spender so optimieren sollen. Inwiefern dies den medizinischen Grundsatz relativiert, jeden Patienten stets in seinem eigenen besten Interesse zu behandeln, ist nicht ausreichend untersucht.⁴⁵ Das Konzept des Hirntodes wirft Licht auf unser Selbstverständnis als Lebende – ist es wirklich unser Gehirn, das uns zu Menschen macht? Treiben uns technische Möglichkeiten, medizinische Notwendigkeiten und wirtschaftliche Interessen in eine neurozentrische Definition des menschlichen Lebens, die den elementaren Respekt vor dem Mitmenschen unabhängig von seinen Fähigkeiten ignoriert? Und schließlich: Wollen wir akzeptieren, dass der letzte, intimste Moment des Lebens nicht von der Begleitung durch Angehörige, sondern von einem hochtourig laufenden medizinischen Apparat dominiert wird?⁴⁶ Haben wir ein Recht auf Verabschiedung von einem Sterbenden, einschließlich der weltweit verbreiteten Rituale der Totenruhe⁴⁷?

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Monti (2010). Young (2000). Müller (2011). Rady (2010). Anders (1980). Geisler (2006).

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Wie wägen wir dieses Recht dann ab gegen das Recht des Schwerkranken auf Erhalt seines Lebens durch ein gespendetes Organ? Es wird wohl nie endgültige Antworten auf diese Fragen geben, sondern nur zeitgebundene Positionen, die von der gesellschaftlichen Praxis ebenso abhängen wie von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und unserem gesamten kulturellem Erbe. Die Definition des Todes beinhaltet auch immer eine Definition des menschlichen Lebens. Insofern ist die Debatte um den Hirntod nicht zu trennen von der Diskussion über unser Menschenbild und über den richtigen Umgang mit Lebenden in anderen Grenzsituationen. Ein selbstverständliches Verhältnis zu Sterben und Tod wird unsere technisierte Gesellschaft auf lange Sicht nicht finden.

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1.9 Der Tod als Konvention. Die (neue) Kontroverse um Hirntod und Organtransplantation Abstract: Thema des Aufsatzes ist die neue Kontroverse um Hirntod und Organspende in Deutschland, die seit 2010 in zwei von einander nahezu unabhängigen, mehr oder weniger öffentlichen Debatten verläuft. In der Hirntod-Debatte wird die Gleichsetzung von Hirntod und Tod auf der Basis neuer medizinischer Studien aus dem anglo-amerikanischen Raum erneut in Frage gestellt. In der Organspende-Debatte wird darüber diskutiert, wie angesichts des „Organmangels“ die Rate von „postmortalen Organspenden“ erhöht werden könnte. Obwohl eine Infragestellung des Hirntodkonzeptes, das ja die medizinische und rechtliche Voraussetzung von „postmortalen Organentnahmen“ in Deutschland bildet, einer solchen Erhöhung entgegen stünde, wird von Seiten der Organspende-Debatte auf die neue Kontroverse um das Hirntodkonzept kein Bezug genommen. Der Aufsatz beleuchtet die historischen und politischen Hintergründe beider Debatten sowie ihre ethischen Implikationen. Im Vergleich mit den Debatten in anderen (europäischen) Ländern kann gezeigt werden, dass in Deutschland eine besondere ethische Diskussionskultur vorherrscht, die eine Bezugnahme beider Debatte aufeinander sowie eine offene und öffentliche Diskussion der Hirntodproblematik bisher noch verhindert. The subject of this contribution is the new controversy about brain death and donating organs which has been occurring in Germany since 2010, in two more or less public debates, each nearly independent of the other. In the brain death debate, the equivalence of brain death with death as such has been questioned anew in the English-speaking world, on the basis of new medical studies. In the debate on organ donation, the question of how to increase the rate of “post-mortal organ donation” is being discussed, in view of the “lack of organs”. Although questioning the concept of brain death, which forms the prior condition for “post-mortal organ removal” in Germany, would actually contradict the idea of increasing such a rate, the debate on organ donation does not take this new controversy about brain death into consideration at all. This contribution examines the historical and political backgrounds of both debates, and their ethical implications. In comparison with debates in other (European) countries, it can be shown that in Germany a specific culture of ethical discussion exists, which, until now, has prevented the two debates from referring to each other, as well as hindering an open and public discussion of the brain death problem.

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Keywords: Coma Depassé, Hirntod, Hirntodkonzept, Informed Consent, NHBCDs, Organspende, aktive Sterbehilfe, Selbstbestimmung, assistierter Suizid, Transplantationsmedizin

Univ. Prof. Dr. phil. Alexandra Manzei, Philosophisch-Theologische Hochschule Vollendar, [email protected]

1 Revival der Hirntoddebatte Im April 2005 fand an der päpstlichen Akademie der Wissenschaften im Vatikan ein wissenschaftlicher Kongress statt, der sich der Frage widmete, ob es sich bei hirntoten Menschen tatsächlich um Tote handele.¹ Angestoßen worden war diese Auseinandersetzung noch durch Papst Johannes Paul II, der gegen Ende seines Pontifikats zunehmend an den Bestimmungen des Hirntodkonzeptes zweifelte. Zur Erinnerung: Als Hirntodkonzept wird die Übereinkunft bezeichnet, das der irreversible Ausfall der Gehirnfunktionen mit dem Tod des Menschen identisch ist. Begründet wird es mit der Annahme, dass mit dem Ausfall des Gehirns als zentralem Steuerungsorgan die Integrationsfunktion des Körpers unwiederbringlich erloschen sei. In Deutschland dient das Hirntodkonzept seit der Ratifizierung des Transplantationsgesetztes von 1997 medizinisch und rechtlich als unbedingte Voraussetzung zur Organentnahme bei hirntoten Patienten. Erst wenn zwei fachlich geeignete Mediziner, wie beispielsweise Neurologen, die nicht in den Prozess der Organspende involviert sind, den vollständigen und irreversiblen Ausfall der Gehirnfunktionen nach dem neuesten Stand medizinischer Erkenntnis diagnostiziert haben, darf der Patient zur Organspende freigegeben werden.² Während die katholische Kirche in den 1990er Jahren noch davon ausging, dass mit dem Hirntod der Tod des Menschen zweifelsfrei erwiesen sei und die Deutsche Bischofskonferenz auch heute noch die sogenannte postmortale Organspende als Akt

1 Vgl. Byrne (2009). 2 „Erlaubt ist die Entnahme von Organen oder Geweben dann, wenn 1. der Organ- oder Gewebespender in die Entnahme eingewilligt hatte, 2. der Tod des Organ- oder Gewebespenders, nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist und 3. die Organentnahme von einem Arzt vorgenommen wird. Unzulässig ist die Entnahme von Organen und Geweben dann, wenn 1. die Person, deren Tod festgestellt ist, der Organ- oder Gewebeentnahme widersprochen hatte und wenn 2. nicht vor der Entnahme bei den Organ- oder Gewebespender der endgültige, nicht behebbare Ausfall des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist.“ Vgl. § 3 des Transplantationsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 4.9.2007.

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der Nächstenliebe empfiehlt³, kamen die medizinischen, theologischen und philosophischen Experten des Kongresses 2005 zu einem anderen Ergebnis. Beim Hirntod, so ist in der Kongressveröffentlichung nachzulesen, handele es sich keineswegs um den Tod des Menschen, es gäbe vielmehr gute Gründe anzunehmen, dass es sich bei hirntoten Patienten um Sterbende handele. Um den Tod des Menschen feststellen zu können, sei es nicht ausreichend, Kriterien des Todes zu suchen, es müsse vielmehr nach den Kennzeichen des Lebens gesucht werden, denn dort, wo noch Zeichen des Lebens vorhanden seien (wie Atmung, Herzschlag, Kreislauf etc.), „ist kein Tod, dort lebt der Mensch, seine Seele ist noch nicht vom Leib getrennt“.⁴ Diese Skepsis wurde von Papst Benedikt XVI aufgegriffen. In einer Ansprache, die er im November 2008 an der päpstlichen Akademie der Wissenschaften zum Thema Organspende hielt, wies er darauf hin, dass es neue medizinische Erkenntnisse zur Feststellung des Todes gäbe, die unbedingt zu berücksichtigen seien. Er erinnerte daran, dass lebenswichtige Organe ausschließlich „ex cadavere“ entnommen werden dürften, so dass es niemals zu einer Gefährdung von Leben und Identität des Spenders kommen dürfe.⁵ Seit 2009 tauchen die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, von denen in der Ansprache des Papstes die Rede ist, auch sukzessive in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten in Deutschland auf. In einem viel beachteten Aufsatz fasst die Bioethikerin Sabine Müller die Hauptargumente zusammen, die das Hirntodkonzept in Frage stellen.⁶ Es sei, so schreibt sie, sowohl infrage zu stellen, ob der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen sei, als auch erneut zu überprüfen, wie der Hirntod sicher zu diagnostizieren sei. Neue medizinische Studien hätten zum einen belegt, dass die Integrationsfähigkeit des Organismus mit dem Erlöschen der Hirnfunktionen keineswegs beendet sei. Zum anderen gäbe es neue technische Verfahren der funktionalen Bildgebung, die Aktivitäten des Gehirns noch zu einem Zeitpunkt feststellen könnten, an dem der Hirntod schon sicher diagnostiziert sei. Die Glaubwürdigkeit dieser Studien ist von solch empirischer Evidenz, dass sie 2008 dazu geführt hat, dass das President’s Council on Bioethics, das höchste ethische Gremium der USA, welches mit der Deutschen Ethikkommission vergleichbar ist, seine Ein-

3 Vgl.: http: // www.dbk.de / presse / details / ?presseid=1982&cHash=00bea6d36c97a7a3bafb7125c 99e0dc7; besucht am 18.3.2012 4 Wengersky (2001), S. 17 5 Vgl. die Ansprache von Pabst Benedikt XVI, Päpstliche Akademie der Wissenschaften vom 7. 11.2008: http: // www.vatican.va / holy_father / benedict_xvi / speeches / 2008 / november / documents / hf_ben-xvi_spe_20081107_acdlife_ge.html; besucht am 18.3.2012. Mittlerweile wird das Hirntodkonzept auch innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland durch prominente Vertreter sehr kontrovers diskutiert. Vgl. beispielsweise die Stellungnahme des Bischofs von Fulda, Heinz Josef Algermissen, in der Tagespost vom 5.3.2012 (http: // katholisch-informiert.ch / 2012 / 03 / hirntod-ein-irrefuhrender-begriff / ; besucht am 02.04.2012). 6 Vgl. Müller (2009).

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schätzung des Hirntodkonzeptes revidiert hat. Der Hirntod, so heißt es nun auch dort, sei nicht mehr mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen.⁷ Sowohl in den Medien als auch von renommierten medizinischen, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Wissenschaftlern wurden diese Argumente in Deutschland aufgegriffen und diskutiert. Der Mediziner und Bioethiker Stefan Sahm beispielsweise stellte im September 2010 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Frage, „Ist die Organspende noch zu retten?“, und meint damit nicht ihr Scheitern angesichts fehlender Organe.⁸ Sollte es sich tatsächlich als richtig erweisen, dass hirntote Menschen nicht tot seien, dann müsse eine Organentnahme bei diesen Patienten als aktive Sterbehilfe gewertet werden, was in Deutschland jedoch verboten sei. Ähnlich argumentiert der Philosoph und Bioethiker, Dieter Birnbacher, der als Mitglied der Ethikkommission der Bundesärztekammer in den 1990er Jahren noch ein vehementer Verfechter des Hirntodkonzeptes war.⁹ Für ihn sind die neuen Forschungen zum Hirntod ein zwingender Grund, seine bisherige Befürwortung des Hirntodkonzeptes als Todesdefinition zu überdenken. Das Hirntodkriterium sei kein Kriterium für den Tod, sondern lediglich für den mentalen Tod, schreibt er, weshalb es sich bei Hirntoten um lebende Organismen und damit um lebende Individuen handele¹⁰. Als konsequenter Befürworter der Transplantationsmedizin plädiert er, anders als Sahm, jedoch für die Beibehaltung des Hirntodkriteriums als Kriterium der Organentnahme. Obwohl die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse also auch in Deutschland kontrovers diskutiert wurden, blieb eine offene gesellschaftliche Debatte bisher (Juli 2012) weitgehend aus. Es scheint sogar, als sei eher das Gegenteil der Fall: Seit Sommer 2010 findet hierzulande eine intensive Diskussion zu der Frage statt, wie sich die Spendebereitschaft der Bevölkerung bei der sogenannten postmortalen Organspende erhöhen lässt. Noch 2007 hatte der Nationale Ethikrat (inzwischen Deutscher Ethikrat) diesbezüglich die Empfehlung ausgesprochen, die in Deutschland geltende Zustimmungsregelung, nach der ein Patient zu Lebzeiten bzw. nach seinem Hirntod seine Angehörigen einer Organentnahme explizit zustimmen müssen, durch die Widerspruchsregelung zu ersetzen.¹¹ Nach der Widerspruchsregelung würde es für eine Entnahme lebenswichtiger Organe ausreichen, wenn der Betroffene einer sogenannten postmortalen Organentnahme zu Lebzeiten nicht widersprochen hätte. Angestoßen wurde die politische Initiative für eine Gesetzesänderung durch die Lebendspende des damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden, Frank-Walter Steinmeier,

7 President’s council on bioethics (2008). 8 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.9.2010, S. 33. Vgl. u.a. auch Manzei in der Frankfurter Rundschau vom 26.10.2010; Görlitzer in der TAZ von 5.11.2010; Baureithel, in: Der Freitag vom 13.03.2011; Bartens in Süddeutsche Zeitung vom 03.03.2012. 9 Vgl. Birnbacher (1994). 10 Birnbacher (2007), S. 475. 11 Vgl. Nationaler Ethikrat (2007).

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der seiner schwerkranken Frau 2010 eine seiner Nieren spendete. Getragen durch ein fraktionsübergreifendes Unterstützertrio – Frank-Walter Steinmeier (SPD), Volker Kauder (CDU) und Gregor Gysi (Die Linke)  – berief der Gesundheitsausschuss 2011 eine Expertenkommision ein, die über das Für und Wider einer Gesetzesänderung diskutierte. In der darauf folgenden parlamentarischen Debatte einigte man sich noch vor der Sommerpause darauf, eine Gesetzesänderung in Gang zu bringen. Eingeführt werden sollte die sogenannte Entscheidungslösung. Im Rahmen der Entscheidungslösung soll zwar prinzipiell die Zustimmungsregelung beibehalten werden, ein jeder Bundesbürger solle jedoch zu Lebzeiten aktiv zu einer Entscheidung hinsichtlich der Organspende angehalten werden, die dann in (noch zu bestimmender) Form dokumentiert und festgehalten werden könnte. Die aktuellen Infragestellungen des Hirntodkonzeptes wurden in dieser Debatte jedoch bisher nicht öffentlich thematisiert. Am 21. März 2012 fand beim Deutschen Ethikrat eine öffentliche Diskussionsveranstaltung statt, auf der die Frage nach der Bedeutung der neuen Erkenntnisse zum Hirntodkonzept thematisiert wurde. Scheinbar völlig unbeeinflusst von dieser Diskussion wurde einen Tag später, am 22. März, die Gesetzgebung zur Novellierung des Transplantationsgesetzes im Bundestag eröffnet. Inzwischen stimmten Bundestag und Bundesrat dem Entwurf zu. Obwohl also die in der internationalen Fachwelt breit diskutierten und weitgehend unbestrittenen Argumente gegen das Hirntodkonzept auch in Deutschland bekannt sind, spielten sie in der Öffentlichkeit und in den politischen Debatten um die Novellierung des Transplantationsgesetzes nahezu keine Rolle. Zwar setzt die schon bisher praktizierte Zustimmungslösung wie auch die anvisierte Entscheidungslösung im Prinzip eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung voraus, weder in der alten noch in der neuen Fassung des Transplantationsgesetzes jedoch wird die Infragestellung des Hirntodkonzeptes – das ja immerhin eine zentrale medizinische und juristische Voraussetzung des Transplantationsgesetzes darstellt  – mit einem Wort erwähnt. Dass eine solche Aufklärung jedoch unbedingt von Nöten wäre, zeigen nicht nur diverse Studien, die die zum Teil weitreichende Uninformiertheit von Experten sowie Laien zum Thema nachgewiesen haben.¹² Auch meine eigenen Erfahrungen in zahlreichen Vorträgen zum Thema zeigen, dass den meisten Menschen der Unterschied zwischen einer normalen Leiche und einem Hirntoten nicht bekannt ist.¹³ Diese fehlende Bezugnahme der Organspende-Debatte auf die aktuelle Hirntoddebatte steht im Zentrum des folgenden Aufsatzes. Da die Hirntodproblematik

12 Vgl. etwa Baureithel / Bergmann (1999), Grießler (2006); Schweidtmann / Muthny (1997) sowie auch unten Kap. 5. 13 Es wird z.B. häufig die Frage gestellt, ob es stimme, dass man Organe von einer Leiche, die schon einige Zeit im Leichenschauhaus läge, nicht mehr verpflanzen könne. Dass man den Empfänger damit vergiften würde, ist den meisten nicht bewusst. Ebenso wenig, wie die Tatsache, dass es dann ja auch gar keinen Organmangel gäbe – normale Leichen gibt es ja genug.

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in anderen (nicht nur) europäischen Ländern offen diskutiert wird¹⁴, stellt sich die Frage, warum sich Politik und Öffentlichkeit hierzulande damit so schwer tun. Meine These ist, dass diese Schwierigkeit mit der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands zu tun hat, die hier zu einer besonderen ethischen und juristischen Diskussionskultur geführt hat. Denn in vielen anderen Ländern scheint ja eine legale und legitime Lösung der Hirntodproblematik in der Sterbehilfe zu liegen. Auch wenn Hirntote keine Toten, sondern Sterbende seien, ließen sich – auf der Basis vorheriger Zustimmung – Organe auch im Rahmen des „assistierten Suizids“ entnehmen.¹⁵ Ein solches Vorgehen ist als aktive Sterbehilfe zu werten und in Deutschland aus guten Gründen verboten: Die Ermordung und der Missbrauch von hunderttausenden Kranken, Behinderten, Sterbenden und schutzbefohlenen Kindern für medizinische und wissenschaftliche Zwecke im Nationalsozialismus hat in Deutschland dazu geführt, die Menschenwürde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit an prominenter Stelle im Grundgesetz zu verankern.¹⁶ Eben dieser historische Konsens scheint – meinem Eindruck nach – nun auch in Deutschland brüchig zu werden wie die offensive Argumentation von Dieter Birnbacher zeigt.¹⁷ Um diese gesamte Problematik verstehbar zu machen möchte ich im Folgenden zunächst ausführlich die historischen Entstehungsbedingungen und die inhaltlichen Begründungen des Hirntodkonzeptes nachzeichnen (Kap. 2), um darauf aufbauend die aktuelle Debatten in Deutschland zu beleuchten (Kap. 3). Abschließend wird im 4. Kapitel eine Thematik angesprochen, die eigentlich für beide Debatten  – für die Hirntodproblematik wie für den Organspendediskurs  – von besonderer Bedeutung ist, von beiden Debatten jedoch ausgespart wird: die medizinischen und ethischen Probleme der Organersatztherapie.

14 Das British Journal of Anesthesia (Volume 108, Number S1, January 2012) hat im Januar 2012 beispielsweise einen ganzen Schwerpunkt dem Thema gewidmet, wie Organe von Sterbenden zu gewinnen seien. 15 Beim assistierten Suizid (oder auch kontrollierten Tod) würden die Sterbenden unter sterilen Bedingungen im Operationssaal zu Tode gebracht und nach einigen Minuten wieder reanimiert, damit ihre Organe nicht geschädigt werden und wieder verpflanzt werden können. Der britische Philosoph Julian Savulescu beispielsweise diskutiert in der Zeitschrift Bioethics offensiv die Frage, ob Eutanasie zur Gewinnung von Organen gerechtfertigt sei. Vgl. Savulescu / Wilkinson (2010). Vgl. auch unten Kap. 2.4 und 3. 16 Vgl. zu den historischen Hintergründen der Euthanasie-Debatte in Deutschland Frewer / Eickhoff (2000). 17 Vgl. Birnbacher (2007) sowie unten Kap. 3.

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2 Das Hirntodkonzept: Entstehung, Begründung, Kritik Mit dem Inkrafttreten des Transplantationsgesetztes am 1. Dezember 1997 wurde eine öffentliche Diskussion um das Hirntodkonzept beendet, die in Deutschland über Jahre hinweg außergewöhnlich kontrovers geführt wurde. In Folge des sogenannten „Erlanger Falls“ einer schwangeren Hirntoten war es seit 1992 zu einer für diese Themen verhältnismäßig breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung über das Für und Wider von Hirntod und Organspende gekommen. Angesichts des lebendigen Fötus der hirntoten Patientin wurde öffentlich die Frage diskutiert, wie eine Frau tot sein könne, die ein lebendes Kind in sich trage. Diese Debatte wurde extrem polarisierend geführt. Kritikern des Hirntodkonzeptes wurde vorgeworfen, durch ihre Ablehnung des Hirntodkonzeptes billigend des Tod von schwerkranken Patienten in Kauf zu nehmen, weil ihre Ablehnung der Organentnahme bei Hirntoten zur Folge hätte, dass den Betroffenen dadurch ihre einzigen Heilungschancen verwehrt würden. Die Rede vom „Tod auf der Warteliste“ entstand und diente in der Diskussion dazu, den Tod von kranken Menschen moralisch jenen anzulasten, die eine Organspende, aus welchen Gründen auch immer, ablehnten. Umgekehrt waren die Argumente nicht minder hart. Transplantationsmediziner wurden als Mörder beschimpft und der skrupellosen Ausschlachtung sterbender Menschen bezichtigt.¹⁸ Mit der Transplantationsgesetzgebung 1997 und der darin enthaltenen Festschreibung des Hirntodes als Kriterium für Organentnahmen fand diese Kontroverse in der Öffentlichkeit ein Ende. Seither gilt in Deutschland die erweiterte Zustimmungslösung als Kriterium der Organentnahme bei Hirntoten.¹⁹ Eine Diskussion und Infragestellung des Hirntodkonzeptes fand seitdem in der Öffentlichkeit nicht mehr ernsthaft statt. In diesem Sinne hatte die Transplantationsgesetzgebung nicht nur eine wichtige rechtliche Funktion, weil sie die gängige Praxis der Organentnahme bei Hirntoten legalisierte, sondern auch eine den gesellschaftlichen Diskurs befriedende Wirkung. In Expertenkreisen wurde die Debatte gleichwohl weitergeführt und viele

18 Vgl. Manzei (1997, 2003). 19 Diskutiert wurden damals drei mögliche Einwilligungsverfahren: (1) die enge Zustimmungslösung, (2) die erweiterte Zustimmungslösung und (3) die Widerspruchslösung. Bei (1) muss der Betroffene zu Lebzeiten selber über eine Organentnahme nach dem Hirntod entscheiden; bei (2) können nach dem Eintritt des Hirntodes außerdem auch die nächsten Angehörigen über eine Organentnahme entscheiden (die Reihenfolge der entscheidungsberechtigten Angehörigen ist in § 1a TPG differenziert festgelegt); bei (3) gilt jede / r Bürger / in per se als Organspender / in, sofern er oder sie nicht zu Lebzeiten einer Organspende widersprochen hat.

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der Argumente, die in der 2010 durch den Aufsatz von Sabine Müller erneut angestoßenen Debatte Relevanz bekamen, wurden hier breit diskutiert und publiziert.²⁰ Für das Verständnis der aktuellen Diskussion und der Frage, ob es sich bei hirntoten Menschen um Tote oder um Sterbende handelt, ist es sinnvoll, sich die Entstehungsgeschichte des Hirntodkonzeptes sowie die Argumente der damaligen Debatte noch einmal vor Augen zu führen. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich klären, welche Argumente in der derzeitigen Diskussion tatsächlich neu sind, warum (und mit welchen Schwierigkeiten) das Thema gegenwärtig wieder Eingang in die öffentlichen Diskussionen findet und welche besonderen ethischen Probleme eine Diskussion in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern kennzeichnet.

2.1 Zur Genese des Hirntodkonzeptes im Schatten der Transplantationsmedizin Wie entstand die Vorstellung, ein Mensch könne tot sein, obwohl sein Körper noch lebt? Bevor Mitte des 20. Jahrhunderts die moderne Beatmungstechnologie entwickelt wurde, gab es diese Unterscheidungen nicht. Wenn vereinzelt Ideen eines abgestuften Todes diskutiert wurden, waren diese medizinisch und juristisch ohne Belang.²¹ Menschen galten als tot, wenn ihr Herz stillstand und sie nicht mehr wiederbelebt werden konnten. Innerhalb von Minuten kam es nach dem Herzversagen zum Sauerstoffmangel im Gehirn, der das Absterben dieses Organs ebenso wie das Absterben aller anderen Organe zur Folge hatte. Eine Trennung, zwischen dem toten Menschen als Individuum und seinem noch lebenden Organismus, war weder faktisch möglich noch von medizinischem Interesse. Es war immer der ganze Mensch, der verstarb. Das sollte sich mit der der Entwicklung der modernen Überdruck-Beatmungstechnologie ändern. Bei Patienten, deren Atemfunktion im Gehirn aus Krankheits- oder Unfallgründen ausgefallen war, konnte man mit der modernen Beatmungstechnologie die Atmung dauerhaft maschinell ersetzen.²² Damit entstand ein Krankheitszustand, der als irreversibles Koma (Coma depassé) bezeichnet wurde. Menschen, die in diesem irreversiblen Koma lagen, starben nicht, wachten aber auch nicht mehr auf. Für die Medizin wurden damit zwei Probleme aufgeworfen. Zum einen stellte sich die Frage nach dem Behandlungsabbruch: Durfte man Patienten weiterbehandeln, die nie mehr erwachen, geschweige denn genesen würden, deren Sterben man vielmehr

20 Vgl. exemplarisch Baureithel / Bergmann (1999); Feuerstein (1994), Jörges (1996); Lindemann (2002, 2003); Manzei (1997, 2003); Manzei / Schneider (2006); Meyer (1998); Motakef (2011), Rotondo (1997, 1998); Schneider (1999, 2001); Stoecker (2009). 21 Vgl. Manzei (1997, 2003); Lindemann (2003). 22 Vgl. für eine differenzierte Darstellung der Geschichte der Beatmungstechnologie Schellong (1990, 2001).

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technisch unterbrochen hatte? Hier musste ein Kriterium gefunden werden, das den Medizinern den Abbruch der sinnlosen Beatmungstherapie gestattete, ohne dass sie dafür rechtlich belangt werden konnten.²³ Zum anderen weckte das irreversible Koma neue Begehrlichkeiten der Transplantationsmedizin: In den 1960er Jahren hatte sich die Technik der Organverpflanzung so weit entwickelt, dass es dem südafrikanischen Transplantationschirurgen Christiaan Barnard 1967 zum ersten Mal gelang, ein menschliches Herz zu transplantieren. Der Patient überlebte 18 Tage. Mit diesem Erfolg der Transplantationsmedizin entstand erstmals ein Bedarf an gesunden, frischen Spenderorganen, über die man unabhängig von ihrem Träger verfügen wollte²⁴. Um beide Probleme zu lösen formierte sich an der Harvard Medical School 1968 eine Ad hoc Kommission aus Theologen, Juristen und Medizinern die pragmatisch formulierte, was die Transplantationsmedizin in ihrer heutigen Form überhaupt erst ermöglichen sollte: das Hirntodkonzept: „Our primary purpose is to define the irreversible coma as a new criterion for death. There are two reasons why there is need for a new definition: (1) Improvements in resuscitative and supportive measures have led to increased efforts to save those who are desperately injured. Sometimes these efforts have only partial success so that the result is an individual whose hart beats but whose brain is irreversibly damaged. The burden is great on patients who suffer permanent loss of intellect, on their families, on the hospitals, and on those in need of hospital beds already occupied by these comatose patients. (2) Obsolete criteria for the definition of death can lead to controversy in obtaining organs for transplantation.“²⁵

Der Hirntod wurde sowohl als Kriterium für den Abbruch der für den Patienten nicht mehr nützlichen Therapie als auch als Kriterium zur Entnahme der Organe bestimmt und mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt. Das irreversible Koma (coma depassé) sollte als neues Todeskriterium fungieren, damit zum einen die Patienten und ihre Angehörigen „von einer schweren Last befreit“ würden, zum anderen aber auch die Beschaffung von Organen zur Transplantation eindeutig geregelt und erleichtert würde. Als Merkmale des neuen Todeskriteriums wurden festgelegt:

23 Vgl. Hoff / in der Schmitten (1994); Lindemann (2003). 24 Vgl. hierzu ausführlich Lindemann (2003); Schneider (1999); Shewmon (2009); Beckmann (2009). 25 JAMA (1968), S. 337; „Unser primäres Anliegen ist es, das irreversible Koma (coma depassé) als neues Todeskriterium zu definieren. Es gibt zwei Gründe für den Bedarf einer neuen Definition: 1. Fortschritte in intensivmedizinischen Wiederbelebungs- und Unterstützungsverfahren haben zu verstärkten Bemühungen geführt, das Leben auch schwerstverletzter Menschen zu retten. Manchmal haben diese Bemühungen nur teilweise Erfolg: Das Ergebnis sind dann Individuen, deren Herz weiter schlägt, während ihr Gehirn irreversibel zerstört ist. Eine schwere Last ruht auf den Patienten, die den permanenten Verlust ihres Intellekts erleiden, auf ihren Familien, auf den Krankenhäusern und auf solchen Patienten, die auf von diesen Patienten belegte Krankenhausbetten angewiesen sind. 2. Überholte Kriterien für die Definition des Todes können zu Kontroversen bei der Beschaffung von Organen zur Transplantation führen.“ (Übersetzung AM)

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„(1) keinen Rezeptivität und Reaktivität, (2) keine spontanen Bewegungen und Atmung und (4) (ein) flaches Elektroenzephalogramm.“²⁶

Die Begründung für diese Gleichsetzung war jedoch zunächst rein pragmatisch. Eine inhaltliche Begründung für die Gleichsetzung des irreversiblen Erlöschens der Gehirnfunktionen mit dem Tod des Menschen wurde zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben, sondern erst sukzessive in den folgenden Jahrzehnten entwickelt.

2.2 Der strategische Charakter und die Unanschaulichkeit des Hirntodkonzeptes Mit dieser neuen Todesdefinition sind nun zwei Probleme verbunden, die seither kontrovers diskutiert werden: zum einen die Begründung des Hirntodkonzeptes im Zusammenhang mit dem Organbedarf der Transplantationsmedizin (1); zum anderen die Kriterien der Hirntodbestimmung, die im Lauf der Zeit gegenüber ihrer ursprünglichen Definition geändert wurden (2). 1. Von Befürwortern des Hirntodkonzeptes wird immer wieder ins Feld geführt, dass die neue Todesbestimmung und die Transplantationsmedizin zwar historisch zeitgleich entstanden seien, dass die Hirntodbestimmung sich jedoch auch unabhängig davon, aus der Natur des Menschen heraus, begründen ließe. So schreibt beispielsweise der bekannteste deutsche Transplantationsmediziner, Heinz Angstwurm: „Der Mensch ist dann tot, wenn die naturgegebene Grenze vom Leben zum Tod überschritten ist. […] Schon immer besteht der Tod des Menschen und anderer Lebewesen im Tod des Gehirns. Dieser Sachverhalt blieb jedoch bis in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts zwar nicht unbemerkt, aber weit gehend unbeobachtet und praktisch unwichtig. […] Was das Leben und was der Tod des Menschen ist, kann die naturwissenschaftliche Medizin nicht von sich aus bestimmen. Als Erfahrungswissenschaft geht sie auch für ihre Aufgabe der Todesfeststellung von den vorgefundenen Gegebenheiten aus. […] Todeszeichen sind naturgegeben und können daher naturwissenschaftlich nicht ‚verabredet‘ oder ‚eingeführt‘ werden.“²⁷

Dieser anthropologischen Deutung widerspricht nicht nur das obige Zitat der Ad hoc Kommission: Offensichtlich ist das Hirntodkonzept, wie es in der modernen Medizin Verwendung findet, eine historisch entstandene medizinische Konvention, die sukzessive gesellschaftliche Anerkennung gefunden hat, und keineswegs bloß die Ausformulierung einer anthropologischen Konstante.²⁸ Darüber hinaus bedürfte es für; den Abbruch einer sinnlosen medizinischen Therapie auch prinzipiell keiner neuen

26 Müller (2010), S. 6. 27 Angstwurm (1994), S. 41 ff. 28 Vgl. hierzu ausführlich Lindemann (2003); Schneider (1999); Shewmon (2009); Beckmann (2009).

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Definition des Todes. Der Abbruch einer sinnlosen medizinischen Behandlung rechtfertigt sich nicht erst durch den Tod des Menschen. Er ist vielmehr schon zu Lebzeiten dann berechtigt, wenn eine Therapie keine kurativen oder zumindest palliativen Erfolge mehr zeigt. Dass das Kriterium des Behandlungsabbruchs in der Hirntodkonvention dennoch mit einer neuen Todesdefinition verbunden wurde, ist insofern nur im Zusammenhang mit dem Organbedarf der Transplantationsmedizin zu erklären.²⁹ Bereits 1970 wies der amerikanische Philosoph Hans Jonas in seinem Aufsatz „Gegen den Strom“ auf den in diesem Sinne strategischen Charakter der neuen Todesdefinition hin und warnte vor der Bemächtigung komatöser Patienten zum Zwecke medizinischen Fortschritts.³⁰ Weder die Einstellung der Behandlung bei irreversibel komatösen Patienten noch die Frage, wann der Mensch endgültig tot sei, erfordere die Gleichsetzung des Absterbens des Gehirns mit dem Tod des Menschen. Der Zweck, den Zeitpunkt des Todes vorzuverlegen, anstatt ihn maximal zu definieren, um möglichst auf der sicheren Seite zu sein, liege allein in der Absicht, „den Körper in einem Zustand zu erhalten, der nach älterer Definition Leben gewesen wäre (nach der neuen aber nur dessen Vortäuschung ist) – damit man an seine Organe und Gewebe unter den Idealbedingungen heran kann, die früher den Tatbestand der „Vivisektion“ gebildet hätten.“³¹

Darüber hinaus  – und das ist juristisch nicht ohne Bedeutung  – ermöglicht die Gleichsetzung von Hirntod und Tod die Weiterbehandlung des Patienten zum Zwecke Dritter: die sogenannte Spenderkonditionierung. Gälte der Patient als Lebender, so müsste die in seinem Sinne zwecklose Behandlung abgebrochen werden. Gilt er jedoch als Leiche, so besitzt er nicht mehr den moralischen und rechtlichen Status einer Person, denn Menschenwürde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit sind an Lebendigkeit geknüpft. Sein Körper gilt dann als Sache, die zwar einer gewissen Sorgfaltspflicht unterliegt, deren Verwendung für fremde Zwecke jedoch nicht ausgeschlossen ist.³² Festzuhalten bleibt, dass es damals nur deshalb einer neuen

29 Vgl. Manzei (2003), S. 161 ff., Stoecker (1999), Beckmann (2006), S. 56 ff. 30 Jonas (1987). 31 Jonas (1987), S. 221. 32 Auch hier kommt es zu ethischen und rechtlichen Konflikten bezüglich der Behandlung des Hirntoten. Während er eigentlich keiner Behandlung für eigene Zwecke mehr bedürfte, muss er für die Zwecke des Spenders weiterbehandelt werden. Hier entstehen zum einen versicherungstechnische Probleme hinsichtlich der Kostenübernahme, da sich die Versicherung des Hirntoten nicht mehr zur Zahlung verpflichtet sieht. Zum anderen kollidieren hier auch schon zeitlich früher die Interessen des noch lebenden, potentiellen Spenders mit den Interessen des Empfängers, wenn im Rahmen der Hirntoddiagnostik z.B. der sogenannte Apnoe-Test durchgeführt wird: Hierbei wird dem Patienten längere Zeit die Atemluft entzogen, um zu testen, ob er wieder von selber atmet. Dadurch wird in jedem Fall das Gehirn geschädigt. (Vgl. www.a-zieger.de.) Diskutiert wird auch, ob es gerechtfertigt ist, Rettungspatienten, die potentielle Organspender sein könnten, Schmerzmittel zu verweigern, um ihre Organe nicht zu schädigen. Vgl. Schöne-Seifert u.a. 2011.

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Todesdefinition bedurfte, weil eine Organentnahme bei Sterbenden (also Lebenden) in dieser Zeit weder rechtlich noch moralisch durchsetzbar war. Das ist heute in vielen Ländern anders.³³ 2. Vergleicht man die Kriterien der Hirntodbestimmung der Ad hoc-Kommission mit der Festlegung des Hirntodkonzeptes, wie sie heute durch den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer vorgenommen wird, dann zeigt sich, dass sich die Kriterien verändert haben. Hirntote müssen heute weniger tot sein als früher, wie die Soziologin Gesa Lindemann ausführt: „Zunächst ging es nämlich – vor allem in den USA – noch gar nicht um den Tod des Gehirns im engeren Sinne, sondern um den Tod des ‚gesamten zentralen Nervensystems‘. Das schließt morphologisch auch das Rückenmark ein. Klinisch bedeutet es, daß auch die Bewegungen und Reflexe, die durch das Rückenmark gesteuert werden, ausgefallen sein müssen. […] Wer im Sinne der Harvardversion des Hirntodkriteriums tot ist, sollte reglos sein, d.h., ein Toter sollte sich nicht mehr von allein bewegen und es sollte nicht mehr möglich sein, Reflexe auszulösen.“³⁴

Während die Hirntoten der Ad hoc-Kommission nicht nur bewusstlos, reflexlos und ohne Spontanatmung, sondern auch reglos sein mussten, gilt das Kriterium der Reglosigkeit für Hirntote heute nicht mehr. Seit Mitte der 70er Jahre gelten vielmehr 17 verschiedene Reaktionsweisen als mit dem Hirntod vereinbar, ja sogar mehr noch als „klinische Zeichen des Todes“.³⁵ Laut Statistik der Transplantationsmedizin sind bis zu 75 % aller Hirntoten in der Lage, reflektorische Bewegungen der Extremitäten, des Rumpfes, des Nackens u.a. m. zu vollziehen.³⁶ Solche Bewegungen werden „LazarusZeichen“ genannt und seien mit dem Tod des betroffenen Menschen durchaus vereinbar, da es sich hier nicht um Lebenszeichen, sondern lediglich um sogenannte spinale Reflexe handele; Bewegungen also, die nicht vom Patienten aktiv getätigt werden, sondern lediglich durch das Rückenmark ausgelöst würden.³⁷ Ebenfalls vereinbar mit dem Tod seien Blutdruck-, Blutzucker- und Temperaturschwankungen

33 Vgl. dazu ausführlich unten Kap. 3. 34 Lindemann (2001), S. 321; Anders die 1968 in der BRD erschienene Veröffentlichung einer Kommission der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie ‚Todeszeichen und Todeszeitbestimmung‘, die ebenfalls Kriterien für die Hirntodbestimmung festlegte. Sie erarbeitete bereits damals ein Hirntodkriterium, dass es – wie das aktuell gültige heute auch – „erlaubt, auf die vollständige Reglosigkeit und Areflexie als Todeszeichen zu verzichten.“ 35 Vgl. Lindemann (2001), S. 322. 36 Vgl. Schlake / Roosen (1997), S. 54. 37 „Spinale Reflexe“ werden in Anlehnung an das Johannes-Evangelium als „Lazarus-Zeichen“ bezeichnet. In diesem Bibeltext wird ein Toter, der schon vier Tage im Grab liegt, durch Jesus zum Leben erweckt (Johannes 11 / 1 – 44). Zeichen seiner Auferweckung sind die Bewegungen seiner verbundenen Arme und Beine (Vers 44). Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang, dass die Bewegungen hier jedoch als Lebenszeichen und nicht als Zeichen des Todes gewertet werden. Insofern trifft die Allegorie den intendierten Sachverhalt gerade nicht!

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sowie das Fortbestehen einer Schwangerschaft.³⁸ In der Informationsschrift der Deutschen Stiftung Organtransplantation zum Hirntod findet sich ein sehr anschauliches Foto von Bewegungen, zu denen Hirntote fähig sind. (Vgl. Fn. 36).

Abbildung 1: Anhand dieses Bildes wird die mangelnde empirische Evidenz des Hirntodkonzeptes besonders deutlich: Hirntote haben einen warmen, durchbluteten Körper, ihr Brustkorb hebt und senkt sich im Takt der Beatmungsmaschine, sie werden ernährt und scheiden aus, können Fieber entwickeln und schwitzen, manchmal bewegen sie Arme und Beine oder verziehen das Gesicht. Hirntote Kinder können wachsen und mittlerweile sind mindestens 10 Fälle dokumentiert, in denen eine hirntote Schwangere ein Kind ausgetragen hat.³⁹

Für die Angehörigen sowie das betreuende ärztliche und pflegerische Personal der Intensivstation ist diese fehlende empirische Evidenz des Hirntodkonzeptes unerträglich. Hier ist zu bedenken, dass das Personal die späteren Hirntoten zumeist noch als lebendige und z.T. wache Patienten kennen gelernt und betreut hat. Wenn dann die Diagnose „hirntot“ gestellt wird, ist das nicht nur emotional schwer bewältigbar; es ist angesichts der unverändert lebendigen Erscheinung des Patienten auch kognitiv kaum nachvollziehbar, dass dieser Patient nun tot sein soll: Der Patient muss – genau wie vor der Hirntoddiagnose auch  – gewaschen und gebettet sowie medikamentös und intensivmedizinisch versorgt werden. Darüber hinaus müssen, wie bei allen

38 Eine Schwangerschaft werde, so heißt es in den Richtlinien zur Begründung, „endokrinologisch von der Plazenta und nicht vom Gehirn der Mutter aufrechterhalten“ (Bundesärztekammer, 1998, Anmerkung 4). 39 Vgl. Müller (2010), Manzei (2003).

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anderen Patienten auch, die Vitalzeichen (sic!), wie Puls, Blutdruck, Atemfrequenz etc. gemessen und dokumentiert werden. Angesichts dieser nahezu unveränderten Betreuung des nunmehr hirntoten Patienten ist es für das Personal – ebenso, wie für die Angehörigen – empathisch nur schwer nachvollziehbar, dass es sich hierbei um einen Toten handeln soll. Diese lebendige Erscheinung hirntoter Patienten ist einer der Gründe, warum viele Krankenhäuser nur zögerlich Bereitschaft zeigen, hirntote Spender an das zentrale Spenderregister in Leiden (Holland) zu melden.⁴⁰ Noch problematischer ist die Unanschaulichkeit des Hirntods für das pflegerische und ärztliche Personal im Operationssaal: Hier wird der hirntote Patient als lebendig erscheinender, beatmeter Patient in Empfang genommen und nahezu wie alle anderen Patienten auch zur Operation vorbereitet. Auch hier kann es noch passieren, dass der Patient die Arme und Beine bewegt und neben solchen spontan entstehenden Bewegungen können Schmerzreaktionen, wie Schwitzen, Zucken, Blutdruckanstieg und die Rötung des Gesichts, auch konkret ausgelöst werden, beispielsweise dann, wenn der Bauchraum zur Entnahme der Organe eröffnet wird. Damit das nicht geschieht und damit es keine zusätzliche Verunsicherung beim betreuenden Personal gibt, werden in manchen Krankenhäusern während der Explantation Schmerz- und Beruhigungsmittel verabreicht.⁴¹ Für das betreuende Personal bleibt die Situation gleichwohl extrem belastend, wie die Beschreibung der Operationsschwester Monika Grosser verdeutlicht: „[…] Der zweite Assistenzarzt beginnt mit der Hautdesinfektion. Plötzlich bewegt sich der Arm des Toten. Ein kurzes Anheben des Unterarmes nur und der Hand, dann sinkt der Arm zurück. Ich starre den Toten an, während es mir eiskalt den Rücken herunterläuft. ‚Der hat sich bewegt.‘ Irgend jemand spricht es auch noch aus, leise, fast flüsternd – aber es gräbt sich ein. ‚Warum hat er sich bewegt?‘ ‚Spinaler Reflex.‘ Die Worte kommen ruhig, sicher, fast gelangweilt vom Anästhesisten. Ja, spinaler Reflex. Das gibt es bei Hirntoten. Aber woher weiß er denn, dass das gerade ein spinaler Reflex war? Das sah so lebendig, so natürlich aus. Da ist sie wieder, die Angst. Und plötzlich stelle ich alles in Frage: ‚Wie sicher ist diese Hirntodfeststellung? Konnte nicht doch irgendwo irgendetwas übersehen worden sein? […] Dann fange ich an, Zeichen des Todes an diesem Menschen zu suchen. Nichts, ich finde keine. Er liegt da wie die Lebenden, die hier intubiert und narkotisiert in den Saal gefahren werden. Sein Brustkorb hebt und senkt sich genauso, und sein rhythmischer Herzschlag ist laut und deutlich über den Herzfrequenzmonitor zu hören. Was ich sehe, ist sein lebender Körper. Das tote Gehirn sehe ich nicht. ‚Natürlich, das ist normal‘, sage ich mir. Mein Verstand ruft mich zur Ordnung. […] Du weißt doch: Das Verfahren ist doppelt und dreifach abgesichert. […] Sie haben es festgestellt. Doch wer? Ich weiß nicht wer. Irgendjemand hat irgendwann festgestellt, dass er tot ist. Ich muss es glauben. Es fällt mir schwer, das einfach hinzunehmen, ihnen zu vertrauen. Ich klammere mich an den Gedanken: ‚Laß ihn tot sein! Laß keinen einzigen einen Fehler gemacht, irgendetwas übersehen haben! […] Ich will dies zwitterhafte Wesen, das zur gleichen Zeit tot und lebendig ist, nicht mehr sehen. Ich

40 Vgl. Manzei (2003); Baureithel / Bergmann (1999); Conrad / Feuerhack (2006); Rotondo (1997, 1998); Striebel / Link (1991). 41 Vgl. hierzu Baureithel / Bergman (1999), S. 153, aber auch Schlake / Roosen (1997), S. 52.

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will mich nicht mehr damit auseinander setzen. Und so bin ich froh, mit dem sterilen Abdecken des Toten beginnen zu können. Mit jedem Tuch, das ich über ihn lege, schiebe ich ihn weiter von mir weg, verdränge. Was bleibt, ist ein Fragment – der Bereich an dem wir arbeiten werden.“⁴²

Erst im Laufe der Organentnahme, wenn das für alle sichtbar schlagende Herz durch die Infusion von Kühlflüssigkeit und das Abstellen des Beatmungsgerätes zum Stillstand gebracht wird, verändert der Patient seine Erscheinung. Die Organe werden kalt und blass und die Farbe des Körpers verändert sich. Wenn alle Organe, für die eine Erlaubnis vorliegt, entnommen worden sind, bleibt ein leerer, kalter, ausgebluteter und sich nicht mehr bewegender Patientenkörper zurück.⁴³ Erst jetzt sieht der Patient auch augenscheinlich aus wie eine Leiche. Die hier beschriebene Veränderung des hirntoten Patienten während der Organentnahme ist für alle Beteiligten nur schwer zu bewältigen. Insbesondere das Pflegepersonal, welches den Patienten vor der Entnahme als lebendige Erscheinung entgegennimmt und nach der Entnahme als Leiche versorgen muss, erfährt den Prozess der Organentnahme als eigentliche Sterbephase. Hier liegt auch einer der Gründe, warum viele Mediziner die Organspende zwar abstrakt befürworten, selber jedoch keine Organe spenden wollen. In einer Befragung von Transplantationsärzten (sic!) durch die Zeitschrift Transplantationsmedizin zeigt sich dieser Gegensatz besonders signifikant: 90 % akzeptieren den Hirntod als den Tod des Menschen. Gleichzeitig „räumt eine Mehrheit Unsicherheit darüber ein, wie Eingriffe in den sterbenden Organismus erlebt werden und ob nicht noch subtile Empfindungen bei Hirntoten möglich sind.“ 90 % sehen den hirntoten Patienten als Person, der Menschenwürde zukommt; 4 / 5 der Ärzte plädieren dafür, Hirntote anzusprechen; „Über 90 % können sich vorstellen, Hirntoten gegenüber Gefühle zu entwickeln, auch wenn sie diese Patienten nur komatös erlebt haben.“ 80 % finden es belastend, Bewegungen hirntoter Patienten zu erleben.⁴⁴ Nicht zuletzt ist an dieser Stelle die Belastung der Angehörigen zu erwähnen. Laut § 6 Abs.  2 TPG steht es ihnen zu, den Verstorbenen nach der Organentnahme noch einmal zu sehen. Nehmen sie dieses Recht in Anspruch (wovon zumeist abgeraten wird), nehmen sie spätestens jetzt die Differenz zwischen der lebendigen Erscheinung vor der Entnahme und der Erscheinung als Leiche danach wahr. Für viele ist dies ein Schock und lässt sie an der vorab gegebenen Zustimmung zur Organentnahme zweifeln. Für die Betreuung der Angehörigen ist bisher im Transplantationsgesetz jedoch bisher keine Unterstützung vorgesehen.

42 Grosser (1991), S. 60 ff. 43 Vgl. zum Ablauf des Geschehens Manzei (2003), Kap. 3. 44 Schweidtmann / Muthny (1997), S. 4.

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2.3 Inhaltliche Begründungen für die Gleichsetzung von Hirntod und Tod Erst in den Jahren nach der Erklärung von Harvard wurde die bis dahin rein pragmatische begründete Gleichsetzung des irreversiblen Komas mit dem Tod des Menschen durch inhaltliche Argumente ergänzt. Hier wurden (im Wesentlichen) zwei Begründungen diskutiert, die noch heute gleichermaßen relevant wie umstritten sind: zum einen das sogenannte anthropologische oder Bewusstseins-Argument (1); zum anderen die biologische Begründung der systemischen Integration des Organismus durch das Gehirn (2). (1) Das anthropologische oder Bewusstseins-Argument knüpft die Personalität eines menschlichen Individuums an das Vorhandensein von Bewusstseinsfunktionen, von denen man nach Stand der Wissenschaft annahm, dass sie im Großhirn bzw. der Großhirnrinde angesiedelt seien. Sei das Bewusstsein irreversibel erloschen, so das Argument, könne von einem Menschen nicht mehr als Person gesprochen werden.⁴⁵ Der Mensch habe damit seine genuinen Eigenschaften als Mensch verloren. Diese anthropologische Begründung erwies sich jedoch aus verschiedenen Gründen als nicht ausreichend: Erstens war (und ist) es wissenschaftlich umstritten, ob Bewusstseinsfunktionen nur in der Großhirnrinde, oder im gesamten Gehirn angesiedelt sind oder ob nicht vielmehr die komplexe Bewusstseins-, Kommunikationsund Handlungsfähigkeit des Menschen einer systemischen Interaktion des gesamten Organismus mit dem Gehirn bedarf.⁴⁶ Zweitens handelt es sich bei der besonderen Wertschätzung, die die Personalität hier als genuin menschliche Eigenschaft erfährt, um eine spezifisch moderne, westliche Deutung, die ihren Ursprung letztlich in der Descartes‘ schen Trennung von res cogitans und res extensa hat und kulturell keineswegs von allen Gesellschaften geteilt wird.⁴⁷ Drittens lässt sich das Bewusstseinsargument auch auf Patienten anwenden, die keineswegs im Sterben liegen. Es gibt Komapatienten, sogenannte Apalliker, die jahrelang bewusstlos sein können, ohne von Maschinen abhängig zu sein und ohne zu sterben. Diese Patienten leben, ohne über Bewusstsein im oben genannten Sinne zu verfügen.⁴⁸

45 Vgl. Lindemann (2003); Manzei (2003). 46 Die Hirnrinde könne, so konstatieren die Hirnforscher Gerhard Roth und Ursula Dicke schon 1994 „nichts von ihren Leistungen vollbringen ohne den Rest des Gehirns, gleichgültig ob es um Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Bewusstsein, Sprache, Handlungsplanung und motorische Steuerung geht.“ (Roth / Dicke 1994, 56). Darüber hinaus seien die meisten Verrichtungen unseres täglichen Lebens ohnehin nicht von bewusstem Erleben begleitet. Im Gegenteil, je komplizierter eine Leistung, im motorischen Bereich, wie z.B. Fahrrad fahren oder Klavier spielen, desto schwieriger sei es, sie unter bewusster Aufmerksamkeit durchzuführen. 47 Vgl. LaFleur, (2006); Manzei (2003), Kap. 2.4. 48 Vgl. Zieger (2006).

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(2) Ende der 1970er Jahre wurde daher versucht, das Bewusstseins-Argument durch ein biologisches Argument zu ersetzen. Auf der Basis neurophysiologischer Erkenntnisse wurde die These aufgestellt, dass der Ausfall der im Hirnstamm angesiedelten vegetativen Funktionen die Desintegration des Organismus zur Folge habe. Auch diese biologische Begründung erwies sich jedoch aus verschiedenen Gründen als nicht ausreichend, um eine Gleichsetzung von Hirntod und Tod zu rechtfertigen: Zum einen gibt es Patienten, deren Stammhirnfunktionen zwar erloschen seien, deren Großhirn aber gleichwohl funktioniere. Bei Patienten mit sogenanntem Locked-inSyndrom funktioniert zwar das im Stammhirn angesiedelte Atemzentrum sowie jegliche, vom zentralen Nervensystem ausgehende Sensibilität und Motorik des Körpers nicht mehr, die Bewusstseinsfunktionen, die dem Großhirn zugeschrieben werden, sind jedoch vollständig erhalten. Patienten mit sogenanntem Locked-in-Syndrom sind insofern zwar abhängig von apparativer Unterstützung und Pflege; mit Hilfe technischer Unterstützung sind sie jedoch auch in der Lage, Fragen zu beantworten, zu lesen, fernzusehen usw.⁴⁹ Zum anderen konstatierten Hirnforscher dass sich das biologische Integrationsargument aus neurobiologisch-systemtheoretischer Sicht nicht halten lasse: Gegen eine hierarchische Überhöhung des Gehirns gegenüber anderen Organen machen beispielsweise die Neurobiologen Ursula Dicke und Gerhard Roth einen systemtheoretischen Begriff des Lebens geltend: Die Organisation des Lebendigen bestehe darin, dass die einzelnen biologischen Komponenten (Moleküle, Gewebe, Organe) sich dadurch selbst herstellen und erhalten, dass sie zur Herstellung der anderen biologischen Komponenten beitragen. „Leben ist somit eine ‚emergente Eigenschaft‘ der Interaktion physikalisch-chemischer Komponenten im autopoietischen Netzwerk.“⁵⁰ Insofern käme dem Gehirn aus biologischer Sicht keineswegs eine herausragende Funktion für die Organisation des Lebendigen zu. Anfang der 1980er Jahre wurde vom Präsidenten der USA eigens eine Kommission zur Klärung der Todesdefinition einberufen, die sich dazu entschloss, beide Argumente zu verknüpfen, sowohl das anthropologische oder Bewusstseins-Argument als auch das biologische Argument der vegetativen Integrationsleistung des Gehirns. Mehr als ein Jahrzehnt nach Aufkommen der Diskussion gelangte man so zur Begründung des Hirntodkonzepts, wie es heute auch in Deutschland von der Bundesärztekammer (BÄK) offiziell festgelegt wird: „Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversiblen erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. […] Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.“⁵¹

49 Vgl. Manzei (2003); Müller (2010). 50 Roth / Dicke (1994), S. 53. 51 Bundesärzekammer, hier nach Hoff / in der Schmitten (1994), S. 167.

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Mit dieser Definition erkannte die BÄK das Gehirn erstens als Trägerorgan der Wesensmerkmale des Menschen als Person an und zweitens als Zentrum der biologischen Integration des Organismus. Diese Richtlinien galten seither in mehrfach modifizierter Form als standesrechtliche Vereinbarung bis zur rechtlichen Regelung der Organverpflanzung durch das Transplantationsgesetz von 1997. Beide Argumente, das Bewusstseins- oder Personalitätsargument und das biologische Integrationsargument, bestimmten im Wesentlichen auch die gesellschaftliche und politische Debatte im Vorfeld der Gesetzgebung. Befürworter des Hirntodkonzeptes, die sich auf beide Argumente stützen, gingen davon aus, dass eine Widerlegung des Hirntodkonzeptes im Sinne einer Absage an die Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Menschen zum Ende der Transplantationsmedizin führen würde, da eine Organentnahme rechtlich nicht mehr zu legitimieren sei. Im Gegensatz dazu hielten Kritiker daran fest, dass der endgültige Ausfall des Gehirns einen Zeitpunkt im Prozess des Sterbens des Menschen darstelle und dass der Prozess des Sterbens erst mit dem völligen Ausfall aller Atem- und Kreislauffunktionen beendet sei. Mit dieser Vorstellung war jedoch bei den meisten Kritikern keine generelle Ablehnung der Organspende verbunden. Es wurde vielmehr eingeklagt, dass die Zustimmung zur Organspende an das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen gekoppelt werden müsse. da hier die Würde des Sterbenden betroffen sei.⁵² Kernprobleme der politischen Debatte in Deutschland waren also zum einen die Frage nach der Todesdefinition und zum anderen die Frage der Zustimmung: Soll nur der Spender selbst zu Lebzeiten über eine Entnahme entscheiden oder dürfen dies auch seine Angehörigen oder soll es gar eine Sozialpflicht zur Organspende geben. Ersteres entspricht der engen Zustimmungslösung, das zweite, die erweiterte Zustimmungslösung, fasst auch die Angehörigen mit ein, und die Widerspruchslösung geht generell vom Willen zur Organspende aus, sofern nicht ausdrücklich dagegen widersprochen wurde. Für die aktuell neu aufkommende Debatte in Deutschland sind beide Kernprobleme von besonderer Bedeutung. Denn zum einen ist es die Todesdefinition, also die Gleichsetzung von Hirntod und Tod, die durch neue medizinische Studien in Frage gestellt wird; zum anderen werden Fragen des Selbstbestimmungsrechts der Patienten in Europa heute anders diskutiert als vor 20 Jahren. Letzteres ist für die heutige politische Debatte um Organspenden insofern von Bedeutung, als mit der offensiven Diskussion über aktive Sterbehilfe eine Argumentation salonfähig wird, die es erlaubt, über Organspenden nach assistiertem Suizid nachzudenken. Bevor ich in Kapitel 3 auf diese Diskussion eingehe, möchte ich noch die unterschiedlichen „Todesdefinitionen“ vorstellen, wie sie in der Medizin diskutiert und in einigen Ländern auch angewendet werden. Insbesondere in Bezug auf die aktuelle Diskussion der „Organgewinnung durch assistierten Suizid“ ist es wichtig, sich vor

52 Vgl. hierzu ausführlich Manzei (1997).

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Augen zu führen, dass es sich bei diesen Definitionen um zum Teil sehr pragmatische Konventionen handelt.

2.4 Vom Teilhirntod zum kontrollierten Tod. Varianten des Todes in der Transplantationsmedizin Auseinandersetzungen um die Geschichte des Hirntodkonzeptes beginnen häufig mit der Feststellung, dass bis in die Mitte des 20sten Jahrhunderts die Frage, wann der Mensch tot sei, keine Rolle gespielt habe. Tot sei der Mensch genau dann, wenn sein Herz aufgehört habe zu schlagen, seine Atmung stillstehe, seine Glieder steif und seine Haut blass und von Totenflecken gezeichnet sei. Medizinhistorische Studien zum Sterben belegen jedoch, dass es diese Sicherheit zu keiner Zeit gab.⁵³ Die Frage nach der Grenze zwischen Leben und Tod spielte vielmehr in der abendländischen Medizin bereits seit Hippokrates eine zentrale Rolle. Für die antike Medizin war jedoch nicht das Ende des Sterbeprozesses von Interesse, wie es heute der Fall ist, sondern der Beginn des Sterbens. Denn anders als in der modernen Medizin endete die Aufgabe des Arztes nicht mit dem Tod, „sondern dann, wenn eine Krankheit als tödlich diagnostiziert würde.“⁵⁴ Es ging hier also um die Frage, wann die Bemühungen um eine kurativen Therapie einzustellen seien und man dem Patienten stattdessen in seinem Kampf mit dem Tod zur Seite stehen müsse. Erst ab dem 17. Jahrhundert setzte sukzessive ein Prozess ein, der als Medikalisierung des Todes bezeichnet wird: In der neuzeitlichen Medizin sollte die Verpflichtung des Arztes, das Leben des Patienten zu retten, erst mit seinem letzten Atemzug enden.⁵⁵ Bis Mitte des 19.  Jahrhunderts waren es vorwiegend zwei Interessen, die die Medizin zur der Frage nach dem Tod bewegten: Für die antike Medizin und ihre mittelalterlichen Nachfolger ging es hauptsächlich darum zu klären, wann die Bemühungen um die Heilung des Patienten einzustellen seien. Und die Medizin des 18. Jahrhunderts wollte wissen, wann der Tod mit absoluter Sicherheit eintritt, damit die Diagnose des Todes nicht zur Tötung des Patienten durch seine vorzeitige Bestattung führe.⁵⁶ Erst mit der Medikalisierung des Todes entwickelte sich die Feststellung des Todes nach und nach zum Monopol der Ärzte. Mitte des 19.  Jahrhunderts entstand mit der Herztod-Definition eine Bestimmung des Todes, die beiden Interessen entgegenkam: Mit dem Herz-Kreislaufstillstand und dem Ausfall der Atmung waren der medizinischen Therapie endgültige Grenzen gesetzt und gleichzeitig war man mit

53 54 55 56

Vgl. Manzei (2003), S. 158ff; Lindemann (2003); Stoecker (1999); Wiesemann (2006). Stoecker (1999), S. 27. Vgl. Foucault (1993). Vgl. zur Angst um den Scheintod Bergmann (2004).

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der Feststellung des Herztodes auf der sicheren Seite der Todesdiagnostik. Für beide Interessen, so der Philosoph Hans Jonas, sei es nicht wichtig gewesen zu wissen, „wo die genaue Grenzlinie zwischen Leben und Tod liegt – wir überlassen es der Natur, sie zu überschreiten, wo immer sie sei, oder das ganze Spektrum zu durchqueren, wenn es mehr als eine Linie gibt.“⁵⁷

In der Geschichte der abendländischen Medizin waren es also bis Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem zwei Interessen, die die Frage nach dem Tod bestimmten: zum einen die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt des Behandlungsabbruchs bei Sterbenden und zum andern die Sicherheit, dass der Verstorbene auch wirklich tot sei, damit ihm durch die Verrichtungen, die an ihm vorgenommen werden, nicht doch noch Gewalt geschähe. Diese Interessen änderten sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Hirntodkonzeption: zwar blieb die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt des Behandlungsabbruchs auch hier von Bedeutung, der Wunsch, dem Patienten durch einen Behandlungsabbruch nicht zu schaden, rückte jedoch gegenüber dem Interesse, andere Kranke mit seinen funktionstüchtigen Organen zu versorgen, in den Hintergrund. Diese Umkehrung der Interessen ist für die heutige Diskussion aus zwei Gründen von Bedeutung. Zum einen ist es wichtig daran zu erinnern, dass mit der moralischen Forderung der Sozialpflichtigkeit hirntoter Patienten die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens an ihrem Ende tangiert wird. Zum anderen fand mit der beschriebenen Umkehrung der Interessen im Umgang mit der Grenze zwischen Leben und Tod eine Art Bannbruch statt: In Folge der Hirntoddefinition wurden verschiedene Todesdefinitionen diskutiert, die dem Motto folgten „so tot wie nötig und so lebendig, wie möglich“⁵⁸: Der Todeszeitpunkt wird hier mit dem Argument, möglichst lebensfrische Organe zu erhalten, zunehmend weiter vorgezogen. Fünf Todeskonzepte möchte ich im Folgenden vorstellen, die in der (Transplantations-)Medizin heute noch eine zentrale Rolle spielen. (1) Die Leichenschau: Als sichere Zeichen des bereits eingetretenen Todes werden in der Medizin auch heute noch Leichenflecke, Totenstarre und Fäulnisveränderungen angesehen.⁵⁹ Leichenflecke kommen durch das Absacken des Blutes in die unteren Körperbereiche zustande. Sie treten beidseits des Halses auf und bilden sich dann fortschreitend an den tiefliegenden Körperbereichen aus. Die Totenstarre wird durch Veränderungen der Muskulatur verursacht und breitet sich am Kieferbereich beginnend nach unten aus. Fäulnisveränderungen beginnen mit der Trübung der Horn-

57 Jonas (1987), S. 221. 58 Schneider (1999). 59 Vgl. hierzu Mürbe / Stadler (1989), S. 111.

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häute und Grünverfärbungen im Unterbauchbereich und schreiten umso rascher fort, je höher die Umgebungstemperatur ist.⁶⁰ Bei der Leichenschau, die in Deutschland vor jeder Bestattung zur Feststellung des Todes, der Todesart und Todesursache von einem Mediziner durchgeführt werden muss, spielen diese Kriterien noch heute eine wesentliche Rolle. (2) Vom klinischen Tod oder Herz-Lungentod: Tritt der Tod durch den Atem- und Kreislaufstillstand ein – was in der Folge auch das Absterben des Gehirns nach sich zieht – spricht die Medizin vom klinischen Tod oder Herz-Lungentod. Nach wie vor ist dies bei 99 % aller Sterbenden der Fall. Lediglich bei 1 % aller Fälle tritt der Hirntod vor dem Herztod ein.⁶¹ Wie oben bereits beschrieben, konnte dieser Zustand überhaupt erst mit der medizinischen Möglichkeit zur künstlichen Beatmung auftreten. Denn hinsichtlich der Wiederbelebung ist das Gehirn dasjenige Organ, welches durch Sauerstoffmangel am ehesten irreversible Schäden zurückbehält. (3) Der Ganz-Hirntod: So kann es passieren, dass alle Organe und Körperprozesse, außer dem Gehirn, nach einer Reanimation mit Hilfe der künstlichen Beatmung wieder funktionieren. Dieser Zustand wird dann als Ganz-Hirntod bezeichnet. Die genaue Definition lautet: „Zustand des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktionen des Großhirns, des Kleinhirns und des Stammhirnes, bei einer durch kontrollierte Beatmung noch aufrechterhaltenen HerzKreislauf-Funktion.“⁶²

Der Ganz-Hirntod muss von zwei verschiedenen Ärzten im Abstand von 12 Stunden bei Erwachsenen und 24 Stunden bei Kleinkindern festgestellt werden. Keiner der beiden untersuchenden Mediziner darf an der Organentnahme bzw. -übertragung beteiligt sein (vgl. §§ 4, 5 TPG). Damit soll gewährleistet werden, dass nicht die Transplantationsmediziner auch den Tod des Spenders bescheinigen. Die Diagnose des Hirntodes erfordert es, dass zunächst andere Ursachen eingeschränkter Hirntätigkeit ausgeschlossen werden müssen, wie bspw. zentral dämpfende Medikamente, Unterkühlung oder Kreislaufschock. Darauf folgt die Überprüfung der Kriterien des Hirntodes. Dies sind zuerst die klinischen Symptome, wie die fehlende Spontanatmung (Apnoe), fehlende Reaktion auf Schmerz-, Licht- und Lautreize, das Fehlen jeglicher Reflexe (Areflexie des Stammhirnes). Als ergänzende Befunde kommt evtl. ein Elekt-

60 Ebd. 61 Vgl. Pschyrembel, klinisches Wörterbuch (1982) und Schneider (1999). 62 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, 1991, S. B.2856; Sabine Müller bemerkt dazu: „Auch diese Hirntoddefinition ist keine Ganzhirntoddefinition, denn sie setzt nicht den Ausfall aller Hirnfunktionen voraus, insbesondere nicht den der neuroendokrinen Funktionen der Hirnanhangdrüse (Müller (2010), S. 8.

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roenzephalogramm (0-Linien-EEG) hinzu, das das Fehlen der Hirnströme nachweist. Oder es wird, bei gegebenen Möglichkeiten, zusätzlich eine Kontrastangiographie durchgeführt, das heißt, man weist nach, dass eine Kontrastdarstellung der Hirngefäße nicht möglich ist und kann dann davon ausgehen, dass das Gehirn nicht mehr durchblutet wird. Gerade solche technischen Verfahren sind jedoch nicht obligatorisch, was von Sabine Müller (2010) kritisiert wird. Dieses Vorgehen wurde 1982 vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer zum ersten Mal in Deutschland ausgearbeitet und 1986, 1991 und 1993 den Änderungen der medizinisch-technischen Diagnosemöglichkeiten angepasst⁶³. Die genannten Kriterien dienten als Entscheidungshilfen für die behandelnden Ärzte und besaßen bis zur Verabschiedung des TPG 1997 keine Rechtsverbindlichkeit. Mit dem bundesweit gültigen Transplantationsgesetz von 1997 wird festgelegt, dass diese Kriterien dem jeweiligen Stand des medizinischen Wissens angepasst werden müssen⁶⁴. (4) Vom kortikalen Tod oder Teil-Hirntod: Es kann beispielsweise nach einer Reanimation aber auch vorkommen, dass nicht das ganze Gehirn abstirbt, sondern lediglich ein Teil, und zwar der Teil des Gehirns, welcher am empfindlichsten auf Sauerstoffmangel reagiert. Das ist zunächst der Hirnmantel, wohingegen der Hirnstamm erst ein wenig später reagiert. Der Hirnmantel umfasst die beiden Hemisphären des Endhirns (oder auch Großhirns) mit ihrer Hirnrinde (Neokortex) sowie die Stammganglien und das Riechhirn. Der intakten Struktur der Neokortex (und der beiden Großhirnhälften) werden Funktionen wie Kognition, Denken und bewusstes Erleben zugeschrieben. Der Hirnstamm umfasst die übrigen Hirnabschnitte, also Zwischen-, Mittel-, Hinter und Kleinhirn und das Verlängerte Rückenmark (Medulla oblongata). Im Hirnstamm sind (neben anderen Funktionen) auch das Atem- und Kreislaufzentrum sowie Schluck- und Würgereflexe angesiedelt.⁶⁵ Fällt nach einer Reanimation nur die Hirnrinde irreversibel aus und bleibt das Stammhirn intakt, spricht man vom kortikalen Tod oder Teil-Hirntod. In den USA (und zum Teil auch in den Niederlanden) wurde bereits in den 1990er Jahren das Ganz-Hirntodkonzept in Richtung Teil-Hirntodkonzept aufgeweicht. Mit der Begründung, dass bereits nach dem Absterben der Großhirnrinde die typisch menschlichen Eigenschaften wie Kognition und Bewusstsein unwiederbringlich abhanden gekommen seien, wird die Organentnahme legitimiert, obwohl die vegetativen Funktionen des Hirnstammes noch intakt sind. Dies bedeutet also, dass Atmung, Blutdruck und Temperatur (evtl.) vom Körper eigenständig geregelt werden können. Nach dieser Todesdefinition könnten dann beispielsweise anenzephale Säuglinge, das sind Kinder, die ohne Großhirn geboren werden und meist nur einige Tage bis

63 Vgl. Deutsches Ärzteblatt (1991), Heft 49, S.B.2855 – B.2860. 64 Vgl. § 3 TPG. 65 Vgl. Roth / Dicke (1994), S. 51 – 67, Schneider (1999).

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Wochen leben, zur Organspende und zu wissenschaftlichen Versuchen verwendet werden. Je nach Einschätzung der Reversibilität ihres Zustandes würden dann auch Apalliker (s.o.) und Alzheimerpatienten im Endstadium als Tote definiert. (5) Vom kontrollierten Tod: Eine weitere Todesdefinition wird mit dem Konzept des kontrollierten Todes diskutiert und im weltgrößten Transplantationszentrum in Pittsburgh (USA) seit 1993 auch praktiziert. Bei Patienten im terminalen Stadium einer Krankheit, die zuvor entschieden haben, dass sie keine Intensivtherapie wünschen, wird unter kontrollierten Bedingungen im Operationssaal die künstliche Beatmung zurückgenommen und der dadurch verursachte Herzstillstand abgewartet. Nach Ablauf von weiteren zwei Minuten wird der Tod festgestellt und die Organentnahme beginnt. Bei diesen sogenannten NHBCD’s (Non Heart Beating Cadaver Donors) beginnt die Organentnahme also noch vor dem Hirntod und nach dem vom Patienten gewünschten, von Medizinern kontrolliert verursachten Herztod. Dieses Vorgehen wird in Deutschland bis jetzt noch als aktive Euthanasie gewertet und strafrechtlich verfolgt.⁶⁶ Beachtet man in den verschiedenen Todesdefinitionen die zunehmende Vorverlagerung des Todeszeitpunktes, so verstärkt sich der Eindruck einer von transplantationsmedizinischen Interessen geleiteten Grenzziehung zwischen Leben und Tod.⁶⁷ Interessant im Hinblick auf die heutige Debatte ist, dass in der deutschen Diskussion der strategische Charakter dieser Definitionen von Befürwortern der Organtransplantation zumeist geleugnet wird, während in anderen Ländern offensiv und öffentlich darüber debattiert wird.

66 Vgl. Stapenhorst (1999), S. 66 ff. 67 Wie sehr die Grenze zwischen Leben und Tod durch konkrete Nutzenkriterien für therapeutische Zwecke bestimmt wird, zeigt sich noch einmal besonders bei den Kriterien für die sogenannte Fötalgewebsverpflanzung. Bei bestimmten Erkrankungen des Gehirns, wie bspw. der Schüttellähmung (Parkinsonsche Krankheit), versuchte man in den 1990er Jahren die geschädigten, nicht regenerationsfähigen Hirnzellen durch frische fötale Gehirnzellen zu ersetzen bzw. zu ergänzen. Dies ist natürlich nur mit lebenden Zellen möglich. In der Regel werden hierfür Gehirnzellen von Föten aus Schwangerschaftsabbrüchen verwendet. Insofern kann für Föten nicht der Hirntod als Todeskriterium gelten: Ihr Tod wird wiederum anhand des Nicht-Pulsierens der Nabelschnur festgestellt. Interessant ist hierbei, dass mit diesem Vorgehen die Identitätsvorstellung in Frage gestellt wird, die dem Hirntodkonzept zu Grunde liegt: Denn sofern die Identität eines Menschen, wie dort angenommen, im Gehirn verortet ist, würde der Empfänger der Zellen seine Identität verändern. Vgl. Schneider (1995).

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3 Die aktuelle Debatte in Deutschland und ihr besonderer ethisch-rechtlicher Hintergrund In der aktuellen Debatte wird das Hirntodkonzept nun auf zwei Ebenen erneut in Frage gestellt: Wiederlegt wird zum einen das biologische Integrationsargument: Neue Studien zum Hirntod-Sterben könnten zeigen, dass es keinen kausalen und zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Ausfall des Gehirns und dem Sterben des gesamten Organismus gibt (1). Zum anderen lassen neue technische Verfahren der Bildgebung die gängige Hirntoddiagnostik als unzureichend erscheinen: Mit Hilfe der funktionalen Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) und Positronen-Emissions-Tomografie (PET) lassen sich bei als hirntot diagnostizierten Patienten noch Aktivitäten im Gehirn nachweisen (2). Sollten sich diese Erkenntnisse als richtig erweisen, müssen die medizinischen und juristischen Voraussetzungen der Transplantationsmedizin auch in Deutschland neu geregelt werden.⁶⁸ (1) Während die anthropologische Begründung des Hirntodkonzeptes seit jeher umstritten war – fußt sie doch auf einem Menschenbild, das nur für moderne westliche Gesellschaften tragend ist  – wird in den neuen Studien nun das biologische Integrationsargument widerlegt. Der US-amerikanische Neurologe und Kinderarzt D. Alan Shewmon führte 1998 eine Studie durch, in der er mehr als 12000 medizinische Quellen auf dokumentierte Fälle von Hirntod untersuchte, bei der Patienten das Abschalten der Beatmungsmaschinen länger als eine Woche überlebten hatten. Als verlässlich kamen nur solche Fälle infrage, bei denen die Hirntod-Diagnostik nach medizinischen Kriterien korrekt durchgeführt und dokumentiert worden war.⁶⁹ Insgesamt fand er 175 Fälle, bei denen nach dem Abstellen der Beatmung nicht sofort der Tod eingetreten war. Zwischen Hirntod und Herzstillstand lag vielmehr ein Zeitraum von mehr als einer Woche bis hin zu 14 Jahren.⁷⁰ Das biologische Integrationsargument, die Annahme also, die Integration des Organismus werde durch das Gehirn gesteuert, wird durch diese Fälle widerlegt, indem gezeigt wird, dass ein unmittelbarer zeitlicher und kausaler Zusammenhang zwischen Hirntod und Tod nicht besteht. Unterstützt wird diese Kritik am Hirntodkonzept zudem durch eine Studie, die bis

68 Vgl. Shewman (1998, 2009); Beckermann (2009); Müller (2010). 69 Auf die Frage nach der Validität seiner Untersuchung antwortet Sehwemon: „If patients are ‚brain dead‘ enough to qualify as organ donors, they were surely ‚brain dead‘ enough to qualify for this study. To dismiss the cases as presumptive misdiagnoses would imply that organ donors are also often misdiagnosed and that BD declarations are inherently unreliable.“ (Shewmon (1998), S. 1642). 70 Shewmon (1998), S. 1542: Vgl: auch Shewmon (2006).

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2003 weltweit 10 Fälle dokumentiert, bei denen eine schwangere Hirntote von einem lebenden Kind entbunden wurde.⁷¹ Möglicherweise liegt die Anzahl jener Hirntoten, die nicht tot sind, jedoch noch viel höher. Erforscht werden können ja nur Fälle, bei denen nach Feststellung des Hirntodes keine Organe entnommen werden, da durch die Organentnahme in jedem Fall der Tod eintreten würde. In all jenen Fällen, in denen Organe entnommen werden, ist das Hirntodkonzept also nicht falsifizierbar! Ob Organspender zum Zeitpunkt der Organentnahme lebendig oder tot gewesen seien, ließe sich rückwirkend gar nicht überprüfen, konstatiert deshalb auch das US-amerikanische President´s Council on Bioethics (2008). Es handele sich bei der derzeitigen Verfasstheit des Hirntodkonzeptes vielmehr um eine „selbsterfüllende Prophezeiung“: “As skeptics of today’s neurological standard point out, there are two problems with this assessment. First, improvements in intensive care techniques over the years  – prompted in part by the need for better “donor management” to procure usable organs – have made predictions of maximum survival time for bodies with total brain failure uncertain. Second, in practice, there turn out to be very few situations in which the truth of this matter can be tested. A diagnosis of total brain failure, when leading to a pronouncement of death, is a self-fulfilling prophesy: The patient with that diagnosis will become an organ donor (and the heart will stop in the process), or the ventilator will be withdrawn because it is understood to be “ventilating a corpse.”⁷²

Trotz dieser deutlichen Kritik an der biologischen Begründung des Hirntodkonzepts plädiert die Kommission für die Beibehaltung des Hirntodkriteriums als Entnahmekriterium für Organe. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie die Ad hoc-Kommission von 1968, rechtfertigt sie diese Beibehaltung ausdrücklich mit den Erfordernissen der Transplantationsmedizin.⁷³ „Würde man das Hirntodkriterium aufgeben, dürfte man entweder keine Organe, aus künstlich beatmeten Patienten, deren Herz noch schlägt, entnehmen  – was einen massiven Rückgang qualitativ hochwertiger Organe zur Folge hätte –, oder man müsste die dead donor rule⁷⁴ aufgeben, und beide Optionen seien nicht vertretbar“⁷⁵, fasst Sabine Müller die Argumentation der Kommission zusammen. Da sich die Kommission jedoch sehr wohl bewusst ist, dass eine strategische Begründung des Hirntodkonzeptes mit der Idee der Menschenwürde nicht zu vereinbaren ist⁷⁶, sucht sie die Gleichsetzung des Hirntods mit dem Tod des Menschen durch eine neue naturphilosophische Begründung zu legitimieren. Angelehnt an die

71 Vgl. Müller (2010), S. 9. 72 President’ s Council on Bioethics (2008), 41 f. 73 Ebd., S. 69 – 76. 74 Als dead donor rule wird in der Transplantationsmedizin die Vorschrift bezeichnet, dass lebenswichtige Organe nur toten Menschen entnommen werden dürfen. 75 Müller 2010, S. 11. 76 Ebd., S. 72.

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neue Diskussion um das Hirntodkonzept in Großbritannien plädiert sie dafür, die Atmung sowie die Interaktionsfähigkeit mit der Umgebung als biologische Kriterien des Lebens von Organismen (und damit auch des Menschen) anzusehen.⁷⁷ Beides seien in der jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes breit akzeptierte Kriterien des Lebendigen. Mit dieser naturphilosophischen Begründung sind jedoch im Kern die gleichen Probleme verbunden, die schon für das anthropologische oder Bewusstseinsargument galten.⁷⁸ Erstens handelt es sich um eine spezifisch westliche Deutung, die kulturell keineswegs von allen Gesellschaften, in denen Organe transplantiert werden, geteilt wird.⁷⁹ Zweitens würde sie bestimmte menschliche Existenzweisen, denen wir Schutzwürdigkeit im Sinne der Menschenwürde zuerkennen – wie Embryonen oder Locked-In-Patienten – ausschließen. Drittens gibt es außer dem irreversiblen Koma viele andere Erkrankungen, bei denen die Atmung und die (biologische) Interaktionsfähigkeit nur mit technischen Mittel aufrechterhalten werden können, ohne dass die betroffenen Patienten deshalb als tot erachtet würden, wie beatmete und reanimierte Patienten, Patienten mit Herzschrittmachern, Dialysepatienten, extreme Frühgeburten u.a. m. Bei diesen und vielen anderen Erkrankungen ist die Technik grade kein Argument für den Tod, sondern muss als Erweiterung und Ermöglichungsbedingung des Lebendigen begriffen werden.⁸⁰ Anders als das Council on Bioethics sieht der renommierte deutsche Philosoph und Bioethiker Dieter Birnbacher die Aufgabe der dead donor rule durchaus als ethisch vertretbar an. Während Birnbacher als langjähriges Mitglied der Ethikkommission der Bundesärztekammer die Gleichsetzung von Hirntod und Tod im Vorfeld der Transplantationsgesetzgebung 1997 noch offensiv verteidigt hatte⁸¹, sieht er die neuen Forschungen zum Hirntod heute als zwingenden Grund an, seine bisherige Befürwortung des Hirntodkonzeptes zu überdenken. Das Hirntodkriterium sei kein Kriterium für den Tod, sondern lediglich für den mentalen Tod, konstatiert er. Statt Hirntote entgegen der „empirischen Evidenzen“ für tot zu erklären, fordert er die Aufgabe der dead donor rule. Man könne, so schlägt er vor, das Hirntodkonzept als Kriterium der Organentnahme beibehalten, weil das bewusste Leben in ethischer Hinsicht einen höheren Wert und eine höhere Schutzwürdigkeit habe als das unbewusste. Hirntote seien dann als unheilbar kranke, sterbende Menschen anzusehen, denen man, sofern sie zu Lebzeiten zugestimmt hätten, Organe entnehmen dürfe.⁸²

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Ebd., S. 65 ff. Vgl. Kap. 2.3 (1). Vgl. LaFleur (2006). Vgl. dazu ausführlich Manzei (2003). Vgl. Birnbacher (1994). Vgl. Birnbacher (2007).

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Eine solche Regelung wäre jedoch aus zwei Gründen problematisch. Zum einen würde sie der in Deutschland bisher noch verbotenen aktiven Sterbehilfe entgegenstehen. Denn lebensfrische Organe, wie sie die Transplantationsmedizin braucht, könnten in diesem Fall nur unter der Bedingung des medizinisch bewusst herbeigeführten „kontrollierten Todes“ im Operationssaal entnommen werden, wie er in den USA und einigen anderen europäischen Ländern bereits praktiziert wird.⁸³ Zum anderen sind mit der Abstufung der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens nach bestimmten Eigenschaften – wie Birnbacher sie hier vornimmt – weitreichende ethische Probleme verbunden. Ob Bewusstsein, Kognition oder Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit, jede Zuschreibung von Eigenschaften als genuin menschlich birgt die Gefahr, all jenen die menschliche Würde abzusprechen, die über diese Eigenschaften nicht verfügen. Mit gutem Grund ist das Prinzip der Menschenwürde deshalb ja auch universell gedacht. Es gilt für alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Eigenschaften oder Kompetenzen. Dass Birnbacher die Möglichkeit der Organspende nach „medizinisch assistiertem Suizid“ jedoch überhaupt in die Debatte bringt und damit auch Gehör findet, scheint mir symptomatisch für die derzeitige Debatte zu sein. Der aktuelle Diskurs scheint mir offener für (zumindest) die Denk-Möglichkeit dieser Alternative zu sein, als es die Debatte in den 1990er Jahren war. Der entscheidende gesellschaftspolitische Grund für diese Öffnung liegt dabei meines Erachtens in der gewachsenen Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Patienten, für die die Hirntod-Debatte der 1990er Jahre sogar eine konstitutive Rolle spielte: In den medizinethischen Debatten der Nachkriegszeit war diese Debatte die erste, in der das Selbstbestimmungsrecht des Patienten neben dem Argument der Menschenwürde als moralischer und juristischer Maßstab vehement einfordert wurde.⁸⁴ Seither hat das Prinzip des Informed Consent als Entscheidungsgrundlage in der Medizin zunehmend an Bedeutung gewonnen. Hinzu kommt, dass aktive Sterbehilfe und assistierter Suizid in verschiedenen europäischen Nachbarländern seither in zu einer akzeptierten und gesetzlich geregelten Praxis geworden sind und auch in Deutschland im Vorfeld des neuen Betreuungsgesetzes von 2009 offensiv über Fragen der Sterbehilfe diskutiert wurde. Obwohl jegliche Form der Sterbehilfe auf der Jahreshauptversammlung der Bundesärztekammer im Mai 2011 noch abgelehnt wurde⁸⁵, halte ich es deshalb für sehr wahrscheinlich, dass im Rahmen der neu aufkommenden Hirntod-Debatte über die Möglichkeit des kontrollierten Todes bzw. assistierten Suizids zum Zwecke der Organentnahme auch in Deutschland offensiv diskutiert werden wird.

83 Vgl. Abschnitt 2.4 (5). Welche gesellschaftlichen Konsequenzen mit einer solchen Praxis verbunden wären hat Nini Holmquist (2008) literarisch ausgearbeitet. 84 Vgl. Schneider (1999). 85 Vgl. die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung vom 17. Februar 2011, besucht am 18.3.2012: http: // www.bundesaerztekammer.de / page.asp?his=2.60.3698.3699.

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(2) Die zweite Kritik in der aktuellen Hirntoddebatte richtet sich auf die derzeit praktizierten Diagnoseverfahren. Neue technische Verfahren der funktionellen Bildgebung lassen die gängige Hirntoddiagnostik als unzureichend erscheinen, um den vollständigen Ausfall aller Gehirnfunktionen zu messen. Im Bereich der Computertomografie beispielsweise wurden nuklearmedizinische Verfahren entwickelt, die nicht nur anatomische Strukturen, sondern auch physiologische Prozesse abbilden können.⁸⁶ Bei Patienten mit apallischem Syndrom konnte so eine zumindest halb so große Hirnstoffwechselaktivität wie bei gesunden Patienten nachgewiesen werden und in der Großhirnrinde waren sogar Reaktionen auf Schmerzreize nachweisbar. Mit der klinischen Diagnostik, die heute im Rahmen der Hirntoddiagnostik obligatorisch ist, werden solche Prozesse nicht erfasst und können insofern für Hirntote nicht ausgeschlossen werden.⁸⁷ Möglicherweise erklären sich hierdurch verschiedene, in der Fachliteratur benannte Fälle, die klinisch zwar als hirntot diagnostiziert wurden, bei denen aber mit apparativer Diagnostik eine Durchblutung des Gehirns nachgewiesen werden konnte.⁸⁸ Damit ließe sich dann auch erklären, warum bei hirntoten Patienten während der Organentnahme Blutdruck und Herzfrequenz sprunghaft ansteigen und auch die Konzentration der Stresshormone im Blut zunimmt. Britische Narkoseärzte forderten aufgrund dieser Schmerzreaktionen bereits vor 10 Jahren, Organspender bei der Entnahme zu narkotisieren. So ließe sich vermeiden, dass die Organspender Schmerzen empfinden und vor allem ließe sich verhindern, dass sich das Pflegepersonal weigere, bei der Organentnahme zu assistieren.⁸⁹

4 Ein Tabuthema: Probleme der Organtransplantation Während also die Problematik des Hirntodkonzeptes weltweit erneut diskutiert wird und sukzessive auch in die politische Debatte in Deutschland vordringt, wird die Organersatztherapie als medizinische Behandlung kaum hinterfragt. Selbst jenen, die das Hirntodkonzept ablehnen, gilt sie als unbestritten sinnvoll und alternativlos. Und anders, als es bei anderen bio- und medizintechnologischen und pharmakologischen Verfahren mittlerweile Usus ist, wird die Praxis der Organtransplantation auch

86 Vgl. Müller (2010), S. 11 ff. 87 Vgl. Bundesärztekammer (1998). 88 Vgl. Müller (2010), S. 14. 89 „Nurses get really, really upset. You stick the knife in and the pulse and blood pressure shoot up. […] If you don’t give anything at all, the patient will start moving and wriggling around and it is impossible to do the operation“ zitiert Sabine Müller den britischen Anästhesisten Philip Keep (Müller (2010), S. 14).

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keiner Evaluation durch staatliche Prüfungsinstitutionen unterzogen, wie beispielsweise durch das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) oder das TAB (Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestages). Es scheint, als sei die Therapie des Organersatzes per se von jeglicher Überprüfung und Kritik ausgenommen. Schon Anfang der 1990er Jahre jedoch erschienen verschiedene techniksoziologische und gesundheitswissenschaftliche Studien, die in der Organisation und Funktionsweise des Transplantationssystems erhebliche Mängel nachweisen konnten.⁹⁰ Viele der dort beschriebenen Funktionsdefizite sind bis heute nicht behoben, bzw. haben sich zum Teil sogar noch verschärft. Im Folgenden möchte ich einige der aktuellen Probleme beschreiben, die der Organersatztherapie inhärent sind, um abschließend verdeutlichen zu können, dass nicht nur die Infragestellung des Hirntodkonzeptes ein Nachdenken über Alternativen zur Organtransplantationsmedizin erforderlich macht. Als zentraler Grund für eine fehlende sachliche Auseinandersetzung mit der Organersatztherapie ist vorab der extreme moralische Druck zu nennen, der im Organspendediskurs erzeugt wird. Wenn in den Printmedien bzw. Funk oder Fernsehen über Transplantationsmedizin berichtet wird, steht in nahezu allen Berichten das „Problem des Organmangels“ im Zentrum.⁹¹ Es gebe in Deutschland, so heißt es, „12000“ Kranke auf der „Warteliste“, deren „Leben durch ein Spenderorgan gerettet“ werden könne. Leider gebe es jedoch viel zu wenig Menschen, die „nach ihrem Tod“ ihre Organe spenden würden. Zumeist folgt dann eine Diskussion verschiedener Vorschläge, wie die Spenderate der „postmortalen Organspende“ zu erhöhen sei.⁹²

90 Vgl. Feuerstein (1995), Jörges (1996). 91 Anders sieht es im Internet aus. Hier gibt es vielfältige differenzierte Auseinandersetzungen von zivilgesellschaftlichen Akteuren aller politischen Richtungen: Ärzten, Pflegepersonal, Angehörigen hirntoter Spender, zum Teil ranghoher Mitglieder christlicher Kirchen und anderer Religionen, investigativ arbeitenden Journalisten, Juristen u.v.a.m. Durch diese Internetdebatten wird m.E. ein nicht unerheblicher Druck auf den reduktionistischen Diskurs in den klassischen Medien ausgeübt, der auch dazu beigetragen hat, die Hirntoddebatte wieder aufzuwerfen. Vgl. einige gut recherchierte Websites: http: // www.bioskop-forum.de oder http: // www.initiative-kao.de / kao-themen-hirntodfakten.html oder http: // www.organspende-aufklärung.de oder http: // www.silvia-matthies.de, besucht am 02.04.2012. 92 Vgl. stellvertretend den Artikel von Dagmar Rosenfeld in „Die Zeit“ vom 10.3.2012: http: // www.zeit.de / 2012 / 11 / P-Organspende (besucht am 2.04.2012). Größtenteils sind in den Tagesund Wochenzeitungen die Beiträge in Wortwahl und Sprachduktus sogar weitgehend mit den Werbetexten der Stiftung Organtransplantation identisch (http: // www.dso.de). Ausnahmen bilden nur selten linke oder sich gesellschaftskritisch verstehende Zeitungen, wie die TAZ, der „Freitag“ oder die „Junge Welt“ und schon gar nicht auflagenstarke Organe wie „Die Zeit“ oder die „Süddeutsche Zeitung“, sondern eher die katholische Tageszeitung „Die Tagespost“. Hier wird seit langem differenziert und durch prominente Autoren über die vielfältigen Probleme der Organtransplantation berichtet. Vgl. http: // www.die-tagespost.de, besucht am 02.04.2012.

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Das Problem an dieser Darstellung ist nun nicht, dass auf die tatsächlich existierende eklatante Unterversorgung der Patienten in der Transplantationsmedizin verwiesen wird. Dass eine solche existiert und dass sie einer dringenden nachhaltigen Lösung bedarf, ist unbenommen! Problematisch ist vielmehr, dass die Unterversorgung auf eine einzige Ursache zurückgeführt wird  – nämlich die mangelnde Spendebereitschaft der Bevölkerung bei „postmortalen Organspenden“ –, und dass kolportiert wird, die Unterversorgung ließe sich durch eine Erhöhung der Spendebereitschaft beheben. Durch diese Argumentation wird zum einen verschleiert, dass es in der Transplantationsmedizin eine Unter- und Fehlversorgung der Patienten gibt, die vielfältige Ursachen hat und als „Organmangelproblem“ nur unzureichend beschrieben ist. Diese Unter- und Fehlversorgung lässt sich durch eine Erhöhung „postmortater Spenderzahlen“ gerade nicht nachhaltig beheben, wie die Beschreibung der zugrunde liegenden Probleme im Folgenden zeigt. Zum anderen werden die vielfältigen Probleme der Organersatztherapie dem angeblich moralischen Fehlverhalten Einzelner angelastet. Die Versorgungsprobleme der Organersatztherapie werden dadurch auf eine private, moralische Ebene verschoben und als individuelle Schuld rekonstruiert: Wer seine Organe nicht spende, obwohl er sie „nach dem Tod“ nicht mehr brauche, mache sich schuldig am Tod der Patienten, so lautet die implizite Botschaft. Diese extreme Schuldzuweisung erzeugt einen derartigen moralischen Druck, dass der behauptete Zusammenhang zwischen der Unterversorgung und der „mangelnden Spendebereitschaft“ kaum öffentlich hinterfragt wird. Sieht man sich jedoch die wenigen vorhandenen statistischen Daten zur Anzahl gemeldeter und potentieller Hirntoter an (denn nur die sind es ja, die für eine sogenannte postmortale Organspende in Frage kommen!), dann zeigt sich, dass die Anzahl der Hirntoten niemals ausreichen würde und auch noch niemals ausgereicht hat, um den Organbedarf der Transplantationsmedizin zu decken. Für 2001 beschreibt die Deutsche Stiftung Organtransplantation eine Differenz zwischen „gespendeten Organen“ und „gemeldeten Organspendern“ von 580.⁹³ Selbst wenn die Anzahl potentieller Hirntoter höher liegen mag – gesicherte Daten hierzu gibt es nicht, im Internet kursieren Zahlen, die von ca. 4000 potenziellen „postmortalen Spendern“ ausgehen – und selbst wenn alle entnommenen Organe in operablem Zustand und mit den Empfängerkörpern kompatibel wären, gäbe es nicht ausreichend Organe. Vor diesem Hintergrund muss die mittlerweile von allen Parteien getragene Initiative zur Änderung des Transplantationsgesetzes hin zu einer Entscheidungslösung⁹⁴ als unzulänglich gewertet werden, um das Problem der Unterversorgung zu lösen. Mehr

93 Vgl. www.dso.de, besucht am 02.04.2012. 94 Vergleiche Fußnote 19.

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noch: Die tatsächlichen Ursachen des steigenden Organbedarfs in der Transplantationsmedizin werden verschleiert. Als einer der Gründe für den steigenden Organbedarf wäre vielmehr u.a. die steigende Re-Transplantationsrate in Deutschland zu nennen: Patienten, die einmal ein Spenderorgan bekommen haben, werden nach der Abstoßung (bei Nieren) oder bei Gefahr der Abstoßung (z.B. Herz) bevorzugt erneut auf die Warteliste gesetzt. Neuere Studien gehen von bis zu sieben Re-Transplantationen in Deutschland aus⁹⁵. Darüber hinaus werden zunehmend mehr Krankheiten als durch Organersatz zu heilen angesehen und die Altersgrenze für Organtransplantationen verschiebt sich – dank verbesserter Möglichkeiten der Immunsuppression und Gesundheitsversorgung – nach oben.⁹⁶ Diese und andere „systemimmanente Ursachen“ des steigenden Organbedarfs, die Günter Feuerstein⁹⁷ schon Mitte der 1990er Jahre beschrieben hat, haben sich in den letzten Jahren noch einmal verstärkt.⁹⁸ Es sind, so ließe sich verkürzt sagen, gerade auch die Erfolge der Transplantationsmedizin, die zu einem steigenden Bedarf an Organen führen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, dass die Lebendspende in der Transplantationsmedizin verstärkt umworben wird. Gerade auch viele Kritiker des Hirntodkonzeptes sehen in der Lebendspende eine zukunftsfähige Lösungsstrategie, um den Organbedarf der Transplantationsmedizin zu decken. Übersehen wird dabei, dass insbesondere auch die Lebendspende mit schwerwiegenden medizinischen und ethischen Problemen behaftet ist. Zum einen erfordert die Spende von Nieren, Leber- oder Lungenteilen einen operativen Eingriff am gesunden Menschen, der nicht seiner eigenen Person, sondern Dritten dient und oftmals dauerhafte Gesundheitsschäden nach sich zieht.⁹⁹ Zum anderen wird durch die öffentlich forcierte Praxis der Lebendspende ein moralischer Anspruch auf den Körper des Anderen (zumeist nahen Verwandten oder Bekannten) aufgebaut, der nicht nur die Beziehungsstruktur von Paaren und betroffenen Familien schwer belastet.¹⁰⁰ Eine solche Anspruchshaltung würde – falls sie nicht nur als Ausnahme, sondern als regelrechte medizinische Therapie etabliert würde – auch gegen die Art. 1 und 2 unseres Grundgesetzes verstoßen. Jeder und jede hätte seine / ihre körperliche Integrität und Gesundheit gegenüber den Ansprüchen der Transplantationsmedizin zu verteidigen. Übersehen würde dabei auch  – und das ist abschließend unbedingt festzuhalten  – dass die Therapie des Organersatzes auch für die Empfänger mit schwerwie-

95 Vgl. Motakef (2011). 96 Kaum thematisiert werden auch die mit dieser Entwicklung verbundenen „Verteilungsprobleme“, deren Lösung bisher den überwiegend den jeweils verantwortlichen Ärzten angelastet wird. 97 Feuerstein (1995). 98 Vgl. Baureithel / Bergmann (1999), Manzei (2003), Motakef (2011). 99 Für die die eigene Krankenversicherung oftmals nicht aufkommt, da die Kassen davon ausgehen, dass hier eine bewusst herbeigeführte Selbstschädigung des Kranken vorliegt. 100 Vgl. Winter / Decker (2006).

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genden medizinischen Problemen behaftet ist und dass die Betroffenen danach keineswegs gesund sind. Zwar ist für viele mit der Organtransplantation ein Zugewinn an Lebensqualität und Lebenszeit verbunden, gesund sind die Betroffenen jedoch nicht. Im Gegenteil: Da immer noch alle Organe, die von nicht-verwandten Spendern stammen, vom Empfängerkörper abgestoßen werden, müssen Organempfänger ihr Leben lang Medikamente schlucken, die ihr Abwehrsystem schwächen, sogenannte Immunsuppressiva. Folge ist ein durch die Medikamente bedingtes erhöhtes Krebsrisiko, eine erhöhte Infektanfälligkeit und daraus resultierende, zum Teil schwerwiegende Folgeerkrankungen (wie Lungenentzündungen und andere systemische Infekte) und nicht zuletzt eine Schädigung der Organe selbst, wie der Neurologe Andreas Zieger schreibt.¹⁰¹ Zieger u.a. weisen ebenfalls daraufhin, dass Organtransplantationen für die Betroffenen eine extreme psychische Belastung darstellen. Das gehäufte Auftreten von Ängsten, Depression und Identitätsstörungen hat sogar zur Institutionalisierung eines eigenen Zweigs der Psychiatrie geführt, der Organtransplantation Psychiatry. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy, der schon seit vielen Jahren mit einem transplantierten Herzen lebt, beschreibt diese Belastung in seinem Buch Der Eindringling. Das fremde Herz (2000) sehr eindrücklich: „Von Schmerz zu Schmerz, von Fremdheit zu Fremdheit ist – bin – „ich“ am Ende nichts als ein dünner Faden. Man gelangt an einen Punkt, an dem das wiederholte Eindringen einen Zusammenhang bildet, eine fortbestehende Ordnung des Eindringens. Zu der ganz und gar alltäglich gewordenen Einnahme von Medikamenten und den Kontrolluntersuchungen im Krankenhaus kommen die Auswirkungen der Radiotherapie auf die Zähne hinzu, der Verlust des Speichels, die Überwachung der Nahrung und der ansteckenden Berührungen, die Schwächung der Muskeln und Nieren, die Verminderung des Erinnerungsvermögens und der Arbeitskraft, die Lektüre der Analysen und ihrer Ergebnisse, die heimtückische Rückkehr der Schleimhautentzündung, der Candidose, der Polyneuritis, das allgemeine Gefühl, nicht mehr von einem Netz unterscheidbar zu sein, welches Maßnahmen und Beobachtungen spinnen, chemische, institutionelle und symbolische Verbindungen, die nicht unbemerkt bleiben können, wie jene des gemeinen Lebens […]. Ich bin nun mehr unablösbar von einer polymorphen Auflösung. […] Mein Herz ist zwanzig Jahre jünger als ich, der Rest meines Körpers (mindestens) ein dutzend Jahre älter. Gleichzeitig verjüngt und gealtert habe ich kein eigenes angemessenes Alter mehr, bin eigentlich alterslos. Auch habe ich nicht länger einen wirklichen Beruf, ohne bereits im Ruhestand zu sein. Ich bin nichts von dem, was ich sein soll (Ehemann, Vater, Großvater, Freund), ich bin es nur unter der recht allgemeinen Bedingung des Eindringlings, unter der Bedingung verschiedener Eindringlinge, die in meinem Verhältnis zum anderen oder in der Vorstellung des anderen meinen Platz in jedem Augenblick einnehmen können.“¹⁰²

In der Regel wird dem Hinweis auf die Belastung, die mit Organtransplantationen auch für die Empfänger verbunden ist, mit dem Argument begegnet: Immerhin gehe es den transplantierten Patienten hinterher besser als vorher, bzw. schließlich sei ihr

101 Vgl. www.a-zieger.de, besucht am 02.04.2012.; vgl. auch Stapenhorst (1999); Manzei (2003). 102 Nancy (2000), 43 ff.

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Leben gerettet worden. Das Nancy-Zitat macht jedoch nachdrücklich deutlich, dass eine solche „Schwarz-Weiß-Logik“ der Lebenswirklichkeit transplantierter Patienten nicht angemessen ist. Darüber hinaus ist das Argument in seinem Kern banal und gilt für alle medizinischen Therapien: Dass es einem Patienten nach der Behandlung besser gehen sollte als vorher, versteht sich von selbst; die Abwehr von Kritik an schwerwiegenden Nebenwirkungen wird dadurch nicht gerechtfertigt. Für die Organersatztherapie wäre vielmehr – wie für alle anderen medizinischen Therapien auch – zu fordern, dass sie sich einer sachlichen Evaluation zu unterziehen hätte und dass – nicht zuletzt wegen des sich verschärfenden Problems fehlender Organe – technologiepolitisch verstärkt über alternative Therapien nachgedacht werden müsste. Angesichts der Tatsache, dass es überwiegend sogenannte Zivilisations- und Suchtkrankheiten sind, die in ihren Spätfolgen durch Organverpflanzungen therapiert werden, wäre hier sowohl die Förderung von Präventionsmaßnahmen als auch von alternativen medizinischen Therapien ins Auge zu fassen.

5 Fazit Anfang März 2012 spitzten sich beide hier beschriebenen Debatten zu  – die Infragestellung des Hirntodkonzepts auf der einen Seite und der von dieser Diskussion scheinbar gänzlich unbeeinflusste politische Versuch, die Zahl „postmortaler Organspenden“ durch die Novellierung des Transplantationsgesetzes zu erhöhen, auf der anderen Seite. In der neuen Hirntoddebatte wurde die Gleichsetzung von Hirntod und Tod durch wissenschaftliche, medizinische, juristische und kirchliche Experten so massiv in Frage gestellt, dass der Deutsche Ethikrat das Thema in einer öffentlichen Veranstaltung am 21. März 2012 aufgriff und erneut die Frage stellte, ob hirntote Patienten tatsächlich tot seien. Unbeeinflusst davon wurde das Gesetz für die Novellierung des Transplantationsgesetzes im Bundestag und Bundesrat verabschiedet. Mit dieser Änderung des Transplantationsgesetzes wird die Förderung der Organspende gesetzlich festgeschrieben. Dafür soll jede Bürgerin und jeder Bürger regelmäßig angeschrieben und zur Auseinandersetzung mit der Frage angehalten werden, ob er bzw. sie sich zur Organspende „nach dem Tod“ bereiterkläre. Ziel sei es, eine informierte und unabhängige Entscheidung jedes Einzelnen auf der Basis einer breiten Aufklärung zu ermöglichen. Dabei soll sich die Aufklärung jedoch auf die Möglichkeiten der Organund Gewebespende und ihre Voraussetzungen bei „toten Spendern“ beschränken. Die Infragestellung des Hirntodkonzeptes, welches ja die medizinische und rechtli-

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che Voraussetzung der „postmortalen Organspende“ darstellt, wird mit keinem Wort erwähnt.¹⁰³ Wie die politische Diskussion in Deutschland weiter verläuft, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen. Ich vermute jedoch, dass sich die in vielen europäischen Ländern und den USA offen geführte Debatte um das Hirntodkonzept in Zeiten des Internet nicht auf die Dauer aus der öffentlichen Diskussion in Deutschland heraushalten lässt. Wenn es auch hierzulande zu einer öffentlichen Revision des Hirntodkonzeptes kommen sollte, ist zu befürchten, dass die „neuen Modi“ der Organbeschaffung durch aktive Sterbehilfe / assistierten Suizid auch hier gesellschaftsfähig werden. Eine sachliche und offene Diskussion um das Für und Wider der Organersatztherapie oder gar eine fundierte Evaluation durch staatliche Institutionen, wie das TAB oder das IQWiG ist in nächster Zukunft meines Erachtens leider nicht zu erwarten. Sicher ist jedoch, dass es weder ethisch noch medizinisch förderlich ist, die jetzt wieder aufgeworfene Problematik des Hirntodkonzeptes unter der Decke zu halten – schon gar nicht dient ein solches Schweigen den schwerkranken Patienten und ihren Angehörigen, die von den Versorgungsmängeln der Transplantationsmedizin betroffen sind. Auch hier wäre vielmehr eine offene und sachliche Debatte zu fordern, die ohne moralische Schuldzuweisungen an die Bevölkerung auskommt. Denn im Kern geht es in dieser Debatte nicht nur um die Themen Hirntod und Organspende. Es geht vielmehr um elementare Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wie wollen wir mit kranken und sterbenden Menschen umgehen? Wie mit Gesunden? Dürfen wir Begehrlichkeiten wecken, die gesunde Menschen dem moralischen Anspruch aussetzen, Teile ihres Körpers spenden zu sollen? Welche Folgen hat das für Verwandtschaftsbeziehungen und Partnerschaften? Welchen medizinischen Fortschritt wir wollen und wie er sich unter den gegebenen gesundheitspolitischen Bedingungen gestalten lässt, ist keine Frage, die von Experten entschieden werden darf. Vielmehr ist eine breite öffentliche und offene Debatte zu fordern, die sich weder auf Expertengremien beschränkt noch unliebsame Argumente von vorne herein ausgrenzt. Nur so kann vermieden werden, dass der Eindruck entsteht, als sollten bestimmte Interessengruppen bedient oder demokratische Willensbildungsprozesse unterlaufen werden.

103 Wie die Tagespost schreibt, der der Entwurf nach eigenen Angaben vorliegt. Vgl. Die Tagespost vom 14.03.2012; der Entwurf passierte mit diesem Inhalt Bundestag und Bundesrat.

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Michael Anderheiden

1.10 Die letzten Schritte des Dionys oder: Hat das Recht gute Gründe, vom Hirntodkonzept zu lassen? Abstract: Der Beitrag untersucht die rechtlichen Bestimmungen des Todes. Er geht auf Todesdefinitionen, Todeskriterien und Feststellungsverfahren auf den unterschiedlichen Ebenen des Rechts ein, vom Verfassungsrecht bis zur standesrechtlichen Selbstverpflichtung (unter Einschluss international-rechtlicher Vorgaben). Er zeigt, welche Gruppen (Volk und seine parlamentarischen Vertreter, Experten verschiedener Wissenschaften) auf welcher Ebene die führende Rolle spielen: Mediziner bei der Festlegung von Verfahren der Todesfeststellung und Juristen bei der Argumentation, welche Todeskriterien den geltenden Gesetzen am besten genügen. Schließlich argumentiert der Beitrag dafür, dass es letztlich der parlamentarische Gesetzgebersein sein muss, der im Einklang mit der Verfassung unter Beachtung der natürlichen Verläufe die Abgrenzung von Leben und Tod vornimmt. Dabei zeichnet das Grundgesetz selbst Kriterien der Abgrenzung von Leben und Tod vor. Der Beitrag gibt dabei der Überzeugung des Verfassers Ausdruck, dass dies nicht Herz-Kreislaufkriterien, sondern (Ganz)Hirntodkriterien sind. The article describes the legal discussions about “death”, summarizing arguments on all levels of law about the concept of death, the different definitions of death, and the methods used to establish the death of a person. It centres on the national German legal discussion, but includes, when necessary, the international debate on these topics. The author purports to show which subject is mainly responsible for establishing the concept of death (the public at large and its democratic representatives), the different conceps enshrined in the legal codes (lawyers), and the methods used to establish the death of a single person (physicians). Finally, the article focuses on the argument, that it must be parliament itself, and no other body, which has to define the line between life and death, in accordance with the national constitution and the limitations set by nature. The German Grundgesetz (constitution) itself outlines criteria for the line between life and death. Finally, the author wishes to establish that these criteria favour (whole) brain death conceptions over all other conceptions of death Keywords: Begriff des Todes; Ganzhirntod; Herz-Kreislauftod; Todeskriterien; Feststellung des Todes; Integrationsfähigkeit des Körpers; Gehirn; Rolle für Sterben; Blut, Rolle für Sterben; Beatmung

Prof. Dr. Michael Anderheiden, [email protected], Juristisches Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

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1 Die alte Debatte Die Schlacht schien geschlagen: Mit ganz wenigen, persistenten Ausnahmen¹ hatte sich die deutsche Staatsrechtslehre auf den Hirntod als Kriterium des Todes festgelegt, genauer den „Ganzhirntod“, das ist der² „Zustand des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktionen des Großhirns, des Kleinhirns und des Stammhirnes, bei einer durch kontrollierte Beatmung noch aufrechterhaltenen HerzKreislauf-Funktion.“³

Diese Auffassung schien nicht nur mit dem Verfassungsrecht besonders gut vereinbar, sondern stimmte auch mit den einfachgesetzlichen Vorgaben des § 3 Absatz 1 Nr. 1 und Absatz 2 Nr. 2 Transplantationsgesetz⁴ überein. Nicht, dass es auf die Übereinstimmung des Grundgesetzes mit einem einfachen Parlamentsgesetz ankommt, nur umgekehrt wird ein Schuh daraus. Aber ohne Not sollte sich das Verfassungsrecht nicht dem Willen des Gesetzgebers entgegenstellen. Solche Not herrscht nur, wo das Grundgesetz eindeutig den vom Gesetzgeber intendierten Inhalt verbietet. Verfassungsrechtler sahen sich in der ganz überwiegenden Zahl aber nicht gezwungen, dem Ganzhirntodkriterium abzuschwören und das Kriterium des Herz-Kreislauftodes als einzig denkbares Todeskriterium anzuerkennen. In den letzten Jahren ist die Diskussion um die (Ganz)Hirntodkonzeption wieder etwas lebhafter geworden. Bevor der Beitrag sich dieser Diskussion zuwendet (2) sei zunächst das zuvor erreichte Ergebnis dargestellt.

1 Als Erster wohl der Strafrechtler Gerd Geilen, der sich bereits unmittelbar nach den ersten Herz- und Lebertransplantationen 1968 bzw. 1971 zu Wort meldete und seine Auffassung zusammenfasst in; Geilen (1972), seine weitere Entwicklung und die sehr begrenzte Verbreitung der Kritik am „Hirntod“ in der Zeit bis 1995 bei Rixen (1999), S. 162 – 166, dort vor allem die Schilderung der Entwicklung der Ansichten des wirkmächtigen Strafrechtskommentators Herbert Tröndle. (Auf den Hirntod als Todeskriterium stellt dagegen sein Nachfolger als Kommentator ab: Fischer (2011), Rn. 14 – 16 vor § 211 StGB.) Ab 1995 dann vor allem: Höfling (1995), zweifelnd: H.-U. Gallwas (1996), S. 851; E. Schmidt-Jorzig, wiewohl Staatsrechtler, hat sich eindeutig nur als Abgeordneter des Deutschen Bundestages positioniert, s. die Nachweise bei Rixen, s. S. 151 mit Fn. 561. Schließlich Rixen (1999), S. 247 ff., selbst. 2 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (1997), Heft 49, B.2856. 3 S. Müller bemerkt dazu: „Auch diese Hirntoddefinition ist keine Ganzhirntoddefinition, denn sie setzt nicht den Ausfall aller Hirnfunktionen voraus, insbesondere nicht den der neuroendokrinen Funktionen der Hirnanhangdrüse (Müller 2010, 8). 4 Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und Geweben (Transplantationsgesetz) vom 5. November 1997 (Bundesgesetzblatt Teil I, S. 2631), neu bekanntgemacht am 4. September 2007, BGBl. I , S. 2206, zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. Juli 2009, BGBl. I, S. 1990); eine weitere Änderung des Gesetzes, die eine sog. „Entscheidungslösung“ enthalten soll, wird derzeit im Parlament beraten. Es gebe genügend weitere Gründe, das Gesetz zu überarbeiten, Gutmann (2006).

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1.1 Einigkeit der Lager 1.1.1 Praktische Relevanz Im Grundsatz herrscht weitgehende Einigkeit: In über 99 % aller Fälle, in denen Menschen sterben, ist das zugrunde liegende Todeskriterium gleichgültig, weil in diesen Fällen nach allen derzeit vertretenen Todeskriterien, also Ganzhirntod, Teilhirntod und Herz-Kreislauftod, der Tod eingetreten ist, ohne dass es auf eine nähere Bestimmung ankäme.⁵ Auch ist anerkannt, dass die Festlegung auf ein Todeskriterium nichts mit Lebensverkürzung zu tun hat, weil meist der Herz-Kreislauftod, in seltenen Fällen aber der (Ganz oder Teil)Hirntod dem Versagen des Herz-Kreislaufsystems vorausgeht.⁶ Selbst in den Fällen der postmortalen Organspender wird durchgängig betont, dass sie ohne Betreuung hin zur Organspende kürzer gelebt hätten, unabhängig von allen Todeskriterien. Der Streit um das beste Todeskriterium hat nichts mit der Beschleunigung des Sterbens zu tun.

1.1.2 Zelle, Organ, Mensch In einem zweiten Schritt herrscht auch Einigkeit darin, dass der individuelle Tod des Menschen nicht mit dem Tod der letzten Körperzelle zusammenfällt,⁷ sondern mit dem endgültigen Ausfall eines lebenswichtigen Organs, das dazu führt, dass die funktionale Integration des Gesamtkörpers unwiderruflich gestört ist. Wenn das Organ, das zum Weiterleben benötigt wird, irreversibel nicht mehr arbeitet, ist das Leben des Menschen nicht mehr zu retten. Freilich kann der Körper unterschiedlich lange ohne die lebenswichtigen Organe funktionieren, bevor auch die anderen lebenswichtigen

5 Von vereinzelten Erbrechtsfällen abgesehen, in denen die Frage nach der Reihenfolge des Versterbens gebietet, sich mit dem Todeskriterium zu beschäftigen, sind die Fälle der erfolgten wie nichterfolgten Organtransplantation in dieser Hinsicht zentral. Gegenüber konstant etwa 800000 Todesfällen im Jahr weisen die Statistiken in Deutschland nur etwa 1200 tote Organspender nach (1176 im Jahre 2011). Auch wenn die Organe eines verstorbenen Spenders teilweise auf mehrere Organempfänger aufgeteilt werden, darf von einer Relevanz des Todeskriteriums von höchstens 1 % aller Todesfälle in Deutschland ausgegangen werden. Im größeren Einzugsbereich von Eurotransplant, der Verteilstelle für Organe Verstorbener, wurden im Jahre 2011 2190 postmortalen Organspendern 6545 Organe entnommen. Jeweils aktuelle Statistiken zur Organspende finden sich unter: http: // www.organspende-und-transplantation.de / statistiken.htm. Vgl. → Kap. 1.9 Manzei, Abschnitt 4. 6 Problematisch deshalb → Kap. 1.9 Manzei, bei Fn. 58. Die Auffassung hat sich aber auch bei Verfassungsrechtlern verbreitet, s. Höfling (1995), S. 31. 7 Der Tod der letzten Körperzelle gilt als „biologischer Tod“, der an bestimmten Todeszeichen abgelesene „Individualtod“ wird dagegen durch die Folgen des Ausfalls der überlebenswichtigen Organe (vor allem Herz: „klinischer Tod“, „Hirntod“) erkannt.

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Organe endgültig ihre Funktion einstellen; besonders drängend ist die Reanimierung des Herzens, da hier schon nach wenigen Minuten Schädigungen am Gesamtkörper zu erwarten sind und nach einigen weiteren Minuten (abhängig etwa von der Umgebungs- und der Körpertemperatur) eine Reanimation sinnlos ist. Deshalb galt bis Ende der 1960er Jahre unbestritten das Herz-Kreislaufkriterum des Todes, nicht etwa, was ja auch denkbar wäre, ein Leber-, Lungen oder Nierenkriterium.⁸ Umgekehrt können einzelne Organe den Tod des übrigen Organismus „überleben“, wenn sie diesem Organismus rechtzeitig entnommen und in eine entsprechende Umgebung überführt werden. Nur deshalb sind Transplantationen lebenswichtiger Organe möglich und nur deshalb wird durch die Implantation eines funktionierenden lebenswichtigen Organs (normalerweise verbunden mit der Explantation des nicht mehr funktionierenden lebenswichtigen Organs) ein Überleben möglich. Schließlich gibt es nur deshalb unterschiedlich lange Zeiten, in denen ein Spenderorgan nach Ausfall eines lebenswichtigen Organs noch mit Aussicht auf Erfolg implantiert werden kann.

1.1.3 Grenzen der Biologie Zudem herrscht Einigkeit, dass bereits zwei Argumentationselemente angesprochen wurden, die nicht streng biologisch-physiologisch sind: Das eine ist das Kriterium der Endgültigkeit oder Unumkehrbarkeit eines Organausfalls. Schaut man auf den Körper, ist durch bloßes Sehen eines Organs nicht zu erkennen, ob diese Unumkehrbarkeit erst in wenigen Sekunden oder Minuten eintritt oder bereits vor einigen Sekunden oder Minuten eingetreten ist. Vielmehr gibt es dazu Erfahrungswerte und Prognosespielräume. Diese gehen in die Kriterien der Todesfeststellung ein, wie sie von der Ärzteschaft entwickelt und immer wieder fortgeschrieben werden. Auf diese Zeitspannen irreversiblen Organausfalls mögen noch Sicherheitsmargen aufgeschlagen werden, aber dann gilt ein Organ als irreversibel geschädigt.⁹ Insoweit wird Fachwissen durch Statistiken, Beobachtungen und schließlich durch eine gewisse Fachpolitik ergänzt, die die Sicherheitsmargen bestimmt. Das andere Element, das nicht strikt biologisch-physiologischer Natur ist, ist der Argumentationsschritt vom Tod eines Organs zum Tod eines Menschen: Dies ist eine Auswahl, wir könnten genauso gut darauf abstellen, das bestimmte Körper- oder

8 Aus der umfangreichen Literatur betont allgemeinverständlich etwa: Borasio (2012), S. 15 ff. 9 Die nach § 16 TPG und § 5 TPG notwendigen Kriterien zur Feststellung des Hirntodes hat die zuständige Bundesärztekammer und für diese ihr Wissenschaftlicher Beirat zuletzt 1997 formuliert, s. Wissenschaftlicher Beirat (1998), unter Punkt 3.1.: „Die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls und damit der Hirntod ist erst dann nachgewiesen, wenn die klinischen Ausfallsymptome […] 1 bei Erwachsenen und bei Kindern ab dem dritten Lebensjahr – mit primärer Hirnschädigung nach mindestens zwölf Stunden, – mit sekundärer Hirnschädigung nach mindestens drei Tagen erneut übereinstimmend nachgewiesen worden sind.“

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Gewebeteile (genauer: ihre Zellen) nach dem Organtod vollständig abgestorben sein müssen, um vom Tod sprechen zu können. Man denke an die „gebrochenen Augen“ oder die „Totenstarre“ als äußere Kennzeichen entsprechender Veränderungen. Beide wurden in früheren Zeiten als Merkmale des Todes angesehen. Das Anknüpfen von „Tod“ an die lebenswichtigen Organe ist sicher sinnvoll und erscheint vielleicht einfach und einleuchtend, aber wir werden nicht durch Biologie, Physiologie oder andere Naturwissenschaften zu einem solchen Auswahlschritt gezwungen. Physiologie, Biologie und andere Naturwissenschaften zwingen uns also nicht, ein bestimmtes Todeskriterium zu wählen. Sie setzen aber umgekehrt Grenzen für sinnvolle Kriterien, unter denen wir immer noch auswählen können und müssen. Der angesprochene Argumentationsschritt vom Tod eines Organs zum Tod eines Menschen beruht aber noch in einer anderen, grundlegenderen Weise auf bloßer Konvention: Denn streng genommen können wir nicht sehen, ob ein Mensch „tot“ ist. Wir müssen vielmehr erst einen Begriff oder eine Vorstellung davon haben, was „tot“ bedeutet, bevor wir fragen können, ob in diesem konkreten Fall noch ein lebender Patient zu versorgen ist oder eine Leiche zu bestatten. Dabei lassen wir uns wie üblich bei der Begriffsbildung¹⁰ von eindeutigen Fällen leiten und versuchen von da aus, die begrifflichen Lücken bei schwierigen Fällen zu schließen. So ist sicher jemand tot, bei dem die Leichenstarre eingetreten ist oder bereits wieder nachgelassen hat. Umgekehrt ist jemand, der sich ohne äußere Hilfen auf der Straße bewegen kann, sicher lebendig. Wenn vom Märtyrer Dionysios berichtet wird, er sei noch ein paar Schritte mit abgeschlagenem Kopf herumgelaufen, belächeln wir diesen Bericht oder feiern das Geschehen als ein Wunder. Aber ist eine Frau, die ein Baby austrägt, notwendig lebendig? Viele juristische Laien würden spontan sagen: ja. Aber beginnend mit einigen spektakulären Fällen¹¹ konnte ein Fötus im Mutterleib über Wochen weiter heranreifen, obwohl die Hirnfunktionen der Mutter fehlten und deshalb eine Reihe weiterer Funktionen, namentlich die Beatmung, maschinell ersetzt waren und diese Reifung ohne die Maschinen genauso wenig möglich war wie das weitere (teilweise) Funktionieren des mütterlichen Organismus. Juristen haben diese Fälle in den 1990er Jahren nicht in ihrem Festhalten am Hirntodkonzept erschüttert,¹² obwohl sich bei einer Lebendgeburt zahlreiche rechtliche Friktionen ergeben hätten, teilweise auch ergeben haben, etwa im Personenstandsrecht¹³ oder Bestattungsrecht.¹⁴

10 Für die Rechtswissenschaften grundlegend: Hart (1994), S. 120 ff. 11 In Deutschland vor allem der Fall des „Erlanger“ Babys Oktober / November 1992, der in einem Spontanabort endete; aufgearbeitet in Rixen (1999), S. 145 ff. 12 Als einzige Ausnahme gilt: Gerke (1995), S. 124, in der neuesten Auflage (4. Aufl. Stuttgart 2004) bekennt sich Gerke umstandslos zum Hirntod, S. 154. 13 Eine Tote scheidet dort als Gebärende / Mutter aus, anders beim biologischen Vater. 14 Als Tote hätte die Frau in Deutschland, je nach Landesrecht, aber jedenfalls innerhalb weniger Tage bestattet werden müssen. Es versteht sich, dass diese Regelungen zum Lebensschutz des Ungeborenen durchbrochen werden.

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Wieder andere Fälle greifen die Bedenken von Ärzten und Pflegepersonal auf, wenn sie im Operationssaal (arbeitsrechtlich) verpflichtet sind, einem hirntoten Menschen Organe zu entnehmen und dieser nicht nur (maschinell) durchblutet ist und genauso aussieht wie Lebende, die operiert werden, sondern sich dieser Hirntote auch noch bewegt. Medizinisch sind diese Bewegungen als Reflexe des Gewebes erklärbar.¹⁵ Aber der Eindruck, den diese Fälle erwecken, ist gruselig.¹⁶ Wenn wir für diese Fälle Ausnahmen von der Arbeitspflicht erwägen, weil die Körperbewegungen die Vorstellung auslösen, da liege ein Lebender, geben wir zu, dass die Ganzhirntodkonzeption vielleicht doch problematisch ist, wenn auch auf andere Weise als soeben: Hier stoßen wir auf praktisch-pragmatische Probleme der Akzeptanz, dort an semantische Grenzen.¹⁷ Übereinstimmung in der Sache herrscht aber jedenfalls insoweit, dass der Tod eines Organs nicht der Tod des Menschen „ist“, sondern nur diesen Tod des Menschen indiziert: Wir schließen vom Ausfall der relevanten Hirnregionen oder der Herz-Kreislauffunktion auf den Tod des Menschen, nennen den Menschen tot, dessen bestimmendes Organ irreversibel ausgefallen ist. Das lässt sich an einem Gedankenexperiment verdeutlichen: Bedeutet das Überleben des für das Leben des Gesamtkörpers als zentral ausgemachten Organs notwendig das Überleben dieses Menschen? Bei Identität von Organtod und Tod müssten wir das annehmen. Aber auch Anhänger eines Herz-Kreislauf-Todes würden ein explantiertes, lebendes Herz nicht als lebenden Menschen ansehen, und das nicht nur deshalb, weil es nicht an einen Kreislauf angeschlossen ist. Der Organspender eines Herzens lebt auch für Anhänger eines Herz-Kreislauftodkriteriums nicht in einem biologischen (und schon gar nicht in einem rechtlichen) Sinne im Organempfänger weiter. Daran wird noch einmal das Kriterienhafte von Hirn- bzw. Herz-Kreislauftod deutlich. So ist prinzipiell auch möglich, abstrakt festzulegen, dass jeweils der (irreversibele) Ausfall des ersten lebenswichtigen Organs den Tod markiert, oder der Ausfall des zweiten, oder der des letzten lebenswichtigen Organs, die Reihenfolge des Absterbens der Organe bliebe dann offen. Wie auch immer diese Festlegung ausfällt: Es ist eine Festlegung, genauso wie das Festhalten daran, dass ein bestimmtes Organ, eben das Gehirn, einige seiner Teile, oder ein den Kreislauf antreibendes Herz unumkehrbar ausfällt. Auch deshalb ist der Organausfall immer nur ein Indikator des Todes. Nicht die Wirklichkeit gibt vor, welches dieser Kriterien wir auswählen, sondern unsere Anschauungen und damit unsere Begriffe.

15 Bekannt sind schon Galvanis Beobachtungen von Kontraktionen bei Froschschenkelpräparaten ausgelöst durch Berührung mit einem elektrostatisch aufgeladenen Messer, beobachtet 1780. 16 Auf die Schilderung von Grosser (1991) geht auch → Kap. 1.9 Manzei ein. 17 Zu verschiedenen Arten von Problemen bei der Bestimmung des Todes s. Birnbacher (2007), S. 460 ff.

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1.1.4 Drei Ebenen der Diskussion Daher besteht auch Einigkeit in der Debatte darüber, dass es um Todeskriterien geht.¹⁸ Kriterien sind Kriterien für etwas, also muss dieses Etwas vorrangig bestimmt werden. Zwar kann dasselbe Kriterium für Unterschiedliches genutzt werden, aber unterschiedliche Kriterien können danach beurteilt werden, ob sie einen Gegenstand angemessen erfassen oder nicht. Von mehreren Kriterien können wir zudem häufig, aber nicht notwendig immer sagen, dass ein Kriterium den Gegenstand besser als ein anderes Kriterium erfasst. Manchmal ist aber auch kein Kriterium dem anderen durchgängig überlegen. Dann ist zu fragen, mit welchen Absichten der Begriff hin zu einem Kriterium verdichtet werden soll. So kann, je nach Absicht der Kriterienbildung, mal das eine, mal das andere Kriterium als besser geeignet gelten, eine auf den Begriff gebrachte Sache zu erfassen. Aber auch die Begriffsbildung ist nicht immer einfach, semantische Kämpfe sind häufig.¹⁹ Immerhin zeichnet sich für die Erfassung des Lebensendes aber eine Arbeitsteilung ab: Während Verfassungsjuristen für den Begriff des Lebens zuständig sind, der etwa in Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz verwendet wird und expliziert werden muss, wird demokratischer Gepflogenheit entsprechend dem Gesetzgeber überlassen, das Kriterium zu bestimmen, nach dem der Tod eingetreten ist. Dieses Kriterium kann zwischen verschiedenen Gesetzgebungsakten wechseln, solange nur immer eindeutig geregelt ist, dass in diesem Regelungsbereich das eine, in dem anderen Regelungsbereich das andere Todeskriterium zur Anwendung kommt. Schließlich überlässt es der Gesetzgeber tunlichst den wesentlich besser informierten medizinischen Wissenschaften, die Verfahren zu bestimmen, die notwendig sind, um den Eintritt des festgelegten Kriteriums in einem bestimmten Fall zu eruieren.²⁰ Damit sind Juristen auf den Ebenen der Kriteriennutzung und der Verfahrensanalysen nicht zum Schweigen verurteilt. Sie können selbstverständlich den Gesetzgeber beraten, ob ein bestimmtes Kriterium dem verfassungsrechtlich festgelegten Todesbegriff entspricht oder nicht. Sie werden auf Eindeutigkeit der Regelungen und transparente Abgrenzung der Regelungsbereiche drängen. Schwieriger ist freilich die Frage zu beantworten, ob es Aufgabe des Fachwissenschaftlers ist, den Gesetzgeber dahin zu beraten, dass eines von mehreren verfassungskonformen Kriterien der Todesbestimmung vorzugswürdig sei. Soweit hierbei Fragen der juristischen Handhabbarkeit und Beweisbarkeit angeführt werden, ist das noch eine juristische Aufgabe. Wenn aber mehr oder weniger offen Wertungen geäußert werden, die keinen fachlichen Hintergrund haben, wird man die Juristen in der Rolle eines aufgeklärten

18 Das schließt einen gelegentlich laxen Umgang mit dieser Dreiteilung nicht aus, s. Klinge (1996), S. 144 ff., auch Kap. 1.9, Manzei, Abschnitt 2.3 am Ende. 19 → S. Kap. 1.18 Felder / Stegmeier. 20 Für die Hirntoddiagnostik s. § 16 und § 5 TPG.

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und engagierten Bürgers anzusehen haben, mehr nicht. Auf der dritten Ebene der Verfahrensfestlegungen gilt Entsprechendes für eine Beratung durch Juristen.

1.1.5 Methodologische Konsequenzen Nach alledem ist die verfassungsrechtliche Begriffsbildung zu „Leben“ und „Tod“ das eigentliche Arbeitsfeld der Juristen, zumal der Verfassungsjuristen. Schon die eben angeführten Fälle zeigten jedoch plastisch, dass es nicht so etwas wie den Tod „gibt“, sondern dass auch Juristen hier einen Begriff bilden und dabei durch Konkretisierungen vor immer neue Entscheidungen der begrifflichen Entwicklung gestellt werden.²¹ Selbst die umfangreichste Begriffsbildung kann aber nicht sicherstellen, dass nur genau ein Kriterium für diesen Begriff adäquat ist. Das mag erklären, dass es bislang erstaunlich wenige Juristen unternommen haben, einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Lebens- und in Abgrenzung dazu: Todesbegriff zu entwickeln und von dort aus zu fragen, welches der gängigen Todeskriterien (Ganzhirntod, Teilhirntod, Herz-Kreislauftod) am besten zu diesem Begriff passt.²² Die gängigen Kommentare und Lehrbücher beschränken sich demgegenüber darauf zu behaupten, der Begriff des Lebens in Art.  2 Abs.  2 GG sei ein „biologischer“.²³ Das ist sicher richtig, wenn als Gegenbegriff dazu ein „biographischer“ Lebensbegriff (etwa im Sinne eines gelebten oder ungelebten Lebens)²⁴ angesehen wird. Aber die Schwierigkeiten der Todesbestimmung im nationalen Verfassungsrecht zeigen sich unterhalb dieser Pauschalisierung. Diese können nicht dadurch aufgefangen werden, dass Verfassungsjuristen nun meinen, ihre Arbeit getan zu haben und das Weitere an die Biologie zu delegieren, die doch Spezialwissen zum „Biologischen“ hat. Denn weder folgt eine Notwendigkeit oder auch Opportunität dieser Delegation bloß aus dem Gegensatz „biologisch“ – „biographisch“,²⁵ noch sind Biologen in besonderer Weise zur Begriffsbildung ausgewiesen noch ist damit dem Ver-

21 Zur juristischen Methode Müller / Christensen, Teil 2; das früh, etwa von Höfling (1995), S. 31 f., erhobene Plädoyer für einen „weiten“ Schutzbereich des Lebensgrundrechts läuft dagegen aus faktischen Gründen ins Leere, da meist die Kriterien des Herz-Kreislauftodes vor denen des Hirntodes eintreten; das Argument griffe nur, wenn sich das Verfassungsrecht (ohne guten Grund) auf das Herz-Kreislauftod-Kriterium festlegte und dann Gehirn(teil)transplantationen möglich würden. 22 Gallwas (1996), S. 851 f.; Klinge (1996), S. 125 ff.; Rixen (1999), S. 247 ff., Anderheiden (2001). 23 Exemplarisch: Müller-Terpitz (2009), Rn. 35. Berechtigte Kritik schon bei Höfling (1995), S. 30 f. 24 → s. Kap. 1.2 Tugendhat und Kap. 2.8 Fuchs. 25 Umgekehrt delegieren Verfassungsjuristen die nähere Bestimmung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus den Artikeln 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG ja auch zu Recht nicht an Historiker oder andere Spezialisten für Biographisches.

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fassungstext genüge getan oder dem Willen des Verfassungsgebers, der eine solche Delegation vermutlich für eher fern liegend gehalten hätte, noch und erst recht aber nehmen Biologen den Zweck und die Systematik des Grundgesetzes nicht in Bezug, wenn sie den Begriff des Lebens für sich definieren. Schließlich darf als gesichert gelten, dass auch Biologen den Begriff des Lebens unter Umständen nicht einheitlich bilden: Das Leben, gleich ob das von Einzellern, Mehrzellern, Pflanzen, Wirbeltieren oder eben des Menschen wird immer nur auf die Gattung bezogen definiert, nicht auf den Einzelnen.²⁶ Selbst da gibt es unterschiedliche Definitionen.²⁷ Welche der naturwissenschaftlichen Definitionen das Verfassungsrecht sich zu eigen macht, ist dann immer noch im Rahmen der Verfassung zu entscheiden. Schließlich wurde bereits gezeigt, dass die Todeskriterien jedenfalls nicht die Aura naturwissenschaftlicher Sicherheit verdienen. Die Scheu der Verfassungsrechtler vor der Definition von „Leben“ und „Tod“ mag dennoch verständlich sein, scheint sie doch daher zu rühren, dass damit nicht nur juristische und ethische, sondern auch metaphysische Fragen angesprochen sind. Juristen haben aber keine Fachausbildung in Metaphysik, ja es gibt die etwas eigenartige Forderung, Recht ohne Metaphysik zu betreiben.²⁸ Das wird aber bei Fragen nach Leben und Tod oder nach der Identität einer Person nicht gelingen.²⁹ Damit stehen schlichte Unwissenheit und Vorsicht der verfassungsjuristischen Debatte um den Todesbegriff entgegen. Dennoch wurden einige Facetten des verfassungsrechtlichen Begriffs von „Leben“ zu Art. 2 Abs. 2 GG entwickelt.

1.1.6 Der unumstrittene Teil in den bislang entwickelten verfassungsrechtlichen Todesbegriffen In der entsprechenden Literatur besteht Einigkeit über einige Begriffsmerkmale, aber Uneinigkeit über andere.³⁰ Zunächst schließen „Tod“ und „Leben“ einander aus (Exklusivität). Es gibt auch kein Drittes zwischen Leben und Tod, das Begriffspaar “lebendig oder tot“ ist abschließend (Totalität). Der Tod ist irreversibel: Weder ein Mensch noch eine Naturkraft kann Totes wieder lebendig machen. Dieser unumstrittene Begriffsbestandteil ist dafür verantwortlich, dass auf der Ebene der Kriterien dann nach einem irrever-

26 Wenn Selbsterhaltung und Reproduktionsfähigkeit als minimale biologische Merkmale für Lebewesen gelten, dann ist jedenfalls für das Verfassungsrecht sicher, dass der einzelne nicht (mehr) reproduktionsfähige Mensch noch leben kann. 27 So wird teilweise verlangt, etwas lebe nur, wenn es in der Lage sei, etwas anderes hervorzubringen als eine Kopie. Das ist vielen sonst lebenden Organismen aber nicht möglich. 28 Hoerster (1982). 29 → s. Kap. 48 Anderheiden, am Ende. 30 Zum Folgenden ausführlicher: Anderheiden (2001).

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siblen Organausfall geschaut wird. Sodann stirbt der Mensch nur einmal (Singularität). Diese Annahme ist unabhängig von religiöser Überzeugung, da die Auferstehung oder Wiedergeburt im konkreten, ja zu Tode gekommenen Leib nicht vertreten wird, entweder geht es um eine Reinkarnation in einem anderen Leib oder um die Auferstehung in einem „verklärten Leib“. Die Annahme wird im Übrigen von den Naturwissenschaften insgesamt gefordert. Einigkeit besteht schließlich darin, dass das verfassungsrechtliche Schutzgut des Lebens von dem der körperlichen Unversehrtheit abgesetzt werden muss, das ebenfalls von Art.  2 Abs.  2 GG umfasst wird. Der Unterschied liegt in der Fähigkeit des Körpers zur Integration hin zu einem funktionierenden Ganzen. Wird beispielsweise ein Köperteil wie ein Bein infolge eines Unfalls oder einer Zuckererkrankung amputiert, ist auch dieser Vorgang irreversibel, das Bein stirbt ab. Dennoch ist nicht der Amputierte zum Teil gestorben, er ist in seiner körperlichen Integrität aber massiv geschädigt. Funktioniert dagegen ein überlebenswichtiges Organ nicht, ist der Gesamtkörper betroffen. Die Unterschiede zwischen den verfassungsrechtlichen Auffassungen vom Begriff des Lebens und des Todes bestehen genau darin, die damit notwendige Integrationsund Funktionsleistung so zu beschreiben, dass auf der kriteriologischen Ebene eine Zuordnung möglich wird.³¹

1.2 Integration und Funktion: Aber wie? Von den zur Definition des Todesbegriffs vorgetragenen Ansichten braucht auf diejenigen, die für den Ganzhirntod günstig sind, nicht eingegangen zu werden, da sie die übliche Haltung der Juristen nur stützen. Die abweichenden Auffassungen interessieren dafür umso mehr. Exemplarisch sei hier auf die Auffassung von Rixen eingegangen, weil sie nach einer Reihe von früheren Veröffentlichungen Rixens und seines Lehrers Höfling besonders ausführlich ist, zugleich aber auch die Probleme der Argumentationen für einen Herz-Kreislauftod exemplarisch verdeutlicht. Rixen argumentiert in einer Reihe von Schritten:³² Zunächst stellt er fest, dass die Norm noch unterschiedlichsten Interpretationen zugänglich sei, obwohl die historische Situation, in die der Grundgesetzgeber die Norm des Lebensschutzes in Art. 2 Abs.  2 GG gestellt habe (Reaktion auf die Massenmorde der NS-Zeit), noch weiterwirke; die Norm enthalte deshalb den Auftrag, den Lebensschutz immer wieder neu zu bestimmen. Diese Bestimmung habe daran anzusetzen, dass mit „Jeder“ in Art. 2 Abs. 2 GG „jeder Mensch“ gemeint sei.³³ Ausschlaggebend dafür, wie ein Mensch zu

31 Die Begrifflichkeit in → Kap. 1.9 Manzei, Abschnitt 2, erscheint mir bisweilen unorthodox. 32 Rixen (1999), S. 283 – 87. 33 Rixen (1999), S. 288.

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behandeln sei, sei dann das „offene Menschenbild des Grundgesetzes“.³⁴ Dieses sei wegen der in Art. 2 Abs. 2 enthaltenen Reaktion auf den Nationalsozialismus inklusiv, nicht exklusiv:³⁵ Der Ausschluss bestimmter Menschengruppen aus dem Schutz des Grundgesetzes soll selbst ausgeschlossen werden, deshalb seien „Eigentümlichkeiten“ des Einzelnen irrelevant, „[…] soweit nur die Lebendigkeit des Einzelnen nachweisbar ist“,³⁶ oder, wenig später: „[…] die bloße biologische Lebendigkeit eines der biologischen species des homo sapiens sapiens zugehörenden Individuums.“ Was aber hat es mit dieser „Lebendigkeit“ auf sich? Sie muss etwas anderes sein als „Leben“, weil sonst nicht „Leben“ als Schutzgut des Art. 2 Abs. 2 GG ohne Zirkularität durch „Lebendigkeit“ definiert werden kann. Doch genau darauf scheint Rixen zuzusteuern, wenn es heißt, Art. 2 Abs. 2 GG gewähre ein Statusrecht, das „vom bloßen biologisch-lebendigen Menschsein – vom „Leben – her […]“ gedacht werden müsse,³⁷ das Grundgesetz gewähre „Freiheitsverwirklichung aller auf seinem Gebiet vorfindliche[n] Menschen, wenn und nur deshalb, weil sie als lebendige Individuen der biologischen Subspecies homo sapiens sapiens existieren.“³⁸ Damit ist aber immer noch nicht „Leben“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 GG definiert und damit abgegrenzt, die Argumentation dreht sich vielmehr bislang im Kreis. Immerhin muss es eine solche Grenze geben, da auch Rixen unmittelbar zuvor postuliert, dass Toten die anderen Grundrechte nicht zukommen.³⁹ Dazu will Rixen das Lebensgrundrecht „als von den Eigenheiten der Biologie geprägtes, aber nicht in ihnen aufgehendes Ordnungsmodell […] begreifen.“⁴⁰ Entscheidend werde vielmehr das „teleologische Interpretament“, das Art. 2 Abs. 2 GG zugrunde liege; das sei das offene Menschenbild. „Von ihm her ist der grundrechtliche Begriff „Leben“ zu entwickeln.“ Hier droht ein offener Fehlschluss, weil dieses Menschenbild bislang nur sagte, dass niemand, der lebt, aus dem Kreis der Grundrechtsberechtigten ausgeschlossen werden dürfe.⁴¹ Wenn aber die Zuerkennung des Status, als Mensch Grundrechtsträger zu sein und von allen Freiheitsrechten dann potenziell Gebrauch machen zu können, von der Lebendigkeit abhängt, dann kann dieses Menschenbild in seiner Abhängigkeit von der Lebendigkeit nicht selbst diese Lebendigkeit definieren. Rixens Dilemma wird aus der Gegenposition deutlich, gegen die er sich wendet: Wenn das Menschenbild des potentiell seine Freiheit nutzenden Individuums zur Definition von Leben herangezogen würde, dann ließe sich ganz gegen Rixens Inten-

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Rixen (1999), S. 290 ff. Rixen (1999), S. 290 f. Rixen (1999), S. 292), dort auch das Folgende. Rixen (1999), S. 293. Rixen (1999), S. 294. Rixen (1999), S. 293. Rixen (1999), S. 295, dort auch zum Folgenden. So schon die oben in Bezug genommenen Stellen, Rixen (1999), S. 291 ff.

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tionen postulieren, dass diejenigen, die aufgrund ihres biologischen (besser: gesundheitlichen) Zustandes von Freiheitsrechten nicht einmal potentiell Gebrauch machen können, weil sie dauerhaft zu krank sind, aus dem Kreis der Lebenden ausgeschlossen werden dürfen, vielleicht müssen. Solche Ausschlüsse will Rixen vermeiden. Dafür ist ihm der Beifall nicht nur der deutschen Verfassungsrechtler sicher. Wenn aber niemand aufgrund seines Gesundheitszustandes aus der Gruppe der Grundrechtsträger ausgeschlossen werden soll und alle „Lebenden“ Grundrechtsträger sein sollen, nicht aber die Toten, dann ist immer noch und um so drängender die Abgrenzung zwischen Leben und Tod zu leisten. In einem weiteren Anlauf versucht Rixen damit anzusetzen, dass Rechtsbegriffe konstruiert sind und diese Konstruktionen die Wirklichkeit normativ beeinflussen und zwar auch in dem Sinne, dass wir die Wirklichkeit nur normgeprägt wahrnehmen, man könne von „einer dem grundrechtlichen Telos entsprechenden Wirklichkeit“ sprechen.⁴² Die Konstruktion muss dem telos des Grundrechts verpflichtet sein, im Fall des Lebensgrundrechtes nach Rixen also dem bereits erwähnten „offenen Menschenbild“. Er folgert: „Das Lebensgrundrecht impliziert ein bestimmtes Wirklichkeitsmodell bzw. eine bestimmte Wirklichkeitskonstruktion.“ Dem mag man noch beipflichten, unter Anmahnung der Tatsache, dass immer noch das genannte Telos, nämlich das offene Menschenbild, unter dem Vorbehalt der Abgrenzung von Leben und Tod steht. Rixen schließt aber den folgenden Satz unmittelbar an: „Es besagt: bestimmte beobachtbare körperliche Zustände sollen als Leben, dürfen nicht als Tod gewertet, gewürdigt, wahrgenommen werden […]“,⁴³ das allein entspreche dem normativen Sinn des Lebensgrundrechts. Abgesehen davon, dass der Bezug des einleitenden „es“ unklar ist (Lebensgrundrecht, Wirklichkeitsmodell, Wirklichkeitskonstruktion?), macht sich Rixen nun endlich auf den Weg, normativ festzulegen, dass bestimmte körperliche Zustände als „Leben“, andere als „Tod“ angesehen werden, nur welche und nach welchem Maßstab? „In Zweifelsfällen“ sei es geboten, „den Begriff des lebenden Menschen zu präzisieren“,⁴⁴ natürlich, ist man geneigt zu sagen, aber dann folgt die Volte: „[…] und damit Wirklichkeit dergestalt zu bestimmen, das eben in den zweifelhaften Fällen gelte: diese Menschen sollen lebende Menschen sein – und damit sind sie es von Verfassungsrechts wegen.“⁴⁵

Gemeint ist wohl Folgendes: Das offene Menschenbild liegt den Grundrechten zugrunde, sie sind daraufhin auszulegen. Weil diese Möglichkeit nur entsteht, wenn

42 Rixen (1999), S. 295, Rixen scheint sich nicht bewusst, dass er hier einen neuen Anlauf nimmt; dort auch das folgende Zitat. 43 Rixen (1999), S. 295 f., Hervorhebung im Original. 44 Rixen (1999), S. 296. 45 Rixen (1999), S. 296, Hervorhebung im Original.

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jemand lebt und nicht tot ist, müssen wir die Grenzen zwischen Leben und Tod unter Berücksichtigung der Bedeutung des offenen Menschenbildes bestimmen: Dieses Bild ist so wertvoll, dass wir seinetwegen die Grenzen dessen, was wir unter „lebend“ fassen, möglichst weit ziehen, im Zweifel (!) also jemanden als lebend und nicht als tot ansehen sollen. Aber: Welche Fälle sind denn zweifelhaft? Um das zu wissen, brauchen wir immer noch den Maßstab für die Abgrenzung von Leben und Tod. Dieses Maß mag dann manchmal ein wenig unscharf sein oder unvollständig, dann gilt „im Zweifel für das Leben“. Aber ohne dieses Maß wissen wir nicht, welche Fälle zweifelhaft sind. Das „offene Menschenbild“ selbst gibt dieses Maß nicht, es ist, wie Rixen mehrfach zutreffend betont,⁴⁶ selbst abhängig von der Definition von Leben und Tod. Ohne ein solches Maß ist uns nicht nur in Zweifelsfällen, sondern allgemein unmöglich zu sagen, wann jemand tot ist und wann lebendig. Bei ungefiltertem Abstellen auf die Biologie könnten, ja müssten wir getragen vom Inklusionsimpetus des offenen Menschenbildes solange von einem lebendigen Organismus sprechen, bis auch die letzte Zelle abgestorben ist. Das aber will auch Rixen wohl nicht, immerhin formuliert er aber, tot sei jemand nur dann, „wenn sich das bloße biologische Lebendigsein des Körpers erledigt hat.“⁴⁷ Problematisch erscheint ihm dennoch nur der hirntote Mensch, aber warum will er die Grenzen dort ziehen und wie genau?⁴⁸ Er könnte auf den Stand der medizinischen Wissenschaft verweisen, aber sieht sich dazu außer Stande,⁴⁹ weil vielleicht durch die Wissenschaft ein „lebensgrundrechtsfremdes Menschenbild „eingeschmuggelt“ wird.⁵⁰ Zudem wäre dann der ganzhirntote Mensch ohne Zweifel als tot anzusehen. Einen weiteren Maßstab könnte die philosophische Diskussion liefern. Aber Rixen schlägt dieses Angebot ziemlich brüsk aus: So soll das Fehlen von „Personsein“, „Bewusstsein“, „hirnmäßige[r] Fähigkeit zur Kommunikation“ kein Fehlen von Leben indizieren,⁵¹ die dazugehörige „Geistigkeitstheorie“, wonach es für die Abgrenzung von Leben und Tod darauf ankommt, dass jemand potentiell zu solchen geistigen Leistungen imstande ist, wird verworfen, freilich nicht aus eigenständigen Gründen, sondern weil sie dem Menschenbild widerspricht⁵² – ein Zirkelschluss, da das Menschenbild auf eine Theorie angewiesen ist, die den Normalfall der Grenze von Leben zu Tod markiert. Dazu ist die Geistigkeitstheorie aber in der Lage; sie ist freilich

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Rixen (1999), S. 291 f. Rixen (1999), S. 297. Rixen (1999), S. 296. Rixen (1999), S. 296. Rixen (1999), S. 297. Rixen (1999), S. 297. Rixen (1999), S. 298 f.

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aus anderen Gründen, die hier nicht interessieren, unplausibel. Deshalb ist auch das Teilhirntodkriterium in Deutschland zu Recht nicht zur Anwendung gekommen.⁵³ Wenn sich Rixen dann dem Ganzhirntodkriterium zuwendet,⁵⁴ startet er nach seiner bisherigen Argumentation mit einem non sequitur: Es dürfen, so schreibt er, „nur biologisch-natürliche Kriterien für die Zuweisung des Status „lebender Mensch“ herangezogen werden […]“ Bislang wollte er nicht bei biologischen Maßstäben bleiben, diese nur ergänzend heranziehen,⁵⁵ auch wollte er sich nicht auf eine „inhaltlich bestimmte Anthropologie“ stützen,⁵⁶ so dass es ausgeschlossen ist, sich für die Zuweisung des Status als lebender Mensch „nur“ auf „biologisch-natürliche Kriterien“ zu stützen.⁵⁷ Nähme man Rixen hier beim Wort, wäre die ausführliche Darstellung des Telos des Lebensrechts, des offenen Menschenbildes, der Konstruktion von Wirklichkeit durch Normauslegung, alles das wäre argumentativ überflüssig, weil und soweit die jetzt zu Leitwissenschaften erkorenen Biologie und Anthropologie darauf keine Rücksicht nehmen. Von daher startet das Argument gegen das Ganzhirntodkriterium bereits „auf dem falschen Fuß“. Nun könnte dieser „Fehlstart“ Rixens Gegnern in die Hände spielen, wenn nämlich der Ganzhirntod (auch) unter biologischen Vorzeichen als Tod des Menschen zu werten ist. Dies ist die ganz herrschende Meinung in der Medizin.⁵⁸ Dagegen wendet Rixen zweierlei ein. Die Physiologie und Medizin hätten es zum einen bislang nicht geschafft, Belege für die von ihnen benannten integrativen Funktionen des Hirnstamms zu erbringen.⁵⁹ Das wäre, wenn es denn wahr wäre, ein ernstzunehmender, wenn auch nicht notwendig durchschlagender Einwand gegen das Hirntodkonzept; dessen Vertreter könnten, wenn das notwendig wird, aber argumentativ nachlegen wollen. Rixen legt gleich nach, indem er seine Alternative benennt: Er stellt auf die integrative Funktion des Blutes ab.⁶⁰ Das alleine ist allerdings keine valide Möglichkeit, gegen ein Hirntodkonzept zu opponieren: Beide Konzeptionen mögen schiedlich / friedlich zusammen vertretbar sein, wenn sowohl das Gehirn als auch der Kreislauf in der Lage sind, die Voraussetzungen des Todesbegriffs zu erfüllen. An einem solchen Begriff mangelt es Rixen aber immer noch. Ohne einen solchen Begriff des Todes macht Rixens Übergang auf die Todeskriterien keinen Sinn. Wie sollte es gelingen zu zeigen, dass ein bestimmtes Todeskriterium gegen den zuvor gefundenen Begriff des Todes verstößt oder ein anderes nun plausibel erscheint? Untauglich ist

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Quante (2002), S. 141 ff. Rixen (1999), S. 304 ff. Rixen (1999), S. 295. Rixen (1999), S. 292. Rixen (1999), S. 304. → s. Kap. 2.8 Draguhn. Rixen (1999), S. 304. Rixen (1999), S. 304 ff.

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hierzu der Versuch, gegen ein Todeskriterium dadurch vorzugehen, dass gezeigt wird, ein anderes habe dieselben Vorzüge. Wenn wir Rixen besonders wohlwollend lesen, müssten wir vielleicht folgendes Zwischenergebnis festhalten: Wie immer verfassungsrechtlich „Leben“ und „Tod“ voneinander abzugrenzen sind, die Grenze sollte dann wegen des offenen Menschenbildes des Grundgesetzes besonders stark zu Gunsten des Lebens ausgelegt werden. Doch die Ausführungen zur Konkurrenz von Ganzhirntod und Herz-Kreislauftod basieren immerhin auf einem gemeinsamen Untersuchungsmaßstab: dem der Eignung zur funktionalen Integration des Zusammenspiels der (überlebenswichtigen) Organe. Das mag immer noch ein vager Maßstab sein, aber dennoch lässt sich dieser Maßstab den bereits benannten Abgrenzungen zwischen Leben und Tod hinzufügen (Exklusivität, Totalität, Singularität und Irreversibilität des Todes). Vermag Rixen diesen Maßstab der Integration zu einem funktionierenden organischen Ganzen zu präzisieren, ein Ziel der Integration etwa anzugeben, ein Leitbild gelungener Integration der Körperfunktionen, einen Mindestmaßstab dafür, wann diese Integration noch als schwierig oder schon als gescheitert angesehen werden muss? Oder deutet er an, warum das Gehirn oder Teile des Gehirns diese Leistung nicht erbringen? Rixen setzt in einem von Polemik nicht freien Abschnitt⁶¹ damit an, die integrative Leistung des Gehirns in der Rolle zu sehen, die der Hirnstamm haben könnte, nämlich denjenigen, die Spontanität der Atmung zu organisieren und darüber die Funktion alle anderen Organe zu ermöglichen. Er fragt sodann, wie der Ersatz dieser Leistung durch maschinelle Beatmung zu bewerten sei und kommt offenbar zu der Auffassung, dass auch die permanente künstliche Beatmung ja ein Fortleben und Ineinandergreifen der übrigen lebenswichtigen Organe ermögliche.⁶² Damit, so darf man seine Argumentation schließen, sei gezeigt, dass der Hirnstamm keinen überlebenswichtigen Beitrag für den Gesamtkörper liefere, da sich dieser unabhängig vom Hirnstamm immer noch selbst zu einem Ganzen organisieren könne, solange nur die Beatmung künstlich gesteuert wird. Er, Rixen, habe in der naturwissenschaftlichen Literatur noch kein Argument gefunden, dass diese Ansicht widerlege.⁶³ Mehrere Rückfragen drängen sich auf: Nach welchem Maßstab kann ich einen Menschen, dessen Hirnstamm nicht mehr arbeitet, bei dauerhafter künstlicher Ernährung für „lebendig“, nicht für „tot“ halten? Muss nicht die Integration eines menschlichen Körpers zu einer funktionierenden Einheit eine Eigenleistung dieses Körpers sein, die allenfalls vorübergehend ersetzt werden kann? Ist Integration zu einer funktionierenden Einheit nicht Selbstintegration? Wie integriert ist eine Einheit, die auf permanente Organisationshilfe von außen angewiesen ist?

61 Rixen (1999), S. 304. 62 Rixen (1999), S. 304 mit Fn. 291. 63 Rixen (1999), S. 304 bei Fn. 291.

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Gewiss ist bei der Antwort auf die letzte Frage zu unterscheiden: Ist ein Organ zu schwach, um seinen Teil an der Integration des Gesamtkörpers alleine zu erfüllen, sind auch permanente Unterstützungen möglich, ohne dass dies Auswirkungen auf die Tatsache hätte, dass der Mensch mit diesem Organismus lebt. Solche permanenten Unterstützungen reichen von immer kleineren Herzschrittmachern bis zu den monströsen „Eisernen Lungen“ gerade vergangener Tage.⁶⁴ Auch der Ersatz eines nicht funktionierenden Organs ist möglich und ändert nichts am Leben eines Menschen, solange dieser Ersatz Teil des spontan sich immer wieder ordnenden Funktionszusammenhangs „Körper“ ist, wie etwa bei transplantierten Organen. Aber immer dann, wenn es nicht nur um Unterstützung, sondern (permanenten und vollständigen) Ersatz einer organischen Funktion geht und zusätzlich die Funktion dieses Organs (oder eines seiner funktionalen Teile) nicht, wie bei transplantierten Organen oder künstlichem Organersatz) in den Funktionszusammenhang des übrigen Körpers integriert ist, wird es auch schwierig, davon zu sprechen, die funktionale Einheit, die ein lebender Körper bildet, sei noch erhalten. Genau hier hätte Rixens Argumentation ansetzen müssen. Er beendet aber die Auseinandersetzung mit dem Hirntodkriterium mit einem einzigen Satz, ohne weiter auf die begriffliche Grundlage einzugehen, an die die Kriterien anknüpfen: „Gegen die Behauptung, der Köper des Menschen sei ohne Gehirn kein lebendiger Organismus – kein funktionierendes Ganzes – mehr, sondern eine unverbundene „Teilsumme von Organen“ […], sprechen die beobachtbaren biologischen Tatsachen.“, nämlich die Durchblutung des Körpers bis auf das Gehirn, und weiter: „Der anhaltende Blutkreislauf ist sinnenfälliger Ausdruck der interagierenden Organe des Körper (sic!): […]“⁶⁵

Rixen beschreibt im Folgenden, warum der Blutkreislauf „sinnenfälliger Ausdruck der interagierenden Organe des Körpers“ ist, geht aber auf die künstliche Beatmung und ihre Steuerung nur noch kurz ein: „Diese Funktion des Organsystems „Blut“ ist auch beim durchbluteten hirntoten Menschen nachweisbar, mag sie auch aufgrund künstlicher Unterstützung erfolgen […]. Dieser Umstand ändert aber nichts daran, daß die Organe interagieren, zum Organismus integriert sind […].“⁶⁶

Hier schleicht sich eine Ungenauigkeit ein, die im Folgenden wichtig wird: Die äußerliche kontrollierte Beatmung bei Hirntoten und andere Maßnahmen etwa der Hormonstabilisierung, der Blutdruck- und Temperaturregulation, etc.⁶⁷ sind keine Unterstüt-

64 Noch 2009 verstarben eine Amerikanerin und eine Australierin, die jeweils seit 1949 in einer solchen „Eisernen Lunge“ gelebt hatten. 65 Rixen (1999), S. 304, ausgelassen wurde nur das Nachweiszeichen für das Zitat, das von Angstwurm stammt. 66 Rixen (1999), S. 305. 67 Rixens eigene Beschreibung, Rixen (1999), S. 307.

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zung des Gehirns in dessen Funktion, sondern dessen Ersatz. Sie sind deshalb nicht dazu da, eine Insuffizienz des Organs auszugleichen, mit diesem weiter zu arbeiten, wie dies für die Dialyse der Nieren bekannt ist oder für Herzklappen, sondern dazu, an Stelle des ausgefallenen Organs zu treten. Zugleich nimmt dieser Ersatz aber nicht, wie etwa ein Spenderorgan, den Platz des ausgefallenen Organs in dem sich selbst regulierenden Funktionszusammenhang des Körpers ein: Die Maschinen, die für den Ersatz der unterschiedlichen Funktionen des ausgefallenen Gehirns zuständig sind, integrieren sich nicht in dem Sinne in den Körper, dass sie mit den anderen Organen eine interagierende Einheit bilden. Vielmehr bleiben die Maschinen von außen gesteuert, dosieren nach Vorgaben von außen, die Erfahrungswissen entsprechen, geben das an den übrig gebliebenen Funktionszusammenhang, was dieser von einem Gehirn erwarten sollte, aber nicht, was er tatsächlich erwartet. Deshalb fehlt den Maschinen die Integration in den Gesamtkörper. Sie bleiben nicht nur räumlich außerhalb dieses Körpers angesiedelt. Das Problem ist also nicht, wie Rixen insinuiert,⁶⁸ dass die Maschinen „künstlich“ sind, Kunstprodukte, die dem Körper zur Verfügung stehen, sondern dass durch sie eine Integration in den Funktionszusammenhang des Körpers nicht angestrebt wird.⁶⁹ Gerade weil Rixen und einige andere Vertreter des Herz-Kreislauftod-Kriteriums sich so vehement gegen den „Zerebrozentrismus“ wehren,⁷⁰ sollten sie dafür empfänglich sein zu sehen, dass die Ersatzmaschinen selbst zentristisch, weil rechtgebend verfahren. Daraus ergibt sich für die Gegner des Hirntodkriteriums geradezu ein Dilemma: Entweder sie erkennen an, dass dem Hirn doch eine Führungsrolle bei der Selbstintegration des menschlichen Körpers hin zu einer (abgeschlossenen) Funktionseinheit zufällt. Oder aber es gab vor dem Hirntod keinen solchen Zentrismus, sondern einen dezentralisierten integrativen Funktionszusammenhang, dann ist der mit dem (Ganz)Hirntod (unwiderruflich) aufgehoben. Deshalb entspricht der Ganzhirntod den begrifflichen Vorgaben des Todes. Die Begriffskriterien für den Tod (Exklusivität, Totalität, Singularität und Irreversibilität des Todes sowie die auch von Rixen anerkannte Fähigkeit zur Selbstintegration) lassen den Hirntod noch nicht einmal als einen Zweifelsfall erscheinen, in dem das Recht „in dubio pro vita“ zu reagieren hat, weil eben der Hirntote nicht mehr lebt.⁷¹

68 Rixen (1999), S. 307. 69 Das unterscheidet die Situation deutlich von derjenigen etwa der Kunstherzen. 70 Rixen (1999), S. 305 m.w.N. 71 Anfang 1998 veröffentlichte Bernat (1998) einen Beitrag, in dem er darauf hinwies, dass das Hirntodkonzept als eines der wenigen zentralen bioethischen Konzepte in den meisten Ländern völlig unumstritten sei. Doch warfen die neueren Angriffe auf das Konzept, wie er dann konstatierte, ihre Schatten voraus.

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2 Gründe zur Änderung der gängigen Auslegung? 2.1 Probleme der Irreversibilität Gibt es nun neuere Gründe, diese in der Rechtswissenschaft im Ergebnis gängige Bestimmung des Todes durch das Ganzhirntodkriterium zu überdenken, gar zu verwerfen? Immerhin hat das von US-Präsident George W. Bush eingesetzte (und dann von seinem Nachfolger Barack Obama gleich bei Amtsantritt wieder aufgelöste) The Presidents Council on Bioethics (im Folgenden: Council) sich nach längeren, kontroversen Debatten im Dezember 2008 zum Hirntod geäußert. Entgegen der Darstellung von Manzei⁷² hat sich das Council aber nicht auf eine einheitliche Bewertung des Hirntodes einigen können. Es hat vielmehr Befürworter wie Gegner der Hirntodkonzeption gegeben. Jedoch ist das Council ein Stück weit von der üblichen Argumentation für die Selbstintegration des menschlichen Körpers als Leitbild eines lebenden, menschlichen Organismus abgegangen. So fasst das Council seine Ergebnisse wie folgt selbst zusammen:⁷³ “In Chapter Two, we began our re-examination of the neurological standard for death by clarifying key terms. In Chapter Three, we described the condition of “total brain failure” (commonly called brain death or “whole brain death”), and we explored certain clinical and pathophysiological findings that were unavailable to the authors of earlier public accounts of that condition. In Chapter Four, we presented two possible answers to the central question of the report: first, a position that rejects the neurological standard for death on the grounds that it is not possible to know with certainty that an individual with total brain failure is truly dead; and second, a position that defends the neurological standard, arguing it is possible that death has occurred in such cases.”

Im Folgenden untersucht das Council noch die Implikationen dieses geteilten Ergebnisses, insbesondere für Transplantationen von „non heart-beating donors (Teile V und VI des Reports), um dann in Teil VII bekannt zu geben:⁷⁴ “Among members of the President‘s Council on Bioethics, the prevailing opinion is that the current neurological standard for declaring death, grounded in a careful diagnosis of total brain failure, is biologically and philosophically defensible.”

Wie dann ausgeführt wurde, stand die Mehrheit auch zu der Überzeugung, dass der Hirntod nach wie vor mit hinreichender Sicherheit diagnostiziert werden könne. Was

72 → s. Kap. 1.9 Manzei, Teil 1 bei Fn. 7. 73 http: // bioethics.georgetown.edu / pcbe / reports / death / chapter 5.html (letzte Abfrage vom 15. März 2012) 74 http: // bioethics.georgetown.edu / pcbe / reports / death / chapter 7.html (letzte Abfrage am 15.12.2012)

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hat dann die beachtliche Debatte ausgelöst, die der Veröffentlichung des Reports im Januar 2009 folgte? Auslöser dürfte ein wesentlich älterer Artikel gewesen sein,⁷⁵ eine Metastudie, die die Veröffentlichungen anderer zusammenfasst. Gegenstand waren rund 12000 Hirntode und deren weiterer Verlauf, das entspricht der Zahl der postmortalen Organspender im Eurotransplantgebiet über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren. Zu erwarten ist, dass nach Abstellen der Beatmungsgeräte der Organismus des Hirntoten rasch zusammenbricht. Das war auch in mehr als 98 % der vom Autor Shewmon zusammengetragenen Fälle so. Aber es gab den Rest von 175 Fällen, in denen noch eine Woche nach Abstellen des Beatmungsgerätes die übrigen Organe des Hirntoten funktionierten. Das widersprach allen Erwartungen, auch wenn keiner der 175 Fälle wieder wach geworden ist oder sich in irgendeiner anderen Weise erholt hätte. Den „point of no return“ hatten auch diese 175 Patienten von Intensivstationen überschritten; soviel ist völlig unbestritten. Die Frage ist nur, warum die (weitere) Desintegration so lange dauerte, obwohl die Steuerung durch das Gehirn wegen des totalen Hirnausfalls ausgeschlossen war. Eine mögliche Erklärung für die langen Zeiten einer relativen Organtätigkeit außerhalb des Gehirns liegt in einer schlampigen Feststellung des Hirntodes. Was aber, wenn diese Erklärung nicht zutrifft? Dann ist immer noch möglich, dass die Standardverfahren, die zur Feststellung des Hirntodes verwandt werden, nicht ausdifferenziert genug sind und durch bessere Verfahren ergänzt werden müssen. Wenn es aber nicht an den Verfahren liegt, muss über das Hirntodkriterium als Ganzes nachgedacht werden. Tatsächlich haben sich die Überlegungen des Councils sofort auf die bisherigen Begründungen des Hirntodkonzeptes konzentriert und die Frage besserer Methoden zu seiner Feststellung außer Acht gelassen, ganz zu schweigen von der selbstkritischen Frage, ob nicht vielleicht in einem Prozent der Fälle der Hirntod fehlerhaft festgestellt wurde, ohne dass dies aus den Protokollen hervorgeht:⁷⁶ “Until now, two facts about the diagnosis of total brain failure have been taken to provide fundamental support for a declaration of death: first, that the body of a patient with this diagnosis is no longer a “somatically integrated whole,” and, second, that the ability of the patient to maintain circulation will cease within a definite span of time. Both of these supposed facts have been persuasively called into question in recent years.”

Tatsächlich hat auch diese Darstellung der Auffassungen bis etwa zur Jahrtausendwende darauf abgestellt, dass der Mensch eine integrative Funktionseinheit darstellt. Offen gelassen wurde, ob dieses Funktionieren rein somatisch zu verstehen ist, wie in der Medizin üblich, oder ob der Mensch sich als psycho-physische Einheit integriert,

75 Shewmon (1998). 76 http: // bioethics.georgetown.edu / pcbe / reports / death / chapter 7.html (letzte Abfrage am 15.2.2012).

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eine Sicht, für die bestimmte verfassungsrechtliche Vorgaben streiten mögen.⁷⁷ Soll nun beides nicht mehr möglich sein? Soll gelten, dass das Gehirn keinen wesentlichen Anteil an der Selbststeuerung des Körpers hin zu einer funktionierenden Einheit hat? Brauchen wir biologisch betrachtet unser Gehirn nicht zum Leben, ist es dafür überflüssig, purer biologischer Luxus? Der Rat des Präsidenten gibt Entwarnung:⁷⁸ Es gebe ein neues Argument für den Hirntod, das Shewmon im selben Artikel gleich zu den Ergebnissen seiner Langzeitstudie anbot:⁷⁹ “According to this argument, the patient with total brain failure is no longer able to carry out the fundamental work of a living organism. Such a patient has lost – and lost irreversibly – a fundamental openness to the surrounding environment as well as the capacity and drive to act on this environment on his of her own behalf. […] A living organism engages in self-sustaining, need driven activities critical to and constitutive of its commerce with the surrounding world. These activities are authentic signs of active and ongoing life. When these signs are absent, and these activities have ceased, then a judgment that the organism as a whole has died can be made with confidence.”

Dieses Argument unterfüttert die bislang zentrale Annahme, dass ein Organismus, um als lebendig gelten zu können, ein sich selbst integrierendes Ganzes sein muss. Das ist er nur, wenn und weil er nach außen abgeschlossen ist.⁸⁰ Er liegt dem Argument in diesem Beitrag insoweit zu Grunde, als der irreversible Übergang von der Atemtätigkeit auf Grund eigener Stimuli zur bloß passiven, von außen in der Frequenz und Atemmenge bestimmten Beatmung jedenfalls die funktionale Einheit des menschlichen Körpers aufhebt.⁸¹ Aber wie steht Manzei dazu? Einerseits begrüßt sie die Ergebnisse des Councils. Es habe sich gezeigt, dass die Annahme, „[…] die Integration des Organismus werde durch das Gehirn gesteuert, […] durch diese Fälle widerlegt [wird], indem gezeigt wird, dass ein unmittelbarer zeitlicher und kausaler Zusammenhang zwischen Hirntod und Tod nicht besteht.“⁸²

Zugleich aber will sie vor allem gestützt auf den in sich disparaten Beitrag von Müller (2010) bessere Verfahren zur Hirntoderkennung als Stand der derzeitigen Wissenschaften etablieren. Das macht nur Sinn, wenn am Hirntodkriterium festgehalten

77 Näher dazu: Anderheiden (2000). 78 http: // bioethics.georgetown.edu / pcbe / reports / death / chapter 7.html (letzte Abfrage am 15.12.2012). 79 Shewmon (1998). 80 Der damit angesprochene System-Umwelt-Unterschied wird auch von Rixen zu Beginn seiner zentralen Argumentation unter Verweis auf Luhmann akzeptiert (295). 81 S. oben Abschnitt 1.1.2 und 1.2 vor Fn. 61. 82 → s. Kap. 1.9 Manzei, Abschnitt 3 bei Fn. 70.

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wird. Tatsächlich hätte bereits das Council sich aus wissenschaftstheoretischen Gründen fragen müssen, ob es nicht plausible Erklärungen für die von Snewmon zusammengetragenen Zahlen gibt: Sind die von Snewmon zusammengetragenen Ergebnisse selbst alle glaubwürdig, welche sind unter Umständen unglaubwürdig und warum? Gibt es Verfahren und Methoden, die zu anderen, besseren Diagnosen des Hirntodes führen? Wie ist unter Anwendung dieser Diagnosen die Integration des Organismus durch das Gehirn zu beurteilen? Dann wäre zu metaphyischen Fragen überzugehen: Was ist unter „Integration“ zu verstehen, was unter „Organismus“? Ist der Organismus unter Bedingungen, wie sie Snewmon in den Einzelstudien vorgefunden hat, noch „integriert“? Sind einige dieser Organismen integriert andere nicht? Was sind hier die Maßstäbe? Wieviel Integration und wozu ist notwendig, um von einem lebenden Menschen sprechen zu können? Die letzten Fragen bedürfen einer vertieften metaphysischen Diskussion. Diese Diskussion hat auch in Deutschland bereits vor der Veröffentlichung des Council begonnen.⁸³ Für Verfassungsrechtler enthalten diese Fragen die Aufforderung, darüber nachzudenken, welche und wie viel Integrationsleistung des Körpers als ausschlaggebend dafür angesehen werden muss, um von einem lebenden Menschen im Sinne des Art.  2 Abs.  2 GG sprechen zu können. Gibt es hierzu rechtliche Maßstäbe und wenn ja: welche? Oder hat sich das Verfassungsrecht in diesen Fragen bei der Philosophie, genauer: der Metaphysik oder Ontologie zu erkundigen? In keinem Fall sind die Fragen aber naturwissenschaftliche oder biologische, allenfalls kann eine naturphilosophische Komponente eingebracht werden. Nach meinem eigenen Verständnis setzt das Grundgesetz den Menschen als psycho-physische Einheit voraus, nicht notwendig als Bürger, Geschäftsfähigen oder Einverständnisfähigen, aber als einen Menschen, der die Umgebung rezepiert und, insoweit vielleicht ganz im Sinne das von Rixen angemahnten „offenen Menschenbildes“, diese Rezeption zu einer Freiheitsgestaltung auch nur potentiell nutzen kann. Wenn aber diese Möglichkeit irreversibel fehlt, lässt sich keine verfassungsrechtliche Vorgabe finden, die bestimmt, dass dieser Mensch noch weiterhin als lebend anzusehen ist. An die Mediziner geht dann die Frage zurück, welche Rolle bei dieser vorab definierten Integrationsleistung das Gehirn spielt. Spielt das Gehirn dabei gar keine Rolle, ist das Hirntodkriterium aufzugeben. Spielt es umgekehrt eine notwendige Rolle, dann ist am (Ganz)Hirntodkriterium festzuhalten.

83 Quante (2003), insb. S. 121 – 133.

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2.2 Pragmatisches Absehen vom Hirntodkriterium? Wesentlich kürzer kann die Frage beantwortet werden, ob das Verfassungsrecht eine „pragmatische“ Beibehaltung der Hirntodkonzeption hinnehmen kann. Worum geht es? Die übliche Annahme ist, dass dann, wenn der Hirntod nicht mehr als Kriterium des Todes haltbar ist, auch eine Organspende jenseits der heute bereits bestehenden Möglichkeiten der Lebendorganspende (jemand spendet eine seiner beiden gesunden Nieren dem kranken Geschwister) ausgeschlossen ist. Diese Annahme wird inzwischen aufgeweicht und gefragt, ob auch als lebend zu betrachtende „nonheartbeating donors“ zu jenen Organspenden herangezogen werden können, die wir nach derzeitigem Verständnis an Toten vornehmen. Zugleich wird befürchtet, dass sowohl die Spendenbereitschaft als auch das gesamte Organspendewesen außerordentlich leiden würde, wenn sich in der Bevölkerung erst einmal verbreitet, dass Menschen zu Organspendezwecken getötet werden. Von philosophischer Seite hat Birnbacher diese Bedenken aufgegriffen und sich dafür stark gemacht, den „Hirntod“ in diesen Fällen aus pragmatischen Gründen als „Begriff“ beizubehalten.⁸⁴ Abgesehen davon, dass Zweifel erlaubt sein dürfen, ob eine solche bloß „pragmatische“ Weiternutzung des Begriffs „Hirntod“ zur Beschreibung Lebender (das ist ja die Voraussetzung) wirklich in der Bevölkerung verfangen würde, ohne Auswirkungen auf die Bereitschaft zur Organspende zu haben, ist auch verfassungsrechtlich bereits ein Veto einzulegen: Wenn jemand lebt, darf er nicht aus Gründen intensivmedizinischer Bedürfnisse getötet und ausgeweidet werden. Da stehen die Gebote des Lebensschutzes und der Menschenwürde vor. Sehr fraglich ist zudem, ob sich daran durch Einwilligung des Menschen etwas grundlegend ändert. In vielen Fällen („Hirntod nach Unfall“) dürfte eine solche Einwilligung praktisch ausgeschlossen sein. Dazu bedarf es dann eines „informed consent“, einschließlich der Aufklärung, für Organspendezwecke getötet zu werden. Wenn es unter diesen Bedingungen bei der Einwilligung bleibt, betreten wir strafrechtlich den Bereich der Tötung auf Verlangen. Diese ist verfassungsrechtlich nur in sehr engen Grenzen tolerierbar. Umgekehrt sind Gesetze, die eine Tötung auf Verlangen unter Bedingungen der „not heart-beating donors“ verbieten, nicht ohne weiteres verfassungsrechtlich zu beanstanden. Denkbar immerhin ist, eine Patientenverfügung zur Nichtbehandlung mit einer Organspendebereitschaft zu koppeln, die sich auf den Zustand des „non heart-beating donor“ bezieht. Freilich könnte eine Erlaubnis solcher Spenden Begehrlichkeiten wecken, Organe von möglichst gesunden Menschen zu erhalten. Unter dem Vorzeichen der Gleichbehandlung ergeben sich dann Probleme, solche Spendebereitschaften zurückzuweisen. Alle diese Bereitschaften widersprächen zudem den Auswirkungen objektiver Grundrechtsverbürgungen in

84 Birnbacher, (2007), S. 471 ff.

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ihrer derzeit dominanten Lesart durch das Bundesverfassungsgericht und durch die herrschende Meinung unter den Verfassungsrechtlern. Alles das lässt den Schluss zu, dass eine „non-heart-beating donor“-Regelung in Deutschland auf absehbare Zeit verfassungsrechtlich verboten ist.

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Menschenwürde – Konzepte

Brigitta-Sophie von Wolff-Metternich

1.11 Philosophische Konzepte der „Menschenwürde“ und ihre Bedeutung für die Debatte um menschenwürdiges Sterben Abstract: Die zentrale Bedeutung des Menschenwürdebegriffs für unser Rechts- und Moralverständnis ist unbestritten. Gegenwärtig spielt die „Menschenwürde“ vor allem in der Medizinethik und in ihren Debatten um Sterbehilfepraktiken eine wichtige Rolle. Dabei ist keineswegs klar, welche Folgerungen aus dem Menschenwürdebegriff im Hinblick auf diese konkreten Bewertungsfälle zu ziehen sind. Weder im Hinblick auf seinen normativen Gehalt noch im Hinblick auf seinen Geltungsbereich handelt es sich bei der „Menschenwürde“ um einen eindeutig definierten Begriff. In diesem Artikel werden im Rückgang auf einige prominente philosophische Konzepte der „Menschenwürde“ die Schwierigkeiten aufgezeigt, die grundsätzlich mit Definitionen und Begründungen der „Menschenwürde“ verknüpft sind. In diesem Zusammenhang ist auch der Frage nachzugehen, worin der spezifische Beitrag der Philosophie für die Debatte um menschenwürdiges Sterben liegt. The central significance of the concept of human dignity for our understanding of laws and morals is beyond dispute. Currently, “human dignity” plays a role primarily in medical ethics and its debates on assisted dying. It is by no means clear what conclusions are to be drawn from the concept of human dignity with regard to these concrete cases of evaluation. Neither with regard to its normative content, nor with regard to its area of validity is “human dignity” an unambiguously defined concept. In this article, I will go back to some prominent philosophical concepts of “human dignity” that illustrate the difficulties basically connected to definitions of and reasons for “human dignity”. In this context, the question must be asked as to what the specific contribution of philosophy is to the debate on dignified dying Keywords: Menschenwürde, Menschenwürdenorm, Würde, Instrumentalisierungsverbot

Dr. Brigitta-Sophie Freiin von Wolff-Metternich, [email protected], Philosophisches Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Schulgasse 6, 69117 Heidelberg

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1 Einführung Der Begriff „Menschenwürde“ ist einer der grundlegenden Begriffe unserer abendländischen Ethik- und Rechtskultur. Allgemein verbinden wir mit ihm die Vorstellung einer herausgehobenen Stellung und Behandlung des menschlichen Lebewesens. Wir verbinden mit ihm eine Auszeichnung des Menschen, die ihm im Unterschied zu besonderen Würdeformen nicht aufgrund bestimmter Fähigkeiten und Leistungen oder sozialer Rollen zu- und auch abgesprochen werden kann, sondern mit dem menschlichen Dasein selbst gegeben ist. „Menschenwürde“ wird gedacht „als eine alle Menschen gemeinsame Größe“ und ist damit zu abzuheben „von den zwischen Menschen differierenden Formen und Graden von Würde“¹. Während spezifischere Formen von Würde in ganz unterschiedlichen Graden von menschlichen Individuen realisiert werden und dadurch Unterschiede zwischen Menschen bezeichnen, impliziert die menschliche Würde, eine herausgehobene Stellung, die sich allein der Gattungszugehörigkeit verdankt und nicht an differenzierende Aspekte wie die der Herkunft, Erziehung oder des gesellschaftlichen Ranges geknüpft ist. Menschwürde ist eine Auszeichnung des Menschen, die jedem Menschen unterschiedslos zu Teil wird. Sie behauptet damit eine fundamentale Gleichheit der Menschen. Rein formal lassen sich dabei zwei Aspekte am Begriff der „Menschenwürde“ unterscheiden: „Menschenwürde“ ist zum einen ein Wesensmerkmal und damit eine deskriptive Grundbestimmung des Menschen. Zum anderen ist sie aber auch eine moralisch-rechtliche Norm, weil mit der Vorstellung einer ausgezeichneten Stellung des Menschen zugleich die Vorstellung eines Anspruchs auf Sonderbehandlung gedacht ist². Menschenwürde verlangt, dass sie anerkannt und respektiert, d.h. geachtet wird. Diese Achtung ist nicht zu erwerben und muss auch nicht eigens zugesprochen oder verliehen werden wie im Falle der spezifischeren Formen von Würde. Menschenwürde entsteht nicht dadurch, dass entsprechende Anerkennungsleistungen faktisch gegeben sind³. Zwar kann sie verletzt, aber niemals aufgrund von Missachtung aufgehoben werden. In ihr artikuliert sich ein ursprünglicher, nicht einzuschränkender Anspruch auf Anerkennung, der darum auch von und vor aller Staatsgewalt zu schützen ist. In rechtlicher Hinsicht trägt Art.  1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland diesem Anspruch Rechnung, indem Achtung und Schutz der Menschenwürde zum grundlegenden, mit Ewigkeitsgarantie versehenen Verfassungsprinzip erhoben werden und damit der staatlichen Gewalt moralisch enge Grenzen gezogen werden: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist

1 Härle (2010), S. 11. 2 Vgl. Wils (2006), S. 558. 3 W. Härle spricht hier von einem „Anrecht auf Achtung“. Härle (2010), S. 14.

Philosophische Konzepte der „Menschenwürde“

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Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“⁴. Auch an dieser Formulierung zeigt sich die Grundambivalenz im Begriff der Menschenwürde. Die „Menschenwürde“ ist hier sowohl im Sinne einer anthropologischen (deskriptiven) Grundbestimmung wie auch im Sinne eines normativen Anspruchs gegenüber staatlicher Gewalt zu verstehen. Auffällig ist, dass sich trotz dieser augenscheinlich hohen Relevanz der Menschenwürde als höchster Grundwert der Verfassung nirgendwo im Grundgesetz eine Definition der „Menschenwürde“ findet. Diese „Inhaltsleere“ des Menschenwürdebegriffs ist häufig hervorgehoben und auch immer wieder kritisiert worden⁵. Als problematisch erweist sie sich vor allem dann, wenn die Menschenwürdenorm als Entscheidungskriterium für moralisch fragwürdige Handlungsbereiche bemüht wird. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es hinsichtlich der Beurteilung solcher Handlungsfälle zu Kollisionen zwischen den sich aus der Menschenwürdenorm herleitenden (zu Grundrechten konkretisierenden) Menschenrechten kommt⁶. Hier soll die Menschenwürdenorm als Beurteilungsmaßstab fungieren, um so von einem übergeordneten Gesichtspunkt die differierenden Ansprüche bewerten zu können. Dieser Aufgabe kann sie aber nur dann gerecht werden, wenn mit dem Menschenwürdebegriff ein eigener semantischer Gehalt verknüpft werden kann.

2 Kontroversen und Probleme: Die „Menschenwürde“ als Beurteilungskriterium Dass die „Unbestimmtheit“ des Menschenwürdebegriffs nicht unproblematisch ist, sondern zu überaus kontrovers und emotional geführten Auseinandersetzungen Anlass bietet, zeigt sich gegenwärtig nirgendwo deutlicher als an den medizin- und bioethischen Debatten, insbesondere an der Diskussion über „Sterbehilfe“ und „assistierten Suizid“. Die Fakten, an denen sich die Auseinandersetzung über menschenwürdiges Sterben entzündet, sind bekannt: Der medizinische Fortschritt hat die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen sprunghaft erhöht. Krankheiten, die noch vor einigen Jahrzehnten unmittelbar zum Tode geführt haben, können heute durch Einsatz neuester medizinischer Techniken, wenn auch nicht abgewendet, so doch in ihrem Verlauf stark herausgezögert werden. Damit entstehen zunehmend

4 Art. 1, Abs. 1 GG. 5 Vgl. Maihofer (1968), S. 10. 6 Direkt im Anschluss an die zitierten Sätze zur Menschenwürde wird klar, dass sich im Grundgesetz die Rechtsgeltung der Menschenrechte als Grundrechte aus der Menschenwürde herleitet. Sie ist der Grund dafür, warum die Menschenrechte anzuerkennen und zu schützen sind: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1, Abs. 2 GG).

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Fälle, in denen der Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen nur noch der Verlängerung eines nicht mehr abzuwendenden Leidensprozesses dient. Die neuen Möglichkeiten und Handlungsoptionen der Medizin lassen Situationen entstehen, in denen es für viele fragwürdig erscheint, ob ärztliches Handeln in jedem Fall – unter Aufbietung aller verfügbaren Mittel – Leben retten bzw. erhalten muss. Überblickt man die in diesen Debatten vorgetragenen Argumente, so fällt auf, dass für die meisten die Menschenwürdenorm, das allgemeine Achtungs- und Schutzgebot, dabei nicht selbst strittig ist, sondern die im Blick auf jene genannten problematischen Handlungsfälle vorgenommenen Konkretisierungen der „Menschenwürde“ .Ob „Tötung auf Verlangen“ oder „Beihilfe zum Suizid“ als die Menschenwürde verletzende Praktiken gelten müssen, hängt in hohem Maße davon ab, durch welche explizierenden Begriffsmerkmale der Begriff der Menschenwürde semantisch weiter bestimmt wird. Wer die Auffassung vertritt, dass weder Tötung auf Verlangen noch die ärztliche Suizidbegleitung menschenunwürdige Handlungsweisendarstellen, wird in der Argumentation vor allem auf das Recht auf Selbstbestimmung verweisen und die „Selbstbestimmung“ als vorrangigen Anspruch des Patienten zur Geltung bringen. Unter der Voraussetzung eines so gewichteten Selbstbestimmungsanspruches kann dann das gezielte Herbeiführen des Todes (als aktiver Tötungsvorgang oder als Unterstützung durch Bereitstellen von Medikamenten) als eine die Würde des Patienten achtende Handlungsweise interpretiert werden⁷. Für die strikten Gegner dieser Praktiken bedeutet die Freigabe von aktiver Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) und Beihilfe zum Suizid dagegen einen fundamentalen Verstoß gegen das mit der Menschenwürdenorm verknüpfte generelle Tötungsverbot, weil der Arzt hier (mehr oder weniger) eine aktive Rolle bei der Herbeiführung des Todes übernehmen muss. Die Differenzen entstehen durch den Interpretationsspielraum, der sich hier bei der Anwendung des Menschenwürdebegriffs ergibt. Je nach Auslegungstendenz erscheinen die erwähnten Praktiken als vereinbar oder unvereinbar mit den normativen Forderungen der „Menschenwürde“. Dabei ist zunächst einmal klar, dass solche weitergehenden Interpretationsleistungen unverzichtbar sind, wenn es überhaupt zu einer Anwendung der Menschenwürdenorm und damit zu einer Beurteilung konkreter Handlungsfälle kommen soll. Solche Interpretationen können zum einen den normativen Gehalt des Menschenwürdeprinzips, zum anderen aber auch den Anwendungs- bzw. Geltungsbereich der Menschenwürdenorm betreffen. Was die Menschenwürdenorm inhaltlich impliziert, soll durch weitere Konkretisierungen des Achtungs- und Schutzgebotes sichtbar werden. Von solchen Ausdeutungen erhofft man Aufschluss darüber zu erhalten, welche Handlungen mit dem Anspruch auf den Würdeschutz vereinbar und somit moralisch wie rechtlich akzeptabel sind. Dass solche Spezifikationen der Menschenwürdenorm keineswegs zu ein-

7 So z.B. bei Hoerster (1989), S. 287 – 295, Birnbacher (1995), S. 337 – 373 u. Quante (2010), S. 187 ff.

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deutigen Bestimmungen des in Frage stehenden Bewertungsfalles führen müssen, zeigt das im Rahmen der Normenspezifikation immer wieder auftauchende Problem der Normenkollision⁸. Zwar gilt, dass derjenigen spezifizierten Norm der Vorrang einzuräumen ist, die als höherrangig eingestuft wird. Doch genau diese Abwägung ist in vielen Fällen problematisch, wie sich an der Debatte um „Sterbehilfe“ und „assistierten Suizid“ wiederum besonders eindringlich zeigt. Im Kern dreht sich diese Kontroverse um die Frage, welche der beiden Implikate der Menschenwürdenorm höher einzustufen ist: die Achtung vor der faktischen Selbstbestimmung (wie die Anhänger eines liberalen Umgang mit Sterbepraktiken meinen) oder das mit dem Lebensrecht verknüpfte Tötungsverbot. Die semantische Unbestimmtheit der Menschenwürdenorm wird aber auch da zu einem Problem, wo es um die extensionale Bestimmung, d.h. den Anwendungsbzw. Geltungsbereich der „Menschenwürde“ geht. Auf wen ist das Schutz- und Achtungsgebot der Menschenwürdenorm anzuwenden? Schon längst wird die schlichte Antwort, dass sie auf alle Menschen zu beziehen ist, keineswegs mehr durchgängig akzeptiert. Für viele ist die traditionell übliche Orientierung am Gattungsbegriff fragwürdig geworden. Vor allem im Hinblick auf den Umgang mit menschlichem Leben am Lebensanfang, aber auch am Lebensende werden mittlerweile Einschränkungen und Differenzierungen ernsthaft diskutiert. Zumeist sind es bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten die angeführt werden, um Einschnitte hinsichtlich des Würdeschutzes vorzunehmen. Solche Deutungen und Interpretationen erlauben es dann, ohne die moralische Zulässigkeit von Sterbehilfepraktiken selbst zu klären, die Anwendung dieser Praktiken in besonderen Fällen (bei nicht oder nicht mehr schutzwürdigen menschlichen Lebensformen) als unbedenklich anzusehen. Was lässt sich an solchen Argumentationslinien, wie sie für die medizinethischen Kontoversen über Sterbehilfe charakteristisch sind, erkennen? Zunächst einmal machen sie deutlich, dass die Aufgaben, die sich hinsichtlich der Anwendung der Menschenwürdenorm auf bestimmte, problematische Handlungsbereiche stellen, nicht im Sinne einer schlichten Subsumtionsaufgabe bewältigt werden können. Ob bestimmte medizinische Praktiken am Lebensende als Verletzung der Menschenwürde angesehen werden müssen, hängt von weitergehenden Interpretationen ab, durch die der normative Gehalt der Menschenwürdenorm konkretisiert wird. Sie entscheiden darüber, ob Sterbehilfepraktiken und Beihilfe zum Suizid als Konkretisierungen oder als Verstöße der Menschenwürdenorm aufzufassen sind. Solche weitergehenden Bestimmungen hängen aber solange in der Luft, wie ihre Rechtfertigung noch aussteht. Analoges gilt für die Debatte um den Geltungsbereich der Würdeformel. Hier hängt es von begrifflichen Modifikationen und Differenzierungen ab, ob die Anwendung

8 Zum Problem der Normenkollision vgl. den Artikel „Prinzip / Maxime / Norm / Regel“ im „Handbuch Ethik“, Ott (2006), S. 478.

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der Würdeformel sogar zu Ausgrenzungen menschlicher Lebensformen führt. Dabei ist zu sehen, dass die Bestimmungen, durch die der Geltungsbereich der Würdeformel extensional erfasst werden soll, bereits implizit von evaluativen Vorentscheidungen getragen werden, deren Verbindlichkeit noch zu überprüfen wäre⁹. Wo man nach derartigem Muster Spezifikationen und Interpretationen der Menschenwürdenorm vornimmt, stehen die Debatten der Medizinethik generell in Gefahr dezisionistisch verkürzt zu werden und sich eine ungerechtfertigte Definitionshoheit anzumaßen. Nun könnte man zwar einwenden, dass es sich bei der Begründungsfrage um ein rein theoretisches Problem handelt, das im Grunde nur im wissenschaftlichen Kontext, aber nicht für die Praxis von Bedeutung ist. Wenn man jedoch bedenkt, dass die heutigen medizinethischen Debatten schon längst nicht mehr in abgeschotteten Wissenschaftsräumen, sondern im öffentlichen Raum stattfinden und hier weniger der theoretischen Selbstverständigung dienen, als vielmehr ihr Ziel in Politikberatung und öffentlicher Meinungsbildung sehen, dann wird klar, dass die Überlegungen und Vorschläge der Medizinethik in praktischer (d.h. politischer wie rechtlicher) Hinsicht überaus folgenträchtig sein können. Und in kaum einem anderen Fall könnte dies von höherer Brisanz sein als da, wo es, wie im Fall der Auseinandersetzung über Sterbehilfepraktiken, um mögliche Beschneidungen und Begrenzungen des mit der Menschenwürde verknüpften Rechts auf Leben geht.

3 Präzisierungen und Begründungen: „Menschenwürde“ in philosophischer Perspektive Ist es gerechtfertigt in Bezug auf jeden Menschen zu sagen, dass ihm Würde, d.h. der Anspruch auf Schutz und Achtung zukommt? Worauf gründet sich dieses jedem Menschen zukommende Anrecht? Von solchen Begründungsfragen sieht sich seit jeher das philosophische Nachdenken über die „Menschenwürde“ herausgefordert. Die Philosophie kann sich nicht mit der faktischen Anerkennung bestimmter Konzepte und Definitionen begnügen, da sie auch immer nach dem Grund der Verbindlichkeit derartiger Setzungen zu suchen hat. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn in den Debatten der Medizinethik dann doch auch immer wieder Bezüge zu philosophischen Konzeptionen der Menschenwürdehergestellt werden. Wer aber die Erwartung hegt, durch solche Rekurse das Begründungsdefizit in einem unstrittigen Sinne ein für alle Mal beheben zu können, wird schnell enttäuscht. Obwohl es sich bei der „Menschenwürde“ um einen der grundlegendsten Begriffe der Moralphilosophie handelt, ist seine Begründung zunehmend – vor allem in gegenwärtigen philosophischen Ansätzen – zu einem strittigen Punkt geworden.

9 S. u. S. 8 ff.

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Was die philosophischen Konzepte aber von Anfang an verbindet, ist die schon erwähnte Doppelnatur der „Menschenwürde“. Sie wird schon von Cicero hervorgehoben. Ihm ist es zuzuschreiben ist, dass sich die Diskussion um die Menschenwürde in Richtung eines anthropologisch-ethischen Diskurses weiterentwickelt hat. Cicero spricht von Würde nicht mehr nur im Sinne einer Hervorhebung der besonderen sozialen Stellung, sondern versteht sie als Auszeichnung des menschlichen Wesens als solches. Diese „menschliche Würde“ bestimmt keine Unterschiede zwischen Menschen. Sie orientiert sich vielmehr an einer unterstellten Gleichheit aller Menschen. Verbürgt wird sie bei Cicero durch ein allen Menschen zukommendes, gemeinsames Wesensmerkmal: der Vernunftnatur des Menschen¹⁰. Sie ist der Grund, von dem her die Antike menschliche Würde zu begreifen versucht. Diese Begründungsfunktion hat die „Vernunftnatur“ dabei gleich in zweifacher Hinsicht zu übernehmen: Von ihr her wird nicht nur die beanspruchte Sonderstellung des Menschen erklärt, sondern sie ist auch der Grund für moralisch-rechtliche Forderungen, wie das Anrecht auf Unversehrtheit. Wiederum zeigt sich, was in der Folge für alle weiteren philosophischen Begründungsversuche gilt, wenn sie aus der „Natur des Menschen“ ein Anrecht auf Sonderbehandlung erklären wollen: Mit der Auszeichnung des Menschen durch eine wesentliche Eigenschaft (hier: die Vernunftnatur des Menschen) ist versteckt eine evaluative Entscheidung verbunden, d.h. eine Wertung, von der die Bestimmung des normativen Gehalts abhängt, die selbst aber nicht mehr auf ihre Verbindlichkeit hin geprüft wird. Solche Rekurse auf die „Natur des Menschen“ (Eigenschaften, Fähigkeiten) begründen somit nur dann einen moralischen Anspruch, wenn diesen Eigenschaften selbst bereits vorgängig moralische Relevanz zugesprochen wurde und sie in dieser Hinsicht akzeptiert sind. Wenn dies nicht der Fall ist, dann ist nicht auszuschließen, dass sich die Frage nach einer Begründung erneut stellt. Letztbegründungen der Menschenwürde sind von Seiten der Philosophie nicht zu erwarten. Mit der generellen Schwierigkeit sehen sich auch die moralphilosophischen Rechtfertigungsversuche konfrontiert, dass sie nur solange überzeugen, wie die Voraussetzungen und Annahmen, von denen sie getragen werden, selbst fraglos bleiben. Als der wahrscheinlich grundlegendste Begriff menschlicher Selbstverständigung kann die Geltungskraft der „Menschenwürde“ selbst nicht voraussetzungslos sein, sie bleibt abhängig von sie stützenden Grundüberzeugungen. Dies zeigt sich am antiken Würdeverständnis, das seine Geltungskraft, aus der sie tragenden Anthropologie und Metaphysik gewinnt, ebenso wie an der christlichtheologisch fundierten Moralphilosophie des Mittelalters, die die Würde des Menschen schöpfungstheologisch als Folge der Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründet und sie damit an eine vom Glauben gestützte Prämisse festmacht. Das neuzeitliche Denken, das sich von dieser theologisch-religiösen Fundierung eman-

10 Cicero, Vom rechten Handeln (2001), S. 91 f.

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zipiert¹¹, sucht mit weniger starken Grundannahmen auszukommen, muss aber, weil sie auf metaphysisch-theologischen Grundannahmen zu verzichten sucht, die Würde des Menschen nun gänzlich aus seiner Natur erklären. Oft ist es dann wieder eine besondere Eigenschaft, Fähigkeit oder Leistung des Menschen, die als außerordentlich schätzenswert gilt und – damit bereits evaluativ aufgeladen – zur Grundlage der Menschenwürde avanciert. Als Kandidaten für solche moralisch relevanten Eigenschaften und Fähigkeiten gelten in der Tradition neben der Vernunftfähigkeit: Leidens- und Schmerzfähigkeit, Selbstbewusstsein, Handlungsfähigkeit, Autonomie, Moralfähigkeit. Diese Liste lässt sich beliebig verlängern: durch historische Ansätze, aber auch durch gegenwärtige Positionen. Aktuell sind es vor allem Ansätze aus dem utilitaristischen Umfeld, die den mit dem Würdebegriff bezeichneten Schutz an bestimmte personale Eigenschaften binden und dies im Sinne aktuell vorfindlicher, empirisch überprüfbarer Tatsachen begreifen.

4 Die Debatte um menschenwürdiges Sterben im Spannungsfeld zwischen Utilitarismus und Kant Die aufsehenerregendste Position in den gegenwärtigen medizinethischen Debatten wird von dem australischen Philosophen P. Singer vertreten. Was traditionell den Anwendungsbereich der Würdeformel bestimmte – die Gattungszugehörigkeit – wird von Singer radikal in Frage gestellt. Stattdessen entwirft er eine am Begriff der „Präferenz“ orientierte Hierarchie mehr oder weniger achtungswürdiger Lebewesen¹². Im Hinblick auf den Menschen hat dies zur Konsequenz, dass nicht jedes Mitglied der Gattung Mensch unter den Würdeschutz fällt. Menschen gehören nach P. Singer zu einer Spezies, deren Individuen längst nicht alle Anspruch auf Schutzrechte erheben können, weil sie nicht alle über den hierfür erforderlichen Grad an Selbstbewusstsein, Rationalität und Handlungsfähigkeit verfügen. Nur Lebewesen, die aktuell Interessen und Wünsche hinsichtlich ihrer Zukunft äußern, die sich also ihrer selbst als einer „distinkten Einheit bewusst [sind], mit einer Vergangenheit und Zukunft“¹³, genießen diese Rechte. Die Menschenwürde verengt sich damit zur Personenwürde¹⁴. Moralisch-rechtliche Relevanz im Sinne des Lebensrechtes haben nur folgende aktuell, d.h. empirisch

11 Als paradigmatischer Text in dieser Hinsicht gilt vor allem Pico della Mirandolas „Über die Würde des Menschen“. Vgl. Giovanni Pico della Mirandola (1990), S. 5 – 7. 12 Der Grad, in dem ein Lebewesen über Empfindungen verfügt, Wünsche für die Zukunft hegt und an seiner Existenz in der Zukunft interessiert ist, gibt ihm nach Singer unterschiedliche Ansprüche auf Schonung durch andere. 13 Singer (1994), S. 109. 14 Zu Singers Begriff der Person vgl. (1994), S. 115 – 146.

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nachweisbare Eigenschaften: Interessen haben, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Zukunftsfähigkeit, Handlungsfähigkeit. Explizit können deshalb bestimmte menschliche Lebensformen ausgeschlossen werden: menschliche Lebewesen, die niemals zwischen Leben und Tod wählen können (z.B. schwerstbehinderte Säuglinge) und menschliche Lebewesen, die zwar einmal „fähig waren, zwischen Leben und Tod zu wählen, doch jetzt durch Unfall oder hohes Alter, diese Fähigkeit für immer verloren“¹⁵ haben (z.B. Patienten mit irreversibler Gehirnschädigung, Wachkomapatienten, Alzheimerpatienten). Medizinische Techniken des Tötens hier anzuwenden, ist nach Singer schon deshalb unbedenklich, weil es sich hierbei um Lebensformen handelt, die von vorneherein nicht zum Geltungsbereich derjenigen gehören, die berechtigter Weise ein Recht auf Leben beanspruchen. Singers Position ist radikal. In vielerlei Hinsicht werden im deutschsprachigen Raum gemäßigtere Varianten dieser Position vertreten. Aber gleichwohl gilt: Wer den Würdeschutz an bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten bindet, muss in Kauf nehmen, dass das Lebensrecht nicht mehr selbstverständlich auf alle Mitglieder der Gattung Mensch bezogen wird. Und je länger die Liste solcher nachzuweisender Eigenschaften ist, desto schärfer werden die Restriktionen hinsichtlich der Mitgliedschaft im Kreis der „Schutzwürdigen“. Problematisch sind solche Konzeptionen aber nicht nur wegen der Bedingungen, an denen der Würdeschutz hängt, sondern auch wegen der Konsequenzen, die sich generell aus einem solchen Würdeverständnis für den Schutzanspruch ergeben. Wenn erst bestimmte nachzuweisende Fähigkeiten und Eigenschaften den Status eines schutzwürdigen Lebewesens garantieren, dann steht latent jeder Mensch in Gefahr, diesen Status verlieren zu können. Der ursprüngliche Sinn der „Menschenwürde“ im Sinne eines ursprünglichen, nicht erst nachzuweisenden, Anspruchs auf Achtung und Unversehrtheit ginge verloren¹⁶. Ein gänzlich anderes Verständnis von Würde liegt der Moralphilosophie Kants zu Grunde. Neben den utilitaristischen Positionen sind es vor allem Kantische Argumente, die die medizinethischen Debatten aus philosophischer Perspektive bestimmen. Auf ihn berufen sich vor allem Positionen, die in dem Instrumentalisierungsverbot der sogenannten „Selbstzweck“- Formel des Kategorischen Imperativs („Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“)¹⁷ das entscheidende Beurteilungskriterium sehen für die Auseinandersetzungen um Sterbehilfepraktiken. Gleichwohl ist der Bezug auf diese Formel selbst noch kein Garant

15 Singer (1994), S. 244. 16 Auf diesen Punkt weist vor allem W. Wieland hin, wenn er die Verengung der Menschenrechte auf Personenrechte kritisiert: „Die zu Personenrechten umdefinierten Menschenrechte können jedenfalls für niemanden ein sicherer und unanfechtbarer Besitz sein, wenn jeder Mensch während seines ganzen Lebens Gefahr läuft, seinen Status als Person zu verlieren“. Wieland (2003), S. 29. 17 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 71994, 52.

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für eindeutige Bewertungen. Schließlich berufen sich sowohl Positionen, die einen liberalen Umgang mit Sterbehilfepraktiken fordern, als auch strikte Gegner gleichermaßen auf den Kategorischen Imperativ, um entweder das Tötungsverbot oder das Selbstbestimmungsrecht (Autonomie) als vorrangigen Anspruch zu behaupten. Auf die Kantische Moralphilosophie beziehen sich aber auch jene Ansätze und Positionen, die Einschränkungen und Relativierungen hinsichtlich des Geltungsbereiches der „Menschenwürde“ grundsätzlich ablehnen und sich stattdessen für die traditionelle Orientierung am Gattungsbegriff stark machen. Ausgangspunkt für diese Debatten ist folgende berühmte Formulierung aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“¹⁸. Würde haben, bedeutet einen inneren, nicht relativen Wert haben und damit ein Zweck an sich selbst zu sein¹⁹. Doch woran zeigt sich diese innere Werthaftigkeit und wem kann sie zugesprochen werden? Würde hat der Mensch, weil er nach Kant ein Vernunftwesen ist, das sich in seinen Handlungen, von sinnlichen (egoistischen) Motiven lossagen und sich allein durch das Sittengesetz zum Handeln bestimmen kann. Auf den ersten Blick scheinen mit dieser Würdebegründung Ausgrenzungen menschlicher Lebensformen jedoch nicht unmöglich. Denn es hat den Anschein, als ob Kant den Würdeschutz hier ausschließlich auf den moralischen handelnden Menschen bezieht. Damit würde nicht nur die Schutzwürdigkeit bei Menschen problematisch, die vorübergehend nicht oder nicht mehr handlungsfähig sind (wie z.B. Schlafende, Bewusstlose oder Alzheimer-Patienten), sondern sogar bei Menschen mit unmoralischen Verhaltensweisen. Doch ein durch und durch moralfremdes, nämlich egoistisches Verhalten schließt nach Kant den Würdeschutz nicht aus. Moralität und Sittlichkeit als Bedingungen der Würde sind hier nicht als empirisch überprüfbare Tatsachen gemeint. Kant so zu interpretieren, hieße seinen Begriff von menschlicher Würde gründlich misszuverstehen. Beispiele für Sittlichkeit kann es nach Kant im eigentlichen Sinne sowie so nicht geben, weil der Bestimmungsgrund sittlichen Handelns empirisch nicht erscheint. Sittlichkeit ist nach Kant kein Faktum, das empirisch überprüfbar wäre. Moralität ist daher im Sinne der Moralfähigkeit zu verstehen. Und diese grundsätzlich uns zugesprochene Fähigkeit gilt es zu achten und zu schützen²⁰.

18 Ebd. S. 58. 19 Vgl. ebd., S. 58 20 In diesem Sinne formuliert R. Spaemann: „Warum aber ist das Minimum an Würde, das wir „Menschenwürde“ nennen, unverlierbar? Es ist unverlierbar, weil die Freiheit als mögliche Sittlichkeit unverlierbar ist.“ Spaemann (2001), S. 115. Allerdings kann nach Spaemann die Menschenwürde und ihre Unantastbarkeit letztlich nur metaphysisch begründet werden. Vgl. ebd., S. 122.

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Wenn die Würde eines Menschen sich grundsätzlich nicht an bestimmte überprüfbare Fakten binden lässt, dann können auch keine Einschnitte und Ausgrenzungen hinsichtlich des Würdeschutzes legitimiert werden. Kants Orientierung am Gattungsbegriff trägt dieser Einsicht Rechnung. Nur mittels dieser Bindung kann ausgeschlossen werden, dass die ursprünglichen mit der „Menschenwürde“ verknüpften Rechte, wie das Recht auf Leben und Unversehrtheit, sich zu einem Instrument der willkürlichen Ausgrenzung menschlicher Lebensformen verkehren.

5 Fazit Von „Menschenwürde“ zu reden ist leicht, von ihr Rechenschaft zu geben offensichtlich schwer. Trotz der augenscheinlich hohen Relevanz, die der Begriff der Menschenwürde für unser Selbstverständnis hat, ist durchaus nicht klar, welche Rechte und Ansprüche mit ihm verknüpft sind und auf wen diese Rechte legitimer Weise zu beziehen sind. Nirgendwo tritt diese Uneinigkeit deutlicher hervor als in den gegenwärtigen Debatten der Medizinethik. Hier zeigt sich, dass die „Menschenwürde“ weder hinsichtlich des Geltungsbereiches noch hinsichtlich des normativen Gehaltes ein eindeutig definierter Begriff ist. Als ein besonders strittiger Punkt gilt vor allem die Frage, ob und inwiefern die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch nach wie vor als Grund für das mit der Menschenwürde verknüpfte Lebensrecht anzusehen ist. Die von P. Singer ausgelöste Debatte um den Speziesismus zeigt, dass jeder Versuch die Schutzwürdigkeit an bestimmte, überprüfbare Eigenschaften zu binden, zu Ausgrenzungen menschlicher Lebensformen (z.B. schwer Demente, schwerstbehinderte Säuglinge) führen kann. In philosophischer Hinsicht ist von solchen zumeist im Utilitarismus üblichen Begründungsversuchen das Kantische Würdekonzept deutlich zu unterscheiden. Kants Würdeverständnis erweist sich als das philosophische Konzept, das nicht nur am Kerngedanken der „Menschenwürde“ festhält, sondern diesen auch mit guten Gründen vertreten kann. Gemeint ist der Anspruch eines jeden Menschen auf Achtung und Unversehrtheit.

Literatur Birnbacher, Dieter, 1995, Tun und Unterlassen, Stuttgart. Cicero, Marcus Tullius, 42001, Vom rechten Handeln, De officiis (lt.), Karl Büchner (Hg.), Düsseldorf / Zürich. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Landtag von Baden-Württemberg (Hg.), Grundgesetz. Landesverfassung, 2007. Härle, Wilfried, 2010, Würde. Groß vom Menschen denken, München. Hoerster, Norbert, 1989, „Tötungsverbot und Sterbehilfe“, in: Hans-Martin Sass (Hg.), Medizin und Ethik, Stuttgart, S. 287 – 295.

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Kant, Immanuel, 71994, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Karl Vorländer (Hg.), Philosophische Bibliothek Bd. 41, Hamburg. Maihofer, Werner, 1968, Rechtstaat und Menschenwürde, Frankfurt a. Main. Ott, Konrad, 2006, „Prinzip / Maxime / Norm / Regel“, in: Düwell, Marcus / Hübenthal, Christoph / Werner, Micha H. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart, S. 474 – 480. Pico della Mirandola, Giovanni, 1990, Über die Würde des Menschen, De hominis dignitate (lt.), August Buck (Hg.), Hamburg. Quante, Michael, 2010, Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften, Hamburg. Singer, Peter, 21994, Praktische Ethik, Stuttgart. Spaemann, Robert, 2001, Grenzen zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart. Wieland, Wolfgang, 2003, Bioethik als Herausforderung, Bonn. Wils, Jean-Pierre, 2006, „Würde“, in: Düwell, Marcus / Hübenthal, Christoph / Werner, Micha H. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart, S. 558 – 563.

Michael Anderheiden

1.12 Die Menschenwürde beim Sterben erhalten: Rechtliche Bedingungen Abstract: Die gegenwärtige Diskussion um eine angemessene Sterbekultur wie auch um die institutionellen und zwischenmenschlichen Voraussetzungen guten Sterbens hebt sehr schnell auf das Menschenwürdekriterium ab. Der Beitrag untersucht die in der juristischen Diskussion vornehmlich vertretenen Ansätze und ihre Konsequenzen. Er argumentiert, dass viele der allgemein unter Verfassungsjuristen diskutierten Menschenwürdekonzeptionen gerade zu den häufig drängenden Fragen am Lebensende schweigen oder in ein non sequitur führen, obwohl die Bedeutung dieser Fragenanerkannt wird. Der Beitrag sieht die Ursache dieses Defizits der vorhandenen Menschenwürdekonzeptionen in ihrer methodisch von Deduktionen beherrschten Struktur, die den Einzelfragen am Lebensende deshalb nicht gerecht werden, weil diese Fragen zunächst gar nicht und dann nur noch eingeschränkt in den Blick der jeweiligen Konzeptionen kommen. Deshalb sucht der Beitrag den Anschluss an eine in der gegenwärtigen philosophischen Debatte aufgezeigte induktive Alternative. Abschließend wendet er sich der Frage der „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde und den befürchteten Bedeutungsverlusten der Menschenwürde durch suprastaatliches und internationales Recht zu. The current debates about an appropriate culture of death and dying and about the institutional and interpersonal prerequisites for a “good death” are quick to focus on the conception of human dignity. The article outlines the legal positions on human dignity and their consequences. It is argued that although (German) constitutional lawyers acknowledge that the end of individual life is an important field of application for conceptions of human dignity, the actual conceptions of dignity used are at least underdetermined, or even keep silent on the matter of dying and dignity, or lead to a non sequitur. The author argues that at the root of this shortcoming of the common conceptions of human dignity is their structure, which is dominated by a top-down approach. This approach cannot do justice to problems at the end of life, since this subject matter plays no role, or only a limited one, in the standard process of conceptualizing “dignity”. The article turns towards current philosophical alternatives which conceptualize “dignity” in a more inductive manner. Finally, the article explores the meaning of the “inviolability of human dignity” in the German Constitution, and the perils dignity may face in the forms of supranational and international public law.

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Keywords: Menschenwürde, Objektformel, Anerkennung, Achtung, Gottesebenbildlichkeit, capabilities, Werte, Inkommensurabilität

Prof. Dr. Michael Anderheiden, Juristisches Seminar der Universität Heidelberg

1 Wichtige Facetten der juristischen Diskussion um die Menschenwürde Die juristische Diskussion um die Menschenwürde füllt 60 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes Bibliotheken. Suchmaschinen liefern hunderte von Titeln zum Thema, alleine die Zahl der Monographien ist ins Unlesbare gestiegen. Unter diesen Bedingungen muss jede Darstellung von Menschenwürde auswählen und Schwerpunkte setzen, die dem Ziel der Darstellung folgen. Mit Bedacht werden hier deshalb nur zwei innerdeutsche Diskussionen thematisiert und eine dritte vorab angesprochen. Sie alle haben in unterschiedlichem Ausmaß Auswirkungen auf die Frage, welche Inhalte das Recht und hier vor allem das Verfassungsrecht für ein menschenwürdiges Sterben vorgibt. Die stärksten Implikationen für den juristischen Rahmen des Sterben dürften die Fragen nach dem Inhalt von „Menschenwürde“ haben (sofort unter 2), sodann die Diskussion darüber, was es heißt, dass nach Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz diese Menschenwürde „unantastbar“ sein soll (unter 3). Ein dritter innerdeutscher Diskurs ist ebenfalls, jedoch untergeordnet, von Bedeutung für die Rahmenbedingungen des Sterbens: Das ist die Frage, ob Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz ein subjektives Recht gewährt, das jeder Einzelne in Anspruch nehmen, für sich einklagen und notfalls vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen kann. So versteht Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz die Rechtsprechung und die wohl herrschende Meinung im Schrifttum¹. Nach einer abweichenden Lesart enthält die fragliche Grundgesetzvorschrift nur objektivrechtlich Gebote an die staatlichen Gewalten, die Menschenwürde bei der Ausgestaltung der anderen Grundrechte entsprechend zu berücksichtigen.² Artikel  1 Absatz

1 Das Bundesverfassungsgericht hat sich erst spät eindeutig in diese Richtung entschieden: Bundesverfassungsgericht Neue Juristische Wochenschrift 1993, 515 (517); entsprechende Andeutungen gehen aber bis in die Gründungsphase des Gerichts zurück, Entscheidungssammlung (BVerfGE) 1, 322 (343), regelmäßig seit BVerfGE 50, 256 (262). Nachweise aus dem Schrifttum bis 2004 bei Dreier (2004), Randnummer (Rn.). 124 mit Fußnote (Fn.). 418 zu Artikel (Art.) 1 Grundgesetz (GG); zum neueren Schrifttum s. Kunig (2012), Rn. 22 ff. mit Fn. 140 ff. zu Art. 1 GG. 2 Krawietz (1977), S. 245 ff.; Dreier (2004) Rn. 128 zu Art. 1 GG. Dieser Position ist zuzugeben, dass die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes nicht als Freiheitsrecht verstanden werden

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1 GG ist danach Grundsatz, nicht subjektives Recht. Die Betroffenen könnten dann jeweils vorbringen, dass die übrigen Grundrechte, etwa die Rechte auf Leben oder körperliche Unversehrtheit, nicht hinreichend im Lichte der Menschenwürde beachtet wurden. Für die allermeisten Situationen am Lebensende ergibt sich aus diesem für sich genommen wichtigen dogmatischen Streit keine sachliche Differenz. Nur in den wenigen Fällen, in denen die Menschenwürde als subjektives Recht eigenständig verlangt, was dem Schutzbereich der übrigen Grundrechte zuwiderläuft, können spürbare inhaltliche Unterschiede zwischen den Auffassungen entstehen, soweit ein Grundsatz den Schutzbereich des betroffenen anderen Grundrechts nicht entsprechend auszugestalten vermag.³ Doch selbst in diesen Fällen werden die dogmatischen Unterschiede im juristischen Diskurs teilweise ad hoc übersprungen, so etwa, wenn die Menschenwürde dazu dient, den temporalen Anwendungsbereich der übrigen Grundrechte auszudehnen.⁴ Daraus entsteht noch über das Lebensende hinaus ein „postmortales Persönlichkeitsrecht“,⁵ das etwa Auswirkungen hat auf die Sepulchralkultur (→ 4.34 Soerries), die Bestattungsvorschriften (→ 4.6 Zacharias), Fragen der Organentnahme von Toten und des Umgangs mit Leichen in Ausstellungen und Museen (→ 4.33 Soerries). Die angesprochenen Positionen zum Charakter des Rechts auf Menschenwürde stimmen darin überein, dass es ein solches postmortales Persönlichkeitsrecht gibt,⁶ sie sind über dessen inhaltliche Ausgestaltung unter der Meinungsführerschaft des Bundesverfassungsgerichts weitestgehend einig und nehmen auch wahr, dass dieses Recht gewisse Vorwirkungen zu Lebzeiten der Rechtsträger auslösen kann, vor allem in der letzten Phase des Lebens. Nicht nur wegen dieser Übereinstimmung zwischen der subjektivrechtlichen und der objektivrechtlichen Lesart des Menschenwürdeschutzes unter dem Grundgesetz können die Einzelheiten hier vernachlässigt werden, sie werden auch in den soeben ausgewiesenen Spezialbeiträgen dieses Handbuches thematisiert. Auf diese Beiträge sei hier ausdrücklich verwiesen. Fragen wir deshalb direkt, was das Grundgesetz zu

kann. Das schließt aber nicht aus, Art. 1 Abs. 1 GG als Statusrecht zu verstehen, dass allen Menschen als subjektives Recht verliehen ist und insofern parallel zum (Staats)Bürgerrecht der Staatsbürger für alle Menschenrechte (s. Art. 1 Abs. 2 GG) wie dieses für die bürgerlichen Rechte grundlegend ist. 3 Ist die Menschenwürde Grundrecht, werden die anderen Grundrechte durch sie eingeschränkt, ist sie nur Grundsatz, verleiht aber kein subjektives Recht, sind schon die Schutzbereiche der anderen Grundrechte auf sie hin zu interpretieren; Zu diesen Auswirkungen: Dederer (2009), S. 31 ff. 4 Zu dieser Funktion der Menschenwürde: Kunig (2012), Rn. 14 f. zu Art. 1 GG. 5 BVerfGE 30, 173 (194). 6 Exemplarisch Dreier (2004), Rn. 72 ff. zu Art. 1 GG mit zahlreichen Nachweisen; differenzierend (kein postmortales Persönlichkeitsrecht bezogen auf den Leichnam) nur Gröschner (1995), S. 35 und 50.

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„Menschenwürde“ und Sterben zu sagen hat, doch sollten die Erwartungen nicht zu hoch gehängt werden.

2 Der Gehalt von Menschenwürde Schon 1840 hatte Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral⁷ gemahnt, die Würde des Menschen sei zum „Schibboleth aller rath- und gedankenlosen Moralisten [geworden], die ihren Mangel an einer wirklichen, oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenem imponierenden Ausdruck ‚Würde des Menschen‘ verstecken.“ Warnungen vor inhaltlicher Uferlosigkeit gibt es seither immer wieder. Sie erscheinen vor dem Hintergrund des Umgangs mit Sterbenden dann berechtigt, wenn jede Nuance eines für menschlich gehaltenen Sterbens sogleich mit der Menschenwürde verknüpft und zusätzlich für „unantastbar“ erklärt wird. Das führte in einen Radikalismus, der nur noch das eine richtige Sterben kennte, eine Auffassung, die selbst wieder Gefahr liefe, Grundsätze von personaler Autonomie und Menschenwürde zu verletzen. Davon kann aber keine Rede sein, wenn der allgemein durch die Menschenwürde umrissene Anspruch auf die besondere Lage Sterbender gewendet wird. „Menschenwürdiges Sterben“ bezeichnet dann kein ideales und kein „optimales“ Sterben, ein solches dient auch nicht als regulatives, also für sich unerreichbares, aber jedenfalls anzustrebendes Ideal, sondern umgekehrt als ein Minimum, hinter das tunlichst nicht zurückgefallen werden soll. Vor diesem Hintergrund erst stellt sich die Frage nach einem (verfassungs)juristischen Verständnis menschenwürdigen Sterbens.

2.1 „Menschenwürde“ im deutschen Verfassungsdiskurs Dieses deutsche verfassungsrechtliche Verständnis des Inhalts von Menschenwürde hat sich nicht eigenständig entwickelt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die deutsche Staatsrechtslehre mit dem neuartigen Inhalt des Artikels 1 Grundgesetz konfrontiert wurde, ohne eigene umfassende Vorarbeiten geleistet zu haben.⁸ In dieser Situation griff die Staatsrechtslehre wie auch das Bundesverfassungsgericht auf

7 Schopenhauer (1988), S. 522. 8 Einen entsprechenden Grundsatz enthielten erstmals die Bayerische und die Hessische Verfassung von 1946 sowie die Bremische Verfassung von 1947; der Parlamentarische Rat übernahm die Idee eines Menschenwürdeschutzes aus Artikel 1 Absatz 2 Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee; dort wurde er wohl vom Münchener Staatsrechtslehrer Hans Nawiasky ventiliert. Die Fassung des Artikels 1 Absatz 1 Grundgesetz weist gegenüber beiden aber Eigentümlichkeiten auf. Zur Geschichte: Herdegen (2009), Randnummern 14 – 16 zu Art. 1 GG.

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philosophische Anleihen, namentlich bei Kant, aber auch bei Hegel zurück. Freilich misslang die Adaption, weil sie die Unterschiede von Moral- zur Rechtsphilosophie und von dort zum positiven Recht vernachlässigte. Übrig blieben Torsi oder Versatzstücke, vor allem die „Objektformel“ und das Schlagwort von der „Anerkennung“, also die Formel, wonach der Mensch niemals (bloß) als Mittel oder Objekt, sondern immer auch als Zweck an sich behandelt werden oder aber ununterscheidbar „Anerkennung“ als Rechtssubjekt genießen müsse. Das gab auch denen immer wieder Auftrieb, die einen direkten Zugriff auf christliche Werte als Kern der Menschenwürde ausmachen möchten und bereit sind, dafür naturrechtliche Rückgriffe zur Verfassungsauslegung heranzuziehen. Schließlich treten Verdienst- und Kommunikationsansätze auf, die Menschenwürde danach zumessen, welche Leistungen jemand erbringt oder erbracht hat bzw. danach, dass er an Kommunikation teilnehmen kann oder teilnehmen könnte (womit ein weiterer Maßstab zur Spezifizierung der Potentialität notwendig wird).⁹ Diese Theorien verbinden sich zwar mit den Namen Luhmann oder Habermas (und Hofmann), sind aber deutlich älteren Ursprungs: Leistungs- oder Verdienstaspekte bestimmen die Würde bei Cicero als insofern typischem Repräsentanten der späteren Stoa, Kommunikationselemente gibt es bei G. H. Mead. Diese Ansätze weisen für sich jeweils gehörige Schwierigkeiten auf, die sich allerdings, wie wir sogleich sehen werden, in einer bloßen Anwendung auf die Sterbephase noch einmal potenzieren. In dieser Situation verlangen manche Autoren, im Verfassungsrecht nur negativ auf dasjenige abzustellen, was jedenfalls nicht der Menschenwürde genügt. Daran ist richtig, dass nicht nach einem Optimum gesucht wird, aber falsch zu glauben, damit erübrige sich, einen positiven Begriff von Menschenwürde zu definieren oder die Aspekte selbst wieder unter einem Leitbild zu systematisieren. Immerhin sollt aber auch Verfassungsrechtlern zu denken geben, dass sie die teilweise rigorosen Konsequenzen scheuen, die die von ihnen in Bezug genommenen Autoren zu Fragen des Sterbens und des Lebensendes vertreten. Kant etwa hielt Selbstmord für Mord,¹⁰ Hegel sah das nicht viel anders.¹¹ Aber keiner der heutigen verfassungsrechtlichen Vertreter einer Objektformel oder des Anerkennungsschlagwortes sieht sich an diese Ergebnisse der Erstautoren gebunden.¹² Zu Recht, mag man befinden, die Argumentationen der Altvorderen überzeugen dazu nicht.¹³ Aber auch wenn das so ist, läge doch wenigstens ein Eingehen auf deren Positionen zu den genannten schwierigen und noch heute umstrittenen Randfragen des Lebens nahe.

9 Verdienstkonzeptionen (unter Rückgriff auf Hegel) bei Herdegen (2009), Rn. 13. 10 Zu Suizid gleich an drei Stellen seines Werkes: Kant (1911), S. 421 f (als erstes Beispiel in der Diskussion des kategorischen Imperativs überhaupt!) und S. 429 (bei Diskussion der originalen „Objektformel“!) sowie Kant (1907), S. 422 in § 6. 11 Hegel (2004), § 70. 12 Exemplarisch di Fabio (2004), Rn. 47 zu Art. 2 Abs. 2 GG (Recht auf Leben). 13 Marx (2003), S. 59 – 80.

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Auch das geschieht aber nicht. Stattdessen lassen Verfassungsrechtler regelmäßig im Unklaren, wie viel an Kant noch in der Objektformel steckt, wie viel von Hegel im Schlagwort von der „Anerkennung“ des Anderen. Das ist insoweit nicht schädlich, als das Verfassungsrecht seine Begriffe eigenständig prägt. Doch fällt ihm dann genau diese Aufgabe zu: Die Begriffe so zu prägen, dass sie rechtliche Aussagekraft haben. Und genau daran könnte es fehlen, wenn wir uns den gängigsten verfassungsrechtlichen Würdeverständnissen nähern und dabei die Schwierigkeiten des Lebensendes in den Blick nehmen.

2.2 „Menschenwürdig sterben“: Probleme des Verfassungsdiskurses Es wiederholen sich bei der Beschäftigung mit der Menschenwürde am Lebensende Phänomene, die wir aus der modernen Physik und der kognitiven Psychologie kennen: In der Physik ist anerkannt, dass sich kleinste Teilchen anders verhalten als andere, größere Teile. Das führte zur Entwicklung der Quantenphysik, da die Newton’sche Physik insoweit falsifiziert war. Aus der kognitiven Psychologie ist bekannt, dass die Bewertung von Risiken dann nicht mehr rational erfolgt, wenn es sich um entweder sehr kleine oder sehr große Risiken (gemessen an Auswirkung mal Wahrscheinlichkeit) handelt. Es heißt dann plastisch im Englischen, das Verhalten von Teilchen oder die Abbildung von Risikoeinschätzungen in Kurven sei „not well behaved“. Bei der Menschenwürde am Lebensende scheinen die zumindest bei Juristen besonders weit verbreiteten Menschenwürdekonzeptionen ebenfalls zu kurz zu greifen und insofern „not well behaved“ zu sein:

2.2.1 Leistungskonzeptionen Das ist offensichtlich für jede Menschenwürdekonzeption, die im Anschluss an Luhmann Würde nach gesellschaftlicher Bewährung und Leistung zumisst. Dieser systemtheoretische Ansatz führt dazu, Sterbenden eine ständig abnehmende, in der finalen Phase des Sterbens nur noch residuale, aus früherem Erwerb übrig gebliebene, und schließlich gar keine Menschenwürde zuzusprechen. Das bedeutet, dass systemtheoretische Ansätze des Sterbens blind sind für die Dimension einer eigenen Würde der besonders Schwachen und derjenigen, die keine messbaren Leistungen bringen können oder niemals Leistungen erbringen konnten. Für ein Ausschreiten des „menschenwürdigem Sterbens“ ist so eine Theorie unbrauchbar, soweit sie sich

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nicht auf den absurd erscheinenden Weg begibt, eine Taxonomie residualer Menschenwürdezuschreibungen zu erstellen.¹⁴

2.2.2 Objektformel, mit und ohne Anreicherung Ein ähnliches Problem ergibt sich unter anderen Vorzeichen aber auch für die an Kant angelehnte Menschenwürdekonzeption,¹⁵ wie sie in der „Objektformel“ zum Ausdruck kommt. Streng genommen hat der Mensch bei Kant nicht schon soweit, als er andere nicht nur zum Objekt, sondern immer auch zum Zweck setzen kann, sondern erst als Vernunftwesen, das alle anderen Vernunftwesen als Gesetzgeber in ihren Gesetzgebungen berücksichtigt, seine (immer gleiche) Würde.¹⁶ Das deutet auf den noumenalen Ursprung des Würdebegriffs bei Kant.¹⁷ Sterben und Tod dagegen sind Phänomene, denen Kant nicht im Zusammenhang der Vernünftigkeit nachgeht. Die „Tugendlehre“ der „Metaphysik der Sitten“ als dem Ort, an dem bei Kant der Ausfluss der Würdigkeit auf das sittliche Handeln des Menschen diskutiert wird, kennt folgerichtig nur eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit als vernunftinduzierte Handlungsziele. In diesem Rahmen geht Kant nur auf Selbstentleibung und Selbstbetäubung ein, sowie auf eine abstrakte Pflicht zur Menschenliebe und Menschenachtung, die sich in der Freundschaft verbinde. In Ansehung eines konkreten menschlichen Zustandes sei dagegen nur schematisch eine Anwendung dieser Prinzipien möglich.¹⁸ Ausdrücklich zählt Kant zu diesen Zuständen den „Gesundheitszustand“. Nähere Ausführungen zu spezifischen Handlungspflichten, die Kant selbst in einem Anhang für notwendig hält, fehlen aber. Kant hat also keine konkreten Vorstellungen davon, welche Bedingungen am Lebensende herrschen sollten. Solche Bedingungen lassen sich mit Kant auch nicht weiter konkretisieren. Was etwa sollte die „eigene Vervollkommnung“ vom Sterbenden verlangen? Auch bleibt unklar, welche Handlungsanweisungen sich an andere ergeben könnten, wenn Kant verlangt, für „fremde Glückseeligkeit“ zu sorgen, immerhin auch das ein Vernunftbegriff, dessen Inhalt sich nicht platt als „Wohlfühlen“ angeben lässt.

14 Apodiktisch: Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 87, 209 (228): Die Menschenwürde sei „[…] auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustande nicht sinnhaft handeln kann.“ 15 Der bloßen Anlehnung war sich der eigentliche „Schöpfer“ der Objektformel sehr bewusst: Er verzichtete auf eine Bezugnahme auf Kant, s.: Dürig (1956), S. 127 f. 16 Das gilt jedenfalls für den Kant der „Grundlegung“ (1911); näher dazu die ausgezeichnete Einführung von von der Pfordten (2006), S. 501 – 517. 17 Daran hält Immanuel Kant auch in seiner Metaphysik, hier der Tugendlehre (1907), § 38, fest, weil die dort in Bezug genommene „Persönlichkeit“ in Kants Begrifflichkeit nur noumenalen Wesen zukommt. 18 Kant (1907), § 45.

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Zudem vermochte sich Kant (wie Goethe Kind der Übergangszeit zur modernen Medizin) noch nicht vorzustellen, dass ausgerechnet Ärzte beim Sterben ihrer Mitmenschen besonders hilfreich sein und zugleich eine Pflicht erfüllen könnten. Noch weniger konnte sich Kant ausmalen, wie schwierig es ist, genau ärztliche Handlungspflichten in Ansehung fremder Glückseligkeit zu bestimmen. Mit anderen Worten: Auch ein kantisch geprägter Menschenwürdebegriff konnte bislang am Lebensende nicht zu überzeugenden Vorschlägen verdichtet werden. Das ist auch deshalb nicht verwunderlich, weil es Kant alleine um das Wollen geht, dessen Maxime immer auch ein allgemeines Gesetz abgeben solle, während die Frage nach der Menschenwürde am Lebensende nicht (nur) dem richtigen Wollen, sondern Leitlinien für Handlungen gilt. Wenn die deutsche Rechtsprechung und die juristische Literatur hier versuchen, das eine in das andere ohne weiteres zu überführen, kämpfen sie mit weiteren Schwierigkeiten. Gerade die juristische Rahmensetzung für die Sterbephase kann dazu dienen, diese theoretischen Schwierigkeiten verständlich zu machen. Ohne viel weitere Arbeit ist aber Kants Ansatz zur Menschenwürde, so gerne er von Juristen aufgegriffen wird, am Lebensende nicht besonders viel versprechend. Das ändert sich nicht wesentlich, wenn in Ergänzung zur Objektformel auf die ebenfalls von der Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts benutzte Negativevidenz (bestimmte Behandlungen sind jedenfalls menschenunwürdig) abgestellt wird.¹⁹ Diese Ergänzung ist zwar aus der Erfahrung des NS-Regimes heraus entstanden und stellt auf das Verbot von Folter, erniedrigender und unmenschlicher Behandlung ab, wie es etwa als eigenes Recht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder der Europäischen Menschenrechtskonvention vorhanden ist,²⁰ doch ist diese Ergänzung einerseits zu ungenau, um näher einzugrenzen, ab wann eine medikamentöse Weiterbehandlung oder auch nur das Reichen von Nahrung oder Flüssigkeit ohne oder gegen einen früher erklärten Willen des Betroffenen als „unmenschlich“ oder erniedrigend angesehen werden muss, um zwei Beispiele zu geben, zum anderen ist diese Ergänzung in ihrer topisch-unsystematischen Zusammenstellung²¹ zu theoretischer Aufarbeitung wenig geeignet; sie entwächst ja nicht der Philosophie Kants, sondern ist ihr ad hoc hinzugefügt. Deshalb vermag sie nicht über die bislang entschiedenen Fallgruppen hinaus, die nichts mit dem Ende des Lebens zu tun haben, für Klärung zu sorgen. Das gilt selbst dann, wenn man den erörterten Fallgruppen der grausamen oder erniedrigenden Behandlung stets einen verbrecherischen Willen unterstellen mag, der bei Heilbehandlungen oder deren

19 So etwa der Sache nach Dreier (2004), Art. 1 Rn. 58 – 60. 20 Art. 5 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention. 21 Diese verbreitet (Selbst-)Kritik findet sich etwa schon bei: Dürig (1956), S. 117, 127. Gleichsinnig: Dreier (2004), Art. 1 Rn. 52.

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Abbruch regelmäßig fehlt. Denn zwischen Abbruch und Nicht-Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen lässt sich damit nicht entscheiden, solange kein verbrecherischer Wille vorliegt. Das Kriteriennetz scheint so zu weitmaschig, um die typischen Fallgruppen am Lebensende adäquat zu erfassen. Die Objektformel mit oder ohne Ergänzung um Fälle grausamer oder erniedrigender Behandlung ist damit ungeeignet, um als Maßstab menschenwürdigen Handelns am Lebensende zu dienen.

2.2.3 Anerkennung Mit dem Schlagwort der „Anerkennung“ wird auf einen Achtungsanspruch abgehoben, den die Menschen gegeneinander erheben und einander zugestehen. Auf der Grundlage dieser gegenseitigen Achtung werden dann die übrigen Grund- und Menschenrechte begründet.²² Geht die Konstruktion auch auf Hegel²³ (und über diesen hinaus auf Fichte zurück),²⁴ so differiert die geistige Grundlage heute erheblich: Von Simon de Beauvoir²⁵ über Ernst Bloch²⁶ bis zur Kritischen Theorie²⁷ reichen die geistigen Stichwortgeber. Sie lassen sich zu einem absolutierenden und einem heteronomisierenden Strang zusammenfassen: Der absolutierende Strang stellt auf die Selbsterkenntnis ab, die ohne gegenseitige Anerkennung nicht möglich sei. Ohne eigene wie fremde Anerkennung keine Selbsterkenntnis, kein Selbstverständnis, keine Möglichkeit, etwas als Eigenes zu erkennen, keine Möglichkeit, ein eigenes subjektives Recht zu erkennen, Verantwortung und Freiheit zuzuschreiben, Verträge zu schließen, Strafen zu verhängen, einen individuellen Status zuzuschreiben, Verwaltungsakte zu adressieren, etc. Kurz: Ohne gegenseitige Achtung durch Anerkennung kein Recht, wie wir es kennen. Tendenziell neigt diese Auffassung dazu, die Möglichkeit auszuschließen, jemandem seinen sozialen Geltungsanspruch abzusprechen. Der hetronomisierende Strang stellt demgegenüber auf Anerkennung als Grundlage von Kommunikation²⁸ ab. Ohne Anerkennung als gleichberechtigter Kommunikationspartner keine Kommunikation, keine Möglichkeit, mit dem Ziel von Zustimmung oder Ablehnung sich an jemanden zu wenden, keine Möglichkeit, sich kommunikativ über ein Geschehen zu verständigen, keine Möglichkeit, Richtigkeits-

22 Hofmann (1993), S. 353 (364); Enders (1997), S. 242 ff., 283 ff. und ders. (2005), S. 49 – 61; Seelmann (2000), S. 125 (133). 23 Dazu Siep (1979). Über Hegel kommunikationstheoretisch hinausgehend: Honneth (1992). 24 S. zur Entwicklung den Sammelband von Schmidt am Busch / Zürn (2009), und speziell zu Fichtes Anerkennungsbegriff als Grundlage der Menschenrechte jetzt: Anderheiden (2012), S. 222 ff. 25 Zu ihrer Auffassung: Moser (2002). 26 Bloch (1961); Maihofer (1963), und zu beiden nun: Kirste (2010), S. 104 ff. 27 Dazu Schmidt am Busch (2011). 28 Honneth (1992); Alexy (1996), Habermas (1992).

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ansprüche zu erheben, wie sie für die Kommunikation über (juristische) Entscheidungen typisch sind. Abhängig bleibt die Begründung aber vom Kommunizieren-Wollen, davon, sich dem Anderen als einem prinzipiell Gleichberechtigten in seinem Urteil auszusetzen: Wenn jemand partout nicht kommunizieren will, muss er die anderen dann doch anerkennen? Das erscheint zumindest nicht sicher. Die Erklärung von „Menschenwürde“ durch „Anerkennung“ wurde zwar in mehreren Anläufen für das Verfassungsrecht ausgearbeitet,²⁹ Erläuterungen zur Menschenwürde am Lebensende fehlen aber auch hier. Gerade bei langfristig Dementen sowie Bewusstlosen, wie sie sich in der Sterbephase zahlreich finden, ist aber unklar, ob sie sich als Kommunikationspartner in einer konkreten Anerkennungsgemeinschaft mit anderen befinden.³⁰ Zumindest besteht die Gefahr, das gewünschte Ergebnis in der Antwort dieser Frage zur Grundlage der Argumentation zu machen und damit einem Zirkelschluss zu erliegen. Gerade für die Sterbephase ist also der Rückgriff auf „Anerkennung“ argumentativ ausfüllungsbedürftig. Das kann vor allem deshalb nicht überraschen, weil schon Kant „Achtung“ und Würde aufeinander bezog und diesen Bezug als Ausfluss seines kategorischen Imperativs verstanden wissen wollte: „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden.“³¹

Auch diese Konzeption ist aber, wie sich sogleich zeigen wird, durch Grundsätze mittlerer Reichweite ausfüllungsbedürftig und ausfüllungsfähig.

2.2.4 Gottesebenbildlichkeit Zuvor sei kurz auf einen letzten, auch im Verfassungsrecht verbreiteten Menschenwürdebegriff eingegangen. Er leitet sich aus der jüdisch-christlichen Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen³² mit ihrem Kern der Unsterblichkeit der menschlichen Seele ab und wird durchaus auch um humanistische Elemente ergänzt, die einen „ontologisch-anthropologischen“ Grund haben sollen.³³ Immerhin vermag diese Konzeption von Menschenwürde konkreter als die bislang behandelten Menschenwürdetraditionen Vorstellungen vom Sterben zu entwickeln: Für Gläubige ist

29 Alexy (1996); Enders (1997); Annäherung an das Recht von philosophischer Seite: Habermas (1992). 30 Zu dieser Anerkennungsgemeinschaft: Hofmann (1993). (→ 2.19, 2.20 von Kruse bzw. Remmers). 31 Kant (1907), S. 462. 32 Genesis 1,27; Epheser-Brief 4, 24. 33 Starck (2010), Rn. 5 – 8 zu Art. 1 Abs. 1 GG.

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sicher, dass ihre Seele nach dem Tod weiter existieren, dass ihr Leib am Jüngsten Tag auferweckt werden wird und dass sie, sofern sie ein gottgefälliges Leben geführt haben, für das sie vor Gott Verantwortung tragen und sofern Gott ihnen gnädig ist, mit verklärtem Leib in ein seliges Dasein auf ewig eingehen werden. Der tätige Gläubige „wird den Tod nicht sehen in Ewigkeit“ (Joh 8,51). Der Tod sollte deswegen für den Gläubigen, der sich um ein gottgefälliges Leben bemüht hat, „keinen Schrecken mehr“ haben. Dasselbe gilt für das Sterben, das deshalb nur als ein Übergang zu einem anderen und besseren Leben zu betrachten ist. Trotzdem haben auch gläubige Menschen zu allen Zeiten Furcht vor dem Sterben, sie befürchten wie alle anderen den schmerzhaften körperlichen Verfall und wissen, dass ihr Glauben dabei auf eine harte Probe gestellt werden kann. Die Heilige Schrift widmet sich nur diesem letzten Aspekt: Im Brief des Jakobus als der einzigen Stelle des neuen Testaments, die explizit menschliches Verhalten beim Sterben eines anderen normiert, findet sich, dass zu Schwerkranken die Gemeindeältesten gerufen werden, damit sie mit den Kranken beten, sie salben und ihr Sündenbekenntnis entgegennehmen (Jak 5, 14 – 15). Daraus hat sich jene „Krankensalbung“ entwickelt, die lange Zeit „Sterbesakrament“ oder „Letzte Ölung“ hieß und den Kern einer umfassenden religiösen Sterbehilfe darstellt. Sterben wird hier als eine letzte Lebensphase betrachtet, in welcher der Mensch einer besonderen religiösen Zuwendung bedürftig ist, hier gilt es, seine Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen und ihr tätig zu begegnen. Dadurch wird der Sterbende und der Schwerkranke in seiner besonderen Würde bestätigt. In diese Richtung ließe sich für die Menschenwürdekonzeption der Gottesebenbildlichkeit auch verfassungsrechtlich argumentieren. Wenig findet sich dagegen dazu, wie dem schmerzhaften körperlichen Verfall begegnet werden soll, einem anderen Auslöser von Todesfurcht auch bei gläubigen Menschen oder Atemnot und Erstickungsangst, der auch typisch für Sterbende ist. Immerhin sind negative Aussagen möglich: Die Überlieferung kennt kein Recht, dem Leben (oder Sterben) ein Ende zu setzen. Sie gibt keine Hinweise, dass ein leidvolles und langes Sterben abgekürzt werden dürfe. Vielmehr gilt es, das Leiden – dem Vorbild Jesu folgend – bereitwillig auf sich zu nehmen und geduldig zu ertragen; die Würde des Menschen wird dadurch nicht berührt. In einem gewissen inhaltlichen Abstand zu diesen Grundlagen unterscheiden aber auch christlich geprägte Verfassungsrechtler zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe und lassen eine passive Sterbehilfe zu, während sie eine aktive Sterbehilfe vehement ablehnen („kein Recht auf den Gnadentod“).³⁴ Das erscheint zwar im Ergebnis plausibel, aber nicht besonders konsequent und kann nur als Ausfluss verfassungsdogmatischer Erwägungen zu den Pflichten des Staates zum Lebenserhalt gedeutet werden. Wenn aber das Leben vitale Basis der Menschenwürde ist

34 Starck (2010), Rn. 92 zu Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 207 und 215 zu Art. 2 GG.

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und es Aufgabe des Staats ist, die Menschenwürde durchgängig zu schützen,³⁵ dann erscheint es zumindest nahe liegend, vom Gesetzgeber Normen und organisatorische Vorkehrungen zu erwarten, die eine Lebensverkürzung, ja ein Nichtausschöpfen der Lebensspanne vermeiden, ohne dass andere, weniger wichtige Rechtsgüter (freie Entfaltung der Persönlichkeit, körperliche Unversehrtheit) dabei beachtet werden können. Wie sind vor diesem Hintergrund die Errungenschaften moderner Medizin, insbesondere moderner Palliativmedizin einzuschätzen? Man könnte glauben, dass die Palliativmedizin dann, wenn sie Leben verkürzt, pauschal unter das Verdikt des „Gnadentods“ zu fallen hätte und zu verbieten ist. Protagonisten der Interpretation von Menschenwürde durch Gottesebenbildlichkeit greifen aber selbst auf der Ebene des Verfassungsrechts auf eine mittelalterliche Unterscheidung zurück und sehen die Palliativmedizin dann als gerechtfertigt an, wenn sie die Form einer indirekten aktiven Sterbehilfe annimmt, bei die Lebensverkürzung nur als Teil der Schmerzmilderung durch Medikamente in Kauf genommen wird, sie nur „secundum quid“ geschieht.³⁶ Der Grund für diese Auffassung kann jedenfalls nicht darin liegen, dass die Palliativmedizin das „natürliche“ Leben gar verkürzt, weil dieses Leben ohne Hilfestellungen vielfach gar nicht mehr existieren würde. Denn ob jemand solche lebensverlängernden medizinischen Hilfestellungen am Lebensende bereits in Anspruch genommen hat, ist kontingent. Die heute diskutierten Einzelfragen menschenwürdigen Sterbens werden in der christlich geprägten verfassungsrechtlichen Überlieferung vielfach nicht gestellt, sie konnten dort auch nicht gestellt werden, weil dazu die Begriffe fehlen. Das Defizit wirkt sich heute dahin aus, dass Antworten auf Fragen mühsam und bestreitbar ergänzt werden müssen, die sich durch den Einsatz der modernen Palliativmedizin stellen, Irrtum eingeschlossen.³⁷ Letztlich steht die verfassungsrechtliche Tradition der Gottesebenbildlichkeit vor dem Problem, dass sie den Tod infolge der Erbsünde nur als Durchgang zum ewigen Leben verstehen kann und die Phase des Sterbens als solche nicht relevant ist: Sie ist Lebensphase wie alle anderen auch, für die dann dieselben Schutzpflichten aus Menschenwürde und Lebensschutz statuiert werden wie sonst üblich. Der scharfe Einschnitt, den viele mit der Mitteilung des nahen Todes empfinden, wird in dieser Auffassung nicht geteilt oder zumindest nicht als bedeutsam angesehen.

35 Starck (2010), Rn. 17, 40 und 92 zu Art. 1 Abs. 1 GG. 36 Starck (2010), Rn. 215 zu Art. 2 GG. Zu Pflichten „secundum quit“ vs. „simpliciter“ knapp: Anderheiden (2000), S. 112 ff. 37 Zum Beleg mag auf die lange ambivalente, teilweise ablehnende Haltung der Kirchen zu Hospizen und auch zur Palliativmedizin verwiesen werden. S. den heute nur noch erstaunlichen Bericht von Jelen (1980). Diese Auffassungen haben sich zwar grundlegend gewandelt, aber dass ein solcher Wandel vollzogen wurde, lässt selbst Zweifel keimen, ob die Grundlagen hinreichen, nur bestimmte Ableitungen zu tragen.

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2.3 Ein induktiver Ansatz zu „Menschenwürdig sterben“ 2.3.1 Mögliche Hilfskriterien Entsprechend tragen Hilfskriterien weiter und treiben die Diskussion an, wie etwa Autonomie und Fürsorge (→ 2.9 – 2.12 von Wolff-Metternich, Rentsch, Härle und Kirste). Gerade die Autonomie, das Frei-Entscheiden-Können, wurde bereits in der Renaissance bei Ficino und Pico de Mirandola mit Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde in Verbindung gebracht.³⁸ Pico sieht den Menschen als dasjenige Wesen, das Gott zuletzt geschaffen habe und der, wie Gott selbst, freilich in unvollkommener Weise, alle Möglichkeiten der zuvor geschaffenen Lebewesen in sich vereine. In der Freiheit, aus diesen Möglichkeiten selbstbestimmt zu wählen, sieht Pico die Würde des Menschen. Auch bei Kant hängen freier Wille und Würde eng zusammen und das Christentum kennt die Freiheit zu Gott. Die Fürsorge hat sich nicht nur aus der christlichen Nächstenliebe entwickelt. Sie spielt daneben im kantischen Gebot, für die Glückseeligkeit anderer zu sorgen, genauso eine zentrale Rolle wie in der Achtung innerhalb der Familie bei Hegel. Als Fürsorge für Abhängige ist sie seid der Antike überliefert und wird von Tocqueville gerade für den privaten Bereich als Ausprägung der Menschenwürde in Anspruch genommen.³⁹ Im Grundgesetz ist der freiheitliche und zugleich soziale Staat als Ziel des Rechts und als Ausfluss der Menschenwürde festgeschrieben. Mit den Prinzipien der Autonomie und der Fürsorge bildet sich vielleicht ein für Deutschland besonders tragfähiges Fundament, die Menschenwürde auch für die schwierigen Fragen am Lebensende handhabbar zu machen. Derzeit erscheint selbst diese Ausdeutung der Menschenwürde am Lebensende aber als zu grobporig. Wie aber lassen sich feinere Differenzierungen gewinnen? Drei Überlegungen sollen helfen: Zunächst die Mahnung Kants, dass das, was eine Würde hat, keinen Preis habe.⁴⁰ Modern gesprochen ergibt sich daraus der Gedanke der Inkommensurabilität. Die zweite Überlegung speist sich aus dem Gegensatz der Endlichkeit des Menschen zu einer bis zuletzt fortdauernden Menschenwürde, deren Erlöschen (nach dem Tode) nicht aus der Idee der Würde selbst gewonnen werden kann, kantisch gesprochen dem Unterschied zwischen dem Noumenalen (ewige Würde) zum Phänomenalen (endlicher Mensch): Der staatliche Adressat der Grundrechte kann diese Kluft nur überwinden, wenn ihm nicht auferlegt wird, stets der ewigen Würde nachzujagen, sondern nur Vorkehrungen zu schaffen, die einen Würdeerhalt jedes einzelnen Menschen bis zum Tode (und abgeschwächt danach) ermöglichen. Drittens ist die juristische Theorie auf Verallgemeinerbarkeit, eben auf theoretische

38 Als Einstieg in diese Thematik mag der informative Sammelband von Gröschner / Kirste / Lembcke (2008) dienen. 39 Tocqueville (2007), S. 11 ff. 40 Kant (1911), S. 435.

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Grundlagen angewiesen. Ausfüllungen des Menschenwürdebegriffs am Lebensende dürfen nicht so speziell sein, dass sie in anderen Lebensbereichen nichts taugen. Vielmehr muss hinter den notwendigen konkreten Überlegungen zum Lebensende eine allgemeine und allgemein begründete Theorie aufscheinen, die verfassungsrechtlich über dieses Anwendungsgebiet „Lebensende“ hinaus einsatzfähig bleibt.

2.3.2 Inkommensurabilität Zum ersten Punkt erscheint eine Besinnung auf die Besonderheiten des Lebensendes notwendig. Am Lebensende sind während eines langsamen und deshalb längerfristigen Sterbeprozesses ganz unterschiedliche Sorgen und Nöte involviert, die jemand bei Gefährdung als menschenwürderelevant ansehen mag: Der eine hat Angst vor körperlicher Desintegration, vor Abhängigkeiten in der persönlichen Pflege. Ein anderer hat zunehmend Angst, die Kontrolle über seine Umgebung zu verlieren. Ein dritter fürchtet sich vor Schmerzen oder Atemnot. Wieder andere sehen ihre persönliche Beziehungsfähigkeit als zunehmend fragil an. Und wieder andere zweifeln an ihren Sinneswahrnehmungen, fürchten „komisch“ zu werden. Alle diese Befürchtungen können zu Anspruchshaltungen führen, deren Nichteinlösung als entwürdigend empfunden wird. Das Besondere daran ist, dass die Einlösung der Ansprüche einer Art etwa durch fortgesetzte und vertiefte zwischenmenschliche Beziehungen nicht Ansprüche anderer Art kompensieren können, etwa den Wunsch nicht körperlich so zu verfallen, dass ein Anspruch auf beständige Hilfe auch bei alltäglichsten Verrichtungen notwendig wird. Vertiefte Beziehungen tragen nicht notwendig dazu bei, den Abscheu über den eigenen versagenden Körper und die deshalb notwendigen, peinlichen Hilfen zu mindern. Die beiden Aspekte menschenwürdigen Sterbens erscheinen nicht als aufrechenbar. Sie sind inkommensurabel.⁴¹ Und so erscheint es mit vielen anderen Aspekten am Lebensende. Eine gelingende Menschenwürdekonzeption muss am Lebensende dieser grundlegenden Inkommensurabilität Rechnung tragen. Die angesprochene Inkommensurabilität verlangt nach einem weiter aufgefächerten Würdekonzept am Lebensende als es die Objektformel oder ein Achtungsanspruch für sich bereitzuhalten vermögen.

2.3.3 Abstraktion und Institutionalisierung Ein weiterer Aspekt erscheint wichtig: Es ist nicht sicher zu stellen, dass die Ansprüche auf würdige Behandlung am Lebensende tatsächlich aufrechterhalten werden

41 Aus der umfangreichen Diskussion zur Inkommensurabilität von Werten s. Griffin (1986); Raz (1999).

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können. Sterbende verlieren häufig genug die Kontrolle über ihre Umgebung (räumlich, persönlich, fiskalisch, aber auch in puncto Ordnung und Sauberkeit), sie erleiden Einsamkeit trotz relativ intakter Beziehungen, sie sind zu praktischem Vernunftgebrauch nach und nach nicht mehr in der Lage, verlieren die Kontrolle über ihren Körper, etc. Eine Würdekonzeption, die verlangte, alles dies zu verhindern, überspannte den Bogen des Möglichen. Gerade in der grundrechtlichen Ausrichtung auf einen staatlichen Adressaten kann deshalb nicht gefordert werden, dass die angesprochenen Verfallserscheinungen tatsächlich gestoppt oder revidiert werden. Dem Staat kann nur auferlegt werden, hinreichende institutionelle Vorkehrungen dafür zu treffen, dass den angesprochenen Entwürdigungen im Einzelfall begegnet werden kann. Ob die jeweils eingeleiteten Gegenmaßnahmen tatsächlich Erfolg haben, steht auf einem anderen Blatt. Subjektive Rechte aus Artikel 1 Absatz 1 GG sind am Lebensende deshalb auf diejenigen Maßnahmen zu beschränken, die abstrakt geeignet sind, den spezifischen Entwürdigungen der Situation zu begegnen.

2.3.4 Ein theoretischer Ansatz Schließlich ist zu fragen, welcher theoretische Hintergrund die gestellten Aufgaben erfüllen kann. Hierzu soll die Aufmerksamkeit auf den in der angelsächsischen Welt vielfach diskutierten capabilities-Ansatz gelenkt werden, wie er zunächst von Amartya Sen vorgeschlagen wurde⁴² und nun von der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum vorgetragen wird.⁴³ Nussbaums Version verdient für unsere Zwecke den Vorzug, weil sie zum einen die Befähigungen, die Menschen zuteil werden sollen, direkt als Ausformulierungen von Menschenwürde und darauf basierter Achtung ansieht⁴⁴ und zum anderen eine Liste von capabilities gibt, die sie zwar auf den Umgang mit Menschen mit Behinderung bezieht, die aber für das Lebensende und darüber hinaus verallgemeinerungsfähig ist.⁴⁵ Nussbaum fordert für ein menschenwürdiges Leben nicht weniger als zehn Teilbereiche von Menschenwürde zu beachten, die ich im Folgenden in eine eigene Ordnung bringe: 1. Leben verstanden als natürliche Lebensspanne 2. Gesundheit, soweit dies dem Lebensablauf entspricht 3. Körperliche Integrität, einschließlich Fortbewegungsfreiheit und der Möglichkeit zur Reproduktion

42 Sen (1980). 43 Nussbaum (2006). 44 Nussbaum (2006), S. 7, 74, 161 ff., besonders deutlich S. 174: „[…] the capabilities approach […] considers the account of entitlements not as derived from the idea of dignity and respect but rather as fleshing out those ideas.“ 45 Nussbaum (2006), S. 76 – 78. Auch in Nussbaum (2011), S. 17 ff.

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4. Kontrolle über die eigene Umgebung ausüben zu können (einschließlich des Eigentums und der Möglichkeiten, Anweisungen zu geben und mit zu gestalten 5. Praktischer Vernunftgebrauch zur Lebensplanung und -gestaltung 6. Bindungsfähigkeit einschließlich der sozialen Grundlagen des Selbstrespekts 7. Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Lebewesen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, einschließlich etwa zu (Haus)Tieren 8. Fähig zu sein zu Lachen, Spiel und Erholung 9. Möglichkeit, Sinneswahrnehmungen, Vorstellungskraft und Denken einzusetzen 10. Möglichkeit, Emotionen zu bilden und ausleben zu können Für Nussbaum sind diese zentralen menschlichen Fähigkeiten Bestände an Menschenwürde. Sie sollten jedem Menschen in einem Mindestmaß zukommen, damit er ein würdiges Leben führen kann. Alle diese capabilities stehen für ein ganzes Konglomerat von Anforderungen zur Wahrung menschlicher Fähigkeiten, das aber nicht gegen ein anderes Konglomerat ausgetauscht oder mit einem anderen ausgeglichen werden kann: Schwindende Beziehungsfähigkeit kann nicht durch ein Mehr an praktischem Vernunftgebrauch, an Gesundheit oder an Erholung ersetzt werden und vice versa.

2.3.5 Exemplarische Anwendung Was bedeutet das für Sterbende, welche Handlungsimperative lassen sich aus Nussbaums Ansatz am Lebensende gewinnen? Das sei an einigen zentralen Aussagen exemplarisch vorgeführt. Der Eigenwert des Lebens, den Verfassungsjuristen aus Art. 2 Abs. 2 GG kennen, verbietet grundsätzlich, jemanden „vor der Zeit“ aufzugeben oder gar zu töten. Der Ansatz lässt aber eine Grauzone dann zu, wenn der Wert des Lebens⁴⁶ aus Sicht der Betroffenen selbst das Weiterleben nicht mehr lebenswert erscheinen lässt und aus dieser Perspektive die Lebensfrist ausgeschöpft erscheint. Möglichkeiten der Sterbehilfe sollten unter diesen engen Voraussetzungen nicht von Verfassungs wegen als verboten angesehen werden, auch wenn der Gesetzgeber frei ist, aus pragmatischen Erwägungen etwa der Beweisbarkeit bestimmte Arten der Sterbehilfe zu verbieten. Die den Verfassungsjuristen ebenfalls bekannte Diskussion um die Inhalte der „körperlichen Unversehrtheit“ lassen sich mit Nussbaums Ansatz zunächst als eine Pflicht zu Ernährung (Essen und Trinken) und gesundheitsförderlichen Wohnverhältnissen (ausreichende Heizung und Belüftung) lesen, die selbst Sterbenden zugute kommen. Hier hat der Staat dafür Vorsorge zu treffen, dass niemand auf der Straße

46 Vielfältige Überlegungen zum Lebenswert finden sich in dem Reader: von Nussbaum / Sen (1993).

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sterben muss (→ 4.21 Eurich)⁴⁷ und selbst unter widrigen Umständen minimale Voraussetzungen an Schutz und Hygiene erfüllt werden können. Sterbenden muss weiterhin die Möglichkeit offenstehen, sich den Ort ihres Sterbens selbst auszusuchen und notfalls dorthin gebracht zu werden (→ 4.16 Wulf / Grube). Dieses elementare Recht sehen Verfassungsjuristen zumindest in Art. 2 Abs. 1 GG geschützt, hier ist der Würdekern dieses Rechts betroffen. Die Möglichkeit zur Reproduktion erscheint gegenüber dem eigenen Tod zunächst fernliegend, vielleicht Außenstehenden auch obszön. Doch lassen die Entwicklungen der modernen Medizin Samen- wie Eispende zu. Im letzten Fall wird freilich eine Leihmutter notwendig, was eigene verfassungsrechtliche Probleme aufwirft und in Deutschland einfachgesetzlich verboten ist (§  1 Abs.  1 Embryonenschutzgesetz),⁴⁸ sterbende Männer sind hier gegenüber sterbenden Frauen (im reproduktionsfähigen Alter) biologisch im Vorteil. Sterbenden kann nur auf Grund ihres Zustandes nicht das politische Wahlrecht entzogen werden, sie behalten auch im Übrigen die Kontrolle über ihre Umgebung. Dazu gehört vor allem die Gestaltung der Krankenzimmer im Rahmen der notwendigen drittschützenden Hygienestandards. Man mag streiten, ob sich verfassungsrechtlich für diese institutionellen Vorkehrungen der Rückgriff auf Art. 1 GG nahelegt, etwa als „Menschenwürdekern“ der Rechte aus Art. 38 Abs. 1 GG für das politische Wahlrecht, im übrigen aus Art. 2 Absatz 1 GG. Eng damit zusammen hängen die Vorkehrungen zum praktischen Vernunftgebrauch. Sie umfassen nach Nussbaum auch solche zur Ausübung der eigenen Religion und zur Neugier auf andere Religionen sowie allgemein die Möglichkeit, planen zu können. Diese Möglichkeit reduziert sich bei Sterbenden immer weiter. Dennoch, soviel fordert die Menschenwürde, darf nicht von dritter Seite diese Planungsfähigkeit noch einmal weiter eingeschränkt werden. Dementsprechend sind Besuchsrechte und -möglichkeiten grundsätzlich zu eröffnen, auf die der Sterbende dann verzichten kann. Soweit das in Betracht kommt, ist auch die weitergehende Teilnahme am sozialen Leben zu ermöglichen. Dabei besteht durchaus ein Recht auf Ablenkung und Verdrängen, Sterbende müssen nicht immer nur an den eigenen nahen Tod denken oder ständig darauf hingewiesen werden. Wenn ihnen bestimmte Formen der Therapie besonderen Spaß bereiten, ist im Rahmen des finanziell Möglichen, der Zugang zu solchen Therapien zu eröffnen.⁴⁹ Es ist nicht

47 Es sei daran erinnert, dass niemand gegen dem plötzlichen Eintritt des Todes eine allumfassende Vorsorge treffen kann, auch vom Staat können keine so weitreichenden institutionellen Vorkehrungen erwartet werden. 48 Innerhalb der EU sind Leihmutterschaften u.a. in Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und Spanien erlaubt, ohne dass sich dagegen auf der Grundlage des Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Schutz der Menschenwürde) bislang Protest geregt hätte. 49 Zur Musiktherapie (→ 3.21 Wormit) in diesem Handbuch. Beachte aber umgekehrt, dass viele Menschen, die von derselben Krankheit betroffen sind, den Umgang mit den Sterbenden nicht aushalten, (→ 3.14 Interview mit der AIDS-Hilfe). Hier stößt die Würde des Einen auf die

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ausgemacht, wie sich intellektuelles und emotionales Leben eines Sterbenden entwickelt. Die Menschenwürde kann hier nur fordern, dass der Staat die zum Ende hin oftmals nur noch residualen Formen des Lebens und Erlebens unterstützt. Das ist vor allem unter den Bedingungen der Palliativmedizin vielleicht nicht immer einfach, von Verfassungs wegen zu fordern ist dennoch der Versuch, das Bewusstsein der Sterbenden so klar zu halten wie diese unter Schmerz- und Angstkontrolle möglich ist. Der Staat hat sich für die entsprechende individuell abgestimmte Zielauswahl stark zu machen und eigener Wertungen zu enthalten: Es ist Sache des Einzelnen mit seiner Persönlichkeit zu entscheiden, ob er intellektuell oder emotional mehr oder weniger präsent sein möchte und wie viel Schmerzen und Nöte er dafür hinzunehmen bereit ist. Staatliche Kontingentierungen etwa bei der Sedierung erscheinen demgegenüber zumindest begründungsbedürftig.

2.3.6 Einwände Gegen den capabilities-Ansatz der Menschenwürde könnte eingewandt werden, dass gegenüber dem Sterben Bescheidenheit tunlich sei, da es hier um ein ganz persönliches Geschehen gehe, das Typisierungen nicht zulasse. Das aber entspricht einer Vorstellung vom Tod als ganz anderem, der das Sterben bestimmt und der begrifflich nicht weiter analysierbar ist. Diese Vorstellungen halte ich für falsch, wir sollten vielmehr das Sterben als einen besonderen Teil des Lebens begreifen, für den bestimmte capabilities eher in den Mittelpunkt rücken als andere und einige mehr schützenswert erscheinen als andere. Die Freiräume für Authentizität beim Sterben sind dadurch in keiner Weise verschlossen, weil die genannten Möglichkeiten nur zu einem variablen und immer wieder neu zu bestimmenden Minimum garantiert werden sollen. Zudem ist die von Nussbaum entwickelte Liste grundsätzlich als offen anzusehen; sie enthält weitgehend ausfüllungsbedürftige, rational wie emotional zentrierte Elemente, die je nach Konkretisierung wieder in besonderer Weise auf die anderen Fähigkeiten zurückstrahlen. Menschen unterscheiden sich deshalb zu jedem beliebigen Zeitpunkt ihres Lebens in ihrem persönlichen Minimum. Dieses Minimum muss in allen seinen Dimensionen wie beispielsweise Dauer, Intensität und äußere Möglichkeiten immer wieder neu bestimmt werden. Soweit die tatsächliche Versorgung mit einem dieser Güter unter das Minimum sinkt, ergibt sich daraus ein Handlungsimperativ für private wie für öffentliche Stellen, dessen Inhalt variabel bleibt. Nussbaum versteht ihren Ansatz als eine politische Konzeption in dem Sinne, dass sie für verschiedene philosophische Letztbegründungen offen ist, methodisch sieht sie sich in der Tradition eines durchaus liberal zu nennenden Aristotelismus.

des Anderen. Der Staat als primärer Adressat des Artikel 1 Absatz 1 GG kann deshalb niemandem vorschreiben, dass er sich Sterben und Tod aktiv auszusetzen hat.

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Doch sind andere Grundlagen, wie etwa Autonomie und Fürsorge mit ihren unterschiedlichen Herleitungen, aber auch die Objektformel ergänzt um den Gedanken, dass Würde und Preis einander ausschließen, oder die auf Anerkennung zielenden Theorien durchaus zur Grundlegung geeignet. Nussbaum hält sich bewusst auf einer mittleren Reflexions- und Argumentationsebene und versucht auf diese Weise, Zustimmung verschiedener philosophischer Lage zu erhalten. Dies macht neben den recht konkreten Ergebnissen, die ihr Vorgehen ermöglicht, ihren Ansatz verfassungsrechtlich so interessant. Halten wir deshalb fest, dass sich die Objektformel, aber auch das Schlagwort von der „Anerkennung“ oder „gegenseitigen Achtung“ mit Hilfe des „Capability-Ansatzes“ ein gutes Stück weit konkretisieren lassen. Verfassungsrechtler, die sich Fragen nach menschenwürdigem Sterben ausgesetzt sehen, sollten sich mehr als bislang üblich von diesem Ansatz für konkrete Rechtsfälle inspirieren lassen. Der Ansatz enthält das Potential zu konkreten Antworten, ohne umgekehrt die Menschenwürde zur „kleinen Münze“ verkommen zu lassen, wenn konsequent beachtet wird, dass erster Adressat des Menschenwürdegebots aus Artikel 1 Absatz 1 GG der Staat ist.

3 Die juristisch-dogmatische Bedeutung der „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde Der verfassungsrechtliche Schutz durch die Menschenwürde erscheint in doppelter Weise unverbrüchlich. Einerseits lässt Artikel  79 Absatz 3 GG keine Änderung des Menschenwürdeartikels zu, der diesen Schutz schmälert. Das sagt aber nichts über den derzeit vorhandenen Standard an Achtung und Schutz der Menschenwürde. Andererseits spricht Artikel  1 Absatz 1 GG selbst davon, dass die Menschenwürde „unveräußerlich“ sei. Es ist diese letzte Verbürgung, die derzeit unter Verfassungsjuristen diskutiert wird.

3.1 Drei Positionen zur dogmatischen Positionierung von „Unantastbarkeit“ Auf den ersten Blick erscheint die Bedeutung von „unantastbar“ in Artikel 1 Absatz 1 GG klar: Die Würde eines Menschen darf weder um der Würde eines anderen Menschen willen noch um anderer Grundrechte willen oder um anderer Werte von Verfassungsrang willen eingeschränkt werden. Tatsächlich wird diese Auffassung heute kaum noch von einem Verfassungsrechtler durchgehalten.⁵⁰ Sie erscheint auch vor

50 Baldus (2011), S. 530 f. mit Fn. 4, listet in einer genauen neueren Untersuchung 21

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dem Hintergrund einer inkommensurablen Würdekonkretisierung problematisch. Dennoch ist der Verfassungstext ernst zu nehmen: Die Menschenwürde wird im Grundgesetz durch die Unantastbarkeit vor allen anderen Grundrechten und vor allen übrigen Werten von Verfassungsrang ausgezeichnet.⁵¹ Das lässt aber zu, dass es sozusagen interne Konflikte innerhalb des Würdeschutzes eines Menschen gibt, dass die Würde eines Menschen mit derjenigen eines anderen konfligieren kann, wenn, wie auch hier, die Menschenwürde nicht nur wie in Kants Originalüberlegungen auf den Willen, sondern wie im Recht üblich auf das Handeln bezogen wird, und schließlich lässt der Verfassungstext zu, dass es zu Abwägungen der Menschenwürde mit anderen Grundrechten dergestalt kommen kann, dass die Menschenwürde als Rechtfertigung für andere Grundrechtseingriffe dient, solange ihr eigener Kern abwägungsfest als Minimum erhalten bleibt. Um mit dem letzten zu beginnen: Die deutschen Staatsrechtslehrer, die von einem Grundrecht auf Menschenwürde ausgehen, lassen sich auf drei Positionen verteilen: Da sind zunächst die bereits erwähnten Gegner einer Abwägung der Menschenwürde. Dann gibt es durchaus auch prominent vertreten die extreme Gegenposition: Die Menschenwürde darf um anderer Grundrechte willen (eigentlich: aller anderen Grundrechte willen) und auch um aller sonstigen Werte von Verfassungsrang (regelmäßig kollektiver Güter) willen eingeschränkt werden. Dieser Extremauffassung, die sich seit dem Jahre 1976 verbreitet hat,⁵² steht eine gemäßigte Auffassung gegenüber, die die Abwägbarkeit der Menschenwürde auf einzelne Grundrechte beschränken will: das Recht auf Leben,⁵³ die Wahrheitsermittlung im Prozess,⁵⁴ präventiver Rechtsgüterschutz,⁵⁵ schließlich Selbstbestimmungsrechte, Heilung schwerster Krankheiten, medizinischer Fortschritt und der Wunsch auf ein gesundes Kind⁵⁶ sollen der Menschenwürde Grenzen setzen können. Tatsächlich dürfte diese letzte Position argumentativ sehr unbequem sein, da sich eine Abstufung der Grundrechte (jedenfalls unterhalb der Menschenwürde) nicht ausmachen lässt. Damit bleibt begründungsbedürftig, warum die Menschenwürde durch einige, aber nicht durch alle Grundrechte einschränkbar sein soll. Die rigorose Nichtabwägbarkeit der Menschenwürde wird aber auch vom Bundesverfassungsgericht nicht ohne Weiteres durchgehalten. Manfred Baldus stellte jüngst zwölf

Staatrechtslehrer auf, die das vertreten, zwei von ihnen äußerten allerdings gelegentlich auch abweichende oder einschränkende Auffassungen. 51 Nur Artikel 4 Absatz 1 GG spricht noch davon, die Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit seien „unverletzlich“; das wurde aber nie als „abwägungsfest“ verstanden. 52 Kloepfer (1976), S. 416 ff.; weitere Nachweise bei Baldus (2011), S. 532 ff. mit Fn. 14 – 17 und 24. 53 Insbesondere eine größere Zahl von (unschuldigen) Menschenleben, Baldus (2011), S. 533 f. mit Fn. 18, 19, 22. 54 Baldus (2011), S. 532 mit Fn. 12 und 13. 55 Baldus (2011), S. 534 f. mit Fn. 21 und 23. 56 Nachweise wieder in Baldus (2011), S. 534 mit Fn. 20.

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Entscheidungen des Gerichts vom ersten Kriegsdienstverweigerungsurteil 1960 bis zur Entscheidung über online-Durchsuchungen aus dem Jahre 2008 vor, in denen das Gericht sehr wohl die Menschenwürde gegen andere Grundrechte und sonstige Werte von Verfassungsrang abwägt.⁵⁷ Durchweg handelt es sich um Entscheidungen, in denen die Menschenwürde nicht als ein absolutes Minimum in die Abwägung eingestellt wird, als eine Grenze, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Im Gegenteil haben die anderen Grundrechte in diesen Entscheidungen die Grenze der Menschenwürde verschoben. Müssen wir mit Blick auf das Lebensende radikaler sein?

3.2 Auswirkungen auf Menschenwürde am Lebensende Zunächst sollte noch einmal darauf verwiesen werden, dass nach dem hier vertretenen Ansatz die Menschenwürde bereits als Minimum konzipiert ist. Es geht nicht darum, jenseits dieses Minimums das Lebensende durch Menschenwürdeüberlegungen zu steuern, gegebenenfalls durch rechtliche Begrenzungen einzuschränken. Zudem ist das hier verfolgte Menschenwürdekonzept wegen der Inkommensurabilität der darin eingehenden Wertbezüge in sich vielfach aufgefächert. Es kann damit intern zu Konflikten kommen: Soll etwa dem Wunsch eines sterbenden Patienten nach Schmerzlinderung nachgegeben werden, wenn zugleich dadurch sein Bewusstsein getrübt oder sein emotionales Erleben gedämpft wird? Muss ein Betreuer nachgeben, wenn der betreute Patient Wünsche an die Ausstattung seines letzten Krankenzimmers stellt, die exzessiv teuer sind und letztlich das Vermögen des Patienten bis zum Rand der Zahlungsunfähigkeit aufbrauchen und zugleich weitere, vielleicht aus anderen Gründen notwendige Ausgaben absehbar sind? Auch sind Spannungslagen zwischen der Würde des Patienten und derjenigen von Nähepersonen ohne Weiteres denkbar: Dürfen Eltern ihr sterbendes Kind sehen, wenn dieses die Eltern umgekehrt nicht mehr sehen möchte? Müssen die Verantwortlichen in Stationen und Heimen solche Besuche etwa bei Bewusstlosigkeit des Patienten ermöglichen, dürfen sie es umgekehrt nicht? Sobald es um Handlungsoptionen geht, ist immer denkbar, dass die Achtung vor der Würde des Patienten mit der Würde Dritter, etwa von Nähepersonen konfligiert. Insofern wird ohne Abwägungen keine Entscheidung zu treffen sein, die Notwendigkeit der Entscheidung ergibt sich aber aus der umfassenden Struktur des Rechts. Anders sieht es freilich aus, wenn keine Menschenwürdegehalte für eine Position streiten, wohl aber für eine andere Position. Der Vorrang der durch Menschenwürde gesicherten Position vor allen übrigen Positionen erscheint hinnehmbar. Sind auch hier Grenzen denkbar, etwa der Schutz von Leib und Leben Dritter? Jedenfalls ist kaum denkbar, dass Dritte durch Sterbende in dieser Eigenschaft in ihrem Leben bedroht

57 Baldus (2011), S. 536 – 540.

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werden, ohne zugleich in ihrer Würde betroffen zu sein: Der mit einer tödlichen Seuche Infizierte, der durch seinen Lebensstil Dritte gefährdet, macht sie zugleich zum bloßen Objekt seiner Begierde, berührt sie in seiner Würde, verletzt gleich die ersten fünf der zehn „capabilities“ des oben (2.3.4) zugrunde gelegten Ansatzes. Schließlich bleiben die sonstigen Werte von Verfassungsrang mit der Menschenwürde in Einklang zu bringen. Sind etwa für die (finanziell) akzeptable Ordnung des Gesundheitswesens Einschnitte in der Behandlung Sterbender hinzunehmen? Welche Behandlungen sind hier sinnvoll? Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem „Nikolausbeschluss“ den Sterbenden und ihrer Würde Vorrang gegeben vor den Interessen der Versichertengemeinschaft an effektiver Mittelverwaltung.⁵⁸ Das erscheint auch vor dem Hintergrund richtig, dass bei einer umfassenden Betreuung Sterbender die aussichtslose medizinische Behandlung nur eine untergeordnete Rolle spielen dürfte. Dann aber brauchen Menschenwürde und kollektive Güter (wie hier die Funktionsfähigkeit des Sozialversicherungssysteme) nicht abgewogen zu werden. Die Menschenwürde Sterbender kann nach alledem interne Konflikte zwischen Rechten des Sterbenden selbst auslösen und Konflikte mit der Menschenwürde Dritter, kaum solche mit anderen Rechtsgütern Dritter oder mit sonstigen Werten vor Verfassungsrang, die dann zugunsten der Menschenwürdeposition zu entscheiden sind.

4 Drohen der Menschenwürde Gefahren durch die Verflechtung mit Europarecht und Völkerrecht? Die Grundrechtecharta der Europäischen Union (GrCh) gebietet in ihrem Artikel  1 Achtung und Schutz der Menschenwürde. Deren Adressaten sind zum einen die europäischen Organe, zum anderen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihre Organe. Artikel 1 GrCh spricht aber nicht davon, dass die Menschenwürde „unveräußerlich“ sei. Außerdem ist nicht ganz klar, inwieweit die unterschiedlichen Überlieferungen der Mitgliedstaaten vom Gehalt der Menschenwürde in die Interpretation der Vorschrift einfließen und ob dadurch der deutsche Grundrechtsschutz ausgehöhlt wird. Kurzfristig sind solche Aushöhlungen jedenfalls in einigen sensiblen Bereichen des Lebensendes nicht zu erwarten, da sie nicht oder zumindest nicht vornehmlich in die Zuständigkeit der EU, sondern in die der Mitgliedstaaten fallen. Die

58 BVerfGE 115, 25 (vom 6. 12. 2005); der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss hat über fünf Jahre benötigt, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in Normen zu gießen, s. Beschluss vom 20. 1. 2011 unter: http: // www.g-ba.de / downloads / 40-268-1536 / 2011-01-20_VerfO_KHMeRL_MVV-RL_Nikolausbeschluss_TrG.pdf. (letzte Abfrage: 15. 3. 2012).

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EU ist in einigen dieser Fälle, etwa dem Sozialrecht, auf Koordinierungsfunktionen beschränkt. Noch weniger Einfluss dürfte das Völkerrecht auf die Interpretation von „Menschenwürde“ im deutschen Recht zum Lebensende haben. Da die Europäische Menschenrechtskonvention keinen Schutz der Menschenwürde kennt, sind hier höchstens einige wenige Entscheidungen etwa zum Folterverbot in Grenzbereichen relevant. Das Gros der deutschen Entscheidungen zur Menschenwürde am Lebensende wird aber durch die Rechtsprechung zur Europäischen Menschenrechtskonvention bislang und in absehbarer Zeit nicht betroffen.

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Wilfried Härle

1.13 „Menschenwürde“ Abstract: Der bei Cicero entstehende Begriff „Menschenwürde“ (dignitas humana) bezeichnet das mit dem Menschsein gegebene Anrecht auf Achtung als Mensch, das von anderen Formen von (differenzierter, zugeschriebener, erworbener) Würde grundsätzlich zu unterscheiden ist, ohne mit ihnen zu konkurrieren. Unter den Begriffen „Gottebenbildlichkeit“, „Ehre“ und „Herrlichkeit“ kennt bereits das Judentum die Menschenwürde als göttliche Schöpfungsgabe. Menschenwürde ist sowohl ein ethischer, als auch ein rechtlicher Grundbegriff. Die Achtung der Menschenwürde, deren Unantastbarkeit Art.  1(1) des Grundgesetzes konstatiert, wurde im Laufe der Geschichte durch folgende Interpretationen konkretisiert: der Mensch als Selbstzweck vs. bloßes Mittel; Person vs. Objekt; selbstbestimmt vs fremdbestimmt; Entscheidungsfreiheit vs. Willensbeugung; Intimität vs. Bloßstellung oder Demütigung; Gleichberechtigung vs. Diskriminierung. Träger der Menschenwürde ist jeder Mensch, d.h. jedes von Menschen abstammende Wesen vom Beginn (Befruchtung) bis zum Ende (klinischer Tod) seines Daseins. Die Menschenwürde strahlt jedoch noch über den Tod aus und verleiht auch dem gestorbenen Menschen ein gewisses Anrecht auf Achtung. The concept of „human dignity“, first mentioned by Cicero (dignitas humana), designates the right to be respected as a human being, a right which is intrinsically linked to being one. This right differs fundamentally from other forms of (differentiated, ascribed, acquired) dignity and must be distinguished from them without competing with them. The concepts of “in the image of God”, “honour”, and “glory (of God)” show that the Jewish faith had already recognised human dignity as a gift of divine creation. Human dignity is both a basic ethical and a basic juridical concept. Respect for human dignity, the inviolability of which is confirmed by Article 1(1) of the German constitution (“Grundgesetz”), has been rendered ever more concrete through history by means of the following interpretations: man as an end in and of himself, as opposed to a mere means; person versus object; self-determined versus heteronomous; freedom of will versus subjection to another’s will; intimacy versus exposure or humiliation; equal rights versus discrimination. Every human being is the bearer of human dignity, i.e. every being descended from humans from the beginning (fertilisation) to the end (clinical death) of his or her existence. Human dignity, however, continues to exist even after death and gives the dead a certain right to respect, too. Keywords: Ehre, Entscheidungsfreiheit, Ethik, Fremdbestimmung, Gabe, Gleichberechtigung, Gottebenbildlichkeit, Gottesbeziehung, Grundbegriff, Grundgesetz, Herrlichkeit, Intimität, Konkretisierung, Leistung, Mensch, Menschheitsfamilie, Mensch-

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Härle

sein, Mittel, Nächster, Objekt, Person, Preis; Recht, Respekt, Selbstbestimmung, Sterbeprozess, Tier, Vernunft, Wert, Würde, Zwang, Zweck

Prof. Dr. Wilfried Härle, [email protected], Ernst-Kirchner-Straße 36, 73760 Ostfildern

1 Entstehung des Begriffs „Menschenwürde“ Der Begriff „Menschenwürde“ kommt, soweit wir wissen, erstmals in der lateinischen Sprache als „dignitas humana“ vor. Die Entstehung dieses lateinischen Begriffs lässt sich in ihren Anfängen bis auf Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.) zurückverfolgen. Zwar findet sich der Begriff bei ihm noch nicht explizit, wohl aber lässt sich seine Entstehung dort beobachten.

1.1 Gemeinsame und differenzierte Würde In seiner Schrift „De officiis“¹ geht Cicero der Frage nach, „welche Auszeichnung und Würde [dignitas] in (unserer menschlichen) Natur liegt“, und zwar im Vergleich zu den Tieren.² Dabei geht er von folgender These aus: „Man muss […] erkennen, dass wir von der Natur gleichsam mit zwei Rollen betraut sind. Die eine von ihnen ist gemeinsam, daher, dass wir alle teilhaben an der Vernunft und dem Vorrang, durch den wir vor den Tieren herausragen, von dem sich alles Ehrenvolle und Schickliche (her) leitet und aus dem die Methode, das rechte Handeln zu finden, entwickelt wird. Die andere aber ist die, die einem jeden eigentümlich zugewiesen ist. Wie nämlich in den Körpern große Verschiedenheiten sind, … und ebenso den Gestalten teils Würde [dignitas], teils Anmut innewohnen, so treten in den Seelen noch größere Verschiedenheiten auf.“³

1 Cicero verfasste diese Schrift im Jahre 44 v. Chr. Ich zitiere sie nach der zweisprachigen, von K. Büchner übersetzten und edierten Ausgabe unter dem Titel: Vom rechten Handeln, Zürich (1953) 19944. 2 „… quae sit in natura (nostra) excellentia et dignitas“ und „quantum natura hominis pecudibus reliquisque beluis antecedat“ (Ebd., S. 90 f.). Bei Cicero wird das Konzept der Menschenwürde also mit der Überlegenheit der Menschen gegenüber den Tieren in Verbindung gebracht. Das ist aber für den Begriff „Menschenwürde“ nicht notwendig. Man kann auch neben der Menschenwürde von einer spezifischen Würde der Tiere sprechen, die Achtung verdient. Die spezifische Würde empfindungsfähiger Tiere wird z.B. einerseits geachtet durch die Unterlassung jeder Tierquälerei (im Sinne der Zufügung unnötiger Schmerzen), andererseits durch das ernsthafte Bemühen um artgemäße Haltung. 3 Ebd., S. 91 f.; lat.: „Intelligendum […] est duabus quasi nos a natura indutos esse personis; quarum una communis est ex eo, quod omnes participes sumus rationis praestantiaeque eius,

„Menschenwürde“

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Das Entscheidende an diesem Text ist die von Cicero vorgenommene Unterscheidung zwischen zwei Arten von Würde, die dem Menschen zukommen kann bzw. zukommt: die eine ist eine allen Menschen gemeinsame und für alle gleiche Würde, die mit der allen Menschen gemeinsamen Teilhabe an der Vernunft gegeben ist; die andere ist eine individuell differenzierte Würde, die sich aus der unterschiedlichen Ausstattung, Leistung, Begabung oder Entscheidung der Menschen ergibt. Dabei spielt es für Cicero keine Rolle, ob die Begabung mit Vernunft unterschiedlich stark ausfällt oder entwickelt ist, sondern alleine die Teilhabe aller Menschen an der Vernunft ist ausschlaggebend für diese grundlegende und gemeinsame Form der Würde. Es wäre ein Missverständnis der Argumentation Ciceros, wenn man annähme, dass diese beiden Würde-Verständnisse einander widersprächen oder miteinander rivalisierten, so als sei das eine richtig und die andere falsch. Vielmehr sind beide Formen der Würde zutreffend und für das menschliche Zusammenleben wichtig. Die allen Menschen gemeinsame Würde, die man als „Menschenwürde“ bezeichnen muss, weist darauf hin, dass jeder Mensch alleine auf Grund der Tatsache, dass er zum Menschengeschlecht (wie bzw. als zu einer großen Familie) gehört, Achtung und Anerkennung verdient und grundlegende Rechte (Menschenrechte) hat. Die Respektierung der unterschiedlichen Formen von Würde, durch die Menschen sich nach Begabung, Leistung, Verdienst, Stellung etc. voneinander unterscheiden, sorgt hingegen dafür, dass die für die Erhaltung und Weiterentwicklung des Zusammenlebens erforderlichen und förderlichen Besonderheiten Anerkennung und Respekt finden. Das kann sich auf z.B. auf große Vorbilder (Wohltäter der Menschheit), auf Menschengruppen (die Alten), auf Berufsgruppen (Staatsoberhäupter) oder auf Eliten (große Künstler, Erfinder oder Entdecker) beziehen. Und dieses differenzierte Würdeverständnis ist weder kritikwürdig noch widerspricht es dem allgemeinen Verständnis von Würde, sondern ist von ihm grundsätzlich zu unterscheiden. Eine Gesellschaft, die z.B. solche Differenzierungen aufgrund von Lebensleistung nicht wahrnähme und achtete, würde langfristig ihre eigene Struktur beschädigen oder zerstören. Deshalb ist sowohl die Achtung und der Schutz der Menschenwürde als auch die Achtung und der Schutz tatsächlich vorhandener⁴ Formen differenzierter Würde zu fordern.

qua antecellimus bestiis, a qua omne honestum decorumque trahitur et ex qua ratio inveniendi officii exquiritur, altera autem, quae proprie singulis est tributa. Ut enim in corporibus magnae dissimilitudines sunt, … itemque in formis aliis dignitatem inesse, aliis venustatem, sic in animis existent maiores etiam varietates”. Wenige Seiten später (Ebd., S. 98 f.) erweitert Cicero diese Zweiteilung der Rollen („personae”) zu drei oder vier, indem er noch die Unterschiede hinzunimmt, die dem Menschen durch irgendeinen Zufall oder durch Zeitumstände („casus aut tempus”) auferlegt werden, oder die wir uns willentlich wählen („nostra voluntate”). Beachtenswert ist an dieser Aussage auch, dass Cicero die Vernunft die für die Bildung ethischer Urteile („die Methode, das rechte Handeln zu finden”) zuständige Fähigkeit nennt. 4 Diese zusätzliche Qualifizierung ist notwendig, um tatsächliche von willkürlich zugesprochenen oder angemaßten Formen der differenzierten Würde zu unterscheiden.

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Für dieses Handbuch, in dem es um die Menschenwürde geht, steht jedoch diese erste, alle Menschen verbindende, weil ihnen allen unterschiedslos und in gleicher Weise zukommende Würde im Zentrum der Überlegungen. Hat man dies als die Pointe des Begriffs „Menschenwürde“ erkannt, so zeigt sich, dass es in anderen Kulturen auch schon solche (oder zumindest ähnliche) Vorstellungen unter anderen Begriffen gegeben hat, die teilweise noch wesentlich älter sind als die Überlegungen Ciceros. So findet sich etwa in der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung diese Einsicht schon Jahrhunderte früher und wird dort mit Hilfe der Begriffe „Ehre“, „Herrlichkeit“ (Ps 8,6) und „Bild Gottes“ (Gen 1,26 f.; 9,6) zum Ausdruck gebracht. Das Christentum ist darin dem Judentum gefolgt und hat spätestens seit Ambrosius von Mailand⁵ (ca. 339 – 397) dafür auch den Begriff „Menschenwürde“ verwendet. Dabei begründen Judentum und Christentum die damit gegebene allgemeine und gleiche Würde aller Menschen nicht mit deren Teilhabe an der Vernunft (wie Cicero als Vertreter der stoischen Philosophie dies tut), sondern aus der Gottesbeziehung, durch die ihm diese Würde (unabhängig von Begabung, Verdienst, Leistung, moralischer Beschaffenheit oder religiöser Befindlichkeit) verliehen ist. Dabei ist Gottesbeziehung in diesem Fall nicht als die Beziehung des Menschen zu Gott, sondern als Gottes Beziehung zum Menschen zu verstehen. Die so verstandene Menschenwürde orientiert sich nicht an den tatsächlich vorhandenen Unterschieden zwischen den Menschen, sondern bloß an der Tatsache des Menschseins. Darin kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass der Mensch als Mensch, also jeder Mensch in jeder Phase seiner Entwicklung, Achtung verdient, weil ihm eine Würde eignet, die mit seinem Dasein gegeben ist und ihm von Menschen weder gegeben noch genommen, weder zu- noch aberkannt, sondern nur geachtet oder missachtet werden kann. Man kann sich vorstellen, welche Revolution es dargestellt haben muss, als in der antiken Gesellschaft, die vom grundlegenden Wertunterschied zwischen Männern und Frauen, Freien und Sklaven, Einheimischen und Fremden geprägt war, die Einsicht formuliert wurde, dass jeder Mensch als Mensch gleiche Würde besitzt, und dass diese Würde unantastbar ist. Es hat freilich zumindest in bestimmten Bereichen beschämend lange gedauert, bis diese Einsicht sich auch bis in die alltägliche Praxis und in die Rechtsordnung hinein durchgesetzt hat und zur Geltung gebracht wurde.⁶

5 Ambrosius, „De dignitate conditionis humanae”, in: Migne, Patrologia Latina, Bd. 17, Paris 1847, Sp. 1105 – 1110. 6 Das berühmte Buch „Onkel Toms Hütte“ (1851) von Harriet Beecher-Stowe ist ein erschütternder Beleg dafür, in welchem Maß noch weite Teile der christlich geprägten US-amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts von der Anerkennung der Menschenwürde aller Menschen entfernt war – vom Deutschland der Jahre 1933 – 1945 ganz zu schweigen.

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1.2 Wert als Preis oder Würde Wir nähern uns dem Begriff „Menschenwürde“ weiter an, indem wir eine Unterscheidung betrachten, die spätestens seit Immanuel Kant geläufig ist. Kant unterscheidet zwischen zwei Arten von Wert, einem relativen Wert und dem absoluten Wert. Den ersteren, den er auch „Preis“ nennt, billigt er allem zu, was Wertschätzung erfährt, weil es z.B. für jemanden nützlich ist oder ihm gefällt, aber grundsätzlich auch durch etwas anderes ersetzt werden könnte. Das Letztere, den absoluten Wert, den Kant „Würde“ nennt, hat für ihn alleine der Mensch als vernunftbegabtes, sittliches Wesen. In Kants eigenen Worten gesagt: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, hat eine Würde.“⁷

Dabei geht aus Kants Formulierungen ein Element der Unterscheidung nicht so deutlich hervor, wie das eigentlich zu wünschen wäre: Der relative Wert bzw. der Preis ist etwas, was ein Interessent einer Sache zuerkennt – sei es als Verkäufer oder Käufer, als Anbieter oder Nutzer –, hingegen ist die Würde etwas, was der ‚Sache’, in diesem Fall also dem Menschen, selbst eignet. Damit wird ein grundlegender Unterschied zwischen relativem und absolutem Wert, also zwischen Preis und Würde sichtbar, der für das Verständnis von Menschenwürde von großer Bedeutung ist: Wenn man sich Kants Unterscheidung zu eigen macht, ist Würde jedenfalls nichts, was einem Menschen durch andere Menschen (oder auch durch sich selbst) erst zugeteilt oder zugeschrieben und dementsprechend auch wieder weggenommen oder abgesprochen werden könnte, sondern etwas, das dem Menschen mit seinem Dasein als Mensch gegeben ist. Dass die Menschenwürde dem Menschen mit seinem Dasein gegeben oder verliehen sei, bringt ihren Charakter als absoluter Wert zum Ausdruck. Zwar ist auch die Würde ausgerichtet auf ein Gegenüber, von dem sie anerkannt werden will und soll, aber dieses Gegenüber schafft nicht die Würde, es erkennt oder spricht sie auch nicht zu, sondern die Würde liegt im Würdeträger selbst begründet und wird vom Gegenüber entweder anerkannt und geachtet oder verkannt und missachtet.

7 Kant (1785) BA 77.

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2 Menschenwürde als Anrecht auf Achtung Menschenwürde ist folglich zu verstehen als das Anrecht auf Achtung als Mensch, das jedem Menschen mit seinem Dasein gegeben ist und das seinerseits Achtung fordert. Aber was genau besagt diese Formulierung? Grundlegend an dem damit gegebenen Definitionsversuch ist zweierlei: – Menschenwürde ist ein Anrecht.⁸ Das unterscheidet Menschenwürde sowohl von bloß subjektiven Ansprüchen, die Menschen geltend machen, weil sie den Wunsch oder das Interesse haben, etwas zu besitzen oder zu erreichen, als auch von Rechten, die von ihnen im Lauf ihrer Lebensgeschichte erworben oder ihnen von dafür zuständigen Instanzen verliehen wurden. Ein Anrecht auf Achtung als Mensch ist nichts, was man als willkürliche oder unbegründete Forderung zurückweisen könnte, sondern es ist eine legitime Forderung, eine begründete Verhaltenserwartung. Worauf ein Mensch ein Anrecht hat, das steht ihm von Rechts wegen, also rechtmäßig zu. Das hat er sich weder widerrechtlich angeeignet, noch beruht es auf einer bloßen, willkürlichen Behauptung. Und deshalb verlangt ein solches Anrecht von anderen (und sogar vom Träger selbst) Anerkennung und Respektierung. – Menschenwürde ist das Anrecht auf Achtung als Mensch. ‚Achtung‘ ist ein facettenreicher, vielschichtiger Begriff. Er ist dem Begriff ‚Respektierung‘ bzw. ‚Respekt‘ verwandt, tendiert aber weniger als diese(r) zum Furcht-Einflößenden, Abstand-Gebietenden sondern eher zur Wertschätzung. Nimmt man ihn absolut und allgemein, so umfasst er ein Wahrnehmen, Ernstnehmen und Rücksichtnehmen bezogen auf jeden Menschen. Das kann in dieser umfassenden Bedeutung aber nicht uneingeschränkt gelten. Es begegnen uns normalerweise schon Tag für Tag  – und noch viel mehr in unserem Leben  – viel zu viele Menschen, als dass es eine sinnvolle Forderung sein könnte, sie ausnahmslos wahrzunehmen, ernst zunehmen und auf sie Rücksicht zu nehmen. Wir gehen an ungezählten Menschen achtlos vorbei (und sie an uns), ohne dass damit ihre oder unsere (Menschen-) Würde tangiert würde. Der Begriff ‚Achtung‘ in Verbindung mit ‚Menschenwürde‘ greift erst dort, wo es zwischen Menschen zu einem Näheverhältnis kommt, das man als Begegnung oder Beziehung bezeichnen kann. Die Bibel hat dafür den Begriff des ‚Nächsten‘ (3. Mose 19, 18; Markus 12, 31; Lukas 10, 29 und öfter). Im Alten Testament ist damit der Volksgenosse gemeint, der auf

8 Eine Vorform dieser Definition findet sich bei Vogel (2006), S. 20 – 22. Die dort gegebene Definition ist hier in einem Wort verändert und damit weiterentwickelt worden. Während Menschenwürde dort als (objektiver) Anspruch auf Achtung definiert wird, verwende ich hier den Begriff „Anrecht“, der nicht den irreführenden Anklang an subjektive Ansprüche oder an ein problematisches Anspruchsdenken enthält.

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Hilfe, Unterstützung, Liebe angewiesen ist. Im Neuen Testament wird die durch Volkszugehörigkeit gesetzte Begrenzung überwunden und das Verhältnis geradezu umgekehrt. Es geht nun nicht mehr um die Frage, welcher Volksgenosse mir so hilfsbedürftig begegnet, dass er mein Nächster ist, sondern wem ich in seiner Bedürftigkeit und Verletzlichkeit so nahe komme, dass ich für ihn zum Nächsten werde, der durch die konkrete Begegnung zur Verantwortung gerufen und herausgefordert ist (das kommt geradezu programmatisch zum Ausdruck in Lukas 10, 36: „Wer von diesen dreien … ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“)⁹. Ein solcher Begegnungszusammenhang hängt im Übrigen – zumal im Zeitalter der Massenmedien – nicht an leibhaft-räumlicher Präsenz, sondern kann sich überall einstellen. Er ist der Raum, in dem sich das Anrecht und die Forderung, die der Begriff „Achtung“ bezeichnet, konkret stellen. Dabei kann uns jeder Mensch als Träger dieses Anrechtes und dieser Forderung begegnen. Aber es ist faktisch nicht jeder Mensch, sondern es sind immer konkrete Menschen oder Menschengruppen, die uns so begegnen, dass sie unsere Achtung fordern. Dass dies gerade für schwerkranke und sterbende Menschen in besonderer Intensität gilt, ist zumindest eine gut begründete Vermutung. Und bezogen auf solche Menschen beginnt die Achtung in der Tat mit dem Wahrnehmen, als Gegensatz zum Übersehen und Ignorieren. Es ist eine besonders subtile Form der Missachtung von Menschen und ihrer Würde, an ihnen vorbeizusehen, sie nicht wahrnehmen zu wollen und sie damit zu behandeln, als existierten sie gar nicht. Dabei ist es nicht leicht, eine exakte Grenze zu ziehen zwischen dem Sich-bewegen in belebten und bevölkerten öffentlichen Räumen, bei dem es noch nicht zu einer konkreten Begegnung kommt, und jenen konkreten Begegnungen, die mich als Nächsten angehen und meine Achtung fordern. Die Situation zwischen dem einen und dem anderen kann auch innerhalb von Sekundenbruchteilen wechseln, indem sich z.B. zwei Personen auf denselben Parkplatz oder auf denselben Sitzplatz in einem öffentlichen Verkehrsmittel zu bewegen. Was heißt es dann, die andere Person als Menschen zu achten? Es könnte sicher heißen, den Wunsch oder das Interesse dieses Menschen zu respektieren und zu erfüllen. Das wird in der Regel dann der Fall sein, wenn ich der Überzeugung bin, dass es bessere Gründe als meine eigenen für diesen Wunsch bzw. dieses Interesse gibt. Es könnte aber auch heißen, diesen Wunsch nicht zu akzeptieren und zu erfüllen, sondern ihm zu widerstreben oder sich ihm zu widersetzen, weil ich z.B. der Überzeugung bin, dass der fremde Wunsch unberechtigt ist oder sogar den für das Zusammenleben notwendigen Regeln widerspricht. Achtung bedeutet jedenfalls nicht die Erfüllung aller Wünsche oder die Gewährung aller möglichen Wohl-

9 Dem hat Fritz Reuter in seinem liebenswürdigen Roman: Ut mine Stromtid (Das Leben auf dem Lande) in der Gestalt der Frau Pastorin Behrends, die in jeder Entscheidungssituation fragt, wer denn die oder der „Nächste dazu“ sei, ein unvergessliches literarisches Denkmal gesetzt.

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taten. Sie kann sich auch als Kritik, Widerspruch und Verweigerung äußern. In diesem Zusammenhang kann man von Friedrich Schiller lernen, dass das Gefühl der Achtung, das „von der Würde unzertrennlich ist“, nicht mit Hochachtung verwechselt werden darf.¹⁰ Die können wir ehrlicherweise nur dem entgegenbringen, was wir hoch einschätzen oder bewundern. Achtung reicht jedoch viel weiter. Sie ist eine grundlegende Form der Anerkennung des anderen Menschen. Aber wie verhält sich dazu das Gefühl der Verachtung? Ist auch das noch mit der Achtung des Menschen vereinbar? Unter der Voraussetzung, dass es höchst verachtenswertes Verhalten gibt (z.B. Kindesmissbrauch oder Diebstahl an mittellosen Menschen), besteht hier allem Anschein nach ein Dilemma: Entweder wir stehen ehrlich zu dem moralischen Gefühl der Verachtung und müssen dann anscheinend einen Menschen in seiner Würde missachten, oder wir achten die Würde auch dieses Menschen und müssen dann offenbar die empfundene Verachtung verleugnen. Es ist wohl nicht möglich, dieses Dilemma anders aufzulösen als so, dass beide, Achtung und Verachtung, je zu ihrem Recht kommen: die Verachtung muss sich auf die Tat, die Achtung hingegen auf den Täter richten. Dahinter steht die für die reformatorische Theologie Luthers grundlegend wichtige Unterscheidung (nicht Trennung!) zwischen dem Werk und der Person des Menschen.¹¹ Daraus folgt, dass der Mensch zwar durch sein sittliches Tun Ehre, Ansehen und Würde vor den Menschen erwerben kann, aber nicht vor Gott, der dem Menschen seine Ehre und Würde ohne sein Verdienst allein aus Gnade verleiht. Das ermöglicht einen zugleich ehrlichen und respektvollen Umgang auch mit Menschen, die sich schwer schuldig gemacht haben. An dieser Unterscheidung hängt auch – letztlich – die Möglichkeit von Verzeihung bzw. Vergebung, die etwas anderes ist als Gleichgültigkeit oder Bagatellisierung. Denn Vergebung besagt, dass uns die Beziehung zu einem Menschen (noch) wichtiger ist als das, was er uns (oder einem Anderen) angetan hat.

3 Konkretisierungen der Menschenwürde 3.1 Der Mensch als Zweck oder bloßes Mittel Unter den Texten, die für die Interpretation von Menschenwürde eine wichtige Rolle gespielt haben, hat keiner eine größere Wirkungsgeschichte gehabt als die Form von Kants Kategorischem Imperativ, die er selbst als „praktische(n) Imperativ“ bezeichnet:

10 Schiller (1993), S. 482 f. 11 Siehe dazu Jüngel (1990), S. 194 – 213.

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„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“¹²

Vor allem durch den Grundgesetzkommentar von Maunz / Dürig¹³ sowie durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts¹⁴ hat diese Interpretation eine überragende Bedeutung gewonnen.¹⁵ Demnach wäre die Menschenwürde immer dann verletzt, wenn ein Mensch gar nicht um seiner selbst willen wahrgenommen und behandelt wird, sondern ausschließlich in seiner Bedeutung oder seinem Wert für andere(s). Gegen Kants Rede vom Behandeln (der Menschheit) eines Menschen als bloßes Mittel wird immer wieder eingewandt, sie sei viel zu unbestimmt, um in konkreten Entscheidungssituationen ein Kriterium an die Hand zu geben, ob eine bestimmte Handlung als Achtung oder Missachtung der Menschenwürde zu interpretieren sei. In juristischer Hinsicht ist das sicher in der Regel zutreffend. Und trotzdem ist diese Kritik nicht ganz berechtigt; denn es gibt Situationen, in denen es tatsächlich um die Entscheidung geht, ob ein Mensch geschädigt oder getötet werden darf, um z.B. die Lebens- oder Heilungsmöglichkeiten anderer Menschen zu erhalten oder zu erhöhen. Ein eklatantes Beispiel hierfür sind sogenannte fremdnützige Menschenversuche ohne Einwilligung der Probanden. In solchen Fällen wird also durchaus ein Mensch als bloßes Mittel gebraucht und ist nicht zugleich Zweck. Und damit wird seine Menschenwürde missachtet. Aber es gibt möglicherweise auch noch andere Formen, in denen die Menschenwürde missachtet oder geachtet wird, die nicht darin bestehen, dass ein Mensch bloß als Mittel (für einen fremden Zweck) behandelt wird.

3.2 Der Mensch als Person oder Objekt Durch die Fassung, in der Günter Dürig in seinem Grundgesetzkommentar interpretiert hat, was Menschenwürde ist, wurde die mit Kants praktischem Imperativ eng verwandte sog. Objektformel zu einem weiteren dominierenden Interpretationsmuster in der deutschen Rechtsprechung. Sie lautet:

12 Kant (1785) BA 66 f. 13 Grundgesetz. Kommentar, begr. v. Maunz / Dürig, München 1958 ff. Art. 1, Abs. 1, Rn. 28. 14 BVerfGE 9,89 (95); 27,1 (6); 28,386 (391); 45,187 (228); 50,166 (175) sowie 87,209 (228). 15 Eine entscheidende Rolle spielt dabei freilich ein Begriff, der in Kants Formulierung gar nicht vorkommt: der Begriff „Objekt“. Davon soll im nächsten Unterabschnitt die Rede sein. Hier will ich mich zunächst ganz auf Kants Formulierung konzentrieren.

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„Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, […] zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“¹⁶

Charakteristisch für ein Objekt ist zunächst, dass es ein Gegenstand oder Ding ist, über das andere verfügen (können), und das nicht in sich die Freiheit hat, zuzustimmen oder sich zu verweigern, sich willentlich zu erschließen oder zu verschließen. Charakteristisch für ein Objekt ist weiter, dass es einen Wert hat, der in Form eines Preises ausgedrückt, bezahlt und entgegengenommen werden kann. Wenn Menschen in diesem Sinn als Objekte behandelt werden, dann ist das in der Tat mit ihrer Menschenwürde unvereinbar. Deswegen ist es ethisch unbestreitbar, dass z.B. Sklaverei, Menschenraub und Menschenhandel nicht mit der Menschenwürde vereinbar sind, selbst wenn zwischen Besitzer und dem menschlichen „Besitz“ ein emotionales Verhältnis bestehen oder entstehen sollte, in dem die käuflich erworbene Person für ihren Eigentümer durchaus nicht bloß Mittel, sondern auch Zweck sein oder werden könnte. Aber das Bundesverfassungsgericht hat selbst in einem seiner Urteile darauf hingewiesen, dass es durchaus Situationen gibt, in denen Menschen als oder wie Objekte behandelt (z.B. abgeführt, weggetragen oder eingesperrt) werden, ohne dass damit ihre Menschenwürde missachtet würde.¹⁷ Auch die Objektformel trifft also etwas an der Menschenwürde, ist aber keine umfassende Konkretisierung dessen, was Achtung oder Missachtung von Menschenwürde ist, sondern nur ein wichtiger Aspekt hiervon. Das wird auch daran deutlich, dass die Objektformel ihre eigentliche Überzeugungskraft wohl von dem Verbum „herabwürdigen“ gewinnt, mit dem sie abschließt. Daran zeigt sich aber, dass die Formel faktisch zirkulären Charakter hat.

16 Siehe oben Anm. 13. Das Kant’sche und Dürig’sche Verständnis von Menschenwürde ist auch – ohne ausdrückliche Betonung – der Schlüssel zum Verständnis der Aussagen über Menschenwürde in der evangelischen Theologie und Kirche vor allem seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Diese allgemeine (und damit philosophisch unmittelbar anschlussfähige) Interpretation dessen, was unter „Menschenwürde“ zu verstehen ist, hat ihr besonderes christliches Profil darin, dass die Menschenwürde ausschließlich als Gabe Gottes (und nicht als Resultat menschlicher Leistung) verstanden wird (K. Barth, H. Thielicke, G. Heinemann). Sie bekommt ihr spezifisch evangelisches Profil durch die Aussage, dass die Menschenwürde nicht nur dem moralisch integren, begabten, erfolgreichen Menschen zukommt, sondern auch und gerade dem Menschen in seiner Schwäche, Fehlsamkeit und Bedürftigkeit (E. Benda, R. Anselm). Zu einem kontroversen Thema wird die Menschenwürde in der evangelischen Theologie im Blick auf die Bestimmung des (vorgeburtlichen) Anfangs von Menschsein und Menschenwürde im Zusammenhang bioethischer Debatten. 17 So konstatiert das Bundesverfassungsgericht: „Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muss. Eine Verletzung der Menschenwürde kann darin allein nicht gefunden werden.“ (BVerfGE 30,1 [25 f.]).

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3.3 Selbstbestimmung oder Fremdbestimmung des Menschen In der gegenwärtigen medizinethischen Diskussion wird  – vor allem bezogen auf das Lebensende – die Beachtung oder Nichtbeachtung der Willensäußerungen eines Menschen im Blick auf mögliche medizinische Behandlungsmaßnahmen als exemplarischer Fall für die Achtung oder Infragestellung von Menschenwürde gewichtet. Als „menschenunwürdig“ gilt demzufolge ein Sterben, bei dem Menschen gegen ihren ausdrücklichen Wunsch durch medizinische Maßnahmen am Leben erhalten werden. In vielen neueren Texten scheint „Menschenwürde“ geradezu als Synonym für „Selbstbestimmungsrecht“. Aber auch ganz einseitige Vertreter des Selbstbestimmungsrechts sind sich natürlich dessen bewusst, dass keineswegs jede Willensäußerung, die auf einen Behandlungsabbruch oder auf das eigene Sterben zielt, befolgt werden darf, selbst wenn die entsprechenden Handlungen rechtlich zulässig sind. Vielmehr wird stets gefordert, dass solche Äußerungen „wiederholt“ oder „in unterschiedlichen Situationen“, „vor verschiedenen Zeugen“, „angesichts einer aussichtslosen Situation“ sowie „im Vollbesitz der geistigen Kräfte“ gemacht werden müssten, um Befolgung zu verdienen. Darin drückt sich das Erfahrungswissen aus, dass der Sterbewunsch häufig geäußert wird, ohne dass ein Mensch tatsächlich aus dem Leben scheiden will. Der „selbstbestimmte Wille“ ist ein schwankendes, unsicheres Gebilde. Zudem sind solche Willensäußerungen in hohem Maße durch fremde Einflüsse mitbestimmt, so dass sich auch von daher die Gleichsetzung von Menschenwürde mit Selbstbestimmung verbietet. Trotzdem ist dem zuzustimmen, dass es normalerweise eine Missachtung der Würde eines Menschen ist, wenn andere in ihrem therapeutischen Umgang mit diesem Menschen etwas tun, was dessen erklärtem Willen widerspricht.¹⁸ Es gehört zur Würde des Menschen, die Anwendung medizinischer Maßnahmen an sich selbst untersagen zu können. Die Achtung der Menschenwürde konkretisiert sich hier als Beachtung der klaren Willensäußerung eines Menschen im Blick auf sein Krankheitsgeschick oder seinen Sterbeprozess, wenn er eine Behandlung ausdrücklich für sich ablehnt. Würde man daraus aber ableiten, dass Menschenwürde mit (ernsthafter) Selbstbestimmung gleichzusetzen ist, so würde man dafür freilich einen verheerenden Preis bezahlen müssen: dann hätten nämlich alle Menschen, die noch nicht oder nicht mehr zur Selbstbestimmung fähig sind, auch keine Menschenwürde (mehr). Diese Konsequenz ist so abwegig, dass ihre Ablehnung keiner ausführlichen Begründung bedarf. Aber sie muss benannt werden, um die fatale Gleichsetzung von Menschenwürde und Selbstbestimmung, die vielfach (mit positiver Resonanz) vertreten wird, bewusst zu machen, und ihr zu widerstehen.

18 Es sei denn, es gäbe gravierende Gründe für diese Nicht-Beachtung, z.B. das Wissen darum, dass die Willensäußerung des Patienten selbst ein Symptom seiner Krankheit, etwa einer schweren Depression, ist.

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3.4 Entscheidungsfreiheit des Menschen gegen Zwangsmaßnahmen Ein anderes Phänomen, an dem die Missachtung von Menschenwürde sich konkretisiert, ist nach allgemeiner Auffassung die Androhung oder Anwendung von Zwangsmaßnahmen, etwa in Gestalt von Folter, sei es zur Erpressung eines Geständnisses oder einer Aussage. Obwohl es Situationen gibt, in denen es als „menschlich verständlich“ erscheint, wenn ein Polizeibeamter in der Hoffnung auf Rettung von bedrohtem Menschenleben Foltermaßnahmen androht oder anwendet, ist doch nicht zu bestreiten, dass damit die Würde dessen, dem diese Androhung oder Anwendung gilt, missachtet wird. Diese Missachtung besteht darin, dass die Androhung oder Anwendung von Gewalt das Ziel hat, den Betroffenen gegen seine Entscheidung zu einer Aussage zu zwingen, die er nur macht, weil er Angst vor Schmerzen hat oder nicht mehr in der Lage ist, diese zu ertragen. Durch die Folterdrohung oder -praxis wird sein Wille gebeugt oder gebrochen, und das ist mit der Achtung der Würde eines Menschen nicht vereinbar. Dagegen wird gelegentlich eingewandt, Nothilfe zur Rettung von Menschenleben sei aber doch rechtlich zulässig und stelle offenbar keine Missachtung der Menschenwürde dar, obwohl sie dem Angreifer u.U. noch größere Übel zufügt als Folter, nämlich ihn gegebenenfalls sogar tötet. Das ist richtig, zeigt aber, dass Folter und Nothilfe sich in zwei gravierenden Hinsichten unterscheiden: Einerseits hat die Nothilfe das Ziel, das Leben bedrohter Menschen dadurch zu retten, dass sie den Angreifer (notfalls mit Waffengewalt) an seinem Tun hindert. Das ist nur möglich in einer Situation, in der der Angreifer als solcher identifiziert ist und an seinem Tun gehindert werden kann. Demgegenüber hat man es in der Situation, in der Folter erwogen oder angewandt wird, mit einem mutmaßlichen Täter zu tun, und kann nicht wissen, ob man den Willen dieses mutmaßlichen Täters überhaupt durch Folter brechen kann. Es ist also nicht auszuschließen, dass das Folteropfer gar nicht der Täter ist, sondern sich vielleicht nur (aus Wichtigtuerei oder auf Grund einer krankhaften Bewusstseinsstörung) als solcher ausgibt; und es ist ungewiss, ob die Folter überhaupt bei ihm ein geeignetes Mittel ist, um das erstrebte Ziel zu erreichen. In beiden Hinsichten ist die Folter mit Ungewissheiten belastet, die im Falle der Nothilfe nicht gegeben sind Zudem versucht die Folter, diese Ungewissheiten durch einen gewaltsamen Eingriff in das Seelenleben des vermutlichen Angreifers zu überwinden. Das ist mit der Achtung der Menschenwürde nicht zu vereinbaren. Wer trotzdem meint, in einer bestimmten Situation aus ethischen Gründen verpflichtet zu sein, so zu handeln, muss dann auch bereit sein, die Konsequenzen dieser Handlung zu tragen.¹⁹

19 Siehe dazu Härle (2007), S. 337 – 356.

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3.5 Achtung der Intimität gegen Bloßstellung oder Demütigung Ein weiteres Feld für die Missachtung von Menschenwürde lässt sich bezeichnen mit den Begriffen „Bloßstellung oder Demütigung“. Die gelegentlich der Öffentlichkeit durch die Medien eindrücklich präsentierten Bilder von Kriegsgefangenen (z.B. aus dem irakischen Abu Ghreib), die durch ihre Wärter gedemütigt werden, stehen exemplarisch für eine besonders drastische Form von – in diesem Fall sogar oft wörtlich zu verstehender – Bloßstellung von Menschen, durch die deren Würde eklatant missachtet wird.²⁰ Aber es gibt natürlich zahlreiche andere Formen, durch die Menschen bloßgestellt, gedemütigt, der Lächerlichkeit preisgegeben oder zum Gegenstand des Spottes gemacht werden, die allesamt eine Missachtung der Menschenwürde darstellen (können). Auch in Krankheits- und Sterbesituationen haben Menschen oft den Eindruck, dass sie (oder ihre Angehörigen) in einer Weise entblößt und den Blicken anderer preisgegeben werden, die sie als Missachtung ihrer Würde empfinden. Das gilt insbesondere für Menschen, die von Kind auf dazu angehalten wurden, sich niemals nackt zu zeigen und den Anblick nackter Menschen zu meiden. Das mag man für falsch halten, aber das ist gleichwohl zu respektieren. D.h. aber: Es gehört zur Würde des Menschen, dass das, was er von sich der Öffentlichkeit nicht preisgeben möchte und auf dessen Kenntnis die Öffentlichkeit kein Anrecht hat, auch tatsächlich im Verborgenen bzw. in der Sphäre seiner Intimität verbleiben darf. Insofern gehören die Achtung und der Schutz der Intimsphäre eines Menschen zur Achtung und zum Schutz seiner Menschenwürde.

3.6 Gleichberechtigung gegen Diskriminierung von Menschen Als letztes Feld für die Konkretisierung der Missachtung von Menschenwürde nenne ich  – ohne Anspruch auf Vollständigkeit  – den Ausschluss von Menschen von der Teilhabe an der Rechtsgleichheit innerhalb einer Gesellschaft, z.B. auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, sozialen Stellung, ihres Geschlechtes, ihrer Religion oder Weltanschauung. Gerade die Tatsache, dass in der Geschichte der Menschheit über lange Zeit hin Ausländer, Kranke, Sklaven, Frauen und Kinder, sowie bestimmte Minderheiten, als „Nicht-Menschen“ oder als „Untermenschen“ behandelt bzw. misshandelt wurden, empfinden wir zu Recht als eine schwere Missachtung ihrer Menschenwürde. Letztlich läuft dies in allen genannten Fällen darauf hinaus, diesen Menschen ihr Menschsein zumindest teilweise abzusprechen und ihnen daraufhin die Rechte,

20 Dass die Respektierung des Schamgefühls von großer Bedeutung für die Achtung der Würde des Menschen ist, bringt schon die biblische Urgeschichte eindrucksvoll zum Ausdruck. Vgl. dazu Härle (2011), S. 486 f.

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die Partizipationsmöglichkeiten und die Achtung zu verweigern, die ihnen als Menschen zusteht. Die Tatsache, dass selbst totalitäre, menschenverachtende Systeme wie der Nationalsozialismus zunächst versuchten, Menschen anderer rassischer Zugehörigkeit ihr Menschsein abzusprechen, indem sie diese für „Untermenschen“ oder „Ungeziefer“ erklärten und publizistisch als solche(s) darstellten²¹, zeigt, dass es offenbar ein tief sitzendes Wissen um die unantastbare Würde jedes Menschen gibt, das in solchen Fällen zunächst einmal „semantisch ausgeschaltet“ werden muss, bevor man mit Aussicht auf Zustimmung oder wenigstens Tolerierung seitens der Bevölkerung solche Vernichtungsaktionen starten kann. Man muss – jedenfalls in unserem Kulturkreis – Menschen offenbar erst einmal ihr Menschsein absprechen, bevor man in der Öffentlichkeit wagen kann, ihre Menschenwürde zu bestreiten und sie entsprechend zu behandeln.

3.1 – 6 Menschenwürde als Anrecht auf Achtung des Menschseins Wie hängen diese unterschiedlichen Konkretisierungen von Menschenwürde und ihrer Achtung bzw. Missachtung untereinander zusammen? Das Gemeinsame liegt nicht in irgendetwas Speziellem am Menschen, sondern offenbar im Menschsein²² selbst, das Achtung gebietet. Und genau das ist der Sinn und Gehalt der Definition, derzufolge Würde zu verstehen ist als das jedem Menschen mit seinem Menschsein gegebene Anrecht auf Achtung. Dabei taucht der Begriff ‚Achtung‘ in diesem Zusammenhang zweifach auf: als Respektierung des Menschseins des Menschen und als Respektierung des menschlichen Anrechts auf Achtung. Beides bezieht sich auf denselben Sachverhalt, aber in unterschiedlicher Weise. Von dem Anrecht auf Achtung sagt das Grundgesetz zu Recht, es sei unantastbar, und d.h. nicht nur, es solle oder dürfe nicht angetastet werden, sondern es könne nicht angetastet werden. Dieses Anrecht bleibt also auch dort bestehen, wo Menschen es ignorieren, bestreiten oder mit Füßen treten, indem sie z.B. das Leben von Menschen antasten oder ihnen ihr Selbstbestimmungsrecht bestreiten. Wem es Schwierigkeiten bereitet, sich etwas Sinnvolles unter einem Anrecht vorzustellen, das unantastbar ist und bleibt, auch wenn es nicht geachtet wird, der kann

21 Eine ähnliche Funktion hat heute die Bezeichnung von Wachkoma-Patienten als „menschliches Gemüse“ („human vegetable“), von Embryonen als „Zellhaufen“ oder von Embryonen und Föten als „Schwangerschaftsgewebe“ (so „Pro familia“ in den Informationsschriften für Jugendliche). 22 Dieses Menschsein meint auch der bei Kant vorkommende (oben bei Anm. 12) zitierte Begriff „Menschheit“, den wir üblicherweise als Kollektivbegriff für die Gesamtheit aller Menschen verstehen und gebrauchen.

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sich diese Möglichkeit leicht an einem Beispiel deutlich machen: Vermutlich würden alle Menschen dem Satz zustimmen: „Jedes Kind hat ein Anrecht auf liebevolle Zuwendung“. Nun gibt es zweifellos Kinder, denen (aus den verschiedensten Gründen) keine liebevolle Zuwendung zuteil wird. Damit wird ihr Anrecht auf Zuwendung nicht geachtet, aber es hört als Anrecht auf liebevolle Zuwendung selbstverständlich nicht auf, vorhanden und gültig zu sein. Die Kinder behalten dieses Anrecht. Es ist und bleibt unantastbar, auch wenn es nicht geachtet wird. Vielleicht könnte man sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen: Gerade die Nichtachtung des Anrechts auf liebevolle Zuwendung macht das Vorhandensein, die Gültigkeit und Unantastbarkeit dieses Anrechts unübersehbar bewusst. Niemand kann einem Menschen das Anrecht auf Achtung nehmen. Aber sehr wohl können Menschen dieses Anrecht missachten, sie können Menschen so behandeln, als hätten sie dieses Anrecht nicht. Und darum hat GG Art. 1 auch darin Recht, dass er nicht nur die Unantastbarkeit der Menschenwürde – im Sinne des Anrechts auf Achtung – konstatiert, sondern zugleich sagt: „Sie [sc. die Würde des Menschen] zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Jene Feststellung und diese Forderung bilden also keinen Gegensatz, sondern gehören aufs Engste zusammen. Weil das Anrecht auf Achtung unantastbar ist, darum ist es Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, dieses Anrecht zu achten und es dort, wo es missachtet wird, zu schützen.

4 Träger der Menschenwürde Dass die Frage nach dem Träger der Menschenwürde trotz des bisher Gesagten nicht völlig trivial ist, und dass mit der richtigen Antwort: „jeder Mensch“ noch nicht alles gesagt ist, ergibt sich daraus, dass strittig ist, wer unter den Begriff Mensch fällt, wie also dessen Subjektbereich zu bestimmen ist. Im Unterschied zum Begriff „Person“²³ ist der Begriff „Mensch“  – zumindest auch – ein biologischer Begriff.²⁴ Als solcher ist er durch die Zugehörigkeit zur Spezies „homo sapiens (sapiens)“ definiert, die eine hochentwickelte Spezies in der Klasse

23 Vgl. hierzu Spaemann (1996) sowie Härle (2010a). 24 Mit dieser Unterscheidung zwischen den Begriffen „Person“ und „Mensch“ setze ich keineswegs voraus, dass es Menschen gäbe, die keine Personen wären; auch ist damit nicht notwendig die Annahme verbunden, dass es Personen gibt, die keine Menschen sind. Man könnte also durchaus annehmen, dass der Umfang (Extension) des Begriffs „Person“ mit dem Umfang des Begriffs „Mensch“ identisch ist, und trotzdem verlöre die Unterscheidung zwischen „Person“ und „Mensch“ damit nicht ihren Sinn (Intension) – ebenso wenig wie dies bei den Begriffen „Morgenstern“, „Abendstern“ und „Venus“ der Fall ist, die alle auf denselben Planeten verweisen, also denselben Umfang haben, aber ihn in unterschiedlicher Hinsicht bezeichnen, als unterschiedlichen Sinn haben.

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der Säugetiere darstellt. Aber das Gesagte ist insofern noch zu einseitig biologisch formuliert, als das Abstammungsverhältnis zugleich ein Verwandtschaftsverhältnis, also eine soziale Kategorie ist. Das Besondere am Abstammungsverhältnis ist generell, dass es unweigerlich sowohl eine biologische, als auch eine soziale Kategorie ist, die nicht durch unsere Zuschreibung oder Anerkennung zustande kommt, sondern unserer Anerkennung immer schon vorgegeben ist und sie von uns fordert. Das elementarste Beispiel hierfür ist das Verhältnis einer Mutter und auch eines Vaters zu ihrem Kind. Dieser biologisch-soziale Doppelaspekt und die Vorgegebenheit kommen gut zum Ausdruck in der Rede vom „genus humanum“, vom „Menschengeschlecht“ oder von der „Menschheitsfamilie“. Beide Betrachtungsweisen, die biologische und die sozialphilosophische, stimmen darin überein, dass ein Wesen dann unter den Begriff „Mensch“ fällt, wenn es in den Abstammungs- und damit in den Verwandtschaftszusammenhang zu (anderen) Menschen hineingehört. Deshalb kann gesagt werden: Mensch ist jedes Wesen, das von Menschen abstammt – gleichgültig, ob diese Abstammung auf dem Weg über natürliche Zeugung und Empfängnis, durch künstliche Befruchtung oder durch Klonierung²⁵ erfolgt. Als Alternative zu dieser Beantwortung der Frage nach der Zugehörigkeit zum Menschsein über die Gattungs- bzw. Spezieszugehörigkeit wird einerseits vorgeschlagen die Zuschreibung der Zugehörigkeit aufgrund einer kulturellen Konvention oder aufgrund einer gesetzlichen Regelung, andererseits die Konstatierung der Zugehörigkeit aufgrund bestimmter Eigenschaften, durch die ein Wesen sich (anderen) Tieren gegenüber auszeichnet, z.B. Sprache, Vernunft, Interessen. Im ersten Fall hängt die Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie von einer willkürlichen Entscheidung ab, durch die der Gedanke der Menschenwürde und der Menschenrechte faktisch beseitigt wird, weil die Zuschreibung nicht begründungspflichtig ist und jederzeit auch wieder aufgehoben werden kann. Im zweiten Fall wird nicht mehr ein menschliches Individuum gedacht, sondern eine Aneinanderreihung von Zuständen, in denen jeweils die fragliche Eigenschaft vorhanden ist, die jedoch durch all die Zustände (z.B. Bewusstlosigkeit, vorgeburtlicher Zustand, früheste Kindheit, Altersdemenz) unterbrochen wird in denen diese Eigenschaft nicht vorhanden oder zumindest nicht feststellbar ist. Keine der beiden Alternativlösungen ist in der Lage, die ethische Stellung des Menschen, wie sie in den Begriffen „Menschenwürde“ und „Menschenrechte“ zum Ausdruck kommt, zu begründen oder auch nur zur Sprache zu bringen. Dazu ist nur die Einsicht in die Bedeutung der Abstammung und der Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie in der Lage.

25 Die Nennung der Klonierung darf nicht als implizite Zustimmung zum reproduktiven (oder zum sog. „therapeutischen“) Klonen von (bzw. bei) Menschen verstanden werden. Ihre Erwähnung hat nur den Sinn, festzuhalten, dass auch ein auf diesem Wege entstandenes Wesen natürlich ein Mensch wäre.

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Von da aus ist nun auch die Frage nach den Grenzen des so definierten Begriffs „Mensch“ zu beantworten. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass es keine Grenze geben kann, die bei Wesen, die von Menschen abstammen und damit zur Menschheitsfamilie gehören, aufgrund fehlender Eigenschaften, Fähigkeiten oder anderer Ausstattungsmerkmale gezogen werden könnte. Anders gesagt: Keine mögliche körperliche oder intellektuelle Behinderung – einschließlich der Anenzephalie – kann dazu berechtigen, einem Wesen, das von Menschen abstammt, das Menschsein abzusprechen. Trotzdem bleibt aber die Frage zu stellen und zu beantworten, ab wann und bis zu welchem Zeitpunkt ein von Menschen abstammendes Wesen als „Mensch“ zu bezeichnen ist. In dem ganzen Entwicklungsprozess von der Verbindung des Genoms der Samenzelle und der Eizelle zu einem neuen, lebensfähigen Genom, also von der Befruchtung an bis zum Tod des Menschen,²⁶ gibt es in seiner Entwicklung keine qualitative Zäsur²⁷, an der aus einem nicht-menschlichen Zellgebilde erst ein Mensch würde. Der menschliche Embryo entwickelt sich, wie das Bundesverfassungsgericht²⁸ zutreffend festgestellt hat, von Anfang an als Mensch, nicht zum Menschen. Im Blick auf das Ende des Menschseins, das in diesem Handbuch im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sind die Abgrenzungsprobleme freilich m. E. größer als im Blick auf den Lebensbeginn. Dabei überlagern sich – zumindest scheinbar – zwei Probleme: einerseits das Problem der Todesdefinition, andererseits die Verhältnisbestimmung von Tod und Menschsein.²⁹ Von einer bloß scheinbaren Überlagerung spreche ich deswegen, weil die Todesdefinition zwar insbesondere im Blick auf die Frage der Organentnahme als Kriterium eine große Rolle spielt³⁰, aber nicht für die Definition des Menschseins. Anders gesagt: An der jeweiligen Todesdefinition  – Hirntod, klinischer Tod, biologischer Tod – hängt zwar die Frage, wo die Unterscheidungslinie zwischen einem lebendigen und einem toten Menschen verläuft, aber nicht die Frage, wo das Menschsein endet. Selbst wenn dies beim ersten Hören merkwürdig klingen sollte, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass tote Menschen immer noch Menschen sind und von uns in aller Regel auch so behandelt – z.B. bestattet – werden. Ebenso ist unbestritten, dass auch der tote Mensch Achtung verdient, also in gewisser Hinsicht Menschenwürde besitzt,³¹ womit freilich nicht behauptet wird, dass die Achtung gegenüber

26 Und – wie sich gleich zeigen wird – noch darüber hinaus. 27 Vgl. dazu als unverdächtigen Zeugen Singer (1989). 28 BVerfGE 88, 203 [251 f]; 39, 1 [37]. So auch – unter Bezugnahme auf die Forschungsergebnisse der neueren Biologie – Römelt (2009), S. 196. 29 Siehe dazu → Einleitung, Anderheiden / Eckart. 30 Vgl. dazu Stock (1997), S. 83 – 110. 31 Es ist eine der Stärken der Definition von „Menschenwürde“ als „Anrecht auf Achtung des Menschseins“, dass sie – besser Dürigs Objektformel oder gar als die häufig vollzogene Gleichsetzung von Menschenwürde mit Selbstbestimmung – in der Lage ist die Ausstrahlung der

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lebenden Menschen und die Achtung gegenüber toten Menschen dieselbe Bedeutung hätten oder dieselben Ausdrucksformen annehmen müssten.³² Wir können weder im Blick auf den Anfang noch im Blick auf das Ende des Menschseins einen genauen Zeitpunkt definieren oder festlegen, aber wir können Grenzen, sozusagen Schutzgrenzen, ziehen, die wir am Lebensanfang und am Lebensende zu respektieren haben. Diese Anfangsgrenze ist der Prozess der Befruchtung und Empfängnis, und die Grenze am Lebensende ist der klinische Tod im Sinne des irreversiblen Herz-Kreislauf-Stillstands. Was dazwischen liegt, ist ein lebender Mensch mit seiner unantastbaren Würde.

5 Menschenwürde als rechtlicher und ethischer Grundbegriff Der in unserem Bereich bekannteste und wichtigste Text zur Menschenwürde ist der bereits zitierte Artikel  1 (1) aus dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland³³: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Hier hat „Menschenwürde“ fraglos den Charakter eines rechtlichen Grundbegriffs.³⁴ Seine überragende Bedeutung ergibt sich aus wenigstens drei Tatsachen: – erstens durch die Stellung des Menschenwürde-Artikels am Beginn des Grundgesetzes; – zweitens daraus, dass durch ihn alle staatliche Gewalt verpflichtet wird; – drittens durch die sog. Ewigkeitsgarantie in Art.  79 (3) des Grundgesetzes, die besagt, dass eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig ist, „durch welche […] die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden“. Da das Grundgesetz selbst keine Interpretation oder Definition³⁵ von „Menschenwürde“ gibt, die entsprechende Aussage im Grundgesetz also eine „nichtinterpre-

Menschenwürde auf den menschlichen Leichnam plausibel zu machen. Vgl. dazu Härle, (2010b), S. 299 – 312. 32 In der juristischen Diskussion wird im Blick auf dieses Thema gelegentlich von einer „Ausstrahlungswirkung“ der Menschenwürde über den menschlichen Tod hinaus gesprochen. M. Herdegen spricht in seinem Grundgesetz-Kommentar (siehe oben Anm. 12, S. 31, Rn. 54) zurückhaltender und nicht ganz logisch von der „nachwirkende(n) Respektierung der Menschenwürde des Verstorbenen“. Nachwirkend kann freilich nicht die Menschenwürde Verstorbener sein, sondern die Menschenwürde Lebender kann auf sie als Verstorbene nachwirken. 33 Ich zitiere nach der Ausgabe von Pestalozza (1995), S. 1. 34 Siehe dazu den vorangehendes → Kap. 1.12, Anderheiden. 35 Im Blick auf die Frage nach der Definierbarkeit von „Menschenwürde“ vertritt die heutige

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tierte These“³⁶ ist, wurden und werden zur Interpretation von Art. 1 (1) GG und damit von „Menschenwürde“ die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes herangezogen, von denen bereits die Rede war.³⁷ In ihnen dominiert – wie gesagt – die Kant’sche Unterscheidung von Zweck und (bloßem) Mittel sowie die Dürig’sche Objektformel. Aber was fällt rechtlich unter den Schutz von Art. 1 (1) GG? Wann und wodurch wird das Anrecht eines Menschen auf Achtung seines Menschseins so missachtet, dass dies auch zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens und eines Verfassungsgerichtsurteils werden kann? Mit Sicherheit ist dies dort nicht der Fall, wo die Missachtung der Menschenwürde lediglich den Charakter einer inneren Einstellung oder verbaler, mimischer bzw. gestischer Äußerungen annimmt, die ihrerseits nicht den Tatbestand der Beleidigung, üblen Nachrede, Verleumdung oder Verunglimpfung³⁸ erfüllen. Das deutsche Strafgesetzbuch³⁹ enthält jedenfalls nur zwei Paragraphen (§ 130 und 131), die unter den Überschriften „Volksverhetzung“ und „Gewaltdarstellung“ den Angriff auf die Menschenwürde anderer unter Strafe stellen. Darüber hinaus kommt der Begriff „Menschenwürde“ im Strafgesetzbuch nicht vor. Wie ist das zu erklären angesichts der hochrangigen Bedeutung, die die Achtung und der Schutz der Menschenwürde aufgrund der Verfassung genießen? Es ist dadurch zu erklären, dass Achtung und Schutz der Menschenwürde als rechtliche Größen ansonsten nur auftreten in Verbindung mit, genauer gesagt: in Form von Straftaten, die auch andere (Menschen-)Rechte verletzen. So kennt das Strafgesetzbuch natürlich das Verbrechen der (sexuellen) Nötigung, des schweren Menschenhandels und der Verletzung von Privatgeheimnissen⁴⁰ oder der bereits oben genannten Volksverhetzung und Gewaltdarstellung, die alle den Tatbestand der Missachtung der Menschenwürde erfüllen (können), aber es ist die konkrete Form, in der dies geschieht, die im Strafgesetzbuch mit Strafe bedroht, im Strafverfahren mit Strafe belegt und im Strafvollzug bestraft wird. Dadurch, dass diese Handlungen (als konkrete Formen der Missachtung der Menschenwürde) Gegenstand des Strafrechts sind, ist es nicht erforderlich, sie eigens als Missachtung der Menschenwürde anzuklagen oder zu verurteilen.

Rechtswissenschaft ganz überwiegend die Auffassung, „Menschenwürde“ sei als Rechtsbegriff nicht eindeutig definierbar. 36 So Heuss (1951), S. 49. Es handelt sich überdies um eine nicht begründete These. In der wissenschaftlichen Diskussion wird dies aufgenommen in der Rede von der „Begründungsoffenheit“ von Menschenwürde und Menschenrechten (vgl. dazu Vögele (2000), bes. S. 487 – 491). Mit dieser Formel ist das Begründungsproblem freilich nicht gelöst, sondern nur benannt. Zu unterschiedlichen Lösungsansätzen und ihrer Leistungsfähigkeit siehe Härle (2010c), S. 70 – 90. 37 Siehe oben Anm. 14 und 17. 38 Siehe zu diesen Tatbeständen StGB § 185 – 200. 39 Strafgesetzbuch, Textausgabe von Th. Weigend, München 200947. 40 StGB § 174 – 179; § 181 und § 203.

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Die bisherigen Andeutungen zur Menschenwürde als einem rechtlichen Grundbegriff hatten freilich insofern bereits selbst ethischen Charakter, als die Setzung grundlegender rechtlicher Normen selbst auf ethischen Überlegungen und Begründungen beruht. Sie ergeben sich aus einem bestimmten Menschenbild, und sie orientieren sich am Prinzip der Verallgemeinerungsfähigkeit (Universalisierbarkeit). Aber die Bedeutung von „Menschenwürde“ als ethischer Grundbegriff geht darin nicht auf. Ja, man kann gerade an der Menschenwürde, verstanden als Anrecht auf Achtung, zeigen, dass und warum grundlegende ethische Forderungen, Verhaltensdispositionen und Verantwortlichkeiten weit über das hinausreichen, was durch die Rechtsordnung vorgeschrieben wird und vorgeschrieben werden kann. Wenn ich oben sagte, die Missachtung der Menschenwürde sei mit Sicherheit dort kein Rechtsverstoß, wo sie lediglich den Charakter einer inneren Einstellung oder verbaler, mimischer bzw. gestischer Äußerungen annimmt, die ihrerseits nicht zugleich den Tatbestand der Beleidigung, üblen Nachrede, Verleumdung oder Verunglimpfung erfüllen, so ist damit zugleich das weite Feld möglicher Missachtung von Menschenwürde angedeutet, das zwar nicht rechtlich fassbar, aber gleichwohl für das menschliche Leben und Zusammenleben von größter Bedeutung ist. Dabei muss man sogar noch einen Schritt weitergehen: Es wäre gar nicht wünschenswert, dass die Rechtsordnung eines Landes gedankliche, verbale, mimische, gestische Ausdrucksformen der Missachtung von Menschenwürde unter Strafe stellt. Wer sollte das schließlich überprüfen und rechtlich be- bzw. verurteilen? Was für eine Gesellschaft wäre es, in der „verbale, gestische oder mimische Missachtung der Menschenwürde“ einen Straftatbestand darstellte? Jedenfalls keine wünschenswerte, sondern vermutlich eine totalitäre Überwachungsgesellschaft. Aber solche „verbale, mimische, gestische Missachtung der Menschenwürde“ gibt es vielfach, und sie ist von großer Bedeutung. Denn durch solche Verhaltensund Ausdrucksformen können Menschen psychisch und sozial gepeinigt, gequält, in die Verzweiflung getrieben werden etc. Aber das alles entzieht sich weitgehend einer rechtlichen Be- und Verurteilung. Es entzieht sich jedoch nicht einer ethischen Bewertung und Beurteilung. Es ist freilich die Frage, ob diese ethische Bewertung und Beurteilung von irgendeiner menschlichen Instanz angemessen (oder gar letztgültig) durchgeführt werden kann. Aber auch das nimmt ihr nichts von ihrer für das menschliche Leben und Zusammenleben großen Bedeutung. So bezogen sich die in Abschnitt 3 aufgelisteten Konkretisierungen der Achtung (oder Missachtung) von Menschenwürde zu einem erheblichen Teil auf Verhaltensformen, die nicht justitiabel sind, wohl aber hohe ethische Relevanz besitzen. Deshalb geht es auch bei dem Gesamtthema „menschenwürdig Sterben“ keineswegs nur (oder auch nur überwiegend) um mögliche Rechtsverstöße im Zusammenhang mit dem menschlichen Sterbeprozess, sondern sehr viel mehr um eine Gestaltung der Verhältnisse und des Verhaltens, die vom Geist der Achtung der Menschenwürde geprägt sind.

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Literatur Cicero, Marcus Tullius, 1994, Vom rechten Handeln (lateinisch und deutsch), hg. und übers. v. Karl Büchner, Zürich. Härle, Wilfried, 2007, „Kann die Anwendung von Folter in Extremsituationen aus der Sicht christlicher Ethik gerechtfertigt werden?“ in: ders., Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt. Studien zur Ekklesiologie und Ethik, Leipzig, S. 337 – 356. Härle, Wilfried, 2010a, „Alle Menschen sind Personen. Auseinandersetzung mit dem Speziesismusvorwurf“, in: Dabrock, Peter / Denkhaus, Ruth / Schaede, Stephan (Hg.), Gattung Mensch, Tübingen, S. 207 – 225. Härle, Wilfried, 2010b, „Sektion aus Sicht der Theologie“, in: Knoblauch, Hubert / Tag, Brigitte, Sectio, Berlin, S. 299 – 312. Härle, Wilfried, 2010c, Würde. Groß vom Menschen denken, München. Härle, Wilfried, 2011a, Ethik, Berlin / New York, bes. S. 231 – 261. Härle, Wilfried, 2011b, Dogmatik, Berlin / New York. Heuss, Theodor, 1951, [ohne Titel], in: Jahrbuch für Öffentliches Recht, n. F. 1 / 1951, S. 49. Jüngel, Eberhard, 1990, „Der menschliche Mensch. Die Bedeutung der reformatorischen Unterscheidung der Person von ihren Werken für das Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen“, in: ders., Wertlose Wahrheit, München, S. 194 – 213. Kant, Immanuel, 1785, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga. Pestalozza, Christian (Hg.), 1995, Verfassungen der deutschen Bundesländer, München. Römelt, Josef, 2009, Christliche Ethik in moderner Gesellschaft, 2. Bd. Lebensbereiche, Freiburg / Basel / Wien. Schiller, Friedrich, 1993, „Über Anmut und Würde“, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, Darmstadt. Singer, Peter, 1999, „Schwangerschaftsabbruch und ethische Güterabwägung“, in: Sass, Hans-Martin (Hg.), Medizin und Ethik., Stuttgart, S. 139 – 145. Spaemann, Robert,1996, Personen – Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart. Stock, Eberhard, 1997, „Menschliches Leben und Organtransplantation“, in: Marburger Jahrbuch Theologie IX / 1997, S. 83 – 110. Teifke, Nils, 2011, Das Prinzip Menschenwürde, Tübingen. Vögele, Wolfgang, 2000, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie, Gütersloh. Vogel, Bernhard (Hg.), 2006, Im Zentrum: Menschenwürde, Berlin. Weigend, Thomas (Hg.), 2009, Strafgesetzbuch, Textausgabe, München.

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1.14 Menschenwürdiges Sterben aus katholischer Sicht Abstract: Kaum einem Bereich des menschlichen Lebens begegnet man bei der Berufung auf die Menschenwürde so häufig wie dem des Sterbens. Menschenwürdiges Sterben wird nicht nur für sich selbst verlangt, sondern auch für Bekannte, Freunde und selbst für Unbekannte, von deren Schicksal man zufällig im Fernsehen oder in der Zeitung erfahren hat. Die Tatsache, dass menschenwürdiges Sterben so häufig gefordert wird, lässt vermuten, dass viele es bedroht sehen. Menschenwürdiges Sterben bezieht sich auf die Selbstbestimmung des Menschen und auf bestimmte Schutzansprüche, die missachtet werden können. Und zwar ist der sterbenskranke Mensch auf Grund seiner Schwachheit in höherem Maße abhängig von anderen Menschen als der gesunde und steht damit auch in Gefahr zum Objekt fremder Interessen zu werden. Das Sterben ist die letzte große Lebensaufgabe, die der Mensch zu bewältigen hat. Dabei kann und muss ihm geholfen werden. Das „Wie“ muss aus der konkreten Lage des Sterbenden heraus und von seinen Bedürfnissen her getroffen werden, wobei erfahrungsgemäß die erfolgreiche Bekämpfung der Schmerzen und weiterer Symptome sowie die Hilfe bei psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen wichtige Elemente sind. In hardly any other area of human life does one meet the appeal to human dignity as often as in the field of dying. Dying with dignity is not only called for on one’s own behalf, but also for acquaintances, friends, and even for those unknown to one, whose fate one has learned of in television or the newspaper. The fact that dying with dignity is so often called for leads us to think that many regard it as under threat. Dying with dignity refers to man’s self-determination, and to certain rights of protection that can be disregarded and thus violated. The dying person is, owing to his extremity, dependent to a greater degree on others than the healthy one, and is thus in danger of becoming an object of others’ interests. Dying is the last great task of life that man must overcome. In this, he can and must be helped. How this is done results from the concrete situation of the one dying and his needs; experience teaches that important elements are the struggle to alleviate pain and further symptoms, as well as help with psychological, social, and spiritual problems.

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Keywords: Gottesebenbildlichkeit, Menschenwürde, Objektformel, Weltanschauung, Sterbebegleitung, Wertesystem, theologische Würdekonzeption, menschenwürdiges Sterben

Prof. Dr. theol. Johannes Reiter, [email protected], Seminar für Moraltheologie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Saarstraße 21, 55122 Mainz

1 Die Bestandsaufnahme und Problematik Die Menschenwürde präsentiert sich in der Gegenwart als ein Schlüsselbegriff der Politik, des Rechts, aber auch der Ethik und der Moraltheologie. Sie gehört zu den ethischen Ressourcen der Gesellschaft mit einem Geltungsanspruch, der das gesamte Feld der sittlichen Lebensführung des einzelnen und des gesellschaftlichen Miteinanders umfasst. Die Rückfrage nach der Menschenwürde als ethisches Kriterium bricht vor allem, aber nicht nur, bei neuen Handlungsmöglichkeiten auf, so etwa bei zahlreichen Konfliktfällen im Bereich der Bioethik.¹ Vor allem den Rändern des menschlichen Lebens an seinem Anfang und Ende ist dessen Würde besonderen Gefährdungen ausgesetzt. Wer für die Menschenwürde eintritt, muss sie auch dort respektieren, wo das Leben sich von seiner rätselhaftesten Seite zeigt, im unausweichlichen Schicksal des Sterbens.

1.1 Menschenwürde als Maßstab Warum – so mag man fragen – zieht der Theologe zur Überprüfung neu auftauchender ethischer Probleme keinen spezifisch theologischen Begriff wie etwa das Heilwerden der Welt oder das Liebesgebot heran, sondern den überwiegend philosophisch und verfassungsrechtlich geprägten Begriff Menschenwürde? Zudem stand sie bis in die 1960er Jahre unter dem Verdikt, von der aufklärerisch-idealistischen Freiheitsidee

1 Vgl. Schwatländer (1998), S. 683 – 688, hier S. 683: „Die Menschenwürde bestimmt in der Gegenwart national, regional und global den ethischen und vor allem den rechtsethischen Grundlagendiskurs […]. Dieser Diskurs betrifft zunächst und vor allem das Verhältnis von Politik und Ethik. Er bestimmt aber auch das Verhältnis von Wissenschaft und Ethik und wird – gerade auf dem Boden der sich an die Achtung der Würde des Menschen und die Grundrechte bindenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland – durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik in immer neuer Weise erforderlich.“

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herzukommen, und somit kein Thema der Theologie zu sein. Selbst in den großen Lexika² und Ethiken³ fehlt sie. Für den Rückgriff auf die Menschenwürde als ethisches Kriterium sprechen mehrere Gründe, von denen hier nur drei thematisiert werden sollen: die Säkularisierung unserer Welt, die Pluralität unserer modernen Gesellschaft und schließlich die gegenwärtige Aktualität der Menschenwürde.⁴

1.2 Die Menschenwürde im Prozess der Säkularisierung und Entweltlichung Gottes Wir leben heute nicht mehr in einer sogenannten christlichen Welt. Die Geschichte der Christen ist für viele zu einer Geschichte der Sektierer geworden, die die konkrete Welt, in der der Mensch lebt, nicht mehr zu treffen scheint. Wenn uns als Christen aber an der christlichen Botschaft etwas liegt, dann müssen wir uns mit unseren Mitmenschen, auch mit den Nichtchristen, in eine redliche Solidarität begeben. Nur so sind wir für sie glaubwürdig. Diese redliche Solidarität mit den Zeitgenossen beinhaltet u.a., dass ich als Christ ihre Begrifflichkeit aufgreife, ihre Sprache spreche. Dies fordert, dass ich mit rationalen und als solchen für jedermann einsichtigen Grund-Sätzen operiere. Einen solchen für jeden verständlichen Grund-Satz stellt die Menschenwürde dar. Sie ist für alle Menschen als die Grundlage erkennbar, durch welche unsere Gesellschaft als eine humane und pluralistische existiert. Die Solidarität in Sprache und Begrifflichkeit bedeutet aber nicht eo ipso Identifikation bzw. Identität in der Begründung und in den Inhalten. An diesem Punkt kann, ja muss der christliche Glaube zu reden beginnen und sein spezifisches Verständnis von der Menschenwürde verantworten. Dabei kann der christliche Glaube nicht erwarten, dass alle Menschen seinem Menschenbild zustimmen. Es können aber alle Menschen erwarten, dass die Christen das vorbringen, was sie zur Menschwerdung des Menschen und zur Humanisierung der Welt beizutragen haben.

2 So fehlt der Begriff etwa in der zweiten Auflage des LThK; in der dritten Auflage wird er von Hilpert (1988), Sp. 132 – 137, behandelt. 3 Von den neuesten Moralhandbüchern widmet H. Weber dem Begriff in seiner Speziellen Moraltheologie einen eigenen Paragraphen, vgl. Weber (1999), S. 73 – 83. 4 Vgl. Schwartländer (1979).

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1.3 Die Menschenwürde im Spannungsfeld des modernen Pluralismus Wir müssen zugeben, dass unsere Gesellschaft kein einheitliches Welt- und Menschenbild mehr besitzt. Der Pluralismus der Weltanschauungen ist in der modernen Welt eine Tatsache. Deshalb erscheint auch ein gemeinsames Handeln aufgrund gemeinsamer Wertvorstellungen kaum mehr möglich. Gerade in dieser Situation dürfte schließlich auch der tiefere Grund für die permanenten religiösen, weltanschaulichen, sittlichen und rechtlichen Krisen des heutigen Menschen zu suchen sein. Dieser Pluralismus ist für uns umso bedrängender, als wir heute global in Konfrontation mit anderen Nationen, ja sogar mit völlig anderen Kulturen  – alten und neuen – stehen, die den gleichen Wahrheitsanspruch stellen wie wir. Aber wie bedrohlich der moderne Pluralismus wegen seiner tiefgehenden Verunsicherung auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so zwingt er uns zunächst einmal zu der Frage: Enthält dieser moderne Pluralismus nicht selbst bereits jenes allgemeine, d.h. für alle Menschen gültige Prinzip Menschenwürde, durch das uns eine umgreifende Sinnorientierung und vor allem eine sinnvolle Verwirklichung unserer Freiheit möglich ist? Und hier drängt uns – wie später noch zu zeigen ist – unsere eigene abendländische Geschichte die Antwort auf: Die heute universal ins Bewusstsein tretende und in der täglichen Erfahrung unsere gesellschaftliche und politische Verantwortung herausfordernde Menschenwürde will jenes allgemeinste sinngebende Prinzip sein, das dem heutigen Menschen eine originäre Orientierung in der Welt ermöglicht. Die Menschenwürde will den für das geordnete Zusammenleben notwendigen Konsens darstellen. Weil sie für den Menschen als solchen gilt, kann sie grundlegend für alle politisch-gesellschaftlichen Ordnungen sein.⁵

1.4 Zur gegenwärtigen Aktualität der Menschenwürde Menschenwürde steht heute im Zentrum des öffentlichen Interesses. Menschenwürde ist hochaktuell geworden, ja sie scheint der allgemeine Nenner zu sein, auf den gegenwärtig alle Forderungen nach Humanität bezogen werden. Es vergeht in Ost und West

5 „Träger dieser menschenrechtlichen Würde ist jedes menschliche Wesen, unabhängig von seinem Entwicklungsstand, seiner Leistungsfähigkeit und seiner gleichsam subjektiven und objektiven Zuständlichkeit. Sie gilt also für den Ungeborenen ebenso wie für den missgebildeten Geborenen und sogar für den Verbrecher. Sie besteht also für das menschliche Wesen von seiner Empfängnis bis zu seinem Tod.“ Schwartländer (1998), S. 686.

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kaum ein Tag, an dem die Medien nicht von der Verletzung oder angeblichen Verletzung der Menschenwürde berichten. Wo die Freiheit des Glaubens und des Gewissens oder Minderheiten unterdrückt werden, sieht man die Menschenwürde ebenso bedroht wie dort, wo willkürliche Verhaftungen und geheime Aburteilungen geschehen. Zuweilen hat man sogar den Eindruck, dass es bei dieser Aktualität auch zu einer Überstrapazierung der Menschenwürde kommt, dann nämlich, wenn alle menschlichen Akte und Bedürfnisse – von der caritativen Hilfe bis zur Euthanasie, von der Verkürzung der Arbeitszeit bis zur Abtreibung und Sterbehilfe als Verfügungsrecht über den eigenen Leib – in Zusammenhang mit der Menschenwürde gebracht werden. Man ist sehr schnell mit dem Begriff Menschenwürde zur Hand, ohne ihn klar zu definieren oder gar schlüssig zu begründen. Deshalb erscheint es notwendig, im Folgenden den Begriff Menschenwürde näher zu bestimmen.

2 Zur Begriffsgeschichte und Begründung der Menschenwürde 2.1 Philosophische Begründung der Menschenwürde Zur näheren Umschreibung der Menschenwürde wollen wir uns zunächst im engeren Rahmen unserer abendländischen Geschichte umsehen, aus der heraus auch unser heutiges Bewusstsein von der Würde des Menschen noch lebt und in der die Frage nach der Würde des Menschen eine bestimmte Antwort erfahren hat.⁶ In der antiken Philosophie wird die Würde in zwei recht unterschiedlichen Kontexten gebraucht. Zum einen ist mit „Würde“ die Kennzeichnung einer sozialen Position innerhalb der Gesellschaft gemeint. Würde wird vor allem als Leistung des einzelnen wie auch als eine Funktion der Gesellschaft verstanden. Insofern gibt es ein Mehr oder Weniger an Würde. – „Würde“ ist zum anderen dasjenige, was jeden Menschen vor der nichtmenschlichen Kreatur auszeichnet. Deshalb kommt allen Menschen dieselbe Würde zu. Beide Bedeutungsvarianten des Begriffes lassen sich bereits bei Cicero nachweisen. (→ s. Kap. 1.13, Härle) Als Grund für die zuletzt genannte Auffassung von der unverlierbaren Menschenwürde galt der Stoa die Teilhabe des Menschen an der Vernunft, den christlichen Autoren der Antike und des Mittelalters die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Eine neue Sicht der menschlichen Würde bringt die Renaissance. Der italienische Humanist Pico della Mirandola kommt aufgrund von Überlegungen über die Ähnlich-

6 Vgl. dazu etwa Horstmann (1980), Sp. 1124–1127; Bayertz (1999), S. 824 – 826; Spaemann (1987).

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keit des Menschen mit Gott zu der auf stoische Lehren zurückgehenden Überzeugung, dass der Mensch alles in sich vereint, also einen Mikrokosmos darstellt, in dem alle Möglichkeiten angelegt sind. Zwischen diesen Möglichkeiten eine Wahl zu treffen, dies ist nach Pico die dem Menschen von Gott gegebene Bestimmung. Die den Menschen auszeichnende Würde ist also seine Freiheit. Mit der beginnenden Neuzeit rückt erneut die Vernunftbestimmung in den Mittelpunkt. Während der Aufklärung wird die Auffassung der Würde als Freiheit mit der stoischen Auffassung der Würde als Teilhabe an der Vernunft verbunden. Der französische Philosoph Pascal und der Staats- und Völkerrechtstheoretiker Pufendorf sehen die Würde in der Freiheit des Menschen, das durch die Vernunft Erkannte zu wählen und zu tun. Pufendorf, dessen Lehre übrigens Einfluss auf die amerikanische Erklärung der Menschenrechte von 1776 hatte, verbindet diesen Gedanken der Würde mit dem der Gleichheit aller Menschen, da allen Menschen als solchen diese Eigenschaft zukomme. Eine wichtige Stellung nimmt der Begriff der Menschenwürde sodann in der Moralphilosophie Kants ein, wie er sie in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) entwickelt. Kant unterscheidet im Bereich menschlicher Zwecksetzungen zwischen dem, was einen Preis, und dem, was eine Würde hat. „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ Nur ein Wesen, das in der Lage ist, sich selbst Zwecke zu setzen, kommt als letzter Bezugspunkt, als Selbstzweck jeder Zwecksetzung in Frage. Der Grund dafür, dass die menschliche Natur Würde hat, ist nach Kant die Autonomie des Menschen, d.h. seine Möglichkeit, in Freiheit einem Gesetz unterworfen zu sein, also sittlich sein zu können.⁷ (→ s. Kap. 1.3, Härle / Kap. 1.11, von Wolff-Metternich) Um die Mitte des 19.  Jahrhunderts wird der Begriff Menschenwürde dann zu einem politischen Schlagwort der Arbeiterbewegung. Die Forderungen nach einem menschenwürdigen Dasein und nach menschenwürdigen Zuständen gehören zu den Hauptparolen der frühen Sozialisten. Ferdinand Lasalle fordert, dass die materielle Lage der arbeitenden Klasse verbessert und den Arbeitern zu einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein verholfen wird. Der Franzose Pierre Proudhon geht noch einen Schritt weiter und bindet die Würde der Person in den Begriff der Gerechtigkeit ein, indem er für die Verwirklichung der Gerechtigkeit von jedem Menschen fordert, die Würde des anderen ebenso zu respektieren wie die eigene. Eine erneute Besinnung auf die Menschenwürde setzt danach erst wieder im 20. Jahrhundert ein, nicht zuletzt unter dem Eindruck der den Menschen entwürdigenden Handlungen und Vorgänge im Dritten Reich.⁸

7 Vgl. Kant (1956), S. 600. 8 „Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich die Völkergemeinschaft konkret, politisch bzw. rechtspolitisch darauf verständigt, die Idee der Menschenwürde und die Schutz- bzw.

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2.2 Rechtspolitische Interpretation Die rechtspolitische Interpretation der Menschenwürde ist auch für die theologische Reflexion von Interesse und Bedeutung, weil die Menschenwürde nur auf dem Weg ihrer Umsetzung in das durch Institutionen gesetzte und vollzogene Recht realisierbar und konkretisierbar ist. Besondere Aufmerksamkeit gewinnt der Begriff Menschenwürde durch seine exponierte Stellung in neuen Verfassungen – u.a. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO sowie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 1, Abs. 1). Bemerkenswert ist, dass die Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Kontext ein relativ neuer Begriff ist, der zum ersten Mal in der Verfassung der Portugiesischen Republik von 1933 auftrat.⁹ Wie im Bereich der Philosophie gibt es auch im rechtspolitischen Feld verschiedene Konzepte von Menschenwürde. Von diesen sollen hier exemplarisch die beiden vorgestellt werden, die am meisten voneinander abweichen: die Werttheorie und die Leistungstheorie. Die Werttheorie lässt sich am treffendsten mit den Worten des Rechtswissenschaftlers Hans Carl Nipperdey umschreiben: „Der Begriff der Würde des Menschen bedarf keiner weiteren juristischen Definition. Es handelt sich um den Eigenwert und die Eigenständigkeit, die Wesenheit, die Natur des Menschen schlechthin.“¹⁰ Dieses Wesen bestehe in der Freiheit der Entscheidung, seinem Organ für das Reich der sittlichen Werte. Die Würde selbst sei der „höchste Wert“ unseres Wertesystems und als „versittlichende Kraft im Recht“ das „Zentrum der Rechtsidee“. Auch für Friedrich Klein, den Mitverfasser eines Grundgesetz-Kommentars, ist „Würde … ein Wertbegriff, der einen Wertträger als Subjekt voraussetzt“. Nach Klein ist davon auszugehen, „dass die Würde des Menschen an die Fähigkeit zum geistigseelischen Werterlebnis geknüpft ist“¹¹. Günter Dürig, ebenfalls ein Kommentator des Grundgesetzes, fasst seine Auffassung von der Menschenwürde als Grundlage eines

die Freiheitsrechte eines jeden Einzelnen als Basis für das Zusammenleben der Menschen anzuerkennen. Es handelt sich um eine interkulturelle Einigung. Der französische Diplomat Stéphane Hessel, der damals bei den Beratungen der Menschenrechtskommission zugegen war, berichtete im Rückblick, für die Betonung des ‚Gewissens‘ habe ein chinesischer Jurist plädiert; den Begriff Menschenwürde hätten vor allem katholische Kulturen eingebracht. Bei der Abstimmung enthielt sich Saudi-Arabien dann allerdings der Stimme, weil dieses islamische Land die Kodifizierung der Religionsfreiheit nicht nachvollzog. Inzwischen werden Menschenrechte in der islamischen Welt zumindest dem Grundsatz nach anerkannt, und zwar mit Hilfe einer Deutung, der zufolge die Menschenrechte nicht neuzeitlich-westlichen Ursprungs, sondern im Islam selbst verwurzelt seien. Außerdem enthielten sich 1948 sechs sozialistische Staaten und bezeichnenderweise Südafrika.“ Kreß (1999), S. 33. 9 Vgl. dazu etwa nur den sehr informativen Beitrag von Vitzthum (1985), S. 201 – 209. 10 Nipperdey (1954), S. 1. 11 Vgl. Mangoldt / Klein (1957), Anm. III 3b und 3c.

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Wertesystems prägnant in den folgenden zwei Sätzen zusammen: „Die normative Aussage des objektiven Verfassungsrechts, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, beinhaltet eine Wertaussage, der ihrerseits aber eine Aussage über eine Seinsgegebenheit zugrunde liegt. Diese Seinsgegebenheit ‚Menschenwürde‘, die unabhängig von Zeit und Raum ‚ist‘ und rechtlich verwirklicht werden ‚soll‘, besteht in folgendem: Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der ursprünglichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, sich seiner selbst bewusst zu werden, und sich selbst zu bestimmen und sich selbst und die Umwelt zu gestalten.“¹² Diese Dürigsche Rechtsdogmatik zu Art. 1 GG hat nach ihrer Formulierung einen Siegeszug in Wissenschaft und Rechtssprechung angetreten, der bis heute anhält. Das bedeutet aber nicht, dass Differenzierungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten ausgeschlossen sind. Man wird fragen müssen, ob diese uneingeschränkte Aussage über den Menschen und seine Würde diesen nicht zu einem Prometheus macht, der den Göttern das Feuer raubt. Außerdem scheint hier das Eigentliche des Menschseins auf seine Geistigkeit reduziert zu sein. Die Leiblichkeit des Menschen sowie seine anderen Dimensionen wären demnach etwas uneigentlich Menschliches. Eine realistischere Sicht hat hier der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda. Er greift originär christliches Gedankengut auf, wenn er darauf hinweist, dass zum Wesen des Menschen auch seine Unvollkommenheit und seine ihm schicksalhaft auferlegte Individualität gehören. Wenn also Menschenwürde als Maßstab angelegt werde, müsse sie auch der Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit des Menschen Rechnung tragen.¹³ Einen der Werttheorie diametral entgegengesetzten Versuch der Interpretation von Menschenwürde bietet der Bielefelder Rechtswissenschaftler und Soziologe Niklas Luhmann mit seiner kommunikationssoziologischen Definition, der sogenannten Leistungstheorie. Danach ist Würde weder eine Naturausstattung des Menschen – was ihn also vom Nichtmenschen unterscheiden würde – noch ein Wert. Für Luhmann ist Würde allein Leistung, die der einzelne erbringen, die er aber auch verfehlen kann.¹⁴ Ihrem Inhalt nach begegnet uns diese Auffassung bereits in der antiken Philosophie. Einer solchen Würdevorstellung – dies sei hier schon vorweg gesagt – kann man vom christlichen Standpunkt aus nicht folgen. Denn aus christlicher Sicht ist die Würde gerade nicht ein Verdienst, sondern Geschenk. Eine Einschränkung der Würde auf selbst hergestellte Würde, wie sie Luhmann vollzieht, würde all diejenigen schutzlos machen, die in den Augen der Leistungsfähigen nicht oder nicht mehr leistungsfähig sind. Man denke hier nur an die Alten und Kranken, an die körperlich oder geistig Behinderten, aber auch an das ungeborene

12 Maunz / Dürig / Herzog / Scholz (1978), Art. II, Rz. 17 f. 13 Vgl. Benda (1985), S. 230 f. 14 Vgl. Luhmann (1974), S. 68 ff.

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Leben. Auch für den Luhmannkritiker Christian Starck ist daher der verfassungsrechtliche Würdeschutz total ausgehöhlt, wenn er von eigener Würdeleistung abhängig gemacht wird.¹⁵

2.3 Die jüdisch-christliche Traditionslinie Angesichts der Notwendigkeit, sich für eines der verschiedenen Konzepte der Menschenwürde zu entscheiden und dafür einzutreten, wird der Theologe Kriterien für seine Entscheidung u.a. darin finden, dass er die verschiedenen Entwürfe von Menschenwürde auf die Affinität oder Widersprüchlichkeit zu seiner Glaubensorientierung bzw. zur Offenbarung hin überprüft. Eine theologische Begründung der Menschenwürde muss von dem umgreifenden Handeln Gottes am Menschen ausgehen. Dieses Handeln Gottes lässt sich unter drei Aspekten umschreiben: unter einem schöpfungstheologischen, einem christologisch-soteriologischen und einem eschatologischen.¹⁶ Schöpfungstheologischer Aspekt der Menschenwürde Die Grundaussagen des Glaubens über die Menschenwürde stehen auf den ersten Seiten der Bibel: Der Mensch ist von Gott als dessen Ebenbild geschaffen (Gen 1, 26 – 27). Die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ schreibt dazu: „Die Heilige Schrift lehrt nämlich, dass der Mensch ‚nach dem Bild Gottes‘ geschaffen ist, fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben, von ihm zum Herrn über alle irdischen Geschöpfe gesetzt, um sie in Verherrlichung Gottes zu beherrschen und zu nutzen“ (GS Nr. 12).¹⁷ Das Bewusstsein dieser menschlichen Würde bricht sich im Alten Testament deutlich Bahn, wenn die überragende Stellung des Menschen in Psalm 8 emphatisch beschrieben wird: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Oder des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Wenig geringer als Engel hast du ihn gemacht, mit Ehre und Herrlichkeit ihn gekrönt und ihn über die Werke deiner Hände gesetzt. Alles hast du ihm unter die Füße gelegt“ (Ps 8, 5 – 7). Als letzter Grund für die Würde des Menschen erscheint hier also seine Gottebenbildlichkeit, die sich in der Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott, in der Partnerschaft mit Gott, ja letztlich im freundschaftlichen Verbundensein mit Gott ausdrückt.

15 Starck (1981), S. 463. 16 Vgl. dazu Lehmann (1993a), S. 43 – 51; Lehmann (1993b), S. 128 – 136; Auer (1979), S. 29 – 85; Waldschütz (1978), S. 394 – 403; Kreß (1999), S. 11 – 35. 17 Ausdrücklich ist von der Menschen- und Personwürde in den Art. 26, 28 und 29 von GS die Rede. Der Begriff „Personwürde“ findet sich in Art. 1 der „Erklärung über die christliche Erziehung“. Und die Erklärung über die Religionsfreiheit beginnt betont mit der Wendung: „Die Würde der menschlichen Person“.

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Hierbei ist der Mensch jedoch aufgrund seiner Geschöpflichkeit auf Gott als den letzten Grund seiner personalen Würde ausgerichtet. Christologisch-soteriologischer Aspekt der Menschenwürde Die menschliche Würde ist weiterhin unwiderruflich gegeben und bestätigt durch die Menschwerdung des Sohnes Gottes. Jesus ist als wirklicher Mensch in die Geschichte eingetreten. Er ist so sehr der Mensch für Gott, dass in ihm die Liebe Gottes zu den Menschen unüberbietbar offenbar geworden ist. Frei von allen Verkettungen der Sünde, die die Würde anderer Menschen in Mitleidenschaft zieht, hat Jesus die Freiheit anderer respektiert bis zum Tod. Sein Leben und sein Wirken selbst werden als befreiend erfahren. In ihm sind alle Menschen von der Sünde erlöst. Seine Hingabe gilt in besonderer Weise den Kleinen, den Verfolgten, den Sündern, den Kranken, also denen, die sich nicht selbst helfen können. Der Glaube an die Erlösung des Menschen in Jesus Christus mutet dem Menschen zu, sich als Person von seiner eigenen Leistung zu unterscheiden. Leistung und Aktivität sind zwar durchaus des Menschen Recht, aber keineswegs seine Rechtfertigung. Vielmehr kommt auch und gerade dem noch nicht sowie dem nicht mehr leistungsfähigen Menschen Würde in sich selbst zu. Deshalb hat, um mit Erich Fromm zu sprechen, das „Sein“ des Menschen unbedingten Vorrang vor dem „Haben“ und gilt als das die Menschenwürde bestimmende Faktum. Würde hat man also nicht aufgrund von Leistung, Stand und Ehre, sondern aufgrund des einzigen Titels „Mensch“. Eschatologischer Aspekt der Menschenwürde Die eschatologische Botschaft spricht von der Parusie und von dem mit ihr hervortretenden Vollendungszustand von Mensch und Welt. Es bleibt vom Menschen, wenn er seine geschichtliche Daseinsform verlässt, nicht nur die unsterbliche Seele, nicht nur die Liebe und das, was sie einst getan hat (GS Nr. 39), sondern auch sein konkretes Dasein, das in die von Gott geschenkte Zukunft hinübergeführt wird. Von diesem Ziel her, in dem der „neue Mensch“ geboren wird, begreift sich der gegenwärtige Mensch als der Sich-selbst-noch-Verborgene, als der Noch-nicht-Ausgereifte, aber Zur-Vollkommenheit-Berufene. Unsere Auffassung von der Menschenwürde muss auch diesem Aspekt der menschlichen Unvollkommenheit Rechnung tragen. Aufgrund der Sünde der Welt und der allgemeinen Heillosigkeit entspricht der konkrete Mensch nicht dem abstrakten Idealbild vom Menschen. Er ist mit einer Natur, die nicht durch seine Personalität voll beherrscht wird, sowie mit Krankheit, Leid und Tod belastet. Blut und Tränen zeichnen seinen Weg durch die Geschichte. Die Folge der Entfremdung von Gott ist die Entfremdung des Menschen von der Welt, von den Mitmenschen und von sich selbst. Würde und Gottebenbildlichkeit werden durch viele Grautöne überdeckt, weil mit dem Menschlichen unmittelbar auch das Allzumenschliche, oft Unmenschliche verbunden ist, das bis zur Entwürdigung des Humanums führen kann.

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All dies macht das Bild des Menschen aus. Aber das ist nicht das letzte Wort über ihn. Zu seinem Wesen gehört es auch, dass er sich immer bemühen soll, die in ihm angelegten Begrenzungen zu überwinden. Die Bestimmung des Menschen liegt noch immer in seiner Reichweite: die Herrschaft der Person über die Natur, der Sieg des Lebens über den Tod. Aber dies wird erst in einer eschatologischen Ordnung verwirklicht. Gleiches gilt auch von der Welt und ihrer Geschichte. In einer noch ausstehenden Heilstat wird Christus die Welt zur Erfüllung bringen. Dieser eschatologische Aspekt unterstreicht noch einmal deutlich, dass die Würde des Menschen aus der Transzendenz stammt, dass sie letztlich geschenkte Würde ist. Das beinhaltet zugleich, dass Menschenwürde geachtet wird, wenn die Unvollkommenheit des Menschen anerkannt, aber zugleich von ihm erwartet wird, sie zu überwinden. Was unterscheidet diese theologische Würdekonzeption nun von allen anderen Entwürfen? Der freiheitliche, pluralistische Rechtsstaat setzt voraus, dass der Mensch eine unverlierbare Würde hat. Aber den letzten Grund dieser Würde kann der Staat nicht ausmachen. Die Frage nach dem letzten Grund wird unterschiedlich beantwortet. Im christlichen Glauben wird die rein auf Vernunft begründete Auslegung des unbedingten Anspruchs menschlicher Würde z.T. gestützt, vertieft, aber auch überschritten. Der Kern einer theologischen Begründung der Menschenwürde liegt in der Behauptung, dass Grund und Ziel des Menschen nicht in diesem selbst zu suchen sind. Menschenwürde gründet letztlich nicht in aufweisbaren Fähigkeiten und Qualitäten des Menschen, sondern in dem Ja, das Gott zum Menschen gesprochen hat und das er auch in allen menschlichen Widergesetzlichkeiten durchhält. Die dreifach gesetzte Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott  – im Schöpfergott als Ebenbild, im menschgewordenen Gott als Bruder, im vollendenden Gott als neuer Mensch  – ist theologisch gesehen die letzte Legitimation der Menschenwürde. Bei einer solcherart begründeten Menschenwürde ist einer Verfügbarkeit des Menschen über andere Menschen jegliche Grundlage entzogen.

3 Inhaltliche Momente der Menschenwürde Während die bisherigen Überlegungen zur Menschenwürde vornehmlich auf deren Begründung ausgerichtet waren – Was macht Menschenwürde aus, worin ist sie verankert, aus welchen Grundbefindlichkeiten ist sie zu erheben? –, richten sich die jetzt folgenden Gedankengänge auf den Inhalt der Menschenwürde, d.h. auf deren fundamentale Forderungen. Was vermag die Menschenwürde konkret für die Ethik und Moraltheologie zu leisten? Hierbei ist die sog. „Objektformel“ von dem Verfassungsrechtler Günter Dürig hilfreich. In dem von ihm verfassten Grundgesetzkommentar heißt es: „Die Menschen-

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würde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“¹⁸ Anders ausgedrückt: Es widerspricht der Menschenwürde, wenn der Mensch einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt bzw. unterwandert. Die Menschenwürde wird hierbei also im Wesentlichen ex negativo, von ihrer Verletzung her bestimmt. Das heißt konkret: Die Menschenwürde ist betroffen durch Folter, Sklaverei, Ausrottung bestimmter Gruppen, Geburtenverhinderung oder Verschleppung, Unterwerfung unter unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung, Brandmarkung, Vernichtung sog. unwerten Lebens oder durch Menschenversuche.¹⁹ Diese Kasuistik resultiert also im Wesentlichen aus Verletzungstatbeständen durch Unrechtssysteme. Die Plausibilität der Objektformel beruht nicht zuletzt auf der historischen Erfahrung der Instrumentalisierung von Menschen durch totalitäre Staaten. Und deshalb wurde der Menschenrechtsgedanke auch in Reaktion auf die NS-Diktatur in das Grundgesetz aufgenommen. Insofern stellt die Rede von der Menschenwürde ein aus der Leidensgeschichte der Menschheit erwachsenes Sinnangebot an die Welt dar. Eine solche negative Umschreibung der Menschenwürde mag in früheren Zeiten genügt haben. Für unsere heutige hochkomplexe, moderne Industriegesellschaft mit ihrem vielfältigen Gefährdungspotential jedoch scheint sie nicht mehr ausreichend zu sein. Hier darf erst gar nicht abgewartet werden, bis die Menschenwürde verletzt ist. Zu fragen ist daher nach den positiven Konstitutionselementen der Menschenwürde. Dies bedeutet aber nichts anderes als das Fragen nach den konstitutiven Bedingungen für die Wahrung der Subjekt-Qualität des Menschen. Insofern gilt es also, die grundlegenden Bedingungen menschenwürdiger Existenz in der modernen Gesellschaft zu ermitteln. Der Rechtswissenschaftler Albert Podlech nennt in dem Alternativkommentar zum Grundgesetz fünf solcher Bedingungen: die Sicherheit individuellen und sozialen Lebens, die rechtliche Gleichheit der Menschen, die Wahrung menschlicher Identität und Integrität, die Begrenzung staatlicher Gewaltanwendung und schließlich die Achtung der körperlichen Kontingenz des Menschen.²⁰ Die ex negativo-Begründungsstrategie (G. Dürig) ist auch nur dort erfolgreich, wo sie auf einen bestehenden Konsens im Hinblick auf einen Verletzungstatbestand trifft (z.B. Folter, Sklaverei, Rassendiskriminierung). Sie stößt auf Schwierigkeiten, wo ein solcher Konsens nicht besteht. Ob etwa die In-vitro-Fertilisation oder Pornographie Verstöße gegen die Menschenwürde bedeuten, ist in unserer Gesellschaft umstritten und auf der Basis des Menschenwürde-Begriffes allein nicht zu klären. Doch auch die positive Strategie (A. Podlech) trifft auf Schwierigkeiten. Die dort aufgelisteten Ansprüche sind insoweit plausibel, als ihre Erfüllung zur Sicherung und Ausübung von Autonomie und Freiheit, dem philosophischen Kern der Menschenwürde, not-

18 Dürig (1956), S. 127; 19 Vgl. das Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofes (1974), DVBL, S. 940 ff. 20 Vgl. Podlech (1984), Rz. 23 – 55.

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wendig sind; unklar bleiben jedoch der Umfang und die Reichweite dieser Ansprüche: Genügt etwa für den Fall der materiellen Not eine Absicherung der physischen Existenz, oder sind weitergehende Garantien, z.B. ein Recht auf Arbeit notwendig, um ein menschenwürdiges Leben zu sichern? Menschenwürde – keine Leerformel Trotz einer prinzipiellen und völkerübergreifenden Zustimmung zur Menschenwürde begegnet man zuweilen aber auch dem Einwand, der Begriff sei unklar; im modernen, weltanschaulich neutralen, säkularen Staat bilde er eine Leerformel, es handele sich um eine „metaphysische Ballastvorstellung“ oder  – so schon Theodor Heuß  – um eine „nicht interpretierte These“. Eine heutige inflationäre Berufung auf die Menschenwürde entwerte diese nochmals zusätzlich.²¹ Im Hinblick auf diesen Einwand muss man zugeben, dass diese Gefahr einer oberflächlichen Inanspruchnahme der Menschenwürde durchaus vorhanden ist. Entscheidender aber ist, dass die Menschenwürde sehr wohl gehaltvoll, formal und inhaltlich ertragreich in unterschiedliche Blickrichtungen hin ausgelegt werden kann. „Dieser Sachverhalt, dass sich Menschenwürde in gefüllter, menschendienlicher Weise konkretisieren lässt, spricht gegen die These, es handele sich lediglich um eine Leerformel.“²² Die ethische Bedeutung des Menschenwürde-Gedankens liegt vor allem und insbesondere darin, dass die Menschenwürde als das Fundament der Menschenrechte herausgestellt wird. Die Menschenwürde führt zur Formulierung der Menschenrechte hin, bedarf aber umgekehrt auch der politisch-rechtlichen Absicherung durch eben diese Rechte. Die Menschenwürde begründet die Schutz- und Freiheitsrechte des Menschen und schärft diese ein. Die ethische Grenze des Menschenwürde-Gedankens liegt darin, dass die Menschenwürde eine vorwiegend formale Größe ist. Aus ihr können keine konkreten Normen positiver Art gefolgert werden. Es sind dann auch vor allem die skizzierten Schwierigkeiten der inhaltlichen Bestimmung von Menschenwürde, die es geraten erscheinen lassen, sie als Berufungsinstanz bei der Lösung ethischer Kontroversen nicht zu überschätzen. Schon 1840 hatte Schopenhauer die sorgfältige Verwendung des Begriffes angemahnt und bemängelt, dass dieser Ausdruck zum „Schibboleth aller rath- und gedankenlosen Moralisten [geworden sei], die ihren Mangel an einer wirklichen, oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenem imponierenden Ausdruck ‚Würde des Menschen‘ verstecken.“²³ Auch wenn die Menschenwürde bei der Formulierung konkreter positiver Normen an Grenzen stößt, bedeutet dies keine Relativierung im Hinblick auf ihre Geltung. Das gleiche gilt im Hinblick auf die unterschiedlichen philosophischen oder

21 Vgl. Benda (1985), S. 213 f. 22 Kreß (1999), S. 170. 23 Schopenhauer (1988), 522.

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theologischen Begründungsansätze. Vielleicht kann durch die Mehrzahl von Begründungsperspektiven die Geltung und die Akzeptanz der Menschenwürde innerhalb der pluralistischen Gesellschaft sogar noch zusätzlich gestützt werden.²⁴ „Der Begriff der Menschenwürde ist zugleich ein wachsender und dynamischer Begriff. Es kann und sollte immer mehr und besser erkannt werden, was dem Menschen aufgrund seiner unverlierbaren Grundwürde an weiterer Würde zusteht. Es ist ein Prozess, der zwar Etappen kennt, aber grundsätzlich nicht abgeschlossen werden kann, ebenso wenig wie die Entwicklung des Menschen selbst als eines gesellschaftlich-kulturellen Wesens. Ein Christ wird den tiefsten Grund aller Menschenwürde darin erblicken und erblicken müssen, dass jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist. Was immer auch sonst an konsensfähigen nicht-theologischen Antworten möglich ist, die theologische Perspektive darf in einer christlichen Moral nicht übergangen oder verschwiegen werden.“²⁵ Der Mensch hat deswegen eine letzte unantastbare und unverlierbare Würde, weil hinter ihm sein Schöpfer, Erlöser und Vollender steht.

4 Menschenwürdiges Sterben Obwohl die Literatur über Sterben und Tod explosionsartig angestiegen ist und weiter ansteigt²⁶, werden in unserer Gesellschaft das Lebensende und die damit verbundenen existentiellen Fragen und Ängste weitgehend ausgeblendet. In unserer Leistungsgesellschaft scheint es keinen Platz für Schwache und Leistungsunfähige zu geben. Vielmehr scheint der intensiv blühende und unverwelkbare Körper-, Fitness- und Jungendkult Altern, Krankheit, Sterben und Tod aus unserem Leben auszublenden. Die Anti-Aging- und Schönheitsmedizin bestätigen diesen Trend. Das Sterben wird dadurch aus dem normalen Leben verbannt und Spezialisten im Krankenhaus übertragen. Von ihnen erhofft man die Herstellung eines schmerz- und leidfreien Todes, was man auch mit dem Begriff menschenwürdiges Sterben assoziiert.²⁷

24 Kreß (1999), S. 170 f. 25 Weber, (1999), S. 83. 26 Vlg. Borasio (2011); Fuchs (2006); Grimm (2009); Huber (2006); Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (2011); Kruse / Wagner (1986); Lehmann (1993c); Lehmann (1993d); Lilie / Zwierlein (2004); Looser (2007); Römelt (2006); Schäfer (2011); Schlögel / Alkoffer (2003); Schumpelik (2003); Wagner (1991); Wiesemann / Biller-Andorno (2005); Wittwer / Schöfer / Frewer (2010). 27 Bei den nachfolgenden Ausführungen habe ich mich vor allem orientiert an den Veröffentlichungen von Eid (1986); Eid (1978), 115 – 145 und Kränzle / Schmid / Seeger (2006).

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4.1 Bekämpfung der Schmerzen Am Ende seines Lebens soll ein Mensch nicht unter unerträglichen Schmerzen leiden müssen. Denn Schmerzen mindern das Wohl eines Menschen erheblich, sie können zermürbend und demoralisierend wirken. Menschenunwürdig ist der Schmerz, der das Dasein eines Menschen derart überflutet und quält, dass er ihn entstellt und ihm seine Darstellungs- und Ausdruckswürde raubt. Ganzheitliche Schmerz- und Leidensminderung durch die modernen Verfahren der Palliativmedizin hat damit höchste Priorität für würdig gelebte letzte Tage. Schmerzlinderung darf auch dann geschehen, wenn die Medikamente, die verabreicht werden, zu einem früheren Tod des Kranken führen. Es handelt sich hier um eine Handlung mit doppelter Wirkung, die moralisch zu billigen ist, wenn die erste Wirkung gut und direkt gewollt ist. Direkt gewollt ist hier die Linderung der Schmerzen, der eventuell früher eintretende Tod ist lediglich Nebenwirkung und nicht gewollt, er wird nur zugelassen als unvermeidbarer Nebeneffekt. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Minderung oder Ausschaltung des Bewusstseins des Sterbenden hinzuweisen (palliative Sedierung). Wenn der zuvor beschriebene früher eintretende Verlust des Lebens ethisch gerechtfertigt ist, dann gewiss auch der Ausfall des Bewusstseins. Wenn ein Sterbender bewusst sein Leben im Tod vollenden möchte, kann man ihm das wünschen, aber wenn das bewusste Bestehen des Todes der Schmerzen wegen gar nicht möglich ist, weil der Sterbende völlig davon absorbiert ist, ist es gerechtfertigt, ihm die Schmerzen zu nehmen, auch wenn dies die Wachheit reduziert oder ganz nimmt. Auch von „Natur aus“ ist mancher Tod in völlige Bewusstlosigkeit gehüllt und vielleicht eine Geste der Barmherzigkeit Gottes, wenn der letzte Atemzug nicht in wachem Zustand erfolgt.

4.2 Psychosoziale Begleitung Die psychosoziale Begleitung umfasst den emotionalen Beistand des Sterbenden und ebenso seiner Angehörigen. Sie soll bei der Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Tod helfen, die Betroffenen bei der Klärung und Bewältigung unerledigter Probleme unterstützen und die Kommunikationsfähigkeit verbessern. Die zunehmend körperliche und psychische Hilflosigkeit gehört zu den schwersten Belastungen der Sterbephase. Die Hilflosigkeit umfasst Bewegungseinschränkungen, Einschränkungen bei der Körperreinigung, Unterstützungsbedürftigkeit beim Essen. Zu diesen physischen Ausfallerscheinungen, die natürlich auch die Psyche belasten, kommen auch geistige Ausfallerscheinungen, Schmerzen, Leiden und Ängste. Die Hilfe, die jetzt gewährt wird, muss vor allem geduldig sein und der psychischen Hilfsbedürftigkeit angemessen. Sie soll stützen und fördern durch Aufmerksamkeit und Gesprächsbereitschaft. Die existentielle Notwendigkeit, den sterbenden Menschen in ein tragendes soziales Umfeld einzubetten, scheitert oft an den Arbeits-

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vollzügen der Klinik. Die Klinik bleibt ihm kalt und fremd, weil bezuglos. Das Krankenzimmer kann unmöglich als Heimat erfahren werden. Der Sterbende fühlt sich vielmehr als ausgeliefert und schutzlos. Gefordert sind soziale Einbettung, Unterstützung und Trost. Gefordert sind weiterhin Geduld beim Zuhören, Zärtlichkeit in den Gesten der Zuwendung und das Mit-aushalten der Situation. Gemeinsames Schweigen wird es ebenso geben wie Ermunterung. In dieser Situation hat der Sterbende Anspruch auf die Solidarität der noch Gesunden, dass sie ihn in dieser schweren Lage nicht allein lassen! Denn neben der Angst vor dem Schmerz fürchtet der Sterbende, dass er aufgegeben und verlassen wird. Wenn der Sterbende noch nichts über seinen wahren Zustand weiß, stellt sich das Problem der Mitteilung der Wahrheit. Die schonungslose Mitteilung der Wahrheit über die tödliche Krankheit und die verbleibende Lebenszeit ist heute die Regel. Für den Sterbenden ist dies oft eine Überforderung und seelische Gefährdung. Als Regel sollte hier gelten: Die Wahrheit wird erst dann richtig vermittelt, wenn sie in den Prozess der Kommunikation eingebettet ist. Es bedarf eines Zeichens des Betroffenen, dass er sich der Wahrheit stellen will und des Zeichens des Arztes, dass er sich darauf einlässt. Niemals darf der Sterbende aber belogen werden. Auch die Angehörigen des Sterbenden bedürfen der Begleitung, denn auch sie machen die Krise der Annäherung an das Sterben durch. Falls der Sterbende unter Schmerzen, Einsamkeit und Hilflosigkeit um aktive Sterbehilfe bittet, ist besondere Aufmerksamkeit gefordert, denn hinter dieser Bitte verbirgt sich in der Regel die Bitte um stärkere Zuwendungsbereitschaft. Wo ein Mensch sich geborgen fühlt, vermag er auch sein Sterben zu durchleben.

4.3 Spirituelle Begleitung Die spirituelle Begleitung öffnet sich dem natürlichen Bedürfnis von Sterbenden, Fragen nach dem Sinn von Leben, Sterben, Tod und dem Danach zu stellen. Bei diesen letzten Fragen darf niemand allein gelassen werden. Spirituelle Begleitung verhilft dem Sterbenden auch zur Annahme seines Todes, dass er sich aussöhnt mit seinem Geschick und in seinem Sterben noch einen Sinn entdeckt.

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Merdan Günes

1.15 Menschenwürde und würdiges Sterben im Islam Abstract: Geist und Körper bilden den Menschen, den Gott mit einer Würde erschaffen hat. Diese Würde des Menschen aufrechtzuerhalten, ist der Eingriff in das Leben eines Menschen weder durch Mediziner noch Verwandte oder durch die Gesellschaft nicht gestattet. Die Würde des Menschen ist Diesseits wie auch Jenseits unantastbar. Demnach muss der Mensch nach seinem Tod genauso ehrenvoll behandelt werden wie er zu Lebzeiten behandelt werden sollte. Die rechtmäßigen Todeskriterien sollten angesichts moderner medizinischer Technologien durch eine Zusammenarbeit der muslimischen Juristen mit den Medizinern neu definiert werden. God created man not only with body and soul but also with dignity. This dignity has to be preserved respectfully and nobody is allowed to do any harm to or finish the life of His creature. Human dignity has to be preserved and protected without any restriction. Even after death a person’s body has to be treated respectfully and with honour. With respect to modern medical techniques the ascertainment criteria of death aught to be redefined in a dialogue between legal experts and physicians. Keywords: insān, Farḍ kifāya, nafs, fiqh, ḥaram, karam wa hurma, amāna, ibāḥa aṣliyya, Lā ḍarara walā ḍirār fil-islam, rūḥ, Hadith, maṣlaḥa, Koran, iğtiḥād Günes, Merdan, Dr. phil., LLB, LLM; [email protected]; Lehrbeauftragter an der Universität Frankfurt, Fachdidaktische Kommission des islamischen Religionsunterrichts in Rheinland-Pfalz

1 Tod und würdiges Sterben im Islam Der Islam verfolgt das Ziel, den Menschen sowohl zur körperlichen und geistigen, als auch zur diesseitigen und jenseitigen Glückseligkeit zu führen.¹ Ebenso wird ein Gleichgewicht zwischen Körper und Geist, Diesseits und Jenseits, Vergänglichem und Ewigem angestrebt. Der Koran beschreibt das Jenseits als einen Ort der ewigen Glückseligkeit, doch natürlich ist auch das Diesseits Gottes Werk, das für den Dienst am Menschen geschaffen wurde.² Allah fordert im Koran: „Vergiss nicht deinen Anteil an

1 The Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought (2007), S. 1 f. 2 Koran 31:20; 45:13.

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dieser Welt, und sei wohlwollend, wie Gott es dir gegenüber gewesen ist.“³ Somit ist der Mensch beauftragt, „beide Welten“ in Einklang zu bringen und auch das von Gott bestimmte Gleichgewicht in der Natur⁴ zu achten. Im Koran wird in diesem Zusammenhang der Ausdruck „ummatan wasatan“ gebraucht,⁵ d.h. die Menschen werden aufgefordert, eine „Gemeinschaft der Mitte“ zu sein. Nach islamischem Verständnis ist eine Person eine Totalität,⁶ eine Synthese aus biologischem und geistigem Leben.⁷ Es gilt, diese beiden Bestandteile im Gleichgewicht zu halten. Nach Al-Ġazālī besteht der Mensch aus einer äußeren Hülle, dem Leib, den man mit den biologischen Augen sehen kann,⁸ und einer inneren Hülle, die Herz, Vernunft, Seele oder Geist genannt wird und die nur von dem inneren Auge erkannt werden kann.⁹ Über dieses Innere sagt Al-Ġazālī: „Das Innere ist dein wahres Wesen, alles andere ist nur sein Gefolge, sein Heer und seine Dienerschaft.“¹⁰ Diese Einheit von Geist und Körper einer Person¹¹ nennt man im Islam „insān.“¹² Die Lebensaktivitäten der Tiere, also Wachstum, Fortpflanzung, Empfindungsfähigkeit und Bewegung sowie das Bewusstsein und die Vernünftigkeit der Menschen werden nach Ibn Sīna und Al-Ġazālī erst durch die Seele ermöglicht. Nach den beiden großen Gelehrten besteht der Mensch aus der Materie und der Seele, wobei jedoch die Materie unterschiedlich aufgefasst wird: Für Ibn Sīna ist der Körper Teil eines natürlichen Systems und unterliegt demnach den Folgen natürlicher Kausalität. Für Al-Ġazālī wird diese Naturkausalität des Körpers jedoch an die Tätigkeit einer spirituellen Substanz der Seele und des Körpers gebunden, wobei die Seele mit dem Körper nicht identisch ist. Al-Ġazālī nimmt zwar eine klare Unterscheidung zwischen Körper und Seele vor, postuliert aber eine seins mäßige Kontinuität. Dieser Meinung schließen sich die Philosophen nicht an.¹³ Demnach wird die Auferstehung Ibn Sīna

3 Koran, 28:77. Ein Hadith betont dieses Gleichgewicht: „Handle in dieser Welt, als müsstest du ewig leben, und handle im Hinblick auf die Andere Welt, als müsstest du morgen sterben.“ Lahbabi (2011), S. 80. Es handelt sich hier um ein sehr bekanntes, aber kein authentisches Hadith. 4 Balic (2007), S. 684 f. 5 Koran 2:143. 6 Lahbabi (2011), S. 79, 81. 7 Hekimoglu (2009), S. 15; Lahbabi (2011), S. 97,101. 8 Al-Ġazālī (Ritter) (1996), S. 37; Al-Ġazālī (1996), S. 420. 9 Al-Ġazālī (Ritter) (1996), S. 37; Al-Ġazālī (2005), S. 6; Al-Ġazālī (1996), S. 420; Oberman (1921), S. 34 – 35, 111; Umaruddīn (1988), S. 59. 10 Al-Ġazālī (Ritter) (1996), S. 37; Al-Ġazālī (2005), S. 6; Al-Ġazālī (1996), S. 420; Oberman, (1921), S. 111. 11 Lahbabi (2011), S. 25. 12 Ebd., S. 71. „insān“ bedeutet „Mensch“ und kommt an 65 Stellen im Koran im Singular und 230 Mal als „nās“ in Pluralform vor, s. Türkiye Diyanet Vakfı (TDV), (2002), Stichwort „insan“, B. 22, S. 321. 13 Moosa (2008), S. 194.

Menschenwürde und würdiges Sterben im Islam

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zufolge ohne den Körper, nach Al-Ġazālī mit dem Körper stattfinden.¹⁴ Die körperliche Auferstehung wird bei Al-Ġazālī zur Glaubensdoktrin. Körper und Seele bilden für ihn ein Kontinuum von Geist und Materie.¹⁵ Der Mensch ist das Subjekt der göttlichen Vorsehung. Er hat aber gleichzeitig die Freiheit, über sein eigenes Leben zu verfügen. Die Seele des Menschen ist mit Gott,¹⁶ sein Körper jedoch mit der Welt verbunden.¹⁷ Aufgrund der Vollkommenheit Seiner Schöpfung¹⁸ ernennt Gott den Menschen zu Seinem Statthalter und weist ihm unter all Seinen Geschöpfen den höchsten Rang zu.¹⁹ Jeder Mensch besitzt Würde, und unabhängig von seiner ethnischen Herkunft, seiner Sprache und seiner Hautfarbe ist jedes menschliche Wesen eine Person.²⁰ Dadurch wird er zum Ansprechpartner und Vertrauten Gottes: „Gewiss, Wir haben die Söhne Adams geehrt (mit Würde erschaffen)²¹ […] Wir haben sie weit über viele von jenen gestellt, welche Wir geschaffen haben.“²² Die Fähigkeit zur Vervollkommnung ist laut Koran und Sunna nicht spezifisch männlich. Eine Frau hat im gleichen Maße wie ein Mann die Möglichkeit, nach Selbstüberschreitung zu streben.²³ Hierzu sagt der Koran: „O Mensch! Wir haben euch aus einem Mann und einer Frau erschaffen. Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Der Edelste unter euch bei Gott ist der Gottergebenste (der Tugendhafteste).“²⁴ Zwischen Mann und Frau gibt es keinen Wertunterschied,²⁵ denn der Mensch ist im Kern aus einem einzigen Wesen erschaffen: „Ihr Menschen! Fürchtet euren Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen geschaffen hat, und aus ihm das ihm entsprechende andere Wesen, und der aus ihnen beiden viele Männer und Frauen hat (hervorgehen und) sich (über die Erde) ausbreiten lassen! Fürchtet Allah, in dessen Namen ihr einander zu bitten pflegt, und die Blutsverwandtschaft! Allah passt auf euch auf.“²⁶

14 Eich (2008), S. 207. 15 Ebd. 16 Seyyar (2012), S. 35. 17 Al-Ġazālī (1996) S. 128. 18 Koran 95:4; Umaruddīn (1998), S. 59; Seyyar 2012), S. 35. 19 Koran, 17: 70; Schimmel (1995), S. 269; Balic (2007), S. 683. 20 Lahbabi (2011), S. 63. 21 In drei Koranübersetzungen (Azhar, M. A . Rassoul und Ahmadeyya) ist das Wort „karramnā“ mit „geehrt“, von Rudi Paret mit „huldreich bewirkt“ und von Khoury mit „ehre erwiesen“ übersetzt. Das Wort bedeutet: „ehren, würdigen, huldigen“. „Karāmat al-insān“ bedeutet „Würde des Menschen“. Vgl. Schregle (1977), Lemma „Würde“. 22 Koran, 17:70. 23 Lahbabi (2011), S. 128. 24 Koran, 49:13; Lahbabi (2011), S. 202. 25 Falaturi / Tworuschka (1996), S. 40. 26 Koran, 4:1. (Übersetzung nach Paret).

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Die Vorbildlichkeit eines Menschenlebens resultiert aus der umfassenden Verkörperung des „Stellvertreters Allahs“ (Khalifa Allah).²⁷ Er ist der Träger der Würde und der Werte, die mit der Person verbunden sind.²⁸ Selbst die Engel müssen sich auf Gottes Befehl vor dem Menschen niederwerfen.²⁹ Auf diese Weise haben sie ihre Huldigung erwiesen.³⁰ Der Mensch erhält vor Gott seinen hohen Rang, indem er das ihm anvertraute Gut, „amāna“ annimmt³¹, welches zu tragen Himmel und Erde sich weigerten.³² Dieses Gut ist als Verantwortlichkeit, Liebe, Vernunft oder Kraft der Individuation interpretiert worden.³³ Übereinstimmend mit Al-Ġazālī erklärt Al-Qazwini den hohen Rang des Menschen dadurch, dass sich der Mensch vom Tier durch seinen Verstand unterscheide und die Fähigkeit besitze, Verantwortung zu übernehmen. Er schreibt: „Diese Seele nun verhält sich im Körper wie der Verwalter im Königreich, und die Fähigkeiten und Organe sind ihre Dienerschaft. Der Körper also ist das Königreich der Seele, ihr Aufenthaltsort und ihre Stadt.“³⁴

2 Theologische Aspekte Leben und Tod bilden in der islamischen Tradition eine untrennbare Einheit:³⁵ „Der Tod als existenzielle allgemeinmenschliche Erfahrung betrifft im islamischen Glauben sowohl die Leiblichkeit als auch die Geistigkeit des Menschen.“³⁶ Der menschliche Werdegang, vom Einhauchen der Seele bis zur Rückkehr zu Gott, vollzieht sich in diesem Rahmen. Der Tod ist in dieser Vorstellung die Schwelle, an der das anvertraute irdische Leben an den Schöpfer zurückgeht. Über diese Einheit von Leben und Tod in der islamischen Glaubensvorstellung sagt der Koran:

27 Lahbabi (2011), S. 33. 28 Ebd., S. 84. 29 Koran, 2:34; Lahbabi (2011), S. 72, 73. 30 Lahbabi (2011), S. 72, 73. 31 Ilkilic (2005a), S. 18; Schimmel (1995), S. 269. 32 Koran, 33:73. 33 Schimmel (1995), S. 269 – 270. Elsdörfer (2007), S. 53. 34 Qazwīnī (2004), S. 146; Elsdörfer (2007), S. 92 f. 35 Nach Stephenson gehören Leben und Tod zu jenen rätselvollen Urerfahrungen, „die das Dasein und Denken des Menschen seit Jahrtausenden geprägt haben… Die Antworten auf diese zentrale Herausforderung lag der Akzent manchmal auf dem Leben und manchmal auf dem Tode, wenngleich beide sich wechselseitig wie Komplementärfarben bestimmen und ergänzen“, Stephenson (1980), S. IX. 36 Ilkilic (2005a), S. 48.

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„(Er) der den Tod und das Leben geschaffen hat, um euch (Menschen) auf die Probe zu stellen (und zu sehen), wer von euch am besten handelt. Er ist der, der mächtig ist und bereit zu vergeben.“³⁷

Daher sollte sich jeder Muslim auf die Reise zur Ewigkeit vorbereiten. Der Prophet sagte: „Sterbet bevor ihr sterbet!“³⁸ Der Tod ist unumgänglich.³⁹ Der Tod ist notwendig, damit der Zweck des menschlichen Lebens, nämlich die Prüfung,⁴⁰ erfüllt wird. In der islamischen Vorstellung ist der Tod kein Ende, sondern vielmehr ein Übergang von der irdischen, vergänglichen Welt hin zu einer ewigen Welt.⁴¹ Der Glaube an das jenseitige Leben ist einer der sechs Glaubenssätze,⁴² an die jeder Muslim glaubt.⁴³ Es heißt im Koran: „Jedes Lebewesen (nafs) wird den Tod kosten⁴⁴; Und euch wird euer Lohn am Tage der Auferstehung vollständig gegeben; Und wer da vom Feuer ferngehalten und ins Paradies geführt wird, der soll glücklich sein; Und das irdische Leben ist nichts als ein trügerischer Nießbrauch.“⁴⁵

Der Tod ist eine Reise⁴⁶ ins Jenseits, ein Übergehen von der „Stätte der Vergänglichkeit“ zur „Stätte des Bleibens.“⁴⁷ Der Zeitpunkt des Sterbens markiert das Ende des irdischen Lebens und den Anfang des ewigen Lebens.⁴⁸ Der Koran stellt den Tod nicht als das Ende des Menschen dar, sondern als das Tor vom Diesseits ins Jenseits.⁴⁹ Der

37 Koran, 67:2; Vgl. Waardenburg (1980), S. 41. 38 Ritter (1995), S. 583; Schimmel (2003a), S. 143; Balic (2007), S. 1053. 39 Koran, 3:185; Waardenburg (1980), S. 45. 40 Aymaz (2002), S. 77; Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (o. J.), Gelebter Islam, S. 54. 41 Tworuschka / Tworuschka (2002), S. 189; Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (2004), Grundzüge islamischer Religion (Ilmihal), S. 62f. 42 Zaidan (1999), S. 163 f. 43 al-Buhārī, Hadith Nr. 50; Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (2004), Grundzüge islamischer Religion (Ilmihal), S. 62f.; İlmihal I (o. J.), S. 117 f. 44 An zwei anderen Stellen im Koran: 21:35 und 29:57. 45 Koran, 3:185. 46 Der Gesandte Allahs sagte zu Ibn ῾Umar: „Sei in der diesseitigen Welt wie ein Fremder oder ein Durchreisender.“ al-Buhārī, Hadith Nr. 6416; Tirmizī, Hadith Nr. 2333. an-Nawawī, Riyād as-sālihīn, I, Hadith Nr. 573. 47 Koran, 40:39; 41:28; Elsas (2007), S. 330; Tworuschka / Tworuschka (2002), S. 189; Hekimoglu (2009), S. 40. 48 Zaidan (1999) S. 169; Hekimoglu (2009), S. 16. 49 Koran, 29:64: „Das diesseitige Leben hier ist (doch) nichts als Spiel und Zerstreuung. Die jenseitige Behausung, das ist das (wahre) Leben. Wenn sie (es) nur wüßten!“ Das Wort al-hayawānu als Intensiv von al-hayātu (das Leben) kommt nur einmal im Koran vor und bedeutet das wirkliche, wahre Leben, das Leben par excellence. Waardenburg (1980), S. 40; Vgl. Koran, 40:39 und 6:32.

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Tod ist als Heimkehr zum Schöpfer zu verstehen.⁵⁰ Mit dem Tod verlässt die Seele den Körper, um am Tag der Auferstehung sich wieder mit ihm zu vereinen.⁵¹ Der Tod öffnet das Tor zum Geliebten. Er ist die Brücke, die den Liebenden zum Geliebten führt.⁵² Er bringt die Liebenden zusammen. Der wahre Liebende scheut sich nicht, sein Leben für den Geliebten zu opfern.⁵³ Für den „Gottesminner“ ist der Tod wertvoller als die liebende Hingabe an das Leben. In einer Überlieferung heißt es: „Als der Todesengel Abraham das Leben abfordert, sagt Abraham: ‚Hast du je einen Freund gesehen, der den Freund tötet?‘ Da lässt ihm Gott durch den Engel sagen: ‚Hast du je einen Freund gesehen, der sträubte, zum Freunde zu kommen?‘ Da spricht Abraham: ‚Jetzt nimm meine Seele!‘“⁵⁴

Der Wissende fürchtet sich nicht vor dem Tod, denn jeder Tod führt zu einer Auferstehung auf höherer Ebene. Daher stirbt der Gläubige lächelnd wie eine Rose, da er weiß: „Ich war Zuckerrohr, jetzt werde ich Zucker.“⁵⁵ Muhammad Iqbals Gedicht beschreibt diese Haltung: „Im Saume seiner Nacht ist Morgenrot, aus seinem Stern der Glanz der Welten lohnt. Wie soll ich sonst den Gläubigen beschreiben? Er lächelt, wenn ihm nahe kommt der Tod.“⁵⁶

Obwohl der Tod am Ende jedes irdischen Lebensweges steht, sind nicht alle Menschen mit ihm vertraut. Al-Ġazālī unterscheidet in dieser Hinsicht drei Arten von Menschen: 1. diejenigen, die nur diese Welt lieben und sich über den Tod keine Gedanken machen; 2. diejenigen, die sich bekehren, an den Tod denken und ihn fürchten, weil sie sterben könnten, ohne sich vollständig bekehrt zu haben und 3. diejenigen, die sich Allah ganz ergeben haben. Es sind die Gnostiker, die immer an den Tod denken, weil sie hoffen, dadurch dem Geliebten zu begegnen.⁵⁷ Der Tod wurde in der islamischen Tradition aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, die Forderung jedoch, dem Tod furchtlos entgegenzusehen, ist der Kerngedanke der islamischen Vorstellung über das Sterben. Der Gläubige soll keine Angst

50 Tworuschka / Tworuschka (2002), S. 189. 51 Ilkilic (2005a), S. 48. 52 Ritter (1995), S. 533 – 534. So wie die Liebe dem „Gottesminner“ das Leid überwinden hilft, hilft sie ihm auch, die Schrecken des Todes zu überwinden, Ritter (1995), S. 531. 53 Ritter (1995), S. 533; Bouman (1990), S. 51. 54 Al-Ġazālī (2005), Band IV, S. 394; Ritter (1995), S. 534 – 535; Gramlich (1984), S. 633 – 634; alIsfahānī, (2001), Bd. X, S. 8. 55 Schimmel (2003a), S. 143. 56 Schimmel (2003b), S. 223. 57 Al-Ġazālī (2004), S. 1476.

Menschenwürde und würdiges Sterben im Islam

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vor dem Tod haben,⁵⁸ denn der Tod ist ja die Zusammenkunft mit dem Geliebten⁵⁹ und daher die ewige Glückseligkeit. Der Mensch wird durch den Tod von all den Anstrengungen und Mühen des diesseitigen Lebens befreit.⁶⁰ Hinter der angsteinflößenden Fassade des Todes verstecken sich viele frohe Botschaften.⁶¹ Said Nursi sagt hierzu: „Der Tod ist keine Hinrichtung, er ist nicht das Nichts und auch kein Aufhören oder Verenden und kein Erlöschen. Er ist keine ewige Trennung, kein Nichtsein und weder Zufall noch das Verschwinden eines handelnden Subjektes. Der Tod ist vielmehr eine Entlassung von Seiten eines tätigen und barmherzigen Weisen und ein Ortswechsel. Er ist eine Reise in die ewige Glückseligkeit und zur ursprünglichen Heimat und auch ein Tor des Zusammenkommens mit neunundneunzig Prozent aller Freunde.“⁶², ⁶³

Der Mensch jedoch, der im Leben seinen Schöpfer nicht erkennt und gegenüber anderen Geschöpfen unbarmherzig und respektlos ist, wird nach dem Tod mit den Schwierigkeiten und Leiden im Jenseits konfrontiert. Der Mensch wird nach seinem Tode für seine Taten Rechenschaft ablegen müssen.⁶⁴ Das Paradies und die Hölle hat Allah erschaffen, auf dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden.⁶⁵

3 Der Umgang mit Leiden und Krankheiten Das menschliche Leid fängt mit dem menschlichen Dasein an.⁶⁶ Daher ist das Leiden von der Menschheitsgeschichte nicht zu trennen.⁶⁷ Der Mensch lebt mit dem Wissen um seine Endlichkeit.⁶⁸ Nach Muhammed Iqbal kann kein religiöses System den moralischen Wert des Leidens ignorieren.⁶⁹ Die islamischen Mystiker sahen eine enge Verbindung zwischen dem Leiden und der Gottesliebe.⁷⁰ Al-Fuḍayl b. ᶜiyāḍ konnte daher sagen:

58 Al-Ġazālī (2004), S. 1476 f. 59 Hekimoglu (2009), S. 62. 60 Aymaz (2002), S. 89; Elsas (2007), S. 330. 61 Tworuschka / Tworuschka (2002), S. 189. 62 Al-Ġazālī (2004), S. 1476. 63 Nursi (1991), S. 207 f.; das Zitat findet sich auch im Internet, etwa unter www.priorliving.ch / gesundheit-leben / trauer-und…tod / der-islam / (Abfrage März 2012); Hekimoglu (2009), S. 62; 64 Aymaz (2002), S. 85; Waardenburg (1980).(Koran, 36:12) 65 Hekimoglu (2009), S. 31. 66 Sachedina (2008), S. 154. 67 Sejdini (2007), S. 228. 68 Elsas (2007), S. 9. 69 Schneider / Bachem (1968), S. 145. 70 Akın (2008), S. 173.

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„Wenn Gott einen Menschen liebt, bereitet Er ihm viel Kummer, und wenn Er einen Menschen hasst, lässt Er ihm sein Diesseits freigebig zuteilwerden.“⁷¹

Das höchste Stadium der Liebe ist daher das Leiden.⁷² Es ist mit der Liebe untrennbar verbunden.⁷³ Das Problem des Leidens wurde in der islamischen Geschichte in der Theologie und in der Mystik erörtert.⁷⁴ In der Theologie stellte man sich vorwiegend die Frage nach dem Warum des Leidens, während in der Mystik vor allem die Frage gestellt wurde, wie man sich zu verhalten habe, wenn einem Leid widerfährt.⁷⁵ In der islamischen Vorstellung haben Ereignisse, die auf dieser Welt geschehen, eine Wirkung in der jenseitigen Welt. Daher ist die Haltung der Menschen gegenüber dem Leid wichtiger als die Frage nach dessen Ursache. Die Frage, warum uns Gott leiden lässt, ist wichtig, doch wichtiger ist die Frage nach unserer Haltung gegenüber dem Leid. Die Antworten auf das Leid sind in der islamischen Mystik daher meist handlungsorientiert und weniger auf Reflexion hin ausgerichtet.⁷⁶ Wir können drei Gründe für das menschliche Leiden angeben: Bestrafung, Prüfung und Zeichen der Gottesliebe.⁷⁷ Dies gilt natürlich auch für Krankheiten, die als Prüfung Gottes, als Gnadenerweis, als Ermahnung,⁷⁸ und als Sündenvergebung verstanden werden.⁷⁹ In der folgenden Überlieferung erklärt der Prophet die Krankheit als eine Gelegenheit für Sündenvergebung: „Keine Müdigkeit und keine Krankheit, keine Sorge und keine Trauer, kein Schmerz und kein Kummer befällt den Muslim, nicht einmal ein winziger Dorn kann ihn stechen, es sei denn, Gott will ihm damit eine Sühne für seine Verfehlungen auferlegen.“⁸⁰

Obwohl ein Verständnis von Krankheit als Strafe Gottes nicht aus islamischen Quellen ableitbar ist, wird sie manchmal von Muslimen so aufgefasst.⁸¹ Die islamische Mystik beschäftigt sich nicht nur mit dem Ursprung des Leidens, sondern zeigt Wege auf und gibt Empfehlungen, wie das Leid überwunden werden kann.⁸²

71 Al-Qušayrī (2003), S. 424; Gramlich (1989), S. 39. 72 Andrae (1980), S. 140. 73 Ritter (1995), S. 527; Öztürk (2002), S. 156. 74 Akın (2008), S. 163; Seyyar (2012), S. 39. 75 Akin (2008), S. 164; Reiss, (2007), S. 190 – 198. 76 Akın (2008), S. 164 – 165. 77 Akın (2008), S. 166. 78 Hekimoglu (2009), S. 50; Seyyar (2012), S. 39. 79 Ilkilic (2005a), S. 17, 21; Elsdörfer (2007), S. 19; Ibn Ahmad al-Qadi (1991), S. 71. 80 al-Buhārī, Hadith Nr. 5641. Muslim, Hadith Nr. 2573; Nawawī, Riyād as-sālihīn, Hadith Nr. 37; Tirmizī, Hadith Nr. 966. 81 Elsdörfer (2007), S. 19; Ilkilic (2005a), S. 17. 82 Elsdörfer (2007), S. 177; Reiss (2007), S. 190.

Menschenwürde und würdiges Sterben im Islam

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Ein wichtiges Ziel der Ṣūfīs und der futuwwa ist es, Allah zu erkennen und bereit zu sein, Schmerz und Leid um Seinetwillen zu ertragen.⁸³ Hingabe verlangt auch das äußerste Opfer des Leidens.⁸⁴ Wie das Feuer das Gold von allen Schlacken reinigt, so „reinigt das Feuer der Liebe die Seele, die ganz von ihren Flammen erfasst ist, von allen Lastern.“⁸⁵

Glück und Leiden haben einen unmittelbaren Bezug auf die ethische Entwicklung des Menschen, denn Islam bedeutet wörtlich „Hingabe an Gott.“⁸⁶ Wenn Leid unvermeidlich ist, so soll es mit Geduld ertragen werden⁸⁷; und sollte es erforderlich sein, dass ein Einzelner für das Wohl der Gemeinschaft leiden muss, so soll dieser bereit sein, das Leid auf sich zu nehmen. Bloßes Leiden um des Leidens willen soll jedoch nicht sein.⁸⁸ Zuerst müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um das Leiden zu beenden oder zu mildern, bevor der Mensch sich in Gottvertrauen, Geduld und Dankbarkeit begibt.⁸⁹ Im Unterschied zum Judentum (Psalmen, Klagelieder und das Buch Hiob) und Christentum (Frage Jesu am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“), wo die Anklage und das Hadern mit Gott als eine Möglichkeit im Umgang mit Leid überliefert wird, wird im Islam die Auflehnung Gott gegenüber nicht toleriert.⁹⁰ Die Echtheit einer Liebe erweist sich nur im Leiden.⁹¹ Die Plage ist nach der Liebesmystik ein Zeichen von Gottesliebe, denn Gott plagt denjenigen, den Er liebt.⁹² In einer Überlieferung des Propheten heißt es: „Wenn Allah einen Menschen begünstigen will, macht Er dies, indem Er ihm eine Härte auferlegt.“⁹³ Auf die Frage, wer unter den Menschen am meisten leide, antwortete der Prophet: „Die Propheten und die Gottesmänner […].“⁹⁴ Gott handelt immer weise. Daher sollte man versuchen, auch im Leid eine Weisheit zu finden.⁹⁵

83 As-Sulamī (1985), S. 66 – 67; Öztürk (2002), S. 156. 84 Feild (1986), S. 7. 85 Underhill (1928), S. 291; Schimmel (1995), S. 63; Akın (2008), S. 174. 86 Szczesny (1965), S. 152; Khoury (1993), S. 26; Eberhardt (1977), S. 192; Tebbe (1970), S. 61; Walter (2007), S. 249; Khoury (2007), S. 294. 87 Sachedina (2008), S. 154; Seyyar (2012), S. 39. 88 Szczesny (1965), S. 152 – 153; Dupre (2003), S. 58; Reiss (2007), S. 194. 89 Bongardt (2008), S. 271. Diese Einstellung war über Jahrhunderte elementare Grundlage für die medizinische Ethik in der islamischen Welt – im Gegensatz zu der westlichen Welt, in der man bis ins Mittelalter Krankheit vornehmlich als Ausdruck von Sünde ansah, s. Reiss (2007), S. 194. 90 Vgl. Reiss (2007), S. 195. 91 Dupre (2003), S. 62. 92 Reiss, (2007), S. 192; Schimmel (2003a), S. 159 – 160; Gott spricht im Koran: „Vielleicht verabscheut ihr eine Sache, während sie doch für euch besser ist“ (Koran 2:216). 93 al-Buhārī, Hadith Nr. 5645; Nawawī, Riyād as-sālihīn, I, Hadith Nr. 39. 94 Akın (2008), S. 167. 95 Ebd., S. 174.

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Sowohl in der irdischen Liebe, als auch in der Gottesliebe gibt es Stufen, in denen der Schmerz, den der Geliebte zufügt, zur Freude wird. Rābiʿa wurde gefragt, wann der Zustand der Gottergebenheit erreicht werde. Sie antwortete: „Wenn ihn die Plage ebenso erfreut wie die Wohltat.“⁹⁶ Zu der Frage des philologischen Zusammenhanges zwischen den Begriffen Gesundheit und Islam sagt Heinrich Schipperges: „Wir haben zu berücksichtigen, dass der Islam die einzige Hochreligion ist, die das Wort Gesundheit bereits in ihrem Titel trägt und damit diesen Zentralbegriff zum Fundament der Weltanschauung und Lebenshaltung gemacht hat. >s,l,m = >salam< bedeutet: ein rundum Wohlsein an Leib, Seele und Geist,⁹⁷ das Heile eben. Die Reflexivform von salam ist islam, die Ganzhingabe an das Heile. Wer sich zu diesem Heil bekennt, ist ein >muslim 70

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 7

 3

 37

2005

0

0

 8

 6

 6

 8

 7

 6

 41

2006

0

1

 1

 2

10

 9

 8

 4

 35

Ges.

0

4

11

19

41

45

34

20

174

Tabelle 1: Altersverteilung der im Vollzug nach § 63 StGB verstorbenen Patienten

Bezieht man die in dem genannten Zeitraum verstorbenen Patienten auf die Zahl derjenigen, deren Maßregeln zu dieser Zeit insgesamt beendet wurden, etwa durch Entlassung mangels Gefährlichkeit, kommt man auf einen Anteil von 7,6 % an Erledigungen durch Tod an diesen insgesamt 2.298 Personen (Tabelle 2).

Jahr / Gründe

Durch Tod

Gesamt

Anteil

2002

 22

 320

6,9 %

2003

 39

 414

9,4 %

2004

 37

 410

9,0 %

2005

 41

 551

7,4 %

2006

 35

 603

5,8 %

Gesamt

174

2298

7,6 %

Tabelle 2: Anteil der Beendigung der Maßregel des § 63 StGB durch Tod an anderen Beendigungsgründen

Betrachtet man die Straftat, wegen der sich die Verstorbenen im psychiatrischen Krankenhaus befanden (Tabelle 3), saßen jeweils 38 Personen wegen Sexual- und Körperverletzungs- sowie 36 Insassen wegen Tötungsdelikten ein.

1600

Kinzig

Jahr

Sexualdel.

Tötungsdel.

Körperverl. Eigentums- Branddel. del. stiftung

Sonstige

Gesamt

2002

 5

 3

 6

 1

 2

 2

 19

2003

 6

10

12

 4

 5

 2

 39

2004

12

 5

 6

 5

 3

 5

 36

2005

10

11

 8

 6

 3

 1

 39

2006

 5

 7

 6

 5

 6

 4

 33

Gesamt

38

36

38

21

19

14

166

Tabelle 3: Maßgebliche Straftat der im Vollzug nach § 63 StGB verstorbenen Patienten (n=166)

Schaut man in einem nächsten Schritt auf die Sicherungsverwahrten (Tabelle 4), ist festzustellen, dass zwischen den Jahren 2002 und 2008 insgesamt 23 Straftäter im Vollzug der Sicherungsverwahrung verstarben. Dies ergibt einen Anteil von insgesamt 11,0 % an allen Erledigungen dieser Maßregel. Er liegt also höher als bei den im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten (dort nur 7,6 %), was mit einem höheren Altersdurchschnitt und einer vermuteten höheren Gefährlichkeit der Sicherungsverwahrten zusammenhängen mag. Allein 12, und damit über die Hälfte der Todesfälle in Sicherungsverwahrung, waren im Bundesland Nordrhein-Westfalen zu verzeichnen, das freilich auch das Bundesland mit den meisten Sicherungsverwahrten darstellt.

Jahr / Gründe

Durch Tod

Gesamt

Anteil

2002

 2

 22

 9,1 %

2003

 1

 21

 4,8 %

2004

 1

 26

 3,8 %

2005

 4

 40

10,0 %

2006

 5

 37

13,5 %

2007

 8

 35

22,9 %

2008

 2

 29

 6,9 %

Gesamt

23

210

11,0 %

Tabelle 4: Anteil der Beendigung der Maßregel des § 66 StGB durch Tod aus anderen Beendigungsgründen

Sterben in geschlossenen Einrichtungen des Maßregelvollzugs

1601

Auskünfte speziell über die Gruppe der Sicherungsverwahrten ergibt eine weitere Studie.¹³ Darin wurde das Schicksal von insgesamt 318 Personen verfolgt, die überwiegend in den Jahren 1981 – 1990 in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden waren. Bei einer Nachuntersuchung ab dem Jahr 2002 auf der Basis der Auszüge aus dem Bundeszentralregister ergab sich, dass der Tod von (mindestens) 12 Straftätern im Vollzug der Sicherungsverwahrung eintrat. Dabei konnte in einigen Fällen die Todesursache in Erfahrung gebracht werden. Zur Illustration sei an dieser Stelle das Schicksal von vier Sicherungsverwahrten geschildert. Ein Proband, Jahrgang 1952, wurde im Mai 1984 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Daneben erhielt er Sicherungsverwahrung, die er im April 1991 antrat. Im Oktober 1997 lehnte die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Haftunterbrechung nach § 455 Abs. 4 StPO ab. Zwar sei der Verurteilte „im Sinne des § 455 Abs. 4 Satz 1 Ziff. 2 und 3 StPO so schwer erkrankt, dass sowohl von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für ihn zu besorgen ist, als auch die schwere Krankheit nicht in einem Anstaltskrankenhaus behandelt werden kann und die Krankheit voraussichtlich für eine erhebliche Zeit fortbestehen wird“, doch stünden bei dem „gemeingefährlichen Verurteilten“ nach § 455 Abs. 4 Satz 2 StPO „überwiegende Gründe, insbesondere der öffentlichen Sicherheit“ entgegen. Der Proband verstarb ein knappes Jahr später im September 1998 als 46-Jähriger in der Sicherungsverwahrung, nachdem noch im Mai 1998 eine Familienangehörige um „Reststrafe […] aufgrund eines Tumors und schweren Herzproblemen“ gebeten hatte. Gegen einen weiteren Straftäter, Jahrgang 1950, wurde im Jahr 1990 unter anderem wegen Betrugs eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und Sicherungsverwahrung angeordnet. Im April 1994 unterbrach die Staatsanwaltschaft die weitere Vollstreckung wegen Haftunfähigkeit nach § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO „aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung, welche seine sofortige Verlegung in die onkologische Abteilung“ eines Krankenhauses erforderlich machte. Einen Tag zuvor war der Proband im Alter von 43 Jahren bereits verstorben. Gegen eine weitere Person, Jahrgang 1948, war im Dezember 1982 u.a. wegen schweren Raubes eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren und Sicherungsverwahrung verhängt worden, in die er im Juni 1992 überführt wurde. Auch wenn die über eine Aussetzung der Sicherungsverwahrung zu befindenden Gerichte im Frühjahr 1997 feststellten, dass neben anderen Krankheiten für den Untergebrachten „ein hochgradiger Risikofaktor bezüglich Herzinfarkt oder Schlaganfall“ bestünde, entließen sie den Betreffenden nicht. Tragender Gesichtspunkt war die Überlegung, dass „von einem labilen und kriminell veranlagten Menschen in Freiheit noch immer erhebliche Straftaten erwartet werden, insbesondere dann, wenn nicht alles so läuft, wie er es

13 Kinzig (2010), S. 173 ff.

1602

Kinzig

sich in Verkennung der Realitäten vorstellt.“ Der Proband verstarb im Alter von 49 Jahren im Januar 1998 in Sicherungsverwahrung. Gegen einen weiteren Straftäter, Jahrgang 1949, wurde im Mai 1991 eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten rechtskräftig. Die gleichzeitig angeordnete Sicherungsverwahrung wurde ab Oktober 1992 vollstreckt. Er verstarb im Mai 2002 in einem Krankenhaus im Alter von 52 Jahren, nachdem er wegen einer akuten Herzerkrankung am Morgen des gleichen Tages aus der Sicherungsverwahrung dorthin verbracht worden war. Diese Fallbeispiele illustrieren bereits die im Folgenden zu behandelnde Frage, welche normativen Vorgaben das Recht für den Umgang mit todkranken Maßregelinsassen macht.

3 Normative Vorgaben für den Umgang mit todkranken Maßregelinsassen Zentrale Regelungen über den Umgang mit todkranken Maßregelinsassen enthält zunächst die Strafprozessordnung (StPO). Nach § 463 Abs. 1 StPO gelten die Vorschriften über die Strafvollstreckung, also insbesondere die über die Freiheitsstrafe, sinngemäß auch für die Maßregeln der Besserung und Sicherung.¹⁴ § 455 StPO normiert, in welchen Fällen die Vollstreckung einer Maßregel unterbrochen werden kann. In unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist § 455 Abs. 4 S. 1 StPO. Danach kann die Vollstreckungsbehörde (nach § 451 Abs. 1 StPO regelmäßig die Staatsanwaltschaft) die Vollstreckung einer Maßregel u.a. unterbrechen, wenn wegen einer Krankheit von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist (Nr. 2).¹⁵ Gleiches gilt nach Nr. 3, wenn der Verurteilte sonst schwer erkrankt und die Krankheit in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden kann.¹⁶ Zusätzlich muss in beiden Fällen zu erwarten sein, dass die Krankheit voraussichtlich für eine erhebliche Zeit fortbestehen wird. Einschränkend bestimmt aber Satz  2 dieser Vorschrift, dass die Vollstreckung nicht unterbrochen werden darf, wenn überwiegende Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen. In der Literatur wird diese Barriere dahingehend umschrieben, dass die Hoffnung auf Wiedererlangung der Freiheit vor Eintritt von

14 Vgl. Graalmann-Scheerer in Löwe / Rosenberg (2010), § 455 Rn 1; Heischel (1998), S. 48 f. 15 Das Merkmal „von der Vollstreckung“ legt die ganz herrschende Meinung dahingehend aus, dass diese ursächlich für die nahe Lebensgefahr sein muss, vgl. nur Graalmann-Scheerer in Löwe / Rosenberg (2010), § 455 Rn 10; anders aber: Neuhaus (2009), S. 1020 im Anschluss an Heischel (1998), S. 73. 16 So wurde z.B. im Fall OLG München, Strafverteidiger (StV) 1997, 262 die Strafvollstreckung nach § 455 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 StPO zur Beendigung einer Interferon-Therapie unterbrochen.

Sterben in geschlossenen Einrichtungen des Maßregelvollzugs

1603

Siechtum und Todesnähe dann eine Grenze erfahre, wenn ein Insasse trotz begrenzter Lebenserwartung noch eine erhebliche Gefahr für hochrangige Rechtsgüter darstelle.¹⁷ Selbst wenn die Vorgaben des § 455 Abs. 4 Satz 1 StPO erfüllt sind und eine Gefährlichkeit des Untergebrachten nicht vorliegt, ist zu beachten, dass § 455 Abs. 4 StPO keine zwingende Entlassung anordnet, sondern nur eine sogenannte Ermessensentscheidung statuiert, deren gerichtliche Überprüfbarkeit in gewisser Weise eingeschränkt ist. Die verfahrensrechtlichen Einzelheiten sind in §§ 45, 46 der Strafvollstreckungsordnung (StVollstrO) geregelt, die für Maßregeln wiederum über § 53 Abs. 2 Nr. 1 StVollstrO Anwendung finden. So wird die Anordnung der Unterbrechung nach § 46 Abs. 1 StVollstrO der Vollzugsbehörde mitgeteilt; sie wird auch der verurteilten Person unverzüglich bekannt gegeben, sofern sie zur Entgegennahme in der Lage ist. Für gewöhnliche Strafgefangene, aber auch für Sicherungsverwahrte, ist außerdem das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) zu beachten.¹⁸ Nach § 65 Abs. 1 StVollzG kann ein kranker Gefangener in ein Anstaltskrankenhaus oder in eine für die Behandlung seiner Krankheit besser geeignete Vollzugsanstalt verlegt werden. Über die Ausstattung der genannten Vollzugskrankenhäuser wird z.B. vom Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg in Nordrhein-Westfalen berichtet, dass es im Standard einem Kreiskrankenhaus entspreche und fachgerechte Betreuung bis zum Tod biete.¹⁹ § 65 Abs.  2 Satz  1 StVollzG verpflichtet darüber hinaus dann, wenn die Krankheit eines Gefangenen in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden kann oder es nicht möglich ist, den Gefangenen rechtzeitig in ein Anstaltskrankenhaus zu verlegen, dazu, den Gefangenen in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzugs zu bringen. Dies führt im Gegensatz zum Vorgehen nach § 455 StPO nicht zu einer Unterbrechung der Strafvollstreckung.²⁰ Entsprechungen zu § 65 StVollzG, also Vorschriften über die Verlegung in ein (anderes) Krankenhaus aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug, sind in den Maßregelvollzugsgesetzen (MRVG) der einzelnen Bundesländer enthalten. Stellvertretend sei § 8 Abs. 6 MRVG Niedersachen genannt. Dort heißt es: „Kann eine erforderliche

17 Fiedeler (2003), S. 148. 18 Nach einer Föderalismusreform des Bundes ist im Jahre 2006 die Kompetenz für den Strafvollzug auf die Bundesländer übergegangen. Davon haben bisher (Stand: März 2011) fünf Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen und Niedersachsen) Gebrauch gemacht. In den anderen Ländern gilt das StVollzG aus dem Jahre 1977 fort. Nach § 130 StVollzG ist für Sicherungsverwahrte auch § 65 StVollzG anzuwenden. 19 Neuhaus (2009), S. 1017 m.w.N.; vgl. auch Fiedeler (2003), S. 28; Skirl (2003), S. 284; BauschHölterhoff (2004), S. 97 f. Über das Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg informiert auch die anstaltseigene Homepage (http: // www.jvk.nrw.de / wir / index.php, besucht am 11.3.2012). Es ist nach eigenen Angaben mit über 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der größte Arbeitgeber der Stadt Fröndenberg und behandelt pro Jahr zwischen 3.000 und 3.600 Patienten stationär. 20 Vgl. Neuhaus (2009), S. 1016.

1604

Kinzig

Untersuchung oder Behandlung nicht in der Einrichtung durchgeführt werden, in der sich der Untergebrachte befindet, so ist er in eine geeignete andere Einrichtung des Maßregelvollzuges oder, wenn eine solche nicht zur Verfügung steht, in ein geeignetes Krankenhaus zu verlegen. Der Schutz der Allgemeinheit ist durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen.“²¹ Erkrankt ein Maßregelinsasse schwer, stehen demnach für eine stationäre Behandlung regelmäßig drei abgestufte Möglichkeiten zur Verfügung: Vorrangig muss eine Behandlung in einer geeigneten anderen Einrichtung des Maßregelvollzugs (bei Sicherungsverwahrten nach § 65 Abs. 1 StVollzG in einem Anstaltskrankenhaus oder in einer für die Behandlung besser geeigneten Vollzugsanstalt) erfolgen. Sekundär hat die Behandlung in einem geeigneten Krankenhaus außerhalb des Maßregelvollzugs zu erfolgen. In beiden Fällen dauert das Maßregelvollstreckungsverhältnis fort. Nur unter den Voraussetzungen des § 455 Abs. 4 StPO kommt die Unterbrechung der Maßregel mit der Folge in Betracht, dass die Vollstreckung der Maßregel nicht andauert.²² Demnach können die zuständigen Behörden die Vollstreckung einer Strafe oder Maßregel nur dann unterbrechen, wenn die Erkrankung des Gefangenen oder Maßregelinsassen voraussichtlich erhebliche Zeit fortbesteht und ihre Behandlung im Vollzug nicht möglich ist.²³ Darüber hinaus finden sich in den verschiedenen Gnadenordnungen der Länder spezielle Regelungen über die Gewährung von Unterbrechungen von Maßregeln der Besserung und Sicherung.²⁴ Empirische Daten neueren Ursprungs über die Häufigkeit von Straf- und Maßregelunterbrechungen sind nicht vorhanden.²⁵

21 Vgl. zu ähnlichen Regelungen § 17 Abs. 1 PsychKG Brandenburg, § 22 Abs. 7 PsychKG Bremen, § 11 Abs. 1 Satz 2 MRVG Hamburg, § 28 Abs. 2 MRVG Hessen, § 5 Abs. 3 MRVG Rheinland-Pfalz, § 10 Abs. 2 MRVG Saarland, § 8 Abs. 9 MRVG Sachsen-Anhalt. 22 Vgl. analog für den Strafvollzug: Klein, in: Beck’scher Online-Kommentar (Stand: 15.1.2011), § 455 StPO Rn 7; s. auch KG Berlin, B v. 15.2.2006, 2 AR 1 / 06 – 5 Ws 607 / 05, 2 AR 1 / 06, 5 Ws 607 / 05. 23 So explizit auch OLG München, StV 1997, 262 (263) für eine Interferon-Therapie einer HepatitisC-Erkrankung sowie BVerfG, B v. 9.3.2010, 2 BvR 3012 / 09, Rn 28. 24 Vgl. z.B. § 26 Abs. 2 der Bayerischen Gnadenordnung; zum Verhältnis des Gnadenverfahrens zu § 455 StPO, vgl. Zeitler (2009), S. 211 f. sowie Wulf / Grube (→ Kap. 4.15, Wulf / Grube). 25 Zu älteren regional und gegenständlich beschränkten Ergebnissen vgl. Neuhaus (2009), S. 1010.

Sterben in geschlossenen Einrichtungen des Maßregelvollzugs

1605

4 Die Ausfüllung der normativen Vorgaben durch die Rechtsprechung Bei einer Analyse der Rechtsprechung zur Zulässigkeit einer Straf- oder Maßregelunterbrechung bei todkranken Anstaltsinsassen fällt zunächst auf, dass diese Thematik, insbesondere das Problem der Auslegung des § 455 StPO, in den letzten Jahren an Bedeutung zu gewinnen scheint. Den gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung für den Bereich des Strafvollzugs verdeutlichen im Wesentlichen drei neuere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg (OLG Hamburg) sowie des Oberlandesgerichts Celle (OLG Celle), deren Inhalt kurz in chronologischer Reihenfolge wiedergegeben werden soll.²⁶ Da, wie erwähnt, alle drei Beschlüsse zur Frage der Unterbrechung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangen sind, ist in einem zweiten Schritt zu erkunden, ob und wenn ja unter welchen Modifikationen diese Rechtsprechung auch auf im Maßregelvollzug inhaftierte todkranke Personen zu übertragen ist.

4.1 Die Entscheidung des OLG Hamburg Bereits im Jahr 2006 hatte das OLG Hamburg darüber zu befinden, ob und unter welchen Voraussetzungen einem todkranken Gefangenen eine Unterbrechung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach § 455 StPO zu gewähren und damit ein Versterben in Freiheit zu ermöglichen sei.²⁷ Gegen den betreffenden Inhaftierten war im Jahr 2000 wegen Vergewaltigung eine Freiheitsstrafe von neun Jahren angeordnet worden. Der Gefangene litt an einer weit fortgeschrittenen, nicht mehr heilbaren, lebensbedrohlichen Erkrankung, die zweifelsfrei als Morbus Hodgkin  – auch Lymphogranulomatose genannt – diagnostiziert worden war. Ende April 2006 hatte eine gutachterliche Stellungnahme ergeben, dass „der abgemagerte und wenig belastbare Beschwerdeführer nur noch sehr kurze Zeit zu leben“ habe. Im Rahmen seiner Entscheidung über den Antrag auf Strafunterbrechung stellte das OLG Hamburg zunächst in Übereinstimmung mit den eine Entlassung ablehnenden Vorinstanzen, der Staatsanwaltschaft und der Strafvollstreckungskammer, fest, dass die Voraussetzungen für eine Vorgehensweise nach § 455 StPO nicht vorlägen. Zum einen sei in diesem Fall, wie es § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 StPO für eine Strafunterbrechung verlange, die wegen der Krankheit bestehende nahe Lebensgefahr gerade nicht „von der Voll-

26 Im Übrigen vgl. auch Heischel (1998), S. 109 ff., der einen Abriss der Rechtsprechung zu § 455 StPO liefert. 27 OLG Hamburg, Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungs-Report (NStZ-RR) 2006, 285.

1606

Kinzig

streckung“ zu besorgen. Zum anderen seien auch die Unterbrechungsvoraussetzungen nach § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO nicht erfüllt, dass nämlich die Krankheit des Gefangenen außerhalb des Anstaltskrankenhauses in einer anderen Klinik wirkungsvoller bekämpft werden könne. Gleichwohl kam das OLG Hamburg zum Ergebnis, dass „jede andere Entscheidung als die Strafunterbrechung auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit wegen Verstoßes gegen das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), zu der auch ein Sterben in Würde gehört, ermessensfehlerhaft“ sei.²⁸ Als Argumente für eine Strafunterbrechung führte das OLG Hamburg zudem an, dass sich der Strafzweck der Resozialisierung bei einem Strafgefangenen mit einer nur noch sehr begrenzten Lebenserwartung ohnehin nicht mehr verwirklichen lasse. Je kürzer die voraussichtliche Lebenserwartung sei, desto stärker falle auch das Interesse des Strafgefangenen, im Kreise seiner engsten Angehörigen in Freiheit zu sterben, ins Gewicht. Darüber hinaus stellte das Gericht in Rechnung, dass aufgrund der beschränkten Besuchszeiten des Vollzugskrankenhauses nicht gewährleistet sei, dass der Gefangene „in der finalen Phase seines Lebens von seiner Ehefrau oder einer sonstigen ihm besonders nahe stehenden Person umgeben ist, die ihn beim Sterben begleitet.“ Dass der Unterbrechung der Strafvollstreckung nach § 455 Abs. 4 S. 2 StPO „überwiegende Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit“ entgegenstünden, sah das Gericht ebenfalls nicht. Insoweit gelangte das OLG Hamburg zu der Auffassung, dass sich das Rückfallrisiko, das durch einen Sachverständigen in einem Gutachten von November 2004 noch als mittelgradig bezeichnet worden war, auch infolge der Krankheit weiter reduziert habe. Abschließend bekräftigte das Gericht seine Auffassung, dass es mit dem Gebot der Achtung der Würde des Menschen unvereinbar sei, einen Menschen, der von schwerer und unheilbarer Krankheit und von Todesnähe gekennzeichnet sei, weiter in Haft zu halten, wenn von ihm nur noch eine sehr beschränkte Gefahr für die Sicherheit der Allgemeinheit ausgehe. Im Ergebnis verfügte das Gericht wegen der nahen Todesgefahr selbst die Freilassung des Gefangenen, ohne, wie an sich üblich, den Fall an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

4.2 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Mit einer ähnlichen Konstellation hatte sich auch das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr 2010 in einer sogenannten Kammerentscheidung auseinanderzusetzen. Es hatte über die Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen zu befinden, der im Jahr 2005 wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen u.a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden war.²⁹ Er hatte im alkoholisierten

28 Zustimmend Zeitler (2009), S. 207. 29 BVerfG, B v. 9.3.2010, 2 BvR 3012 / 09 m. Anm. Fiedeler (2010a).

Sterben in geschlossenen Einrichtungen des Maßregelvollzugs

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Zustand seiner Ehefrau und seinem Sohn mit einem Messer lebensgefährliche Verletzungen zugefügt. Das Strafende war für den Mai 2014 vorgesehen. Der Beschwerdeführer war schwer krebskrank und wurde während seiner Strafhaft in verschiedenen Krankenhäusern behandelt. Anträge auf Strafunterbrechung blieben zunächst erfolglos, obwohl eine behandelnde externe Klinik bereits im Februar 2009 „eine palliative Therapiesituation“ aufgrund eines „inoperablen Bronchialkarzinoms“ attestiert hatte. Im Juni 2009 beantragte der Gefangene zum dritten Mal eine Strafunterbrechung. Zur Begründung führte er u.a. aus, dass von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr zu besorgen sei. „Die Krankheit könne nicht im Anstaltskrankenhaus behandelt werden. […] Er müsse sich mit einer erheblich verkürzten Lebenszeit auseinandersetzen, ferner mit Atemnot, Erstickungspanik und Todesangst. Zudem werde er ständig von der Justizvollzugsanstalt in das Anstaltskrankenhaus und von dort in andere Kliniken verlegt. […] Er sei sich sicher, dass er nicht mehr lange leben werde und wolle in Freiheit würdig sterben. […] Sein Gesundheitszustand verschlechtere sich zusehends und schränke die Gefahr weiterer Straftaten erheblich ein.“ Die Staatsanwaltschaft Mannheim lehnte dennoch eine Strafunterbrechung mit dem zentralen Argument ab, dass der Gefangene im Vollzugskrankenhaus ausreichend medizinisch versorgt werden könne. Die Strafvollstreckungskammer am Landgericht Mannheim bestätigte die Ansicht der Staatsanwaltschaft. Insbesondere sei von der Vollstreckung weder eine nahe Lebensgefahr für den Gefangenen zu besorgen (vgl. § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 StPO) noch könne er im Anstaltskrankenhaus nicht ausreichend behandelt werden (§ 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO). Auch das weitere Rechtsmittel des Gefangenen in Form einer sofortigen Beschwerde führte zu keiner anderen Entscheidung des jetzt angerufenen OLG Karlsruhe, das ebenfalls ein Vorliegen der Voraussetzungen des § 455 Abs. 4 Satz 1 Nrn. 2 und 3 StPO verneinte. Darüber hinaus, so das Gericht, habe kein Fall der Ermessensreduzierung im Sinne des Beschlusses des OLG Hamburg aus dem Jahre 2006 im Falle eines todkranken Verurteilten vorgelegen. Das Bundesverfassungsgericht sah in den genannten Entscheidungen eine Verletzung des Grundrechts des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art.  2 Abs.  2 Satz  1 GG) in Verbindung mit dem Recht auf Menschenwürde (Art.  1 Abs. 1 GG). Eingangs konstatierte das Bundesverfassungsgericht, dass das Gebot, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen, seine Grenzen im Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) finde. Bei Gesundheitsgefährdungen eines Strafgefangenen entstehe zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung des Strafanspruchs und dem Interesse des Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte ein Spannungsverhältnis, wobei keinem dieser Belange schlechthin der Vorrang gebühre. Ein Konflikt sei nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen. Führe diese Abwägung zu dem Ergebnis, dass die Interessen des

1608

Kinzig

Verurteilten ersichtlich wesentlich schwerer wögen³⁰ als diejenigen Belange, deren Wahrung die Strafvollstreckung dienen solle, so verletze ein gleichwohl erfolgender Eingriff das Verhältnismäßigkeitsprinzip und damit das Grundrecht des Verurteilten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.³¹ Die Grenze sei jedenfalls erreicht, wenn angesichts des Gesundheitszustands des Verurteilten ernsthaft zu befürchten sei, dass er bei Durchführung der Strafvollstreckung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen werde. Des Weiteren bekräftigte das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde seine ständige Rechtsprechung, dass es mit der Würde des Menschen unvereinbar sei, die konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance eines Gefangenen, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden, auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest zu reduzieren.³² Die insoweit bestehenden Regelungen in §§ 56 ff. StVollzG und § 455 Abs. 4 StPO trügen dem genannten Spannungsverhältnis Rechnung. Vom Vollzug drohe eine Gefahr aber dann nicht, wenn er Mittel zur Abhilfe bereit halte. Als solche Mittel seien nicht nur die Untersuchung und Behandlung in Vollzugseinrichtungen, sondern auch diejenigen in einem externen Krankenhaus (§ 65 Abs. 2 StVollzG) anzusehen.³³ Die Grundrechte des Gefangenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG könnten aber „im Einzelfall eine Strafunterbrechung auch über den Wortlaut von § 455 Abs. 4 StPO hinaus gebieten“.³⁴ Insofern verwies das Bundesverfassungsgericht auf den vom OLG Hamburg eingeschlagenen Weg einer Strafunterbrechung, wenn der Strafgefangene todkrank sei und von ihm nur noch eine sehr eingeschränkte Gefahr erneuter Straftaten ausgehe.³⁵ Des Weiteren betonte das Bundesverfassungsgericht das Gebot einer zureichenden Sachaufklärung. Komme eine Strafunterbrechung über den Wortlaut des § 455 Abs. 4 StPO hinaus in Betracht, sei die Vollstreckungsbehörde von Ver-

30 Fiedeler (2010a), S. 225 weist zu Recht darauf hin, dass in dieser Formulierung („ersichtlich wesentlich schwerer“) ein gewisser Widerspruch zur ein paar Zeilen zuvor geäußerten Ansicht des BVerfG liegt, dass keinem der betroffenen Belange schlechthin der Vorrang einzuräumen sei. 31 Diese Grundsätze stammen bereits aus einer Entscheidung aus dem Jahre 2003 (BVerfG, NStZ-RR 2003, 345; vgl. auch KG Berlin, B v. 15.2.2006, 2 AR 1 / 06 – 5 Ws 607 / 05, 2 AR 1 / 06, 5 Ws 607 / 05). Das ebenfalls in dieser Entscheidung zitierte Judikat BVerfGE 51, 324 betraf dagegen die verfassungsrechtlichen Grenzen für die Durchführung einer Hauptverhandlung im Hinblick auf die Verhandlungsfähigkeit eines kranken Angeklagten. 32 Insoweit verwies das Gericht auf seine Rechtsprechung zur verfassungsmäßigen Handhabung der lebenslangen Freiheitsstrafe (insbesondere BVerfGE 45, 187 (245); 72, 105 (113, 116 f.); 117, 71 (95)). 33 So zuvor bereits BVerfG, NStZ-RR 2003, 345 und BGH, NStZ 1993, 493 (495). 34 BVerfG, B v. 9.3.2010, 2 BvR 3012 / 09, Rn 27. 35 Die daneben vom BVerfG für den Fall, dass ein schwer kranker Gefangener zwar haftfähig sei, aber langfristig erfolgreich nur außerhalb des Strafvollzugs behandelt werden könne, erwogene analoge Anwendung des § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO (vgl. OLG Stuttgart, StV 1991, 478) betrifft nicht die uns hier interessierende Fallkonstellation.

Sterben in geschlossenen Einrichtungen des Maßregelvollzugs

1609

fassungs wegen gehalten, Einzelheiten insbesondere des Gesundheitszustands, der Lebenserwartung und der Gefährlichkeit des Verurteilten zu klären. Gegebenenfalls habe sie insoweit (ergänzende) ärztliche Stellungnahmen oder ein Sachverständigengutachten einzuholen. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen sei die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht geworden. Insbesondere rügte das Gericht, dass bereits nicht zu erkennen sei, welche Strafunterbrechungsgründe des § 455 Abs.  4 Satz  1 StPO die Staatsanwaltschaft geprüft habe, zumal diese ein falsches Formular verwendet habe. Bei der Bezugnahme auf „die Stellungnahme des Vollzugskrankenhauses“ sei nicht klar gewesen, auf welche der zahlreichen ärztlichen Stellungnahmen rekurriert worden sei. Auch enthalte die Entscheidung der Staatsanwaltschaft keine Ausführungen dazu, ob die Behandlung im Anstaltskrankenhaus mit den ständigen Verlegungen in externe Kliniken ohne Unterbrechung der Haft insgesamt noch als adäquat angesehen werden könne. Darüber hinaus gehe sie nicht auf die damit verbundenen psychischen und physischen Belastungen ein. Zudem hätten weder die Staatsanwaltschaft noch die Gerichte weitere wichtige Gesichtspunkte gewürdigt, darunter die geringe Lebenserwartung, den als dramatisch zu bezeichnenden aktuellen Gesundheitszustand sowie eine etwaige Gefährlichkeit des Beschwerdeführers. Insbesondere zur Einschätzung der gegenwärtigen Gefährlichkeit könne die Einholung eines Sachverständigengutachtens geboten sein.³⁶

4.3 Die Entscheidung des OLG Celle Das OLG Celle schließlich hatte es im Juni 2010 mit einem Gefangenen zu tun, der zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes verurteilt worden war.³⁷ Dabei bestand die Besonderheit, dass der Straftäter nach Verbüßung der auf 18 Jahre festgelegten Mindestdauer im Mai 2005 allein noch deswegen einsaß, weil er weiterhin als gefährlich eingeschätzt wurde (vgl. die Entlassungsvoraussetzungen aus lebenslanger Freiheitsstrafe nach §§ 57a Abs. 1 Satz 1, 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 StGB). Insoweit handelte es sich hier um eine dem Maßregelvollzug vergleichbare Situation, weil in

36 Die Staatsanwaltschaft Mannheim hat in der Folge der Entscheidung des BVerfG die Strafvollstreckung mit Wirkung vom 8.12.2010 unterbrochen. 37 OLG Celle, Strafverteidiger Forum (StraFo) 2010, 351 m. Anm. Schäfer (2010). Ein anderer Gefangener namens Heinrich Pommerenke, der nach knapp 50 Jahren in lebenslanger Freiheitsstrafe 71-jährig im Gefängniskrankenhaus Hohenasperg verstarb, hat als am längsten einsitzender Häftling eine gewisse zeitgeschichtliche Berühmtheit erlangt, vgl. dazu auch Janisch (2010).

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beiden Fällen nur eine Gefährlichkeitsprognose die andauernde Freiheitsentziehung legitimiert(e). Im März 2010 beantragte der Verurteilte erneut, die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach § 455 Abs. 4 StPO zu unterbrechen. Zur Begründung führte er aus, er sei unheilbar an Zungen- als auch an Lungenkrebs erkrankt und könne Wegstrecken nur noch unter Zuhilfenahme eines Rollators bewältigen. Obwohl die Justizvollzugsanstalt diesen Antrag unterstützte, lehnte die Staatsanwaltschaft Deggendorf das Begehren mit der Begründung ab, dass zum einen kein Fall des § 455 Abs. 4 StPO gegeben sei, zum anderen von dem Verurteilten ausweislich einer gutachterlichen Stellungnahme noch „eine mittlere Gefahr des Begehens neuer Sexualstraftaten“ ausgehe. Das Rechtsmittel des Gefangenen hatte Erfolg. Das OLG Celle rügte im Anschluss an die oben behandelte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass sich die Staatsanwaltschaft wie auch das Landgericht nicht mit dem Umstand auseinandergesetzt hätten, dass im Einzelfall eine Strafunterbrechung auch über den Wortlaut von § 455 Abs. 4 StPO hinaus geboten sein könne. Dadurch dass keine ärztliche Stellungnahme oder ein Sachverständigengutachten zum aktuellen Gesundheitszustand, zur fraglichen Lebenserwartung und zur Gefährlichkeit des Gefangenen eingeholt worden seien, sei das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung verletzt worden. Daher müsse die Staatsanwaltschaft über den Antrag des Verurteilten auf der Grundlage eines vollständig ermittelten, aktuellen Sachverhalts und unter Berücksichtigung der referierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erneut entscheiden.³⁸

4.4 Besonderheiten bei todkranken Maßregelinsassen Bereits am Anfang der Übersicht über die Rechtsprechung wurde betont, dass alle bisher referierten Entscheidungen und übrigens auch die überwältigende Mehrheit der publizierten Judikatur zur Frage der Strafunterbrechung bei Strafgefangenen ergingen. In diesem Beitrag steht aber im Vordergrund, wie mit todkranken Insassen im Maßregelvollzug, also im psychiatrischen Krankenhaus und in der Sicherungsverwahrung, umzugehen ist. Wichtig ist, sich dabei zunächst in Erinnerung zu rufen, dass die Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung nur dann legitimiert ist, wenn die Untergebrachten noch gefährlich sind. Diese Voraussetzung scheint die Möglichkeit einer Maßregelunterbrechung zu hindern, da, wie anfangs bereits erwähnt, nach § 455 Abs. 4 Satz 2 StPO die Vollstreckung einer Maßregel nicht

38 Dazu Schäfer (2010), mit dem Einwand, ob nicht in diesem Fall „alleine aufgrund des Zeitablaufs“ eine Ermessenreduzierung auf Null und somit eine Strafunterbrechung mit Entlassung geboten gewesen sei.

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unterbrochen werden darf, wenn überwiegende Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen. Wann die Unterbrechung einer Maßregel in Frage kommt, zeigt ein Fall, den das OLG Celle bereits im Jahr 1966 zu entscheiden hatte.³⁹ Damals befand sich ein an Tuberkulose erkrankter Straftäter in Sicherungsverwahrung. Anträge auf Aussetzung der Sicherungsverwahrung blieben trotz seines schlechten Gesundheitszustandes ohne Erfolg, weil eine Besserung seines Befindens möglich und dann zugleich zu befürchten war, dass er neue Straftaten begehen werde. Zuletzt konnten die ständigen Lungenblutungen jedoch kaum noch medikamentös beherrscht werden. Zudem hatte der Inhaftierte innerhalb eines halben Jahres um 24 kg auf 50 kg abgenommen. So war er nicht mehr in der Lage, ohne Hilfe das Bett zu verlassen. Das OLG Celle entschied gegen die Vorinstanzen, den Vollzug der Sicherungsverwahrung zu unterbrechen. In seiner Begründung betonte es, dass der Verwahrte, solange er so bedrohlich krank und körperlich geschwächt sei wie derzeit, für die öffentliche Sicherheit nicht „gefährlich” sei. Zudem sei er lebensgefährlich erkrankt, sein Befinden habe sich in den letzten Wochen bedrohlich verschlechtert und die ihn behandelnden Ärzte versprächen sich von einer Verlegung in ein externes Krankenhaus zumindest eine gewisse Besserung, die im Anstaltskrankenhaus nicht erreicht werden könne. Allerdings handelte es sich bei der dem OLG Celle zugrunde liegenden Konstellation nicht um einen todkranken Insassen. Wie mit Personen zu verfahren ist, die in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind, zeigt eine Entscheidung des OLG Hamm aus dem Jahre 2009.⁴⁰ In diesem Fall war im Jahre 1989 wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen versuchten Vergewaltigung die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden. Zum Zustand des Maßregelinsassen teilt die Entscheidung u.a. mit, „dass er sich […] einer Krebsoperation habe unterziehen müssen. Dabei sei ihm der Kehlkopf, ein Teil des Zungengrundes sowie die benachbarten Lymphknoten entfernt worden. Seitdem benötige er eine Luftröhrenkanüle zum Atmen.“ Das OLG Hamm beschritt in seiner Entscheidung nicht den Weg einer Unterbrechung der Maßregel nach § 455 StPO, sondern nutzte die seit dem Jahr 2004 für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (nicht aber für Strafen und die Sicherungsverwahrung) im StGB verankerte Möglichkeit, die Maßregel nach § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB für erledigt zu erklären. Einzige Voraussetzung dafür ist, dass die weitere Vollstreckung der Maßregel nach § 63 StGB unverhältnismäßig ist. Im Gegensatz zur Unterbrechung, bei der der Betreffende nach Besserung seines Gesundheitszustandes wieder inhaftiert werden kann, ist eine erneute Freiheitsentziehung bei einer solchen Erledigung nicht mehr möglich. Jedoch hat die Erledigung der Maßregel nach § 67d Abs. 6 Satz 2 StGB zur Folge, dass mit der Entlassung aus dem psychiat-

39 OLG Celle, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1967, S. 692. 40 OLG Hamm, B v. 15.1.2009, 4 Ws 16 / 09.

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rischen Krankenhaus eine so genannte Führungsaufsicht eintritt. Im Rahmen einer solchen Führungsaufsicht, einer so genannten ambulanten Maßregel der Besserung und Sicherung, können dem Entlassenen eine Fülle unterstützender, aber auch der Überwachung dienender „Weisungen“ (§ 68b StGB) auferlegt werden, um eine künftige Straffreiheit sicherzustellen. Im geschilderten Fall begründete das OLG Hamm seine Erledigungsentscheidung wegen Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Unterbringung damit, dass die „bloße Möglichkeit“, dass der Maßregelinsasse „auch schwere Sexualstraftaten unter Einsatz massiver körperlicher Gewalt verüben“ könne, u.a. aufgrund seines Alters und seiner schweren Krebserkrankung „nicht sehr nahe liege“. Einer eventuell verbleibenden Gefährlichkeit könne mit geeigneten Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht wirksam begegnet werden.⁴¹ Damit und unter Hinzuziehung der für den Bereich der Strafunterbrechung referierten Rechtsprechung können die Vorgaben für den Umgang mit todkranken Maßregelinsassen mit nur noch begrenzter Lebenserwartung präzisiert werden.⁴² Ist bei einem schwer kranken Untergebrachten eine Besserung seines Gesundheitszustandes und damit ein Wiederaufleben seiner Gefährlichkeit nicht ausgeschlossen, kommt für beide Maßregeln nach § 63 und nach §§ 66 – 66b StGB eine Unterbrechung nach § 455 StPO in Betracht. Mangels Vorliegen einer Sonderregelung können todkranke Sicherungsverwahrte ebenfalls nur über eine Unterbrechung nach § 455 StPO in Freiheit gelangen, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des OLG Hamburg bei einer reduzierten Gefährlichkeit jedoch über den Wortlaut dieser Vorschrift hinaus. Wie bereits erwähnt, ist generell zu beachten, dass dann, wenn die betreffenden in Psychiatrie oder Sicherungsverwahrung Untergebrachten nicht mehr gefährlich sind, die Unterbringung zur Bewährung auszusetzen ist. Praktisches Beispiel wäre ein dauerhaft bettlägeriger Maßregelinsasse. Im Übrigen ist bei einem todkranken, aber noch gefährlichen im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten stets zu prüfen, ob und zu welchem Zeitpunkt nach § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB die Erledigung der Maßregel wegen Unverhältnismäßigkeit zu erfolgen hat. Bei dieser Entscheidung sind verschiedene Gesichtspunkte zu beachten: die Verpflichtung des Staates zur Wahrung der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG,

41 Vgl. auch die Entscheidung OLG Hamburg, NStZ-RR 2005, 40: Erledigungserklärung bei einem 67-Jährigen, der sich über 15 Jahre im Maßregelvollzug befand, trotz einer Gefahr, dass der Untergebrachte im Falle erneuter Straffälligkeit wiederum Kulturgüter von unschätzbarem Wert beschädigen oder zerstören werde. 42 Fiedeler (2003), S. 25 f. wählt als Oberbegriff den der begrenzten Lebenserwartung, um darunter Fälle unheilbarer Erkrankungen und hohen Alters zu subsumieren. Mir scheint es dagegen sinnvoller die Krankheit mit der begrenzten Lebenserwartung zu kombinieren, da bei einer begrenzten Lebenserwartung aufgrund hohen Alters auch immer Krankheiten eine entscheidende Rolle spielen werden.

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zu der auch ein Sterben in Würde gehört, die geschätzte Dauer der Lebenserwartung und die Schwere der Erkrankung,⁴³ die Möglichkeit des Zugangs dem Betroffenen nahestehender Personen,⁴⁴ die Dauer der bisherigen Unterbringung,⁴⁵ die möglicherweise mit einer häufigen Verlegung in vollzugsinterne und –externe Krankenhäuser verbundenen Belastungen⁴⁶ sowie die vermutete Gefahr neuer Straftaten.⁴⁷ Bei letzterer ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die infolge der Erledigung einer Unterbringung nach § 67d Abs. 6 Satz 2 StGB eintretende Führungsaufsicht in der Lage sein sollte, die Gefährlichkeit des in einer Maßregel nach § 63 StGB Untergebrachten auf ein vertretbares Maß zu reduzieren. Im Regelfall sollte daher ein sich qua längerer Krankheit abspielendes Versterben im Maßregelvollzug ausgeschlossen sein. Vor jeder Entscheidung nach § 455 StPO oder auch nach § 67d Abs.  6 StGB ist dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung Rechnung zu tragen, wozu auch die Einholung von Sachverständigengutachten zur Einschätzung des Gesundheitszustandes und der Gefährlichkeit gehören kann. Bei der gerichtlichen Überprüfbarkeit ist der Zeitaspekt zu beachten, d.h. die Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes darf nicht dadurch unmöglich gemacht werden, dass durch den zwischenzeitlichen Tod dem Anliegen des Untergebrachten, in Freiheit sterben zu können, nicht mehr Rechnung getragen werden kann.⁴⁸ Insgesamt muss Haftvermeidung daher Priorität gegenüber allen Bemühungen haben, das Sterben im Vollzug zu erleichtern.⁴⁹ Dabei muss auch bedacht werden, dass ein Sterben lassen im Straf- wie im Maßregelvollzug nicht nur negative Rückwirkungen auf den Betroffenen und die ihm nahestehende Personen haben kann, sondern auf zwei weitere Personengruppen: zum einen auf andere Mituntergebrachte, die dies als Zeichen einer unbarmherzigen Justiz deuten könnten;⁵⁰ zum anderen auf Bedienstete, die der Belastung ausgesetzt sind, einen Insassen eines Tages tot aufzufinden.⁵¹

43 Zu letzterer vgl. für den Bereich des Strafvollzugs Neuhaus (2009), S. 1027. 44 Vgl. die zuvor erörterte Entscheidung des OLG Hamburg, NStZ-RR 2006, 285. 45 Diese hat nach feststehender Rechtsprechung (vgl. die Leitentscheidung BVerfGE 70, 297) immer in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einzugehen. 46 BVerfG, B v. 9.3.2010, 2 BvR 3012 / 09. 47 Dazu die oben genannten Entscheidungen des OLG Hamburg, NStZ-RR 2006, 285 und des BVerfG, B v. 9.3.2010, 2 BvR 3012 / 09. 48 Für den Bereich des Strafvollzugs nennt Fiedeler (2010b), S. 184 drei Probleme, die dazu führten, dass eine Entlassung in Freiheit zu spät komme: das Fehlen eine Anspruchs auf unverzügliche Beendigung des Strafvollzugs, Rechtsverweigerungen durch Vollzugsbehörden sowie spezifisch faktische Probleme im Umgang mit Sterben und Tod. 49 Oberfeld (2009), S. 237. 50 Plastisch geschildert von Stieber (2003), S. 290 mit der berichteten Reaktion von Gefangenen: „Die lassen den hier verrecken.“ 51 Zu dieser Überlegung Fiedeler (2004), S. 100.

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5 Aspekte menschenwürdigen Sterbens im Maßregelvollzug Nach dem bisher Ausgeführten dürfte es schwierig sein, sich eine Personengruppe vorzustellen, bei der über das Gewährleisten eines menschenwürdigen Sterbens im Maßregelvollzug nachgedacht werden muss. Lediglich zwei Konstellationen erscheinen in diesem Zusammenhang praxisrelevant. Zum ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass es – in der Regel dann wegen einer im (juristischen) Sinne krankhaften seelischen Störung (wie etwa einer Psychose) – Untergebrachte gibt, bei denen schwere Straftaten trotz eines absehbaren Lebensendes (noch) nicht ausgeschlossen werden können.⁵² Zum anderen dürften, und dies vermutlich in einem zahlenmäßig bedeutenderen Maße, Personen existieren, die nach einem langen, bisweilen jahrzehntelangen Aufenthalt im Maßregelvollzug den Wunsch besitzen, dort auch zu versterben.⁵³ Michael Skirl, Direktor einer Langstrafenanstalt im nordrhein-westfälischen Werl, in der auch Sicherungsverwahrte untergebracht sind, hat dieses Phänomen wie folgt beschrieben:⁵⁴ „Wird das Lebensende absehbar, so manifestiert sich bei einem Teil der Moribunden der Wunsch, ganz bewusst und selbstbestimmt in dem seit Jahrzehnten vertrauten sozialen Milieu, d.h. auf seiner Haftabteilung in seinem Haftraum sterben zu wollen. […] Dieser Wunsch, in der zur Heimat gewordenen Umgebung, im Kreise der vertrauten Bediensteten wie der Mitgefangenen sterben zu wollen, anstatt für die letzten Lebenswochen in eine völlig fremde Einrichtung außerhalb des Vollzuges entlassen zu werden, deckt sich inhaltlich mit den Grundgedanken der Hospizbewegung.“ Als ein weiteres ergänzendes Motiv für das Anliegen, im Gefängnis sterben zu wollen, nennt der Anstaltsseelsorger Rolf Stieber die Überlegung, „es der Justiz so schwer wie möglich zu machen“ und „sich nicht als Sterbenden ‚abschieben‘ zu lassen.“⁵⁵ Für beide genannte Gruppen gilt, dass negative Rahmenbedingungen der totalen Institutionen Gefängnis oder Maßregeleinrichtung einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und Sterben hinderlich sind. Stieber benennt als solche negativen Charakteristika „die auf Dauer alle Beziehungen zersetzende Macht des Misstrauens, die echte menschliche Kommunikation behindert oder auch verhindert […], die Allge-

52 So auch Wulf / Grube im vorangehenden Beitrag, der aber stärker auf solche Gefangene ausgerichtet ist, „bei denen nach medizinischer Feststellung der Sterbevorgang eingesetzt hat.“ In diesem Fall sei laut Wulf / Grube eine Gefährlichkeit ausgeschlossen. (→ s. Kap. 4.15, Wulf / Grube) 53 So auch die Einschätzung des Anstaltsarztes der JVA Werl, Bausch-Hölterhoff (2004), S. 98: „Eine größer werdende Zahl tödlich erkrankter Patienten wünscht den Verbleib in Einrichtungen des Justizvollzuges, lehnt explizit eine Entlassung in Krankheit, Siechtum und zum Sterben in extramurale Einrichtungen ab.“ 54 Skirl (2003), S. 284. 55 Stieber (2003), S. 287 unter Hinweis auf zwei Fallbeispiele.

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genwart von Be- und Verurteilungen sowie von der Reduktion eines gelebten Lebens auf die dunklen Seiten der Tat(en) und der Schuld […], durch die eine aufrichtige und wahrhaftige Lebensbilanz oft verzerrt und dadurch der Prozess einer inneren Versöhnung mit dem eigenen Lebensschicksal noch erschwert wird“ sowie den Umstand, dass die gesamte Lebensorganisation im Vollzug keinen Platz für die Übernahme von Verantwortung zulasse.⁵⁶ Akzeptiert man den Umstand, dass sich in extremen Ausnahmefällen ein Sterben im Maßregelvollzug (und im Gefängnis) nicht gänzlich vermeiden lassen wird,⁵⁷ gilt es das Augenmerk darauf zu richten, wie die Rahmenbedingungen für ein menschenwürdiges Sterben verbessert werden können. Eine Arbeitsgruppe „Begleitung Schwerkranker und Sterbender“ der Justizvollzugsanstalt Hövelhof in NordrheinWestfalen hat dafür ein Bündel möglicher Maßnahmen erarbeitet, die hier für die Gruppe der Maßregelinsassen in komprimierter und leicht veränderter Form wiedergegeben werden sollen:⁵⁸ ein frühzeitiges Ansprechen der Möglichkeit einer lebensbedrohlichen Situation mit der Klärung, ob eine vorzeitige Entlassung gewünscht (und möglich) ist;⁵⁹ die Umstellung von Diagnostik und Therapie auf palliativmedizinische Grundsätze; die Umstellung der pflegerischen Betreuung auf Palliativpflege; eine personalisierte Pflege in jeder Schicht; Ermöglichung eines unbürokratischen Zugangs zum Psychologen, Psychiater, Seelsorger, Sozialdienst und zu vollzuglichen Entscheidungsträgern; ein erweitertes Angebot von Freistunden; ein Angebot von Wunschkost nach Absprache; die Erlaubnis einer verbesserten Ausstattung des Haftraums; reduzierte Haftraumkontrollen; eine Ausdehnung der Besuchszeiten bei variabler Zeitgestaltung sowie eine Erweiterung der Telefonerlaubnis. Eine andere Frage ist allerdings, ob und welche Ressourcen nicht nur finanzieller Art vorhanden sind, diese Maßnahmen im Maßregelvollzug sicherzustellen.⁶⁰

56 Stieber (2003), S. 289. 57 Vgl. aber Fiedeler (2010b), S. 196, die sich kategorisch gegen die „Schaffung hospizähnlicher Einrichtungen im Vollzug“ wendet. 58 Vgl. die Darstellung bei Oberfeld (2009), S. 238; s. auch die ähnlichen Überlegungen von Stieber (2003), S. 290. 59 Hierzu schildert Bausch-Hölterhoff (2004), S. 96 anschaulich die ambivalenten Gefühle, die mit der Diagnose einer schweren Krankheit angesichts einer daraus resultierenden möglichen Entlassung verbunden sein können. 60 Vgl. auch Skirl (2003), S. 285.

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6 Abschließende Thesen 1. Bei einer in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Person muss im Falle einer tödlichen Erkrankung mit nur noch begrenzter Lebenserwartung das Ziel im Vordergrund stehen, den Betreffenden in Freiheit sterben zu lassen. 2. Rechtliche Rahmenbedingungen für diese Vorgehensweise bestehen vor allem in der sogenannten Unterbrechung der Maßregel nach § 455 StPO wie auch der Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB speziell für im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachte. 3. Bei todkranken Sicherungsverwahrten kommt eine Unterbrechung der Maßregel und damit eine Entlassung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des OLG Hamburg auch über den Wortlaut des § 455 StPO hinaus in Betracht, wenn ihre Gefährlichkeit reduziert ist. 4. Bei todkranken, in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten hat eine Erledigungserklärung und damit die Entlassung aus dem Maßregelvollzug nach § 67d Abs.  6 StGB dann zu erfolgen, wenn die weitere Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre. 5. Gesichtspunkte, die sowohl für eine Haftunterbrechung bei der Sicherungsverwahrung als auch eine Erledigungserklärung der Maßregel nach § 63 StGB sprechen können, sind: die geschätzte Dauer der Lebenserwartung und die Schwere der Erkrankung, die Möglichkeit des Zugangs dem Betroffenen nahestehender Personen, die Dauer der bisherigen Unterbringung, die möglicherweise mit einer häufigen Verlegung in vollzugsinterne und  – externe Krankenhäuser verbundenen Belastungen sowie die vermutete Gefahr neuer Straftaten. 6. Vor ihrer Entscheidung haben Behörden und Gerichte das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung zu beachten. Die Organisation des Entscheidungsprozesses darf nicht dazu führen, dass es dem Untergebrachten ungerechtfertigt unmöglich wird, in Freiheit zu versterben. 7. Werden diese Maßstäbe eingehalten, erscheinen nur zwei Personengruppen denkbar, denen ein menschenwürdiges Versterben im Maßregelvollzug ermöglicht werden muss. Ganz ausnahmsweise bis zu ihrem Tode höchstgefährliche Maßregelinsassen sowie Personen, die nach zumeist langjähriger Unterbringung den Wunsch äußern, in der Maßregeleinrichtung zu versterben. 8. Für diese beiden Gruppen ist ein Bündel von Maßnahmen vorzusehen, die ein menschenwürdiges Versterben in Unfreiheit ermöglichen sollen.

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Dagmar Richter

4.17 Tod im staatlichen Gewahrsam Erhöhtes Sterberisiko für ausländische Menschen? Abstract: Ausländische Personen sind überall besonders gefährdet, weil sie leichter in Gewahrsam geraten, sich oft nicht verständigen können und stereotype Einschätzungen sich mitunter als lebensgefährlich erweisen. Der Beitrag behandelt Situationen des staatlichen, insbesondere polizeilichen Gewahrsams, die zum Tode gerade auch ausländischer Personen geführt haben: Todesfälle im Gefolge der gewaltsamen Verabreichung von Brechmitteln, der lagebedingte Erstickungstod (positionale Asphyxie) u.a. bei Fesselung und Knebelung zum Zwecke der Abschiebung sowie Fälle des Selbstmordes und der Selbstschädigung. Das sind keine Massenphänomene, doch bedürfen sie sorgfältiger juristischer Bewertung. Das besondere Augenmerk liegt dabei auf der Reichweite der staatlichen Schutzpflicht für Menschen, die sich aufgrund von Fesselung, Sistierung oder Inhaftierung in einer „besonders verletzbaren Lage“ befinden. Es wird gezeigt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention insoweit über das Grundgesetz hinausreicht, als sie etwa subjektive Rechte auf Ermittlung und Bestrafung beinhaltet oder die Ermittlungspflicht im Falle rassistischer Motivation verstärkt. Weitergehend können eine Reihe von Defiziten des geltenden Rechts und der Verwaltungspraxis identifiziert werden, auch Defizite bei der Aufarbeitung von Todesfällen (Fehlen jeder systematischen Datenerhebung, wenig abschreckende Bestrafungspraxis). Foreigners are more likely than nationals to die in state custody, as they are to be detained more easily, often do not speak the local language, and may even be subject to racist stereotyping with life-threatening consequences. This article deals with specific situations mainly occurring in police custody which have led to the death of foreigners, resulting, e. g., from the forced infusion of emetics, positional asphyxia in the context of tying and gagging during deportation, or cases of suicide or self-harming. Although the relevant cases do not amount to a mass phenomenon, they deserve particular attention and legal scrutiny. In examining certain forms of dangerous treatment the focus of the article is on the scope of the responsibility of the state to protect persons who find themselves “in a vulnerable position” because they are shackled or detained. The article points out that the European Convention on Human Rights goes beyond the standards of the German Basic Law to the extent that it enshrines certain individual rights such as the subjective right to investigation and punishment of perpetrators. It also intensifies the obligation of the state to investigate cases in which a racist motivation may have played a role. Moreover, certain shortcomings of contemporary law and practice can be identified, including shortcomings in the examination of fatal cases where there is a lack of any systematic data collection or

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Richter

documentation as well as a sentencing practice which falls short of establishing any credible deterrence. Keywords: Abschiebung, Brechmittel, Europäische Menschenrechtskonvention, Fesselung, Gewahrsam, Misshandlung, Positionale Asphyxie, Schutzpflicht, Selbstmord, Zwangsernährung

Prof. Dr. Dagmar Richter, Professurvertreterin an der Universität St. Gallen, [email protected].

1 Einführung: Ein Problem, das es nicht geben dürfte Das Sterben in Räumen, in denen der Staat die umfassende Kontrolle über Personen ausübt, d.h. im staatlichen Gewahrsam, hat im Laufe der Jahrhunderte an Schrecken verloren. Heutzutage lassen die Verfassungsstaaten ihre Gegner weder im Kerker verschmachten noch foltern sie sie gar zu Tode;¹ es kommt aber immer noch zu einzelnen Todesfällen, die zumeist durch mangelnde Sorgfalt und eher selten mit bedingtem Tötungsvorsatz herbeigeführt werden. Ungeachtet des großen Gewichts menschlichen Lebens ist die statistische Dokumentation der Todesfälle jedoch mehr als dürftig. Zum Beispiel besitzt die Bundesregierung eigenen Angaben zufolge „keine amtlichen Erkenntnisse“ darüber, wie viele Personen im zurückliegenden Jahr an den deutschen Landesgrenzen tot aufgefunden wurden.² Verantwortung kann der Bund auf einer solchen Faktenbasis weder nach innen gegenüber dem Parlament noch nach außen hin gegenüber der Europäischen Union oder menschenrechtlichen Vertragsorganen übernehmen. Welche anderweitigen Erkenntnisse vorliegen, wissen wir nicht. Offiziell zieht sich der Bund gerne auf Nichtwissen bzw. die im Außenverhältnis (d.h. völkerrechtlich) unerhebliche Verantwortung der Bundesländer zurück. Dem Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration (GASIM) liegen in der Tat lediglich die Daten der beteiligten Bundesbehörden vor, über die aber in den Antworten auf parlamentarische Anfragen ebenfalls nichts Genaueres bekannt wird. Wer sich dem Thema des Sterbens in staatlicher Gewalt widmen will, ist daher zumindest auch auf die mehr oder minder vollständigen Falldokumentationen von Nichtre-

1 Siehe allerdings zu den Zuständen im weltweiten Maßstab Manfred Nowak, Folter – Die Alltäglichkeit des Unfassbaren, 2012. – Die Fragen eines „natürlichen“ Todes in Strafanstalten behandeln → Kap. 4.16 Wulf / Grube, das Sterben im Maßregelvollzug → Kap. 4.17 Kinzig. 2 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage einzelner Abgeordneter und der Fraktion „Die Linke“, BT-Drs. 17 / 5686 vom 29.4.2011.

Tod im staatlichen Gewahrsam

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gierungsorganisationen für einzelne Bereiche, etwa Todesfälle unter Flüchtlingen,³ angewiesen. Der Tod im staatlichen, insbesondere polizeilichen Gewahrsam ist ein widersinniges Ereignis, da es Aufgabe der Polizei ist, Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwehren und nicht, Gefahr für Leib und Leben zu begründen. Allerdings steht der Schutz des menschlichen Lebens in den hier untersuchten Konstellationen nicht im Zentrum des polizeilichen Interesses, sondern gerät das Schutzgut Leben zumeist nur aus Anlass einer Amtshandlung in Gefahr. Betrachtet werden hier Situationen der Unfreiheit, die zu Todesfällen insbesondere zulasten von Ausländern und Ausländerinnen geführt haben.

2 Die Schutzpflicht des Staates 2.1 Grundgesetzliche Vorgaben Das Grundgesetz verbietet es dem Staat nicht nur zu töten, sondern auch, Gefährdungen zu unterlassen, sofern eine Verletzung des Rechts auf Leben ernsthaft zu befürchten ist.⁴ Darüber hinaus verpflichtet es ihn aber auch zum aktiven Schutz des Lebens.⁵ Dies leitet das Bundesverfassungsgericht vor allem aus einer Zusammenschau des Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG) mit der Menschenwürde und dem dort ausdrücklichen Schutzauftrag (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) ab: „Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur  – selbstverständlich  – unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. An diesem Gebot haben sich die einzelnen Bereiche der Rechtsordnung, je nach ihrer besonderen Aufgabenstellung, auszurichten. Die Schutzverpflichtung des Staates muß umso ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist. Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muß, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“⁶

3 Eine jährlich aktualisierte und mit Pressenachweisen belegte Aufstellung von Todesfällen unter Flüchtlingen veröffentlicht die „Antirassistische Initiative e.V.“, zuletzt „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen 2010“ (http: // www.anti-rar.de / doku / Dokumentation%202010.pdf). 4 Siehe zum Verbot der Gefährdung Hans D. Jarass (2011), Art. 2 Rn. 90. Umfassend Isensee (2011) S. 413 – 568. 5 Eingehend Hermes (1987). 6 Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 39, 1, 42 (Schwangerschaftsabbruch I).

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Später präzisierte das Bundesverfassungsgericht: „Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt.“⁷

Diese vor allem bezüglich der Abtreibungsproblematik entwickelte Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht auch in anderen Konstellationen herangezogen und weiter ausgeformt, so etwa mit Bezug auf den Abschuss von Verkehrsflugzeugen, die als Terrorwaffe missbraucht werden.⁸ Dabei versteht das Bundesverfassungsgericht unter „Menschenwürde“ (Art.  1 Abs. 1 GG) nicht nur ein Recht auf Schutz vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und dergl., sei es durch den Staat oder durch Dritte, sondern auch den Erhalt eines Mindestmaßes an freier Selbstbestimmung.⁹ Deshalb kann jedes Individuum verlangen, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden und darf nicht zum bloßen „Objekt des Staates“ herabgewürdigt werden.¹⁰ Ein Anspruch gegen den Staat darauf, ganz bestimmte Mittel zur Abwendung der Gefahr zu ergreifen, folgt daraus aber nicht; insbesondere bleibt dem Staat bei Güterkollisionen ein relativer weiter Ermessensspielraum, auch hinsichtlich der Frage, ob er ein bestimmtes Leben unter allen Umständen rettet.¹¹ Speziell im Zusammenhang mit dem Abschuss eines Verkehrsflugzeuges hob das Bundesverfassungsgericht allerdings hervor, dass es sich hier um eine Extremsituation handele, die „zudem durch die räumliche Enge eines im Flug befindlichen Luftfahrzeugs geprägt“ sei.¹² Dies bringe Passagiere und Besatzung typischerweise in einer für sie ausweglosen Lage, so dass sie ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen könnten. Gerade das mache sie aber zum Objekt. Dieser Gedanke lässt sich zumindest im Ansatz auf die Situation der Gefangenschaft übertragen. Denn auch hier ist das Individuum dem Staat völlig ausgeliefert; es kann sich infolge der räumlichen Abgeschlossenheit kaum mehr selbst vor Gefahren schützen und ist daher existentiell auf den Schutz des Staates angewiesen. Dessen ungeachtet wird im deutschen Recht der Anspruch von Gefangenen auf effektiven Schutz vor Mithäftlingen nur selten thematisiert.¹³ Auch lehnt die Recht-

7 BVerfGE 88, 203, 251 (Schwangerschaftsabbruch II). 8 BVerfGE 115, 118, 152 (Luftsicherheitsgesetz). 9 Auch zum Folgenden: BVerfGE 115, 118, 153 (Luftsicherheitsgesetz), m. w. N. 10 BVerfGE 115, 118, 153 (Luftsicherheitsgesetz), m. w. N. 11 BVerfGE 46, 160 ff. (Schleyer). Siehe auch Fink (2011), S. 151 (Rn. 39) m. w. N. 12 BVerfGE 115, 118, 154 (Luftsicherheitsgesetz). 13 Eine Ausnahme stellt insoweit die Kommentierung von Udo di Fabio zu Art. 2 GG dar, di Fabio (2004), Rn. 62. Ähnlich in allgemeiner gehaltener Form Murswiek (2011), Art. 2 Rn. 24.

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sprechung bislang einen grundrechtlichen Anspruch des Opfers bzw. seiner Angehörigen auf Strafverfolgung ab.¹⁴ Die Literatur äußert sich zum Teil zwar differenzierter, vermeidet es aber ebenfalls, klar von einer subjektivrechtlichen Position zu sprechen.¹⁵ Insoweit bleibt die Reichweite des Lebensschutzes nach dem Grundgesetz hinter dem Standard der EMRK zurück.¹⁶

2.1.1 EMRK 2.1.1.1 Bedeutung der Konvention im deutschen Recht Die hier zu behandelnden Fälle können ohne Einbeziehung der einschlägigen Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs zum Recht auf Leben nach Art.  2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)¹⁷ nicht angemessen bewertet werden. Dieser im Rahmen des Europarats geschlossene völkerrechtliche Vertrag ist durch das deutsche Vertragsgesetz Bestandteil des deutschen Bundesrechts geworden (Art.  59 Abs.  2 Grundgesetz), und zwar in seiner jeweils aktuellen Gestalt. Damit unterfällt die EMRK automatisch dem Gesetzmäßigkeitsprinzip des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz, wonach vollziehende Gewalt und Rechtsprechung „an Gesetz und Recht gebunden“ sind. Die Konvention ist in Deutschland aber nicht nur geltendes Recht, sondern es kann sich auch jeder Mensch vor allen Behörden und Gerichten in Deutschland selbst auf die EMRK (genauer: das EMRK-Vertragsgesetz) berufen. Welchen Rang die EMRK dabei innerhalb des deutschen Rechts hat, ist zwar nach wie vor umstritten.¹⁸ Das Bundesverfassungsgericht hat aber klargestellt, dass sie grundsätzlich nicht durch nachfolgendes (abweichendes) Bundesrecht verdrängt wird¹⁹ und zudem als Auslegungshilfe für die Grundrechte des Grundgesetzes dient,²⁰ womit der EMRK de facto in vielen Fällen

14 BVerfG 51, 176, 187; BVerfG (Kammer), NJW 2002, 2859 f.: Es gibt grundsätzlich keinen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Strafverfolgung eines Anderen durch den Staat, selbst bei etwaiger Verletzung der Menschenwürde durch Dritte nicht. 15 Siehe etwa Kunig (2012), Art. 2 Rn. 57: Aufhebung der Strafbarkeit von Völkermord, Mord, Totschlag, Kindestötung und fahrlässiger Tötung wäre verfassungswidrig. Siehe auch Murswiek (2011), Art. 2 Rn. 191: Der Gesetzgeber ist grundsätzlich verpflichtet, Verletzungen von Leben und körperlicher Unversehrtheit mit Strafsanktionen zu bedrohen. Für Starck (2010), Art. 2 Abs. 2 Rn. 191, gilt: Je höher das Rechtsgut, umso schärfer muss der Staat mit Verboten und Sanktionen schützen. 16 Kritisch Alleweldt (2006), Kap. 10, Rn. 111. Siehe zur Rechtsprechung des EGMR im Folgenden. 17 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4.11.1950 in der Fassung des Protokolls Nr. 14 vom 13.5.2004 (BGBl. 2002 II 1054, 2006 II 139; CETS Nrn. 5, 194). 18 Eingehend dazu Grabenwarter / Pabel (2012), S. 18 – 21; Grabenwarter (2009), S. 39 – 45; jeweils m.w.N. 19 BVerwGE 110, 203, 214. 20 Grundlegend BVerfGE 74, 358, 370.

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Verfassungsrang zukommt. Außerdem ist bei der Auslegung der EMRK auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) „maßgeblich zu berücksichtigen“.²¹ Das heißt, deutsche Gerichte und Behörden müssen ihr grundsätzlich folgen, wenn nicht überragend wichtige Interessen dem entgegenstehen oder Konfliktlagen dies (angeblich) ausschließen.

2.1.1.2 Schutzverantwortung für Gefangene aufgrund „besonders verletzbarer Lage“ Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) stellt gemeinsam mit Art. 3 EMRK (Verbot der Folter, grausamer oder erniedrigender Behandlung) einen der Grundwerte jener demokratischen Gesellschaften dar, aus denen der Europarat besteht.²² Daraus folgen gesteigerte Anforderungen im Hinblick auf das Ausmaß der Schutzverpflichtung wie auch für die Aufklärung, Bestrafung der Schuldigen und Entschädigung im Falle der Verletzung. Der EGMR hat in zahlreichen Entscheidungen zu Art. 2 EMRK immer wieder die besondere Schutzverantwortung der Vertragsstaaten für Personen betont, die sich in staatlichem Gewahrsam befinden.²³ Er argumentiert dabei mit einer „besonders verletzbaren Lage“, die z.B. im Falle von Gefangenen kompensatorisch ein gesteigertes Recht auf Schutz begründet.²⁴ Art. 2 EMRK erfasst dabei nicht nur die vorsätzliche, sondern auch alle unbeabsichtigte Formen der Tötung.²⁵ Mit Blick auf die oft schwierige Beweisführung hat der EGMR eine zentrale Grundregel etabliert: „Wenn eine Person in guter Gesundheit in Polizeihaft genommen wird und man bei ihrer Entlassung Verletzungen feststellt, obliegt es deswegen dem Staat, eine plausible Erklärung für den Grund der Verletzungen zu geben (…). Die Verpflichtung der Behörden, die Behandlung einer in Haft befindlichen Person zu rechtfertigen, ist umso größer, wenn diese Person gestorben ist.“²⁶

21 BVerfGE 111, 307, 323 f. (Görgülü). 22 EGMR (Große Kammer), Beschwerde-Nr. 21986 / 93, § 97 – Salman (deutsche Übersetzung in Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 2001, S. 2001 ff.) 23 Speziell zu den Schutzpflichten im Fall staatlichen Gewahrsams: Kälin / Künzli (2008), S. 327 f. Siehe auch Grabenwarter / Pabel (2012), S. 157 f. (§ 20 Rn. 20), mit Nachweis. 24 EGMR (Große Kammer), Beschwerde-Nr. 21986 / 93, § 99 – Salman (deutsche Übersetzung in NJW 2001, 2001 ff.; EGMR, Nr. 38361 / 97, § 110 – Anguelova. Siehe auch Jesuit Refugee Service-Europe, Becoming Vulnerable in Detention – Civil Society Report on the Detention of Vulnerable Asylum Seekers and Irregular Migrants in the European Union, June 2010 (www.jrseurope.org). 25 EGMR (Große Kammer), Beschwerde-Nr. 21986 / 93, § 98 – Salman (deutsche Übersetzung in NJW 2001, 2001 ff. 26 EGMR (Große Kammer), Beschwerde-Nr. 21986 / 93, § 99 – Salman, hier in der deutschen Übersetzung nach NJW 2001, 2001, 2003. Siehe zuvor bereits EGMR, Nr. 25803 / 94, § 87 m.w.N. – Selmouni (= NJW 2001, 56 ff.). Anders noch EGMR, Beschwerde-Nr. 15473 / 89, §§ 29 ff. – Klaas, wo der EGMR sich noch wesentlich auf die Sachverhaltsfeststellungen der Gerichte im Vertragsstaat (hier Deutschland) stützte.

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Die Vertragsstaaten, z.B. Deutschland, müssen die ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen aber auch vor Misshandlungen durch Privatpersonen schützen: Sobald die Behörden wissen oder wissen müssen, dass einem Häftling Gefahr durch Mitgefangene droht, sind sie „im Rahmen des Zumutbaren“ zur Ergreifung der erforderlichen Schutzmaßnahmen verpflichtet.²⁷ Sie dürfen deshalb z.B. Gefangene, die einer bestimmten ethnischen Gruppe angehören, nicht mit einer Übermacht von Angehörigen einer anderen, dieser feindlich gesonnenen Gruppe zusammenlegen.²⁸

2.1.1.3 Pflicht zu wirksamer Ermittlung und Bestrafung im Todesfall Art.  2 EMRK beschränkt sich aber nicht darauf, Tötungen zu verbieten bzw. die Staaten zum Schutz vor Tötung zu verpflichten, sondern verlangt in jedem eingetretenen Tötungsfall, dass „wirksame Ermittlungen“ aufgenommen werden.²⁹ Zudem folgt aus Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde), dass das innerstaatliche (!) Recht den Betroffenen wegen der behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK einen effektiven Rechtsbehelf zu einer unabhängigen Entscheidungsinstanz verschaffen muss. Insoweit gilt: „Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung des Rechts auf Leben verlangt Art. 13 EMRK außer der Zahlung von Schadensersatz – wo das angemessen ist – gründliche und wirksame Ermittlungen, die dazu geeignet sind, die für den Tod Verantwortlichen zu identifizieren und zu bestrafen, einschließlich eines wirksamen Zugangs des Bf. zu dem Ermittlungsverfahren (…).“³⁰

Die Bestrafungspflicht besteht jedoch nicht zwingend in Fällen der bloß fahrlässigen Tötung. Insoweit genießen die Vertragsstaaten der EMRK einen gewissen Gestaltungsspielraum (“margin of appreciation“), ob sie das Strafrecht zum Schutze des Lebens einsetzen oder aber ernst zu nehmende zivilrechtliche Konsequenzen (z.B. Schadensersatz) oder disziplinarische Maßnahmen genügen lassen wollen – sofern sich diese jedenfalls als wirksam im Hinblick auf den Lebensschutz darstellen.³¹ Gesteigerte Anforderungen an die Effektivität der Untersuchung von Todesfällen ergeben sich, wenn diese rassistisch motiviert waren (Art. 2 i.V.m. Art. 14 EMRK). Im Fall Angelova und Iliev (2007) führte der EGMR dazu aus:

27 EGMR, Beschwerde-Nr. 46477 / 99, § 55 – Paul and Audrey Edwards; Nr. 33343 / 96, § 189 f. – Pantea. Siehe auch Pohlreich (2011), S. 561. 28 Siehe zu einem Fall serbischer und kroatischer Bf., die ihre Strafe wegen Kriegsverbrechen zulasten bosnischer Opfer in einem Gefängnis mit ganz überwiegend bosnischen Strafgefangenen verbüßen mussten, EGMR, Beschwerde-Nr. 22893 / 05, § 64 ff. – Rodić. 29 Siehe etwa EGMR, Beschwerde-Nr. 18984 / 91, § 161 – McCann; Reports 1998-I, § 105 – Kaya. 30 EGMR (Große Kammer), Beschwerde-Nr. 21986 / 93, § 121 – Salman, hier in der deutschen Übersetzung nach NJW 2001, 2001, 2005. Siehe zuvor bereits EGMR, Reports 1998-I, § 107 – Kaya. 31 Std. Rspr.; siehe u.a. EGMR, Beschwerde-Nr. 32967 / 96 (ECHR 2002-I), § 51 – Calvelli and Ciglio; Beschwerde-Nr. 53924 / 00, § 90 – Vo.

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„… Moreover it [the Court] would add that, where that attack is racially motivated, it is particularly important that the investigation is pursued with vigour and impartiality, having regard to the need to reassert continuously society’s condemnation of racism and to maintain the confidence of minorities in the ability of the authorities to protect them from the threat of racist violence (…).“³²

3 Fallpraxis Eine Auswertung der Todesfälle im staatlichen Gewahrsam zeigt, dass es eine Reihe von Situationen oder Amtshandlungen gibt, bei denen es immer wieder in ähnlicher Weise zu Tod oder schwerwiegender Verletzung kommt. Das legt es nahe, die Todesfälle nicht nach ihrem räumlich-institutionellen Zusammenhang (z.B. Abschiebehaft, Festnahmesituation), sondern anhand der Art des Todes bzw. dessen Ursachen zu behandeln.

3.1 Misshandlung Es dürfte kaum Staaten auf der Welt geben, in denen Übergriffe der Polizei, des Militärs oder anderer bewaffneter Institutionen zulasten Einzelner, insbesondere Gefangener, völlig auszuschließen sind. Selbst in Staaten des Europarats ist das Thema „Tod nach Folter in Polizeihaft“ immer noch virulent.³³ Nach dem jüngsten Prüfbericht des Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung oder Strafe (CPT-Ausschuss) wurden in Deutschland keine Hinweise auf Misshandlungen von Personen während der Dauer ihrer Haft in Polizeieinrichtungen gefunden; es wurden jedoch, auch von jugendlichen Betroffenen, vereinzelt Vorwürfe über exzessive Gewaltanwendung durch Polizeibeamte (insbesondere Schläge und Tritte, nachdem die betroffene Person schon unter Kontrolle gebracht war) erhoben.³⁴ Anhaltspunkte für die Misshandlung ausländischer Personen in Abschiebehaft und dergleichen fand die Delegation gar nicht; dagegen spielt vor allem in Jugendstrafanstalten die Misshandlung durch Mitgefangene eine gewisse Rolle.³⁵ Der CPT-Ausschuss stellte fest, dass Misshandlungen durch Mitgefangene in Deutschland grundsätzlich nur

32 EGMR (Große Kammer), Beschwerde-Nr. 555523 / 00, § 98 – Angelova und Iliev. Siehe auch Grabenwarter / Pabel (2012), S. 161. 33 Siehe z.B. EGMR, Beschwerde-Nr. 21986 / 93, NJW 2011, 2001 ff. (Salman v. Turkey). 34 Bericht vom 8.7.2011 an die deutsche Regierung über den Besuch des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung oder Strafe in Deutschland (CPT) vom 25. November bis 7. Dezember 2010, § 14 (deutsche Übersetzung) (http: // www.cpt.coe. int / documents / deu / 2012 – 06-inf-deu.pdf. 35 Siehe CPT-Bericht (Anm. 34), §§ 35, 52.

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dann der Anstaltsleitung gemeldet würden, wenn die gefangene Person zustimmt, und empfahl, „die bestehenden Abläufe zu überprüfen“, d.h. sicherzustellen, dass alle medizinisch dokumentierten Verletzungen, die auf Misshandlung deuten, automatisch der Staatsanwaltschaft unterbreitet würden.³⁶ Die außenstehende Instanz schärft hier den Blick auf das Naheliegende. Denn man kann von einer gefangenen Person nicht ernstlich verlangen, Mitgefangene, die sie peinigen, der Anstaltsleitung zu melden; vielmehr ist der Staat verpflichtet, misshandelte Gefangene aktiv vor weiteren Verletzungen, die gerade auch in Vergeltung der angesonnenen Meldung drohen (!), zu schützen. Das mutmaßliche Interesse der gefangenen Person an der Selbstbestimmung über ihre Daten darf dem Staat keinesfalls als Ausrede dienen, seiner Schutzaufgabe für Leben und Gesundheit nicht bzw. nur in untauglicher Weise nachzukommen.

3.2 Verabreichung von Brechmitteln Im Rahmen der Bekämpfung der Drogenkriminalität ist die Polizei häufig mit dem Problem konfrontiert, dass verdächtige Personen kurz vor ihrer Ergreifung und Durchsuchung jene Drogen, die sie bei sich tragen, noch schnell herunterschlucken. Diese sind i.d.R. schon in schluckbare Kügelchen („bubbles“) verpackt. Für die Polizei ergeben sich in dieser Situation zwei Möglichkeiten: entweder die natürliche Ausscheidung abzuwarten oder der verdächtigen Person Brechmittel zu verabreichen. Die erstgenannte Möglichkeit hat den Nachteil, dass die Kügelchen im Körper aufplatzen können und in diesem Falle akute Lebensgefahr besteht;³⁷ zudem kann die Wartezeit so lange sein, dass eine richterliche Überprüfung der Haft erforderlich wird. Aus diesem Grunde hatte es sich in vielen deutschen Bundesländern eingebürgert, den Verdächtigen auf der Grundlage von § 81 a StPO Brechmittel nötigenfalls zwangsweise zu verabreichen. Diese Vorgehensweise hat in einigen Fällen zum Tode geführt, wobei in den bekannt gewordenen Fällen ausnahmslos Ausländer betroffen waren. Die gewaltsame Verabreichung von Brechmitteln wurde regelmäßig damit gerechtfertigt, dass das Leben der verdächtigen Person durch ein mögliches Aufplatzen der geschluckten Drogenpäckchen im Körper akut gefährdet sei.³⁸ Dagegen spricht allerdings, dass die Betroffenen, solange sie bei klarem Bewusstsein sind, als Ausdruck ihres Persönlichkeitsrechts und ihrer Autonomie (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1

36 Siehe CPT-Bericht (Anm. 34), § 76. 37 Eingehend zum sogenannten „Bodypacker-Syndrom“ Püschel, Klaus / Schulz, Friedrich / Iwersen, Stefanie / Schmoldt, Achim (1995), S. 355 – 358. Der Beitrag weist insbesondere darauf hin, dass halbstündliche Kontrollbesuche in der Zelle nicht genügen, um eine tödliche Intoxikation auszuschließen (ibid. S. 357). 38 KG Berlin, NStZ-Rechtsprechungsreport (RR), R 2001, 204, 205.

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Abs. 1 GG) auch das Recht zur Selbstgefährdung besitzen. Zwar könnte man argumentieren, dass im Falle des Aufplatzens die Intoxikation so heftig und schnell eintritt,³⁹ dass jede Hilfe dann zu spät käme, so dass das provozierte Erbrechen immer ein therapeutischer Eingriff sei.⁴⁰ Aber mit demselben Argument könnte man jede besonders effektive Form der Selbsttötung unterbinden, was nicht dem Bild des Grundgesetzes vom selbstbestimmten Individuum entspricht.⁴¹ Vertreten wird auch, dass es gegen die Unschuldsvermutung verstößt, wenn dem Körper eines Verdächtigen Beweismittel gewaltsam abgerungen werden, die dieser nicht freiwillig preisgeben würde.⁴² Die Person wird aber nicht gezwungen, sich durch eigene Aussagen oder Handlungen selbst zu belasten, sondern der Staat übt unmittelbaren Zwang an ihrem Körper aus. Man könnte allenfalls argumentieren, das erzwungene Auswürgen der Drogenkügelchen stehe der abgenötigten verbalen Selbstbelastung gleich, lasse gewissermaßen den Körper selbst „sprechen“. Verletzt der zwangsweise Einsatz von Brechmitteln die Menschenwürde? Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (Kammer 1999) ist dies jedenfalls nicht prinzipiell der Fall.⁴³ Entsprechend entschied auch das KG Berlin (2001), dass der Beschuldigte wegen des öffentlichen Interesses an einer funktionierenden Strafrechtspflege unter Umständen auch die zwangsweise Entleerung seines Mageninneren dulden müsse; die Maßnahme verletze weder die Menschenwürde noch sei sie mit Blick auf das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit unverhältnismäßig.⁴⁴ Dagegen erkannte das OLG Frankfurt (1997) einen Verstoß gegen die Menschenwürde, weil dem Verdächtigen eine körperliche Reaktion aufgezwungen werde, die als Ergebnis medikamentöser Einwirkungen völlig unabhängig von seinem Willen ablaufe; auch sei der Vorgang als solcher entwürdigend.⁴⁵ Man erkennt an dieser Situation, dass auch die Bewertung dessen, was entwürdigend und damit schlechterdings verboten ist, dem Wandel der Anschauungen unterliegt. Aus heutiger Sicht geht es freilich nicht mehr um eine entwürdigende, sondern um eine lebensgefährliche Maßnahme, wobei in dieser Fallkonstellation die im psychischen Bereich ansetzende Menschenwürde und die Lebensgefahr für den menschlichen Körper zusammentreffen.

39 Siehe Anm. 37. 40 Siehe auch Binder / Seemann (2002), S. 235 mit ähnlichem Ergebnis wie hier. 41 Siehe auch zur Gegenauffassung noch unten 3.4.1. m. N. 42 Anderer Auffassung ausdrücklich BVerfG (Kammer), NStZ 2000, 96. 43 Dazu im Folgenden 3.2.1. 44 KG Berlin, NStZ-RR 2001, 204. Ebenso bereits Benfer (1998). 45 OLG Frankfurt, NJW 1997, 1647, 1648; ebenso Dallmeyer (1997). Siehe auch Klaus Rogall, Die Vergabe von Vomitivmitteln als strafprozessuale Zwangsmaßnahme, in: NStZ 1998, 66, 66: OLG Frankfurt habe Anwendung „de facto für unstatthaft erklärt“.

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3.2.1 Der hamburgische Brechmittelfall und die Position des Bundesverfassungsgerichts Der erste Todesfall im Zusammenhang mit der polizeilich erzwungenen Einnahme von Brechmitteln betraf den Kameruner Achidi J., der im Dezember 2001 von Drogenfahndern in Hamburg aufgegriffen worden war. Nachdem man ihm in einem Krankenhaus gewaltsam per Magensonde Brechmittel und Wasser eingefüllt hatte, erlitt er einen Herzstillstand, fiel ins Koma und verstarb wenige Tage später. Auch wenn dieser Fall, soweit erkennbar, zu keiner gerichtlichen Entscheidung geführt hat, setzte er einen Prozess des Überdenkens bei den zuständigen Landesministern und -ministerinnen in Gange, die teilweise – wie gerade der Hamburger Justizsenator – nur von einem bedauerlichen Einzelfall sprachen, teilweise die Praxis aber auch sofort untersagten.⁴⁶ Schon 1999 hatte das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen die gewaltsame Gabe von Emetika nicht zur Entscheidung angenommen, weil der Rechtsweg nicht erschöpft war.⁴⁷ Obiter dictum sprach das Gericht gleichwohl schon von einer Maßnahme, „die auch im Hinblick auf die durch Art.  1 Abs.  1 GG geschützte Menschenwürde und den in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG enthaltenen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht begegnet“. Etwa zwei Wochen nach dem Beschluss der Kammer stellte die Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts per Pressemitteilung klar, dass die Nichtannahme aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde erfolgt sei; „[d]ie verfassungsgerichtliche Entscheidung gibt also keine Auskunft darüber, ob die Verabreichung der Brechmittel, die jedenfalls im Hinblick auf die durch Art.  1 Abs.  1 geschützte Menschenwürde und den in Art.  1 Abs.  1 GG enthaltenen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht begegnet, verfassungsrechtlich zu beanstanden war oder nicht.“⁴⁸ Mit dieser durchaus umständlichen Formulierung zog sich das Bundesverfassungsgericht auf die rein prinzipielle Erwägung zurück, dass die gewaltsame Verabreichung von Brechmitteln nicht schlechterdings die Grundrechte verletze, sondern dies letztlich von den Umständen des Einzelfalles abhänge. Im Kontrast hierzu steht der Kammerbeschluss, wonach die Maßnahme in aller Regel unbedenklich sei, wenn nicht besondere Umstände vorliegen. Die Kammer hatte sich dabei in einer Nebenbemerkung zu einer auch prinzipiell umstrittenen Frage⁴⁹ richtungswei-

46 Dazu Binder / Seemann (2002), S. 234 m.N. 47 BVerfG (Kammer), NStZ 2000, 96. 48 BVerfG (Pressestelle), Pressemitteilung Nr. 103 / 99 vom 29.9.1999. Abrufbar unter http: // www.bundesverfassungsgericht.de / pressemitteilungen / . 49 Einen Überblick über die damalige Diskussion pro und contra gibt S. Rixen, NStZ 2000, 381.

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send geäußert, ohne diese je thematisiert zu haben.⁵⁰ Die mitgelieferten Nachweise zu früherer Rechtsprechung zu § 81 a StPO betrafen ausnahmslos andere Maßnahmen. Nur in einem der zitierten Fälle, nämlich dem des zwangsweisen Haarschnitts, wurde die Frage der Menschenwürde überhaupt aufgeworfen, eine Verletzung aber mit Blick auf die Geringfügigkeit dieses Eingriffs abgelehnt. Es bleibt nach allem der Eindruck, als sei der Kammer in der Verkennung der prinzipiellen Brisanz der Frage ein Fehler unterlaufen, dessen Auswirkungen man durch eine nachfolgende Presseerklärung wieder einzudämmen versuchte.

3.2.2 Im Fokus: Der Bremer Brechmittelfall Im Zentrum des Bremer Brechmittelfalls steht ein 35 Jahre alt gewordener Mann aus Sierra Leone, der 2004 nach einer polizeilich angeordneten Exkorporation von Drogenbehältnissen verstarb. Angeklagt war ein aus Kasachstan stammender Arzt, der diese Maßnahme durchgeführt hatte. Das Opfer (C.) verstand kaum Deutsch und nur bruchstückhaft Englisch. Nachdem C. sich geweigert hatte, das Brechmittel zu sich zu nehmen, wurde er von Polizisten gefesselt und sein Kopf gegen die Rückenlehne gedrückt, um ihm gewaltsam eine 70 cm lange Magensonde durch die Nase zu legen, mit der dann Brechsirup und Wasser zugeführt wurden. Als der Brechreiz einsetzte, schluckte C. das Erbrochene herunter, erbrach erneut, u.a. auch ein Kokainkügelchen. Mindestens einmal wurde die Sonde neu gelegt. Nachdem C. sich unter kontinuierlicher Wasserzufuhr drei- oder viermal übergeben hatte, erlahmte sein Widerstand. Obwohl er zunehmend apathisch wurde und auf Ansprache nicht mehr reagierte, wurde die Wasserzufuhr fortgesetzt. Arzt und Polizeibeamte waren insoweit der Meinung, dass C. „entsprechend früher beobachteten Verhalten von anderen aus Afrika stammenden Betroffenen“ nur simuliere. Als das Kontrollgerät den ständig gesunkenen Sauerstoffsättigungswert nicht mehr anzeigte, nahm der Arzt einen Gerätedefekt an und tauschte den Sensor aus. Nachdem C. nur noch schwer atmete und weißer Schaum aus Mund und Nase austrat, stürmte er kopflos davon, um selbst den Notarzt zu alarmieren. Dem eingetroffenen Notarzt erklärte er dann die Unansprechbarkeit des C. damit, dass „‚Schwarzafrikaner‘ bei Exkorporationen häufig einen solchen Zustand simulierten, sie würden sich häufig ‚tot stellen‘“.⁵¹ Da C. nicht bewusstlos war, setzte er die Exkorporation unter Eingabe immer weiteren Wassers fort, was der noch anwesende Notarzt mehr oder weniger gleichgültig und unter Ablehnung jeder Verantwortung hinnahm. Als C. lethargisch wurde, versuchte der später ange-

50 An der autoritativen Kraft dieser Selbstfestlegung der Kammer ändert der in der Literatur betonte Umstand, dass obiter dicta in Nichtannahmebeschlüssen keinerlei Bindungswirkung für andere Fälle i. S. v. § 31 BVerfGG entfalten, nichts. Siehe aber Binder / Seemann (2002), S. 234. 51 Zitiert nach BGH, NJW 2010, 2595.

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klagte Arzt, weiteres Erbrechen durch mechanische Einwirkung mit einem Holzspatel auf den Rachenraum hervorzurufen. Es gelang ihm letztlich, vier Kokainkügelchen zu erhalten. Kurze Zeit darauf fiel C. ins Koma. Der akustische Alarm der Sauerstoffsättigungsanzeige war ausgeschaltet. C. starb einige Tage später an „cerebraler Hypoxie als Folge von Ertrinken nach Aspiration bei forciertem Erbrechen“. Eine unerkannte Vorschädigung des Herzens hatte diesen Verlauf begünstigt. Das erstinstanzliche LG Bremen⁵² stellte zahlreiche Verstöße des Angeklagten gegen die ärztlichen Sorgfaltspflichten fest und konstatierte eine „vorurteilsgeleitete“ Nichtanerkennung der Beeinträchtigung der Sauerstoffversorgung. Gleichwohl sprach es den Angeklagten mangels Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit des tödlichen Erfolges frei, weil dieser mangels klinischer Ausbildung und Erfahrung mit derartigen Einsätzen überfordert gewesen sei. Dieses Urteil hob der BGH unter Hinweis auf das Übernahmeverschulden des Arztes und dessen besondere Schutzverpflichtung kraft „Gefährdungsherrschaft“ (– wer Gefährdungen begründet, muss sie auch beherrschen können) auf.⁵³ Der BGH rügte zudem, dass die Vorinstanz eine Verletzung des Gebots der Achtung der Menschenwürde nicht einmal in Betracht gezogen hatte⁵⁴. Inzwischen hat das LG Bremen, an das der Fall zurückverwiesen worden war, erneut freigesprochen, diesmal mit der Begründung, die Todesursache sei nicht zu klären. Das Gericht habe mit der Einschaltung von zehn Gutachtern alles zur Klärung Erforderliche getan; diese hätten sich aber nicht auf eine gesicherte Todesursache festlegen können.⁵⁵ Dass damit jede strafrechtliche Verantwortung, nicht nur für den tödlichen Erfolg, sondern auch für die massive Misshandlung des Opfers entfallen soll, dessen afrikanische Herkunft sich auch noch auf die Art und Weise der Behandlung durch den Amtsarzt ausgewirkt hatte, ist schwer nachvollziehbar. Möglicherweise hatte das Bremer Landgericht hier Mitleid mit einem Arzt, der für einen zwölfstündigen Bereitschaftsdienst 100 DM brutto als Grundvergütung nebst zusätzlicher Honorare für Einzelleistungen in nicht bekannter Höhe⁵⁶ erhielt, dafür hochproblematische „Behandlungen“ wie die vorliegende durchführen und das Risiko allein tragen sollte. Es ist wenig wahrscheinlich, dass ein solcher Freispruch vor dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof Bestand hätte.

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LG Bremen, Urt. v. 4.12.2008. Siehe insoweit BGH (Anm. 51). BGH (Anm. 51). BGH ibid. Siehe zur Menschenwürde-Problematik oben 3.2.1. LG Bremen, Urt. v. 14 .6. 2011 (FAZ Nr. 137 vom 15.6.2011, S. 4). Siehe zu diesen Angaben BGH (Anm. 51).

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3.2.3 Die Rechtsprechung des EGMR im Fall Jalloh Eine grundlegende Entscheidung fällte die Große Kammer des EGMR im Juli 2006 im Falle Jalloh v. Germany.⁵⁷ In diesem Falle, der sich schon im Jahre 1993 in NordrheinWestfalen ereignet hatte, war der aus Sierra Leone stammende Abu Bakah Jalloh, nachdem er verdächtige Kügelchen geschluckt hatte, einer gewaltsamen Exkorporation in einer Klinik unterzogen worden. Er klagte daraufhin über ständige Schmerzen im Bauchbereich. Zur Zeit der Straßburger Entscheidung war bereits bekannt, dass im Zusammenhang mit Behandlungen dieser Art ein Kameruner in Hamburg (2001)⁵⁸ und ein Mann aus Sierra Leone in Bremen (2005)⁵⁹ verstorben waren, der Erstere aufgrund eines stressbedingten Herzstillstandes im Zusammenwirken mit einer unerkannten Herzkrankheit; der Letztere ertrank bei der Behandlung durch gewaltsam miteingeflößtes Wasser.⁶⁰ Der EGMR nahm in ungewöhnlich breiter Form auf die vorhandene US-amerikanische Rechtsprechung zum gewaltsamen Brechmitteleinsatz Bezug. Dabei bezog er sich auch auf die Aussage des für den U.S. Supreme Court berichterstattenden Justice Frankfurter, wonach die Absegnung solcher Praktiken bedeute, „der Brutalität den Mantel des Rechts zu bieten“.⁶¹ Im vorliegenden Fall war der EGMR nicht überzeugt davon, dass das Procedere unabdingbar notwendig war, da man den natürlichen Abgang der Kügelchen hätte abwarten können. Dies hätte zwar die Privatsphäre des Beschwerdeführers beeinträchtigt, ihn aber in keiner vergleichbaren Weise belastet. Man könne nach dem Tod von zwei Personen nicht mehr behaupten, dass die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln nur vernachlässigenswerte gesundheitliche Risiken berge; dies allein decke aber die gesetzliche Grundlage (§ 81 a StPO) noch ab. Es fehle ärztlicherseits an einer ordentlichen Anamnese, da der Beschwerdeführer kein Deutsch und nur gebrochen Englisch gesprochen habe. Schließlich habe die Maßnahme nicht therapeutischen Zwecken, sondern nur der Beweisgewinnung gedient. Den Beschwerdeführer zu diesem Zweck durch vier Polizisten niederzudrücken, um ihm gegen seinen Willen eine Nasensonde bis in den Magen einzuführen, stelle „Gewalt an der Grenze zur Brutalität“ und daher eine „erniedrigende Behandlung“ im Sinne von Art. 3 EMRK dar.⁶² Im Ergebnis war sogar von einer „unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung“ die Rede.⁶³

57 EGMR, Beschwerde-Nr. 54810 / 00. 58 Siehe oben3.2.1. 59 Siehe zum Bremer Fall oben 3.2.2. 60 Siehe EGMR, Beschwerde-Nr. 54810 / 00, § 46 – Jalloh. 61 EGMR, Beschwerde-Nr. 54810 / 00, § 50 – Jalloh, unter Bezugnahmen auf Supreme Court, 342 U.S. 165 (1952) – Rochin v. California: „…, would be to afford brutality the cloak of law. Nothing would be more calculated to discredit law and thereby to brutalize the temper of a society.“ 62 EGMR, Beschwerde-Nr. 54810 / 00, § 79 – Jalloh: “force verging on brutality”. 63 EGMR, Beschwerde-Nr. 54810 / 00, § 82 – Jalloh.

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Die Entscheidung des EGMR im Falle Jalloh zählt zu den ganz wenigen Entscheidungen, in denen die Bundesrepublik Deutschland jemals wegen Verletzung des „Folterartikels“ (Art. 3 EMRK) verurteilt worden ist.⁶⁴ Man kann aus der hier wiedergegebenen Begründung schließen, dass die gewaltsame Verabreichung von Brechmitteln – oder auch andere Maßnahmen dieser Art – zur Verletzung von Art. 3 EMRK führen, – wenn sie nicht der medizinischen Behandlung der betroffenen Person, sondern der Gewinnung von Beweismitteln dienen, – keine hinreichende sprachliche Verständigung (und damit auch keine ordnungsgemäße Anamnese) möglich ist – und die Person Widerstand leistet. Das bedeutet nicht ohne Weiteres im Umkehrschluss, dass Deutschsprachige dieser Behandlung unterworfen werden dürften oder gar ausländische gegenüber inländischen Personen privilegiert würden. Leitend ist vielmehr der Aspekt der gesteigerten Verletzlichkeit von Personen, die sich aufgrund ihrer mangelnden Sprachkenntnisse z.B. nicht über Vorerkrankungen äußern können und sich gerade auch deshalb so heftig wehren, weil sie die an ihnen unternommene Prozedur nicht verstehen.

3.2.4 Konsequenzen und Lehren Die dargestellte Rechtsprechung des EGMR, die Brechmitteleinsätze nun weitgehend ausschließt, muss von deutschen Gerichten und Behörden maßgeblich berücksichtigen werden.⁶⁵ Tatsächlich hat die Entscheidung dazu geführt, dass Brechmittel nun in keinem Bundesland mehr zwangsweise verabreicht werden.⁶⁶ Dem entsprechend muss jetzt ein Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr beantragt werden, damit der Verdächtige so lange in Untersuchungshaft bleibt, bis die Drogen zum Vorschein kommen.⁶⁷ Trotzdem behält die Fallkonstellation ihre Bedeutung. Denn die Erfahrungen mit dem vermeintlich unbedenklichen Ipecahuanha-Sirup haben gezeigt, dass es weniger auf das eigentliche Gefahrenpotential der jeweils verwandten Substanz ankommt als vielmehr auf die Gesamtumstände der forcierten Verabreichung, insbesondere die tief in den Organismus eindringende Gewaltanwendung bei heftiger Gegenwehr und damit einhergehender extremer Erregung. Der Blick darf insoweit nicht auf die medikamentös-technische Seite beschränkt bleiben, sondern muss die

64 Daneben wurde 2010 im Fall Gäfgen, EGMR (Große Kammer), Beschwerde-Nr. 22978 / 05, eine Verletzung von Art. 3 EMRK angenommen. 65 Eingehend, auch zur Geltung der EMRK im deutschen Recht, oben 2.1.1.1. 66 FAZ Nr. 137 vom 15.6.2011, S. 4. 67 So im Ergebnis Binder / Seemann (2002), S. 236 / 237, 238.

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Art und Weise der Behandlung des konkret betroffenen Menschen maßgeblich mit einbeziehen.

3.3 Ersticken im Zusammenhang von Zwangsanwendung 3.3.1 Der lagebedingte Erstickungstod (Positionale Asphyxie) Todesfälle treten auch im Zusammenhang mit der gewaltsamen Fixierung von Personen oder deren zwangsweisen Transport auf: Menschen, die sich hochgradig erregt zur Wehr setzen und von Polizeibeamten mit Brachialgewalt niedergerungen und festgehalten werden, können einen „lagebedingten Erstickungstod“ (positionale Asphyxie) erleiden, wenn dabei der Brustkorb oder die Halsregion hinreichend lange und massiv komprimiert werden.⁶⁸ Entsprechende Folgen hat auch das in den USA gebräuchliche „hogtying“ (Frosch-Fesselung; auch „appendage restraint procedure“) gezeitigt, wobei die Person auf den Bauch gelegt und ihr mit Handschellen oder Kabelbindern Arme und Beine aneinandergebunden werden. Nach einigen Todesfällen hatten zwar etliche US-Bundesstaaten diese Praxis Ende der 90er Jahre aufgegeben; sie blieb aber oft als Ausnahme erlaubt und macht bis heute mit Todesfällen bzw. „near-death“-Resultaten von sich reden.⁶⁹ In Deutschland haben die Innenministerien der Länder nach einer Reihe von Todesfällen in den 90er Jahren Verwaltungsvorschriften erlassen, in denen das Phänomen der positionalen Asphyxie, die das gefährliche Verhalten und die gefährdeten Personen genau beschrieben.⁷⁰ Es wurde dabei insbesondere vermittelt, dass bei einer gefesselten Person in Bauchlage keine zusätzliche Kompression des Brustkorbes erfolgen darf, extremer Widerstand auch die Folge einsetzender Atemnot sein kann und plötzliches Erschlaffen der Person auf keinen Fall als „taktischer Trick“ fehlinterpretiert werden darf. Gleichwohl hat der CPT-Ausschuss in seinem letzten Bericht über Deutschland gerügt, dass es in allen besuchten Hafteinrichtungen besondere Räume mit Fixie-

68 Eingehend Dettmeyer / Preuß / Madea (2009). 69 Im Januar 2012 berichtete die Los Angeles Times u.a. über den Fall des Parrish Batchan, der in verwirrtem Zustand in Vernon (Los Angeles County) nackt durch die Straßen lief und Autos beschädigte. Nachdem er keinerlei Anordnungen Folge leistete, setzte die Polizei eine Elektroschockwaffe ein und nahm schließlich ein „hogtying“ vor, wobei ein Polizist sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Rücken des zu Fesselnden setzte. Als Folge dieser Maßnahme verfiel Batchan ins Koma und lebt heute als Schwerstbehinderter im Pflegeheim. Siehe Sewell, Abby, „Suit focuses on police practice of hogtying”, in: Los Angeles Times of January 22, 2012. Im Fall Ocie Henderson, et al. v. City of San Diego geht es in Bezug auf einen Todesfall nach „hogtying“ um die Frage, ob diese Art der Fesselung das Vierte (Search and Seizure) und Vierzehnte (Due Process of Law) Amendment der US-Verfassung verletzt. 70 Eine solche Verwaltungsvorschrift ist z.B. im Urteil des LG Bonn vollständig wiedergegeben: LG Bonn, Rechtsmedizin 17 (2007), 103 ff.

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rungsvorrichtungen gab.⁷¹ Dabei wandte er sich „[i]n Anbetracht der inhärenten Risiken für die Betroffenen“ entschieden gegen die Praxis, Gefangene mit Handschellen oder Gurten an bis zu sechs im Boden verankerten Metallringen anzuleinen bzw. sie in Einzelfällen sogar tagelang (bis zu fünf Tagen!) in dieser Position zu belassen bzw. selbst dann noch zu belassen, wenn der Grund für die Fixierung schon entfallen war. Zugleich monierte der Ausschuss eine mangelhafte Dokumentation der Zeitdauer der Fixierungen. Er erinnerte daran, dass Fixierung nur über Minuten und niemals als Sanktionsmittel oder gar aufgrund von Personalmangel angewandt werden dürfe. Eine tagelange Fixierung stelle eine Misshandlung von Gefangenen dar, die in keinem Falle gerechtfertigt sei. Die Metallringe seien sämtlichst zu entfernen. Wenn überhaupt noch aus nicht-medizinischen Gründen zur Fixierung gegriffen werde, sei eine Sitzwache durch qualifiziertes Personal vonnöten; Bild- und Tonüberwachung mit technischen Mitteln seien kein Ersatz für direkten menschlichen Kontakt. Durch diese deutlichen Worte macht der CPT-Ausschuss klar, dass extreme und damit auch gefährliche Formen der Fesselung neben der Problematik der Brutalität auch eine Vernachlässigungsproblematik beinhalten, Gefahr also auch infolge Personalmangels, Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit droht.

3.3.2 Tod bei Abschiebung 3.3.2.1 Flughafenfälle Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts starben in mehreren europäischen Staaten Abschiebungshäftlinge, die sich auf dem Transport zum Flugzeug oder im Flugzeug befanden, den plötzlichen Erstickungstod.⁷² In diesem Zeitraum hatte sich europaweit die Praxis verbreitet, abzuschiebende Personen, die Widerstand leisteten, mit verklebten Mund bzw. mit aufgesetztem Motorrad-Integralhelm auf normalen Linienflügen oder gar mit Kissen auf dem Mund zu transportieren. Mit diesen Knebelungen sollten nicht nur andere Fluggäste vor Belästigungen durch das Schreien der Häftlinge bewahrt werden, sondern auch die abschiebenden Beamten und Beamtinnen vor Bisswunden durch womöglich AIDS-kranke Personen. Besonderes Aufsehen erregte im September 1998 der Fall der 20-jährigen Semira Adamu aus Nigeria,⁷³ die aus Belgien abgeschoben werden sollte und noch vor dem Start im Flugzeug von Begleitbeamten mithilfe eines Kissens zum Schweigen gebracht

71 Auch zum Folgenden CPT-Bericht (Anm. 34), §§ 88 – 93. 72 Siehe zu fünf Einzelfällen aus Deutschland, der Schweiz und Belgien (mit Pressenachweisen) die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der PDS, BT-Drs. 14 / 1278 vom 24.6.1999, S. 1. 73 Siehe auch zum Folgenden Katherine Butler, Refugee death minister quits, in: The Independent of 26 September 1998; Amnesty International UK, Belgium: Semira Adamu’s case an opportunity to further review expulsion procedures (15 March 2002), abrufbar unter >http: // www.amnesty.org.uk / news_details.asp?NewsID=12874http: // www.bger.ch