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German Pages 440 [444] Year 2004
Frühe Neuzeit Band 99 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt
Sicco Lehmann-Brauns
Weisheit in der Weltgeschichte Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36599-4
ISSN 0934-5531
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Danksagung Die vorliegende Studie ist eine leicht überarbeitete und um neue Literatur ergänzte Fassung meiner Dissertation, die am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin im Mai 2002 eingereicht worden ist. Bei meiner Arbeit habe ich viel Unterstützung erfahren. Zuerst gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. W. Schmidt-Biggemann, dem Betreuer der Dissertation. Er hat mir die faszinierende Bandbreite frühneuzeitlicher Geistesgeschichte in den Jahren, in denen ich als Tutor an seinem Lehrstuhl beschäftigt war, allererst eröffnet. Aus den Gesprächen mit ihm resultierte die Motivation, diese Arbeit zu verfassen, bei der er mich durch Rat und Tat nachdrücklich unterstützt hat. Für die Übernahme des Zweitgutachtens möchte ich Herrn PD Dr. Stephan Meier-Oeser herzlich danken. Herr PD Dr. Helmut Zedelmaier hat mir durch großzügigen Einblick in seine eigenen Arbeiten sehr geholfen. In Gesprächen mit Herrn PD Dr. Martin Mulsow habe ich ebenfalls wichtige historische wie systematische Hinweise erhalten. Meine Arbeit verdankt beiden viel. Überdies haben Prof. Dr. N. Hammerstein, Prof. Dr. F. Niewöhner sowie PD Dr. Ralph Häfner mir zahlreiche wichtige Anregungen vermittelt. Herrn Prof. Dr. E. Osterkamp danke ich für ein Gutachten, das zur Finanzierung der Arbeit beigetragen hat. Dem Herausgebergremium und namentlich Prof. Dr. W. Kühlmann und Prof. Dr. F. Vollhardt bin ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Publikationsreihe .Frühe Neuzeit' sehr dankbar. Bei der Korrektur haben mir meine Berliner Kollegen Frank Böhling, M.A., Dr. Sebastian Lalla, Dr. Hanns-Peter Neumann und Matthias Pohlig, M.A., sehr geholfen. Dr. Fritz Minde bin ich ebenfalls für seine Korrekturhilfen außerordentlich dankbar. Schließlich danke ich herzlich Prof. Dr. Lorraine Daston - in ihrer Abteilung am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte genoß ich optimale Arbeitsbedingungen für die Endredaktion vorliegender Studie. Mein Studium ist von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert und bereichert worden. Die FAZit-Stiftung hat die Fertigstellung der Dissertation durch ein Abschlußstipendium finanziell ermöglicht, wofür ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. Ohne den Druckkostenzuschuß der VG Wort hätte die Arbeit nicht in der vorliegenden Form publiziert werden können. Dem Niemeyer Verlag und namentlich Frau B. Zeller (Lektorat) und Frau S. Mang (Herstellung) danke ich für die Sorgfalt bei der Fertigung des Buches. Meine Eltern haben durch ihre liebevolle Sorge in jeder Hinsicht die Grundlagen für mein Studium geschaffen und dieses mit kritischer Aufmerksamkeit verfolgt. Ihnen möchte ich daher die Dissertation widmen. Sicco Lehmann-Brauns
Berlin, im Februar 2004
Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und flir's Volk zu sagen, der Kampf gegen den christlichkirchlichen Druck von Jahrtausenden - denn Christenthum ist Piatonismus flir's Volk - hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen. Nietzsche, Vorrede zu 'Jenseits von Gut und Böse ' (1885)
Inhaltsverzeichnis Einleitung I.
Π.
vHellenisierung des Christentums< versus Christianisierung der Antike< - Zur Geschichte und Bedeutung des Hellenisierungstheorems 1.1. Die patristische Selbstdeutung der christlichen Theologie als 'wahrer Philosophie' 1.2. 'vera philosophia' als 'philosophia perennis' innerneuzeitliche Destruktionselemente 1.3. Bemerkungen zu theologischen und philosophischen Folgen der Destruktion Heidnisches im Christentum. Jacob Thomasius' Philosophiegeschichte als Ketzergeschichte 1. Das philosophiehistorische Konzept: Dichotomie von Antike und Christentum als Movens antiapologetischer Philosophiegeschichte 1.1. Philologische Destruktion des consensus patrum und der prisca sapientia 1.2. Philosophiegeschichtliche Ausweitung der philologischen Kritik 1.3. Der Dualismus zwischen Antike und Christentum als Bedingung der Hellenisierungsthese: Das Labyrinth des antiken Materialismus 1.4. Thomasius'Häresiebegriff 1.5. Antiapologetische versus eklektische Philosophiegeschichte 2. Die Kritik am christlichen Aristotelismus 2.1. Die neue Aristoteles-Philologie und die Interpretation der antiken Metaphysik als natürlicher Theologie 2.2. Der aristotelische Analogiebegriff in der Interpretation des Thomasius und die Einheit der Metaphysik 2.3. Kritik am scholastischen conceptus entis 2.4. Niedergang und Aufteilung der Metaphysik 2.5. Die Degeneration der Metaphysik zum Begriffslexikon...
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2.6. Kritik an den Metaphysikkonzeptionen Timplers und Mirandulanos 66 3. Die Kritik am christlichen Piatonismus 70 3.1. Die Wiederbelebung platonischen Denkens 70 3.2. Kritik an der christlichen Rezeption der platonischen Psychologie 71 3.3. Pantheismus als Konsequenz der theologia mystica 77 3.4. Die tres-viae Lehre als pelagianistische Methodik der theologia mystica 82 3.5. Kritik an der άπάθεια als Habitus der theologia mystica 85 3.6. Kritik an curiositas und γνώσις 89 4. Theologia mystica als protestantischer Praktizismus bei Thomasius 99 4.1. Bewertung der Reformation als Restitution 'wahren Christentums' 99 4.2. 'wahres Christentum' als theologia mystica zwischen Orthodoxie und Ketzerei 102 4.3. Theologia mystica als Aufgabe des praktischen Protestantismus 104 4.4. Status der Dogmatik 108 Ehregott Daniel Colbergs Schwärmerkritik im 'Platonischhermetischen Christenthum' (1690/91) 1. Colbergs Aktualisierung des Platonismusvorwurfs im Dienste der Schwärmerkritik 1.1. Absicht und Aufbau des Platonisch-hermetischen Christentums 1.2. Protestantische Schwärmerkritik 1.3. Colbergs Ketzerbegriff 2. Geschichte des platonisch-hermetischen Christentums (cap. 1) . 2.1. Darstellung der paganen antiken Philosophie 2.2. Colbergs platonische Patristik: Clemens & Orígenes . . . . 2.3. Spätantike Häretik und Theologia mystica im Mittelalter. 2.4. Hermetik 3. Das System des Piatonismus 3.1. Die Irrtümer des Piatonismus (cap. 2) 3.2. Innerlichkeit als Piatonismus 4. Kabbala und Magie als Formen des platonisch-hermetischen Christentums (cap. 3) 4.1. Colbergs Kabbala-Darstellung 4.1.1. Christliche Kabbala und Merkaba-Mystik 4.1.2. Der Piatonismus der Kabbala: Adam Kadmon als Weltgeist
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IX 4.2. Magie als Wissen um die signatura rerum 4.3. Allegorese als Instrument des Piatonismus IV.
V.
Pietismus als Piatonismus - Friedrich Christian Büchers 'Plato mysticus in Pietista redivivus ' 1. Die systematische Kritik des Pietismus 1.1. Wiedergeburt als Anliegen und platonisches Potential des Pietismus 1.2. Büchers systematische Begründung der Pietismus-Kritik. 1.3. Büchers Pietismus-Definition 2. Büchers Platonismus-Definition 2.1. Die Genealogie des Piatonismus. Pietisten als platonische Magier 2.2. Das systematische Zentrum des Piatonismus 2.3. Übernahme des Piatonismus durch die Schwärmer 3. Parallelität von Pietismus und Piatonismus Philosophiegeschichte im Rahmen der Kirchengeschichte Die Frage nach dem Ursprung der Philosophie vor ihrer frühaufklärerischen Emanzipation 1. Modifikation der translatio sapientiae. E. D. Colbergs De sapientia veterum Hebraeorum 1.1. Antike Philosophie als Korruption der Offenbarung 1.2. Genealogie der paganen Wissenschaft 1.3. Monopol der biblischen Offenbarung 2. Pagane Offenbarungen als fromme theologia mystica: Köpkes Antwort auf Bücher 2.1. Apologie der Antike. Köpkes Fassung der prisca sapientia 2.2. Der Gehalt der griechischen Philosophie 3. Das Revival der apologetischen translatio sapientiae in der Kirchengeschichtsschreibung Zierolds 3.1. Universalität der christlichen Offenbarungstradition 3.2. Mysterium crucis als Maßstab der Philosophiegeschichte 3.3. Rehabilitation des Zoroaster und des Hermes Trismegistos 3.4. Piaton als Weisheitszeuge
VI. Gottfried Arnolds Revision der Kirchengeschichte 1. Arnolds Sophienmystik und die Begründung des Praxisprimats 1.1. Innere Erleuchtung als Maßstab der Kirchengeschichte . . 1.2. Drei Dimensionen der Sophia
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χ 1.3. Verinnerlichung der Offenbarung 1.4. Sophiologische Begründung der praxis pietatis 2. Leitbegriffe revisionärer Kirchengeschichte 2.1. Praxis pietatis als Maßstab der Historiographie 2.2. Unparteilichkeit der Theosophie 2.3. Überkonfessionalität der Kirchengeschichtsschreibung . . 2.4. Umbewertung des Ketzerbegriffs und Revision der Kirchengeschichte 2.5. Einteilung der Kirchengeschichte 2.6. Eschatologische Funktion der Kirchengeschichte 3. Die Verteidigung der mystischen Theologie gegen die historische Kritik 3.1. Historische Rehabilitation der Mystik 3.2. Rehabilitation des Dionysios Areopagita VII. Die Revision der Philosophiegeschichte in der Frühaufklärung Die Indienstnahme der Philosophiegeschichte bei Christian Thomasius 1. Aufklärung und Traditionskritik 1.1. Neutralisierung des Ketzerbegriffs 1.2. Aufgeklärte Traditionsrevision 1.3. Eklektik und Kritik 2. Logik und Geschichte: Die Selbstaufhebung der Thomasianischen Eklektik 2.1. Eklektische Logikreform 2.2. Geschichte der Philosophie als Geschichte der Sekten . . . 2.3. Division von Philosophie und Theologie 2.4. Eklektik und historia literaria 3. Glauben und Geschichte 3.1. Philosophiegeschichte als Geschichte der Torheit 3.2. Christian Thomasius als Herausgeber der Werke seines Vaters 4. Naturrecht und Geschichte 4.1. Theologiefreies Naturrecht 4.2. Geschichte des Naturrechts VIH. Die neue Kontur der Philosophiegeschichte: Heumanns >Acta philosophorum< 1. Die Neubestimmung der Philosophiegeschichte im Rahmen der historia literaria 1.1. Philosophische Eklektik und philologische Kritik 1.2. Dogmatik und Historie. Die theologischen Implikationen der historischen Kritik
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XI 2. Die Revision der Philosophiegeschichte in Heumanns >Acta philosophorum< 2.1. Methodische Grundlegung 2.2. Verhältnis von Philosophie und Theologie 2.3. Philosophiedefinition 2.4. Die Neuvermessung des Anfangs der Philosophiegeschichte 2.5. Die Griechen als Heroen der Freiheit 2.6. Pragmatische Entzauberung der Philosophiegeschichte . . 2.7. Neue Einteilung der Philosophiegeschichte
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Schluß
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Bibliographie
401
Namenregister
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Sachregister
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Einleitung Daß die Geschichte der Philosophie mit der Philosophie der vorchristlichen griechischen Antike autochthon als eine Geschichte humaner Vernunfttätigkeit anhebt, ist eine Auffassung, die seit der Aufklärung akzeptiert ist. Sie resultiert aus einem Prozeß historisch-kritischer Differenzierungsarbeit und setzt die Destruktion besonders zweier Interpretamente der durch Bibelexegese begründeten heilsgeschichtlichen Geschichtsdeutung voraus, innerhalb derer die historia philosophica vormals lokalisiert worden war und die die historische Logik der Philosophia perennis ausgemacht hatten: 1. Die typologische Integration der Textzeugnisse der paganen vorchristlichen Antike in den Explikationszusammenhang der jüdisch-christlichen Offenbarungstradition, wie sie in den apologetischen Geschichtsmodellen seit der Patristik und nach einer erneuten Intensivierung in der Renaissance bis weit in die Frühe Neuzeit hinein unter dem Titel der prisca sapientia oder prisca theologia praktiziert worden war. 2. Die Vorstellung eines perfekten paradiesischen Anfangswissens, das auch postlapsarisch nicht vollständig verloren gegangen war und dessen Weitergabe innerhalb des kontinuierlichen Überlieferungszusammenhanges der translatio sapientiae den Ursprung von Philosophie und Wissenschaft bei allen Völkern begründet hatte.1 Das Resultat dieses aus mannigfachen Quellen gespeisten Destruktionsprozesses war zuletzt die Konstitution der historisch-kritischen Philosophiegeschichtsschreibung als eigenständiger philosophischer Disziplin,2 wie sie sich
Cf. W. Schmidt-Biggemann: Philosophia Perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a.M. 1998, Kap. IX, S. 646-650: Die historische Logik der Philosophia perennis. Zur Philosophiegeschichte im 17. Jahrhundert cf. den gesamten Band und darin die jedoch vornehmlich referierenden Darstellungen von M. Longo: La storia della filosofia tra eclettismo e pietismo, in: G. Santinello (Hrsg.): Storia delle storie generali della filosofia, Bd. 2: Dall' età cartesiana a Brucker, Brescia 1979, S. 350ff.; sowie auch die Beiträge in G. Santinello: Models of the History of Philosophy. From its Origins in the Renaissance to the >Historia Philosophical Dordrecht et al. 1993; L. Braun: Histoire de l'histoire de la philosophie, Paris 1973, dtsche. (Teil-)Übersetzung: Geschichte der Philosophiegeschichte, Darmstadt 1990; zur Entwicklung im 18. Jahrhundert Ulrich J. Schneider: Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte, Frankfurt a.M. 1990.
2 innerhalb der aufgeklärten historia literaria mit neuer Kontur etablierte.3 Sie basierte auf der Kritik an den theologisch-philosophischen Kompositgebilden einer philosophia Christiana und bilanzierte gleichsam die vorangegangenen Absetzbewegungen vom christlichen Aristotelismus der Schulphilosophie, aber auch von der spekulativen Phantasie des christlichen Piatonismus, wie sie in den komplexen Verästelungen frühaufgeklärter Gelehrsamkeit sich vollzogen hatte.4 Die aufgeklärte Philosophiegeschichte definierte sich über den Ausschluß umfangreicher Traditionsbestände, die weder einem aufgeklärten Vernunftbegriff entsprachen noch auch der philologischen Kritik standhielten. Ihr gingen im Spannungsfeld von lutherischer Orthodoxie, pietistischer Kirchen- und frühaufgeklärter Philosophiegeschichtsschreibung intensive Diskussionen über den Verlauf und Status der Philosophiegeschichte in ihrem Verhältnis zur Theologiegeschichte voraus, in denen die historischen Differenzierungen erarbeitet und die theologisch-konfessionellen Bewertungskriterien der Philosophiegeschichte weitgehend außer Kraft gesetzt wurden. Dieses bislang zumeist vernachlässigte Diskussionsgeflecht soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, indem nach einem Rückblick auf die apologetische Christianisierung der Antike< (Kap. 1) von Jacob Thomasius' im Schediasma historicum (1665) wirkmächtig formulierter antiapologetischer Ablösung der Philosophie- von der Theologiegeschichte ausgegangen wird (Kap. 2). Innerhalb der antiapologetischen Neukonzeption der Philosophiegeschichte zeichnete sich die vorchristliche Philosophie der Antike durch ihren unüberwindlichen Kontrast zu den Aussagen der christlichen Offenbarung negativ aus, so daß ihr apologetischer Einbezug in das Modell einer jüdisch-christlichen Weisheitsgenealogie zugunsten ihrer Verabschiedung in eine - wenn auch im häresiologischen Kontext errungene - Eigenständigkeit aufgegeben werden mußte. Mit der neu gewonnenen Eigenständigkeit der paganen Philosophie, die nun nicht länger als Abglanz paradiesischen Wissens oder als Antizipation von Offenbarungsgehalten bewertet werden sollte, stellte sich auch die Frage nach ihrem Ursprung neu. In den anschließenden Kapiteln über Colbergs Platonisch-hermetisches Christentum (1690) (Kap. 3) und über Büchers Plato mysticus in Pietista redivivus (1699) (Kap. 4) wird zunächst die orthodox-lutherische Rezeption jener von Thomasius forcierten Kontrastierung von Philosophie- und Theologiegeschichte
Sie steht im Kontext des >AnfangsproblemsPlatonismus-Verdikts< als Instrument der Schwärmerkritik und dessen kontroverstheologische Aktualisierung durch Applikation auf die Pietisten. Mystik, Schwärmerei und Pietismus wurden als heterodoxer Piatonismus im Christentum gedeutet und zusammmen mit der Kabbala ins Vorfeld des spinozistischen Pantheismus piaziert. Ihre theologische Diskreditierung durch Rückführung auf pagane Philosopheme wurde innerhalb der lutherischen Orthodoxie von einem Geschichtsmodell begleitet, das gleichwohl an der Abhängigkeitsthese aller paganen Philosophie vom jüdisch-christlichen Offenbarungsursprung festhielt, dieses Abhängigkeits- jedoch in ein Korruptionsverhältnis umdeutete (Kap. 4). Auf die orthodoxe Kritik antwortete die pietistische Kirchengeschichtsschreibung mit einer Wiederbelebung der apologetischen Angleichung der paganen Philosophie an die christliche Offenbarung in der Absicht, die lutherische solascriptura-Festlegung der Theologie zu lockern (Kap. 5). Damit trug sie dazu bei, die Evaluation der Philosophiegeschichte mit den konfessionell-dogmatischen Kriterien der Kirchengeschichte in Frage zu stellen und deren revisionäre Neubestimmung zu stimulieren. In Gottfried Arnolds Unparteiischer Kirchen- und Ketzergeschichte (1688) wurde die Revision der Kirchengeschichte vor dem Hintergrund eines mystisch fundierten >spirituellen Indifferentismus< geleistetet (Kap. 6). Arnolds Werk rehabilitierte nicht allein das komplette Spektrum des platonisch-hermetischen Christentums, sondern stellte überdies Leitbegriffe einer dogmatisch-konfessionell entbundenen Geschichtsschreibung zur Verfügung. Die eklektische Frühaufklärung unterwarf seit Christian Thomasius die überkommenen Traditionsbestände dem Urteil einer selbstbewußt auftretenden natürlichen Vernunft und nutzte die von Thomasius Senior lancierte Dissoziation der Disziplingeschichten, um die Autonomie einer theologiefreien juristischpraktisch ausgerichteten Philosophie zu behaupten (Kap. 7). Innerhalb des eröffneten philosophischen Umgangs mit der historia philosophica wurden theologische Vorgaben marginalisiert und die Opposition von sektiererischer vs. eklektischer Philosophie zum Darstellungskriterium. Erst nachdem das Thomasianische Eklektik-Konzept von Heumann mit dem philologischen Instrumentarium der Ars critica Jean Le Clercs verbunden worden war, zeichnete sich die neue Kontur der aufgeklärten Philosophiegeschichte in den Acta philosophorum (1715-27) ab (Kap. 8). Die Frage nach dem Anfang der Philosophie wurde jetzt durch neue Erklärungsmodelle erschlossen, die mit den historisch-kritischen Befunden allmählicher Wissensprogression übereinstimmten. Heumanns pragmatische Geschichtsschreibung pointierte die innerhalb der biblischen Chronologie späte Entstehung der Philosophie bei den Griechen als Produkt menschlicher Vernunfttätigkeit. Unter geeigneten äußeren Rahmenbedingungen entstand eine sich traditionskritisch artikulierende Philosophie, die ihrerseits bereits den Bruch mit früheren, zumeist superstitiös infizierten Wissensformen voraussetzte.
4 Alle älteren sapientialen Traditionen und Epochen, die dem aufgeklärten Rationalitätsbegriff nicht entsprachen und zudem von der philologischen Kritik in ihrer Authentizität bezweifelt wurden, gerieten bei Heumann nochmals auf den philosophiehistorischen Prüfstand, um dann schließlich aus der neu konturierten Philosophiegeschichte auszuscheiden. Bruckers philosophiegeschichtliche Gesamtdarstellungen erweisen sich aus der hier eröffneten Perspektive als ein Erbe jener vorausgegangenen philosophiehistorischen Diskussionen, deren Resultate ihm von Heumann gebündelt überlassen worden waren.5 Die hier untersuchten Diskussionen über Status und Verlauf der Philosophiegeschichte sind Teil jener historischen Differenzierungsanstrengungen, die auf den Verlust der Erklärungskraft der historia sacra reagierten.6 In ihnen setzte sich die Einsicht durch, daß Geschichte nicht als kontinuierliche, nur in ihrer Intensität differierende Entfaltung einer an sich ungeschichtlichen Wahrheit adäquat beschreibbar war. Sie gehören damit zur Initialphase eines komplexen, keineswegs auf Deutschland beschränkten Wandlungsprozesses an der Epochenschwelle zwischen Barock und Aufklärung: In der aus französischer Perspektive einst als Crise de la Conscience Européenne (P. Hazard)7 beschriebenen Umbruchphase etabliert sich ein neuer Umgang mit der historischen Tradition, deren >Differenz< und >Alterität< hervorgehoben und historisch-kritisch rekonstruiert wurde. 8 Ein Vorgang, der als >Eroberung der geschichtlichen Welt< (E. Cassirer)9 die Genese moderner Geschichtsphilosophie und historischer Forschung anleitete10
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Cf. Mario Longo: Geistige Anregungen und Quellen der Bnickerschen Historiographie, in: Jacob Brucker (1696-1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung, hrsg. v. W. Schmidt-Biggemann u. T. Stammen, Berlin 1998, S. 159-186. Das darf übrigens durchaus wörtlich verstanden werden: Heumann übersandte Brucker 1730 seine gesammelten philosophiehistorischen Manuskripte, die dann nicht mehr zu ihm zurückfanden; diese Episode berichtet Georg Andreas Cassius: Ausführliche Lebensbeschreibung des um die gelehrte Welt hochverdienten D. Christoph August Heumanns, Kassel 1768, S. 386f. Arno Seifert: Von der heiligen zur philosophischen Geschichte. Die Rationalisierung der universalhistorischen Erkenntnis im Zeitalter der Aufklärung, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), S. 81-117. Paul Hazard: La Crise de la Conscience Européenne (1680-1715) (1935), dtsche. Übersetzung Hamburg 1939. Cf. für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der Aufklärung den Sammelband: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Erich Bödeker et al., Göttingen 1986; dort besonders die Beiträge von J. Stroup: Protestant Church Historians in the German Enlightenment, S. 169-192; L. Krieger: The Philosophical bases of German Historicism. The Eigtheenth Century, S. 246-263; R. Vierhaus: Historisches Interesse im 18. Jahrhundert, S. 264-275. Cf. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 1932, Titel des Kap. 4. Cf. P. H. Reill: The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Berkeley et al. 1975.
5 und den revelatorisch begründeten Monopolanspruch der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte paralysierte.11 Dieser Vorgang kann als >Historisierung< verstanden werden, sofern darunter die Ableitung historischer Gegebenheiten aus kontingenten, selbst >historischen< Umständen und nicht aus Offenbarung oder Vernunft gemeint ist.12 Hinsichtlich theologischer oder philosophischer Inhalte schränkte eine solche Ableitung deren Geltungsanspruch beträchtlich ein: Er drohte ebenso kontigent zu werden wie seine historischen Ursachen.13 Historisierung implizierte jedoch nicht zwangsläufig einen Relativismus, der jedweden atemporalen Wahrheitsanspruch negierte und damit Geschichte in einem zeitlichen Sinne verabsolutierte.14 Der Aufweis historischer Alterität hatte sich vielmehr gerade zunächst mit dem Anspruch eines Wahrheitsbesitzes vollzogen, der selbst keiner zeitlichen Beschränkung unterworfen sein sollte. Wo die Vergangenheit diesem Wahrheitsanspruch nicht genügte, wurde sie in historische Differenz entlassen. Allerdings mußte dann auch erklärt werden, warum die zeitlose Wahrheit nicht immer schon vertreten worden war. Ein Erklärungsnotstand, dem die entstehende Geschichtsphilosophie abzuhelfen unternahm. Sie bilanzierte seit Vico und Voltaire die Umbewertung der europäischen Traditionsbestände, wie sie angesichts der historischen Differenzierungen nötig geworden war.15 Die entscheidende Umbewertung gegenüber der historischen Logik der Philosophia perennis bestand darin, Geschichte nicht länger als heilsgeschichtlich eingerahmten Translationsprozeß von den perfekten Anfängen aller Kultur, Wissenschaft und Zivilisation bis zu deren eschatologischer Wiederherstellung zu begreifen. Geschichte konnte jetzt zunehmend und in geradewegs umgekehrter Einschätzung als ein historisch differenzierter, in seiner qualitativen Entwicklung entgegengesetzt verlaufender Prozeß tendentiell fortschreitender Wissensvermehrung, Zivilisationssteigerung und Kulturförderung gedacht werden.16
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Diesen Prozeß zeichnet jetzt unter besonderer Berücksichtigung der neuen Theorien über die Ursprünge von Wissenschaft und Zivilisation nach H. Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Das hier leitende temporale Verständnis von Historisierung als historischer Differenzierung veranschaulichen die Beiträge des Bandes: Historicization-Historisiening (= Aporemata. Kritische Studien zur Philologiegeschichte, Bd. 5), Göttingen 2000. Cf. auch die Beiträge des Bandes: History and the Disciplines. The Reclassification of Knowledge in Early Modern Europe, hrsg. v. Donald R. Kelley, New York 1997. Cf. W. Schmidt-Biggemann: Geschichte als absoluter Begriff. Der Lauf der neueren deutschen Philosophie, Frankfurt a.M. 1991. Cf. Donald P. Verene: Vico and the Barbarism of Reflection, in: History and the Disciplines, New York 1997, S. 143-161. Cf. Amo Seifert: Von der heiligen zur philosophischen Geschichte. Die Rationalisierung der universalhistorischen Erkenntnis im Zeitalter der Aufklärung, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), S. 81-117.
6 Daß dieser Prozeß der historischen Revisionsarbeit bereits in seiner Anfangsphase so einlinig nicht war und auf nachhaltige Widerstände stieß, zeigt die parallele Verteidigung des alteuropäischen Geschichtsmodells vornehmlich im Kreis der Pietisten (Zierold, Köpke), aber auch innerhalb der lutherischen Orthodoxie (Colberg De sapientia vete rum Hebraeorum). Sie fand sich aber auch außerhalb Deutschlands, besonders in England - im Cambridger Neoplatonismus, für den Cudworth die Geschichte der Philosophie nochmals als Geschichte des menschlichen Teilhabewissens an der göttlichen Weisheit konzipierte,17 oder in der auf die Pietisten einwirkenden Kirchengeschichtsschreibung des Bischofs Stillingfleet.18 Die Verteidigung einer am Modell der prisca sapientia orientierten und sich einer historisierenden Distanzierung von der in die Kritik geratenen Tradition des christlichen Piatonismus verweigernden Geschichtssicht war mit der Aufklärung durchaus nicht vollends obsolet geworden; sie setzte sich über den Pietismus hinaus als Konkurrenzmodell zur neuen, kritisch-fortschrittlichen Geschichtsphilosophie fort. Da dieses Geschichtsbild dem Rationalitätsstandard der historisch-philologischen Kritik und der Fortschrittlichkeit der aufgeklärten Geschichtsphilosophie jedoch nicht standhalten konnte, wurde es zunehmend in die esoterischen Unterströmungen der Geistesgeschichte verbannt.
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Cf. J. Assmann: Hen kai pan. Ralph Cudworth und die Rehabilitierung der hermetischen Tradition, in: Aufklärung und Esoterik, hrsg. v. M. Neugebauer-Wölk, Hamburg 1999, S. 38-52. Sarah Hutton: Science, philosophy, and atheism: Edward Stillingfleet's defence of religion, in: Richard H. Popkin u. Aijo Vandeijagt (Hrsg.): Scepticism and Irreligion in the Seventeenth and Eigtheenth Centuries, Leiden 1993, S. 102-120.
I.
>Hellenisierung des Christentums< versus Christianisierung der Antike< - Zur Geschichte und Bedeutung des Hellenisierungstheorems
1.1. Die patristische Selbstdeutung der christlichen Theologie als 'wahrer Philosophie' Die Streitigkeiten um den Piatonismus der Kirchenväter, wie sie seit dem 16. Jahrhundert ausgetragen wurden, und die in ihrem Verlauf vertretenen Positionen einer christlichen Antiapologetik auf der einen und die Fortführung und spezifische Umwandlung apologetischer Akkomodationen antiker Philosophie ans Christentum auf der anderen Seite stehen in einer langen, bis auf die frühe Kirche zurückreichenden Diskussionstradition. An deren Beginn hatte Tertullian gefragt: »Was also haben gemeinsam der Philosoph und der Christ, der Schüler Griechenlands und der des Himmels, der Beförderer seines Ruhmes und der seines Heiles, der mit Worten und der mit Taten Wirkende, der Erbauer und der Zerstörer, der Freund und der Feind des Irrtums, der Verfälscher der Wahrheit und ihr Erneuerer und Dolmetsch, ihr Dieb und ihr Wächter?«1 Mit dieser eindrucksvoll orchestrierten Rhetorik wurde eine unvermittelbare Antithetik zwischen Athen und Jerusalem konstatiert, die auf einen 'christlichen Purismus' zielte und a limine die Philosophie aus dem Christentum ausschloß.2 Die Angewiesenheit der Theologie auf eine philosophische Explikation ihrer Inhalte, die Möglichkeit eines verstehenden Nachvollzugs des Glaubens durch begriffliche Reflexion wird hier zugunsten einer Auffassung des Christentums als vernunftfeindlicher Offenbarung geleugnet. Von der Position des gläubigen Rigoristen aus (credo quia absurdum) erscheint der einsichtsuchende Glaube
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Apologeticum 46, 18, CSEL 69, S. 109: »Adeo quid simile philosophus et Christianus, Graeciae discipulus et caeli, famae negotiator et vitae, verborum et factorum operator, et rerum aedificator et destructor, amicus et inimicus erroris, veritatis interpolator et integrator et expressor, et furator eius et custos?« Übersetzung nach H. Kellmer in der Bibliothek der Kirchenväter I, 24, S. 162. Cf. F.-P. Hager: Zur Bedeutung der griechischen Philosophie für die christliche Wahrheit und Bildung bei Tertullian und Augustin, in: Antike und Abendland 24 (1978), S. 76-84. Cf. Α. Labhardt: Tertullian et la philosophie ou la recherche d'une 'position pure', in: Museum Helveticum 7 (1950), S. 159-180, bes. 163.
8 (fides quaerens intellectum) als eitle Selbstüberschätzung der endlichen Vernunft des Menschen, die nur zur Verfälschung der Offenbarungswahrheit führt.3 Die Frage nach dem Verhältnis von (antiker) Philosophie und (christlicher) Offenbarung stellte sich dem Christentum von Beginn an. Sie blieb ein zentrales Problem jeder systematischen Theologie, die eine durch die Vernunft nachzuvollziehende Explikation ihrer Glaubensinhalte anstrebte.4 Bei der Artikulation ihres Wahrheitsanspruchs war sie auf die Philosophie in systematischer und terminologischer Hinsicht angewiesen; zugleich aber besaß sie den Anspruch, daß allein die von ihr entfaltete Offenbarung 'wahr' sei. Wahrheit wurde im theologischen Rahmen zum Explikat der Offenbarung, die als >höchste Wahrheit< galt. Durch die Unterstellung, daß Wahrheit und Offenbarung konvergieren, entsteht die Spannung zu einem autonomen philosophischen Wahrheitsbegriff unterhalb der Offenbarungsebene, wie er der antiken Philosophie zugeschrieben werden konnte. Im Extremfall fallen dann Offenbarungswahrheit und Wahrheit ohne Offenbarungsverpflichtung auseinander, im Oxymoron der doppelten Wahrheit machen sie einander zunichte. In den Paulus-Briefen findet sich der Gegensatz zwischen der >Weisheit der Welt< (σοφία του κόσμου) und der >Weisheit von Gott im Geheimnis< (σοφία του θεοϋ έν μυστηρίω). 5 Die >Weisheit von Gott< hat für Paulus ihr Zentrum im gekreuzigten Christus, der 'den Juden ein empörendes Ärgernis, den Heiden aber eine Torheit' (1 Kor 1, 23) ist. Und doch ist die Offenbarung in Christo Weisheit (σοφία), wenn auch eine andere als die der antiken Philosophie, vor der Paulus bekanntlich an der einzigen Stelle, an der er sie direkt erwähnt, als Irrlehre warnt.6 Indem die christliche Offenbarung trotz ihrer Andersartigkeit als Sophia bezeichnet wird - und so in terminologische Kontinuität mit der antiken Philosophie rückt - muß sie wohl auch Antworten auf die von der vorchristlichen Philosophie aufgeworfenen Fragen geben können. Dann aber ist sie nicht mehr das radikal Andere, das ganz Neue, das alles Alte vollends negiert. Das Muster für die Einläßlichkeit der Offenbarung auf die Belange dieser Welt - und deren pagan-philosophische Diskussion - stellt die Areopag-Rede (Apg 17,16-31) vor, in der Paulus die Neuheit und Andersartigkeit der christlichen Verkündigung mildert und sie im Fragehorizont der antiken Religion und Philosophie als Antwort erscheinen läßt: Der in Christus sich offenbarende Gott ist nach Paulus der Gott, den die antike Weisheit ahnend suchte, aber nicht aus 3
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Cf. dazu unten den Abschnitt über Thomasius' Geschichte des Gnosis-Begriffs, Kap. II, 3.5. Cf. H. Siemers: Fides quaerens intellectum? Theologie als kritisch rationale Wissenschaft, in: ders. et al. (Hrsg.): Theologie als Wissenschaft in der Gesellschaft, Göttingen 1970, S. 196-216. 1 Kor 1, 21. Dazu H. Merklein: Die Weisheit Gottes und die Weisheit der Welt (1 Kor 21). Zur Möglichkeit und Hermeneutik einer 'natürlichen Theologie' nach Paulus, in: G. W. Hunold, W. Korff (Hgg.): Die Welt für morgen. Ethische Herausforderungen im Anspruch der Zukunft (FS F. Böckle), München 1986, S. 391^103. Kol 2,8.
9 sich selbst heraus zu finden vermochte. 7 Deshalb ist die christliche Offenbarung das in der antiken Weisheits- und Gottessuche bereits angelegte, zunächst aber verborgene Telos ihrer Entwicklung. 8 Neben die Beschreibung der Offenbarung als anstößiges Paradoxon, das a m Vernunftstandard der antiken Philosophie gemessen nur als 'Ärgernis' erscheinen konnte, tritt so ihre Auffassung als 'Erfüllung' und 'Aufhebung' einer vorangegangenen Tradition. Damit aber ist die Möglichkeit gegeben, die heidnische Weisheitsliteratur als Vorahnung des Christentums zu akzeptieren - die christliche Typologie begann ihre Sogwirkung zu entfalten: Das Schema von Ankündigung und Erfüllung (begriffen als τ ύ π ο ς und α λ ή θ ε ι α ) konnte das Christentum aus allen vorchristlichen Schriften hinreichenden Ansehens legitimieren und andersherum diese als Vorverweise auf die christliche Offenbarung akzeptabel machen. 9 Die christliche Typologie unterstellte den vorchristlichen Texten jüdischer oder paganer Herkunft einen verborgenen Sinn, einen geheimen Bedeutungsgehalt, der sie als Präfigurationen des Christentums auswies. In der vorchristlichen jüdischen aber auch heidnischen Literatur, bei Homer, Piaton oder den Orphikern, konnte nach verborgenen, durch Allegorese zu entschlüsselnden Vorankündigungen der im Christentum offenbarten Wahrheit gesucht werden. Durch die bei Paulus bereits angelegte Einschätzung der antiken Weisheitsliteratur als typologischer Präfiguration konnte das Christentum an sie anknüpfen; die antike Kultur mußte nicht länger einer unbedingten eschatologischen Kritik zum Opfer fallen. Es formierte sich das patristische Modell der prisca sapientia,
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Apg 17, 16-31. An der zitierten Stelle im Korintherbrief (1 Kor 1, 20ff.) ist die Abgrenzung der christlichen Weisheit von der der Welt aufschlußreich. Außer der identischen Bezeichnung σοφία wird hier ein oszillierender Zusammenhang zwischen antiker Weisheitssuche und christlicher Offenbarung ausgesprochen. Die Offenbarung entlarvt zwar alle frühere Weisheit, war aber doch zugleich auch deren - nur eben verfehltes - Ziel: »Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt? Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloß Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten.« Eröffnet hier die Formulierung 'angesichts der Weisheit Gottes' die Möglichkeit einer Aufnahme ausgewählter heidnischer Stücke als Antizipationen des Christentums im Rahmen der natürlichen Theologie des Römer-Briefs? Zur Grundlegung christlicher Typologie cf. Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes, in: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 1-31. Zum ma. typologischen Denken die weiteren Aufsätze in diesem Band sowie die Ohlys Anregungen aufnehmenden Arbeiten der Münsteraner Mediävisten, so besonders Christel Meiers. Cf. auch den die Weite typologischen Denkens umreißenden Sammelband von Volker Bohn (Hrsg.): Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt a.M. 1988, besonders die Beiträge von Ohly: Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung, S. 22-63; Jean Pépin: Die frühe Hermeneutik, S. 97-113. Zur Ähnlichkeit mit der im Neuplatonismus der Spätantike entwickelten Allegorese älterer Texte (z.B. Homers oder der Orakel) cf. Heinrich Dörrie: Spätantike Symbolik und Allegorese, in: ders.: Platonica minora, München 1976, S. 112-123.
10 das die Weisheit der Antike rechtfertigte und seinerseits ein sapientiales Theologieverständnis etablierte. Das Ausbleiben der Parousie und die Umbildung der christlichen Eschatologie - ebenfalls bereits seit Paulus (1. Thessalonicherbrief) - forderten ein verstärktes Eingehen auf diese Welt, da jene Welt, die die Offenbarung verhieß, nicht hereinbrechen wollte. Eingehen aber bedeutete, sich innerhalb bestehender weltlicher Zusammenhänge zu positionieren, diese Welt (und das bislang in ihr Gedachte) in die eigene Lehre aufzunehmen. Die seit ihren Anfängen heftig diskutierte Rezeption antiken Denkens innerhalb eines christlichen Inkulturationsprozesses war durch die Typologie begründet und durch den Fortbestand der Welt nahezu unumgänglich geworden, wollte das Christentum nicht seine Diskutabilität und Wirkmöglichkeit verlieren. Die Notwendigkeit der Verweltlichung des Christentums nach dem Ausbleiben der Parousie veranschaulicht Hans Blumenberg: »(N)ur in bezug auf gültige, fortgeltende Wirklichkeit kann sich eine neue Lebensform realisieren, selbst als diskutables Element mit anderen Einstellungen in Vergleich treten. [...] 'Rezeption' bedeutet das Einströmen einer ganzen Welt in die ursprüngliche Weltlosigkeit einer eschatologisch begründeten Lehre.«10 Bei der frühkirchlichen Rezeption antiker Philosophie war die Frage nach deren Status entscheidend. Nach der Herkunft der antiken Weisheit zu fragen bedeutete, nach der Ursache für die Berechtigung ihrer typologischen Integration zu fragen: Warum konnte die antike Weisheit auf die christliche Offenbarung vorverweisen? Die für die christliche Ausformung des Integrationskonzepts bestimmende Antwort hatte bereits der zur Zeitenwende in Alexandria wirkende Diasporajude Philon in seiner Auseinandersetzung mit der hellenistischen Philosophie gegeben: Der Wahrheitsgehalt der griechischen Philosophie ist abhängig von der älteren jüdischen Weisheit der Offenbarung und der Propheten.11 Es gibt eine von der jüdischen Offenbarung abhängige und von den Patriarchen formulierte Urphilosophie, deren depravierter und durch Überlieferung in eine Vielzahl von Schulen zerstreuter späterer Nachfahre die antike Philosophie der Heiden ist. Die Eigenständigkeit der paganen antiken Philosophie wurde damit aufgehoben und in den geschichtlichen Rahmen eingefügt, den die Offenbarung mit dem Alten Testament vorgab: Die prisca theologia der antiken Philosophie wurde in den alles integrierenden Rahmen der translatio sapientiae gefügt. 12
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Hans Blumenberg: Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik. Strukturanalysen zu einer Morphologie der Tradition, in: Studium Generale 12 (1959), S. 485—497. Auch in V. Bohn: Typologie, a.a.O., S. 141-165, hier S. 143, 145. Blumenberg zeigt, wie Laktanz in den 'Divinae institutiones' (ca. 311 n.Chr.) durch Anknüpfung der christlichen Offenbarung an die Antike genötigt wird, der antiken Philosophie einen zunehmend größeren 'Vorbesitz' an Wahrheit zuzugestehen, bis schließlich die materiale Neuheit der christlichen Offenbarung nicht mehr vertreten wird (cf. ebd., S. 151). Cf. David T. Runia: Philo in Early Christian Literature. A Survey, Assen/Minneapolis 1993. Cf. W. Schmidt-Biggemann: Translatio sapientiae, in: Dialektik 1998/1, S. 47-72.
11 Nach Justinus dem Märtyrer13 beerbte diese außerordentlich wirkmächtige geschichtstheologische Konstruktion die Alexandrinische Schule. Diese Form der genealogischen Integration antiker Philosophie wird hier als apologetisch verstanden und von der als anti-apologetisch titulierten Desintegration der Antike unterschieden.14 Bei Clemens wird die heidnische Philosophie ausdrücklich und mit beträchtlichen Konsequenzen in eine inhaltliche und historisch-genealogische Abhängigkeit von der jüdisch-christlichen Offenbarungstradition gesetzt,15 die den Anspruch der christlichen Theologie als 'wahrer Philosophie' zementierte.16 'Wahre Philosophie' heißt: Es existiert eine Einheitswissenschaft, in der Philosophie und Theologie ununterscheidbar werden. Die Philosophie erhält selbst Offenbarungsdignität und fällt so mit der Theologie als Explikation der nicht philosophischen - das meint per se nicht begrifflich-spekulativen - Offenbarung zusammen. Formal gibt es so zwei Offenbarungsbereiche, den der Schrift und parallel dazu den der Philosophie. Ihrem Gehalt nach aber konvergieren beide Offenbarungen in einer Einheit, die sich in nur verschiedenen Medien aufschließt. Dieses Konzept einer inhaltlich homogenen, uralten und zuletzt im Göttlichen fundierten Einheitswissenschaft vermochte schlechterdings alles zu integrieren und sich stets als der von allen Zeugnissen bestätigte Vertreter der einen und einzig wahren Lehre zu präsentieren. In der Spätantike hatte dieses Integrationskonzept bereits der pagane Neuplatonismus ausgebaut und eine blühende Allegoresetechnik als Approbationsmethode entwickelt, die es ihm erlaubte, sich als >wahre Religion< in Form philosophischer Überwindung des antiken Polytheismus zu begreifen.17 Unter dem Titel Αληθής λογός hatte der Platoniker Kelsos bereits vor Orígenes und den christlichen Apologeten die gesamte antike Weisheit in einer kühnen Geschichtskonstruktion zusammengefaßt und als in ihrer Ausrichtung und Praxis religiöse Philosophie hohen Alters präsentiert.18 13
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Cf. H. Verweyen: Weltweisheit und Gottesweisheit bei Justin dem Märtyrer, in: W. Baier et al. (Hgg.): Weisheit Gottes - Weisheit der Welt, FS J. Ratzinger, St. Ottilien 1987, S. 603-613. Cf. unten den Abschnitt zu Jacob Thomasius antiapologetischer Philosophiegeschichte, Kap. II, 1.4. Das kann hier alles nur aufs knappste zusammengefaßt werden und bedürfte der ausführlicheren und differenzierenden Betrachtung. Cf. dazu W. Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a.M. 1998, Kap. 9. Cf. Ludger Honnefelder: Christliche Theologie als 'wahre Philosophie', in: Carsten Colpe et al. (Hgg.): Spätantike und Christentum. Beiträge zur Religions- und Geistesgeschichte der griechisch-römischen Kultur und Zivilisation der Kaiserzeit, Berlin 1992, S. 55-75. Cf. Heinrich Dörrie: Spätantike Symbolik und Allegorese, in: ders.: Platonica minora, München 1976, S. 112-123. Cf. Carl Andresen: Logos und Nomos. Die Polemik des Kelsos wider das Christentum,
12 Dem antwortete die christliche Selbstdeutung als >wahrer Philosophie^ wie sie sich bei Justin abzeichntete und dann in der Alexandrinischen Theologie ausgearbeitet wurde: Orígenes konnte in seiner großen Apologie des Christentums, die sich direkt gegen Kelsos richtete, dessen Konzept einer fundamental homogenen, mit dem Instrumentarium neu- resp. mittelplatonischer Philosophie spekulativ entfaltbaren Wahrheit übernehmen, nur freilich mit der entscheidenden Umakzentuierung, daß diese Wahrheit zwar philosophisch reformulierbar, in ihrem basalen Gehalt aber christliche Offenbarungsexplikation war.19 Zu diesem apologetischen Zweck übertrug Orígenes die im Piatonismus gepflegte Praxis der Mythen- und Homer-Allegorese auf die biblische Offenbarung, die damit nicht länger das vollends Neue, Anstößige und der antiken Philosophie schlechterdings entgegengesetzte Zeugnis eines 'unphilosophischen' Gottes (so die Polemik des Kelsos) blieb, sondern beanspruchen konnte, Quelle der wahren Theologie resp. Philosophie zu sein. Dargelegt hat Orígenes diese Lehre in der ersten systematischen Theologie des Christentums, deren Titel bereits das theologisch-philosophische Einheitskonzept und dessen universalen Anspruch anzeigte: In Περί αρχών entwickelte er gleichermaßen die Grundsätze (άρχαι) des christlichen Glaubens - des Kerygmas - wie die des Kosmos. Beide sind vorgegeben in der biblischen Offenbarung und werden durch die Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinnes erschlossen. Die Wahrheit jener vera philosophia, die Augustin als vera religio faßte, bestand nicht in ihrer partiellen Übereinstimmung mit antiken Philosophemen, sondern formulierte ein genau umgekehrtes Begründungsverhältnis: Sie beanspruchte die einzig gültige Form der Weisheit zu sein, deren Abglanz den Philosophen und Dichtern der paganen Antike als affirmative Momente geblieben war. Die wahre Religion stand nicht in einem Kontrastverhältnis zur Philosophie, sondern hob diese in sich selbst auf: »Wir Christen glauben und lehren ja, und unser Heil hängt daran, daß Philosophie, das heißt Weisheitsstreben, und Religion nicht voneinander verschieden sind.«20 Dieser Anspruch besaß überdies eine historische Dimension, insofern alle positive Philosophie weisheitsgenealogisch von Adams Teilhabewissen am Beginn der Schöpfung abgeleitet werden mußte - dieses ursprüngliche Wissen stammte freilich aus dem göttlichen Ewigkeitsraum jenseits der Geschichte. Jene Weisheitsgenealogien hat Augustin in De civitate Dei (lib. XVIII) präzisiert und dabei die Eingebun-
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Berlin 1955; Heinrich Dörrie: Die platonische Theologie des Kelsos in ihrer Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie aufgrund von Orígenes C. Celsum 7, 42ff., in: Platonica minora, München 1976, S. 229-262. Origen: Contra Celsum, ed. H. Chadwick, Cambridge 1953. Augustinus: D e vera religione, V, 8: »Sic enim creditur et docetur quod est humanae salutis caput, non aliam esse philosophiam, id est sapientiae Studium, et aliam religionem.«
13 denheit der griechischen Philosophie in den offenbarungstheologischen Rahmen der jüdisch-christlichen Tradition nachgewiesen. 21 Piaton und seine Nachfolger erschienen innerhalb einer solchen apologetischen Betrachtung der paganen Antike als ein besonders deutliches Exempel der latenten Christlichkeit der heidnisch-vorchristlichen Philosophie: Der transmundane, als Vater und Schöpfer qualifizierte Gottesbegriff Piatons im Timaios, dessen Weltentstehungslehre, die Auffassung von der Unsterblichkeit der menschlichen Seelen, die asketische Lebenspraxis und die Tugendlehre der Platoniker, nicht zuletzt auch deren mit den Christen geteilte Opposition gegen die polytheistischen Volksreligionen der Antike ließen sie als akzeptable Vorgänger der christlichen Theologie erscheinen, denen allein die Offenbarung gefehlt hatte. 22 Das Aufeinanderprallen divergierender Wahrheitsansprüche von antiker Philosophie und christlicher Offenbarung konnte so in einem wirkmächtigen Modell theologisch-philosophischer Einheitswissenschaft abgebremst werden. Es erlaubte die theologische Entfaltung des christlichen Glaubens mit den Mitteln der antiken Philosophie und integrierte diese in ein umfassendes, zuletzt göttlich fundiertes Konkordanzkonzept. Der Preis dieser Selbstdeutung als wahrer Philosophie war die eschatologische Radikalität und der Anspruch, das vollends Andere gegenüber allem Bestehenden zur Geltung zu bringen. Blumenberg hat das für die Entwicklung, die Laktanz während des Verfassens der Divinae Institutiones (etwa 311 n. Chr. fertiggestellt) vollzog, prägnant formuliert. Laktanz' Position am Ende des Werkes, das eine fundamentale, christlichskeptische Kritik der antiken Philosophie leisten sollte, widerspricht genau der ursprünglichen Darstellungsintention und gilt paradigmatisch für die sich selbst als vera philosophia beschreibende sapientiale Theologie der Patristik: »Auf den Anspruch materialer Neuheit der christlichen Offenbarung ist nun verzichtet; was sie hinzugebracht hat, ist die formale Möglichkeit der Unterscheidung, der Integration und dialektischen Sicherung, die certiora signa.« 23 Dieses Modell einer theologisch-philosophischen Fundamentalwissenschaft, das den Anspruch auf Anciennität mit dem auf zeitlose Gültigkeit verband, wurde in mannigfachen Ausprägungen seit der Patristik vertreten. Seine Basis war ein christlicher Piatonismus, der um eine akzeptable Bestimmung des prekären
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Cf. W. Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a.M. 1998, bes. Kap. 9, 2. Zu Augustine positiver Einschätzung Piatons und der Platoniker cf. bes. folgende Stellen: Johanneskommentar, III, 15, CCL XXXVI, 27; Psalmenkommentar XXXIII, 1,4, CCL XXXVIII, 276; Sermo 292, 3, PL XXXVIII, 1322. Cf. W. Geerlings: Libri platonicorum. Die philosophische Bildung Augustine, in: Piaton in der abendländischen Geistesgeschichte. Neue Forschungen zum Piatonismus, hrsg. v. Theo Kobusch u. Burkhard Mojsisch, Darmstadt 1997, S. 60-70. Hans Blumenberg: Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik, S. 151.
14 Verhältnisses von christlicher Offenbarung und platonischer Philosophie rang.24 Das einheitswissenschaftliche Konzept blieb freilich schon in der Spätantike nicht unwidersprochen, setzte sich aber unter dem Druck der hellenistischen Kultur in der Missionspraxis und zumal in den großen christologischen und trinitarischen Auseinandersetzungen während der dogmatischen Konsolidierungsphase des Christentums weitgehend durch. Jedenfalls war es ein Modell, das im Mittelalter - bei Eriugena, Albertus Magnus, Roger Bacon, Nicolaus Cusanus und vielen anderen - das Theologieresp. Philosophiekonzept bestimmte und in seiner Einheitlichkeit erst seit der Aristoteles-Rezeption des 12. und 13. Jahrhunderts wieder nachdrücklich in Frage gestellt wurde.25 1.2. 'vera philosophia' als 'philosophia perennis' - innerneuzeitliche Destruktionselemente Sofern es im christlichen Piatonismus gründete, kam dieses Modell in der rinasciamentalen Wiederbelebung platonischen Denkens erneut zum Tragen.26 Das patristische Konzept einer christlich-platonischen vera philosophia wurde in der Renaissance von Agostino Steucho mit dem programmatischen Titel philosophia perennis belegt27 und besaß eine reiche Blütezeit in den vielfältigen universalwissenschaftlichen, spirituellen oder kabbalistischen Variationen, die es bis zum Ende des Barock erfuhr.28 Die in der Spätantike ausgearbeiteten und im Mittelalter präsenten Topoi wirkten so in unzähligen Ausgestaltungen fort und ließen eine geradezu unerschöpfliche Fülle theologisch-philosophischer Spekulationen entstehen: Ihr Rahmen bestand im christlichen Monotheismus, in der Schöpfungstheologie und der heilsgeschichtlichen Ausrichtung auf ein einmaliges Finale der Welt. Ihre essentiellen Topoi waren ein in sich dynamisch
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'Piatonismus' wird hier zunächst undifferenziert als Oberbegriff für sowohl die genuine Lehre Piatons als auch für die philosophischen Entwürfe der nachplatonischen Akademie im sog. Mittel- und Neuplatonismus gebraucht und umfaßt auch (pseudo-)aristotelische Schriften. Dazu bes. Honnefelder: Christliche Theologie als 'wahre Philosophie', S. 73f. Der Averroismus stellte die Geschaffenheit der Welt und die Unsterblichkeit der Einzelseele - zwei theologische Essentials - philosophisch in Frage; der Nominalismus drohte durch die Annahme der kompletten Äquivozität des Seins jede theologisch sinnvolle Rede zu unterminieren. Cf. auch den neuen Sammelband zur Rezeptionsgeschichte platonischen Denkens: Piaton in der abendländischen Geistesgeschichte. Neue Forschungen zum Platonismus, hrsg. v. Th. Kobusch u. B. Mojsisch, Darmstadt 1997. Zum Renaissancepiatonismus dort den Beitrag von E. P. Mahoney: Marsilio Ficino und der Platonismus der Renaissance, S. 142-154. Augustinus Steuchus: De perenni philosophia, Lyon 1540, ND London/New York 1972. Cf. Charles B. Schmitt: Perennial Philosophiy. From Agostino Steucho to Leibniz, in: Journal of the History of Ideas 27 (1966), S. 505-532.
15 verfaßter, trinitarischer Gottesbegriff (meist subordinatianistischer Struktur), die Annahme einer schöpfungsvorgängigen Primordialwelt, die in der Schöpfung durch das göttliche Wort realisiert wurde, sowie die eschatologische Ausrichtung der Schöpfung auf diesen ihren primordialen Grund. Die Spekulationen, die den durch die Offenbarung vorgegebenen Rahmen ausfüllten, verstanden sich freilich nicht als kritisch autonomes Denken, als eigenständige, vom Göttlichen differente Rationalität, sondern als empfangene Weisheit, deren Dignität in ihrer Teilhabe am göttlichen Wissen besteht: philosophia adepta. Mit der Erfolgsgeschichte der frühneuzeitlichen philosophia perennis war beinahe von Beginn an ihre Infragestellung verbunden, so daß der Zeitraum ihrer Blüte fast zeitgleich ist mit dem einer sich zusehends nachdrücklicher artikulierenden Kritik. Die essentiellen Vorgaben der philosophia perennis werden in einem bis ins 19. Jahrundert andauernden Prozeß nach und nach destruiert.29 Dabei spielen für das 17. Jahrhundert zunächst mindestens folgende vier Kritikbereiche eine fundamentale Rolle: Die kritische Philologie enttarnt die wichtigsten Quellenbelege, die die spekulative Interpretation der Bibel mit platonisch-philosophischem Instrumentarium gerechtfertigt hatten, als Pseudepigraphen wesentlich jüngeren Alters (Corpus hermeticum, Dionysios Areopagita). Damit wird deren Anspruch auf Offenbarungsdignität und hohe Anciennität hinfällig (1). In den interkonfessionellen Auseinandersetzungen wird der Blick auf die dogmatische Konsolidierungsphase des Christentums in der Spätantike gelenkt und die Biblizität der Dogmatik hinterfragt. Am Maßstab eines strengen Biblizismus gemessen, erscheinen dogmatische Positionen - wie vornehmlich die orthodoxe Trinitätstheologie - als biblisch nicht belegt und werden als verfälschende Paganisierung des Christentums abgelehnt (Servet, Sozinianer). Die patristische Formulierung der Dogmatik wird so insgesamt problematisch und in den anhebenden Auseinandersetzungen um den Platonismus der Kirchenväter diskutiert (2). Dem entspricht die theologiegeschichtliche Desintegration der paganen Philosophie aus ihrer christlichen Vereinnahmung, so daß Philosophie- und Theologiegeschichte auseinanderfallen. Die vorchristliche Antike wird als eigenständige Epoche profiliert, deren philosophischer Lehrgehalt mit der christlichen Theologie kontrastiert. Die gleichwohl zu konstatierenden Vermischungen von heidnischer Philosophie und christlicher Theologie werden dann in antiapologetischer Hinsicht als Ketzergeschichte beschrieben (3). Das diskreditiert gleichermaßen den Status der in Opposition zur antiken Philosophie gebrachten Theologie wie auch den Wahrheitsanspruch der theologisch widerlegten Philosophie. Darauf antwortet u.a. ein eklektisches Philosophiekonzept, das weder theologisch ist noch einen philosophischen Wahrheitsanspruch jenseits praktischer Nützlichkeit aufrechterhält. 29
Cf. W. Schmidt-Biggemann: Die philologische Zersetzung des christlichen Piatonismus am Beispiel der Trinitätstheologie, in: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher »Philologien hrsg. v. Ralph Häfner, Tübingen 2001, S. 265-301.
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An die Seite der philologischen, dogmatischen und philosophiehistorischen tritt zudem noch die naturphilosophische Kritik, die eine am mathematischen Methodenideal orientierte und durch astronomische Beobachtungen gestützte Mechanik an die Stelle der spirituellen Naturauffassung setzt (4).30 Die vorliegende Arbeit versucht, einen kleinen Ausschnitt dieses Destruktionsprozesses zu beschreiben, indem sie nachzeichnet, wie in der seit Jacob Thomasius entstehenden Philosophiegeschichtsschreibung die Antike aus ihrer genealogischen Verflechtung mit der christlichen Wahrheit gelöst und zunächst in einen unvermittelbaren Kontrast zu ihr gesetzt wird (cap. 1). Diese antiapologetische Entlassung der paganen Philosophie in eine au fond unchristliche Eigenständigkeit wird als Bedingung dafür aufgefaßt, daß Piatonismus nun nach der patristischen und rinasciamentalen Verchristlichung zur pejorativen Bezeichnung wird.31 Die platonische Philosophie gilt dann nicht mehr als vornehmster Beleg für die Abkünftigkeit der paganen Philosophie von der jüdisch-christlichen Offenbarungstradition, sondern wird nun (wieder) als Ursprung christlicher Häretik betrachtet. Ehregott Daniel Colbergs Herleitung aller frühneuzeitlichen Schwärmerei aus dem Piatonismus und deren Kritik als platonisch-hermetisches Christentum macht den Bedeutungswechsel evident. 1.3. Bemerkungen zu theologischen und philosophischen Folgen der Destruktion Beim Nachvollzug jenes Destruktionsprozesses der philosophia perennis stellt sich die Frage nach alternativen Theologie- resp. Philosophiekonzeptionen, die als Resultat aus ihm hervorgehen. Die Schwierigkeiten, in die eine orthodoxe Theologie gerät, die die Philosophie fast komplett ausschließt und sich allein biblisch (sola scriptura) begründen will, müssen mitbedacht werden. Es zeigt sich dann, daß das vornehmlich lutherische Desintegrationskonzept angesichts der heterodoxen Infragestellung der Biblizität der Dogmatik auf ein praktisch orientiertes, bibelfrommes Christentum hinausläuft, wie das die gleichsam frühpietistische Frömmigkeit eines Jacob Thomasius zumindest ahnen läßt. Daß aber auch der gemäßigte Pietismus Speners und seiner Anhänger bald des paganen Piatonismus geziehen wird, veranschaulicht die aporetische Position der lutherischen Orthodoxie: Die von ihr vertretene Dogmatik ist ohne philo30
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Für diesen Zusammenhang ist die Kritik des Andreas Libavius an der paracelsistischen Naturphilosophie Crolls entscheidend; cf. dazu W. Kühlmann: Der vermaledeite Prometheus - Die antiparacelsistische Lyrik des Andreas Libavius und ihr historischer Kontext, in: Scientia Poetica 4 (2000), S. 30-61, sowie die Einleitung zum Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland, hrsg. v. W. Kühlmann u. J. Telle, Bd. 1, Tübingen 2001. Cf. auch P. R. Blum: Piatonismus, in: HWP 7, col. 977-985. Blum geht auf die hier zu skizzierende Bedeutungsverschiebung im späten 17. Jhd. nicht ein.
17 sophisches Instrumentarium nicht formulierbar, das Instrumentarium gilt aber weitgehend als pagane Infektion; der Anspruch, daß die Dogmatik ad litteram aus dem Bibeltext gewonnen werden könnte, kann nicht aufrechterhalten werden, philosophische Spekulation und allegorische Bibelexegese stehen aber nicht länger zur Verfügung, weil auch sie als heidnisch denunziert worden sind. Der Versuch einer Frömmigkeitsintensivierung unter Anerkennung der orthodoxen Dogmatik, aber unter gleichzeitiger Akzentuierung innerlicher Pietät, wie ihn Spener unternimmt, kann ebenfalls nicht akzeptiert werden, weil er die an der Innerlichkeit der Schwärmer kritisierte platonische Konkurrenztheologie fortzuführen scheint. Das Resultat: Die Bibel ist dogmatisch unzulänglich, die philosophisch-fromme Spekulation gilt als häretische Paganisierung und auch die Innerlichkeit des Pietismus erscheint als unchristlicher Piatonismus. Die Folgen für die orthodoxe Theologie des Luthertums sind schwerwiegend und werden durch die prononcierte Bibelkritik des 18. Jahrhunderts zusehends verschärft. Die schroffe Kontrastierung von Antike und Christentum, wie sie in frommer Absicht Thomasius inaugurierte, hilft schließlich mit, die orthodoxe Position zu zersetzen, zu deren Anerkennung sie ursprünglich beitragen sollte. Die Desintegration der antiken Philosophie stellte zunächst ein wichtiges Element im Destruktionsprozeß der philosophia perennis dar; sie wurde überdies für die Entwicklung der modernen protestantischen Theologie von entscheidender Bedeutung, weil sie nachdrücklich die Frage nach der Authentizität christlicher Lehre zur Geltung brachte und dazu angetan war, ein unspekulatives, und d.h. undogmatisches Christentum zu legitimieren, das sich vornehmlich auf die praktisch religiösen Implikationen der evangelischen Berichte stützte. Gleichsam als Abschluß jener seit den Tagen der Reformation geführten Authentizitätsdiskussionen um Anteil und Bewertung griechischer Philosophie im Christentum hat Adolf von Harnack die These einer umfassenden Hellenisierung des Christentums formuliert. 32 In seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte (1885) beschreibt Harnack die spätantike Herausbildung des katholischen Dogmas als Verfälschung eines ursprünglich evangelisch begründeten Christentums, aus dessen Frohbotschaft eine mit den Mitteln griechischen Denkens formulierte Dogmatik mit Gehorsamsanspruch geworden sei. Harnack behauptete allerdings nicht allein eine formale Einflußnahme des Hellenismus 33 auf das dogmatisch sich formulierende Christentum, sondern auch
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Die Vorgeschichte hat zusammengetragen Walther Glawe: Die Hellenisierung des Christentums in der Geschichte der Theologie von Luther bis auf die Gegenwart, Berlin 1912, ND Aalen 1973. Harnack versteht unter 'Hellenismus' nicht Droysens Epochenbegriff (vom Tod Alexanders bis zum Beginn der römischen Kaiserzeit) im engeren, sondern eher mit Jakob Burckhardt eine 'Kulturepoche' im weiteren Sinne, cf. J. Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, Berlin/Stuttgart 1898-1902, Bd. IV, S. 348.
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eine materiale.34 Dabei ging er soweit, zu unterstellen, daß der fundamentale Gehalt der christlichen Dogmatik die vollständige Integration der evangelischen Botschaft in ein ihr wesensfremdes Element, die griechische Philosophie, bezeuge: »Die neutestamentliche Botschaft ist eingegliedert in eine Erkenntnis der Welt und des Weltgrundes, die bereits ohne Rücksicht auf sie gewonnen war.«35 Ein antikatholischer Impetus und der typisch protestantische Versuch, über alle dogmatischen Verkrustungen hinweg an die im Bibeltext liegende Frohbotschaft des Evangeliums unmittelbar anzuknüpfen, waren in Harnacks historischen Untersuchungen leitend. Die Konsequenz seiner Hellenisierungsthese besteht jedoch zuletzt in einer derart radikalen Historisierung des Dogmas, daß Harnack auch mit der protestantischen Orthodoxie in Auseinadersetzungen geriet, deren Höhepunkt der Apostolikums-Streit war. In seiner Dogmengeschichte hatte Harnack die Biblizität der Dogmatik insgesamt angezweifelt, so daß sich auch die protestantische Kirche angegriffen fühlen mußte. Harnack konstatierte lakonisch und mit unverhohlener Spitze gegen das sola scriptura als Basis protestantischer Lehre: »Die Behauptung der Kirchen, daß die Dogmen lediglich die Darlegung der christlichen Offenbarung selbst seien, weil aus den heiligen Schriften gefolgert, wird von der geschichtlichen Forschung nicht bestätigt. Vielmehr ergibt diese, daß das dogmatische Christentum (die Dogmen) in seiner Konzeption und seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums ist [...]. Die begrifflichen Mittel, durch die man sich in der antiken Zeit das Evangelium verständlich zu machen und zu versichern versucht hat, sind mit dem Inhalt desselben verschmolzen worden. So ist das Dogma entstanden.«36 Die theologischen Folgerungen, die für die Gestalt und Entwicklung der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung waren, hat Harnack selbst in seinen Vorlesungen Das Wesen des Christentums mit großem Erfolg gezogen.37 Sie bezeugten die vorläufige Durchsetzungskraft eines entdogmatisierten, unter die Kategorien 'sozialistisch' und 'individualistisch' gebrachten liberalen Kulturprotestantismus.
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Zur Auseinandersetzung mit Harnacks These hinsichtlich der orthodoxen Trinitätstheologie cf. M. Lutz-Bachmann: Hellenisierung des Christentums? in: Carsten Colpe et al. (Hgg.): Spätantike und Christentum. Beiträge zur Religions- und Geistesgeschichte der griechisch-römischen Kultur und Zivilisation der Kaiserzeit, Berlin 1992, S. 77-98. Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Tübingen 1885, Bd. 1, S. 19. Adolf von Harnack: Dogmengeschichte, 1. Aufl. 1889/91, 8. Aufl. Tübingen 1991, S.4. Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums, Leipzig 1900. Allein in der ersten Jahrhunderthälfte erschienen bis zu der von Rudolf Bultmann bevorworteten Ausgabe 15 Auflagen, es wurde in 14 Übersetzungen verbreitet. Der Titel geht auf Semlers gleichlautenden Traktat von 1780 zurück.
19 Die vielleicht wichtigste philosophische Folge der Destruktion jenes Konkordanzkonzepts der philosophia perennis bestand in einer umfänglichen Emanzipation der Philosophie aus ihrer offenbarungstheologischen Integration. Die historisierende Ausgrenzung sowohl der platonischen als auch der aristotelischen philosophia Christiana in der entstehenden kritischen, zunächst antiapologetischen, dann eklektischen Philosophiegeschichtsschreibung verband sich daher seit Jacob Thomasius mit einer Reflexion auf den Begriff der Philosophie, der autonom wurde. Die Autonomie der (paganen) Philosophie war der Grund ihrer offenbarungstheologisch fundierten Ablehnung bei Jacob Thomasius; in der eklektischen Frühaufklärung wurde sie dann zur programmatischen Forderung, die sich durch Rückgriff auf die Philosophiehistorie legitimierte. In der Loslösung der Philosophie aus ihrer theologischen Einrahmung lag einerseits die Chance, Inhalte denkerisch zu erschließen, die im offenbarungstheologischen Rahmen vorausgesetzt wurden. Das kritische Potential einer theologisch ungebundenen Vernunft konnte sich entfalten und als Metaphysikkritik etablieren. Dessen allmähliche Durchsetzung hatte schließlich im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Esoterisierung des alten Modells der philosophia adepta zur Folge, die in marginale Zirkel abgedrängt wurde. Andererseits lag in der Durchsetzung eines autonomen Vernunftideals in Philosophie und Wissenschaft die Gefahr, den philosophischen Fragehorizont aufgrund methodischer Erwägungen so weit einzuschränken, daß ehemals fundamentale Fragezusammenhänge ausgeschlossen wurden. Das bedeutete dann ein selbstgewähltes Frageverbot der Philosophie und einen beträchtlichen Kompetenzverlust. Es führte außerdem zu einer stilisierenden Selbstabgrenzung moderner Philosophie von einer langen Tradition spekulativen Denkens, die der Vergessenheit anheimzufallen drohte. Gerade weil deren Wahrheitsanspruch mit dem neuerer Wissenschaft und Philosophie nicht ohne weiteres kompatibel war, bereichert ihre Wahrnehmung. Mit Ludger Honnefelder mag man in dem einheitswissenschaftlichen Konzept der vera philosophia und ihrer frühneuzeitlichen Fortführung als philosophia perennis eine Überforderung sowohl der Theologie als auch der Philosophie erblicken und eine thomistische Bereichsabgrenzung begrüßen: Dann »bleibt nur ein dritter Weg, wie ihn Thomas von Aquin beschreitet: Philosophie und Theologie als zwei eigene Disziplinen zu verstehen, die auf je eigene partikulare Weise einen universalen Anspruch verfolgen und deshalb in einem Zusammenhang wechselseitiger Verweisung stehen.«38 Das die Logik strapazierende moderate Modell, auf partikulare Weise einen universalen Anspruch geltend zu machen, wird zuletzt von dem Anspruch der 38
Cf. Ludger Honnefelder: Das Verhältnis von Theologie und Philosophie als veränderndes Moment in der Entwicklung des Selbstverständnisses der Philosophie, in: W. Kluxen (Hrsg.): Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch, Freiburg/München 1975, S. 272-275.
20 Disziplinen unterlaufen. Sofern Philosophie sich nicht darauf beschränkt, instrumentelles Organon zur Bewältigung von Alltagsproblemen oder wissenschaftstheoretisches Begleitarsenal zu sein, solange sie sich mithin als fundamentale Fragedisziplin konstituiert, und sofern Theologie nicht die begriffliche Fassung ihrer Denkinhalte verweigert, bleiben sie aufeinander bezogen. Dieser Bezug vermag ihrer jeweiligen Marginalisierung - wenn überhaupt - entgegenzuwirken. Daher ist Werner Beierwaltes zuzustimmen, der die gegenseitige Angewiesenheit beider Wissenschaften betont: »Theologie braucht Philosophie als ihre Form der begrifflichen Reflexion und als sachliches Fundament und Implikat ihrer zentralen Denkinhalte; und Philosophie braucht Theologie, sofern sie sich nicht der für sie seit ihren Anfangen zentralen Frage nach dem Absoluten, dem Sein selbst, dem Gott als der Fülle von Sein und Denken umstandslos, d.h. durch eine nicht zu verantwortende Nachlässigkeit, Ignoranz oder aus systematischer Verweigerung entziehen möchte.«39 Wer Philosophie und Theologie gänzlich separieren möchte, um eine Überforderung der Philosophie zu vermeiden, reduziert beide um essentielle Problemkomplexe, die aus der theologischen wie aber auch bereits aus der vorchristlich philosophischen Frageperspektive menschlichen Daseins erwuchsen: Die Fragen nach den ersten Prinzipien des Seins, nach dem Grund der Welt, nach der Bestimmung des Menschen, aber auch nach der Begründung von Ethik und Politik verbleiben im komplexen Spannungsfeld von Philosophie und Theologie. Deren gegenwärtige Erörterung setzt jedoch die Wahrnehmung ihrer Kritik und damit die historische Rückversicherung voraus.40
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Werner Beierwaltes: Piatonismus im Christentum, Frankfurt a.M. 1998, S. 8. Cf. bsplw. folgende Sammelbände: Vom Ersten und Letzten. Positionen der Metaphysik in der Gegenwartsphilosophie, hrsg. v. U. J. Wenzel, Frankfurt a.M. 1998 und Die philosophische Gottesfrage am Ende des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. H. M. Baumgartner u. H. Waidenfels, München 1999.
II. Heidnisches im Christentum. Jacob Thomasius' Philosophiegeschichte als Ketzergeschichte Jacob Thomasius - am 25. August 1622 geboren - kann als Inbegriff barocker protestantischer Gelehrsamkeit gelten:1 In einer großen Zahl äußerst konzentrierter Darstellungen und in vielen von ihm präsidierten Disputationen hat er sich der unterschiedlichsten Themen der historia literaria angenommen. Das Spektrum reicht von der vorsokratischen Elementenlehre bis zu einer Geschichte des Machiavellismus und der Monarchomachen, von Lehrbüchern zur aristotelischen Philosophie über Darstellungen kirchenväterlicher Lehre bis zu Auseinandersetzungen mit der neuen Philosophie eines Hobbes und sogar Spinoza; es reicht von Logik und Dialektik über Geschichte der mittelalterlichen Metaphysik bis hin zu Kompendien praktischer Philosophie, Betrachtungen zur Reichsgeschichte fehlen ebensowenig wie solche zu unterschiedlichen Duellarten - schließlich findet sich gar eine noch 1748 ins Deutsche übersetzte Gründliche Historische Nachricht von denen Zigeunern, darinnen nebst andern Merckwürdigkeiten dieses Volcks insonderheit desselben Ursprung [...] Fortpflantzung und Ausbreitung in Teutschland und andern europäischen Ländern [...] erwiesen wird.2 Doch Jacob Thomasius' Werk zerfällt nicht in eine bloße Ansammlung unterschiedlichster Darstellungen bisweilen entlegenster Gegenstandsbereiche, vielmehr folgt es einem Gelehrsamkeitsideal, dessen Fluchtpunkt in der praktischen Anwendbarkeit des versammelten Wissens liegt. Die vielen historischen Skizzen sollen nicht bloß die Wissbegierde des Publikums befriedigen, sondern sie sind so angelegt, daß ihr Gegenwartsbezug entweder durchscheint oder
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Zur Vita cf. Jocher IV, col. 1163-65; Zedier XLIII, col. 1603-05; G. Aceti: Jakob Thomasius ed il pensiero filosofico-giuridico di Goffredo Guglielmo Leibniz, in: Jus Ν. S. 8 (1975), S. 259-319, hier 260-265; R. Sachse: Jacob Thomasius. Rektor der Thomasschule, in: Jahresbericht des Thomasgymnasiums in Leipzig 1893/94; ders.: Art. Jacob Thomasius in derADB, Bd. 38, S. 107-112; W. Totok: Handbuch der Geschichte der Philosophie, Frankfurt a.M. 1981, Bd. 4, S. 374-376; U. G. Leinsle: Reformversuche protestantischer Metaphysik im Zeitalter des Rationalismus, Augsburg 1988, S. 139f.; Herbert Jaumann: Art. 'Thomasius, Jakob', in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. v. W. Killy, Bd. 11 (1991), S. 348f. Zum Werkverzeichnis cf. den genannten Artikel im Zedier, col. 1604-08, sowie Totok, S. 375f.
22 offen ausgesprochen wird - das in ihnen versammelte historische Material tritt zumeist in den Dienst zeitgenössischer Fragestellungen.3 Trotz der Vielfalt der behandelten Themen lassen sich doch zwei Gegenstandsbereiche erkennen, denen sich Thomasius in seinen Arbeiten vornehmlich zugewandt hat: Sein Hauptinteresse galt der historischen Beschreibung des Verhältnisses von antiker Philosophie und christlicher Theologie in der Absicht »der unnützen, ja wohl schädlichen Vereinigung der Heydnischen Philosophie mit der Christlichen Religion vorzubeugen.«4 Zu diesem Zweck widmete sich Thomasius ausführlich dem Studium der wichtigsten antiken Philosophenschulen und entwarf in seinen größeren historischen Arbeiten Rezeptionsgeschichten, in denen das Eindringen der in ihren zentralen Lehrinhalten vom Christentum als gänzlich verschieden betrachteten paganen Philosophie nachgezeichnet wurde und die zugleich die historische Eigenständigkeit der antiken Philosophie profilierten: Im Schediasma historicum verfolgte Thomasius die Geschichte der Einmischung aristotelischer und platonischer Philosophie ins Christentum, die die zwei großen Häresietraditionen von scholastischer und mystischer Theologie erzeugt hätte. Die Exercitatio de Stoica mundi exustitione ergänzte die Geschichte heidnischer Infiltrationen im Christentum durch eine Analyse der Hauptmuster stoischen Denkens. In der Absicht, die Unvereinbarkeit von heidnischem Denken und christlicher Offenbarung herauszustellen, lag der Impetus der philosophiehistorischen und kirchengeschichtlichen Arbeiten des Leipziger Lutheraners. Wenn Thomasius daher bisweilen als Begründer der Philosophiegeschichte angesehen wird5 und auch Brucker betonte, es hätte zu dessen Zeit niemand die Geschichte der Philosophie besser gekannt als Thomasius,6 so darf darüber nicht die gleichsam negative Motivation vergessen werden, die Thomasius zur Beschäftigung mit den historischen Zeugnissen antrieb und die in seiner Ablehnung aller Akkomodations versuche heidnischen Denkens an die christliche Lehre begründet lag.7 Seine philosophiehistorischen Arbeiten können daher als Ausprägung eines spezifisch protestantischen 'AntiHumanismus' verstanden werden, der hier ausführlicher profiliert und - weniger emphatisch und auf jene von Thomasius fortgesetzten innerkirchlichen Positio-
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Cf. Gunter E. Grimm: Vom Schulfuchs zum Menschheitslehrer. Zum Wandel des Gelehrtentums zwischen Barock und Aufklärung, in: H. E. Bödecker et al. (Hrsg.): Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, Göttingen 1987, S. 14-38. Zedier XLIII, col. 1604. Cf. Leinsle: Reformversuche, S. 139; E. Lewalter: Spanisch-jesuitische und deutschlutherische Metaphysik des 17. Jahrhunderts, ND der Ausgabe Hamburg 1935, Darmstadt 1967, S. 80. Cf. V. Ph. Gumposch: Die philosophische Literatur der Deutschen von 1400 bis um 1850, Regensburg 1851, ND hrsg. v. L. Geldsetzer, Düsseldorf 1967, S. 46. Cf. dazu unten den Abschnitt: Thomasius philosophiegeschichtliches Konzept II, 2.4.
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nen bezogen - als 'Anti-Apologetik' bezeichnet werden soll.8 Allerdings steht Thomasius' anti-apologetische Haltung in einem Spannungsverhältnis zu seiner differenzierten Betrachtung der aristotelischen Philosophie, die er als Schul- und Universitätslehrer keineswegs ablehnte.9 Der zweite, jedoch wirkungsgeschichtlich weniger gewichtige Schwerpunkt von Thomasius' Arbeiten lag im Bereich der praktischen Philosophie, der er sich in einer tabellarischen Zusammenfassung der Nikomachischen Ethik, wie der philosophia practica überhaupt, annahm und der er in verschiedenen kleineren Werken, etwa über die Frage nach der rechten Lebensführung oder nach dem Verhältnis der Tugenden, nachging. Auch die Arbeiten zur Reichsgeschichte sowie zur politischen Geschichte gehören in den Zusammenhang seiner praktischen Philosophie, die das Komplement zu den historisch-gelehrten, scheinbar den Bereich geistiger Anschauung nicht verlassenden Werken darstellt.10 Die Relevanz eines auf praktische Anwendung zielenden Denkens im Werk des Thomasius liefert eine zweite Deutungskategorie, die bei der Analyse der philosophiehistorischen Arbeiten nicht ohne Relevanz ist und die gleichsam aus ihnen resultiert: Thomasius' 'protestantischer Praktizismus' (Hübener) entspricht der in seinen historischen Schriften ausführlich dargelegten Ablehnung aller als antichristlich qualifizierten theoretischen Philosophie.11 Darin liegt auch der Grund für die zunächst paradox scheinende Tatsache, daß Thomasius trotz seiner strikten Ablehnung heidnischer Philosophie im Christentum am Fortbestand des universitären Aristotelismus interessiert war.12 Seine Lehrbücher zur aristotelischen Metaphysik, Logik, Physik und Ethik tradierten zwar Muster paganer Philosophie, integrierten diese aber als knappe Kompendien in eine Unterrichtspraxis, in der sie nur noch eine propädeutisch-instrumentelle Bedeutung besaßen. Indem auf diese Weise ein in seinem Anspruch beschnittener Aristotelismus an den Universitäten weiterexistieren sollte, hoffte Thomasius den Einzug der neuen libertas philosophandi
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Zum Begriff Anti-Humanismus cf. Henri Gouhier: L'Anti-humanisme au XVIIe siècle, Paris 1987. Die philosophiegeschichtlichen Arbeiten des Thomasius sind als Anti-Humanismus bezeichnet worden von Ralph Häfner: Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien, in: Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung (Frühe Neuzeit, Bd. 37), Tübingen 1997, S. 141-164, 152. Cf. dazu unten den Abschnitt: Die Kritik am christlichen Aristotelismus, II, 2.3. Zu Thomasius' Kritik am Machiavellismus und an einer nicht normativ bestimmten Staatsräson-Definition cf. M. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, München 1988, Bd. 1, S. 208f. Cf. dazu unten das Kapitel: Thomasius' protestantischer Praktizismus, II, 4.1. Zu Thomasius im Kontext der lutherischen Schulphilosophie cf. W. Spam: Die Schulphilosophie in den lutherischen Territorien, in: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts (=Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet v. Friedrich Überweg), Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa, hrsg. v. Helmut Holzhey u. W. Schmidt-Biggemann, Basel 2001,1, § 11, S. 518-520.
24 verhindern zu können, die ihm in der nachdrücklich abgelehnten Philosophie des Cartesianismus und dann besonders im als deren Konsequenz verstandenen 'Naturalismus' Spinozas entgegentrat.13 Ein eingeschränkter Aristotelismus schien als Instrumentaldisziplin weit weniger gefährlich als die Öffnung der Universitäten gegenüber der Lehre Descartes' und seiner Anhänger.14 Für den Gehalt der von Thomasius vertretenen christlichen Unterrichtspraxis schien schließlich die von Spinoza im 1670 anonym veröffentlichten Theologisch-politischen Traktat eingeforderte Freiheit des Philosophierens, die jede Einordnung der Philosophie in den Rahmen der Offenbarungstheologie aufhob, existenzbedrohend. Durch seine unmittelbare, noch im gleichen Jahr erfolgende Reaktion auf Spinozas Desintegration der Philosophie aus ihrer theologischen Eingebundenheit hoffte Thomasius dessen Wirkung aufhalten zu können. Die Thomasius' Werk anleitende protestantische Praxisemphase mit ihrem christlich- pädagogischen Impetus verbindet Leben und Werk des frommen Lutheraners, der im Leipziger Lehrbetrieb des ausgehenden 17. Jahrhunderts eine wichtige Stellung innehatte und dessen Nachruhm sich auch zumeist mit den Namen seiner berühmtesten Schüler verknüpft: Als akademischer Lehrer war er für den jungen Leibniz und seinen Sohn Christian von großer, für Pufendorf wohl von gewisser Bedeutung.15 Jacob Thomasius hatte seine Lehrtätigkeit an der Universität Leipzig 1652 als Dreißigjähriger durch die Übernahme der Professur für Moralphilosophie als Nachfolger von Friedrich Leibniz - dem Vater seines späteren Schülers - begonnen. Aber bereits als Student hatte der gebürtige Leipziger Thomasius Erfahrungen an der Universität seiner Geburtsstadt sammeln können, die er nach dem Besuch des Gymnasiums in Gera 1640 mit 18 Jahren bezogen hatte. Trotz der Schäden durch den Dreißigjährigen Krieg beherbergte Leipzig in der zweiten Jahrhunderthälfte die größte deutsche Universität, die keine reine Landesuniversität war, sondern von protestantischen Studenten aus ganz Europa aufgesucht wurde16 - deren wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ruf aber 13
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Jacob Thomasius: Adversus Anonymum, De liberiate philosophandi, Programma L, in: Dissertationes LXIII [...], editae a filio Christiano Thomasio [...], Halle 1693. Cf. dazu W. Spam: Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza, in: K. Gründer, W. Schmidt-Biggemann (Hrsg.): Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung, Heidelberg 1984 (Wolfenbüttler Studien zur Aufklärung; 12), S. 27-63, 30-32. Thomasius hat später Leibniz' Versuche, Cartesianismus und Aristotelismus zu versöhnen, abgelehnt, cf. Thomasius' Brief an Leibniz vom 2. Oktober 1668, in: Akademie-Ausgabe II, 1, S. 12ff. Zur Wirkung Thomasius' an der Leipziger Universität cf. Detlef Döring: Der junge Leibniz und Leipzig. Ausstellung zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz im Leipziger Rathaus, Berlin 1996, bes. 73-76. Cf. Geschichte der Universität in Europa, hrsg. v. W. Rüegg, München 1996, S. 339f.
25 gemeinhin als gering galt.17 Ob Thomasius vor der berüchtigten Sittenverderbnis der Leipziger Studenten, die sich besonders gegen die neu Immatrikulierten richtete, zurückgewichen ist, bleibt unklar; jedenfalls wechselte er noch im selben Jahr an die wesentlich kleinere Universität Wittenberg. An der Hochburg lutherischer Orthodoxie studierte er zwei Jahre Philosophie und lernte dort mit Johann Scharff einen der bedeutendsten protestantischen Schulmetaphysiker kennen, der nachdrücklich für die Trennung von natürlicher Theologie und metaphysica generalis eintrat und bei dem Thomasius mit einer Dissertation De relatione disputierte.18 Als Waise konnte sich Thomasius keine ausgreifendere peregrinatio académica leisten, und so kehrte er denn von Wittenberg bereits 1642 nach Leipzig zurück, wo er nach dem Baccalauréat 1643 zum Magister promoviert wurde, »wodurch er denn Gelegenheit bekam, in Collegiis und Disputationen seine Erkänntnis in den schönen Wissenschaften und Philosophie mehr und mehr sehen zu lassen.«19 Aus dem brotlosen Studium vermag Thomasius 1648 als Lehrer an die Leipziger Nicolaischule zu kommen, die auch Leibniz später besuchte und deren Konrektor er bereits 1650 wurde.20 Damit begann Thomasius' Karriere, in deren Verlauf er zu einem der wichtigsten Leipziger Pädagogen wurde. Als Professor für Morallehre wurde Thomasius dann nur zwei Jahre später an die Universität berufen. Die nächsten Stationen seiner universitären Laufbahn waren die Übernahme der Dialektik- (1656) und dann der Rhetorik-Professur (1659). Im gleichen Jahr noch wurde Thomasius das Rektorat der Leipziger Universität übertragen. Wohl aufgrund seines pädagogischen Eifers hat er darauf verzichtet, vom anstrengenden Lehrbetrieb an Schule und Universität in eine ruhigere Gelehrtenposition - etwa bei Hofe oder als Bibliothekar - zu wechseln. Mit der Verleihung der Rektorate zuerst der Nicolai- (1670) und dann der Thomasschule (1676) erkannte schließlich die Stadt seine wissenschaftlichen und vor allem pädagogischen Leistungen an, indem sie ihm die Leitung ihrer wichtigsten und angesehensten Schulen anvertraute.21 Auch hier bewies sich Thomasius als praktischer Schulmann, der durch eine Bildungsreform das Unterrichtsniveau an den Schulen zu steigern versuchte. 17
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Cf. Döring: Der junge Leibniz, S. 60ff. Döring (S. 67) weist allerdings auf den Vorurteile begünstigenden mangelhaften Forschungsstand hin. Zu Scharff cf. Eva-Maria Rompe: Die Trennung von Ontologie und Metaphysik. Der Ablösungsprozeß und seine Motivierung bei Benedictus Pererius und anderen Denkern des 16. und 17. Jahrhunderts, Bonn 1968, S. 252-262. Als weitere Wittenberger Lehrer nennt der Artikel im Zedier Prof. August Buchner (Beredsamkeit), Prof. Johann Sperling (Physik), Prof. Nicolaus Pompejus (Mathematik), M. Sperling (Hebräisch) und M. Albert Giintzel (Philosophie). Zedier, XLIII, col. 1604. Zu Thomasius' Schultätigkeit cf. seine Tagebuchaufzeichnungen: Acta Nicolaitana et Thomana, hrsg. v. R. Sachse, Leipzig 1920. Cf. R. Sachse: Jacob Thomasius. Rektor der Thomasschule, in: Jahresbericht des Thomasgymnasiums in Leipzig 1893/94.
26 Nach zweimaliger Ehe und als Vater von zehn Kindern starb Jacob Thomasius nach einem schweren Fieber zweiundsechzigjährig am 9. September 1684. Jacob Thomasius' Bedeutung als Lehrer, Philosophiehistoriker und Universitätsphilosoph ist aufgrund seiner Vielfältigkeit nicht leicht abzuschätzen. Am eigenständigsten und wirkmächtigsten sind seine philosophiehistorischen Arbeiten gewesen, in denen Antike und Christentum auseinanderdividiert und zugleich in ihren unheilvollen Verflechtungen skizziert wurden. Durch die Annahme, daß die von Thomasius historisch beschriebenen Konkurrenztraditionen auch gegenwärtig noch wirkten, hatte Thomasius ein vielfältig verwendbares Arsenal von historisch-systematischen Argumenten geschaffen, das einen guten Teil der Diskussionen im Spanungsfeld von lutherischer Orthodoxie, frühaufklärerischer Eklektik und pietistischer Erneuerung am Ende des 17. und im frühen 18. Jahrhundert bestimmte. Die hochgelehrten, überaus gewissenhaften und bisweilen beinahe etwas umständlichen Traktate waren also durchaus dazu geeignet, in den aktuellsten Kontroversen Argumente zu liefern.22 Darüber darf freilich nicht die Verwurzelung dieser Arbeiten - wie etwa des hier näher zu betrachtenden Schediasma historicum - in alten kontroverstheologischen bzw. antiapologetischen Mustern übersehen werden. Die in der Einleitung gestreifte frühkirchliche Antiapologetik und Häresiologie - vor allem Tertullian und Irenäus - zum einen und die Tradition reformatorischer Kirchengeschichtsschreibung - besonders Flacius Illyricus - zum anderen stellen den weiteren Hintergrund der historischen Arbeiten des Leipziger Lutheraners dar und sind durch zahlreiche Zitate auch in seinen Texten inhaltlich gegenwärtig. Dieser altkirchlich-protestantische Hintergrund von Thomasius' Philosophiegeschichtsschreibung muß berücksichtigt werden und verknüpft sich mit einem praktischen Frömmigkeitsideal, das durch seine historischen Bewertungen immer wieder durchscheint und dem er bisweilen deutlichen Ausdruck verliehen hat. Wird diesen Zusammenhängen Rechnung getragen, so rückt Jacob Thomasius von der ihm bisweilen zugeschriebenen Positionierung im Umkreis eklektischer Gelehrsamkeit ab und erscheint vielmehr als Teil einer neuzeitlich spezifisch innerprotestantischen Entwicklungslinie, die im Gefolge der Unterscheidung Luthers zwischen natürlichem und Offenbarungswissen aus religiösen Motiven die Trennung von Theologie und Philosophie herbeizuführen versuchte. Dabei konnte Jacob Thomasius zudem auf die Kritik am rinasciamentalen Piatonismus zurückgreifen, wie sie sich etwa im Werk De ethnicis philosophis caute legendis (Rom 1594) des Italieners Johann Baptist Crispus geäußert hatte.
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H. Jaumann: Öffentlichkeit und Verlegenheit. Frühe Spuren eines Konzepts öffentlicher Kritik in der Theorie des >plagium extrajudicale< von Jakob Thomasius, in: Scientia Poetica 4 (2000), S. 62-82.
27 Der katholischer Theologe und zeitweilige Philosphieprofessor in Rom23 hatte sich mit Blick auf den neuen Piatonismus gegen die Interpretation der Offenbarung mit den Kategorien heidnischer, vornehmlich platonischer Philosophie gewandt und die unüberbrückbare Differenz zwischen Offenbarungstheologie und paganer Philosophie dadurch aufzuzeigen versucht, daß er »alle Schrifften der alten Philosophorum durchzugehen, und die Irrthümer derselben zu zeigen ex Decretis Pontificum & Conciliorum, ex Patribus & Theologis Christianis« sich vornahm.24 Das tridentinische Modell der biblia in traditione sollte offenbar durch den Ausschluß der paganen Philosophie stabilisiert und die dogmatische Tradition gegen ihre Herleitung aus der heidnischen Philosophie immunisiert werden. Von den geplanten Untersuchungen stellte Crispus jedoch nur die erste fertig, die sich aufgrund der aktuellen Relevanz mit der platonischen Philosophie beschäftigte und gegen die Protagonisten des Renaissancepiatonismus (v.a. Ficino, Steucho) gerichtet war. Für Jacob Thomasius antiapologetisches Modell der Philosophiegeschichte war die Differenzierungsarbeit des Italieners anschlußfähig - aus protestantischer Perspektive ließ sie sich über die vorchristliche Philosophie hinaus verschärfen, weil die Theologie an keine historische Tradition von Kirchenvätern und Konzilsbeschlüssen gebunden war, sondern diese vielmehr sellbst der historischen Kritik aussetzen konnte.25
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Das philosophiehistorische Konzept: Dichotomie von Antike und Christentum als Movens antiapologetischer Philosophiegeschichte
1.1. Philologische Destruktion des consensus patrum und der prisca sapientia In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatten sich die philologisch-dogmatischen Erörterungen über die Interferenz von paganer Philosophie und christlicher Theologie zunächst auf deren Schnittstelle in der Patristik konzentriert. Vor dem
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Über die Vita des Crispus ist kaum etwas bekannt. Zum Impetus seines Werkes cf. Possevin: Apar. S. T. II, p. 117: »Iohannes Baptista Crispus, Gallipolitanus, quae civitas est in regno Neapolitano, vir vere philosophus, qui nimirum acri, & quali Christianum decet, judicio philosophiam expendit, librum fat grandem de philosophis caute legendis ita scripsit, ut quaecunque haereses a philosophis minus cautis manarunt, eae judicatae sint ac solidis rationibus confutatae ex divinis scripturis & patribus, ex Synodorum decretis, ex Scholasticis, quibus cautionibus praemuniti phüosophi sive publici professores inoffenso pede curriculum hoc decuirent, tantamque ancillam recta adducent ad arcem.« Zitiert nach Christoph August Heumann: Acta philosophorum, 12. Stück, 1721, V, S. 921-950, 925. Cf. unten das Kapitel zu Heumann. Heumann: Acta philosophorum, 12. Stück, 1721, V, S. 921-950, 929. Cf. bes. J. Thomasius: Exercitatio de stoica mundi exustione [...], Leipzig 1676, § 19, S. 20.
28 Hintergrund der konfessionellen Festlegung der Dogmatik in katholischer, protestantischer und reformierter Theologie hatte sich die Frage nach der Authentizität der jeweils unterschiedlich vertretenen Dogmen gestellt. Die katholische, während des Tridentinums formulierte Auffassung, daß es eine bereits in der Patristik anzutreffende homogene, orthodox-katholische Lehrmeinung gab, hatte den philologischen Eifer vor allem der calvinistischen Gelehrten provoziert. Deren Ziel war es, das katholische Modell der biblia in traditione philologisch-kritisch zu erschüttern. Gegen die Katholiken wollten sie allein die Bibel (sola scriptum) als legitime Quelle der Dogmatik anerkannt wissen. Zu diesem Zweck überprüften sie die Texte, die katholischerseits als verbindliche Interpretationen der für die Entwicklung der Dogmatik als insuffizient erkannten Bibel aufgefaßt wurden. Das betraf in erster Linie die kirchenväterlichen Schriften, aber auch jene Texte, die wie das Corpus hermeticum oder die Werke des Pseudo-Dionysios Areopagita spekulative Muster lieferten, die den Bibeltext 'philosophisch' explizierbar machten. Der reformierte Theologe Abraham Scultetus hatte in seiner Medulla theologiae patrum (1605-09) die Unhaltbarkeit der katholischen Annahme eines consensus patrum in dogmaticis erwiesen und gezeigt, daß die Kirchenväter in zentralen dogmatischen Fragen unterschiedliche Positionen vertraten. Nach Scultetus' Untersuchungen konnte 'die Patristik' nicht mehr ohne weiteres als Ausgangspunkt einer homogenen katholischen Lehrtradition aufgefaßt werden.26 Die Einflußnahme heidnischer Philosophie auf die als dogmatisch inhomogen erkannte Patristik trat verstärkt in den Blick. Daß die Kirchenväter die vorchristliche antike Philosophie gekannt und bisweilen zur Formulierung ihres christlichen Glaubens benutzt hatten, war auch vor der Geburt der frühneuzeitlichen Patristikphilologie bekannt gewesen und hatte sich aus der Aufgabe, die philosophisch gebildeten Heiden zum Christentum zu bekehren, erklären lassen.27 Der Nachweis von Abhängigkeiten zwischen paganer Philosophie und christlicher Dogmatik wurde aber erst dann für die Integrität der christlichen Lehre fatal, wenn die Antike aus ihrer Einbettung in die jüdisch-christliche Weisheitsgenealogie herausgelöst wurde: Nur unter der Bedingung, daß die antike Philosophie nicht als später Abglanz der von Gott den jüdischen Patriarchen offenbarten und dadurch offenbarungstheologisch gebundenen Weisheit aufgefaßt wurde, konnte die Einflußnahme heidnischer Philosophie auf die Formulierung der christlichen Lehre als häretische Ver-
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Cf. W. Schmidt-Biggemann: Die philologische Zersetzung des christlichen Piatonismus am Beispiel der Trinitätstheologie, in: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher >Philologiealte Schlangewahre theologia mystica< integriert, cf. Leibniz: Von der wahren Theologia mystica, in: Guhrauer, Leibnitz's Deutschen Schriften, Berlin 1838, Bd. 1, S. 410-13. Rekonstruktion des philologisch heiklen Stücks von F. Vonessen, in: Antaios, 8,2, (1966). Cf. dazu A. Heinekamp: Leibniz und die Mystik, in: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, hrsg. v. P. Koslowski, Zürich, München 1988, S. 183-206, bes. 201ff.
82 Auch Bayle charakterisierte unter dem direkten Einfluß von Jacob Thomasius' Konzeptualisierung der Häresiegeschichte Spinoza als Nachfolger der antiken Materialisten und als Weltseelenanhänger,211 und schließlich schrieb Budde in seinem Spinozismus ante Spinozam die komplette Vorgeschichte des neuzeitlichen Pantheismus.212 3.4. Die tres-viae Lehre als pelagianistische Methodik der theologia mystica Neben dem Pantheismus- traf der Pelagianismus-Vorwurf das platonische Christentum, dessen konzeptionellen Ausgangspunkt Thomasius ebenfalls in der Seelenlehre der paganen Platoniker ausgemacht hatte. Die pantheistische Genealogie der platonischen Häretik besaß daher in der pelagianistischen Tradition ihr Gegenstück. Beide reichten auf Dionysios Areopagita, die Zentralgestalt des christlichen Piatonismus, zurück. Dionysios' Areopagitas über Eriugena vermittelte Wirkung beschränkte sich im Mittelalter nach Thomasius keineswegs auf die pantheistischen Lehren Amalrichs von Bène und Davids von Dinant. Sie manifestierte sich bereits zuvor in den Lehrgebäuden der Viktoriner Schule. Die Viktoriner arbeiteten aber nicht die pantheistischen, sondern die enthusiastisch-pelagianistischen Implikationen des Piatonismus aus. Nach Hugo von St. Viktors Hochschätzung Eriugenas sei es Richard - der Schüler Hugos - gewesen, der gegen die sich im Werk Abaelards konstituierende Scholastik eine Systematisierung der theologia mystica versucht habe: »Eadem ergo aetas & Scholasticae & Mysticae Theologiae prima dedit Systema, quasi mutua aemulatione.«213 Zwar besitze die platonische theologia mystica im Gegensatz zur aristotelischen Scholastik keine eigentlich wissenschaftliche Methodik; da sie aber nicht gänzlich auf eine irgendwie geordnete Darlegung ihrer Inahlte verzichten könne, hätte sich bereits in der Werkeinteilung des Dionysios Areopagita eine gewisse Systematik gezeigt, die Richard von St.Viktor dann vervollkommnet habe.214 Als Methodik der mystischen Theologie betrachtete Thomasius die im Platonismus entwickelte Lehre von den vier bzw. drei Wegen, auf denen sich die aus 211
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Cf. P. Bayle: Spinoza, in: Dictionnaire, ed. Leiden 1730, torn. IV, S. 253-271, bes. Anm. 6, 9 (Bezug auf De stoica mundi exustione). Cf. Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720, Hamburg 2002, bes. S. 291-299. Schediasma historicum, § 52, nota d, S. 64. Thomasius spielt hier mit Carolus Hersentius auf die Einteilung der Theologie bei Dionysios (Theol. myst. IV) in kataphatische und apophatische an. Erstere unterteilt Dionysios selbst in drei Traktate: Die >Theologischen Entwürfe< (wahrscheinlich fiktiv), das Buch >Über die göttlichen Namen< und die >Symbolische Theologie< (wohl ebenfalls fiktiv), die jeweils einen eigenen, affirmativen Aussagebereich über das Göttliche behandeln. Sie laufen aber auf die apophatische 'negative Theologie' der >Theologia mystica< zu.
83 der göttlichen Substanz hervorgegangene Einzelseele ihrem göttlichen Ursprung wieder anzunähern vermag. Das Ziel der mystischen Theologie erkannte Thomasius in der Absicht, den Ausgang der Seele aus Gott wieder rückgängig zu machen und die Differenz zum Göttlichen durch einen internen ascensus animae zu überwinden. Sofern sich der mystische Seelenaufstieg frei von allen äußeren Mitteln allein im seelischen Innenraum und nur angewiesen auf die autosuffiziente Aufstiegsfähigkeit der einzelnen Seele vollzog, kam er für Thomasius einer pelagianistischen Leugnung der Erbsünde gleich: Der Pelagianismus der tres-viae-Lehic bestand mithin in der Annahme, daß die Seele aufgrund ihres unverdorbenen Wesens aus sich selbst heraus über die drei innerlichen Aufstiegsstufen ihre Erlösung erreichen könne. Sie war nicht auf äußere Gnadenmittel angewiesen, da ihr Wesen nicht sündhaft, sondern in ihrer Gottebenbildlichkeit unverdorben war. Die verinnerlichte theologia mystica teilte nach Thomasius als Semipelagianismus mit der antiken Häresie die Ablehnung der Erbsündenvorstellung. An deren Stelle war hingegen das platonische Modell der gefallenen, in ihrem Wesen aber nicht korrumpierten Seele getreten, die sich gleichsam qua Selbsterkenntnis und Seelenascensus selbständig erlösen konnte. Die historische Offenbarung Gottes, die Offenbarung der Heiligen Schrift, die Kirche als Gnadeninstitution und die Sakramente wurden angesichts der inneren Aufstiegsbewegung, die die Seele des Mystikers erfuhr, unwesentlich. Um den Aufstiegsprozeß der Seele zu strukturieren, seine Etappen abgrenzen und seinen Fortgang überprüfen zu können, hätten die Mystiker die Drei-WegeLehre aus der platonischen Philosophie übernommen. Aus dem Fundus neuplatonischer Texte zur Seelenlehre bezog sich Thomasius vornehmlich auf Porphyrius' Sententiae ad intelligibilia ducentes,215 sowie auf den Kommentar des Macrobius zu Ciceros Somnium Scipionis.216 Er referierte zunächst die Vier-Wege-Lehre der antiken Platoniker: »Platonici gentiles, qui tertio vivebant post Christum natum seculo, quatuor gradus constituebant virtutum, cum alias políticas facerent, alias purgatorias, alias intellectuales (τάς προς τον νοών) alias exemplares. Politicus ajebant quasi ex bestia facere hominem per μετριοπάθειαν : purgatorias ex homine daemonem bonum per άπάθειαν: intellectuales ex tali daemone Deum: exemplares ex Deo Patrem Deorum.«217 Diese Stufenlehre der Erlösung und Vergöttlichung besaß für Thomasius pelagianistische, die Gnade Gottes und alle äußeren Gnadeninstitutionen überflüssig machenden Konsequenzen, weil sie das Erreichen der nächst höheren Stufen scheinbar allein von menschlicher Kompetenz abhängig machte. Mochte die
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Ed. Lamberz, Thomasius bezieht sich auf die von Lucas Holstenius besorgte Ausgabe. Das ist das letzte Kapitel von Ciceros Staatsschriñ, das Macrobius neuplatonisch kommentierte. Schediasma historicum § 52, nota d, S. 58.
84 Dreistufung als Anweisung zur Tugendhaftigkeit in der vorchristlichen Antike durchaus einen lebenspraktisch-moralischen Wert besessen haben, so wurde sie jedoch durch die christliche Offenbarung und die mit ihr gegebene vertiefte Einsicht in die Sündhaftigkeit menschlichen Wesens hinfallig. Die christliche Offenbarung zeigte die Insuffizienz des platonischen Heilsweges, der 1. die Erbsünde des Menschen ignorierte, 2. Erlösung als internen seelischen Vorgang begriff und damit die äußeren Gnadenmittel - Offenbarung, Kirche, Sakramente - ablehnte und 3. die Rechtfertigung aus dem Glauben durch ein Stufenmodell ersetzte, das sich nach moralischen oder in den Bereich des Wissens (γνώσις) fallenden Kriterien bemaß. Insofern die drei Stufen unterschiedliche Erkenntnisgrade markierten, zeigte sich ihre Nähe zur Gnosis, deren Pelagianismus evident war, weil sie Erlösung nicht von göttlicher Gnade und vom Glauben des Menschen, sondern vom Grad des erlangten Wissens abhängig machte.218 Die tres-viae-Lehie traf daher der ganze Widerwille des orthodoxen Lutheraners, da sie gegen das sola fide und sola scriptum einen Pelagianismus mit gnostischen Implikationen vertrat und dadurch den theologisch kaum zu kontrollierenden Innenraum spiritueller Frömmigkeit aufschloß: Die theologia mys tica erkannte keine objektivierenden Instanzen göttlicher Gnade an, purgatio und illuminatio als ihre Vorstufen internalisierten die Erlösung, die endlich in der unio noch den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf nivellierte. Die unió mystica als Fluchtpunkt des Seeleaufstiegs verwies überdies wieder zurück auf die pantheistische Konsequenz, die aus der Grundannahme, daß die Seelen lediglich Ausflüsse, Modifikationen der einen göttlichen Seelensubstanz seien, folgte. Der Pelagianismus und die Leugnung der Unsterblichkeit der Individualseele durch Aufhebung der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch waren die häretischen Kernstücke einer heterodoxen theologia mystica, die die platonischen Grade des seelischen Aufstiegs übernahm und die christliche Offenbarung ignorierte.219 Die unfrommen Anhänger der semi-paganen theologia mystica vertrauten daher also auch im Christentum weiterhin darauf, daß die Erlösung der Seele sich im Korsett der platonischen Aufstiegswege autosuffizient vollziehe. Zu ihrem Zweck formten sie die pagane Vier-Stufen-Lehre um, indem sie die erste, zur politischen Tugend erziehende Ebene der Platoniker, die für sie als apathische Enthusiasten ohnehin gleichgültig war, wegfallen ließen. Übrig blieben drei Stufen, über die die Seele des Mystikers - nach Reinigung (purgatio) und Erleuchtung (illuminatio) - schließlich zur Vereingung (unio) mit dem Göttlichen geleitet wurde: »Certum est, quatour illos virtutum gradus, quos ex Porphyrio protulimus placuisse quibusdam Christianis. [...] Ergo bona cum venia dimisit virtutum genus politicon: ex caeteris autem tribus exstruxit illas ipsas tres vias, 218 219
Cf. dazu unten zur Gnosis Kap. II, 3, 5. Thomasius benennt damit wiederum Vorwürfe, die auch gegen Orígenes und seine Anhänger erhoben wurden.
85 quibus [...] diximus Theologiae mysticae methodum absolví [...] Purgativa dicunt appetitum ab affectibus mundari; illuminativa Intellectum notitia rerum divinarum imbui; his actibus quasi praeparatam animam Dei Sponsam via unitiva tandem in Sponsi amplexum deduci, atque ita θεωθήνας.« 220 Die platonisierende Drei-Wege-Methode der Mystik verfolgte Thomasius nun durch die Mystikgeschichte hindurch, als deren roter Faden sie sich von Dionysios Areopagita an erwies. Sie wirkte aber nicht allein in der Mystik, sondern ihre Staffelung von purgatores, illuminatores und perfectores bestimmte auch die katholische Kirchenhierarchie, da Dionysios in seiner Schrift über die Kirchliche Hierarchie die Ordnungen der Engel nach diesen Kriterien einteilte.221 An der Mystischen Theologie des Dionysios hob Thomasius mit Carolus Hersentius das Vereinigungsmoment als Pointe der platonischen Insinuationen hervor.222 Die aus dem platonischen exitus-reditus-Schema in die theologia mystica übernommene Vorstellung von der Einswerdung der Seele mit dem Göttlichen besaß seit dem Areopagiten eine doppelte häretische Valenz: Sie war die konzeptionelle Basis für die pantheistische Angleichung des kreatürlichen Seins an seinen göttlichen Grund (Aufhebung jeder ontologischen Unterschiedenheit) und zugleich der erstrebte Höhepunkt der pelagianistischen Selbstüberschätzung der menschlichen Seele. 3.5. Kritik an der α π ά θ ε ι α als Habitus der theologia mystica Thomasius formulierte schließlich noch einen dritten zentralen Einwand gegen die häretische theologia mystica und ihre íres-ví'ae-Staffelung der verinnerlichten Erlösung, der bereits auf sein affirmatives Verständnis einer orthodoxen theologia mystica als 'protestantischen Praktizismus' verwies. Dabei wird deutlich, daß für Thomasius - der sich auf eine dezidiert theologisch-philosophische Widerlegung der Häresien natürlich nicht einlassen mochte - praktisch-sittliche Einwände ein wichtiges Bewertungskriterium innerhalb seiner Häresiegeschichte darstellten. Das zeigte sich besonders deutlich an seiner Auseinandersetzung mit dem Habitus Gelassenheit - einer Zentralvorstellung der abendländischen Mystik, die besonders durch die hochmittelalterliche Dominikanermystik weite Verbreitung gefunden hatte, die aber bereits als απάθεια in den Schriften der frühesten Mönchsmystiker Bedeutung erlangt hatte.223 220 221 222 223
Schediasma historicum, S. 66f. Schediasma historicum § 52, nota d, S. 68. Schediasma historicum, § 52, nota d, S. 57. Cf. Α. Bundschuh: Die Bedeutung von gelassen und die Bedeutung von der Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Berücksichtigung seiner lateinischen Schriften, Bern 1990; Ludwig Völker: 'Gelassenheit'. Zur Entstehung des Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Überlieferung in der nacheckhartschen Mysük bis Jacob Böhme, in: 'Getempert und gemischet' für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag, hrsg. v. F. Hundnurscher et al., Göppingen 1972, S. 281-312.
86 Thomasius identifizierte >Gelassenheit< als eine Stufe innerhalb der pelagianistischen Aufstiegsbewegung der drei-Wege-Lehre. An ihr trat der Pelagianismus jenes scharf kritisierten Konzepts innerlicher Erlösungsstufen besonders deutlich hervor, weil sie dem Menschen die autosuffiziente Erreichbarkeit eines Zustandes innerlicher Sündlosigkeit suggerierte. Thomasius interpretierte die in der Gelassenheit zu erreichende Befreiung von allen affektiven Regungen als Befreiung von allen Sünden. Gelassenheit wurde somit als Modus der illuminativen zweiten Stufe aufgefaßt, sie erschien als Resultat der auf der ersten Stufe vollzogenen Reinigung, aus der der Mensch frei von Sünden hervorging. Purgatio und άπάθεια beanspruchten daher nicht nur, die Erbsünde aufzuheben, sondern sie ermöglichten es dem Menschen überdies, ohne Einwirkung der göttlichen Gnade sich selbst innerlich zu läutern und so bereits in hoc saeculo den Zustand vollständiger Sündlosigkeit zu erreichen. Die in der απάθεια erlangte Sündenfreiheit des Menschen stellte zudem die habituelle Voraussetzung jener auf der dritten Stufe vollzogenen Vergöttlichung des Menschen dar. Gelassenheit war daher für den Lutheraner Thomasius vollzogener Pelagianismus, weil sie die christliche Lehre vom sündigen Menschen ignorierte; hingegen führte sie das Ideal des leidenschaftslosen Stoikers fort. Als Ausdruck der Gemütshaltung derer, quos absque peccato (se) putent, machte sie die göttliche Gnade überflüssig.224 Der sittliche Vorwurf gegen die Mystiker setzte hier an: Thomasius warf ihnen vor, daß sie das Komplementärverhältnis von vita theoretica und vita practica zu einer einseitigen Hochschätzung passiver Theorie und Kontemplation zuspitzten. Das führte zu einer unchristlichen Geringschätzung nach außen wirkender praktischer Frömmigkeit, die sich bis zur vollständigen moralischen Indifferenz steigern konnte. Die verderblichen sittlichen Folgen der apathischspekulativen Haltung erkannte Thomasius besonders bei den Gnostikern wieder, denen άπάθεια als Vorstufe ihrer fanatischen Gotteserkenntnis, der unfrommen ψευδόνυμος γνώσις galt. Bei ihnen und ihren mittelalterlichen sektiererischen Nachfolgern wie den Begarden fand er den ganzen Lasterkatalog - einschließlich inzestuöser sexueller Ausschweifungen - wieder.225 Da die Gnostiker die Welt als gefallen und sich selbst als innerlich bereits erlöst betrachteten, konnten sie allem innerweltlichen Geschehen gegenüber indifferent bleiben; für sie galten keine moralischen Normen, denn sie konnten aufgrund ihrer innerlichen Erlösung durch keine äußere Tat mehr sündigen.226 Mit zahlreichen Kirchenväterzitaten
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Schediasma historicum, §44, nota m, S. 43ff. Schediasma historicum, § 38, nota y, S. 35. Die Begarden (=Pikarden) waren eine im 13. Jahrhundert in Brabant auftretende mönchsähnliche Laiengemeinschaft, cf. J. L. Mosheim: De Beghardis et Beguinibus commentatio, posthum 1790. Cf. Hans Jonas: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Frankfurt a.M./Leipzig 1999, S. 321-27. Jonas weist auf die zwei gegensätzlichen Möglichkeiten des gnostischen Akosmismus hin, sich asketisch oder radikal libertinistisch zu artikulieren.
87 stellte Thomasius die Lasterhaftigkeit jener Häretiker ausführlich dar. Ihr praktischer Lebensvollzug offenbarte die Verderblichkeit ihrer Lehre. 227 Natürlich versäumte Thomasius als echter Lutheraner nicht, den gegen die Gnostiker erhobenen Vorwurf der Sittenverderbnis ausdrücklich auch gegen die monastische Tradition zu wenden. Manichäismus und Pelagianismus - die zwei mächtigsten Häresien der frühen Kirche - waren nach Thomasius vornehmlich aus dem apathisch-pelagianistischen Mönchtum hervorgegangen: »Utrique sane a monachis oriundi, hominem in hoc seculo sine peccato, quodque ipsis perinde fuit, sine affectu vivere posse defenderent.« 228 Thomasius meinte hier natürlich nicht die Benediktiner, sondern die frühen spirituellen Mönchsmystiker, die sich aus allen weltlichen Beziehungen in eine asketische Gelassenheit zurückgezogen und das innere Wirken des Heiligen Geistes in Unabhängigkeit von allen äußeren Gnadenvermittlungen erwartet hatten. Ausdrücklich nannte er die später im Pietismus gerade wegen ihrer verinnerlichten Frömmigkeit beliebten Messalianer (=Beter), 229 die im ständigen Gebet und im inneren Wirken des Heiligen Geistes die einzige Möglichkeit sahen, die durch den Sündenfall entstandene Distanz zu Gott zu überwinden. 230 Am Beispiel der Messalianer umriß Thomasius durch ein Hieronymus-Zitat dann auch den theologisch und sittlich fatalen Grundzug jener Sorte pelagianistischer Mystik: »Quorum omnium sententia est, posse ad perfectionem, & non dicam ad similitudinem, sed aequalitatem Dei humanam virtutem & scientiam pervenire, ita, ut afferant, se ne cogitatione quidem & ignorantia, cum ad consummationis culmen adscenderint, posse peccare.« 231 Die 'mystische' Betrachtung der menschlichen Seelen als Ausflüsse einer göttlichen Seelensubstanz und die Unterstellung, daß die individualisierten Seelen aus sich selbst heraus fähig seien, in ihren göttlichen Ursprung zurückzukehren, verbanden sich nach Thomasius mit der Hochschätzung eines passiven apathischen Seelenzustandes, der moralische Gleichgültigkeit verlangte und aufgrund der verinnerlichten Erlösung jede nach außen wirkende Tätigkeit unterband. Die Indifferenz gegenüber aller äußeren Wirklichkeit konnte sich schließlich zu der Annahme steigern, daß es der menschlichen Seele im Verlauf ihres internen
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Zur indijferentia moralis bemerkt Thomasius, Schediasma historicum, § 38, nota u, S. 34: »Ex Irenaei lib. I.c.20. discimus, Simonem suos permisisse liberos agere quae velint; secundum enim ipsius gratiam salvan homines, sed non secundum operas justas.« Irenaeus: ά λ ε γ χ ο ς και ά ν α τ ρ ο π η της ψ ε υ δ ω ν ύ μ ο υ γνώσεως, lat. Übersetzung: Adversus haereses, ed. Ν. Brox, Freiburg 1993. Schediasma historicum, § 48, S. 48. Cf. etwa die Makarius-Edition Gottfried Arnolds: Des Heiligen Macarii Homilien / oder Geistliche Reden / um das Jahr Christi CCCXL gehalten / Anjetzo ihrer Vortefflichkeit wegen zum ersten mahl ins Teutsche Ubersetzt [...] Leipzig 1696. Zum Zusammenhang cf. Hermann Dörries: Die Theologie des Makkarios/Symeon, Göttingen 1978. Schediasma historicum, § 48, nota t, S. 48f. Hieronymus: Dialogus adversus Pelag., praef. (III. op. f. 118).
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Erlösungsprozesses nicht einmal mehr möglich war, überhaupt zu sündigen. Die Vergöttlichung der menschlichen Seele hob so schließlich deren Sündenfähigkeit auf und führte zu einer hochmütigen Selbstüberschätzung, die Thomasius den gnostischen Häretikern vorwarf, die sich über die sündenbewußten Christen erhoben und diese als bloß Gläubige - nicht Erkennende - verlachten: »Vide porro extremam insolentiam nefandi dogmatis. Quod ipsi [=Gnostici] cum strenue traducerent in mores, negabant tarnen in eo se non pollui modo, sed vel ullius esse corruptionis capaces. Quin Christianos etiam orthodoxos, quos vel mente aut sermone peccandi verecundia tangi cernebant, pro idiotis ridebant & imperitis, contraque hos tanquam ψυχικώς titulum sibi των πνευματικών & τελείων arrogabant. Nimirum imperfectioribus illis bona opera esse necessaria, tantum ut ad locum mediocrem eniterentur, sibi, quia natura sint spirituales, nihil horum opus esse. Denique nostrorum operibus pariter & fidei suam γνώσιν & opponebant, & máximo cum supercilio anteponebant.«232 Der Pelagianismus steigerte sich hier zu der Annahme, daß der wahre Gnostiker sich um seine praktischen Handlungen nicht zu kümmern habe, weil er guter Werke nicht bedürftig und schlechter nicht fähig sei. Die völlige Gelassenheit des heterodoxen Mystikers offenbarte also die sittlich-lebenspraktischen Konsequenzen der falschen theologia mystica, die zum Rückzug aus der vita activa aufrief und deren innerlicher Pelagianismus schließlich jede Möglichkeit des Illuminaten zu sündigen leugnete. Damit hat Thomasius ergänzend ein drittes Argument angeführt, das über die theoretische Ebene dogmatischer Differenzen auch auf die moralisch-praktischen Folgen der platonisierenden theologia mystica aufmerksam machte. Deren wichtigste häretische Kennzeichen waren Pantheismus, Pelagianismus, sowie moralische Indifferenz. Diese Kriterien waren für den Lutheraner der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von Bedeutung, weil sie die gegenwärtige Unterscheidung zwischen heidnisch infizierter und christlich legitimer Frömmigkeit ermöglichen sollten - eine Unterscheidung, die die Abgrenzung legitimer lutherischer Reformtheologie sowohl gegen ältere Formen katholischer Frömmigkeit als auch gegen im protestantischen Umfeld wieder auftretende Schwärmer und Enthusiasten erlaubte. Der Piatonismus-Vorwurf gestattete es, eine protestantische Frömmigkeit zu profilieren, die gegen die pagane Infektion des Christentums immun erschien und die Thomasius selbst im affirmativen Sinne als theologia mystica - es müßte hinzugefügt werden orthodoxa - verstand. Damit deutete er ein theologisches Programm an, das später im Kampf gegen die Pietisten von der lutherischen Orthodoxie selbst aufgegriffen wurde, um den pietistischen Gegnern das Feld innerlicher Frömmigkeit nicht überlassen zu müssen. Eine orthodoxe theologia mystica sollte die dogmatischen Essentials und die Existenznotwendigkeit
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Schediasma historicum, § 39, S. 36.
89 der lutherischen Kirche mit einer Intensivierung der inneren Frömmigkeit verbinden. Zu diesem Zweck - um nur ein prominentes Beispiel zu nennen - verfaßte der orthodoxe Wittenberger Theologieprofessor und langjährige Dresdner Superintendent Valentin Ernst Löscher eine mystische Theologie.233 Daran wurde deutlich, daß trotz der gewichtigen Vorwürfe, die die Mystik trafen, das Programm einer theologia mystica nicht den heterodoxen Kreisen überlassen werden sollte. Für die Lutheraner besaß diese Form einer akzeptablen theologia mystica ebenfalls historische Vorgänger, in deren Genealogie ihre eigenen Entwürfe eingefügt werden konnten. So nannte Thomasius geschichtliche Erscheinungsformen einer nicht häretischen mystischen Theologie, die weder die Aufstiegsfähigkeit der menschlichen Seelen am Leitfaden der tres-viae-Lehre pelagianistisch überschätzte noch eine Aufgabe der Identität der Einzelseelen durch ihre Rückkehr in den einen göttlichen Grund vertrat. Diese Ausnahmefälle hauptsächlich frühkirchlicher oder spätmittelalterlicher mystischer Theologie - die für Thomasius in der flacianischen Tradition als testes veritatis ins Vorfeld der lutherischen Frömmigkeitsintensivierung gehörten - bildeten die Kontrastfolie zu seiner Kritik am Piatonismus in der Geschichte des mystischen Christentums. Im Gefolge Luthers betonte Thomasius die fromme Orthodoxie Taulers und der Theologia deutsch, die die Möglichkeit selbsterlangter Schmerzunempfindlichkeit des Menschen verneinte und damit nicht dem apathischen Impuls der pelagianistischen via purgativa nachgab.234 3.6. Kritik an curiositas und γ ν ώ σ ι ς Für Thomasius war απάθεια als Habitus der vita speculativa vornehmlich Leitbegriff seiner Kritik am spirituellen Christentum und dessen Ausprägungen in den Formen einer nicht praktisch orientierten, sondern spekulativen theologia mystica platonischer Provenienz. Sein zweiter habitueller Leitbegriff für die Kritik an den häretischen Strömungen der christlichen Theologie war curiositas. Curiositas - mit Luther als vorwitzige Kunst übersetzt - schien dazu geeignet, nicht allein die platonisierenden Traditionen der mystischen Theologie zu treffen, sondern ließ sich auch gegen die scholastische Wißbegierde wenden und konnte somit als Einwand gegen beide großen Häresielinien dienen. Beiläufig bot Thomasius eine kleine Begriffsgeschichte der 'theoretischen Neugierde'- weit davon entfernt, sie innerneuzeitlich zu legitimieren.235 Die latei-
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Cf. unten Kap. II, 4.2. Schediasma historicum, S. 68. Zu Hans Blumenbergs These von der innerneuzeitlichen Rehabilitierung der theoretischen Neugierde im 3. Teil der 'Legitimität der Neuzeit', Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a.M. 1973 cf. Stephan Meier-Oeser: Die Präsenz des
90 nische curiositas identifizierte Thomasius mit der griechischischen περιεργία, in der er mit Eusebius die magische, über Simon den Zauberer wiederum auf Zoroaster zurückreichende Kunst der Gnostiker ausmachte: »Graecorum ΠΕΡΙΕΡΓΙΑ Latinorum Curiositas est. Hie talem intellige, a qua & Magicae artes curiose dictae, & Magi curiosi.«236 Die pagane curiositas als inneres Erkenntnisprinzip hatten nach Tertullian die christlichen Ketzer mit den heidnischen Wissenschaften gemein: »Notata sunt etiam commercia haereticorum cum Magis compluribus, cum circulatoribus, cum Astrologis, cum Philosophie CURIOSITATI scilicet deditis.«237 Durch das Zitat des antiapologetischen Kirchenvaters wurde curiositas gleichermaßen zum Merkmal theoretischer Wahrheitssuche in den antiken Wissenschaften und zum Leitbegriff der christlichen Häretik. Thomasius zitierte dafür die einschlägige Exorzisten-Stelle aus der Apostelgeschichte (Apg. 19, 13-20), wo das Wort des Herrn über die pagane Zauberei siegt, und verwies an dieser Stelle auf Luthers Übersetzung von περιεργία: »Viele aber, die da vorwitzige Kunst getrieben hatten, brachten die Bücher zusammen und verbrannten sie öffentlich [...] Also mächtig wuchs das Wort des Herrn und nahm überhand.« (Apg 19, 19-20) Im Gegeneinander von paganer curiositas und christlichem Offenbarungswort manifestierte sich so wieder der unüberbrückbare Dualismus zwischen heidnisch-antiker und christlicher Wahrheit - der Logos des Herrn disqualifizierte alle vorchristlichen Wissenschaften. Die kurze Begriffsgeschichte von curiositas kam schließlich mit zwei Zitaten aus Irenaeus wiederum auf den anhand der Gelassenheit thematisierten sittlichlebenspraktischen Vorwurf gegen die der magischen Kunst ergebenen Gnostiker zurück: »Igitur horum mystici Sacerdotes libidinose quidem vivunt, Magias autem perficiunt, quemadmodum potest unusquisque ipsorum. Exorcismis enim & incantationibus utuntur. Amatoria quoque & agogima, & qui dicuntur paredri & oniropompi, & quaecunque sunt alia parerga (lege: aliae periergiae, nisi malis, alia perierga) apud eos studiose exercentur.«238 Ebenso wie den apathischen Mystikern wurde also auch den Anhängern der antiken, magischen Wissenschaften unsittlicher Lebenswandel vorgeworfen. Auch sie lebten nicht der christlichen Offenbarung und ihrer Aufforderung zur
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Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Münster 1989, Kap. 6.2.2.: 'Docta ignorantia' versus 'Curiositas'. Die innerneuzeitliche Diskriminierung der theoretischen Neugierde. J. Thomasius' negative Bewertung der curiositas liefert einen weiteren Beleg für Meier-Oesers These, ebd. S. 360, daß viele Vertreter frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit und zumal der calvinistischen und protestantischen Schulphilosophie die Anerkennung der curiositas nicht mitvollzogen. Schediasma historicum, § 34, nota k, S. 23. Schediasma historicum, § 34, nota k, S. 24. Dort ein Tertullian-Zitat aus Adversus haereticorum, cap. 17, f.m. III. Schediasma historicum, S. 24.
91 praktischen imitatio Christi gemäß; sie wollten die Botschaft des Evangeliums nicht leben, sondern durch Spekulationen theoretisch nachvollziehen. Von der Position seines 'protestantischen Praktizismus' aus, der die vita activa als dem Christen angemessenere Lebensweise der vita theoretica vorordnete und den Topos der Nachfolge Christi lebenspraktisch interpretierte,239 hat Thomasius Gelassenheit und curiositas als zwei Aspekte pelagianistischer Passivität auf ihren paganen Ursprung zurückgeführt. Sofern die vita speculativa Gelassenheit forderte und Erfüllung der curiositas versprach, war sie als häretische Einmischung heidnischer Philosophie entlarvt und wurde entgegen der christlich-mittelalterlichen Lehrtradition als unchristliche Lebensform verworfen.240 Die beiden wichtigsten Formen theoretisch-spekulativer Durchdringung der christlichen Offenbarung in scholastischer und mystischer Theologie waren von dieser Kritik am theoretischen Habitus betroffen: Der Vorwurf erbsündenvergessener Apathie traf vornehmlich die Mystik, wenn sie nicht im Dienste der vita practica stand, wie Thomasius das für die von ihm geschätzten präreformatorischen Vertreter einer mystischen Theologie unterstellte. Die Ableitung der curiositas aus der heidnischen Magie diskreditierte vornehmlich die Scholastik, war aber überhaupt geeignet, alle Versuche theoretischer Reflexion der Offenbarung als 'vorwitzige Kunst' auf die Irrlehre Simons des Zauberers zurückzuführen, und konnte sich deshalb auch gegen die anhand der άπάθεια kritisierte spekulative Mystik richten. Übrig blieb allemal ein praktisches Christentum, von dem aus die Traditionen unfrommer, weil praxisvergessener theoretischer Durchdringung der Religion als Häresien verworfen und zudem sittlich gerügt wurden. Thomasius' Kritik an der unfrommen Wißbegierde als Erbe heidnischer Philosophie im Christentum stand aufs engste im Zusammenhang mit seiner Geschichte des Gnosis-Begriffs, dessen Relevanz der Titel des Werkes bereits ausdrückte: Thomasius kontrastiert die Ermahnung des Paulus, 'das Evangelium zu predigen, nicht mit klugen Worten, auf daß nicht das Kreuz Christi zunichte werde' (1 Cor 1,17) mit der »cupido novandi, dedignatio simplicis, atque [...] plebejae Theologiae, & pruriens in Sapientiam quasi patriciam των εξω φιλοσόφων curiositas«, die er der mystischen und scholastischen Theologie gemeinsam unterstellte.241 Gegen die curiositas in mystischer und scholastischer Theologie und deren Rückgriff auf pagane Lehrtraditionen griff Thomasius die paulinische Unterscheidung zwischen menschlicher und göttlicher Weisheit auf: 242 Die eigentliche, göttliche Weisheit war die Weisheit der Offenbarung, die jede 239 240
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Cf. dazu das nächste Kapitel: Theologia mystica als protestantischer Praktizismus. Zur Hochschätzung der vita theoretica cf. etwa Thomas v. Aquin: Summa theologica Π, Π, 182, le. Cf. unten Kap. 4.2. Schediasma historicum § 52, nota d, S. 54f. Cf. den in der Einleitung dargestellten paulinischen Kontrast zwischen zwei sophiaBegriffen.
92 Annäherang mit menschlicher Weisheit zunichte machte; Thomasius zitierte dafür die berühmte paulinische Unterscheidung »und mein Wort und meine Predigt geschah nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, auf daß euer Glaube bestehe nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.« 243 (1. Cor 2,4) Die Offenbarungsweisheit konnte nicht mit den Mitteln menschlicher Wissenschaft erreicht werden, sie forderte einen eigenständigen Modus der Erfassung. Ihr Medium war nicht die pagane γνώσις, die nach Thomasius die vergebliche Bemühung aller vorchristlicher Wahrheitssuche bezeichnete. Es hatte vielmehr auch in der Geschichte des Wissens eine radikale Zäsur gegeben, die jeden Rückgriff auf antike Konzepte von γνώσις verbot. Thomasius' Aufmerksamkeit mußte sich daher bei seiner Begriffsgeschichte von γνώσις - und damit war zunächst noch nicht die religiöse Erlösungsbewegung der Spätantike gemeint - den spezifischen Wandlungen jenes Begriffs zuwenden, um schließlich dessen Überwindung durch den neuen Wahrheitsstandard der christlichen Offenbarung zu betonen. Dabei war es Thomasius' Anliegen, gegen alle apologetischen Homogenisierungstendenzen den entscheidenden Bruch der Begriffsgeschichte zu akzentuieren. Anhand der Geschichte des Gnosis-Begriffs zeigten sich freilich auch die Schwierigkeiten, die der philosophigeschichtlichen Konzeption eines Jacob Thomasius begegneten: Er mußte mit dem Befund umgehen, daß über den durch Gottes Offenbarung bewirkten absoluten Einschnitt der Geschichte scheinbar kontinuierliche Begriffsgeschichten hinwegführten. So hatten manche Kirchenväter keineswegs darauf verzichtet, jenen zentralen Terminus der antiken Philosophie zustimmend auch in ihren Werken zu verwenden, und der Offenbarungstext selbst gebrauchte bekanntlich in affirmativer Weise den Ausdruck γνώσις. 244 Daher stellte sich für Thomasius die Aufgabe, eine Geschichte des Wissensbegriffs zu skizzieren, die jene scheinbare Kontinuität aufbrach. Thomasius beschrieb zunächst die Verwendung von γνώσις in der vorchristlichen Antike: Der Begriff von Philosophie hätte sich bei den Griechen durch das allmähliche Ausscheiden der instrumentellen artes liberales und der Unterscheidung zwischen Politik und Philosophie zu einer spekulativ gefaßten Wissenschaft (,speculativa scientia) zur Metaphysik zusammengezogen. Die als Metaphysik verstandene Philosophie hätten Pythagoräer, Platoniker und Aristoteliker weitgehend einmütig definiert: »Denique ad solam Metaphysicam contrahitur hoc vocabulum tum alibi, tum satis manifeste in hac definitione: Φιλοσφία έστί γνώσις τών όντων, f¡ οντα έστί: Philosophia est cognitio rerum, ut sunt.«245
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245
Schediasma historicum § 52, nota d, S. 54. Schediasma historicum, § 27, S. 20. Thomasius selbst verweist auf Rom. 1, 19; 1. Cor. 12, 8; Phil. 3, 8; Col. 2,3 und besonders Joh. 17, 3: Αυτή δέ έστιν ή αιώνιος ζωή, ϊνα γινώσκωσι σε, τον μόνον αληθινόν θεόν, και ον άπέστειλας Ίησοϋν Χριστόν. Schediasma historicum, § 7, S. 2.
93 Wenn die verschiedenen Philosophenschulen auch im einzelnen unterschiedliche Auffassungen über den Gegenstandsbereich der Metaphysik - also darüber, was denn unter den τά οντα zu verstehen sei - besessen hätten, so seien sie sich doch darin einig gewesen, daß es um immaterielle ewige Wesenheiten gehe. Thomasius folgte in seiner Darstellung der Objektbestimmungen der pythagoräischen und platonischen Philosophie weitgehend den Ausführungen Johannes Scheffers, der den Ursprung der griechischen Philosophie noch in ihrer Abhängigkeit von den älteren ägyptischen Weisheitslehren beschrieben hatte.246 Allerdings pointierte Thomasius die These von der Homogenität der antiken Philosophie bekanntlich nicht apologetisch. Für Pythagoras und Piaton stand das Objekt ihrer Philosophie fest: »Utrobique των όντων nomine sola aeterna intelligi ac materia expertia«, und auch die aristotelische Metaphysik zielte ja nach Thomasius auf den ewigen und immateriellen unbewegten Beweger des Buches Λ. Die antiken Philosophen waren sich also in den Schulen der Pythagoräer, Platoniker und Aristoteliker darüber einig, daß Philosophie in der γνώσις των όντων bestehe und es mithin ihre Aufgabe sei, die ersten unwandelbaren Seinsprinzipien durch menschliches Denken zu erschließen. Gegenüber der späteren scholastischen und mystischen Theologie lobte Thomasius geradezu den behutsamen Gottesbegriff der antiken Philosophen, die Gott weder mit dem Sein schlechthin identifizierten noch ihn - wie in der negativen Theologie des Areopagiten - gänzlich aus dem Bereich des Seins ausschlössen: »Cautior hic parte fuit Aristoteles, cautiores Plato & Pythagoras. Hi omnes a DEO, rebusque caeteris, sive, ut eorum phrasi loquar, ab intelligibilibus & sensibilibus, adeo non abstraxerunt, ut sive DEUM ens facerent, vocabulum entis, saltern simpliciter dicti, caeteris rebus abjudicarent; sive has titulo entium dignarentur, DEUM non ens, verum aliquid Ente longe majus atque augustius esse decernerent.«247 Gleichwohl war es den antiken Philosophen unmöglich, allein mit den Mitteln der menschlichen Vernunft zu einem angemessenen Gottesbegriff zu gelangen. Aufgrund ihres Unwissens um die creatio ex nihilo konnten sie das Verhältnis von göttlichem und kreatürlichem Sein immer nur als Modifikationen innerhalb des einen Seins fassen - ein Dilemma, das in der paganen Betrachtung der Intelligentien als Modifikationen göttlichen Seins sich darstellte und das noch die christlich-häretische Auffassung der Engel als Ausflüsse göttlicher Seelensubstanz begründete (weshalb Thomasius wie erwähnt auf der Trennung zwischen metaphysica specialis und Pneumatik insistiert hatte).248
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De natura et constitutione Philosophiae Italicae, S. 36. Schediasma historicum § 18, S. 11. Schediasma historicum §19, S. 12: »Quae ut laudanda venit modestia, sic non dissimulandum hoc loco, quod divinarum rerum ambitu Intelligentias quoque concluserint, seu naturas angelicas, ut quas ex ipsa divina essentia effusas quasdam propagines esse crederent: cum certum contra sit nobis, angelos non minus atque visibiles substantias ex nihilo fuisse productos.«
94 Da die antike Metaphysik die Schöpfung aus dem Nichts nicht kannte, besaß sie trotz ihrer vorsichtigen Bemühungen keinen adäquaten Gottesbegriff - die Auffassung der Philosophie als γνώσις των όντων war also trotz ihrer Ausrichtung auf die immateriellen obersten Seinsprinzipien nicht in der Lage, dem Materialismus zu entgehen, der das unausweichliche Fatum aller paganen Philosophie darstellte. Den ewigen, womöglich ewig materiell gebundenen Formen korrespondierte die gleichewige Präsenz der Materie, und beide waren nicht Erzeugnisse göttlich autonomer Schöpfungstätigkeit. Diese Konsequenz diskreditierte nun den antik-philosophischen Begriff der γνώσις: Das antike Konzept von Philosophie als γνώσις stellte den Versuch dar, ohne die biblische Offenbarung gültige Ausagen über das göttliche Sein, das ens quatenus ens, treffen zu wollen. Alle Versuche einer offenbarungsunabhängigen menschlichen Erkenntnis waren für Thomasius aber unausweichlich im Zirkel des antiken Materialismus gefangen, da sie keinen Begriff von der ausschließlich offenbarungsverbürgten creatio ex nihilo besaßen. Aus sich selbst heraus war es der menschlichen Vernunft nicht möglich, mehr als bloß ein adäquates instrumentelles Wissen in Logik und Dialektik zu erlangen. Für die Instrumentalwissenschaften konnte die antike Philosophie daher noch verwandt werden, ihr Begriff von γνώσις aber durfte nicht als Erlösungswissen verstanden werden, wie das sowohl in den apologetischen (Clemens, Orígenes) als auch und besonders in den häretischen oder offen antichristlichen religiösen Strömungen der Spätantike der Fall gewesen war (>GnosisGeschichte des PietismusHistoria Philosophical Dordrecht, Boston, London 1993, S. 460-473. Sapientia veterum Hebraeorum, S. 23f.
225 die antike Philosophie also gleichwohl im Schatten des von den heidnischen Philosophen verdorbenen biblischen Wissens: Diese Abhängigkeit der antiken Philosophie von biblischen Motiven beschreibt die 1. Dissertation Lux sacrarum literarum in tenebris gentilismi resplendens. Die zweite widmet sich dann direkt der infragestehenden Erörterung des Ursprungs der paganen Philosophie: Inquisitio in natales philosophiae. Es folgen je eine Untersuchung über die Einkleidung der Offenbarungswahrheit in die Schleier des Mythos - Veritas sub fabularum involucro latens, über die Abhängigkeit der griechischen und römischen Gesetzgebung von der jüdischen Tradition Legislatores Graecorum et Romanorum Mozaisantes, sowie über die jüdischen Wurzeln der paganen Moralphilosophie Origines morales. Die Sammlung endet mit einer Kritik an den als Pseudepigraphen enttarnten Libri antiquitatem mentientes, Sybillarum, Hermetici et Zoroastris. 1.1. Antike Philosophie als Korruption der Offenbarung Die Geschichte der paganen Philosophie der Antike ist für Colberg noch weitgehend in den Rahmen der biblischen Chronologie eingebunden. Das vollkommene Wissen der Juden wird auf die göttlichen Offenbarungen zurückführt, die durch Abraham, dann durch Joseph und schließlich durch Moses dem jüdischen Volk ein Wissen verliehen, das durch die späteren Propheten erneuert wurde.4 Trotz der bereits existierenden und teilweise auch zitierten philologischen Kritik bleibt das von Clemens von Alexandrien entwickelte Geschichtsmodell in diesen Skizzen der paganen Antike noch immer Colbergs wichtigste Vorlage, auf die er sich ständig beruft: Das heilige Wissen der Hebräer besitzt für Colberg einen uneinholbaren Ancienntiäts- und Dignitätsvorsprung, den die paganen Philosophien vergeblich einzuholen versuchten. Colberg unterscheidet jedoch bereits zwischen dem Offenbarungswissen der Juden auf der einen und Philosophie und Wissenschaft (scientia) der alten Völker auf der anderen Seite. Bei den paganen Völkern gibt es gleichsam zwei Formen der Philosophie, die aufeinander folgen: Zunächst entwickelt sich eine aus der natürlichen Vernunft des Menschen hervorgehende einfache Philosophie, vornehmlich im Sinne lebenspraktischer Rationalität, die Colberg als philosophia domestica bezeichnet. Die zweite und für Colberg hauptsächlich relevante Philosophie besteht nun aber in der Applikation jener natürlichen Vernunft auf die Offenbarungswahrheit in der Absicht, diese zu durchdringen. Die Versuche erzeugten in der Sichtweise Colbergs die häretischen Verirrungen der antiken Philosophie. Die Offenbarung erweist sich als unzugänglich gegenüber den Erklärungsversuchen der natür-
Sapientia veterum Hebraeorum, S. 29.
226 lichen Vernunft des Menschen, die durch den Sündenfall korumpiert ist und daher in die Irre gehen muß. In der Selbstzufriedenheit der Vernunft wirkt hingegen die Erbsünde fort und diskreditiert die Philosophie als eigenständige Disziplin. Mit Paulus betrachtet Colberg das menschliche Vertäuen auf die Fähigkeiten seiner Vernunft und die Abkehr vom inneren göttlichen Gesetz als Ursache für die pagane Impietas und Häresie, die in der voll entwickelten griechischen und römischen Philosophie ihren Höhepunkt findet: »>Putantes enim se sapientes stulti facti sunt & mutaverunt gloriam incorruptibilis DEI in similitudinem hominis, & volucrum, & quadrupedum, & serpentium, &c.< Hinc factum, ut, cum homines magis sequerentur proprias suas inclinationes, moresque vitiosas, tandem, neglecta luce legis internae, in pejus prolapsi sint, vitiaque abiverint in leges. Inde tot consuetudines legesque populorum Ethnicorum, & inter hos etiam Graecorum & Romanorum, deprehendimus impias, sceleratas & turpissimas.«5 Was den Ursprung der einzelnen Wissenschaften bzw. der philosophia domestica aus dem Vermögen der vom Sündenfall verdorbenen Vernunft angeht, gestand Colberg der paganen vorgriechischen Antike durchaus eine begrenzte Eigenständigkeit zu und führte hier sogar - gleichsam im Vorgriff auf die frühaufgeklärte pragmatische Philosophiehistoriographie - bereits kulturelle und klimatheoretische Erklärungsmuster an: Theoretische Wissenschaft sei lange vor den Griechen dort entstanden, wo die äußeren Rahmenbedingungen es zugelassen hätten, einer theoretischen, nicht unmittelbar praxisfixierten Tätigkeit nachzugehen. Daher erklärte sich nach Colberg, daß die Philosophie ursprünglich im Orient entstand und von dort erst später in das unwirtlichere Europa übertragen wurde. Der Ursprung der Philosophie bei den orientalischen Völkern hat für Colberg zunächst einen durch die natürlichen Rahmenbedingungen erklärlichen Grund, da wegen des günstigen Klimas und einer prosperierenden Wirtschaft die Vernunft sich der theoretischen Reflexion über die Eigenschaften der Dinge (natura rerum) überlassen konnte. Abhängig von den Umständen entstand so entweder eine eher einfache oder eine elaboriertere Form von Philosophie: »Principio nequit negari, omnes gentes suam habuisse Philosophiam, alias rüdem & informem, alias excultam & politiorem; prout vel magis bellis & curis oeconomicis, propter infecilitatem terrae, quam colebant, erant debitae, vel tranquiliore vitae statu fruebantur. Hinc est, quod populi Orientales, qui majori otio gaudebant, tum propter coeli temperiem magis commodem, tum quod quietas possesiones a majoribus acceperunt, prius animum ad contemplandam rerum naturam, applicare potuerint, cum illae nationes, quae occidentalem & septentrionalem plagam incolebant, novis sedibus quaerendis, iisdemque aptandis
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Sapientia veterum Hebraeorum, S. 69. Die Paulus-Stelle: Rom. 1, 22f.
227 habitationi & aliis necessitatibus, detinerentur, & vix ultra negotía domestica & civilia saperunt.«6 Die ersten Formen von Philosophie waren also das Resultat der natürlichen Vernunft jener alten Völker, die unter günstigen Bedingungen lebten, und besaßen in der Entwicklung der Mathematik, Geometrie und Astronomie bei den Ägyptern ihren Höhepunkt. Philosophie oder Wissenschaft in einem derart theologiefreien, instrumenteilen Sinn war für Colberg jedoch ohne großes Interesse. Sein PhilosophieBegriff orientierte sich vielmehr an dem von den Juden verwalteten göttlichen Offenbarungswissen. In ihm erblickte er das freilich unerreichbare Telos auch der heidnischen Philosophen, deren Werke denn auch Überreste jenes heiligen Wissens aufwiesen. In der 1. Dissertation entwarf Colberg das Bild einer von biblischen Motiven durchwirkten paganen Philosophie, die durchaus einen gewissen Anteil am jüdischen Wissen besaß: »Providentiae Dei singulari tribuendum est, quod multa dogmata salubria à Judeis ad ceteras gentes promanarint, unde in iis, quae alias propter tenebras intellectus sui ignorabant, lucem acceperunt.«7 Allerdings konnte das Licht der göttlichen Offfenbarung von der natürlichen Vernunft nicht erfaßt werden; deren Schwäche führte zusammen mit ihrer Neugier (curiositas) dazu, daß die überlieferte jüdische Offenbarungsweisheit umgestaltet und korrumpiert wurde. Die Philosophie der paganen Völker verdarb so stets die überkommenen Reste der Offenbarungswahrheit, da sie sie nicht als tradiertes heiliges Wissen übernahm, sondern durch eigenständige Untersuchungen zu durchdringen versuchte. Die Rezeption der sapientia Hebraeorum in der antiken Philosophie stellte sich deshalb als ein unaufhörlicher Korruptionsprozeß dar: »Quod ego quidem partim humani ingenii imbecillitati tribuo, quod non adeo accurate, ut par erat, potuit intelligere communicata sibi ab aliis mysteria, partim curiositati humanae adscribo, quae non contenta iis, quae audierat, scrupulose inquisivit in rei modum, ut, rimando ignota, rem ipsam pene amiserit.«8 Indem die paganen Philosophen die übernommenen Bestände des jüdischen Wissens durch Vermischung mit natürlicher Vernunft verdarben, verloren sie überdies auch die ursprüngliche Integrität ihrer zunächst theologiefreien Philosophie: »Illae autem gentes, quae primum philosophatae sunt, non diu integram Philosophiam retinuerunt, sed propter conversationem cum populo DEI, varias doctrinas, quas ratio sibi relicta non cognoscit, suae Philosophiae admiscuerunt, & deinceps Graecis communicaverunt. Multa ergo ex Patriarcharum disciplina Philosophiae inserta sunt.«9 Die sich selbst überlassene - als simple philoso-
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Sapientia Sapientia Sapientia Sapientia
veterum veterum veterum veterum
Hebraeorum, Hebraeorum, Hebraeorum, Hebraeorum,
S. S. S. S.
24. 1. 2. 24.
228 phia domestica apostrophierte - Philosophie der Heiden hätte sich also nicht zu jenen häretischen Irrtümern verstiegen, wenn die Heiden nicht ihre Vernunft auf die Offenbarung angewandt hätten, mit der sie durch die Juden in Kontakt gekommen waren. Das hinter den historischen Ausführungen des orthodoxen Lutheraners stehende Anliegen ist deutlich: Es geht ihm darum, den Bereich der Offenbarungstheologie von natürlicher Vernunft freizuhalten. Deshalb gesteht er der Philosophie, sofern sie sich nicht auf die res divinae bezieht, ein gewisses Recht als ursprünglicher Ausdruck menschlicher Vernunfttätigkeit zu. Da die Philosophie sich jedoch nicht auf diesen bei Colberg etwas undeutlich bleibenden Bereich der natürlichen Vernunft beschränkt, sondern die Offenbarungswahrheit mit ihren Mitteln zu ergründen versucht, korrumpiert sie sowohl sich selbst, als auch die Offenbarung und erzeugt die von der Ketzergeschichte beschriebenen Häresien. Colberg folgte mit dieser Einschätzung jener Auffassung, die den Ursprung aller Häretik in der Vermischung von Philosophie und Theologie gesehen und die Jacob Thomasius zu seinem Modell einer antiapologetischen Philosophiegeschichte ausgebaut hatte. Daß dieses Muster einer Kontrastierung von Offenbarungswissen und Philosophie jedoch auch für die Bewertung der jüdischen Patriarchen nicht ohne Gefahr war, hat Colberg klar gesehen: Auch den alten Hebräern mußten fundamentale wissenschaftliche resp. philosophische Kentnisse zugestanden werden, wie sie die anderen alten Völker eigenständig entwickelt hatten: »Quamvis etiam negare nolim, quandam Philosophandi rationem apud Patriarchas viguisse. Neque enim credendum est, ut quidam non satis prudenter afferunt, Patriarches rudes & simplices opiliones fuisse, ignaros sublimioris sapientiae & rerum civilium. Qui ita sentiunt maximis afficiunt injuriis.«10 Colberg wandte sich gegen die Auffassung, die alten Hebräer seien einfache, ungebildete Schafhirten (opiliones) gewesen, die zwar die Offenbarung, nicht aber ein komplexeres theoretisches Wissen (sapientia sublimior) besessen hätten. In einem weiten Sinne besaßen alle alten Völker einschließlich der Juden eine unterschiedlich entwickelte philosophische Wissenschaft, die jedoch alle paganen Völker durch ihre unzulässige Anwendung auf den Bereich der göttlichen Offenbarung korrumpiert hatten. Die besondere Stellung der Juden gründete also nicht darin, daß sie - wie alle anderen alten Völker auch - ein gewisses theoretisches Wissen besaßen, sondern darin, daß ihnen die Offenbarung Gottes zuteil geworden war. Die sapientia veterum Hebraeorum mit ihrem Anciennitäts- und Wahrheitsanspruch war also ausschließlich offenbarungstheologisch zu verstehen: Nicht der Ursprung allen Wissens lag in der Weisheit der Patriarchen, sondern allein der des Wissens über das Göttliche. Infolgedessen konnte Colberg das Entstehen
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Sapientia veterum Hebraeorum, S. 24.
229 von Philosophie und Wissenschaft als umweltbedingte Produkte menschlicher Vernunfttätigkeit bereits vornehmlich aus natürlichen Ursachen erklären. Nur für den Bereich der Theologie, auf den es Colberg jedoch allein ankam, galt der Prioritätsanspruch der jüdisch-christlichen Tradition. Die anderen Wissenschaften, Philosophie, Mathematik, Geometrie und Astronomie wurden hier bereits aus ihrer Eingebundenheit in die jüdische Wissensgenealogie gelöst und ihre Entstehung aus der selbständigen Vernunfttätigkeit des Menschen, aus klimatischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erklärt. Allerdings wurde in Colbergs Modell die Emanzipation der nichttheologischen Wissenschaften dadurch gebremst, daß er ihren weiteren Entwicklungsgang durch Vermischung mit der jüdischen Offenbarungswahrheit gekennzeichnet sah. Die zunächst auf den Bereich natürlicher Vernunft restringierten Disziplinen verloren ihre Autonomie und ordneten sich wieder der jüdischen Weisheitsgenealogie ein - jedoch als deren häretische Verfälschungen. Colbergs Beschreibung barg in dem Zugeständnis einer anfänglichen Eigenursprünglichkeit der antiken Philosophie bei den Völkern des Orients bereits den Keim ihrer Entlassung in historische Eigenständigkeit. Weil Colberg aber die Inhalte der jüdisch-christlichen Offenbarung als Maßstab seiner Interpretation der antiken Philosophie aufrechterhielt und allerorts biblische Motive in ihr wiederfand, wurde der Rahmen der jüdisch-christlich dominierten translatio sapientiae doch nicht aufgesprengt. 1.2. Genealogie der paganen Wissenschaft Die Ägypter treten für Colberg als erstes Volk auf, dessen mathematisches, geometrisches und astronomisches Wissen aus dem praktischen Bedürfnis erwuchs, die Nilüberschwemmungen zu berechnen und nutzbar zu machen. Allerdings vermischt sich gemäß Colbergs Korruptionsschema die natürliche Weisheit der Ägypter mit der Offenbarungsweisheit der Juden, mit denen sie immer wieder in intensiven Kontakt geraten waren: »Primum prodeant Aegyptii, quorum doctrina non potuit non impraegnari veritatibus divinis, propter conversationem diuturnam cum Hebrais.«11 Der Primat der jüdisch-christlichen Offenbarung zeigte sich für Colberg darin, daß die Ägypter aus den Offenbarungsschriften bereits eine Ahnung der Trinität gehabt hätten, deren adäquate dogmatische Fassung sie freilich verfehlten, indem sie sie als Prinzipientriade faßten - diese Triadik sei dann später von Plato übernommen und ausgearbeitet worden.12 Auch die Lehre von
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Sapiencia veterum Hebraeorum, S. 25. Das entsprach der Unterscheidung bei Jacob Thomasius: Persarum Platonicorumque Trinitas, a Sacro-Sancta Christianorum Trinitate Distinctissima (1671), in: Historia sapientiae et stultitiae, Halle 1693.
230 der Unsterblichkeit der menschlichen Seele hätten die Ägypter der jüdischen Tradition entnommen und zur Seelenwanderungslehre entstellt: »Ex mysterio enim Trinitatis tria principia formant, quae postmodum Piatonis Bonum, Mens & Anima audiunt. [...] Doctrinam quoque de Immortalitate animae humanae figmento μετεμψυχώσεως foedarunt, unde primos auctores hujus inventi se gloriantur.«13 Daß Colberg die von den Ägyptern verunreinigte Trinitätstheologie bereits als Gehalt der vorchristlichen jüdischen Weisheit begriff, verdeutlichte, daß es ihm um zeitfreie dogmatische Wahrheitsansprüche ging, die in der Offenbarung grundgelegt sind - die historischen Zeugnisse werden so nicht nach einem selbst historischen, also sich wandelndem und dadurch Alterität legitimierendem Maßstab beurteilt, sondern nach einer theologischen Wahrheit, die ohne Zeitindex ist. Den Anspruch der antiken Philosophie hingegen, selbst Urheber einer Lehre zu sein, die immer schon in der Offenbarung vorgegeben war, erklärte Colberg aus der Eitelkeit der Philosophen, sich ein Wissen zuzuschreiben, das eigentlich nur übernommen und verfälscht worden war. Das galt insbesondere für die Chaldäer, die - in Umkehrung der sonst geläufigen Reihenfolge - auf die Ägypter folgten und sich besonders in Astrologie und Magie auszeichneten. Nach der Edition der Aufzeichnungen des fingierten chaldäischen, von Flavius Josephus erwähnten Priesters Berosus durch Annius von Viterbo 14 hatte die chaldäische Wissenschaft als besonders eindrucksvoller Beleg für die Herkunft aller paganen Wissenschaft aus der jüdischen, durch Noah über die Sintflut geretteten Weisheit gegolten.15 Dabei war den Chaldäern von Ps. Berosus (=Annius) die wichtige Aufgabe zugesprochen worden, die noachitische Weisheit unverdorben durch Abraham an die Juden zurückzugeben - sie galt also als wichtiges Element innerhalb der heilsgeschichtlichen Weisheitsgenealogie. Colberg interpretierte diese Auszeichnung des chaldäischen Wissens um und äußerte Zweifel am hohen Alter der Chaldäischen Orakel,16 die das heilsgeschichtlich bedeutsame Wissen der Chaldäer zu belegen schienen: »Nam quod Oracula illa Chaldaeorum, ex Chaldaeorum libris, a Patricio, nisi fallor, collecta et edita, & a Caesare Longino Trinuno Magico inferta, attinet, illa recentiora sunt, & vix priscis Chaldaeis tribui possunt, nisi forte dicere velis, reliquas ea esse doctrinae Danielis, quam hisce populis communicavit, sed
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Sapientia veterum Hebraeorum, S. 29. Annius von Viterbo: Berosi sacerdotis chaldaici, Antiquitatum libri quinqué (1498), Wittenberg 1612. Cf. dazu A. Grafton: Defenders of the Text, S. 80-103; W. Stephens: Giants in those Days. Folklore, Ancient History and Nationalism, Lincoln 1989. Cf. den Text bei Ruth Majercik: Julianus the Theurgist. The Chaldean Oracles. Text, Translation and Commentary, Leiden 1989. Zum Entstehungshintergrund Hans Lewy: Chaldean Oracles and Theurgy. Mysticism, Magic and Platonism in the later Roman Empire, Kairo 1956.
231 valde depravatas & in alienam sensum detortas, ut non nisi divinando intelligi possint.«17 Die chaldäische Wissenschaft war für Colberg also keineswegs bereits antediluvianischen Ursprungs und auch nicht durch die als Pseudepigraphen erkannten Chaldäischen Orakel belegt, sondern sie war jünger und aus der Verfälschung der Lehren des Propheten Daniel entstanden. Deshalb konnte eine Deutung der Chaldäer als Repräsentanten der prisca sapientia, wie sie die Berosus->Fälschung< des Annius vorgetragen hatte, nicht länger aufrechterhalten werden.18 Die alten Perser kamen in Colbergs Skizze der antiken Philosophie besonders schlecht weg - ihre ursprüngliche Philosophie wurde als unfrommer Aberglaube geziehen, der erst durch die Bekanntschaft mit der jüdischen Weisheit partiell korrigiert werden konnte. Vornehmlich der Kontakt mit dem Propheten Daniel vermittelte auch den Persern die Möglichkeit, das Licht der Wahrheit und die göttliche Weisheit zu erkennen - aber nach Art der >barbarischen< Völker verdarben auch sie den Weisheitsschatz bald, indem sie ihn mit ihrer Vernunft vermengten: »Vana ergo, superstitiosa, impia & Idolatrica fuerunt, quaecunque Magi tractarunt, antequam lumen veritatis & sapientiae divinae ipsis, praelucente Daniele, coortum est, a quo tempore aliam faciem induit ipsorum Philosophia. Quanquam, qui mos gentilium est, non diu servarint veritatem, admiscendo ei ratiocinationes suas, unde pedetentim confusionem quandam passa est.«19 In diesem Modell war es natürlich nicht länger möglich, eine der antiken Philosophenschulen als legitime Wiederherstellung der mosaischen Wahrheit zu beschreiben, die in Vergessenheit geraten war, wie das etwa Steucho hinsichtlich der philosophischen Restitution der Offenbarungswahrheit durch die Chaldäer und später durch den Neuplatonismus getan hatte. An die Stelle von Korruption und Wiederherstellung der Wahrheit trat jetzt das Schema einer durchgängigen, ausweglosen Korruption durch die pagane Philosophie. Keine einzige Philosophenschule konnte zurecht beanspruchen, die verlorene Weisheit auch nur annähernd richtig vertreten, geschweige denn durch ihre Philosophie wiederhergestellt zu haben. Und das war auch gar nicht nötig, weil die Offenbarungsweisheit von den Juden unkorrumpiert bewahrt worden war und überdies die wichtigsten paganen Zeugnisse, die die prisca theologia zu belegen schienen, als spätere >Fälschungen< erkannt worden waren.20 Innerhalb dieses Geschichtsmodells, das aus der Dichotomie von Antike und Offenbarungstheologie hervorging, konnte die Wiederherstellung der Wahrheit
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Sapientia veterum Hebraeorum, S. 31f. Cf. zur Geschichte der Fälschung: Johann Albert Fabricius: Berosi Chaldaei Fragmenta, in: Bibliotheca Graeca, Buch VI, cap. 12, Bd. 14, Hamburg 1728, S. 211-227. Dazu Grafton: Defenders of the Text, S. 76-103. Sapientia veterum Hebraeorum, S. 33. Colberg: Diss. VI.
232 immer nur durch Kontakt mit den Juden erklärt werden. Und so betonte Colberg denn auch die restituierende Funktion des babylonische Exils für die pagane Philosophie, während dessen zahlreiche antike Völker wieder in engen Kontakt mit den Juden gekommen waren: »Quae enim hactenus successive & parce ad gentes emanavit rerum sacrarum notitia, multo uberius & constantius post haec tempora splendere coepit in tenebris.«21 Dann aber setzte erneut die Korruption ein, die auch die Phönizier - das letzte der alten Völker vor den Griechen - betroffen habe, die ebenfalls engen Kontakt mit den Juden gepflegt und von ihnen Teile der göttlichen Wissenschaft übernommen hatten: »De Phoenicibus idem esto judicium, qui non tantum vicini Judaeorum fuerunt, sed etiam variis negotiis, commerciis, foederibus illis juncti. Domestica illorum Philosophia Mathematica & Physica absolvitor.«22 Auch bei den Phöniziern fand sich also eine aus dem Hausgebrauch der Vernunft resultierende philosophia domestica nichttheologischen Inhalts (Mathematik und Physik) und jene häretische Vermischung von Vernunft und Offenbarung (philosophia impia). Die gesamte vorgriechische Philosophie war für Colberg also im Kern durch die sapientia veterum Hebraeorum bestimmt, die von allen alten Völkern übernommen und durch Vermischung mit ihrer philosophia domestica verfälscht worden ist. Daher fanden sich nach Colberg auch überall in der Mythologie und Philosophie der paganen Antike biblische Motive wieder, die aus der jüdischen Tradition stammten, in ihrer heidnischen Fassung aber verdorben worden waren: In der 1. Dissertation Lux sacrarum literarum in tenebris gentilismi resplendens hatte Colberg sie ausführlich dargelegt. Mit dieser Sicht auf die Weisheitsliteratur des Orients konnte auch die griechische Philosophie nicht anders als abhängig von jener häretischen Weisheitstradition sein. Ihr kam keine exzeptionelle Position zu, sondern ihre Entwicklung folgte dem bereits bekannten Korruptionsschema. Allerdings billigte Colberg auch ihr eine eingeschränkte Selbstursprünglichkeit im Bereich der philosophia domestica zu, deren anfängliche Autonomie jedoch durch die bald einsetzende Rezeption von Motiven der hebräischen Tradition - zumeist in der durch die orientalische Philosophie bereits verdorbenen Form - verloren ging: »Quis enim negatum iret, Graecos aeque ac reliquas gentes, domesticam habuisse Philosophiam, & ratione duce multa invenisse non contemnenda. Sed qualiacunque haec etiam fuerint, non tamen comparanda iis veniunt, quae ex Hebraeorum disciplina hauserunt.«23
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Sapientia veterum Hebraeorum, S. 10. Sapientia veterum Hebraeorum, S. 34. Sapientia veterum Hebraeorum, S. 35.
233 Dieser zweite und inhaltlich bedeutsamere Ursprung der griechischen Philosophie durch Informationsübernahme von den Hebräern sei von den Griechen jedoch möglichst verschwiegen worden, um sich den Anschein gedanklicher Selbständigkeit zu verschaffen: »ut sibi vendicarint inventionis gloriam.« 24 Auch die griechische Übernahme biblischer Motive charakterisierte Colberg als Verfälschung der Offenbarung, die die Griechen nach ihrem Maßstab veränderten: »partem etiam auxerint, &, ut credebant, sed falso, correxerint.«25 Die griechische Philosophie erscheint deshalb auch nicht etwa als eine philosophische Wiederherstellung der im Orient degenerierten Offenbarungswahrheit, sondern führte den Korruptionsprozeß fort. Angetrieben von den Nachrichten über die nach dem babylonischen Exil erneut verbreitete jüdische Weisheit verließen die Griechen ihre Heimat, um sich von den Juden in das Offenbarungswissen - die sublimior sapientia - einweihen zu lassen, ohne diese jedoch adäquat erfassen zu können: »Famam hanc sublimioris sapientiae incitamento fuisse credo Graecis, animum applicandi ad Philosophiae Studium, & cum domi non invenissent, quod satiare posset honestum desiderium, se conferendi ad loca ista, ubi scirent hospitari Judaeos, quo se imbuerent solidiore scientia, qua hactenus patriam suam caruisse, non obscure deprehendebant.«26 Mit der griechischen Philosophie war also die gesamte antike Philosophie der paganen Völker, wo sie mehr als eine bescheidene philosophia domestica zu sein beanspruchte, in Abhängigkeit von der jüdischen Offenbarungswahrheit gebracht worden: »Nam, cum Moses omnes Graecorum Scriptores aetate longe antecedat, & in libris suis ea tradat, quae postmodum, & quidem valde corrupte, Graeci docuerunt, non inepte colligitur, hos a Mose sua mutuatos esse.«27 So mußten nicht nur die späteren Philosophen, sondern auch schon die frühesten griechischen Dichter wie Hesiod und Homer, aber auch der Gesetzgeber Lykurg jünger als die jüdischen Propheten sein, von denen sie beeinflußt worden waren. Deswegen setzte Colberg die biblische Chronologie nach wie vor als gültig voraus und kam zu dem Schluß, daß alle späteren Philosophen nach dem Babylonischen Exil der Juden gelebt hatten und also mindestens 1085 Jahre jünger als Moses gewesen sein müssen: »Ut, secundum hunc computum, Hesiodus & Lycurgus Elisaeo Propheta sint juniores, Homerus vero posterior Salomone. De reliquis Graeciae sapientibus & Philosophie extra controversiam est, quod post Babylonicam captivitatem vixerint, & sic ad minimum mille octoginta quinqué annis Mose sint posteriores. Mosaicam ergo sapientiam addiscere potuerunt.«28
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Sapientia Sapientia Sapientia Sapientia Sapientia
veterum veterum veterum veterum veterum
Hebraeorum, Hebraeorum, Hebraeorum, Hebraeorum, Hebraeorum,
S. S. S. S. S.
35. 35. 11. 36f. 43.
234 Mit dieser durch zahlreiche Zitate vor allem aus Clemens' Stromateis durchsetzten Darstellung war Colberg der traditionellen Integration der paganen Antike in die biblische Chronologie zwar gefolgt, hatte aber ihre Inhalte als wesentlich abhängig von der sapientia veterum Hebraeorum, die an Alter und Dignität alle anderen Philosophien überragte, dargestellt. Die antike Philosophie wurde trotz ihren dem Gehalt der Offenbarung widersprechenden Lehren also noch nicht in historische Selbstursprünglichkeit entlassen. Allerdings konnte sie auch nicht länger als pagane Bestätigung der Offenbarung im Sinne der prisca sapientia verstanden werden, so daß Colberg das ehemals gültige Schema einer (mehr oder weniger geglückten) translatio sapientiae durch das einer durchgängigen corruptio sapientiae ersetzte, ohne jedoch die Behauptung einer fundamentalen Abhängigkeit der paganen Philosophie von der jüdischen Weisheit aufzugeben. Allein im Bereich der einfachen philosophisch-wissenschaftlichen Bemühungen (philosophia domestica) und bei der Entwicklung der Mathematik und Astronomie hatte Colberg den alten Völkern einen autonomen Wissensursprung zugestanden, der auf natürliche Ursachen zurückgeführt wurde. 1.3. Monopol der biblischen Offenbarung Wie sehr diese Sicht auf die frühe Geschichte menschlichen Wissens von Colbergs aktuellem theologischen Argumentationsanliegen geprägt war, zeigte besonders deutlich die abschließende Dissertation Libri antiquitatem mentientes, Sybillarum, Hermetici et Zoroastris. Hier referierte Colberg die philologische Kritik an jenen vorgeblich alten Weisheitstexten, die sich allesamt als erst in nachchristlicher Zeit verfaßt herausstellten. Damit aber wurde ihr Anspruch hinfallig, Zeugnis einer göttlichen Weisheit zu sein, die in der jüdischen Offenbarung typologisch angelegt war, um dann vom Neuen Testament erfüllt zu werden. Colbergs Interesse an ihrer Entlarvung als Pseudepigraphien resultierte aus dem gleichen Motiv, wie bereits Isaac Casaubons philologische Demontage des Corpus hermeticum,29 die Colberg ausführlich zitierte: Die historisch-philologische Kritik zielte darauf, die Heilige Schrift als einzig rechtmäßige Quelle der Theologie auszuweisen und also alle nicht-biblischen Paralleltexte entweder als >Fälschungen< zu enttarnen, oder als Korruptionsstufen zu disqualifizieren. Dieses Interesse besaß für Colberg aktuelle Bedeutung, diente es ihm doch im Kampf gegen die Schwärmer wie gegen die Vertreter einer natürlichen Theologie (Naturalisten) dazu, die sola ícnpíura-Begründung der Theologie zu verteidigen und alle bibelunabhängigen Offenbarungen, sowohl die inneren der Enthusiasten, als auch die Berufung auf das lumen naturae der Naturalisten zurückweisen zu können. Für den lutherischen Theologen gab es außer der Heiligen Schrift keine weitere Offenbarungsquelle, deren Singularität unter-
29
Cf. oben Kap. I, 1.1.
235 strich die Kritik an den Pseudepigraphien: »Quae materia propter utilitatem in disputatione cum Naturalistis, qui allegatione horum scriptorum suscipiunt probare, quod Articuli fidei, praesertim de Persona & Officio Christi, ac de Beneficiis per Christum acquisitis agentes, ex naturae lumine cognosci possint, & Fanaticis, qui hinc colligunt, etiam sapientiores Gentiles divinitus inspiratos & salvatos fuisse.«30 Mit den paganen Belegen für eine bibelunabhängige Offenbarung und vor allem für die bereits im Zentrum seiner Schwärmerkritik stehende natürliche Christologie wollte Colberg seinen gegenwärtigen Gegnern ihre antiken Gewährsleute nehmen. Das Geschichtsbild, das er in De sapientia veterum Hebraeorum von der paganen Antike zeichnete, unterstützte so seine aktuelle Schwärmerkritik, wie er sie im Platonisch-hermetischen Christentum entfaltet hatte. Dort hatte er die von den Pseudepigraphien vertretene natürliche Weltgeistchristologie zum Zentrum der Schwärmerei erklärt und als platonisch klassifiziert.31 Jetzt betonte er, gegen Ursinus' De Zoroastre et Hermete gewandt, die platonisch-griechische Herkunft jener vorgeblich uralten Texte: Die Schriften des Hermes Trismegistos seien nicht ägyptischen Ursprungs, sondern erst von den Piatonikern aufgefunden worden, die auch ihre Verfasser gewesen waren. Auch die Schriften des Zoroaster verortete Colberg im gnostischen Milieu des 2. nachchristlichen Jahrhunderts, in dem auch die sybillinischen Texte entstanden seien. Mit Hinblick auf das Corpus hermeticum stellte er fest: »Credo autem hos libros circa idem tempus, quo Sybillina Carmina, fuisse conscriptos ab Haeretico Platonico-Simoniano, cui volupe fuit Piatonicam Philosophiam & Theologiam puriorem miscere, hancque juxta ejus principia torquere.«32 Insgesamt entstammten jene Pseudepigraphien also dem platonisch-gnostischen Umfeld der ersten nachchristlichen Jahrhunderte und waren mithin jünger als die biblische Offenbarung, die sie durch Vermischung mit der platonischen Philosophie verunreinigten. Colbergs theologisch motivierte Geschichte der antiken Weisheitsliteratur, die er mit jener Kritik an den Pseudepigraphen Schloß, wie auch bereits seine Schwärmerkritik hatten Jacob Thomasius' Desintegration der paganen Philosophie aus ihrer heilsgeschichtlichen Vereinnahmung historisch sowie polemisch fruchtbar gemacht: In De sapientia veterum Hebraeorum hatte Colberg ein Geschichtsmodell entworfen, das auf die von J. Thomasius lancierte Trennung von Theologie- und Philosophiegeschichte reagierte, ohne bereits die theologischen Kriterien der Kirchengeschichte für die Philosophiegeschichte zu suspendieren. Trotz der antiapologetischen Sicht blieb der Maßstab der Darstellung
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Sapientia veterum Hebraeorum, S. 128. Cf. oben Kap. Π, 3.3. Sapientia veterum Hebraeorum, S. 161.
236 der paganen Philosophie die jüdisch-christliche Offenbarung. Im Zentrum des von Colberg entworfenen Geschichtsmodells stand die These der Abhängigkeit aller über die rudimentären Erkenntnisse einer philosophia domestica hinausreichenden paganen Philosophie vom älteren jüdischen Offenbarungswissen. Diese Annahme blieb die communis opinio aller Fraktionen der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung zwischen lutherischer Orthodoxie und pietistischer Opposition. Colbergs lutherisch-orthodox motivierte Darstellung der Sapientia veterum Hebraeorum hatte verdeutlicht, daß die heidnische Philosophie trotz ihrer destruktiven Potenz gegenüber den Inhalten der Offenbarung noch immer als Teil einer biblisch eingerahmten Universalgeschichte des Wissens galt, die alle Wissensformen einschloß. Mit dem Hinweis auf die Eigenständigkeit der paganen philosophia domestica deutete sich freilich bereits eine Perspektive auf die Frühformen menschlichen Wissens an, wie sie sich nach Preisgabe der theologisch motivierten Philosophiegeschichte erst noch eröffnen sollte. Innerhalb der lutherisch-orthodoxen Sichtweise, wie sie Colberg und Bücher repräsentierten, verblieb die Philosophiegeschichte jedoch im Rahmen einer theologisch konfessionell wertenden Kirchengeschichte. Da die Offenbarungskonformität der paganen Philosophie allerdings nachdrücklich in Zweifel geraten war, kam der Philosophie innerhalb der orthodoxen Kirchengeschichtsschreibung jetzt vorrangig die Funktion des häretischen Gegenspielers zu. Diese Bewertung galt aber allein für die Kirchengeschichtsschreibung der bibelzentrierten lutherischen Orthodoxie, nicht für die der Pietisten, die durch eine Aufweichung der konfessionell-dogmatischen Evaluationskriterien der Kirchengeschichte die pagane Philosophie wieder zu Anerkennung brachten und damit ihre theologieunabhängige Neubewertung in der frühen Aufklärung vorzubereiten halfen. Orthodoxe wie pietistische Kirchengeschichten gingen zwar vom Modell der Abhängigkeit der Philosophie vom jüdischen Ursprung aus - , die Pietisten aber sahen in Piaton nicht nur den Verfälscher der Offenbarungswahrheit, sondern vielmehr auch einen potentiellen Bündnispartner gegen die Restriktion christlicher Theologie auf äußeren Schriftglauben und dogmatische Bekenntnisformeln. Indem in der pietistischen Kirchengeschichtsschreibung nicht mehr eine konfessionelle Dogmatik zum Maßstab der Darstellung gemacht wurde, trieb sie die in der Philosophiegeschichtsschreibung der Frühaufklärung erreichte Ausgrenzung theologischer Bewertungskriterien bis hin zu ihrer annähernden Suspension voran.
237 2.
Pagane Offenbarungen als fromme theologia mystica: Köpkes Antwort auf Bücher
Spener hatte mit Erstaunen auf seine Verleugnung als Platoniker reagiert und ironisch bemerkt, er hätte selbst nicht gewußt, »daß die Platonici so viel gutes in ihren schrifften hätten.«33 Er erklärte sich deren Affinität zur frommen theologia mystica dadurch, daß auch Piaton - wie Bücher zugestand - Kenntnis von der jüdischen Offenbarung besessen und sogar die Heilige Schrift selbst gelesen hatte.34 Auch Spener ging also ganz selbstverständlich vom Modell der Integration der heidnischen Philosophie in die jüdisch-christliche Weisheitstradition aus, ohne sie jedoch als Korruptionen abzuwerten. Vielmehr erblickte er in den platonischen Schriften Belege für »göttliche Entzückungen«, die auch den Heiden zuteil geworden waren und die auch biblisch gerechtfertigt seien. Dabei berief Spener sich vornehmlich auf den raptus Pauli und andere einschlägige Stellen der Apostelgeschichte, des Korintherbriefs, sowie der Offenbarung: »Wir thun aber nicht besser / als daß wir die art der göttlichen entzückungen [...] aus den exempeln Petri Αρ. Gesch. [...]35 die wir allein in der schrifft finden / urtheilen / daraus mans etwa also fassen möchte / daß es eine solche wirckung GOttes seye / dadurch derselbe des menschen sinne eine weil bindet / daß diese von ihren eigenen wirckungen ein wenig ruhen und still stehen / also sie dißmahl von nichts anders wissen / da indessen Gott in ihren seelen wircket / und ihnen auff ihm bekannte art zu erkennen giebet und eindrucket / was sein wille an sie oder an andre zu offenbahren / diesmahl gewesen.«36 Da sich für die Pietisten Gott außer in der äußeren Offenbarung der biblischen Schriften auch innerlich mitteilte, konnten von Spener Texte als interne Offenbarungen Gottes gelesen werden, die nicht im biblischen Kanon enthalten waren. Deshalb blieben für die Pietisten auch die Texte der paganen Philosophen, sofern sie von solch inneren Offenbarungen sprachen, weiterhin theologisch wahrheitsfähig. Wie auch am Werk Arnolds abzulesen sein wird, zeigten sich die pietistischen Gelehrten daher von der philologischen Kritik an jenen Texten aus theologischen Gründen weitgehend unbeeindruckt. Die pietistische Kirchengeschichtsschreibung im Gefolge Speners übernahm deshalb auch nicht das von Jacob Thomasius forcierte Programm einer Dichotomie von paganer Philosophie und christlicher Theologie, sondern billigte weiterhin den Heiden aufgrund der Möglichkeit interner Offenbarungen (und aufgrund einer unterstellten weitgehend unverdorbenen Kenntnis der Heiligen
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36
Spener: Vorrede zu Balthasar Köpkes Sapientia Dei [...], Halle 1700, unpag. Cf. oben Kap. III, 1.2. Die Stellen: Petri Αρ. Gesch. 10 /10.11 / 5. Pauli Ap. Gesch. 22 / 17. 2. Cor. 12 / 2. 4. Johannis Offenb. 1 / 10. 4 / 2. Spener: Vorrede zu Balthasar Köpkes Sapientia Dei, unpag.
238 Schrift) ein höheres Maß an theologischer Wahrheit zu, als das innerhalb des orthodoxen Korruptionsmodells der Fall war. Diese Position barg freilich die Gefahr, als religiöser Indifferentismus und damit als eine Variante des offenbarungsfeindlichen Naturalismus ausgelegt zu werden.37 In der Tat war bei Spener ebensowenig wie bei Arnold der Maßstab der Kirchengeschichte die lutherische Dogmatik, wie sie in der von den Pietisten attackierten Konkordienformel festgeschrieben worden war, sondern ein praktisches Christentum, das sich durch fromme Affekte und tugendhaftes Leben bewies. Spener blieb jedoch darauf bedacht, sich von dem in seiner zeitweiligen Ablehnung allen äußeren Gottesdienstes radikaleren Arnold abzugrenzen, dessen mystischen Voluntarismus er nicht teilte: »Das erste solle seyn / die entschuldigung aller Ketzer; dessen erweiß ist / daß ich (denen was gegen Hr. Arnolden wegen seiner Ketzer-Historie beygefüget wird / gehet mich und andere nicht an / noch habe ich anders als mit hertzlichem mißfallen an vielem / von solchen werck gehöret) andre religionen bald entschuldige / bald lobe [...] Hierauf habe offt geantwortet: 1. Wie ich davor halte / daß allerdings die irrthume kräfftig widerleget und auch dero schwehre nach der Wahrheit gezeiget werden solle / so gehöret ferner aber zu christlicher pflicht / selbs auch den feinden in dieser sache nicht zuviel zuthun [...] Also können sie auch in einigen Dingen gelobt / und nicht ihr gottesdienst selbst / in deme darinn er göttlicher Ordnung zuwider ist / wol aber ihr eiffer / andacht / beständigkeit / oder klugheit / zur nachfolge vorgestellet werden.«38 In ihren Widerlegungen des von Bücher gegen Spener erhobenen Platonismus-Vorwurfs trugen Balthasar Köpke und Johann Wilhelm Zierold ein Geschichtsmodell vor, das mit der vorsichtigen Rehabilitation Piatons und des antiken Piatonismus auf eine kirchengeschichtliche Einbindung der antiken Philosophie zielte. Aufgrund ihrer Opposition gegenüber der aristotelisch verfaßten Schultheologie brauchten sich die Pietisten nicht auch noch um eine Rehabilitation des Aristoteles zu kümmern, dessen Desavouierung als paganen Philosophen sie vielmehr begrüßten. 2.1. Apologie der Antike. Röpkes Fassung der prisca sapientia Mit seiner Skizze der antiken Philosophie folgte Köpke dem Geschichtsmodell, das der Bischof von Worcester Edward Stillingfleet in seinen Origines sacrae (1662 u.ö., deutsch 1695) entworfen hatte:39 Stillingfleet hatte die Anciennität
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Das war der Vorwurf der lutherischen Orthodoxie, wie ihn v.a. V. E. Löscher immer wieder formulierte. Spener: Vorrede zu Balthasar Köpkes Sapientia Dei, unpag. Edward Stillingfleet: Origines sacrae: or a Rational Account of the Grounds of the Christian Faith [...], London 1662, 1666, bes. I. Ausgabe lib. 1-4. Es erschien 1695 eine
239 und historische Glaubwürdigkeit der jüdisch-christlichen Offenbarung herausgestellt und die Abhängigkeit der paganen Philosophie von diesem Offenbarungsursprung innerhalb seiner historisch-philosophischen Apologie des Christentums betont. 40 Stillingfleets Origines sacrae richteten sich vor allem gegen die als latent atheistisch eingeschätzten Implikationen der neuen mechanistischen Naturphilosophie und der empiristisch-skeptischen Erkenntnistheorie, die er kontrovers mit Locke diskutierte.41 Da Stillingfleet im Hinblick auf die moderne Philosophie das atheistische Potential einer offenbarungsunabhängigen Vernunft klar erkannt hatte, teilte er nicht länger die Vorstellung einer adäquaten Übernahme des Offenbarungswissens durch die paganen Philosophie. Anders als die Cambridge Platonists Ralph Cudworth und Henry More wies Stillingfleet die Annahme einer prisca theologia zurück42 und betonte hingegen die weitreichende Korruption der Offenbarung innerhalb der paganen Philosophie, die mit den von Gassendi für die moderne Naturphilosophie wiederbelebten Atomisten Demokrit und Epikur sich zuletzt zur Annahme der Ewigkeit der Welt verstiegen habe. 43 An dieses Geschichtsmodell konnte der Pietist Köpke gut anknüpfen, verfocht es doch den Offenbarungsprimat der jüdisch-christlichen Tradition, ohne der (paganen) Philosophie dort, wo sie als Ausdruck menschlicher Vernunft auftrat, allzuviel Anerkennung zuzugestehen. Den Maßstab von Köpkes Darstellung der Kirchengeschichte stellte eine affirmativ verstandene theologia mystica dar, die bereits im Judentum eine Vorahnung der christlichen Offenbarung transportierte. Neben dem Wissen der theologia mystica kannte auch Köpke ein profanes >wissenschaftliches< Wissen, das zwar
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deutsche Übersetzung: Origines sacrae, oder Ursprung der Heiligen Historie, Bremen 1695. Zu diesem Werk unter besonderer Berücksichtigung der Differenz der beiden Editionen der Origines sacrae cf. Sarah Hutton: Science, philosophy, and atheism: Edward Stillingfleet's defence of religion, in: Richard H. Popkin, Arjo Vanderjagt (Hrsg.): Scepticism and Irreligion in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Leiden 1993, S. 102-120. In der 2. Ausgabe verstärkt Stillingfleet seine Zurückweisung der prisca theologia und rekurriert verstärkt auf moderne Philosophen, wie Descartes, die seine Apologie unterstützen sollen. Die Bezugnahme auf antike Philosophie rückt in den Hintergrund der Apologetik. Cf. im Kontext der Skeptizismus-Debatte dazu Richard H. Popkin: The Philosophy of Bishop Stillingfleet, in: lournal of the History of Philosophy 9 (1971), S. 303-319. Die englischen Diskussionen über den Status der ehemals als prisca theologia adorierten Weisheitszeugnisse um 1700 thematisieren John Gascoigne: >The Wisdom of the Egyptians< and the Secularisation of History in the Age of Newton, in: The Uses of Antiquity. The Scientific Revolution and the Classical Tradition, hrsg. v. Stephen Gaukroger, Dordrecht et al. 1991, S. 171-212; sowie Joseph M. Levine: Latitudinarians, Neoplatonists, and the Ancient Wisdom, in: Philosophy, Science, and Religion in England (1640-1700), hrsg. v. R. Kroll, Cambridge 1992, S. 85-108. Zur Kritik Stillingfleets an Henry More cf. S. Hutton: Edward Stillingfleet, Henry More and the Decline of Moses atticus, in: Philosophy, Science, and Religion in England, S. 68-84.
240 innerhalb der gleichen Weisheitsgenealogie tradiert wurde, das aber in sich die Gefahr der Abwendung vom göttlichen Wissen barg. Die postdiluvianische Korruption des göttlichen Wissens betraf daher nicht nur die Heiden, sondern auch die Juden selbst: »Den Anfang machen wir von dem Ertz-Vater Abraham / welcher der erste gewesen / dem sich der Sohn Gottes / der da wollte Mensch werden / und durch seinen Tod uns erlösen / vor anderen sehr herrlich offenbahret hat / nachdem die Welt fast allenthalben von der Lehre Noah und der Ertz-Väter / und vom wahren Erkenntniß Gottes in dem Meßia abgewichen / und in Abgötterey und Aberglauben verfallen war. Von demselben wollen wir allhier zwey Stücke anmercken: (1) Daß er auch in allen Künsten und aller Weisheit der Chaldäer geübt gewesen / aber solches alles gering geachtet / und dem Göttlichen Beruff gefolget / auch sein Vaterland und Freundschafft verlassen / damit er nur Christum gewinnen möchte. Die Chaldäischen Weisen sind die Ältesten unter den Welt-Weisen / haben das richtigste und gewisseste von den Künsten und Wissenschafften / sonderlich von der Astronomia, oder Stern-Kunst / von der Physica, oder Wissenschaft der natürlichen Dinge / die von Anbeginn der Welt von den Vätern sind gelehret und fortgepflanzet worden / behalten. Von ihnen haben es die anderen Völcker / und deroselben weise Leute genommen.«44 Damit war der Ursprung aller Wissenschaft, sowohl von den göttlichen als auch von den natürlichen Dingen, sowie die Mathematik, an die Wissensfülle der jüdischen Patriarchen gebunden, die sie weitergaben, so daß sie durch Noahs Vermittlung die Sündflut überstanden und sich in nachnoachitischer Zeit erneut verteilten. In einer solchen auf die jüdischen Anfange zurückreichenden Weisheitsgenealogie wurden heiliges und profanes Wissen parallel tradiert. Abrahams Erkenntnisinteresse konzentrierte sich jedoch nicht so sehr auf die von ihm gleichwohl beherrschten profanen Wissenschaften, sondern lag auf der Gotteserkenntnis der theologia mystica, der verborgenen Weisheit Gottes (σοφία Θεοί) έν μυστηρίφ), für deren Verbreitung und Fortpflanzung durch seine Nachkommen er sorgte: »Ferner wollen wir allhier (2) anmerken, daß Abraham in dieser geheimen Weisheit sich immer weiter geübet [...] und immer weiter kommen sey in Erkenntniß Christi. [...] Also ist die wahre Erkenntnis Gottes in Christo / die geheime Weisheit Gottes damals in der Welt ausgebreitet / und auf Abrahams Nachkommen fortgepflanzt worden.«45 Die pagane Antike hatte also durch die Juden bereits Anteil an der Erkenntnis Christi, sie war nicht durchgängig als Korruptionsepoche abgewertet. Doch ging nach Abraham das restituierte heilige Wissen teilweise wieder verloren, indem es etwa von Zarathustra mit der menschlichen Weisheit vermischt wurde. Auch hier also galt als Ursache der Häresie die Vermischung
44 45
Köpke: Sapientia Dei, S. 5. Köpke: Sapientia Dei, S. 9.
241 von profanem und sakralem Wissen, sie war jedoch nicht ausschließlich das Merkmal der paganen Philosophie, sondern betraf auch die Juden: »Es ist auch das wahre Erkenntniß Christi von vielen angenommen und ausgebreitet; Aber es hat dagegen auch wiederumb / wie zu allen Zeiten / viel Feinde / Neider / Verfolger und Unterdrücker gehabt / unter Jiiden und Heyden / die ihren eignen Namen groß zu machen durch den angenommenen Schein der Wahrheit / das rechte Licht verdunckelt / oder Licht und Finsterniß miteinander vermenget haben.«46 Die bei den alten Völkern postdiluvianisch verbreitete, teils in korrumpierter, teils in integrer Qualität bewahrte Weisheit sei dann schließlich auf die Griechen übertragen worden. Bei ihren Reisen nach Ägypten seien Thaies und Pythagoras in diese Weisheit eingeweiht worden, die sie dann ihrerseits den Griechen in unterschiedlicher Weise weitergegeben hätten: »Sie haben unterschiedliche Wahrheiten von Gott / von der Erschaffung und Erhaltung der Welt / von dem Fall des Menschen und der Sünde / von einem erbaren und tugendhafften Wandel gelehret und fortgepflanzet / die mit der H. Schrift übereinkommen.«47 Diese Konformität mit der Heiligen Schrift garantierte die Dignität der griechischen Philosophie, die so zuletzt über ihre paganen Vorgänger auf Moses und die jüdischen Propheten zurückgeführt werden konnte: »sind auch vermuthlich nicht allein aus der Tradition ihrer Voreltern / sondern von denjenigen / mit welchen sie in Egypten umbgegangen / aus Mose und den Propheten ihnen beygebracht.«48 Aufgrund ihrer theologiekonformen Inhalte wird die pagane griechische Philosophie als Abglanz der Offenbarungswahrheit zunächst also akzeptiert. Aus Ruhmsucht, aber auch, um die jüdischen Lehren den Griechen vermitteln zu können, hätten die griechischen Philosophen die jüdische Herkunft ihres Wissens nicht zugegeben und die Inhalte in pagane Fabeln eingehüllt: »Fast eben dergleichen läßt sich schließen von den Griechischen berühmten Philosophie, welche umb die Zeit gelebet. Socrates, Zeno, Plato, Aristoteles, haben viel Gutes geschrieben / sind auch mit ihrer Weisheit bey der Welt in grossem Ansehen gewesen. Derselben Lehre und Leben ist in vielen der Göttlichen Wahrheit und Weisheit ähnlich / und werden itzo manche Christen hiedurch beschämet. Sie sind in Egypten mit den Jüden umbgegangen / und haben zweiffels ohne die Heil. Schlifft auch gesehen / und gelesen. Wer wollte denn daran zweiffein / daß sie das Gute / so in ihren Schrifften vorhanden / nicht sollten aus der Heil. Schrifft genommen haben? Aber sie habens nicht gestanden / damit sie den Ruhm davon haben / und den Jüden nichts nachgeben möchten; habens auch verdeckt unter andern Worten vorgestellet / und mit heydnischen Fabeln vermenget / damit die Ihrigen / bey denen die Jüden mit ihrer Lehre 46 47 48
Röpke: Sapientia Dei, S. 35. Köpke: Sapientia Dei, S. 35. Köpke: Sapientia Dei, S. 35.
242 verhaßt waren / es nicht mercken / sondern desto begieriger annehmen sollten. So haben sie dennoch in vielen göttlichen Dingen die Wahrheit / sonderlich das γνώσον Θεών, die Erkenntniß Gottes nach den ersten Articul gehabt / und wider die gemeine Meinungen des Pöbels von der Viel-Götterey / gar wohl gewußt / und gelehrt.«49 In der Sicht Köpkes sind so die genannten Philosophen Vermittler der jüdischen Offenbarung an die heidnischen Griechen, denen sie die biblischen Lehren in fabelhafter Einkleidung vermitteln. Diese Einschätzung hatte auch Colberg geteilt, der allerdings in der mythischen Fassung der Offenbarung eine schwerwiegende Verfälschung ihrer Inhalte gesehen hatte. Nicht so Köpke, der die monotheistische Gotteserkenntnis der griechischen Philosophie vor dem Hintergrund des verbreiteten antiken Polytheismus akzentuierte und als Beleg für die Anteilhabe an der jüdisch-christlichen Weisheitstradition interpretierte. 2.2. Der Gehalt der griechischen Philosophie Indem die antike Philosohie als monotheistisch eingeschätzt wird und überdies unterstellt wird, sie habe die Schöpfung der Welt vertreten, kommen ihre Inhalte der Offenbarungswahrheit sehr nahe. Nur die Erkenntnis Christi als des Erlösers und Messias hätte den paganen Philosophen - ebenso wie natürlich den Juden - gefehlt. In ihrem Hauptmanko sind in der von Köpke durch Rückgriff vornehmlich auf Stillingfleet geschilderten Sicht der vorchristlichen Antike Griechen und Juden gleich. Jüdische Theologie und die von ihr abhängige pagane Philosophie rücken so aus der Sicht des christlichen Kirchenhistorikers eng aneinander: Beide haben (jedoch in unterschiedlicher Intensität) an der ersten Offenbarung Gottes teil, beiden aber fehlt die Einsicht in die zweite Offenbarung durch Christus. Nur den Propheten und herausragenden Weisheitszeugen unter den Juden wird eine antizipative Einsicht in die Trinität, in Menschwerdung, Tod und Auferstehung Christi zugesprochen, die sie in ihren Prophetien typologisch geschildert hätten. Für die Offenbarungskonformität der antiken Philosophie ist ihre Einsicht in die Geschaffenheit der Welt auch für Köpke essentiell. Jacob Thomasius hatte gerade in der Leugnung der creatio ex nihilo das entscheidende Kriterium erblickt, das die gesamte pagane Philosophie diskreditierte.50 Köpke hingegen differenzierte in dieser Frage zwischen den frühen griechischen Philosophen, die ebenso wie die Weisheitslehrer der übrigen alten Völker aufgrund ihrer Nähe zur jüdischen Schöpfungslehre einen Anfang der Welt angenommen hatten und jenen späteren Philosophen, die sich mit Hilfe ihrer Vernunft von der Offenbarungswahrheit weit entfernt und zuletzt die Ewigkeit der Welt konzipiert hatten. Für die im Abglanz der jüdischen Offenbarung anhebende griechische 49 50
Köpke: Sapientia Dei, S. 52. Cf. oben Kap. I, 1.3.
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Philosophie sollte die Geschaffenheit der Welt jedoch festgestanden haben, die These, »daß die Welt einen Anfang habe / und von Gott sey erschaffen / war eine alte Meinung.«51 Für diese Annahme berief sich Köpke auf Plutarch52 und Cicero53, der in Thaies' Philosophie eine Schöpfungslehre erblickt hatte, nach der Gott als Geist (mens) alle Dinge aus dem Wasser als aus ihrem Urstoff geschaffen habe: »>Thales aquam dixit esse initium rerum, Deum autem eam Mentem, quae ex aqua cuncta fingerete [...] Sie sagen alle, daß er [der Himmel] sey erschaffen / oder Anfangs sey geworden.«54 Mit der Zeit wird die griechische Philosophie allmählich häretisch, indem sie sich der natürlichen Vernunft überläßt und von der Offenbarungswahrheit abrückt. Nur als solche aber ist die Schöpfung der Welt zu begreifen; die natürliche Vernunft hingegen muß sich im Labyrinth des antiken Materialismus, wie es Jacob Thomasius geschildert hatte, verlieren. So kam es denn schließlich zu der philosophischen Lehre, »daß der Himmel / und also die gantze Welt keinen Anfang habe / auch kein Ende haben werde / das Himmel und Erde nimmer anders gewesen sey / noch anders seyn werde / als sie gegenwärtig sey.«55 Erst in diesem späteren Stadium wurde in der Sicht Köpkes die pagane Philosophie zum Hort aller nachfolgenden Ketzereien, weil sich die natürliche Vernunft aus ihrer anfanglichen Integration in den Rahmen des Offenbarungswissens emanzipierte. Eine dergestalt selbständige Vernunft war nun nicht mehr in der Lage, die Wahrheiten der Offenbarung aufzunehmen, sondern provozierte deren häretische Leugnung. So ging die Teilhabe am Offenbarungswissen bei den Heiden, aber auch bei den Juden immer weiter verloren, bis Christus als Erneuerer der verlorengegangenen himmlischen Weisheit erschien: »Weil nun der Brunn dieser himmlischen Weisheit damals in der Welt sehr verfallen / und durch die Welt=Weisheit fast überall verstopfft war / hat er selbst wollen vom Himmel kommen / und in der angenommenen Weisheit denselben eröffnen.«56 Der inkarnierte Christus ist die angenommene Weisheit, der Logos des Herrn, der sich den Menschen erneut mitteilt, um sie aus den Irrtümern einer sich selbst überlassenen irdischen Weltweisheit zu befreien. Diese Restitution der Offenbarungsweisheit durch die Menschwerdung Christi stellte die wahre theologia mystica wieder her, die innerhalb des Christentums tradiert, aber auch von neuem häretischen Verfall bedroht wurde. Der Rückgriff der Kirchenväter auf die paganen Philosophen und deren von der ersten Offenbarung abhängige Lehre erscheint in diesem Modell der Kirchengeschichte legitim, weil die frühen griechischen Philosophen weiterhin
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Köpke: Sapientia Dei, S. 54. Plutarch: De placidi phil. I, 3. Cicero: De natura deorum I, 25. Köpke: Sapientia Dei, S. 54. Köpke: Sapientia Dei, S. 54. Köpke: Sapientia Dei, S. 56.
244 als Wahrheitszeugen innerhalb einer heilsgeschichtlichen fundierten translatio sapientiae eingeschätzt wurden. Röpkes pietistisch motivierte Kirchengeschichte gelangte daher ebensowenig wie die eines Zierold oder Gottfried Arnold zu einer Verurteilung des >Platonismus< der Kirchenväter. Das Interesse der Kirchenväter sei nicht auf die platonische Philosophie als eigenständige Lehre ausgerichtet gewesen, so die Argumentation, sondern benutzte diese nur als allegoretische Bestätigung der Offenbarungswahrheit. Darin seien die Kirchenväter Philon von Alexandrien gefolgt, der die Methode der allegorischen Interpretation der paganen Philosophie im Lichte der biblischen Offenbarung als erster entwickelt hatte: »Da ward nun vieles als übereinstimmend mit der Heil. Schlifft und der Apostel Lehre im Piatone angesehen / und heraus gesucht / worinn sich insonderheit Philo Junior zu Alexandria in Egypten zur selbigen Zeit soll beflissen haben / von welchem erzehlt wird / daß er in dem Piatone und Pythagora mehr als in den Schrifften seines Volckes / der Jüden sey belesen / und der erste gewesen / der angefangen seinen Verstand zu üben im Text Mosis mit Platonischen Notionibus. Daher ist es gekommen / daß hernach Piatonis Schrifften von etlichen Kirchen-Vätern so hoch geachtet / worden / welche ihn aber dennoch der H. Schrifft nicht gleich geachtet / vielweniger vorgezogen haben / und daher des Platonismi nicht zu beschuldigen sind / indem sie mehr dem Philoni als Piatoni gefolget.«57 Köpkes Darstellung verdeutlichte, wie eng die Frage nach dem >Platonismus der Kirchenväter< mit der historischen Bewertung der platonischen Philosophie im Rahmen der antiken Weisheitsliteratur zusammenhing. In einem diskreditierenden Sinne konnte vom >Platonismus der Kirchenväter< natürlich nur dort gesprochen werden, wo die pagane Philosophie und mit ihr auch Piaton aus der Tradition der Offenbarungsweisheit bereits ausgeschlossen und zum häretischen Gegner des Christentums erklärt worden war. In der pietistischen Kirchengeschichtsschreibung aber war die Auslegung der Heiligen Schrift mit Begriffen der platonischen Philosophie deshalb akzeptabel, weil diese Philosophie noch immer als Repräsentant der Offenbarungswahrheit unter den Heiden eingeschätzt wurde. Solange der eine Ursprung der paganen Philosophie im jüdisch-christlichen Offenbarungswissen galt, blieb die pagane Philosophie, sofern sie monotheistisch und war und die Schöpfung der Welt vertrat, legitimer Bündnispartner der christlichen Theologie. Die Aneignung der paganen Philosophie geschah in dieser von den Pietisten nochmals forcierten Sicht auf die Theologiegeschichte nicht um ihrer selbst, sondern - im Gefolge des allegorisierenden Philon - nur um der Bestätigung jener ewigen Offenbarungswahrheit willen. Deshalb fruchtete hier die bereits angestoßene Historisierung der paganen Antike nicht: Der universale Wahrheitsanspruch der Offenbarung unterwarf sich alle Zeugnisse, die nur auf ihre
57
Köpke: Sapientia Dei, S. 60.
245 Übereinstimmung mit ihm befragt wurden. Historische Differenzen konnten deshalb zunächst nur im Rahmen der Ketzergeschichte negativ als Abweichung beschrieben werden, ohne daß dieser Abweichung eine legitime Eigenständigkeit zuerkannt wurde. Erst eine weitgehende Reduktion der Verbindlichkeit der Offenbarungswahrheit als Maßstab der Geschichtsschreibung schuf Raum für die Akzeptanz historischer Alterität, die nicht mehr länger im Rahmen einer theologisch motivierten Kirchengeschichte als Häresie, sondern im Rahmen einer theologieunabhängigen Geschichtsschreibung als selbständiges Faktum beschrieben werden konnte. In der Kirchengeschichtsschreibung Röpkes und Zierolds aber galt nach wie vor der zeitfreie absolute Wahrheitsanspruch der Offenbarung, der neben innerlicher Pietät die Anerkenntnis des Monotheismus und der Geschaffenheit der Welt als Minimalessentials einer natürlichen Theologie verlangte - zwei Essentials, die selbst noch die aufgeklärte Historiographie nicht aufgeben sollte. Vollumfänglich hatten anfangs die Patriarchen an dieser Wahrheit teilgehabt, von ihnen ausgehend war sie in der alten Welt verbreitet und auch den paganen Philosophen ursprünglich bekannt gewesen. Erst nach und nach war sie verunreinigt worden, um schließlich durch Christi Offenbarung erneut wiederhergestellt zu werden. Diese himmlische Weisheit spiegelte sich auch in den Lehren und Begriffen der genuin platonischen Philosophie, die aufgrund ihrer biblischen Herkunft von den Kirchenvätern zur Auslegung der Schrift herangezogen werden durfte. Die Differenz zur Offenbarungswahrheit und damit das Prinzip aller Häresie lag in der erst später entwickelten Lehre von der Ewigkeit der Welt, die dann zunehmend die antike Philosophie infizierte und auch nach der Offenbarung Christi erneut den Verfall der wahren theologia mystica bewirkt hatte. Die Gnostiker und allen voran der Erzketzer Simon Magus hatten jene verderbliche Lehre ins Christentum eingebracht: »Der erste und ärgste Betrieger war Simon Majus / mit seinen Nachfolgern / der das Unkraut unter den Weitzen gesäet. Außerhalb der Kirchen hatten sich die Heydnischen Philosophi nunmehr wider das Christenthum vereiniget in der Meinung von der Ewigkeit der Welt / welche auch die Platonici, die unbekehrt blieben / hatten angenommen / und suchten aus Piatonis Schrifften die Meinung zu behaupten / als wenn die Materie / woraus die Welt gemacht / unerschaffen und mit Gott gleich ewig gewesen / umb hierdurch das Christenthum / und dem im selbigen versprochenen ewigen Leben desto mehr zu widersprechen.«58 Auf die Denunziation Speners und seiner pietistischen Anhänger als Platoniker hatte Köpke mit dieser Darstellung der Geschichte der wahren theologia mystica geantwortet. Dabei war der genuine Piaton als Glied der prisca sapientia und als Zeuge der Offenbarung unter den Heiden erschienen. Die häretische
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Köpke: Sapientia Dei, S. 59.
246 Lehre, die Platon vorgeworfen werde, sei vielmehr eine Rückinterpretation der Neuplatoniker, die sich nicht zum Christentum bekehrt und nun Piaton nachträglich zum Protagonisten einer gegen das Christentum gerichteten Konkurrenztheologie verfälscht hatten. Wie bei Colberg blieb die antike Philosophie auch bei Köpke abhängig vom jüdischen Wissen, nur daß Köpke ihr zunächst eine weitgehend adäquate Vermittlungsleistung desselben zusprach und ihre Wandlung zur theologiefeindlichen Macht erst in die Zeit nach der Offenbarung Christi datierte. Die frühe, später erst als >klassisch< titulierte griechische Philosophie blieb von dieser späteren Degeneration aber ausgenommen und diente den Pietisten als Beleg für einen nicht auf die biblischen Schriften reduzierten Offenbarungsbegriff.
3.
Das Revival der apologetischen translatio sapientiae in der Kirchengeschichtsschreibung Zierolds
Ausführlich und paradigmatisch für die pietistische Rehabilitation der im antiapologetischen Kontext zum Gegenspieler christlicher Heilslehre stilisierten paganen Philosophie hat sich Johann Wilhelm Zierold mit dem Status der heidnischen Antike beschäftigt.59 Bei Zierold erlebte das Modell einer apologetisch verstandenen translatio sapientiae eines ihrer letzten Revivals: Zoroaster und Hermes Trismegistos wurden hier nochmals als Zeugen der christlichen Offenbarungswahrheit dargestellt und auch die erneuerte Einschätzung Piatons als >attischer Moses< richtete sich gegen dessen Desavouierung als Ketzervater. Das Konzept einer die gesamte antike Philosophie zusammenschließenden Weisheitstranslation wurde so fortgeführt - die pagane Philosophie blieb in ihren Motiven und Inhalten weitgehend abhängig vom biblisch verbürgten Ursprung allen Wissens. Allerdings mußte auch Zierold die Verfälschung bei der Übertragung des Offenbarungswissens auf die pagane Philosophie betonen, so daß auch er nicht länger von einer ungebrochenen prisca sapientia der Heiden ausgehen konnte. Die Defizienz der paganen Philosophie fand bei Zierold vornehmlich im Verlust der hebräischen Ursprache als Folge menschlicher Sündhaftigkeit ihre Erklärung. Aristoteles blieb jedoch von jener Rehabilitation der paganen Philosophie ausgenommen, da es Zierolds gegen die aristotelische Schultheologie gerichtete, pietistisch motivierte Absicht war, zu zeigen, daß »der Ursprung aller Ketzerey und Verderbens aus der Vermischung der Aristotelischen Philosophie mit der Christlichen Theologie herzuleiten sey«.60 Hier also folgte er durchaus der
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Cf. Zedier: Großes Vollständiges Universal-Lexicon, s.v. Zierold, Johann Wilhelm, Bd. 62, col. 653-660; 653. Zedier, col. 656.
247 antiapologetischen Ausgrenzung paganer Traditionsstränge: Der Spenerfreund Zierold nahm die historische Kritik am Aristotelismus auf, um sie im Kampf der Pietisten gegen die protestantische Scholastik einzusetzen. Der christliche Aristotelismus sollte diskreditiert bleiben, wohingegen es Zierold - wie noch der Autor des Zedlerschen Eintrags erinnerte - darauf ankam, den christlichen Piatonismus vorsichtig zu rehabilitieren.61 Zu diesem Zweck griff Zierold auf den Renaissanceplatoniker und vielleicht prominentesten Aristoteles-Kritiker des 16. Jarhunderts, auf Francesco Patrizi zurück,62 dessen Vergleich zwischen Aristoteles und Piaton die Überlegenheit der platonischen Philosophie für eine philosophische Theologie hatte belegen wollen.63 Patrizi hatte diesen Vergleich gewissermaßen als Nachtrag zu der im 15. Jahrhundert lebhaft geführten Debatte über den Vorrang der platonischen (G. Plethon, Bessarion) oder aristotelischen (G. Trapezuntios) Philosophie verfaßt,64 die angesichts des florierenden Renaissancepiatonismus noch immer von aktueller Bedeutung war. Dabei war es Patrizis Anliegen gewesen, die aristotelische Philosophie - zumal in ihrer formalisierten >EntartungDe differentiis Aristotelis et Platonis< entzündet hatte, cf. C.M. Woodhouse: Gemistos Plethon. The last of the Hellens, Oxford 1986. Patrizi übersetzte und edierte zu diesem Zweck die >Elementatio theologica< des Proklos und ordnete die Dialoge Piatons neu. Cf. Stephan Otto: Die >Mögliche Wahrheit< in der Geschichte. Die Dieci dialoghi della storia des F. Patrizi in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung, in: Ders.: Materialien zu einer Theorie der Geistesgeschichte, München 1979, S. 134-173.
248 Platon und Aristoteles sollte das verdeutlichen und gegen die antiapologetische Kritik die Einordnung Piatons in die Genealogie der theologischen Weisheit festigen. Nach seinem Studium in Leipzig, wo er u.a. Christian Thomasius gehört hatte, war Zierold zum Hausgenossen und Freund Speners in Dresden geworden und hatte ab 1697 als Professor der Theologie das Pfarramt St. Johannis in Stargard übernommen, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1731 wirkte. Von dort hatte sich Zierold immer wieder in theologische Kontroversen eingemischt, v.a. um den Pietismus und die Hallenser Frühaufklärung. Von pietistischer Seite aus focht er sowohl gegen die lutherische Orthodoxie (Samuel Schelwig),67 als auch gegen die Aufklärer (Christian Thomasius). Er war sicher der bedeutendste Gegner Friedrich Christian Büchers, dessen Denunziation der Pietisten ihn zu einer Kirchengeschichte motivierte, die anders als die Geschichtswerke Gottfried Arnolds ausführlich den Status der vorchristlichen paganen Antike thematisierte. 3.1. Universalität der christlichen Offenbarungstradition Der erste Teil von Zierolds umfangreicher Kirchengeschichte erschien 1700 - also im gleichen Jahr wie Arnolds Historie der Mystischen Theologie - unter dem Titel Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie / Mit der Historia philosophica verniipfft / Darinnen Die Kraft des Creutzes Christi als der einige Grund des wahren Christentumb / wider die Feinde des Creutzes / Von Anfang der Welt / biß auf unsere Zeit vorgestellet wird.6S Aufmerken ließ die bereits im Titel betonte Verknüpfung mit der historia philosophica, die hier im Rah-
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Dazu Zierolds Werke: Analogia fidei per Exegesin epistolae ad Romanos demonstrata, Stargard 1702 und 1720; Der Unterschied der wahren und falschen Theologie, oder Gottes=Gelahrtheit, nach dem Unterscheide der Natur und Gnade, Stargard 1703; Synopsis veritatis divinae, contra Synopsin Schelguigianam, Berlin 1706. Cf. die Rezension dazu in den Unschuldigen Nachrichten 1706, S. 333 ff. sowie Suppl. I, S. 842. Leipzig und Stargadt 1700. Das Werk besteht aus 7 Kapiteln: 1. Vom Grund der Kirchen-Historie aus Gottes Wort des Alten Testaments / sonderlich im Judenthumb (S. 1-64) 2. Vom Grund der Historiae philosophicae, sonderlich von den klugen und albern Heydenthumb (S. 65-235) 3. Von der Vermischung des Judenthumbs mit dem Heydenthumb (S. 235-292) 4. Vom Grund der Kirchen-Historie im NT, sonderlich vom ersten Christenthumb (S. 293-334) 5. Von Vermischung der Philosophie mit der christl. Theologie / als der Ursprung aller Ketzerey / sonderlich des Pabstthumbs (S. 334—367) 6. Von der Reformation Lutheri / durch Gottes Wort / wider das Aristotel. Christenthum (S. 367-382) 7. Von den neuen Scholastischen Christenthum und Nothwendigkeit der Ausübung des reinen Wortes Gottes / in der Evangelischen Kirche (S. 382-407).
249 men der Kirchengeschichte eigens abgehandelt wurde.69 Ihr widmete Zierold ein vollständiges Kapitel, das auf über 150 Seiten Vom Grund der Historiae philosophicae, sonderlich von den klugen und albern Heydenthumb handelte.70 Hier wurden jene Weisheitsgenealogien, die Köpke erwähnt hatte, genauer dargestellt sowie die Abhängigkeit der paganen Philosophie der Antike von den Juden detaillierter ausgeführt und an zahlreichen Beispielen veranschaulicht.71 Ihre Bewertung blieb - wie schon der Titel suggerierte - ambivalent: Innerhalb der offenbarungstheologisch fundierten Weisheitsgenealogie konnte sie als Zeugnis der verborgenen Wahrheit interpretiert, oder aber als deren heidnische Verfälschung abgelehnt werden. Entscheidend für die Bewertung der paganen Philosophen war, ob sie einen monotheistischen Gottesbegriff und die Schöpfung der Welt durch Gott gelehrt hatten. Obwohl Zierold erklärtermaßen ein Gegner der Philosophie war, sah er sich zu einer Darstellung der heidnischen Wissenschaft genötigt, die diese nicht wie Jacob Thomasius als schlechterdings der christlichen Gottes- und Schöpfungslehre entgegengesetzt begriff. Die pagane Philosophie blieb mit ihren zahlreichen biblischen Motiven für Zierold ein Beleg für die Universalität der christlichen Offenbarungstradition, die nicht auf die Heilige Schrift reduziert werden sollte. Dabei ging es dem Pietisten um die Wiederaufnahme einer christlichen Apologetik, die diejenigen historisch widerlegte, die behaupteten, das pietistische Christentum sei heidnisch, weil sich in der pietistischen Frömmigkeit platonische Elemente auffinden ließen. In dieser von Bücher bezogenen Position erblickte Zierold vielmehr eine Neuauflage der Polemik der spätantiken heidnischen Neuplatoniker, die wie Kelsos oder Porphyrios den Anciennitäts- und Universalitätsanspruch der jüdisch-christlichen Offenbarungstradition geleugnet und für sich den Besitz jener seit jeher philosophisch erschlossenen Wahrheit unter dem Titel άληθής λόγος reklamiert hatten.72 Auch ihnen hatte, wie jetzt der lutherischen Orthodoxie und ihrem Sprachrohr Bücher, die christliche Frömmigkeit als aufständischer Vulgärpiatonismus gegolten. Gegen eine solche Position wollte Zierold die mit Eusebius73 einsetzende Tradition einer historisch argumentierenden christlichen Apologetik fortsetzen: »Also hat schon Eusebius die Lästerung des Porphyrii wegen der Übereinstim-
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Deshalb findet sich Zierolds Werk auch in der chronologischen Bibliographie zur Philosophiegeschichte, die Lucien Braun seiner Darstellung angefügt hat; cf. L. Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte, S. 397. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, Kap. 2, S. 65-235. Cf. zu Zierolds Philosophiegeschichtsschreibung M. Longo: La storia della filosofia tra eclettismo e pietismo, in: G. Santinello (Hrsg.): Storia delle storie generali della filosofia, Bd. 2: Dall' età cartesiana a Brucker, Brescia 1979, S. 350ff. Cf. oben Kap. 1.1. Orígenes als wichtigster Gegner des Kelsos wird an dieser Stelle nicht erwähnt.
250 mung mit den Heyden umbgekehret / und vielmehr aus ebensolcher Übereinstimmung die Wahrheit des Christenthumbs erwiesen / wie solches auch Grotius, Vossius, Mornaeus, Huetius u.a. getan. Weil nun Bücher heut zu Tag die alte Lästerung des Porphyrii wieder hervorbringt / so preisen wir eben wie Eusebius, die göttliche Vorsehung / welche dadurch die Wahrheit des Christenthumbs mehr befestiget / und nehmen daher Gelegenheit / die Lügen der heydnischen Lästerer von der Wahrheit desto genauer zu entscheiden.«74 Das Resultat war eine Kirchengeschichte, die zwar die pietistisch angestrebte Frömmigkeit unabhängig von der Philosophie intendierte, in dieser vielmehr den Gegner der demütigen Herzensfrömmigkeit erblickte, gleichwohl aber die antike Philosophie der orientalischen Völker wie auch der Griechen in die heilsgeschichtliche Entfaltung der einen Offenbarungswahrheit einband und als apologetisches Zeugnis für die Wahrheit des Christentums wertete. Zu diesem Zweck griff Zierold auf die versammelte Gelehrsamkeit und kirchengeschichtliche Kompetenz der Polyhistorie und der natürlichen Theologie zurück. Zierolds Kirchengeschichte zielte gegen den bloß Historischen Glauben der Orthodoxie darauf, die Zeugnisse der antiken Philosophie als Elemente einer älteren und nicht auf den Bibeltext restringierten Offenbarungstradition akzeptabel zu machen. Zu diesem Zweck knüpfte er ausdrücklich sowohl an die patristische Apologetik eines Clemens, Orígenes oder Eusebius, als auch an die frühneuzeitlichen christlichen Apologien des Philippe Duplessis-Mornay, Hugo Grotius' und vor allem Pierre-Daniel Huets an - diese Autoren blieben die wichtigsten Quellen Zierolds, die er ausdrücklich gegen Jacob Thomasius' antiapologetische Charakterisierung der antiken Philosophie anführte.75 Eine weitere Folge dieses Anliegens war, daß mit der philosophischen Tradition auch die pietistische Terminologie - die dem Ausdruck innerer Frömmigkeit galt - rehabilitiert wurde: »Man hat zu dieser greulichen Zeit sich unterstanden / die reine Evangelische Wahrheit / und aufrichtige Gottseeligkeit als eine Teuffels-Lehre zu verfluchen / und die Leute dafür zu warnen / man solle ja sich nicht / des rechtschaffenen Wesens befleißigen / das in Christo Jesu ist / denn die Lehre von der rechten ernstlichen Büß / von der Erleuchtung aus Gottes Wort / vom lebendigen Glauben / von Ertödtung des Fleisches / und seiner Lüste / durch das Creutz Christi / von der Verleugnung der Welt / von der Nachfolge Christi / vom neuen Leben durch die Aufferstehung Jesu Christi / und Vereinigung mit Gott / von andächtigen Gebeht / u.s.w. wären lauter TeuffelsLehren / Ketzereyen / Zaubereyen / so von den Heyden / Pythagora und Piatone herkämen.«76 Mit der historisch-apologetischen Integration der antiken Philo-
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Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 158. Weitere wichtige Autoren für Zierold sind G. J. Vossius, Th. Gale, P. Lambeck und Morhofs Polyhistor (I-III, Lübeck 1695). Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. lf.
251 sophie und Weisheitsliteratur beabsichtigte Zierold der pietistischen Theologie die Artikulationsfahigkeit einer inneren Frömmigkeit wiederzugewinnen, die gerade aufgrund ihrer Übereinstimmung mit Motiven und Begriffen der antiken Philosophie von der Orthodoxie für heidnisch erklärt worden war. 3.2. Mysterium crucis als Maßstab der Philosophiegeschichte Da Zierold am göttlichen Ursprung allen Wissens festhielt, war der Darstellung der alten Philosophiegeschichte ein Kapitel vorgeordnet, das den paradiesischen Anfang und dessen Verlust beschrieb.77 Vor dem Sündenfall hatte der Mensch durch seine Gottebenbildlichkeit an der Weisheit Gottes teilgehabt: »Der Mensch hieng dem Herrn an / und war ein Geist mit ihm (1. Cor. 6.17.) Sein Wille war erfüllet mit Göttl. Liebe [...] Sein Verstand war voller Weißheit. Der gantze Mensch voller Wahrheit.«78 Diese anfangliche Teilhabeweisheit des Menschen ging aber durch den Sündenfall Adams verloren, der Mensch verdarb an Leib und Seele: »Die Weißheit ist so verwandelt in Irrthumb und Thorheit.«79 Mit der Erbsünde durchdringen Irrtum und Torheit die ganze Menschheit, die sich aber noch ihres vollkommenen Anfangs erinnert und bemüht bleibt, ihre ursprüngliche Gottebenbildlichkeit wiederzuerlangen. Dafür aber ist die Einsicht in das mysterium crucis als zentralen Inhalt der christlichen theologia mystica vonnöten. Nur durch die Erkenntnis seiner eigenen Sündhaftigkeit ist der Mensch in der Lage, sich zu läutern und so seine integre Gottebenbildlichkeit wiederzuerlangen. In einer am mysterium crucis ausgerichteten theologia mystica sieht Zierold daher den Gehalt der frühen jüdischen Weisheitstradition, die das Wissen um den Verlust der anfänglichen Gottebenbildlichkeit und die Anleitung zur Wiedergewinnung des Götlichen Bildes überliefert: »Diese Weißheit Gottes / hat Gott verordnet zu unserer Herrlichkeit. 1. Corinth. 2.7. Siehe das ist das Mysterium Crucis, die wahre Theologia mystica, welche ist eine Lehre von den Ursachen und der Krafft des Creutzes und Todes Jesu Christi.«80 So ist der Maßstab bereits der alttestamentarischen Kirchengeschichte und aller späteren Philosophiegeschichte das Creutz Christi, von dem die frommen Patriarchen bereits eine Vorahnung gehabt hätten. Allerdings sei unter den Juden alle 20 Jahre die wahre Frömmigkeit wieder verlorengegangen. Daß der Gehalt dieser Frömmigkeit, die auch noch die Lehren der paganen Philosophie bestimmte, nichts mit Philosophie im Sinne autonomer menschlicher Vernunfttätigkeit zu tun hatte, lag auf der Hand. Die eigenständige Vernunft des Menschen war für Zierold vielmehr Resultat des Sündenfalls und eine Folge
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Kap. 1: Vom Grund der Kirchen-Historie aus Gottes Wort des Alten Testaments / sonderlich im Judenthumb, S. 1-64. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 5. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 6. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 7.
252 der Erbsünde, weshalb eine Philosophie wie die des Aristoteles, die von der Kraft menschlicher Vernunft ausging, vehement abgelehnt wurde. Gerade die Einsicht in die Verdorbenheit des menschlichen Verstandes gehörte für Zierold zum Kern der wahren Weisheit: »So ist nun vor allen Dingen hochnötig / die Erkenntniß der Sünde / daß ein Mensch aus Gottes Wort in seinem Hertzen überzeuget sey / er sey anitzo nicht in dem heiligen Zustand wie Ihn Gott erschaffen; daß Er von Natur keine seeligmachende Erkenntnis Gottes habe / welche ihm eine rechte lebendige Liebe gegen Gott in sein Hertz gebe: daß sein Verstand verdorben, daß er tod sey in Sünden.«81 Dieser Einsicht in die Erbsündenkorruption der menschlichen Vernunft verweigerten sich Philosophen wie Aristoteles, die der menschlichen Natur deshalb zu viel zutrauten, weil sie deren Verderbnis nicht erkannt hätten. Deshalb zitierte Zierold auch den antiphilosophischen locus classicus, die Warnung des Paulus, daß man sich vor den Philosophen hüten solle, und erläuterte, daß Philosophie hier heiße: »Was nicht nach Christo ist. Was nicht die Einfalt des Creutzes Jesu Christi lehret.«82 Diese Weisheit des Kreuzes ging jedoch bereits in der vorsintflutlichen Zeit beständig verloren, fand aber auch immer wieder fromme Erneuerer, wie Zierold durch Allegorese der entsprechenden alttestamentarischen Stellen (z.B. der Kampf Kains gegen Abel) erläuterte. Durch Noah überdauerte jene Weisheit die Sündflut, so daß sie danach von dessen Söhnen weitergegeben werden konnnte. Mit seiner Darstellung folgte Zierold der verbreiteten Auffassung der vormodernen Universalgeschichte, daß alle Völker der Welt von den Söhnen Noahs abstammten, die von ihrem Vater in der antediluvianischen Weisheit unterrichtet worden waren, so daß sie Wissenschaft und Zivilisation an die von ihnen ausgehenden Völker vermitteln konnten.83 Noahs drei Söhnen Sem, Cham und Japhet kam so auch bei Zierold die Schlüsselposition in der Geschichte der verborgenen Weisheit zu, da von ihnen »nach der Sündflut ist die gantze Welt besetzet worden / und also ist in alle Länder etwas von der Wahrheit durch die Nachkommen fortgepflanzt worden / welches sie aber mit der Zeit durch die Irrthümer verunreiniget«.84 Zierold geht von folgender Zurechnung aus: Sem bringt die verborgene Weisheit zu den Assyrern, Chaldäern, Lydiern, Syrern und Arabern, Armeniern und Indern.85 Japhet ist der Stammvater der Galater, Kelten, Skythen, Medier, Griechen, Iberer, Cappadocier und weiterer Mittelmeervölker. Hingegen ist der böse Cham, der sich gegen Noah aufgelehnt hatte,86 der Urvater der afrikanischen 81 82 83
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Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. Zum Hintergrund cf. W. Stephens: Giants in those Days. Nationalism, Lincoln 1989, bes. S. 98-138. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. Die nach ihrem Stammvater >Semiten< heißen. Cf. Gen. 9, 22.
11. 10. Folklore, Ancient History and 16.
253 Völker, vor allem der Ägypter. Alle anderen Völker der alten Welt stammen von einer der drei Großfamilien ab. Damit ist die komplette Abhängigkeit der paganen Antike von der jüdisch-christlichen Weisheitstradition belegt - es gibt keine Konkurrenztraditionen und keine Selbstursprünglichkeit antiker Lehren. Die unfrommen Schulen der paganen Weisheit lassen sich in diesem Modell nur als Verfälschung und Verfall der geheimen Weisheit beschreiben, die ohnehin stets der Gefahr, verdorben zu werden, ausgesetzt ist. Das galt bei Zierold insbesondere für die ägyptische Weisheit, die auf den Lästerer Cham, den Urvater aller afrikanischen Völker, zurückführte. Die Propheten der postdiluvianischen Epoche kämpften jeweils gegen den Verlust der reinen Wahrheit, so etwa Abraham gegen ihre Korruption bei den auf Seth zurückgehenden orientalischen Völkern, bei denen er die Opfer als Bild des Opfers Christi wieder einführte und den Monotheismus restituierte.87 Eine besondere Stellung innerhalb dieser Weisheitsgenealogie, die durch beständigen Verlust und erneute Restitution gekennzeichnet ist, nimmt natürlich Moses ein, der zwar bei den Ägyptern aufwächst, es aber vermag, aus ihrer verdorbenen Lehre die geheime Weisheit wieder zu erahnen, die Gott ihm dann durch seinen Namen erneut offenbarte. 88 Er führte die Juden aus Ägypten heraus und versuchte die Creutzeslehre bei ihnen zu verfestigen - diese aber ging wiederum verloren, so daß Israel in einen zunehmenden Verfall gerät, der erst durch die Strafe des babylonischen Exils aufgehalten wurde. 89 Die Propheten offenbaren im Exil wiederholt die »Weißheit des Kreuzes Christi«, die die Juden aber nicht mehr fassen konnten, so daß das Judentum zunehmend äußerlich wird und zuletzt nach der Eroberung Jerusalems unter das »römische Joch« gerät: »Weil nun Israel Gott nur von aussen / aber nicht nach der verborgenen Weißheit des Creutzes dienet; So hat Gott keinen Wohlgefallen daran / und schickt äußerliches Creutz genug.« 90 So stellte sich Zierold die Geschichte Israels vor der Menschwerdung Christi dar: Es war eine Geschichte des beständigen Wechsels zwischen Verfall und Restitution der Einsicht in die Wahrheit des mysterium crucis, die aufgrund der menschlichen Sündhaftigkeit unter den Juden (wie auch unter den Heiden) immer wieder verloren geht. Eine nicht theologisch konnotierte, ausschließlich profane Weisheit, wie sie Colberg als philosophia domestica beschrieben hatte, kannte Zierold nicht.
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Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, § 31. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, § 38. Zur Gedächtnisgeschichte des Moses vor allem bei William Warburton und John Spencer cf. Jan Assmann: Moses the Egyptian. The Memory of Egypt in Western Monotheism, Cambridge/Mass. 1997, bes. Kap. 3 und 4. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, § 88.
254 3.3. Rehabilitation des Zoroaster und des Hermes Trismegistos Das zweite Kapitel über den Grund der Historiae philosophicae präzisierte die Weisheitsgenealogien, die ausgehend von den Söhnen Noahs bereits das erste Kapitel angedeutetet hatte, um sich dann einer intensiven Erörterung vor allem der ägyptischen Weisheit und der hauptsächlich von dieser abhängigen griechischen Philosophie zu widmen. Den Anciennitätsanspruch der jüdisch-christlichen Weisheitstradition belegte der von Zierold weiterhin behauptete Primat der hebräischen Sprache: Das Hebräische sei die Mutter aller Sprachen und besonders zum Ausdruck der Weisheit geeignet, da es von Gott bereits dem ursprünglich sündlosen Menschen im Paradies verliehen worden war:91 »Gott der den Menschen nach seinem Ebenbilde erschaffen / hat nicht nur die Weißheit dem Menschen eingepflantzet / sondern auch die Sprach / solche innerliche Weißheit mit äusserlichen Kennzeichen vorzutragen / und ist die Hebräische Sprache ein schönes Merkmal / daß die Heilige Schrifft von Gott sey.«92 Mit dieser Ansicht führte Zierold die mannigfach variierte Vorstellung einer anfänglich perfekten Sprache - einer lingua Adamica - fort, die er mit dem Hebräischen, wie es vor der babylonischen Sprachverwirrung gesprochen worden war, identifizierte. Eine Vorstellung die im Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmend zum Gegenstand philologischer Kritik geworden war.93 Zierold hingegen bewertete noch die Sprachen aller europäischen Völker (Römer, Gallier, Spanier, Deutschen) nach dem Maßstab ihrer Nähe zum Hebräischen.94 Innerhalb des von Zierold vertetenen Konzepts einer antelapsarischen Wissensfülle war die adamitische Ursprache dadurch ausgezeichnet, daß ihre Begriffe die Essenzen der bezeichneten Sache darstellten. Sie war somit kein arbiträres Zeichensystem, sondern repräsentierte den bezeichneten Gegenstand selbst, wie das an Adams Benennung der Tiere im Paradies durch Allegorese von Gen. 1, 19-20 veranschaulicht worden war. Durch die Lehre von der lingua Adamica und deren Gleichsetzung mit dem vorbabylonischen Hebräisch stabilisierte Zierold die These von der Wissensfülle der Juden, deren Medium die adamitische Ursprache war und festigte zugleich den jüdischen Anciennitätsanspruch, indem alle anderen Sprachen (inklusive der ägyptischen Hieroglyphik) als jüngere, postbabylonische Depravationen dem Hebräischen nachgeordnet wurden. Der Verlust der Universalität der hebräischen Sprache war ein zentraler Grund für die unvollkommene, verfälschende Übernahme der Offenbarungswahrheit durch die heidnischen Völkern, denen mit der perfekten Sprache auch das per91 92 93
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Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 65ff. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 66. Cf. Hans Aarsleff: The rise and decline of Adam and his Ursprache in SeventeenthCentury Thought, in: The language of Adam, ed. A. P. Coudert, Wiesbaden 1999, S. 277-296. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 228-234.
255 fekte Wissen abhanden gekommen war: »So lang sie bei der Weißheit blieben / und verstunden die Sachen wol / so lang war ein Hertz und ein Mund; so bald die Menschen gottlose Narren wurden / erkenneten sie die Natur der Dinge nicht mehr recht / also straffte sie Gott / daß es einer so / der andere anders nennete / und das heißt [...] ein bellum, einen Krieg in Worten erwecken / weil die Liebe der verborgenen Weißheit im Hertzen erstorben.«95 Weil Wissen und Sprache aller alten Völker abhängig von dem jüdischen Ursprung der Weisheit blieben, konnte Zierold die Überprüfung der heidnischen Lehren am Probier-Stein des Creutzes Christi zum methodischen Prinzip seiner Darstellung der paganen Antike machen. Auch wenn Juden und Heiden an der Kreuzestheologie als dem geheimen Lehrgehalt der wahren Weisheit zumeist Ärgernis genommen hatten, so sind sie doch als Glied jener Weisheitstradition potentiell wahrheitsfähig, weil »die gantze Welt von Kindern Noah sey besetzet worden / und wie weit dieselben etwas so wol von der alten sprach / als von der Weißheit haben / oder nicht«.96 Nachdem Zierold die auf die Söhne Noahs zurückreichenden Genealogien der Völker beschrieben hat, verfolgt er die Geschichte der geheimen Weisheit bei den Nachfahren Sems, Chams und Japhets. Das Ordnungskriterium seiner Philosophiegeschichte bleibt also die Abkunft der Weisheitslehren von einem der drei nachsintflutlichen jüdischen Stammväter. Der Schwerpunkt der vorsichtig apologetischen Darlegungen Zierolds besteht in der Rehabilitation des Zoroaster und des Hermes Trismegistos, der beiden prominentesten Figuren der paganen Weisheitstradition, die in der antiapologetischen Darstellung bereits zu den Erzvätern aller Ketzerei gemacht worden waren und die bei Zierold nochmals als fromme Vertreter der theologia crucis angeführt werden.97 In der von den Persern bald verdorbenen Lehre des Zoroaster erblickte Zierold daher keineswegs einen die Schöpfung und die Allmacht ihres Schöpfers negierenden ewigen Prinzipiendualismus, sondern akzentuierte dessen von den Juden übernommen Monotheismus, die Schöpfungstheologie und Paradiesesvorstellung. Erst die späteren persischen Rezipienten des Zoroaster und vor allem die noch späteren Gnostiker98 verwandelten diese ursprünglich fromme Lehre in abergläubische »Abgötterey«, so daß es ihrer Restitution durch Abraham aus Ur in Chaldäa bedurft hatte.99
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Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 67. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 70. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, besonders S. 71-87 (Zoroaster) und S. 94-135 (!) (Mercurius). Für das häretische Potential der Gnosis beruft sich Zierold auf J. Thomasius: Schediasma historicum, § 35. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie. In diesem Kapitel beschreibt
256 Bei der Erörterung der zoroastrischen Lehren lehnte sich Zierold eng an Pierre-Daniel Huets Darstellung in der Praeparatio evangelica an und betonte, daß allem Anschein nach Zoroaster niemand anders als Moses gewesen sei, der als Lehrer aller orientalischen Völker den verwerflichen Glauben der Perser an zwei koaeterne Prinzipien korrigiert und diese zu einer monotheistischen Schöpfungstheologie geführt habe.100 Zierold zitierte Huet: »>Est apud Abulsedam vetustiores Zardusto101 Magos duo rerum principia posuisse, lucem ac tenebras; sive DEUM ac Diabolum; hanc ipsorum doctrinam reformasse Zardustum, cum luce ac tenebris antiquiorem docuisset esse DEUM, unicum ac sociocarentem, lucis & tenebrarum, & mundi ex earum permistione conflati opificemIn his Mosen licet deprehendere, qui veram originem mundi a DEO uno rerum omnium opifice conditi historiam aequales suos & posteros docuit, quorum initium a tenebris & luce duciturOrientalisierung des Christentums< cf. R. Häfner: Die Fässer des Zeus. Ein homerisches Mythologem und seine Aufnahme in die Manichäismusdebatte in Deutschland am Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Scientia Poetica 1 (1997), S. 35-61, hier 36: »War die Rezeption der persischen Theologie des Zoroastres bei Patrizi noch ganz in den Denkhorizont einer >prisca theologia< gestellt, die ihren Anfang von Moses und den ältesten Propheten des jüdischen Volkes nahm, so forcierte die Orientalistik zumal in England in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, begleitet von einer seit Scaliger präzisierten Chronologie sowie der Edition einer großen Zahl neuer Textfunde, eine vergleichende Völkerkunde, die die heidnisch-christliche Antithese der patristischen Apologetik auf längere Sicht nachhaltig erschüttern sollte.« Zum Hintergrund cf. M. Mulsow: Orientalistik im Kontext der sozinianischen und deistischen Debatten um 1700. Spencer, Crell, Locke und Newton, in: Scientia Poetica 2 (1998), S. 27-57. Ausführlich zu Spencer cf. J. Assmann: Moses the Egyptian, Kap. 3.
261 Griechen. Sonderlich haben die Griechen viel von den Phoeniciern erlernet / so wohl in den Wissenschaften / als in der Sprach. In der Griechischen Sprach findet man viele Spuren des Ebräischen. Und wie hat es anders seyn können / als daß die Phönicier so von Noah herkommen / und nahe bey den Juden gewohnt / die Ebräische Sprach mit in Griechenland und Italien gebracht? Zumahlen sie so viel Mosaische Gesetz und Sitten ihnen mitgetheilet / ob sie solche schon zugleich der Sprach verfälschet haben.«117 Die Entstehung der griechischen Philosophie sah Zierold also vor allem durch die Transferleistungen der Phönizier bestimmt, von denen die Griechen abstammten und die als Handelsvolk in engem Kontakt zu den älteren orientalischen Völkern und den Juden gestanden und deren Weisheit und Sprache den Griechen übermittelt hatten. Bereits Homer und Hesiod waren nach Zierold noch direkte Schüler des Moses gewesen, dessen Lehren sie in bildlicher Verkleidung in ihren Epen ausdrückten.118 Das war eine konservative Einschätzung der - erst später als >vor-philosophisch< bewerteten - griechischen Frühzeit im Gefolge der jüdischen Tradition, wie sie ebenfalls - jedoch anders akzentuiert - Colberg in De sapientia veterum Hebraeorum vertreten hatte. In der weiteren Darstellung der Anfänge griechischer Philosophie folgte Zierold dann durchgängig Scheffers Lehre von der Übernahme der ägyptischen Weisheit durch Pythagoras.119 Nachdem der Anfang der griechischen Philosophie in seiner über Ägypten vermittelten biblischen Abhängigkeit dargelegt worden war, wurde Piatons Philosophie im längsten Abschnitt,120 der der griechischen Philosophie gewidmet war, eingehend dargestellt. Dabei wies Zierold nachdrücklich auf die weitgehende Übereinstimmung Piatons mit der geheimen Weißheit des Kreuzes hin, die er aus der Kenntnis der Heiligen Schrift erklärte: »Es bezeuget so wol die gesambte Antiquität / als insonderheit die Heil. Kirchen-Väter einhellig / daß Plato selber die Heil. Schlifft gelesen / und aus dem Umbgang mit den Jüden vieles von den Göttlichen Geheimnissen gelernet / und in seine Bücher geschrieben.«121 Die Anerkennung der platonischen Philosophie als heidnische Fassung des Offenbarungswissens belegte Zierold zudem mit der Apologie Piatons bei griechischen und lateinischen Kirchenvätern, aber auch bei protestantischen Theologen - er führte die ganze apologetische Tradition der Patristik ins Feld: Irenaeus, Clemens, Orígenes, Cyrill, Eusebius, Ambrosius und Augustinus für
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Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 162. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 170. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 172. In diesem Zusammenhang weist Zierold lobend auf Jacob Thomasius: Schediasma historicum, § 13 hin, wo der Gegenstand der pythagoräischen Philosophie in der Behandlung des ewigen Seienden (τά όντα) mit Scheffer bestimmt wird. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 190-211. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 191.
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die patristische Akzeptanz Piatons; für die Protestanten wurden Luther, Johann Arndt und - wiederum - Pierre-Daniel Huet angeführt. Diese illustre Ahnengalerie von Piaton-Verteidigern machte deutlich, daß Zierold weder den Vorwurf der Platonisierung des Christentums durch die genannten Kirchenväter teilte, noch auch die Denunziation einer intensivierten innerlichen Frömmigkeit im Protestantismus als Piatonismus akzeptierte. Aber Zierold begnügte sich nicht mit einer pauschalen Bewertung der platonischen Philosophie als mit den Zentrallehren der jüdisch-christlichen Weisheitstradition übereinstimmender Lehre. Die zentralen Topoi der platonischen Philosophie wurden hinsichtlich ihrer Kongruenz mit dem Offenbarungswissen einzeln untersucht: Piatons Gottesbegriff erwies sich dabei als mit der Offenbarung verträglich, weil er die Einheit des einen, ewig seienden Gottes vertreten habe. Der Begriff des Seienden (τό öv) wurde so für Piaton - im Gefolge Scheffers und J. Thomasius' - theologisch als Auskunft über die Existenz Gottes interpretiert und als mit dem Einen (εν) identisch klassifiziert: »Dahero hat er mit Parmenide durch das εν, das Eine / Gott verstanden / und ihn öv simpliciter der da ist / genennet / auch durch das νόητον, das man verstehen könnte vorgestellet. Denn Gott hat niemand jemahls gesehen / es wird auch kein Mensch leben / der ihn mit seinen groben äusserlichen Sinnen sehen könte.«122 Sofern Gott bei Piaton also als ewig seiende intelligible Einheit gefaßt wurde, stimmte dieser Gottesbegriff mit dem christlichen überein. Nicht aber hinreichend erkannt habe Piaton die trinitarische Aufgeschlossenheit dieses einen Gottes, der gleichwohl drei Personen in sich vereinige. Die über alle Vernunft gehende Dreifaltigkeit Gottes war Piaton zwar aus den jüdischen Schriften bekannt, aber er konnte sie nicht auf seinen Gottesbegriff angemessen übertragen, so daß er nur eine ontologisch gestufte Prinzipientriadik auf einer Ebene unterhalb des Göttlichen erreichte.123 In der Kritik am christlichen Piatonismus war die Frage nach dem Ursprung der nicänischen Trinitätstheologie zentral gewesen: Da ihre orthodoxe Fassung durch den biblischen Literalsinn nicht gedeckt wurde, war sie in den Verdacht geraten, eine philosophische Einmischung zu sein.124 In Zierolds Geschichtsdarstellung konnte aufgrund der Akzeptanz des prisca sapientia-Modells ein solcher Vorwurf erst gar nicht formuliert werden: Die Trinität stand als Inhalt der geheimen Gotteslehre von Beginn der Zeiten an fest. Sie war keine historisch
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Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 195. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 193ff. Cf. W. Schmidt-Biggemann: Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus am Beispiel der Trinitätstheologie, in: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher >Philologieidealen< Sinn verweist. In dieser prophetischen Hermeneutik der Sinnlichkeit verortete Zierold die Herkunft der platonischen Ideenlehre und der für sie konstitutiven Unterscheidung zwischen ontologisch minderwertiger Sinnlichkeit und höherwertiger Intelligibilität: »Also waren die Stiffts-Hütte / die Opffer / die Beschneidung u.s.w. άισθητα, Bilder / so in die Sinne fielen / sie stellten aber eine geheime Bedeutung vor / die νόητα, davon sich der menschliche Verstand eine Idee oder Bild machen kann.«126 Diese Analyse der Herkunft der platonischen Ideen und der Lehre von der doppelten Erkenntnis war für Zierold allerdings nicht allein von historischem Interesse. Sie rechtfertigte nämlich die innere Erkenntnis des Intelligiblen, die nichts anderes sein sollte, als die begrifflich gefaßte (und dadurch - wie Zierold zugab - philosophisch verfälschte) Erleuchtung der biblischen Propheten. Durch die Ableitung der platonischen Noesis aus der Struktur der biblischen Prophetien und ihren inneren Entzückungen beabsichtigte Zierold die pietistische Betonung der Innerlichkeit gegen deren Verleumdung als platonische Häresie (Bücher) zu rechtfertigen. Nicht weil auch Piaton eine innerliche Erkenntnis des wahren Seins der Ideen kannte, sondern weil die Emphase der Innerlichkeit überhaupt ein auch biblisch durch die Propheten belegtes Konstituens wahrer Frömmigkeit sei, betonten die Pietisten diese zurecht. Gegen Büchers Vorwurf
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Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 196. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 202f.
264 der Paganisierung des Christentums durch die Pietisten rehabilitierte Zierold so die Akzentuierung der Innerlichkeit, indem er nachwies, daß auch Piatons Hochschätzung derselben durch seine Abhängigkeit von der prophetischen Tradition begründet war. Diese Abhängigkeit zeigte Zierold auch an den weiteren Stücken der platonischen Philosophie auf:127 So betonte er, daß Piatons Lehre von der Schöpfung der Welt eng dem Mosaischen Schöpfungsbericht folge und also keineswegs die Schöpfung der Welt leugne und - wie Bücher es im Gefolge von J. Thomasius behauptet hatte - zu den Anhängern eines ewigen Prinzipiendualismus gezählt werden dürfe: »Insonderheit wird Plato beschuldiget / daß er einen zwiefachen Ursprung aller Dinge gelehret / nemlich GOTT und die Materie / allein die gelehrten Ausleger des Piatonis haben bewiesen / daß dieses eine falsche Beschuldigung sey. Denn Plato sol vielmehr gelehret haben / daß die erste Materia von Gott erschaffen / und daß sichs GOTT vor der Schöpffung vorgenommen die Welt zu erschaffen. [...] Indessen ist von vielen Gelehrten angemercket worden / daß Plato von der Schöpffung der Welt also schreibe / daß man sehen könne / er habe Mosi die Worte abgeborget.«128 Das Gegenbild zur platonischen Philosophie lieferte darauf die Darstellung der aristotelischen Philosophie, die in dem bereits erwähnten, aus Patrizi genommenem Vergleich zwischen Piaton und Aristoteles gipfelte. Hier wurde an 43 Vergleichspunkten die relative Konformität Piatons mit dem jüdisch-christlichen Offenbarungswissen vorgeführt, wohingegen Aristoteles in allen Lehrfragen die entgegengesetzte Auffassung vertreten habe. Das Werk beider Philosophen wurde auf fünf für die christliche Theologie zentrale Themenbereiche hin befragt: 1. Gottesbegriff, 2. Schöpfungslehre, 3. Seelenlehre, 4. Eudaimonievorstellungen und schließlich 5. Eschatologie. In allen fünf Bereichen erwies sich die platonische Philosophie als näher an der christlichen Wahrheit. Aristoteles hingegen lehre neben dem ersten Beweger eine weitere Vielzahl von Göttern, leugne die Möglichkeit der Schöpfung aus dem Nichts (ex nihilo nihil fit), vertrete die Sterblichkeit der Einzelseele, preise die irdische Glückseligkeit und verneine die Auferstehung der Toten.129 Damit war das Set offenbarungsfeindlicher Lehrpunkte komplett der aristotelischen Philosophie zuerkannt worden - die platonische wurde hingegen weitgehend von dem Verdacht befreit, Ursprung aller Häresie zu sein.
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Als weitere Exempel für die Konformität der platonischen Philosophie mit der christlichen Offenbarung nannte Zierold: Erschaffung des Menschen, die Paradiesesvorstellung, die Sprachtheorie. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 207f. Zierold beruft sich hier auf Stillingfleets Origines sacrae und vor allem auf die ausführliche Darlegung der Abhängigkeit Piatons von der mosaischen Tradition bei P.-D. Huet: Praeparatio evangelica, ed. V, 1703, prop. 5, cap. 3ff. Zierold: Einleitung zur Gründlichen Kirchenhistorie, S. 220-224.
265 Sie stellte gleichsam den Schlußpunkt der paganen Philosophie dar, die vor Aristoteles in ihren Hauptvertretern die jüdisch-christliche Weisheit in unterschiedlich vollkommener Weise ausgedrückt hatte. In den restlichen Abschnitten seines Kapitels über den Ursprung der Historia philosophica behandelte Zierold dann die übrigen antiken Philosophenschulen - Stoiker, Epikuräer, Skeptiker, Kyniker und Eklektiker - , wobei vor allem die spekulationsfeindlichen Skeptiker und Kyniker positiv dargestellt wurden. Das Hauptinteresse seiner Darlegungen hatte jedoch auf der frühen Philosophie der alten Völker gelegen, deren Übereinstimmung mit der Offenbarungsweisheit Zierold gegen ihre antiapologetische Desintegration verteidigt hatte. Zierolds Darstellung der paganen Philosophie verfocht also die noch immer verbreitete, nur unterschiedlich akzentuierte Einschätzung der Abhängigkeit aller heidnischen Philosophie vom jüdischen Wissensursprung. Ihre unmittelbare Motivation lieferte der von Bücher erhobene Vorwurf des Piatonismus der Pietisten, den Zierold durch eine Integration der voraristotelischen paganen Weisheitsliteratur in die Genealogie der Offenbarungswahrheit zu entkräften versuchte. Das Resultat war die vollständige Rehabilitation der zoroastrischen und hermetischen Weisheit, die als Moses' Lehren dargestellt wurden. Die pythagoräische und vor allem die platonische Philosophie wurden dann zwar als Verfälschungen der Offenbarung beschrieben, insoweit aber akzeptiert, als ihnen in den zentralen Lehrgehalten und besonders in Gottes- und Schöpfungslehre eine offenbarungskompatible Position zugeschrieben wurde. Diese explizit gegen Jacob Thomasius' im Schediasma historicum vorangetriebene Dissoziation von Philosophie- und Theologiegeschichte gerichtete Auffassung der Offenbarungsabhängigkeit der wichtigsten antiken Philosophen sollte die Anciennität und Universalität der göttlichen Offenbarung bezeugen, mit deren lutherisch-orthodoxer Festlegung auf die Heilige Schrift der Pietist Zierold sich abzufinden nicht bereit war. Die Konsequenz war eine Kirchenund Philosophiegeschichte, die mit der paganen Philosophie den Pietisten Gewährsmänner für die Dignität innerer Erleuchtungen zu sichern und deren antiapologetische Ausgrenzung durch eine Wiederbelebung des translatiosapientiae-Modells rückgängig zu machen versucht hatte.
VI. Gottfried Arnolds Revision der Kirchengeschichte Von lutherisch-orthodoxer Seite hatten Colberg und Bücher die sola scripfwra-Begriindung der Theologie betont und die Schwärmer und Pietisten als pagan infizierte Heterodoxie abqualifiziert. Die Kirchengeschichte Zierolds hatte daraufhin die antike Weisheitsliteratur als Beleg für die Dignität innerer Offenbarungen rehabilitiert und den Piatonismus-Vorwurf durch Rückgriff auf das Modell der translatio sapientiae entkräftet. Das historiographische Gegenstück zu Colbergs Hermetisch-platonischem Christentum und seiner enzyklopädischen Denunziation der frühneuzeitlichen Enthusiasten und Schwärmer war das kirchengeschichtliche Opus Gottfried Arnolds (1666-1714).1 In Arnolds berühmtesten Werk, der Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700) wurde das gesamte Spektrum der von Colberg als >hermetisch-platonisch< gekennzeichneten heterodoxen Frömmigkeit rehabilitiert. Diese ungeheure Rehabilitationsleistung bestimmte über Christian Thomasius und Johann Lorenz Mosheim hinaus noch maßgeblich den Blick des späteren 18. Jahrhunderts auf die Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit.2 Außer im frommen, postpietistisch-empfindsamen Milieu - etwa bei Heinrich Jung-Stilling - wurde das Fortwirken Arnolds jedoch seit Christian Thomasius zumeist von einer Kritik flankiert, die sich gegen seine Fundierung der Kirchengeschichte in einer mystischen Theologie richtete.3 Aber gerade Arnolds Orientierung der Kirchengeschichte an einer von ihm auch eigens ausgearbeiteten theologia mystica erzeugte jenen Effekt, der sein Werk für die Frühaufklärung rezeptionsgeeignet machte und den Prozeß einer umfänglichen Revision der kirchen- und philosophiegeschichtlichen Traditionsbestände stimulierte: Vom Standpunkt eines >spiritualistischen Indifferentismus< (E. Seeberg) aus verfaßte Arnold eine
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Zur Biographie cf. noch immer Franz Dibelius: Gotttfried Arnold. Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie, Berlin 1873, zu wichtigen biographischen Wendepunkten, wie vor allem seiner Eheschließung cf. Jürgen Büchsei: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt, Witten 1970. Cf. Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, München 1969/79. Cf. Christian Thomasius: Cautelen zur Kirchenrechtsgelehrtheit, 6, 7ff., § 42ff.; S. 59, § 60; S. 171, § 6, Anm. p.
267 kirchengeschichtliche Enzyklopädie, die nicht länger den Wahrheitsanspruch einer theologischen Dogmatik zum Maßstab ihrer Darstellung machte.4 Arnolds Kirchengeschichte war nicht mehr von einem dogmatisch fest umrissenen Standpunkt innerhalb der Konfessionskirchen, sondern von einem undogmatischen Spiritualismus aus geschrieben, der eine Rekonstruktion der Kirchengeschichte nach Maßgabe innerer Pietät und praktischer Frömmigkeit unternahm und zur Reintegration jener von orthodoxem Standpunkt aus als Ketzer denunzierten religiösen Dissidenten führte.5 Die ehemals leitenden theologisch-dogmatischen Bewertungskriterien wurden so durch Arnolds mystische Fundierung der Historiographie gleichsam neutralisiert. Der spezifische Anspruch des Arnoldschen Geschichtswerks bestand darin, ohne vorgefaßte Urteile und also frei von konfessionellen Vorgaben an die historischen Zeugnisse heranzutreten und diese selbst sprechen zu lassen. Der für Arnolds Werk zentrale Begriff der Unparteilichkeit drückte dieses Anliegen aus und unterschied es von seinen zahlreichen kirchengeschichtlichen Vorläufern.6 Die wichtigste Konsequenz des Unparteilichkeitsanspruchs war die Umbewertung des Ketzerbegriffs, der seine pejorative Bedeutung verlor: Gerade in den als Ketzern verworfenen Gläubigen erkannte Arnold die Zeugen des >wahren Christentumswahre Christentum< bestand für Arnold in innerer Erleuchtung und Wiedergeburt, die sich in praktischer Frömmigkeit erwiesen.7 Alle dogmatische Theologie hingegen blieb verdächtig, bloß das Resultat menschlicher Vernunftanmaßung zu sein. Sie taugte nicht als Maßstab einer Kirchengeschichte, die sich deshalb weniger an der Lehre, als vielmehr am Leben ihrer Protagonisten orientierte. Der Anspruch der Unparteilichkeit, die anti-spekulative Ausrichtung auf fromme Lebenspraxis, die Umwertung des Ketzerbegriffs und die Kritik an der lutherischen Orthodoxie machten Arnolds Kirchengeschichte mit zentralen frühaufklärerischen Programmpunkten kompatibel: Vorurteilskritik, Erfahrungsphilosophie und Praxisprimat, religiöse Toleranz, sowie Trennung von Kirche und Staat
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Cf. Α. Schindler: Dogmengeschichte als Dogmenkritik bei Gottfried Arnold und seinen Zeitgenossen, in: H. Bornkamm et al.: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag, Bielefeld 1975, S. 404-^19. Den zentralen Stellenwert innerer Erleuchtung als Kriterium der Kirchengeschichte betont Hermann Dörries: Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold, Göttingen 1963, bes. S. 24. In der Verhältnisbestimmung Arnolds zur Kirchengeschichte (und Mystik) der Frühen Neuzeit liegt der Darstellungsschwerpunkt der noch immer umfassendsten Arnold-Studie: Erich Seeberg: Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Studien zur Historiographie und Mystik, Meerane 1923, ND Darmstadt 1964. Cf. J. Büchsei: Gottfried Arnold, Witten 1970.
268 entsprachen trotz ihrer andersartigen Begründung dem Impetus des Arnoldschen Werks.8 So verwundert es nicht, daß Christian Thomasius Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie für das nützlichste Buch nach der Bibel gehalten und sich in seinen eigenen Werken nicht nur mit Vorliebe der von Arnold ausgebreiteten Materialfülle bedient hat, sondern sich auch an dessen Bewertung derselben oftmals anschloß, wohingegen Arnold in Thomasius' Zeitschrift - bemerkenswerterweise halbanonym - veröffentlichte9 und dessen Abhandlungen über kirchengeschichtliche Fragen eingehend konsultierte.10 Arnolds Werk besaß eine bemerkenswerte Schlüsselposition zwischen prämoderner Religiosität, die über die frühneuzeitlichen und spätmittelalterlichen Traditionen11 direkt an die urchristliche Frömmigkeit und die Mönchsmystik der ersten nachchristlichen Jahrhunderte anzuknüpfen suchte, und einer typisch modernen, seit der Aufklärung nachhaltig vorangetriebenen Neutralisierung theologischer Wahrheitsansprüche, die sich mit einer Akzentuierung historischer Individualität sowie dem Anspruch auf historische Objektivität verband.12 Dabei sollte nicht übersehen werden, daß die letzgenannten Aspekte des Arnoldschen Oeuvres, die seine Nähe zur Aufklärung ausmachten (und die ihm überdies einen Platz in der Vorgeschichte des Historismus gesichert haben), Konsequenzen seiner mystischen Theologie sind. Der Zusammenhang von Mystik und Geschichtsschreibung muß bei der Beurteilung Arnolds eingehend berücksichtigt werden, um die Schlüsselposition seines Werkes an einer zentralen Umbruchsteile mitten innerhalb der von Paul Hazard als crise de la conscience européenne13 charakterisierten Epochenschwelle hin zur Aufklärung angemessen einschätzen zu können.14 Die Mystik gilt zwar unumstritten
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Cf. zum frühaufklärerischen Kontext Notker Hammerstein: lus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, zu Arnold S. 124 u.ö. Cf. Historia sapientiae et stultitiae 1693, III, S. 113ff. Der Autor des Aufsatzes wurde unter der Initiale M. G. A. A. M. (Mag. Gottfried Arnold Annabergensis Misnicus) angegeben, cf. E. Seeberg: Gottfried Arnold, S. 514, Anm. 5. Cf. E. Seeberg: Gottfried Arnold, S. 515, Anm. 1. Zum Mittelalterbezug Arnolds cf. Peter C. Erb: Pietists, Protestants, and Mysticism. The Use of Late Medieval Spiritual Texts in the Work of Gottfried Arnold, Metuchen N. J. 1989, S. 47-196. Daher piazierte Meinecke ihn auch in die Vorgeschichte des Historismus, cf. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, EA München 1936, München 1965, S. 47ff. Cf. zum Kontext der aufgeklärten Historiographie Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986, S. 144-189. Paul Hazard: La Crise de la Conscience Européenne (1680-1715) (1935), dtsche. Übersetzung Hamburg 1939, zu Arnold S. 476f. Zum philosophischen Kontext des äußerst philosophiekritischen Arnold cf. S. Wollgast: Zu den philosophischen Quellen von Gottfried Arnold und zu Aspekten seines philosophischen Systems, in: G. Arnold, hrsg. v. D. Blaufuß u. F. Niewöhner, Wiesbaden 1995, S. 301-335.
269 als Fundament der Arnoldschen Historiographie, ihr ist aber bislang als dem gleichsam >rückwärtsgewandtem< Element seines Werkes nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt worden. Der Zusammenhang von Mystik und Historiographie, genauer: Die Fundierung der historischen Bewertungs- und Darstellungskategorien in einer mystischen Theologie und die daraus resultierende Ausblendung dogmatisch formulierbarer theologischer Wahrheitsansprüche macht das Spezifikum des Arnoldschen Oeuvres aus und leitete die kirchengeschichtliche Revisionsarbeit an. Diese soll hier vor dem Hintergrund von Arnolds Sophienmystik in ihren konzeptionellen Grundgedanken dargestellt werden, indem die Auszeichnung der praxis pietatis als Kriterium der Kirchengeschichte, die Begründung der Unparteilichkeitsforderung, sowie die Umwertung des Ketzerbegriffs analysiert werden.
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Arnolds Sophienmystik und die Begründung des Praxisprimats
1.1. Innere Erleuchtung als Maßstab der Kirchengeschichte Ein Jahr nachdem der zweite Teil seiner Kirchen- und Ketzerhistorie veröffentlicht worden war, publizierte Arnold einen Traktat, der mit der mystischen Sophienerfahrung auch den Maßstab seiner Geschichtsdarstellung darlegte: Das Geheimniß der göttlichen Sophia (1700).15 Dieses Buch war gleichsam ein Kompendium der Sophienmystik und Weisheitsliteratur, in dem auf Arnolds Traktat in einem zweiten Teil Poetische Lob- und Liebes=Sprüche / von der Ewigen Weißheit folgten, die die für Arnold konzeptionell tragende Verbindung von Hohelied- und Sophienmystik in mehreren - teils als Kommentar-, teils als Dialogdichtung angelegten - Texten entfalteten.16 Dieses Buch ist mit seiner Kombination von Bibeltext, Dichtung und gelehrter Erörterung signifikant für die Darstellungsmethode Arnolds: Originale Zeugnisse, wie das von Arnold neu übersetzte Hohelied, poetisch gestaltete Annotationen, Poeme auch anderer Autoren (bisweilen im fremdsprachigen Original), ein dichtes Zitatgewebe, sowie historisch-gelehrte Ausführungen über die Authentizität und Rezeptionsgeschichte des seit Luther
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Gottfried Arnold: Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia oder Weißheit / Beschrieben und Besungen von Gottfried Arnold, Leipzig 1700. Es existiert ein Faksimile-ND mit einer Einführung von W. Nigg, Stuttgart-Bad Cannstatt 1963. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. XVII, S. 111; sowie die Vorbemerkung zu den Poetischen Lob- und Liebessprüchen: Kurtzer Bericht Von dem Hohenliede und dessen wahrem Verstand, unpag., Abschn. 17-21,17: »Ferner haben etliche etwas merckwürdiges dißfalls vorgetragen / indem sie unter dem namen der Braut die himmlische ewige weißheit Gottes oder Sophiam, und unter dem Bräutigam den seelen-geist / oder den gantzen inneren menschen verstanden.«
270 aus dem biblischen Kanon verdrängten Buchs der Weisheit - unter Einschluß verschiedenartigster literarischer Gattungen wird eine Stoffülle erzeugt, die die Himmlische Weisheit expliziert. Die Darstellung der Sophienmystik erschöpfte sich also nicht in deren kategorialer Beschreibung und persönlicher Bekundung, sondern wurde dem Text der Sapientia Salomonis folgend in der Mannigfaltigkeit der Zeugnisse gleichsam kumulativ vergegenwärtigt - die Fülle steigerte den erbaulichen Appell, der der Zweck des Büchleins ist und der - durch Lektüre äußerlich stimuliert - zuletzt zur individuellen Begegnung mit der Sophia anleiten soll:17 »Gebet also acht auff euch selbst / und wendet alle liebes=krafft / damit ihr auff creaturen fallen möchtet / in das inewendige und auf die darinn sich zeigende Sophiam. Sie soll euch so viel mit lieben / mit umfassen / mit ihren süssen ausgüssen zuthun geben / daß ihr frembder buhlschafft bald vergessen werdet. Ziehen wird sie euch und zugleich unendliche krafft geben zu folgen / weil ihr edler Geist leib und seel einnehmen und alles ihr zu eigen / rein / keusch/ Götttlich und himmlisch gesinnet machen wird.«18 Diese Erfahrung der göttlichen Sophia lieferte Arnold auch das Kriterium der Kirchengeschichte, sie ermöglichte die von ihm vollzogene Anerkennung der als Ketzer verrufenen Gläubigen: Die Sophia ist innerlich in der praxis pietatis gegenwärtig und provoziert eine gelehrte, äußerst materialreiche Kirchengeschichte, deren Maßstab sie selbst ist und in der alle ihre Wahrheitszeugen von ihr mannigfach künden. Schon in der Vorrede zu der vor dem Sophienbuch verfaßten Kirchen- und Ketzerhistorie hatte Arnold die von Gott ihm offenbarte >Wahrheit< als Maßstab seiner Geschichtsschreibung und deren Unparteilichkeit betont.19 Bereits hier 17
Dieses Werk Arnolds ist bislang kaum untersucht worden; Benz' Aufsatz legt den Akzent auf die Geschichte der Sophienlehre: E. Benz: Gottfried Arnolds >Geheimnis der göttlichen Sophia< und seine Stellung in der christlichen Sophienlehre, in: Jahrbuch der kirchengeschichtlichen Vereinigung 18 (1967), S. 51-82; die Zusammenschau des >Christus der Schöpfung* mit dem >Christus in nobis< als Grundmotiv der Arnoldschen Sophiologie betont W. Schmidt-Biggemann: Philosophia Perennis, Frankfurt a.M. 1998, S. 319-326; auf den Zusammenhang mit dem geschichtlichen Werk Arnolds hat W. Schmidt-Biggemann bereits hingewiesen in: Veritas particeps Dei. Der Spinozismus im Horizont mystischer und rationalistischer Theologie, in: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung, Heidelberg 1984, S. 65-91, auch in: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988, S. 117-149, hier 138. Die wichtigste Nachkriegsstudie zu Arnold von J. Büchsei: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt, Witten 1970 macht einen Bogen um den Sophientraktat Arnolds, berücksichtigt aber die >Göttlichen LiebesfunkenErfahrungsstruktur< und den >Gehalt< jener inwendig erfahrenen Offenbarung, die seine Geschichtsdarstellung anleitete und die ihm in einem Akt göttlicher Begnadung zuteil geworden war.22 Dabei wurde, wie bereits an jener zitierten Stelle aus der Vorrede, deutlich, wie die Geschichtsschreibung Arnolds aus einer inneren Offenbarung erwuchs, die nach außen gewandt zum Kriterium seiner Geschichtsdarstellung avancierte und die er nach Abschluß seines historiographischen Opus magnum auf dem Höhepunkt seiner spirituellen Radikalität einer erbaulichen Darstellung als Sophienerfahrung würdigte. Mit der Überschreitung seiner geschichtlichen Arbeiten hin zu einer affirmativen Darlegung der göttlichen Weisheit am Ende seiner radikal-pietistischen Phase in Quedlinburg und also unmittelbar vor seiner im Spiritualisten-Milieu aufsehenerregenden Eheschließung mit Anna Maria Sprögel, die ihm von vielen
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G. Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688, Franckfurt a.M. 1699/1700, zit. Ausg. 1729, ND Hildesheim 1967, Vorrede, v. Zum Ordnungskriterium und zur formalen Anlage der Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie cf. unten. Besonders E. Benz hat den Erfahrungsgehalt von Arnolds Sophienmystik betont; cf. E. Benz: Gottfried Arnolds >Geheimnis der göttlichen SophiaGeheimnis der göttlichen SophiaGeheimnis der göttlichen SophiaWillensmetaphysik< E. Benz: Marius Victorinus und die Ursprünge der abendländischen Willensmetaphysik, Stuttgart 1932. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. ΠΙ, S. 26.
276 dergestalt herauszuarbeiten, daß die Weisheit weder in Christus aufgeht, noch auch die Trinität sprengt.38 Sie stellt gleichsam den in der Seele zuhöchst intensiv empfundenen Wirkungscharakter der Vereinigung mit Christus dar, der in der Sophia kristalliert, sich aber jeder theologisch konsistenten Darlegung entzieht: »Biß hieher ist nun die Weißheit unter dem geheimnuß-vollen namen Jesu der seelen in etwas offenbahr worden / unter welchen auch einfältiglich alles zusammen gefasset werden mag. Nun reden aber auch die alten bißweilen also von ihr / daß zwar selbige von Christo nicht dem wesen nach unterschieden / doch unter einem andern Character und merckmahl dem gemüthe vorgestellet werde / wiewohl inzwischen keinem vernünfftlichen scrupulieren hiebey räum gegeben / sondern allein auff die inwendige krafft und äusserung solcher geheimnüsse gehorsamlich gesehen werden muß.«39 Die Weisheit wird so als eine Qualität, eine besondere Eigenschaft Christi und des Heiligen Geistes gefaßt, wobei Arnolds Interesse sich nicht auf die Weisheit richtet, »wie sie in der stillen Ewigkeit ausser natur und creatur ist / sondern wie sie sich in der zeit zu den menschen herunter läßt«.40 Die liebevolle Herunterlassung der göttlichen Weisheit zum gefallenen Menschen und die innige Erwiderung dieser Liebe stehen daher im Mittelpunkt von Arnolds Sophienmystik. Mit der Betonung der inneren Erfahrung der Sophia setzt Arnold sich jenem Vorwurf aus, den Colberg in den Mittelpunkt seiner Kritik am platonisch-hermetischen Christentum gestellt hatte: Die inwendige Erfahrung der christologisch gefaßten Sophia mache die Erlösung durch den historischen Christus und seinen Kreuzestod geradewegs überflüssig.41 Die interne Wiedergeburt durch die Vereinigung mit der göttlichen Weisheit war zwar nach Arnold durch die Inkarnation vorbereitet, nicht aber von dieser schlechterdings abhängig. Vielmehr machte Arnold sogar darauf aufmerksam, daß die Christologie von den frommen Juden durch ihre Sophiologie geradewegs vorweggenommen worden war. Diese in der Sophiologie vollzogene Verinnerlichung der Offenbarung besaß weitreichende Folgen für die Konzeption der Kirchengeschichte, die nicht länger allein nach dem Maßstab der historischen Offenbarung und der diese kirchlich verwaltenden Dogmatik geschrieben werden durfte, sondern den Zeugnissen jener inneren Offenbarung Rechnung tragen mußte. Welcher Art aber war diese innerliche Offenbarung, die die Vereinigung mit der Sophia gewährte?
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Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. V: Vom Geist Jesu und der Weißheit, S. 34-39. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. V, S. 37. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. V, S. 37. Cf. oben Kap. 3.2.
277 1.4. Sophiologische Begründung der praxis
pietatis
Um die Reinheit und spirituelle Dignität der Liebesbeziehung zur Sophia zu erläutern, mußte zunächst die Ungeschlechtlichkeit der Weisheit herausgestellt werden: Als innergöttliches Wesen ist sie von androgyner Natur, d.h. sie umfaßt die erst nach dem Sündenfall Adams getrennten Geschlechter: »Daß nemlich die ewige weißheit nicht zwar in manns- oder weibs-geschlechte / wie dieses nach dem fall in seiner unart / Verderbnis und schände liegt / eingeschräncket / sondern in himmlischen reinen verstand eine vollkömmliche reine jungfrau sey.«42 Die restitutive Funktion der Vereinigung mit der himmlisch reinen Jungfrau bestand nun für Arnold darin, daß die Gottebenbildlichkeit des gefallenen Menschen in der Weisheit erkannt und so die ursprüngliche Androgynität des sündlosen Adam, der in inniger, jedoch ungeschlechtlicher Weise mit der Weisheit als seiner Lehrerin verkehrt hatte, in der Wiedergeburt erneut hergestellt wird. Aber Arnolds heilsgeschichtlich eingerahmte Erklärung der Zweigeschlechtlichkeit ist noch komplexer, da sie die Inkarnation mit einbezieht und zur Bedingung der Wiedergewinnung der paradiesischen Androgynität macht: Nachdem die prälapsarische Einheit der Geschlechter verlorengegangen war und Gott aus Adams Rippe eine zweite, geschlechtliche Eva geschaffen hatte, bedurfte es der Jungfrauengeburt Christi, die den Typos für die Restitution der Eingeschlechtlichkeit darstellt. Indem durch die Gottesgeburt jungfräuliche Männlichkeit und Weiblichkeit wieder zusammengeführt werden, wird die anfangliche Einheit beider im Bild der männlichen Jungfrau restituiert. Dieses Bild ist das der androgynen Weisheit, die der Gläubige nach seiner Läuterung erfahren kann, die ihn zur Umkehr zwingt und seine paradiesische Integrität erneuert: »Sollte nun der mensch in seine gehabte paradisische Vollkommenheit wieder treten: so muste ihn der gebenedeyte weibes-saamen auch dieses theil derselben wiederbringen / und das weib in des mannes bund selig machen. Zu dem ende ward nun Messias in dem weiblichen geschlechte in Maria zwar ein mensch und mann / und führete das männliche theil wieder in den leib des jungfräulichen weibes ein / ob er gleich selbst in sich das jungfräuliche bild trug. Wodurch denn der grund geleget ward / daß die männliche und weibliche krafft wiederum ein einig bild und wesen werden könten / und die neue creatur als eine männliche jungfrau nach der Wiedergeburt vor GOtt vollkommen darstehen könnte. In welcher so dann die männliche feuers-eigenschafft zwar regieren / aber durch die liechts-krafft des weibes gesänfftiget und temperiret werden muß / (gleichwie der Sohn durch die Liebe des Vaters zorn leschet) da indessen doch des ersten vollkommenen Adams und nicht Evens bildniß bleiben und herrschen wird.«43
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Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. VI, S. 42. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. VI, S. 43f.
278 Nachdem die androgyne Übergeschlechtlichkeit und Keuschheit der Sophia dargelegt und ihre Aufgabe in der Restitution der paradiesisch transgeschlechtlichen Gottebenbildlichkeit - wie sie der erste, vollkommene Adam besaß - erkannt worden ist, widmete sich Arnold der frommen Vorbereitung, die der Sophienerfahrung vorhergehen muß und die von ersten Anzeichen der Sophia erwidert wird.44 Diese Präparation hin auf die Vereinigung mit der himmlischen Weisheit findet ihren Gipfel in der menschlichen Teilhabe an der geheimen Lehre der Weisheit, die diese schließlich der Seele offenbart: »Nunmehr befindet Sophia nach allen nöthigen Züchtigungen und ersten milch-speisen die seele geschickt / auch stärckere nahrung anzunehmen / zu gemessen / und ins neue leben zu verwandeln. Denn nachdem das inwendige ohr durch so manches anklopffen geöffnet / und zum vernehmen bequem worden / das gemüth auch darunter gebeuget / und der wille wol gebändiget ist: pflegt sie ihre schätze in ein gereinigtes hertze gar willig einzulegen / auch mehr und wichtigere sachen / als man gehoffet / anzuvertrauen.«45 Worin besteht nun die geheime Lehre der Weisheit? Läßt sie sich theologisch formulieren? Für Arnold stellte die Lehre der himmlischen Sophia keinen propositionalen Erkenntnisgehalt dar, der intellektuell begriffen werden könnte. Die Lehre der Weisheit betraf nicht den Intellekt, sondern den Willen, dessen Ausrichtung sie durch Einwirkung auf die Seele korrrigierte: »Was aber nun dieses hauptwerck der weißheit eigentlich sey / lässet sich auch viel besser erfahren / als beschreiben / und mag nur hier so weit bezeichnet werden / als es Gott in der seelen entdecket; ausser und über welches sichs gebühret stumm zu seyn.«46 Die Wirkung der Weisheit besteht darin, daß sie den Willen zurückführt auf das in ihr anwesende göttliche Urbild, das sie in strahlender Schönheit vergegenwärtigt und das bereits selbst vom Charakter des Willens war: Als vornehmstes Produkt göttlichen Willens war die Weisheit eingeführt worden. Ein derart konsequent verfochtener Willensprimat hatte freilich zur Konsequenz, daß die Wirkung der Weisheit, der >Inhalt< ihrer >Lehre< nicht beschrieben, sondern nur erfahren werden konnte. Daher vermochte aus der unter dem absoluten Vorrang des Willens stehenden Sophienmystik Arnolds nur eine theologia experimentalis zu resultieren, die auf die Erfahrung der göttlich bewirkten Willenskorrektur zielte, diese aber nicht intellektualisierte.47
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Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. VIII-XIII. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. XIV, S. 90. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. XXIII, S. 165. Eine solche hat Arnold denn auch noch am Ende seines Lebens verfaßt, cf. G. Arnold: Theologia experimentalis, Das ist: Geistliche Erfahrungslehre, Oder Erkäntniß und Erfahrung Von denen vornehmsten Stücken Des Lebendigen Christenthums, Von Anfang der Bekehrung biß zur Vollendung, Frankfurt a.M. 1715.
279 Die von der Weisheit erreichte Neuausrichtung des Willens und die damit einhergehende Wiedergeburt des Menschen ließ sich nicht an einer theologisch darlegbaren Lehre, gar an einer kirchenrechtlich verfestigten Dogmatik, sondern nur an der praxis pietatis ablesen. Die >Lehre< der Weisheit appellierte an den Willen, nicht an den Verstand, sie forderte inneren Gehorsam, nicht vernünftige Einsicht und sie bewährte sich nicht in der richtigen Lehre, sondern im richtigen Leben: »Wobey denn voraus zu setzen ist / daß diese himmlische besucherin allerdings treue und Verschwiegenheit / ehrerbietung und hochachtung / wie auch alle fernere gnade des gehorsams von einem solchen fordere / welcher sie würdiget / einen guten theil der geheimen rathschläge Gottes unmittelbar zu entdecken. Und dieses desto mehr / weil es nicht bloß speculative vorwürffe oder leere meynungen sind / sondern lauter solche materien / die des menschen eigen und ewig höchstes gut betreffen; also daß er ihm selbst darinne treu und gefallig zu seyn lernen muß.«48 Nur an der frommen Lebensführung kann der restituierte Willens abgelesen werden - die Vernünftigkeit aber bleibt als Instanz menschlicher Anmaßung, die den Willensprimat ignoriert, auf der Strecke. Deshalb unterstrich Arnold die Verborgenheit der sapientialen Lehre, die Unmöglichkeit, affirmative Aussagen über den Gehalt der Weisheit treffen zu können. Obwohl die Sophia aus dem Selbstaufschluß Gottes hervorgeht und dessen verborgenes Wesen faßlich macht und offenbart, bleibt auch sie bei Arnold in die Schleier der negativen Theologie gehüllt: »Denn es bleibet doch auch hier der beschluß: Wenn man gleich viel von dem wesen der Weißheit geredet hätte / und noch mehr reden wollte: so bliebe sie doch noch höher / ja an sich selbst unaußsprechlich und unbegreifflich. >Die rede der Weißheit / (und also noch vielmehr ihr wesen) außzusprechen / ist über deß menschen krafftc hat schon der uhralte weise Hermes gesagt.«49 Eine nicht näher präzisierbare, den kreatürlichen Willen korrigierende Gotteserkenntnis stellte den theologisch einzig affirmativ aussagbaren Gehalt der Weisheit dar, deren >Lehren< sich nicht in dogmatische Formulierungen umsetzen lassen, weil sie das inwendige Gemüt des Gläubigen, nicht aber dessen Vernunft betreffen.50
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Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. XV, S. 90. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. V, S. 39. Wie die Stelle zeigt, akzeptiert Arnold die philologische Demontage des Corpus hermeücum nicht, die er jedoch kennt (cf. unten zur Auseinandersetzung Arnolds mit den >Critici< in der Historie und Beschreibung der Mystischen Theologie). Ohne Zweifel hat Arnold an einer trinitarischen Fassung des Gottesbegriffes selbst festgehalten und die Wesensgleichheit der göttlichen Personen betont (cf. etwa Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. XXIII, S. 163ff.). Allerdings hat er den Antitrinitariem und Sozinianern in seiner Kirchen- und Ketzergeschichte Asyl gewährt. Zu Arnolds Bewertung der Trinitätstheologie cf. seine kritische Darstellung des Konzils von Nicäa in der Kirchen- und Ketzerhistorie I, lib. IV, cap. 7, 6.
280 Das Dilemma, den zentralen Gehalt, die einzigartige Innigkeit der Sophienerfahrung terminologisch nicht fassen zu können, wurde ein Movens der Arnoldschen Dichtung, die deshalb im Sophienbuch größeren Raum einnimmt als die traktathafte Erörterung.51 Das Anliegen der Sophien- und Hohelied-Dichtung war es, das Mysterium der Vereinigung mit der Sophia poetisch zu umkreisen und im Vers zu vergegenwärtigen, was sich zuletzt aller Darstellung entzog.52 In der Sprache der Dichtung soll das eigentlich Unsagbare angepeilt, in Sinnbildern umkreist und so die von der negativen Theologie gebotene Sigetik durch eine eng an den biblischen Offenbarungstext, vor allem an das Hohelied angelehnte Poesie versprachlicht werden.53 Der Lehrgehalt der mystisch erfahrenen Weisheit war also praktischer Natur, die Weisheit offenbarte keine spekulative Einsicht und gewährte keinen intellektuellen Wissensschatz. Sie leitete schlicht zum tugendhaften Leben an: »Und freilich gebühret sichs / und ist der Weißheit Glori gemäß / daß die jenigen / so sich der Weißheit lehre unterworffen haben / allerdings auch weise seyn müssen. Entweder sie müssen bereits in betrachtung der weißheit grossen fortgang haben / oder auch gar vollkommen darinnen seyn: und wer in der weißheit zugenommen hat / der wird dennoch immer weiser / und lernet noch mehr Göttliche / ja auch menschliche lehren. Wer also gelehret ist / das böse an sich selbst scharff zu bestraffen / das verlangen aber nach dem guten mit grossem ernst zu hegen / und also nach diesem trieb weise ist: der wird noch immer weiser / weil ihm aus der lehre die Vollkommenheit erwächst / und kommt endlich durch den verstand zur völligen herrschafft.«54 Obwohl Arnold der Sophienmystik eine die menschliche Erkenntnisfähigkeit mitbetreffende Wirkung zusprach, zielte die Sophienerfahrung nicht auf eine Verbesserung der menschlichen Ereknntniskraft, sondern auf die Läuterung der Willensregungen (verlangen, trieb), das Gute zu wählen und das Böse zu verwerfen. Der Gipfel der von der Sophia eröffneten Weisheit wurde dann in der inwendigen Gottes- und Selbsterkenntnis, deren Zusammenhang durch die Vermittlungsfunktion der Sophia als imago Dei garantiert war, erreicht: »Dergestalt kann niemand weise seyn / oder heissen / der nicht die Wahrheit / welche Gott selbst ist / mit seinem gemüthe erreichet. Denn ein weiser heist allhier nicht ein spitzfindiger natürlich kluger mann / sondern ein solcher / in
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Cf. zu Arnolds literaturhistorischer Position als >Barockdichter< Steffen Arndal: Mystik und Dichtung bei Gottfried Arnold, in: Gottfried Arnold (1666-1714), hrsg. v. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhner, Wiesbaden 1995, S. 5-19. Cf. Traugott Stählin: Gottfried Arnolds geistliche Dichtung. Glaube und Mystik, Göttingen 1966, bes. Kap. II, 3. Zum Kontext von Arnolds Hohelieddichtung cf. M. Goebel: Die Bearbeitungen des Hohen Liedes im 17. Jahrhundert, Leipzig 1924. Arnolds Bearbeitung basiert auf Daniel Sudermann, dessen Werk nun dem Opitzschen Standard angepaßt wird. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. XVIII, S. 124f.
281 welchem eine feste und gewisse erkäntniß sein selbst und Gottes ist / und dessen leben und verhalten mit seiner erkäntniß übereinkommt.«55 Den Impetus seiner Sophienmystik hat Arnold in einer Kapitelüberschrift zusammengefaßt: »Von der weißheit würckung zur praxi oder ausübung im leben.« Die Art der Lebensführung war der einzige Indikator für den Besitz der Weisheit, der sich nicht in äußerer Gelehrsamkeit, sondern nur im praktischfrommen Verhalten zeigt. Indem die Wirkung der Weisheit so nicht in einer fest umrissenen Lehre, sondern im Lebensvollzug gesehen wird, kann Arnold sogar auf den Erfahrungsbegriff der paganen Philosophie zurückgreifen, die die Weisheit in der Fülle der Erfahrung (ή πάσα έμπειρία) erblickt habe.56 Das erlaubte Arnold, den Begriff der σωφροσύνη im Sinne seiner praxis pietatis auszulegen: »Die Griechen haben ein anderes sehr bedenckliches wort Σωφροσύνην, welches einen solchen sinn andeutet / der in der praxi sich nach allen stücken gesund / mässig / wolbedachtsam / klug und untadelich erweiset. [...] Demnach folge diese σωφροσύνη aus der weißheit / als eine gewisse härtigkeit oder krafft.« 57 Die Gelehrsamkeit und alles Wissen steht bei Arnold folglich unter dem Praxisgebot: Wenn es zur frommen Lebensführung anleitet ist es gerechtfertigt und nützlich, wenn es jedoch rein theoretisches Wissen bleibt, wird es eitel und verwerflich: »Man findet / wie die wahren weißheits-kinder niemals auf blossem verstehen oder wissen beruhen dürffen / sondern von dieser ihrer mutter immer zu der praxi angetrieben worden.«58 Das stellt gleichsam das Fazit der Sophiologie Arnolds dar, die vom innergöttlich begründeten Willensprimat zur Praxisemphase anleitete und durch diese der Weisheitslehre eine ausschließlich am Leben abzulesende Wirkung zuspricht. Von Arnolds sophienmystisch begründeter Praxisbetonung aus erscheint dann auch seine vieldiskutierte Verheiratung und vor allem seine Übernahme eines Pfarramtes 1702 durchaus konsequent: Sie war eine korrigierende Abkehr von jener den ersten Teil seines Lebens ausschließlich bestimmenden Arbeit als Gelehrter und eine Zuwendung zur praktischen Wirkung in Gemeinde und Familie. Er folgte damit dem Anspruch der Weisheit, von ihrer Einwirkung zur Praxis und Ausübung im Leben fortzuschreiten, die den Fluchtpunkt aller
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Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. XVIII, S. 125. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. XIX, S. 135. Arnold beruft sich auf Diogenes Laertius: In Vita Plut, (ohne Stellenangabe). Zur affirmativen Bewertung der Philosophie im Zusammenhang seiner Sophiologie cf. Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia, Kap. XXV, S. 183: »Diese weißheit beschrieben die alten insgemein / so wohl Christen als Heyden / eine wissenschafft göttlicher und menschlicher dinge / also daß keiner ohne göttliche erkäntniß weise seyn kann. Und die Philosoph! nennen sie eine liebe und begierde nach eben dieser wahren Weisheit.« Das Geheimniß Der Götüichen Sophia, Kap. XIX, S. 136. Das Geheimniß Der Götüichen Sophia, Kap. XIX, S. 139.
282 von Arnold auch weiterhin verfaßten gelehrten Arbeiten darstellten.59 Das Ziel aller Gelehrsamkeit lag in der christlich-frommen Lebensführung, der praxis pietatis, der alles Wissen untergeordnet war.60 Mit dem prekärem Status von gelehrtem Wissen hat Arnold sich dann nochmals in einem Entwurf christlich-frommer Pädagogik zugewandt, in dem er ein an Erfahrung und Praxis ausgerichtetes christlich-pietistisches Erziehungsideal entfaltete. Im Wohleingerichteten Schulbau (posth. 1722) entwarf Arnold ein Schulprogramm, das im Gefolge der frommen Wissenschaftskritik eines Agrippa, Sebastian Franck und Caspar Barth ein dezidiert christlich-pädagogisches Konzept vorstellte, das sich der späthumanistischen Orientierung an der klassischen Antike und den artes-Wissenschaften entgegenstellte.61 Nicht das abstrakte Wissen und nicht die humanistische Ausrichtung am Stil der paganen Autoren sollten die Inhalte des Unterrichts bestimmen, sondern die Lektüre der auch stilistisch als vorbildlich erachteten Bibel und eine sittliche Lebensführung nach den Grundsätzen des Evangeliums bildeten den Mittelpunkt des Unterrichts - dem humanistischen Ideal des Orators wurde der fromme Gläubige kontrastiert: Programmatisch galt nicht das eitle bene dicendi sondern das gottesfürchtige bene vivendi.62 Die Betonung der frommen Praxis verknüpft so alle Schichten des Arnoldschen Oeuvres: Sie gründet in der internen Struktur seiner Sophiologie, bildet die theologische Basis seiner Predigten und setzt sich pädagogisch in einem eigenen Schulentwurf um. An der frommen Praxis als Ausdruck wahren Christentums orientiert sich aber auch und vor allem seine Geschichtsschreibung und Editionstätigkeit.
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Leitbegriffe revisionärer Kirchengeschichte
2.1. Praxis pietatis als Maßstab der Historiographie Der von Arnolds Willens-Mystik begründete theologische Praxisprimat und die damit einhergehende Abwertung der Dogmatik setzte konsequent eine an der christlichen Lebensführung orientierte Geschichtsschreibung frei, die dogma-
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Auch die Anzahl der Arbeiten nach 1700 (vor allem seiner vielen Editionen) ist bemerkenswert. Cf. zum Kontext theosophisch fundierter Wissenschafts- und Pädagogikprogramme bei Ratke, Andreae und Comenius Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang, Tübingen 1998, bes. S. 85-104. Gottfried Arnold: Der Wohleingerichtete Schulbau, Leipzig 1711. Zu Arnolds Schulprogramm in Kontext frühneuzeitlicher Gelehrsamkeitskritik cf. die materialreiche Studie von Hanspeter Marti: Gelehrsamkeit, poesis sacra und sermo mysticus bei Gottfried Arnold, in: Pietismus-Forschungen, hrsg. v. D. Blaufuß, Berlin et al. 1986, S. 197-294.
283 tisch-konfessionelle Wahrheitsanspriiche in einem mystischen Indifferentismus neutralisierte und einem Willens- und Praxisprimat subordinierte. Zwar blieb die von Arnold entworfene Sophienmystik jedenfalls in ihrer Darstellung bibelzentriert, aber sie hatte, um ihre Biblizität zu sichern, erst umständlich die Authentizität des Buchs der Weisheit belegen müssen. Der Erfahrungsgehalt, auf den es in der Sophienmystik zentral ankam, war selbst nicht mehr biblisch, sondern betraf den Gläubigen unmittelbar und drückte sich nur unter Zuhilfenahme biblischer Bildlichkeit aus.63 Die Verbindlichkeit der in den kirchlichen Bekenntnisschriften festgelegten Dogmatik hat Arnold ohnehin nie akzeptiert. Selbst noch als Superintendent hat er sich geweigert, einen Eid auf die Augsburger Konfession und das Konkordienbuch zu leisten. Und obwohl Arnold nach seiner radikalen Quedlinburger Phase in den Pfarrdienst getreten ist, hat er die Notwendigkeit eines äußeren Gottesdienstes und einer kirchlich monopolisierten Kultverwaltung zeitlebens bestritten. Arnolds Substitution einer konfessionell festgelegten Dogmatik durch praktische Frömmigkeit als Maßstab der Kirchengeschichte implizierte deren weitreichende Revision. Der Wegfall einer verbindlichen Dogmatik wurde durch die von Arnold versammelten historischen Exempla ausgeglichen und führte zur Auszeichnung des frühen vordogmatischen Christentums als einer Zeit vorbildlicher praktischer Frömmigkeit, der sich Arnold seit seinen ersten historischen Arbeiten mit Vorliebe gewidmet hatte. Die Zeugnisse rechter christlicher Lebensführung, die die Werke Arnolds von der Beschreibung der Wahren Abbildung der ersten Christen (1696) an versammelten, ersetzten durch die Vielzahl an Beispielen praktischer Frömmigkeit die abhandengekommene Dogmatik. Nicht eine christliche Lehre, sondern die praxis pietatis bezeugte das wahre Christentum, das historisch durch die große Anzahl erbaulicher Beispiele stabilisiert wurde. Die mystische Theologie, von der Arnold ausging, führte mit ihrer Betonung des Erfahrungsmoments vor dem Hintergrund der systematischen Unmöglichkeit einer affirmativ-dogmatischen Theologie geradewegs in die Kirchengeschichtsschreibung über: In ihr wurden die Zeugnisse der praxis pietatis versammelt, die in der historischen Aneignung selbst erfahren werden konnten. Die uneinholbare inwendige Gotteserfahrung, die sich ihrer begrifflichen Darstellung entzog und von der Dichtung umkreist wurde, exemplifizierte sich in der Fülle des von Arnold angehäuften historischen Materials, in den Lebensbeschreibungen und Werkauszügen.
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Sie wird zumeist durch intensives Gebet, nicht durch Bibellektüre stimuliert. Die Authentizität des mystischen Erfahrungsgehalts veranschaulicht besonders eindringlich Arnolds Lyrik, cf. etwa das (von E. Benz interpretierte) Gedicht >Bericht einer nachtbegebenheitwahren Christentums< gehörten nun aber auch diejenigen, die von einem konfessionellorthodoxen Standpunkt aus als Ketzer verworfen worden waren. In Arnolds Kirchengeschichtsschreibung wurden sie vom Standpunkt der Unparteilichkeit aus rehabilitiert. 2.2. Unparteilichkeit der Theosophie Der Arnolds Kirchengeschichte leitende Anspruch transkonfessioneller Unparteilichkeit folgte ebenfalls aus seiner mystisch fundierten Diskreditierung der dogmatischen Wahrheitsansprüche: In der Weisheitserfahrung erwiesen sich zuletzt alle Lehrdifferenzen als überwunden.66 Die vom erleuchteten Kirchenhistoriker zu übende Unparteilichkeit erhielt dadurch einen eschatologischen Impetus, durch den die finale Überwindung aller Lehrstreitigkeiten in der unparteiischen Kirchengeschichte bereits antizipiert wurde. Die unparteiische Darstellung der Kirchengeschichte war nur demjenigen möglich, dessen Wille durch die Weisheitserfahrung von aller Parteilichkeit
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Der Ursprung dieses Topos: Aristoteles, Poetik 9, 1451 b 3-6; 23, 1459 a 21; cf. auch Rhetorik I, 4, 1360 a 37; III, 9, 1409 a 28. Kirchen- und Ketzerhistorie, Vorrede, Abschn. 38. Zur Bedeutung der Unparteilichkeit bei Arnold cf. E. Seeberg: Gottfried Arnold, S. 228233; J. Büchsei: Gottfried Arnold, S. 32ff„ bes. Anm. 16.
285 geläutert worden war. Daher war von jedem Historiker zu fordern, daß er zunächst »gnugsame proben seiner wahrhaftigen erleuchtung und daher rührenden erkäntniß Gottes und einsieht in die geheimnisse und wunder desselben / wie auch rechtschaffene friiehte eines recht gereinigten hertzens darlegte: weil anders die lehren der so genannten kätzer und die übrige der natur verborgene dinge nicht erkannt, sondern freylich, wie meist geschieht, ohne unterscheid und prüfung verworffen würden. Zu geschweigen, daß ein solcher auch treulich comprommittiren und erweisen müste, wie er von allen menschlichen vorurtheilen, meinungen und aufsätzen so lange abstrahiren und der lautern göttlichen Wahrheit in der schrifft nach der Christen erster praxi allein gehör geben wolle.«67 Zwar bezeugt der Anspruch unparteilicher Geschichtsschreibung die für Arnolds Werk charakteristische Herauslösung der Kirchengeschichtsschreibung aus ihrer konfessionellen Bindung, er ist aber aufgrund der mystisch-religiösen Verankerung keineswegs als Moment eines Säkularisierungsprozesses anzusehen, sondern übertrug vielmehr die mystische Affektfreiheit auf den Bereich der Geschichtsschreibung.68 Auch war der Anspruch auf Unparteilichkeit auf methodologischer Ebene nicht im Sinne vollständiger emotionaler Neutralität zu verstehen, wie Arnold gleich eingangs durch eine Abgrenzung von Bodins entsprechender Forderung verdeutlichte,69 sondern beschrieb die Distanz des erleuchteten Historikers, der nicht länger am Schulgezänk der Parteien teilnahm, sondern durch Teilhabe an der Sophia sich über alle Parteilichkeit erhob. Die Immediatverbindung seiner Seele mit der göttlichen Weisheit befreite ihn aus der Anbindung an eine äußere Kirche, der Arnold sein berühmtes Babels-Grablied gesungen hatte, und machte ihn zum Mitglied der »unsichtbaren allgemeinen Kirche«, die nicht an »eine gewisse sichtbare Sozietät« gebunden blieb. Das von Arnold für den Bereich der Kirchengeschichtsschreibung fruchtbar gemachte Modell wahrer Wissenschaft durch Teilhabe an der göttlichen Weisheit hieß: Theosophie.70 Theosophie bezeichnete gleichsam die wissenschaftliche Anwendung und Umsetzung jener in der mystischen Sophienerfahrung erlangten göttlichen Weisheit, die sich praktisch auswirkte und zugleich Bedingung für die wahre Erkenntnis der Natur und der Geschichte darstellte. Für den Bereich der Natur war dieses Teilhabewissen als Magie bestimmt: »Wie nun der wille der
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Kirchen- und Ketzerhistorie I, Vorrede, Abschn. 15. So mit Dörries und Büchsei gegen M. Schmidt: Die Interpretation der neuzeitlichen Kirchengeschichte, in: ZThK 54 (1957), S. 174-212. Cf. Gottfried Arnold: Kirchen- und Ketzerhistorie, Vorrede, Abschn. 27: »Und deßwegen ist mirs schwer, ja unmöglich geworden, >vom guten ohne liebe und gunst, und vom bösen ohne abscheu zu schreiben^ wie Bodinus von einem redlichen historico mit recht erfordert.« Bei Bodin: Methodus ad faciliorem historiarum cognitionem, Paris 1572, cap. IV, S. 49. Cf. den Art. >Theosophie< von G. Müller im HWP 10 (1998), col. 1157-1162.
286 ewigen Gottheit in seiner eigenen göttlichen beschauung sich selbst durch die innigste lust und ergetzung gefasset / und durch die Imagination oder fürmodelung in der schöpffung vermittelst der ewigen weißheit als in der allergeheimsten Magia, oder verborgenen geistlich schaffenden krafft und wurckung sich selbst offenbahret: also werden alle wercke Gottes eben in und mit dieser geheimesten wirckung oder Magia wiederum eingesehen / erkannt und gefunden / wie sie an sich selbst sind. Dahin denn alle dasjenige zu ziehen ist / was von der wahren göttlichen Magia durch alle Zeiten her gelehret worden / als welche von der falschen verdammlichen Magia unendlich unterschieden ist.