Wege der Wissenschaft: Einführung in die Wissenschaftstheorie 3540674772, 9783540674771

Chalmers kritische Reflektion ber wissenschaftstheoretische Schulen ist zu einem Standardwerk universitrer Lehre avancie

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German Pages 236 [253] Year 2001

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Wege der Wissenschaft: Einführung in die Wissenschaftstheorie
 3540674772, 9783540674771

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Wege der Wissenschaft Einfiihrung in die Wissenschaftstheorie

Alan R Chalmers

Wege der Wissenschaft Einftihrung in die Wissenschaftstheorie Herausgegeben und iibersetzt von Niels Bergemann und Christine Altstotter-Gleich Sechste, verbesserte Auflage

Sprin ger

Herausgeber und Ubersetzer

Dr. med. Dr. rer pol. Dipl.-Psych. Niels Bergemann Klinik fiir AUgemeine Psychiatric Zcntrum fiir Psychosozialc Mcdizin Univcrsitatsklinikum Heidelberg Vo6-Stra6e 4 69115 Heidelberg [email protected] Dr phil. Christine Altstotter-GIeich Universitat Koblenz-Landau, Campus Landau Fachbereich Psychologie Im Fort 7 76829 Landau i. d. Pfalz [email protected]

Titel der englischen Originalausgabe: A. F. Chalmers, What is This Tiling Called Science? © University of Queensland Press, St. Lucia, Queensland, 1999 First published 1976, reprinted 1978, 1979 and 1981. Second edition 1982. Third edition 1999 Mit 3 Abbildungen

ISBN-10 3-540-49490-1 Springer Berlin Heidelberg New York lSBN-13 978-3-540-49490-4 Springer Berlin Heidelberg New York ISBN 3-540-67477-2 5. Aufl. Springer Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iiber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der ijbersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfaltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfaltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulassig. Sie ist grundsatzlich vergiitungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science-t-Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1986,1989,1994,1999,2001, 2007 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermannbenutztwerden diirften. Herstellung: LE-TEX Jelonek, Schmidt & Vockler GbR, Leipzig Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg SPIN 11935353

42/3100YL - 5 4 3 2 1 0

Gedruckt auf saurefreiem Papier

„ Like all young men I set out to be a genius, but mercifully laughter intervened. " Clea Lawrence Durrell

Inhalt

Vorwort der Herausgeber Vorwort zur ersten Auflage Vorwort zur zweiten Auflage Vorwort zur dritten Auflage Einleitung 1.

1.4 1.5 1.6 2.

3.

1

Wissenschaft als Erkenntnisform, die auf erfahrbaren Tatsachen beruht 1.1 1.2 1.3

XI XIII XV XVII

Eine weitverbreitete Auffassung von Wissenschaft Sehen heiBt Glauben Visuelle Erfahrungen werden nicht durch das Bild auf der Retina bestimmt Beobachtbare Tatsachen als Aussagen Warum sollten Tatsachen der Theorie vorausgehen? Die Fehlbarkeit von Beobachtungsaussagen

5 5 7 8 12 14 15

Beobachtung als Intervention

19

2.1 2.2 2.3

19 21 23

Beobachtung: passiv und privat oder offentlich und aktiv? Galilei und die Monde des Jupiters Beobachtbare Tatsachen: objektiv, aber fehlbar

Das Experiment

25

3.1 3.2 3.3

25 26

3.4

Nicht einfach Tatsachen, sondem r^/^va^^e Tatsachen Das Erzielen experimenteller Ergebnisse und ihre Aktualisierung Veranderung der experimentellen Basis von Wissenschaft: historische Beispiele Das Experiment als angemessene Basis fur die Wissenschaft

28 33

VIII

4.

Der Induktivismus

35

4.1 4.2 4.3

35 35

4.4 4.5 4.6 5.

51

5.1 5.2

51

Einleitung Ein logisches Argument zur Unterstiitzung des Falsifikationismus Falsifizierbarkeit als Kriterium fur gute Theorien Falsifizierbarkeit, Eindeutigkeit und Prazision Falsifikationismus und wissenschaftlicher Fortschritt

52 53 56 59

Der raffinierte Falsifikationismus, neuartige Vorhersagen und der Fortschritt der Wissenschaft

63

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6

7.

37 39 41 44

Der Falsifikationismus

5.3 5.4 5.5 6.

Die Ableitung von Theorien aus Tatsachen Deduktives SchlieBen Konnen wissenschaftliche Gesetze aus Tatsachen abgeleitet werden? Was konstituiert ein gutes indukives Argument? Weitere Probleme des induktiven SchlieBens Der Reiz des Induktivismus

Relativer und absoluter Falsifizierbarkeitsgrad Die Erhohung der Falsifizierbarkeit und Ad-hocModifikationen Bewahrung im Falsifikationismus Kuhnheit, Neuartigkeit und Hintergrundwissen Ein Vergleich induktivistischer und falsifikationistischer Sichtweise von Bewahrung Die Vorteile des Falsifikationismus gegentiber dem Induktivismus

63 64 67 68 70 71

Die Grenzen des Falsifikationismus

73

7.1 7.2

73

7.3 7.4

Probleme der Logik Die Unzulanglichkeit des Falsifikationismus vor dem Hintergrund historischer Beispiele Die kopernikanische Revolution Die Unangemessenheit des falsifikationistischen Abgrenzungskriteriums und Poppers Antwort

76 78 84

IX

8.

Theorien als Strukturen I: Kuhns Paradigmen

87

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7

87 89 90 94 97 99

8.8 9.

Theorien als Strukturen Thomas Kuhn Paradigmen und Normalwissenschaft Krise und Revolution Die Funktion von Normalwissenschaft und Revolutionen Die Verdienste des kuhnschen Beitrags zur Wissenschaftstheorie Kuhns Ambivalenz beztiglich des Fortschritts durch Revolutionen Objektives Wissen

101 102

Theorien als Strukturen II: Forschungsprogramme

107

9.1 9.2 9.3

107 107

9.4 9.5 9.6

ImreLakatos Die lakatosschen Forschungsprogramme Methodologie innerhalb eines Programms und die Vergleichbarkeit von Programmen Neuartige Vorhersagen Die Uberprtifting einer Methodologie an der Geschichte Probleme mit der lakatosschen Methodologie

10. Feyerabends anarchistische Wissenschaftstheorie 10.1 10.2 10.3 10.4

Standortbestimmung Feyerabends Argumentation wider den Methodenzwang Feyerabends Eintreten ftir Freiheit Kritik an Feyerabends Individualismus

11. Methodologische Wechsel 11.1 11.2 11.3 11.4

Wider eine universelle Methode Der Einsatz von Teleskopen statt der Beobachtung mit bloBem Auge: ein Wechsel von MaBstaben Der sukzessive Wechsel von Theorien, Methoden und Standards Intermezzo

12. Der Ansatz von Bayes 12.1 12.2 12.3 12.4 12.5

Einleitende Bemerkungen Das bayessche Theorem Subjektiver Bayesianismus Anwendungsmoglichkeiten der bayesschen Formel Kritik am subjektiven Bayesianismus

111 113 115 118 121 121 122 126 127 131 131 132 136 138 141 141 142 144 146 150

13. Der Neue Experimentalismus 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6

Einmhmng Zur Eigenstandigkeit von Experimenten Deborah Mayo zum strengen experimentellen Uberprtifen Das Lernen aus Fehlern und das Auslosen von Revolutionen Perspektiven des Neuen Experimentalismus Anhang: Ein gliickliches Aufeinandertreffen von Theorie und Experiment

14. Warum sollte die Welt Gesetzen folgen? 14.1 14.2 14.3 14.4

Einleitung Gesetze als RegelmaBigkeiten Gesetze als Charakterisierungen von Potenzial oder Dispositionen Thermodynamische Gesetze und Erklarungsansatze

15. Realismus und Anti-Realismus 15.1 15.2 15.3 15.4 15.5 15.6 15.7

Einleitung Globaler Anti-Realismus: Sprache, Wahrheit und Realitat Anti-Realismus Einige Standardeinwande und die Antworten des AntiRealismus Wissenschaftlicher Realismus und Realismus der Vermutungen Idealisierung Nichtreprasentativer Realismus oder struktureller Realismus

155 155 156 159 162 164 167 171 171 172 174 177 181 181 182 185 186 189 192 194

16. Epilog

197

Literaturverzeichnis

203

Deutschsprachige Bibliographic

211

Personenverzeichnis

235

Sachregister

239

Vorwort der Herausgeber

Der vorliegende Band von Alan F. Chalmers erscheint nun bereits in der sechsten deutschsprachigen Auflage und ist mittlerweile zu einem Standard-Lehrbuch an vielen Hochschulen und Universitaten auch im deutschen Sprachraum avanciert. Erfreulicherweise wird es auch bereits in der Oberstufe mancher Gymnasien eingesetzt. Chalmers fuhrt klar verstandlich und ohne spezielle Vorkenntnisse vorauszusetzen anhand vieler Beispiele in die Grundlagen der Wissenschaftstheorie ein und leitet zu neueren Ansatzen und zur aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskussion hin. In den ersten Kapiteln werden so die klassischen Ansatze der Wissenschaftstheorie im Uberblick dargestellt; die Ansatze von Karl Popper, Imre Lakatos, Thomas Kuhn und Paul Feyerabend werden vorgestellt, miteinander verglichen und ihre Grenzen werden diskutiert. Die letzten, erst in der funften deutschsprachigen Auflage (dritte englischsprachige Auflage) hinzugekommenen Kapitel, widmet Chalmers den aktuellen Diskussionen zu der Bedeutung des Experiments und dem „Neuen Experimentalismus", dem wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatz von Bayes, dem Wesen naturwissenschaftlicher Gesetze sowie der „Realismus versus Anti-Realismus-Debatte". Eine Fortsetzung des Bandes im Hinblick auf die aktuelle wissenschaftstheoretische Debatte, die schlagworthaft unter dem Motto „universelle, ahistorische MaBstabe und Methoden versus skeptischem Relativismus" zusammengefasst werden kann, und eine Auseinandersetzung mit wissenschaftssoziologischen Ansatzen finden sich in Chalmers' Buch „Grenzen der Wissenschafl" (1999), das ebenfalls im Springer-Verlag erschienen ist. FUr die jetzt vorliegende sechste Auflage wurde der Text durchgesehen und wo erforderlich - wurden Korrekturen vorgenommen. Dabei wurden auch einige der Ungereimtheiten, die auf die zuruckliegende Rechtschreibreform zurtickgehen, gemaB den Empfehlungen des Rats fiir die deutsche Rechtschreibung korrigiert. Die bereits fiir die erste deutschsprachige Ausgabe erarbeitete ,,Deutschsprachige Bibliographie zur Wissenschaftstheorie'' wurde fur die vorliegende sechste Auflage tiberarbeitet, aktualisiert und nochmals deutlich erweitert. Sie stellte zunachst eine - gewiss subjektive - Auswahl dar, die die Herausgeber fiir eine erste Orien-

XII

tierung bei der Beschaftigung mit der Thematik als niitzlich erachteten; mittlerweile gibt sie einen LFberblick iiber die deutschsprachige wissenschaftstheoretische Literatur. Sie soil einerseits dem Umstand Rechnung tragen, dass Chalmers sich weitestgehend auf Literatur des anglo-amerikanischen Sprachraums bezieht und Entwicklungen im deutschsprachigen Raum weniger beriicksichtigt, und andererseits einen Leitfaden fur die eingehende Beschaftigung mit dem Gegenstand bieten. Weiterhin wurde flir die deutschsprachige Ausgabe ein Sachregister erstellt, das die praktische Handhabung des Buches verbessem soil. Sofern es den Herausgebem als hilfreich, sinnvoll oder gar notwendig erschien, wurde die deutschsprachige Ausgabe um einige wenige Anmerkungen erweitert. Dem Springer-Verlag ist ftir das Ermoglichen der nunmehr sechsten Auflage sehr zu danken. Herrn Professor Dr. Jochen Prtimper, Fachhochschule fur Technik und Wirtschaft Berlin, sei an dieser Stelle nochmals fur die Mitherausgabe und die Beteiligung an der Textbearbeitung der ersten vier Auflagen, die auf der zweiten englischsprachigen Ausgabe beruhten, gedankt. Herrn Dr. Albrecht Schultz schulden die Herausgeber Dank ftir wertvolle Kommentare bei der LFbertragung physikalischer und physikgeschichtlicher Sachverhalte. Besonderer Dank jedoch gilt der Leserschaft des Buches fur die anhaltende positive Resonanz, die es auch in der deutschsprachigen Ausgabe erhalten hat. Diese Resonanz auf Chalmers' Einfiihrungswerk wird von den Herausgebem hoffiiungsvoll in der Weise interpretiert, dass die Beschaftigung mit den Grundlagen der Wissenschaftstheorie zu einem selbstverstandlichen, wenn nicht sogar unverzichtbaren Bestandteil der Ausbildung in jeder fachwissenschaftlichen Disziplin geworden ist.

Im September 2006, Niels Bergemann, Heidelberg

Christine Altstotter-Gleich, Landau/Pfalz

Vorwort zur ersten Auflage

Das Ziel dieses Buches ist es, eine leicht verstandliche, klare und elementare Einfuhrung in die neueren Betrachtungen uber das Wesen der Wissenschaft zu geben. Wahrend meiner Lehrtatigkeit sowohlfixrStudenten der unteren Semester als auch fiir Kolleginnen und Kollegen anderer Fachbereiche, die einen Einblick in die neueren Entwicklungen der Wissenschaftstheorie gewinnen wollten, wurde mir immer klarer, dass es kein einziges Buch, und nicht einmal eine kleine Auswahl von Btichern gibt, die Anfangem hatten empfohlen werden konnen. Die einzigen Quellen, die uber die neuere Diskussion verfugbar sind, sind die Originaltexte. Viele dieser Quellen sind jedoch fiir den Anfanger zu schwierig, und es sind vor allem zu viele, als dass sie ohne weiteres einer groBeren Anzahl von Studenten zuganglich gemacht werden konnten. Ftir all diejenigen, die sich mit der Wissenschaftsphilosophie intensiver auseinandersetzen mochten, kann dieses Buch naturlich kein Ersatz fiir die Originalquellen sein; aber dennoch hoffe ich, dass es einen brauchbaren und guten Einstieg bietet, den es anderweitig nicht gibt. Mein Vorsatz, die Diskussion moglichst einfach zu gestalten, scheint sich fiir etwa zwei Drittel des Buches tatsachlich erfiillt zu haben. Zu dem Zeitpunkt, als ich dieses Stadium erreicht hatte und mich daran machen wollte, die neueren Betrachtungen zu kritisieren, entdeckte ich zu meiner Uberraschung, dass ich erstens mit diesen Betrachtungen weit weniger tibereinstimmte als ich vermutet hatte und dass zweitens aus meiner Kritik eine in sich schltissige Alternative hervorging. Diese Alternative wird im letzten Kapitel dieses Buches in groben Zugen dargestellt. Es ware fiir mich ein erfi'eulicher Gedanke, wenn die zweite Halfte dieses Buches nicht nur Zusammenfassungen bekannter Betrachtungen iiber das Wesen der Wissenschaft liefern wiirde, sondern ein wenig dartiber hinausginge. Mein Interesse fiir die Geschichte und die Philosophic der Wissenschaft wurde in London geweckt, in einem Klima, das von Karl Popper beherrscht wurde. Aus dem Inhalt des vorliegenden Buches geht deutlich hervor, was ich ihm, seinen Aufsatzen, Vorlesungen und Seminaren, aber auch dem leider viel zu filih gestorbenen Imre Lakatos zu verdanken habe. Die Form der ersten Halfte dieses Buches ist zu einem groBen Teil an dem brillanten Artikel von Lakatos iiber die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme angelehnt. Ein be-

XIV

merkenswertes Merkmal der popperschen Schule war der Nachdruck, der darauf gelegt wurde, sich das Problem, an dem man interessiert war, auch wirklich bewusst zu machen und die Betrachtungen iiber dieses Problem in einer einfachen und allgemeinverstandlichen Weise zum Ausdruck zu bringen. Obwohl ich in dieser Hinsicht dem Vorbild von Popper und Lakatos viel verdanke, gehen etwaige Fahigkeiten, die ich entwickelt habe, um mich selber klar und deutlich auszudrticken, im Wesentlichen auf meine Zusammenarbeit mit Professor Heinz Post zuruck, der mich wahrend meiner Zeit am Chelsea College betreute, wo ich an der Fakultat fur Geschichte und Wissenschaftsphilosophie an meiner Dissertation arbeitete. Dabei werde ich jedoch einfach das fatale Geftihl nicht los, dass er sein Exemplar dieses Buches mit der Bitte an mich zuriickschicken wird, die Stellen, die er nicht versteht, noch einmal neu zu schreiben. Von den Kolleginnen und Kollegen in London, damals zumeist noch Studenten, denen ich zu besonderem Dank verpflichtet bin, ist es vor allem Noretta Koertge, nun an der Universitat von Indiana, die mir immens geholfen hat. Ich bezeichnete oben die poppersche Schule als eine Schule, aber erst nachdem ich von London nach Sydney gegangen war, wurde mir vollends bewusst, wie stark ich einer Schule verbunden war. Zu meiner Oberraschung entdeckte ich, dass es dort Philosophen gab, die von Wittgenstein, Quine oder Marx beeinflusst und die der Meinung waren, dass Popper in vielen Punkten einfach Unrecht hatte; einige waren sogar der Uberzeugung, dass die von ihm vertretenen Auffassungen regelrecht gefahrlich seien. Ich glaube, dass ich aus dieser Erfahrung viel gelemt habe. Lines der Dinge, die ich gelernt habe, war, dass Popper, wie im letzten Teil dieses Buches naher erlautert werden soil, in der Tat in einigen entscheidenden Punkten Unrecht hat. Dies andert jedoch nichts an der Tatsache, dass der Ansatz von Popper unendlich viel besser ist als die Ansatze, denen man sich in den meisten philosophischen Fakultaten, die ich kennengelernt habe, bedient. Viel verdanke ich meinen Freunden in Sydney, die mich aus meinem Schlummer aufweckten. Damit will ich jedoch nicht andeuten, dass ich ihren Ansatzen eher zustimme als denen von Popper. Aber das wissen sie besser. Da mir allerdings keine Zeit bleibt, mich mit dem obskuren Unsinn von der Inkommensurabilitat unterschiedlicher Konzepte zu beschaftigen (an dieser Stelle werden die Anhanger von Popper die Ohren spitzen), lieB mich - da ich gezwungen war, die Standpunkte meiner Kollegen und Kontrahenten in Sydney zu rezipieren und mich mit ihnen auseinanderzusetzen - die Starken ihrer Argumente und die Schwachen meiner eigenen Sichtweise verstehen lernen. Ich hoffe, dass niemand der Meinung ist, dass ich ihn ungebtihrend behandele, wenn ich an dieser Stelle nur besonders Jean Curthoys und Wal Suchting hervorhebe. Ich schlieBe mit einem herzlichen GruB an die Freunde, die keine Notiz von diesem Buch nehmen, es nicht lesen werden, und die mich ertragen mussten, wahrend ich dieses Buch geschrieben habe.

Alan Chalmers Sydney, 1976

Vorwort zur zweiten Auflage

Gemessen an den Reaktionen auf die erste Auflage dieses Buches, scheinen die ersten acht Kapitel die Erwartungen an eine „leichtverstandliche, klare und elementare Einfiihning in die neueren Betrachtungen uber das Wesen der Wissenschaft" recht gut zu erfullen. Im Allgemeinen schien jedoch auch Ubereinstimmung dartiber zu bestehen, dass dies fiir die letzten vier Kapitel nicht zutrifft. Folglich habe ich in dieser uberarbeiteten und erweiterten Auflage Kapitel eins bis acht nahezu unverandert gelassen und die letzten vier Kapitel durch sechs vollig neue ersetzt. Da eines der Probleme darin bestand, dass die letzten Kapitel der ersten Auflage nicht leicht zu verstehen waren, habe ich mich nun bemliht, die neuen Kapitel moglichst einfach zu gestalten, obschon ich befiirchte, dass mir dies bei dem recht anspruchsvollen Stoff der letzten beiden Kapitel nicht immer gegltickt ist. Auch wenn ich mich darum bemtiht habe, den Stoff moglichst einfach darzustellen, hoffe ich trotzdem, dass dadurch die Diskussion nicht weniger kontrovers ausgefallen ist. Ein anderes Problem bestand darin, dass der letzte Teil der ersten Auflage ausreichende Pragnanz vermissen lieB. Obwohl ich davon iiberzeugt bin, dass ich mit dem groBten Teil, den ich vorbrachte, auf der richtigen Spur war, ist es mir, wie mir meine Kritiker deutlich gemacht haben, gewiss nicht gelungen, eine in sich schliissige und gut begrundete Position darzustellen. Dieser Umstand kann jedoch nicht ausschlieBlich Luis Althusser angelastet werden, dessen Auffassungen zu der Zeit, als ich dieses Buch geschrieben hatte, sehr stark in Mode waren und dessen Einfluss in gewissem Umfange in dieser neuen Auflage noch immer deutlich wird. Ich habe daraus gelernt und werde mich davor hiiten, mich in Zukunft noch einmal zur unpassenden Zeit so sehr von dem letzten Schrei der Pariser Mode beeinflussen zu lassen. Meine Freunde Terry Blake und Denise Russell haben mich davon iiberzeugt, dass an den Schriften von Paul Feyerabend wesentlich mehr dran ist, als ich anfanglich bereit war, anzuerkennen. Ich habe ihm darum in dieser neuen Auflage mehr Aufmerksamkeit geschenkt und mich darum bemtiht, die Spreu vom Weizen zu trennen, den Anti-Methodismus vom Dadaismus. Auch fiihlte ich mich dazu verpflichtet, eine Unterscheidung zu treffen zwischen dem, was wirklich wichtig

XVI

ist, und dem „obskuren Unsinn von der Inkommensurabilitat unterschiedlicher Konzepte". Bei der Uberarbeitung dieses Buches verdanke ich sehr viel der Kritik meiner Kollegen, Rezensenten und Korrespondenten. Ich will gar nicht erst versuchen, sie alle namentlich zu erwahnen; ich weiB mich dessen schuldig und bedanke mich bei alien!

Alan Chalmers, Sydney, 1981

Vorwort zur dritten Auflage

Die vorliegende Neuauflage stellt eine vollige Uberarbeitung der vorangegangenen Auflage dar. Von dem bisherigen Text ist kaum etwas unverandert geblieben, einige Kapitel wurden vollstandig ersetzt und neue Kapitel kamen hinzu. Aus zwei Grtinden wurden diese Veranderungen notwendig. Erstens haben die zwanzig Jahre Lehrerfahrung im Bereich der Wissenschaftsphilosophie, die seit der ersten Auflage dieses Buches vergangen sind, dazu gefuhrt, dass ich einiges dazugelemt habe. Zweitens sind in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren einige wichtige Entwicklungen in der Wissenschaftsphilosophie zu verzeichnen, die in jedem Einfiihrungstext berucksichtigt werden sollten. Eine zurzeit recht einflussreiche wissenschaftsphilosophische Schule bezieht sich zum Beispiel auf den bayesschen Wahrscheinlichkeits-Begriff. Ein zweiter Trend, der „Neue Experimentalismus'\ legt den Schwerpunkt auf die Natur des Experiments und dessen RoUe in der Wissenschaft. In den Kapiteln 12 bzw. 13 werden diese Ansatze beschrieben und einer Bewertung unterzogen. Jiingere Arbeiten, wie zum Beispiel die von Nancy Cartwright, werfen Fragen zur Natur von Gesetzen und deren Rolle in den Wissenschaften auf, sodass auch zu diesem Thema ein Kapitel in die neue Auflage aufgenommen wurde. Das Gleiche gilt fur ein Kapitel, das zum Ziel hat, die Debatte zwischen Realismus und „Anti-Realismus" zu beleuchten. Ohne vorgeben zu wollen, die Antwort auf die Frage gefunden zu haben, die dem Titel dieses Buches zugrundeliegt, habe ich mich bemiiht, dem Leser eine anschauliche Einfuhrung in den aktuellen Stand wissenschaftstheoretischer Positionen zu geben. Fiir diejenigen, die die dargestellten Inhalte vertiefen wollen, finden sich am Ende jedes Kapitels Empfehlungen fiir weiterfiihrende Literatur. Ich will gar nicht erst versuchen, all die Kollegen und Studierenden hier anzufiihren, von denen ich Anregungen zur Verbesserung dieses Buches erhalten habe. Profitiert habe ich besonders von einem intemationalen Symposium mit dem Thema „What Is This Thing Called Science? Twenty Years On", das im Juni 1997 in Sydney stattfand. Ich mochte den Sponsoren dieses Symposiums, dem British Council, der University of Queensland Press, der Open University Press, der Hackett Publishing Company und dem Uitgeverij Boom danken sowie den KoUe-

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gen und Freunden, die mich bei diesem Vorhaben unterstiitzt haben. Die Veranstaltung hat viel dazu beigetragen, mich aufzubauen und mich zu motivieren, die Aufgabe in Angriff zu nehmen, dieses Buch zu uberarbeiten. Ein GroBteil der Arbeit erfolgte wahrend eines Research Fellowship am Dibner Institute for the History of Science and Technology (MIT). Auch hierfiir mochte ich meinen Dank aussprechen. Ein untersttitzenderes und der konzentrierten Arbeit zutraglicheres Umfeld konnte ich mir nicht wtinschen. Hasok Chang danke ich fur die sorgfaltige Lekture des Manuskripts und seine hilfreichen Anmerkungen.

Alan Chalmers, Cambridge, Mass., 1998

Einleitung

Wissenschaft genieBt hohes Ansehen. Offensichtlich ist es eine weit verbreitete Annahme, dass es mit der Wissenschaft und ihren Methoden etwas Besonderes auf sich habe. Die Bezeichnung einer Aussage, eines Gedankengangs oder eines Forschungsvorhabens als „wissenschaftlich" wird in einer Art und Weise vorgenommen, die einen Verdienst oder eine spezielle Art der Zuverlassigkeit impliziert. Aber was ist das Besondere an Wissenschaft? Was ist diese „wissenschaftliche Methode", die angeblich zu so besonders verdienstvollen oder zuverlassigen Ergebnissen ftihrt? Dieses Buch stellt einen Versuch dar, derartige Fragen zu beleuchten und zu beantworten. Eine Vielzahl von Indizien aus dem Alltagsleben sprechen dafur, dass Wissenschaft, trotz einiger Emiichterung wegen der ihr zugeschriebenen Konsequenzen, wie Atombomben und Umweltverschmutzung, hoch geachtet wird. In der Werbung wird haufig geltend gemacht, dass wissenschaftlich erwiesen sei, dass ein bestimmtes Produkt weiBer, leistungsfahiger, sexuell ansprechender oder in anderer Art und Weise einem Konkurrenzprodukt iiberlegen sei. Dies soil nahe legen, dass solche Aussagen besonders begriindet, eventuell sogar nicht anzweifelbar sind. Eine kurzlich erschienene Zeitungsanzeige, die fur die Glaubensgemeinschaft Christian Science warb, war uberschrieben mit „Die Wissenschaft spricht und sagt, dass die Bibel erwiesenermaBen wahr ist" und ftihrt im Weiteren an, dass „dies heutzutage selbst Wissenschaftler glauben". Hier haben wir einen direkten Ruckgriff auf die Autoritat von Wissenschaft und Wissenschaftlern. Was ist die Grundlage ftir eine solche Autoritat? Die hohe Achtung von Wissenschaft bleibt jedoch nicht beschrankt auf den Alltag oder die Massenmedien. Sie besteht nattirlich auch in der akademischen Welt selbst. Viele Gegenstandsbereiche werden von ihren Vertretem heute als Wissenschaften bezeichnet, vielleicht im Bemiihen darum, nahe zu legen, dass die eingesetzten Methoden genauso ftmdiert und potenziell finchtbar sind, wie zum Beispiel diejenigen traditioneller Wissenschaften wie Physik oder Biologic. Ftir poUtische und Sozialwissenschaften ist dies heute allgemein akzeptiert. Viele Marxisten bestehen darauf, dass der Historische Materialismus eine Wissenschaft ist. Daruber hinaus erscheinen in universitaren Vorlesungsverzeichnissen Bibliothekswissenschaften, Verwaltungswissen-

schaften, Sprechwissenschaften, Forstwissenschaften, Molkerei-, Fleisch- und Tierwissenschaften usw.^ So wird auch die Debatte uber den Status einer „Wissenschaft der Schopfung" noch immer gefuhrt. In diesem Kontext ist es notig zu erwahnen, dass Anhanger beider Seiten der Debatte annehmen, dass es so etwas wie eine spezielle Kategorie „Wissenschaft" gibt. Wortiber sie sich uneinig sind, ist, ob eine „Wissenschaft der Schopfung" als eine solche Wissenschaft begriffen werden kann. Viele Vertreter der sogenannten Sozial- oder Humanwissenschaften verfolgen eine Argumentation, die in aller Kurze etwa folgendermaBen lautet: „Der ohne Zweifel vorhandene Erfolg der Physik, der iiber die letzten 300 Jahre beobachtet werden kann, muss der Anwendung einer spezifischen Methode, der wissenschaftlichen Methode, zugeschrieben werden. WoUen die Sozial- bzw. Humanwissenschaften vergleichbare Erfolge erreichen, kann dies nur gelingen, indem diese Methode zunachst verstanden und formuHert und dann auf die Sozial- und Humanwissenschaften angewendet wird". Diese Argumentation wirft zwei grundsatzliche Fragen auf: „Was ist diese wissenschaftliche Methode, der der Erfolg der Physik zugeschrieben wird?" und „Ist es legitim, diese Methode auf andere Bereiche als der Physik zu tibertragen?" All dies macht deutlich, dass sowohl Fragen, die die Besonderheit wissenschaftlicher Erkenntnis im Gegensatz zu anderen Arten der Erkenntnis betreffen, als auch die exakte Identifikation der wissenschaftlichen Methode als auBerordentlich wichtig und konsequenzenreich angesehen werden. Wie wir jedoch noch sehen werden, ist es alles andere als einfach, diese Fragen zu beantworten. Im Allgemeinen wird intuitiv angenommen, das Besondere an Wissenschaft sei, dass sie eher auf Tatsachen als auf personlichen Meinungen basiert. Wahrend personliche Meinungen iiber die relative Bedeutung der Novellen Charles Dickens' gegenuber denen von D. H. Lawrence recht unterschiedlich ausfallen mogen, gibt es derlei Unterschiede uber die jeweiligen Vorzuge der galileischen gegeniiber der einsteinschen Relativitatstheorie nicht. Tatsachen bedingen die Uberlegenheit der einsteinschen Erkenntnisse iiber vorangegangene Ansatze zur Relativitat, und jeder, der dies nicht anerkennt, int. Wie wir sehen werden, kann die Idee, dass das spezifische Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis seine Fundierung auf Tatsachen sei, wenn uberhaupt, nur bedingt und in sehr vorsichtiger Art und Weise bestatigt werden. Wir werden auf begriindete Zweifel daran stoBen, dass Tatsachen, die auf der Grundlage von Wahrnehmung und Experimenten gewonnen werden, so offensichtlich und gesichert sind, wie traditionell angenommen. Wir werden ebenso feststellen, dass einiges dafiir spricht, dass wissenschaftliche Erkenntnis durch Tatsachen weder schliissig belegt noch schliissig verworfen werden kann, selbst wenn die Verfligbarkeit solcher Tatsachen vorausgesetzt werden kann. Einige der Argumente, die einen solchen Skeptizismus unterstiitzen, basieren auf der Analyse der Natur von Beobachtung sowie der Natur logischen Argumentierens und seiner Moglichkeiten. Andere beziehen sich auf die Geschichte der Wissenschaft und der gegenwartigen wissenschaftlichen Praxis. Neuere Entwicklungen von Theorien uber WisDiese Liste verdanke ich C. Trusedell, zitiert nach J. R. Ravetz (1971, S. 387f).

senschaft und wissenschaftliche Methoden schenken den historischen Aspekten zunehmend Aufmerksamkeit. Fur viele Wissenschaftsphilosophen ist eines der erstaunlichsten Ergebnisse dieser Strategic, dass die gemeinhin als besonders charakteristisch fur wesentliche Fortschritte angesehenen Entwicklungen in der Wissenschaftsgeschichte - seien es nun die Innovationen Galileis, Newtons, Darwins oder Einsteins - sich nicht so darstellen, wie sie es nach den ublichen wissenschaftsphilosophischen Ansatzen sollten. Eine Reaktion auf die Feststellung, dass wissenschaftliche Theorien weder falsifiziert noch verifiziert werden konnen und dass die Rekonstruktionen von Philosophen wenig Ahnlichkeit mit der aktuellen Realitat von Wissenschaft haben, besteht darin, die Idee voUig aufzugeben, Wissenschaft sei eine rationale Aktivitat, die nach spezifischen Methoden vorgeht. Dies ist der Reaktion Feyerabends (1983^) ahnlich, die ihn veranlasste, ein Buch mit dem Titel ,,Wider den Methodenzwang: Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie" zu verfassen. Entsprechend der extremen Sichtweise vor allem der spaten Werke Feyerabends, verftigt Wissenschaft nicht uber spezifische Merkmale, die sie anderen Arten von Erkenntnis, wie Mythen oder Voodoo, uberlegen macht. Eine hohe Achtung gegenuber der Wissenschaft sieht er als moderne Religion, die eine ahnliche Rolle spielt wie das filihe Christentum in Europa. Er bemerkt, dass die Wahl zwischen wissenschaftlichen Theorien reduziert werden kann auf Entscheidungen, die von individuellen Werten und Bedtirfiiissen determiniert sind. Feyerabends Skeptizismus gegentiber Versuchen, Wissenschaft zu rationalisieren, wird von neueren Autoren geteilt, die aus einer soziologischen oder sogenannten „postmodernen" Perspektive heraus argumentieren. Diese Art von Antwort auf die Schwierigkeiten der traditionellen Ansatze zur Wissenschaft und wissenschaftlichen Methode wird in diesem Buch nicht geteilt. Es wird vielmehr der Versuch untemommen, das anzunehmen, was an den Kritikpunkten Feyerabends und vieler anderer gultig ist. Daruber hinaus sollen die Besonderheiten und spezifischen Merkmale von Wissenschaft in einer Art und Weise beschrieben werden, dass diesen Kritikpunkten begegnet werden kann.

Wissenschaft als Erkenntnisform, die auf erfahrbaren Tatsachen beruht

1.1 Eine weitverbreitete Auffassung von Wissenschaft In der Einleitung wurde gesagt, dass eine populare Konzeption der spezifischen Merkmale von Wissenschaft in dem Slogan „Wissenschaft wird aus Tatsachen gewonnen" zusammengefasst werden kann. In den ersten vier Kapitebi dieses Buches wird diese Behauptung einer kritischen Pnifting unterzogen. Wir werden sehen, dass vieles, was dieser Slogan impliziert, nicht gerechtfertigt ist. Dennoch werden wir feststellen, dass dieser Slogan nicht vollig verfehlt ist, und es soil der Versuch untemommen werden, eine belegbare Version zu ft)miulieren. Wenn behauptet wird, dass Wissenschaft etwas Besonderes ist, weil sie auf Tatsachen basiert, so wird angenommen, dass Tatsachen Vermutungen uber die Welt darstellen, die uber einen sorgfaltigen und vorurteilsfi*eien Einsatz der Sinne direkt belegt werden konnen. Wissenschaft soil auf dem basieren, was wir sehen, horen und bertihren konnen und nicht auf personlichen Meinungen und spekulativen Vermutungen. Wenn die Beobachtung der Welt sorgfaltig und vorurteilsfrei vorgenommen wird, dann werden die solcherart festgestellten Tatsachen eine sichere und objektive Grundlage von Wissenschaft bilden. Wenn dartiber hinaus die Schlussfolgerungen angemessen sind, die uns von diesen Tatsachen zu Gesetzen und Theorien fuhren, die wissenschaftliche Erkenntnis konstituieren, dann kann das resultierende Wissen selbst als gut belegt und objektiv angesehen werden. Diese Aussagen sind das Gerust einer bekannten Sichtweise, die in einer Vielzahl von Publikationen uber Wissenschaft wiedergegeben wird. „Wissenschaft ist eine auf Tatsachen aufgebaute Struktur", schreibt Davies (1968, S. 8) in seinem Buch „0n the Scientific Method". Anthony (1948, S. 145) fiihrt hierzu Folgendes aus: Es waren weniger seine Beobachtungen und Experimente, die Galilei mit der Tradition brechen lieBen, als vielmehr seine Einstellung ihnen gegentiber. Er behandelte die Ergebnisse seiner Beobachtungen und Experimente als Tatsachen, die unabhangig von

einem vorgefassten Weltbild waren ... Die Tatsachen lieBen sich nicht unbedingt in ein anerkanntes System des Universums einordnen, aber Galilei war der Meinung, dass es von entscheidender Wichtigkeit sei, die Tatsachen hinzunehmen, um dann aus ihnen eine geeignete Theorie aufbauen zu konnen. Anthony gibt hier nicht nur eine klare Beschreibung der Sichtweise, dass wissenschaftliche Erkenntnis auf Tatsachen basiert, die durch Beobachtungen und Experimente belegt sind, sondern stellt auch einen historischen Bezug her. Er steht damit keineswegs allein. Es wird allgemein als historische Tatsache betrachtet, dass die moderne Wissenschaft im friihen 17. Jahrhundert entstanden ist, als die Strategic zum ersten Mai eingesetzt wurde, Beobachtungstatsachen als emstzunehmende Basis fiir die Wissenschaft zu betrachten. Diejenigen, die diese Sichtweise einnehmen und weiterentwickeln, meinen, dass beobachtbare Tatsachen vor dem 17. Jahrhundert keine ernstzunehmende Basis von Erkenntnis gebildet hatten. Vielmehr basiere Wissen hauptsachlich auf Autoritaten, besonders auf der des Aristoteles und der Bibel. Erst als diese Autoritaten, durch Pioniere der neuen Wissenschaft wie zum Beispiel Galilei, durch die Bezugnahme auf die Erfahrung in Frage gestellt wurden, war moderne Wissenschaft moglich. Die folgenden Ausfuhrungen zu der haufig wiedergegebenen Geschichte von Galilei und dem schiefen Turm von Pisa fasst diese Idee treffend zusammen (Rowbotham, 1918, S. 2729): Galileis erste Kraftprobe mit den Universitatsprofessoren betraf seine Forschungen liber die Bewegungsgesetze, wie sie mit fallenden Korpem illustriert wurden. Es war ein allgemein akzeptiertes Axiom von Aristoteles, dass die Geschwindigkeit fallender Korper von ihrem jeweiligen Gewicht abhangig ist: somit wiirde ein zwei Pftxnd schwerer Stein doppelt so schnell fallen wie ein Stein, der ein Pftind wiegt, und so weiter. Es schien niemand die Richtigkeit dieser Regel infrage zu stellen, bis Galilei sie leugnete. Er erklarte, dass das Gewicht bei dieser Frage keine Rolle spiele, und dass ... zwei Korper mit unterschiedlichem Gewicht ... zur selben Zeit auf dem Boden auftreffen wiirden. Als Galileis AuBerungen durch die Professoren verspottet wurden, entschloss er sich zu einem offentlichen Experiment. Er lud die gesamte Universitat ein, um Zeuge seines Experimentes zu werden, das er auf dem schiefen Turm von Pisa durchzuftihren plante. Am Morgen des festgelegten Tages stieg Galilei in Anwesenheit der versammelten Universitat und der Burger von Pisa zur Spitze des Turms auf Er trug zwei Kugeln bei sich, die eine wog hundert, die andere ein Pftind. Er balancierte die Kugeln vorsichtig auf der Kante der Brtistung und stieB sie gleichzeitig hinunter; alle konnten beobachten, wie sie gleichmaBig fielen und im nachsten Augenblick mit einem lauten Au^rall gleichzeitig auf dem Boden aufschlugen. Die alte Tradition war falsch, und die mo-

deme Wissenschaft, in der Person des jungen Entdeckers, hat ihre Position verteidigt. Zwei wissenschaftstheoretische Schulen haben das, was hier als eine gelaufige Sichtweise von Wissenschaft bezeichnet wurde, namlich, dass Wissen durch Tatsachen gewonnen wird, versucht zu formalisieren: die Empiristen und die Positivisten. Die britischen Empiristen des 17. und 18. Jahrhunderts, im Speziellen John Locke, George Berkeley und David Hume, vertraten den Standpunkt, dass Erkenntnis von Ideen hergeleitet sein soil, die wiederum auf der Sinneswahrnehmung beruhen. Die Positivisten hatten eine etwas weitere und weniger psychologisch orientierte Vorstellung uber die Rolle der Sinne, teilten jedoch die Annahmen der Empiristen, dass Erkenntnis auf erfahrbaren Tatsachen beruhen soil. Die logischen Positivisten, eine philosophische Schule, die in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Wien gegrundet wurde, bezogen sich auf den von Auguste Comte eingefiihrten Begriff des Positivismus und versuchten ihn zu formalisieren. Besondere Aufmerksamkeit widmeten sie der logischen Form der Beziehung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und den Tatsachen. Empiristen und Positivisten teilen die Sichtweise, dass wissenschaftliche Erkenntnis aus Tatsachen gewonnen sein soil, die auf Beobachtung beruhen. Zwei Aspekte konnen beztiglich der Behauptung, Wissenschaft basiere auf Tatsachen, unterschieden werden. Der erste betrifft die Natur dieser „Tatsachen" und die Frage, wie Wissenschaftler Zugang zu ihnen bekommen, der zweite die Frage, wie die Gesetze und Theorien, die unser Wissen konstituieren, aus diesen Tatsachen gewonnen werden konnen. Wir werden auf diese beiden Aspekte nacheinander eingehen. Dieses und die nachsten zwei Kapitel sind der Diskussion der Natur von Tatsachen gewidmet, auf denen Wissenschaft basieren soil; Kapitel 4 setzt sich mit der Frage auseinander, wie wissenschaftliche Erkenntnis daraus gewonnen werden kann. Drei Komponenten des Stellenwertes von Tatsachen fur die Wissenschaft konnen unterschieden werden. b)

Tatsachen sind den Beobachtem durch sorgfaltige und unvoreingenommene Beobachtung direkt zuganglich. c) Tatsachen gehen der Theorie voraus und sind von ihr unabhangig. d) Tatsachen konstituieren eine stabile und verlassliche Basis fur wissenschaftliche Erkenntnis.

Wie wir sehen werden, ist jede dieser Aussagen mit Schwierigkeiten verbunden und kann allenfalls bedingt akzeptiert werden. 1.2 Sehen heifit Glauben Zum einen, weil wir in der wissenschaftlichen Praxis unseren Gesichtssinn am meisten einsetzen miissen, zum anderen aus Grtinden der Bequemlichkeit, soil die Diskussion der Beobachtung auf diesen Bereich beschrankt werden. In den meis-

ten Fallen ist es unschwer zu erkennen, dass sich die angefuhrten Argumente auch auf die Wahmehmung durch andere Sinnesorgane tibertragen lassen. Eine einfache und allgemeinverstandliche Beschreibung konnte folgendermaBen aussehen: Fur das Sehen sind die wichtigsten Telle des menschlichen Auges Linse und Retina, wobei Letztere eine Art Leinwand darstellt, auf die Bilder von Gegenstanden projiziert werden, die sich auBerhalb des Auges befmden. Lichtstrahlen, die von einem betrachteten Gegenstand reflektiert werden, gehen von dem Gegenstand iiber das dazwischen liegende Medium zur Linse. Diese Strahlen werden durch die Linse derart gebrochen, dass sie in einem Brennpunkt auf der Retina gebundelt werden und so ein Bild des betrachteten Gegenstandes entsteht. Soweit ahnelt die Funktionsweise des Auges weitgehend der eines Photoapparates. Ein groBer Unterschied liegt jedoch in der Art und Weise, wie das endgultige Bild tatsachlich entsteht. Es laufen Augennerven von der Retina zur Gehimrinde. Sie leiten die Informationen liber den Lichteinfall auf unterschiedlichen Bereichen der Retina weiter. Die Aufzeichnung dieser Informationen durch das menschliche Gehim ist im Grunde das, was wir unter „Sehen" verstehen. Man konnte dieser einfachen Darstellung nattirlich noch viele Details hinzufugen, aber die hier gegebene Darstellung fasst den allgemeinen Grundgedanken hinreichend zusammen. Die vorangegangene kurze Darstellung der optischen Wahmehmung weist nachdriicklich auf zwei Punkte hin, die flir den Empiristen von besonderer Bedeutung sind. Erstens, dass fiir einen menschlichen Beobachter einige Eigenschaften der AuBenwelt mehr oder minder direkt zuganglich sind, insofern diese Eigenschaften beim Sehen durch das Gehirn aufgezeichnet werden. Zweitens, dass zwei normale Beobachter, die denselben Gegenstand oder denselben Vorgang von derselben Stelle aus betrachten, dasselbe „sehen". Das Auge eines jeden Beobachters wird durch eine identische Kombination von Lichtstrahlen getroffen, durch ihre Augenlinsen gebundelt und auf die Retina projiziert, wobei die gleichen Bilder entstehen. Die gleichen Informationen werden dann liber die Augennerven zu dem Gehim eines jeden Beobachters weitergeleitet, mit dem Ergebnis, dass zwei Beobachter dasselbe sehen. In den folgenden Abschnitten werden wu* sehen, warum diese Art der Darstellung irreflihrend ist.

1.3 Visuelle Erfahrungen werden nicht durch das Bild auf der Retina bestimmt Etwas verklirzt wird angenommen, dass sich uns die auBere Welt direkt liber die Sinnesorgane erschlieBt. Alles was wir tun mlissen, ist, der vor uns liegenden Welt gegenliberzutreten und „aufzuzeichnen", was es dort zu sehen gibt. Ich kann feststellen, dass auf meinem Schreibtisch eine Lampe steht oder dass mein Stifl gelb ist, indem ich registriere, was vor meinen Augen liegt. Wie wir sehen, kann eine solche Sichtweise durch das Wissen uber die Funktionsweise des Auges gestutzt werden. Wenn das alles ware, ware das Gesehene allein determiniert durch die Natur dessen, worauf wir blicken, und Beobachter wlirden alle die gleiche visuelle Erfahmng machen, wenn sie dasselbe beobachten. Allerdings gibt es eine Reihe von Belegen, dass dem nicht so ist.

Zwei normale Beobachter, die dasselbe Objekt von derselben Stelle aus, unter denselben auBeren Umstanden betrachten, miissen nicht unbedingt den gleichen visuellen Eindruck bekommen, obwohl die Bilder auf ihrer jeweiligen Retina vermutlich identisch sind. In einem entscheidenden Sinne „sehen" die beiden Beobachter nicht zwangslaufig das Gleiche. Hanson (1958) formulierte dies so: „Beim Sehen geht es urn mehr als lediglich um das, was einem ins Auge springt". Einige einfache Beispiele sollen diesen Punkt verdeutlichen. Die meisten von uns sehen, wenn sie zum ersten Mai die Figur in Abbildung 1 betrachten, die Zeichnung einer Treppe, von der man die Oberflachen der Stufen sieht. Dies ist jedoch nicht die einzige Moglichkeit, wie sie betrachtet werden kann. Ohne groBe Muhe kann sie auch als eine Treppe gesehen werden, von der man die Unterseite der Stufen sieht. Wenn man einige Zeit das Bild betrachtet, bemerkt man im Allgemeinen, dass das Bild regelmaBig ungewollt „umkippt". Mai sieht man die Treppe von unten, mal sieht man sie von oben. Und dennoch scheint die Annahme berechtigt zu sein, dass das Bild auf der Retina sich nicht verandert, da es sich ja nach wie vor um dasselbe Objekt handelt, das der Beobachter sieht. Ob man die Abbildung als die Oberflache oder als die Unterseite einer Treppe sieht, scheint von etwas anderem abzuhangen als von dem Bild auf der Retina. Es zweifelt wohl niemand von uns daran, dass in Abbildung 1 auf u*gendeine Art eine Treppe dargestellt ist. Experimente haben jedoch gezeigt, dass es bei einigen afrikanischen Stammen, in deren Kultur es nicht iiblich ist, dreidimensionale Gegenstande durch zweidimensionale, perspektivische Zeichnungen darzustellen, Abbildung 1 nicht als Treppe gesehen wird, sondem als zweidimensionales Linienmuster.

Abbildung 1

10 Wir mtissen also annehmen, dass die Art der Bilder, die auf der Retina entstehen, relativ kultumnabhangig ist. Es zeigt sich wiedemm, dass die wahrgenommenen Eindrticke, die der Beobachter beim Sehen hat, nicht einzig und allein durch das Bild auf der Retina bestimmt werden. Auf diesem Punkt wies Hanson (1958) hin und belegte ihn mit einer Reihe weiterer uberzeugender Beispiele. Ein anderes Beispiel liefert ein Bilderratsel fiir Kinder, bei dem es darauf ankommt, die Zeichnung eines menschlichen Gesichts in dem Laubwerk eines Baumes zu entdecken. Zunachst ist der subjektive Eindruck, den eine Person gewinnt, wenn sie die Zeichnung betrachtet, der, dass es sich um einen Baum mit Stamm, Blattem und Asten handelt. Dies andert sich jedoch, sobald die Person das menschliche Gesicht entdeckt hat. Was zunachst fur Laubwerk und Telle der Zweige gehalten wurde, wird nun als menschliches Gesicht gesehen. Wiederum sieht man vor und nach der Auflosung des Bilderratsels denselben Gegenstand, und vermutlich verandert sich in dem Moment, in dem die Auflosung gefunden und das Bild entdeckt wird, auch nicht das Bild auf der Retina des Beobachters. Wenn das Bild zu einem spateren Zeitpunkt noch einmal betrachtet wird, dann kann ein Beobachter, der das Bilderratsel schon einmal gelost hat, das Gesicht mtihelos wieder erkennen. In diesem Beispiel ist einmal mehr das, was ein Beobachter sieht, durch sein Wissen und seine Erfahrung beeinflusst. Was, so konnte man fragen, haben diese angefiihrten Beispiele mit Wissenschaft zu tun? Will man diese Frage beantworten, so fallt es nicht schwer, Beispiele aus der wissenschaftlichen Praxis zu finden, die genau diesen Punkt veranschaulichen. Diese Beispiele machen deutlich, dass das, was Beobachter sehen, die subjektiven Wahrnehmungen, die sie machen, wenn sie einen Gegenstand oder einen Vorgang betrachten, nicht einzig und allein durch die Bilder auf der Retina bestimmt wird, sondern auch von der Erfahrung, dem Wissen und den Erwartungen des Betrachters abhangig ist. Zentral ist die unbestreitbare Tatsache, dass man im Bereich der Wissenschaft lemen muss, ein kompetenter Beobachter zu sein. Jeder, der gelernt hat, durch ein Mikroskop zu sehen, muss von dieser Tatsache nicht Uberzeugt werden. Wenn ein Anfanger durch ein Mikroskop auf ein vom Fachmann angefertigtes Praparat blickt, ist es selten, dass er die tatsachliche Zellstruktur erkennen kann, auch wenn der Fachmann diese Probleme nicht hat, wenn er durch eben dieses Mikroskop auf dasselbe Praparat blickt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzustellen, dass Wissenschaftler keine groBen Schwierigkeiten hatten, unter angemessenen Umstanden eine Zellteilung zu beobachten, nachdem sie wussten, was sie beobachten sollten. Vor dieser Entdeckung blieben solche Zellteilungen unbeobachtet, obwohl wir heute wissen, dass sie in vielen der untersuchten Proben der Beobachtung zuganglich gewesen sind. In dem folgenden Abschnitt beschreibt Polanyi (1973, S. 101) die Veranderungen in den Beobachtungserfahrungen eines Medizinstudenten, wenn ihm beigebracht wird, wie er anhand eines Rontgenbildes eine Diagnose stellen kann: Man stelle sich einen Medizinstudenten vor, der eine Vorlesung besucht uber die Diagnose von Lungenkrankheiten mithilfe von Rontgenstrahlen. Er beobachtet in einem abgedunkelten Raum schattenhafte Spuren auf einem fluoreszierenden Schirm, der sich

11 vor der Brust eines Patienten befmdet, und hort die Erlauterungen des Radiologen gegeniiber seinen Assistenten, der sie in der Fachterminologie uber die wichtigsten Besonderheiten dieser Schatten informiert. Zunachst ist der Student vollig verwirrt. Er sieht namlich in dem Rontgenbild eines Brustkorbes bloB die Schatten des Herzens und der Rippen, mit einigen schemenhaften Flecken dazwischen. Es scheint so, als ob die Experten iiber die selbst ersonnenen Fiktionen ihrer eigenen Phantasie fabulieren wurden; unser Student ist nicht in der Lage etwas von dem zu entdecken, wortiber sie sprechen. Wenn er nun noch einige Wochen langer zuhort und dabei aufmerksam immer wieder neue Bilder von anderen Fallen betrachtet, dann wird bei ihm ein immer besseres Verstandnis fiir die Vorgange entstehen, die ihm zunachst unklar erschienen. Er wird allmahlich die Rippen bei seinen Betrachtungen auBer Acht lassen und beginnen, nur noch die Lunge zu sehen. Und endlich, wenn er intelligent genug ist, wird sich ihm ein Panorama an viel sagenden Einzelheiten enthtillen; physiologische Variationen und pathologische Veranderungen, Narben, chronische Infektionen und Zeichen emsthafter Krankheit. Er hat eine neue Welt betreten. Er sieht nach wie vor nur einen Bruchteil dessen, was die Experten sehen konnen, aber die Bilder ergeben nun sehr wohl einen Sinn und ebenso die meisten Bemerkungen, die gemacht werden. Bei identischen Gegebenheiten hat der erfahrene und geschulte Beobachter nicht die gleichen Wahrnehmungsfahigkeiten wie der Novize. Das passt nicht zu einem allzu wortlichen Verstandnis der Behauptung, dass Wahmehmungen auf einfachem Weg iiber die Sinne vermittelt werden. Eine gangige Reaktion auf die oben gemachten Aussagen tiber Beobachtung, die mit den herangezogenen Beispielen belegt wurden, ist die, dass die Beobachter, die denselben Vorgang von derselben Stelle aus betrachten, zwar genau dasselbe sehen, jedoch das Gesehene unterschiedlich interpretieren. Hier sind allerdings Zweifel angebracht. Was die Wahrnehmung betrifft, so hat der Beobachter einen direkten und unmittelbaren Zugang nur zu den von ihm selbst tatsachlich gemachten Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind nicht ein fur alle Mai vorgegeben und unveranderlich, sondem sie variieren mit dem Wissen und den vorangegangenen Erfahrungen des Beobachters. Lediglich das Bild auf der Retina des Beobachters ist eindeutig festgelegt. Wenn von der Annahme ausgegangen wird, dass in unserer Wahrnehmung etwas eindeutig gegeben ist, das auf unterschiedliche Weise interpretiert werden kann, dann wird ohne echte Beweisflihrung und ungeachtet vieler Gegenbeweise unterstellt, dass einzig und allein die Bilder unserer Retina unsere Wahrnehmungserfahrung determinieren. Die Analogic zu einem Photoapparat wird schlichtweg zu weit gefuhrt. Nach dieser Klarung soil deutlich herausgestellt werden, welcher Anspruch in diesem Abschnitt nicht erhoben werden soil, um damit die hier vertretene Position eindeutig zu umreiBen. Erstens soil sicher nicht behauptet werden, dass die physischen Ursachen fur die Bilder auf unserer Retina tiberhaupt nichts mit dem

12 zu tun haben, was wir sehen. Wir konnen nicht so einfach das sehen, was wir wollen. Zwar sind die Bilder auf unserer Retina zum Teil die Ursache fiir das, was wir sehen, jedoch wird ein anderer, sehr wesentlicher Teil durch den inneren Zustand unseres Gemtits oder Verstandes verursacht, der wiedemm deutlich von unserer kulturbedingten Erziehung, unserem Wissen, unseren Erwartungen etc. abhangt, und der nicht nur von den physikalischen Eigenschaften unserer Augen Oder des beobachteten Vorgangs bestimmt wird. Zweitens bleibt das, was wir sehen, unter vielen wechselnden Bedingungen und in den verschiedensten Situationen so gut wie unverandert. Die Abhangigkeit unseres Sehens von unserem Gemiits- oder Geisteszustand ist nicht so empfmdlich, dass Kommunikation und Wissenschaft dadurch unmoglich gemacht werden. Drittens sehen in den samtlich hier angeflihrten Beispielen alle Beobachter gewissermaBen das Gleiche. In diesem Buch wird die Position vertreten, dass unabhangig vom Beobachter nur eine, einzigartige, physische Welt existiert. Wenn folglich eine Anzahl von Beobachtern eine Photographic, den Teil eines Gerates, den Objekttrager eines Mikroskops oder was auch immer betrachten, dann werden sie gewissermaBen alle mit derselben Sache konfrontiert. Sie betrachten dieselbe Sache; und sie werden demnach auch dieselbe Sache „sehen". Hieraus darf man jedoch nicht schlieBen, dass sie die gleichen Wahmehmungserfahrungen machen. In einer entscheidenden Hinsicht sehen sie eben nicht dieselbe Sache, und genau darauf basieren die angefuhrten Zweifel an der Sichtweise, dass Tatsachen dem Beobachter unproblematisch und direkt iiber die Sinne vermittelt werden. Inwieweit dies auch wissenschaflliche Tatsachen betrifft, muss noch festgestellt werden.

1.4 Beobachtbare Tatsachen als Aussagen Im normalen Sprachgebrauch ist die Bedeutung des Begriffs der „Tatsache" mehrdeutig. Er kann sich auf eine Aussage beziehen, die auf die Tatsachen verweist oder er bezieht sich auf die Gegebenheiten selbst. Zum Beispiel ist es eine Tatsache, dass sich auf dem Mond Krater und Berge befinden. Hier kann die Tatsache als etwas verstanden werden, was sich auf die Krater und Berge selbst bezieht. Alternativ dazu kann die Aussage „Es gibt Krater und Berge auf dem Mond" die Tatsache darstellen. Wenn behauptet wird, dass Wissenschaft auf Tatsachen basiert bzw. aus ihnen gewonnen wird, ist fraglos die zuletzt genannte Interpretation angemessen. Wissen liber die Oberflache des Mondes basiert nicht auf Kratern und Bergen, sondem auf getroffenen Aussagen iiber Krater und Berge. Genauso wie Tatsachen, verstanden als Aussagen, getrennt werden miissen vom Zustand dessen, worauf sich die Aussagen beziehen, ist es selbstverstandlich notwendig, Aussagen iiber Tatsachen von den Wahrnehmungen zu trennen, die dazu gefuhrt haben, dass solche Aussagen als Tatsachen akzeptiert wurden. Dies war zum Beispiel ohne Frage der Fall, als Darwin seine beriihmte Reise auf der Beagle untemahm. Er entdeckte viele neue Pflanzen- und Tierarten und erlebte so eine Vielzahl neuer Wahmehmungserfahrungen. Er hatte jedoch keinerlei Beitrag zur Wissenschaft geleistet, wenn er es einfach dabei belassen hatte. Sein wissenschaftlicher Beitrag zur Biologic bestand vielmehr darin, dass er Aussagen formu-

13 lierte, die diese Entdeckungen beschrieben und sie dadurch anderen Wissenschaftlern zuganglich machte. In dem Umfang, in dem die Reise auf der Beagle neue Tatsachen hervorbrachte, aus denen eine Evolutionstheorie hervorgehen konnte, waren es Aussagen, die Tatsachen konstituierten. Diejenigen, die annehmen wollen, dass Wissen aus Tatsachen erwachst, miissen sich auf Aussagen beziehen und nicht auf Wahmehmungen oder Objekte wie Krater und Berge. Nach dieser Klarung wollen wir zu den Aussagen a) bis c) iiber die Natur von Tatsachen zuriickkehren, mit denen der erste Abschnitt dieses Kapitels abgeschlossen hat. Sie werden ausgesprochen problematisch. Angenommen, dass Tatsachen, die eine geeignete Basis ftir Wissenschaft darstellen, in der Form von Aussagen vorliegen miissen, erscheint die Annahme, dass Tatsachen direkt mittels der Sinne gewonnen werden, recht missverstandlich. Selbst wenn wir die in den vorangegangenen Abschnitten beleuchteten Schwierigkeiten beiseite lassen und annehmen, dass Wahrnehmungen direkt durch den Akt des Sehens vermittelt werden, kann mit Sicherheit nicht gesagt werden, dass Aussagen, die beobachtbare Zustande beschreiben (sie sollen Beobachtungsaussagen genannt werden), dem Beobachter durch die Sinne vermittelt werden. Es ist absurd anzunehmen, dass Aussagen (iber Tatsachen das Gehim uber die Sinne erreichen. Bevor ein Beobachter eine Beobachtungsaussage formulieren und ihr zustimmen kann, muss er im Besitz des entsprechenden konzeptuellen Rahmens sein und wissen, wie er angemessen angewendet werden kann. Dieser Sachverhalt wird klar, wenn wir betrachten, wie ein Kind lernt, die Welt zu beschreiben, das heiBt, sachliche Aussagen zu machen. Man denke zum Beispiel an ein Kind, das von seinen Eltem beigebracht bekommt, einen Apfel zu erkennen und zu beschreiben. Sie zeigen dem Kind einen Apfel, deuten auf ihn und sagen „Apfel". Nachahmend lernt das Kind bald, den Begriff „Apfel" zu wiederholen. Hat es diese spezielle Fahigkeit einmal erworben, wird das Kind vielleicht wenige Tage spater den Tennisball seiner Geschwister bemerken, auf ihn deuten und „Apfel" sagen. In diesem Moment werden Eltem eingreifen und erklaren, dass ein Ball kein Apfel ist, indem sie zum Beispiel demonstrieren, dass man nicht hineinbeiBen kann, wie in einen Apfel. Andere Fehleinschatzungen des Kindes, wie zum Beispiel die Identifikation eines Schokoladenapfels als Apfel bedlirfen etwas elaborierterer Erklarungen seitens der Eltem. Mit der Zeit kann ein Kind erfolgreich einen Apfel benennen, wenn er vorhanden ist und hat eine Menge uber Apfel gelemt. Aus dieser Warte ist es falsch anzunehmen, dass wu- Tatsachen Uber Apfel erst beobachten mussen, um Wissen liber diese Tatsachen zu erlangen, weil geeignete Tatsachen, formuliert als Aussagen, eine Menge an Wissen iiber Apfel voraussetzt. Wir wollen von unserer Betrachtung iiber Kinder zu einigen Beispielen kommen, die for unser Verstandnis von Wissenschaft relevant sind. Stellen wir uns einen erfahrenen Botaniker vor, der von einer Person wie mir, die kaum Wissen uber Botanik hat, auf eine Fahrt in den australischen Busch begleitet wird, bei der beobachtbare Tatsachen iiber die dortige Flora gesammelt werden sollen. Ohne Zweifel wird der Botaniker wesentlich mehr und wesentlich vielschichtigere Fakten sammebi, als ich beobachten und formulieren kann. Der Gmnd steht auBer Frage: Der Botaniker verfugt uber elaboriertere konzeptuelle Schemata als ich, weil er iiber mehr botanisches Wissen verfiigt. Wissen iiber Botanik ist eine Vor-

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aussetzung fiir die Formuliemng von Beobachtungsaussagen, die ihre sachliche Basis bilden. Die Aufzeichnung beobachtbarer Tatsachen bedarf mehr, als die Wahmehmung eines Stimulus in Form von Lichtstrahlen, die auf das Auge treffen. Es bedarf des geeigneten konzeptuellen Schemas und des Wissen, wie dies angewendet wird. In diesem Sinne konnen die Aussagen a) und b) im wortlichen Sinne nicht akzeptiert werden. Aussagen uber Tatsachen sind nicht direkt durch Sinnesreize determiniert, und Beobachtungsaussagen setzen Wissen voraus, sodass es nicht moglich ist, erst die Tatsachen festzustellen und dann daraus Wissen abzuleiten.

1.5 Warum soUten Tatsachen der Theorie vorausgehen? Unser Ausgangspunkt war eine extreme Interpretation der Aussage, dass Wissenschaft auf Tatsachen beruht. Damit sollte impHziert werden, dass Tatsachen vor dem Erreichen wissenschaftlicher Erkenntnis durch sie erwiesen sein mtissen. Zuerst sollen die Tatsachen belegt werden, dann kann eine Theorie entwickeh werden, die ihnen entspricht. Sowohl die Tatsache, dass unsere Wahrnehmung in gewissem Umfang von unserem vorhandenen Wissen, davon, wie wir auf die Situation vorbereitet sind und unseren Erwartungen abhangt, als auch die Tatsache, dass Beobachtungsaussagen einen geeigneten konzeptuellen Rahmen voraussetzen, zeigen, dass dieser Forderung auf keinen Fall nachgekommen werden kann. Bei genauerer Betrachtung ist es sogar eine ziemlich abwegige Idee, so abwegig, dass sich wohl kein Wissenschaftsphilosoph finden wtirde, der bereit ware, sie zu verteidigen. Wie konnen wir bedeutsame Tatsachen uber die Welt durch Beobachtung belegen, wenn wir keinerlei Vorstellung davon haben, nach welcher Art von Wissen wir suchen oder welche Probleme wir losen wollen? Um Beobachtungen vornehmen zu konnen, die einen bedeutsamen Beitrag zur Botanik leisten, benotigen wir eine Menge Wissen iiber Botanik. Dartiber hinaus ist die Idee, die Angemessenheit wissenschaftlicher Erkenntnis durch beobachtbare Tatsachen zu tiberpriifen, im Rahmen einer guten Wissenschaft sinnlos, wenn die relevanten Tatsachen der Erkenntnis, die sie belegen sollen, immer vorangehen mussen. Unsere Suche nach relevanten Tatsachen muss von unserem momentanen Wissensstand geleitet sein, das uns zum Beispiel sagt, dass die Messung der Ozonkonzentration an verschiedenen Orten der Atmosphare relevante Tatsachen liefert, wahrend die Messung der Haarlange Jugendlicher in Sydney dies nicht tut. Die Forderung, dass die Sammlung von Tatsachen vor der Formuliemng von Gesetzen und Theorien, die wissenschaftliche Erkenntnis konstituieren, stehen muss, muss daher fallen gelassen werden. Wir wollen stattdessen sehen, was von dem Gedanken, Wissenschaft basiere auf Tatsachen, gerettet werden kann. Entsprechend dieser modifizierten Herangehensweise kann zugestanden werden, dass die Formuliemng von Beobachtungsaussagen wissenschaftliche Erkenntnis voraussetzt und dass in der Wissenschaft die Suche nach relevanten beobachtbaren Tatsachen von diesem Wissen geleitet wird. Keines dieser Zugestandnisse unterminiert notwendigerweise die Annahme, Erkenntnis habe in der

15 Beobachtung eine sachliche Basis. Wenden wir uns zunachst dem Punkt zu, dass die Formuliemng von Beobachtungsaussagen das Wissen uber einen geeigneten konzeptuellen Rahmen voraussetzt. Hier sei angemerkt, dass die Verfiigbarkeit eines solchen Rahmens davon unterschieden werden muss, ob die Beobachtungsaussagen richtig Oder falsch sind. Ein Blick in mein Physikbuch fordert zum Beispiel zwei Beobachtungsaussagen zutage: „Die kristalline Struktur von Diamanten weist eine Inversions-Raumsymmetrie auf und „In einem Kristall des Zinksulfids gibt es vier Molekule pro Elementarzelle". Ein gewisser Umfang von Wissen uber die Struktur von Kristallen und wie sie charakterisiert werden konnen ist notig, um solche Aussagen formuHeren und verstehen zu konnen. Aber auch, wenn man dieses Wissen nicht hat, ist es mogHch, ahnliche Aussagen mit denselben Begriffen zu formuHeren, Aussagen wie „Die kristalHne Struktur von Diamanten weist keine Inversionssymmetrie auf oder „In einem Kristall des Diamanten gibt es vier Atome pro Elementarzelle". All diese Aussagen Beobachtungsaussagen in dem Sinne, dass dann, wenn die geeigneten Beobachtungstechniken beherrscht werden, durch Beobachtung uberprtift werden kann, ob sie richtig oder falsch sind. Ist dies geschehen, werden lediglich die Satze aus meinem Physikbuch bestatigt, wahrend die alternativen Formulierungen zurtickgewiesen werden. Das illustriert den Punkt, dass die Tatsache, dass Wissen notwendig ist, um bedeutsame Beobachtungsaussagen vorzunehmen, die Frage offen lasst, welche der so formulierten Aussagen auf Beobachtungen basieren und welche nicht. Folglich wird die Forderung, Wissen solle auf Tatsachen basieren, die durch Beobachtungen bestatigt sind, nicht dadurch infrage gestellt, dass anerkannt wird, dass die Formulierung von Aussagen, die solche Tatsachen beschreiben, theorieabhangig ist. Ein Problem entsteht erst, wenn an der Forderung festgehalten wird, die fiir Wissen relevanten Tatsachen mtissten dem Erwerb von Wissen vorausgehen. Die Forderung, Wissenschaft solle auf Tatsachen basieren, die durch Beobachtung gewonnen wurden, muss also nicht angezweifelt werden, wenn anerkannt wird, dass die Suche nach und die Formulierung von solchen Tatsachen theorieabhangig ist. Wenn der Wahrheitsgehalt von Beobachtungsaussagen auf direktem Weg uber Beobachtung festgestellt werden kann, dann scheint es so, als konnten Beobachtungsaussagen eine bedeutsame, auf Tatsachen beruhende Basis fur wissenschaftliche Erkenntnis bilden - unabhangig davon, auf welchem Weg solche Beobachtungsaussagen formuliert wurden.

1.6 Die Fehlbarkeit von Beobachtungsaussagen Auf der Suche nach einer Charakterisierung der Beobachtungsgrundlage von Wissenschaft haben wir einige Fortschritte gemacht. Alle Probleme sind jedoch nicht behoben. Im vorangegangenen Abschnitt hat unsere Analyse vorausgesetzt, dass der Wahrheitsgehalt einer Beobachtungsaussage auf unproblematische Art und Weise durch Beobachtungen belegt werden kann. Wir haben jedoch auch gesehen, wie Probleme dadurch entstehen konnen, dass verschiedene Beobachter nicht notwendigerweise die gleiche Wahrnehmung haben, wenn sie dasselbe sehen, was zu unterschiedlichen Auffassungen dariiber fuhren kann, was der be-

16 obachtbare Zustand eines Sachverhalts ist. Die Bedeutsamkeit dieses Arguments fiir die Wissenschaft machen gut dokumentierte Fallbeispiele aus der Wissenschaftsgeschichte deutlich, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung daruber, ob die Effekte der sogenannten N-Strahlen beobachtbar sind oder nicht (vgl. Nye, 1980) Oder die Auseinandersetzungen zwischen Astronomen aus Sydney und Cambridge daruber, was in den frUhen Jahren der Erforschung von Radiowellen beobachtbare Tatsachen waren (vgl. Edge & Mulkay, 1976). Bisher haben wir wenig dazu gesagt, wie auf dem Hintergrund solcher Probleme eine sichere Beobachtungsgrundlage fiir Wissenschaft gefimden werden kann. Weitere Schwierigkeiten beziiglich der Zuverlassigkeit der Beobachtungsgrundlage von Wissenschaft entstehen daraus, dass auf der Grundlage vorausgesetzten Wissens Beobachtungsaussagen als falsch beurteilt werden konnen. An einigen Beispielen soil dies illustriert werden. Unter den vier Elementen, aus denen alle terrestrischen Objekte bestehen sollten, befand sich nach Aristoteles auch das Feuer. Die Annahme, Feuer sei eine spezifische Substanz, wenn auch eine sehr leichte, hielt sich hunderte von Jahren, und erst die modeme Chemie stellte diese Annahme griindlich infrage. Diejenigen, die mit dieser Grundannahme arbeiteten, meinten, dass sie Feuer direkt beobachten, wenn sie Flammen in die Luft steigen sahen, sodass far sie die Beobachtungsaussage „Das Feuer steigt auf haufig auf direkter Beobachtung basierte. Heute weisen wir solche Beobachtungsaussagen zuriick. Tatsache ist, dass dann, wenn das Wissen, das die Kategorien zur Beschreibung von Beobachtungen liefert, fehlerhaft ist, die Beobachtungsaussagen, die auf solchem Wissen basieren, ebenfalls fehlerhaft sind. Ein zweites Beispiel betrifft die im 16. und 17. Jahrhundert anerkannte Erkenntnis, dass sich die Erde bewegt, indem sie sich um ihre eigene Achse dreht und die Sonne dabei umkreist. Von den Entwicklungen, die diese Erkenntnis moglich machten, kann gesagt werden, dass die Aussage „Die Erde bewegt sich nicht" eine Tatsache darstellte, die durch Beobachtungen belegt wurde. SchlieBlich konnen wir die Bewegung der Erde nicht sptiren oder sehen, und wenn wir in die Luft springen, bewegt sich die Erde nicht unter unseren FtiBen weiter. Auf der Grundlage einer modernen Sichtweise wissen wir, dass die Beobachtungsaussage trotz dieser Phanomene falsch ist. Wir kennen den Begriff der Tragheit und wissen, dass sich an der Tatsache, dass wir uns durch die Drehung der Erde in einer Geschwindigkeit von 100 Metern pro Sekunde in horizontaler Richtung vorwarts bewegen, nichts verandert, indem wir in die Luft springen. Um Geschwindigkeit zu verandern, bedarf es einer Krafteinwirkung, und in unserem Beispiel gibt es keine horizontal wirkenden Krafte. Wir behalten die horizontale Geschwindigkeit, die wir mit der Erde teilen, bei und landen, wo wir abgesprungen sind. Die Aussage „Die Erde bewegt sich nicht" wird nicht in der Art und Weise durch Beobachtungen belegt, wie man fi-tiher angenommen hatte. Aber um dies wirklich zu verstehen, brauchen wir Wissen uber die Tragheit, eine Innovation des 17. Jahrhunderts. Wir haben hier ein Beispiel dafiir, wie die Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Beobachtungsaussage von dem Hintergrundwissen abhangt, auf dessen Grundlage diese Beurteilung vorgenommen wurde. Es scheint, als hatte die wissenschaftliche Revolution nicht nur eine fortschrittliche Veranderung der wissen-

17 schaftlichen Theorie mit sich gebracht, sondern auch eine Veranderung dessen, was als beobachtbare Tatsache angesehen wird. Der zuletzt genannte Punkt soil anhand eines dritten Beispiels illustriert werden. Es betrifft die GroBe der Planeten Mars und Venus, wie sie im Verlauf eines Jahres von der Erde aus wahrgenommen werden kann. Es ist eine Konsequenz der kopemikanischen Vermutung, dass sich die Erde in einer Umlaufbahn um die Sonne dreht, die auBerhalb derjenigen der Venus und innerhalb der des Mars liegt, dass sich die angenommene GroBe von Venus und Mars im Verlauf eines Jahres erheblich verandert. Das liegt daran, dass die Erde in relativer Nahe zu den jeweiligen Planeten liegt, wenn sie sich auf derselben Seite der Sonne befmden. Ist die Erde jedoch auf der anderen Seite der Sonne als diese Planeten, wirkt die Entfernung deutlich groBer. Betrachtet man diesen Sachverhalt quantitativ, wie das in Kopernikus' eigener Version dieser Theorie moglich ist, ist dieser Effekt mit einer vorhergesagten Veranderung des wahrgenommenen Durchmessers um einen Faktor von etwa acht beim Mars und einem Faktor von etwa sechs bei der Venus messbar. Betrachtet man die Planeten jedoch mit bloBem Auge, kann bezuglich der GroBe der Venus keine Veranderung festgestellt werden, wahrend die Veranderung der GroBe des Mars etwa den Faktor zwei aufweist. So wurde die Beobachtungsaussage „Die GroBe der Venus verandert sich im Jahres verlauf nicht" klar bestatigt und sogar im Vorwort zu Kopernikus' ..Revolution der Himmlischen Sphdrert' als eine Tatsache erwahnt, die „durch Erfahrungen aller Zeitalter" (Duncan, 1976, S. 22) bestatigt wurde. Osiander, der Autor dieses Vorwortes, war so beeindruckt von dem Auseinanderklaffen der Konsequenzen aus der Theorie Kopernikus' und den „beobachtbaren Tatsachen", dass er dies zum Anlass nahm, anzufuhren, dass die Theorie von Kopernikus nicht wortlich genommen werden sollte. Wir wissen heute, dass Beobachtungen der PlanetengroBe mit bloBem Auge fehlerbehaftet sind, und dass das Auge kein geeignetes Werkzeug zur Messung der GroBe kleiner Lichtquellen auf dunklem Hintergrund ist. Aber es bedurfte Galilei, dies herauszustellen und zu zeigen, dass der vorhergesagte GroBenunterschied deutlich wahrgenommen werden kann, wenn Venus und Mars durch ein Teleskop betrachtet werden. Hier haben wir ein gutes Beispiel daftir, wie die Korrektur von Fehleinschatzungen beobachtbarer Tatsachen durch verbessertes Wissen und geeignetere Technologien moglich ist. Fiir sich selbst gesehen ist dieses Beispiel nicht weiter bemerkenswert und wenig mysteries. Aber es zeigt, dass jede Sichtweise der Aussage, dass wissenschaftliche Erkenntnis auf beobachtbaren Tatsachen beruht, beinhaltet, dass sowohl die Tatsachen als auch das Wissen fehlbar und Gegenstand von Korrekturen sein konnen und dass eine gegenseitige Abhangigkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis und den Tatsachen, auf denen sie beruht, besteht. Die intuitive Annahme, die mit der These „Wissenschaft basiert auf Tatsachen" in Worte gefasst wurde, bezieht sich darauf, dass Wissenschaft zum Teil deswegen einen besonderen Status hat, weil sie auf einer sicheren Basis grundet: verlasslichen Tatsachen, die durch Beobachtung belegt sind. Einige Erwagungen dieses Kapitels stellen eine Herausforderung fiir diese Sichtweise dar. Eine Schwierigkeit bezieht sich auf den Umfang, in dem Wahmehmung durch das Hintergrundwissen und die Erwartungen von Beobachtem beeinflusst wird, sodass

das, was fiir den einen eine beobachtbare Tatsache ist, fiir andere nicht zwangslaufig so sein muss. Eine zweite Schwierigkeit bezieht sich auf den Umfang, in dem Beurteilungen des Wahrheitsgehalts von Beobachtungsaussagen davon abhangen, was bereits gewusst bzw. zumindest angenommen wird, sodass beobachtbare Tatsachen ebenso fehlerbehaftet sein konnen wie die Vorannahmen, die ihnen zugrundeliegen. Beide Schwierigkeiten legen nahe, dass die Beobacbtungsgrundlage von Wissenschaft nicht so klar und sicher ist, wie gemeinhin angenommen. Im nachsten Kapitel soil versucht werden, diese Befiirchtungen etwas abzuschwachen, indem die Natur von Beobachtungen, wie sie in der Wissenschaft vorgenommen werden, etwas differenzierter betrachtet werden soil, als dies bisher geschehen ist.

Weiterfuhrende Literatur Zur klassischen Diskussion der empiristischen Ansatze siehe Locke (1913). Zur Position des Logischen Positivismus siehe Ayer (1940). Hanfling (1981) bietet eine allgemeine Einflihrung in den Logischen Positivismus, inklusive seines Beitrags zur Beobacbtungsgrundlage von Wissenschaft. Eine auf der Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung basierende kritische Darstellung mit dieser Position leistet Hanson (1958, Kap. 1). Nutzliche Diskussionen des gesamten Themengebiets fmden sich bei Brown (1977) und Barnes, Bloor & Henry (1996, Kap. 1-3).

Beobachtung als Intervention

2.1 Beobachtung: passiv und privat oder offentlich und aktiv? Eine Reihe von Philosophen sehen Beobachtung als etwas Passives und Privates. Passiv insofem, als wir zum Beispiel beim Sehen lediglich unsere Augen offtien, sie auf etwas richten, die Informationen auf uns einstromen lassen und das registrieren, was zu sehen ist. Wahmehmung wird als etwas verstanden, das Tatsachen, wie zum Beispiel „Vor mir liegt eine rote Tomate", direkt validiert. SchlieBt man sich einer solchen Sichtweise an, ist das Belegen beobachtbarer Tatsachen eine personliche Angelegenheit. Sie liegt vollstandig beim Individuum, das durch den Akt der Wahmehmung auf das achtet, was ihm prasentiert wird. Da zwei Beobachter keinen Zugang zu den Wahmehmungen des jeweils anderen haben, besteht keine Moglichkeit, uber die Validitat der angenommenen Tatsachen in den Dialog zu treten. Dieses Verstandnis von Wahrnehmung oder Beobachtung, als etwas Passives und Privates, ist inadaquat und stellt keinen angemessenen Zugang zur Beobachtung dar - nicht im Alltag und erst recht nicht in der Wissenschaft. Alltagsbeobachtung ist weit davon entfemt, passiv zu sein. Es werden eine Reihe von Verhaltensweisen ausgefuhrt, viele davon automatisch und vielleicht sogar unbewusst, um die Validitat von Beobachtungen zu belegen. Beim Akt des Sehens werden Objekte registriert, indem wir unseren Kopf drehen, um vermutete Veranderungen des beobachteten Szenarios zu iiberprufen. Wenn wir uns nicht sicher sind, ob das, was wu- durch ein Fenster sehen, etwas auBerhalb des Fensters ist oder eine Reflexion auf der Scheibe, konnen wir unseren Kopf bewegen, um festzustellen, ob dies einen Einfluss auf die Richtung, in der das Objekt gesehen wird, hat. Allgemein gilt, dass immer dann, wenn an der Validitat einer Beobachtung gezweifelt wird, eine Reihe von Verhaltensweisen ausgefuhrt werden, um diese Zweifel auszuraumen. Haben wir zum Beispiel Anlass zur Vermutung, dass die im zuvor genannten Beispiel angesprochene Tomate eher eine gut gemachte optische Tauschung darstellt als eine reale Tomate, konnen wir sie beruhren, ihren Geschmack Uberprtifen oder sie auseinanderschneiden.

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Mit diesen elementaren Beobachtungen wurde nur die Oberflache dessen bertihrt, was Psychologen zu den Verhaltensweisen aussagen, die von Individuen im Verlauf des Prozesses der Wahmehmung an den Tag gelegt werden. Noch wichtiger ist es, diesen Punkt auf die Rolle der Beobachtung im Rahmen von Wissenschaft zu beziehen. Ein Beispiel, das dies gut illustriert, stammt aus den Anfangen des Einsatzes von Mikroskopen. Zumindest am Anfang bestand zwischen Forschern, wie zum Beispiel Robert Hooke oder Henry Powers, die Mikroskope einsetzten, um kleine Fliegen oder Ameisen zu beobachten, haufig Uneinigkeit tiber die beobachtbaren Tatsachen. Hooke flihrte einige dieser Uneinigkeiten auf unterschiedliche Beleuchtung zuruck. Er wies darauf hin, dass das Auge einer Fliege unter der einen Bedingung wie ein Gitter erscheint, das voller Locher ist (die mit der Bedingung Ubereinstimmte, die Powers zu eben dieser Aussage veranlasste), wahrend es unter anderen Lichtverhaltnissen mit Kegeln oder Pyramiden bedeckt erscheint. Im Weiteren entwickelte Hooke einige praktische Interventionen, um dieses Problem zu losen. Er bemiihte sich darum, irrefuhrende Informationen, die auf Blendung und komplizierte Reflexionen zuriickzufiihren waren, dadurch zu eliminieren, dass er die Proben einheitlich beleuchtete. Dazu arbeitete er mit Kerzenlicht, das durch eine Salzlosung diffus gemacht wurde. Ebenso beleuchtete er seine Proben aus unterschiedlichen Richtungen, um festzustellen, welche Merkmale unter verschiedenen Bedingungen invariant blieben. Um sie bewegungslos zu halten und sie nicht zu verletzen, bedurften einige der Insekten einer Betaubung durch Brandy. Hookes Buch Micrographia (1665) enthalt eine Vielzahl von Beschreibungen und Zeichnungen, die aus seinen Versuchen und Beobachtungen resultieren. Diese sind offentlich und nicht privat. Sie konnen gepruft, kritisiert und durch andere erweitert werden. Wenn das Auge einer Fliege bei einer bestimmten Beleuchtung voller Locher erscheint, kann dies nicht durch die individuelle Wahmehmung allein belegt werden. Hooke zeigte, was getan werden kann, um die Authentizitat solcher Erscheinungen zu tiberprlifen, und die Strategien, die er empfiehlt, konnen von jedem, der dies tun mochte und iiber die entsprechenden Moglichkeiten verfiigt, nachvollzogen werden. Die so gewonnenen Tatsachen tiber die Struktur des Auges einer Fliege resultieren aus einem Prozess, der beides ist, aktiv und offentlich. Die Moglichkeit, aktives Eingreifen heranzuziehen, um die Angemessenheit von Aussagen, die als beobachtbare Tatsachen angesehen werden, zu uberpriifen, hat zur Folge, dass die subjektiven Aspekte von Wahrnehmung kein unlosbares Problem flir die Wissenschaft darstellen mtissen. Im vorangegangenen Kapitel wurde die Art und Weise diskutiert, in der Wahrnehmungen desselben Szenarios sich je nach Hintergrund, Kultur und Erwartung von Beobachtem unterscheiden. Problemen, die auf diese Tatsache zuriickgefuhrt werden konnen, kann durch geeignetes aktives Eingreifen begegnet werden. Es ist nicht neu, dass die Wahrnehmungsaussagen von Individuen aus einer Reihe von Griinden nicht zuverlassig sein konnen. Die spezifische Herausforderung in der Wissenschaft ist es, beobachtbare Situationen so zu arrangieren, dass solche Unzuverlassigkeiten minimiert, wenn nicht sogar eliminiert wird. Ein oder zwei Beispiele sollen dies illustrieren.

21 Die Mondtauschung ist ein allgemein bekanntes Phanomen. Steht der Mond hoch am Himmel, erscheint er kleiner, als wenn er nahe am Horizont liegt. Das ist eine Tauschung. Wahrend der wenigen Stunden, die notig sind, um die Positionen zu erreichen, mit denen dieser GroBenunterschied einhergeht, verandert der Mond weder seine GroBe noch seine Entfemung zur Erde. Wir mtissen uns jedoch nicht auf subjektive Einschatzungen der GroBe des Mondes verlassen. Man kann zum Beispiel ein mit quer gespannten Drahten ausgertxstetes Femrohr so installieren, dass seine Ausrichtung auf einer Skala abgelesen werden kann. Der dem Mond zum Zeitpunkt der Messung gegentiberliegende Winkel kann durch Ausrichten der Drahte auf die Seiten des Mondes bestimmt werden, und so kann die Differenz durch Ablesen der entsprechenden Skalenwerte ermittelt werden. Diese Messung lasst sich einmal ausfuhren, wenn der Mond hoch am Himmel steht, und ein zweites Mai, wenn er sich am Horizont befmdet. Die Tatsache, dass die GroBe des Mondes sich nicht verandert hat, wird dadurch bestatigt, dass zwischen den abgelesenen Werten keine bedeutsamen Unterschiede bestehen.

2.2 Galilei und die Monde des Jupiters In diesem Abschnitt soil die Bedeutung der im letzten Kapitel diskutierten Sachverhalte an einem historischen Beispiel illustriert werden. Gegen Ende des Jahres 1609 konstruierte Galilei ein leistungsstarkes Teleskop und benutzte es, um den Himmel zu beobachten. Viele der neuartigen Beobachtungen, die er in den folgenden drei Monaten machte, waren umstritten und sehr relevant fiir die astronomische Debatte iiber die Gultigkeit der kopernikanischen Theorie, deren eifriger Verfechter Galilei wurde. Er behauptete zum Beispiel, vier Monde des Jupiters gesehen zu haben. Er hatte jedoch Schwierigkeiten damit, andere von der Giiltigkeit dieser Behauptung zu uberzeugen. Der Grund war Folgender: Die kopemikanische Theorie beinhaltete die umstrittene Aussage, dass sich die Erde einmal im Laufe eines Tages um ihre eigene Achse drehe und einmal im Laufe eines Jahres die Sonne umkreise. Die gangige Ansicht, die Kopemikus in der ersten Halfte des vorherigen Jahrhunderts angriff, war jedoch, dass sich die Erde nicht bewege und dass die Planeten und die Sonne um sie kreisten. Eines der vielen, keineswegs trivialen Argumente gegen die Erdbewegung bestand darin, dass sie den Mond hinter sich lieBe, wenn sie - wie Kopernikus behauptete - die Sonne umkreiste. In dem Moment, wo festgestellt wird, dass der Jupiter Monde hat, wird dieses Argument widerlegt, weil sogar die Gegner von Kopemikus anerkannten, dass sich der Jupiter bewegt. Er ftihrt also seine Monde mit sich und zeigt damit genau das Phanomen, von dem die Gegner Kopernikus' behaupteten, dass es in Bezug auf die Erde unmoglich sei. Den Nachweis zu liefern, ob Galileis teleskopische Beobachtungen der Jupitermonde Gtiltigkeit besaBen, war eine Frage der Zeit. Nach zwei Jahren hatte Galilei, trotz des anfanglichen Skeptizismus und der Unfahigkeit einiger Zeitgenossen, die Monde durch das Teleskop zu erkennen, seine Gegenspieler tiberzeugt. Wir wollen einen Blick darauf werfen, wie er dies erreichte - wie er es moglich machte, seine Beobachtungen der Jupitermonde zu „objektivieren".

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Galilei brachte an einem Teleskop eine Skala, deren Flache sich senkrecht zur Teleskopachse befand, so an, dass sie am Teleskop entlang auf- und abgeschoben werden konnte. Wenn man mit einem Auge durch das Teleskop sah, konnte man mit dem anderen Auge die Skala sehen, was durch eine kleine Lampe, die sie erhellte, erleichtert wurde. Wenn nun das Teleskop auf den Jupiter gerichtet war, wurde die Skala so lange am Teleskop entlang geschoben, bis das durch das Teleskop mit einem Auge betrachtete Bild vom Jupiter zwischen den zentralen Markierungen der Skala lag, die mit dem anderen Auge betrachtet wurde. Hatte man dies erreicht, konnte man die Positionen der durch das Teleskop betrachteten Satelliten auf der Skala ablesen. Der abgelesene Abstand der Satelliten vom Jupiter betrug ein Vielfaches seines Durchmessers. Der Durchmesser des Jupiters war eine zweckmaBige Einheit, denn als MaBstab berucksichtigte er automatisch die Tatsache, dass sein augenscheinlicher Durchmesser, wie man ihn von der Erde aus sah, sich in dem MaBe anderte, wie der Planet sich der Erde naherte und von ihr entfemte. Mit dem oben beschriebenen Verfahren war Galilei in der Lage, taglich Protokoll uber die vier „Stemchen", die den Jupiter begleiteten, zu fiihren. Er konnte nachweisen, dass die Daten im Einklang mit der Annahme standen, dass es sich bei den Stemchen tatsachlich um Satelliten handelte, die in konstanten Zeitraumen den Jupiter umkreisten. Die Annahme wurde nicht nur durch quantitative Messungen bestatigt, sondem auch durch qualitativ verbesserte Beobachtungen, die zeigten, dass die Satelliten von Zeit zu Zeit aus dem Blickfeld verschwanden, wenn sie sich gerade vor oder hinter dem Mutterplaneten befanden oder sich in seinen Schatten hineinbewegten. Galilei hatte gute Argumente fur die Richtigkeit seiner Beobachtungen der Jupitermonde, obwohl sie dem bloBen Auge nicht zuganglich waren. Er entkraftete die Unterstellung, dass sie lediglich eine vom Teleskop produzierte Tauschung seien, indem er darauf hinwies, dass auf der Grundlage dieser Annahme nicht erklart werden kann, warum die Satelliten immer nur in der Nahe des Jupiters zu sehen seien. Galilei konnte ebenfalls auf die Bestandigkeit und Wiederholbarkeit seiner Messungen sowie auf ihre Kompatibilitat mit der Annahme, dass die Satelliten Jupiter in einem konstanten Zeitraum umkreisen, verweisen. Galileis quantitative Daten wurden von unabhangigen Beobachtem des Collegio Romano und des Papstlichen Gerichtshofes in Rom verifiziert, die Gegner der kopernikanischen Theorie waren. Dariiber hinaus war es Galilei moglich, weitere Positionen der Satelliten und das Auftreten von Wandlungen und Eklipsen vorherzusagen, die von ihm selbst und auch von unabhangigen Beobachtern bestatigt wurden (Drake, 1978, S. 175ff,236ff.). Die Richtigkeit der mit dem Teleskop ermoglichten Entdeckungen wurde bald von kompetenten Beobachtem unter Galileis Zeitgenossen, sogar von seinen ursprtinglichen Gegnern, akzeptiert. Zwar gelang es nicht alien Beobachtern, die Satelliten zu erkennen, doch dieser Tatsache kommt m. E. ebenso wenig Bedeutung zu, wie dem sicherlich nicht ungewohnlichen Unvermogen Thurbers (1933, S. 10Iff), die Strukturen einer Pflanzenzelle durch ein Mikroskop zu erkennen. Die Uberzeugungskraft von Galileis Argumenten fur die Richtigkeit seiner teleskopischen Beobachtungen der Jupitermonde liegt in einer Reihe praktischer und

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objektiver Uberprufungen, denen seine Behauptungen standhalten konnten. Auch wenn seine Argumente nicht vollig stimmig waren, so waren sie unvergleichlich uberzeugender als das Gegenargument, seine Entdeckungen seien durch das Teleskop hervorgerufene Tauschungen oder Artefakte.

2.3 Beobachtbare Tatsachen: objektiv, aber fehlbar Ein Versuch, eine angemessene Version dessen, was eine beobachtbare Tatsache ausmacht, vor der Kritik zu retten, die in der Uberschrift nahe gelegt wird, konnte etwa folgendermaBen aussehen: Eine Beobachtungsaussage konstituiert dann eine Tatsache, die es wert ist, als Grundlage der Wissenschaft angesehen zu werden, wenn sie mittels der Sinne direkt tiberprtift werden kann und einer solchen LFberprufung standhalt. „Direkt" soil dabei so verstanden werden, dass die infrage stehenden Beobachtungsaussagen so geartet sein sollen, dass ihre Giiltigkeit mithilfe von Routineprozeduren tiberpriift werden kann, die keiner subjektiven Urteile aufseiten der Beobachter bediirfen. Die Betonung auf Priifverfahren, macht den aktiven und offentlichen Charakter der Rechtfertigung von Beobachtungsaussagen deutlich. Auf diese Art und Weise ist es moglich, die Idee, dass Tatsachen ohne Probleme durch Beobachtungen belegbar seien, zu umreiBen. Kaum jemand wird seine Zeit darauf verwenden, anzuzweifeln, dass Dinge wie das Ablesen von Messinstrumenten, von geringfugigen Fehlern abgesehen, mit hoher Sicherheit moglich ist. Das im vorangegangenen Abschnitt propagierte Verstandnis von Tatsachen hat jedoch seinen Preis. Er besteht darin, dass beobachtbare Tatsachen in gewissem Umfang fehlbar sind und widerlegt werden konnen. Qualifiziert sich eine Aussage als beobachtbare Tatsache, weil sie alle bisherigen Tests erfolgreich bestanden hat, bedeutet dies nicht, dass sie neuen Arten von Uberpriifungen, die aufgrund von theoretischen oder technologischen Fortschritten moglich werden, ebenso standhalt. Zwei bedeutende Beispiele von Beobachtungsaussagen, die aus guten Grunden als Tatsachen akzeptiert wurden, im Licht solcher Fortschritte jedoch zurtickgewiesen werden mussten, haben wir bereits kennen gelernt: „Die Erde bewegt sich nicht" und „Die GroBe von Mars und Venus verandert sich im Laufe eines Jahres nicht". Entsprechend der hier vertretenen Sichtweise sind Beobachtungen, die geeignet sind, eine Basis fur die Wissenschaft zu liefem, sowohl objektiv als auch fehlbar. Sie sind objektiv, als sie mittels nachvollziehbarer Prozeduren offentlich uberpruft werden, und sie sind insofern fehlbar, als sie durch neuere Testverfahren, die wissenschaftliche und technologische Fortschritte moglich machen, infrage gestellt werden konnen. Dieser Punkt kann durch ein anderes Beispiel aus dem Werk Galileis illustriert werden. In seinem ..Dialog uber die beiden hauptsachlichsten Weltsysteme'' beschreibt Galilei (1982, S.378) eine objektive Methode, den Durchmesser der Sterne zu messen: Ich lieB vor irgendeinem Stem eine Schnur herabhangen, ich benutzte zu diesem Zweck die Wega in der Leier, welche zwischen

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Nord und Nordost aufgeht. Indem ich mich nun der zwischen mir und dem Stem befmdlichen Schnur bald naherte, bald mich von ihr entfemte, fand ich die Stelle, von der aus die Breite der Schnur mir gerade den Stem verdeckt. Danach maB ich die Entfernung des Auges von der Schnur, welche gleich einer der beiden den Sehwinkel einschlieBenden Seiten ist, wahrend die Breite der Schnur, die ihm gegeniiberliegende Seite bildet; dieser Sehwinkel ist dann ahnlich Oder vielmehr gleich dem Winkel, der auf dem Durchmesser des Sterns in der Fixstemsphare steht. Aus dem Verhaltnis der Breite der Schnur zu der Entfemung zwischen Schnur und Auge fand ich ... unmittelbar die GroBe des Winkels ... Heute weiB man, dass Galileis Ergebnisse falsch waren. Die augenscheinliche GroBe eines Stems ist abhangig von Effekten der Atmosphare und atmospharischen Interferenzen und hat keinerlei Beziehung zu der physikalischen GroBe des Sterns. Galileis Messung der SternengroBe basierte auf impliziten Annahmen, die heute zurtickgewiesen werden mussen. Aber diese Zuriickweisung hat nichts mit den subjektiven Aspekten der Wahmehmung zu tun. Galileis Beobachtungen waren objektiv in dem Sinn, als sie Routineprozeduren beinhalteten, die, wenn man sie heute wiederholte, zu den gleichen Resultaten fuhren wiirden, wie sie auch Galilei fand. Im folgenden Kapitel werden wir Gelegenheit haben, den Gedanken zu vertiefen, dass das Fehlen einer unfehlbaren Beobachtungsgrundlage nicht nur auf der Subjektivitat von Wahrnehmung beruht.

Weiterfuhrende Literatur Zu der klassischen Diskussion, dass Aussagen, die einer Oberprtifung standhalten, die empirische Basis von Wissenschaft bilden, siehe Popper (1994, Kap. 5). Aktive Prozesse der Wahrnehmung werden in der zweiten Halfte des Buchs von Hacking (1996), bei Popper (1984, S. 341-361) und in Chalmers (1999, Kap. 4) behandelt. Ebenfalls sehr lesenswert ist Shapere (1982).

Das Experiment

3.1 Nicht einfach Tatsachen, sondern relevante Tatsachen Um der Argumentation willen soil in diesem Kapitel angenommen werden, dass Tatsachen durch den sorgfaltigen Gebrauch der Sinne belegt werden konnen. Trotz aller Gegenargumente gibt es, wie bereits angemerkt wurde, eine Reihe fur die Wissenschaft relevante Situationen, in denen diese Annahme sicher gerechtfertigt ist. Das Ticken eines Geigerzahlers zu zahlen oder den Zeiger einer Skala abzulesen, sind unproblematische Beispiele. Lost das Vorhandensein solcher Beispiele unser Problem einer auf Tatsachen beruhenden Wissenschaft? Liefem die Aussagen, von denen wir annehmen, dass sie durch Beobachtung belegt werden, die Tatsachen, aus denen wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen werden kann? In diesem Kapitel werden wir sehen, dass die definitive Antwort auf diese Fragen „nein" lautet. Bin Punkt, der angefiihrt werden soil, ist, dass wir in der Wissenschaft nicht irgendwelche Tatsachen benotigen, sondern relevante. Der groBte Teil der Tatsachen, die durch Beobachtung belegt werden konnen, wie zum Beispiel die Anzahl der Bticher in meinem Btiro oder die Farbe vom Auto meines Nachbam, sind flir die Wissenschaft vollig irrelevant, und es ware fur Wissenschaftler die reinste Zeitverschwendung, sie zu sammeln. Welche Tatsachen fur eine Wissenschaftsdisziplin relevant sind und welche nicht, hangt ab vom derzeitigen Entwicklungsstand dieser Wissenschaft. Die Wissenschaft stellt die Fragen, und ideale Beobachtung kann Antworten liefem. Dies ist Teil einer Antwort auf die Frage, was eine relevante Tatsache fur die Wissenschaft ist. Es gibt jedoch ein weitaus wichtigeres Argument, das ich mit einer kleinen Geschichte einleiten mochte. Als ich jung war, waren mein Bruder und ich uneins daruber, wie erklart werden kann, warum das Gras zwischen den Kuhfladen hoher wuchs als auf jeder anderen Stelle einer Wiese, eine Tatsache, die wir sicher nicht als Erste bemerkt hatten. Mein Bruder war der Memung, dass dies auf den diingenden Effekt der Kuhfladen zuruckzufuhren sei, wahrend ich annahm, dass sie einen Effekt wie Mulch hatten, wobei der Fladen die Feuchtigkeit unter sich einschlieBe und so Verdunstung verhindert werde. Heute habe ich den starken Ver-

26 dacht, dass keiner von uns vollig Recht hatte und dass die Haupterklarung darin zu fmden ist, dass Kuhe schlicht nicht geneigt sind, das Gras, das um ihren eigenen Fladen herum wachst, zu fressen. Vermutlich spielen alle drei Erklamngen eine Rolle, aber es ist nicht moglich, die relative GroBe der Effekte durch Beobachtungen zu bestimmen, wie sie mein Bruder und ich vorgenommen batten. Irgend eine Art von Intervention ware notig, wie zum Beispiel das Entfemen der Kuhe von einer Weide fiir eine Saison, um zu sehen, ob dies das vermehrte Langenwachstum des Grases zwischen den Kuhfladen reduziert oder gar eliminiert, oder indem der Fladen zermahlen wird, um den „Mulch"-Effekt auszuschlieBen, den „Dunge"Effekt aber beizubehalten und so weiter. Die hier dargestellte Situation ist typisch. In der uns umgebenden Welt fmden viele Prozesse statt, die sich auf hochst komplizierte Weise gegenseitig tiberlagem und miteinander interagieren. Ein fallendes Blatt ist der Schwerkraft, dem Luftwiderstand sowie dem Wind ausgesetzt und wird wahrend des Falls in gewissem Umfang einem Faulnisprozess unterliegen. Es ist nicht moglich diese unterschiedlichen Prozesse dadurch zu begreifen, dass man typische, naturlich auftretende Ereignisse sorgfaltig beobachtet. Die Beobachtungen von fallenden Blattem wird nicht Galileis Fallgesetz hervorbringen. Die hierin enthaltene Lektion ist einfach: Um Tatsachen zu erhalten, die fur die Identifikation und Spezifikation der in der Natur wirkenden Prozesse relevant sind, ist es allgemein notwendig, direkt zu intervenieren, zu versuchen, den jeweils zu untersuchenden Prozess zu isolieren und die Effekte der anderen zu eliminieren. Kurz, es ist notwendig, Experimente durchzufuhren. Es hat eine Weile gedauert, bis dieser Punkt erreicht wurde, aber es sollte deutlich gemacht werden, dass Tatsachen dann, wenn sie die Basis von Wissenschaft bilden, eher auf der Grundlage von Experimenten gewonnen werden sollen, als durch irgendwelche beobachtbaren Tatsachen. So offensichtlich dies erscheinen mag, erst in den letzten Jahrzehnten haben Wissenschaftsphilosophen die Natur des Experiments und seine Rolle in den Wissenschaften einer naheren Betrachtung unterzogen. Tatsachlich ist es ein Thema, dem in der vorangegangenen Ausgabe dieses Buches wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wie wir im Rest dieses Kapitels sehen werden, erscheinen die Aspekte, die wir bisher diskutiert haben, in einem etwas anderen Licht, wenn wir unsere Aufmerksamkeit eher auf das Experiment als Basis von Wissenschaft richten, als auf die reine Beobachtung.

3.2 Das Erzielen experimenteller Ergebnisse und ihre Aktualisierung Experimentelle Ergebnisse sind in keiner Weise einfach zu erzielen. Wie jeder Experimentator und sogar jeder Student weiB, ist es nicht einfach, ein Experiment durchzufuhren. Es kann Monate oder sogar Jahre dauem, bis ein bedeutsames neues Experiment erfolgreich ausgefuhrt werden kann. Die kurze Darstellung eines Experiments, das ich selbst in den 1960er Jahren als experimentell arbeitender Physiker vorgenommen hatte, soil dies illustrieren. Es ist nicht wichtig, ob der Leser den Details dieser Geschichte folgen kann. Ich mochte nur eine Ahnung von

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der Komplexitat und den praktischen Schwierigkeiten vermitteln, die mit der Produktion experimenteller Resultate verbunden sind. Ziel meines Experimentes war es, Elektronen mit niedriger Energie von Moleklilen abzulosen und herauszufinden, wie viel Energie sie wahrend dieses Prozesses verlieren. Auf diesem Weg wollte ich Informationen txber die Energieniveaus der Molekiile erhalten. Um dies zu ermoglichen, war es notwendig, Elektronen zu produzieren, die sich alle mit derselben Geschwindigkeit bewegten und folglich dieselbe Energie batten. Damit ich die gewUnschte Information erhalten konnte, mussten die Elektronen mit einem Zielmolekul kollidieren, bevor sie auf den Detektor trafen, und die Geschwindigkeit beziehungsweise die Energie der Elektronen musste mit einem dafur konstruierten Detektor gemessen werden. Jeder dieser Schritte stellte eine experimentelle Herausforderung dar. Der Geschwindigkeitsfilter bestand aus zwei leitenden Platten, die zu konzentrischen Zylindern gekriimmt waren und auf unterschiedlichem Potenzial lagen. Elektronen, die zwischen den beiden Platten eintraten, konnten nur dann den zylindrischen Kanal verlassen, wenn ihre Geschwindigkeit auf die Potenzialdifferenz der Platten abgestimmt war. Anderenfalls wurden sie zu den leitenden Platten gelenkt. Um sicherzustellen, dass die Elektronen nur mit einem Molekiil kollidierten, war es notig, ein Hochvakuum herzustellen und das Target-Gas unter geringstem Druck einzubringen. Dazu musste die verfugbare Vakuumtechnologie an ihre Grenzen getrieben werden. Die Geschwindigkeit der abgelosten Elektronen musste mittels zylinderformig angeordneter Elektronen gemessen werden, ahnlich denen, die eingesetzt wurden, um den monoenergetischen Strahl zu produzieren. Die Intensitat der abgelosten Elektronen einer bestimmten Geschwindigkeit konnte dadurch gemessen werden, dass der Potenzialunterschied zwischen den Platten genau auf den Wert gesetzt wurde, der es lediglich Elektronen mit der betreffenden Geschwindigkeit ermoglichte, den Zylinder zu passieren und am anderen Ende des Analysegerates herauszukommen. Diese Elektronen zu erfassen, erforderte die Messung sehr kleiner Strome, was ebenfalls an die Grenzen der gegebenen technischen Moglichkeiten stieB. Das war in groben Ztigen die Idee, aber jeder Schritt brachte eine Menge praktischer Probleme mit sich, die jedem vertraut sind, der in diesem Bereich arbeitet. Es war sehr schwer, die Apparatur von unerwiinschten Gasen zu befreien, die aus den verschiedenen Metallen, aus denen das Gerat hergestellt war, entwichen. Molekiile dieser Gase, die durch den Elektronenstrahl ionisiert wurden, konnten sich auf den Elektroden festsetzen und die elektrischen Potenziale verandem. Unsere amerikanischen Konkurrenten fanden heraus, dass eine Vergoldung der Platten dazu beitrug, die Probleme zu minimieren. Wir selbst fanden heraus, dass eine Bedampfung mit einer carbonhaltigen Schicht, genannt „aquadag", hilfreich war; nicht so wirkungsvoll wie die Vergoldung, unserem Budget jedoch angemessener. Meine Geduld - und mein Stipendium - waren erschopft, bevor das Experiment bedeutsame Resultate erbringen konnte. Ich verstehe, warum auch einige andere Forscher scheiterten, bevor wesentliche Ergebnisse gewonnen werden konnten. Heute, dreiBig Jahre spater, ist die Niederenergie-Elektronenspektroskopie eine Standardtechnologie.

28 Die Details meiner Bemlihungen und die meiner erfolgreicheren Nachfolger sind unwichtig. Was angefiihrt wurde, sollte genugen, um einen unbestreitbaren Punkt zu illustrieren. Wenn experimentelle Ergebnisse die Tatsachen darstellen, die Basis von Wissenschaft sind, erschlieBen sie sich sicher nicht einfach uber die Sinne. Sie miissen erarbeitet werden, und ihre Bestatigung beinhaltet erhebliches Know-how und praktizierten Versuch und Irrtum sowie das Ausreizen vorhandener Technologien. Auch die Beurteilung der Angemessenheit experimenteller Ergebnisse ist nicht einfach. Experimente sind nur dann angemessen und so interpretierbar, als wtirden sie das anzeigen oder messen, was intendiert wurde, wenn das experimentelle Setting entsprechend ist und StorgroBen eliminiert wurden. Das wiederum setzt voraus, dass bekannt ist, welches die moglichen StorgroBen sind und wie sie eliminiert werden konnen. Jede Wissensliicke beziiglich dieser Faktoren kann zu inadaquaten experimentellen Messungen und zu fehlerhaften Interpretationen fiihren. In diesem Sinne gibt es einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen experimentellen Tatsachen und Theorie. Experimentelle Tatsachen konnen falsch sein, wenn das zugrundeliegende Wissen unzureichend oder fehlerhaft ist. Eine Konsequenz dieser generellen, aber in gewisser Weise banalen Merkmale des Experiments besteht darin, dass experimentelle Resultate fehlbar sind und aus einfachen rationalen Grtinden aktualisiert oder ersetzt werden konnen. Experimentelle Ergebnisse konnen aufgrund von technologischem Fortschritt veraltet sein, sie konnen aufgrund von Wissenszuwachsen (in deren Licht der experimentelle Aufbau als ungeeignet erscheint) zurtickgewiesen werden und sie konnen aufgrund von Veranderungen im theoretischen Verstandnis als irrelevant erachtet werden. Diese Aspekte und ihre Bedeutung sollen im nachsten Abschnitt durch historische Beispiele illustriert werden. 3.3 Veranderung der experimentellen Basis von Wissenschaft: historische Beispiele Den Leuchterscheinungen in Entladungsrohren wurde im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts groBes wissenschaftliches Interesse entgegengebracht. Wenn zwischen Metallplatten, die an den Enden einer geschlossenen Glasrohre angebracht sind, eine hohe Spannung angelegt wird, treten elektrische Entladungen auf, die verschiedenartiges Leuchten innerhalb der Rohre verursachen. Wenn der Gasdruck innerhalb der Rohre nicht zu groB ist, entstehen Leuchtfaden, die die negativ geladene Platte (die Kathode) mit der positiv geladenen Platte (der Anode) verbinden. Dieses Phanomen wurde als Kathodenstrahlen bekannt und war Gegenstand bemerkenswerten Interesses der damaligen Wissenschaftler. Der deutsche Physiker Heinrich Hertz fiihrte in den friihen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Experimenten durch, um etwas liber ihre Natur zu erfahren. Als ein Resultat dieser Experimente schloss Hertz, dass diese Kathodenstrahlen keine Strome geladener Teilchen seien. Zum Teil kam er zu diesem Schluss, weil die Strahlen nicht durch ein senkrecht zur Bewegungsrichtung angelegtes elektrisches Feld abgelenkt wurden, wie es bei geladenen Teilchen erwartet wurde. Wir beurteilen Hertz' Schlussfolgerung heute als falsch und seine Experimente als unzu-

29 langlich. Bevor das Jahrhundert zu Ende ging, hatte James Thomson Experimente durchgefiihrt, die iiberzeugend belegten, dass Kathodenstrahlen genauso durch elektrische und magnetische Felder abgelenkt werden, wie es fiir Strome geladener Partikel der Fall ist, und es gelang ihm, das Verhaltnis von elektrischer Ladung zur Masse der Partikel zu messen. Es waren der Einsatz einer verbesserten Technologie und ein besseres Verstandnis der Situation, die es Thomson ermoglichte, Hertz' experimentelle Ergebnisse zu verwerfen. Die Elektronen, die die Kathodenstrahlen bilden, konnen die Gasmolekiile der Rohre ionisieren, das heiBt, ein oder zwei ihrer Elektronen ablosen, sodass sie positive Ladung aufweisen. Diese lonen konnen sich auf den Metallplatten der Apparatur ansammebi und in der Situation des besagten Experiments zusatzliche kleine elektrische Felder erzeugen. Wahrscheinlich waren es solche Felder, die es Hertz verwehrten, die Ablenkungen zu erhalten, die Thomson sowohl herstellen als auch messen konnte. Dies gelang Thomson im Wesentlichen deshalb, well er von einer verbesserten Vakuumtechnik profitierte, die es ihm ermoglichte, mehr Gasmolekiile aus der Rohre zu saugen. Er setzte seine Apparatur einer langeren Erhitzung aus, um Riickstandsgase von den verschiedenen Oberflachen der Rohre zu entfemen. Er lieB die Vakuumpumpe iiber mehrere Tage laufen, um so viel wie moglich von dem rtickstandigen Gas abzusaugen. Aufgrund des verbesserten Vakuums und mittels einer geeigneteren Elektrodenanordnung, gelang es Thomson, die Ablenkungen festzustellen, von denen Hertz behauptete, dass sie nicht existieren wtirden. LieB Thomson den Druck innerhalb seiner Apparatur so hoch steigen, wie es bei Hertz der Fall gewesen war, konnte er dagegen keine Ablenkungen feststellen. Es muss jedoch an dieser Stelle betont werden, dass es Hertz keineswegs zur Last gelegt werden kann, zu falschen Schlussfolgerungen gelangt zu sein. Auf der Grundlage seines Verstandnisses der Situation und bezogen auf das Wissen, das ihm zur Verfugung stand, hatte er gute Griinde anzunehmen, dass die Druckverhaltnisse innerhalb seiner Apparatur niedrig genug waren und mit dem experimentellen Aufbau alles seine Ordnung hatte. Lediglich im Licht darauf folgender theoretischer und technischer Fortschritte erweisen sich seine Resultate als nicht haltbar. Die Moral ist freilich: Wer kann wissen, welche experimentellen Ergebnisse sich aufgrund von vor uns liegenden Fortschritten als falsch erweisen werden? Dass Hertz weit davon entfemt war, ein wenig versierter Experimentator zu sein, sondem zu den Besten seiner Zeit gehorte, zeigte sich darin, dass es ihm nach zwei Jahren brillanter experimenteller Arbeit 1888 als Erstem gelang, Radiowellen zu erzeugen. AuBer dass sie ein neuartiges Phanomen darstellten, das experimentell erforscht und weiterentwickelt wurde, hatten die von Hertz gefundenen Wellen bedeutende wissenschaftliche Konsequenzen, da sie Maxwells Mitte der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts formulierte elektromagnetische Theorie bestatigten, aus der (obwohl dies Maxwell selbst nicht realisierte) sich die Existenz solcher Wellen ableiten lasst. Die meisten Aspekte der hertzschen Resultate hatten Bestand und sind noch heute von Bedeutung. Dennoch mussen einige seiner Resultate ersetzt und ihre Interpretation zuriickgewiesen werden. Beides sind Beispiele dafur, dass experimentelle Ergebnisse stets Gegenstand von Revisionen und Verbesserungen sind.

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Hertz konnte mithilfe seiner Apparatur stehende Wellen erzeugen und iiber deren Wellenlange die Geschwindigkeit der erzeugten Radiowellen messen. Seine Ergebnisse lieBen darauf schlieBen, dass sich Radiowellen groBerer Wellenlange in der Luft schneller als in Drahten und schneller als Licht ausbreiteten, wahrend Maxwells Theorie vorhersagte, dass sie sich sowohl in der Luft als auch in den Drahten der hertzschen Apparatur mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten miissten. Die Resultate waren aus Grtinden, die Hertz bereits vermutete, nicht stimmig. Die Radiowellen, die von den Wanden von Hertz' Labor reflektiert wurden, wirkten sich storend auf die Messungen aus. Hertz selbst auBerte sich folgendermaBen zu den problematischen Ergebnissen (1894, S. 15): Vielleicht fi'agt der Leser, warum ich nicht selbst versucht habe, durch Wiederholung der Versuche die Zweifel zu beseitigen. Ich habe die Versuche wohl wiederholt, aber ich habe dabei nur geftinden, was auch zu vermuten steht, dass die einfache Wiederholung unter ahnlichen Verhaltnissen die Zweifel nicht zu erheben, sondern eher zu vermehren imstande ist. Die sichere Entscheidung steht bei Versuchen, welche unter giinstigeren Verhaltnissen ausgefiihrt werden. Giinstigere Verhaltnisse bedeuten hier groBere Raume. Solche waren mir bisher nicht zur Hand. Ich betone nochmals, dassdie Ungunst der Raume nicht durch Sorgfalt der Beobachtung kompensiert werden kann. Wenn sich die langen Wellen nicht entwickeln konnen, konnen sie auch nicht beobachtet werden. Hertz' experimentelle Resultate waren falsch, well der experimentelle Aufbau der gegebenen Fragestellung nicht entsprach. Die untersuchten Wellenlangen mussten, gemessen an den AusmaBen des Labors, klein sein, um unerwiinschte Interferenzen reflektierender Wellen auszuschlieBen. Als sich dieser Gedanke durchsetzte, wurden innerhalb weniger Jahre Experimente „unter besseren Bedingungen" durchgeftihrt, die Geschwindigkeiten entsprechend der theoretisch abgeleiteten Vorhersagen ergaben. Ein Aspekt, der hier angeflihrt werden muss, ist, dass experimentelle Ergebnisse nicht nur adaquat im Sinne einer korrekten Aufzeichnung dessen, was vorgeftmden wird, sein miissen, sondern auch angemessen und bedeutsam. Typischerweise werden sie entwickelt, um einige wichtige Fragen zu beantworten. Urteile daruber, was eine wichtige Frage ist und inwieweit ein spezifischer experimenteller Aufbau einen angemessenen Weg darstellt, diese Frage zu beantworten, werden in groBem Umfang davon abhangen, wie die praktischen und theoretischen Gegebenheiten gesehen werden. Die Existenz konkurrierender Theorien zum Elektromagnetismus und die Tatsache, dass Maxwell Radiowellen vorhersagte, die sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen, machten Hertz' Versuche, die Geschwindigkeit von Wellen zu messen, besonders bedeutsam. Die Einsicht in das Reflexionsverhalten von Wellen fiihrt dagegen dazu, dass sein experimenteller Aufl^au als unangemessen beurteilt wurde. Diese speziellen Ergebnisse wurden zuruckgewiesen und aus Grunden, die aus Sicht der Physik klar und wenig mysterios sind, schon bald ersetzt.

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Ebenso wie diese Episode aus Hertz' Forschung und seine Reflexionen illustriert, dass Experimente angemessen und bedeutsam sein miissen und experimentelle Resultate ersetzt oder zurtickgewiesen werden miissen, wenn sie es nicht sind, macht sie deutlich, dass die Zuruckweisung seiner Geschwindigkeitsmessungen nicht das Geringste mit den Problemen menschlicher Wahrnehmung zu tun hat. Es gibt keinen Grund anzuzweifeln, dass Hertz seine Apparaturen sehr sorgfaltig beobachtete, wahrend er Entfernungen vermaB, das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Funken in den Spalten seiner Detektoren notierte oder das, was er von seinen Instrumenten ablas, aufzeichnete. Seine Resuhate sind in dem Sinne objektiv, als jeder, der seine Vorgehensweise wiederholen wurde, zu ahnlichen Ergebnissen kame. Die Probleme mit den experimentellen Ergebnissen von Hertz gehen weder auf unzulangliche Beobachtung noch auf mangelnde Reproduzierbarkeit zuruck, sondem auf die Unangemessenheit des experimentellen Aufbaus. Wie Hertz deutlich macht, ersetzt sorgfaltige Beobachtung nicht den Wunsch nach „gro6eren Raumen". Auch wenn wir zugestehen, dass Hertz mittels sorgfaltiger Beobachtung sichere Tatsachen erhalten konnte, konnen wir erkennen, dass das allein nicht ausreichte, um experimentelle Ergebnisse zu erlangen, die der gegebenen wissenschaftlichen Fragestellung entsprachen. Die obigen Ausfuhrungen konnen als Illustrationen dafur gesehen werden, wie theorieabhangig die Akzeptanz experimenteller Ergebnisse ist, und wie darauf bezogene Urteile sich in dem Umfang verandem konnen, in dem sich unser wissenschaftliches Verstandnis weiterentwickelt. Auf einer etwas allgemeineren Ebene kann das daran illustriert werden, wie sich die Bedeutung der hertzschen Radiowellen seit ihrer Entdeckung verandert hat. Zur damaligen Zeit war eine der verschiedenen konkurrierenden Theorien zum Elektromagnetismus die von James Clerk Maxwell, der die Schlusselideen Michael Faradays weiterentwickelt hatte und elektrische und magnetische Zustande als mechanische Zustande eines alles durchdringenden Athers verstand. Diese Theorie sagte - anders als ihre Gegenspieler, die annahmen, dass elektrische Strome, Ladungen und Magnete auf Distanz aufeinander einwirken, ohne einen Ather mit einzubeziehen - voraus, dass Radiowellen mit der Geschwindigkeit des Lichts moglich sind. Diese Entwicklung der Physik gibt Hertz' Resultaten bleibende theoretische Bedeutung. Konsequenterweise konnten Hertz und seine Zeitgenossen die Produktion von Radiowellen unter anderem als Belegfur die Existenz eines Athers heranziehen. Zwanzig Jahre spater verzichtete man im Lichte der Relativitatstheorie Einsteins auf die Annahme eines Athers. Hertz' Resultate werden immer noch als Bestatigung der Theorie Maxwells angesehen, aber nur in einer revidierten Form, die auf die Annahme eines Athers verzichtet und elektrische und magnetische Felder als eigenstandige Entitaten behandelt. Ein weiteres Beispiel, die Messung von Molekulargewichten im 19. Jahrhundert, beschreibt ebenfalls die Abhangigkeit der Relevanz und Interpretation experimenteller Ergebnisse von ihrem jeweiligen theoretischen Kontext. Im Lichte der atomistischen Theorie chemischer Verbindungen schrieben Chemiker der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts der Messung von Molekulargewichten natiirlich vorkommender Elemente und Verbmdungen fundamentale Bedeutung zu. Das gait vor allem fur diejenigen, die Prouts Hypothese favorisierten, nach der das Wasser-

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stoffatom ein Basiselement sei, aus dem andere Atome aufgebaut sind, was erwarten lieB, dass relativ zum Wasserstoff gemessene Molekulargewichte ganzzahlig sind. Die sorgfaltigen Messungen der Molekulargewichte durch fuhrende Chemiker des 19. Jahrhunderts wurde aus Sicht der theoretischen Chemie weitgehend irrelevant, als festgestellt wurde, dass natiirlich vorkommende Elemente aus einer Mischung von Isotopen bestehen, deren Proportionen keinerlei theoretische Bedeutung haben. Der Chemiker Soddy (zit. nach Lakatos, 1974, S. 136) kommentierte dies folgendermaBen: Das Schicksal, das das Lebenswerk jener glanzenden Versammlung von Chemikern des 19. Jahrhunderts Uberholt hat - ein Werk, das die Zeitgenossen mit Recht als den Gipfel praziser wissenschaftlicher Messung verehrten - ist sicher der Tragodie verwandt, wenn es sie auch nicht transzendiert. Ihre in barter Arbeit gewonnenen Ergebnisse erscheinen uns, zumindest im gegenwartigen Augenblick, ebenso uninteressant und unwichtig wie die Bestimmung des Durchschnittsgewichts einer Sammlung von Flaschen, einige voll, einige mehr oder weniger leer. Auch in diesem Fall wurden alte Versuchsergebnisse als irrelevant zurixckgewiesen, und zwar nicht aufgrund von problematischen Eigenschaften der menschlichen Wahmehmung. Das Werk dieser Chemiker wurde von den Zeitgenossen als der „Gipfel praziser wissenschaftlicher Messung" verehrt, und es gibt keinen Anlass, die Angemessenheit der Beobachtungen und Messungen dieser Wissenschaftler anzuzweifeln, noch ihre Objektivitat. Zweifellos wurden heutige Chemiker zu den gleichen Ergebnissen kommen, wenn sie die Experimente wiederholen wurden. Dass sie angemessen durchgefiihrt werden, ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung flir die Tauglichkeit experimenteller Ergebnisse. Sie mtissen auch relevant und bedeutsam sein. Die Punkte, die ich mit der Hilfe von Beispielen aufgefuhrt habe, konnen in einer Art und Weise zusammengefasst werden, die aus Sicht der alltaglichen Praxis von Physikem und Chemikern unumstritten ist. Die Menge experimenteller Resultate, die als adaquate Basis fiir Wissenschaft angesehen wird, wird standig auf den neuesten Stand gebracht. Aus einer Reihe einfacher Grunde werden veraltete experimentelle Ergebnisse als inadaquat zuriickgewiesen und durch angemessenere ersetzt. Sie konnen zuriickgewiesen werden, weil sie unangemessene VorsichtsmaBnahmen gegen mogliche Storquellen enthielten, weil die Messung auf insensitiven oder unmodemen Methoden basierte, weil erkannt wurde, dass das Experiment das gegebene Problem nicht losen konnte oder weil die Frage, die es beantworten sollte, irrelevant wurde. Obwohl diese Beobachtungen als nachvollziehbare Beschreibungen alltaglicher wissenschaftlicher Tatigkeit gesehen werden konnen, haben sie doch ernstzunehmende Implikationen fiir die orthodoxe Wissenschaftsphilosophie, weil sie die weit verbreitete Annahme, Wissenschaft ruhe auf sicherem Fundament, infi-age stellen. Was jedoch entscheidender ist: der Grund, warum dies so ist, hat mit der Problematik menschlicher Wahmehmung nichts zu tun.

33 3.4 Das Experiment als angemessene Basis fiir die Wissenschaft Die vorangegangenen Abschnitte dieses Kapitels waren der kritischen Prtifiing der Vorstellung gewidmet, experimentelle Resultate seien einfach gegeben und von absoluter Sicherheit. Es wurde dargelegt, dass sie theorieabhangig und in gewisser Hinsicht fehlbar und revidierbar sind. Das stellt eine ernstzunehmende Herausforderung der Idee dar, wissenschaftliche Erkenntnis besitze einen besonderen Status, weil sie in besonders anspruchsvoller und uberzeugender Weise auf Erfahrung beruhe. Nimmt man an, die experimentelle Basis von Wissenschaft sei so fehlbar und revidierbar wie angeflihrt wurde, muss das auf ihr basierende Wissen ebenso fehlbar und revidierbar sein. Die Verwirrung kann noch gesteigert werden, wenn man auf die drohende Zirkularitat hinweist, mit der wissenschaftliche Theorien angeblich durch Experimente gewonnen werden. Wenn Theorien herangezogen werden, um die Angemessenheit von experimentellen Ergebnissen zu beurteilen, diese experimentellen Ergebnisse jedoch gleichzeitig zum Beleg dieser Theorien herangezogen werden, scheinen wir in einem Teufelskreis gefangen. Es scheint ziemlich wahrscheinlich, dass Wissenschaft nicht in der Lage ist, Ressourcen bereitzustellen, die es ermoglichen, den Disput zwischen Vertretem konkurrierender Theorien beizulegen, indem sie sich auf experimentelle Resultate bezieht. Wahrend sich die eine Gruppe auf ihre Theorie bezieht, um bestimmte experimentelle Ergebnisse zu rechtfertigen, wiirde die andere Gruppe zur Rechtfertigung differierender Ergebnisse auf ihre rivalisierende Theorie zuriickgreifen. Dieser Abschnitt soil Anlass geben, solch extremen Schlussfolgerungen zu widerstehen. Es muss die Moglichkeit eingeraumt werden, dass das Verhaltnis zwischen Theorie und Experiment einen Zirkelschluss beinhaltet. Das kann anhand folgender Geschichte aus meiner Zeit als Lehrer illustriert werden. Meine Schuler sollten ein Experiment durchfuhren. Ziel war es, den Ausschlag einer stromdurchflossenen Spule zu messen, die zwischen den Polen eines hufeisenformigen Magneten so angebracht war, dass sie um eine Achse rotieren konnte, die senkrecht zur Verbindungslinie der beiden Magnetpole lag. Die Spule war Teil eines Stromkreises, der eine Batterie zur Stromerzeugung enthielt, ein Amperemeter zur Messung der Stromstarke und einen variablen Widerstand zum Einregulieren der Stromstarke. Es sollte in Abhangigkeit von verschiedenen Stromwerten, die vom Amperemeter angezeigt wurden, die Drehung des Magneten gemessen werden. Das Experiment wurde fur die Schiller als erfolgreich angesehen, wenn sie beim Auftragen der Spulendrehung gegen die Stromstarke eine saubere Gerade erhielten, was die Proportionalitat der beiden GroBen deutlich machte. Ich erinnere mich, durch dieses Experiment etwas in Verwurung geraten zu sein, obwohl ich diese Verwirrung, vielleicht in weiser Voraussicht, nicht meinen Schiilem zeigte. Meine Verwirrung war in dem Umstand begrtindet, dass ich wusste, was sich innerhalb des Amperemeters befand, namlich eine Spule, die so zwischen den Polen eines Magneten angebracht war, dass sie durch einen Strom, der sie durchfloss, abgelenkt wurde, wodurch sich ein Zeiger auf der sichtbaren und gleichmaBig kalibrierten Skala des Amperemeters bewegte. In diesem Experiment wird also schon die Proportionalitat von Drehung und Stromstarke vorausgesetzt, indem der Aus-

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schlag des Amperemeters als MaB fiir die Stromstarke herangezogen wird. Was durch das Experiment untermauert werden sollte, wurde bereits vorausgesetzt, und darin lag in der Tat ein Zirkelschluss. Das Beispiel illustriert, wie Zirkularitat von Argumenten entstehen kann. Dasselbe Beispiel zeigt jedoch auch, dass dies nicht notwendigerweise so sein muss. In dem oben beschriebenen Experiment hatte man eine Strommessung vornehmen konnen - und man hatte sie vomehmen miissen -, die nicht auf der Drehung einer Spule im Magnetfeld beruhte. Bei alien Experimenten wird das Zutreffen irgendwelcher Theorien vorausgesetzt, die es ermoglichen sollen, die Angemessenheit des experimentellen Aufbaus zu beurteilen, und es wird davon ausgegangen, dass die Instrumente das anzeigen, was sie anzeigen sollen. Die vorausgese.tzten Theorien dtirfen jedoch mit der zu liberprtifenden Theorie nicht identisch sein, und es erscheint vemtinftig, dass eine Vorbedingung fiir einen guten experimentellen Aufbau gerade darin liegen muss. Eine andere Perspektive auf die „Theorieabhangigkeit von Experimenten" ist Folgende: wie stark auch immer ein Experiment von Theorien geleitet ist, spricht einiges dafur, dass die Resultate von Experimenten nicht von Theorien determiniert sind, sondem durch die realen Gegebenheiten. Ist die experimentelle Apparatur einmal aufgestellt, der Stromkreis aufgebaut, der Schalter geschlossen - dann wird ein Signal auf dem Bildschirm erscheinen oder nicht, wird ein Strahl abgelenkt oder nicht, wird die Anzeige eines Amperemeters ansteigen oder nicht. Wir konnen es nicht erzwingen, dass die Ergebnisse den Theorien entsprechen. Es lag an der Beschaffenheit der physikalischen Welt, dass in dem von Hertz durchgefiihrten Experiment keine Ablenkungen der Kathodenstrahlen auftraten, wahrend dies bei dem durch Thomson modifizierten Experiment der Fall war. Es waren die Unterschiede in den experimentellen Aufbauten der beiden Physiker, die zu den differierenden Ergebnissen fuhrten, nicht die Unterschiede der von ihnen zugrundegelegten Theorien. Weil experimentelle Ergebnisse durch die realen Gegebenheiten starker determiniert sind als durch theoretische Sichtweisen, konnen Theorien anhand der Realitat uberprtift werden. Das bedeutet nicht, dass giiltige Resultate leicht zu erhalten waren und unfehlbar sind, noch, dass ihre Gtiltigkeit einfach gegeben ist. Aber es macht deutlich, dass der Versuch, die Angemessenheit wissenschaftlicher Theorien mithilfe von Experimenten zu tiberpriifen, ein sinnvoUes Unterfangen ist. Mehr noch, die Geschichte der Wissenschaft liefert uns Beispiele, in denen dieser Herausforderung erfolgreich begegnet wurde.

Weiterfiihrende Literatur Die zweite Halfte des Buchs von Hacking (1996) ist ein erster Schritt in Richtung des neuen Interesses von Wissenschaftsphilosophen an Experimenten. Andere Ausfiihrungen zu diesem Thema fmden sich bei Franklin (1986, 1990), Galison (1987) und Mayo (1996), allerdings wird die Tragweite dieser detaillierten Darstellungen erst im Licht des Kapitels 13 zum „Neuen Experimentalismus" deutlich werden. Ausfiihrlicher noch werden die aufgeworfenen Aspekte in Chalmers (1984)diskutiert.

Der Induktivismus

4.1 Die Ableitung von Theorien aus Tatsachen In den ersten Kapiteln dieses Buches haben wir uns mit der Annahme auseinandergesetzt, dass das Charakteristische an wissenschaftlicher Erkenntnis darin liegt, dass sie aus Tatsachen gewonnen wird. Wir haben uns ausftihrlich mit der Natur der mittels Beobachtung und Experiment gewonnenen Tatsachen beschaftigt, die als Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis angesehen werden konnen. Wir haben auch gesehen, dass diese Tatsachen nicht so einfach und sicher gegeben sind, wie dies allgemein vorausgesetzt wird. Jetzt werden wir uns mit der Frage auseinandersetzen, wie wissenschaftHche Erkenntnis aus solchen Tatsachen abgeleitet werden kann. „Wissenschaft leitet sich aus Tatsachen ab" konnte dergestalt interpretiert werden, dass wissenschaftHche Erkenntnis so aufgebaut ist, dass zunachst Tatsachen festgestellt werden und dann ein theoretisches Gebaude errichtet wird, das diesen Tatsachen entspricht. Wir haben diese Sichtweise in Kapitel 1 diskutiert und als wenig plausibel verworfen. Das Problem, mit dem wir uns hier auseinandersetzen wollen, setzt voraus, dass „abgeleitet" weniger in einem zeitlichen als in einem logischen Sinn verstanden wird. Unabhangig davon, was zuerst da ist, die Tatsachen oder die Theorie, geht es um die Frage, in welchem Umfang sich eine Theorie durch Tatsachen belegen lasst. Der hochste Anspruch ware, dass sich eine Theorie logisch aus Tatsachen ableiten lasse. Das bedeutet, dass die Theorie eine Konsequenz der gegebenen Tatsachen ist. Dieser Anspruch kann nicht aufrechterhalten werden. Um dies zu erkennen, miissen wir uns mit einigen grundlegenden Aspekten der Logik beschaftigen.

4.2 Deduktives SchlieBen Die Logik beschaftigt sich mit der Deduktion von Aussagen aus anderen vorliegenden Aussagen bzw. mit der Frage, was woraus folgt. Es wird hier nicht der Versuch untemommen, eine ausflihrliche Darstellung und Bewertung der Logik

36 vorzunehmen. Es sollen vielmehr einige der wichtigsten Eigenschaften, die fiir unsere Analyse der Wissenschaft von Bedeutung sind, durch einfache Beispiele veranschaulicht werden. Hier ein Beispiel eines logischen Arguments, das absolut stimmig oder, um einen von Logikem verwendeten Terminus technicus heranzuziehen, absolut valide ist. Beispiel 1: 1. Alle Biicher uber Wissenschaftstheorie sind langv^eilig. 2. Dies ist ein Buch uber Wissenschaftstheorie. 3. Dieses Buch ist langweilig. In diesem Beispiel sind (1) und (2) die Voraussetzungen und (3) die Schlussfolgerung. Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass die Voraussetzungen (1) und (2) wahr sind, dann muss auch (3) zwangslaufig wahr sein. Wenn feststeht, dass (1) und (2) wahr sind, dann ist es nicht moglich, dass (3) falsch ist. Der Fall, dass (1) und (2) wahr sind und (3) falsch ist, wiirde einen Widerspruch darstellen. Dies ist das entscheidende Merkmal einer logisch gultigen Deduktion. Wenn die Voraussetzungen einer logisch gultigen Deduktion wahr sind, dann muss auch die Schlussfolgerung wahr sein. Eine geringfugige Abanderung des oben erwahnten Beispiels liefert uns den Fall einer Deduktion, die nicht giiltig ist: Beispiel 2 \ 1. Viele Bticher uber Wissenschaftstheorie sind langweilig. 2. Dies ist ein Buch uber Wissenschaftstheorie. 3. Dieses Buch ist langweilig. In diesem Beispiel ft)lgt (3) nicht notwendigerweise aus (1) und (2). Es ist moglich, dass (1) und (2) wahr sind und (3) dennoch falsch ist. Selbst wenn (1) und (2) wahr sind, dann kann dieses Buch dennoch zu der Minderheit der Bucher liber Wissenschaftstheorie gehoren, welche nicht langweilig sind. Wenn man behauptet, (1) und (2) seien wahr und (3) falsch, so ist dies kein Widerspruch. Die Schlussfolgerung ist nicht gultig. Inzwischen mag der Leser vielleicht Langeweile empfinden. Empfmdungen dieser Art haben sicherlich einen Bezug zu der Wahrheit der Behauptungen (1) und (3) der beiden Beispiele. An dieser Stelle muss jedoch betont werden, dass Logik und Deduktion nicht allein die Wahrheit von Aussagen der Art, wie wir sie in unseren Beispielen kennen gelemt haben, begrunden konnen. Das Einzige, was

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Logik in diesem Zusammenhang leisten kann, ist die Aussage: wenn die Voraussetzungen wahr sind, dann muss die Schlussfolgerung wahr sein. Die Frage jedoch, ob die Voraussetzungen wahr sind oder nicht, kann nicht nach logischen Gesichtspunkten beantwortet werden. Eine Behauptung kann eine vollkommen logische Deduktion sein, selbst wenn sie eine Voraussetzung beinhaltet, die in Wirklichkeit falsch ist. Auch dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Beispiel 3\ 1. Alle Katzen haben funf Beine. 2. Kater Karlo ist meine Katze. 3. Kater Karlo hat funf Beine. Dies ist eine vollkommen gultige Deduktion. Gesetzt den Fall, (1) und (2) sind wahr, dann muss (3) ebenfalls wahr sein. In diesem Beispiel ist es jedoch so, dass (1) und (3) falsch sind, was jedoch den Tatbestand nicht beeintrachtigt, dass die Schlussfolgerung selbst valide ist. Das macht deutlich, dass Logik alleine keine Quelle neuer Wahrheiten ist. Die Wahrheit einer sachlichen Aussage, die die Pramisse eines Arguments darstellt, kann mithilfe der Logik nicht belegt werden. Logik kann lediglich offenbaren, was aus den Aussagen, die bereits vorliegen, folgt bzw. in gewissem Sinn bereits in ihnen enthalten ist. Im Gegensatz zu dieser Einschrankung steht die groBe Bedeutung der Logik, im Besonderen ihr „wahrheitserhaltender" Charakter. Konnen wir sicher sein, dass unsere Pramissen wahr sind, so konnen wir sicher sein, dass alles, was wir daraus logisch ableiten, ebenso wahr ist.

4.3 Konnen wissenschaftliche Gesetze aus Tatsachen abgeleitet werden? Nach dieser Diskussion der Natur der Logik kann leicht gezeigt werden, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht aus Tatsachen abgeleitet werden kann, wenn „abgeleitet" als „logisch geschlossen" interpretiert wird. Es gentigen einige einfache Beispiele wissenschaftlicher Erkenntnis, um diesen Punkt zu illustrieren. Wir wollen einige einfache wissenschaftliche Gesetze wie „Metall dehnt sich aus, wenn es erhitzt wird" oder „Saure lasst Lackmus rot werden" betrachten. Dies sind Beispiele, die Wissenschaftsphilosophen als allgemeine Aussagen bezeichnen. Sie beziehen sich auf alle Ereignisse einer bestimmten Art, alle Falle, in denen Metalle erhitzt wurden und alle Falle, in denen Lackmus in eine Saure eingetaucht wurde. Wissenschaftliche Erkenntnis bezieht sich immer auf solche allgemeinen Aussagen. Die Situation verandert sich jedoch drastisch, wenn es um Beobachtungsaussagen geht, die die Tatsachen fur die Evidenz allgemeiner wissenschaftlicher Gesetze liefern. Solche beobachtbare Tatsachen oder experimentelle Resultate sind spezifische Behauptungen uber bestimmte

38 Zustande, die eine zeitliche Dimension enthalten. Sie sind das, was Philosophen als sogenannte Einzelaussagen bezeichnen. Es sind Aussagen wie „Die Lange des Kupferstuckes vergroBerte sich, als es erhitzt wurde" oder „Das Lackmuspapier wurde rot, als es in einen Becher mit Hydrochloridsaure getaucht wurde". Nehmen wir an, wir hatten eine groBe Menge solcher Tatsachen als Basis zur Verfugung, auf deren Grundlage wir hoffen, zu wissenschaftlicher Erkenntnis zu gelangen. Welche Arten von Argumenten konnen wir aus solchen Tatsachen - als Pramissen - ableiten, um die angestrebten wissenschaftlichen Gesetze zu erhalten? Im Falle unseres Beispiels zur Ausdehnung von Metallen kann das Argument folgendermaBen schematisiert werden: Pramissen: 1. Metall Xi dehnte sich aus, als es zum Zeitpunkt ti erhitzt wurde. 2. Metall X2 dehnte sich aus, als es zum Zeitpunkt t2 erhitzt wurde. 3. Metall X3 dehnte sich aus, als es zum Zeitpunkt t^ erhitzt wurde. Konklusion: Alle Metalle dehnen sich aus, wenn sie erhitzt werden. Das ist jedoch kein logisch valides Argument. Es trifft nicht zu, dass dann, wenn die Aussagen, die die Pramissen darstellen, wahr sind, auch die Konklusion wahr sein muss. Unabhangig davon, wie viele Beobachtungen sich ausdehnender Metalle wir vorliegen haben, wie groB auch immer also das A^ in unserem Beispiel sein mag, es gibt keine logische Garantie, dass es nicht bestimmte Metalle gibt, die sich unter bestimmten Bedingungen zusammenziehen, wenn sie erhitzt werden. Es besteht kein Widerspruch, wenn sowohl gesagt wird, dass alle uns bekannten Beispiele, in denen Metalle erhitzt wurden, zu einer Ausdehnung fiihrten als auch, dass die Aussage „Alle Metalle dehnen sich aus, wenn sie erhitzt werden" falsch ist. Dieser Punkt kann mit einem etwas grausamen Beispiel veranschaulicht werden, das Bertrand Russell zugeschrieben wird. Es bezieht sich auf einen Truthahn, der an seinem ersten Morgen auf der Truthahnfarm feststellte, dass er um neun Uhr morgens gefiittert wurde. Nachdem sich diese Erfahrung wahrend mehrerer Wochen wiederholt hatte, fuhlte sich der Truthahn sicher, den Schluss zu ziehen „Ich werde jeden Morgen um neun Uhr gefuttert". Leider stellt sich dieser Schluss auf eindeutige Art und Weise als falsch heraus, als der Truthahn an Weihnachten statt gefuttert zu werden, den Hals durchgeschnitten bekam. Das Argument des Truthahns fuhrte ihn von einer Reihe richtiger Beobachtungen zu einem falschen Schluss, was die Ungiiltigkeit des Arguments aus der Sichtweise der Logik deutlich macht. Argumente, wie sie am Beispiel der Ausdehnung von Metall veranschaulicht wurden, die auf einer endlichen Anzahl von Beobachtungen beruhend zu allgemeinen SchlUssen ftihren, werden, in Abgrenzung zu logischen, deduktiven Argumenten, induktive Argumente genannt. Ein Charakteristikum induktiver Argumente, das sie von deduktiven Argumenten unterscheidet, liegt darin, dass sie Uber

39 das hinausgehen, was in den Pramissen enthalten ist, indem sie von Aussagen iiber einige Ereignisse zu Aussagen iiber alle Ereignisse ubergehen. Allgemeine wissenschaftliche Gesetze gehen immer iiber die endliche Menge der vorhandenen, sie unterstiitzenden Beobachtungen hinaus und konnen daher niemals in dem Sinn bewiesen werden, dass sie sich logisch aus dem Evidenten ableiten lassen.

4.4 Was konstituiert ein gutes induktives Argument? Wir haben gesehen, dass dann, wenn wissenschaftliche Erkenntnis als etwas angesehen wird, das aus Tatsachen gewonnen wird, dieses „gewonnen" eher in induktivem als in deduktivem Sinne verstanden werden muss. Aber was ist das Charakteristische eines guten induktiven Arguments? Die Frage ist von fundamentaler Bedeutung, weil klar ist, dass nicht alle Generalisierungen beobachtbarer Tatsachen berechtigt sind. Manche werden wir als iiberhastet oder als auf ungeniigenden Belegen basierend betrachten, wie das zum Beispiel der Fall ware, wenn wir der Gesamtheit einer ethnischen Gruppe Merkmale zuschrieben, die auf der Basis einiger weniger unerfreulicher Begegnungen mit Nachbam gewonnen wurden. Unter welchen Umstanden genau ist es legitim, anzugeben, dass ein wissenschaftliches Gesetz aus einer endlichen Anzahl von Beobachtungen oder experimentellen Belegen „gewonnen" wurde? Ein erster Versuch, diese Frage zu beantworten, beinhaltet den Anspruch, dass folgende Bedingungen erfiillt sein miissen, um einen induktiven Schluss von beobachtbaren Tatsachen auf wissenschaftliche Gesetze zu rechtfertigen: 1. Verallgemeinerungen miissen auf einer groBen Anzahl von Beobachtungen beruhen. 2. Die Beobachtungen miissen unter einer groBen Vielfalt von Bedingungen wiederholt worden sein. 3.

Keine Beobachtungsaussage darf im Widerspruch zu dem entsprechenden allgemeinen Gesetz stehen.

Bedingung (1) wird als notwendig erachtet, weil es selbstverstandlich nicht gerechtfertigt ist, aufgrund lediglich einer einzigen Beobachtung, dass sich eine erhitzte Metallstange ausdehnt, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass sich alle Metalle bei Erwarmung ausdehnen. Genauso wenig darf man den Schluss ziehen, dass alle Bayern Trunkenbolde seien, weil man einen von ihnen im Vollrausch gesehen hat. Es ist eine groBe Anzahl von unabhangigen Beobachtungen notwendig, bevor diese beiden Verallgemeinerungen gerechtfertigt sind. Der Induktivismus weist nachdriicklich darauf hin, dass wir keine voreiligen Schliisse ziehen diirfen. Eine Moglichkeit, die Anzahl der Beobachtungen bei den angefiihrten Beispielen zu erhohen, besteht darin, einen einzigen Metallstab wiederholt zu erhitzen oder immer wieder einen bestimmten Bayern zu beobachten, der Abend fur Abend, oder vielleicht sogar jeden Morgen, betrunken ist. Eine Anzahl so erwor-

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bener Beobachtungsaussagen wiirde jedoch zweifellos eine sehr unbefriedigende Gmndlage fur die jeweilige Verallgemeinemng darstellen. Deshalb ist Bedingung (2) notwendig. Die Aussage „Alle Metalle dehnen sich aus, wenn sie erhitzt werden" stellt nur dann eine berechtigte Verallgemeinemng dar, wenn die ihr zugrundeliegenden Beobachtungen unter einer Vielzahl von Bedingungen stattgefunden haben. Verschiedene Arten von Metallen mtissen erhitzt worden sein. Lange Eisenstangen, kurze Eisenstangen, Silberstabe, Kupferstabe etc. sollten sowohl unter hohem Druck, unter sehr hohen und unter weniger hohen Temperaturen erhitzt worden sein usw. Wenn sich unter samtlichen Bedingungen alle erhitzten Metallteile ausgedehnt haben, dann, und nur dann, ist es gerechtfertigt, aus der Menge der Beobachtungsaussagen ein allgemeines Gesetz abzuleiten. Wenn nun ein bestimmtes Metallsttick beobachtet wird, das sich bei Erwarmung nicht ausdehnt, so ist es offensichtlich, dass die Verallgemeinerung nicht gerechtfertigt ist. Bedingung (3) ist unentbehrlich. Das oben Dargestellte kann in dem folgenden Prinzip der Induktion zusammengefasst werden: Wenn eine groBe Anzahl von A unter einer groBen Vielfalt von Bedingungen beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten A ohne Ausnahme die Eigenschaft B besitzen, dann besitzen alle A die Eigenschaft B. Es gibt einige emstzunehmende Probleme mit dieser Charakterisierung der Induktion. Betrachten wir die erste Bedingung, die Forderung nach einer groBen Anzahl von Beobachtungen. Eine Schwierigkeit stellt die Unklarheit des Begriffs „groB" dar. Werden hundert, tausend oder mehr Beobachtungen gefordert? Soil hier eine groBere Prazision erreicht werden, indem eine Zahl eingesetzt wird, lage in der Wahl einer bestimmten Menge sicher eine nicht unerhebliche Willkur. Das ist aber nicht das einzige Problem. Es gibt eine Reihe von Beispielen, in denen die Forderung nach eine groBen Menge von Fallen unangemessen erscheint. Um dies zu veranschaulichen, wollen wir die starke offentliche Reaktion gegen die atomare Kriegsfuhrung in Erinnerung rufen, die auf den ersten Abwurf einer Atombombe iiber Hiroshima gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte. Diese Reaktion beruhte auf der Einsicht, dass Atombomben in unglaublicher Weise Tod und Zerstorung sowie grenzenloses menschliches Leid verursachen. Und doch basierte diese allgemein getragene Uberzeugung auf lediglich einer dramatischen Beobachtung. So wiirde auch nur ein extrem starrkopfiger Induktivist seine Hand viele Male ins Feuer halten, bevor er zu dem Schluss kommt, dass Feuer brennt. Betrachten wir ein weniger ausgefallenes Beispiel, das sich auf die wissenschaftliche Praxis bezieht. Angenommen, ich mochte die Ergebnisse einer Replikation eines Experiments, uber das vor kurzem in einigen wissenschaftlichen Zeitschriften berichtet wurde, publizieren lassen, mit Sicherheit wird der Herausgeber der betreffenden Zeitschrift meinen Artikel nicht annehmen und dies damit erklaren, dass das Experiment bereits durchgefiihrt wurde. Man sieht, Bedingung 1 steckt voller Probleme.

41 Auch Bedingung 2 weist gravierende Probleme auf. Sie beziehen sich auf die Frage, was als eine groBe Vielfalt von Bedingungen gelten kann. Was ware eine groBe Vielfalt von Bedingungen, unter denen die Ausdehnung von Metall durch Erhitzung untersucht werden soil? Muss die Art des Metalls, der Luftdruck und die Tageszeit variiert werden? Bei der ersten, moglicherweise auch bei der zweiten Bedingung lautet die Antwort,ja", bei der dritten jedoch „nein". Was ist der Grund dieser Antwort? Die Frage ist wichtig, soil die Liste von moglichen Variationen nicht unendlich erweitert werden, indem weitere Bedingungsvariationen, wie die LaborgroBe und die Farbe der Socken des Experimentators, hinzugefugt werden. Wenn solche „uberflussigen" Variationen nicht eliminiert werden konnen, sind die Bedingungen, unter denen ein Induktionsschluss akzeptiert werden kann, nie erflillt. Doch warum werden bestimmte Variationen als iiberfltissig angesehen? Die Antwort ist einfach: Wir berixcksichtigen unser vorhandenes Wissen uber die Situation, um zwischen den Faktoren zu unterscheiden, die das untersuchte System beeinflussen und denen, die dies nicht konnen. Es ist unser Wissen tiber Metalle und die Moglichkeiten auf sie einzuwirken, das uns zu der Erwartung fiihrt, dass ihr physikalisches „Verhalten" von der Art des Metalls und dem Luftdruck abhangt, aber nicht von der Tageszeit oder der Farbe der Socken des Experimentators. Wir nehmen unser momentanes Wissen zur Hilfe, um zu beurteilen, was eine relevante Bedingung ist, die variiert werden muss, um die Generalisierbarkeit eines untersuchten Effekts zu erforschen. Diese Reaktion auf die dargestellte Problematik ist sicher richtig. Sie stellt jedoch fur den Anspruch, dass wissenschaftliche Erkenntnis induktiv aus Tatsachen gewonnen werden soil, eine Schwierigkeit dar. Diese ergibt sich, wenn wir die Frage stellen, wie man auf dieses Wissen zuriickgreifen kann, wenn die Beurteilung der Relevanz bestimmter Bedingungen fur ein untersuchtes Phanomen (wie die Ausdehnung von Metall) selbst gerechtfertigt werden soil. Wenn wir fordem, dass Wissen durch Induktion gewonnen werden soil, taucht unser Problem wieder auf, weil die weiteren induktiven Argumente selbst einer Spezifikation der relevanten Bedingungen bediirfen und so weiter. Jedes induktive Argument enthalt einen Bezug auf vorhergehendes Wissen, das ein induktives Argument benotigt, um es zu belegen, was einen Bezug auf vorhergehendes Wissen enthalt, und so geht das in einer nie endenden Argumentationskette weiter. Die Forderung, dass alles Wissen durch Induktion belegt sein muss, wird zu einer Forderung, die nicht erfullt werden kann. Auch Bedingung 3 ist problematisch, weil kaum eine Form wissenschaftlicher Erkenntnis der Forderung gerecht wird, dass es keine Ausnahmen geben darf Dieser Aspekt wird ausftihrlich in Kapitel 7 diskutiert.

4.5 Weitere Probleme des induktiven SchlieBens Wir wollen die Position, nach der wissenschaftliche Erkenntnis mittels einer Art induktiven SchlieBens aus beobachtbaren Tatsachen gewonnen werden soil, Induktivismus nennen, und diejenigen, die sich dieser Sichtweise verschrieben haben, Induktivisten. Es wurde bereits auf ein schwerwiegendes Problem hingewie-

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sen, namlich, dass mit dieser Sichtweise das Problem einhergeht, dass genau festgestellt werden muss, unter welchen Bedingungen eine Generalisierung einen befriedigenden induktiven Schluss darstellt. Es ist also nicht klar, worauf Induktion hinauslauft. Aber es gibt weitere Probleme mit der induktivistischen Position. Wenn wir die gegenwartigen wissenschaftlichen Erkenntnisse fiir bare Mtinze nehmen, so muss zugestanden werden, dass sich ein groBer Teil dieser Erkenntnisse auf Nicht-Beobachtbares bezieht. Sie hat zu tun mit solchen Dingen wie Protonen und Elektronen, Genen und DNA-Molekiilen und so weiter. Wie kann ein solches Wissen mit der induktivistischen Position vereinbart werden? Insofern als induktives Denken eine Art von Generalisierung beobachtbarer Tatsachen beinhaltet, scheint es so, als ware ein solches Denken nicht geeignet, um Wissen uber das Nicht-Beobachtbare hervorzubringen. Jede Art der Generalisierung von Tatsachen der beobachtbaren Welt kann nicht mehr hervorbringen als Generalisierungen uber die beobachtbare Welt. Konsequenterweise kann wissenschaftliche Erkenntnis iiber die nicht beobachtbare Welt nie durch die Art induktiven Denkens etabliert werden, die wir diskutiert haben. Das bringt den Induktivisten in die unangenehme Position, vieles in der gegenwartigen Wissenschaft zuriickzuweisen, weil sie weit iiber das hinausgeht, was durch induktives Generalisieren des unmittelbar Beobachtbaren gerechtfertigt werden kann. Ein weiteres Problem entsteht durch die Tatsache, dass viele wissenschaftliche Gesetze in exakter, mathematischer Form formuliert sind. Das Gravitationsgesetz, das besagt, dass die Kraft zwischen zwei Massen proportional zum Produkt dieser Massen, geteilt durch das Quadrat der zwischen ihnen liegenden Distanz ist, stellt ein einfaches Beispiel dar. Im Vergleich zur Exaktheit solcher Gesetze sind die Messungen, welche die beobachtbaren Beweise fur sie darstellen, wenig exakt. Es wird anerkannt, dass alle Beobachtungen in gewissem Umfang fehlerbehaftet sind, was sich in der Praxis von Wissenschaftlem dadurch ausdriickt, dass diese das Resultat einer bestimmten Messung in der Form x±dx niederschreiben, wobei dx den geschatzten Umfang des Messfehlers darstellt. Wenn wissenschaftliche Gesetze induktive Generalisierungen beobachtbarer Tatsachen sind, steht man vor dem Problem, dass fehlerbehaftete Messungen die Pramissen induktiver Argumente darstellen. Ebenso problematisch ist die Frage, wie auf der Basis wenig exakter Beweise jemals exakte Gesetze induktiv gerechtfertigt werden konnen. Ein drittes Problem des Induktivisten ist eine alte „philosophische Kamelle", die das Induktionsproblem genannt wird. Das Problem entsteht fiir jeden, der sich der Sichtweise verschreibt, wissenschaftliche Erkenntnis musse in alien Aspekten entweder durch einen Bezug zur (deduktiven) Logik gerechtfertigt sein oder dadurch, dass sie aus Tatsachen gewonnen ist. David Hume war ein Philosoph des 18. Jahrhunderts, der diese Sichtweise vertrat, und er war es auch, der das Problem, das nun dargestellt werden soil, klar benannte. Das Problem entsteht, wenn die Frage aufgeworfen wird, wie die Induktion selbst gerechtfertigt werden kann. Wie kann das Induktionsprinzip belegt werden? Fiir die, die sich mit dieser Frage beschaftigen, gibt es nur zwei Moglichkeiten, eine Rechtfertigung unter Bezugnahme auf die Logik oder eine Rechtfertigung unter Bezugnahme auf die Erfahrung. Wir haben bereits gesehen, dass die erste Moglichkeit nicht gegeben ist. Es bleibt die zweite Moglichkeit, der Versuch,

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Induktion unter Bezugnahme auf Erfahrung zu rechtfertigen. Wie kann eine solche Rechtfertigung aussehen? Vermutlich in etwa folgendermaBen: Es kann festgestellt werden, dass Induktion in einer Vielzahl von Fallen fUnktioniert hat. Zum Beispiel wurden die Gesetze der Optik, gewonnen durch Induktion aus Ergebnissen von Laborexperimenten, oft eingesetzt, um optische Instrumente zu entwickeln, die zufriedenstellend arbeiteten. Ebenso werden die Gesetze der Planetenbewegungen, induktiv aus der Beobachtung der Positionen von Planeten geschlossen, erfolgreich eingesetzt, um Sonnenfmsternisse und Konjunktionen vorherzusagen. Die Liste konnte in groBem Umfang durch erfolgreiche Vorhersagen und Erklarungen erweitert werden, von denen wir annehmen, dass sie auf induktiv gewonnenen wissenschaftlichen Gesetzen und Theorien basieren. Daher, so wird argumentiert, rechtfertigt sich Induktion durch die Erfahrung. Dies kann nicht akzeptiert werden, was deutlich wird, wenn das Argument in folgender Weise schematisch dargestellt wird: Das Induktionsprinzip war erfolgreich bei der Gelegenheitxy. Das Induktionsprinzip war erfolgreich bei der Gelegenheit X2 etc. Das Induktionsprinzip ist immer erfolgreich. Hier wird eine allgemeine Aussage zur Gultigkeit des Induktionsprinzips aus einer Reihe von Einzelbeispielen seiner Anwendung geschlossen. Das Argument ist daher selbst induktiv. Konsequenterweise beinhaltet der Versuch, Induktion unter Bezugnahme auf die Erfahrung zu rechtfertigen, das, was man versucht zu beweisen. Diese Rechtfertigung der Induktion beinhaltet einen Rtickgriff auf die Induktion und ist daher vollig unbefriedigend. Ein Versuch, das Induktionsproblem zu vermeiden, besteht darin, die Forderung, dass wissenschaftliche Erkenntnis erwiesenerweise wahr sein muss, abzuschwachen und sich damit zu begniigen, dass gezeigt werden kann, dass wissenschaftliche Aussagen im Lichte von Beweisen wahrscheinlich wahr sind. So rechtfertigt die enorme Menge von Beobachtungen, die die Aussage stutzen, dass Materialien, die tiber eine hohere Dichte verftigen als Luft, zur Erde fallen, die Annahme, dass die Aussage wahrscheinlich wahr ist, obwohl es nicht moglich ist, die Wahrheit der Aussage zu beweisen. Entsprechend dieses Vorschlags kann das Induktionsprinzip folgendermaBen umformuliert werden: Wenn eine groBe Anzahl von A unter einer groBen Vielfalt von Bedingungen beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten A ohne Ausnahme die Eigenschaft B besitzen, dann besitzen wahrscheinlich alle A die Eigenschaft B. Diese Umformulierung umgeht allerdings auch nicht das Induktionsproblem. Das umformulierte Prinzip bleibt ein allgemeiner Satz. Es macht auf der Basis einer endlichen Zahl von Erfolgen die Aussage, dass alle Anwendungen dieses Prinzips zu allgemeinen Satzen ftihren, die wahrscheinlich wahr sind. In der Konsequenz beinhalten, wie bei der urspriinglichen Form des Prinzips, auch Versuche, die

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probabilistische Version des Induktionsprinzips durch Riickgriff auf die Erfahrung zu rechtfertigen, eine Bezugnahme auf genau die induktiven Argumente, die eigentlich gerechtfertigt werden sollen. Es gibt ein weiteres gmndsatzliches Problem mit der probabilistischen Variante des Induktionsprinzips. Dieses Problem entsteht, wenn prazisiert werden soil, wie wahrscheinlich ein Gesetz oder eine Theorie angesichts der vorliegenden Belege ist. Intuitiv scheint es plausibel anzunehmen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein allgemeines Gesetz wahr ist, in dem Umfang steigt, indem es durch Beobachtungen gesttitzt wird. Die Intuition halt einer genaueren Betrachtung jedoch nicht stand. Legt man die Wahrscheinlichkeitstheorie zugrunde, ist es ausgesprochen schwer, nicht zu dem Schluss zu kommen, dass die Wahrscheinlichkeit jedes allgemeinen Gesetzes, unabhangig von beobachtbaren Belegen, gleich Null ist. In einfachen Worten bedeutet dies, dass beobachtbare Belege aus einer endlichen Anzahl von Beobachtungsaussagen bestehen, wahrend allgemeine Gesetze Aussagen uber eine unbegrenzte Anzahl moglicher Falle sind. Damit ist die Wahrscheinlichkeit eines Gesetzes, eine endliche Zahl dividiert durch eine unendliche, was immer den Wert Null ergibt, unabhangig davon, um welchen Faktor die Zahl der Belege erhoht wird. Anders ausgedriickt: Genauso wie es eine unendliche Menge von Kurven gibt, die durch eine endliche Anzahl von Punkten gezogen werden konnen, gibt es immer eine unendliche Menge von allgemeinen Aussagen, die mit einer endlichen Anzahl von Beobachtungsaussagen vereinbar sind bzw. eine unbegrenzte Menge von Hypothesen, die mit eine begrenzten Menge von Belegen kompatibel sind. In der Konsequenz ist jede ihrer Wahrscheinlichkeiten, wahr zu sein, gleich Null. In Kapitel 12 werden wir eine Moglichkeit diskutieren, diesem Problem zu begegnen. In diesem und dem vorhergehenden Abschnitt wurden zwei Probleme der Auffassung, wissenschaftliche Erkenntnis werde durch induktives SchlieBen aus Tatsachen gewonnen, deutlich gemacht. Das erste betraf die Frage der Spezifikation der Angemessenheit von induktiven Argumenten. Das zweite bezog sich auf die Zirkularitat der Versuche, Induktion im Allgemeinen zu rechtfertigen. Ich halte das zuerst Genannte fur schwerwiegender. Der Grund, warum ich das Induktionsproblem flir nicht so problematisch halte, liegt darin, dass jeder Versuch, Wissenschaft zu rechtfertigen, mit ahnlichen Problemen behaftet ist. Es treten immer Schwierigkeiten auf, wenn rationale Rechtfertigungen fur Prinzipien gesucht werden, weil wir kein rationales Argument flir ein rationales Argument heranziehen konnen, ohne das vorauszusetzen, was wir begriinden wollen. Genauso wenig kann etwas begriindet werden, ohne dass neue Fragen aufgeworfen werden. Dennoch, das, was ein deduktives Argument charakterisiert, kann sehr genau festgestellt werden, wahrend das, was ein gutes induktives Argument ausmacht, in keiner Weise deutlich wird. 4.6 Der Reiz des Induktivismus Mit hoher Pragnanz wird die in den ersten Kapiteln diskutierte induktivistische Sichtweise von Wissenschaft, die wissenschaftliche Erkenntnis als etwas begreift, was durch induktives SchlieBen aus Tatsachen gewonnen wird, in der folgenden.

45 von einem Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts geschriebenen Passage, ausgedriickt: Wenn wir uns hier vorzustellen versuchen, wie ein Verstand von libermenschlicher Kraft und Reichweite, der jedoch in Bezug auf die logischen Gedankengange ganz normal ware,... die wissenschaftliche Methode betreiben wtirde, so wtirde dieser Prozess folgendermaBen aussehen: Zunachst wtirde er samtliche Tatsachen ohne Auslese und A priori-Vermutung uber ihre relative Bedeutung beobachten und aufzeichnen. Zweitens wtirde er die beobachteten und aufgezeichneten Tatsachen analysieren, vergleichen und klassifizieren, ohne auf andere Hypothesen oder Postulate zurtickzugreifen, als er sie notwendigerweise fur logisches Denken braucht. Drittens wtirde er aus dieser Analyse der Tatsachen induktiv Verallgemeinerungen beztiglich der klassifikatorischen und kausalen Beziehungen zwischen ihnen gewinnen. Viertens wtirde er in seiner weiteren Forschung sowohl deduktiv als auch induktiv vorgehen, wobei er Schltisse aus zuvor aufgestellten Verallgemeinerungen verwenden wtirde. (Wolfe, zitiert nach Hempel, 1974, S. 21, Hervorhebungen im Orig.) Wir haben gesehen, dass die Idee, die Sammlung von Tatsachen konne und solle vor dem Erwerb und der Akzeptanz von jeglichem Wissen stattfinden, fi^agwtirdig ist. Dies anzunehmen bedeutet, dass meine Beobachtungen der Flora im australischen Busch einen hoheren Wert hatten, als die eines getibten Beobachters, weil ich wenig uber Botanik weiB. Wir wollen diesen Aspekt der Charakterisierung von Wissenschaft durch unseren Wirtschaftswissenschaftler zurtickweisen. Was bleibt, ist ein Konzept mit besonderer Anziehung. Es ist in Abbildung 2 zusammengefasst. Gesetze und Theorien, die wissenschaftliche Erkenntnis konstituieren, werden per Induktion aus einer sachlichen Basis gewonnen, die die Beobachtung und das Experiment liefern. Ist solch generelles Wissen verfugbar, kann es herangezogen werden, um Vorhersagen zu machen und Erklarungen zu bieten. Betrachten wir folgende Schlussfolgerung:

1. Reines Wasser gefriert bei 0 Grad Celsius (nach einer gewissen Zeit). 2.

Der Ktihler meines Autos enthalt nahezu reines Wasser.

3.

Wenn die Temperatur unter 0 Grad Celsius sinkt, dann gefi-iert das Wasser in dem Ktihler meines Autos (nach einer gewissen Zeit).

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Gesetze und Theorien

Erkldrung und Vorhersage

Beobachtungsaussagen

Abbildung 2

Dies ist ein Beispiel flir eine logisch giiltige Schlussfolgerung, mit der man Vorhersage (3) aus der wissenschaftlichen Erkenntnis, die in der Voraussetzung (1) enthalten ist, ableiten kann. Wenn (1) und (2) wahr sind, dann muss auch (3) wahr sein. Jedoch kann die Wahrheit von (1), (2) oder (3) nicht durch diese oder irgendeine andere Deduktion begriindet werden. Fiir einen Induktivisten ist die Quelle der Wahrheit nicht die Logik, sondem die Erfahrung. Aus dieser Sicht wurde (1) aus der unmittelbaren Beobachtung gefrierenden Wassers ermittelt. Wenn erst einmal (1) und (2) durch Beobachtung und Induktion bestatigt worden sind, dann kann Vorhersage (3) aus ihnen deduziert werden. Weniger triviale Beispiele sind natiirlich komplizierter. Die Rolle jedoch, die der Beobachtung, der Induktion und der Deduktion zukommt, bleibt im Wesentlichen die Gleiche. Als letztes Beispiel soil dargestellt werden, wie die Naturwissenschaft das Phanomen des Regenbogens vom induktivistischen Standpunkt aus erklaren kann. Die einfache Voraussetzung (1) des vorangegangenen Beispiels wird hier durch eine Anzahl von Gesetzen ersetzt, die die Eigenschaften des Lichts beschreiben, namentlich die Reflexions- und Brechungsgesetze des Lichtes sowie Aussagen zur Abhangigkeit der Farbe vom Grad der Brechung. Diese allgemeinen Naturgesetze lassen sich mittels Induktion aus der Erfahrung ableiten. Es wird eine groBe Anzahl von Laborexperimenten durchgefiihrt, in denen Lichtstrahlen von Spiegeln und Wasseroberflachen reflektiert werden. Gemessen werden die Einfalls- und Brechungswinkel der Lichtstrahlen beim Obergang von Luft in Wasser, von Wasser in Luft usw. Diese Experimente werden unter einer groBen Viel-

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fait von Bedingungen wiederholt, bis die Bedingungen, die notwendig sind, um die induktive Verallgemeinerung der optischen Gesetze zu rechtfertigen, erflillt sind. Die Voraussetzung (2) des vorhergegangenen Beispiels wird ebenfalls durch ein komplexeres Aufgebot von Aussagen ersetzt. Dies beinhaltet Aussagen uber die Auswirkung der Tatsache, dass die Sonne in Relation zu einem Beobachter auf der Erde eine bestimmte Position einnimmt und dass die Regentropfen aus einer Wolke stammen, die sich ebenfalls in Bezug auf den Beobachter in einem bestimmten Gebiet befindet. Eine Anzahl derartiger Aussagen, die Einzelheiten des jeweiligen Forschungsgegenstandes beschreiben, werden im Folgenden als Anfangsbedingungen^ bezeichnet. Beschreibungen von experimentellen Versuchsanordnungen sind typische Beispiele fiir Anfangsbedingungen. Kennt man die Gesetze der Optik und die entsprechenden Anfangsbedingungen, dann ist es moglich, deduktiv eine Erklarung fur die Entstehung eines fiir einen Beobachter sichtbaren Regenbogens abzuleiten. Diese Deduktionen sind nicht mehr so einfach nachvollziehbar wie in den vorherigen Beispielen. Sie verwenden sowohl mathematische als auch verbale Ableitungen. Die Argumentationskette ist in etwa die Folgende: Wenn wir davon ausgehen, dass ein Regentropfen annahemd kugelformig ist, dann wird der Weg eines Lichtstrahls ungefahr so verlaufen, wie in Abbildung 3 dargestellt.

zum Beobachter

Abbildung 3

^ Bei Popper als „Randbedingungen" bezeichnet (vgl. Popper, 1982, S. 31-33), auch „Ausgangsbedingungen"; besser ware vielleicht „individuelle Bedingungen" oder „individuelle Gegebenheitem" (vgl. Seiffert, 1983, S. 170). (Anm. d. Hrsg.)

48 Wenn ein weiBer Lichtstrahl bei a auf einen Regentropfen trifft, dann wird sich der rote Anteil entsprechend dem Brechungsgesetz entlang ab fortbewegen und der blaue Anteil entlang ab\ Entsprechend den Reflexionsgesetzen muss ab entlang be und ab' entlang b'c' reflektiert werden. Die Brechung bei c und c' wird wieder durch das Brechungsgesetz bestimmt, sodass ein Beobachter, der den Regentropfen sieht, die roten und blauen Bestandteile des weiBen Lichtes getrennt wahmimmt (und ebenso alle anderen Farben des Spektrums). Die gleiche Differenzierung der Farben kann unser Beobachter bei jedem Regentropfen sehen, der sich in einer Region des Himmels befindet, in der die Verbindungslinie zwischen Regentropfen und Sonne und die Linie, die der Regentropfen mit dem Beobachter bildet, einen Winkel D beschreibt. Geometrische Uberlegungen fuhren dann zu dem Ergebnis, dass fur einen Beobachter ein farbiger Regenbogen nur dann sichtbar sein kann, wenn die Regenwolke eine ausreichend groBe Ausdehnung hat. Die Erklarung fiir den Regenbogen wurde hier lediglich skizziert. Dies soil jedoch ausreichen, um die allgemeine Form des ihr zugrundeliegenden Gedankenganges zu veranschaulichen. Vorausgesetzt, die Gesetze der Optik sind wahr (und fiir den „naiven" Induktivisten konnen diese aus der Beobachtung durch Induktion nachgewiesen werden), und unter der Voraussetzung, dass die Anfangsbedingungen genau beschrieben wurden, dann folgt daraus notwendigerweise die Erklarung vom Phanomen des Regenbogens. Somit lasst sich die allgemeine Form wissenschaftlicher Erklarung und Vorhersage folgendermaBen zusammenfassen: 1. Gesetze und Theorien 2. Anfangsbedingungen 3. Vorhersagen und Erklarungen Dies ist der Schritt, der auf der rechten Seite von Abbildung 2 dargestellt wurde. Die grundsatzliche induktivistische Herangehensweise hat eine unmittelbare Anziehungskraft. Sie liegt darin, dass sie auf formale Weise das zusammenfasst, was der allgemeinen Meinung uber die spezifischen Charakteristika wissenschaftlicher Erkenntnis wie Objektivitat, Zuverlassigkeit und Nutzlichkeit entspricht. Der induktivistische Beitrag zur Frage der Nutzlichkeit von Wissenschaft, m Bezug auf die Erleichterung von Vorhersage und Erklarung, wurde in diesem Abschnitt bereits diskutiert. Die Objektivitat von Wissenschaft, so wie sie von Induktivisten gesehen wird, kann aus dem Umfang abgeleitet werden, in dem Beobachtung, Induktion und Deduktion selbst als objektiv angesehen werden. Beobachtbare Tatsachen werden als etwas verstanden, das durch den vorurteilsfreien Gebrauch der Sinne bereitgestellt wird, was keinen Raum fur subjektive Meinungen lasst. Induktives und deduktives SchlieBen sind in dem Umfang angemessen, in dem sie offentlich formulierten Kriterien der Angemessenheit entsprechen. Es bleibt also ebenfalls kein Raum fur personliche Meinungen. Ableitungen entsprechen entweder objektiven Standards oder sie tun dies nicht.

49 Die Zuverlassigkeit der Wissenschaft folgt aus den induktivistischen Ansprtichen an die Beobachtung, die Induktion und die Deduktion. Entsprechend dem „naiven" Induktivisten ergeben sich auf Tatsachen bemhende Beobachtungsaussagen, welche die Basis der Wissenschaft bilden, direkt und verlasslich durch den sorgfaltigen Gebrauch der Sinne. Im weiteren Verlauf wird diese Verlasslichkeit auf die Gesetze und Theorien ubertragen, die auf induktivem Weg aus diesen Tatsachen abgeleitet wurden. Voraussetzung ist, dass die Bedingungen adaquater induktiver Generalisierung erfiillt sind. Eine Garantie daftir bietet das Induktionsprinzip, von dem angenommen wird, dass es die Basis der Wissenschaft bildet. So attraktiv sie auch erscheinen mag, wir haben gesehen, dass die induktivistische Position im besten aller Falle einiger emstzunehmender Einschrankungen bedarf Im schlechtesten aller Falle ist sie vollig inadaquat. Wir haben gesehen, dass wissenschaftliche Tatsachen in keinster Weise einfach gegeben sind, sondem konstruiert werden mussen, dass sie in nicht vernachlassigbarer Weise von dem Wissen abhangen, das sie voraussetzen (eine Komplikation, die das Schema in Abbildung 2 tibergeht), und dass sie verbessert und ersetzt werden konnen. Schwerer wiegt, dass wir nicht in der Lage waren, eine so prazise Spezifikation dessen vorzunehmen, was Induktion ist, dass wir in der Lage sind, eine gerechtfertigte Generalisierung von Tatsachen von einer unuberlegten oder iibereilten zu unterscheiden, eine gewaltige Aufgabe angesichts der Fahigkeit der Natur, uns zu Uberraschen, wie zum Beispiel durch die Entdeckung, dass suprafluide Stoffe aufwarts flieBen konnen. In Kapitel 12 werden wir einige jungere Versuche, den induktivistischen Beitrag zur Wissenschaft von seinen Schwierigkeiten zu befreien, diskutieren. Bis dort hin werden wir uns in den nachsten beiden Kapiteln einem Philosophen zuwenden, der versucht, die Probleme des Induktivismus zu umgehen, indem er eine Sichtweise von Wissenschaft entwickelt, die sich nicht auf Induktion bezieht.

Weiterfuhrende Literatur Die historische Quelle des Induktionsproblems ist Humes ,,Traktat uber die menschliche Natur'\\9QA, Teil 3). Eine andere klassische Diskussion des Problems liefert Russell (1981, Kap. 6). Eine sorgfaltige technische Untersuchung der Konsequenz von Humes Argumenten nimmt Stove (1973) vor. Poppers Behauptung, das Induktionsproblem gelost zu haben, findet sich in Popper (1984, Kap. 1). Gut verstandliche Beitrage zum induktiven Denken konnen bei Hempel (1974) und Salmon (1975) geftmden werden und etwas ausftihrlicher bei Glymour (1980). Eine Sammlung von Essays zur induktiven Logik, inklusive einer eigenen provokativen Ubersicht von Lakatos selbst, findet sich bei Lakatos (1968).

Der Falsifikationismus

5.1 Einleitung Karl Popper war der vehementeste Verfechter einer Alternative zum Induktivismus, die allgemein als Falsifikationismus bezeichnet wird. Popper studierte in den 1920er Jahren in Wien, einer Zeit, in der eine Gruppe den Logischen Positivismus formulierte, die als Wiener Kreis bekannt wurde. Einer der bedeutendsten Vertreter war Rudolph Camap, und die Auseinandersetzungen und Debatten zwischen seinen und Poppers Anhangem war bis in die 1960er Jahre zeijtraler Bestandteil der Wissenschaftsphilosophie. Popper selbst erzahlt die Geschichte, wie er seine Illusionen liber die Idee, Wissenschaft sei etwas Besonderes, weil sie auf Tatsachen basiere (je mehr desto besser), verlor. Er wurde misstrauisch, als er sah, wie Freudianer und Marxisten ihre Theorie stiitzten, indem sie eine groBe Spannbreite von Beispielen menschlichen Verhaltens bzw. historischen Wechsels in den Worten ihrer Theorie interpretierten und gleichzeitig behaupteten, dass ihre Theorien durch diese Beispiele bestatigt seien. Es schien Popper, als konnten sich diese Theorien niemals als falsch erweisen, weil sie gentigend flexibel waren, um mit jedem Beispiel menschlichen Verhaltens oder historischen Wechsels vereinbar zu sein. In der Konsequenz konnten diese Theorien, obwohl sie als aussagekraftig und durch eine Menge von Tatsachen belegt erschienen, nichts erklaren, weil sie nichts ausschlieBen konnten. Popper verglich dies mit einer bertihmt gewordenen Oberpriifung von Einsteins Relativitatstheorie, die Eddington 1919 vomahm. Einsteins Theorie impliziert, dass sich Lichtstrahlen kriimmen, wenn sie massive Objekte, wie die Sonne, in groBer Nahe passieren. Dennoch erscheint ein Stern, der hinter der Sonne liegt, an emer anderen Stelle als dies der Fall ware, wenn es diese Krummung nicht gebe. Eddington suchte nach dieser Verschiebung, indem er einen solchen Stem wahrend einer Sonnenfinstemis betrachtete. Es zeigte sich, dass die Verschiebung beobachtet werden konnte, und Einsteins Theorie wurde bestatigt. Popper merkte jedoch an, dass dies ebenso nicht hatte eintreten konnen. Indem eine spezifische uberprufbare Vorhersage vorgenommen wird, setzt sich die Allgemeine Relativitatstheorie einem Risiko aus. Sie schlieBt Beobachtungen aus, die nicht mit ihr in Einklang stehen. Popper zog den Schluss, dass genuine

52 wissenschaftliche Theorien dadurch, dass sie definitive Vorhersagen machen, in einer Art und Weise eine Reihe von beobachtbaren Tatbestanden ausschlieBen, wie dies nach seinem Dafurhalten bei den Theorien von Freud und Marx nicht der Fall ist. Er gelangte so zu seiner Schlusselidee, dass wissenschaftliche Theorien falsifizierbar sind. Falsifikationisten gestehen ohne weiteres ein, dass Beobachtung theoriegeleitet ist und Theorien voraussetzt. Sie haben keine Probleme damit, jede Art von Anspruch aufzugeben, der impliziert, dass sich Theorien im Lichte von beobachtbarer Evidenz als wahr oder wahrscheinlich wahr erweisen miissen. Theorien stellen spekulative und vorlaufige Vermutungen oder Annahmen dar, die der menschliche Intellekt in dem Versuch kreiert, Probleme vorausgehender Theorien zu tiberwinden und eine wissenschaftliche Erklarung zu einigen Aspekten der Welt bzw. des Universums zu leisten. Einmal vorgeschlagen, miissen diese spekulativen Theorien streng und rticksichtslos durch Beobachtung und Experiment Uberpriift werden. Theorien, die Beobachtungen und Experimenten nicht standhalten, miissen fallen gelassen werden und durch weitere spekulative Vermutungen ersetzt werden. Wissenschaft schreitet durch Versuch und Irrtum, Vermutung und Widerlegung voran. Nur die geeignetste Theorie iiberlebt. Obwohl nie gesagt werden kann, dass eine Theorie wahr ist, kann doch gesagt werden, sie sei die beste, die verfugbar ist bzw. dass sie besser als alle vorausgegangenen ist. Es ergeben sich fiir den Falsifikationismus keine Probleme, Induktion zu charakterisieren oder zu rechtfertigen, weil Wissenschaft entsprechend dieses Ansatzes keine Induktion beinhaltet. Die Inhalte dieser stark verkiirzten Zusammenfassung des Falsifikationismus soil in den nachsten beiden Kapiteln ausfiihrlicher dargelegt werden.

5.2 Ein logisches Argument zur Unterstutzung des Falsifikationismus Theorien konnen gemaB dem Falsifikationismus als falsch nachgewiesen werden, wenn entsprechende Beflmde aus Beobachtungen und Experimenten vorliegen. Es gibt ein einfaches und logisches Argument, das den Falsifikationismus in diesem Punkt zu unterstiitzen scheint. Bereits im vierten Kapitel haben wir gesehen, dass selbst dann, wenn wir davon ausgehen konnen, dass wahre Beobachtungsaussagen verfugbar sind, es allein auf dieser Grundlage dennoch niemals moglich ist, durch logische Deduktionen zu universellen Gesetzen zu gelangen. Andererseits ist es moglich, ausgehend von einzelnen Beobachtungsaussagen logische Deduktionen durchzufuhren, um so nachzuweisen, dass universelle Gesetze und Theorien falsch sind. Gehen wir zum Beispiel von der Aussage „Am Ort x zum Zeitpunkt t wurde ein Rabe beobachtet, der nicht schwarz war" aus, dann folgt daraus logischerweise, dass die Aussage „Alle Raben sind schwarz" falsch ist. Das bedeutet, dass der folgende Beweis eine logisch giiltige Deduktion darstellt: Voraussetzung:

Am Ort x zum Zeitpunkt t wurde ein Rabe beobachtet, der nicht schwarz war.

Schlussfolgerung: Nicht alle Raben sind schwarz.

53

1st die Voraussetzung zutreffend und wird die Schlussfolgemng verworfen, so ergibt sich ein Widerspruch. Zwei weitere Beispiele sollen diesen recht trivialen logischen Sachverhalt veranschaulichen: Wenn man in einem Experiment durch Beobachtung nachweisen kann, dass sich ein Gewicht von 10 kg und ein Gewicht von 1 kg im freien Fall mit annahernd gleicher Geschwindigkeit nach unten bewegen, dann kann hieraus die Schlussfolgemng gezogen werden, dass die Behauptung, Korper fallen mit einer Geschwindigkeit proportional zu ihrem Gewicht, falsch ist. Wenn zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, dass ein Lichtstrahl, der dicht an der Sonne vorbeifuhrt, in einer gebogenen Linie abgelenkt wird, dann trifft es nicht zu, dass sich Licht notwendigerweise in gerader Linie fortpflanzt. Die Falschheit von allgemeinen Aussagen kann von entsprechenden Einzelaussagen abgeleitet werden. Dieser logische Sachverhalt ist der Grundsatz des Falsifikationismus.

5.3 Falsifizierbarkeit als Kriterium fur gute Theorien Der Falsifikationismus betrachtet Wissenschaft als eine Menge von Hypothesen, die versuchsweise vorgeschlagen werden, um das Verhalten bestimmter Aspekte der Welt oder des Universums zu beschreiben und zu erklaren. Jedoch gentigt es nicht, irgendeine Hypothese heranzuziehen. Es gibt eine grundlegende Bedingung, die jede Hypothese oder jedes System von Hypothesen erftillen muss, bevor sie den Status eines wissenschaftlichen Gesetzes oder einer Theorie erhalten kann. Eine Hypothese muss, soil sie einen Beitrag zur Wissenschaft leisten, falsifizierbar sein. Bevor wir fortfahren, muss geklart werden, wie der Terminus ,/alsifizierbar'' im Falsifikationismus verwendet wird. Nachfolgend einige Beispiele von einfachen Behauptungen, die im angesprochenen Sinne falsifizierbar sind: 1.

Mittwochs regnet es nie.

2.

Alle Stoffe dehnen sich bei Hitze aus.

3.

Schwere Gegenstande, wie etwa Ziegelsteine, fallen, wenn man sie nahe der Erdoberflache loslasst und sie auf kein Hindemis treffen, in gerader Linie nach unten.

4.

Wenn ein Lichtstrahl von einem ebenen Spiegel reflektiert wird, ist der Einfallswinkel gleich dem Ausfallswinkel.

Behauptung (1) ist falsifizierbar, well sie durch die Beobachtung falsifiziert werden kann, dass es an einem Mittwoch regnet. Behauptung (2) ist ebenfalls falsifizierbar. Sie kann durch die Beobachtungsaussage, dass sich irgendein Stoff x nicht ausgedehnt hat, als er zum Zeitpunkt t erhitzt wurde, falsifiziert werden. Um Aussage (2) zu falsifizieren, konnte man die Eigenschaft von Wasser nahe dem Gefrierpunkt betrachten. Aussagen (1) und (2) sind also beide falsifizierbar und falsch. Behauptungen (3) und (4) konnten, soweit wir wissen, wahr sein. Aber trotzdem sind sie falsifizierbar im besagten Sinne. Es ist logisch moglich, dass der

54 nachste Ziegelstein, der fallen gelassen wird, nach oben „fallt". Die Behauptung „Der Ziegelstein fallt aufwarts, wenn man ihn loslasst" beinhaltet keinen Widerspruch, obwohl es sein mag, dass eine solche Aussage noch niemals durch Beobachtung bestatigt wurde. Behauptung (4) ist falsifizierbar, weil es denkbar ware, dass ein Lichtstrahl, der in einem schragen Winkel auf einen Spiegel fallt, im rechten Winkel zum Spiegel reflektiert wird. Dies wird niemals eintreffen, wenn das Reflexionsgesetz wahr ist, aber wenn es eintreten wiirde, bedeutete dies keinen logischen Widerspruch. Behauptungen (3) und (4) sind falsifizierbar, auch wenn sie wahr sein mogen. Eine Hypothese ist falsifizierbar, wenn eine oder mehrere logisch mogliche Beobachtungsaussagen existieren, die mit der Hypothese unvereinbar sind. Wenn diese als wahr nachgewiesen werden, wurden sie die Hypothese falsifizieren. Im Folgenden einige Beispiele fur Aussagen, die diesen Anforderungen nicht gerecht werden und die durchgangig nicht falsifizierbar sind: 5.

Entweder es regnet oder es regnet nicht.

6.

Alle Punkte auf einem euklidischen Kreis befmden sich gleich weit vom Mittelpunkt entfemt.

7.

Bei Sportwetten kann Gluck im Spiel sein.

Keine logisch mogliche Beobachtungsaussage konnte Aussage (5) widerlegen. Sie ist wahr, wie das Wetter auch immer sein mag. Behauptung (6) ist notwendigerweise wahr, weil der euklidische Kreis so definiert ist. Sind die Punkte auf einem Kreis nicht gleich weit von einem Fixpunkt entfemt, dann handelt es sich schlichtweg nicht um einen euklidischen Kreis. Die Aussage „Alle Junggesellen sind unverheu-atet" ist aus demselben Grund nicht falsifizierbar. Behauptung (7) ist ein Zitat aus einem Horoskop einer Zeitung. Sie ist ein typisches Beispiel fur das Irrefuhrende an Behauptungen von Wahrsagem. Diese Behauptung ist nicht falsifizierbar. Es lauft darauf hinaus, dem Leser weiszumachen, dass, wenn er heute wettet, er gewinnen konnte. Dies bleibt wahr, ob er nun wettet oder nicht, und auch wenn er tatsachlich wettet, bleibt die Aussage wahr, gleichgultig, ob er dabei gewinnt oder verliert. Der Falsifikationismus fordert, dass wissenschaftliche Hypothesen in dem eben besprochenen Sinne falsifizierbar sein mussen. Denn nur durch das Ausscheiden einer Menge logisch moglicher Beobachtungsaussagen ist ein Gesetz oder eine Theorie aussagekraftig. Wenn eine Aussage nicht falsifizierbar ist, dann kann die Wirklichkeit alle moglichen Eigenschaften besitzen und sich wie auch immer verhalten, ohne mit der Aussage im Widerspruch zu stehen. Im Gegensatz zu den Aussagen (1), (2), (3) und (4) teilen uns die Aussagen (5), (6) und (7) nichts uber die Wirklichkeit mit. Ein wissenschaflliches Gesetz oder eine wissenschaftliche Theorie sollte uns idealerweise bestimmte Informationen daruber vermitteln, wie sich die Wirklichkeit tatsachlich verhalt, wobei (logisch) denkbare Moglichkeiten, wie sie sich verhalten konnte, es aber tatsachlich nicht tut, ausgeschlossen werden sollten. Das Gesetz „Alle Planeten bewegen sich auf elliptischen Bahnen um die Sonne" ist insofem wissenschaftlich, als es die Aussage macht, dass sich Planeten auf elliptischen Bahnen bewegen und quadratische oder ovale

55 Umlaufbahnen ausschlieBt. Gerade well das Gesetz definitive Aussagen uber die Umlaufbahnen von Planeten macht, besitzt es einen Informationsgehalt und ist falsifizierbar. Ein fluchtiger Blick auf einige Gesetze, die als typische Komponenten wissenschaftlicher Theorien betrachtet werden konnen, zeigt uns, dass sie das Kriterium der Falsifizierbarkeit erfiillen. Es ist leicht einzusehen, dass Gesetze wie „Gegensatzliche magnetische Pole ziehen einander an" oder „Wird zu einer Base Saure gegeben, so entstehen Salz und Wasser" falsifizierbar sind. Allerdings lehrt der Falsifikationismus, dass einige Theorien, nur oberflachlich betrachtet, den Anschein erwecken, die Eigenschaften guter wissenschaftlicher Theorien zu besitzen, tatsachlich jedoch nicht falsifizierbar sind und deswegen zuriickgewiesen werden sollten. Popper behauptete, dass zumindest einige Lesarten der marxistischen Geschichtstheorie, der Psychoanalyse von Freud und der Individualpsychologie von Adler an diesem Fehler kranken. Dieser Aspekt soil an der folgenden, etwas iiberzogenen Darstellung der adlerschen Psychologie verdeutlicht werden. Eine fiindamentale Lehre in Adlers Theorie ist die, dass die Motive menschlichen Handelns in Minderwertigkeitsgefuhlen zu suchen sind. In unserem Beispiel wird diese Sichtweise durch folgenden Vorfall belegt: Wahrend ein Mann am Ufer eines gefahrlichen Flusses steht, sttirzt ganz in der Nahe ein Kind ins Wasser. Der Mann springt nun entweder ins Wasser und versucht, das Kind zu retten, oder er tut es nicht. Springt der Mann ins Wasser, dann wird der Adlerianer eine Begriindung zur Hand haben, wie dies seine Theorie unterstutzt. Der Mann musste offensichtlich sein Gefuhl der Minderwertigkeit dadurch iiberwinden, dass er trotz der Gefahr den Mut dazu aufbringt, ins Wasser zu springen. Wenn der Mann nicht ins Wasser springt, kann der Adlerianer genauso gut den Anspruch erheben, dass dies ein Beleg fur seine Theorie ist: Der Mann hat seine Minderwertigkeitsgefiihle uberwunden, indem er demonstriert, dass er die Starke und Macht besitzt, gelassen am Ufer stehen zu bleiben, wahrend das Kind ertrinkt. Wenn diese Karikatur kennzeichnend fur die adlersche Theorie ist, dann ist diese Theorie nicht falsifizierbar. Sie ist mit jeder Art menschlichen Verhaltens vereinbar, und gerade deswegen sagt sie iiber menschliches Verhalten iiberhaupt nichts aus. Gewiss, bevor Adlers Theorie aus diesen Griinden zuriickgewiesen wird, ware es notwendig, statt eines Zerrbildes die naheren Einzelheiten der Theorie zu untersuchen. Aber es gibt eine Menge von soziologischen, psychologischen und theologischen Theorien, die den Verdacht aufkommen lassen, dass sie mit dem Anspruch, alles erklaren zu wollen, eben gar nichts erklaren. Die Existenz eines liebenden Gottes und das Eintreffen irgendeiner Katastrophe konnen in Einklang gebracht werden, wenn die Katastrophe so interpretiert wird, dass sie uns geschickt wird, um uns auf die Probe zu stellen oder uns zu bestrafen - was sich eben gerade in der entsprechenden Situation anbietet. Viele Beispiele aus dem Tierreich konnen als Beweise betrachtet werden, welche die Annahme „Der Korper eines Tieres erfullt optimal die jeweils an ihn gestellten Anforderungen" unterstutzen. Theoretiker, die in dieser Weise vorgehen, machen sich den Ausfliichten von Wahrsagern schuldig und werden von Falsifikationisten kritisiert. Wenn eine Theorie einen informativen Gehalt haben soil, dann muss sie die Moglichkeit bieten, falsifiziert zu werden.

56 5.4 Falsifizierbarkeit, Eindeutigkeit und Prazision Eine gute wissenschaftliche Theorie oder ein gutes wissenschaftliches Gesetz sind allein deswegen falsifizierbar, well sie definitive Aussagen uber die Wirklichkeit machen. Fiir den Falsifikationisten bedeutet dies gleichzeitig, dass eine Theorie mit zunehmender Falsifizierbarkeit auch im weitesten Sinne besser wird. Je umfassender die Ansprtiche einer Theorie sind, desto groBer ist die Zahl moglicher Gelegenheiten, um nachzuweisen, dass sich die Welt in Wirklichkeit nicht so verhalt, wie es die Theorie besagt. Eine sehr gute Theorie ist eine Theorie, die umfassende Aussagen uber die Welt macht, die folglich in hohem MaBe falsifizierbar ist und die stets einer Falsifizierung standhalt. Was damit gemeint ist, soil mithilfe eines einfachen Beispiels veranschaulicht werden. Betrachten wir die beiden folgenden Gesetze: (a) Der Mars bewegt sich auf einer elliptischen Bahn um die Sonne. (b) Alle Planeten bewegen sich auf einer elliptischen Bahn um ihre jeweilige Sonne. Es bestehen wohl keine Zweifel, dass (b) als ein Sttick wissenschaftliche Erkenntnis einen hoheren Stellenwert hat als (a). Gesetz (b) umfasst Gesetz (a) und geht daruber hinaus. Gesetz (b), das vorgezogen werden muss, ist falsifizierbarer als (a). Wenn Beobachtungen vom Mars Gesetz (a) falsifizieren wurden, dann wtirden sie auch Gesetz (b) falsifizieren. Jegliche Falsifikation von (a) wurde eine Falsifikation von (b) bedeuten, jedoch nicht umgekehrt. Ebenso sind Beobachtungsaussagen beziiglich der Umlaufbahnen von Venus, Jupiter etc., die (b) falsifizieren, fiir (a) irrelevant. Wenn wir in Anlehnung an Popper diejenige Menge von Beobachtungsaussagen, die dazu dienen konnte, ein Gesetz oder eine Theorie zu falsifizieren, als Falsifikationsmoglichkeiten dieses Gesetzes oder dieser Theorie bezeichnen, dann konnen wir sagen, dass die Falsifikationsmoglichkeiten von (a) eine Teilmenge der Falsifikationsmoglichkeiten von (b) sind. Gesetz (b) ist falsifizierbarer als Gesetz (a), was gleichzeitig bedeutet, dass es das umfassendere und somit das bessere Gesetz ist. Ein weniger kunstliches Beispiel bezieht sich auf das Verhaltnis zwischen Keplers und Newtons Theorien des Sonnensystems. Als Theorie von Kepler bezeichnen wir seine drei Gesetze der Planetenbewegungen. Falsifikationsmoglichkeiten dieser Theorie bestehen aus einer Menge von Aussagen zu den Planetenpositionen in Bezug zur Sonne zu bestimmten Zeiten. Die Theorie von Newton verdrangte als eine umfassendere und damit bessere Theorie die Theorie Keplers. Sie besteht aus Newtons Bewegungsgesetzen sowie seinem Gravitationsgesetz. Letzteres macht die Aussage, dass sich zwei Korper im Universum gegenseitig mit einer Kraft anziehen, die umgekehrt proportional zu dem Quadrat ihres Abstandes ist. Falsifikationsmoglichkeiten der newtonschen Theorie stellt zum Beispiel die Menge von Aussagen uber Planetenpositionen zu bestimmten Zeiten dar. Aber es gibt eine Vielzahl weiterer Falsifikationsmoglichkeiten, wie zum Beispiel Falsifikationen, die sich auf das Verhalten fallender Korper und auf Pendelbewegungen

57 beziehen oder auf den Zusammenhang zwischen der Flut und dem Stand der Sonne und des Mondes. Es gibt weitaus mehr Moglichkeiten, die Theorie von Newton zu falsifizieren als die keplersche. Und trotzdem konnte sich die newtonsche Theorie den Falsifikationsversuchen widersetzen und damit ihre Uberlegenheit liber die keplersche Theorie beweisen. Hoch falsifizierbare Theorien sollten weniger falsifizierbaren vorgezogen werden, vorausgesetzt, sie werden nicht tatsachlich falsifiziert. Diese Voraussetzung ist fur den Falsifikationisten entscheidend. Theorien, die falsifiziert werden, miissen grundsatzlich zurtickgewiesen werden. Wissenschaft besteht darin, hoch falsifizierbare Hypothesen vorzuschlagen sowie hartnackig und bewusst zu versuchen, sie zu falsifizieren. Um Popper (2000, S. 337) zu zitieren: Ich will daher geme zugeben, dass Falsifikationisten wie ich es vorziehen zu versuchen, ein interessantes Problem durch eine ktihne Hypothese zu losen, statt einen Katalog von irrelevanten Binsenwahrheiten zusammenzustellen, auch dann, wenn der Versuch sich als schwierig erweist, oder geradezu als ein Fehlschlag. Wir Ziehen das vor, weil wir glauben, dass dies der Weg ist, um aus unseren Fehlern zu lemen; und dass wir durch die Entdeckung, dass unsere Vermutung falsch ist, viel uber die Wahrheit gelemt haben und ihr nahergekommen sind. (Hervorhebungen i. Orig.) Wir lernen aus unseren Fehlern. Der Fortschritt der Wissenschaft ist durch Versuch und Irrtum bedingt. Da die Ableitung universeller Gesetze und Theorien aus Beobachtungsaussagen als nicht moglich nachgewiesen wurde, jedoch die Deduktion ihrer Falschheit logisch moglich ist, wurden Falsifikationen die wichtigsten Meilensteine, die aufsehenerregendsten Leistungen und entscheidendsten Momente in der Entwicklung von Wissenschaft. Die Betonung der Falsifikation vom Standpunkt des eher extremen Falsifikationismus aus, die vielleicht unserer Intuition zunachst zuwiderlauft, wird in den spateren Kapiteln kritisiert. Da Wissenschaft Theorien mit einem groBen Informationsgehalt anstrebt, begriiBen es die Falsifikationisten, dass man ktihne und spekulative Vermutungen anstellt. Es miissen unbesonnene Spekulationen angeregt werden, vorausgesetzt, dass sie falsifizierbar sind und zurtickgewiesen werden, sobald sie falsifiziert werden. Diese Alles-oder-Nichts-Forderung steht im Widerspruch zu dem behutsamen Vorgehen, das von dem extremen Induktivisten vertreten wird. Letzterer lasst in der Wissenschaft lediglich solche Theorien zu, die als wahr oder wahrscheinlich wahr dargestellt werden konnen. Demnach sollten wir liber gegenwartig vorliegende Resultate aus Experimenten nur so weit hinausgehen, als uns dies legitime Induktionen erlauben. Im Gegensatz dazu erkennt der Falsifikationist die Begrenztheit der Induktion und die Theorieabhangigkeit von Beobachtung an. Die Geheimnisse der Natur konnen nur mithilfe von differenzierten und kreativen Theorien aufgedeckt werden. Je groBer die Zahl der vorgeschlagenen Theorien ist, die mit der Realitat der Welt konfrontiert werden und je spekulativer solche Vermutungen sind, umso groBer sind die Chancen flir entscheidende Fortschritte in der Wissenschaft. Es besteht keine Gefahr eines Zuviels an spekulativen Theorien,

58 sofem jede Theorie, die sich in der Folge von Beobachtung oder anderer LFberpriifung zur Beschreibung der Welt als inadaquat herausstellt, rigoros eliminiert wird. Die Forderung, dass Theorien hoch falsifizierbar sein sollten, hat die positive Konsequenz, dass Theorien eindeutig und exakt aufgestellt werden mtissen. Wenn eine Theorie derart vage formuliert ist, dass es nicht absolut eindeutig ist, was ausgesagt wird, dann kann sie jeweils so interpretiert werden, als ob sie mit den Ergebnissen aus Beobachtungen und Experimenten iibereinstimmen wtirden. Auf diese Art und Weise konnte sie gegen Falsifikation verteidigt werden. Goethe (1979, S. 268f.; Originalausgabe 1810) schrieb zum Beispiel tiber die Elektrizitat: Es ist ... ein Nichts, ein Null, ein Nullpunkt, ein GleichgUltigkeitspunkt, der aber in alien erscheinenden Wesen liegt und zugleich der Quellpunkt ist, aus dem bei dem geringsten Anlass eine Doppelerscheinung hervortritt, welche nur insofem erscheint, als sie wieder verschwindet. Die Bedingungen, unter welchen jenes Hervortreten erregt wird, sind nach Beschaffenheit der besonderen Korper unendlich verschieden. Wenn wir dieses Zitat flir bare Mtinze nehmen, ist es sehr schwierig zu erkennen, welcher experimentell-physikalische Versuchsaufbau dazu dienen konnte, diese Aussage zu falsifizieren. Gerade weil sie so vage und ungenau ist (zumindest derartig aus dem Kontext gerissen), ist sie nicht falsifizierbar. Dadurch, dass Politiker und Wahrsager ihre Aussagen derart vage formulieren, sodass sie zutreffen, was auch immer eintreten mag, kann man ihnen kaum den Vorwurf der Falschaussage machen. Die Forderung nach einem hohen Grad an Falsifizierbarkeit schlie6t solche Kunstgriffe aus. Der Falsifikationist fordert, dass Theorien mit ausreichender Eindeutigkeit formuliert werden, um sich damit auf das Risiko der Falsifikation einzulassen. Eine ahnliche Situation besteht beziiglich der Prazision einer Theorie. Je genauer eine Theorie formuliert ist, umso falsifizierbarer wird sie. Wenn wir anerkennen, dass eine Theorie umso besser ist, je falsifizierbarer sie ist (vorausgesetzt, sie ist nicht falsifiziert worden), dann milssen wir auch anerkennen, dass sie auch umso besser ist, je genauer ihre Aussagen sind. Die Aussage „Planeten wandem in elliptischen Bahnen um die Sonne" ist genauer als „Planeten wandem in geschlossenen Bahnen um die Sonne" und damit falsifizierbarer. Eine ovale Kreisbahn wurde die erste Aussage falsifizieren, nicht aber die zweite, wohingegen irgendeine Umlaufbahn, die die zweite Aussage falsifiziert, ebenso die erste falsifizieren wtirde. Der Falsifikationist muss der ersten Aussage den Vorzug geben. Ebenso muss er die Aussage, dass die Lichtgeschwindigkeit in einem Vakuum 299,8 x 10^ m/sec betragt, der weniger genauen Aussage, dass sie ungefahr 300 x lO^m/sec betragt, vorziehen, allein, weil die erste Aussage falsifizierbarer ist. Die eng miteinander verbundenen Forderungen nach Prazision und Eindeutigkeit einer Aussage ergeben sich beide problemlos aus der falsifikationistischen Sichtweise von Wissenschaft.

59 5.5 Falsifikationismus und wissenschaftlicher Fortschritt Der Fortschritt der Wissenschaft, wie ihn der Falsifikationist sieht, kann folgendermaBen zusammengefasst werden: Wissenschaft geht von Problemen aus, und zwar von Problemen, die mit der Erklarung bestimmter Aspekte der Welt oder des Universums zu tun haben. Falsifizierbare Hypothesen werden von Wissenschaftlern als Losungen fiir diese Probleme vorgeschlagen. Die Hypothesen werden dann kritisch betrachtet und uberpriift. Einige Hypothesen werden recht schnell verworfen, andere hingegen mogen sich als erfolgreicher erweisen. Diese mussen zum Gegenstand noch strengerer Kritik und Oberprufung werden. Wenn eine Hypothese, die erfolgreich einer Vielfalt rigoroser LFberprtifungen standgehalten hat, schlieBlich falsifiziert wird, ist ein neues Problem aufgetaucht, das hoffentlich bereits ein Stuck weiter vom gelosten Ausgangsproblem entfemt ist. Dieses neue Problem erfordert, dass neue Hypothesen aufgestellt werden, gefolgt von emeuter kritischer Uberprtifung. In dieser Weise setzt sich der Prozess unbegrenzt fort. Man kann niemals von einer Theorie behaupten, dass sie wahr ist, wie gut sie auch rigoroser tJberprtifung standgehalten hat; aber es kann hoffentlich gesagt werden, dass eine gegenwartige Theorie der vorangegangenen in dem Sinne uberlegen ist, dass sie den LFberprtifungen standhalten kann, durch die die vorherigen falsifiziert wurden. Bevor wir auf einige Beispiele eingehen, die die falsifikationistische Vorstellung vom Fortschritt der Wissenschaft veranschaulichen, soil zunachst auf den Anspruch eingegangen werden, dass Wissenschaft mit Problemen einsetzt. Einige Fragen, mit denen sich Wissenschaftler in der Vergangenheit auseinandergesetzt haben, lauten zum Beispiel: Wieso sind Fledermause in der Lage, nachts so ungemein geschickt zu fliegen, obwohl sie nur sehr kleine und schwache Augen haben? Warum zeigt ein einfaches Barometer bei groBer Hohe liber dem Meeresspiegel einen niedrigeren Wert als bei geringer Hohe? Warum haben sich die Photoplatten im Labor von Rontgen immer wieder geschwarzt? Warum verschiebt sich das Perihel des Merkurs zunehmend? Diese Probleme gehen alle mehr oder weniger aus direkter Beobachtung hervor. Betrachtet man diese Tatsache, dann konnte man sich fragen, ob nicht auch fiir den Falsifikationisten ebenso wie fur den naiven Induktivisten Wissenschaft mit Beobachtung beginnt? Die Antwort auf diese Frage muss definitiv vemeint werden. Die oben zitierten Beobachtungen, aus denen sich die Probleme ableiten, sind lediglich problematisch im Licht ganz bestimmter Theorien. Die erste Beobachtung ist problematisch unter dem Aspekt der Theorie, dass lebende Organismen mit ihren Augen „sehen"; die zweite war fur diejenigen problematisch, die Galileis Theorie beftirworteten, weil dies im Widerspruch zu der Theorie stand, die von der „Kraft des Vakuums" ausging und die von ihnen als Erklarung dafur herangezogen wurde, warum die Quecksilbersaule eines Barometers nicht fallt; die dritte Beobachtung war problematisch ftir Rontgen, weil zu der damaligen Zeit ganz selbstverstandlich angenommen wurde, dass keine Strahlung oder Ausdunstung irgendeiner Art existierte, die den Behalter mit den Photoplatten durchdringen und diese schwarzen konnte; die vierte Beobachtung war insofern problematisch, weil sie mit Newtons Theorie unvereinbar war. Der Anspruch, dass Wissenschaft von Problemen ausgeht, steht voll-

60 kommen in Einklang mit dem Primat der Theorie uber Beobachtung und Beobachtungsaussagen. Wissenschaft beginnt nicht mit reiner Beobachtung. Nach diesem Exkurs wollen wir zur falsifikationistischen Vorstellung vom Fortschritt der Wissenschaft kommen. Er wird beschrieben als das Fortschreiten vom Problem zu spekulativen Hypothesen, zu ihrer kritischen Uberprtifiing, ihrer moglichen Falsifikation und von da aus zu neuen Problemen. Zwei Beispiele sollen diesen Prozess zeigen. Das erste, ein sehr einfaches, bezieht sich auf das Problem des Nachtfluges von Fledermausen, das zweite, ein etwas komplexeres, beschreibt den Fortschritt in der Physik. Wir beginnen mit dem Problem der Fledermause. Fledermause sind in der Lage, muhelos und mit hoher Geschwindigkeit zwischen den Asten von Baumen, Telegraphenleitungen etc. und aneinander vorbeizufliegen und dabei Insekten zu fangen, und dies, obgleich sie schwache Augen haben und zudem noch meistens nachts fliegen. Dies wirft ein Problem auf, well dies allem Anschein nach auch die plausible Theorie falsifiziert, dass Tiere, wie der Mensch auch, mit ihren Augen sehen. Als Falsifikationist wird man nun versuchen, das Problem so zu losen, dass man eine Vermutung oder Hypothese aufstellt. Vielleicht sind Fledermause, obwohl sie anscheinend schwache Augen haben, trotzdem auf irgendeine Art und Weise, die wir noch nicht verstehen, in der Lage, nachts durchaus wirksam mit ihren Augen zu sehen. Diese Hypothese kann Uberpriift werden. Eine Anzahl von Fledermausen wird in einem abgedunkelten Raum, in dem Hindemisse angebracht sind,fi*eigelassenund es wird ihre Fahigkeit, den Hindemissen auszuweichen, auf irgendeine Art und Weise gemessen. Denselben Fledermausen werden dann die Augen verbunden, und sie werden emeut im Testraum fi-eigelassen. Vor dem Experiment kann der Experimentator den folgenden Schluss ziehen, wobei eine der Voraussetzungen zur Deduktion seiner Hypothese konkret wie folgt lautet: „Fledermause sind in der Lage, beim Fliegen Hindernissen auszuweichen, wobei sie auf ihre Augen angewiesen sind, und sie konnen dies nicht, ohne ihre Augen zu benutzen". Die zweite Voraussetzung ist eine Beschreibung der experimentellen Situation, einschlieBlich der Aussage „Dieser Stichprobe von Fledermausen wurden die Augen verbunden, sodass sie ihre Augen nicht benutzen konnen". Aus diesen beiden Voraussetzungen kann der Experimentator deduktiv ableiten, dass die Stichprobe von Fledermausen nicht in der Lage sein wird, die Hindernisse in dem Testlabor wirksam zu umfliegen. Das Experiment wird nun durchgefiihrt und es wird herausgeftmden, dass die Fledermause ZusammenstoBe ebenso wirksam vermeiden konnen wie zuvor. Die Hypothese wird falsifiziert. Es muss nun emeut eine Vermutung bzw. eine Hypothese aufgestellt werden. Vielleicht schlagt ein Wissenschaftler vor, dass in irgendeiner Weise die Ohren der Fledermause an der Fahigkeit beteiligt sind, Hindemisse zu umfliegen. Als Versuch, diese Hypothese zu falsifizieren, kann das Experiment dienen, den Fledermausen, bevor sie in dem abgedunkelten Testraum fi*eigelassen werden, die Ohren zu verstopfen. Diesmal stellt sich heraus, dass die Fahigkeit der Fledermause, den Hindernissen auszuweichen, bedeutsam beeintrachtigt ist. Die Hypothese wurde bestatigt. Der Falsifikationist muss nun versuchen, seine Hypothese praziser zu fassen, sodass sie zunehmend falsifizierbarer wird. Es wird vorgeschlagen, dass die Fledermaus das Echo ihrer eigenen Laute horen konnte, das von festen Objekten widerhallt. Dies

61 wird tiberpruft, indem den Fledermausen die Fahigkeit genommen wird, Laute von sich zu geben, ehe sie im Testraum freigelassen werden. Emeut prallen die Fledermause gegen Hindemisse, und emeut ist damit die Hypothese bestatigt. Der Falsifikationist scheint damit eine vorlaufige Losung fiir sein Problem gefunden zu haben, obgleich er nicht fur sich beanspruchen kann, tatsachlich experimentell bewiesen zu haben, wie Fledermause beim Fliegen ZusammenstoBe vermeiden. Es konnten sich eine ganze Reihe von Faktoren herausstellen, die belegen, dass er sich geirrt hat. Vielleicht nehmen Fledermause Echos nicht mit ihren Ohren wahr, sondern mit sensitiven Regionen nahe den Ohren, deren Funktion durch das Zustopfen der Ohren ausgeschaltet wurde. Oder vielleicht nehmen unterschiedliche Arten von Fledermausen Hindemisse in ganz unterschiedlicher Weise wahr, sodass die im Experiment verwendeten Fledermause nicht wirklich reprasentativ waren. Der Fortschritt der Physik von Aristoteles uber Newton bis Einstein liefert ein prominenteres Beispiel. Die falsifikationistische Beschreibung dieses Fortschritts sieht etwa folgendermaBen aus. Die aristotelische Physik war in gewissem Umfang recht erfolgreich. Sie konnte eine Vielfalt von Phanomenen erklaren, so zum Beispiel, warum schwere Gegenstande auf den Boden fallen (sie suchen ihren naturlichen Platz im Zentrum des Universums), sie konnte den Mechanismus von Saugglocken und Vakuumpumpen erklaren (die Erklarung beruhte auf der Unmoglichkeit des Vakuums) und so weiter. Aber letztendlich wurde die aristotelische Physik auf vielerlei Weise falsifiziert. Steine fielen von der Mastspitze eines sich gleichmaBig bewegenden Schiffes auf das Deck am FuB des Mastes und nicht in einiger Entfernung des Mastes, wie dies die Theorie von Aristoteles vorhersagte. Es konnte beobachtet werden, dass die Jupitermonde den Jupiter umkreisten und nicht die Erde. Eine groBe Anzahl weiterer Falsifikationen sammelten sich im Laufe des 17. Jahrhunderts an. Die newtonsche Physik war jedoch, sobald sie einmal von Galilei und Newton in einem Prozess von Vermutungen entworfen und entwickelt war, der aristotelischen Theorie iiberlegen und ersetzte diese. Newtons Theorie konnte eine Erklamng fur fallende Gegenstande geben, fiir die Funktionsweise von Saugglocken und Vakuumpumpen und alles andere, das die aristotelische Theorie erklaren konnte und wurde dartiber hinaus Phanomenen gerecht, die fur die aristotelische Theorie problematisch waren. Zusatzlich konnte Newtons Theorie Phanomene erklaren, die durch die aristotelische Theorie nicht bertihrt wurden, wie etwa die Beziehung zwischen den Gezeiten und dem Stand des Mondes, oder die Variation der Schwerkraft in Abhangigkeit von der Hohe tiber dem Meeresspiegel. Uber zwei Jahrhunderte lang war Newtons Theorie erfolgreich. Das heiBt, Versuche, sie in Bezug auf ein neues Phanomen, das mit ihrer Hilfe vorhergesagt wiirde, zu falsifizieren, blieben ohne Erfolg. Die Theorie fuhrte sogar zu der Entdeckung eines neuen Planeten, des Planeten Neptun. Aber ungeachtet ihres Erfolges haben anhaltende Falsifiziemngsversuche sich schlieBlich als erfolgreich herausgestellt. Newtons Theorie wurde auf unterschiedlichen Wegen falsifiziert. Sie war ebenso wenig in der Lage, Details der Kreisbahn des Planeten Merkur zu erklaren, wie die veranderliche Masse von sich schnell bewegenden Elektronen in einer Entladungsrohre. Physiker sahen sich herausfordernden Problemen gegeniiber, und um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert for-

62 derten diese Probleme neue spekulative Hypothesen, die zur Cberwindung dieser Probleme entwickelt wurden. Einstein wurde dieser Herausforderung gerecht. Seine Relativitatstheorie war in der Lage, die Phanomene zu erklaren, die Newtons Theorie falsifizierten, wahrend sie es gleichzeitig mit Newtons Theorie in den Bereichen aufiiehmen konnte, in denen diese erfolgreich uberpriift worden war. Dartiber hinaus brachte Einsteins Theorie die Vorhersage spektakularer Phanomene hervor. Seine Spezielle Relativitatstheorie sagt vorher, dass die Masse eine Funktion der Geschwindigkeit sei und dass Masse in Energie transformierbar ist und umgekehrt. Seine Allgemeine Relativitatstheorie sagt vorher, dass Lichtstrahlen in starken Gravitationsfeldem gebeugt werden. Versuche, Einsteins Theorie im Hinblick auf diese neuen Phanomene zu widerlegen, misslangen. Die Falsifikation der einsteinschen Theorie bleibt eine Herausforderung fur die modeme Physik. Der Erfolg, falls er eintreten sollte, wurde einen neuen Schritt nach vorn im Fortschritt der Physik bedeuten. Dies stellt eine typische falsifikationistische Sichtweise vom Fortschritt der Physik dar. In spateren Kapiteln werden wir zeigen, dass ihre Richtigkeit und GUltigkeit in Zweifel gezogen werden muss. Aus dem vorangegangenen Abschnitt wird deutlich, dass das Konzept vom Fortschritt und der Entwicklung von Wissenschaft ein Konzept ist, das in der falsifikationistischen Vorstellung von Wissenschaft eine zentrale Rolle spielt. Dieser Frage wird im Einzelnen im folgenden Kapitel nachgegangen.

Weiterfiihrende Literatur Der klassische Text zum Falsifikationismus ist Poppers „Logik der Forschung" (10. Aufl. 1994). Er erschien 1934 auf Deutsch und erst 1959 wurde eine englischsprachige Obersetztung vorgelegt. Daruber hinaus liegen mit „Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis" (2000, engl. Originalausgabe 1963) und „Objektive Erkenntnis. Ein evolutionarer Entwurf (1984, engl. Originalausgabe 1973) neuere Textsammlungen von Popper vor. Im ersten Kapitel von „Vermutungen und Widerlegungen" berichtet Popper, wie er auf dem Weg eines Vergleichs von Freud, Adler und Marx mit Einstein seine eigenen zentralen Ideen entwickelte. Weitere Quellen zum Falsifikationismus werden am Ende des nachsten Kapitels angegeben.

Der raffinierte Falsifikationismus, neuartige Vorhersagen und der Fortschritt der Wissenschaft

6.1 Relativer und absoluter Falsifizierbarkeitsgrad In dem vorangegangenen Kapitel kamen bestimmte Bedingungen zur Sprache, die eine Hypothese erfullen muss, damit sie wert ist, von einem Wissenschaftler untersucht zu werden. Eine Hypothese sollte falsifizierbar sein - je falsifizierbarer, desto besser - und dennoch nicht bereits falsifiziert worden sein. Raffinierte Falsifikationisten sind sich dariiber im Klaren, dass diese Bedingungen allein nicht ausreichend sind. Eine weitere Bedingung bezieht sich auf den Anspruch, dass sich die Wissenschaft weiterentwickeln sollte. Eine Hypothese, die vorgesehen ist, eine andere zu ersetzen, sollte daher falsifizierbarer sein als jene, die sie ersetzen soil. Der raffinierte Falsifikationismus^, der auf den Fortschritt der Wissenschaft abhebt, betont weit mehr die relativen Verdienste konkurrierender Theorien als die Verdienste einzelner Theorien. Diese Sichtweise vermittelt im Gegensatz zu der eher statischen Darstellung der meisten naiven Falsifikationisten ein eher dynamisches Bild der Wissenschaft. Statt zu firagen „Ist diese Theorie falsifizierbar?", „Wie falsifizierbar ist diese Theorie?" und „Ist diese Theorie falsifiziert worden?", wird nunmehr die Frage gestellt „Ist diese neu vorgeschlagene Theorie ein tragfahiger Ersatz flir die Theorie, mit der sie konkurriert?". Im Allgemeinen wird man darin Ubereinstimmen, dass auf den Vorschlag einer neuen Theorie erst dann eingegangen werden sollte, wenn sie falsifizierbarer als ihre rivalisierende Theorie ist, und insbesondere, wenn sie ein neues Phanomen vorhersagt, das von der konkurrierenden Theorie nicht beriihrt wurde. Der Akzent, der auf den Vergleich des Falsifizierbarkeitsgrades von aufeinander folgenden Theorien gelegt wird und der sich aus der Betonung von Wissenschaft als einer Menge standig wachsender Erkenntnis ergibt, ermoglicht es, ein formales Problem zu vermeiden. Denn es ist tatsachlich sehr schwierig, genaue Angaben dariiber zu machen, wie falsifizierbar nun gerade eine bestimmte Theorie ist. Ein absolutes FalsifizierbarkeitsmaB lasst sich nicht defmieren, einfach desweengl. „sophisticated falsificationism" (Anm. d. Hrsg.)

64 gen, well die Anzahl der Falsifikationsmoglichkeiten einer Theorie stets unendlich ist. Es fallt einem schwer, sich vorzustellen, wie die Frage „Wie falsifizierbar ist das Gravitationsgesetz von Newton?" beantwortet werden konnte. Auf der anderen Seite ist es haufig moglich, den Falsifizierbarkeitsgrad von Gesetzen oder Theorien miteinander zu vergleichen. So ist zum Beispiel die Aussage „Alle Korper Ziehen sich gegenseitig mit einer Kraft an, die sich umgekehrt proportional zu dem Quadrat ihres Abstandes verhalt" falsifizierbarer als die Aussage „Die Planeten des Sonnensystems ziehen sich gegenseitig mit einer Kraft an, die sich umgekehrt proportional zu dem Quadrat ihres Abstandes verhalt". Die zweite Aussage folgt aus der ersten. Alles, was die zweite Aussage falsifiziert, falsifiziert auch die erste Aussage, der umgekehrte Fall trifft jedoch nicht zu. Fur den Falsifikationisten ware es eine Idealvorstellung, wenn er behaupten konnte, dass die aufeinander folgenden Theorien, die gemeinsam die geschichtliche Entwicklung einer Wissenschaft bilden, aus falsifizierbaren Theorien bestehen, wobei jede Theorie aus dieser Reihe falsifizierbarer ist als ihre Vorgangerin.

6.2 Die Erhohung der Falsifizierbarkeit und Ad-hoc-Modifikationen Die Forderung, dass in dem MaBe, in dem sich eine Wissenschaft weiterentwickelt, auch ihre Theorien stets falsifizierbarer werden, folglich immer mehr Informationsgehalt besitzen und zunehmend umfassender werden, schlieBt Modifikationen der Theorien aus, die lediglich dazu dienen, die Theorie gegen eine bedrohliche Falsifikation zu schiitzen. Die Modifikation einer Theorie, wie das Hinzufagen einer zusatzlichen Annahme oder eine Veranderung irgendeiner bestehenden Annahme, die keine weiteren iiberpriifbaren Konsequenzen hat als die nicht modifizierte Theorie, werden Ad-hoc-Modifikationen genannt. Im Weiteren werden in diesem Abschnitt Beispiele angefuhrt, die den Begriff der Ad-hoc-Modifikation erlautem sollen. Wir betrachten zunachst bestimmte Ad-hoc-Modifikationen, die der Falsifikationist verwerfen wiirde, und anschlieBend werden wir diesen Beispielen Modifikationen gegentiberstellen, die keine Ad-hoc-Modifikationen darstellen und die der Falsifikationist folglich begrtiBen wtirde. Wir beginnen mit einem recht trivialen Beispiel. Betrachten wir einmal die Verallgemeinerung „Brot ist nahrhaft". Wenn wir diese simple Theorie naher betrachten, kommen wir zu dem Schluss, dass auf tibliche Weise angebauter Weizen, der auf tibliche Weise zu Brot verarbeitet und auf tibliche Weise verzehrt wird, flir Menschen nahrhaft ist. Diese anscheinend harmlose Theorie wurde problematisch, als in einem franzosischen Dorf Weizen, der auf die tibliche Weise angebaut und auf tibliche Weise zu Brot verarbeitet wurde, die Ursache daflir war, dass die meisten Menschen, die von dem Brot gegessen hatten, ernstlich erkrankten und viele sogar starben. Die Theorie „Brot ist nahrhaft" wurde falsifiziert. Um diese Falsifikation zu vermeiden, kann die Theorie modifiziert werden, indem die Lesart dahingehend geandert wird, dass man sagt: „Brot, mit Ausnahme dieser bestimmten Menge Brot, die in dem besagten fi-anzosischen Dorf produziert wurde, ist nahrhaft." Dies ist eine Ad-hoc-Modifikation. Man kann die modifizierte Theorie nicht auf eine andere Art und Weise uberprufen als die ursprlingli-

65 che Theorie. Wenn ein Mensch ein Brot verzehrt, dann ist dies eine Uberpriifung der ursprunglichen Theorie, wohingegen Uberprtifungen der modifizierten Theorie auf den Verzehr eines Brotes beschrankt bleiben, das nicht zu der Menge des Brotes gehort, das in Frankreich zu derart verhangnisvollen Auswirkungen gefuhrt hatte. Die modifizierte Hypothese ist weniger falsifizierbar als die urspriingliche Hypothese. Der Falsifikationist lehnt deshalb derartige nachtragliche Modifikationen ab. Das nachste Beispiel ist weniger tragisch, aber dafiir unterhaltsamer. Es ist ein Beispiel, welches sich auf einen tatsachlich zu Beginn des 17. Jahrhunderts ereigneten Disput zwischen Galilei und einem seiner Gegner, einem Anhanger von Aristoteles, bezieht. Nachdem Galilei den Mond sorgfaltig mithilfe seines gerade neu entwickelten Fernrohres beobachtet hatte, konnte er berichten, dass der Mond keineswegs eine glatte Kugel sei, sondern dass die Mondoberflache reich an Bergen und Kratem ist. Sein Gegner aus dem aristotelischen Lager musste zugeben, dass es sich in der Tat so verhalte, als er selbst die Beobachtungen wiederholte. Die Beobachtungen bedrohten jedoch eine Vorstellung, die fur viele Anhanger von Aristoteles grundlegend war, namlich dass alle Himmelskorper vollkommene Kugeln seien. Galileis Rivale verteidigte seine Theorie, die offensichtlich der Gefahr ausgesetzt war, falsifiziert zu werden, auf eine Art, die in bedenklicher Weise der Definition von Ad-hoc-Modifikationen nahe kommt. Er behauptete, dass es auf dem Mond eine unsichtbare Substanz gebe, die die Krater fiillen und die Berge bedecken wtirde, sodass der Mond doch vollkommen kugelformig sei. Als Galilei wissen wollte, wie das Vorhandensein dieser unsichtbaren Substanz festgestellt werden konne, antwortete sein Gegner, dass es nun mal keine Moglichkeit gebe, sie nachzuweisen. Es besteht wohl nicht der geringste Zweifel dartiber, dass die modifizierte Theorie zu keinen neuen tiberprufbaren Konsequenzen flihrte und so fiir einen Falsifikationisten vollig unannehmbar sein musste. Es gelang dem gereizten Galilei, diese Unzulanglichkeit seines Gegners auf seine bekanntermaBen geistreiche Art aufzudecken. Er ktindigte an, dass er bereit sei, zuzugeben, dass es auf dem Mond eine unsichtbare Substanz gebe, die nicht nachgewiesen werden konne, aber er bestehe darauf, dass sie sich nicht auf die Art und Weise verteile, wie dies sein Gegner behauptete, sondern dass sie sich in Wirklichkeit auf den Bergspitzen anhaufen wtirde, sodass diese in Wirklichkeit um noch vieles hoher seien als sie durch das Fernrohr zu sein schienen. Galilei gelang es, seinen Gegner in dem fruchtlosen Spiel des Erfindens von Ad-hoc-Modifikationen zu iiberlisten. Es soil noch ein weiteres Beispiel einer Hypothese aus der Geschichte der Wissenschaft angefuhrt werden, die moglicherweise auch ad hoc entstanden ist. Vor Lavoisier war die Phlogistontheorie die anerkannte Theorie der Verbrennung. Nach dieser Theorie schieden Stoffe, wenn sie verbrannten. Phlogiston aus. Diese Theorie wurde durch die Entdeckung gefahrdet, dass viele Stoffe nach der Verbrennung an Gewicht zunehmen. Eine Moglichkeit, die auf der Hand lag, war, sich vorzustellen, dass Phlogiston ein negatives Gewicht hat. Wenn diese Hypothese ausschlieBlich dadurch uberpriift werden konnte, indem Stoffe vor und nach der Verbrennung gewogen werden, dann ware sie ad hoc. Sie wtirde zu keinen neuen Uberprtifungen flihren.

66 Modifikationen einer Theorie, die den Versuch darstellen, eine Schwierigkeit zu uberwinden, mtissen nicht notwendigerweise ad hoc sein. Es folgen nun einige Beispiele von Modifikationen, die nicht ad hoc und die deswegen auch fiir den Falsifikationisten annehmbar sind. Kehren wir zu der Falsifikation der Behauptung „Bi'ot ist nahrhaft" zuruck, um zu sehen, wie diese Behauptung auf eine annehmbare Art und Weise modifiziert werden kann. Sie wiirde annehmbar sein, wenn anstelle der ursprtingUch falsifizierten Theorie die Behauptung „Brot ist nahrhaft bis auf Brote, die aus einem Weizen gemacht sind, der von einer bestimmten Sorte Schimmelpilz verdorben wurde" treten wiirde (gefolgt von einer naheren Beschreibung einiger Eigenschaften des Schimmelpilzes). Diese modifizierte Theorie ist nicht ad hoc, weil sie zu neuen Uberprtifungen fiihrt. Sie kann unabhdngig gepriift werden, um einen Ausdruck von Popper zu verwenden (vgl. Popper, 1974, S. 213-229, insbes. S. 215). Mogliche Uberprtifungen wurden eine Untersuchung des mit Schimmel befallenen Weizens umfassen, aus dem das vergiftete Brot gebacken wurde. Auch konnte der Schimmel auf eigens prapariertem Weizen geztichtet werden, um zu untersuchen, wie hoch der Nahrwert des Brotes ist, das daraus gebacken wurde. Der Schimmel konnte chemisch analysiert werden, um das Vorhandensein von bekannten Giften festzustellen usw. Alle diese Uberprufungen, von denen viele keine LFberprufung der urspriinglichen Hypothese darstellen, konnten auf die Falsifikation der modifizierten Hypothese hinauslaufen. Wenn die modifizierte, falsifizierbarere Hypothese durch neue Uberprufungen nicht falsifiziert wird, dann haben wir etwas Neues gelernt und konnen einen Fortschritt verzeichnen. Wenn wir uns wieder einem weniger konstruierten Beispiel aus der Geschichte der Wissenschaft zuwenden, dann konnen wir die Reihe von Ereignissen betrachten, die zu der Entdeckung des Planeten Neptun flihrte. Beobachtungen der Bewegung vom Uranus im 19. Jahrhundert wiesen darauf hin, dass seine Umlaufbahn betrachtlich von der abwich, die man aufgrund der Gravitationstheorie von Newton vorhergesagt hatte. Die Theorie wurde damit vor ein Problem gestellt. Bei dem Versuch, dieses Problem zu losen, vermuteten Leverrier in Frankreich und Adams in England, dass es in der Nahe vom Uranus einen Planeten geben mtisse, den man bis dahin nicht entdeckt hatte. Die Anziehungskraft zwischen dem vermuteten Planeten und dem Uranus wurde als Erklarung fiir die Abweichung von der anfanglich vorhergesagten Umlaufbahn herangezogen. Wie sich schlieBlich zeigte, war diese Vermutung nicht ad hoc. Es war moglich, die ungefahre Nahe des mutmaBlichen Planeten abzuschatzen, vorausgesetzt, er hatte eine ausreichende GroBe und war tatsachlich verantwortlich fiir die Storung der Umlaufbahn des Uranus. Als dies feststand, war es moglich, die neue Vermutung zu tiberpriifen, indem das betreffende Himmelsgebiet mithilfe eines Femrohres abgesucht wurde. Auf diese Art und Weise bekam Galle zum ersten Mai den Planeten zu Gesicht, den man heute als Neptun kennt. Was man tat, um die Theorie von Newton gegen die Falsifikation zu schtitzen, war alles andere als ad hoc; es fuhrte ganz im Gegenteil zu einer neuartigen Uberpriifung dieser Theorie, die sie auf eine dramatische Weise bestand und die einen Fortschritt bedeutete.

67 6.3 Bewahrung im Falsifikationismus Als der Falsifikationismus im vorangegangenen Kapitel als eine Alternative zum Induktivismus eingeflihrt wurde, maBen wir der Falsifikation, d.h. der Tatsache, dass Theorien den Uberprtifungen durch Beobachtungen und Experimente nicht standhalten, eine wesentliche Bedeutung bei. Es wurde behauptet, dass die logische Sachlage zwar die Feststellung erlaubt, dass eine Theorie im Licht der zur Verfiigung stehenden Beobachtungsaussagen falsch ist, jedoch nicht, dass sie wahr ist. Femer wurden Grunde dafur angefiihrt, dass sich die Wissenschaft weiterentwickelt, indem kiihne Vermutungen vorgeschlagen werden, die in hohem MaBe falsifizierbar sind, gefolgt von rigorosen Versuchen, die neuen Vorschlage zu falsifizieren. Gleichzeitig war damit die Vorstellung verkntipft, dass dann bedeutende Fortschritte in der Wissenschaft gemacht werden, wenn diese kiihnen Vermutungen falsifiziert werden. Gerade dies behauptet Popper, der sich in der im 5. Kapitel auf Seite 57 angefiihrten Textstelle selbst als Falsifikationisten betrachtet. Ware man jedoch ausschlieBlich auf die Falsifikation angewiesen, wtirde man der Position des raffmierten Falsifikationismus nicht gerecht werden. Das Beispiel, mit dem der vorangegangene Abschnitt abschloss, enthalt hierfur mehr als nur einen Hinweis. Der Versuch, die Theorie von Newton mit einer spekulativen Hypothese zu retten - ein Versuch, der unabhangig tiberprtifbar war - hatte Erfolg, weil die Hypothese durch die Entdeckung des Planeten Neptun bekraftigt wurde und nicht, weil sie falsifiziert wurde. Es ist ein Fehler, die Falsifikation von hochfalsifizierbaren Vermutungen als Moglichkeit zu betrachten, mit der bedeutende Fortschritte in der Wissenschaft erzielt werden konnen, und Popper muss an dieser Stelle korrigiert werden. Dies wird deutlich, wenn wir verschiedene extreme Moglichkeiten betrachten. Das eine Extrem sind Theorien, die kuhne und gewagte Vermutungen anstellen, wahrend das andere Extrem behutsame Vermutungen sind, mit denen kein bedeutsames Risiko eingegangen wird. Wenn eine dieser beiden Arten von Vermutungen einer tjberprufung durch Beobachtung oder Experiment nicht standhalt, dann wird sie falsifiziert. Halt eine Theorie jedoch einer derartigen Uberprtifung stand, dann konnen wir sagen, dass sich eine Vermutung bewdhrt hat. Bedeutsame Fortschritte werden durch die Bewahrung von kiihnen Vermutungen oder durch die Falsifikation von behutsamen Vermutungen gekennzeichnet. Erstere sind schon einfach deswegen aufschlussreich und liefern einen wesentlichen Beitrag far die wissenschaftliche Erkenntnis, weil sie die Entdeckung von etwas bedeuten, von dem man zuvor nichts wusste oder das man fiir unwahrscheinlich hielt. Die Entdeckung des Neptun, der Radiowellen und Eddingtons Bestatigung von Einsteins gewagter Vorhersage, dass Lichtstrahlen in starken Gravitationsfeldem gebeugt werden, bilden alle einen entscheidenden Fortschritt dieser Art. Gewagte Vorhersagen wurden bestatigt. Die Falsifikation von behutsamen Vermutungen ist deswegen aufschlussreich, weil sie den Nachweis erbringt, dass das, was unproblematisch als Wahrheit betrachtet wurde, in Wirklichkeit falsch ist. Der Beweis von Russell, dass die naive Mengenlehre, die scheinbar auf nahezu selbstevidenten Satzen beruht, in sich widerspruchlich ist, ist ein Beispiel fur eine aufschlussreiche Falsifikation einer Vermutung, die anscheinend kein Risiko in sich bu-gt. Hingegen

68 lehrt uns die Falsifikation einer kiihnen Vermutung oder die Bewdhrung einer behutsamen Vermutung nur wenig. Wenn eine kuhne Vermutung falsifiziert wird, dann ist alles, was man daraus lemt, dass sich wieder eine verrtickte Idee als falsch erwiesen hat. Die Falsifikation der Spekulation von Kepler, dass die raumliche Lage der Planetenbahnen durch die platonischen Korper erklart werden konne, bildet zum Beispiel nicht gerade einen der bedeutsamsten Meilensteine in der Entwicklung der Physik. Ebenso ist die Bewahrung von behutsamen Hypothesen nicht aufschlussreich. Derartige Bewahrungen beweisen lediglich, dass eine gut begrundete Theorie, die fur unproblematisch gehalten wurde, wieder einmal mit Erfolg Anwendung fand. So ware zum Beispiel die Bewahrung der Vermutung, dass sich Eisenstucke, die durch ein neues Verfahren aus Eisenerz gewonnen werden, ebenso wie andere Eisenstiicke ausdehnen, wenn sie erhitzt werden, von nur geringer Bedeutung. Der Falsifikationismus mochte Ad-hoc-Wy^othQSQn ausschlieBen und zu dem Entwerfen von kiihnen Hypothesen als potenzielle Verbesserungen falsifizierter Theorien ermutigen. Diese kiihnen Hypothesen werden zu neuen iiberprufbaren Vorhersagen fuhren, die sich aus der urspriinglich falsifizierten Theorie nicht ergeben. Wahrend die Tatsache, dass eine Hypothese die Moglichkeit zu neuen Uberprufungen eroffiiet, diese ftir die Forschung interessant macht, gilt sie jedoch solange nicht als eine Verbesserung der entsprechenden Theorie, zu deren Ersatz sie aufgestellt wurde, bis sie nicht wenigstens einigen Uberpriifixngen standgehalten hat. Dies ist gleichbedeutend mit der Forderung, dass eine neue und kiihne Theorie, die entworfen wird, erst dann als angemessener Ersatz einer falsifizierten Theorie betrachtet werden kann, wenn sie einige neuartige Vorhersagen macht, die sich bewahrt haben. Viele wilde und vorschnelle Spekulationen iiberstehen nachfolgende Uberpriifungen nicht und konnen deshalb auch nicht als Beitrag zum Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis gewertet werden. Die gelegentlich vorkommende wilde und vorschnelle Spekulation, die zu einer neuartigen und unerwarteten Vorhersage fiihrt und sich dennoch bei Beobachtungen und im Experiment bewahrt, gerat dadurch zu einem Glanzpunkt in der Geschichte des Fortschritts der Wissenschaft. Die Bewahrung von neuartigen Vorhersagen, die sich aus kiihnen Vermutungen ergeben, ist fiir die falsifikationistische Auffassung vom Fortschritt der Wissenschaft von groBer Bedeutung.

6.4 Kiihnheit, Neuartigkeit und Hintergrundwissen Wir miissen dem, was wir iiber die Adjektive „kuhn" und „neuartig" in Bezug auf Hypothesen bzw. auf Vorhersagen gesagt haben, noch etwas hinzufugen. Es sind beides geschichtlich relative Begriffe. Was in einem bestimmten Stadium der Wissenschaftsgeschichte als eine kiihne Vermutung betrachtet wurde, braucht zu einem spateren Zeitpunkt nicht mehr langer kiihri zu sein. Als Maxwell 1864 seine „Dynamische Theorie des elektromagnetischen Feldes" vorstellte, handelte es sich um eine kuhne Vermutung. Die Vermutung war kiihn, well sie im Widerspruch zu Theorien stand, die zu dieser Zeit schon allgemein anerkannt waren. Diese Theorien gingen von der Annahme aus, dass elektromagnetische Systeme (Magnete,

69 geladene Korper, ladungstragende Korper usw.) durch den leeren Raum unmittelbaren Einfluss aufeinander ausiiben und dass die elektromagnetischen Krafte sich nur mit einer endlichen Geschwindigkeit durch materielle Stoffe fortpflanzen. Die Theorie von Maxwell kollidierte mit diesen allgemein anerkannten Annahmen, weil sie vorhersagte, dass Licht eine elektromagnetische Erscheinung ist und dass Wechselstrome, wie spater auch ersichtlich wurde, eine neue Art von Strahlung aussenden, die Radiowellen, die sich mit einer endlichen Geschwindigkeit durch den leeren Raum bewegen. Die Theorie von Maxwell war 1864 kiihn und die Vorhersage der Radiowellen, die daraus folgte, war eine neuartige Vorhersage. Heutzutage ist die Tatsache, dass die Theorie von Maxwell eine genaue Beschreibung tiber das Verhalten einer ganzen Reihe elektromagnetischer Systeme geben kann, ein allgemein anerkannter Bestandteil wissenschaftlicher Erkenntnis. Aussagen tiber die Existenz und die Eigenschaften der Radiowellen werden nicht mehr als neuartige Vorhersagen betrachtet. Wenn wir die Gesamtheit der wissenschaftlichen Theorien, die in einem bestimmten Stadium der Wissenschaftsgeschichte allgemein anerkannt und fest begriindet sind, das Hintergrundwissen dieser Zeit nennen, dann konnen wir sagen, dass eine Vermutung dann kiihn ist, wenn dasjenige, was sie behauptet, angesichts des Hintergrundwissens dieser Zeit unwahrscheinlich ist. Die Allgemeine Relativitatstheorie von Einstein war 1915 eine kiihne Theorie, weil in dieser Zeit das Hintergrundwissen die Annahme enthielt, dass sich Licht in geraden Linien fortbewegt. Dies stand im Widerspruch zu einer Schlussfolgerung der Allgemeinen Relativitatstheorie, nach der Lichtstrahlen in starken Gravitationsfeldem gebeugt werden. Die Astronomic von Kopemikus war 1543 kiihn, weil sie im Widerspruch zu der Hintergrundannahme stand, dass die Erde unbeweglich im Mittelpunkt des Weltalls stehe. Heutzutage wiirde man diese Theorie nicht als kiihn bezeichnen. Genauso wie man Vermutungen in Bezug auf das jeweilige Hintergrundwissen als kuhn betrachtet, so werden auch Vorhersagen als neuartig eingestuft, wenn sie Phanomene betreffen, die in dem Hintergrundwissen dieser Zeit nicht vorkommen oder vielleicht sogar ausdriicklich ausgeschlossen werden. Die Vorhersage der Existenz vom Planeten Neptun im Jahre 1846 war neuartig, weil das Hintergrundwissen dieser Zeit keinen Hinweis auf die Existenz eines derartigen Planeten enthielt. Poisson leitete 1818 aus der Wellentheorie des Lichtes von Fresnel die Vorhersage ab, dass man, wenn man eine lichtundurchlassige Scheibe auf geeignete Art und Weise beleuchtet, in der Mitte der anderen Seite der Scheibe einen hellen Fleck beobachten konne. Die Vorhersage war neuartig, weil das Auftreten dieses hellen Flecks durch die Teilchentheorie des Lichts, die einen Teil des Hintergrundwissens dieser Zeit ausmachte, ausgeschlossen wurde. Im vorigen Abschnitt wurde erortert, dass bedeutende Beitrage zu dem Fortschreiten der wissenschaftlichen Erkenntnis dann zustandekommen, wenn entweder eine kiihne Vermutung bestatigt oder wenn eine behutsame Vermutung falsifiziert wird. Die Akzeptanz von Hintergrundwissen versetzt uns in die Lage, zu erkennen, dass diese beiden Moglichkeiten gemeinsam als das Ergebnis eines einzigen Experiments auftreten. Hintergrundwissen besteht, gerade weil dieses Wissen fest begriindet ist und als unproblematisch betrachtet wird, aus behutsa-

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men Hypothesen. Die Bewahrung einer kuhnen Vermutung hat die Falsifikation eines Teils des Hintergrundwissens zur Folge, hinsichtlich dessen die Vermutung ktihn war.

6.5 Ein Vergleich induktivistischer und falsifikationistischer Sichtweise von Bewahrung So wie die raffinierten Falsifikationisten Wissenschaft sehen, wird der Bewahrung eine wichtige Rolle beigemessen. Dennoch ist es nicht falsch, diesen Standpunkt als „falsifikationistisch" zu bezeichnen. Auch der raffinierte Falsifikationist behauptet, dass man Theorien falsifizieren und verwerfen kann, wohingegen er jedoch in Abrede stellt, dass Theorien jemals wahr oder wahrscheinlich wahr sein konnen. Das Ziel der Wissenschaft bestehe darin, Theorien zu falsifizieren und sie durch bessere Theorien zu ersetzen, die offensichtHch eher in der Lage sind, Uberprtiftingen standzuhalten. Bewahrungen einer neuen Theorie sind insofern bedeutsam, als sie erkennen lassen, dass sie eine Verbesserung der Theorie darstellen, die ersetzt wird. Letztere wird durch die Belege falsifiziert, die durch die neue Theorie hervorgebracht wurden und die die neue Theorie bestatigen. Wenn eine neu vorgeschlagene, kiihne Theorie erfolgreich ihre rivalisierende Theorie verdrangt hat, dann wird sie zum neuen Gegenstand strenger Pruftmgen werden, an dem sich weitere, ktihn vorgeschlagene Theorien messen. Weil der Falsifikationist die Betonung auf den Fortschritt der Wissenschaft legt, hat er eine wesentlich andere Auffassung von Bewahrung als der Induktivist. Die Bedeutung der Bewahrung wird gemaB dem extremen induktivistischen Standpunkt, der im vierten Kapitel beschrieben wurde, ausschlieBlich durch die logische Beziehung zwischen den bewahrten Beobachtungsaussagen und der durch diese begrundeten Theorie bestimmt. Die Beobachtung des Planeten Neptun durch Galle verlieh der newtonschen Theorie ebenso viel Unterstiitzung wie neuere Beobachtungsaussagen. Der historische Kontext, in dem das Beweismaterial erworben wird, ist irrelevant. Wir sprechen dann von Bewahrungen, wenn es einer Theorie induktive Unterstiitzung verleiht. Die Unterstiitzung fiir eine Theorie und die Wahrscheinlichkeit, dass sie wahr ist, ist umso groBer, je ofter sie sich bewahrt hat. Diese ahistorische Bewahrungstheorie wiirde sicherlich die Konsequenz haben, dass zahllose Beobachtungen von fallenden Steinen, Planetenpositionen etc. lohnende wissenschaftliche Aktivitaten auslosten, da sie zu einem Anstieg der Wahrscheinlichkeit des Wahrheitsgehaltes vom Gravitationsgesetz ftihren wiirden. Hingegen ist aus falsifikationistischer Sicht die Bedeutung von Bewahrungen sehr stark im Rahmen ihres historischen Kontexts zu sehen. Bewahrt sich eine Theorie im Hinblick auf eine neue Vorhersage, so bedeutet dies ftir sie einen erheblichen Gewinn. Das heiBt mit anderen Worten, dass eine Bewahrung dann bedeutend ist, wenn dies eigentlich angesichts des Hintergrundwissens dieser Zeit als unwahrscheinlich erachtet wird. Bewahrungen, die selbstverstandlich sind, sind bedeutungslos. Wenn wir heute zur Bewahrung der Theorie von Newton einen Stein zu Boden fallen lieBen, dann leisten wir ftir die Wissenschaft keinen bedeutenden Beitrag. Wenn es uns hingegen morgen gelingen wiirde, dass sich

71 eine spekulative Theorie bewahrt, aus der hervorgeht, dass die Anziehungskraft zwischen zwei Korpern von ihren Temperaturen abhangt, womit wir zugleich die Theorie von Newton falsifizieren wiirden, dann hatten wir sehr wohl einen bedeutenden Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis geleistet. Die Gravitationstheorie von Newton und einige der Einschrankungen, die diese Theorie macht, sind Bestandteil des allgemein anerkannten Hintergrundwissens, wohingegen dies bei der Temperaturabhangigkeit der Anziehungskraft nicht der Fall ist. Es folgt nun noch ein weiteres Beispiel, welches belegt, dass der Falsifikationismus die Bewahrung zu Recht aus einer historischen Perspektive betrachtet. Die Theorie von Maxwell bewahrte sich, als Hertz die ersten Radiowellen nachwies. Die Theorie von Maxwell bewahrt sich zudem auch jedes Mai, wenn wir Radio horen. In beiden Fallen sagt die Theorie vorher, dass man Radiowellen nachweisen wird, und in beiden Fallen verleiht der erfolgreiche Nachweis der Theorie eine induktive Unterstutzung. Trotz alledem ist Hertz beriihmt geworden, da er sie erstmalig nachwies und sich die maxwellsche Theorie dabei bewahrte, wohingegen von der Tatsache, dass wir sie immer wieder nachweisen, wenn wir Radio horen, in der Wissenschaft zu Recht keine Notiz genommen wird. Hertz trug zum wissenschaftlichen Fortschritt bei; wenn wir hingegen Radio horen, dann ist dies lediglich unser privater Zeitvertreib. Der historische Kontext macht den alleinigen Unterschied aus.

6.6 Die Vorteile des Falsifikationismus gegeniiber dem Induktivismus Nach einer Zusammenfassung des Falsifikationismus wird es Zeit, einige der Vorteile dieser Position gegeniiber der induktivistischen Position zu betrachten, nach der, wie in vorangegangenen Kapiteln diskutiert, wissenschaftliche Erkenntnis induktiv aus gegebenen Tatsachen gewonnen wird. Wir haben gesehen, dass einige Tatsachen, im Speziellen experimentell gewonnene, in nicht vernachlassigbarer Weise theorieabhangig und fehlbar sind. Das stellt diejenige induktivistische Position infrage, die von der Wissenschaft verlangt, dass sie eine unproblematische und auf Tatsachen beruhende Begriindung haben soil. Der Falsifikationist erkennt, dass sowohl Tatsachen als auch Theorien fehlbar sind. Dennoch gibt es fur den Falsifikationisten eine wichtige Gruppe von Tatsachen, die die Uberprtifungsgrundlage fur wissenschaftliche Theorien darstellen. Sie besteht aus den auf Tatsachen beruhenden Behauptungen, die einer strengen Uberprtifung standgehalten haben. Das hat zur Folge, dass zwar die Basis der Wissenschaft fehlbar ist, dies jedoch kein so groBes Problem fiir Falsifikationisten darstellt wie fur Induktivisten, da Falsifikationisten eher nach einer kontinuierlichen Verbesserung der Wissenschaft streben als nach einem Beleg von Wahrheit oder wahrscheinlicher Wahrheit. Der Induktivist hat Probleme, Kriterien fiir gutes induktives SchlieBen zu spezifizieren und daher Schwierigkeiten, Fragen nach den Bedingungen zu beantworten, unter denen gesagt werden kann, dass Tatsachen eine signifikante Unterstutzung einer Theorie liefem. Der Falsifikationist ist in diesem Zusammenhang im Vorteil. Tatsachen unterstutzen eine Theorie in bedeutsamer Art und Weise,

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wenn durch sie eine strenge LFberprtifung dieser Theorie geleistet wird. Die Bestatigungen neuartiger Vorhersagen sind wichtige Bestandteile dieser Kategorie. Das macht es moglich zu erklaren, warum Wiederholungen von Experimenten nicht zu einer bedeutsamen Steigemng der empirischen Unterstutzung einer Theorie fuhren, eine Tatsache, der sich extreme Induktivisten nur schwer anschlieBen konnen. Die Durchfuhrung eines bestimmten Experiments kann eine strenge Pnifung einer Theorie darstellen. 1st das Experiment angemessen und hat die Theorie der Uberpriifung standgehalten, werden weitere Wiederholungen des gleichen Experiments jedoch nicht mehr als ein strenger Test der Theorie angesehen und sind daher immer weniger in der Lage, eine bedeutsame Unterstutzung fiir sie zu liefem. Einmal mehr hat der Falsifikationist keine Schwierigkeiten zu erklaren, wie Wissen uber das, was nicht beobachtbar ist, aus Wissen uber beobachtbare Tatsachen gewonnen werden kann, wahrend dies fiir den Induktivisten sehr wohl der Fall ist. Behauptungen uber Nicht-Beobachtbares, konnen einer strengen Uberprufung unterzogen und unterstiitzt werden, indem ihre neuartigen Konsequenzen untersucht werden. Wir haben gesehen, dass Induktivisten Schwierigkeiten haben, induktives SchlieBen, das dazu eingesetzt wird zu zeigen, ob eine Theorie wahr oder wahrscheinlich wahr ist, zu charakterisieren und zu rechtfertigen. Der Falsifikationist umgeht dieses Problem, indem er darauf besteht, dass Wissenschaft keine Induktion beinhaltet. Die Deduktion wird eingesetzt, um die Konsequenzen von Theorien offen zu legen, sodass sie tiberpriift und gegebenenfalls falsifiziert werden konnen. Es wird jedoch nicht behauptet, dass das Standhalten einer Uberpriifung zeigen kann, ob eine Theorie wahr oder wahrscheinlich wahr ist. Im besten aller Falle ist das Ergebnis einer solchen Uberpriiftmg, dass demonstriert werden kann, dass die Theorie besser ist als ihre Vorgangerin. Der Falsifikationist setzt eher auf Fortschritt als auf Wahrheit.

Weiterfuhrende Literatur Zu Poppers Auseinandersetzung mit seinem falsifikationistischen Ansatz siehe „Realism and the Aim of Science" (1983). In der von Schilpp herausgegebenen Reihe „Library of Living Philosophers" erschien 1974 der Band „The Philosophy of Karl Popper". Er enthalt Poppers Autobiographic, einige von Kritikem verfasste Artikel zu seiner Philosophic und Poppers Antworten auf diese Kritiken sowie eine detaillierte Bibliographic seiner Werke. Einen gut verstandlichen Uberblick uber Poppers Philosophic bieten Ackermann (1976) und O'Hear (1980). Die Modifikation von Poppers Sichtweise wird ausfuhrlicher im Abschnitt „Bewahrung im Falsifikationismus" in Chalmers (1973) diskutiert Als weiterfuhrende Literatur kann dartiber hinaus der von Keuth (1998) herausgegebene Band „Karl Popper: Logik der Forschung" empfohlen werden (Anm. der Hrsg.).

Die Grenzen des Falsiflkationismus

7.1 Probleme der Logik Generalisiemngen, die wissenschaftliche Gesetze konstituieren, konnen logisch niemals aus einer endlichen Anzahl von Beobachtungen abgeleitet werden. Die Fehlerhaftigkeit eines Gesetzes kann jedoch durchaus logisch aus einer einzigen, dem Gesetz widersprechenden Beobachtung abgeleitet werden. Wird nur ein schwarzer Schwan beobachtet, wird die Aussage ,,A\\Q Schwane sind weiB" falsifiziert. Dies gilt ohne Ausnahme und kann nicht geleugnet werden. Dieses Argument zur Untermauerung einer falsifikationistischen Wissenschaftsphilosophie heranzuziehen, ist jedoch nicht so einfach, wie es erscheinen mag. Sobald wir uns jenseits solch einfacher Beispiele wie dem der Farbe von Schwanen bewegen und uns komplexeren Dingen zuwenden, die typischer fiir die Wissenschaft sind, treten Probleme auf. Ist die Wahrheit einer Beobachtungsaussage B gegeben, dann kann auf die Fehlerhaftigkeit einer Theorie T, die logischerweise nach sich zieht, dass B nicht der Fall sein kann, geschlossen werden. Dennoch bestehen gerade die Falsifikationisten darauf, dass Beobachtungsaussagen, die die Basis der Wissenschaft bilden, theorieabhangig und fehlbar sind. Konsequenterweise folgt aus einem Widerspruch zwischen T und B nicht, dass T falsch ist. Das Einzige, was logisch auf die Tatsache folgt, dass T eine Vorhersage mit sich bringt, die sich nicht mit B vereinbaren lasst, ist, dass entweder T oder B falsch ist. Daruber, welche dies ist, kann die Logik allein jedoch keine Auskunft geben. Wenn Beobachtungen und Experimente Belege erbringen, die im Widerspruch zu Gesetzen oder Theorien stehen, konnen die Belege ebenso falsch sein, wie das Gesetz oder die Theorie. Nichts an der Logik der Situation verlangt danach, dass immer das Gesetz oder die Theorie zuriickgewiesen werden muss, wenn ein Widerspruch zu Beobachtungen oder Experimenten besteht. Genauso kann eine fehlerbehaftete Beobachtung zuriickgewiesen und die Theorie, mit der sie nicht vereinbar ist, beibehalten werden. Genau dies war der Fall, als die kopemikanische Theorie beibehalten wurde, wahrend die mit bloBem Auge vorgenommenen Beobachtungen der GroBe von Venus und Mars, die zur Theorie in logischem Widerspruch standen, verworfen

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wurden. Das Gleiche gilt, wenn neuere Spezifikationen der Bahn des Mondes beibehalten und Schatzungen seiner GroBe durch Beobachtungen ohne Hilfsmittel zunickgewiesen werden. Wie sicher eine Aussage auch auf Beobachtungen und Experimenten basieren mag, die falsifikationistische Position kann die Moglichkeit nicht ausschlieBen, dass Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis die Unangemessenheit dieser Aussage offenbaren. In der Konsequenz sind einfache und uberzeugende Falsifikationen von Theorien mittels Beobachtungen nicht erreichbar. Die logischen Probleme des Falsifikationismus sind damit jedoch nicht beendet. „Alle Schwane sind weiB" wird zweifellos falsifiziert, wenji ein Fall von einem nicht-weiBen Schwan nachgewiesen werden kann. Aber vereinfachte Darstellungen der Logik der Falsifikation wie diese, verdecken eine emsthafte Schwierigkeit des Falsifikationismus, die aus der Komplexitat einer jeden realistischen Testsituation entsteht. Eine realistische wissenschaftliche Theorie wird eher aus der Gesamtheit einzelner allgemeiner Aussagen bestehen, als aus einer Einzelaussage wie „Alle Schwane sind weiB". Femer sind, wenn eine Theorie experimentell Uberprtift werden muss, mehr Aussagen beteiligt als die, aus denen die betreffende Theorie besteht. Die Theorie muss durch Hilfshypothesen erweitert werden, wie zum Beispiel durch Gesetze und Theorien, die den Gebrauch von benotigten Instrumenten bestimmen. Zusatzlich ist es notwendig, die sogenannten Anfangsbedingungen hinzuzufligen, wie zum Beispiel die Beschreibung des experimentellen Aufbaus, damit bestimmte Vorhersagen beztiglich der Giiltigkeit dessen, was experimentell uberprtift werden soil, abgeleitet werden konnen. Nehmen wir zum Beispiel an, dass eine astronomische Theorie durch Beobachtung der Positionen einiger Planeten mithilfe des Teleskops tiberpruft werden soil, dann muss die Theorie vorhersagen, wie das Teleskop justiert werden muss, damit man den Planeten zu einer bestimmten Zeit beobachten kann. Die Pramissen, von denen die Vorhersage abgeleitet wird, beinhalten die sich aufeinander beziehenden Aussagen, aus denen die zu iiberprlifende Theorie besteht, die sogenannten Anfangsbedingungen wie friihere Positionen des Planeten und der Sonne, sowie Hilfshypothesen, die zum Beispiel Korrekturen ermoglichen, die aufgrund der Lichtbrechung des Planeten in der Erdatmosphare vorgenommen werden mussen, etc. Wenn sich dann die Vorhersage, die sich aus diesem Labyrinth von Voraussetzungen ergibt, als falsch erweist (in unserem Beispiel, wenn der Planet nicht in der vorhergesagten Position erscheint), dann erlaubt uns die Logik der Situation allenfalls die Schlussfolgerung, dass mindestens eine der Voraussetzungen falsch gewesen sein muss. Die Identifikation der falschen Voraussetzung ist uns damit nicht moglich. Es kann sein, dass die Theorie, die tiberpruft werden sollte, falsch ist, aber ebenso kann es eine Hilfshypothese oder ein Teilaspekt der Beschreibung der Anfangsbedingungen sein, die ftir die falsche Vorhersage verantwortlich sind. Eine Theorie kann nicht endgiiltig falsifiziert werden, da die Moglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass einige Aspekte der komplexen Testsituation, nicht aber die untersuchte Theorie selbst, fur eine irrtiimliche Vorhersage verantwortlich sind. Diese Schwierigkeit firmiert unter der Bezeichnung DuhemeQuine-These nach Piere Duheme (1978), der sie erstmals erwahnte, und William V. O. Quine (1979), der sie emeut aufgriff.

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Es folgen einige Beispiele aus der Geschichte der Astronomie, die diesen Punkt veranschaulichen. In einem oben angefiihrten Beispiel diskutierten wir, wie Newtons Theorie scheinbar aufgrund der Umlaufbahn des Planeten Uranus widerlegt wurde. In diesem Fall stellte sich heraus, dass nicht die Theorie falsch war, sondem die Beschreibung der Anfangsbedingungen, die den zu der Zeit noch nicht entdeckten Planeten Neptun auBer Betracht lieB. Ein zweites Beispiel befasst sich mit dem Einwand des danischen Astronomen Tycho Brahe, der den Anspruch erhob, einige Jahrzehnte nach der erstmaligen Publikation der kopemikanischen Theorie, diese widerlegt zu haben. Wenn die Erde die Sonne umkreist, so argumentierte Brahe, dann musste sich die Richtung, aus der ein Fixstem von der Erde beobachtet wird, im Laufe des Jahres in dem MaBe verandem, wie sich die Erde von einer Seite der Sonne zur anderen bewegt. Aber als Brahe versuchte, diese vorhergesagte Parallaxe mit seinen Instrumenten nachzuweisen, misslang ihm dies, obgleich seine Instrumente zu den prazisesten und empfmdlichsten zahlten, die es zu jener Zeit gab. Brahe zog daraus den Schluss, dass die kopernikanische Theorie falsch sei. Im Nachhinein darf angenommen werden, dass es nicht die kopernikanische Theorie war, die fur die falsche Vorhersage verantwortlich war, sondem eine der Hilfshypothesen von Brahe. Brahe schatzte die Entfemung der Fixsteme als viel zu gering ein. Wenn seine Schatzung durch eine realistischere ersetzt wird, dann stellt sich die vorhergesagte Parallaxe als zu gering heraus, als dass sie mit den Instrumenten von Brahe hatte entdeckt werden konnen. Ein drittes Beispiel ist rein hypothetisch. Es wurde von Lakatos (1974, S. 98f.) konstruiert und lautet wie folgt: Die Geschichte betrifft einen imaginaren Fall planetarischer Unart. Ein Physiker in der Zeit vor Einstein nimmt Newtons Mechanik und sein Gravitationsgesetz A^ sowie die akzeptierten Randbedingungen A und berechnet mit ihrer Hilfe die Bahn eines eben entdeckten kleinen Planeten p. Aber der Planet weicht von der berechneten Bahn ab. Glaubt unser Newtonianer, dass die Abweichung von Newtons Theorie verboten war und dass ihr Beweis die Theorie A^ widerlegt? - Keineswegs. Er nimmt an, dass es einen bisher unbekannten Planeten p' gibt, der die Bahn von p stort. Er berechnet Masse, Bahn etc. dieses hypothetischen Planeten und ersucht dann einen Experimentalastronomen, seine Hypothese zu uberprtifen. Aber der Planet p' ist so klein, dass selbst das groBte vorhandene Teleskop ihn nicht beobachten kann: Der Experimentalastronom beantragt einen Forschungszuschuss um ein noch groBeres Teleskop zu bauen. In drei Jahren ist das Instrument fertig. Wird der unbekannte Planet p' entdeckt, so feiert man diese Tatsache als einen neuen Sieg der Newtonschen Wissenschaft. - Aber man fmdet ihn nicht. Gibt unser Wissenschaftler Newtons Theorie und seine Idee des storenden Planeten auf? - Nicht im Mindesten! Er mutmaBt nun, dass der gesuchte Planet durch eine kosmische Staubwolke vor unseren Augen verborgen wird. Er berechnet Ort und Eigenschaften

76 dieser Wolke und beantragt ein Forschungsstipendium, um einen Satelliten zur Uberpriifung seiner Berechnungen abzusenden. Vermogen die Instmmente des Satelliten (damnter vollig neue, die auf wenig gepruften Theorien beruhen) die Existenz der vermuteten Wolke zu registrieren, dann erblickt man in diesem Ergebnis einen glanzenden Sieg der Newtonschen Wissenschaft. Aber die Wolke wird nicht gefunden. Gibt unser Wissenschaftler Newtons Theorie, seine Idee des storenden Planeten und die Idee der Wolke, die ihn verbirgt, auf? Nein! Er schlagt vor, dass es im betreffenden Gebiet des Universums ein magnetisches Feld gibt, das die Instrumente des Satelliten gestort hat. Ein neuer Satellit wird ausgesandt. Wird das magnetische Feld gefunden, so feiem Newtons Anhanger einen sensationellen Sieg. Aber das Resultat ist negativ. Gilt dies als eine Widerlegung der Newtonschen Wissenschaft? - Nein. Man schlagt entweder eine neue, noch spitzfmdigere Hilfshypothese vor, oder ... die ganze Geschichte wird in den staubigen Banden der wissenschaftlichen Annalen begraben, vergessen und nie mehr erwahnt. Wenn man diese Geschichte als durchaus plausibel betrachtet, dann illustriert sie hervorragend, wie eine Theorie immerzu vor der Falsifikation bewahrt werden kann, indem die Falsifikation einfach auf einige andere Bereiche des komplexen Netzwerkes von Annahmen gelenkt wird. 7.2 Die Unzulanglichkeit des Falsifikationismus vor dem Hintergrund historischer Beispiele Eine fur den Falsifikationisten etwas peinliche historische Tatsache ist die, dass gerade jene Theorien, die allgemein zu den besten wissenschaftlichen Theorien gezahlt werden, niemals entwickelt worden waren, wenn sich Wissenschaftler strikt an die falsifikationistische Methodologie gehalten hatten. Sie waren bereits in ihren Anfangen widerlegt worden. Welche klassische wissenschaftliche Theorie man auch als Beispiel heranzieht, man kann - ob zu dem Zeitpunkt, zu dem sie zum ersten Mai vorgeschlagen wurde oder zu einem spateren Zeitpunkt - Beobachtungsaussagen finden, die zu dieser Zeit allgemein anerkannt waren, die aber mit der Theorie als unvereinbar angesehen wurden. Dennoch wurden diese Theorien nicht verworfen, was man fur die Wissenschaft als einen glucklichen Umstand betrachten muss. Einige historische Beispiele, die diesen Sachverhalt belegen, seien im Folgenden angefiihrt. In ihrem Anfangsstadium wurde Newtons Gravitationstheorie durch Beobachtungen der Umlaufbahn des Mondes falsifiziert. Es dauerte fast funfzig Jahre, um diese Falsifikation auf andere Ursachen als auf Newtons Theorie zurUckzufiihren. Spater wurde bekannt, dass dieselbe Theorie mit naheren Einzelheiten der Umlaufbahn des Planeten Merkur im Widerspruch stand. Auch diesmal wurde die Theorie deswegen nicht vollig aufgegeben. Es stellte sich heraus, dass es niemals moglich war, diese Falsifikation in einer Weise zu erklaren, die Newtons Theorie absicherte.

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Ein zweites Beispiel, das Lakatos (1974, S. 137ff.) zu verdanken ist, betrifft das bohrsche Atommodell. Fruhe Versionen der Theorie standen mit der Beobachtung im Widerspruch, dass Materie sich fiir eine Zeitspanne von langer als 10"^ Sekunden in einem statischen Zustand befindet. GemaB der Theorie umkreisen negativ geladene Elektronen innerhalb eines Atoms den positiv geladenen Kern. Aber gemaB der klassischen elektromagnetischen Theorie, auf der Bohrs Theorie aufbaut, strahlen kreisende Elektronen Energie aus. Die Energiestrahlung hat zur Folge, dass ein kreisendes Elektron an Energie verliert und in den Kern stiirzt. Quantitative Ausfuhrungen des klassischen Elektromagnetismus raumten eine geschatzte Zeit von etwa 10'^ Sekunden flir diesen Prozess ein. Gllicklicherweise hielt Bohr an seiner Theorie, ungeachtet ihrer Falsifikation, fest. Ein drittes Beispiel betrifft die Theorie der Kinetik und birgt den Vorteil, dass die Falsifikation dieser Theorie bereits bei ihrer Entstehung von ihrem Urheber eingeraumt wurde. Als Maxwell die ersten Details der kinetischen Gastheorie im Jahre 1859 veroffentlichte, bestatigte er in demselben Aufsatz die Tatsache, dass die Theorie durch Messungen der spezifischen Warme von Gasen falsifiziert wurde (Maxwell, 1965a, S. 409) 4. Achtzehn Jahre spater kommentierte er die Konsequenzen der kinetischen Gastheorie folgendermaBen (Maxwell, 1877, S. 245f.): Zweifelsohne ist es zum Teil sehr befriedigend, was wir bei unserem heutigen Wissensstand tiber die Natur von Teilchen wissen, jedoch gibt es andere Aspekte, die uns wahrscheinlich aus unserer Selbstgefalligkeit aufschrecken lassen und uns vielleicht schlieBlich aus all den Hypothesen, in denen wir bisher Zuflucht fanden, in vollig bewusste Unwissenheit fuhren, was der Auftakt flir jeden wirklichen Erkenntnisfortschritt ist. Alle entscheidenden Entwicklungen innerhalb der kinetischen Gastheorie fanden nach dieser Falsifikation statt. Auch diesmal kann man von Gliick sprechen, dass die Theorie angesichts der Falsifikation durch die Messungen der spezifischen Warme von Gasen nicht verworfen wurde, worauf zumindest der naive Falsifikationist hatte bestehen mussen. Als ein viertes Beispiel soil die kopemikanische Revolution im folgenden Abschnitt detaillierter umrissen werden. Dieses Beispiel unterstreicht die Schwierigkeiten, die sich fur den Falsifikationisten ergeben, wenn die Komplexitat des Wechsels umfassender Theoriegebaude betrachtet wird. Das Beispiel soil gleichzeitig den Hintergrund fur die Diskussion einiger neuerer und angemessenerer Ansatze darstellen, um das Wesen der Wissenschaft und ihrer Methoden zu charakterisieren.

^ Nachdruck eines 1859 vor der British Association gehaltenen Vortrags, siehe insbesondere den letzten Abschnitt.

78 7.3 Die kopernikanische Revolution Im Europa des Mittelalters war es allgemein anerkannt, dass die Erde sich im Mittelpunkt eines endlichen Universums befmdet und dass die Sonne, die Planeten und die Sterne um sie herum kreisen. Die Physik und Kosmologie, die den Rahmen fur diese Astronomie boten, waren im Grunde bereits im vierten Jahrhundert V. Chr. von Aristoteles entwickelt worden. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. konstruierte Ptolemaus ein detailHertes astronomisches System, das die Umlaufbahnen der Sonne und aller Planeten beschrieb. In den frtihen Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts entwarf Kopemikus eine neue Astronomie, eine Astronomie, die eine sich bewegende Erde beinhaltete, wodurch das aristotelische und ptolemaische System herausgefordert wurden. GemaB der kopemikanischen Vorstellung befmdet sich die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums, sondern umkreist gemeinsam mit den anderen Planeten die Sonne. In der Zeit, als sich zunehmend Belege fiir den kopemikanischen Ansatz fanden, wurde das aristotelische Weltbild durch das newtonsche ersetzt. Einzelheiten der Geschichte dieses groBen Theorienwechsels - ein Wechsel, der sich liber anderthalb Jahrhunderte hinzog - unterstutzen keineswegs die Methodologien, die von Induktivisten und Falsifikationisten vertreten werden und zeigen die Notwendigkeit eines anderen, differenzierteren wissenschaftstheoretischen Ansatzes auf, der auch den Fortschritt von Wissenschaft erklart. Als Kopernikus im Jahr 1543 zum ersten Mai Einzelheiten seiner neuen Astronomie veroffentlichte, gab es eine Menge von Argumenten, die gegen sie vorgebracht werden konnten - und auch vorgebracht wurden. In Relation zum wissenschaftlichen Erkenntnisstand jener Zeit waren die Argumente stimmig, und Kopernikus konnte seine Theorie dagegen nicht befriedigend verteidigen. Um sich diese Situation vorstellen zu konnen, ist es notwendig, mit bestimmten Aspekten des aristotelischen Weltbildes vertraut zu sein, auf dessen Anschauungen die Kritik gegen Kopemikus bemhte. Ein kurzer Abriss einiger relevanter Punkte mag hier ausreichen. Das aristotelische Universum wurde in zwei voneinander getrennte Bereiche unterschieden. Die sublunare, innere Region, reiche von der im Zentrum stehenden Erde bis in die Umlaufbahn des Mondes. Die superlunare, himmlische Region sei die Fortsetzung des endlichen Universums, das sich von der Umlaufbahn des Mondes bis zur Sphare der Sterne erstrecke, die die auBere Grenze des Universums markierten. AuBerhalb dieser Sphare existiere nichts, nicht einmal Raum. Nichtausgeflillter Raum ist im aristotelischen System nicht moglich. Alle Himmelskorper in der superlunaren Region bestiinden aus einem unverganglichen Element, dem sogenannten Ather. Ather besitze eine natiirliche Neigung, sich in vollkommenen Kreisen um den Mittelpunkt des Universums zu bewegen. Diese Grundannahme wurde in der ptolemaischen Astronomie modifiziert und erweitert. Da Beobachtungen von Planetenpositionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit kreisformigen Umlaufbahnen, deren Mittelpunkt die Erde ist, nicht in Einklang gebracht werden konnten, fiihrte Ptolemaus weitere Bahnen, sogenannte Epizykel, in das System ein. Planeten bewegten sich demnach auf Kreisbahnen oder Epizykeln, deren Zentren sich auf Kreisbahnen um die Erde bewegten. Das System

79 der Umlaufbahnen konnte durch die Annahme weiterer Epizykel in einer Weise verfeinert werden, dass das daraus resultierende System mit Beobachtungen von Planetenpositionen ubereinstimmte und die Vorhersage zukiinftiger Planetenpositionen zulieB. Im Gegensatz zum geordneten, regelgeleiteten und unverganglichen Charakter der superlunarischen Region sei die sublunarische Region durch Veranderung, Wachstum und Zerfall, Entwicklung und Unstetigkeit gekennzeichnet. Alle Stoffe der sublunarischen Region stellten Mischungen aus den vier Elementen Luft, Erde, Feuer und Wasser dar. Die jeweils unterschiedliche Zusammensetzung der Elemente bestimme die Eigenschaften der so gebildeten Stoffe. Jedes Element habe seinen nattirlichen Platz im Universum. Der natiirliche Platz fur die Erde sei der Mittelpunkt des Universums, fur Wasser die Erdoberflache der Erde, fur Luft der Bereich unmittelbar tiber der Erdoberflache und fur Feuer der obere Bereich der Atmosphare, nahe der Umlaufbahn des Mondes. Folglich solle jeder irdische Gegenstand einen nattirlichen Platz in der sublunarischen Region haben, der von der relativen Zusammensetzung der vier Elemente abhinge. Steine, die ihrer Natur nach im Wesentlichen „Erde" sind, hatten so ihren naturlichen Platz nahe dem Erdmittelpunkt, wahrend Flammen, die ihrer Natur nach „Feuer" sind, ihren naturlichen Platz nahe der Mondumlaufbahn hatten. Alle Objekte hatten die Tendenz, sich auf direktem Wege aufwarts oder abwarts zu ihrem nattirlichen Platz hin zu bewegen. Steine hatten eine natiirliche Bewegung nach unten, zum Mittelpunkt der Erde, und Flammen eine naturliche Aufwartsbewegung, weg vom Mittelpunkt der Erde. Jede Bewegung, die sich von der naturlichen Bewegung unterscheidet, miisse eine Ursache haben. Zum Beispiel miissten Pfeile durch einen Bogen abgeschossen und Streitwagen durch Pferde gezogen werden. Dieses also ist der harte Kern der aristotelischen Mechanik und Kosmologie, der von den Zeitgenossen Kopemikus' vorausgesetzt und der fiir Argumente gegen eine sich bewegende Erde herangezogen wurde. Betrachten wir nun einige der starkeren Argumente gegen das kopernikanische System. Das Argument, das vielleicht die ernsthafteste Bedrohung fur Kopemikus darstellte, war das sogenannte Turmargument: Wenn die Erde sich in der Weise um ihre Achse drehe, wie Kopemikus behauptete, dann wurde jeder Punkt auf der Erdoberflache in jeder Sekunde eine betrachtliche Distanz zuriicklegen. Wenn von einem Turm, der auf der sich bewegenden Erde errichtet ist, ein Stein fallen gelassen wird, dann wu-d er seine naturliche Bewegung vollziehen und sich zum Mittelpunkt der Erde hin bewegen. Wahrenddessen bewegt sich der Turm im gleichen MaBe wie die Erde weiter. Folglich wird sich der Turm bereits weiter gedreht haben, wenn der Stein die Oberflache der Erde erreicht. Der Stein mtisste deswegen in einer gewissen Entfernung vom FuB des Turmes aufkommen. Aber in der Praxis geschieht dies nicht, der Stein trifft unmittelbar am FuB des Turmes auf Hieraus folgt also, dass die Erde sich nicht dreht und die kopemikanische Theorie falsch ist. Ein weiteres Argument gegen Kopemikus stammt aus der Mechanik und betrifft lose Objekte wie Steine, Philosophen etc., die sich auf der Erdoberflache befmden. Wenn sich die Erde drehen wiirde, wamm werden solche Objekte dann nicht von der Erdoberflache geschleudert, wie Steine von der Felge eines sich

80 drehenden Rades geschleudert werden? Und wenn die Erde sich nicht nur dreht, sondern sich auch als Ganzes um die Sonne dreht, warum lasst sie dabei nicht den Mond hinter sich? Einige Argumente gegen Kopemikus beruhen auf astronomischen Uberlegungen, die bereits weiter oben erwahnt wurden. Sie beziehen sich auf das Ausbleiben der Parallaxe in den beobachteten Positionen der Sterne und auf die Tatsache, dass Mars und Venus, mit bloBem Auge betrachtet, ihre GroBe im Laufe des Jahres nicht nennenswert verandern. Aufgrund der genannten und ahnlicher Argumente sahen sich die Verfechter der kopernikanische Theorie mit emsthaften Schwierigkeiten konfrontiert. Kopernikus selbst war in der Tradition der aristotelischen Metaphysik groB geworden und fand so keine angemessenen Argumente zur Verteidigung seiner Theorie. Angesichts des Beweismaterials gegen Kopemikus fragt man sich, was im Jahre 1543 fur die kopernikanische Theorie sprach. „Nicht besonders viel", muss die Antwort lauten. Der hauptsachliche Vorteil der kopernikanischen Theorie lag in der Eleganz, mit der sie Besonderheiten der Planetenbewegungen erklarte, die mit der konkurrierenden ptolemaischen Theorie lediglich auf recht umstandhche Weise erklart werden konnten. Die Besonderheiten bestanden in der riickwarts gerichteten Bewegung der Planeten und der Tatsache, dass Merkur und Venus im Gegensatz zu den anderen Planeten stets in Sonnennahe verbleiben. Ein Planet unterbricht (von der Erde aus gesehen) seine westwarts gerichtete Bewegung inmitten der Sterne und wandert fiir eine kurze Zeit denselben Weg in ostliche Richtung zurtick, um dann seinen Weg in westlicher Richtung fortzusetzen. Im ptolemaischen System wurden riickwarts gerichtete Bewegungen durch speziell zu diesem Zweck konstruierte Epizykel erklart - ein Schachzug, der als ziemlich ad hoc bezeichnet werden muss. Im kopernikanischen System sind derartige ktlnstliche Bewegungen nicht notwendig. Eine riickwarts gerichtete Bewegung stellt eine nattirliche Folge der Tatsache dar, dass die Erde gemeinsam mit den Planeten vor dem Hintergrund der Fixsteme die Sonne umkreist. Eine ahnliche Erklarung gibt es zum Problem der gleichbleibenden Nahe von Merkur und Venus zur Sonne. Dies ist eine logische Folge des kopernikanischen Systems, wenn man sich einmal klargemacht hat, dass die Umlaufbahnen von Merkur und Venus sich innerhalb der Umlaufbahnen der Erde befmden. Im ptolemaischen System mussten die Umlaufbahnen der Sonne, des Merkurs und der Venus auf eine kiinstliche Art und Weise miteinander verbunden werden, um das erforderliche Resultat zu erhalten. Es gab also bestimmte mathematische Eigenschaften der Theorie von Kopernikus, die zu jener Zeit fiir seine Theorie sprachen. Abgesehen davon waren die beiden rivalisierenden Systeme mehr oder weniger ebenbtirtig, soweit es das MaB an Einfachheit und die Ubereinstimmung mit Beobachtungen von Planetenpositionen betraf Kreisformige Umlaufbahnen, deren Mittelpunkt die Sonne darstellte, konnten nicht mit der Beobachtung in Ubereinstimmung gebracht werden, sodass Kopemikus, wie auch Ptolemaus, Epizykel hinzuziehen musste. Dabei mussten fiir beide Systeme etwa die gleiche Anzahl von Epizykeln angenommen werden, um Umlaufbahnen zu erhalten, die mit bekannten Beobachtungen im Einklang standen. Im Jahre 1543 konnte das Argument der mathematischen Einfachheit, das fur Kopemikus sprach, nicht als ein entsprechender Ausgleich zu den

81 mechanischen und astronomischen Argumenten betrachtet werden, die gegen ihn standen. Trotzdem faszinierte das kopernikanische System mathematisch orientierte Naturphilosophen, und ihre Anstrengungen zur Verteidigung der kopernikanischen Theorie wurden in den folgenden hundert Jahren zunehmend erfolgreicher. Derjenige, der am bedeutsamsten zur Verteidigung des kopemikanischen Systems beitrug, war Galilei. Er tat dies auf zweierlei Arten. Zunachst benutzte er ein Teleskop, um den Himmel zu beobachten und veranderte hiermit die Beobachtungsdaten, zu deren Erklarung die Theorie von Kopemikus erforderlich war.^ Zweitens hinterlieB er die Anfange einer neuen Mechanik, die die aristotelische Mechanik ersetzen sollte und die herangezogen wurde, um die gegen das kopernikanische System gerichteten Argumente aus der Mechanik zu entkraften. Als Galilei 1609 seine ersten Teleskope konstruierte und sie fur die Himmelsbeobachtung erprobte, machte er dramatische Entdeckungen. Er sah, dass es eine Vielzahl von Stemen gibt, die fur das bloBe Auge nicht sichtbar smd. Er sah, dass der Jupiter Monde besitzt und dass die Mondoberflache mit Bergen und Kratern uberzogen ist. Er beobachtete weiterhin, dass die augenscheinliche GroBe von Mars und Venus, durch das Teleskop betrachtet, sich in der Weise veranderte, wie es durch die kopernikanische Theorie vorhergesagt wurde. Spater sollte Galilei bestatigen, dass die Venus ebenso Phasen hat wie der Mond, wie es Kopernikus ebenfalls vorhergesagt hatte, und was mit dem ptolemaischen System im Widerspruch steht. Die Monde des Jupiters entkrafteten das von den Verfechtern der aristotelischen Theorie vorgebrachte Argument gegen Kopemikus, das auf der Tatsache beruhte, dass der Mond bei der sich angeblich drehenden Erde bleibt. Nun wurden die Aristoteliker mit dem gleichen Problem im Hinblick auf den Jupiter und seine Monde konfrontiert. Die der Erde ahnliche Oberflache der Monde untergrub die aristotelische Unterscheidung zwischen dem voUkommenen und unverganglichen Himmel und der sich verandemden und verganglichen Erde. Die Entdeckung der Venusphasen bedeutete einen Erfolg fur die Anhanger von Kopernikus und ein weiteres Problem fur die Verfechter des ptolemaischen Weltbildes. Es lasst sich nicht leugnen, dass, nachdem die Beobachtungen, die Galilei mit seinem Teleskop gemacht hatte, einmal anerkannt waren, die kopernikanische Theorie mit weniger Widerstand zu kampfen hatte. Die vorangegangenen Bemerkungen uber Galilei und das Teleskop werfen ein ernsthaftes erkenntnistheoretisches Problem auf. Warum sollten Beobachtungen durch ein Teleskop den Beobachtungen mit bloBem Auge vorgezogen werden? Ftir eine Antwort auf diese Frage konnte eine optische Theorie des Teleskops herangezogen werden, die die VergroBerungseigenschaft erklart und die gleichzeitig eine Beschreibung der unterschiedlichen Aberrationen liefert, die wir erwarten konnen. Aber Galilei selbst zog fur diesen Zweck keine Theorie der Optik heran. Die erste Theorie der Optik, die imstande war, in diesem Sinne eine theoretische Basis zu bieten, wurde von Galileis Zeitgenossen Kepler im fruhen 16. Jahr^ Die Anmerkungen zu Galilei und dem Teleskop sowie einige weitere Aspekte der Beurteilung der galileischen Physik stammen aus Feyerabends provokativer Darstellung in „Wider den Methodenzwang:' (1983).

82 hundert entworfen. Diese Theorie wurde in den folgenden Jahrzehnten verbessert und erweitert. Ein zweiter Zugang zu unserer Frage hinsichtlich der Uberlegenheit der teleskopischen Beobachtung gegentiber der mit bloBem Auge ist der, die Effektivitat des Teleskops praktisch zu demonstrieren, etwa dadurch, es auf entfemt gelegene Turme, Schiffe o.A. zu richten und zu zeigen, wie das Instrument Gegenstande vergroBert und das Auflosungsvermogen erhoht. Es gibt jedoch eine Schwierigkeit bei dieser Art von Rechtfertigung des Teleskops in der Astronomie. Wenn irdische Objekte durch das Teleskop betrachtet werden, ist es moglich, den betrachteten Gegenstand von Aberrationen, die durch das Teleskop verursacht werden, zu unterscheiden, da der Beobachter mit dem Aussehen eines Turmes Oder beispielsweise eines Schiffes vertraut ist. Dies aber trifft nicht zu, wenn ein Beobachter den Himmel erforscht und auf Phanomene stoBt, die er nicht kennt. In dieser Hinsicht ist es bedeutsam, dass Galileis Beschreibung von der Mondoberflache, wie er sie durch das Teleskop sah, einige Krater enthielt, die dort in Wirklichkeit nicht existieren. Vermutlich waren jene „Krater" Aberrationen, die auf die Funktionsweise von Galileis noch recht unvollkommenem Teleskop zuriickzufuhren sind. Dies soil geniigen, um die Problematik der Rechtfertigung der Beobachtung mit dem Teleskop aufzuzeigen und darzulegen, dass dies keineswegs unproblematisch ist. Galileis Widersacher, die seine Entdeckungen infrage stellten, waren nicht alles engstirnige und sture Reaktionare. Rechtfertigungen erfolgten und wurden zunehmend angemessener, wahrend gleichzeitig immer bessere Teleskope konstruiert und Theorien der Optik fur ihre Funktionsweise entwickelt wurden. Dies alles aber brauchte seine Zeit. Der bedeutendste wissenschaftliche Beitrag von Galilei waren seine Arbeiten innerhalb der Mechanik. Er lieferte einige der Grundlagen der newtonschen Mechanik, die die aristotelische Mechanik ersetzen sollte. Er unterschied deutlich zwischen Geschwindigkeit und Beschleunigung und stellte die Behauptung auf, dass sich Objekte im freien Fall mit einer konstanten Beschleunigung bewegen, die unabhangig von ihrem Gewicht ist, wobei der zuriickgelegte Weg dem Quadrat der Fallzeit proportional ist. Er bestritt die Behauptung von Aristoteles, dass jede Bewegung verursacht werden musse, und machte geltend, dass die Geschwindigkeit eines sich langs einer Kreisbahn um die Erde bewegten Korpers weder zu- noch abnehmen konne, da er weder falle noch steige. Er analysierte die Bewegungen von Wurfgeschossen durch eine Zerlegung in Komponenten: in eine horizontale Komponente, die eine konstante Geschwindigkeit gemaB dem Tragheitsgesetz darstellt und in eine vertikale Komponente, die einer konstanten Beschleunigung nach unten unterliegt. Er zeigte, dass die resultierende Bahn des Wurfkorpers durch eine Parabel beschrieben wird. Er entwickelte das Konzept der relativen Bewegung und bewies, dass die gleichformige Bewegung eines Systems mechanisch nicht ohne Riickgriff auf irgendeinen Bezugspunkt auBerhalb des Systems wahrgenommen werden kann. Seine entscheidenden Entwicklungen brachte Galilei nicht auf einmal hervor. Sie entstanden nach und nach in uber einem halben Jahrhundert und wurden in seinem Buch ,,Unterredungen und mathematische Demonstrationen uber zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend'' (Galilei, 1987b), das erstmals 1638 veroffentlicht wurde, zusammengefasst - fast ein Jahr-

83 hundert nach der Publikation des Hauptwerkes von Kopemikus. Galilei stellte seine neuen Konzepte wesentlich praziser und zunehmend klarer mithilfe von Beispielen und Gedankenexperimenten dar. Gelegentlich beschrieb Galilei tatsachliche Experimente, zum Beispiel zum Verhalten von Kugeln auf schiefen Ebenen, auch wenn strittig ist, wie viele dieser Experimente tatsachlich durchgefiihrt wurden. Galileis neue Mechanik versetzte das kopernikanische System in die Lage, einigen der oben erwahnten Einwande zu begegnen. Ein Gegenstand, der auf einer Turmspitze gehalten wird und der sich genauso wie der Turm in einer Kreisbewegung um den Erdmittelpunkt dreht, wird diese Bewegung zusammen mit dem Turm fortsetzen und wird, wenn man ihn fallen lasst, folglich direkt am FuB des Turmes auftreffen, was auch unserer Erfahrung entspricht. Galilei fiihrte dieses Argument weiter und behauptete, dass die Richtigkeit seines Tragheitsgesetzes demonstriert werden konne, indem man einen Stein von der Mastspitze eines sich gleichformig vorwarts bewegenden Schiffes fallen lasst und dann feststellt, dass dieser unmittelbar am MastfuB auf dem Deck auftrifft, wenngleich Galilei nicht den Anspruch erhoben hat, dieses Experiment tatsachlich durchgefuhrt zu haben. Mit der Erklarung, warum lose Gegenstande nicht von der Oberflache der sich drehenden Erde geschleudert werden, war Galilei weniger erfolgreich. Obgleich der GroBteil des wissenschaftlichen Werkes von Galilei entworfen wurde, um die kopernikanische Theorie zu stutzen, entwickelte Galilei selbst keine detaillierte Astronomic und scheint eher der aristotelischen Sichtweise mit seiner Praferenz fur kreisformige Umlaufbahnen angehangen zu haben. Es war Galileis Zeitgenosse Kepler, dem in dieser Richtung ein entscheidender Durchbruch gelang, als er entdeckte, dass man sich jede Planetenbahn als eine Ellipse vorstellen muss, in deren Mittelpunkt sich die Sonne befindet. Diese Entdeckung machte das komplexe System von Epizykeln iiberflussig, das von Kopernikus als auch von Ptolemaus fiir notwendig erachtet wurde. Im ptolemaischen System mit der Erde als Mittelpunkt ist eine derartige Vereinfachung nicht moglich. Kepler konnte auf Aufzeichnungen von Planetenpositionen von Tycho Brahe zurtickgreifen, die weitaus genauer waren als die, tiber die Kopernikus verfligen konnte. Nach einer gewissenhaften Analyse der Daten gelang Kepler zu seinen drei Gesetzen der Planetenbewegungen, die besagen, dass sich Planeten in elliptischen Bahnen um die Sonne bewegen, dass die Verbindungslinie zwischen dem Mittelpunkt der Sonne und dem eines Planeten in gleicher Zeit gleiche Flachen iiberstreicht und dass die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten sich proportional zu den Kuben der mittleren Entfernungen von der Sonne verhalten. Galilei und Kepler bemtihten sich sicherlich beide darum, Belege fur die kopernikanische Theorie zu liefem. Jedoch waren weitere Entwicklungen notwendig, bevor sie auf die sichere Grundlage einer umfassenden Physik gestellt werden konnte. Newton war in der Lage, die Werke von Galilei, Kepler und anderen zu nutzen, um eine umfassende Physik zu entwickeln, wie er sie in seiner ,,Fhilosophiae naturalisprincipia mathematical (1687) veroffentlichte. Er fand ein klares Konzept der Kraft als eine Ursache von Beschleunigung anstelle von Bewegung; ein Konzept, das in Schriften von Galilei und Kepler in etwas diffuser Weise vor-

84 gestellt wurde. Newton ersetzte Galileis zirkulares Tragheitsgesetz durch sein eigenes lineares Tragheitsgesetz, nach dem Korper sich in geraden und gleichformigen Bewegungen fortbewegen, sofern keine Krafte auf sie einwirken. Ein weiterer bedeutsamer Beitrag von Newton war die Gravitationstheorie. Sie versetzte Newton in die Lage, eine Erklarung dafiir zu liefern, warum Keplers Gesetz der Planetenbewegung und Galileis Gesetz des freien Falls annahemd zutreffend waren. Im System von Newton bildete die Wirklichkeit der Himmelskorper und der irdischen Korper eine Einheit - und alle Korper bewegen sich gemaB Newtons Bewegungsgesetzen unter dem Einfluss von Kraften. Nachdem Newtons Physik einmal anerkannt war, war es moglich, sie im Einzelnen auf die Astronomie anzuwenden. Es war zum Beispiel moglich, die Details der Umlaufbahn des Mondes zu erforschen, wobei seine endliche GroBe, die Erddrehung, die Schwankungen der Erde um die eigene Achse und so weiter berticksichtigt wurden. Es war ebenfalls moglich, die Abweichung der Planetenbewegungen von den Vorhersagen der keplerschen Gesetze zu untersuchen, die durch die endliche Masse der Sonne, interplanetarische Krafte etc. bedingt sind. Derartige Entwicklungen sollten einige der Nachft)lger Newtons fur die nachsten Jahrhunderte beschaftigen. Die Geschichte, die hier in groben Umrissen dargestellt wurde, sollte ausreichen, um aufzuzeigen, dass die kopernikanische Revolution nicht damit vollzogen war, einen Hut ein- oder zweimal vom schiefen Turm von Pisa fallen zu lassen. Es ist ebenso klar, dass weder die Induktivisten noch die Falsifikationisten eine wissenschaftstheoretische Erklarung bieten konnen, die mit dieser geschichtlichen Entwicklung vereinbar ware. Neue Konzepte von Kraft und Tragheit waren nicht das Ergebnis vorsichtiger Beobachtungen und Experimente, noch ergaben sie sich aus der Falsifikation kiihner Vermutungen und der wiederholten Ablosung einer kiihnen Vermutung durch eine andere. An fi*iihen Formulierungen der Theorie, einschlieBlich unvollstandig formulierten Konzepten, wurde festgehalten, und sie wurden, ungeachtet augenfalliger Falsifikationen, weiterentwickelt. Erst nachdem ein neues physikalisches System entwickelt worden war - ein Prozess, der die intellektuelle und praktische Arbeit vieler Wissenschaftler tiber mehrere Jahrhunderte in Anspruch nahm - konnten erfolgreich Ubereinstimmungen der neuen Theorie mit Ergebnissen von Beobachtungen und Experimenten im Detail aufgezeigt werden. Kein einziger wissenschaftstheoretischer Ansatz kann als annahemd angemessen bezeichnet werden, sofern er nicht Raum fur derartige Faktoren bietet.

7.4 Die Unangemessenheit des falsinkationistischen Abgrenzungskriteriums und Poppers Antwort Poppers Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Nicht- bzw. Pseudowissenschaft ist verlockend. Wissenschaftliche Theorien sollen falsifizierbar sein. Das heiBt, sie sollen Konsequenzen haben, die durch Beobachtungen oder Experimente iiberprufbar sind. Gilt dieses Kriterium uneingeschrankt, hat es die Schwache, dass es zu leicht erfullt wird, im Besonderen durch viele Erkenntnisanspruche, die Popper als unwissenschaftlich klassifizieren wiirde. Astrologen stel-

85 len Behauptungen auf, die falsifizierbar sind (und haufig falsifiziert werden) und in Zeitungen und Zeitschriften publizierte Horoskope machen falsifizierbare (wie unfalsifizierbare) Aussagen. Dieselbe bereits in Kapitel 5 erwahnte Zeitungskolumne „Ihre Sterne", welche die (nicht falsifizierbare) Voraussage macht „Bei Sportwetten kann Gliick im Spiel sein", verspricht denjenigen, die am 28. Marz Geburtstag haben, dass „ein neuer Liebhaber die Augen zum Glanzen bringen wird und die sozialen Aktivitaten verbessert", ein Versprechen, das mit Sicherheit falsifizierbar ist. Jede fundamentalistische christliche Vereinigung, die darauf besteht, dass die Bibel wortlich zu nehmen ist, ist falsifizierbar. Die in der Genesis aufgestellte Behauptung, dass Gott Seen schuf und sie mit Fischen bevolkerte, wUrde falsifiziert werden, wenn es keine Seen und/oder Fische gabe. Popper selbst merkt an, dass die freudsche Theorie, in dem sie Traume als Wunscherfiillungen konstruiert, der Herausforderung der Falsifikation mit Albtraumen begegnet. Als Antwort auf diese Beobachtung konnte ein Falsifikationist anmerken, dass Theorien nicht nur falsifizierbar, sondem auch nicht falsifiziert sein miissen. Dies widerlegt den Anspruch von Horoskopen, wissenschaftlich zu sein. Popper legt dar, dass es auch die freudsche Theorie eliminiert. Aber diese Losung sollte nicht voreilig angenommen werden, da sie alles, was der Falsifikationist als Wissenschaft beibehalten mochte, ebenfalls ausschlieBt, da wir gesehen haben, dass die meisten wissenschaftlichen Theorien mit Problemen behaftet sind und zu der einen oder anderen akzeptierten Beobachtung im Widerspruch stehen. So wird im raffinierten Falsifikationismus zugelassen, dass Theorien im Angesicht einer Falsifikation modifiziert werden und dass sogar trotz Falsifikationen Theorien weiterverfolgt werden, in der Hoffhung, dass die Probleme in der Zukunft gelost werden. Diese Art der Antwort ist in der folgenden Passage von Popper (1974, S. 55) zusammengefasst, in der er sich mit Schwierigkeiten der gerade angefiihrten Art auseinandersetzt. Dabei habe ich jedoch immer auch die Notwendigkeit eines gewissen Dogmatismus betont: Dem dogmatischen Wissenschaftler fallt eine wichtige Rolle zu. Wurde man allzu schnell der Kritik den Platz tiberlassen, dann wiirde man nie ausfindig machen konnen, worin die reale Kraft unserer Theorien liegt. Aus meiner Perspektive illustriert diese Passage den Umfang, in dem der Falsifikationismus mit emstzunehmenden Schwierigkeiten bezuglich der in diesem Kapitel aufgeworfenen Kritik konfrontiert ist. Die StoBrichtung des Falsifikationismus ist die Betonung der kritischen Komponente von Wissenschaft. Unsere Theorien sind unermtidlicher Kritik auszusetzen, sodass ungeeignete ausgesondert und durch geeignetere ersetzt werden. Angesichts der Probleme beztiglich der Bestimmtheit, mit der Theorien falsifiziert werden konnen, gesteht Popper ein, dass es oft notig ist, an Theorien trotz offensichtlicher Falsifikation festzuhalten. Obwohl unermtidliche kritische Auseinandersetzung empfohlen wird, scheint es, dass das Gegenteil, namlich Dogmatismus, auch eine positive Rolle zu spielen hat. Dariiber hinaus ist es dann, wenn sowohl eine kritische als auch eine dogmatische Einstellung toleriert werden kann, schwer festzustellen, welche ausgeschlossen

86 werden soil. Es ware pure Ironie, wenn die hoch elaborierte Version des Falsifikationismus so geschwacht wixrde, dass sie nichts mehr ausschlieBen konnte und dabei mit genau den Gedanken in Widerspruch stunde, die Popper veranlassten, sie zu formulieren.

Weiterfiihrende Literatur Eine Reihe von Kritikpunkten an Poppers Falsifikationismus enthalt Schilpp (1974). Kritik an der alles andere als raffinierten Art des Falsifikationismus fmdet sich bei Lakatos (1974). Viele der in diesem Kapitel angefiihrten Punkte zur Unvereinbarkeit der kopernikanischen Revolution zum Falsifikationismus stammen aus Feyerabend (1983). In Lakatos und Musgrave (1974) fmden sich Aufsatze, die Poppers Position kritisch mit der von Kuhn vergleichen, dessen Sichtweise im nachsten Kapitel diskutiert wird. Einige der zuletzt genannten Kritikpunkte fmden sich bei Mayo (1996).

8 Theorien als Strukturen I: Kuhns Paradigmen

8.1 Theorien als Strukturen Die im vorausgegangenen Kapitel skizzierte kopemikanische Revolution legt die Vermutung nahe, dass sowohl der induktivistische als auch der falsifikationistische Beitrag zur Wissenschaftstheorie nicht umfassend genug ist. Indem sie sich auf die Beziehung zwischen Theorien und Beobachtungsaussagen konzentrieren, scheint es ihnen nicht zu gelingen, der Komplexitat der Entwicklung bedeutender Theorien gerecht zu werden. Seit den 1960er Jahren ist es tiblich geworden, daraus den Schluss zu ziehen, dass ein angemessenerer Zugang zur Wissenschaft die Berucksichtigung der theoretischen Rahmenbedingungen, unter denen wissenschaftliche Aktivitaten stattfinden, erfordert. Die nachsten drei Kapitel beziehen sich auf drei einflussreiche Ansatze, die sich diesen Standpunkt zu Eigen gemacht haben. In Kapitel 13 werden wir die Gelegenheit haben, uns mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein „Theorie-dominiertes" Verstandnis von Wissenschaft zu weit geht. Ein Grund dafur, warum Theorien als Strukturen gesehen werden, lasst sich aus der Wissenschaftsgeschichte ableiten. Historische Studien zeigen, dass die Entwicklung und der Fortschritt der bedeutendsten Wissenschaften von induktivistischen und falsifikationistischen Ansatzen nicht erfasst werden. Die kopemikanische Revolution hat uns daflir bereits als Beispiel gedient. Die Annahme wird dadurch gesttitzt, dass die Physik einige Jahrhunderte nach Newton unter newtonschen Rahmenbedingungen weitergefuhrt wurde, bis diese zu Beginn dieses Jahrhunderts durch die Relativitats- und die Quantentheorie infrage gestellt wurden. Das historische Argument ist jedoch nicht der einzige Grund dafur, dass es fur notwendig erachtet wurde, sich auf theoretische Rahmenbedingungen zu konzentrieren. Ein allgemeineres, philosophisches Argument ist eng verkniipft mit der Theorieabhangigkeit von Beobachtungen. In Kapitel 1 wurde deutlich gemacht, dass Beobachtungsaussagen in der Sprache einer Theorie formuliert sein miissen. Folglich sind die Aussagen und die Begriffe, die in einer Theorie verwendet werden, nur in dem MaBe prazise und informativ, wie es die Theorie ist, in deren Sprache sie formuliert wurden. So sind wir uns zum Beispiel sicherlich dariiber

88 einig, dass der newtonsche Begriff der „Masse" eine prazisere Bedeutung als beispielsweise der Begriff der „Demokratie" hat. Wir sind der Meinung, dass der Grund fur die relativ genaue Bedeutung des erstgenannten Begriffs sich aus der Tatsache ableiten lasst, dass er eine spezifische, genau definierte Bedeutung in einer prazisen, eindeutig umrissenen Theorie hat, namlich in der Newtonschen Mechanik. Hingegen wissen wu* nur zu gut, dass Theorien, in denen der Begriff „Demokratie" vorkommt, verschwommen und vieldeutig sind. Wenn wir tatsachlich von diesem engen Zusammenhang, der zwischen der Genauigkeit der Bedeutung eines Terminus oder einer Aussage und der Rolle, die der Terminus oder die Aussage in einer Theorie spielt, ausgehen konnen, dann folgt hieraus unmittelbar, dass Bedarf an einheitlich strukturierten Theorien besteht. Die Abhangigkeit der Bedeutung von Begriffen von der Struktur einer Theorie, in der sie Verwendung finden, sowie die Abhangigkeit der Genauigkeit ihrer Bedeutung von der Genauigkeit und der Koharenz der Struktur dieser Theorie, wird deutlicher, wenn man die begrenzten Moglichkeiten in Betracht zieht, wie Begriffe anderweitig ihre Bedeutung erhalten konnen. Eine Alternative ist die Auffassung, dass Begriffe ihre Bedeutung mittels einer Definition bekommen. Als grundlegendes Verfahren, mit dem Begriffsbestimmungen geleistet werden konnen, mtissen Definitionen jedoch abgelehnt werden, weil Begriffe nur tiber andere Begriffe definiert werden konnen, deren Bedeutung bekannt ist. Wenn die Bedeutung dieser zur Definition herangezogenen Begriffe selbst wieder mittels Definition bestimmt werden muss, dann wird deutlich, dass uns dies zu einem unendlichen Regress fuhrt, es sei denn, dass die Bedeutung irgendwelcher Begriffe auf andere Art und Weise festgelegt ist. Ein Worterbuch hat wenig Sinn, wenn jemand nicht schon viele Worter kennt. Newton konnte die Begriffe „Masse" oder „Krafl" nicht in vor-newtonscher Terminologie definieren. Er musste notgedrungen die Terminologie des alten Begriffssystems uberschreiten, um ein neues System entwickeln zu konnen. Eine zweite Alternative ist die, dass die Bedeutung von Begriffen mittels ostensiver Definition durch Zeigehandlung und Beobachtung festgelegt wird. In unserer Diskussion dartiber, wie ein Kind die Bedeutung von „Apfel" lemt (siehe Kapitel 1), haben wir gesehen, dass diese Alternative selbst im Falle eines solch elementaren Begriffs wie „Apfel" nur schwer aufrechtzuerhalten ist. Sie scheint noch weniger plausibel, bezieht man sich auf Definitionen von Begriffen wie „Masse" in der Mechanik oder „elektrisches Feld" im Elektromagnetismus. Die Behauptung, dass Begriffe zumindest zum Teil ihre Bedeutung aus der Rolle gewinnen, die sie in einer Theorie spielen, wird durch die folgenden historischen Beispiele unterstiitzt. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Legende war das Experiment in keiner Weise der Schlussel zu Galileis Innovationen in der Mechanik. Viele der „Experimente", auf die er sich beruft, wenn er seine Theorie darlegt, sind Gedankenexperimente. Dies stellt fur diejenigen Empiristen einen Widerspruch dar, die darauf bestehen, dass neue Theorien auf experimentellen Ergebnissen basieren, wird aber unmittelbar verstandlich, wenn man sich vergegenwartigt, dass prazises Experimentieren nur dann moglich ist, wenn man im Besitz einer prazisen Theorie ist, die imstande ist, Vorhersagen in Form von prazisen Beobachtungsaussagen zu liefem. Galilei lieferte einen bedeutenden Beitrag zum Aufbau einer neuen

89 Mechanik, die sich in spateren Stadien als tragfahig fur eingehendes Experimentieren erwiesen hat. Es braucht uns nicht zu verwundern, dass seine Leistung eher aus Gedankenexperimenten, Analogien und anschaulichen Metaphern bestand als aus ausfiihrlichem Experimentieren. Die typische Geschichte eines Begriffes, ob es sich nun um den Begriff „chemisches Element", „Atom" oder „das Unbewusste" handelt, beginnt zunachst einmal mit einer vagen Vorstellung, die dann erst allmahlich in dem MaBe deutlich wird, in dem die Theorie, deren Bestandteil er ist, eine prazisere und koharentere Form annimmt. Die Entstehung des Begriffes „elektrisches Feld" liefert dafiir ein besonders treffendes Beispiel. Als er in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts von Faraday zum ersten Mai eingefuhrt wurde, war er sehr vage und mithilfe von mechanischen Analogien wie „gespannter Faden" und einer bildhaften Verwendung von Termini wie „Spannung", „Starke" und „Krafl" formuliert. Der Feldbegriff wurde in dem MaBe besser defmiert, wie die Beziehung zwischen dem elektrischen Feld und anderen elektromagnetischen GroBen deutlicher gemacht werden konnte. Als Maxwell erst einmal seinen „VerschiebungsStrom" - wiederum mithilfe mechanischer Analogien - eingefuhrt hatte, war es moglich, mit den maxwellschen Gleichungen innerhalb der Theorie ein hohes MaB an Koharenz herbeizufuhren. Die maxwellschen Gleichungen decken deutlich eine Wechselbeziehung zwischen samtlichen elektromagnetischen FeldgroBen auf Nur kurze Zeit danach wurde der Ather, den man als notwendig erachtet hatte, um den Feldem eine mechanische Grundlage zu geben, uberflussig. Der Begriff „Feld" blieb als klar defmiertes, eigenstandiges Konzept bestehen. In diesem Abschnitt habe ich versucht, die logische Grundlage eines Zugang zur Wissenschaft zu schaffen, der auf die theoretischen Rahmenbedingungen abzielt, innerhalb derer wissenschaftliche Aktivitaten und Auseinandersetzungen stattfinden. Im Folgenden werden wir uns mit drei bedeutenden Philosophen beschaftigen, die diese Idee verfolgt haben.

8.2 Thomas Kuhn In seinem Buch ,,Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen '\ erstmals erschienen 1962 und acht Jahre spater in uberarbeiteter Fassung wieder aufgelegt (dt. 1967, zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 erganzte Auflage 1976, 4. Aufl. 1979), setzt sich Kuhn kritisch mit induktivistischen und falsifikationistischen Beitragen zur Wissenschaft auseinander. Seine Ansichten wurden seither in der Wissenschaftsphilosophie immer wieder aufgegriffen. Kuhn begann seine akademische Karriere als Physiker und wandte sich dann der Wissenschaftsgeschichte zu. Das fuhrte ihn dazu, seine Sichtweise Uber die Natur der Wissenschaft infi-age zu stellen. Er kam zu der Uberzeugung, dass traditionelle Zugangsweisen zur Wissenschaft, wie der Induktivismus und der Falsifikationismus, den historischen Gegebenheiten nicht entsprechen. In der Konsequenz entwickelte Kuhn einen Beitrag zur Wissenschaftstheorie, der mit den historischen Bedingungen in Einklang steht. Zentrales Merkmal seiner Theorie ist die Betonung des revolutionaren Charakters wissenschaftlichen Fortschritts, wobei eine Revolution das Aufgeben einer theoretischen Struktur zugunsten einer anderen, mit ihr nicht

90 zu vereinbarenden, beinhaltet. Ein anderer bedeutender Aspekt ist die wichtige Rolle, die soziologische Charakteristika der wissenschaftlichen Gemeinschaft spielen. Kuhns Vorstellung (iber den Fortschritt von Wissenschaft kann mit dem folgenden offenen Ablaufschema zusammengefasst werden: Vor-Wissenschaft — normale Wissenschaft - Krise - Revolution Neue Normalwissenschaft - Neue Krise . . . Die wenig organisierten und unterschiedlichen Aktivitaten, die der Bildung einer Wissenschaft vorausgehen, werden schlieBlich strukturiert und bekommen eine Richtung, wenn ein einziges Paradigma von der Gemeinschaft der Wissenschaftler anerkannt wird. Ein Paradigma besteht aus den allgemeinen theoretischen Annahmen und Gesetzen sowie den Techniken fur ihre Anwendung, die die „Scientific community" einer bestimmten Wissenschaft anerkennt. Wissenschaftler, die innerhalb eines Paradigmas arbeiten - ganz gleich, ob es sich um newtonsche Mechanik, die Wellenoptik, die analytische Chemie oder um sonst irgendetwas handelt - praktizieren, was Kuhn Normalwissenschaft nennt. Bei dem Versuch, das Verhalten einiger relevanter Aspekte der Wirklichkeit, so wie es sich als das Ergebnis von Experimenten darstellt, zu erklaren, entwickeln die Normalwissenschaftler ihr Paradigma und konkretisieren es. Dabei stoBen sie unvermeidlich auf Schwierigkeiten und augenfallige Falsifikationen. Wenn derartige Schwierigkeiten tiberhand nehmen, entwickelt sich daraus eine Krise. Eine Krise wird uberwunden, wenn ein volHg neues Paradigma auftaucht und mehr und mehr Anhanger unter den Wissenschaftlern bekommt, bis schlieBlich das urspriingliche, problembeladene Paradigma aufgegeben wird. Der sprunghafte Wechsel stellt eine wissenschaftliche Revolution dar. Das neue Paradigma, vielversprechend und zunachst unbelastet von emsthaften Problemen, bestimmt nun neue normalwissenschaftliche Forschungsaktivitaten, bis es ebenso mit Schwierigkeiten konfrontiert wird und sich eine neue Krise ergibt, gefolgt von einer neuen Revolution. Betrachten wir nun nach diesem kurzen Uberblick die einzelnen Komponenten des kuhnschen Ansatzes im Detail. 8.3 Paradigmen und Normalwissenschaft Eine voll entwickelte Wissenschaft wird durch ein einziges Paradigma geleitet.^ Das Paradigma bestimmt den Standard fur legitime Forschung innerhalb der beNach der 1. Auflage von „ Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen " hat Kuhn eingeraumt, dass er den Terminus „Paradigma" ursprunghch in einem zweideutigen Sinne verwandt hat. In dem Postskriptum zu der zweiten, revidierten und erganzten Auflage unterscheidet er zwischen einer umfassenderen Bedeutung des Terminus, wofiir er die Bezeichnung „disziplindres System'' („discipHnary matrix") einftihrt, und einer Bedeutung im engeren Sinne, fiir die er den Terminus „Musterbeispiel" („exemplar") heranzieht. Hier wird weiterhin der Begriff „Paradigma" dafur verwendet, was Kuhn als „disziplinares System" bezeichnet. - In seinem Postskriptum nimmt Kuhn Bezug auf die Kritik am ParadigmenbegriffvonMasterman (1974). (Anm. d. Hrsg.)

91 treffenden Wissenschaft. Es koordiniert und bestimmt das Vorgehen beim Problemlosen, beim „Ratsellosen" in der Normalwissenschaft. Die Existenz eines Paradigmas, das in der Lage ist, die Tradition einer Normalwissenschaft zu fordem, ist das Charakteristikum, das nach Kuhn Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft unterscheidet. Die newtonsche Mechanik, die Wellenoptik und der klassische Elektromagnetismus bildeten - und bilden vielleicht heute noch - Paradigmen und konnen aus diesem Grund alle drei als wissenschaftlich bezeichnet werden. Die moderne Soziologie lasst tiber weite Strecken ein Paradigma vermissen und verdient aus diesem Grund kaum die Bezeichnung „wissenschaftlich". Wie weiter unten begriindet wird, gehort es zum Wesen eines Paradigmas, sich einer exakten Definition zu widersetzen. Trotzdem ist es moglich, einige der typischen Komponenten, die ein Paradigma ausmachen, zu beschreiben. Zu den Komponenten gehoren explizit ft)rmulierte Gesetze und theoretische Annahmen. So bilden Newtons Bewegungsgesetze einen Teil des newtonschen Paradigmas und Maxwells Gleichungen stellen einen Teil des Paradigmas dar, das die klassische elektromagnetische Theorie ausmacht. Femer umfassen Paradigmen standardmaBige Wege der Anwendung grundlegender Gesetze auf eine Vielzahl unterschiedlicher Situationen. Zum Beispiel beinhaltet das newtonsche Paradigma Methoden der Anwendung der newtonschen Gesetze auf die Planetenbewegungen, auf Pendelbewegungen, auf das ZusammenstoBen von Billardkugeln usw. Das Paradigma umfasst ebenso das Instrumentarium sowie die instrumentellen Techniken, die notwendig sind, um die Gesetze des Paradigmas auf die Realitat anzuwenden. Bezieht man sich in der Astronomic auf das newtonsche Paradigma, so umfasst dies sowohl die Anwendung einer Vielzahl bewahrter Arten von Teleskopen sowie Techniken zu ihrem Gebrauch, als auch eine Reihe unterschiedlicher Techniken zur Korrektur der mithilfe der Teleskope gesammelten Daten. Eine weitere Komponente von Paradigmen sind allgemeine metaphysische Prinzipien, die die Arbeiten innerhalb eines Paradigmas leiten. Wahrend des 19. Jahrhunderts wurde das newtonsche Paradigma von einer Annahme geleitet, die etwa wie folgt lauten konnte: „Die gesamte physische Welt ist als ein mechanisches System zu erklaren, das gemaB den Bewegungsgesetzen von Newton unter dem Einfluss vielfaltiger Krafte ftinktioniert". Das kartesianische Programm im 17. Jahrhundert beinhaltete das Prinzip: „Es gibt keinen vollstandig leeren Raum, und das Universum ist vergleichbar mit einem groBen Uhrwerk, in dem alle Krafte den Charakter eines StoBes haben". SchlieBlich beinhalten alle Paradigmen eine Reihe sehr allgemeiner methodologischer Vorschriften: „Ein Paradigma muss der Realitat angepasst werden" oder „Fehlgeschlagene Versuche, das Paradigma der Realitat anzupassen, miissen als ernstzunehmende Probleme betrachtet werden." Normalwissenschaft beinhaltet ausfuhrliche Versuche, ein Paradigma auszuarbeiten, wobei angestrebt wird, seine Anpassung an die Realitat zu verbessern. Ein Paradigma soil immer hinlanglich unprazise und offen sein, sodass noch genug Raum fiir derartige Forschungsarbeit verbleibt.^ Kuhn stellt Normalwissenschaft als ein Ratsellosen dar, welches sich nach den Regeln des betroffenen Paradigmas richtet. Die Ratsel sind sowohl theoretischer als auch experimenteller ^ Vgl. den etwas praziseren BQgriff dQrpositiven Heuristik von Lakatos. (Anm. d. Hrsg.)

92 Natur.^ So bestehen zum Beispiel innerhalb des newtonschen Paradigmas typische theoretische Ratsel darin, mathematische Techniken zu entwickeln, die sich auf die Bewegungen von Planeten beziehen, die von mehr als einer Anziehungskraft bestimmt werden, wie auch auf die Entwicklung von geeigneten Vorstellungen zur Anwendung der newtonschen Gesetze auf die Bewegung von Flussigkeiten. Zu den experimentellen Ratseln gehoren die Prazisiemng teleskopischer Beobachtungen sowie die Entwicklung experimenteller Techniken, die imstande sind, verlasshche Messungen der Gravitationskonstanten zu liefern. Normalwissenschaftler mussen von der Voraussetzung ausgehen, dass ein Paradigma die Mittel bietet, um die Ratsel zu losen, die innerhalb ihres Rahmens formuliert werden. Scheitert ein Wissenschaftler daran, ein Ratsel zu losen, wird dies eher als ein Scheitem des Wissenschaftlers betrachtet, als dass das Paradigma infrage gestellt wird. Ratsel, die sich einer Losung widersetzen, werden eher als Anomalien statt als Falsifikationen des Paradigmas betrachtet. Kuhn erkennt an, dass alle Paradigmen einige Anomalien beinhalten (z. B. die kopemikanische Theorie und die scheinbare GroBe der Venus oder das newtonsche Paradigma und die Umlaufbahn des Merkurs) und weist jede Art von Falsifikationismus zurtick. Ein Normalwissenschaftler muss dem Paradigma, in dem er arbeitet, in gewisser Weise unkritisch gegentiberstehen. Nur so ist er in der Lage, seine Krafte auf die ausftihrliche Ausarbeitung des Paradigmas zu konzentrieren und die wissenschaftliche Arbeit zu leisten, die zur Erforschung der Wirklichkeit notwendig ist. Es ist der Mangel an Widersprtichlichkeiten zwischen Grundannahmen, der die voll entwickelte Normalwissenschaft von den relativ desorganisierten Aktivitaten unfertiger Vor-Wissenschaft unterscheidet. Nach Kuhn ist letztere durch totale Widersprtichlichkeit und standige Debatten uber Grundannahmen charakterisiert, und zwar in einem solchen MaBe, dass es unmoglich ist, zu detaillierter fachwissenschaftlicher Arbeit zu gelangen. Es gibt fast ebenso viele Theorien wie Wissenschaftler, und jeder Theoretiker ist gezwungen, von vorn anzufangen und seinen eigenen speziellen Ansatz zu rechtfertigen. Kuhn ftihrt als Beispiel die Optik vor Newton an. Vom Altertum bis Newton gab es mannigfaltige Theorien liber die Natur des Lichtes. Bevor Newton seine eigene Theorie aufstellte und verteidigte, konnte keine allgemeine tJbereinkunft erzielt werden, und es gab keine detaillierte, allgemein anerkannte Theorie. Nicht nur, dass rivalisierende Theoretiker der vorwissenschaftlichen Periode sich uber grundlegende theoretische Annahmen uneinig waren, sondem dies betraf bereits die Arten der beobachtbaren Phanomene, die fur ihre jeweiligen Theorien relevant waren. Soweit Kuhn die Rolle anerkennt, die ein Paradigma bei der Ausrichtung der Forschung auf beobachtbare Phanomene und ihrer Interpretation spielt, bezieht

^ In der von Kuhn verwendeten Bedeutung sind Ratsel jene besondere Problemkategorie, die zur Erprobung von Scharfsinn oder Geschicklichkeit dienen kann. Es ist kein Kriterium der Gilte eines solchen „Ratsels", dass seine Losung interessant oder wichtig ist. Im Gegenteil, die wirklich drangenden Probleme, z.B. ein Heilmittel gegen Krebs oder das Konzept fur einen dauerhaften Frieden sind oft uberhaupt keine „Ratsel", weil sie vielleicht gar keine Losung haben. Nicht der innere Wert ist das Kriterium ftir ein Ratsel, sondem das sichere Vorhandensein einer Losung (vgl. Kuhn, 1979, S. 50f.). (Anm. d. Hrsg.)

93 er sich im GroBen und Ganzen auf die Zusammenhange, die als die Theorieabhangigkeit der Beobachtung beschrieben wurde. Kuhn betont, dass ein Paradigma mehr umfasst als allein das, was in expliziten Regeln und Anweisungen ausgedrtickt werden kann. Er beruft sich auf Wittgensteins Diskussionen des „Spier'-Begriffs, um seine Vorstellungen zu erlautem. Wittgenstein erortert, warum es nicht moglich ist, notwendige und hinreichende Bedingungen dafiir aufzustellen, dass eine Aktivitat ein Spiel ist. Wenn man es versucht, fmdet man bestandig Aktivitaten, die unter diese Definition fallen, aber die man nicht zu Spielen rechnen kann, oder Aktivitaten, die die Definition ausschlieBt, aber die man sehr wohl zu Spielen rechnen wiirde. Kuhn behauptet, dass fiir Paradigmen die gleiche Situation besteht. Wenn man versucht, eine exakte und explizite Charakterisierung einiger Paradigmen der Wissenschaftsgeschichte oder gegenwartiger Wissenschaft zu geben, dann zeigt sich regelmaBig, dass einige Arbeiten, die innerhalb eines Paradigmas geleistet werden, nicht der Charakterisierung entsprechen. Dennoch betont Kuhn, dass diese Situation ebenso wenig das Paradigmen-Konzept unhaltbar macht, wie die gleiche Situation in Bezug auf das Spiel den legitimen Gebrauch dieses Konzepts ausschlieBt. Obgleich es keine vollstandige und explizite Charakterisierung gibt, erwerben einzelne Wissenschaftler durch ihre wissenschaftliche Ausbildung Wissen tiber ein Paradigma. Durch das Losen von Standardproblemen, durch Standardexperimente und eigenstandige Forschungsarbeiten unter der Anleitung eines innerhalb des jeweiligen Paradigmas bereits versierten Praktikers wird ein angehender Wissenschaftler mit den Methoden, den Techniken und den Standards des betreffenden Paradigmas vertraut gemacht. Er wird genauso wenig in der Lage sein, explizit Rechenschaft tiber die Methoden und Fertigkeiten, die er erworben hat, abzulegen, wie ein Schreinermeister in der Lage ist, vollstandig zu beschreiben, was hinter seinen Fertigkeiten steckt. Vieles vom Wissen des Normalwissenschaftlers ist im Sinne von Polanyi (1973) stillschweigendes Wissen. Aufgrund der Art seiner Ausbildung - die aus Grunden der Effizienz so sein muss, wie sie ist - ist ein typischer Normalwissenschaftler nicht in der Lage, die genaue Art des Paradigmas, in dem er arbeitet, zu formulieren und ist sich so auch des Paradigmas nicht bewusst. Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Wissenschaftler nicht den Versuch machen kann, die Voraussetzungen seines Paradigmas zu formulieren, wenn die Notwendigkeit gegeben ist. Diese Notwendigkeit ergibt sich, wenn ein Paradigma durch ein rivalisierendes Paradigma bedroht wird. Unter diesen Umstanden muss der Versuch unternommen werden, die allgemeinen Gesetze sowie die metaphysischen und methodologischen Grundsatze, die das Paradigma ausmachen, explizit zu machen, um sie gegen die altemativen Gesetze und Prmzipien des neuen Paradigmas zu verteidigen. Im nachsten Abschnitt wollen wir mit der Zusammenfassung des kuhnschen Ansatzes fortfahren und erortem, auf welche Weise ein Paradigma ins Wanken gerat und durch ein rivalisierendes Paradigma ersetzt wird.

94 8.4 Krise und Revolution Der Normalwissenschaftler arbeitet voller Vertrauen innerhalb eines gut defmierten Bereiches, der durch ein Paradigma vorgeschrieben wird. Das Paradigma bietet ihm eine Anzahl definierter Probleme zusammen mit Methoden, von denen er tiberzeugt ist, dass sie ftir die Problemlosung angemessen sind. Wenn er das Paradigma fiir irgendwelche Misserfolge bei der Problemlosung verantwortlich machen wurde, ware das so, als wenn ein Schreiner seinen Werkzeugen Vorwiirfe machen wurde. Trotzdem konnen sich Misserfolge ereignen, und sie konnen schlieBlich einen bedenklichen Grad erreichen, woraus eine emstzunehmende Krise fiir das Paradigma erwachst. Diese Krise kann zur Widerlegung des Paradigmas sowie zu seiner Verdrangung durch ein mit diesem nicht zu vereinbarenden, alternativen Paradigma fuhren. Die bloBe Existenz ungeloster Rdtsel innerhalb eines Paradigmas macht noch keine Krise aus. Kuhn raumt ein, dass Paradigmen stets Schwierigkeiten beinhalten, dass stets Anomalien existieren. Nur unter einer besonderen Konstellation von Umstanden konnen sich Anomalien in einer Art und Weise entwickeln, dass sie das Vertrauen in ein Paradigma untergraben. Eine Anomalie wird als besonders bedrohlich betrachtet, wenn sie die entscheidenden Grundlagen eines Paradigmas bertihrt und dazu bestandig den Versuchen der Normalwissenschaft widersteht, sie zu beseitigen. Als Beispiel zitiert Kuhn die Probleme, die im Rahmen der maxwellschen elektromagnetischen Theorie gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit den Konzepten des Athers und der Erdbewegung verbunden waren. Ein anderes Beispiel stellen etwa die Probleme dar, die sich durch das Auftreten von Kometen fur den geordneten und vollkommenen aristotelischen Kosmos aus verbundenen kristallinen Spharen ergaben. Anomalien werden auch dann als emsthaft betrachtet, wenn sie im Zusammenhang mit dringlichen sozialen Erfordernissen stehen. Die Probleme, mit denen sich die ptolemaische Astronomic konfrontiert sah, waren dringlich im Hinblick auf ihre Erfordemisse flir die Kalenderreform zur Zeit von Kopernikus. Auch ist die Zeitspanne bedeutsam, in der eine Anomalie den Versuchen widersteht, sie zu beseitigen. Femer ist die Anzahl emsthafter Anomalien ein entscheidender Faktor, der Einfluss auf den Beginn einer Krise hat. Nach Kuhn erfordert die Analyse der charakteristischen Faktoren einer Krisenperiode in der Wissenschaft ebenso die Kompetenz eines Psychologen wie die eines Historikers. Sobald gesehen wu*d, dass Anomalien emstzunehmende Probleme ftir ein Paradigma aufwerfen, beginnt „eine Periode ausgesprochener fachwissenschaftlicher Unsicherheit" (Kuhn, 1979, S. 80). Versuche, das Problem zu losen, werden zunehmend radikaler, und die durch das Paradigma gegebenen Regeln zur Losung von Problemen werden allmahlich gelockert. Die Normalwissenschaftler beginnen, sich auf philosophische und metaphysische Debatten einzulassen und versuchen, ihre Neuerungen, die vom Standpunkt des Paradigmas einen zweifelhaften Status besitzen, mithilfe philosophischer Argumente zu verteidigen. Manche Wissenschaftler beginnen sogar, offen ihre Unzufriedenheit und ihr Unbehagen dem herrschenden Paradigma gegeniiber zum Ausdruck zu bringen. Kuhn zitiert die Reaktion von Wolfgang Pauli auf das, was er als wachsende Krise in der Physik um 1927 sah. Ein erbitterter Pauli gesteht einem Freund: „Zur

95 Zeit ist die Physik wieder einmal fiirchtbar durcheinander. Auf jeden Fall ist sie fiir mich zu schwierig und ich wiinschte, ich ware Filmschauspieler oder etwas Ahnliches und hatte von der Physik nie etwas gehort" (Kuhn, 1979, S. 97). Wenn ein Paradigma erst in einem derartigen AusmaB geschwacht und unterwandert wurde, dass seine Befiirworter ihr Vertrauen in das Paradigma verlieren, ist die Zeit reif fiir die Revolution. Die Gefahr einer Krise wird gesteigert, wenn sich ein rivalisierendes Paradigma einstellt. „Das neue Paradigma oder ein ausreichender Hinweis auf eine spatere Artikulierung [taucht] ganz plotzlich, manchmal mitten in der Nacht, im Geist eines tief in die Krise verstrickten Wissenschaftlers auf (Kuhn, 1979, S. 102). Das neue Paradigma unterscheidet sich vollstandig von dem alten und ist mit ihm unvereinbar. Die radikalen Unterschiede sind dabei verschiedener Natur. Jedes Paradigma betrachtet die Welt als aus unterschiedlichen Bestandteilen zusammengesetzt. Das aristotelische Paradigma sieht das Universum als in zwei getrennte Bereiche geteilt, in die unvergangliche und unveranderliche superlunarische Region und in die vergangliche und Veranderungen unterworfene sublunarische Region. Spatere Paradigmen betrachten das gesamte Universum als aus derselben materiellen Grundsubstanz bestehend. Die Chemie vor Lavoisier etwa besagte, dass es eine Substanz namens Phlogiston gabe, welche entweicht, wenn ein Stoff verbrannt wird. Aus dem neuen Paradigma Lavoisiers folgte, dass es einen derartigen Stoff nicht gibt, wohingegen die Existenz des Sauerstoffs betont wird, der eine andere Rolle bei der Verbrennung spielt. Die maxwellsche elektromagnetische Theorie beinhaltete die Existenz eines Athers, der jeden Raum einnimmt, wohingegen Einsteins radikale Umgestaltung der Theorie den Ather eliminierte. Rivalisierende Paradigmen erachten unterschiedliche Arten von Fragen als legitim oder bedeutsam. Fragen liber das Gewicht von Phlogiston waren fur Phlogiston-Theoretiker entscheidend, fur Lavoisier indessen muBig. Fragen tiber die Masse von Planeten waren fur die Anhanger Newtons fundamental, fiir Aristoteliker dagegen ketzerisch. Das Problem der Geschwindigkeit der Erde in Relation zum Ather, das fur die Physik vor Einstein zutiefst bedeutsam war, wurde durch Einstein aufgehoben. So wie unterschiedliche Paradigmen unterschiedliche Arten von Fragen aufwerfen, so umfassen sie unterschiedliche und sich gegenseitig ausschlieBende Standards. Eine nicht weiter erklarbare Femwirkung konnten die Anhanger der newtonschen Theorie zulassen, von den Kartesianern ware sie kurzerhand als Metaphysik oder als okkult abgetan worden. Bewegung ohne ersichtliche Ursache war fur Aristoteles unsinnig, fur Newton axiomatisch. Die Umwandlung von Elementen hat einen entscheidenden Stellenwert in der modemen Atomphysik (wie auch in der mittelalterlichen Alchemic und in der mechanischen Philosophic des 17. Jahrhunderts), steht jedoch vollig im Gegensatz zu den Zielen des daltonschen atomistischen Programms. Eine Reihe von Ereignissen, die innerhalb der modernen Mikrophysik beschrieben werden konnen, weist eine Unbestimmtheit auf, die im newtonschen Programm keinen Platz hatte. Die Art und Weise, wie ein Wissenschaftler einen bestimmten Aspekt der Welt sieht, wird durch das Paradigma bestimmt, in dem er arbeitet. Kuhn betont, dass Anhanger rivalisierender Paradigmen im gewissen Sinne „in verschiedenen

96 Welten leben". Er fiihrt als Beleg dafur die Tatsache an, dass Verandemngen am Himmel erst dann von westlichen Astronomen beobachtet, aufgezeichnet und diskutiert wurden, nachdem Kopernikus seine Theorie vorgestellt hatte. Vorher wurde mit dem aristotelischen Paradigma die Auffassung vorgegeben, dass es in der superlunarischen Region keine Verandemngen gibt und dementsprechend wurden auch keine Verandemngen wahrgenommen. Jene Verandemngen, die bemerkt wurden, wurden als Stomngen der oberen Atmospare erklart. Kuhn vergleicht den Wechsel einzelner Wissenschaftler von einem Paradigma zu einem mit diesem unvereinbaren, altemativen Paradigma mit einem „Gestaltwander' oder einer religiosen Konversion. Es gibt also kein logisches Argument, das die Uberlegenheit des einen Paradigmas iiber das andere beweist und das dartiber hinaus einen vernunftgeleiteten Wissenschaftler zwingen konnte, den Wandel zu voUziehen. Ein Gmnd, wamm ein solcher Beweis nicht moglich ist, ist die Tatsache, dass an dem Urteil eines Wissenschaftlers iiber den Wert einer wissenschaftlichen Theorie eine Vielzahl von Faktoren beteiligt ist. Die Entscheidung des einzelnen Wissenschaftlers hangt von der Prioritat ab, die er einem der unterschiedlichen Faktoren einraumt. Die Faktoren umfassen solche Kriterien wie Einfachheit, die Dringlichkeit sozialer Notwendigkeiten, die Fahigkeit, spezielle Arten von Problemen zu losen etc. So hatte der eine Wissenschaftler von der kopernikanischen Theorie aufgrund der Einfachheit bestimmter, ihr innewohnender mathematischer Gmndziige angetan sein konnen, ein anderer mag ihr wegen der Moglichkeit der Kalenderreform zugeneigt gewesen sein. Ein dritter wiedemm mag von der Annahme der kopemikanischen Theorie abgeschreckt worden sein, weil sie mit der irdischen Mechanik eng verbunden ist und weil er sich moglicherweise der Probleme bewusst war, die die kopemikanische Theorie ffir diese aufwirft. Ein weiterer mag die kopemikanische Theorie aus religiosen Grtinden abgelehnt haben. Ein zweiter Gmnd, warum es keinen logisch zwingenden Beweis fiir die Uberlegenheit eines Paradigmas iiber ein anderes gibt, ergibt sich aus der Tatsache, dass die Vertreter rivalisierender Paradigmen unterschiedliche Standards oder metaphysische Prinzipien anerkennen. Nach den eigenen Standards mag Paradigma A als dem Paradigma B iiberlegen beurteilt werden, wahrend bei einer Voraussetzung der Standards des Paradigmas B das Urteil gegenteilig ausfallen wurde. Die Schlussfolgerung eines Beweises ist nur dann zwingend, wenn die Voraussetzungen akzeptiert werden. Anhanger rivalisierender Paradigmen erkennen die jeweiligen Voraussetzungen gegenseitig nicht an, und so sind auch die gegenseitigen Beweise fiir sie nicht stringent. Aus diesen Grunden vergleicht Kuhn wissenschaftliche Revolutionen mit politischen Revolutionen. Genauso wie „politische Revolutionen ... darauf aus [sind], politische Institutionen auf Weisen zu andem, die von jenen Institutionen verboten werden" und demzuft)lge „die eigentliche politische Auseinandersetzung versagt", so erweist sich die Wahl zwischen „konkurrierenden Paradigmen als eine Wahl zwischen unvereinbaren Lebensweisen der Gemeinschaft", und kein Argument kann „logisch oder auch nur probabilistisch zwingend" sein (Kuhn, 1979, S. 105f.). Das heiBt jedoch nicht, dass es nicht eine ganze Reihe von Argumenten gibt, die nicht zu den oben erwahnten Faktoren gehort und die die Entscheidungen der Wissenschaftler beein-

97 flusst. Aus Kuhns Sicht ist es eine Aufgabe fur Forscher aus den Reihen der Soziologen und Psychologen, die Faktoren aufzudecken, warum Wissenschaftler einen Paradigmenwechsel vollziehen. Es gibt miteinander in Beziehung stehende Grtinde, wann und warum ein Paradigma mit einem anderen konkurriert; es gibt kein logisch zwingendes Argument, das vorschreibt, dass ein von der Vemunft geleiteter Wissenschaftler das eine ftir das andere aufgeben sollte. Es gibt kein einziges Kriterium, nach dem ein Wissenschaftler die Vorztige oder Moglichkeiten eines Paradigmas beurteilen muss, und femer erkennen Verfechter konkurrierender Programme unterschiedliche Standards an und sehen die Welt sogar auf unterschiedliche Weise, wie sie sie auch in unterschiedlichen Sprachen beschreiben. Das Ziel von Diskussionen und Streitgesprachen zwischen Anhangem rivalisierender Paradigmen sollte es vielmehr sein, zu iiberzeugen, anstatt den Gegner zu zwingen, den eigenen Standpunkt einzunehmen. Damit ist in dem vorangegangenen Abschnitt der Sachverhalt, der hinter Kuhns Aussage steht, dass rivalisierende Paradigmen inkommensurabel sind, zusammengefasst. Eine wissenschaftliche Revolution bedeutet die Preisgabe eines Paradigmas und die Obemahme eines neuen, nicht nur durch einen einzelnen Wissenschaftler, sondem durch die „Scientific community" als Ganzes. Wenn mehr und mehr einzelne Wissenschaftler aus unterschiedlichen Grtinden zu dem neuen Paradigma libergewechselt sind, gibt es eine „wachsende Verlagerung der fachwissenschaftlichen Bindungen" (Kuhn, 1979, S. 169). Wenn die Revolution erft)lgreich ist, dann wird sich diese Verlagerung ausbreiten, sodass sie die Mehrheit der „Scientific community" umfasst und nur noch ein paar Andersdenkende iibrig bleiben. Diese sind aus der neuen „Scientific community" ausgeschlossen und werden vielleicht in einem philosophischen Institut oder einer psychiatrischen Klinik Zuflucht suchen. Auf jeden Fall werden sie schlieBlich aussterben.

8.5 Die Funktion von Normalwissenschaft und Revolutionen Gewisse Aspekte der kuhnschen Schriften mogen den Eindruck erwecken, dass seine Erklarung des Wesens von Wissenschaft rein deskriptiv ist, d.h., dass er nichts weiter anstreben wtxrde als die Beschreibung von wissenschaftlichen Theorien oder Paradigmen sowie Aktivitaten von Wissenschaftlern. Ware dies der Fall, dann wiirde Kuhns Ansatz als Wissenschaftstheorie einen nur geringen Wert besitzen. Bevor der deskriptive Ansatz nicht durch eine Theorie erganzt wird, bietet er keine Richtlinien daftir, welche Aktivitaten und Ergebnisse beschrieben werden sollen. Insbesondere miissen die Aktivitaten und Ergebnisse derjenigen Wissenschaftler, ftir die ihre Arbeit primar Broterwerb ist, in genauso detaillierter Form dokumentiert werden, wie die Leistungen eines Einstein oder eines Galilei. Es ist jedoch ein Fehler, Kuhns Charakterisierung von Wissenschaft so zu betrachten, als sei sie allein aus der Beschreibung der Arbeit von Wissenschaftlern hervorgegangen. Kuhn betont, dass sein Ansatz eine Theorie der Wissenschaft darstellt, da er eine Erklarung der Funktion der unterschiedlichen Komponenten

98 umfasst. Nach Kuhn erfullen Normalwissenschaft und Revolutionen wichtige Funktionen, sodass Wissenschaft entweder diese oder gewisse anderen Charakteristika umfassen muss, die die gleichen Funktionen erfullen konnen. Wir wollen diese Funktionen naher betrachten. Perioden der Normalwissenschaft bieten Wissenschaftlem die Moglichkeit, die fachwissenschaftlichen Details einer Theorie zu entwickeln. Wahrend sie innerhalb eines Paradigmas, dem Fundament, das als absolut gtiltig betrachtet wird, forschen, sind sie in der Lage, die anspruchsvolle experimentelle und theoretische Arbeit zu leisten, die notwendig ist, um die Anpassung des Paradigmas an die Realitat in zunehmendem MaBe zu verfeinem. Das Vertrauen in die Angemessenheit des Paradigmas versetzt Wissenschaftler in die Lage, ihre Energie eher in Versuche zu stecken, die detaillierten „Ratsel" zu losen, die sich innerhalb ihres Paradigmas stellen, anstatt sich in Streitgesprachen uber die Legitimation ihrer fundamentalen Annahmen und Methoden aufzureiben. FUr den Normalwissenschaftler ist es notwendig, in gewissem Sinne „unkritisch" zu sein. Wenn alle Wissenschaftler an jedem Aspekt des Rahmens, in dem sie forschen, immerzu Kritik tibten, wurde nie ins Detail gehende Forschung geleistet werden konnen. Wenn alle Wissenschaftler Normalwissenschaftler waren und blieben, dann wtirde eine Einzelwissenschaft sich auf ein einziges Paradigma einschieBen und sich danach nicht weiterentwickeln. Dies ware vom kuhnschen Standpunkt aus ein schwerwiegender Fehler. Ein Paradigma verkorpert einen speziellen konzeptuellen Rahmen, mit dem die Welt betrachtet und beschrieben wird, sowie eine Anzahl experimenteller und theoretischer Techniken, um dieses Paradigma an die Gegebenheiten der Realitat anzupassen. Aber es gibt keinen A-phori-Grund dafur, dass man erwarten kann, dass irgendein Paradigma voUkommen ist oder zumindest das beste, das zur Verfugung steht. Es gibt keine induktiven Prozeduren, um zu voUkommen angemessenen Paradigmen zu gelangen. Folglich sollte Wissenschaft die Moglichkeit beinhalten, aus einem Paradigma in ein anderes, besseres auszubrechen. Dies ist die Funktion von Revolutionen. Alle Paradigmen sind in gewissem MaBe unzureichend, soweit es die Anpassung an die Realitat betrifft. Wenn das Paradigma eine zu geringe Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit aufweist, d.h., wenn sich eine Krise entwickelt, dann wird der revolutionare Schritt, das Ersetzen des gesamten Paradigmas durch ein anderes fur den Fortschritt der Wissenschaft entscheidend. Fortschritt durch Revolutionen ist Kuhns Alternative zu dem kumulativen Fortschritt, der fur den Induktivismus charakteristisch ist. GemaB diesem Ansatz wachst wissenschaftliche Erkenntnis kontinuierlich, je mehr und verschiedenartigere Beobachtungen gemacht werden, die es ermoglichen, neue Konzepte zu formulieren, alte weiterzuentwickehi und neue gesetzmaBige Beziehungen zwischen ihnen zu entdecken. Von Kuhns Standpunkt aus ist dies falsch, weil es die Rolle ignoriert, die ein Paradigma bei der Steuerung von Beobachtung und Experiment spielt. Gerade weil ein Paradigma einen derartig tiefgreifenden Einfluss auf die Wissenschaft hat, die in ihrem Rahmen betrieben wird, muss ein Paradigmenwechsel revolutionar sein. Eine weitere Funktion, die fur Kuhns Ansatz spricht, darf nicht unerwahnt bleiben. Wie oben bereits ausgefuhrt wurde, sind Kuhns Paradigmen nicht so

99 genau umrissen, dass sie durch ein explizites System von Regeln ersetzt werden konnten. Verschiedene Wissenschaftler oder Forschergruppen mogen das Paradigma in etwas unterschiedlicher Weise interpretieren und anwenden. Mit der gleichen Situation konfrontiert, treffen nicht alle Wissenschaftler die gleiche Entscheidung oder wenden die gleiche Strategic an. Dies hat den Vorteil, dass die Anzahl an Strategien, die erprobt werden, sich vervielfaltigen. Risiken sind dementsprechend auf die gesamte „Scientific community" verteilt, und auf lange Sicht erhohen sich die Erfolgschancen. Wie sonst konnte die „Scientif!c community" als Gruppe auf mehrere Moglichkeiten setzen? (vgl. Kuhn, 1974b, S. 233).

8.6 Die Verdienste des kuhnschen Beitrags zur Wissenschaftstheorie Rein deskriptiv ist Kuhns Idee, dass wissenschaftliche Arbeit das Losen von Problemen innerhalb eines nicht infi-age gestellten Rahmens beinhaltet, sicher richtig. Bine Disziplin, in der Grundsatzliches immer wieder hinterfragt wird, wie es fur Poppers Methode der „Vermutungen und Widerlegungen" charakteristisch ist, wird kaum bemerkenswerte Fortschritte machen, weil Prinzipien nicht lange genug von Herausforderungen verschont bleiben, um fachwissenschaftliche Arbeit zu leisten. Es ist richtig, ein heroisches Bild Einsteins zu zeichnen, als eine Person, die wesentliche Fortschritte macht, indem sie die Originalitat und den Mut zeigt, einige der fimdamentalen Prinzipien der Physik infrage zu stellen. Man darf dabei aber nicht tibersehen, dass es 200 Jahre detaillierte Forschung innerhalb des newtonschen Paradigmas und 100 Jahre Forschung im Rahmen der Theorien zur Elektrizitat und des Magnetismus bedurfte, um die Probleme offen zu legen, die Einstein erkannte und mit seiner Relativitatstheorie loste. Es ist eher die Philosophic als die Wissenschaft, die durch das konstante LFben von Kritik an Grundsatzen einigermaBen gut charakterisiert werden kann. Vergleichen wir die Ansatze von Kuhn und Popper, um zu erfassen, in welchem Sinne sich die Astrologie von einer Wissenschaft unterscheidet, so ist es, wie Mayo (1996, Kap. 2) tiberzeugend darlegt, Kuhns Beitrag, der schlussiger ist. Aus einer popperschen Perspektive wird die Astrologie entweder als Nicht-Wissenschaft diagnostiziert, weil sie nicht falsifizierbar ist, oder weil sie falsifizierbar ist und sich als falsch erwiesen hat. Ersteres ist nicht richtig, weil - wie Kuhn (1974a) deutlich macht - selbst in der Renaissance, als Astrologie emsthaft praktiziert wurde, Astrologen Vorhersagen trafen, die falsifizierbar waren und tatsachlich haufig falsifiziert wurden. Aber auch Letzteres genugt nicht, um der Astrologie den Status einer Wissenschaft abzusprechen, weil dies fur die Physik, die Chemie und die Biologic ebenso gelten wurde, da wir gesehen haben, dass alle Wissenschaften Schwierigkeiten mit problematischen Beobachtungen und experimentellen Resultaten haben. Kuhns Antwort besteht in dem Schluss, dass der Unterschied zwischen der Astronomic, um ein Beispiel herauszugreifen, und der Astrologie darin besteht, dass Astronomen in der Lage sind, aus Vorhersagefehlern zu lemen, Astrologen nicht. Astronomen konnen ihre Instrumentarien verfeinem, mogliche Storungen tiberprtifen, unentdeckte Planeten oder mangelnde Spharizitat des Mondes postulieren und so weiter, um dann detailliert daran zu

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arbeiten und herauszufinden, ob solche Veranderungen das Problem, vor das sie eine nicht eingetroffene Vorhersage stellt, zu beseitigen. Astrologen haben dagegen keine vergleichbaren Ressourcen, um aus Fehlern zu lemen. Die Ressourcen, uber die Astronomen verftlgen und Astrologen nicht, konnen dabei als ein von vielen geteiltes Paradigma verstanden werden, das die Normalwissenschaft aufrechterhalt. Kuhns Normalwissenschaft stellt damit ein entscheidendes Element der Wissenschaft dar. Der komplementare Teil von Kuhns Ansatz, die wissenschaftliche Revolution, scheint ebenfalls uber bemerkenswerte Vorziige zu verfiigen. Kuhn benutzte den Begriff der Revolution, um den nicht-kumulativen Charakter wissenschaftlichen Fortschritts deutlich zu machen. Der langfiristige Fortschritt von Wissenschaft beinhaltet nicht nur die Anhauftmg von bestatigten Tatsachen und Gesetzen, sondem gelegentlich auch das LFber-Bord-werfen eines Paradigmas und sein Ersetzen durch ein anderes, mit ihm nicht zu vereinbarendes neues Paradigma. Kuhn war sicher nicht der Erste, der dieses Argument vorbrachte. Popper selbst wies darauf hin, dass Wissenschaft das kritische Umsturzen von Theorien und deren Ersatz durch alternative Theorien beinhaltet. Wahrend jedoch ftir Popper das Ersetzen einer Theorie durch eine andere einfach das Ersetzen eines Sets von Behauptungen durch andere Sets ist, umfasst eine wissenschaftliche Revolution nach Kuhns Sichtweise weit mehr. Eine Revolution beinhaltet nicht nur den Wechsel genereller Gesetze, sondem auch eine Anderung der Wahmehmung von Realitat und eine Veranderung der MaBstabe, die an die Bewertung einer Theorie angelegt werden. Wie wir gesehen haben, wird in der aristotelischen Theorie ein endliches Universum angenommen, ein System, in dem jeder Gegenstand einen naturgegebenen Platz und eine ebensolche Funktion hat, wobei der Unterscheidung in Himmel und Erde eine besondere Bedeutung zukommt. Innerhalb dieser Theorie war die Bezugnahme auf die Funktion verschiedener Gegenstande ein legitimer Erklarungsansatz (zum Beispiel fallen Steine zur Erde, um an ihren naturgegebenen Platz zu gelangen und damit dem Universum seine ideale Ordnung wiederzugeben). Seit der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts ist das Universum unendlich und Gegenstande interagieren mittels Kraften, die bestimmten Gesetzen gehorchen. Erklarungen beziehen sich auf diese Krafte und Gesetze. Empirische Belege spielen in den Theorien (oder Paradigmen) von Aristoteles und Newton eine unterschiedliche Rolle. Im Rahmen der aristotelischen Theorie wurden solche Beweise als fundamental erachtet, die mittels der nicht durch Hilfsmittel unterstiitzten, unter optimalen Bedingungen arbeitenden Sinne erbracht wurden. Bei der newtonschen Theorie waren Beweise, die unter Einsatz von Instrumenten und Experimenten gewonnen wurden, von grundsatzlicher Bedeutung und wurden den direkten Sinneseindrticken oftmals vorgezogen. Vor diesem Hintergrund ist Kuhn augenscheinlich im Recht, wenn er anmerkt, dass es so etwas wie wissenschaftliche Revolutionen gibt, die nicht nur einen Wechsel innerhalb der aufgestellten Behauptungen bedeuten, sondem auch einen Wechsel dessen, was als Wesen der Welt angenommen und was als Beweis und als Erklamngsmodus ftir angemessen erachtet wird. Wird dies zugrundegelegt, muss dariiber hinaus jeder angemessene Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt darlegen, inwieweit die im Verlauf der Revolution vorgenommenen

101 Veranderungen als progressiv anerkannt werden konnen. SchlieBen wir uns Kuhns Charakterisierung von Wissenschaft an und werfen dieses Problem in aller Scharfe auf: Kuhn behauptet, dass das, was als Problem angesehen wird, von Paradigma zu Paradigma wechselt. Das Gleiche gilt fur die MaBstabe zu Beurteilung der Angemessenheit von vorgeschlagenen Losungen fiir Probleme. Wenn MaBstabe jedoch von Paradigma zu Paradigma wechseln, stellt sich die Frage, auf welche man sich beziehen kann, um festzustellen, dass ein Paradigma besser ist, also einen Fortschritt gegentiber dem Paradigma, das es ersetzt, darstellt? Wann kann gesagt werden, dass Wissenschaft durch Revolutionen voranschreitet?

8.7 Kuhns Ambivalenz bezuglich des Fortschritts durch Revolutionen Kuhns Haltung gegeniiber der von uns gestellten Grundfrage, die auch in seinem eigenen Werk behandelt wird, ist durchgangig ambivalent. Nach der Publikation des Buches ,,Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" wurde Kuhn vorgeworfen, eine „relativistische" Sichtweise des wissenschaftlichen Fortschrittes zu propagieren. Kuhn habe einen Beitrag zum Thema Fortschritt eingebracht, nach dem die Frage, ob ein Paradigma besser ist als eines, das es infrage stellt, nicht deflnitiv und neutral beantwortet werden kann, sondern von Werten Einzelner, Gruppen oder Kulturen abhangt. Kuhn trat diesem „Vorwurf' entgegen und ftigte der zweiten Auflage seines Buches ein Postskriptum an, in dem er sich vom Relativismus distanzierte: „Spatere wissenschaftliche Theorien sind besser als frtihere geeignet, Probleme in den oft ganz unterschiedlichen Umwelten, auf die sie angewendet werden, zu losen. Dies ist keine relativistische Position, und in diesem Sinne bin ich fest txberzeugt vom wissenschaftlichen Fortschritt" (Kuhn, 1979, S. 217). Dieses Kriterium ist insofem problematisch, als Kuhn selbst betont, dass das, was als Problem bzw. seine Losung gelten kann, vom jeweiligen Paradigma abhangig ist und weil Kuhn an anderer Stelle (1979a, S. 217) andere Kriterien wie „Einfachheit, Anwendungsbreite und Vertraglichkeit mit anderen Spezialgebieten" anfiihrt. Noch problematischer ist jedoch der Widerspruch zwischen diesem nicht-relativistischen Anspruch beziiglich des Fortschritts und den zahlreichen Passagen in Kuhns Buch, die als explizites Eintreten ftir eine relativistische Position verstanden werden konnen, wenn nicht sogar als ein Leugnen, dass es irgendwelche rationale Kriterien wissenschaftlichen Fortschritts gibt. Kuhn vergleicht wissenschaftliche Revolutionen mit Gestaltwandel, religioser Konversion und politischen Revolutionen. Kuhn benutzt diese Vergleiche, um zu betonen, wie wenig die Treue eines Wissenschaftlers gegentiber dem einen oder anderen Paradigma auf rationale, allgemein anerkannte Kriterien zuruckgefiihrt werden kann. Die Art und Weise, in der die Darstellung auf Seite 9 (Abb. 1) von einer von oben zu einer von unten betrachteten Treppe wechselt, ist ein einfaches Beispiel fiir einen Gestaltwandel, aber es macht deutlich, dass ein solcher Wandel das Gegenteil einer durchdachten Wahl ist. Das Konvertieren von einer Religion zu einer anderen wird tiblicherweise in analoger Weise gesehen. Was die Analogic zu politischen Revolutionen angeht, betont Kuhn (1979, S. 105f), dass diese „darauf aus [sind], politische Institutionen auf Weisen zu andern, die von

102 jenen Institutionen verboten werden", sodass „die eigentliche politische Auseinandersetzung versagt". Analog dazu „erweist sich die [Wahl] zwischen konkurrierenden Paradigmen als eine Wahl zwischen unvereinbaren Lebensweisen der Gemeinschaft", da kein Argument „logisch oder auch nur probabilistisch zwingend" sein kann. Kuhns Insistieren darauf, dass die Art, in der wir die Natur der Wissenschaft entdecken, ihrem „Wesen nach soziologisch" sei und wir Uber ihrem Fortschritt nur eine Aussage treffen konnen, „wenn wir die Natur der wissenschaftlichen Gruppe priifen ... [und] entdecken, was diese Gruppe schatzt, was sie duldet und was sie verachtet" (Kuhn, 1974, S. 230), fuhrt ebenfalls zum Relativismus, wenn sich herausstellt, dass unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Dinge schatzen, tolerieren oder eben nicht schatzen. Genau so interpretieren gewisse zeitgenossische Wissenschaftssoziologen ublicherweise Kuhn, indem sie seine Sichtweisen zu einem expliziten Relativismus weiterentwickeln. Nach meinem DafUrhalten enthalt Kuhns Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt, in der zweiten Auflage, die um das Postskriptum erganzt wurde, zwei nicht miteinander zu vereinbarende Argumentationslinien. Die eine ist relativistisch, die andere nicht. Daraus ergeben sich zwei Moglichkeiten: Die eine besteht darin, den Weg der oben erwahnten Soziologen weiter zu verfolgen und die relativistische Linie in Kuhns Ansatz anzunehmen und weiterzuentwickeln. Das bedeutet unter anderem die Darstellung soziologischer Analysen von Wissenschaft, auf die Kuhn zwar immer wieder anspielt, auf die er aber nicht weiter eingegangen ist. Eine zweite Moglichkeit besteht darin, die relativistischen Komponenten zu ignorieren und Kuhns Publikationen so umzuschreiben, dass sie mit einem alles umfassenden Verstandnis wissenschaftlichen Fortschritts kompatibel sind. Diese Alternative erft)rdert eine Antwort auf die Frage, wann von einem Paradigma gesagt werden kann, dass es einen Fortschritt gegentiber dem, das es ersetzt, darstellt. Ich hoffe, dass mit dem Ende des Buchs klar wird, welche Option ich ftir fiiichtbarer halte. 8.8 Objektives Wissen „ ... Gerade weil es ein tJbergang zwischen unvereinbaren Dingen ist, wenn er nicht Schritt um Schritt vor sich gehen, von Logik und neutraler Erfahrung erwirkt. Er muss, wie der Gestaltwandel, auf einmal (wenn auch nicht notwendigerweise in einem Augenblick) geschehen oder liberhaupt nicht" (Kuhn, 1967, S. 199). Ich bin nicht der Einzige, den dieser Satz von Kuhn verwirrt hat. Wie kann ein Paradigmenwechsel „auf einmal", nicht notwendiger Weise jedoch „in einem Augenblick" stattfinden? Es ist nicht schwer, die Quelle der Verwirrung, die in diesem problematischen Satz liegt, zu identifizieren. Auf der einen Seite ist sich Kuhn der Tatsache bewusst, dass sich eine wissenschaftliche Revolution uber eine beachtliche Zeitspanne, die viel theoretische und experimentelle Arbeit beinhaltet, erstrecken kann. Kuhns klassische Studie zur kopemikanischen Revolution (1959, dt. 1981) dokumentiert die jahrhundertelange Arbeit, derer sie bedurfte. Andererseits leuchtet bei Kuhns Vergleich zwischen einem Paradigmenwechsel und einem „Gestaltwandel" bzw. religioser Konversion die Idee, dass ein Wechsel „auf einmal" stattfmdet, unmittelbar ein. Es kann vermutet werden, dass Kuhn hier zwei

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Arten von Wissen verwechselt, und es ist wichtig und hilfreich, diesen Unterschied zu benennen. Wenn ich sage „Ich kenne den Zeitpunkt, zu dem ich diesen speziellen Absatz geschrieben habe und Sie nicht", beziehe ich mich auf ein Wissen, das ich erworben und abgespeichert habe, das Ihnen jedoch nicht zur Verfiigung steht. Ich kenne Newtons erstes Bewegungsgesetz, bin jedoch nicht in der Lage, einen Flusskrebs zu klassifizieren. Auch dies ist eine Frage des mir verfugbaren Wissens. Die Aussagen, dass sich Maxwell nicht bewusst war, dass seine elektromagnetische Theorie Radiowellen vorhersagt, bzw. dass sich Einstein der Ergebnisse des Michelson-Morley-Experiments bewusst war, implizieren denselben Gebrauch des Begriffs „wissen" im Sinne von „sich bewusst sein". Wissen ist ein Zustand des Verstandes. Eng verbunden mit dieser sich auf den Zustand des individuellen Verstandes beziehenden Sichtweise ist die Frage, ob und wenn ja, in welchem Umfang ein Individuum einzelne oder mehrere Aussagen akzeptiert oder glaubt. Ich bin der Meinung, dass Galilei die Validitat der Nutzung von Teleskopen iiberzeugend darlegte, wahrend Feyerabend dies nicht tat. Ludwig Boltzmann akzeptierte die kinetische Theorie der Case, wahrend sein Landsmann Ernst Mach dies nicht tat. All diese Arten iiber Wissen und Aussagen zu Wissensinhalten zu sprechen, beziehen sich auf den jeweilige Zustand des Verstandes oder auf individuelle Meinungen und ist weit verbreitete und durchaus legitim. Um einen geeigneteren Begriff einzuftihren, soil die eben dargestellte Art des Wissens subjektiv benannt werden. Dies soil unterschieden werden von Wissen im objektiven Sinn. Der Satz „Meine Katze lebt in einem Haus, das keine Tiere beherbergt" ist widerspriichlich. Die Satze „Ich habe eine Katze" und „Heute ist ein Meerschweinchen gestorben" sind aus der Aussage „Heute hat meine weiBe Katze ein Meerschweinchen getotet" abgeleitet. Bei diesen Beispielen wird die den Satzen zugesprochene Eigenschaft in einem allgemeinen Sinn offensichtlich. Dies muss jedoch nicht so sein. Zum Beispiel kann ein Jurist in einem Gerichtsverfahren gegen einen Morder nach eingehender Analyse entdecken, dass die Tatsachen, die ein Zeuge berichtet, Konsequenzen haben, die den von einem anderen Zeugen berichteten Tatsachen widersprechen. Ist dies der Fall, dann ist dies unabhangig davon, ob die fraglichen Zeugen sich dessen bewusst sind oder nicht und ob sie die Aussagen fiir wahr halten oder nicht. Dartiber hinaus ware der Widerspruch, hatte der Jurist ihn nicht aufgedeckt, unentdeckt geblieben, und zu keiner Zeit ware sich jemand dessen bewusst gewesen. Dennoch waren die Aussagen weiterhin widerspruchlich. Aussagen konnen Eigenschaften haben, die unabhangig davon sind, wessen sich Individuen bewusst sind. Sie haben objektive Eigenschaften. Wir haben uns bereits in Kapitel 1 mit der Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Wissen beschaftigt. Dort wurde zwischen der Wahmehmungserfahrung von Individuen und den Konsequenzen, die sie daraus ziehen einerseits, und den Beobachtungsaussagen, die sie zur Unterstiitzung heranziehen andererseits, unterschieden. Es wurde dargelegt, dass die Letzteren in einer Art und Weise offentlich uberpriifbar sind, wie das bei den zuerst Genannten nicht moglich ist.

104 Das Labyrinth an Aussagen, das eine Wissenschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht hat, hat in ganz ahnhcher Weise Eigenschaften, deren sich die Wissenschaftler selbst nicht bewusst sein mtissen. Die theoretische Struktur der modernen Physik ist so komplex, dass sie sicher nicht mit den Annahmen eines Physikers oder einer Gruppe von Physikern gleichzusetzen ist. Genauso wie viele Arbeiter ihre Anstrengungen im Errichten einer Kathedrale vereinigen, tragen viele Wissenschaftler auf ihrem je spezifischen Weg und mit ihren individuellen Fahigkeiten zur Entwicklung und Konkretisierung der Physik bei. Ebenso wie sich ein gliicklicher Turmarbeiter der Implikationen einiger ominoser Entdeckungen, die von Arbeitem am Fundament gemacht wurden, in keiner Weise bewusst sein muss, mag sich ein hochfliegender Theoretiker der Relevanz einiger experimenteller Ergebnisse flir die Theorie, an der er arbeitet, nicht bewusst sein. In beiden Fallen existieren Beziehungen zwischen Teilen einer Struktur unabhangig davon, ob sich Individuen dieser Beziehungen bewusst sind. Historische Beispiele, die geeignet sind, diesen Sachverhalt zu illustrieren, sind leicht zu fmden. Haufig werden unerwartete Konsequenzen einer Theorie, wie zum Beispiel eine experimentelle Vorhersage oder ein Widerspruch mit einer anderen Theorie im Rahmen von Folgeuntersuchungen entdeckt. So leitete Poisson aus der Wellentheorie des Lichts von Fresnel die Vorhersage ab, dass man, wenn man eine lichtundurchlassige Scheibe auf geeignete Art und Weise beleuchtet, im Zentrum der Schattenseite einen hellen Fleck beobachten kann. Fresnel dagegen war sich dieser Konsequenz seiner Theorie nicht bewusst. Auch zahlreiche Widerspriiche zwischen Fresnels Theorie und der durch sie infrage gestellten Teilchentheorie des Lichts von Newton sind entdeckt worden. Zum Beispiel sagt Fresnels Theorie voraus, dass sich Licht in der Luft schneller fortbewegt als im Wasser, wahrend Newtons Theorie genau das Gegenteil vorhersagt. Es wurde dargestellt, dass Wissen als objektiv konstruiert werden kann, indem auf objektive Eigenschaften von Aussagen, im Speziellen von Aussagen beziiglich theoretischer und beobachtbarer Aspekte, Bezug genommen wird. Doch nicht nur solche Aussagen sind objektiv. Experimentelle Versuchsanordnungen und Prozeduren, methodologische Regeln und mathematische Systeme sind ebenfalls objektiv in dem Sinn, als sie sich von den Bewusstseinsinhalten von Individuen unterscheiden. Sie konnen von Individuen kontrovers behandelt, ausgearbeitet, modifiziert und kritisiert werden. Jeder Wissenschaftler ist mit einer objektiven Situation - bestimmten Theorien, experimentellen Ergebnissen, Instrumenten und Techniken, bestimmten Arten von Argumenten usw. - konfrontiert, und er wird diese benutzen, um zu versuchen, die Situation zu verandern und zu optimieren. Der Begriff „objektiv" soil nicht bewertend verstanden werden. Inkonsistente Theorien oder solche, die nur wenig Erklamngsgehalt haben, konnen im oben beschriebenen Sinne objektiv sein. Tatsachlich haben solche Theorien objektiv die Eigenschaften, inkonsistent zu sein und wenig Erklamngsgehalt zu besitzen. Obwohl das hier beschriebene Verstandnis des Begriffs „objektiv" dem von Popper sehr ahnlich ist (siehe vor allem Popper, 1984, Kap. 3 und 4), soil die Ahnlichkeit doch nicht so weit gehen, dass auch wir uns in die verzwickte Diskussion daruber verstricken, in welchem Sinne genau diese objektiven Eigenschaften existieren.

105 Aussagen haben nicht die Eigenschaften physikalischer Objekte. Die Art der Existenz solcher linguistischen Objekte zu benennen, ist eine vertrackte philosophische Aufgabe. Ahnliches gilt fur andere soziale Konstruktionen, wie methodologische Regeln und mathematische Systeme. Mir genugt es jedoch, meine Argumente durch das Heranziehen der genannten Beispiele auf einer allgemein nachvollziehbaren Ebene vorzubringen. Fiir meine Belange ist dies ausreichend. Viele von Kuhn angefuhrten Aspekte von Paradigmen liegen auf der objektiven Seite der hier vorgestellten Dichotomie, so zum Beispiel seine Ausfuhrungen zur Tradition des Ratsellosens innerhalb eines Paradigmas, zu den Anomalien, mit denen ein Paradigma konfrontiert ist und ebenso zu der Art und Weise, in der sich Paradigmen beztiglich unterschiedlicher Standards und metaphysischer Annahmen unterscheiden. Akzeptiert man diese Interpretation, ist es - in Kuhns Terminologie - sinnvoll, unsere grundlegende Frage danach zu stellen, in welchem Sinne von einem bestimmten Paradigma gesagt werden kann, dass es einen Fortschritt gegeniiber einem rivalisierenden Paradigma darstellt. Es ist die Frage nach der objektiven Beziehung zw^ischen Paradigmen. Dennoch gibt es aber auch eine eher der subjektiven Seite der Dichotomie entsprechenden Sichtweise in Kuhns Werk, zum Beispiel seine Ausfiihrungen zum „Gestaltwandel" und Ahnliches. Spricht man von Paradigmenwechseln in Begriffen eines Gestaltwandels, wie dies Kuhn tut, entsteht der Eindruck, als seien die Sichtweisen der jeweiligen Seiten eines Wechsels nicht vergleichbar. Wird dies gleichgesetzt mit einem Wechsel, der im Bewusstsein eines Wissenschaftlers stattfindet, wechselt er von der Anhangerschaft eines Paradigmas zu einer anderen. Diese Gleichsetzung fiihrt zu der Verwirrung, die der am Beginn dieses Abschnitts angefuhrte Satz hervorruft. Stehen die Natur von Wissenschaft und der Charakter wissenschaftlichen Fortschritts im Mittelpunkt der Betrachtung, wie dies bei Kuhn der Fall zu sein scheint, so sollten die Ausfiihrungen zum Gestaltwandel und zur religiosen Konversion aus Kuhns Beitrag entfemt werden, und es sollte bei einer objektiven Charakterisierung von Paradigmen und deren Beziehungen zueinander bleiben. Zumeist geht Kuhn auch genau so vor, und seine historischen Studien sind eine Fundgrube fiir wichtiges Material zur Erhellung der Natur von Wissenschaft. Inwiefern von einem historisch existierenden Paradigma gesagt werden kann, dass es besser ist als ein rivalisierendes, das es ersetzt, unterscheidet sich von der Frage nach der Art und Weise und den Grtinden, aus denen ein einzelner Wissenschaftler die Paradigmen wechselt oder sich entscheidet, innerhalb des einen oder anderen zu fi)rschen. Die Tatsache, dass Wissenschaftler im Rahmen ihrer Forschungsarbeit aus einer Vielzahl von Grtinden, oft beeinflusst durch subjektive Faktoren, Urteile fallen und Entscheidungen treffen, ist das eine. Die Beziehung zwischen unterschiedlichen Paradigmen, die oft erst im Nachhinein wahrgenommen werden, etwas anderes. Wenn identifiziert werden kann, wie Wissenschaft voranschreitet, sind es die zuletzt genannten Erwagungen, in denen eine Antwort zu fmden ist. Das sind die Griinde, weswegen mich Kuhns Versuch in seinem Text von 1977 (Kap. 13) nicht befriedigt, dem Vorwurf des Relativismus entgegenzutreten, indem er sich auf die Themen „Werteentscheidung und Theorienwahl" konzentriert.

106 Weiterfuhrende Literatur Zentrale Quelle ist Kuhns Buch ,,Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" (1979^^). In „Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschafllichen Arbeit" (1974a) diskutiert Kuhn die Beziehungen zwischen seiner und Poppers Sichtweise, und in „Bemerkungen zu meinen Kritikem" (1974b) antwortet er auf einige Kritiken. Eine wertvolle Sammlung von Essays von Kuhn findet sich in dem 1977 erschienenes Buch ,,The Essential tension: Selected Studies in Scientific Tradition and Change''. Eine detaillierte Diskussion von Kuhns Philosophie und eine Bibliographie seiner Werke findet sich bei Hoyningen-Huene (1993). Der von Lakatos und Musgrave (1974) vorgelegte Band enthalt eine Reihe von Kontroversen zwischen Kuhn und seinen Kritikem. Zum Einfluss von Kuhns Ideen in der Soziologie siehe zum Beispiel Bloor (1971) und Barnes (1982). Ein Beitrag dazu, wie in der Wissenschaft Begriffe ihre Bedeutung erhalten, siehe Nersessian (1984); hier wird die im ersten Abschnitt dieses Kapitels dargestellte Position verdeutlicht.

Theorien als Strukturen II: Forschungsprogramme

9.1 Imre Lakatos Imre Lakatos, ein gebtirtiger Ungar, wanderte in den spaten 1950er Jahren nach England aus, wo er Karl Popper kennen lemte, der nach Lakatos eigenen Worten „[sein] Leben veranderte" (Worrall & Currie, 1982a, S. 139). Obwohl er ein begeisterter Anhanger von Poppers Ansatz war, erkannte er einige der Probleme des popperschen Falsifikationismus (vgl. Kapitel 7). Mitte der 1960er Jahre erkannte Lakatos die altemativen Perspektiven von Wissenschaft, die Kuhns Werk „Z)/e Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" beinhaltet. Obwohl Popper und Kuhn rivalisierende Ansatze vorlegten, haben ihre je spezifischen Sichtweisen doch einiges gemeinsam. Im Speziellen beziehen beide Position gegen den Positivismus und den Induktivismus. Sie stellen beide die Theorie (bzw. das Paradigma) tiber die Beobachtung und machen deutlich, dass die Suche nach Beobachtungsresultaten und Experimenten, ihre Interpretation und die Frage, ob sie akzeptiert werden, vor dem Hintergrund von Theorien bzw. Paradigmen stattfinden. Lakatos fuhrte diese Tradition weiter und suchte nach einer Moglichkeit, Poppers Falsifikationismus zu modifizieren und dabei einige seiner Probleme zu beseitigen. Unter anderem bezog er sich dabei auf einige Uberlegungen Kuhns, wobei er die relativistischen Aspekte seiner Position vehement zuriickwies. Wie Kuhn betrachtete Lakatos wissenschaftliche Aktivitaten als etwas, das unter bestimmten Rahmenbedingungen stattfmdet. Er pragte den Begriff der „Forschungsprogramme", was in gewisser Weise seine Alternative zu Kuhns Paradigmen darstellt. Hauptquelle fur eine Darstellung von Lakatos Methodologie ist sein 1974 publizierter Text ,,Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme" (engl. Orig. 1970). 9.2 Die lakatosschen Forschungsprogramme In Kapitel 7 haben wir gesehen, dass eines der Hauptprobleme des popperschen Falsifikationismus darin liegt, dass es keine klaren Richtlinien dafiir gibt, welcher Teil einer Theorie von einer auftretenden Falsifikation betroffen ist. Wenn es der

108 Laune einzelner Wissenschaftler unterliegt, die Schuld einem beliebigen Teilbereich zuzuschreiben, bleibt unklar, wie es moglich ist, dass sich ausgereifte wissenschaftliche Disziplinen so koordiniert und geschlossen weiterentwickeln konnten, wie dies offenbar der Fall ist. Lakatos Antwort lautete, dass nicht alle Aspekte einer wissenschaftlichen Disziplin gleichwertig sind. Manche Gesetze und Prinzipien sind zentraler als andere. Tatsachlich sind einige so fundamental, dass sie einem konstituierenden Merkmal einer Wissenschaft gleichkommen. In ihrer Zentralitat konnen sie durch kein auftretendes Versagen infrage gestellt werden. Davon sind eher weniger fundamentale Komponenten betroffen. Unter dieser Voraussetzung kann Wissenschaft als eine programmatische Entwicklung der Implikationen ftmdamentaler Prinzipien verstanden werden. Wissenschaftler konnen versuchen, auftretende Probleme zu losen, indem sie die eher peripheren Annahmen modifizieren. Unabhangig davon, wie unterschiedlich solche Modifikationen sein mogen, tragen sie damit - so sie erft)lgreich sind - zur Weiterentwicklung eines Forschungsprogramms bei. Lakatos sieht in solchen ftmdamentalen Prinzipien den harten Kern von Forschungsprogrammen. Der harte Kern eines Programms ist mit Abstand das kennzeichnendste Merkmal eines Programms. Der harte Kern besteht aus einigen sehr allgemeinen Hypothesen, die die Basis bilden, von der aus das Programm entwickelt werden muss. Einige Beispiele: Der harte Kern der Astronomic von Kopernikus besteht aus den Annahmen, dass die Erde und die Planeten um eine feststehende Sonne kreisen und dass die Erde sich in einem Tag um ihre eigene Achse dreht. Der harte Kern der newtonschen Physik besteht aus den Bewegungsgesetzen sowie dem Gesetz der Massenanziehungskraft. Der harte Kern des Historischen Materialismus von Marx wtirde die Annahmen enthalten, dass soziale Veranderung vom Standpunkt des Klassenkampfes aus erklart werden muss, wobei die Art der Klassen und die naheren Einzelheiten des Kampfes letztlich durch die okonomische Basis bestimmt werden. Die Grundlagen eines Programms miissen durch eine Reihe von Zusatzannahmen erganzt werden, um sie so zu untermauem, dass definitive Voraussagen gemacht werden konnen. Sie bestehen nicht nur aus expliziten Annahmen und Gesetzen, die den harten Kern erganzen, sondem auch aus Annahmen, die der Beschreibung der Anfangsbedingungen und Beobachtungsaussagen sowie experimentellen Ergebnissen zugrundeliegen. So musste zum Beispiel der harte Kern des Forschungsprogrammes von Kopemikus erweitert werden, indem den anfanglich kreisformigen Planetenbahnen zahlreiche Epizykel hinzugefligt wurden. Dartiber hinaus bestand die Notwendigkeit, die filiher allgemein anerkannte Bestimmung der Entfemung zwischen den Stemen und der Erde zu verandem. Ursprtinglich beinhaltete das Programm auch die Annahme, dass das bloBe Auge akkurate Mormationen iiber die Position, die GroBe und die Helligkeit von Sternen und Planeten liefert. Unstimmigkeiten zwischen einem ft)rmulierten Programm und einer Beobachtung sollen den Zusatzannahmen und nicht dem harten Kern zugeschrieben werden. Um ihre Rolle als Schutz des harten Kerns vor Falsifikationen zu betonen, nennt Lakatos die Summe der Zusatzhypothesen, die den harten Kern erganzen, Schutzgilrtel. Nach Lakatos (1974, S. 130) bleibt der harte Kern unberiihrt von der „methodologischen Entscheidung seiner Protagonisten". Annahmen,

109 die den Schutzgtirtel darstellen, sollen dagegen modifiziert werden, um eine Obereinstimmung zwischen den Vorhersagen eines Programms und den Ergebnissen von Beobachtungen und Experimenten herzustellen. Zum Beispiel wurde der Schutzgtirtel des kopernikanischen Programms dahingehend modifiziert, dass eliptische Umlaufbahnen durch Kopernikus' Epizykel ersetzt wurden, und mit bloBem Auge gewonnene durch teleskopische Daten. Auch die Anfangsbedingungen wurden schlieBlich durch Anderungen der Schatzungen des Abstands von Stemen zur Erde und durch die Annahme neuer Planeten verandert. Bei der Charakterisierung von Forschungsprogrammen machte Lakatos groBziigig Gebrauch von dem Begriff „Heuristik". Eine Heuristik ist eine Menge von Regeln oder Hinweisen zur Unterstutzung von Entdeckungen bzw. Erfindungen. Zum Beispiel konnte nachfolgender Satz Teil einer Heuristik zur Losung von Kreuzwortratseln sein: „Beginne mit Anhaltspunkten, die Antworten mit kurzen Wortem verlangen und mache weiter mit solchen, die lange Worter benotigen". Lakatos unterteilte Richtlinien zur Arbeit in Forschungsprogrammen in negative und positive Heuristiken. Die negative Heuristik spezifiziert, was ein Wissenschaftler nicht tun soil. Wie wir bereits gesehen haben, sind Wissenschaftler zum Beispiel gehalten, nicht den harten Kern eines Programms, an dem sie gerade arbeiten, zu modifizieren. Modifiziert ein Wissenschaftler den harten Kern, ist er bereits aus dem Programm ausgestiegen. So war das bei Tycho Brahe in Bezug auf das kopemikanische Programm der Fall, als er annahm, dass nur die Planeten, nicht jedoch die Erde die Sonne umkreist, und dass die Sonne die Erde umkreist. Die positive Heuristik eines Programms, die festlegt, was ein Wissenschaftler innerhalb eines Programms tun soil, statt zu sagen, was er nicht tun soil, ist schwerer zu charakterisieren als die negative Heuristik. Die positive Heuristik bietet Richtlinien dafiir, wie der harte Kern erganzt und der resultierende Schutzgtirtel verandert werden soil, damit ein Programm zu Erklarungen und Vorhersagen von beobachtbaren Phanomenen fuhrt. Dazu Lakatos (1974, S. 131): Die positive Heuristik besteht aus einer partiell artikulierten Reihe von Vorschlagen oder Hinweisen, wie man die ,widerlegbaren Fassungen' des Forschungsprogramms verandem und entwickebi soil und wie der ,widerlegbare' Schutzgtirtel modifiziert und raffmierter gestaltet werden kann. Die Entwicklung eines Forschungsprogramms beinhaltet nicht nur das Hinzuziehen geeigneter Hilfshypothesen, sondem auch die Entwicklung geeigneter mathematischer und experimenteller Techniken. Es war zum Beispiel beim kopernikanischen Programm von Anfang an klar, dass fur eine Weiterentwicklung und ausfiihrliche Anwendung des Programms geeignete mathematische Techniken erft)rderlich sind, um epizyklische Bewegungen adaquater zu beschreiben, sowie verbesserte Techniken der astronomischen Beobachtung. Lakatos veranschaulicht den Begriff der positiven Heuristik mit der Darstellung der Anfange der newtonschen Gravitationstheorie (vgl. Lakatos 1974, S. 132f). Hier bestand die positive Heuristik aus der Idee, dass man mit einfachen, idealisierten Fallen beginnen solle, und nachdem diese gemeistert sind, zu kompli-

110 zierteren und realistischeren Fallen iibergehen solle. Newton kam zuerst zu dem Gesetz, dass die Anziehung umgekehrt proportional zu dem Quadrat des Abstandes zweier Korper ist, indem er die ellipsenformige Bewegung eines „punktformigen" Planeten um eine feststehende „punktformige" Sonne betrachtete. Es war klar, dass falls die Gravitationstheorie in der Praxis auf die Planeten bezogen werden sollte, das Programm dieses idealisierten Modells sich zu einem realistischeren Modell weiterentwickeln musste. Aber diese Entwicklung hatte die Losung theoretischer Probleme zur Folge und konnte nicht ohne erhebliche theoretische Arbeit zustandegebracht werden. Newton selber machte mit einem bestimmten Programm vor Augen, d.h. geleitet von einer positiven Heuristik, einen betrachtlichen Fortschritt. Er zog zuerst die Tatsache in Betracht, dass sich sowohl eine Sonne als auch ein Planet unter dem Einfluss ihrer gegenseitigen Anziehung bewegen. Dann berticksichtigte er die endliche GroBe der Planeten und betrachtete sie als Kugeln. Nachdem er das mathematische Problem, das hierdurch auftrat, gelost hatte, ging Newton dazu uber, sich zum Beispiel auf solche problematischen Sachverhalte zu konzentrieren, die sich aus der Tatsache ergeben, dass ein Planet sich dreht und dass es sowohl eine Anziehungskraft zwischen den einzelnen Planeten als auch zwischen jedem Planeten und der Sonne gibt. Als Newton mit seinem Programm so weit fortgeschritten war und dabei einen Weg gegangen war, der sich gleich von Anfang an als mehr oder weniger notwendig dargestellt hatte, befasste er sich mit der Ubereinstimmung zwischen seiner Theorie und seinen Beobachtungen. Als sich herausstellte, dass es hierbei an tJbereinstimmung mangelte, konnte er sich zum Beispiel darauf beziehen, dass die entsprechenden Planeten nicht der idealen Kugelform entsprechen, usw. Neben dem theoretischen Programm, das in der positiven Heuristik enthalten ist, drangte sich ein eindeutig definiertes experimentelles Programm geradezu auf. Dieses Programm enthielt die Entwicklung von genaueren Femrohren mitsamt den Hilfshypothesen, die fur ihre Verwendung in der Astronomic erforderlich waren, wie beispielsweise Theorien, die die Brechung des Lichts in der Atmosphare benicksichtigten. Die ursprungliche Fassung des Programms von Newton implizierte, dass versucht werden sollte, einen Apparat zu konstruieren, der empfmdlich genug ist, um die Anziehungskraft der Erde auf einer Laborwaage zu messen (Experiment von Cavendish). Das Programm, das Newtons Bewegungsgesetze und sein Gravitationsgesetz zum harten Kern hat, bietet starke heuristische Richtlinien. Sie bestehen in der Planung eines defmitiven Programms von Anfang an. Lakatos (1974, S. 137ff.) gibt mit der Entwicklung von Bohrs Atomtheorie ein weiteres Beispiel fur die Anwendung einer positiven Heuristik. Was bei diesen Beispielen der Entwicklung eines Forschungsprogramms besonders auffallt, ist das verhaltnismaBig spate Stadium, in dem Beobachtungsuberpriifimgen relevant werden. Dies steht im Einklang mit den Erlauterungen uber Galileis Entwicklung der Ursprtinge der Mechanik im vorigen Kapitel. Trotz offensichtlicher Falsifikationen durch Beobachtungen wird zunachst an einem Forschungsprogramm festgehalten. Einem Forschungsprogramm muss die Gelegenheit gegeben werden, seine gesamte Leistungsfahigkeit unter Beweis zu stellen. Ein ausreichend raffmierter und geeigneter Schutzgiirtel muss entwickelt werden. Bezogen auf das Beispiel des kopernikanischen Programms beinhaltete dies die Entwicklung einer angemessenen Mecha-

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nik, die in der Lage war, die Bewegung der Erde abzubilden, und einer angemessenen Theorie der Optik, die dazu beitragen konnte, per Teleskop gewonnene Daten zu interpretieren. Wenn ein Programm sich so weit entwickelt hat, dass es Beobachtungsixberprufungen unterzogen werden kann, dann sind nach Lakatos eher die Bewahrungen als die Falsifikationen entscheidend. Der Wert eines Forschungsprogramms bemisst sich nach dem Umfang, in dem es zu neuartigen Vorhersagen fuhrt, die bestatigt werden. Das newtonsche Programm erlebte enorme Bestatigung, als Galle als Erster den Planeten Neptun beobachten konnte und als der Komet Halley wie vorhergesagt wiederkehrte. Fehlgeschlagene Vorhersagen, wie Newtons erste Berechnungen der Umlaufbahn des Mondes, zeigten lediglich, dass weiter an der Erganzung und Modifikation des Schutzgiirtels gearbeitet werden musste. Hauptindikator flir den Nutzen eines Forschungsprogramms ist der Umfang, in dem es zu neuartigen Vorhersagen fuhrt, die bestatigt werden. Ein zweiter Indikator, der in den oben gemachten Ausflihrungen implizit enthalten ist, liegt darin, dass ein Forschungsprogramm tatsachlich ein Programm fur die Forschung bietet. Die positive Heuristik soil so koharent sein, dass sie durch den Entwurf eines Programms zuktinftige Forschung leitet. Lakatos nahm vom Marxismus und von der freudschen Psychoanalyse an, dass sie dem zweiten Indikator gerecht werden, nicht aber dem erstgenannten, wahrend die zeitgenossische Soziologie zwar in gewissem Umfang dem ersteren gerecht wird, nicht jedoch dem zweiten Indikator fiir den Nutzen eines Forschungsprogramms (allerdings untermauerte er diese Einschatzung nicht mit weiteren Argumenten). In jedem Fall wird ein progressives Forschungsprogramm seine Koharenz beibehalten und zuletzt unabwendbar zu neuartigen Vorhersagen fiihren, die bestatigt werden. Ein degeneriertes Forschungsprogramm dagegen wird an Koharenz verlieren bzw. keine Bestatigung seiner neuartigen Vorhersagen erhalten. Das Ersetzen eines degenerierten Programms durch ein progressives stellt Lakatos' Version einer wissenschaftlichen Revolution dar.

9.3 Methodologie innerhalb eines Programms und die Vergleiehbarkeit von Programmen Lakatos' Methodologie wissenschafllicher Forschungsprogramme muss im Rahmen der Arbeit, die innerhalb eines Programms geleistet wird und im Rahmen des Konflikts mit anderen Programmen behandelt werden. Die Arbeit innerhalb eines einzelnen Programms beinhaltet die Erweiterung und Modifikation des Schutzgurtels durch die Hinzunahme und Benennung verschiedener Hypothesen. Jeder dieser Vorgange ist gestattet, solange er nicht in dem in Kapitel 6 diskutierten Sinne iiber einen A(i-/2oc-Charakter verfugt. Modifikationen oder Erganzungen des Schutzgiirtels mtissen unabhangig voneinander tiberprtifbar sein. Wissenschaftler sind frei, den Schutzglirtel zu modifizieren oder zu erweitern, wie es ihnen richtig erscheint, vorausgesetzt, dies eroffiiet die Moglichkeit neuer Uberprufungen und damit die Moglichkeit neuartiger Erkenntnisse. Ziehen wir, um dies zu erlautern, ein Beispiel aus der Entwicklung des newtonschen Forschungs-

112 programms heran, das wir schon ofters betrachtet haben, und halten wir uns die Situation vor Augen, der sich Leverrier und Adams gegenubersahen, als sie sich mit der eigenwilligen Umlaufbahn des Uranus beschaftigten. Diese beiden Wissenschaftler entschieden sich dafiir, den Schutzgurtel des Programms zu verandem, indem sie behaupteten, dass die Anfangsbedingungen unangemessen seien und annahmen, dass es einen bisher nicht entdeckten Planeten nahe des Uranus geben mtisse, der zu einer Storung der Umlaufbahn fuhre. Dieser Schritt war mit der Methodologie Lakatos vereinbar, weil er uberprufbar war. Der vermutete Planet konnte gesucht werden, indem Teleskope auf die entsprechende Himmelsregion gerichtet wurden. Auch andere Antwortmoglichkeiten waren entsprechend Lakatos' Position legitim gewesen. Zum Beispiel konnte die problematische Umlaufbahn auf eine neuartige Storung der Teleskope zurtickgefiihrt werden, wenn gewahrleistet ist, dass uberpruft werden kann, ob eine solche Storung tatsachlich vorliegt. In gewissem Sinne gilt, dass eine Problemlosung umso besser ist, je besser sie iiberprtift werden kann, weil dies die Aussichten auf Erfolg vergroBert (wobei Erfolg hier bedeutet, dass die neuartigen Vorhersagen, die sich daraus ergeben, bestatigt werden). Losungsversuche mit ^(i-/zoc-Charakter schlieBt Lakatos' Methodologie aus. So ist es nicht moglich, das in unserem Beispiel behandelte Problem der Umlaufbahn des Uranus zu losen, indem einfach behauptet wird, diese komplexe Umlaufbahn entspreche der natUrlichen Bewegung des Uranus. Es ermoglicht keine neuen Uberpriifungen und damit keine Perspektive fur neuartige Entdeckungen. Eine zweite Vorgehensweise, die nach Lakatos' Methodologie ausscheidet, ist die Aufgabe des harten Kerns. Ein solcher Schritt zerstort die Koharenz eines Programms und kommt dem Verlassen des Programms gleich. Hatte zum Beispiel ein Wissenschaftler versucht, die Umlaufbahn des Uranus mit der Behauptung zu erklaren, dass die Kraft zwischen Uranus und Sonne einer anderen GesetzmaBigkeit als der des umgekehrt proportionalen Quadrates ihres Abstandes folgt, hatte er sich auBerhalb des Forschungsprogramms von Newton begeben. Die Tatsache, dass jeder Bereich eines komplexen theoretischen Systems fur eine mogliche Falsifikation verantwortlich sein kann, stellt die Falsifikationisten, die uneingeschrankt auf die Methode der Vermutungen und Widerlegungen vertrauen, vor ein emsthaftes Problem. Fiir den Falsifikationisten endet die Unfahigkeit, den Ursprung der Schwierigkeiten ausfmdig zu machen, in einem planlosen Chaos. Der wissenschaftliche Ansatz von Lakatos ist so angelegt, dass diese Konsequenz vermieden wird. Die Ordnung wird durch die Unverletzlichkeit des harten Kerns und durch die positive Heuristik, die damit einhergeht, aufrechterhalten. Das freimiitige Entwickeln sinnvoller Vermutungen innerhalb dieses Rahmens wird zu Fortschritt fiihren, vorausgesetzt, dass sich einige der Vorhersagen, die sich aus diesen Vermutungen ergeben, gelegentlich als erfolgreich erweisen. Entscheidungen, Hypothesen aufrechtzuerhalten oder zu verwerfen, werden unmittelbar durch die Ergebnisse der experimentellen LFberprufungen bestimmt. Die Hypothesen, die einer experimentellen Uberpriifung standhalten, werden vorlaufig aufrechterhalten. Die Frage, welche Bedeutung der Beobachtung wahrend der Uberpriifung einer Hypothese zukommt, wirft innerhalb eines Forschungspro-

113 gramms so gut wie keine Probleme auf, da der harte Kern und die positive Heuristik dazu dienen, eine ausreichend stabile Beobachtungssprache zu definieren. Wie oben erwahnt, beinhaltet Lakatos' Version einer kuhnschen Revolution das Verdrangen eines Forschungsprogramms durch ein anderes. Wie wir gesehen haben, war es Kuhn (1979, S. 105) nicht moglich, eine klare Antwort auf die Frage zu geben, wann von einem Paradigma gesagt werden kann, dass es dem, das es ersetzt, tiberlegen ist. Kuhn sah keine andere Moglichkeit, als sich auf die Autoritat der Scientific community zu beziehen. Paradigmen sind ihren jeweiligen Vorgangem tiberlegen, weil dies die Scientific community so einschatzt, und es gibt „keine hohere Norm als die Billigung durch die jeweilige Gemeinschaft". Lakatos behagten die relativistischen Implikationen von Kuhns Theorie nicht. Er suchte nach MaBstaben, die auBerhalb der jeweiligen Paradigmen, oder in Lakatos Fall Forschungsprogramme, liegen, die eingesetzt werden konnen, um nicht-relativistische Kriterien zu identifizieren, nach denen Wissenschaft voranschreitet. In gewissem Umfang liegen solche Standards in seiner Konzeption von degenerierten bzw. progressiven Forschungsprogrammen. Fortschritt bedeutet das Ersetzen eines degenerierten durch ein progressives Forschungsprogramm, wobei letzteres insofem eine Verbesserung gegentiber ersterem darstellt, als es sich effektiver im Vorhersagen neuartiger Phanomene erwiesen hat.

9.4 Neuartige Vorhersagen Das nicht-relativistische MaB fur Fortschritt, das Lakatos vorgeschlagen hat, legt sehr viel Wert auf das Konzept neuartiger Vorhersagen. Ein Programm ist einem anderen tiberlegen, wenn es erfolgreicher neuartige Phanomene vorhersagt. Wie Lakatos feststellt, ist das Konzept neuartiger Vorhersagen jedoch nicht so klar, wie es im ersten Moment erscheinen mag. Es bedarf einiger Sorgfalt, dieses Konzept in eine Form zu bringen, in der es dem Zweck dienen kann, den es innerhalb der lakatosschen Methodologie hat. Dies gilt auch fiir jede andere Methodologie, die von diesem Konzept Gebrauch macht. Neuartige Vorhersagen haben wir bereits im Rahmen der popperschen Methodologie gefunden. Im Wesentlichen scheint eine Vorhersage fiir Popper zu einer bestimmten Zeit neu zu sein, wenn sie nicht Bestandteil des Wissens ist, das zu dieser Zeit bekannt und allgemein akzeptiert ist oder wenn es zu diesem Wissen im Widerspruch steht. Fiir Popper entspricht die Uberprufung einer Theorie uber ihre neuartigen Vorhersagen einer strengen Pnifung dieser Theorie, weil diese Vorhersagen den landlaufigen Erwartungen widersprechen. Wie Lakatos selbst feststellte, erfullt sein Gebrauch des Konzepts neuartiger Vorhersagen (das dem Poppers sehr ahnlich ist) nicht den von ihm angestrebten Zweck, die Progressivitat eines Forschungsprogramms zu charakterisieren. Dies wird durch eine Reihe eindeutiger Gegenbeispiele belegt, auf die Lakatos zur Verdeutlichung seiner Position zuriickgreift. Diese Gegenbeispiele beziehen sich auf Situationen, in denen der Wert eines Forschungsprogramms an seiner Fahigkeit festgemacht wird, Phanomene zu erklaren, die zu der gegebenen Zeit allgemein bekannt und nicht im popperschen Sinn neuartig waren.

114 Seit der Antike sind Besonderheiten der Planetenbewegungen bekannt, die erst mit dem Aufkommen der kopemikanischen Theorie hinreichend erklart werden konnten. Dies sind zum Beispiel die Rucklaufigkeit der Planetenbewegungen und die Tatsache, dass Planeten am hellsten erscheinen, wenn sie sich zurtickbewegen, sowie die Tatsache, dass sich Venus und Merkur nie weit entfemt von der Sonne zeigen. Mit der Annahme, dass sich die Erde zusammen mit den Planeten um die Sonne dreht und dass die Umlaufbahnen von Merkur und Venus innerhalb der Erdbahn liegen, ergeben sich diese Merkmale von selbst. Im Rahmen der ptolemaischen Theorie konnten sie dagegen nur durch speziell dafur eingefuhrte Epizykel erklart werden. Lakatos stimmt mit Kopemikus und wohl mit den meisten von uns darin uberein, dass dieser Sachverhalt ein Hauptmerkmal fur die tJberlegenheit des kopemikanischen tiber das ptolemaische System darstellt. Da diese Phanomene jedoch seit der Antike bekannt waren, konnen die kopemikanischen Vorhersagen allgemeiner Merkmale der Planetenbewegung nicht in dem von uns definierten Sinn als neuartig bezeichnet werden. Die Beobachtung von Fixstemparallaxen ist wahrscheinlich die erste Bestatigung der kopemikanischen Theorie durch die Erfullung einer Vorhersage, die in dem beschriebenen Sinne als neuartig gelten kann. Aber auch dies trifft Lakatos' Absicht nicht, weil die erste Messung einer Sternparallaxe erst im 19. Jahrhundert stattfand^, als die Uberlegenheit des kopemikanischen uber das ptolemaische System wissenschaftlich langst akzeptiert war. Leicht konnen andere Beispiele gefunden werden. Bine der wenigen Beobachtungen, die zur Stutzung der Allgemeinen Relativitatstheorie Einsteins herangezogen werden konnte, war die Perihelverschiebung des Planeten Merkur, ein Phanomen, das lange vor seiner vollstandigen Erklarung durch Einsteins Theorie bekannt war.^^ Eine der beeindruckendsten Leistungen der Quantenmechanik war, dass sie die Spektren erklaren konnte, die das von Gasen ausgesandte Licht aufweist. Auch dieses Phanomen war Experimentatoren bereits mehr als ein halbes Jahrhundert vor seiner quantenmechanischen Erklarung bekannt. Diese Erfolge konnen eher als neuartige Vorhersagen von Phanomenen beschrieben werden, denn als Vorhersagen von neuartigen Phanomenen. Vor dem Hintergmnd einiger Erwagungen Zahars (1973) erkannte Lakatos, dass der Stellenwert neuartiger Vorhersagen fiir die urspriingliche Fassung der Methodologie von Forschungsprogrammen modifiziert werden musste. Soil beurteilt werden, in welchem Umfang beobachtete Phanomene eine Theorie oder ein Programm stutzen, ist es sicher eine historisch kontingente Tatsache ohne philosophische Relevanz, ob zuerst die Theorie zu diesem Phanomen oder das Wissen dariiber existiert. Einsteins Relativitatstheorie kann die Umlaufbahn des Merkurs ebenso erklaren wie die Krummung des Lichts in einem Gravitationsfeld. Dies sind beides bemerkenswerte Erfolge, die die Theorie unterstutzen. Die Prazession des Perihels der Umlaufbahn vom Merkur war bereits vor Einsteins Theorieent^ Durch Friedrich Wilhelm Bessel im Jahre 1883 (Anm. d. Hrsg.) ^^ Der groBte Anteil der Periheldrehung des Merkurs beruht auf Storungen durch die anderen Planeten und konnte vor Einstein durch die klassische Mechanik erklart werden. Es verblieb jedoch ein kleiner Rest von 43" pro Jahrhundert; die Allgemeine Relativitatstheorie erklart diesen Uberschuss. (Anm. d. Hrsg.)

115 wicklung bekannt, wahrend die Kriimmung von Lichtstrahlen erst danach entdeckt wurde. Aber macht es wirklich einen Unterschied in der Beurteilung von Einsteins Theorie, wenn es umgedreht gewesen ware oder wenn beide Phanomene davor Oder danach entdeckt worden waren? Die Feinheiten einer angemessenen Antwort auf diese Uberlegungen werden immer noch diskutiert, zum Beispiel von Musgrave (1974b) und Worrall (1985, 1989a). Die Logik der obigen Beispiele liegt jedoch klar auf der Hand. Die ptolemaische Erklarung riickwarts gerichteter Bewegungen stellt keine iiberzeugende Bestatigung seines Programms dar, weil sie kiinstlich festgesetzt wurde, um die beobachtbaren Daten durch die Hinzunahme speziell zu diesem Zweck entwickelter Epizykel zu erklaren. Im Gegensatz dazu ergeben sich die beobachtbaren Phanomene ganz natiirlich aus den Grundsatzen der kopernikanischen Theorie, ohne dass diese kiinstlich angepasst werden musste. Die Vorhersagen einer Theorie oder eines Programms, die wirklich zahlen, sind eher diejenigen, die sich natiirlich ergeben, als diejenigen, die arrangiert werden. Was eventuell hinter all dem steht, ist die Idee, dass das Evidente eine Theorie dann unterstiitzt, wenn ohne die Theorie Dinge unerklart bleiben. Wie sollte es der kopernikanischen Theorie gelingen, all die beobachtbaren Merkmale von Planetenbewegungen zu erklaren, wenn sie nicht im Grunde zutreffend ist? Dasselbe Argument funktioniert bei der Erklarung derselben Phanomene durch Ptolemaus nicht. Auch wenn die Theorie Ptolemaus vollig falsch ist, verwundert es nicht, dass sie die Phanomene erklaren kann, weil die Epizykel genau zu diesem Zweck aufgenommen wurden. Dies entspricht der Sichtweise Worralls (1985, 1989a). Im Lichte der bisherigen Ausfuhrungen sollten wir Lakatos' Methodologie dahingehend reformulieren, dass ein Programm in dem Umfang progressiv ist, in dem es ihm gelingt, naturliche, im Gegensatz zu neuartigen Vorhersagen zu machen. Dabei wird „natiirlich" als Gegensatz zu „arrangiert", „kiinstlich" oder „ad hoc" verstanden. Wir werden diesen Gedanken in Kapitel 13 aus einem anderen, eventuell iiberlegenerem Blickwinkel emeut aufnehmen.

9.5 Die Uberprufung einer Methodologie an der Geschichte Lakatos teilte Kuhns Vorliebe flir die Wissenschaftsgeschichte. Er hielt es flir wunschenswert, dass jede Wissenschaftstheorie in der Lage sein soUe, die Geschichte der Wissenschaft zu interpretieren. Das bedeutet, dass eine Methodologie oder Philosophic der Wissenschaft in gewissem Sinne an der Wissenschaftsgeschichte iiberpriift werden muss. Lakatos war sich allerdings bewusst, dass die genaue Art und Weise der Uberprufung prazisiert werden muss. Wird die Notwendigkeit, dass eine Wissenschaftsphilosophie zur Geschichte der Wissenschaft passen muss, undifferenziert ausgelegt, so ware eine gute Wissenschaftsphilosophie nichts anderes als eine genaue Beschreibung der Wissenschaft. Als solche ware sie nicht in der Lage, essentielle Charakteristika von Wissenschaft herauszuarbeiten oder zwischen guter und schlechter Wissenschaft zu unterscheiden. Popper und Lakatos neigen dazu, Kuhns Beitrag als in diesem Sinne „nur" deskriptiv und daher als unzulanglich zu betrachten. Popper war so misstrauisch

116 beziiglich des Problems, dass er, anders als Lakatos, leugnete, dass ein Vergleich mit der Wissenschaftsgeschichte ein legitimer Weg der Argumentation fiir eine Wissenschaftsphilosophie sei. Ich bin der Meinung, dass das Wesentliche der von Lakatos in seinem Text von 1978 (dt. 1982b) beschriebenen Position Folgendes ist: Es gibt Episoden der Wissenschaftsgeschichte, die ohne Probleme und ohne anspruchsvolle Wissenschaftsphilosophien als progressiv erkannt werden konnen. Leugnet jemand, dass Galileis Physik einen Fortschritt gegeniiber der aristotelischen oder dass Einstein einen Fortschritt gegeniiber Newton darstellt, verwendet er oder sie einfach den Begriff der Wissenschaft anders als allgemein tiblich. Setzt man sich mit der Frage auseinander, wie Wissenschaft am besten kategorisiert werden kann, benotigt man zur Formulierung dieser Frage einige vor-wissenschaftliche Vorstellungen davon, was Wissenschaft ist. Diese vor-wissenschaftlichen Vorstellungen beinhalten die Fahigkeit, klassische Beispiele zentraler wissenschaftlicher Erft)lge wie die von Galilei und Einstein zu erkennen. Erst vor dem Hintergrund dieser Vorannahmen kann geft)rdert werden, dass jede Wissenschaftsphilosophie oder -methodologie mit diesen kompatibel sein muss. Das bedeutet, dass jede Wissenschaftsphilosophie in der Lage sein muss, zu erfassen, in welchem Sinne Galileis Erft)lge in der Astronomic und der Physik im GroBen und Ganzen bedeutende Fortschritte darstellten. Erbringt die Wissenschaftsgeschichte, dass Galilei den Begriff der beobachtbaren Tatsachen neu defmierte und dass er sich bezuglich seiner Mechanik eher auf Gedankenexperimente verlieB als auf tatsachlich durchgeftihrte Experimente, dann stellt dies bestimmte philosophische Schulen vor ein Problem. Betroffen sind die Schulen, die wissenschaftlichen Fortschritt in dem Sinne als kumulativ darstellen, als er durch das Sammeln beobachtbarer Tatsachen zustandekommt, von denen dann vorsichtige Generalisierungen abgeleitet werden. Lakatos fruhe Version seiner Methodologie von Forschungsprogrammen kann dahingehend kritisiert werden, dass dort ein Begriff der neuartigen Vorhersagen benutzt wird, der es unmoglich macht zu erfassen, in welchem Sinne Kopernikus Astronomic progressiv war. Mittels dieser Argumentationslinie fahrt Lakatos fort, positivistische und falsifikationistische Methodologien zu kritisieren, weil sie einige klassische Episoden wissenschaftlichen Fortschritts nicht erklaren konnen. Im Gegensatz dazu argumentiert er, dass sein eigener Beitrag diese Schwache nicht aufweist. Bezogen auf weniger wichtige Episoden der Wissenschaftsgeschichte kann sich Lakatos oder einer seiner Anhanger Episoden herauspicken, die Historiker und Philosophen vor Ratsel gestellt haben, und zeigen, wie sie aus dem Blickwinkel der Methodologie von Forschungsprogrammen erklart werden konnen. Zum Beispiel waren einige von der Tatsache verwirrt, dass Thomas Young, als er im filihen 19. Jahrhundert die Wellentheorie des Lichts vorstellte, nur wenig Anhanger fand, wahrend die zwei Dekaden spater von Fresnel entwickelte Version auf breite Akzeptanz stieB. In historischer Hinsicht unterstUtzt Worrall (1976) Lakatos' Position, indem er zeigt, dass historisch belegt werden kann, dass Youngs Theorie auf nattirlichem (im Gegensatz zu einem sehr arrangierten) Weg nicht in strengem Sinne experimentell belegt werden konnte. Bei Fresnel dagegen war dies der Fall. Gleichzeitig wies Fresnels Version der Wellentheorie durch die von ihm vorge-

117 stellten mathematischen Verfahren eine uberlegene positive Heuristik auf. Einige von Lakatos' Studenten fuhrten Studien mit dem Ziel durch, Lakatos' Methodologie hierdurch zu untersttitzen (s. Howson, 1976). Lakatos sah die Hauptstarke seiner Methodologie darin, dass sie half, die Geschichte der Wissenschaft zu schreiben. Der Wissenschaftshistoriker muss versuchen, Forschungsprogramme zu identifizieren, ihren harten Kern und den Schutzgiirtel zu charakterisieren und zu dokumentieren, auf welchem Weg sie fortschritten oder degenerierten. So kann deutlich werden, wie sich Wissenschaft im Wettkampf zwischen Programmen weiterentwickelt. Wie die Essays in Howson (1976) deutlich machen, muss zugestanden werden, dass Lakatos und seine Anhanger durch Studien, die so durchgeftihrt wurden, erfolgreich Licht in einige klassische Episoden der Geschichte der Physik brachten. Obwohl Lakatos' Methodologie eine Hilfe fiir Wissenschaftshistoriker bietet, intendierte er dies ftir Wissenschaftler selbst nicht. Diese Schlussfolgerung ist unvermeidlich vor dem Hintergrund der Art und Weise, wie Lakatos es ftir notwendig erachtete, den Falsifikationismus zu modifizieren, um die mit ihm verbundenen Probleme zu Uberwinden. Theorien sollen bei Auftreten einer Falsifikation nicht verworfen werden, weil der Grund dieser Falsifikation auBerhalb der Theorie liegen mag, und ein einziger Erfolg belegt mit Sicherheit nicht ftir alle Zeiten eine Theorie. Darin liegt der Grund daftir, dass Lakatos das Konzept der Forschungsprogramme vorstellt, denen Zeit gegeben wird, sich zu entwickeln und die nach einer Zeit der Degeneration voranschreiten oder nach anfanglichem Erfolg degenerieren konnen. In diesem Zusammenhang soil daran erinnert werden, dass auch die kopernikanische Theorie nach anfanglichem Erfolg fur etwa ein Jahrhundert degenerierte, bevor die Interessen von Galilei und Kepler sie wieder zum Leben erweckte. Wird dieser Schritt jedoch vollzogen, ist klar, dass sich aus Lakatos' Methodologie keine Hauruck-Ratschlage ableiten lassen, nach der Wissenschaftler ein Forschungsprogramm aufgeben oder ein bestimmtes Programm einem rivalisierenden vorziehen mtissen. Es ist nicht irrational oder notwendigerweise falsch, wenn ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin an einem degenerierten Programm weiterarbeitet, solange er oder sie denkt, dass es Moglichkeiten gibt, es wieder zum Leben zu erwecken. Nur auf lange Sicht - also aus historischer Perspektive - kann Lakatos' Methodologie eingesetzt werden, um Forschungsprogramme sinnvoll miteinander zu vergleichen. In diesem Zusammenhang unterscheidet Lakatos zwischen der Bewertung von Forschungsprogrammen, was lediglich in historischer Hinsicht moglich ist, und Ratschlagen fiir Wissenschaftler, welche durch seine Methodologie nie gegeben werden sollten. „Es gibt keine unmittelbare Rationalitat in der Wissenschaft" wurde einer von Lakatos' Slogans, womit er ausdrucken wollte, dass nach seiner Meinung Positivismus und Falsifikationismus dort, wo sie dahingehend interpretiert werden, dass sie Kriterien fiir die Annahme und Zuruckweisung von Theorien zur Verfiigung stellen, zu viel fur sich in Anspruch nehmen.

118 9.6 Probleme mit der lakatosschen Methodologie Wie wir gesehen haben, halt es Lakatos fur angemessen, Methodologien an der Wissenschaftsgeschichte zu uberpriifen. Es ist daher nach seinen eigenen Worten legitim, die Frage aufzuwerfen, ob seine Methodologie deskriptiv angemessen ist. Es gibt Griinde, dies in Zweifel zu ziehen. Zum Beispiel stellt sich die Frage, ob es in der Wissenschaftsgeschichte so etwas wie „harte Kerne", die der Identifikation von Forschungsprogrammen dienen, tatsachlich gibt. Widersprtiche ergeben sich aus dem AusmaB der Bemiihungen, in dem Wissenschaftler gelegentlich versuchen, Probleme zu losen, indem sie die Gmndlagen der Theorie oder des Programms, an dem sie arbeiten, modifizieren. Kopemikus zum Beispiel riickte die Sonne ein wenig aus dem Zentrum der planetaren Umlaufbahnen heraus, lieB den Mond und nicht die Sonne die Erde umkreisen und nutzte allerlei Kunstgriffe, um die Details der Epizykelbewegungen so lange zu modifizieren, bis die Bewegungen der Planeten nicht mehr einheitlich waren. Was war also genau der harte Kern des kopernikanischen Programms? Im 19. Jahrhundert gab es ernstzunehmende Bemtihungen, die Probleme der Periheldrehung des Merkurs dadurch aus der Welt zu schaffen, dass man das Gravitationsgesetz abzuandem versuchte. Es fmden sich also in der Wissenschaftsgeschichte Vorgange, mit denen die Hauptbeispiele, die Lakatos beziiglich seines Konzepts vom „harten Kern" anfuhrt, erschtittert werden. Ein groBeres Problem betrifft die Realitat der methodologischen Entscheidungen, die eine solch wichtige Rolle in Lakatos' Beitrag zur Wissenschaftstheorie spielen. Zum Beispiel haben wir gesehen, dass der „harte Kern" eines Forschungsprogramms fur Lakatos (1974, S. 130) „aufgrund der methodologischen Entscheidung seiner Protagonisten" unwiderlegbar bleibt. Sind diese Entscheidungen eine historische Realitat oder ein Hirngespinst Lakatos'? Lakatos gibt keine wirklichen Belege fur die Antwort, die er benotigt, und es ist auch nicht wirklich klar, welche Art von Studie solche Belege erbringen wlirde. Das Thema ist von zentraler Bedeutung fur Lakatos, weil die methodologischen Entscheidungen den Unterschied zwischen seiner Position und der Kuhns ausmachen. Kuhn und Lakatos argumentieren, dass Wissenschaftler koordiniert innerhalb eines bestimmten Rahmens arbeiten. Fur Kuhn ist die Frage, wie und warum sie dies tun, Gegenstand soziologischer Analysen. Fiir Lakatos fuhrt dies zu einem nicht akzeptablen Relativismus. Fiir ihn ergibt sich der Zusammenhalt durch methodologische Entscheidungen, die rational sind. Lakatos gibt allerdings keine Antwort auf den Vorwurf, dass diese Entscheidungen keine historische (oder gegenwartige) Realitat haben, noch gibt er eine klare Antwort auf die Frage, in welchem Sinne sie als rational betrachtet werden sollten. Eine andere grundlegende Kritik an Lakatos ist direkt verbunden mit dem zentralen Thema dieses Buches, der Frage, was das Charakteristische wissenschaftlicher Erkenntnis ist. Lakatos' Rhetorik zumindest legt nahe, dass seine Methodologie eine definitive Antwort auf diese Frage geben sollte. Er fordert, dass „das Hauptproblem der Wissenschaftstheorie ... das Problem der Aufstellung allgemeiner Bedingungen fur die Wissenschaftlichkeit einer Theorie" ist, ein Problem, welches „eng mit dem Problem der Verniinftigkeit der Wissenschaft zusammen[hangt] ...", und dessen „Losung uns einen Leitfaden daftir in die Hand

119 geben [sollte], wann die Anerkennung einer wissenschaftlichen Theorie verntinftig ist und wann nicht" (Lakatos, 1982d, S. 182f., Hervorhebung i. Orig.). Lakatos (1974, S. 170) stellt seine Methodologie als eine Losung dieser Probleme dar, die „uns also helfen [konnte], Gesetze zu formulieren, zur Eindammung dieser intellektuellen Pollution" [Hervorhebung d. Hrsg.]. „Ich [Lakatos] gebe Kriterien des Fortschritts und der Stagnation innerhalb eines Programmes an sowie Regeln fiir die ,Elimination' ganzer Forschungsprogramme" (Lakatos, 1982b, S. 118). Es ergibt sich aus den Details seiner Position und seinen eigenen Anmerkungen zu diesen Details, dass die Methodologie von Lakatos nicht in der Lage war, diese Erwartungen zu erfiillen. Er gab keine Regeln far die Elimination ganzer Forschungsprogramme, da es vernunftig ist, an einem degenerierenden Forschungsprogramm in der Hoffnung festzuhalten, dass es em Comeback erlebt. Und wenn es wissenschaftlich war, an der kopemikanischen Theorie liber ein ganzes Jahrhundert festzuhalten, was notig war, bis die Theorie bedeutsame Frtichte trug, warum sollten zeitgenossische Marxisten (Lakatos' vorrangigste Zielscheiben) unwissenschaftlich sein, wenn sie den Historischen Materialismus so weit entwickeln, bis er bedeutsame Frtichte tragt. In der Tat hat Lakatos eingeraumt, dass seme Methodologie nicht in der Lage ist, irgendeine gegenwartige Theorie als unwissenschaftliche „intellektuelle Pollution" zu diagnostizieren, sobald er im Zusammenhang mit der Physik erkannte, dass seine Methodologie allein im Nachhinein mit dem Vorteil historischer Betrachtung Urteile fallen kann. Wenn es keine „Augenblicks-Rationalitat" gibt, dann kann es auch keine „AugenblicksWiderlegung" von Marxismus, Soziologie oder irgendeines anderen lakatosschen bete noir geben. Lakatos und seine Anhanger machten dies an Fallstudien zur Physik der letzten dreihundert Jahre deutlich. Aber wenn die auf diesem Weg untersttitzte Methodologie dann emgesetzt wird, um andere Bereiche zu beurteilen, wie den Marxismus und die Astrologie, wird bei alien untersuchten Bereichen - ohne dies explizit zu sagen - angenommen, dass sie, wenn sie als wissenschaftlich erachtet werden sollen, die grundlegenden Charakteristika der Physik aufweisen miissen. Feyerabend (1976) hat diesen Standpunkt von Lakatos kritisiert. Lakatos' Vorgehensweise birgt mit Sicherheit eine wichtige Frage, und es muss lediglich explizit gemacht werden, dass sie ein Problem offenbart. Es gibt offensichtliche Griinde, warum angenommen werden kann, dass eine Methodologie und MaBstabe zur Beurteilung der Physik fiir andere Bereiche nicht geeignet sind. Physik kann sich weiterentwickeln und tut dies auch oft, indem einzelne Mechanismen unter den kunstlichen Bedingungen eines kontrollierten Experiments isoliert werden. Die Schwerkraft, elektromagnetische Felder, die herrschenden Mechanismen beim Zusammenprall von Partikeln usw. sind Beispiele dafur. Menschen und Gesellschaften konnen im Allgemeinen nicht auf diese Art und Weise behandelt werden, ohne dass das zerstort wird, was untersucht werden soil. Damit lebende Systeme als solche funktionieren, bedarf es einer groBen Komplexitat. So kann sogar von der Biologic erwartet werden, dass sie einige wichtige Unterschiede zur Physik aufweist. In den Sozialwissenschaften stellt das Wissen, das sie produzieren, selbst eine wichtige Komponente der untersuchten Systeme dar. So kann zum Beispiel eine okonomische Theorie die Art und Weise beeinflussen, wie sich Individuen

120 auf dem Markt verhalten, sodass ein Wechsel der Theorie einen Wechsel in dem untersuchten okonomischen System mit sich bringen kann. Das ist eine Komplikation, die in der Physik nicht vorkommt. Im Lichte unserer Theorien iiber ihre Bewegungen andem Planeten diese nicht. Wohin auch immer solche Uberlegungen fiihren mogen, fest steht, dass Lakatos - ohne dies direkt anzusprechen - voraussetzt, dass sich jede wissenschaftliche Erkenntnis in der Physik der vergangenen dreihundert Jahre in einigen fundamentalen Aspekten ahnebi muss. Ein anderer bedeutender Aspekt ergibt sich, wenn wir die Implikationen einer posthum publizierten Studie von Lakatos (1982a) uber „Newtons Wirkung auf die Kriterien der Wissenschaftlichkeit" berticksichtigen. In dieser Studie zeigt Lakatos, dass Newton einen Wechsel der wissenschaftlichen Standards mit sich brachte - einen Wechsel, den Lakatos als progressiv erachtet. Die Tatsache, dass Lakatos dies anfiihrt, passt aber nur schlecht zu den Annahmen, die er wiederholt an anderen Stellen auBert, dass namlich eine Bewertung von Wissenschaft anhand einiger „universeller" Kriterien vorgenommen werden muss. Wenn Newton wissenschaftliche MaBstabe zum Besseren veranderte, kann man fragen: In Bezug auf welche Standards war dieser Wechsel progressiv? Wir sind so mit einem ahnlichen Problem konfi*ontiert, wie dies bei Kuhn der Fall gewesen ist. Es ist ein Problem, mit dem wir uns spater auseinandersetzen werden und das wir vielleicht sogar einer Losung naher bringen konnen.

Weiterfiihrende Literatur Der zentrale Text zu Lakatos' Methodologie ist der 1974 erschienene Aufsatz „Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme" (engl. Orig. 1970). Die meisten anderen wichtigen Aufsatze von Lakatos wurden von Worrall und Currie (1982a und 1982b) in zwei Banden herausgegeben. Wichtig sind weiterhin Lakatos' Aufsatze „The Problem of Inductive Logic"(1968) und „Replies to Critics" (1971). Eine faszinierende Anwendung von Lakatos' Ideen auf die Mathematik ist sein Buch ,,Beweise und Widerlegungen: Die Logik mathematischer Entdeckungen" (1979, engl. Orig. 1976). In Howson (1976) fmden sich historische Fallstudien, die durchgeftihrt wurden, um Lakatos' Position zu untersttitzen. Eine weitere derartige Studie legten Lakatos und Zahar (1982) vor. Das Buch von Cohen, Feyerabend und Wartofsky (1976) enthalt eine Sammlung von Essays zur Erinnerung an Lakatos. Feyerabend (1976) bietet eine wichtige kritische Auseinandersetzung mit Lakatos' Methodologie. Der Begriff der ,neuartigen Vorhersagen' wird von Musgrave (1974b), Worrall (1985, 1989a) und Mayo (1996) diskutiert. Einen nutzlichen Uberblick uber Lakatos' Werk gibt Larvor mit seinem 1998 erschienenen Buch ..Lakatos: An Introduction".

10 Feyerabends anarchistische Wissenschaftstheorie

10.1 Standortbestimmung Wir scheinen Probleme mit unserer Suche danach zu haben, was die Charakterisierung von Wissenschaft ist, die dazu dienen kann, deutlich zu machen, was sie von anderen Formen der Erkenntnis unterscheidet. Wie haben mit der Vorstellung der zu Beginn dieses Jahrhunderts so einflussreichen Positivisten begonnen, dass Wissenschaft etwas Besonderes sei, weil sie aus Tatsachen gewonnen wird. Doch dieser Versuch erwies sich als nicht erfolgreich, weil Tatsachen wegen ihrer Theorieabhangigkeit und Fehlbarkeit nicht klar genug sind, um diese Sichtweise aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig konnte nicht deutlich gemacht werden, wie Theorien aus diesen Tatsachen „gewonnen" werden konnen. Der Falsifikationismus leistete auch keine besseren Dienste. Das lag in der Hauptsache daran, dass es in keiner realistischen wissenschaftlichen Situation moglich ist, die Ursache einer fehlerhaften Vorhersage zu benennen. Es bleibt unklar, wie Theorien falsifiziert oder wie sie bestatigt werden konnen. Kuhn und Lakatos versuchten beide das Problem dadurch zu losen, dass sie die Aufmerksamkeit auf die theoretischen Rahmenbedingungen lenkten, unter denen Wissenschaftler arbeiten. Dennoch betonte Kuhn das AusmaB, in dem Forscher innerhalb rivalisierender Paradigmen „in unterschiedlichen Welten leben" in einem solchen MaBe, dass ihm selbst keine Argumente mehr zur Erhellung der Frage blieben, inwieweit der Wechsel von einem Paradigma zum nachsten im Rahmen einer wissenschaftlichen Revolution einen Schritt nach vom darstellt. Lakatos versuchte, dieser Falle zu entgehen, endete jedoch bei einem so weichen Kriterium zur Charakterisierung von Wissenschaft, dass kaum etwas davon abgeleitet werden konnte - ganz abgesehen von den Problemen hinsichtlich der Annahme methodologischer Entscheidungen, auf die er sich dabei besonders beruft. Ein Wissenschaftsphilosoph, der von diesem Versagen in keinster Weise liberrascht war und der versuchte, daraus die entsprechenden Implikationen abzuleiten, war Paul Feyerabend. Sein kontroverser, aber nichtsdestotrotz einflussreicher „anarchistischer" Beitrag soil m diesem Kapitel beschrieben und gewurdigt werden.

122

10.2 Feyerabends Argumentation wider den Methodenzwang Paul Feyerabend, ein Osterreicher, der den GroBteil seiner akademischen Laufbahn in Berkeley, Kalifomien, zugebracht und der sich intensiv mit Popper und Lakatos auseinandergesetzt hat, veroffentlichte 1975 ein Buch mit dem Titel „Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge" (dt. 1976: „Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie"^^). In diesem Buch kritisierte er alle Ansatze der Wissenschaftstheorie, die der wissenschaftlichen Methode einen besonderen Status zuweisen, indem sie anfuhren, dass es keine vergleichbare Methode gebe. Tatsachlich behauptete er, dass Wissenschaft keinerlei Merkmale aufweise, die sie notwendigerweise anderen Erkenntnisformen txberlegen mache. Wenn es uberhaupt ein einziges unveranderliches Prinzip der wissenschaftlichen Methode gibt, so Feyerabends Uberzeugung, dann ist es das Prinzip „anything goes". Es gibt Passagen in Feyerabends Werk, sowohl im frtihen als auch im spaten, die herangezogen werden konnen, um den extrem anarchistischen Beitrag, der in Wider den Methodenzwang enthalten ist, deutlich zu machen. Dennoch erscheint es fiir unser Anliegen lehrreicher, uns uneingeschrankt an die anarchistische Wissenschaftstheorie zu halten, um zu sehen, was wir daraus lernen konnen. Auf alle Falle ist es die extreme Form der Position Feyerabends, die in der Literatur Aufinerksamkeit erregt hat und auf die Philosophen, nicht ohne Schwierigkeiten, zu kontern versuchten. Feyerabends Hauptargumentationslinie versucht, die von Philosophen vorgebrachten Charakterisierungen von Methoden und wissenschaftlichen Fortschritt infi*age zu stellen, indem er sie folgendermaBen auf ihrem eigenen Terrain herausfordert: Er zieht Beispiele ftir wissenschaftliche Veranderungen heran, die seine Widersacher - die Mehrzahl von Philosophen eingeschlossen - als klassische Falle wissenschaftlichen Fortschritts erachten, und zeigt, dass nach den historischen Gegebenheiten keine dieser Veranderungen mit den Wissenschaftstheorien, die diese Philosophen propagieren, ubereinstimmt. Dabei spielt es fur Feyerabends Argumentation keine Rolle, ob die betreffenden Episoden progressiv sind. Das wichtigste Beispiel Feyerabends bezieht sich auf die Fortschritte Galileis in der Physik und der Astronomic. Feyerabend argumentiert, dass ein Beitrag zu den Methoden der Wissenschaft und zum wissenschaftlichen Fortschritt nicht als solcher betrachtet werden kann, wenn er sich nicht auf Galileis Innovationen anwenden lasst. In der Darstellung der Position Feyerabends beziehe ich mich groBtenteils auf das Beispiel zu Galilei, in der Hauptsache weil es ausreicht, um seine Position zu illustrieren, aber auch, weil es auch ohne schwer verstandliche Fachtermini nachvollzogen werden kann. In Kapitel 1 dieses Buches zeichnen einige Zitate ein positivistisches oder induktivistisches Bild, nach dem Galileis Neuerungen dadurch erklart werden konnen, dass er sich auf beobachtbare Tatsachen bezog und seine Theorien so anlegte, dass sie diesen Tatsachen entsprachen. Der folgende Absatz aus Galileis ^ ^ 1983 in der 3. Auflage unter dem Titel „Wider den Methodenzwang" (ohne den provokativen Untertitel) erschienen, die eine vom Autor teils gekurzte, teils erganzte, teils umgeschriebene Neuausgabe der 1. deutschen Ubersetzung von Hermann Vetter von 1976 darstellt. (Anm. d. Hrsg.)

123 ..Dialog liber die beiden hauptsdchlichsten Weltsysteme, das ptolemdische und das kopernikanische" (1982), auf den Feyerabend (1983, S. 131) hinweist, legt nahe, dass Galilei anders dachte. Als Antwort an einen Gesprachspartner, der sich uber die geringe Zahl der Kopernikaner erstaunt zeigt, gibt Salviati, der „die Rolle des Kopernikus spielt", folgende Erklarung: Du wunderst dich, daB es so wenige Anhanger der pythagoreischen Auffassung [daB sich die Erde bewegt] gibt, aber ich wundere mich, daB sich ihr bis heute uberhaupt jemand angeschlossen hat. Und ich kann den hervorragenden Scharfsinn derjenigen nicht genug bewundern, die sich diese Auffassung zu eigen gemacht und als wahr anerkannt haben: sie haben kraft ihres Verstandes ihren eigenen Sinnen solche Gewalt angetan, dass sie das, was ihnen die Vemunft eingab, tiber das Gegenteilige stellten, das ihnen die Sinneserfahrung eindeutig zeigte. Denn die Argumente gegen die Erdumdrehung, die wir bereits untersucht haben, sind, wie wir sahen, sehr einleuchtend; und daB die Ptolemaer und die Aristoteliker und alle ihre Schiiler sie als schlussig ansahen, spricht doch sehr fur ihre Wirksamkeit. Doch die Erfahrungen, die offensichtlich der jahrlichen Bewegung [der Erde um die Sonne] widersprechen, haben ja scheinbar so viel mehr Gewicht, dass - ich wiederhole es - mein Erstaunen keine Grenzen kennt, wenn ich daran denke, dass Aristarch und Kopernikus imstande waren, die Vemunft so uber die Sinne zu stellen, dass sie, diesen zum Trotz, zur Beherrscherin ihrer Auffassungen wurde. Weit davon entfemt, Tatsachen, die durch die Sinne seiner Zeitgenossen gewonnen wurden, zu akzeptieren, fand es Galilei (1982) notwendig, die Sinne durch den Geist zu besiegen und sogar durch „einen iiberlegeneren, besseren Sinn", das Teleskop, zu ersetzen. Betrachten wir zwei Falle, in denen Galilei es fur notwendig hielt, die Evidenz der Sinne „zu besiegen" - seine Zurtickweisung der Annahme, die Erde bewege sich nicht und seine Annahme, dass sich die GroBe von Venus und Mars im Laufe eines Jahres nicht veranderten. Wird ein Stein von einem Turm geworfen, landet er an dessen FuB. Diese und andere Erfahrungen konnen als Beleg dafur betrachtet werden, dass sich die Erde nicht bewegt. Musste sich die Erde nicht, wenn sie sich um ihre eigene Achse dreht (als Ausdruck des Herumwirbelns der Erde, auf das sich Galilei in dem vorangehenden Zitat bezieht) wahrend des Falls weiter bewegen, mit dem Ergebnis, dass der Stein in einiger Entfemung vom Turm zu Boden fallt? Wies Galilei dieses Argument zuriick, indem er sich auf Tatsachen bezog? Wie Feyerabend deutlich machte, tat dies Galilei im „ Dialog uber die beiden hauptsdchlichsten Weltsysteme'' (1982) nicht. Er erreichte das gewiinschte Ergebnis, indem er dem Leser Fragen stellt. Dabei argumentiert er zunachst folgendermaBen: Die Geschwindigkeit einer Kugel, die eine schiefe Ebene hinunterrollt, wird zunehmen, weil sie in gewisser Weise dem Zentrum der Erde entgegen „fallt". Im Gegensatz dazu wird die Geschwindigkeit einer Kugel, die eine solche Flache hinauf-

124 rollt, abnehmen, well sie sich vom Zentrum der Erde entfemt. Nachdem er den Leser davon uberzeugt hat, dies als gegeben hinzunehmen, wird er oder sie nun gefragt, was mit der Geschwindigkeit der Kugel passieren wurde, wenn die Flache perfekt horizontal ware. Die Antwort ware wohl, dass die Geschwindigkeit weder steigt noch fallt, weil die Kugel weder nach oben noch nach unten rollt. Die Horizontalbewegung der Kugel bleibt bei konstanter Geschwindigkeit bestehen. Obwohl sich das direkt aus dem newtonschen Tragheitsgesetz ergibt, ist dies ein Beispiel fur eine gleichformige Bewegung, die ohne auBere Einwirkung anhalt. Galilei gentigt dies, um eine Reihe von Argumenten gegen die Bewegung der Erde zu entkraften. Er zieht den Schluss, dass die horizontale Bewegung eines vom Turm fallenden Steins, die er mit dem Turm auf der sich drehenden Erde teilt, erhalten bleibt. Daher entfemt sich der Stein nicht vom Turm und fallt an dessen FuB zu Boden. In diesem Sinne belegt das Turmargument entgegen der allgemeinen Annahme nicht den Stillstand der Erde. Wie er selbst eingestand, bezog sich Galileis Argumentation, soweit sie erfolgreich war, nicht auf Beobachtungen und Experimente. (An dieser Stelle sei angemerkt, dass es zu Galileis Zeit noch viel schwerer war, eine reibungslose Flache zu schaffen als heute, und dass die Messung der Geschwindigkeit einer Kugel an verschiedenen Stellen einer schiefen Ebene damals nicht moglich war.) In Kapitel 1 wurde gezeigt, dass die jeweilige GroBe von Venus und Mars insofem von Bedeutung war, als die kopemikanische Theorie vorhersagte, dass sie sich deutlich verandem sollte - eine Vorhersage, die mit Beobachtungen mit dem bloBen Auge nicht belegt werden konnte. Nachdem eher die per Teleskop als die mit bloBem Auge erhaltenen Daten akzeptiert wurden, war dieses Problem gelost. Aber wie konnte die Bevorzugung far teleskopische Daten verteidigt werden? Feyerabends Wiedergabe der Situation und Galileis Antwort sind Folgende: Zu akzeptieren, was das Teleskop im Bereich der Astronomic lieferte, war auf keinen Fall einfach. Galilei hatte keine angemessene oder detaillierte Theorie des Teleskops, sodass er teleskopische Daten nicht mit ihrer Hilfe rechtfertigen konnte. Terrestrisch allerdings wurde per Versuch und Irrtum versucht, das, was durch das Teleskop sichtbar wurde, zu verteidigen. Zum Beispiel konnte die Schrift auf einem femen Gebaude, die mit bloBem Auge nicht sichtbar war, uberpriift werden, indem man zu dem Gebaude hinging, oder die Identifikation der Ladung eines weit entfemten Schiffs konnte bestatigt werden, wenn das Schiff den Hafen erreicht hatte. Die Rechtfertigung des Gebrauchs auf der Erde konnte jedoch nicht einfach zur Rechtfertigung des Einsatzes von Teleskopen in der Astronomic herangezogen werden. Der terrestrische Gebrauch von Teleskopen wird durch visuelle Hinweise untersttitzt, die in der Astronomic nicht verfiigbar sind. Genuine Abbilder konnen von Artefakten des Teleskops unterschieden werden, weil wir mit dem, was wir sehen, vertraut sind. Zeigt zum Beispiel das Teleskop, dass der Mast eines femen Schiffs schwankt, dass er auf der einen Seite rot und auf der anderen blau ist, wobei tiber ihm schwarze Flecken schweben, konnen Verzermngen wie die Farben und Flecken als Artefakte identifiziert werden. Blicken wir jedoch in den Himmel, befmden wir uns auf unvertrautem Terrain und haben keine klaren Richtlinien, um festzustellen, was wahr und was artifiziell ist. Daruber hinaus sind der Vergleich mit vertrauten Objekten, die die GroBenschatzung

125 erleichtem, sowie der Einbezug von Parallaxen und Uberschneidungen, um abschatzen zu konnen, was nah und was fern ist, ein Luxus, der in der Astronomie generell nicht verfugbar ist. Gleichzeitig war es Galilei mit Sicherheit nicht moglich, teleskopische Bilder von Planeten dadurch zu uberprufen, dass er sich den Planeten naherte, um eine Uberpriifung mit bloBem Auge vorzunehmen. Es gab allerdings Belege dafiir, dass Teleskope insofern fehlerbehaftete Daten erbrachten, als sie den Mond in einem anderen Verhaltnis vergroBern als Planeten und Sterne. Nach Feyerabend (1983) waren diese Schwierigkeiten so geartet, dass ein Ruckgriff auf Argumente nicht geeignet war, die Widersacher zu uberzeugen, die sowohl die kopernikanische Theorie als auch teleskopische Daten, die sich auf den Himmel bezogen, zuriickweisen wollten. Konsequenterweise musste Galilei auf Propaganda und Tricks zurtickgreifen. Andererseits gibt es Fernrohrbeobachtungen, die eindeutig fur Kopernikus sprechen. Galilei fuhrt sie als unabhangige Daten fiir Kopemikus an; in Wirklichkeit ist es aber so, dass eine widerlegte Auffassung - die Kopernikanische - eine gewisse Ahnlichkeit mit Erscheinungen hat, die sich aus einer anderen widerlegten Auffassung ergeben - namlich, dass Femrohrbilder getreue Abbilder des Himmels seien. Galilei behalt wegen seines Stils und seiner geschickten LFberredungsmethoden die Oberhand, weil er auch in Italienisch und nicht nur in Lateinisch schreibt und weil er sich an Leute wendet, die gefuhlsmaBig gegen die alten Ideen und die mit ihnen verbundenen MaBstabe der Gelehrsamkeit eingenommen sind. (Feyerabend, 1983, S. 184) Ist Feyerabends Interpretation von Galileis Methodologie richtig und typisch fur die Wissenschaft, haben klassische Positivisten, Induktivisten und Falsifikationisten ernstzunehmende Schwierigkeiten, sie mit ihren Ansatzen zu vereinbaren. Bei Lakatos' Ansatz ware das moglich, nach Feyerabend jedoch nur, weil dieser Ansatz so weit gefasst ist, dass beinahe alles untergebracht werden kann. Feyerabend hanselt Lakatos damit, dass er ihm, dem „Freund und Anhanger des Anarchismus", sein Buch „Wider den Methodenzwang" widmet und ihn als, wenn auch geheimen, Anhanger des Anarchismus willkommen heiBt. Die Art, wie Feyerabend die zwei Theoriengebaude, das aristotelische, mit einer sich nicht bewegenden Erde, untermauert durch Daten, die mit bloBem Auge gewonnen wurden, einerseits, und das kopernikanische, mit einer sich bewegenden Erde, gestiitzt durch teleskopische Daten andererseits, erinnert an Kuhns Portrat von Paradigmen als sich gegenseitig ausschlieBende Sichtweisen der Welt. Tatsachlich pragten sie beide unabhangig voneinander den Begriff „inkommensuraber', um die Beziehung zwischen zwei Theorien bzw. Paradigmen zu beschreiben, die mithilfe der Logik nicht verglichen werden konnen, weil zu einem solchen Vergleich theorieneutrale Tatsachen fehlen. Um Recht und Ordnung wieder herzustellen, vermeidet Kuhn Feyerabends anarchistische Schlussfolgerungen, indem er sich im Wesentlichen auf den sozialen Konsens beruft. Feyerabend (1974) weist Kuhns Appell an den sozialen Konsens der Scientific community zurtick, zum Teil, weil er der

126 Meinung ist, dass Kuhn nicht zwischen legitimen und illegitimen Arten - zum Beispiel das Toten eines Widersachers - zur Erlangung von Konsens unterscheidet. Er halt den Appell an einen Konsens auch nicht fur geeignet, um zwischen der Wissenschaft und anderen Aktivitaten, wie der Theologie und dem organisierten Verbrechen, zu unterscheiden. Feyerabend konstatierte das Scheitem der Versuche, die spezifischen Merkmale von Wissenschaft zu beschreiben, die sie anderen Formen der Erkenntnis liberlegen macht. Dies flihrte ihn zu dem Schluss, dass der hohe Status, der der Wissenschaft in unserer Gesellschaft zugewiesen wird und die Uberlegenheit, die ihr zum Beispiel gegenuber dem Marxismus oder solchen Dingen wie der schwarzen Magie oder dem Voodoo eingeraumt wird, nicht gerechtfertigt ist. Nach Feyerabend ist die Hochachtung gegentiber der Wissenschaft ein gefahrliches Dogma, das eine repressive Rolle spielt, ahnlich der, die er der Kirche des 17. Jahrhunderts zuschreibt. Im Blick hat er dabei Aspekte wie Galileis Kampf mit eben dieser Institution.

10.3 Feyerabends Eintreten fiir Freiheit Feyerabends Theorie ist eingebunden in einen ethischen Rahmen, der der individuellen Freiheit einen hohen Stellenwert einraumt und eine Grundhaltung beinhaltet, die Feyerabend (1983, S. 17) als „humanitare Einstellung" beschreibt. Demnach soil der einzelne Mensch frei sein, wobei es Feyerabend um die Freiheit in dem vom im 19. Jahrhundert lebenden John Stuart Mill in seinem Essay ,,On Liberty" dargestellten Sinne geht. Feyerabend (1983, S. 17) bejaht den Versuch, „die Freiheit aus[zu]weiten, [um] ein erftilltes und befriedigendes Leben" zu fiihren und unterstutzt Mills Eintreten ftir die „Forderung der Individualitat, die alleine wohlentwickelte Menschen erzeugt, erzeugen kann" (zit. nach Feyerabend, 1983, S. 17). Aus diesem humanitaren Blickwinkel propagiert Feyerabend seinen anarchistischen Beitrag zur Wissenschaft, weil er die Freiheit des Wissenschaftlers vergroBert, indem er ihn von methodologischen Einschrankungen befreit. Noch allgemeiner lasst er Individuen die Freiheit, zwischen Wissenschaft und anderen Formen der Erkenntnis zu wahlen. Aus Feyerabends Perspektive ist die Institutionalisierung der Wissenschaft in unserer Gesellschaft nicht vereinbar mit einer humanitaren Grundhaltung. In Schulen zum Beispiel wird wie selbstverstandlich Wissenschaft gelehrt. „Die Eltern eines sechsjahrigen Kindes konnen entscheiden, ob ihm die Grundlagen des Protestantismus oder des Judentums oder uberhaupt keine Religion vermittelt werden soil, aber auf dem Gebiet der Wissenschaften haben sie kein solches Recht. Physik, Astronomic, Geschichte mussen gelernt werden. Sie konnen nicht durch Magie, Astrologie oder das Studium von Sagen ersetzt werden" (Feyerabend, 1983, S. 386). Es gibt eine Trennung von Staat und Kirche, aber keine Trennung von Staat und Wissenschaft. Was in diesem Zusammenhang nach Feyerabend (1983, S. 395) getan werden muss, ist, „die Gesellschaft aus dem Wurgegriff einer ideologisch erstarrten Wissenschaft [zu befi-eien], genau wie unsere Vorfahren uns aus dem Wurgegriff der ,einen wahren Religion' befreit haben". In Feyerabends

127 Vorstellung einer freien Gesellschaft wird der Wissenschaft kein Vorrang vor anderen Formen der Erkenntnis oder Traditionen eingeraumt. Ein miindiger Btirger in einer freien Gesellschaft ist, jemand, der gelernt hat, sich eine Meinung zu bilden, und sich dann fur das entschieden hat, was er flir sich flir das Beste halt Um sich auf diese Entscheidung vorzubereiten, wird er die wesentlichen Ideologien als historische Erscheinungen studieren, auch die Wissenschaft, und nicht als die einzige vemunftige Methode zur Behandlung eines Problems. Er studiert sie zusammen mit anderen Marchen wie etwa den Mythen der ,primitiven' Gesellschaften, um die flir eine freie Erkenntnis notwendigen Kenntnisse zu erlangen". (Feyerabend, 1983, S. 396). In Feyerabends idealer Gesellschaft ist der Staat zwischen Ideologien selbst ideologisch neutral und gewahrleistet, dass Individuen die Freiheit erhalten bleibt und niemandem eine Ideologic gegen seinen Willen aufgezwungen wird. Die Quintessenz der Argumentation Feyerabends gegen die Methoden und seines Eintretens flir einen gewissen Umfang an Freiheit des Individuums, ist seine „Anarchistische Theorie des Wissens" (1983, S. 369, Hervorhebungen i. Orig.): Keine der Methoden, die Camap, Hempel, Nagel, Popper oder selbst Lakatos heranziehen mochten, um wissenschaftliche Veranderungen rational zu machen, lasst sich anwenden, und die einzige Methode, die ubrigbleibt, die Widerlegung, wird stark geschwacht. Es bleiben asthetische Urteile, Geschmacksurteile, metaphysische Vorurteile, religiose Bedtirfriisse, kurz, es bleiben unsere subjektiven Wiinsche: die ft)rtgeschrittensten und allgemeinsten Bereiche der Wissenschaft geben dem einzelnen eine Freiheit zuruck, die er in ihren einfacheren Teilen zu verlieren schien. Damit gibt es keine wissenschaftliche Methode mehr. Wissenschaftler fr)lgen ihren subjektiven Bedlirfiiissen. Anything goes.

10.4 Kritik an Feyerabends Individualismus Eine Kritik an Feyerabends Verstandnis von der Freiheit des Menschen ist ein guter Einstieg zu einer Wiirdigung seiner Kritik an den Methoden. Ein zentrales Problem mit Feyerabends Begriff von Freiheit entspringt seinem AusmaB an Negativitat. Freiheit wird verstanden als Freiheit von Einschrankungen. Individuen sollen frei von Einschrankungen sein, um ihren subjektiven Bedlirfiiissen zu ft)lgen und zu machen, was sie wollen. Das berticksichtigt nicht die positive Seite dieses Aspekts, den Umfang, in dem Individuen Zugang zu den Mitteln haben, mit denen sie ihre Wiinsche erfullen konnen. Zum Beispiel kann und wird die Redefreiheit haufig im Zusammenhang mit der Freiheit von Beschrankungen, wie staatlicher Unterdrtickung, Gesetzen gegen Verleumdung usw., diskutiert. So konnte Studierenden, die eine Veranstaltung durch AuBerungen storen, die als faschistisch interpretiert werden konnen, vorgeworfen werden, die Redefreiheit

128 des Vortragenden zu leugnen. Sie werden beschuldigt, das naturliche Recht des Sprechers einzuschranken. Redefreiheit kann im positiven Sinne jedoch auch als eine dem Individuum zur Verfiigung stehende Ressource verstanden werden, ihre Sichtweise anderen mitzuteilen. Welchen Zugang hat zum Beispiel der Einzelne zu den Medien? Diese Sichtweise lasst unser Beispiel in einem anderen Licht erscheinen. Die Unterbrechung der Veranstaltung mag eventuell gerechtfertigt sein, weil nur der Sprecher Zugang zu einem Horsaal der Universitat, Mikrophonen, Medien usw. hat, was fur die, die andere Sichtweisen vertreten, nicht der Fall ist. David Hume, ein Philosoph des 18. Jahrhunderts, veranschaulichte diesen Punkt sehr schon, als er John Lockes Idee vom Gesellschaftsvertrag kritisierte. Locke (1913) hatte den Gesellschaftsvertrag als freie LFbereinkunft der Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft aufgefasst und argumentiert, dass es jedem, der den Vertrag nicht anerkennen will, freigestellt ist, zu emigrieren. Hume (1976, S. 156) erwiderte: Konnen wir denn alien Emstes behaupten, dass der arme Knecht Oder Tagelohner es vermag, die freie Entscheidung zu treffen, sein Land zu verlassen, wenn er keine fremden Sprachen oder Sitten kennt, und wenn er bei dem geringen Lohn, den er erhalt, von der Hand in den Mund lebt? Das ware genauso, als wenn wir behaupten wtirden, dass sein Mann, der auf einem Schiff arbeitet, sich vollig freiwillig unter den Befehl eines Kapitans gestellt hatte, obwohl er, wahrend er schlief, an Bord geschleppt wurde, und wollte er das Schiff verlassen, nur ins offene Meer springen konnte, wobei er endlich ertrinken wtirde. Jedes Individuum wird in eine Gesellschaft hineingeboren, die bereits in dem Sinne vor ihm existiert, als sie Charakteristika besitzt, die das Individuum nicht frei wahlt. Es befmdet sich nicht in der Position dazu. Aktivitaten, die ihm offen stehen, sind determiniert durch den Zugang, den ein Individuum in der Praxis zu den Ressourcen hat, die fur bestimmte Aktivitaten notig sind. Damit ist auch seine Freiheit determiniert. Auch in der Wissenschaft wird ein Individuum, das einen Beitrag leisten mochte, mit der Situation, wie sie sich darstellt, konfrontiert sein: verschiedene Theorien, mathematische Techniken, Instrumente und experimentelle Techniken. Die Wege, die Wissenschaftlem offen stehen, sind durch diese objektive Situation eingeschrankt, wahrend der Weg eines spezifischen Wissenschaftlers determiniert ist durch den Ausschnitt an Ressourcen, zu dem er Zugang hat. Wissenschaftler sind nur insofern frei, ihren „subjektiven Bedlirfnissen" zu folgen, als sie die Freiheit haben zwischen den eingeschrankten Optionen zu wahlen, die ihnen offen stehen. Unabhangig von Veranderungen in der Wissenschaft Oder der Gesellschaft allgemein, wird ein Hauptteil theoretischer Arbeit eher darin bestehen, die Situationen zu verstehen, mit denen Individuen konfrontiert sind, als sich generell auf eine uneingeschrankte Freiheit zu berufen. Es birgt eine gewisse Ironie, dass Feyerabend, der in seiner Studie uber die Wissenschaft ausfahrlich die Existenz theorie-neutraler Tatsachen leugnet, in seiner Sozialtheorie an den weit ambitionierteren Begriff eines ideologie-neutralen

129 Staates appelliert. Wo auf der Welt koirnte ein solcher Staat entstehen, wie wurde er funktionieren und was wiirde ihn aufrechterhalten? Auf dem Hintergrund all der Anstrengungen, die untemommen wurden, um Fragen nach dem Ursprung und der Natur „des Staates" zu beantworten, erscheint Feyerabends fantasievolle Spekulation, iiber ein Utopia, in dem alle Menschen ohne Einschrankungen ihren Neigungen folgen konnen, kindisch. Feyerabend dafur zu kritisieren, dass er sein Verstandnis von Wissenschaft in den individualistischen Rahmen eines naiven Begriffs von Freiheit setzt, ist das eine. Sich mit den Details seiner Argumentation „wider den Methodenzwang" in den Wissenschaften auseinanderzusetzen, etwas anderes. Im nachsten Kapitel werden wir sehen, was von Feyerabends Angriff auf die Methoden konstruktiv genutzt werden kann.

Weiterfuhrende Literatur In ^Erkenntnis furfreie Menschen'' (1981b) entwickelt Feyerabend einige Gedanken aus „Wider den Methodenzwang'' (1983) weiter. In den Banden „Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autoritdt der Wissenschaften. Ausgewdhlte Schriften Band 1" (1978) und „Probleme des Empirismus. Schriften zur Theorie der Erkldrung, der Quantentheorie und der Wissenschaftsgeschichte. Ausgewdhlte Schriften Band 2'' (1981a) sind Aufsatze von Feyerabend zusammengestellt, von denen einige aus der Zeit vor seiner „anarchistischen" Phase stammen. In den Aufsatzen „Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen - ein Trostbtichlein fur Spezialisten?" (1974, engl. Orig. 1970) und „On the Critique of Scientific Reason" (1976) fmdet sich seine Kritik an Kuhn bzw. an Lakatos. Feyerabends Verstandnis von Galilei wird in „Galileo's Telescopic Observations of Venus and Mars" (Chalmers, 1985) und „The Galileo that Feyerabend Missed" (Chahners, 1986) diskutiert.

11 Methodologische Wechsel

11.1 Wider eine universelle Methode Wir haben im vorausgegangenen Kapitel gesehen, dass Feyerabend gegen verschiedene, von Philosophen vorgestellte Beitrage zur wissenschaftlichen Methode Widerspruch einlegt, die versucht haben, das Spezifische wissenschaftlicher Erkenntnis zu bestimmen. Seine zentrale Strategie bestand darin, die Inkompatibilitat zwischen diesen Beitragen und Galileis Fortschritten in der Physik und der Astronomie herauszuarbeiten. An anderer Stelle (Chalmers, 1985, 1986) habe ich mich mit Feyerabends historischem Beitrag zu Galilei bereits auseinandergesetzt. Einige Details meiner Kritik werden im folgenden Abschnitt vorgestellt. Trotz dieser Kritik bleibt es nach meinem Dafurhalten dabei, dass sie die Standardbeitrage zur Wissenschaft und ihrer Methoden vor Probleme stellt. In gewissem Sinne kann daher Feyerabends Eintreten gegen Methoden aufrechterhalten werden, vorausgesetzt, man ist sich bewusst, welches Verstdndnis von Methoden zuriickgewiesen wird. Feyerabend spricht sich gegen den Anspruch aus, dass es eine universelle, ahistorische Methode der Wissenschaft gebe, die MaBstabe beinhaltet, die all diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen zu erfiillen haben, die es Wert sind, als „Wissenschaft" bezeichnet zu werden. Der Begriff „universeH" soil dabei ausdrticken, dass die vorgeschlagene Methode auf alle Disziplinen anwendbar sein soil - die Physik, die Psychologic, die Schopftmgstheorie oder was auch immer -, wahrend der Begriff „ahistorisch" den zeitlosen Charakter der Methode signalisieren soil. Sie soil eingesetzt werden, um die aristotelische Physik genauso zu beurteilen wie die von Einstein, die von Demokrit oder die modeme Atomphysik. Ich bin einer Meinung mit Feyerabend, dass die Idee einer universellen und ahistorischen Methode wenig plausibel, wenn nicht sogar absurd ist. Wie Feyerabend (1976a) schreibt: „Der Gedanke, die Wissenschaft konne und sollte nach festen und allgemeinen Regeln betrieben werden, ist sowohl wirklichkeitsfern als auch schadlich .... AuBerdem ist der Gedanke fur die Wissenschaft selbst von Nachteil, denn er vemachlassigt die komplizierten physikalischen und historischen Bedingungen des wissenschaftlichen Fortschritts. Er macht die Wissenschaft weniger anpassungsfahig und dogmatischer" (S. 329, Hervorhebungen i. Orig.).

132 Wenn es eine wissenschaftliche Methode gibt, die in der Lage ist, wissenschaftliche Disziplinen jedweder Art, vergangene, gegenwartige oder zukunftige, zu beurteilen, muss man sich fragen, aus welchen Quellen Philosophen schopfen konnen, um ein Handwerkszeug zu erhalten, das so machtvoll ist, dass es uns schon jetzt die Standards zukiinftiger Wissenschaften nennen kann. Es ist moglich, unsere Methoden zu verbessem und unsere MaBstabe auf dieser Grundlage zu modifizieren und zu verfeinern, wenn wir Wissenschaft als zeitlich nicht limitierte Suche nach Verbesserung unseres Wissens konzipieren. Werden Methoden als universell und unveranderlich verstanden, kann ich mich Feyerabends Kampagne wider den Methodenzwang anschlieBen. Feyerabends Antwort auf eine Absage an Methoden war, dass Wissenschaftler ihren eigenen subjektiven Bediirfnissen folgen sollen, und das ..anything goes". Universelle Methoden oder keine Methode sind jedoch nicht die einzigen Altemativen. Es gibt einen Mittelweg, der darin besteht, dass es zwar Methoden und MaBstabe gibt, diese sich jedoch von Disziplin zu Disziplin unterscheiden und auch innerhalb einer Disziplin verbessert werden konnen. Feyerabends Argumente sprechen nicht gegen diesen Mittelweg. Man kann sogar sagen, dass sein Beispiel zu Galilei so ausgelegt werden kann, dass die Idee eines Mittelwegs Untersttitzung erfahrt. Im folgenden Absatz soil der Versuch unternommen werden, dies zu zeigen. Meines Erachtens gibt es einen Mittelweg, der darin besteht, dass erfolgreiche Wissenschaftsdisziplinen historisch kontingente Methoden und Standards implizit enthalten. Oblicherweise wird Wissenschaftsphilosophen wie mir, die Feyerabends anarchistische und extrem relativistische Position vehement zuruckweisen und nach einem Mittelweg suchen, vorgehalten, sie wtirden sich selbst etwas vormachen. Zum Beispiel hat Worrall (1988) Argumente in dieser Richtung angefiihrt. Soil ein Wechsel in wissenschaftlichen Methoden propagiert werden, der extremen Relativismus vermeidet, muss nachgewiesen werden, inwieweit ein solcher Wechsel eine Verbesserung darstellt. Welche MaBstabe sollen dabei jedoch zugrundegelegt werden? Es scheint so, als sei es nicht moglich, Veranderungen nicht-relativistisch zu konstruieren, auBer, es gibt so etwas wie „SuperMaBstabe" zur Beurteilung von solch veranderten MaBstaben. „Super-MaBstabe" bringen uns jedoch wieder zurtick zu einer universellen Methode, die solche Standards anstrebt. Nach Worrall ergibt sich daraus, dass wir entweder eine universelle Methode haben oder Relativismus. Es gibt keinen Mittelweg. Als Vorbereitung einer Erwiderung auf dieses Argument ist es ntitzlich, zunachst ein Beispiel fur eine Veranderung von MaBstaben zu geben. Der folgende Abschnitt dient diesem Zweck, indem er einen von Galilei initiierten Wechsel beschreibt.

11.2 Der Einsatz von Teleskopen statt der Beobachtung mit blofiem Auge: ein Wechsel von MaBstaben Einer von Galileis aristotelischen Widersachem (zitiert in Galilei, 1982, S. 262) bezieht sich auf die Auffassung, dass „die Sinne und die Erfahrung unsere Leiter beim Erforschen der Wahrheit" sind, „als das Kriterium der Wissenschaft selbst". Einige Kommentatoren der aristotelischen Tradition haben festgestellt, dass ein

133 zentrales Prinzip dieser Tradition darin lag, dass Wissen mit der Evidenz der Sinne kompatibel sein muss, wenn diese hinreichend sorgfaltig und unter geeigneten Bedingungen eingesetzt werden. Galileis Biograph Ludovico Geymonat (1965, S. 45) bezieht sich auf die Annahme, „die von den meisten Gelehrten jener Zeit geteilt wurde, dass die aktuelle Realitat nur durch das direkte Sehvermogen erfasst werden konne". Clavelin (1974, S 384) stellt im Zusammenhang eines Vergleichs der galileischen mit der aristotelischen Physik fest, dass „die oberste Maxime der peripatetischen Physik darin bestand, niemals die Evidenz der Sinne anzuzweifeln", und Gaukroger (1978, S 92) berichtet in einem ahnlichen Zusammenhang von einem „grundlegenden und ausschlieBlichen Sichverlassen auf Sinneswahmehmung im Werke Aristoteles". Die teleologische Verteidigung der Verlasslichkeit der Sinne war damals durchaus iiblich. Die Funktion der Sinne wurde darin gesehen, uns Informationen liber die Welt zu liefem. Aus diesem Grund erscheint es wenig einleuchtend anzunehmen, dass sie uns bei der Erfiillung ihrer Aufgabe systematisch tauschen, auch wenn sie uns unter auBergewohnlichen Umstanden wie zum Beispiel im Nebel Oder wenn der Beobachter betrunken ist, durchaus tauschen konnen. Block (1961, S. 9) beschreibt in einem aufschlussreichen Artikel iiber die aristotelische Theorie der Sinneswahrnehmung dessen Auffassung. Die Natur hat alles zu einem bestimmten Zweck gemacht, und der Zweck des Menschen ist es, die Natur durch Wissenschaft zu verstehen. Daher ware es ein Widerspruch der Natur, wenn sie den Menschen und seine Organe so geschaffen hatte, dass alles Wissen und Wissenschaft von Anbeginn falsch sein muss. Die Sichtweise von Aristoteles wurde viele Jahrhunderte spater von Thomas von Aquin (zit. n. Block, 1961, S. 7) wieder aufgenommen: Sinneswahrnehmung ist immer wahrheitsgetreu in Bezug auf die ihr eigenen Objekte ... denn nattirliche Fahigkeiten scheitem in der Regel nicht bei den ihr eigenen Aktivitaten. Sollten sie dennoch einmal scheitem, ist dies auf eine Verwirrung oder etwas Ahnliches zurtickzuftihren. Daher beurteilen die Sinne die ihnen zuganglichen Objekte nur in wenigen Fallen ungenau und dann nur wegen eines organischen Defekts, zum Beispiel wenn jemand, der Fieber hat, etwas StiBes als bitter schmeckt, weil seine Zunge in ihrer Funktion gestort ist. Galilei befand sich in einer Situation, in der das Vertrauen in die Sinne, inklusive der mit bloBem Auge gewonnenen Daten, „das Kriterium der Wissenschaft selbst" war. Um teleskopische Daten einzuftihren und mithilfe dieser die mit bloBem Auge gewonnenen zu ersetzen oder sogar zu iibertrumpfen, musste Galilei dieses Kriterium grundsatzlich infrage stellen. Als ihm das gelungen war, hatte er die MaBstabe innerhalb der Wissenschaft verandert. Wie wir gesehen haben, war Feyerabend nicht der Meinung, dass Galilei dazu eine zwingende Argumentation

134 fand, sondem, dass er genotigt war, zu Propaganda und Tricks zu greifen. Nach den historischen Tatsachen stellt sich dies jedoch anders dar. Es wurde bereits gezeigt, wie Galilei fur den Wahrheitsgehalt seiner Beobachtungen der Monde des Jupiters eintrat. Nun soil die Aufmerksamkeit auf das gelenkt werden, was Feyerabend zur Akzeptanz der sich verandernden GroBe von Venus und Mars zusammengetragen hat. Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits die Dringlichkeit dieser Frage beschrieben und Feyerabends Beitrag zu den Schwierigkeiten, mit denen die Akzeptanz teleskopischer Daten bei der Beobachtung von Himmelskorpern verbunden ist, gewtxrdigt. Galilei bezog sich auf das Phanomen der Irradiation, um die Beobachtungen von Planeten mit bloBem Auge infrage zu stellen und zu begrtinden, dass teleskopische Daten zu bevorzugen sind. Galileis Hypothese besagte, dass beim Anblick von kleinen, hellen, weit entfemten Lichtquellen vor dunklem Hintergrund „ein vom Auge selbst ausgehendes Hindernis" (Galilei, 1982, S. 350) eine wichtige Rolle spiele. Solche Objekte erscheinen dann „mit einem Kranz von Strahlen umrahmt" (Galilei, 1982, S. 350). An anderer Stelle erklart Galilei (1987a, S. 119): „Der Grund dafur ist, daB sich uns Sterne, wenn wir sie mit bloBem Auge betrachten, nicht in ihrer einfachen, sozusagen nackten GroBe darbieten, sondem von einem gewissen Glanz erleuchtet und mit funkelndem Strahlen, gleich Haaren, umgeben sind. Die Irradiation der Planeten werde durch das Teleskop beseitigt". Da Galileis Hypothese die Annahme beinhaltet, dass Irradiation die Folge von Helligkeit, GroBe und Entfemung einer Lichtquelle ist, kann sie ohne den Einsatz eines Teleskops iiberpriift werden, indem diese Faktoren in unterschiedlicher Art und Weise, z.T. ohne Verwendung des Teleskops, modifiziert werden. Galilei (1987a) fiihrt eine Reihe solcher Modifikationsmoglichkeiten auf. Die Helligkeit von Stemen und Planeten kann reduziert werden, indem man sie durch eine Wolke hindurch, durch einen schwarzen Schleier, getontes Glas, eine Rohre, eine LUcke zwischen den Fingern oder durch ein sehr kleines Loch in einer Karte betrachtet. Durch solche Techniken kann die Irradiation von Planeten beseitigt werden, sodass sie „ihre kleinen Kugeln vollkommen rund und wie mit dem Zirkel gezogen" darbieten (Galilei, 1987a, S. 120). Bei Stemen hingegen kann die Irradiation nie vollstandig beseitigt werden, sodass sie „keineswegs von einem kreisformigen UmriB begrenzt, sondern wie etwas glanzendes, das Strahlen aussendet und stark funkelt" (Galilei, 1987a, S. 120) erscheinen. Beziiglich der Abhangigkeit der Irradiation von der augenblicklichen GroBe einer beobachteten Lichtquelle entspringt die Hypothese Galileis der Tatsache, dass der Mond und die Sonne keine Irradiation aufweisen. Dieser Aspekt der Hypothese Galileis sowie die damit verbundene Abhangigkeit der Irradiation von der Entfernung der Lichtquelle konnen direkt auf der Erde tiberprtift werden. Eine brennende Fackel kann von nah und von fern, bei Tag und bei Nacht betrachtet werden. Bei Nacht aus der Feme betrachtet, wenn sie im Vergleich zu ihrer Umgebung hell ist, erscheint sie groBer als sie tatsachlich ist. Folglich merkt Galilei an, dass seine Vorganger, einschlieBlich Tycho Brahe und Clavius, bei der Schatzung der GroBe von Stemen mehr Sorgfalt hatten walten lassen sollen.

135 Ich glaube jedenfalls, dass sie nicht die GroBe der in tiefer Finsternis sichtbaren Scheibe fiir die wahre hielten, sondem die, welche sich bei heller Umgebung beobachten laBt. Denn unsere irdischen Lichter, welche, von weitem gesehen, nachts groB erscheinen, deren wirkliche Flammchen aber aus der Nahe scharf begrenzt und klein erscheinen, hatten sie hinreichend vorsichtig machen sollen. (Galilei, 1982, S. 377) Die Abhangigkeit der Irradiation von der Helligkeit einer Lichtquelle relativ zu ihrer Umgebung wird auch durch das Aussehen von Sternen in der Dammerung bestatigt, die wesentlich kleiner erscheinen als bei Nacht. Auch die Venus erscheine, bei Tageslicht betrachtet, „in solcher Kleinheit, dass man allerdings scharf hinsehen muss, wahrend sie in der folgenden Nacht wie eine groBe Lichtflamme aussieht" (Galilei, 1982, S. 377). Der zuletzt genannte Effekt bietet eine grobe Handhabe, die vorhergesagten Veranderungen der GroBe der Venus zu iiberpriifen, ohne auf ein Teleskop zuriickgreifen zu mussen. Vorausgesetzt man beschrankt sich auf den Tag oder die Dammerung, kann diese LFberprtifung mit bloBem Auge vorgenommen werden. Nach Galilei schlieBlich sind die Veranderungen der GroBe „mit bloBem Auge gut wahrnehmbar", auch wenn sie prazise nur mit dem Teleskop beobachtet werden konnen (Drake, 1957, S. 131). Auf recht einfache Weise konnte Galilei demonstrieren, dass das bloBe Auge bei kleinen Lichtquellen, die im Vergleich zu ihrem Umfeld hell erscheinen, sowohl am Himmel als auch auf der Erde widerspriichliche Informationen liefert. Das Phanomen der Irradiation, fur das Galilei mehrere Belege fand, sowie die direktere Demonstration mit einer Lampe, legt nahe, dass die Beobachtung kleiner, heller Lichtquellen mit bloBem Auge nicht zuverlassig ist. Dies bedeutet unter anderem, dass die Venus mit bloBem Auge besser bei Tag beobachtet werden soil als bei Nacht, wenn sie im Vergleich zu ihrer Umgebung hell erscheint. Nur unter der zuerst genannten Bedingung zeigt sich, dass sich die augenscheinliche GroBe der Venus im Jahresverlauf verandert. All dies kann ohne Hilfe des Teleskops festgestellt werden. Wenn man aber berucksichtigt, dass das Teleskop bei der Beobachtung von Planeten die Irradiation beseitigt und dass die Anderungen der auf diese Weise enthiillten augenscheinlichen GroBe sogar kompatibel mit den durch das bloBe Auge gemachten Beobachtungen sind, gewinnen die teleskopischen Daten viel an Uberzeugungskraft. Ein abschlieBendes Argument fur die Verlasslichkeit teleskopischer Daten beziiglich der GroBe von Venus und Mars liegt darin, dass sie exakt mit den Vorhersagen aller seriosen astronomischen Theorien der damaligen Zeit ubereinstimmten. Das steht im Widerspruch mit der Art, wie sowohl Feyerabend als auch Galilei selbst die Situation darstellen, indem sie nahe legen, dass die Daten die kopemikanische Theorie gegeniiber rivalisierender Theorien unterstutzen. Diese rivalisierenden Theorien waren die von Ptolemaus und Tycho Brahe. Beide sagen genau die gleichen GroBenveranderungen vorher wie die von Kopernikus. Unterschiede in der Entfemung von der Erde, die zu den vorhergesagten Veranderungen in der augenscheinlichen GroBe der Planeten fuhren, kommen im ptolemaischen System vor, da sich die Planeten in Epizyklen naher oder weiter von der Erde

136 entfemt befinden, wahrend sich die Deferenten, deren Bewegung die Planetenbewegung tiberlagem, immer im selben Erdabstand bewegen. Im System Tycho Brahes kommen sie aus den gleichen Grunden wie im kopemikanischen System vor, da beide Systeme geometrisch Equivalent sind. Price (1969) wies ganz allgemein nach, dass dies immer dann so sein musse, wenn die Epizykel der Systeme so abgestimmt sind, dass sie mit den beobachteten Winkelpositionen der Planeten und der Sonne iibereinstimmen. Die Tatsache, dass die augenscheinliche GroBe der Planeten schon seit der Antike die bedeutenden astronomischen Theorien vor Probleme gestellt hat, raumte Osiander in seiner Einfiihrung zu Kopernikus' ,,Revolution der Himmlischen Sphdrert' ein. Wir haben den Weg nachvollzogen, auf dem Galilei fiir einige bedeutsame teleskopische Entdeckungen argumentierte, wobei angenommen werden kann, dass die Argumente schlagend waren, da die Geschichte zeigt, dass sie in kurzer Zeit alle emstzunehmenden Gegner Galileis uberzeugten. Indem Galilei seine Methode etablierte, machte er einen Schritt in eine Richtung, die zum allgemeinen Trend der Wissenschaft wurde: Das Ersetzen von Beobachtungen mit bloBem Auge durch Daten, die mithilfe von Instrumenten gewonnen werden. Indem er dies tat, verletzte er „das Kriterium der Wissenschaft selbst" und fiihrte beztiglich dieses Kriteriums einen Wechsel herbei. Wie lasst sich diese Leistung auf das Ftir und Wider gegentiber den Methoden beziehen?

11.3 Der sukzessive Wechsel von Theorien, Methoden und Standards Wie ist es moglich, dass Galilei einen Wechsel von MaBstaben zuwege brachte, wo Argumente, wie die von Worrall, darauf abzielen, dass dies nicht moglich sei? Es war moglich, weil Galilei einiges mit seinen Rivalen gemeinsam hatte. In dem, was sie anstrebten, gab es groBe LFberschneidungen. Unter anderem hatten sie alle das Ziel, die Bewegungen von Himmelskorpern zu beschreiben. Ptolemaus' Almagest ist voller Aufzeichnungen von Planetenpositionen, und Tycho Brahe ist beriihmt fur seine Konstruktion massiver Quadranten und Ahnlichem, die die Exaktheit solcher Aufzeichnungen verbesserten. Bezuglich der einfachen Beobachtungen Galileis, wie die Beobachtung, dass eine Lampe bei Nacht aus der Feme groBer erscheint, als sie ist, und dass die Venus bei Tag kleiner erscheint als bei Nacht, hatten seine Opponenten keine andere Wahl, als sie zu akzeptieren. Vor dem Hintergrund des gleichen Ziels, gentigten Galilei solche Beobachtungen, um seine Gegner zu uberzeugen, indem er „ausgefeilte Uberzeugungstechniken" einsetzte, die in nichts anderem bestanden als klaren Argumenten, sodass sie schlieBlich vom „Kriterium der Wissenschaft selbst" ablieBen und teleskopische Daten eher akzeptierten als die mit bloBem Auge gewonnenen. In jeder Phase ihrer Entwicklung besteht eine Wissenschaft aus bestimmten Zielen, spezifisches Wissen zu generieren, Methoden, diese Ziele zu erreichen, MaBstaben zur Beurteilung der Frage, ob diese Ziele erreicht wurden, sowie Tatsachen und Theorien, die den Stand der Zielerreichung reprasentieren. Im Lichte der Forschung ist jedes einzelne Element im Netz der Gegebenheiten Gegenstand der Revision. Es wurde bereits diskutiert, dass Theorien und Tatsachen fehlbar

137

sein konnen (es sei hier daran erinnert, dass extrem kalte Flussigkeiten die Aussage widerlegen konnen, dass Flussigkeiten nicht nach oben flieBen konnen), und im vorangegangenen Abschnitt wurde eine Veranderung von Methoden und MaBstaben beschrieben. Ein Beispiel dafiir, dass auch die Details von Zielen Veranderungen unterliegen konnen, soil im folgenden Abschnitt gezeigt werden. Die experimentelle Arbeit von Robert Boyle wird zu Recht als der Hauptbeitrag zur wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts gesehen. Zwei sich widersprechende Aspekte der Arbeit Boyles konnen unterschieden werden, die in gewisser Weise die neue und die alte Herangehensweise der Wissenschaft reprasentieren. In seinen eher philosophischen Schriften tritt Boyle ftir die „mechanische Philosophie" ein. Nach dieser Philosophic besteht die Welt aus Materieteilchen, sogenannte Korpuskeln. Es wird als offensichtlich angenommen, dass nur diese eine Art der Materie existiere. Sichtbare Objekte bestehen aus Arrangements mikroskopischer Korpuskeln, und die Veranderung von Objekten wird als Umarrangieren dieser Korpuskeln verstanden. Die einzigen Eigenschaften von Korpuskeki sind ihre spezifische GroBe, Form und Bewegung sowie ihre Undurchdringlichkeit, durch die sich Materie vom leeren Raum unterscheidet. Die Bewegung eines Korpuskels verandert sich, wenn es mit anderen kollidiert, und dieser Mechanismus ist die Quelle aller Aktivitat und jeder Veranderung in der Natur. Die Erklarung physikalischer Prozesse besteht im Zurtickverfolgen des Prozesses auf Bewegung, Kollision und Umstrukturierung der beteiligten Korpuskeln. Indem er diese Sichtweise formulierte, schloss sich Boyle der neuen mechanischen Sichtweise der Welt an, die als geeignete Nachfolgerin der aristotelischen angesehen wurde. Adaquate Erklarungen waren hier ultimative Erklarungen, Letztbegrundungen. Sie bezogen sich auf Form, GroBe, Bewegung und Kollision von Korpuskeln, die ihrerseits als etwas betrachtet wurden, das keiner Erklarung bedurfte. Aus diesem Blickwinkel ist damit das Ziel von Wissenschaft das Schaffen ultimativer, letztbegriindender Erklarungen. Neben seinem Eintreten ftir die mechanische Philosophie nahm Boyle Experimente, im Besonderen in der Pneumatik und der Chemie, vor. Wie einige AuBerungen Boyles implizieren, erbrachten seine Experimente nicht den Erft)lg, den die mechanische Philosophie ft)rderte. Boyles Experimente zur Physik der Luft, im Speziellen diejenigen mit einer Pumpe, die es moglich machten, einen GroBteil der Luft aus einer Glaskammer zu entfernen, ftihrten dazu, dass Boyle eine Reihe von Phanomenen, wie das Verhalten von Barometern innerhalb und auBerhalb des Vakuums, mittels des Gewichts und der Elastizitat der Luft erklarte. Er schlug sogar eine Version des Gesetzes vor, das Druck und Volumen einer Gasmasse miteinander verknupft und das seinen Namen tragt. Seine Ausftihrungen waren jedoch keine wissenschaftlichen Erklarungen aus mechanischer Sichtweise, weil sie nicht in letzter Konsequenz begrtindet waren. Sich auf Gewicht und Elastizitat zu beziehen, war nicht akzeptabel, bevor diese Eigenschaften nicht selbst in Begriffen der Korpuskularmechanik erklart werden konnten. Es erixbrigt sich, darauf hinzuweisen, dass Boyle nicht in der Lage war, diesen Anspruch zu erftillen. Allenfalls wurde anerkannt, dass sich Boyles experimentelle Wissenschaft um Erklarungen bemuhte, die sowohl niitzlich als auch zu jener Zeit erreichbar waren. Dagegen wurden mechanische Erklarungen im strengen Sinn als nicht erreichbar

138 angesehen. Tatsachlich wurde das Ziel, ultimative Erklarungen zu erlangen, in der Physik gegen Ende des 17. Jahrhunderts aufgegeben. Das Ziel wurde als utopisch angesehen, vor allem wenn es den Erfolgen der experimentellen Wissenschaft gegentibergestellt wurde. Die zugrundeliegende allgemeine Idee ist die, dass einzelne Teile des Netzes von Zielen, Methoden, MaBstaben, Theorien und beobachtbaren Tatsachen, das Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit konstituiert, progressiv verandert werden konnen. Der jeweils verbleibende, unveranderte Teil des Netzes bildet den Hintergrund fur die Begrtindung des Wechsels. Dennoch wu-d es sicher nicht moglich sein, berechtigte Griinde fur eine Veranderung aller Bestandteile des Netzes auf einen Schlag zu finden, weil es fiir die Rechtfertigung des Wechsels dann keine Grundlage mehr gabe. Wenn es typisch fur die Wissenschaft ware, dass rivalisierende Forscher alles aus der Perspektive ihres jeweiligen Paradigmas so unterschiedlich sehen und in so verschiedenen Welten leben, dass sie keine Ansichten teilen, ware es in der Tat unmoglich, objektive Kriterien zu finden, nach denen Wissenschaft voranschreitet. Situationen, die dieser Karikatur entsprechen, gibt es jedoch in der Geschichte oder anderswo nicht. Wir brauchen keinen universellen, ahistorischen Beitrag zur wissenschaftlichen Methode, um einen objektiven Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft zu leisten oder, dartiber hinaus, einen objektiven Ansatz zur Methodenverbesserung.

11.4 Intermezzo Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie Worrall und ahnlich denkende Gegner des Relativismus und Befurworter einer universellen Methode auf die obigen Ausfiihrungen antworten wurden. Sie wurden etwa auf mein Beispiel zu Galilei entgegnen, dass es, obwohl es einen Wechsel von MaBstaben illustriert, den Bezug auf hohere, allgemeinere Standards beinhaltet. Sowohl Galilei als auch seine Rivalen forderten zum Beispiel, dass ihre Beitrage zu den Umlaufbahnen der Planeten von geeigneten Belegen untermauert sein sollen. Sind solche generellen Annahmen einmal ausgesprochen, mogen meine Kritiker argumentieren, dann sind es genau diese generellen Annahmen, die die universelle Methode konstituieren und die Kulisse bilden, vor der der von Galilei ausgehende Wechsel als progressiv eingestuft wurde. Ohne eine solche Kulisse, so hore ich sie sagen, kann nicht gesagt werden, dass dieser Wechsel progressiv war. Eine Konzession soil hier gemacht werden: Angenommen, wir versuchen einige generelle Prinzipien zu formulieren, denen sich vermutlich jeder Vertreter der Wissenschaft von Aristoteles bis Stephen Hawking anschlieBen werden. Angenommen, das Ergebnis ware „Nimm Argumente und die gegebenen Belege emst und strebe kein Wissen oder keine Ebene der Bestatigung an, die jenseits der Moglichkeiten der verfugbaren Methoden stehen". Wu* wollen dies die CommonSense-YQYsion der wissenschaftlichen Methode nennen. ZugegebenermaBen gibt es eine universelle Methode im Common-Sense - dem Ge^hl von Selbstzufriedenheit, an dem sich Worrall und seine Verbiindeten angesichts dieses Zugestandnisses erfreuen mogen, soil jedoch entgegengetreten werden. Zunachst so viel: In

139 dem Umfang, in dem eine solche universelle Methode richtig ist, macht sie alle, mich eingeschlossen, arbeitslos, denn sie ist kaum etwas, was ein professioneller Philosoph zu formulieren, zu wurdigen oder zu verteidigen auf sich nehmen wiirde. Aber emsthaft: wenn wir dies weiterverfolgen und mehr Details dazu fordera, was als Beweis und Bestatigung zahlt, und welche Arten von Behauptungen genau verteidigt warden konnen und wie das vonstatten gehen kann, werden diese Details je nach Wissenschaft und historischem Kontext variieren. Die Formulierung einer Common-Sense-MothodQ mag als Aufgabe fiir einen Wissenschaftsphilosophen nicht anspruchsvoll genug sein. Aber es kann angenommen werden, dass schon ihre Erwahnung genugt, einigen zeitgenossischen Trends der Wissenschaftsforschung zu widerstehen. Ich denke dabei an solche Wissenschaftssoziologen und Anhanger der Postmodeme, die den speziellen Status wissenschaftlicher Erkenntnis herunterspielen oder leugnen (sie sollen hier kurz „Leveller" genannt werden). Sie beziehen sich dabei darauf, dass ihre Anerkennung - wie in anderen Bereichen auch - notwendigerweise immer mit den Interessen einzelner Wissenschaftler oder Gruppen von Wissenschaftlem an Dingen wie finanziellem oder gesellschaftlichem Status, professionellem Interesse u. A. einhergeht. Als Antwort darauf kann vermutet werden, dass es, um ein Beispiel zu nennen, eine Common-Sense-UntQvschQidung gibt zwischen dem Ziel, das Wissen dartiber zu verbessern, wie Chemikalien zusammenwirken, und der Verbesserung des sozialen Status professioneller Chemiker. Man kann sogar so weit gehen, anzunehmen, dass diejenigen, die einen solchen Unterschied leugnen, von jeglicher Art der finanziellen Forderung ihrer Projekte ausgeschlossen wurden. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, anzumerken, dass die traditionellen Wissenschaftsphilosophen selbst zum Entstehen einer Situation beigetragen haben, die den „Levellem" Raum schafft. Sie waren es namlich, die angenommen haben, dass eine Unterscheidung zwischen Wissenschaft und anderen Arten der Erkenntnis nur mithilfe eines philosophisch formulierten Beitrages zur universellen Methode moglich ist. Konsequenterweise ist der Weg fur „Leveller" frei, wenn solche Versuche, wie es in den vorausgegangenen Kapitebi gezeigt wurde, scheitern. Mulkay (1979), wohlgemerkt einer der moderateren „Leveller", ist einer der vielen Wissenschaftsanalytiker, die zu dem Schluss kommen, dass das Scheitern dessen, was er als „Standard-Sichtweise" bezeichnet, eine soziologische Kategorisierung von Wissenschaft notwendig macht.^^ Das bringt uns dahin, wo die wissenschaftsphilosophische Debatte vor 15 Jahren stand. Dabei kann man es jedoch nicht belassen, da sich seit dieser Zeit zwei wichtige Bewegungen entwickelt haben, die unsere Aufinerksamkeit erfordem. Eine dieser Bewegungen startete den Versuch, einen Beitrag zur universellen ^^ Meine Ausfuhrungen in diesem Absatz sollten nicht so verstanden werden, als ob kein Raum filr politische oder soziale Analysen von Wissenschaft bliebe, wie sich Wissenschaft in der Gesellschaft abspielt. Dieser Aspekt wurde in „Grenzen der Wissenschaft" (Chalmers, 1999, Kap. 8) betont. Auch habe ich mit meinen Ausftihrungen nicht intendiert, alles, was unter dem Etikett „wissenschaftssoziologische Studien" firmiert, abzutun, da viele der gegenwartigen Arbeiten valide Einsichten in die Natur wissenschaftHchen Arbeitens Hefem. Meine Bemerkungen sind ledighch an diejenigen adressiert, die sich einbilden, einen solch hohen soziologischen oder anderen Kenntnisstand zu besitzen, dass sie von diesem Standpunkt aus entscheiden konnen, dass wissenschaftliche Erkenntnis keinen besonderen Status besitzt.

140 Methode zu entwickeln, indem eine Version der Wahrscheinlichkeitstheorie adaptiert wird. Wir werden diesen Ansatz im nachsten Kapitel einer naheren Betrachtung unterziehen. Eine zweite Bewegung hat versucht, das zu kontem, was sie als Auswuchs theorie-dominierten Wissenschaftsverstandnisses bezeichnet, indem sie das Experiment und seine Bedeutung eingehender betrachtet.

Weiterfuhrende Literatur Meine Argumentation gegen eine universelle Methode ist in „Grenzen der Wissenschaft (1999, Kap. 2) detailliert dargestellt, wahrend die Aufsatze „Galileo's Telescopic Observations of Venus and Mars" (Chalmers, 1985) und „The Galileo that Feyerabend Missed" (Chalmers, 1986) eine Kritik und eine Uberarbeitung von Feyerabends Fallstudie zu Galilei enthalten. Laudan (1977, 1984) stellt einen Versuch vor, einen Mittelweg zwischen universeller Methode und Anarchic zu finden, der sich von meiner Darstellung unterscheidet. Mehr Details zu Boyles Arbeit fmden sich in „The Lack of Excellency of Boyle's Mechanical Philosophy" (Chalmers, 1993) und „Ultimate Explanation in Science" (Chalmers, 1995).

Kapitel 12 Der Ansatz von Bayes

12.1 Einleitende Bemerkungen Die meisten von uns hatten gentigend Vertrauen in die Vorhersage einer in Ktirze bevorstehenden Wiederkehr des Kometen Halley, dass sie schon weit im Voraus Wochenenddomizile auf dem Land, entfernt von den Lichtera der Stadte, buchten, um ihn beobachten zu konnen. Es stellte sich heraus, dass unser Vertrauen gerechtfertigt war. Die Wissenschaft hat genug Vertrauen in die Zuverlassigkeit ihrer Theorien, dass sie bemannte Raumfahrzeuge ins All schickt. LaufI; in einem von ihnen etwas schief, sind wir beeindruckt, aber vermutlich nicht tiberrascht, wenn Wissenschaftler, unterstiitzt von Computem, sehr schnell in der Lage sind, zu berechnen, wie der verbleibende Treibstoff genutzt werden kann, eine Rakete genau in dem Moment zu ziinden, der geeignet ist, sie in eine Umlaufbahn zu katapultieren, die sie zur Erde zuriickbringt. Dies legt nahe, dass das AusmaB der Fehlbarkeit von Theorien, mit dem sich alle in diesem Buch bisher vorgestellten Philosophen, von Popper bis Feyerabend, beschaftigt haben, falsch eingeschatzt Oder ubertrieben wird. Kann die poppersche Behauptung, dass die Wahrscheinlichkeit wissenschaftlicher Theorien Null ist, damit vereinbart werden? In diesem Zusammenhang soil nicht unerwahnt bleiben, dass sich die Wissenschaftler meiner beiden Beispiele auf die newtonsche Theorie bezogen, die nach dem Verstandnis von Popper (und vieler anderer) zu Beginn dieses Jahrhunderts auf verschiedenen Wegen falsifiziert wurde. Wir scheinen hier mit einem Problem konfrontiert zu sein. Eine Gruppe von Philosophen, die genau dieses Problem sahen, sind die in den letzten Jahrzehnten bekannt gewordenen „Bayesianer". Sie werden so genannt, weil ihrem Ansatz ein Theorem der Wahrscheinlichkeitstheorie zugrundeliegt, das von dem im 18. Jahrhundert lebenden Mathematiker Thomas Bayes belegt werden konnte. Die Bayesianer empfanden es als unangemessen, einer gut belegten Theorie eine Wahrscheinlichkeit von Null zuzuschreiben und suchten nach einer Art induktiven SchlieBens, das zu Wahrscheinlichkeiten ungleich Null fuhrt. Dabei sollten die Schwierigkeiten, die in Kapitel 4 beschrieben wurden, vermieden werden. Sie wollten zum Beispiel in der Lage sein, zu zeigen, wie und

142 warum der newtonschen Theorie eine hohe Wahrscheinlichkeit zugewiesen werden kann, wenn sie dazu eingesetzt wird, die Laufbahn des Kometen Halley oder eines Raumschiffs zu berechnen. Eine Skizze und eine kritische Wiirdigung ihres Ansatzes ist Gegenstand des folgenden Kapitels.

12.2 Das bayessche Theorem Das bayessche Theorem bezieht sich auf bedingte WahrscheinHchkeiten, WahrscheinHchkeiten, die von dem Auftreten bestimmter Bedingungen abhangen (und daher bedingt genannt werden). Zum Beispiel hangt die Wahrscheinlichkeit fur einen Sieg, die eine Person beim Wetten jedem der Pferde in einem Rennen zuschreibt, von ihrem Wissen uber die jeweilige Kondition der Pferde in vorangegangenen Rennen ab. Daruber hinaus werden sich diese WahrscheinHchkeiten im Lichte neuer Erkenntnisse verandern, zum Beispiel, wenn sie beim Eintreffen auf der Rennbahn bemerken, dass eines der Pferde stark schwitzt und krank wirkt. Das bayessche Theorem bestimmt, wie sich WahrscheinHchkeiten im Lichte neuer Gegebenheiten verandern. Im wissenschaftlichen Kontext geht es darum, Theorien und Hypothesen auf der Grundlage von Befunden WahrscheinHchkeiten zuzuweisen. Die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese h bei gegebenem Beleg e sei P(h|e), die Wahrscheinlichkeit des Befiinds e unter der Annahme, dass Hypothese h richtig ist, sei P(e|h), die Wahrscheinlichkeit der Hypothese h ohne Wissen Uber e sei P(h) und die Wahrscheinlichkeit des Befunds e ohne irgendwelche Annahmen iiber den Wahrheitsgehalt von h sei P(e). Das Bayes-Theorem lautet dann: P(h|e) = P(h) • P(e|h) / P(e) P(h) wird als Priorwahrscheinlichkeit bezeichnet, weil sie die Wahrscheinlichkeit ist, die einer Hypothese unabhangig von irgendwelchen Belegen e ihrer Richtigkeit zugewiesen wird. P(h|e) wird dagegen als Posteriorwahrscheinlichkeit bezeichnet, also die Wahrscheinlichkeit unter Beriicksichtigung der Belege e. Damit beschreibt die Formel, wie sich die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese im Lichte bestimmter Belege verandert. Die Formel zeigt, dass sich die Priorwahrscheinlichkeit P(h) entsprechend dem Faktor P(e|h) / P(e), der e beriicksichtigt, verandert. Es wird deutlich, inwiefem das einem allgemeinen Verstandnis entspricht. Der Faktor P(e|h) ist ein MaB dafur, wie wahrscheinlich e bei gegebenen h ist. Er nimmt den maximalen Wert 1 an, wenn e aus h folgt und das Minimum von 0, wenn das Gegenteil der Fall ist (WahrscheinHchkeiten nehmen Werte zwischen 1 und 0 an, wobei 1 far Gewissheit steht und 0 dafiir, dass etwas nicht moglich ist). Das AusmaB, indem ein Beleg eine Hypothese unterstutzt, ist proportional zu dem AusmaB, indem eine Hypothese emen Beleg vorhersagt, was durchaus verniinftig erscheint. Der Term P(e) im Nenner des Faktors P(e|h) / P(e) ist ein MaB daftir, wie wahrscheinlich ein Beleg ist, wenn der Wahrheitsgehalt der Hypothese h nicht berucksichtigt wird.

143 Daraus folgt, dass die Bestatigung eines Belegs, der unabhangig von einer gegebenen Hypothese als extrem wahrscheinlich eingeschatzt wird, diese Hypothese nicht in wesentlichem Umfang unterstutzt, wahrend die Hypothese in hohem MaBe gestutzt wird, wenn die Bestatigung eines Belegs ohne Annahme der Hypothese als sehr unwahrscheinlich erachtet wird. Wiirde zum Beispiel eine neue Gravitationstheorie vorhersagen, dass schwere Gegenstande zu Boden fallen, wiirde diese Theorie durch das Fallen eines Steins nicht wesentlich gestiitzt, weil von dem Stein auch ohne diese Theorie erwartet wiirde, dass er fallt. Wiirde diese Theorie jedoch Variationen der Gravitation in Abhangigkeit von der Temperatur vorhersagen, wiirde sie beim Auftreten solcher Effekte in groBerem Umfang bestatigt, weil solche Effekte ohne diese Theorie fur sehr unwahrscheinlich erachtet wiirden. Bin wichtiger Aspekt der bayesschen Theorie liegt darin, dass die Bestimmung der Prior- und Posteriorwahrscheinlichkeit immer auf der Basis allgemein anerkannter Annahmen (im Sinne von Poppers Hintergrundwissen) vorgenommen wird. Als im vorangegangenen Abschnitt angenommen wurde, dass P(e|h) den Wert 1 annimmt, wiirde es zum Beispiel, wenn e aus h folgt, als selbstverstandlich angenommen, dass h in enger Verbindung mit dem verfiigbaren Hintergrundwissen steht. In einem friiheren Kapitel haben wir gesehen, dass Theorien um geeignete Hilfshypothesen erweitert werden miissen, damit es moglich ist, zu iiberpriifbaren Vorhersagen zu kommen. Die Bayesianer berucksichtigen diesen Gedanken. In der ganzen Diskussion wird angenommen, dass Wahrscheinlichkeiten auf dem Hintergrund vorhandenen Wissens berechnet werden. Es ist wichtig, deutlich zu machen, in welchem Sinne das Bayes-Theorem tatsachlich ein Theorem ist. Ohne hier zu sehr ins Detail zu gehen, sei angemerkt, dass es einige Annahmen zur Natur der Wahrscheinlichkeit gibt, die zusammengenommen die sogenannte „Wahrscheinlichkeitsrechnung" bilden. Diese Annahmen werden von Bayesianern und Nicht-Bayesianern gleichermaBen akzeptiert. Es kann gezeigt werden, dass ihre Ablehnung unerwiinschte Konsequenzen nach sich zieht. Zum Beispiel ist ein Wettsystem, das die Wahrscheinlichkeitsrechnung verletzt, in dem Sinne „irrational", als es ermoglicht, dass Wetten auf jedes Ergebnis eines Spieles, Pferderennen oder sonst etwas abgeschlossen werden, sodass die Wettenden unabhangig davon, wofiir sie wetten, gewinnen, gleichgiiltig, wie das Ergebnis ausfallt. (Systeme, die diese Moglichkeit zulassen, werden „Dutch Books" genannt. Sie verletzen die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.) Das Bayes-Theorem kann von den Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung abgeleitet werden. Es ist in diesem Sinne unumstritten. Bisher wurde das bayessche Theorem vorgestellt, und es wurde versucht, aufzuzeigen, dass die Art, wie es die Veranderung der Wahrscheinlichkeit einer Hypothese in Abhangigkeit von Belegen beschreibt, einige einfache Grundannahmen zu der Bedeutung von Belegen fur Theorien explizit macht. Nun muss die Frage nach der Interpretation der jeweiligen Wahrscheinlichkeiten naher beleuchtet werden.

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12.3 Subjektiver Bayesianismus Bayesianer sind sich uneins beziiglich der fundamentalen Frage nach der Natur der betroffenen Wahrscheinlichkeiten. Auf der einen Seite haben wir die „objektiven" Bayesianer. Sie vertreten den Standpunkt, dass Wahrscheinlichkeiten auf der Grundlage der objektiven Situation durch eine rationale Instanz bestimmt werden sollten. Es soil versucht werden, den Kern ihrer Position am Beispiel des Pferderennens deutlich zu machen. Angenommen, vor uns liegt eine Liste von Pferden, die sich an einem Rennen beteiligen, von denen wir jedoch keinerlei Informationen haben. Dann konnte, auf der Grundlage einer Art „Prinzip der Indifferenz" argumentiert werden, dass der einzige rationale Weg, jedem Pferd eine Wahrscheinlichkeit zu gewinnen, zuzuschreiben, darin liegt, die Wahrscheinlichkeit auf alle Pferde gleich zu verteilen. Sind diese „objektiven" Priorwahrscheinlichkeiten einmal festgelegt, bestimmt das bayessche Theorem, wie die Wahrscheinlichkeiten im Lichte von Belegen modifiziert werden miissen. Daraus resultieren die Posteriorwahrscheinlichkeiten, die die genannte rationale Instanz akzeptiert. Das zentrale, allgemein bekannte Problem dieses Ansatzes fiir den Bereich der Wissenschaft liegt in der Frage, wie Hypothesen objektive Priorwahrscheinlichkeiten zugeschrieben werden konnen. Es erscheint notwendig, alle moglichen Hypothesen zu einem Gegenstandsbereich aufzulisten und ihnen Wahrscheinlichkeiten zuzuweisen. Nach dem Prinzip der Indifferenz konnte das zum Beispiel fur alle die gleichen sein. Aber woher soil solch eine Liste kommen? Es kann durchaus angenommen werden, dass die Zahl moglicher Hypothesen zu einem beliebigen Bereich unendlich ist, was fur jede dieser Hypothesen eine Wahrscheinlichkeit von Null bedeuten wtirde. Das bayessche Theorem konnte somit nicht angewendet werden. Alle Theorien haben eine Wahrscheinlichkeit von Null, und Popper tragt den Sieg davon. Wie ist es moglich, zu einer endlichen Liste von Hypothesen zu gelangen, die die objektive Verteilung von Wahrscheinlichkeiten ungleich Null ermoglicht? Nach meinem Dafurhalten kann dieses Problem nicht gelost werden, und die verfiigbare Literatur vermittelt den Eindruck, dass sich die meisten Bayesianer dieser Sichtweise anschlieBen. Wir wollen uns daher dem „subjektiven" Bayesianismus zuwenden. Fur subjektive Bayesianer stellen die Wahrscheinlichkeiten, auf die sich das bayessche Theorem bezieht, subjektive Uberzeugungsgrade dar. Sie argumentieren, dass auf dieser Basis eine in sich stimmige Interpretation der Wahrscheinlichkeitstheorie entwickelt werden kann und dass diese Interpretation dariiber hinaus der Wissenschaft vollstandig gerecht wird. Telle ihrer logischen Grundlage konnen durch einen Riickgriff auf die am Anfang dieses Kapitels gegebenen Beispiele deutlich gemacht werde. Wie stark auch immer die Argumente dafur sind, alien Hypothesen und Theorien Null-Wahrscheinlichkeiten zuzuweisen, es stimmt einfach nicht, so die subjektiven Bayesianer, dass Menschen im Allgemeinen und Wissenschaftler im Besonderen gut bestatigten Theorien Null-Wahrscheinlichkeiten zuweisen. Die Tatsache, dass ich eine Reise in die Berge gebucht habe, um den Kometen Halley zu beobachten, legt zumindest in meinem Fall nahe, dass sie Recht haben. Bei ihrer Arbeit gehen Wissenschaftler beziiglich vieler Gesetze davon aus, dass sie richtig sind. Der unhinterfragte Einsatz des Gesetzes zur Bre-

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chung des Lichts durch Astronomen und der Gesetze von Newton durch in der Raumfahrt beschaftigten Personen zeigt, dass sie diesen Gesetzen eine Wahrscheinlichkeit zuweisen, die nahe, wenn nicht sogar genau am Maximum liegt. Subjektive Bayesianer verwenden das AusmaB des Glaubens an eine Hypothese als Priorwahrscheinlichkeiten fur ihre bayesschen Berechnungen. Auf diesem Weg entgehen sie der popperschen Kritik, die zur Folge hat, dass die Wahrscheinlichkeiten aller universellen Hypothesen den Wert Null annehmen mtissen. Das bayessche Theorem hat im Zusammenhang von Wetten viel Sinn. Wir haben festgestellt, dass die Benicksichtigung der Wahrscheinlichkeitsrechnung, innerhalb derer das bayessche Theorem bestatigt werden kann, eine hinreichende Bedingung zur Vermeidung von „Dutch Books" ist. Bayessche Ansatze nutzen dies, um eine Analogic zwischen der Wissenschaft und Wettsystemen herzustellen. Das AusmaB des Glaubens eines Wissenschaftlers an eine Hypothese stellt eine Analogic zu der Hohe der Wahrscheinlichkeit dar, mit der jemand glaubt, dass ein Pferd ein Rennen gewinnt. Hier muss auf eine mogliche Quelle fiir Mchrdeutigkeiten hingewiesen werden. Bei unscrer Analogic zu Pferderenncn konnen sich die Wahrschcinlichkeiten, die dicjenigen, die auf Pferde setzen, fiir angemessen halten, entweder auf ihr Wissen uber die bctciligten Pferde oder auf ihre Einstellung zum Wetten allgemein beziehen. Das ist nicht notwendigerwcisc dasselbe. Jemand, der wettet, kann von dem abweichen, was ihm seine Uberzeugung diktiert, weil ihn auf der Rennbahn die Aufregung uberwaltigt oder weil er die Nerven verliert, da seine Uberzeugung eine sehr hohe Wettsumme erfordert. Nicht alle Bayesianer wahlen dieselbe Alternative, wenn sie die bayesschen Berechnungen auf die Wissenschaft anwenden. Dorling (1979) benutzt Wahrscheinlichkeiten, die die wissenschaftliche Praxis reflektieren, wahrend Howson und Urbach (1989) subjektive Grade der (Jberzeugung messen. Die Schwierigkeit der zuerst genannten Herangehensweise liegt darin, zu wissen, was an der wissenschaftlichen Praxis mit dem Wettverhalten korrespondiert. Wahrschcinlichkeiten mit Graden subjektiver Uberzeugung gleichzusetzen, wie es Howson und Urbach tun, hat dagegen den Vorteil, deutlich zu machen, auf was sich die Wahrschcinlichkeiten beziehen. Zu versuchen, Wissenschaft und wissenschaftliches Denken in Begriffen subjektiver Uberzeugungen von Wissenschaftlern zu verstehen, scheint ein enttauschender Ausweg fiir die zu sein, die nach einem objektiven Beitrag zur Wissenschaft streben. Howson und Urbach haben eine Antwort auf dieses Problem. Sie bestehen weiter darauf, dass die bayessche Theorie eine objektive Theorie wissenschaftlichen SchlieBens ist. Das liegt daran, dass das bayessche Theorem bei gegebenen Priorwahrscheinlichkeiten und neuen Befunden auf objektive Art und Weise genau angibt, wie die Posteriorwahrscheinlichkeit unter Berucksichtigung dieser neuen Belege sein muss. Es gibt diesbeziiglich keinen Unterschied zwischen dem Bayesianismus und der deduktiven Logik, da die Logik sich nicht mit der Quelle von Vorannahmen befasst, die die Pramissen einer Deduktion bilden. Sie gibt lediglich an, was aus den Pramissen, wenn sie einmal aufgestellt sind, folgt. Doch die bayessche Verteidigung geht einen Schritt weiter. Es kann argumentiert werden, dass die Uberzeugungen von Wissenschaftlern, so sehr sie auch am Anfang differieren mogen, durch einen geeigneten Input von Befiinden kon-

146 vergieren konnen. Es ist leicht nachzuvollziehen, wie es dazu kommen kann. Nehmen wir an, zwei Wissenschafller sind zunachst uneins tiber den vermuteten Wahrheitsgehalt einer Hypothese h, die ansonsten nicht zu erwartende experimentelle Ergebnisse e vorhersagt. Derjenige, der h eine hohe Wahrscheinlichkeit zuweist, wird e als weniger unwahrscheinlich betrachten als der, der h eine niedrige Wahrscheinlichkeit zuweist. So wird P(e) flir Ersteren hoch und fur Letzteren niedrig sein. Nehmen wir nun an, dass e experimentell bestatigt wird, dann muss jeder der Wissenschafller die Wahrscheinlichkeiten fur h durch den Faktor P(e|h) / P(e) adjustieren. Nehmen wir aber an, dass sich e aus h ableiten lasst, nimmt P(e|h) den Wert 1 an, und der Faktor ist 1/P(e). Daraus folgt, dass der Wissenschaftler, der mit einer niedrigen Wahrscheinlichkeit flir h startet, diese mit einem hoheren Faktor gewichtet, als der, der mit einer hoheren Wahrscheinlichkeit begonnen hat. Je mehr positive Befunde dazukommen, desto hoher muss der vormalige Zweifler die Wahrscheinlichkeit nach oben setzen, eventuell bis zu dem Betrag des von Anfang an uberzeugten Wissenschaftlers. Auf diesem Weg, so argumentieren die Bayesianer, konnen sich stark differierende Meinungen als Folge von Befunden auf objektivem Weg annahern.

12.4 Anwendungsmoglichkeiten der bayesschen Formel Der vorausgegangene Abschnitt hat einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie Bayesianer das typische Denken im Rahmen der Wissenschaft beschrieben. In diesem wollen wir ein paar praktische Beispiele fiir den Bayesianismus anflihren. In fruheren Kapiteln wurde gezeigt, dass es eine Art Gesetz abnehmender Replikationsstudien gibt, wenn eine Theorie in Experimenten geprufl wird. Ist eine Theorie einmal durch ein Experiment bestatigt worden, wird eine Wiederholung des gleichen Experiments unter vergleichbaren Bedingungen nicht als eine ebenso Starke Bestatigung angesehen, wie dies bei dem ersten Experiment der Fall war. Dies kann mittels des bayesschen Theorems leicht begriindet werden. Sagt die Theorie T das experimentelle Ergebnis E vorher, so nimmt die Wahrscheinlichkeit P(E|T) den Wert 1 an. Damit ist der Faktor, durch den die Wahrscheinlichkeit von T auf der Grundlage eines positiven Ergebnisses E erhoht wird, 1/P(E). Jedes Mai, wenn ein Experiment erfolgreich durchgeflihrt wird, steigt die Erwartung des Wissenschaftlers, dass das Experiment auch beim nachsten Mai erfolgreich sein wird. Das bedeutet, dass P(E) steigt. Folglich wird der Wert, um den die Wahrscheinlichkeit, dass eine Theorie richtig ist, ansteigt, bei jeder Wiederholung geringer. Auch historisch gesehen spricht einiges fur den bayesschen Ansatz. Tatsachlich kann vermutet werden, dass die Auseinandersetzung von Bayesianern mit historischen Beispielen der Schlussel flir den in den letzten Jahren zu beobachtenden zunehmenden Erfolg des Ansatzes ist, ein Trend, der mit Dorling begann. In der Diskussion der Methodologie Lakatos' wurde festgestellt, dass entsprechend dieser Methodologie die Bestatigung eines Programms wichtiger ist, als eine auftretende Falsifikation, die eher den Annahmen des Schutzgtirtels als dem harten Kern zugeschrieben werden kann. Der bayessche Ansatz bietet die logische

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Grundlage fiir diese Strategic. An einem historischen Beispiel, das Howson und Urbach (1989, S. 87-102) heranziehen, soli dies deutlich gemacht werden. Das Beispiel bezieht sich auf eine Hypothese, die 1815 von William Prout vertreten wurde. Beeindruckt von der Tatsache, dass Atomgewichte chemischer Elemente, bezogen auf das Atomgewicht von Wasserstoff, immer naherungsweise ganzzahlig sind, vermutete Prout, dass die Atome von Elementen aus verschiedenen Anzahlen von Wasserstoffatomen bestehen. Prout konstatierte, dass Wasserstoffatome elementare Bausteine darstellen. Die Frage ist nun, was die rationale Antwort von Prout und seinen Anhangem war, als herausgefunden wurde, dass das Atomgewicht von Chlor relativ zu Wasserstoff (gemessen 1815) bei 35,83, also keiner ganzen Zahl, lag. Die bayessche Strategic liegt darin, Wahrscheinlichkeiten Werte zuzuweisen, die die Priorwahrschcinlichkeiten, die Prout und seine Anhanger ihrer Theoric zugeschrieben haben konnten sowie relevante Aspekt des Hintergrundwissens, zu berilcksichtigen. Auf dieser Basis wird das bayessche Theorem eingesetzt, um zu berechnen, wie sich diese Wahrscheinlichkeiten andem, wenn problematische Befunde auftreten - in diesem Fall das nicht ganzzahlige Atomgewicht von Chlor. Howson und Urbach versuchen, zu zeigen, dass das Resultat einer solchen Vorgehensweise darin besteht, dass die Wahrscheinlichkeit der proutschen Hypothese nur wenig fallt, wahrend die Wahrscheinlichkeit, dass die relevanten Messungen genau sind, dramatisch nachlasst. In diesem Licht erscheint es durchaus verntinftig, dass Prout seine Hypothese (den harten Kern) beibehielt und die Schuld bei einigen Aspekten des Messvorgangs (dem Schutzgurtel) suchte. Es scheint, dass damit dem, was in der Methodologie Lakatos' ohne dies naher zu begrtinden als „methodologische Entscheidungen" bezeichnet wird, eine logische Grundlage gegeben wird. Dartiber hinaus scheint es, als hatten Howson und Urbach, die sich Dorling anschlossen, eine generelle Losung des „Duheme-Quine-Problems" gefunden. Konfrontiert mit dem Problem, welchem Teil eines Netzes von Annahmen die Schuld an einer auftretenden Falsifikation gegeben werden soil, lautet die bayessche Antwort, die Priorwahrschcinlichkeiten einzusetzen und die Posteriorwahrscheinlichkeiten zu berechnen. Daraus ergibt sich, welche Annahmen zu einem starken Rtickgang der Wahrscheinlichkeiten fiihren und damit, welche Annahmen fallen gelassen werden sollen, um den zukiinftigen Erfolg zu maximieren. Ich will nicht auf die Details der Berechnungen zum Fall Prout oder irgendeines anderen Beispiels der Bayesianer eingehen, aber ich will doch wenigstens einen kurzen Eindruck von dem Weg, den sie beschreiten, geben. Prouts Hypothese h und der Effekt des Befiindes e, dem nicht ganzzahligen Atomgewicht von Chlor, auf die Wahrscheinlichkeit, die dieser Hypothese zugewiesen wird, muss im Kontext des verfligbaren Hintergrundwissens a beurteilt werden. Die relevantesten Aspekte des Hintergrundwissens sind das Vertrauen in die verfiigbaren Techniken zur Bestimmung des Atomgewichts und der Reinheitsgrad der verwendeten Chemikalien. Schatzungen fur die Eingangswahrscheinlichkeiten von h, a und e mtissen vorgenommen werden. Howson und Urbach nahmen fur P(h) einen Wert von 0,9 an. Dabei gingen sie von der historischen Tatsache aus, dass die Proutianer von ihrer Hypothese sehr liberzeugt waren. Sie setzten P(a) auf den etwas niedrigeren Wert 0,6, weil sich die Chemiker des Problems von Unreinheiten

148 bewusst waren und well es Schwankungen der Ergebnisse verschiedener Messungen vom Atomgewicht bestimmter Elemente gab. Die Wahrscheinlichkeit von P(e) wurde auf der Gmndlage der Annahme festgelegt, dass die Alternative zu h eine zufallige Verteilung von Atomgewichten ist. P(e| nicht h & a) wurde daher der Wert 0,01 zugewiesen, weil sich bei einer zufalligen Verteilung von Atomgewichten eine einprozentige Wahrscheinlichkeit fur ein Gewicht von 35,83 ergibt. Diese und ein paar andere Wahrscheinlichkeiten werden in das bayessche Theorem eingesetzt, um die Posteriorwahrscheinlichkeiten P(h|e) und P(a|e) fur h und a zu erhalten. Die Ergebnisse sind 0,878 (fur h) und 0,073 (fur a). Festzustellen ist, dass sich die Wahrscheinlichkeit h flir Prouts Hypothese nur geringfiigig von der urspriinglichen Wahrscheinlichkeit von 0,9 unterscheidet, wahrend die Wahrscheinlichkeit a, also die Annahme, dass die Messungen zuverlassig sind, dramatisch vom Wert 0,6 auf den Wert 0,073 fallt. Howson und Urbach schlieBen daraus, dass es fur die Proutianer eine rationale Reaktion war, ihre Hypothese beizubehalten und die Messungen anzuzweifeln. Sie weisen darauf hin, dass die in die Formel eingesetzten absoluten Werte nicht von allzu groBer Bedeutung sind, solange ihre relative Hohe die sich aus der historischen Literatur ergebenden Einschatzungen der Proutianer widerspiegeln. Der bayessche Ansatz kann herangezogen werden, um einige der Standardbeitrage zur Unerwtinschtheit von Ad-hoc-UypothQSQn und ahnlichen Themen infrage zu stellen. Weiter oben wurde in Anlehnung an Popper der Gedanke vorgestellt, dass Ad-hoc-HypothQSQn deswegen nicht wiinschenswert sind, weil sie nicht unabhangig von den Befunden geprtift werden konnen, die zu ihrer Formulierung gefuhrt haben. Vergleichbar ist die Annahme, dass Befunde, die zur Konstruktion einer Theorie herangezogen wurden, nicht gleichzeitig als Beleg fur diese Theorie verwendet werden konnen. Auch wenn dies manchmal zu angemessenen Antworten darauf, wie gut eine Theorie durch Belege bestatigt ist, fiihrt, kann dieser Gedanke aus bayesscher Sicht auch in die Irre fuhren. Daruber hinaus wird die zugrundeliegende Logik falsch verstanden. Die Bayesianer bieten hier folgende Losung an. Bayesianer stimmen der Meinung zu, dass eine Theorie besser durch eine gewisse Variationsbreite von Befunden bestatigt ist, als durch bestimmte einzelne Belege. Eine einfache bayessche Logik erklart, warum das so sein muss: Bemuhungen, eine Theorie durch ein und denselben Befund zu bestatigen, werden immer seltener. Das folgt aus der Tatsache, dass mit jedem Versuch, eine Theorie durch denselben Befund zu bestatigen, die Wahrscheinlichkeit, dass dieser erfolgreich sein wird, zunimmt. Im Gegensatz dazu ist die Priorwahrscheinlichkeit, dass ein neuartiger Befund die Theorie bestatigen wird, vergleichsweise niedrig. Wird ein solcher Wert in die bayessche Formel eingesetzt, fiihrt er zu einem signifikanten Anstieg der Wahrscheinlichkeit der Theorie. Die Bedeutung unabhangiger Befunde steht auBer Frage. Dennoch drangen Howson und Urbach darauf, dass das Fehlen unabhangiger Cberprufungen kein geeigneter Grund zur (Dis-)Qualifizierung einer Hypothese als Ad-hoc-HypothesQ ist. Sie gehen sogar so weit, zu leugnen, dass Daten, die zur Konstruktion einer Theorie herangezogen wurden, nicht verwendet werden konnen, um sie zu bestatigen.

149 Das Hauptproblem des Versuchs, Ad-hoc-HypothQSQn durch die Forderung unabhangiger LFberprufung auszuschlieBen, liegt darin, dass dieses Kriterium zu schwach ist und Hypothesen zulasst, die zumindest unserer Intuition widersprechen. Betrachten wir zum Beispiel den Versuch eines Rivalen von Galilei, trotz der Beobachtung von Mondkratem seine Annahme, der Mond sei kugelformig, aufrechtzuerhalten, indem er die Existenz einer transparenten kristallinen Substanz annahm, die den beobachtbaren Mond umgibt. Diese Annahme kann mittels des Kriteriums unabhangiger Uberpriifung nicht zuruckgewiesen werden. Das zeigt die Tatsache, dass sie durch das wahrend verschiedener Mondlandungen festgestellte Fehlen solcher kristalliner Spharen verworfen werden konnte. Bamford (1993) hat diese und andere Schwierigkeiten mit den vielfaltigen Versuchen, den Begriff ad hoc durch Philosophen der popperschen Tradition zu definieren, eingebracht. Er vermutet, dass sie versuchen, einen technischen Begriff fiir etwas zu definieren, was nicht mehr ist als eine triviale Annahme. Obwohl Bamfords Kritik nicht vom bayesschen Ansatz ausgeht, lautet die Erwiderung von Howson und Urbach insofern ahnlich, als sie meinen, dass ^(i-/zoc-Hypothesen zuruckgewiesen werden mtissen, weil sie als unplausibel erachtet werden und daher eine niedrige Wahrscheinlichkeit zugewiesen bekommen. Nehmen wir an, eine Theorie t gerat durch einige problematische Befunde in Schwierigkeiten und wird modifiziert, indem die zusatzliche Annahme a hinzugenommen wird, sodass die neue Theorie t als (t & a) bezeichnet werden kann. Aus Sicht der Wahrscheinlichkeitsrechnung gilt dann, dass P(t & a) nicht groBer sein kann als P(a). Aus bayesscher Sicht wird daher die modifizierte Theorie eine niedrige Wahrscheinlichkeit haben, weil P(a) wenig wahrscheinlich ist. Die Theorie des Rivalen von Galilei kann in dem Umfang zuruckgewiesen werden, in dem seine Annahme unplausibel ist. Wenden wir uns nun dem Gebrauch von Daten zur Konstruktion einer Theorie und dem Zuriickweisen der Aussage, sie konnten nicht ebenfalls zu ihrer Unterstiitzung verwendet werden, zu. Howson und Urbach (1989, S. 275ff) geben Gegenbeispiele. Stellen wir uns eine Ume vor, die Spielmarken enthalt, und nehmen wir an, dass alle Spielmarken weiB, nicht farbig sind. Nehmen wir weiter an, wir Ziehen 1000 Mai eine Spielmarke, wobei wir nach jedem Zug die Marke zuriicklegen und die Urne schiitteln, und das Ergebnis sei, dass 495 der Spielmarken weiB sind. Nun verandem wir unsere Hypothese dahingehend, dass die Urne zu gleichen Teilen weiBe und farbige Spielmarken enthalt. Wird diese veranderte Hypothese durch die gleichen Befunde untersttitzt, die zum Zustandekommen dieser Hypothese geftihrt haben? Howson und Urbach vermuten durchaus nachvollziehbar, dass dem so ist, und zeigen das mittels bayesscher Begrundungen. Der kritische Faktor, nach dem die Wahrscheinlichkeit der Hypothese einer Gleichverteilung der Spielmarken als Resultat des Experiments steigt, bei dem 495 weiBe Spielmarken gezogen wurden, ist die Wahrscheinlichkeit, mit der diese Zahl gezogen wurde, wenn die Hypothese falsch ware. In dem Moment, wo zugestanden wird, dass diese Wahrscheinlichkeit gering ist, folgt klar, dass das Ergebnis des Experiments die Hypothese gleicher Anteile bestatigt, auch wenn die Hypothese zur Konstruktion der Daten eingesetzt wurde. Es gibt eine Standardkritik, die haufig an einige Versionen des bayesschen Ansatzes gerichtet wird, die die Version von Howson und Urbach entkraften kann.

150 Um das bayessche Theorem einsetzen zu konnen, muss die Priorwahrscheinlichkeit eines infrage stehenden Refunds P(e) bestimmt werden. Wird eine Hypothese h angenommen, ist es iiblich P(e) als P(e|h) • P(h) + P(e | nicht h) • P(nicht h) zu schreiben. Bayesianer miissen sowohl in der Lage sein, die Wahrscheinlichkeit des Befiindes unter der Bedingung, dass die Hypothese richtig ist, zu schatzen, als auch die Wahrscheinlichkeit des Befundes unter der Bedingung, dass die Hypothese nicht stimmt. Hier erscheint es notwendig, die Wahrscheinlichkeit des Befiindes im Lichte aller anderen Hypothesen auBer h zu schatzen. Das wird als enormes Hindemis angesehen, weil kein Wissenschaftler in der Lage ist, alle moglichen Altemativen zu h zu kennen, im Besonderen, wenn, wie manche annehmen, alle bisher nicht bekannten Hypothesen eingeschlossen sein mussen. Die Antwort von Howson und Urbach ist, dass die Wahrscheinlichkeiten ihrer bayesschen Berechnungen personliche Wahrscheinlichkeiten darstellen, die Individuen verschiedene Aussagen zuweisen. Die Hohe der Wahrscheinlichkeit, dass ein Befund im Lichte einer Alternative zu h richtig ist, wird von einem Wissenschaftler vor dem Hintergrund dessen bestimmt, was der Wissenschaftler weiB (was mit Sicherheit bisher noch nicht entwickelte Hypothesen ausschlieBt). So zogen Howson und Urbach zum Beispiel im Falle Prouts nur eine Alternative zu seiner Hypothese heran - die Hypothese, dass sich Atomgewichte zufallig verteilen und nahmen dabei auf historische Belege Bezug, nach denen die Proutianer dies fUr die einzige Alternative hielten. Es ist der durchgangige Bezug auf subjektive Wahrscheinlichkeiten, der es Howson und Urbach moglich macht, das oben angesprochene Problem zu vermeiden. In meiner Darstellung der bayesschen Wissenschaftsanalyse habe ich mich hauptsachlich auf die von Howson und Urbach vertretene Position konzentriert, weil mir scheint, dass sie die wenigsten Inkonsistenzen enthalt. Durch die Interpretation von Wahrscheinlichkeiten als Abstuflingen von Uberzeugungen, die Wissenschaftler in der je aktuellen Situation haben, ermoglicht es ihr System, dass Theorien und Hypothesen Wahrscheinlichkeiten ungleich Null zugewiesen werden. Es leistet dartiber hinaus einen prazisen Beitrag dazu, wie Wahrscheinlichkeiten im Licht von Befimden modifiziert werden mussen und ist in der Lage, eine logische Grundlage dafur zu geben, was fiir die Schlusselmerkmale der wissenschaftlichen Methode gehalten wird. Howson und Urbach erganzen ihr System mit historischen Fallstudien.

12.5 Kritik am subjektiven Bayesianismus Wir haben gesehen, dass der subjektive Bayesianismus den Vorteil hat, dass er viele Probleme alternativer bayesscher Ansatze, die nach irgendwie gearteten objektiven Wahrscheinlichkeiten suchen, vermeidet. Subjektive Wahrscheinlichkeiten anzunehmen, ist jedoch fiir viele ein zu hoher Preis ftir den Luxus, Theorien Wahrscheinlichkeiten zuweisen zu konnen. Werden Wahrscheinlichkeiten in dem Umfang, wie es von Howson und Urbach gefordert wird, als subjektiv angesehen, ergeben sich eine Reihe unerwiinschter Konsequenzen.

151 Die Art des SchlieBens im bayesschen Ansatz wird als objektiv dargestellt, wobei auf der Grundlage gegebener Untersuchungsbefunde Priorwahrscheinlichkeiten in Posteriorwahrscheinlichkeiten transformiert werden. Aus dieser Sichtweise folgt, dass unterschiedliche Standpunkte von Vertretem rivalisierender Forschungsprogramme, Paradigmen oder was auch immer, die die Posterior(Uberzeugungen) von Wissenschaftlern widerspiegeln, auf den Priorwahrscheinlichkeiten dieser Wissenschaftler basieren mtissen, da die Befunde als gegeben hingenommen werden und das SchlieBen als objektiv erachtet wird. Die Priorwahrscheinlichkeiten sind jedoch subjektiv und nicht Gegenstand kritischer Analysen. Sie reflektieren das unterschiedliche AusmaB der Uberzeugung individueller Wissenschaftler. In der Folge werde diejenigen, die nach den relativen Verdiensten konkurrierender Theorien fragen und danach, in welchem Sinne gesagt werden kann, dass Wissenschafl voranschreitet, vom subjektiven Bayesianismus keine Antworten erhalten, auch wenn sie mit einer Antwort, die sich auf Uberzeugungen individueller Wissenschaftler bezieht, durchaus zufirieden sind. Wenn der subjektive Bayesianismus den Schliissel zum Verstandnis der Wissenschaft und ihrer Geschichte darstellt, ist seine wichtigste Informationsquelle zum Erwerb dieses Verstandnisses das AusmaB an Uberzeugung, das Wissenschaftler haben oder hatten (die andere Quelle sind die oben diskutierten Untersuchungsbefunde). So erfordert zum Beispiel das Verstehen der tJberlegenheit der Wellentheorie uber die Teilchentheorie des Lichts einiges an Wissen dartiber, wie uberzeugt Fresnel und Poisson von dem Wissen waren, das sie in die Debatte der frlihen 30er Jahre des 18. Jahrhunderts einbrachten. Es gibt dabei zwei Probleme. Das eine liegt darin, Zugang zu diesen privaten Uberzeugungen zu erhalten (es sei daran erinnert, dass Howson und Urbach zwischen privaten Uberzeugungen und Verhalten unterscheiden und darauf beharren, dass sich ihr Ansatz auf Erstere bezieht, sodass wir von dem, was Wissenschaftler tun oder sogar schreiben, nicht auf ihre Uberzeugungen schlieBen konnen). Das zweite Problem ist die mangelnde Plausibilitat des Gedankens, dass wir den Zugang zu privaten LFberzeugungen benotigen, um zu erfassen, in welchem Sinne zum Beispiel die Wellentheorie des Lichts eine Verbesserung gegentiber ihrer Vorgangerin darstellt. Das Problem verscharft sich, wenn wir das AusmaB an Komplexitat modemer Wissenschaft und den Umfang, in dem sie gemeinsamer Arbeit bedarf, in den Mittelpunkt unserer Aufinerksamkeit stellen (siehe auch den Vergleich mit Arbeitem, die am Bau einer Kathedrale beteiligt sind, in Kapitel 8). Ein extremes Beispiel gibt Peter Galison (1997) mit seiner Darstellung des Forschungsbetriebs in der heutigen Elementarteilchenphysik, wo in der Folge experimentellen Arbeiiens anspruchsvolle mathematische Theorien entwickelt werden, die eine elaborierte Computertechnologie und Instrumentarien mit modemster Technik voraussetzen. In Situationen wie dieser gibt es keine einzelne Person, die alle Aspekte dieser komplexen Situation erfasst. Der theoretische Physiker, der Programmierer von Computerprogrammen, der Ingenieur und der experimentelle Physiker haben jeweils eigenstandige Fahigkeiten, die in einem gemeinsamen Projekt aufeinander bezogen werden mtissen. Wenn die Fortschrittlichkeit dieser Untemehmung als Konzentration auf den Umfang von Uberzeugungen verstanden wird, dann stellt sich die Frage, auf wessen LFberzeugung wir vertrauen und warum.

152 Das AusmaB, in dem nach Howsons und Urbachs Analyse Uberzeugungen von Priorwahrscheinlichkeiten abhangen, stellt ein anderes Problem dar. Setzt man voraus, dass ein Wissenschaftler stark genug an eine Theorie glaubt, um an ihr zu arbeiten (der bayessche Ansatz bietet keine Moglichkeit, Uberzeugungen beliebiger Starke zu vermeiden), so mag es erscheinen, dass diese Uberzeugung durch keine gegenteiligen Befunde erschtxttert werden kann, wie stark und weitreichend auch immer sie sein mogen. In der Tat wird dieser Aspekt durch die Studie zu Front illustriert, dieselbe Studie, die Howson und Urbach zur Unterstiitzung ihrer Position heranziehen. Erinnern wir uns daran, dass die Proutianer von einer Priorwahrscheinlichkeit von 0,9 fur ihre Theorie, nach der Atomgewichte das Vielfache des Atomgewichts von Wasserstoff besitzen, ausgingen und eine Priorwahrscheinlichkeit von 0,6 dafur annahmen, dass das die Messungen des Atomgewichts ausreichend genaue Wiedergaben des tatsachlichen Atomgewichts darstellen. Die Posteriorwahrscheinlichkeiten, die vor dem Hintergrund des Wertes 35,83 fiir Chlor berechnet wurden, lagen bei 0,878 fiir Prouts Theorie und 0,073 fur die Annahme, dass die Experimente reliabel sind. Damit batten die Proutianer Recht, an ihrer Theorie festzuhalten und die Untersuchungsbefunde als falsch zuriickzuweisen. Hinter Prouts Hypothese stand ursprunglich, dass eine Reihe anderer Atomgewichte als das von Chlor nahemngsweise ganzzahlige Werte aufwies, wobei jedoch diese Atomgewichte mit genau den Techniken bestimmt wurden, die die Proutianer als so wenig reliabel beurteilten, dass sie ihnen lediglich eine Wahrscheinlichkeit von 0,073 zuwiesen! Zeigt das nicht, dass Wissenschaftler, wenn sie nur dogmatisch genug sind, jeden ungtinstigen Befimd ausgleichen konnen? Sofem dies der Fall ist, hat der subjektive Bayesianismus keine Moglichkeit, solche Aktivitaten als schlechte wissenschaftliche Praxis zu identifizieren. Die Priorwahrscheinlichkeiten konnen nicht beurteilt werden, sie miissen einfach als gegeben hingenommen werden. Wie Howson und Urbach (1989, S. 273) selbst betonen, „stehen sie auch nicht in der Verpflichtung, die Methoden mit denen Priorwahrscheinlichkeiten bestimmt werden, zu beurteilen". Bayesianer scheinen die poppersche Behauptung, die Wahrscheinlichkeiten aller Theorien seien Null, insofem widerlegen zu konnen, als sie diese Wahrscheinlichkeiten mit den je spezifischen Uberzeugungsgraden von Wissenschaftlern gleichsetzen. Dennoch ist die bayessche Position nicht so einfach, da Bayesianer mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten miissen, die nicht direkt zuganglich sind und daher nicht mit den aktuell herrschenden Uberzeugungen gleichgesetzt werden konnen. Betrachten wir zum Beispiel die Frage der Relevanz von in der Vergangenheit erbrachten Befunden. Wie konnen die Beobachtungen der Umlaufbahn des Merkurs als Bestatigung der einsteinschen Relativitatstheorie herangezogen werden, wo diese Beobachtungen der Theorie doch um Jahrzehnte vorausgingen? Um die Wahrscheinlichkeit der einsteinschen Theorie im Lichte dieser Befunde zu berechnen, muss der subjektive Bayesianismus unter anderem ein MaB fiir die Wahrscheinlichkeit bereitstellen, die ein Anhanger Einsteins der Wahrscheinlichkeit der Umlauft}ahn vom Merkur ohne Kenntnis der einsteinschen Theorie zuweisen wtirde. Diese Wahrscheinlichkeit ist kein MaB ftir den LFberzeugungsgrad, den ein Forscher aktuell hat, sondem ein MaB fiir den LFberzeugungsgrad, den er hatte, wenn er nicht den Kenntnisstand besaBe, iiber den er tatsachlich verfligt. Um es

153 milde auszudriicken, bereiten der Status solcher Uberzeugungsgrade und die Frage, wie sie geschatzt werden sollen, ernsthafte Probleme. Wenden wir uns nun der Natur der „Befunde" im subjektiven Bayesianismus zu. Wir haben Befiinde als etwas behandelt, das in das bayessche Theorem eingesetzt wird, um Priorwahrscheinlichkeiten in Posteriorwahrscheinlichkeiten zu konvertieren. Wie die Diskussion in vorangegangenen Kapiteln dieses Buches deutlich gemacht haben sollte, sind Befunde jedoch in der Wissenschaft weit davon entfemt, einfach gegeben zu sein. Der Standpunkt Howsons und Urbachs (1989, S. 272) ist explizit und stimmt mit ihrer allgemeinen Herangehensweise tiberein. Die bayessche Theorie, die wir vorschlagen, ist eine Theorie des Schlussfolgems aus den Daten; wir sagen nichts dariiber aus, ob es richtig ist, die Daten anzuerkennen und ob man den Daten gegeniiber absolut verpflichtet ist. Vielleicht ist man es nicht - dann ware es toricht, ein derartiges Vertrauen in die Daten zu setzen, wie dies gegenwartig getan wird. Die bayessche Theorie der Unterstutzung besagt, dass die Anerkennung einer evidenten Behauptung als wahr den Glauben an eine Hypothese beeinflusst. Wie man dazu kommt, die Evidenz als wahr anzuerkennen, und ob es richtig ist, sie als wahr anzuerkennen, ist eine Frage, die vom Standpunkt der Theorie aus urelevant ist. Dies ist mit Sicherheit eine vollig unannehmbare Position fur jemanden, der vorhat, ein Buch iiber wissenschaftliches Denken zu schreiben. Suchen wu* nicht ein Konzept dazu, was als angemessener Befund gelten kann? Sicher wird ein Wissenschaftler auf einen Untersuchungsbefund nicht reagieren, indem er den Wissenschaftler, der ihn erbracht, danach fragt, wie tiberzeugt er von diesem Befund ist. Er wird vielmehr Informationen zur Natur des Experiments, das den Befund erbracht hat, einholen sowie zu den VorsichtsmaBnahmen, die getroffen wurden, wie die Fehlerwahrscheinlichkeit geschatzt wurde usw. Erne gute Theorie der wissenschafllichen Methode ist sicher gefordert, einen Beitrag zu den Umstanden zu leisten, unter denen ein Befiind als angemessen gelten kann. Gleichzeitig sollte sie in der Lage sein, exakte Standards empirischer Arbeit zu bestimmen, nach denen sich wissenschaftliches Arbeiten richten sollte, Sicherlich haben experimentell arbeitende Wissenschaftler eine Reihe anderer Wege, minderwertige Arbeiten zuriickzuweisen, als sich auf subjektive LFberzeugungsgrade zu beziehen. Vor allem wenn sie sich mit Kritik auseinandersetzen, legen Howson und Urbach besonderen Wert darauf, dass beide, die Priorwahrscheinlichkeiten und die Befunde, die in das bayessche Theorem eingesetzt werden mtissen, subjektive LFberzeugungsgrade sind, die der subjektive Bayesianismus nicht weiter hinterfragt. Aber was bleibt dann von ihrer Position, die als Theorie der wissenschafllichen Methode bezeichnet werden kann? Was bleibt, ist ein Theorem der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Gestehen wir Howson und Urbach zu, dass ihre Version des Bayesianismus tatsachlich ein der deduktiven Logik verwandtes Theorem ist, macht dieses groBztigige Zugestandnis die Grenzen ihrer Position deutlich. Ihre

154 Theorie der wissenschaftlichen Methode sagt uns nicht mehr iiber Wissenschaft, als dass beobachtet werden kann, dass Wissenschaft dem Diktat der deduktiven Logik verhaftet bleibt. Der GroBteil der Wissenschaftsphilosophen wtirde zugestehen, dass die Wissenschaft die deduktive Logik ftir selbstverstandlich halt, wurde jedoch einen Ansatz bevorzugen, der dariiber hinausgeht.

Weiterfiihrende Literatur Dorling (1979) veroffentlichte einen einflussreichen Aufsatz, der den subjektiven Bayesianismus bekannt machte, und Howson und Urbach (1989) liefem einen nachhaltigen und unerschrockenen Beitrag dazu. Horwich (1982) stellt einen weiteren Versuch vor, Wissenschaft im Sinne subjektiver Wahrscheinlichkeiten zu verstehen. Rosenkrantz (1977) versucht, einen bayesschen Beitrag zur Wissenschaft zu leisten, der sich auf objektive Wahrscheinlichkeiten bezieht. Earman (1992) bietet eine kritische, aber auch sehr technische Wtirdigung des bayesschen Programms. Bei Mayo (1996) fmdet sich eine ausfuhrliche Kritik am Bayesianismus.

13 Der Neue Experimentalismus

13.1 Einfiihrung Wenn wir den bayesschen Ansatz als Fehlschlag einschatzen, haben wir zur Charakterisierung dessen, was das Besondere an wissenschaftlicher Erkenntnis ist, noch nichts beigetragen. Popper stellte den Positivismus und den Induktivismus vor Probleme, indem er die Theorieabhangigkeit von Beobachtungen deutlich machte. Gleichzeitig zeigte er auf, dass Theorien nicht aus dem Evidenten gewonnen werden konnen, well sie daruber hinausgehen. Poppers Beitrag zur Wissenschaft bestand darin, dass die besten Theorien diejenigen sind, die emsthaften LFberprtifungen standhalten. Dennoch war sein Ansatz weder dazu in der Lage, Richtlinien dafur zu geben, wann die Theorie und wann ein Element des Hintergrundwissens fur eine Falsifikation verantwortlich gemacht werden kann, noch macht er Aussagen zu Charakteristika von Theorien, denen es gelang, einer Oberpriifung standzuhalten. Die auf Popper folgenden Ansatze, die diskutiert wurden, beinhalteten alle eine Weiterentwicklung der popperschen Ideen zur Theorieabhangigkeit. Lakatos stellte das Konzept der Forschungsprogramme vor, deren Aufrechterhaltung oder Widerlegung er als abhangig von konventionellen Entscheidungen sah, Entscheidungen, die zum Beispiel eher Hilfshypothesen fur auftretende Falsifikation verantwortlich machen als den harten Kern selbst. Dennoch war er kaum in der Lage, Griinde fur diese Entscheidungen anzugeben, bzw. sie waren zu schwach, um zu spezifizieren, wann es Zeit ist, ein Forschungsprogramm zugunsten eines anderen aufzugeben. Kuhn ging nicht von Forschungsprogrammen, sondem von Paradigmen aus, womit er ein AusmaB an Paradigmenabhangigkeit der Wissenschaft einfuhrte, das wesentlich weiter reichte als Poppers Theorieabhangigkeit. Er hatte noch mehr Schwierigkeiten als Lakatos, eine klare Antwort auf die Frage zu geben, in welchem Sinne von einem Paradigma gesagt werden kann, dass es eine Verbesserung gegentiber dem darstellt, das es ersetzt. Feyerabend trieb die Idee der Theorieabhangigkeit zum AuBersten, indem er den Gedanken spezieller Methoden und MaBstabe fur die gesamte Wissenschaft aufgab und wie Kuhn rivalisierende Theorien als inkommensurabel darstellte. Die Bayesianer konnen auch als Anhanger dessen, was hier die Tradition der Theorie-

156 abhangigkeit genannt werden soil, bezeichnet werden. Fur sie wird das theoretische Hintergmndwissen, das Informationen tiber die Verdienste wissenschaftlicher Theorien liefert, auf dem Weg der Priorwahrscheinlichkeiten eingebracht. Nach Ansicht einer weiteren Gruppe von Philosophen muss der Vielfalt der Probleme zeitgenossischer Philosophen entgegengetreten werden, indem die Bewegung hin zu radikaler Theorieabhangigkeit grundsatzlich in Angriff genommen wird. Auch wenn sie nicht zu der positivistischen Idee, dass die Sinne eine unproblematische Basis fiir die Wissenschaft bereitstellen, zurtickkehren wollen, suchen sie doch nach einer relativ sicheren Basis der Wissenschaft, allerdings nicht in der Beobachtung, sondem im Experiment. Ich werde mich Ackerman (1989) anschlieBen und diesen jiingsten Trend als „den neuen Experimentalismus" bezeichnen. Nach seinen Verfechtern kann das Experiment, um es in den Worten Hackings (1996, S. 10) auszudrticken, ein „Eigenleben" jenseits groB angelegter Theorien besitzen. Es wird argumentiert, dass Experimentalisten eine groBe Spannbreite von Moglichkeiten zur Verfiigung steht, die Realitat experimenteller Effekte ohne einen Ruckbezug auf Theoriengebaude feststellen zu konnen. Unbertihrt von Aussagen, nach denen wissenschaftliche Revolutionen groB angelegte Theorienwechsel beinhalten, kann dartiber hinaus dann, wenn wissenschaftlicher Fortschritt als kontinuierlicher Auft^au des Bestands wissenschaftlicher Erkenntnis gesehen wird, die Idee kumulativen Fortschritts der Wissenschaft wieder aufgegriffen werden. 13.2 Zur Eigenstandigkeit von Experimenten In enger Anlehnung an Gooding (1990) beginnen wir mit einer historischen Episode. Im Spatsommer des Jahres 1820 erreichten Berichte von Oersteds Entdeckung England, dass die magnetische Kraft eines stromdurchflossenen Drahtes in gewisser Weise um den Draht zirkuliert. Faraday ftihrte einige Experimente durch, um zu klaren, was hinter diesem Phanomen steckte und um die Sache weiterzuentwickeln. Innerhalb weniger Monate hatte er so etwas wie einen primitiven Elektromotor entwickelt. Ein zylindrisches Glasrohr war oben und unten mit Kork abgedichtet. Ein Draht lief durch die Mitte des oberen Korks und endete in einem Haken, an dem in vertikaler Richtung ein weiterer Draht hing. Dessen unteres Ende konnte um das Oberteil eines Weicheisenzylinders rotieren, der aus dem Kork am Boden des Zylinders heraus ragte. Der elektrische Kontakt zwischen dem unteren Ende des hangenden Drahts und dem Eisenkern wurde durch Quecksilber auf dem unteren Kork hergestellt. Um diesen „Motor" zu aktivieren, wurde ein Magnet an das aus dem Kork heraus ragende Ende des Eisenkerns gehalten, wahrend ein leitender Draht den Eisenkern tiber eine galvanische Zelle mit dem Draht verband, der aus dem oberen Kork heraus ragte. Der entstehende Strom bewirkte, dass der hangende Draht um das magnetisierte Eisen rotierte, solange er Kontakt mit dem Quecksilber hatte. Faraday schickte sofort einige dieser Vorrichtungen, zusammen mit Instruktionen wie man sie in Gang setzt, an seine europaischen Gegenspieler. Er wies darauf hin, dass die Richtung der Rotation entweder durch Umpolung an der Stromquelle oder durch Umdrehen des Magnets verandert werden kann.

157 1st es nutzlich oder zutreffend, diese Leistung Faradays als theorieabhangig Oder fehlbar zu betrachten? Sie kann in einem sehr schwachen Sinn als theorieabhangig bezeichnet werden. Faradays Gegenspieler hatten seinen Instruktionen nicht folgen konnen, wenn sie nicht gewusst hatten, was Magnet, Quecksilber oder Strom sind. Aber das lauft lediglich auf eine Widerlegung eines extrem empiristischen Ideals hinaus, nachdem Tatsachen direkt durch das Eintreten sensorischer Information in das Gehim entstehen konnen, das sonst keinerlei Wissen besitzt. Keiner wird leugnen, dass jemand, der einen Magneten nicht von einer Karotte unterscheiden kann, nicht in der Lage ist, Erscheinungen des Elektromagnetismus richtig zu beurteilen. Es ist sicher nicht angebracht, den Begriff „Theorie" in so allgemeinem Sinn zu benutzen, dass der Satz „Karotten sind keine Magnete" zu einer Theorie wird. Daruber hinaus ist es zum Erfassen der genuinen Unterschiede zwischen den Interessen Faradays und Amperes wenig hilfreich, alles Gesprochene als „theorieabhangig" zu bezeichnen. Wie allgemein bekannt ist, verstand Faraday elektrische und magnetische Phanomene als Kraftlinien, die von elektrisch geladenen Korpern und Magneten ausgehen und den Raum um diese Korper herum ausfullen, wahrend kontinentale Theoretiker an elektrische Fluida dachten, die sich in Isolatoren befmden, durch Leiter flieBen und in der Distanz aufeinander einwirken sollten. Das waren die kursierenden Theorien, und die Anerkennung von Faradays Motor war nicht in dem Sinne „theorieabhangig", als sie von der Akzeptanz oder Vertrautheit mit einer der rivalisierenden Theorien abhing. Innerhalb des damaligen Elektromagnetismus stellte Faradays Motor einen experimentell geschaffenen theorieneutralen Effekt dar, der alle elektromagnetischen Theorien zu einer Erklarung verpflichtete. Es ist auch nicht hilfreich, Faradays Motor als fehlbar zu betrachten. Es ist richtig, dass Faradays Motor manchmal nicht funktionierte, weil zum Beispiel der Magnet zu schwach war oder weil der Draht so weit in das Quecksilber reichte, dass es der Rotation zu viel Widerstand entgegensetzte. Konsequenterweise ist die Aussage „Alle Drahte, die in einem experimentellen Aufbau, der der Beschreibung Faradays entspricht, angebracht sind, rotieren" falsch. Das bedeutet jedoch nur, dass Versuche, den Gehalt der faradayschen Entdeckung mittels derartiger allgemeiner Aussagen zu fassen, ungeeignet sind. Faraday entdeckte einen neuen experimentellen Effekt, demonstrierte ihn, indem er eine Abwandlung seiner Vorrichtung konstruierte, die funktionierte und gab seinen Rivalen Instruktionen, nach denen sie ebenfalls eine funktionsttichtige Vorrichtung aufbauen konnten. Einzelne Misserfolge sind weder uberraschend noch relevant. Die theoretischen Erklarungen des faradayschen Motors, die heute akzeptiert wurden, unterscheiden sich deutlich von denen Faradays und Amperes. Fest steht jedoch, dass Faradays Motor normalerweise lauft. Es ist kaum anzunehmen, dass zukunftige Fortschritte in der Theorie zu dem Schluss fuhren konnen, dass elektrische Motoren nicht fiinktionieren (jenseits der Tatsache, dass diese Fortschritte wiederum durch zukunftige Entdeckungen anderer experimenteller Effekte fur obsolet erklart werden konnten). Von dieser Perspektive aus betrachtet sind kontrolliert hergestellte experimentelle Effekte nicht fehlbar, sie sind von Dauer. Wenn wir wissenschaftlichen Fortschritt als Akkumulation solcher Effekte verstehen, erlangen wir daruber hinaus ein theorieunabhangiges Verstandnis seines Anwachsens.

158 Bin zweites Beispiel unterstutzt diese Sichtweise. Buchwalds (1989) detaillierte Studie der Karriere von Heinrich Hertz zeigt auf, wie stark Hertz anstrebte, neuartige experimentelle Effekte zu erlangen. Einige seiner Versuche, dies zu erreichen, fanden keine allgemeine Akzeptanz. Es ist nicht schwer festzustellen, warum dies so war. Hertz wurde mit dem Elektromagnetismus durch Helmholtz vertraut gemacht und sah Elektromagnetismus aus der Sicht der helmholtzschen Theorie, die nur eine von vielen gangigen Ansatzen zum Elektromagnetismus war (die Hauptaltemativen waren die von Weber und Maxwell). Dass die experimentellen Entdeckungen von Hertz neuartige Effekte erbrachten, konnte nur gewtirdigt und verteidigt werden, wenn auch die Details der von ihm in seinen Experimenten eingebrachten theoretischen Interpretationen gewtirdigt und verteidigt wurden. Diese Ergebnisse waren hochgradig theorieabhangig und genau darin, so mag ein neuer Experimentalist argumentieren, liegt der Grund, dass sie nicht allgemein als etwas anerkannt wurden, das neuartige Effekte erbringt. Das anderte sich, als Hertz seine elektrischen Wellen produziert hatte. Dass es solche Wellen gab, konnte unabhangig von einer zugrundeliegenden Theorie demonstriert werden. Hertz war in der Lage, diesen neuen Effekt kontrolliert herzustellen. Er stellte stehende Wellen her und wies nach, dass kleine Funkendetektoren an den Schwingungsbauchen maximale Funkenbildung zeigten, wahrend an den Schwingungsknoten keine Funkenbildung zu registrieren war. Wie Buchwald bei eigenen Versuchen feststellte, war dies keineswegs leicht zu erreichen, noch waren die Resultate einfach zu reproduzieren. Es wird jedoch nicht behauptet, dass Experimente einfach seien. Es soil lediglich die Tatsache festgehalten werden, dass Experimente, die die Existenz eines neuen experimentell produzierten Effekts demonstrieren, ohne RUckgriff auf die eine oder andere konkurrierende Theorie gewurdigt werden konnen. Das ergibt sich schon aus der Geschwindigkeit, mit der Hertz' Wellen akzeptiert wurden. Die Herstellung kontrollierter experimenteller Effekte und deren Wiirdigung sind ohne komplexe Theorien moglich. Ebenso kann ein Neuer Experimentalist auf Experimentatoren zur Verfiigung stehende Strategien hinweisen, die sich nicht auf komplexe Theorien beziehen. Betrachten wir zum Beispiel, welche Argumente ein Experimentator dafiir vorbringen wtirde, dass eine bestimmte Beobachtung, die mittels eines Instruments vorgenommen wurde, kein Artefakt, sondem etwas Reales ist. Hackings (1996, S. 309ff.) Schilderungen des Einsatzes des Mikroskops illustrieren dies gut. Ein kleines Gitter mit beschrifteten Quadraten wird auf ein Sttick Glas geatzt und im weiteren Verlauf fotografisch so stark verkleinert, dass es nicht mehr sichtbar ist. Wird dieses Gitter durch ein Mikroskop betrachtet, wird es mit den Beschriftungen sichtbar. Bereits das ist ein entscheidender Indikator dafiir, dass ein Mikroskop zuverlassig vergroBert - ein Argument, das iibrigens nicht auf einer Theorie beruht, wie das Mikroskop funktioniert. Stellen wir uns nun einen Biologen vor, der ein Elektronenmikroskop benutzt, um rote Blutkorperchen zu betrachten, die auf unserem Gitter aufgebracht wurden. (Hier berichtet Hacking einen aktuellen Ausschnitt aus einer Begebenheit, die ihm ein Wissenschaftler erzahlte.) Einige dichte Korper konnen innerhalb der Zelle beobachtet werden. Der Wissenschaftler fragt sich, ob diese Korper tatsachlich im Blut vorhanden sind oder ob es sich um ein Artefakt des Mikroskops handelt. (Er ver-

159 mutet Letzteres.) Er notiert sich, welche der markierten Zellen die Korper beinhalten. Als Nachstes betrachtet er seine Probe durch ein fluoreszierendes Mikroskop. Dieselben Korper erscheinen an denselben Stellen des Gitters. Kann es irgendeinen Zweifel daran geben, dass das Beobachtete eher Korper im Blut darstellt als ein Artefakt? Alles was benotigt wird, damit dieses Argument iiberzeugt, ist das Wissen, dass die beiden Mikroskope nach unterschiedlichen physikalischen Prinzipien arbeiten, sodass die Chance, dass beide identische Artefakte produzieren, als hochst unwahrscheinlich erachtet werden kann. Das Argument erfordert kein detailliertes theoretisches Wissen tiber die Funktionsweise der Instrumente.

13.3 Deborah Mayo zum strengen experimentellen Uberpriifen Mayo (1996) ist eine Wissenschaftsphilosophin, die auf rigoros philosophischem Weg versucht hat, die Implikationen des Neuen Experimentalismus zu beschreiben. Mayo ruckt den genauen Weg, auf dem Aussagen durch das Experiment validiert werden, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und befasst sich damit, zu identifizieren, welche Aussagen wie erlangt werden konnen. Der zentrale Gedanke, der ihren Ausfuhrungen zugrundeliegt, ist, dass eine Aussage nur dann als experimentell gestiitzt angesehen werden kann, wenn die verschiedenen Moglichkeiten, aufgrund derer die Aussage falsch sein kann, untersucht und eliminiert worden sind. Von einer Aussage kann nur dann gesagt werden, dass sie sich aus einem Experiment ableiten lasst, wenn sie im Experiment einer strengen Oberprtifung unterzogen wurde, und die strenge Uberprtifung einer Aussage muss nach Mayo dergestalt sein, dass es unwahrscheinlich sei, die Aussage beizubehalten, wenn sie falsch sei. Der Ansatz kann mittels einiger einfacher Beispiele illustriert werden. Nehmen wir an, Snells Gesetz der Lichtbrechung wird durch einige Experimente iiberprtift, die einen weiten Spielraum fur Fehler bei der Messung von Einfallswinkeln und Brechungen lassen, und nehmen wir weiter an, die Ergebnisse entsprechen auch mit diesem Spielraum dem Gesetz der Lichtbrechung. Ist das Gesetz durch Experimente bestatigt worden, die es streng uberpruft haben? Aus Mayos Perspektive ist die Antwort „nein", weil wegen der Grobheit der Messung das Gesetz der Lichtbrechung der Uberprtifung auch standgehalten hatte, wenn es falsch ware und ein anderes Gesetz, das sich von dem Snells nicht allzu sehr unterscheidet, richtig ware. Dazu ein Beispiel aus meiner Zeit als Lehrer: Meine Schuler batten einige nicht sehr sorgfaltige Experimente zur Uberprtifung des snellschen Gesetzes durchgefuhrt. Dann stellte ich ihnen einige vor der Entdeckung von Snells Gesetz formulierte, alternative Brechungsgesetze aus der Antike und dem Mittelalter vor und forderte sie auf, sie mit denselben Messungen zu tiberprufen, die sie zur LFberprufung von Snells Gesetz benutzt batten. Wegen des groBen Spieh-aums fur Fehler, der ihren Messungen zugrundelag, uberstanden alle Gesetze die Uberprtifung. Das machte deutlich, dass die infrage stehenden Experimente keine strenge Uberprtifung von Snells Gesetz darstellten. Dieses Gesetz hatte der Uberprtifung auch standgehalten, wenn es falsch und die historischen Altemativen richtig gewesen waren.

160 Ein zweites Beispiel soil die Logik der Position Mayos weiter verdeutlichen. Ich trank heute Morgen zwei Tassen Kaffee, und heute Nachmittag hatte ich Kopfschmerzen. Wird die Aussage „Mein morgendlicher Kaffee hat meine Kopfschmerzen verursacht" dadurch bestatigt? Mayos Position macht deutlich, warum die Antwort „nein" lautet. Bevor wir von dieser Aussage sagen konnen, dass sie einer strengen LFberprtifung unterzogen und daher bestatigt wurde, miissen wir die verschiedenen Moglichkeiten eliminieren, nach denen diese Aussage falsch sein kann. Vielleicht liegt der Grund meiner Kopfschmerzen in dem sehr starken vietnamesischen Bier, das ich gestern getrunken hatte, in der Tatsache, dass ich heute Morgen zu friih aufgestanden bin oder darin, dass ich es besonders schwierig finde, diese Passage zu schreiben usw. Wenn eine kausale Verbindung zwischen dem Trinken von Kaffee und Kopfschmerzen hergestellt werden soil, miissen kontrollierte Experimente durchgefuhrt werden, die dazu dienen, andere mogliche Ursachen zu eliminieren. Wir miissen versuchen, Resultate zu schaffen, deren Auftreten ohne die Tatsache, dass Kaffee Kopfschmerzen verursacht, sehr unwahrscheinlich ware. Ein Experiment stiitzt eine Aussage nur dann, wenn mogliche Fehlerquellen eliminiert wurden und es sehr unwahrscheinlich ware, dass die Aussage der Uberprufung standhalt, auBer sie ware wahr. Dieser einfache Gedanke erfasst auf klare Art und Weise gangige Vorstellungen tiber das Experimentieren. Er wird von Mayo weitergefuhrt, um einige neue Einsichten zu liefern. Betrachten wir das sogenannte „Tacking-Paradox", das an einem Beispiel illustriert werden soil. Stellen wir uns vor, Newtons Theorie, T, sei durch die sorgfaltige Beobachtung der Bewegung eines Kometen bestatigt, wobei Sorge getragen wurde, dass Fehlerquellen wie die Anziehung durch nahe Planeten, die Brechung durch die Erdatmosphare usw. eliminiert wurden. Angenommen, wir konstruieren nun eine Theorie T', indem wir der Theorie Newtons Aussagen wie „Smaragde sind griin" anhangen.^^ Wird T' durch die Beobachtungen bestatigt? Wenn wir im Blick haben, dass eine Vorhersage p eine Theorie bestatigt, wenn p aus der Theorie folgt und durch Experimente bestatigt wird, dann wird auch T' (und die Mehrzahl ahnlich konstruierter Theorien), entgegen unserer Intuition, durch die fraglichen Beobachtungen bestatigt. Soweit das „Tacking-Paradox". T' wird jedoch nach Mayos Sichtweise nicht bestatigt, und das „Paradox" lost sich auf Auf der Grundlage unserer Annahme tiber die Elimination moglicher Fehlerquellen konnen wu* sagen, dass die Laufbahn des Kometen kaum der newtonschen Vorhersage entsprochen hatte, wenn Newtons Theorie nicht richtig ware. LFber T' kann das nicht gesagt werden, weil die Wahrscheinlichkeit, dass der Komet Newtons Vorhersage entspricht, vollig unverandert bleibt, wenn einige Smaragde blau waren. Damit ware T' falsch. T' wird durch das fragliche Experiment nicht bestatigt, weil es nicht die verschiedenen Moglichkeiten erprobt, nach denen die Aussage „Smaragde sind grtin" falsch sein konnte. Beobachtungen von Kometen stellen eine strenge Uberprufung fur T, nicht jedoch fur T' dar.

^^ Im Original: „Suppose that we now construct theory T' by tacking a statement such as 'emeralds are green' onto Newton's theory" - deshalb Tacking-Vmdi&ox. (Anm. d. Hrsg.)

161 Mayo erweitert diesen Gedankengang auf weniger triviale Falle. Sie uberprtift theoretische Spekulationen, indem sie theoretische Schlussfolgerungen identifiziert, die weiter iiber experimentelle Beflinde hinausgehen, als es gerechtfertigt ist. Ihre Analyse der Uberprufiing von Einsteins Vorhersage der Bundelung von Licht in Gravitationsfeldem durch Eddington beschreibt dies. Eddington nutzte eine Sonnenfinsternis, um die relative Position von Sternen in einer Situation zu beobachten, in der ihr Licht auf dem Weg zur Erde die Sonne in groBer Nahe passiert. Er verglich diese relativen Positionen mit denen, die spater im Jahr beobachtet werden konnen, wenn die Sterne nicht mehr so nah an der Sonne stehen. Ein messbarer Unterschied wurde gefunden. Indem sie die Details der Sonnenfmstemis-Experimente naher betrachtet, ist Mayo in der Lage, zu argumentieren, dass Einsteins Gesetz der Schwerkraft, das sich aus seiner Allgemeinen Relativitatstheorie ergibt, durch die Experimente bestatigt wu-d, w^as fur die Allgememe Relativitatstheorie nicht der Fall ist. Wir wollen sehen, wie sie dabei vorgeht. Wenn angenommen wird, dass die Ergebnisse der Sonnenfinsternis-Experimente die Allgemeine Relativitatstheorie sttitzen, dann muss es moglich sein, Argumente dafur zu fmden, dass das Auftreten dieser Ergebnisse sehr unwahrscheinlich sei, wenn diese Theorie falsch ist. Wir miissen in der Lage sein, falsche Verbindungen zwischen der Theorie und den Ergebnissen zu eliminieren. Das ist in diesem Fall nicht moglich, weil es tatsachlich eine ganze Klasse von Theorien der Raum-Zeit-Korrelation gibt, die alle Einsteins Gesetz der Schwerkraft vorhersagen und damit auch das Ergebnis der Sonnenfinsternis-Experimente. Die Theorie von Einstein ist nur eine von ihnen. Ware eine andere als Einsteins Theorie richtig, wtirden dieselben Ergebnisse der Sonnenfmsternis-Experimente erwartet. In der Konsequenz stellen diese Experimente keine strenge Uberpruftmg von Einsteins allgemeiner Theorie dar. Sie sind nicht in der Lage, zwischen dieser und bekannten Alternativen zu unterscheiden. Zu behaupten, dass die Sonnenfinsternis-Experimente Einsteins Allgemeine Relativitatstheorie unterstutzen, geht weiter uber die experimentellen Befunde hinaus, als es gerechtfertigt ist. Die Situation stellt sich anders dar, wenn wir die etwas eingeschranktere Behauptung betrachten, die Sonnenfmsternis-Experimente bestatigten Einsteins Gesetz der Schwerkraft. Die Beobachtungen stimmten sicherlich mit diesem Gesetz Uberein. Bevor es jedoch legitim ist, dies als Bestatigung des Gesetzes zu sehen, mussen andere mogliche Ursachen ftir diese Obereinstimmung eliminiert werden. Erst dann kann gesagt werden, dass die beobachteten Veranderungen von Stemenpositionen nur dann auftreten, wenn Einsteins Gesetz stimmt. Mayo zeigt detailliert, wie Alternativen zu Einsteins Gesetz, zum Beispiel die newtonsche Alternative, in Betracht gezogen und verworfen wurden. Die klassische newtonsche Alternative fuBt dabei darauf, dass die Anziehung umgekehrt proportional dem Quadrat des Abstandes der Photonen und der Sonne ist, vorausgesetzt, die Photonen besitzen eine Masse. Einsteins Gesetz der Schwerkraft wurde durch die Sonnenfinsternis-Experimente einer strengen Uberprtifung unterzogen - ein negatives Ergebnis hatte die Allgemeine Relativitatstheorie zu Fall gebracht. Neue Experimentalisten sind ganz allgemein auf der Suche nach Gebieten wissenschaftlicher Erkenntnis, die unabhangig von komplexen Theorien bestatigt

162 werden konnen. Mayos Position harmoniert gut mit diesem Bestreben. Aus ihrer Perspektive konnen experimentelle Gesetze durch eine wie oben diskutierte strenge Uberpriifung bestatigt werden. Das Wachstum wissenschaftlicher Erkenntnis wird als Akkumulation und Erweiterung solcher Gesetze verstanden.

13.4 Das Lernen aus Fehlern und das Auslosen von Revolutionen Experimentelle Resultate bestatigen eine Aussage, wenn von ihnen gesagt werden kann, dass sie frei von Fehlern sind und dass die Ergebnisse unwahrscheinlich seien, wenn die Aussage falsch sei. Mayos Konzentration auf die Bedeutung von experimentellen Fehlern geht jedoch dartiber hinaus. Sie beschaftigt sich damit, wie gut durchgefiihrte Experimente uns lehren, aus Fehlern zu lernen. Aus diesem Blickwinkel hat ein Experiment, das dazu dient, einen Fehler in einer zuvor akzeptierten Behauptung zu entdecken, sowohl eine positive als auch eine negative Funktion. Es dient nicht nur der Falsifikation der Behauptung, sondem identifiziert auch in positiver Art und Weise einen zuvor unbekannten Effekt. Die positive Funktion der Entdeckung von Fehlern wird durch die Reformulierung des kuhnschen Begriffs der Normalwissenschaft gut illustriert. Erinnern wir uns an die Ausfuhrungen in Kapitel 8 zu den verschiedenen Antworten Poppers und Kuhns auf die Frage, warum es der Astrologie nicht gelang, sich als Wissenschaft zu qualifizieren. Nach Popper ist die Astrologie keine Wissenschaft, weil sie nicht falsifizierbar ist. Kuhn macht dagegen deutlich, dass dies nicht richtig ist, weil die Astrologie falsifizierbar war (und ist). Im 16. und 17. Jahrhundert, als die Astrologie „respektabel" war, machten Astrologen iiberpriifbare Vorhersagen, von denen sich viele als falsch herausstellten. Auch wissenschaftliche Theorien machen Vorhersagen, die sich als falsch herausstellen. Nach Kuhn liegt der Unterschied darin, dass die Wissenschaft in der Position ist, konstruktiv aus „Falsifikationen" zu lernen, wahrend das bei der Astrologie nicht der Fall ist. FUr Kuhn existiert in der Wissenschaft eine Tradition des Losens von Ratseln, die der Astrologie fehlte. Wissenschaft beinhaltet mehr als Falsifikationen. Sie beinhaltet auch ihre Uberwindung. Aus diesem Blickwinkel birgt es eine gewisse Ironie, dass Popper, der zu gewissen Zeiten seinen Ansatz mit dem Slogan „Wir lernen aus unseren Fehlern" charakterisierte, genau deshalb scheiterte, weil sein negativer falsifikationistischer Beitrag keinen positiven Beitrag dazu umfasste, wie Wissenschaft aus Fehlern (Falsifikationen) lernt. Mayo schlieBt sich hier Kuhn an, indem sie die Normalwissenschaft mit Experimentieren gleichsetzt. Hier ein paar Beispiele far die positive Rolle, die die Entdeckung von Fehlern spielte. In Zusammenhang mit dem Hintergrundwissen der damaligen Zeit stellten die Beobachtungen problematischer Merkmale der UmlauflDahn des Uranus die Theorie Newtons vor einige Probleme. Die positive Seite des Problems lag jedoch in der Auffmdung der Quelle dieser Schwierigkeiten, die, wie bereits beschrieben, zur Entdeckung des Neptuns fuhrte. Eine andere, bereits erwahnte Episode, bezieht sich auf Hertz' Experimente zu Kathodenstrahlen, die ihn zu dem Schluss veranlassten, dass sie von einem elektrischen Feld nicht abgelenkt werden. Dass dies ein Irrtum war, konnte Thomson zeigen, indem

163 er berticksichtigte, in welchem Umfang die Strahlen das Gas in Entladungsrohren ionisierten, was zur Ansammlung von lonen auf Elektroden und zum Aufbau elektrische Felder fiihrte. Indem er den Druck innerhalb der Rohren verringerte und seine Elektroden besser arrangierte, entdeckte Thomson den Einfluss elektrischer Felder auf Kathodenstrahlen, der Hertz entgangen war. Er lemte jedoch auch etwas liber neue Effekte der lonisierung und das Entstehen von Raumladungen. Im Zusammenhang mit Ablenkungsexperimenten stellten diese Hindemisse dar, die beseitigt werden mussten. Auch fiir sich selbst gesehen, stellten sie sich als wichtig heraus. Die lonisierung von Gasen durch eindringende geladene Partikel war von fundamentaler Bedeutung fiir die Untersuchung geladener Partikel in Nebelkammern. Das detaillierte Wissen von Experimentatoren uber die Effekte, die bei einer bestimmten Apparatur wirksam sind, versetzt sie oder ihn in die Lage, aus Fehlern zu lemen. Mayo leistete mehr, als lediglich Kuhns Begriff der Normalwissenschaft in die experimentelle Praxis zu tibertragen. Sie wies darauf hin, dass die Moglichkeit, mittels Experimenten Fehler zu entdecken und zu beheben, ausreicht, um eine wissenschaftliche Revolution auszulosen oder zumindest dazu beizutragen - eine These, die Kuhn in keiner Weise entspricht. Mayos bestes Beispiel bezieht sich auf Experimente zur brownschen Bewegung, die Jean Perrin am Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts durchfuhrte. Perrins detaillierte und einfallsreiche Beobachtungen der brownschen Partikelbewegung lieBen keinen Zweifel mehr daran, dass diese Bewegungen regellos waren. Dies, zusammen mit der Beobachtung einer Anderung der Verteilungsdichte der Partikel in Abhangigkeit von ihrer Hohe, ermoglichte es Perrin, schliissig zu zeigen, dass die Bewegung der Partikel das zweite Gesetz der Thermodynamik verletzt, wahrend sie gleichzeitig den detaillierten Vorhersagen der kinetischen Theorie entspricht. Es gibt kaum etwas Revolutionareres in der Physik als das. Ahnliches konnte berichtet werden liber die Art, in der experimentelle Untersuchungen der Strahlung schwarzer Korper, des radioaktiven Zerfalls und des photoelektrischen Effekts die Aufgabe der klassischen Physik erzwangen und in den fruhen Dekaden des 20. Jahrhunderts wichtige Elemente der neuen Quantentheorie konstituierten. Impliziter Bestandteil des Neuen Experimentalismus ist die Ablehnung des Standpunkts, dass experimentelle Ergebnisse zwangslaufig theorie- oder paradigmenabhangig sind und daher nicht die Funktion eines Richters zwischen Theorien ubernehmen konnen. Die Berechtigung zu dieser Annahme ergibt sich aus der Konzentration auf die experimentelle Praxis, darauf, wie Instrumente eingesetzt, Fehler eliminiert, Gegenproben durchgefiihrt und Proben variiert werden. In dem AusmaB, indem das Experimentieren unabhangig von spekulativen Theorien ist, konnen Theorien relativiert werden. Wissenschaftliche Revolutionen konnen insoweit rational sein, als sie uns durch experimentelle Resultate aufgezwungen werden. Die extremen Auswtichse einer theorie- oder paradigmenabhangigen Sichtweise der Wissenschaft sind sinnlos und haben den Bezug zu einer ihrer kennzeichnendsten Komponenten, dem Experiment, verloren.

164 13.5 Perspektiven des Neuen Experimentalismus Der Neue Experimentalismus hat aufgezeigt, wie experimentelle Ergebnisse untermauert werden komien und experimentelle Effekte durch eine Vielzahl von Strategien, wie praktischer Intervention, Gegenproben, Fehlerkontrolle und -elimination, auf eine Art und Weise erzielt werden konnen, die unabhangig von komplexen Theorien sein konnen und dies auch typischerweise sind. In der Folge ist er in der Lage, einen Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft zu leisten, der als das Anwachsen experimentell gewonnener Erkenntnis betrachtet wird. Indem er festlegt, dass die besten Theorien diejenigen sind, die einer strengen Uberprtifung standhalten - wobei er eine strenge experimentelle Uberprtifung einer Aussage als etwas versteht, das das Verwerfen dieser Aussage wahrscheinlich macht, wenn sie falsch ist -, kann der Neue Experimentalismus zeigen, wie sich das Experiment auf den Vergleich radikal unterschiedlicher Theorien beziehen lasst und wie das Experiment der Auslosung wissenschaftlicher Revolutionen dienen kann. Sorgfaltige Aufmerksamkeit gegenuber den Details von Experimenten dient dazu, theoretische Gedankengange zu Uberprufen und unterstUtzt die Unterscheidung zwischen experimentell Untermauertem und Spekulativem. Ohne Zweifel hat der Neue Experimentalismus die Wissenschaftsphilosophie auf wertvolle Art und Weise auf den Boden der Tatsachen zuriickgefiihrt und stellt ein niitzliches Korrektiv einiger Auswiichse des theoriedominierten Ansatzes dar. Dennoch kann vermutet werden, dass es ein Fehler ware, ihn als vollstandige Antwort auf die Frage nach dem Charakter der Wissenschaft zu sehen. Das Experiment ist nicht so unabhangig von der Theorie, wie die vorangegangenen Abschnitte dieses Kapitels nahe legen. Die heilsame und informative Konzentration auf die Eigendynamik von Experimenten sollte nicht blind machen flir die Tatsache, dass auch Theorien eine gewisse Eigendynamik besitzen. Die Neuen Experimentalisten befmden sich im Recht, wenn sie darauf bestehen, dass es ein Fehler ist, in jedem Experiment einen Versuch zu sehen, eine Frage zu beantworten, die sich aus einer Theorie ergibt, und den Umfang des Eigenlebens von Experimenten zu unterschatzen. Galilei hatte keine zu tiberpriifende Theorie zu den Jupitermonden, als er sein Teleskop himmelwarts richtete, und seit damals sind durch die neuen Instrumente und Technologien viele neuartige Phanomene entdeckt worden. Auf der anderen Seite bleibt die Tatsache bestehen, dass Theorien haufig die experimentelle Arbeit geleitet und den Weg zur Entdeckung neuer Phanomene gewiesen haben. Trotz allem war es eine Vorhersage aus Einsteins Allgemeiner Relativitatstheorie, die Eddingtons Sonnenfmsternis-Projekt motiviert hatte, und es war Einsteins Beitrag zur kinetischen Gastheorie, die Perrin dazu veranlasst hatte, die brownsche Bewegung so zu untersuchen, wie er es getan hatte. Ganz ahnlich waren es fundamentale theoretische Aspekte zur Frage, ob die Frequenz des Polarisationswechsels dielektrischer Medien magnetische Effekte haben, die Hertz veranlassten, einen experimentellen Weg zu beschreiten, der in der Herstellung von Radiowellen gipfelte. Und genauso war Aragos Entdeckung eines hellen Flecks im Mittelpunkt des Schattens einer Scheibe das Ergebnis einer Uberprufung von Fresnels Wellentheorie des Lichts.

165 Unabhangig davon, ob eine Theorie einem Experimentalisten manchmal die richtige Richtung aufzeigt oder nicht, sind die Neuen Experimentalisten intensiv damit beschaftigt, zu erfassen, in welchem Sinne experimentelles Wissen unabhangig von Theorien gerechtfertigt werden kann. Sicherlich hat Mayo einen detaillierten und tiberzeugenden Beitrag dazu geleistet, wie experimentelle Resultate dadurch verlasslich gewonnen werden konnen, dass sowohl eine Vielzahl von Techniken zur Elimination von Fehlem als auch Fehlerstatistiken verwendet werden. Sobald jedoch das Bedtirfnis entsteht, experimentellen Ergebnissen eine Bedeutsamkeit zuzuweisen, die iiber die experimentelle Situation hinausgeht, in denen sie produziert wurden, muss auf Theorien Bezug genommen werden. Mayo bemuht sich, zu zeigen, wie Fehlerstatistiken im Rahmen eines sorgfaltig kontrollierten Experiments eingesetzt werden konnen, damit die Schlussfolgerung moglich ist, dass Experimente diesen Typs spezifizierte Ergebnisse mit einem (genau benannten) hohen Grad an Wahrscheinlichkeit hervorbringen. Einzelne experimentelle Ergebnisse werden als Stichprobe aus alien moglichen Ergebnissen, die durch ein Experiment diesen Typs entstehen konnen, behandelt, und es konnen Fehlerstatistiken angewendet werden, um der Population auf der Basis dieser Stichprobe Wahrscheinlichkeiten zuzuweisen. Ein grundlegender Aspekt ist hier die Frage, was als „Experiment des gleichen Typs" gilt. Alle Experimente unterscheiden sich in gewisser Hinsicht insofern, als sie zum Beispiel zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Laboratorien, unter Verwendung verschiedener Instrumente usw. durchgefuhrt wurden. Die generelle Antwort auf diese Frage ist, dass sich die Experimente in Bezug auf relevante Aspekte ahneln mussen. Urteile dariiber, was als relevant gelten kann, werden jedoch vorgenommen, indem man sich auf das gegenwartige Wissen bezieht und ist so Gegenstand von Veranderung, wenn dieses Wissen sich verbessert. Stellen wir uns zum Beispiel vor, Galilei hatte eine Reihe von Experimenten durchgefuhrt, aus deren Ergebnissen er den Schluss zieht, dass die Beschleunigung infolge der Schwerkraft eine Konstante ist (und erlauben wir Galilei entgegen den damaligen Gegebenheiten den Einsatz modemer Fehlerstatistiken, wobei wir davon ausgehen wollen, dass er der Moglichkeit, dass zuktinftige Ergebnisse gegen ihn sprechen werden, eine niedrige Wahrscheinlichkeit zuweisen kann). Vom heutigen Standpunkt aus ist es moglich, zu erkennen, dass Galileis Vertrauen in seine Wahrscheinlichkeitsschatzung enttauscht werden konnte, wenn er bei zukunftigen Gelegenheiten unter dem Wasserspiegel arbeiten wurde. Wenn man, wie Galilei dies tat, in einem Kontext arbeitet, in dem angenommen wird, dass die Tendenz zu fallen, eine schweren Objekten innewohnende Eigenschaft ist, die sie alle schon allein deswegen besitzen, weil sie materielle Objekte sind, ist nicht ersichtlich, dass die Hohe uber dem Wasserspiegel relevant ist und daher ist auch nicht ersichtlich, dass Galileis Stichprobe nicht reprasentativ war. Urteile daruber, was als „Experimente ahnlichen Typs" zahlt, werden also auf einem theoretischen Hintergrund gefallt. Unabhangig davon werden theoretische Erwagungen dann entscheidend, wenn von experimentellen Ergebnissen angenommen wird, dass ihre Bedeutung tiber die spezifischen Bedingungen, unter denen sie gewonnen wurden, hinausgehen. Das wird zum Beispiel durch die Art und Weise deutlich, in der Mayo selbst

166 argumentiert, dass die Soimenfinstemis-Experimente Einsteins Gesetz der Schwerkraft bestatigen. Wie Mayo erklart, beinhaltet dies, aufzuzeigen, dass die Ergebnisse mit den Annahmen Newtons zu diesem Phanomen genauso unvereinbar sind wie mit jeder anderen denkbaren Alternative, wie zum Beispiel Oliver Lodges Bezug auf einen Ather-Mechanismus. Diese Altemativen stellten sich eine nach der anderen als nicht befriedigend heraus. Mayo (1996, S. 291) schreibt unter Bezugnahme auf einen Artikel von Dyson und Crommelin, der in der Zeitschrift Nature erschienen ist: „Daher scheinen wir bis zur Erschopfung zum einsteinschen Gesetz als einzig befriedigende Erklarung gezwungen zu sein". Es soil hier nicht darauf eingegangen werden, dass dies zeigt, dass es zu dieser Zeit und unter diesen Bedingungen vemiinftig gewesen ist, Einsteins Theorie der Schwerkraft zu akzeptieren. Aber ein entscheidender Teil der Argumente basiert auf der Annahme, dass es in der Tat keine akzeptablen Altemativen gibt. Mayo kann nicht ausschlieBen, dass es eine noch nicht erdachte Modifikation der newtonschen oder eine Ather-Theorie gibt, die in der Lage ist, die Ergebnisse der SonnenfmstemisExperimente zu erklaren. Sie ist daher klug genug, nicht zu versuchen, Hypothesen Wahrscheinlichkeiten zuzuweisen. Insofern reduzieren sich ihre Argumente zu wissenschaftlichen Gesetzen und Theorien auf die Aussage, dass sie strengen Uberpriifungen besser standgehalten haben als alle konkurrierenden Theorien. Der einzige Unterschied zwischen Mayo und den Anhangern Poppers besteht darin, dass sie eine bessere Version dessen entwickelt hat, was als strenge Uberprufung gelten kann. Theoretische Erwagungen spielen eine entscheidende Rolle. Die Neuen Experimentalisten bestehen darauf, dass Experimentatoren gehaltvoile Techniken zur Verfugung stehen haben, die es moglich machen, experimentelle Erkenntnisse zuverlassig abzuleiten, wobei dieser Weg relativ unabhangig von ausgearbeiteten Theorien sein kann. In dem Umfang, indem diese Aussagen abgesichert werden konnen, scheint es, dass die Auswiichse des Falsifikationismus geziigelt werden konnen und dass gleichzeitig ein kumulativer Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt, verstanden als das Anwachsen verlasslicher experimenteller Erkenntnis, gerechtfertigt werden kann. Wird jedoch theoretischen Erwagungen der Art, wie sie in diesem Abschnitt diskutiert wurden, eine bedeutende Rolle zugewiesen, muss ein gewisser Umfang an Fehlerhaftigkeit eingestanden werden. Der Neue Experimentalismus konnte nicht aufzeigen, wie Theorien oder Theoriengebaude aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden konnen. Es ist in diesem Zusammenhang bedeutsam anzumerken, dass ein wichtiger Faktor einer Entscheidung tiber die Zuverlassigkeit der newtonschen Mechanik auf dem Gebiet der Raumfahrt das MaB ist, in welchem - bei gegebener Geschwindigkeit Abweichungen davon im Lichte der Relativitdtstheorie als vemachlassigbar nachgewiesen werden konnen. Ohne Zweifel gibt es in der Wissenschaft ein wichtiges Eigenleben von Theorien. Die Prinzipien der Quantenmechanik, zum Beispiel eingesetzt zur Verbesserung von Elektronenmikroskopen oder sogar zum Erhalt von Energie, die uberall in der Wissenschaft genutzt werden, sind weitaus mehr als Generalisierungen von spezifischen Experimenten. Welcher Art ist dieses Eigenleben, und in welcher Verbindung steht es zum Experiment?

167 Einige der Neuen Experimentalisten scheinen eine Trennungslinie zwischen gut belegter experimenteller Erkenntnis einerseits und Theorien andererseits Ziehen zu wollen. (Mayo scheint in diese Richtung zu gehen, wenn sie zwischen der Allgemeinen Relativitatstheorie auf der einen und der eingeschrankteren, von Eddingtons Experimenten gestiitzten Theorie der Schwerkraft auf der anderen Seite unterscheidet.) Einige haben diese Sichtweise so weit getrieben, dass nur noch experimentelle Gesetze als Moglichkeit gelten, iiberprtifbare Aussagen uber die Welt zu machen. Theorien werden als etwas angesehen, das eine gewisse organisatorische oder heuristische Rolle spielt, statt Aussagen tiber die Welt zu machen. Solche Erwagungen verweisen auf Aspekte, die in den letzten zwei Kapiteln diskutiert wurden. 13.6 Anhang: Ein gliickliches Aufeinandertreffen von Theorie und Experiment Viele stimmen der Aussage zu, dass sich das Verdienst einer Theorie darin zeigt, in welchem Umfang sie strengen Uberprtifungen standgehalten hat. Dennoch gibt es in der Wissenschaft eine groBe Klasse von als bestatigt geltenden Aussagen, die nicht ohne weiteres in dieses Bild passen. In diesen Fallen kann eine bedeutsame Ubereinstimmung zwischen Theorie und Beobachtung festgestellt werden, auch wenn das Fehlen einer solchen Ubereinstimmung nicht gegen diese Theorien sprechen wurde. Verdeutlicht wird dieser Gedanke am besten an einigen Beispielen. Eine durchaus ubliche Situation in der Wissenschaft besteht darin, dass im Zusammenhang mit einigen komplizierten und vielleicht auch dubiosen Hilfsannahmen eine Vorhersage aus einer Theorie abgeleitet wird. Wird diese Vorhersage bestatigt, wird vemiinftigerweise angenommen, dass die Theorie eine bedeutsame Untersttitzung erhalten hat. Wird sie andererseits nicht bestatigt, kann das Problem sowohl in den Hilfsannahmen als auch in der Theorie liegen. In der Konsequenz mag es erscheinen, als wtirde diese Uberpriifung der Theorie keine strenge Form der Theoriepriifung darstellen. Dennoch wird die Theorie bei einer Bestatigung bedeutsam gestutzt. Thomason (1994, 1998) hat sich mit diesem Aspekt eingehend beschaftigt. Ein gutes Beispiel ist das Folgende: Die kopemikanische Theorie sagt voraus, dass die Venus Phasen aufweist, die denen des Mondes entsprechen und mit dessen sichtbarer GroBe in spezifischer Art und Weise korrelieren, vorausgesetzt, es wird angenommen, die Venus sei lichtundurchldssig. Historisch gesehen war, wie Kopemikus und Galilei beide explizit feststellten, die kursiv wiedergegebene Aussage eine offene Frage. Setzte er sein Teleskop ein, konnte Galilei die Phasen der Venus genau so bestatigen, wie es die kopemikanische Theorie vorhersagte, variierend in Abhangigkeit von der relativen Position der Erde, der Sonne und der Venus sowie der scheinbaren GroBe der Venus. In Verbindung mit der Annahme, dass die Venus lichtundurchlassig sei, wurde dies verntinftigerweise als ein Beleg angesehen, der die Theorie (und die Hilfsannahme) nachhaltig untersttitzte. Hatten die Phasen nicht beobachtet werden konnen, hatte die Schuld genauso bei der Hilfsannahme wie bei der Theorie liegen konnen, sodass das Vorgehen in diesem Sinne keine besonders strenge Uberpriifung des kopemikanischen Systems darstellte.

168 Eine verwandte und ebenfalls nicht allzu seltene Situation stellt die Untersuchung einer Theorie dar, in der die Beobachtungen mehrdeutig sind. Hier kann eine detaillierte Passung zwischen einer theoretischen Vorhersage und einer Beobachtung sowohl die Theorie als auch die Interpretation der Beobachtung bestatigen, wahrend das Nichterreichen einer solchen Passung lediglich darauf hinweist, dass noch einiges zu tun bleibt. Bin Beispiel ist der Einsatz eines Elektronenmikroskops zur Beobachtung von Dislokationen (Versetzungen) in Kristallen. Diese Dislokationen, Abweichungen von der ansonsten regelmaBigen Anordnung von Atomen in kristallinen Korpern, wurden aus theoretischen Griinden in der Mitte der 1930er Jahre vorhergesagt, um der Festigkeit, Dehnbarkeit und Plastizitat solcher Objekte Rechnung zu tragen. Waren kristalline Strukturen vollig gleichmaBig, waren die Krafte zwischen den Kristallgittem zu stark, um die bekannte Festigkeit und Formbarkeit zuzulassen. In den 1950er Jahren waren Elektronenmikroskope in ihrer Entwicklung so weit, dass einige annahmen, dass Kristallgitter und Dislokationen mit ihnen beobachtet werden konnten, obwohl die Theorie der Interaktion zwischen Elektronen und Kristallproben noch nicht ausreichend genug entwickelt war, um eine defmitive Vorhersage in die eine oder andere Richtung zu erlauben. 1956 produzierten Menter (1956) wie auch Hirsch und Mitarbeiter (1956) Bilder mit dem Elektronenmikroskop, auf denen sie Dislokationen identifizierten. Manche der Wege, die sie einschlugen, um diese Interpretation der komplexen Bilder zu rechtfertigen, erinnern stark an die Techniken, die von den Neuen Experimentalisten hervorgehoben werden. So wurden zum Beispiel die Folgen praktischer Eingriffe, wie die Biegung von Kristallen, beobachtet und festgestellt, dass sie mit der Annahme tibereinstimmten, bei den Bildern handle es sich um Darstellungen von Kristallgittem, und die Effekte verschiedener physikalischer Prozesse, wie Rontgenstrahl- und Elektronenbeugung, erbrachten sich wechselseitig untersttitzende Ergebnisse. Das AusmaB, in dem Theorie und Beobachtung tibereinstimmten, diente dazu, beide zu bestatigen. Menter wendete zum Beispiel die Theorie des Mikroskops von Abbe auf die Erzeugung von Kristallgitter-Bildem durch Elektronen an. Die signifikante Obereinstimmung zwischen seinen Vorhersagen und den zu beobachtenden Mustern zog er heran, um sowohl seine Theorie als auch die Interpretation der Bilder als Darstellungen von Kristallgittem zu bestatigen. Auch Hirsch zog die Beobachtung, dass sich Dislokationen genauso bewegten, wie es die im Moment aktuelle Theorie vorhersagte, dazu heran, um sowohl die Theorie als auch die Tatsache, dass die Darstellungen Dislokationen zeigen, zu bestatigen. In all diesen Fallen stellt die Ubereinstimmung zwischen Theorie und Beobachtung eine bedeutsame Unterstutzung der Theorie dar. Andererseits waren die experimentellen Situationen derart diffus und missverstandlich, dass sie andere Erklamngen des Scheitems zulieBen als die, die von der zu iiberprufenden Theorie zu Dislokationen nahe gelegt wird. Vermutlich kann von den hier beschriebenen Situationen erwartet werden, dass ihr Auftreten in der experimentellen Wissenschaft durchaus tiblich ist.

169 Mayos Charakterisierung von strengen Uberpnifungen lasst sich gut auf diese Beispiele anwenden.^^ ^[Q wtirde fragen, ob es wahrscheinlich sei, dass eine Bestatigung auftreten konne, wenn die Theorie falsch sei. In beiden Fallen, dem Beispiel zu Kopemikus und dem zu Dislokationen, ist die Antwort, dass dies sehr unwahrscheinlich sei. In der Folge werden die jeweiligen Theorien durch das beobachtete Zusammentreffen von theoretischer Vorhersage und Beobachtung in bedeutsamem Umfang unterstiitzt. Mayos Konzeption einer strengen Uberpriifung befindet sich daher im Einklang mit der wissenschaftlichen Praxis.

Weiterfiihrende Literatur Hackings Buch ^Einfuhrung in die Philosophie der Naturwissenschaftert' (1996, engl. Orig. 1983) stellt eine Pionierleistung des Neuen Experimentalismus dar. Andere wichtige Arbeiten zum Neuen Experimentalismus wurden von Franklin (1986, 1990), Galison (1987, 1997) und Gooding (1990) vorgelegt. Eine Zusammenfassung der Position des Neuen Experimentalismus bietet Ackermann (1989). Die anspruchsvollste Verteidigung des Ansatzes leistet Mayo (1996).

^^ Urspninglich wahlte ich die Falle auch als Gegenbeispiele zu Mayos Standpunkt, aber sie uberzeugte mich in personlicher Korrespondenz vom Gegenteil.

14 Warum soUte die Welt Gesetzen folgen?

14.1 Einleitung In den vorangegangenen Kapiteln haben wir uns mit epistemologischen Fragen auseinandergesetzt, wie wissenschaftliche Erkenntnis durch Bezugnahme auf Evidenz gerechtfertigt werden kann und wie die Natur dieser Evidenz beschaffen ist. In diesem und dem nachsten Kapitel werden wir uns ontologischen Fragen iiber das in der Welt Existierende zuwenden. Welche Arten von Entitaten werden von der modemen Wissenschaft als in der Welt existent vermutet oder als belegt angenommen? Teilweise ist eine Antwort auf diese Frage bisher in diesem Buch als selbstverstandlich vorausgesetzt worden. Es wurde als selbstverstandlich erachtet, dass es so etwas wie Gesetze gibt, die das Verhalten der Welt leiten, und dass es Aufgabe der Wissenschaft ist, diese zu entdecken. In diesem Kapitel wird es darum gehen, welche Art von Entitat diese Gesetze sind. Die Idee, dass die Welt von Gesetzen geleitet ist, die von der Wissenschaft entdeckt werden sollen, ist banal. Dennoch ist die Frage, worauf diese Idee hinauslauft, nicht unproblematisch. Ein ftmdamentales Problem wurde im 17. Jahrhundert von Robert Boyle deutlich gemacht. Der Begriff des Gesetzes stammt aus dem sozialen Bereich, wo es eine eindeutige Bedeutung hat. Gesellschaftliche Gesetze werden von Individuen, die diese Gesetze verstehen konnen und sich der Konsequenzen ihrer Verletzung bewusst sind, beft)lgt oder nicht. Wie kann jedoch, ft)lgt man diesem Verstandnis von Gesetzen, von materiellen Systemen in der Natur gesagt werden, dass sie Gesetzen gehorchen? Bei ihnen kann schwerlich davon ausgegangen werden, dass sie die Gesetze, denen sie gehorchen sollen, verstehen. Auf jeden Fall wird von fundamentalen Gesetzen der Wissenschaft angenommen, dass sie keine Ausnahmen haben, sodass es kein Korrelat einer individuellen Verletzung von Gesetzen und der Ubemahme von Verantwortung gibt. Was ist es, das Materie dazu bringt, Gesetzen zu entsprechen. Es scheint, als ware dies eine angemessene und einfache Frage, und dennoch ist sie nicht leicht zu beantworten. Es muss festgestellt werden, dass Boyles Antwort, namlich dass Gott die Materie als etwas erschaffen hat, das den von ihm verftigten Gesetzen gehorcht, aus heutiger Sicht unbefriedigend ist. Wir wollen sehen, ob wir Besseres bieten konnen.

172 14.2 Gesetze als RegelmaBigkeiten Eine tibliche Antwort auf die Frage „Was bringt Materia dazu, Gesetzen zu entsprechen?" ist, ihre Legitimitat zu leugnen. Die hier angesprochene Denkweise wurde von dem heute noch einflussreichen Philosophen David Hume vehement vertreten. Aus Humes Sicht ist es ein Fehler anzunehmen, dass gesetzmaBiges Verhalten durch irgendetwas verursacht wird. Tatsachlich stellt er das Konzept des Verursachungsprinzips in der Natur insgesamt infrage. Der Gedanke ist Folgender: Wenn wir zum Beispiel zwei Billardkugeln zusammenstoBen sehen, konnen wir ihre Bewegungen unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Zusammenprall sehen, und eventuell eine RegelmaBigkeit des Zusammenhangs zwischen den Geschv^indigkeiten vor und nach dem Au:^rall erkennen. Was wir jedoch nie sehen konnen, ist die Verursachung dieser RegelmaBigkeit. Aus dieser Perspektive ist Verursachung nichts anderes als ein regelmaBiges Zusammentreffen von Ereignissen. Gesetze konnen die Form „Ereignisse des Typs A hangen unvermeidbar zusammen mit Ereignissen des Typs B oder gehen diesen voraus" annehmen. Galileis Fallgesetz wtirde dann zum Beispiel folgendermaBen lauten: „Immer wenn ein schweres Objekt in der Nahe der Erdoberflache losgelassen wird, fallt es mit gleichbleibender Beschleunigung zur Erde". Das ist das Prinzip der RegelmaBigkeit von Gesetzen. Nichts bewegt Materie dazu, sich Gesetzen entsprechend zu verhalten, wie Gesetze nichts anderes sind als de facto auftretende RegelmaBigkeiten von Ereignissen. Ein Standardeinwand gegen das Prinzip der RegelmaBigkeit von Gesetzen ist, dass es nicht zwischen zufalligen und gesetzesartigen RegelmaBigkeiten unterscheidet. Popper zieht als Beispiel die Aussage „Kein Moa lebt langer als 50 Jahre" heran. Es ist gut moglich, dass kein Moa, eine inzwischen ausgestorbene Spezies, langer als 50 Jahre gelebt hat, aber bei einigen, die gUnstigere Umgebungsbedingungen gehabt hatten, mag dies durchaus der Fall gewesen sein, sodass wir geneigt sind, diese Generalisierung nicht als Naturgesetz gelten zu lassen. Dennoch qualifiziert sie sich durch ihre ausnahmslose RegelmaBigkeit als Gesetz. Es mag wohl sein, dass die Londoner Arbeiter immer, wenn die Fabriksirene am Ende eines Arbeitstages in Manchester heult, ihre Werkzeuge zur Seite legen. Dennoch qualifiziert sich dieser Vorgang, auch wenn er ohne Ausnahmen regelmaBig stattfmdet, kaum als Naturgesetz. Beispiele wie dieses gibt es im Uberfluss und sie legen nahe, dass Gesetze mehr sind als reine RegelmaBigkeit. Ein anderes Problem des Prinzips der RegelmaBigkeit besteht darin, dass es nicht in der Lage ist, die Richtung kausaler Abhangigkeiten zu identifizieren. Es gibt ein regelmaBiges Zusammentreffen zwischen dem Rauchen und dem Auftreten von Lungenkrebs, aber das ist so, weil Rauchen Lungenkrebs verursacht und nicht umgekehrt. Wir konnen daher hoffen, das Auftreten von Krebs zu verringern, indem wir das Rauchen verhindem. Nicht zu erhoffen ist jedoch, dass das Rauchen dadurch bekampft werden kann, dass wu* ein Mittel gegen Krebs fmden. Das Auftreten von RegelmaBigkeiten von Ereignissen ist keine hinreichende Bedingung daftir, dass RegelmaBigkeiten Gesetze darstellen, weil gesetzmaBiges Verhalten mehr ist als reine RegelmaBigkeit.

173 Unabhangig davon, dass RegelmaBigkeit keine hinreichende Bedingung fur Gesetze ist, legen einfache Uberlegungen zu Gesetzen, wie sie sich in der Wissenschaft darstellen, den Gedanken nahe, dass RegelmaBigkeit nicht einmal eine notwendige Bedingung ist. Wtirde die Sichtweise, die Gesetze als ausnahmsloses regelmaBiges Zusammentreffen von Ereignissen beschreibt, ernst genommen, qualifizierten sich keine derjenigen Aussagen, die typischerweise als wissenschaftliche Gesetze gelten, als solches. Eines dieser Gesetze ist das oben erwahnte Fallgesetz von Galilei. Herbstlaub fallt selten mit gleichbleibender Beschleunigung zu Boden. In einer undifferenzierten Sichtweise von RegelmaBigkeit ware das Gesetz falsch. Auf ahnliche Art wird das archimedische Prinzip, nach dem Objekte, die eine hohere Dichte als Wasser haben, sinken, durch eine auf der Wasseroberflache treibende Stecknadel widerlegt. Wtirden Gesetze als RegelmaBigkeiten ohne Ausnahmen verstanden, dann ware es mangels geeigneter RegelmaBigkeiten sehr schwer, emstzunehmende Kandidaten fiir Gesetze zu fmden. Mehr noch, die meisten Generalisierungen, die in der Wissenschaft als Gesetze angesehen werden, scheiterten daran, sich als solche zu qualifizieren. Aus dem Blickwinkel wissenschaftlicher Praxis und entsprechend der allgemeinen Sichtweise dieses Sachverhaltes gibt es eine einfache Antwort auf diese Beobachtungen. Es ist allgemein verstandlich, warum Herbstlaub nicht gleichmaBig zu Boden fallt. Es wird von Luftzug und Luftwiderstand beeinflusst, die, genauso wie die Oberflachenspannung fur eine untergehende Nadel, Storvariablen darstellen. Weil Storvariablen physikalische Prozesse behindem, werden physikalische Gesetze, die solche Prozesse charakterisieren, unter kunstlichen experimentellen Bedingungen untersucht. Storungen werden dabei eliminiert oder kontrolliert. Ftir die Wissenschaft relevante RegelmaBigkeiten, die Indikatoren fiir gesetzmaBiges Verhalten sind, sind typischerweise hart erarbeitete Ergebnisse detaillierter Experimente. Denken wir zum Beispiel daran, wie lange Henry Cavendish daran arbeiten musste, um zu dem Arrangement der sich anziehenden Bleikugeln zu gelangen, die das reziprok-quadratische Gesetz der Massenanziehung demonstrieren sollte und wie es Thomson endlich gelang, regelmaBige Ablenkungen bewegter Elektronen in einem elektrischen Feld aufzuzeigen, woran Hertz gescheitert war. Eine nahe liegende Antwort, die die Verteidiger des RegelmaBigkeits-Ansatzes auf diese Beobachtungen geben konnen, ist die Neuformulierung der Sichtweise in einer konditionalen Form. In diesem Sinne konnten Gesetze folgendermaBen formuliert werden: „Ereignisse des Typs A gehen regelmaBig Ereignissen des Typs B voraus oder werden von ihnen begleitet, vorausgesetzt, es gibt keine Storfaktoren." So wtirde Galileis Fallgesetz folgendermaBen lauten: „Schwere Objekte fallen mit gleichbleibender Beschleunigung zur Erde, vorausgesetzt, sie treffen nicht auf einen Widerstand oder werden nicht durch Winde oder andere Storfaktoren abgelenkt." Der Ausdruck „andere Storfaktoren" verweist auf das generelle Problem, wie eine prazise Aussage zu den Bedingungen, auf die ein Gesetz anwendbar ist, formuliert werden kann. Diese Schwierigkeit soil jedoch nicht weiter vertieft werden, weil vermutet werden kann, dass der RegelmaBigkeits-Ansatz mit weitaus fundamentaleren Problemen konfi-ontiert ist. Wenn wir

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die Charakterisierung von Gesetzen als konditionale RegelmaBigkeiten akzeptieren, mtissen wir auch akzeptieren, dass diese Gesetze nur angewendet werden konnen, wenn diese Konditionen erfiillt sind. Da die Erfiillung geeigneter Bedingungen normalerweise nur im Rahmen spezieller experimenteller Designs moglich ist, mussen wir folgern, dass wissenschaftliche Gesetze generell nur auf experimentelle Situationen, nicht jedoch auBerhalb von diesen angewendet werden konnen. Von Galileis Fallgesetz wird dann angenommen, dass es nur angewendet werden kann, wenn schwere Objekte unter Bedingungen fallen gelassen werden, in denen der Luftwiderstand und Ahnliches ausgeschaltet wurde. Entsprechend dieser revidierten Form des RegelmaBigkeits-Ansatzes, kann also Galileis Fallgesetz auf Herbstlaub nicht angewendet werden. Widerspricht dies nicht unserer intuitiven Einschatzung? Wiirden wir nicht sagen wollen, dass Herbstlaub zwar dem Fallgesetz gehorcht, ebenso aber Gesetzen zum Luftwiderstand und der Aerodynamik, sodass der resultierende Fall das komplizierte Ergebnis einer Reihe ineinandergreifender Gesetze ist. Weil der RegelmaBigkeits-Ansatz in seiner konditionalen Form auf die Anwendbarkeit von Gesetzen in experimentellen Situationen beschrankt ist, kann er nichts liber Situationen auBerhalb solcher experimenteller Bedingungen aussagen. Aus diesem Blickwinkel ist die Wissenschaft nicht in der Lage, Auskunft dartiber zu geben, warum Herbstlaub tiblicherweise auf dem Boden landet. Diese Schwierigkeit entsteht, wenn der Neue Experimentalismus als etwas gesehen wird, das alles abdeckt, was iiber wissenschaftliche Erkenntnis gesagt werden kann. Im vorangegangenen Kapitel haben wu* gesehen, dass der Neue Experimentalismus im strengen Sinne Fortschritt der Wissenschaft als standiges Anwachsen experimentellen Wissens beschreibt. BelieBe man es dabei, konnte nichts dartiber ausgesagt werden, wie Wissen, das im Rahmen von Experimenten gewonnen wurde, auf Situationen auBerhalb dieser Experimente ubertragen und nutzbar gemacht werden kann. Wie konnen wir die Anwendung physikalischer Gesetze durch Ingenieure, den Einsatz radioaktiver Datierung in der historischen Geologic Oder die Anwendung der Theorie Newtons auf die Bewegung von Kometen erklaren? Wenn von wissenschaftlichen Gesetzen angenommen wird, dass sie sich genauso gut auBerhalb wie innerhalb experimenteller Situationen anwenden lassen, dann konnen sie nicht mit den RegelmaBigkeiten, die im Rahmen von Experimenten moglich sind, gleichgesetzt werden. Der RegelmaBigkeitsAnsatz von Gesetzen fiinktioniert nicht.

14.3 Gesetze als Charakterisierungen von Potenzial oder Dispositionen Es gibt eine einfache Losung der bisher diskutierten Probleme der Natur von Gesetzen. Das bedeutet, etwas implizit Wissenschaftsimmanentes emstzunehmen, namlich, dass die materielle Welt aktiv ist. Dinge geschehen in der Welt aus sich selbst heraus, und sie geschehen, weil die Gegebenheiten der Welt die Kapazitat, Disposition oder Tendenz bzw. das Potenzial besitzen, sich so zu verhalten, wie sie es tun. Balle springen, weil sie elastisch sind. Wamungen auf Containem, die erklaren, dass der Inhalt giftig, brennbar oder explosiv sei, sagen etwas uber das

175 Potenzial des Inhalts aus. Die Spezifikation der Masse oder der Ladung eines Elektrons zeigt an, wie es auf elektrische oder magnetische Felder reagieren wird. Ein wichtiger Aspekt alles Materiellen besteht in dem, was es in der Lage ist, zu tun oder zu werden. Wie Aristoteles richtig beobachtete, miissen wir die Dinge sowohl mittels ihres Potenzials als auch mittels dessen, was sie aktuell sind, charakterisieren. Genauso wie es ein wichtiger Aspekt der Eichel ist, zu einer Eiche heranwachsen zu konnen, ist es ein wichtiger Aspekt eines Elektrons, dass es die Moglichkeit hat, ungleiche Ladungen anzuziehen und abzustoBen oder Strahlung abzugeben, wenn es beschleunigt wird. Wir experimentieren mit Systemen, um herauszufinden, zu welchem Verhalten sie in der Lage sind. Lassen wir so etwas wie Dispositionen, Tendenzen, Potenziale und Kapazitaten als Kennzeichen materieller Systeme zu, konnen Naturgesetze herangezogen werden, um diese Dispositionen, Tendenzen, Potenziale und Kapazitaten zu charakterisieren. Galileis Fallgesetz beschreibt die Disposition schwerer Objekte, mit gleichbleibender Beschleunigung zu Boden zu fallen, und Newtons Gravitationsgesetz beschreibt die Kraft der Anziehung zwischen festen Korpern. Werden Gesetze auf diese Weise interpretiert, muss nicht mehr erwartet werden, dass Gesetze Ereignissequenzen beschreiben, well diese Ereignisse iiblicherweise das Ergebnis verschiedener Dispositionen, Tendenzen, Potenziale und Kapazitaten sind, die auf komplexe Art interagieren. Die Tatsache, dass die Tendenz von Laub, entsprechend Galileis Gesetz, zu Boden zu fallen, durch die Wirkung des Windes tiberlagert wird, ist kein Grund in Zweifel zu ziehen, dass die Tendenz zu fallen weiterhin dem Blatt innewohnt. Aus dieser Perspektive ist es einfach nachzuvollziehen, warum das Experiment wichtig ist, um die zur Identifikation eines Gesetzes relevanten Informationen zusammenzutragen. Die mit einem zu untersuchenden Gesetz korrespondierenden Tendenzen mussen von anderen Tendenzen getrennt werden. Hierfiir sind geeignete Interventionen erforderlich. Bedenkt man die UnregelmaBigkeiten der Ozeanboden sowie die Anziehung der Sonne, der Planeten und des Mondes, kann man nicht hoffen, mithilfe Newtons Theorie sowie einiger Anfangsbedingungen eine prazise Berechnung von Ebbe und Flut zu erhalten. Dennoch ist die Gravitation die Hauptursache von Ebbe und Flut, und es gibt geeignete Experimente, das Gravitationsgesetz zu identifizieren. Aus dieser Perspektive halte ich daran fest, dass Ursachen und Gesetze eng verkniipft sind. Ereignisse werden durch die Aktionen einzelner Umstande verursacht, die das Potenzial haben, als Verursacher zu wirken. Die Anziehungskraft des Mondes ist die Hauptursache fur Ebbe und Flut, geladene Teilchen verursachen die lonisierung, die fur die Spuren in Nebelkammem verantwortlich sind, und oszillierende Ladungen verursachen Radiowellen, die von einem Sender ausgehen. Beschreibungen des Verhaltens der aktiven Krafte, die in solchen Fallen involviert sind, konstituieren Naturgesetze. Das Gravitationsgesetz beschreibt quantitativ die Fahigkeit von Massen, andere Massen anzuziehen, und die Gesetze der klassischen Elektrodynamik beschreiben unter anderem die Fahigkeit geladener Korper, Materie anzuziehen und Strahlung abzugeben. Es ist das in der Natur wirkende Potenzial, das Gesetze wahr macht, wenn sie wahr sind. Damit haben wir eine Antwort auf Boyles Frage. Es ist das Potenzial und die Kapazitat alles Materiellen, das es dazu zwingt, sich in LFbereinstimmung mit Gesetzen zu ver-

176 halten. GesetzmaBiges Verhalten wird durch effiziente Verursachung hervorgemfen. Damit muss nicht, wie von Boyle, Gott zur Erklamng herangezogen werden. Die Mehrzahl der Philosophen scheint eine Ontologie, die Dispositionen oder Potenziale mit einbezieht, nur widerwillig zu akzeptieren. Ich verstehe ihren Widerwillen nicht. Die Griinde sind vielleicht zum Teil historischer Natur. Der Potenzialbegriff ist durch die mystische und unklare Art, in der er in der magischen Tradition der Renaissance verwandt wurde, in Misskredit geraten, und den Aristotelikern wurde ein etwas sorgloser Umgang mit dem Begriff vorgeworfen. Boyles Zurtickweisung von aktiven Eigenschaften im Rahmen seiner „mechanischen Philosophic" kann als Reaktion, vielleicht auch als tJberreaktion, auf die Auswuchse dieser Tradition oder auch als theologisch bedingt verstanden werden. Dennoch muss nichts Mysterioses oder epistemologisch Suspektes in der Bezugnahme auf Potenziale, Tendenzen usw. liegen. Aussagen dazu konnen genauso Gegenstand stringenter empirischer tiberprufiing sein wie jede andere Aussage. Wie wenig Philosophen auch immer geneigt sein mogen, Dispositionen anzunehmen, Wissenschaftler beziehen sich dennoch systematisch auf sie, und ihre Arbeit ware ohne sie undenkbar. Zu Boyle sei an dieser Stelle angemerkt, dass er im Gegensatz zu seiner mechanistischen Philosophic im Rahmen seiner experimentellen Arbeiten groBztigig auf Dispositionen wie Saurehaltigkeit und Elastizitat von Luft zurtickgreift. Die verschiedenen Formen der Elastizitat stellten fur die mechanistischen Philosophen des 17. Jahrhunderts eine Herausforderung dar. Hobbes beklagte, dass Boyles Annahme der Elastizitat von Luft gleichbedeutend sei mit dem Eingestandnis, dass sich Luft aus sich selbst heraus bewegen konne. Boyle und andere Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts verwendeten das Konzept der Elastizitat weiter, und es gelang ihnen nicht, es ohne Bezugnahme auf Dispositionen zu erklaren. Dies ist bis heute niemandem gelungen. Mir ist unverstandlich, aus welchen Grunden Philosophen das Bediirfnis versptiren, die allgemein ubliche, ubiquitare Nutzung von Dispositionen durch Wissenschaftler infrage zu stellen oder wegerklaren zu wollen. Die Sichtweise, dass Gesetze Dispositionen, Potenziale, Kapazitaten oder Tendenzen von Materiellem charakterisieren, hat den Vorteil, dass von Anfang an anerkannt wird, was impliziter Bestandteil jeder wissenschaftlichen Praxis ist, namlich, dass die materielle Welt aktiv ist. Sie macht deutlich, was dazu flihrt, dass sich Systeme Gesetzen entsprechend verhalten und stellt eine Verbindung zwischen Kausalitat und Gesetzen her. Sie bietet auch eine Losung der un vorausgegangenen Kapitel behandelten Probleme der Ubertragbarkeit von Wissen, das in experimentellen Situationen gewonnen wurde, auf andere Situationen. Wird angenommen, dass die Entitaten dieser Welt das sind, was sie sind, weil sie das Potential bzw. die Disposition dazu haben - und ich behaupte, dass dies impliziter Bestandteil der Wissenschaft als auch des taglichen Lebens ist - kann von den Gesetzen, welche die in experimentellen Situationen identifizierten Potentiale und Kapazitaten beschreiben, angenommen werden, dass sie auch auBerhalb dieser Situationen angewendet werden konnen. Dennoch kann ich es nicht guten Gewissens bei dieser Aussage belassen, da es wichtige wissenschaftliche Gesetze gibt, die nicht in dieses Schema passen.

177 14.4 Thermodynamische Gesetze und Erhaltungssatze Die im vorausgegangenen Abschnitt vorgestellte und begrtindete Sichtweise, nach der Gesetze als Charakterisierungen kausaler Potenziale verstanden werden, soil im Weiteren die kausale Sichtweise von Gesetzen genannt werden. Einige wichtige Gesetze der Physik passen nicht in dieses Schema. Dazu zahlen der erste und zweite Hauptsatz der Thermodynamik und eine Reihe von Erhaltungsgesetzen der Elementarteilchenphysik. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Energie eines abgeschlossenen Systems konstant ist. Der zweite Satz, nach dem die Entropie eines abgeschlossenen Systems nicht abnehmen kann, gewahrleistet, dass Warme nicht von selbst aus einem kalteren in einen warmeren Korper ubergeht und schlieBt die Moglichkeit aus, Warme zur Verrichtung von Arbeit aus dem Meer zu Ziehen, wobei lediglich das Wasser abgekuhlt wurde. Eine Maschine, der dies gelingen wtirde, ware ein Perpetuum mobile zweiter Art. Im Gegensatz dazu ware einer Maschine, die zu einem Netto-Zuwachs an Energie fuhrt, ein Perpetuum mobile erster Art. Das erste Gesetz der Thermodynamik schlieBt Perpetua mobilia der ersten Art aus, das zweite Gesetz der Thermodynamik Perpetua mobilia der zweiten Art. Diese recht allgemeinen Gesetze haben Folgen fur das Verhalten physikalischer Systeme und konnen genutzt werden, um ihr Verhalten weitgehend unabhangig von den Details der wirkenden kausalen Prozesse vorauszusagen. Sie konnen daher nicht als kausale Gesetze bezeichnet werden. Mithilfe eines Beispiels soil dieser Aspekt illustriert werden. Ist Eis hoherem Druck ausgesetzt als dem normalen atmospharischen, sinkt sein Schmelzpunkt. Das ist der Grund dafur, warum ein Draht, an dem Gewichte befestigt sind, durch einen Eisblock schneidet. Auf molekularer Ebene ist eine Erklarung dafiir nicht einfach. Da Druck Molektile naher zueinander bringt, konnte man erwarten, dass die Anziehungskrafte untereinander unter solchen Umstanden zunehmen, was dazu fuhren wtirde, dass die Warmeenergie, die benotigt wird, um die Molektile beiseite zu schieben, ansteigt, was wiederum zu einem Anstieg des Schmelzpunktes fiihren wurde. Das ist genau das, was in typischen Feststoffen nahe dem Schmelzpunkt stattfindet. Eis ist jedoch kein typischer Feststoff. Wassermolektile sind im Eis eher weniger komprimiert als im fltissigen Zustand, weswegen Eis eine niedrigere Dichte hat als Wasser. (Das ist gut so, denn andemfalls wurden Seen und Fltisse vom Grund her zufrieren, bei langeren Kalteperioden sogar vollstandig, und Fische und andere Lebewesen wtirden ausgeloscht.) Wenn die Molektile im Eis starker als normalerweise komprimiert werden, nehmen die Krafte zwischen ihnen ab, wodurch weniger Energie benotigt wu-d, um sie zu trennen, und der Schmelzpunkt fallt. Die genaue Art und Weise, in der die Krafte von molekularen Positionen abhangen, ist kompliziert und steht im Zusammenhang mit Details der Quantenmechanik, wobei Austausch- als auch Coulomb-Krafte beteiligt sind, die nicht bis ins letzte Detail geklart sind. Bei den oben beschriebenen Problemen mag es tiberraschen, dass Thomson 1849 in der Lage war, das Sinken des Gefrierpunkts von Wasser unter Druck vorherzusagen und dabei die empirische Entdeckung des Phanomens vorwegzunehmen. Alles was er dazu benotigte, waren die thermodynamischen Gesetze und die empirisch wohl bekannte Tatsache, dass Wasser eine hohere Dichte hat als Eis.

178 Thomson entwarf in Gedanken einen Kreisprozess, bei dem Wasser von 0° C Warme entzogen wurde, wodurch es in Eis von 0° C uberging. Es schien so, als ware eine solche Maschine in der Lage, dem Wasser Warme zu entziehen und diese vollstandig in Expansionsarbeit umzuwandeln, was einem Perpetuum mobile zweiter Art entsprache, das der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ausschlieBt. Thomson stellte fest, dass dieser inakzeptable Schluss gegenstandslos ist, wenn angenommen wird, dass der Gefrierpunkt mit ansteigendem Druck sinkt. Der Aspekt dieses Falls, der hier betont werden soil, ist, dass Thomson seine Vorhersagen in Unkenntnis der Details kausaler Prozesse auf molekularer Ebene machte. Ein charakteristisches Merkmal und eine der Hauptstarken der Thermodynamik ist, dass sie sich unabhangig von den Details der zugrundeliegenden kausalen Prozesse auf der makroskopischen Ebene anwenden lassen. Genau dieses Merkmal verhindert, dass die thermodynamischen Gesetze als kausal bezeichnet werden konnen. Die Probleme der kausalen Sichtweise horen hier nicht auf. Das Verhalten eines mechanischen Systems kann verstanden und vorhergesagt werden, indem die Krafte, die auf jede Komponente des Systems einwirken, spezifiziert und die newtonschen Gesetze genutzt werden, um die Entwicklung des Systems zu verfolgen. Im Rahmen dieses Ansatzes konnen die newtonschen Gesetze als kausale Gesetze interpretiert werden, die die Disposition von Objekten beschreiben, spezifische Krafte auszutiben oder auf sie zu reagieren. Das ist jedoch nicht die einzige Moglichkeit des Umgangs mit mechanischen Systemen. Die mechanischen Gesetze konnen auch in einer Form formuliert werden, welche die Energie statt der Kraft zur primaren GroBe macht. In der hamiltonschen und lagrangeschen Formulierung der Mechanik, wo dieser Ansatz zugrundegelegt ist, ist lediglich nach Ausdrucken fur die potenzielle und die kinetische Energie eines Systems gefragt, die unabhangig von der speziellen Wahl des Koordinatensystems sind, in dem man die Teilchen beschreibt. Die Weiterentwicklung eines Systems kann dann vollstandig vorausgesagt werden, wenn diese Ausdriicke in die hamiltonsche oder lagrangesche Bewegungsgleichung eingesetzt werden, was ohne die detaillierte Kenntnis der beteiligten kausalen Prozesse moglich ist. James Clerk Maxwell (1965, S.783f), der versuchte seiner elektromagnetischen Theorie eine Lagrange entsprechende Form zu geben, illustriert diesen Punkt auf charakteristische Weise. Stellen wir uns einen Glockenturm mit einer komplizierten, durch an den Glocken befestigte Seile betriebene Maschinerie vor, die in den weiter unten befmdlichen Raum der Person reichen, die die Glocken bedient. Nehmen wir daruber hinaus an, dass die Anzahl der Seile der Anzahl der Freiheitsgrade des Systems entspricht. Das Potenzial und die kinetische Energie des Systems, das eine Funktion der Position und Geschwindigkeit der Seile ist, kann durch Experimente mit den Seilen festgestellt werden. Haben wir diese Funktionen gefunden, konnen wir sie in die lagrangesche Formel des Systems einsetzen. Ausgehend von der Position und der Beweglichkeit der Seile zu einem beliebigen Zeitpunkt ist es dann moglich, die Position und Beweglichkeit der Seile zu einem anderen Zeitpunkt zu erhalten. Wir benotigen dazu kein Wissen tiber die Details der Kausalitaten dessen, was auf dem Glockenturm passiert. Die lagrangesche Formel stellt kein kausales Gesetz dar.

179 Es mag eingewandt werden, dass die Beobachtungen zu dem lagrangeschen Verstandnis der Mechanik kein serioses Gegenbeispiel zur kausalen Sichtweise darstellt. Es kann darauf hingewiesen werden, dass weim ein lagrangescher Umgang mit der Mechanik gut funktioniert, obwohl er die detaillierten Kausalitaten der Mechanik im Inneren des Glockenturms ignoriert, dennoch Kausalitaten vorhanden sind, die im newtonschen und damit in kausalem Sinne formuliert werden konnen, sobald ein geeigneter empirischer Zugang zum Glockenturm moglich ist. Nach alledem mag beobachtet werden, dass Lagranges Berechnungen aus denen Newtons ableitbar sind. Die zuletzt gemachte Behauptung ist nicht mehr richtig (wenn sie es jemals war). In der modemen Physik werden die Berechnungen Lagranges allgemeiner interpretiert als in der Version, die aus Newtons Gesetzen abgeleitet werden kann. Die beteiligten Energien schlieBen alle Formen von Energie ein, nicht nur die, welche von den Bewegungen fester Korper unter dem Einfluss von Kraften stammen. Zum Beispiel kann sich die Formulierung Lagranges auf elektromagnetische Energie beziehen, die geschwindigkeitsabhangige potenzielle Energie aufweist und solche Dinge benotigt, wie den elektromagnetischen Feldimpuls, der sich von dem Impuls „Masse mal Geschwindigkeit" unterscheidet. Wenn sie in der modernen Physik bis an ihre Grenzen genutzt werden, sind diese lagrangeschen (oder damit verbunden - die hamiltonschen) Formulierungen nicht so geartet, dass sie durch die kausalen Ketten, die ihnen zugrundeliegen, ersetzt werden konnen. Zum Beispiel sind die verschiedenen, eng mit den Symmetrien der lagrangeschen Funktion verbundenen Erhaltungssatze, wie Erhaltung der Ladung und Paritat, nicht durch die zugrundeliegenden Prozesse erklarbar. Das Ergebnis all dessen kann folgendermaBen zusammengefasst werden: Eine Vielzahl physikalischer Gesetze kann als kausale Gesetze verstanden werden. Ist dies moglich, kann Boyles Frage danach, was physikalische Systeme dazu bewegt, sich entsprechend gewisser Gesetze zu verhalten, beantwortet werden. Es sind die Operationen der kausalen Potenziale und Kapazitaten, die Gesetze charakterisieren und die Systeme dazu bringen, ihnen zu gehorchen. Wir haben jedoch gesehen, dass es in der Physik fundamentale Gesetze gibt, die nicht als kausale Gesetze konstruiert werden konnen. In diesen Fallen gibt es keine rasche Antwort auf Boyles Frage. Was bringt Systeme dazu, dem Gesetz der Energieerhaltung zu folgen? Ich weiB es nicht. Sie tun es eben. Ich bm mit dieser Situation nicht vollig zufrieden, sehe aber nicht, wie sie vermieden werden kann.

Weiterfuhrende Literatur Zu einer anderen Sichtweise von Gesetzen als die hier charakterisierte und zu einer detaillierten Kritik der vorherrschenden Sicht siehe Armstrong (1983). Wie Experimente die kausale Sichtweise von Gesetzen deutlich machen, zeigt Bhaskar (1978). Cartwright (1983) druckt Zweifel an der Idee aus, dass es fundamentale Gesetze gibt, modifiziert jedoch ihre Sichtweise in einem Text von 1989, um uber die kausale Sicht hinaus anderes zu rechtfertigen. Die Diskrepanz zwischen dem, wie viele Philosophen Gesetze charakterisieren, und der Auffassung von praktisch

180 tatigen Wissenschaftlem, wird anhand einiger interessanter Beispiele von Christie (1999) beschrieben. Die Materialien dieses Kapitels stammen groBtenteils aus Chalmers (1999), wo sie etwas detaillierter behandelt werden. Eine weitere Diskussion der Natur von Gesetzen, ebenfalls jtingeren Datums, findet sich bei Fraassen(1989).

15 Realismus und Anti-Realismus

15.1 Einleitung Etwas vollig Selbstverstandliches an wissenschaftlicher Erkenntnis ist, dass sie uns eine Menge liber die Natur der Welt mitteilt, welches weit liber das hinausgeht, was an der Oberflache sichtbar ist. Sie sagt uns etwas liber Elektronen und DNA-Moleklile, die Blindelung von Licht in Gravitationsfeldem und sogar etwas liber die Bedingungen, die auf der Erde herrschten, weit bevor es menschliche Wesen gab, die sie beobachten konnten. Es ist nicht nur das Ziel von Wissenschaft, Erkenntnisse liber solche Dinge zu liefem, sondem im Wesentlichen ist es ihr auch gelungen. Wissenschaft beschreibt nicht nur die beobachtbare Welt, sondem auch die Welt, die hinter dem direkt Beobachtbaren liegt. Dies umreiBt grob, was Realismus in Bezug auf Wissenschaft bedeutet. Warum sollte jemand den Realismus leugnen wollen? Es gibt sicher viele gegenwartige Wissenschaftsphilosophen, die das tun. Eine Quelle des Zweifels am Realismus ist, dass Aussagen liber die nicht beobachtbare Welt in dem Umfang hypothetisch sind, in dem sie liber das hinausgehen, was auf der Basis von Beobachtung als sicher festgestellt werden kann. Realismus greift in Bezug auf Wissenschaft insofern zu kurz, als sie etwas beansprucht, was vemunftigerweise nicht verteidigt werden kann. Durch die Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte konnen diese Zweifel noch verstarkt werden. Viele Theorien der Vergangenheit, die Aussagen liber nicht beobachtbare Gegebenheiten gemacht hatten, stellten sich insofern als voreilig heraus, als sie widerlegt wurden. Beispiele bieten Nev^ons Teilchentheorie des Lichts, die Warmetheorie und ebenso die elektromagnetische Theorie von Maxwell, soweit sie behauptet, dass elektrische und magnetische Felder Zustande eines materiellen Athers sind. Obwohl die theoretischen Aspekte dieser Ansatze verworfen wurden, konnen Anti-Realisten geltend machen, dass die Telle, die auf Beobachtungen basieren, beibehalten wurden. Newtons Beobachtungen von chromatischen Abweichungen und Interferenzen, Coulombs Gesetz der Anziehung und AbstoBung geladener Korper und Faradays Gesetz elektromagnetischer Induktion sind fester Bestandteil der modemen Wissenschaft geworden. Der liberdauemde Teil der Wissenschaft ist derjenige, der auf Beobachtung

182 und Experiment basiert. Theorien sind nichts anderes als Gertiste, die beiseite gelegt werden konnen, wetin sie keinen Nutzen mehr erbringen. Dies ist die typische Position des Anti-Realismus. So spiegelt die Position des Realismus die unhinterfragte Einstellung der meisten Wissenschaftler und Nicht-Wissenschaftler wider, und Realisten werden fragen: „Wie ist es moglich, dass wissenschaftliche Theorien, die sich auf nichtbeobachtbare Gegebenheiten wie Elektronen und Gravitationsfelder beziehen, so erfolgreich sein konnen, wie es der Fall ist, wenn sie das Nicht-Beobachtbare nicht wenigstens annaherungsweise richtig beschreiben?" Der Anti-Realist dagegen macht die mangelnde Schlussigkeit von Befunden fiir den theoretischen Teil der Wissenschaft deutlich und weist darauf hin, dass es verntinftig ist, anzunehmen, dass das Gleiche fiir zuktinftige Theorien angenommen werden kann, was auch fiir vergangene Theorien gait, namlich dass sie sich als erfolgreich herausgestellt haben, obwohl sie keine korrekten Beschreibungen der Realitat waren. Diese Debatte soil in diesem Kapitel ausgefuhrt werden.

15.2 Globaler Anti-Realismus: Sprache, Wahrheit und Realitat Es gibt eine haufig in der gegenwartigen Literatur anzutreffende Form der Realismus-Anti-Realismus-Debatte, die wenig hilfreich ist und sich in jedem Fall von der Debatte unterscheidet, die ich und andere fuhren mochten. Leser, die die generellen und abstrakten Begriffe dieser Diskussion weniger beeindrucken, konnen diesen Abschnitt ohne weiteres iiberblattem. Der „globale Anti-Realismus", wie ich ihn nennen mochte, wirft die Frage auf, wie es irgendeiner Sprache, der wissenschaftlichen inbegriffen, moglich sein soil, die Welt zu beschreiben. Seine Verteidiger bemerken die Unmoglichkeit, der Welt mit unserer Wahmehmung Oder auf irgendeinem anderen Weg zu begegnen, um Tatsachen zu gewinnen. Wir konnen die Welt nur aus der vom Menschen geschaffenen Perspektive sehen und in der Sprache unserer Theorien beschreiben. Wir smd fiir immer in der Sprache gefangen und konnen nicht ausbrechen, um die Realitat „direkt", unabhangig von unseren Theorien, zu beschreiben. Anti-Realisten leugnen, dass wir in irgendeiner Art und Weise Zugang zur Realitat hatten, nicht nur innerhalb der Wissenschaft. Es wird gegenwartig kaum einen seriosen Philosophen geben, der sagt, dass es moglich ist, der Welt allein mit unserer Wahmehmung zu begegnen, um so unmittelbar Tatsachen iiber sie zu gewinnen. Der Leser sei daran erinnert, dass wir bereits mit dem zweiten Kapitel jede derartige Idee hinter uns gelassen haben. In diesem Sinne sind wir alle Anti-Realisten, was jedoch nichts aussagt, weil es eine zu schwache These ist. Die These wird bedeutsamer, wenn das Fehlen eines direkten, unmittelbaren Zugangs zur Welt die Konsequenz hat, dass der Wissenschaft und der Erkenntnis generell eine skeptische Einstellung entgegengebracht wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass keine Erkenntnis eine irgendwie geartete privilegierte Position einnehmen konne, weil es uns an einem Zugang zur Welt mangelt, der dies rechtfertigen wtirde. Dieser Schritt ist nicht gerechtfertigt. Auch wenn es stimmt, dass wir die Welt nicht ohne einen konzeptuellen Referenzrahmen beschreiben konnen, konnen wir doch die Angemessenheit solcher Be-

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schreibungen uberprufen, indem wir mit der Welt interagieren. Wir erfahren etwas iiber die Welt nicht nur, indem wir sie beobachten und beschreiben, sondern indem wir mit ihr in Interaktion treten. Wie in Kapitel 1 beschrieben, ist die Konstruktion von notwendigerweise linguistisch formulierten Aussagen iiber die Welt etwas anderes, als die Frage, ob sie wahr oder falsch sind. Dem Wahrheitsbegriff wird im Rahmen der Realismusdebatte oft eine entscheidende Bedeutung beigemessen, sodass die Diskussion des Begriffs erforderlich ist. Die Wahrheitstheorie, die den Bedtirfhissen von Realisten am besten dient, ist die Korrespondenztheorie der Wahrheit}^ Die generelle Idee ist einfach und kann in allgemein bekannten Begriffen dargestellt werden, was sie beinahe etwas trivial erscheinen lasst. Nach der Korrespondenztheorie ist nur das wahr, was mit Tatsachen korrespondiert. Der Satz „Die Katze liegt auf der Matratze" ist wahr, wenn die Katze auf der Matratze liegt und falsch, wenn sie es nicht tut. Bin Satz ist wahr, wenn Dinge so sind, wie es der Satz besagt, andemfalls ist er falsch. Eine Schwierigkeit dieses Wahrheitsbegriffes liegt in der Leichtigkeit, mit dem er zu Paradoxien ftihren kann. Ein Beispiel hierfur bietet die sogenannte Lugner-Paradoxie. Wenn ich behaupte „Ich sage nie die Wahrheit", dann ist das, was ich gesagt habe, falsch, wenn das, was ich behauptet habe, wahr ist! Ein anderes Beispiel lautet folgendermaBen: Stellen wir uns eine Karte vor, auf deren einen Seite geschrieben steht: „Der Satz auf der Rtickseite dieser Karte ist wahr", wahrend auf der anderen Seite steht: „Der Satz auf der Rtickseite ist falsch". Nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens kommen wir zu dem paradoxen Schluss, dass beide Satze entweder falsch oder wahr sind. Der Logiker Alfred Tarski demonstrierte, wie fixr ein denkbar einfaches Sprachsystem Paradoxien vermieden werden konnen. Der entscheidende Schritt bestand in seiner Betonung der sorgfaltigen Unterscheidung zwischen Satzen des Sprachsystems, die etwas iiber Objekte aussagen, die „Objektsprache", und Satzen des Sprachsy stems, in der wir etwas iiber die Objektsprache aussagen, die „Metasprache", wenn wir Aussagen iiber die „Wahrheit" oder „Falschheit" von Satzen in irgendeiner Sprache machen. Folgen wir Tarski, dann miissen wir in Bezug auf die Kartenparadoxie entscheiden, ob die Satze auf der Karte zu dem Sprachsystem gehoren, uber das man spricht, oder zu dem Sprachsystem, in dem man spricht. Folgt man der Regel, dass jeder Satz entweder der Objekt- oder der Metasprache angehort, niemals jedoch beiden, dann kann sich keiner der beiden Satze gleichzeitig auf den jeweils anderen Satz beziehen, und es entsteht keine Paradoxic. Die grundlegende Idee von Tarskis Korrespondenztheorie liegt folglich darin, dass wir, wenn wir uber die Wahrheit eines Satzes einer bestimmten Sprache sprechen, eine iibergeordnete Sprache brauchen, die Metasprache, in der wir uns sowohl auf Satze der Objektsprache als auch auf die Tatsachen, mit denen die Satze der Objektsprache korrespondieren sollen, beziehen konnen. Tarski musste daruber hinaus nachweisen konnen, wie der Korrespondenzbegriff der Wahrheit systematisch fiir alle Satze der Objektsprache so entwickelt werden kann, dass Paradoxien vermieden werden. Dies war insofern eine technisch schwierige Aufgabe, weil es in jeder Sprache, die man untersucht, eine unendliche Zahl von Sat^^ Auch „Adaquationstheorie" (Anm. d. Hrsg.)

184 zen gibt. Tarski loste dieses Problem fur Sprachen mit einer endlichen Anzahl einzelner Pradikate, wie „ist weiB" oder „ist ein Tisch". Seine Technik setzte es als gegeben voraus, dass ein Pradikat einem Objekt x zugeordnet werden kann.^^ Beispiele aus der Umgangssprache klingen trivial. Das Pradikat „ist weiB" kann zum Beispiel dem Objekt x zugeordnet werden, wenn - und nur dann - das Objekt X weiB ist. Ausgehend von einem solchen Zuordnungsbegriff fur alle Pradikate einer Sprache, zeigt Tarski auf, wie der Wahrheitsbegriff auf dieser Grundlage fur alle Satze einer Sprache entwickelt werden kann. Ausgehend von dem Begriff der „Erfullung" defmiert Tarski den Wahrheitsbegriff in einer technischen Terminologie rekursiv. Tarskis Ergebnisse waren fiir die mathematische Logik in formaler Hinsicht zweifelsfrei von groBer Bedeutung. Sie waren von fimdamentaler Bedeutung fur die Modelltheorie und hatten Auswirkungen auf die Beweistheorie. Das geht jedoch iiber den Gegenstand dieses Buchs hinaus. Tarski zeigte auch, wie Widersprtiche entstehen, wenn in der natUrlichen Sprache iiber Wahrheit diskutiert wird und wie diese Widersprtlche vermieden werden konnen. Ich denke jedoch nicht, dass er dartiber hinausging, und Tarski selbst scheint ebenso gedacht zu haben. Fur unser Anliegen vermute ich, dass von Tarskis Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht mehr bleibt, als das, was in der trivialen Aussage, „Schnee ist weiB, ist dann wahr, wenn Schnee weiB ist", steckt: Die Tatsache, dass es Tarski gelungen ist, zu zeigen, dass eine allgemein akzeptierte Idee von Wahrheit so eingesetzt werden kann, dass sie von den Paradoxien, die sie zu gefahrden schienen, befreit ist. Aus diesem Blickwinkel ist eine wissenschaftliche Theorie iiber die Welt dann wahr, wenn die Welt so ist, wie es die Theorie besagt, und falsch, wenn dies nicht der Fall ist. Sofem unsere Diskussion des Realismus den Begriff der Wahrheit aufgreifl, soil auf diesen Wahrheitsbegriff Bezug genommen werden. Fiir diese Art der Verteidigung des globalen Anti-Realismus gilt weiterhin, dass die Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht, wie behauptet, ohne Sprache auskommt, in der die Beziehung zwischen Satzen und der Welt beschrieben wird. Wenn ich gefragt werde, womit eine Aussage wie „Die Katze ist auf der Matratze" korrespondiert, muss ich, wenn ich die Antwort nicht verweigem will, mit einer Aussage antworten. Ich werde antworten, die Aussage, „Die Katze liegt auf der Matratze" korrespondiert damit, dass die Katze auf der Matratze liegt. Es lieBe sich der Einwand vorbringen, dass ich mit meiner Antwort nicht das Verhaltnis zwischen einer Aussage und der Welt charakterisiert habe, sondem das Verhaltnis zwischen einer Aussage und einer anderen. Dass dieser Einwand fehlgeleitet ist, macht eine Analogic deutlich. Werde ich zu einer Landkarte von Australien gefragt, worauf sich diese bezieht, lautet die Antwort „Australien". Mit dieser Antwort sage ich nicht, dass sie sich auf das Wort „Australien" bezieht. Werde ich gefragt, worauf sich die Landkarte bezieht, gibt es keine Alternative zu einer verbalen Erwiderung. Die Landkarte ist die einer groBen Landmasse, die „Australien" genannt wird. Weder im Fall der Katze noch im Fall der Landkarte kann vemunftigerweise gesagt werden, dass die verbale Erwiderung die Aussage zulasst, dass ^^ Tarski verwendet hier den Begriff der „ErfLlllung" oder „Befriedigung" (vgl. Popper, 1982, S. 219; Anm. d. Hrsg.)

185 ich mich im Fall des Satzes „Die Katze liegt auf der Matratze" und im Fall der Landkarte auf etwas Verbales beziehe. (Es scheint mir, dass zum Beispiel Woolgars (1988) auf die Wissenschaft bezogener „globaler Anti-Realismus" die Verwirrung enthalt, die ich hier aufzulosen versuche.) Zumindest fiir mich bezieht sich die Aussage „Die Katze liegt auf der Matratze" auf etwas, das in der Welt vorhanden ist. Dass das wahr ist, wenn sich die Katze auf der Matratze befmdet, und falsch, wenn sie dies nicht tut, ist vollig verstandlich und trivialerweise richtigEin Realist wird typischerweise behaupten, dass die Wissenschaft Theorien anstrebt, die flir die beobachtbare und die nicht beobachtbare Welt wahr sind, wobei Wahrheit als allgemein anerkannte Korrespondenz mit den Tatsachen interpretiert wird. Eine Theorie ist wahr, wenn die Welt so ist, wie es die Theorie sagt, andemfalls ist sie falsch. Im Falle von Katzen auf Matratzen kann der Wahrheitsgehalt einer Aussage leicht festgestellt werden. Bei wissenschaftlichen Theorien ist das nicht der Fall. Ich wiederhole: Die Art von Realismus, die ich naher betrachten mochte, beinhaltet nicht die Aussage, dass wir der Welt gegenubertreten und ablesen konnen, welche Tatsachen wahr und welche falsch sind. Die traditionelle Debatte zwischen Realisten und Anti-Realisten zum Thema Wissenschaft bezieht sich auf die Frage, ob wissenschaftliche Theorien uneingeschrankt als Anwarter auf die Wahrheit gelten sollen oder ob sie als etwas gesehen werden sollen, das lediglich Aussagen iiber die beobachtbare Welt macht. Beide Seiten gehen davon aus, dass das Ziel der Wissenschaft in gewisser Weise die Wahrheit ist (die in einer Weise, wie oben diskutiert, als Korrespondenz interpretiert werden soil). So unterstiitzt keine Seite den globalen Anti-Realismus, und wir wollen ihn daher hinter uns lassen und uns Serioserem zuwenden.

15.3 Anti-Realismus Der Anti-Realist geht davon aus, dass der Inhalt einer wissenschaftlichen Theorie nicht mehr ist, als eine Reihe von Aussagen, die durch Beobachtung und Experiment bekraftigt werden konnen. Viele Anti-Realisten konnen sinnvollerweise Instrumentalisten genannt werden und werden dies auch oft. Fur sie sind wissenschaftliche Theorien nichts anderes als niitzliche Instrumente, die uns dabei untersttitzen, Ergebnisse aus Beobachtungen und Experimenten in Verbindung zu bringen und vorherzusagen. Es ist nicht angemessen, Theorien als wahr oder falsch zu interpretieren. Poincare (1952, S. 211) gibt ein Beispiel flir diese Position, wenn er Theorien mit dem Katalog einer Bticherei vergleicht. Kataloge konnen flir ihre Niitzlichkeit geschatzt werden, aber es ware unzutreffend, von ihnen in den Begriffen wahr oder falsch zu denken. Genauso verhalt es sich flir Instrumentalisten mit Theorien. Sie fordem von Theorien, dass sie allgemein (d.h. sie sollen sich auf eine groBe Spannbreite von Beobachtungen beziehen lassen) und einfach sein sollen. Die Hauptforderung der Instrumentalisten besteht jedoch in ihrer Kompatibilitat mit Beobachtung und Experiment. Van Fraassen (1980) ist ein zeitgenossischer Anti-Realist, der insofern nicht gleichzeitig Instrumentalist ist, als er durchaus behauptet, dass Theorien wahr oder falsch seien. In Bezug auf Wissenschaft

186 halt er es jedoch ftir nebensachlich, ob Theorien wahr oder falsch sind. Der Verdienst einer Theorie ist fur ihn danach zu beurteilen, wie allgemein und wie einfach sie ist und in welchem Umfang sie auf Beobachtungen basiert bzw. zu neuartigen Beobachtungen fuhrt. Van Fraassen kennzeichnet seine Position als „konstruktiven Empirismus". Ein Verfechter des Neuen Experimentalismus, der im Wachstum von Wissenschaft nicht mehr sieht als das Anwachsen kontrollierbarer wissenschaftlicher Befunde, ist ein Anti-Realist im bereits diskutierten Sinne. Ein Beweggrund, der dem Anti-Realismus zugrunde zu liegen scheint, ist der Wunsch, Wissenschaft auf die Aussagen zu begrenzen, die mit wissenschaftlichen Mitteln gerechtfertigt werden konnen, um damit ungerechtfertigte Spekulationen zu vermeiden. Um ihre Aussage zu belegen, dass der theoretische Teil der Wissenschaft nicht gesichert ist, konnen Anti-Realisten auf die Wissenschaftsgeschichte zuriickgreifen. Nicht nur sind in der Vergangenheit Theorien als falsch zuriickgewiesen worden, sondem man glaubt vielmehr heute auch nicht mehr an die Existenz vieler der von ihnen postulierten Gegebenheiten. Newtons Korpuskulartheorie des Lichts leistete der Wissenschaft viele Jahre gute Dienste. Heute betrachtet man sie nicht nur als falsch, sondem man weiB, dass es die von der newtonschen Optik vermuteten Korpuskeln gar nicht gibt. Ebenfalls fallen gelassen wurde das Konzept des Athers, der im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle in der optischen und der elektromagnetischen Theorie gespielt hatte. Auch die Schltisselannahme der maxwellschen Theorie, dass die elektrische Ladung nichts anderes sei als eine Diskontinuitat der Spannung des Athers, ist aus heutiger Sicht vollig falsch. Dennoch ist es dem Anti-Realisten wichtig, darauf hinzuweisen, dass die positive Rolle dieser Theorien bei der Ordnung und der Entdeckung beobachtbarer Phanomene nicht geleugnet werden kann, auch wenn sie sich als falsch erwiesen haben. Trotz allem waren es Maxwells Spekulationen liber einen die Zustande des Athers reprasentierenden Elektromagnetismus, die ihn zu einer elektromagnetischen Theorie des Lichts und schlieBlich zur Entdeckung der Radiowellen geflihrt haben. In diesem Lichte scheint es plausibel, Theorien ausschlieBlich nach ihrer Fahigkeit, beobachtbare Phanomene zu ordnen und vorherzusagen, zu beurteilen. Damit konnen Theorien als solche ausgemustert werden, wenn sie nicht mehr von Nutzen sind, und die durch Beobachtung und Experiment erlangten Entdeckungen, zu denen sie geftihrt haben, konnen beibehalten werden. Dies war in der Vergangenheit bei Theorien und ihren nicht beobachtbaren Gegebenheiten der Fall, und wir konnen erwarten, dass dies auch bei den vorhandenen Theorien so sein wird. Sie sind schlicht Geriiste, die uns dabei helfen, eine Struktur der durch Beobachtung und Experiment erhaltenen Erkenntnisse aufzubauen, und konnen, wenn sie ausgedient haben, verworfen werden.

15.4 Einige Standardeinwande und die Antworten des Anti-Realismus Anti-Realisten machen einen Unterschied zwischen als gesichert erachteter Erkenntnis auf der Beobachtungsebene und theoretischer Erkenntnis, die nicht abgesichert werden kann und bestenfalls als heuristisches Hilfsmittel angesehen wird. Zumindest oberflachlich betrachtet stellt die zu Beginn dieses Buches gefuhrte

187 Diskussion zur Theorieabhangigkeit und Fehlbarkeit von Beobachtung und Experiment diese Sichtweise vor Probleme. Wenn Beobachtungsaussagen und experimentelle Ergebnisse in dem Umfang akzeptiert werden konnen, in dem sie einer Uberprtifung standhalten, gleichzeitig jedoch in der Zukunft im Lichte geeigneterer Uberpriifungen ersetzt werden konnen, steht es Realisten frei, Theorien ebenso zu behandeln und zu leugnen, dass es die grundsatzliche oder scharfe Unterscheidung zwischen Beobachtungs- und theoretischem Wissen gibt, auf der die Position des Anti-Realisten basiert. Setzen wir uns nun mit diesem Aspekt auf der Ebene des Experiments auseinander und verlassen die Ebene der Beobachtung. Hier muss der Anti-Realist nicht leugnen, dass Theorien bei der Entdeckung neuer experimenteller Effekte eine Rolle spielen. Dennoch kann er oder sie, wie ich das im Kapitel zum Neuen Experimentalismus getan habe, betonen, dass neue experimentelle Befunde auf eine Art und Weise gewtirdigt und gehandhabt werden konnen, die unabhangig von Theorien sind und dass diese experimentelle Erkenntnis bei einem radikalen Theoriewechsel nicht verloren geht. Entsprechende Beispiele waren Faradays Entdeckung eines elektrischen Motors und Hertz' Erzeugung von Radiowellen. Solche Beispiele machen die Position des Anti-Realisten glaubwiirdig. Dennoch ist die Frage, ob alle experimentellen wissenschaftlichen Ergebnisse in dieser Art und Weise als theorie-unabhangig betrachtet werden konnen, diskussionswurdig. Das Problem soil prazisiert werden, indem wir noch einmal auf die Geschichte des Einsatzes von Elektronenmikroskopen zur Untersuchung von Dislokationen in Kristallen eingehen. Einige Aspekte der frtihen Arbeiten untersttitzen den AntiRealismus. Die Gtiltigkeit der Beobachtungen von Dislokationen wurde durch zahlreiche Manipulationen und Gegenproben sichergestellt, die nicht auf eine detaillierte Theorie des Elektronenmikroskops und der Interaktionen von Elektronenstrahlen und Kristallen zurtickgriffen. Als die Arbeiten jedoch anspruchsvoller wurden, konnten Interpretationen der beobachtbaren Bilder nur durch die Ubereinstimmung feiner Details und theoretischer Vorhersagen erreicht und gestiitzt werden. Ohne Frage ist das Wissen uber Dislokationen zum Verstandnis der Materialstarke und anderer Eigenschaften von Feststoffen von enormer praktischer Bedeutung gewesen. Wozu ein Anti-Realist in der Lage sein muss, ist, zu zeigen, wie der experimentell niitzliche Teil dieses Wissens unabhangig von einer Theorie formuliert und verteidigt werden kann. Das soil hier nicht geschehen, aber es steht zu vermuten, dass das Wissen uber Dislokationen in Kristallen einen sehr interessanten und informativen Testfall darstellen wurde. Einen anderen Standardeinwand stellt die Vorhersagekraft von Theorien dar. Wie ist es moglich, so der Einwand, dass Theorien so erfolgreich in der Vorhersage sind, wenn sie nicht wenigstens annahernd wahr sind. In Fallen, in denen Theorien zur Vorhersage neuer Phanomene fuhren, scheint das Argument besonders stark. Wie kann Einsteins Relativitatstheorie als bloBer Berechnungsapparat betrachtet werden, wenn sie erfolgreich die Kriimmung von Sonnenstrahlen vorhersagt? Wie kann das Argument emsthaft aufrechterhalten werden, dass die Strukturen, die organischen Molektilen zugeschrieben werden, nichts als Instrumente sind, wenn diese Strukturen heute „direkt" mittels Elektronenmikroskopen belegt werden konnen?

Anti-Realisten konnen darauf folgendermaBen antworten. Sicherlich stimmen sie zu, dass Theorien zur Entdeckung neuer Phanomene flihren. Tatsachlich ist dies aus ihrer Sicht eines der Desiderata einer guten Theorie. (Erinnera wir uns daran, dass es nicht Teil der Position des Anti-Realisten ist, dass Theorien in der Wissenschaft keinen Platz hatten. Es ist der Status von Theorien, der fraghch ist.) Dennoch ist die Tatsache, dass eine Theorie in dieser Hinsicht produktiv ist, kein Indikator dafiir, dass sie wahr ist. Das macht die Tatsache deutlich, dass sich in der Vergangenheit Theorien als auBerst erfolgreich erwiesen haben, obwohl sie aus heutiger Perspektive nicht als wahr betrachtet werden konnen. Fresnels Wellentheorie des Lichts in einem elastischen Ather sagte erfolgreich den von Arago entdeckten hellen Fleck voraus, und Maxwells Spekulationen tiber die Atherwirbel fiihrten zur Vorhersage von Radiowellen. Der Realist erachtet die newtonsche Theorie im Lichte von Einsteins Theorie und Quantenmechanik als falsch. Dennoch muss der Theorie Nevv1:ons, bevor sie schlieBlich verworfen wurde, ein mehr als zweihundert Jahre andauemder Erfolg bei Vorhersagen zugute gehalten werden. Zwingt die Geschichte den Realisten nicht dazu, einzugestehen, dass erfolgreiche Vorhersagen kein notwendiger Indikator fur Wahrheit sind? Zwei wichtige historische Episoden der Wissenschaftsgeschichte wurden immer wieder herangezogen, um den Anti-Realismus in Zweifel zu ziehen. Die erste bezieht sich auf die kopemikanische Revolution. Wie wir gesehen haben, hatten Kopernikus und seine Anhanger Schwierigkeiten, ihre Aussage, die Erde bewege sich, zu verteidigen. Eine Antwort auf diese Probleme bestand darin, in Bezug auf die Theorie einen anti-realistischen Standpunkt einzunehmen, und lediglich zu fordem, dass sie mit astronomischen Beobachtungen in Einklang steht. In dem Vorwort, das Osiander fur das Hauptwerk von Kopernikus' ,,Revolution der Himmlischen Sphdren" schrieb, fmdet er deutliche Worte fur diese Sichtweise: ... es ist die Pflicht eines Astronomen, durch behutsame und aufmerksame Beobachtung die Geschichte der Bewegungen der himmlischen Korper zusammenzutragen. Wenn er sein Augenmerk dann auf die Ursachen dieser Bewegungen oder auf die Hypothesen tiber diese Bewegungen lenkt, ist, wenn er auf keine andere Weise zu den wahren Ursachen vordringen kann, sein Einfallsreichtum gefordert und er muss Hypothesen ersinnen, von denen er annehmen kann, dass sie in der Lage sind, sowohl die zukilnftigen als auch die Bewegungen der Vergangenheit zuverlassig aus den Prinzipien der Geometric abzuleiten. Der Autor dieses Buches [Kopernikus] erfullt beide Herausfordemngen auf hervorragende Weise. Dafiir mtissen Hypothesen weder wahr noch wahrscheinlich wahr sein, wenn sie allein Berechnungen bieten, die mit den Beobachtungen im Einklang stehen. (Kopernikus, zitiert nach Rosen, 1962, S. 125) Indem sie diesen Standpunkt einnahmen, waren Osiander und ahnlich denkende Astronomen von der Notwendigkeit befi-eit, den Schwierigkeiten ins Auge zu sehen, mit denen sie die kopemikanische Theorie, im Besonderen die Aussage,

189 dass sich die Erde bewegte, konfrontierte. Realisten wie Kopernikus und Galilei waren jedoch gezwungen, sich mit diesen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen und zu versuchen, sie zu beseitigen. In Galileis Fall fuhrte das zu maBgeblichen Fortschritten der Mechanik. Die Moral, die Realisten gern daraus ziehen wtirden, ist die, dass der Anti-Realismus unproduktiv sei, weil er schwierige Fragen, die aus der Perspektive der Realisten eine Losung erfordem, unter den Teppich des Anti-Realismus kehre. Der Anti-Realist kann antworten, dass dieses Beispiel eine Karikatur seiner Position darstellt. Unter den Forderungen, die ein Anti-Realist an Theorien stellt, befindet sich das Insistieren darauf, dass Theorien allgemein sein und eine Vielzahl von Phanomenen umfassen sollen. Aus dieser Perspektive muss der AntiRealist danach streben, die Astronomic und die Mechanik unter einem theoretischen Rahmen zusammenzufassen. Daher ware er genauso wie der Realist motiviert, die mechanischen Probleme, die mit der kopernikanischen Theorie verbunden sind, in Angriff zu nehmen. Es birgt in diesem Zusammenhang eine gewisse Ironic, dass ein prominenter Anti-Realist, Pierre Duhem (1969) in seinem Buch „7b Save the Phenomena", zur Unterstiitzung seiner Position auf das Beispiel der kopernikanischen Revolution Bezug nahm. Die zweite haufig herangezogene Episode bezieht sich auf die Rechtfertigung der Atomtheorie im fhihen 20. Jahrhundert. Ende des 19. Jahrhunderts wiesen Duhem und andere namhafte Anti-Realisten wie Ernst Mach und Wilhelm Ostwald, die Idee zuruck, die Atomtheorie wortlich zu nehmen. Sie lehrten, dass nicht beobachtbare Atome entweder keinen Platz in der Wissenschaft haben oder dass sie lediglich wie nutzliche „Fiktionen" behandelt werden sollten. Die fur die Mehrheit der Wissenschaftler (Mach und Ostwald eingeschlossen, Duhem nicht) tiberzeugende Rechtfertigung der Atomtheorie im Jahre 1910 demonstriert fiir Realisten die Unangemessenheit und Unfruchtbarkeit des Anti-Realismus. Wieder haben die Anti-Realisten jedoch eine Antwort. Sie fordem, dass nur der Teil der Wissenschaft, der mittels Beobachtung und Experiment bestatigt werden kann, danach beurteilt werden soil, ob er wahr oder falsch ist. Dennoch stimmen sie zu, dass mit dem Fortschritt der Wissenschaft und dem Zugang zu immer mehr bewahrten Instrumenten und experimentellen Techniken die Menge von experimentell bestatigten Aussagen zunimmt. Somit sieht der Anti-Realist kein Problem darin, festzustellen, dass die Atomtheorie nicht bereits Ende des 19. Jahrhunderts bestatigt wurde, sondem erst zu Beginn des zwanzigsten. Ostwald zum Beispiel macht diese Haltung sehr deutlich. Nachdem der Anti-Realismus vorgestellt und aufgezeigt wurde, wie er gegen einige Standardeinwande verteidigt werden kann, wollen wh- die Situation von einer anderen Seite aus betrachten.

15.5 Wissenschaftlicher Realismus und Realismus der Vermutungen Es soil damit begonnen werden, den Realismus in einer pointierten Form darzulegen, der manche den Namen „wissenschaftlicher Realismus" gegeben haben. Entsprechend dem wissenschaftlichen Realismus ist es das Ziel der Wissenschaft, auf

190 alien Ebenen zu wahren Aussagen uber das, was in der Welt ist und wie es sich verhalt, zu kommen, nicht nur auf der Ebene der Beobachtung. Daruber hinaus wird behauptet, dass die Wissenschaft insofern Fortschritte bezuglich dieses Ziels gemacht hat, als sie zu Theorien gelangt ist, die zumindest annaherungsweise wahr sind und zumindest zu einigen Entdeckungen gefuhrt hat. So hat die Wissenschaft zum Beispiel die Existenz von Elektronen und schwarzen Lochem entdeckt, und obwohl friihere Theorien zu derartigen Untersuchungsgegenstanden verbessert wurden, waren diese zumindest annaherungsweise wahr, da man sie, wie gezeigt werden kann, als Approximationen aus gegenwartigen Theorien ableiten kann. Wir wissen nicht, ob unsere heutigen Theorien wahr sind, aber sie sind es mehr als friihere Theorien und behalten eine zumindest annaherungsweise Wahrheit, wenn sie in der Zukunft durch noch genauere Theorien ersetzt werden. Fiir wissenschaftliche Realisten kommen diese Aussagen wissenschaftlichen Aussagen selbst gleich. Es wird behauptet, dass der wissenschaftliche Realismus die beste Erklarung fur den Erfolg der Wissenschaft gibt und dass er genauso an der Geschichte der Wissenschaft bzw. der gegenwartigen Wissenschaft uberpruft werden kann, wie wissenschaftliche Theorien an der Realitat tiberpriift werden konnen. Die Behauptung von OberpruftDarkeit des Realismus an der Wissenschaftsgeschichte, rechtfertigte diese Art des Realismus „wissenschaftlich" zu nennen. Eine klare Darstellung des hier zusammengefassten wissenschaftlichen Realismus gibt Boyd (1984). Ein grundlegendes Problem dieser pointierten Version des Realismus entstammt der Wissenschaftsgeschichte sowie dem AusmaB, in dem die Geschichte zeigt, dass Wissenschaft fehlbar und revidierbar ist. Die Geschichte der Optik bietet das beste Beispiel. Die Optik hat in ihrem Fortschritt von der Korpuskulartheorie Newtons bis zu den modernen Theorien einen ftindamentalen Wandel durchgemacht. Nach Newton existierte Licht aus Strahlen materieller Korpuskeln. Fresnels Theorie, die Newtons ersetzte, fasste Licht als quer verlaufende Wellen in einem alles durchdringenden elastischen Ather auf. Maxwells elektromagnetische Theorie des Lichts reinterpretierte diese Wellen als solche, die fluktuierende elektrische und magnetische Felder enthalten, wobei die Idee des Athers beibehalten wurde. Im filihen 20. Jahrhundert wurde der Ather fallen gelassen, und es verblieben die Felder als eigenstandige Entitaten. Bald wurde es notwendig, den Wellencharakter des Lichts um den Aspekt der Partikel zu erganzen, indem das Photon eingefuhrt wurde. Es kann angenommen werden, dass Realisten wie AntiRealisten diese Serie von Theorien von Anfang bis zum Ende als progressiv erachten. Aber wie lasst sich dieser Fortschritt mit der Sichtweise des wissenschaftlichen Realismus vereinbaren? Wie kann diese Abfolge von Theorien als eine Entwicklung zum Besseren und als bessere Annaherung an eine Charakterisierung der Realitat verstanden werden, wenn diese sich standig verandert. Zuerst wird Licht als Partikel charakterisiert, dann als Wellen in einem elastischen Medium, dann als fluktuierende Felder und schlieBlich als Photon. ZugegebenermaBen gibt es andere Beispiele, die dem Realismus eher entsprechen, so die Geschichte des Elektrons. Als es gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Form von Kathodenstrahlen entdeckt wurde, ist es als winziges Partikel mit einer kleinen Masse und einer elektrischen Ladung aufgefasst worden. Bohr

191 musste dieses Bild in seinem frtihen quantentheoretischen Atommodell modifizieren, wo Elektronen einen zentralen, positiven Kern umkreisen, ohne, wie es von kreisenden geladenen Partikeln erwartet wurde, Strahlung abzugeben. Sie werden nun als quantenmechanische Entitaten mit der Spinquantenzahl /4 angesehen, verhalten sich unter entsprechenden Bedingungen wie Wellen und gehorchen eher der Fermi-Dirac-Statistik als der klassischen Statistik. Es liegt nahe, anzunehmen, dass man sich im Laufe dieser Geschichte auf ein und dieselben Elektronen bezogen und mit ihnen experimentiert hat, dass jedoch das Wissen tiber sie bestandig verbessert und korrigiert wurde, sodass es verniinftig erscheint, das Aufeinanderfolgen der Theorien tiber die Elektronen als eine Annaherung an die Wahrheit zu sehen. Hacking (1996) hat aufgezeigt, wie die Position der Realisten aus dieser Perspektive gestarkt werden kann. Er argumentiert, dass die Anti-Realisten unangemessen hohen Wert auf das, was beobachtet bzw. nicht beobachtet werden kann, legen, aber dem zu wenig Aufmerksamkeit widmen, was in der Wissenschaft praktisch beeinflusst werden kann. Er geht davon aus, dass in der Wissenschaft Entitaten als real gelten, wenn sie auf kontrolliertem Weg gehandhabt sowie dazu eingesetzt werden konnen, Wirkungen auf etwas anderes auszuuben. Positronenstrahlen konnen hergestellt und auf Targets gerichtet werden, um auf kontrolliertem Weg Effekte zu erzeugen. Wie konnen sie also, bis auf die Tatsache, dass sie nicht beobachtbar sind, nicht real sein? „Wenn man sie verspriihen kann, sind sie real'' (Hacking, 1996, S. 47). Wenn dieses Kriterium angelegt wird, um zu beurteilen, ob etwas real ist, spricht das Beispiel zu den Lichtpartikeln und dem Ather nicht gegen den Realismus, weil von diesen Entitaten nicht durch praktische Manipulation festgestellt wurde, dass sie real sind. Es gibt Realisten, die den wissenschaftlichen Realismus als zu pointiert erachten und versuchen, ihn auf verschiedenen Wegen einzuschranken. Die Art des Realismus, der von Popper und seinen Anhangern vertreten wird, ist von dieser Art und kann als „Realismus der Vermutungen" bezeichnet werden. Dieser Realist betont die Fehlbarkeit unseres Wissens und ist sich der Tatsache wohl bewusst, dass uberholte Theorien und ihre Aussagen uber die Natur von Entitaten der Welt falsifiziert und durch iiberlegenere Theorien ersetzt wurden, die die Realitat auf andere Art und Weise erklaren. Man kann nicht wissen, ob unsere momentan gultigen Theorien dieses Schicksal teilen werden. Der „mutmaBende" Realist behauptet daher weder, dass sich die momentan aktuellen Theorien als annaherungsweise wahr erweisen werden, noch, dass sie schltissig die Natur von Gegebenheiten dieser Welt identifizieren. Er schlieBt die Moglichkeit nicht aus, dass es dem Elektron ebenso ergehen wird, wie dem Ather. Nichtsdestotrotz wird behauptet, dass es das Ziel von Wissenschaft ist, die Wahrheit tiber das herauszufmden, was tatsachlich existiert, und dass Theorien danach bewertet werden mtissen, in welchem Umfang von ihnen gesagt werden kann, dass es ihnen gelingt, diese Zielvorstellung zu erfullen. Der „mutmaBende" Realist wird sagen, dass allein die Tatsache, dass wir von uberholten Theorien sagen konnen, dass sie falsch sind, zeigt, dass wir eine klare Vorstellung von einem Ideal haben, das die vergangenen Theorien nicht erreichten. Obwohl „mutmaBende" Realisten die Meinung vertreten, dass ihre Position die fruchtbarste flir die Wissenschaft ist, nehmen sie davon Abstand, sie als wis-

192 senschaftlich zu beschreiben. Die wissenschaftlichen Realisten behaupten, dass ihre Position an der Wissenschaftsgeschichte uberpruft werden kann und den Erfolg der Wissenschaft erklart. Der „mutmaBende" Realist halt das fiir zu ambitioniert. Bevor eine wissenschaftliche Theorie als Erklarung einer Vielzahl von Phanomenen akzeptiert werden kann, wird verniinftigerweise gefordert, dass es fur die Theorie eine Evidenz unabhangig von den zu erklarenden Phanomenen geben muss. Wie Worrall (1989b, S. 102) deutlich gemacht hat, wird der wissenschaftliche Realismus dieser Forderung gerecht, da auBer Frage steht, dass es Evidenz unabhangig von der Wissenschaftsgeschichte gibt, die den wissenschaftlichen Realismus erklaren kann. Der generelle Punkt ist, dass es schwer zu erkennen ist, wie der wissenschaftliche Realismus durch die historischen Gegebenheiten bestatigt werden kann, wenn man die stringenten Forderungen bezuglich dessen, was in der Wissenschaft selbst als signifikante Bestatigung gelten kann, emst nimmt. Der Realismus der Vermutungen wird dagegen von seinen Vertretem eher als philosophische, denn als wissenschaftliche Position gesehen, die im Rahmen der philosophischen Probleme verteidigt werden soil, die sie losen kann. Ein Hauptproblem des Realismus der Vermutungen ist die Schwache seiner Aussagen. Er behauptet weder, dass man von den momentan aktuellen Theorien weiB, dass sie wahr oder annahemd wahr sind, noch behauptet er, dass die Wissenschaft schltissig einige der Dinge, die in der Welt existieren, entdeckt hatte. Er behauptet lediglich, dass die Wissenschaft anstrebt, dies zu erreichen und dass es Wege gibt, es zu erkennen, wenn die Wissenschaft dieses Ziel nicht erreicht. Der „mutmaBende" Realist muss eingestehen, dass es selbst dann, wenn man wahre Theorien und Charakterisierungen dessen, was ist, in der Wissenschaft erreicht hatte, keinen Weg gebe, dies zu erkennen. Es kann in diesem Zusammenhang gefi*agt werden, wo der Unterschied zwischen dieser Sichtweise und der anspruchsvollster Anti-Realisten liegt, wenn die gegenwartige oder die Wissenschaft der Vergangenheit verstanden und gewurdigt werden soil.

15.6 Idealisierung Ein Standardeinwand gegen den Realismus, den zum Beispiel Duhem (1978) anftihrt, ist, dass Theorien nicht als wortliche Beschreibungen der Realitat verstanden werden konnen, weil theoretische Beschreibungen eben im Gegensatz zur Welt idealisiert sind. Wir erinnem uns alle daran, dass die Wissenschaft, die wir in der Schule gelemt haben, Dinge umfasste wie reibungsfi'eie Ebenen, Massepunkte sowie nicht dehnbare Schntxre, und wir wissen alle, dass es keinen Gegenstand auf dieser Welt gibt, der diesen Beschreibungen entspricht. Auch sollte es nicht so aufgefasst werden, dass dies Vereinfachungen sind, die nur in Einftihrungstexten herangezogen werden, und dass kompliziertere Beschreibungen, die den tatsachlichen Zustand beschreiben, spater in der ft)rtgeschritteneren Wissenschaft eingefiihrt wtirden. Indem sie zum Beispiel die Planeten als Massepunkte oder als homogene kugelft)rmige Korper und Ahnliches behandelt, nimmt die newtonsche Mechanik in der Astronomic zwangslaufig Annaherungen vor. Wenn die Quantenmechanik eingesetzt wird, um Eigenschaften des Wasserstoffatoms, wie zum

193 Beispiel sein Spektrum, zu erhalten, wird es behandelt als ein negativ geladenes Elektron, das sich im Umfeld eines positiv geladenen Protons bewegt, ganz isoliert von seiner Umgebung. Kein reales Wasserstoffatom ist jemals von seiner Umgebung isoliert. Carnotsche Kreisprozesse und ideale Gase sind andere Idealisiemngen, die, ohne liber ein Pendant in der realen Welt zu verfugen, eine entscheidende Rolle in der Wissenschaft spielen. SchlieBlich stellen wir aus der Perspektive des Realisten fest, dass die Parameter zur Charakterisierung von Systemen dieser Welt, wie die Position und die Geschwindigkeit eines Planeten oder die Ladung eines Elektrons, bei den exakten mathematischen Berechnungen so behandelt werden, als seien sie absolut prazise. Experimentelle Messungen dagegen sind immer mit einem gewissen Fehler behaftet, sodass eine gemessene Quantitat immer als x ± dx bezeichnet wird, wobei dx den Fehlerspielraum bezeichnet. Grundsatzlich wird daher angenommen, dass theoretische Beschreibungen auf unterschiedliche Arten Idealisierungen sind, die nicht mit der realen Welt korrespondieren konnen. Meine eigene Sichtweise ist, dass Idealisierungen in der Wissenschaft den Realismus nicht - wie oft vermutet - vor Probleme stellt. Aus den ohne Zweifel vorhandenen Ungenauigkeiten aller experimentellen Messungen folgt nicht, dass die gemessenen Quantitaten keine prazisen Werte besaBen. Ich wiirde zum Beispiel behaupten, dass wir in der Physik gute Belege daftir haben, dass die Ladungen von Elektronen, abgesehen von der Ungenauigkeit der Messungen dieser Ladungen, absolut identisch sind. Viele makroskopische Eigenschaften, wie die Leitfahigkeit von Metall und die Spektren von Gasen, hangen davon ab, dass Elektronen wegen dieser deutlich ausgepragten Gleichheit vielmehr der FermiDirac-Statistik als einer klassischen Boltzmann-Verteilung gehorchen. Dieses Beispiel mag zwar nicht geeignet sein, einen Anti-Realisten zu beeindrucken, der das Elektron als Fiktion betrachtet. Ich telle jedoch die Meinung von Hacking, dass die alltagliche experimentelle Beeinflussung von Elektronen den Standpunkt der Anti-Realisten ad absurdum flihrt. Im Lichte der im letzten Kapitel gefiihrten Diskussion uber die Natur von Gesetzen ergibt sich eine sehr aufschlussreiche Sichtweise von Idealisierungen. Dort wurde unterstellt, dass eine allgemeine Klasse von Gesetzen die Krafte, Tendenzen etc. einzelner Dinge beschreibt, sich auf bestimmte Art und Weise zu verhalten. Es wurde betont, dass von den beobachtbaren Sequenzen von Ereignissen nicht erwartet werden kann, dass diese das wirkliche Agieren dieser Krafte und Tendenzen widerspiegeln, weil die Systeme, in denen sie operieren, typischerweise komplex sind und die simultanen Operationen anderer Krafte und Tendenzen mit einschlieBen. Wie sorgfaltig auch immer wir zum Beispiel die Messung der Ablenkung von Kathodenstrahlen durchflihren mogen, wir werden nie imstande sein, die Gravitationseinwirkung naher Massen auf die Elektronen, den Einfluss des Erdmagnetfeldes usw. zu eliminieren. In dem MaBe, in dem akzeptiert werden kann, dass der Kausalitatsanspruch von Gesetzen dort fur wissenschaftliche Gesetze einen Sinn ergibt, wo sie keine bloBen Regeln darstellen, miissen wir Gesetze als Beschreibungen kausaler Krafte verstehen, die, kombiniert mit anderen Kraften, hinter den Erscheinungen wirken und Ereignisse oder Ereignisfolgen hervorbringen, die beobachtbar sind. Der kausale Ansatz ist damit

194 gleichzeitig der Ansatz des Realismus. Der Anti-Realist muss hingegen das Funktionieren von Gesetzen in der Wissenschaft als eine Art von Regelerfiillung verstehen. Die Schwierigkeiten, die damit einhergehen, wurden im vorangegangenen Kapitel diskutiert. 15.7 Nichtreprasentativer Realismus oder struktureller Realismus Wenn wir die ausgefeiltesten Versionen des Realismus und des Anti-Realismus betrachten, scheint jeder der Ansatze etwas ftir sich zu haben. Der Realist kann auf die Vorhersageerfolge von wissenschaftlichen Theorien hinweisen und fragen, wie diese Erfolge erklart werden konnen, wenn Theorien nichts sind als bloBe Berechnungsvorschriften. Der Anti-Realist kann damit kontem, dass in der Vergangenheit Theorien Erfolg bei der Vorhersage hatten, von denen sogar Realisten zugeben mlissen, dass sie falsch sind. Die massive Fluktuation von Theorien ist das Hauptargument fur den Anti-Realismus. Gibt es eine Theorie, die in der Lage ist, aus beiden das Beste zu vereinen? Bei frtiheren Gelegenheiten habe ich das mit einer Position versucht, die ich nichtreprasentativen Realismus genannt habe. Diese Sichtweise hat Ahnlichkeit mit einer Position, die Worrall (1989b) entwickelt hat. Meine Bezeichnung hat sich nicht durchgesetzt. Vielleicht wird Worrall mehr Gliick haben. Die Geschichte der Optik gibt uns das aus Sicht der Realisten problematischste Beispiel, weil wir hier sehen, wie, einhergehend mit einem Wechsel des Verstandnisses dessen, was Licht ist, eine zweifellos erfolgreiche Theorie verworfen wird. Wir wollen uns daher auf diesen Problemfall konzentrieren und untersuchen, in welchem Umfang die Sichtweise der Realisten gerettet werden kann. Poppersche Realisten verweisen in ihrem Eifer, die positivistische oder induktivistische Sichtweise der Wissenschaft zu bekampfen, auf die Falsifikation vormals gut bestatigter Theorien, um ihr Argument zu unterstUtzen, dass wissenschaftliche Erkenntnis unabhangig davon, wie viele positive Belege fur sie sprechen, fehlbar bleibt. In diesem Sinne bestehen sie zum Beispiel darauf, dass sich Fresnels Theorie des Lichts als falsch erwiesen hat. (Es gibt keinen elastischen Ather, und die Wellentheorie wird Phanomenen, wie den photoelektrischen Effekten, bei denen das Licht seine partikelartige Natur zeigt, nicht gerecht.) Ist es jedoch hilfi-eich oder richtig, Fresnels Theorie einfach als falsch zu verwerfen? Trotz allem gibt es Umstande, in denen sich Licht wie eine Welle verhalt. Fresnels Theorie leistete mehr, als lediglich erfolgreiche Vorhersagen zu treffen. Sie erfasste die wellenartige Struktur, die es unter bestimmten Bedingungen aufweist. Weil Fresnels Theorie diese Struktur erkannte, wies sie Vorhersageerfolge auf, die zu so erfolgreichen Vorhersagen wie den bertihmten hellen Fleck (s. S. 69) fiihrte. Worrall machte diesen Punkt deutlich, indem er sich auf die mathematische Struktur der Theorie Fresnels konzentrierte und zeigte, dass viele Berechnungen Fresnels, wie die zu Details von Reflexion und Brechung in den heutigen Theorien beibehalten wurden. Das bedeutet, dass Fresnels Berechnungen aus heutiger Sicht nicht falsche, sondem wahre Beschreibungen einer Vielzahl optischer Phanomene darstellen, ungeachtet der Tatsache, dass einige der seinen Berechnungen zugrundeliegenden Interpretationen der Realitat verworfen wurden.

195 So ist Wissenschaft im dem Sinne realistisch, als sie versucht, die Struktur der Realitat zu charakterisieren und dabei insofern bestandig Fortschritte macht, als ihr das in zunehmend akkuraterer Weise gelingt. Frtihere wissenschaftliche Theorien waren in dem MaBe erfolgreich in der Vorhersage, in dem sie zumindest annahemd die Struktur der Realitat erfassten (ihre Vorhersageerfolge sind daher kein unerklarliches Wunder). Damit wird ein Hauptproblem des Anti-Realismus vermieden. Andererseits fiihrt das bestandige Fortschreiten der Wissenschaft zu einer fortlaufenden Verfeinerung der der Realitat zugewiesenen Strukturen, wodurch die Reprasentationen, die diese Strukturen begleiten (wie zum Beispirl der elastische Ather, der Raum als ein GefaB ftir Objekte, das unabhangig von diesen Objekten ist), oft durch andere ersetzt werden. Es gibt eine Fluktuation von Reprasentationen, gleichzeitig jedoch eine bestandige Verfeinerung mathematischer Strukturen. So haben die Begriffe „nicht reprasentativer Realismus" und „struktureller Realismus" beide ihre Berechtigung. Ein wichtiges Merkmal des Fortschritts in der Physik ist das AusmaB, in dem eine Theorie den Erft)lg einer von ihr abgelosten Theorie erklaren kann, indem sie mehr leistet, als lediglich die Vorhersageerft)lge dieser Theorie zu reproduzieren. Fresnels Theorie des Lichts war erft)lgreich, weil das Licht unter bestimmten Bedingungen tatsachlich Wellencharakter hat, eine Tatsache, die von den aktuellen Theorien nicht verworfen, sondem bekraftigt wird. Ahnlich kann aus der Perspektive der Relativitatstheorie nachvollzogen werden, warum es unter einer groBen Vielfalt von Bedingungen (inklusive der, dass die Masse nicht zu groB ist und die Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit nicht zu nahe kommt) nicht vollig falsch ist, den Raum als ein Behaltnis anzusehen, das von der Zeit und den ihm innewohnenden Objekten unabhangig ist. Jeder Beitrag zum Fortschritt in der Physik muss in der Lage sein, solchen generellen Merkmalen gerecht zu werden. Wie eine Position, die dies leistet, genannt wird, ist von untergeordneter Bedeutung.

Weiterfiihrende Literatur Diese Diskussion bezieht sich in weiten Strecken auf die Texte Worralls aus den Jahren 1982 und 1989b. Eine Sammlung von Artikeln zum Realismus in der Wissenschaft bietet Leplin (1984). Poppers Verteidigung des Realismus gegeniiber dem Instrumentalismus fmdet sich in Kapitel 3 von „Vermutungen und Widerlegungen" (2000, engl. Orig. 1969) und bei Popper (1983). Klassische Texte zum Anti-Realismus sind die von Duhem (1978, 1969). Eine modemere Version bietet van Fraassen (1980).

16 Epilog

In diesem abschlieBenden Abschnitt will ich einige Gedanken zu dem, was in den vorausgegangenen Kapiteln erreicht werden konnte, auBern. Ich werfe drei miteinander verbundene Fragen auf, die mich wahrend des Schreibens dieses Buches beschaftigt haben und noch immer beschaftigen. 1.

Habe ich die Frage, die im Titel dieses Buches mitschwingt, beantwortet? Was ist Wissenschaft? Was sind ihre Wege?

2.

Wie ist die Verbindung zwischen den in diesem Buch gegebenen historischen Beispielen und der verteidigten philosophischen These beschaffen? Belegen die Beispiele meine Argumente oder sind sie simple Illustrationen?

3.

In welchem Zusammenhang stehen die in den Kapiteln 12 und 13 diskutierten generellen Aussagen des Bayesianismus und diejenigen der Neuen Experimentalisten zu den Argumenten „wider den Methodenzwang", wie sie in Kapitel 11 dargestellt wurden? Kann man nicht davon ausgehen, dass alle Diskussionen zu diesem Thema redundant sind, wenn es keinen allgemeinen umfassenden wissenschaftstheoretischen Ansatz gibt?

Meine Antwort ist Folgende: Ich bleibe dabei, es gibt nicht den allgemeinen wissenschaftlichen Ansatz und die allgemeine wissenschaftliche Methode, die sich auf alle historischen Stufen ihrer Entwicklung anwenden lassen. Mit Sicherheit hat die Philosophic keine Ressourcen, einen solchen Beitrag zu liefern. In gewissem Sinne fuhrt der Titel dieses Buches in die Irre. Dennoch ist die Charakterisierung verschiedener Wissenschaften auf verschiedenen Entwicklungsstufen eine sinnvolle und wichtige Aufgabe. Im Rahmen dieses Buches habe ich versucht, dieser Aufgabe fur die Physik von der Zeit der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert bis heute gerecht zu werden (allerdings habe ich es unterlassen, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefem Innovationen wie die Quantenmechanik und die Quantenfeldtheorie qualitativ neue Charakteristika beinhalten). Die

198 Aufgabe brachte es mit sich, die Natur der Physik in der Hauptsache an geeigneten historischen Beispielen darzustellen. Diese historischen Beispiele stellen daher nicht nur Illustrationen dar, sondem sind ein wesentlicher Teil dieser Auseinandersetzung. Obwohl die Physik keine universelle Definition der Wissenschaft liefert, ist sie sicher nicht ohne Nutzen fur die Debatte daruber, was als Wissenschaft gilt und was nicht. Ein Beispiel dafiir ist die Auseinandersetzung uber die „Sch6pfungslehre". Ich nehme an, dass das Hauptziel derjenigen, die die „Schopfungslehre" unter diesem Namen verteidigen, ist, zu implizieren, dass ihr Charakter dem anerkannter Wissenschaften wie der Physik ahnlich ist. Die in diesem Buch vertretene Position ermoglicht es, sich mit dieser Behauptung auseinanderzusetzen. Indem dargestellt wird, welche Wissensinhalte in der Physik gesucht werden, welche Methoden, sie zu belegen, verfugbar sind und zu welchen Erfolgen dies gefiihrt hat, bietet sich eine Basis fur einen Vergleich mit der „Sch6pfungslehre". Sind die Ahnlichkeiten und Unahnlichkeiten der beiden Disziplinen beschrieben, haben wir alles, um sie zu beurteilen und sind in der Lage, richtig einzuschatzen, ob sich die „Schopfungslehre" legitimerweise Wissenschaft nennen kann. Ein universeller Beitrag zu Wissenschaft ist nicht notig. Im vorletzten Absatz wurde gesagt, dass das Portrat der Physik durch die Bezugnahme auf „geeignete historische Beispiele" verteidigt werden soil. Das bedarf einer Prazisierung. Geeignete Beispiele beziehen sich auf die Erkenntnisfunktion der Physik. Sie befassen sich mit den Arten von Aussagen, die in der Physik gemacht werden, sowie der Frage, wie sie auf sie bezogen und an ihr Uberpriift werden konnen. Gleichzeitig beziehen sie sich auf das, was Philosophen die Epistemologie der Wissenschaft nennen. Das Leitmotiv der Wissenschaftsphilosophie ist es, mittels historischer Beispiele die epistemologische Funktion der Wissenschaft darzustellen und zu klaren. Diese Art der Wissenschaftsgeschichte ist selektiv und sicher nicht die einzig mogliche oder wichtigste. Die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis findet immer innerhalb eines sozialen Kontextes statt, der mit anderen Zielen im Zusammenhang steht, wie personliche und professionelle Ziele von Wissenschaftlem, okonomischen Interessen von Sponsoren, ideologischen Interessen der verschiedenen religiosen und politischen Gruppierungen und so weiter. Eine Geschichtsbetrachtung, die diese Verbindungen untersucht, ist sowohl legitim als auch wichtig. Ich behaupte jedoch, dass sie das Anliegen dieses Buches nicht beriihrt. Es gibt wissenschaftssoziologische Studien, die gegenwartig en vogue sind und die nahe legen, dass die Art epistemologischer Studie, wie ich sie in diesem Buch vorgelegt habe, nicht erfolgreich sein kann, ohne der ganzen Bandbreite sozialer Aspekte der Wissenschaft Aufmerksamkeit zu schenken. In dem vorliegenden Text habe ich mich nicht mit diesen Gedankenrichtungen auseinandergesetzt. Mein Versuch, dem Beitrag der gegenwartigen wissenschaftssoziologischen Studien gerecht zu werden, findet sich in dem Buch Grenzen der Wissenschaft (Chalmers, 1999), aus dem, wie ich hoffe, hervorgeht, dass ich Studien zu sozialen und politischen Aspekten der Wissenschaft fiir sehr wichtig halte. Der strittige Punkt ist die epistemologische Relevanz solcher Studien. Wir wollen uns nun der Frage nach dem Status des bayesschen Ansatzes und des Neuen Experimentalismus zuwenden, wie er sich im Lichte meines Leugnens

199 einer universellen Methode darstellt. Wie der Titel des 1989 publizierten Textes von Howson und Urbach deutlich signalisiert, erscheint der bayessche Ansatz als ein Versuch, einen Beitrag zum wissenschaftlichen Denken im Allgemeinen zu liefem. Dieser Eindruck birgt jedoch noch keine Analyse. Selbst wenn wir die bayessche Strategie unhinterfragt akzeptieren, ist das, was sie uns bietet, ein genereller Weg, die Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen, die tFberzeugungen im Lichte neuer Befunde zugewiesen werden mtissen. Er hebt das wissenschaftliche Denken nicht heraus und unterscheidet es nicht von anderen Bereichen. Tatsachlich liegt die ntitzlichste Anwendung des bayesschen Ansatzes eher im Bereich des Glucksspiels als in dem der Wissenschaft. In der Konsequenz muss der bayessche Ansatz dann, wenn er uns etwas zur Wissenschaft im Speziellen sagen will, um einige auf ihm beruhende Beitrage zu Oberzeugungen und Beftmden in der Wissenschaft erweitert werden. Ich behaupte, dass dies nur durch eine sorgfaltige Beriicksichtigung der Wissenschaft selbst moglich ist. Im Weiteren gehe ich davon aus, dass sich Unterschiede zwischen den verschiedenen Wissenschaften, und sogar qualitative Wechsel innerhalb der Methoden der einzelnen Wissenschaften, zeigen werden. Das bedeutet, dass der bayessche Ansatz das Leugnen einer universellen Methode nicht infrage stellt und genau die Art epistemologischer Wissenschaftsgeschichte benotigt, ftir die ich mich hier ausspreche. Der Neue Experimentalismus hat sicher einige wichtige Merkmale des Experiments und dessen, was durch das Experiment in der Physik und der Biologic erreicht werden konnte, aufgedeckt. Dennoch kann er nicht den universellen Beitrag zur Wissenschaft leisten. Durch Beispiele hat der Neue Experimentalismus die Moglichkeiten und Erft)lge von Experimenten in den Naturwissenschaften der letzten 300 Jahre aufgezeigt, und Mayo hat durch die Bezugnahme auf die Fehlertheorie und die Statistik eine ft)rmale Untermauerung des experimentellen Denkens geliefert. Aus zwei Grtinden reicht dies fur einen universellen Beitrag zur Wissenschaft jedoch nicht aus: Zum einen macht die Betonung der experimentellen Manipulation, die der Neue Experimentalismus beinhaltet, diesen Ansatz weitgehend irrelevant fur das Verstandnis von Disziplinen, in denen eine experimentelle Manipulation weitgehend unmoglich oder unangemessen ist. Das gilt vor allem ftir die Sozial- und Geschichtswissenschaften. Es ware denkbar, diese Schlussfolgerungen zu umgehen, indem man Wissenschaft mit experimenteller Wissenschaft gleichsetzt, was jedoch kaum diejenigen befi'iedigen wurde, die sich selbst zum Beispiel als Politikwissenschaftler bezeichnen. Zum anderen wurde in Kapitel 13 ins Feld geftihrt, dass der Ansatz des Neuen Experimentalismus insofem unvollstandig ist, als er keinen geeigneten Beitrag zu der entscheidenden Rolle leistet, die Theorien in der Wissenschaft spielen. Ich denke, dass Galison dies in seinem Text von 1997 sehr deutlich macht, in dem er, mit Blick auf die Moglichkeiten und Entwicklungen von Teilchendetektoren und -zahler, einen reichhaltigen deskriptiven Beitrag zum Fortschritt der Teilchenphysik des 20. Jahrhunderts liefert. Was dieses Buch offen lasst, ist die Beziehung zwischen dem experimentellen Nachweis von Teilchen und ausgefeilten Theorien uber deren Symmetric und Erhaltungsprinzipien, mittels derer Teilchen verstanden und eingeordnet werden konnen. Zum gegenwartigen Zeitpunkt halte ich es fur ein auBerordentliches und drangendes Problem der Philosophic der Naturwissenschaften,

200

die Einsichten des Neuen Experimentalismus um einen aktualisierten Beitrag zur RoUe von Theorien in den experimentellen Wissenschaften zu erweitern, der sich auf detaillierte Fallstudien bezieht. Die folgenden historischen Reflexionen illustrieren die Schwierigkeiten der Neuen Experimentalisten, einige universelle Charakteristika oder Beschreibungen von Wissenschaft zu extrahieren. Gleichzeitig machen sie die Art von Studien deutlich, die ich mir zur Klarung des Zusammenhangs zwischen Theorie und Experiment vorstelle. Zur Zeit der wissenschaftlichen Revolution war die Idee, die Welt durch experimentelle Manipulation zu verstehen, keineswegs neu. Die Alchemie, im weitesten Sinne eher als Vorgangerin der modemen Chemie verstanden, die sich der Transformation von Materie widmete, im engeren Sinne als Versuch, Metalle in Gold zu verwandeln, reicht zurtick bis in die Antike und erreichte ihre Bltitezeit im Mittelalter. In der Praxis war sie nicht besonders erfolgreich. Dieser mangelnde Erfolg kann jedoch nicht einfach auf das Fehlen der Theoriegeleitetheit zurtickgefuhrt werden. Eine Reihe von atomistischen und anderen Theorien zur Materie trug zur Arbeit der Alchemisten bei. Wenn man die Theorie ignoriert und einfach auf die experimentelle Praxis abhebt, kann man in der handwerklichen Tradition der Metallurgen und Hersteller von Arzneimitteln des 16. und 17. Jahrhunderts bedeutende Fortschritte erkennen. Das diesbeziigliche Wissen kann jedoch als qualitativ anders als das der im spaten 17. und im 18. Jahrhundert aufkommenden Chemie betrachtet werden. Letztere beinhaltet zwar „Theorie", diese war jedoch eine sehr niedrig anzusetzende und vom Atomismus weit entfemt. Was benotigt wurde, und was zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereitgestellt wurde, ist ein Verstandnis chemischer Kombinationen und Rekombinationen von Substanzen, das die Idee beinhaltet, dass miteinander kombinierte Substanzen in der resultierenden Zusammensetzung weiter existieren und aus ihnen mittels geeigneter Manipulationen wieder extrahiert werden konnen. Die Einteilung von Substanzen in Sauren und Laugen sowie Salzen, die durch gegenseitige Neutralisation der ersten beiden entstehen, bot einen Weg, die Forschung so zu organisieren, dass ein Fortschritt ohne atomistische oder andere Materietheorien moglich war. Das 19. Jahrhundert war schon weit fortgeschritten, bevor die Zeit gekommen war, solche Spekulationen mit Experimenten zu verbinden. So ist die Frage nach der Rolle des Experiments in der Wissenschaft und seine Verbindung zur Theorie komplex und historisch gesehen relativ, selbst wenn wir die Diskussion auf die Chemie beschranken. Ich mochte mit einigen Anmerkungen zur Beziehung zwischen den hier ausgefiihrten Sichtweisen von Wissenschaft und der praktischen Arbeit von Wissenschaftlern schlieBen. Da ich abgestritten habe, dass es einen den Philosophen zuganglichen universellen Beitrag zur Wissenschaft gibt, der in der Lage ist, MaBstabe zur Beurteilung von Wissenschaft zur Verfugung zu stellen, und da ich argumentiert habe, dass ein angemessener Beitrag zu den verschiedenen Wissenschaften nur durch eine enge Bezugnahme auf die Wissenschaften selbst moglich ist, konnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Sichtweisen von Wissenschaftsphilosophen uberflussig sind und dass nur die der Wissenschaftler selbst Konsequenzen hatten. Man konnte denken, dass ich, sofem ich erfolgreich meine Sache vertreten habe, mich selbst der Arbeit beraube. Dieser Schluss ist - zum

201 Gluck - unzulassig. Obwohl es richtig ist, dass Wissenschaftler selbst am besten in der Lage sind, durch ihre praktische Tatigkeit Wissenschaft voranzubringen und in dieser Hinsicht keine Ratschlage von Philosophen benotigen, sind sie doch nicht besonders erfahren darin, einen Schritt von ihrer Arbeit zuruckzutreten und die Natur ihrer Arbeit zu beschreiben und zu charakterisieren. Ublicherweise sind Wissenschaftler gut darin, der Wissenschaft zum Fortschritt zu verhelfen, aber nicht besonders gut darin, zu beschreiben, worin dieser Erfolg besteht. Das ist der Grund dafiir, dass Wissenschaftler fur Debatten uber die Natur und den Status von Wissenschaft nicht gut ausgertistet sind und sich in der Kegel nicht besonders gut schlagen, wenn es um die Natur und den Status von Disziplinen geht, wie zum Beispiel in der Beurteilung der „Schopfiingslehre". Dieses Buch soil kein Beitrag zur Wissenschaft sein, nicht einmal zur Physik, auf die ich mich vorrangig beziehe. Vielmehr habe ich, groBtenteils mithilfe historischer Beispiele, versucht, deutlich zu machen, was die Physik ist bzw. war.

Weiterfiihrende Literatur Ein Beitrag zur Alchemic des Mittelalters und zu den verschiedenen beteiligten atomistischen Theorien siehe Newman (1994). Den Ansatz, Alchemic eher als Chemie zu interpretieren, aber auch eine Darstellung der Entwicklung einer engeren Interpretation von „Alchemie" Ende des 17. Jahrhunderts, fmden sich bei Newman und Principe (1998). Uber die Einfthrung chemischer Verbindungen und deren Bedeutung fiir die Weiterentwicklung der Chemie als neue Wissenschaft im 18. Jahrhundert siehe Klein (1995, 1996).

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Deutschsprachige Bibliographic zur Wissenschaftstheorie

Die folgende deutschsprachige BibHographie stellt eine Zusammestellung von Werken dar, welche die Herausgeber fur eine weiterflihrende Beschaftigung mit der Thematik als niitzlich erachten. Sie tragt dem Umstand Rechnung, dass sich der Autor weitestgehend auf anglo-amerikanische Literatur bezieht; auch bleiben bei den Angaben zur „weiterfuhrenden Literatur" Entwicklungen im deutschsprachigen Raum weitgehend ausgespart. Seit der ersten deutschsprachigen Auflage ist die Zahl der hier aufgenommenen Titel mit den Auflagen des Buches deutlich angewachsen; waren es in der 1. Auflage 133 Titel, auf die hingewiesen wurde, so umfasst die aktuelle Bibliographic der vorliegenden sechsten Auflage mittlerweile iiber 300 Titel, die unter den Uberschriften Lexika, Handbucher und Standardwerke, Sammelbdnde, Allgemeine Einfuhrungswerke, Wissenschaftstheoretische Richtungen und Wissenschaftstheoretische Grundlagen einzelner Fachwissenschaften vorgestellt werden. Daruber hinaus fmden sich Hinweise auf einschlagige deutsche Zeitschriften zur Wissenschaftstheorie.

I. LEXIKA Braun, E. & Rademacher, H. (Hrsg.): Wissenschaftstheoretisches Lexikon. Graz, Wien, Koln: Styria, 1978. MittelstraB, J. (Hrsg.): Enzyklopddie Philosophic und Wissenschaftstheorie: Mannheim, Wien, Zurich: Bibliographisches Institut, 1980 (Bd. 1: A-G), 1984 (Bd. 2: H-0); Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, 1995 (Bd. 3: P-So), 1996(Bd.4:Sp-Z). Ritter, J., Griinder, K.: Historisches Worterbuch der Philosophic, Bd. 1-10. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971-1998. Sandkuhler, H. J. (Hrsg., unter Mitwirkung von D. Patzold, A. Regenbogen und P. Stekeler-Weithofer): Enzyklopddie Philosophic. Bd. 1-2. Hamburg: Felix Meiner, 1999.

212 Sandkuhler, H. J. (Hrsg.): Europdische Enzyklopddie zu Philosophic und Wissenschaften, Bd. 1-4. Hamburg: Felix Meiner, 1990. Seiffert, H. & Radnitzky, G. (Hrsg.): Handlexikon der Wissenschaftstheorie. Miinchen: dtv, 19941 Speck, J. (Hrsg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Bd. 1-3. Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht (UTB), 1980.

II. HANDBUCHER UND STANDARDWERKE Essler, W. K.: Wissenschaftstheorie. Bd. I: Definition und Rcduktion (1982, 2., bearb. und erw. Aufl.). Bd. II: Theoric und Erfahrung (1971). Bd. Ill: Wahrscheinlichkeit und Induktion (1973). Bd. IV: Erkldrung und Kausalitdt (1979). Freiburg, Munchen: Karl Alber, 1971-1982. Kutschera, F. v.: Grundlagen der Erkenntnistheorie. Berlin, New York: de Gruyter, 1981. Kutschera, F. v.: Wissenschaftstheorie. Grundzuge der allgemeinen Methodologie der empirischen Wissenschaften. Bd. 1-2. Munchen: W. Fink, 1972. Lay, R.: Grundzuge einer komplexen Wissenschaftstheorie. Bd. 1: Grundlagen und Wissenschaftslogik. Bd. 2: Wissenschaftsmethodik und spezielle Wissenschaftstheorie. Frankfurt/Main: J. Knecht, 1971 (Bd. 1), 1973 (Bd. 2). Oeser, E.: Wissenschaft als Information. Bd. 1: Wissenschaftstheorie und empirische Wissenschaftsforschung. Bd. 2: Erkenntnis als Informationsprozefi. Bd. 3: Struktur und Dynamik erfahrungswissenschaftlicher Systeme. Wien, Munchen: R. Oldenbourg, 1976. Oeser, E.: Wissenschaftstheorie als Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte. Bd. 1: Metrisierung, Hypothesenbildung, Theoriendynamik. Bd. 2: Experiment, Erkldrung, Prognose. Wien, Munchen: R. Oldenbourg, 1979. Stegmiiller, W.: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophic. Bd. I: Erkldrung — Begriindung - Kausalitdt (1983, 2. verb. u. erw. Aufl.). Bd. II: Theorie und Erfahrung. 1. Teilband: Begriffsformen, Wissenschaftssprache, empirische Signifikanz und theoretische Begriffe (1974, verb. Neudruck). 2. Teilband: Theorienstrukturen und Theoriendynamik (1985, 2. korr. Aufl.). 3. Teilband: Die Entwicklung des neuen Strukturalismus seit 1973 (1986). Bd. Ill (gemeinsam mit M. Varga v. Kibed): Strukturtypen der Logik (1984). Bd. IV: Personelle und Statistische Wahrscheinlichkeit. 1. Halbband: Personelle Wahrscheinlichkeit und Rationale Entscheidung (1973). 2. Halbband: Statistisches Schliefien - Statistische Begriindung- Statistische Analyse {\913). Berlin, Heidelberg: Springer. Stegmiiller, W.: Hauptstromungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 1 u. 2. Stuttgart: Kroner, 1978 (Bd. 1), 1979 (Bd. 2). Weingartner, P.: Wissenschaftstheorie. Bd. 1: Einfuhrung in die Hauptprobleme. Bd. 2: Grundprobleme der Logik und Mathematik Stuttgart, Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1977^ (Bd. 1), 1976 (Bd. 2).

213 Wiener Studien zur Wissenschftstheorie (Wien: Verlag der Osterreichischen Staatsdruckerei): Riedl, R. & Bonet, E. M. (Hrsg.): Bd. 1: Entwicklung der Evolutiondren Erkenntnistheorie. 1987. Oeser, G. & Bonet, E. M. (Hrsg.): Bd. 2: Das Realismusproblem. 1988. Kratky, K. W. & Bonet, E. M. (Hrsg.): Bd. 3: Systemtheorie und Reduktionismus. 1989.

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Vm. ZEITSCHRIFTEN Allgemeine Zeitschrift fiir Philosophic Stuttgart, Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog (erscheint 3 x jahrlich). Conceptus. Zeitschrift fiir Philosophic Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Osterreichs (erscheint 2 x jahrlich). Deutsche Zeitschrift fiir Philosophic Berlin: Akademie (erscheint 12 x jahrlich). Erkenntnis. An International Journal of Analytic Philosophy (Engl.-Deut.) Dordrecht, Boston: Reidel Publ. Com. & Hamburg: F. Meiner (erscheint 3 x jahrlich). Zeitschrift fiir allgemeine Wissenschaftstheorie (1970-1984)/ Journal for General Philosophy of Science (seit 1985) Wiesbaden: F. Steiner (erscheint 2 x jahrlich). Zeitschrift fiir philosophische Forschung Meisenheim/Glan: Hain (erscheint 4 x jahrlich).

Personenverzeichnis

Abbe, E. 168 Ackermann, R. 72, 156, 169, 201 Adams, J. C. 66, 112 Adler,A. 55,62 Althusser, L. XV Ampere, A.M. 157 Anthony, H.D. 5f.,201 Aquin, T.v. 133 Arago, F. 188 Aristarch 123 Aristoteles 6, 16, 61, 65, 78, 82, 95, 100, 133, 138, 175 Armstrong, D. 179,201 Ayer,A.J. 18,201 Bamford, G. 149,201 Barnes, B. 18, 106,201f. Bayes, T. 14Iff., 202 Berkeley, G. 7,201,205 Bhaskar, R. 179,201 Blake, T. XV Block, I. 133,201 Bloor, D. 18,106,201 Bohr,N. 77, 191 Boltzmann, L. 103, 191, 193 Boyd, R. 190,201 Boyle, R. 137, 140, 171, 175f, 179, 202 Brahe, T. 75, 83, 109, 134ff Brown, H.J. 18,201 Buchwald,J. 158,201

Camap, R. 51, 127 Camot, S. 193 Cartwright, N. 179, 20If Cavendish, H. 110,173 Chalmers, A. F. 24, 34, 72, 129, 131, 139f, 180, 197,202 Chang, H. 139 Christie, M. 139 Clavelin,M. 133,202 Clavius, C. 134 Cohen, R.S. 120,202,204 Comte, A. 7 Coulomb, A. 177 Crommelin, A. 166 Currie, G. 107,120,205,207 Curthoys, J. XIV Dalton, J. 95 Darwin, C. 3, 12 Davies, J. J. 6,202 Demokrit 131 Descartes, R. 91,95 Dickens, C. 2 Dirac, P. A. M. 191,193 Dorling,J. 145, 146f, 154, 202 Drake, S. 22, 135, 202f Duerr, H. P. 202,211 Duhem, P. 189,192,195 Duncan, M.M. 17,202 Dyson, E. W. 166

236 Earman, J. 154,202 Eddington, A. 51,161 Edge, D. O. 16,202 Einstein, A. 6If., 69, 175, 95, 97, 99, 103, 114, 116, 131, 161, 203, 206f. Faraday, M. 89, 156f.,206 Fermi, E. 191,193,228 Feyerabend, P. 3, 86, 103, 119f., 122ff., 13Iff., 140£, 155, 202f, 207,211,215,221 Franklin, A. 34, 169,203 Fraassen, B. C. v. 180, 186, 195, 203 Fresnel, A. J. 69, 104, 116f., 151, 164, 188, 190, 194f,207 Freud, S. 5If., 55, 62, 85, 111 Galilei 2f, 5f, 17, 2Iff, 26, 59, 61, 65, 81ff., 88, 97, 103, 110, 116f., 122ff, 129, 131ff, 138, 140, 149, 164f, 167, 172ff, 189,203 Galison, P. 34, 151, 169, 198, 203 Galle,J. 66,70, 111,221 Gaukroger, S. 133,203 Geymonat, L. 133,203 Glymour, C. 49,203 Goethe, J. W. V. 58,203 Gooding, D. 156, 169, 203, 207 Hacking, I. 24, 34, 156, 158, 169, 191, 193,203 Halley, E. I l l , 141f, 144 Hamilton, W. R. 178f,233 Hanfling, O. 18,203 Hanson, N.R. 9f, 18,204 Hawking, S. 138 Helmholtz, H. V. 158,223 Hempel, C. G. 45, 49, 127, 204 Henry, J. 18,20,173,201 Hertz, H. 28ff, 34, 71, 158, 162ff, 173,187,204 Hirsch, P. 168,204,211 Hobbes,T. 176

Hooke,R. 20,204 Horwich,P. 154,204 Howson, C. 117, 120, 145, 147ff, 198, 203f, 207 Hoyningen-Huene, P. 106, 204, 211 Hume, D. 7, 42, 49, 128, 172, 201, 204, 207 Kepler, J. 56f., 68, 81, 83f, 117 Klein, U. 17, 20ff., 25, 27, 29f, 59, 75, 134ff, 158, 191, 200, 204, 224 Koertge,N. XIV Kopernikus, N. 17, 21, 69, 78ff, 83, 94, 96, 108f., 114, 116, 118, 123, 125, 135f, 167, 169, 188f Kuhn, T. 86f, 89ff, 105ff., 113, 115, 118, 120f, 125f, 129, 155, 162f,201f.,204,215,224 Lagrange, J. L. 178f, 229 Lakatos, I. 32, 49, 75, 77, 86, 106ff, 125, 127, 129, 146f, 155,202,204ff,215 Laudan, L. 140,205 Lavoisier, A. 65, 95 Lawrence, D. H. 2 Leplin, J. 195,201,205 Leverrier, U. J. 66, 112 Locke, J. 7, 18, 128,201,205 Lodge, O. 166 Mach, E. 189 Marx, K. 52, 62, 108 Masterman, M. 90 Maxwell, J. C. 29ff, 68f, 71, 77, 89, 103, 158, 178, 181, 186, 188, 190,205 Mayo, D. 34, 86, 99, 120, 154, 159ff., 165ff, 169, 198,205 Menter,J. 168,205 Michelson, A. A. 103 Mill,LS. 126,205 Morley, L. 103 Mulkay, M. J. 16, 139, 202, 205

237

Musgrave, A. 86, 106, 115, 120ff. Nagel, E. 127 Nersessian, N. 106,206 Newman, W.R. 200,206 Newton, I. 3, 56f., 6If., 64, 66f., 70f., 75f., 83f., 187f., 91f., 95, 100, 103f., llOff., 116, 120, 145, 160, 162, 166, 174f., 179, 181, 186, 188, 190,205,207 Nye, M.J. 16,206 0'Hear,A. 72,206 Oersted, H.C. 156 Osiander, A. 17, 136, 188 Ostwald, W. 189

Rontgen, W. C. 59 Rosenkrantz, R. D. 154, 206 Rowbotham, F. J. 6,206 Russell, B. 38, 49, 67, 206 Russell, D. XVI Salmon, W.C. 49,206 Schilpp, P. A. 72, 86, 205f. Shapere, D. 24,206 Snell, W. V. R. 159 Soddy, F. 32 Stove, D.C. 49,207 Suchting, W. XV Tarski,A. 183f.,207 Thomason, N. 167,207 Thomson, J. J. 29, 34, 162f., 173, 177f. Thurber,J. 22,207

Pauli, W. 94 Perrin, J. 163f. Platon 68 Poincare, H. 185,206 Poisson, S. D. 69, 104, 151, 207 Polanyi, M. 10,93,206 Popper, K. R. 24, 49, 51, 55ff., 62, 66f., 72, 84ff., 99f., 104, 106f., 113, 116, 122, 127, 141f., 148, 155, 162, 166, lk72, 191, 194f.,201,205f.,215f.,221 Post,H. R. XIV Powers, H. 20 Price, D. J. de S. 136,206 Principe, L. M. 200,206 Prout, W. 31, 147f., 152 Ptolemaus, C. 78, 80, 83, 115, 135f.

Young, T. 116,207

Quine, W. v. O. 74, 147, 206

Zahar, E. 114,120,205,207

Urbach, P. 145, 147ff., 198, 204 Vetter, H. 122 Wartofsky, M. W. 120,202 Weber, W. 158 Wittgenstein, L. 93 Wolfe, A. B. 45 Woolgar, S. 185,207 Worrall, J. 107, 115f., 120, 132, 136, 138, 192, 194f., 205, 207

Sachregister

Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Nicht- bzw. Pseudowissenschaft 84f. Adaquationstheorie siehe Korrespondenztheorie Ad-hoc-Hypothese 68, lllf., 148f. Ad-hoc-Modifikation 64 ff. Alchemie 95, 199f. Allgemeine Relativitatstheorie siehe Relativitatstheorie allgemeine Satze 43f. - Aussagen 37ff., 44, 46, 53, 74, 104 „anarchistische" Erkenntnistheorie 2, 121ff. Anfangsbedingung 47f., 74f., 108f., 112, 175 Annaherung an die Wahrheit 190ff. auch Wahrheitsndhe Anomalie 92,94, 105 Anti-Realismus lOlf., 184ff., 188f., 194f. „anything goes" 122,127 Approximation an die Wahrheit siehe Annaherung an die Wahrheit aristotelisches Weltbild, - System 16, 65, 78ff., 83, 94ff., 100, 123, 125, 132, 137f. aristotelische Physik, - Theorie 6, 16, 78ff., 100, 116, 13If., 175f.

Astrologie 99, 119, 126, 162 Astronomie 69, 75, 78, 82ff., 91, 94, 99, 108, 110, 116, 122, 124ff., 131, 189, 193 Ather 31, 79, 90, 95f., 166, 181, 186, 188, 190f., 194ff. Atomgewichte 147f., 150, 152 Atomphysik 95, 131 Atomtheorie 110,189 Ausgangsbedingung siehe Anfangsbedingung Axiom 6, 95 Basissatz siehe Beobachtungsaussage Bayesianismus 141ff., 155ff., 197f. subjektiver- 144 Bayesianer siehe Bayesianismus Bayes-Theorem 144ff. siehe auch Bayesianismus Beobachtung 2, 5ff., lOf., 13ff., 30ff., 35, 37ff., 42ff., 48, 5Iff., 56ff, 65ff, 69, 73f, 76ff, 84f, 87f, 92f, 98f, 103, 107ff, 124f, 132, 134ff, 149, 151, 155f, 158, 160ff., 167ff., 173, 179, 181, 185ff Beobachtungsaussage 13ff, 23, 37f., 44, 48, 52ff, 56f, 60, 67, 70, 73, 76, 87f, 103, 108, 187

240

Beobachtungssatz siehe Beobachtungsaussage Bewahrung 67ff., 70ff., 111 Bewegungsgleichung lagrangesche - 178f. hamiltonsche - 178f. bohrsches Atommodell 77, 110, 190f. brownsche Partikelbewegungen 164 Chemie 16, 32, 91, 96, 100, 138, 200f., 224, 234 Deduktion 35ff., 46ff., 52, 57, 60, 72, 145 Definition 65,88,91,93, 197 ostensive - 88 disziplinares System {..disciplinary matrix") 90 Dutch Books 143,145 Eindeutigkeit einer Theorie 56ff., 58 Einfachheit einer Theorie 80, 96, 101 Einsteins Theorie siehe Relativitdtstheorie Einzelaussage 38, 53, 74 Elektromagnetismus, elektromagnetische Theorie 30f, 77, 88, 91, 157f., 186 siehe auch maxwellsche Theorie Elektromotor 156 Elektronenmikroskop 158, 166, 168, 187 Elementarteilchenphysik 151, 177 Empirismus 186 konstruktiver Empirismus 13 6 Entitat 171, 176, 190f. Epistemologie 197 Epizykel 78ff., 83, 108f., 114f., 118, 136 Erfahrung 6, 8, lOff., 17, 33, 42ff., 46, 102f., 132 Erfullung 184 Erhaltungssatz 177ff., 199

Experiment von Cavendish 110, 173 Experiment, experimentelle Methode 2, 5f., 9, 25ff., 35, 40,45f., 51ff., 57f., 60f., 67ff., 71ff., 83f., 88ff., 92f., 98ff., 102ff., 107ff., 112, 114, 116, 119, 124, 128, 137f., 140, 146, 149, 15 Iff., 155ff Experimentalismus 34, 174, 186f, 197ff vgl. Neuer Experimentalismus Fallstudien 119f, 140, 150, 200 Falsifikationismus 5Iff, 63f, 73ff, 89,92, 107, 117, 121, 166 raffinierter - („sophisticated falsificationism") 63 ff Falsifikationsmoglichkeit 56, 63 Falsifizierbarkeit 53, 55f, 58, 63 Falsifizierbarkeitsgrad 63ff relativer- 63 ff absoluter- 63ff Fehler, aus Fehlem lernen 57, 100, 162f Fehlerstatistiken 165 Fehlertheorie 199 Fehlerwahrscheinlichkeit 153 Feldtheorie 196 Fermi-Dirac-Statistik 191, 193 Fernrohr siehe Teleskop Forschungsprogramm 107ff, 111, 113f, 116ff, 151, 155 degeneriertes - 113 progressives - 113 Fortschritt der Wissenschaft 3, 16, 23, 28f, 57, 59ff, 63ff, 74, 78, 87, 89f, 98ff, 105, 110, 112f, 116f, 119, 122, 131, 138, 151, 156f, 164, 166, 174, 189f, 195, 198ff,200 Freiheit 126ff, 178 Gedankenexperiment 83, 88f, 116 Genauigkeit von Theorien siehe Prdzision von Theorien

241 Geschichte der Wissenschaft siehe Wissenschaftsgeschichte Gesellschaftsvertrag 128 Gesetz der Lichtbrechung 159 Gesetz des freien Falls 84 Gesetze und Theorien, wissenschaftliche - 7, 46, 48, 52, 57, 74 Gestaltwandel 96, 10 If., 105 Gravitationsgesetz, - theorie 42, 56, 64, 70f., 75f., 84, 109f., 118, 143, 175 vgl. auch new tons che Theorie „harter Kern" eines Forschungsprogramms 79, 108f., 113, 118 Heuristik 109ff., 117 positive- 109, 11 Iff., 1117 negative- 109 Hilfshypothesen 74f, 109f, 143, 155 Hintergrundwissen 16, 18, 68ff, 143, 147, 155f, 162 Historischer Materialismus 1, 108, 119 siehe auch Marxismus oder Materialismus „humanitare" Einstellung 126 Individualismus 127 Individualpsychologie 55 Induktionsprinzip 35ff., 55 Induktionsproblem 42ff. Induktivismus 35ff, 51, 67, 71, 89, 98, 107, 155 „naiver"- 48,59 „induktivistischer Truthahn" 3 8 Inkommensurabilitat 97, 125, 155 Instrumentalismus 155, 195 Irradiation 134f Kartenparadoxie siehe Lugnerparadoxie Kartesianismus 91, 95 keplersche Gesetze, - Theorie, auch Gesetze der Planetenbewegung 43, 56f,68, 81ff, 83ff

kinetische Gastheorie 77 klassische Statistik 191 konstruktiver Empu*ismus siehe Empirismus kopemikanische Revolution 77, 78ff., 87, 188 kopemikanisches Weltbild, ~ System, Theorie von Kopemikus 17, 21f, 69, 73, 75, 77ff, 86f, 92, 94, 96, 102, 108ff, 114ff, 123ff, 135f, 167, 169, 188f Korpuskulartheorie 186, 190 siehe auch Teilchentheorie des Lichts Korrespondenztheorie der Wahrheit 183f auch Addquationstheorie Krise der Wissenschaft 80, 94f, 98 „Kuhnheit" von Vermutungen siehe Vermutungen Letztbegrundung 13 7 „Leveller" 139 Logik 35ff, 42, 46, 49, 62, 72f, 102, 106, 120, 125, 145, 153f, 183f logischer Positivismus siehe Positivismus Lugnerparadoxie 183 Magie 126 Marxismus siehe Historischer Materialismus Materialismus siehe Historischer Materie 69, 77, 95, 137, 165, 171f, 174ff, 181, 190, 199 Materietheorien 199 maxwellsche Theorie 71, 94f, 186 siehe auch Elektromagnetismus maxwellsche Gleichung 89 Mechanik 75, 79, 8Iff, 88ff, 96, llOf, 114, 116, 137, 166, 177ff, 188f, 193, 196 mechanische Philosophic 13 7

242

Messung 14, 17, 2If., 24, 27f., 30ff., 42, 77, 92, 114, 124, 147f., 152, 159, 193 Metasprache 183 Methodologie, auch Wissenschaftsmethodologie 76, 78, 107ff., 11 Iff., 125, 146f Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme 107ff Musterbeispiel („exemplar") 90 Mythen 3, 127 naive Mengenlehre 61 neuartige Vorhersage, Neuartigkeit von Vorhersagen siehe Vorhersage Neuer Experimentalismus 155ff newtonsche Theorie, - Physik, - Bewegungsgesetze, - Mechanik, - Astronomie, newtonsches Weltbild 3, 56, 57ff, 61f, 64, 66f, 70f., 75f, 78,82ff., 87f, 90ff, 95, 99f, 103f., 108ff, 116, 120, 124, 141f, 145, 160ff, 166, 174f, 178f., 181, 186, 188, 190, 192 siehe auch Gravitationsgesetz Nicht-Wissenschaft 84, 91, 99, 182 Normalwissenschafl, normale Wissenschaft 90ff, 97f, 100, 162 Funktion normaler Wissenschaft 97ff Objektsprache 183 Ontologie 176 Optik 43, 147f, 81f, 90ff., I l l , 186, 190, 194 optische Tauschung 19 Paradigma 90ff, 105, 107, 113, 121, 138, 155 Paradigmenwechsel 97f, 102, 105 Paradoxie siehe Lugner- oder Kartenparadoxie Partikeltheorie des Lichts siehe Teilchentheorie d. Lichts

peripatetische Physik 133 Perpetuum mobile 177f Phlogistontheorie 65 Positivismus 7, 18, 51, 107, 117, 155 logischer- 18,51 Posteriorwahrscheinlichkeit 142ff., 147f., 15 Iff Prazision von Theorien 56ff, 88 Primat der Theorie 60 Priorwahrscheinlichkeit 140, 144f, 147f, 150ff, 156 Protokollsatz vgl. Beobachtungsaussage Pseudowissenschaft 84 Psychoanalyse 55 ptolemaisches Weltbild, - System 78, 80f., 83, 94, 114f., 123, 135 Quantenphysik, -theorie, -mechanik 87, 114, 129, 163, 166, 177, 188, 191f., 197 Randbedingung siehe Anfangsbedingung Ratsel 91f, 94, 98, 105, 116, 162 Realismus 18 Iff Realismus und Anti-Realismus 181ff nichtreprasentativer - 194ff wissenschaftlicher - 189ff. - der Vermutungen 189ff struktureller - 194 Reflexionsgesetze 30, 46f, 54 „RegelmaBigkeits-Ansatz" 173 f Relativismus lOlf, 105, 118, 132, 138 Relativitatstheorie 2, 31, 51, 62, 69, 99, 114, 152, 161, 164, 166f, 187, 195 Allgemeine - 51, 62, 69, 114, 161, 164, 167 Spezielle - 62 Renaissance 99, 176 Replikationsstudien 146

243

Revolution politische- 96, 101 wissenschaftliche - 16f., 77f., 84, 86f., 89f., 94ff., lOOff., 106f., I l l , 113, 121, 129, 136f., 156, 162ff., 188f, 197, 200 Funktion wissenschaftlicher Revolutionen 97ff. vgl. auch kopernikanische SchopfUngslehre 2,198,201 Schutzgiirtel eines Forschungsprogramms 108ff., 117, 146f. Scientific community 90, 97, 99, 113, 125 Sonnenfmsternis-Experimente 161, 166 Soziologie, Sozialwissenschaften 91, 106, 111, 119,214f.,220f. Spezielle Relativitatstheorie siehe Relativitatstheorie Spiel 93 Sprache, Sprachsystem 97, 182ff. Standards wissenschaftlicher Arbeit 48, 93, 95ff., 105, 113, 120, 132, 136, 138, 153 Storfaktoren, -variablen 28, 32, 112, 173 Subjektiver Bayesianismus siehe Bayesianismus, „Tacking-Paradox" 160 Teilchentheorie des Lichts 69, 104, 151, 181 siehe auch Korpuskulartheorie Teleskop 17, 2Iff., 65f., 74f., 8If., 91f., 103, 109f., inf., 123ff., 123ff., 164, 167 theoretische Konstrukte 105, 136, 148f., 183 Theorienwahl 105 Theorienwechsel 78, 156 Thermodynamik 163, 177f. Tragheitsgesetz 82 Turmargument 79, 124

Unendlicher Regress 88 universelle Methoden 13Iff., 138f., 198f. Vermutungen 5, 45, 52, 57, 60ff., 66ff., 84, 87, 99, 112, 189, 191f., 195 kuhne - 68ff. behutsame - 67ff. - und Widerlegungen 62, 99, 112, 195 Realismus der - 189ff. Versuch und Irrtum 28, 52, 57, 124 Voodoo 3, 126 Vorhersage 30, 43, 46, 48, 5If., 62f, 67ff., 72ff, 79, 84, 88, 99f, 104, 109., 11 Iff, 120f, 124, 135, 141, 143, 160ff., 167ff, 178, 187f, 194f neuartige - 63, 68ff, 113 Vor-Wissenschaft 90,92,116 Wahrheit 15f, 18, 36f, 43, 46, 57, 67, 70ff, 132ff, 142, 146, 182ff, 188, 190f siehe auch Anndherung an die Wahrheit siehe auch Korrespondenztheorie der Wahrheit Wahrheits- vs. Falschheitsgehalt einer Theorie 70 Wahrheitsgehalt von Beobachtungsaussagen 15f, 18, 73, 134, 142 Wahrheitsnahe Siehe Anndherung an die Wahrheit Wahmehmung 2, 7f, lOff, 17ff, 24, 31f, 100, 103, 133, 182, 233 Wahrscheinlichkeit 44, 70, 140ff, 160, 165f, 198 Wahrscheinlichkeitstheorie 44, 140f,144 Wellentheorie des Lichts 69, 104, 116f, 151, 164, 188, 194

244

Wissenschaft vs. Nicht-Wissenschaft 84,91,99, 182 wissenschaftliche Revolution siehe Revolution wissenschaftliche Forschungsprogramme siehe Forschungsprogramme wissenschaftlicher Fortschritt siehe Fortschritt der Wissenschaft wissenschaftliche Methode Iff., 45, 127, 132, 196

wissenschaftliche Revolution siehe Revolution Wissenschaftsgeschichte 2f, 16, 34, 65, 68f, 87, 89, 93, 115f, 117f., 129, 181, 186, 188, 190, 192, 197f Zeigehandlung siehe Definition, ostensive Ziel der Wissenschaft 70, 185, 190 Zirkelschluss 33f Zusatzannahme, -hypothese 108 vgl. Schutzgurtel eines Forschungsprogramms

Druck: Krips bv, Meppel Verarbeitung: Sturtz, Wurzburg