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German Pages 325 [328] Year 2012
Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit
Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Neue Folge, Band 4 Berichte über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters
De Gruyter
Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit II. Kulturelle Konkretionen (Literatur, Mythographie, Wissenschaft und Kunst)
Herausgegeben von
Ludger Grenzmann, Thomas Haye, Nikolaus Henkel und Thomas Kaufmann
De Gruyter
Vorgelegt von Thomas Kaufmann in der Sitzung vom 14. Juli 2006
ISBN 978-3-11-028519-2 e-ISBN 978-3-11-028528-4 ISSN 0930-4304 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data: A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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WALTHER LUDWIG Humanistische Erforschung und Anerkennung nicht-christlicher Kultur und Religion – Schritte auf dem Weg zur Toleranz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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DOROTHEE GALL Zur Rezeption der paganen Götter bei Boccaccio und Ficino . . . . . . . . . .
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BODO GUTHMÜLLER Zur religiösen Polemik gegen das Studium der antiken Dichter in Italien um 1400 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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CHRISTINE SCHMITZ Ficta … veterum mendacia vatum – Maffeo Vegios hagiographisches Epos ‹Antonias› zwischen Polemik und Aneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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MANFRED KERN Weltweyse Fabeln / lüstlich unnd nützlich zulesen. Mythologie und Mythographie in Simon Schaidenreissers ‹Odyssea› (1537) und in Jörg Wickrams ‹Metamorphosen› (1545) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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GERLINDE HUBER-REBENICH Ovids Göttersagen in illustrierten Ausgaben des 15. und 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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LIESELOTTE E. SAURMA-JELTSCH Muslime im Bild des Spätmittelalters: Unterschiedliche Blicke auf die ‘Anderen’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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THOMAS KAUFMANN Aspekte christlicher Wahrnehmung der ‘türkischen Religion’ im 15. und 16. Jahrhundert im Spiegel publizistischer Quellen . . . . . . . .
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Inhalt
ALMUT HÖFERT Insana scabies et historia orbis terrarum. Die religio turcorum im Spannungsfeld zwischen häresiologischer und ethnographischer Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register I. Orte / Geographische Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort der Herausgeber Der vorliegende Band dokumentiert den Abschluss eines aus insgesamt vier Tagungen bestehenden Arbeitszyklus’ zum Thema ‘Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit’, den die ‘Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters’ in den Jahren 2004 bis 2007 an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen durchgeführt hat. Nachdem im Jahre 2009 der erste Teilband zum Bereich ‘Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien’ erschienen ist (mit den Vorträgen der Symposien 2004 und 2005), folgt nun der zweite Teilband mit Ergebnissen der Jahre 2006 und 2007. Jede Tagung besaß einen eigenen inhaltlichen Schwerpunkt und widmete sich einem einzelnen Aspekt des politisch aktuellen Rahmenthemas: Im Jahr 2004 legte die erste Veranstaltung das Fundament, indem sie sich mit den für die Erforschung relevanten Methoden und Begriffen befasste. Die drei folgenden Symposien konzentrierten sich jeweils auf eine einzelne der für den europäischen Kontinent wirkmächtigen Religionen: Im Jahre 2005 wurde das spätmittelalterliche Judentum (in seinem Kontakt zur christlichen Umgebung) untersucht. Die Tagung des Jahres 2006 betrachtete die wechselseitige Wahrnehmung von Islam und Christentum. Schließlich wurde 2007 die im Spätmittelalter und im Renaissance-Humanismus zu beobachtende Rezeption der antik-paganen Religion zur Diskussion gestellt. Es ist evident, dass sich das Rahmenthema nur in einer multidisziplinären Perspektive behandeln lässt. Wie bereits der erste Teilband, so bietet daher auch der vorliegende zweite eine Verschränkung von Beiträgen unterschiedlicher Fachrichtungen. Mehr als bedauerlich ist es daher, dass die auf der Tagung von 2006 mit mehreren Vertretern und Vorträgen vertretene Islamwissenschaft zuletzt keinen Beitrag zu diesem Band beigesteuert hat. Als Hinführung zum Thema dient die grundlegende Studie von Walther Ludwig, in welcher der Frage nachgegangen wird, wie sich das humanistisch geprägte Christentum im betrachteten Zeitraum zu nichtchristlichen Kulturen und Religionen verhält, wie es diese untersucht und bewertet. In aktualisierender Zuspitzung wird dabei gefragt, inwieweit der Humanismus erste ‘Schritte auf dem Weg zur Toleranz’ gegenüber dem Anderen und Fremden gegangen ist. Nach einigen methodologischen Vorüberlegungen nähert sich Ludwig dem Phänomen religiöser ‘Toleranz’ zunächst auf begriffsgeschichtlichem Wege. Hier zeigt sich, dass Augustins Brief an den schismatischen Bischof Vincentius den zentralen sprachlichen und ideologischen Bezugspunkt für die mittelalterliche ebenso wie für die frühneuzeitliche Auseinandersetzung mit Ungläubigen, Heiden und Devianten bildete und auch das deutsche Wort ‘Toleranz’ entscheidend
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durch den spätantiken Kirchenlehrer geprägt worden ist. In einem zweiten Abschnitt beschäftigt sich Ludwig mit den drei großen Intellektuellen Desiderius Erasmus, Thomas Morus und Justus Lipsius. Im Ergebnis zeigt der Humanismus des 16. Jahrhunderts zwar deutliche Ansätze zur Entwicklung der Toleranz gegenüber Andersgläubigen, er ist jedoch nicht der entscheidende Motor. In einem dritten Schritt untersucht Ludwig die nachfolgende Debatte des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, in der Jean le Clerc, Robert Jenkin und Lodovico Antonio Muratori über den augustinischen Toleranz-Begriff streiten. Dorothee Gall führt mit ihrem Beitrag ‘Zur Rezeption der paganen Götter bei Boccaccio und Ficino’ in das Zentrum der Auseinandersetzung mit dem antikpaganen, vor allem durch Poesie vermittelten Mythos. Hier bildet Boccaccios zwischen 1350 und 1375 verfasste ‹Genealogie deorum gentilium libri› einen Schlüsseltext der humanistischen Debatte. Die besondere Leistung des Werkes besteht darin, dass Boccaccio den heidnischen Mythos nicht nur verteidigt, sondern zu einem konsistenten und in sich widerspruchsfreien System entwickelt, das die Funktion eines Lehrbuches übernimmt. Darüber hinaus werden die einzelnen Mythologeme im traditionellen Verfahren einer umfassenden Allegorese unterworfen. Die Haltung des Autors gegenüber seinem Gegenstand erweist sich als keineswegs eindeutig: Manche Erzählungen werden von Boccaccio christlich vereinnahmt, manche ironisch belächelt, die meisten aber unter Hinweis auf den mehrfachen (das heißt hier vor allem: verborgenen) Schriftsinn verteidigt. Der heidnische Mythos (angeblich in seinem Kern monotheistisch angelegt) wird als Schatzkammer christlicher Heilswahrheiten aufgefasst, mit denen sich ein wahrer Christ beschäftigen sollte. Diese Argumentation wird von Ficino in seinen Briefen, die er 1494 zu einem ‹Epistolarium› zusammengestellt hat, zwar immer wieder aufgegriffen, allerdings nicht im Sinne eines Systems und zudem oftmals eher spielerisch. Anders als Boccaccio zielt Ficino nicht darauf, den poetischen Überlieferungsmodus gegen den Vorwurf der ‘Lüge’ zu verteidigen, sondern die aus dem Mythos destillierte Erkenntnis mit der platonischen Philosophie zu harmonisieren. Bodo Guthmüller begibt sich mit seiner Studie ‘Zur religiösen Polemik gegen das Studium der antiken Dichter’ auf dasselbe thematische Feld. Er zeigt, wie Boccaccio und andere Autoren des 14. und frühen 15. Jahrhunderts mit zeitgenössischen Theologen um den religiösen Wert der paganen Poesie ringen. Als Exempel greift Guthmüller hier eine Debatte heraus, die im Florenz des Jahres 1405 zwischen dem Dominikaner Giovanni Dominici und dem Kamaldulenser Giovanni da Samminiato auf der einen Seite sowie Coluccio Salutati und Angelo Corbinelli auf der anderen Seite geführt wird. In seiner ‹Lucula Noctis› fordert Dominici in polemischer Zuspitzung eine radikale Abkehr von der Beschäftigung mit heidnischer Dichtung (und dem in ihr überlieferten Mythos). Dabei bewertet er – insbesondere unter Berufung auf Augustin – alle seit der Spätantike angeführten Argumente, welche eine solche Beschäftigung rechtfertigen könnten, als unzureichend. Es ist aufschlussreich, dass sich Humanisten wie Petrarca, Boccaccio und Salutati zu ihrer Verteidigung ebenfalls auf Augustin berufen, ihn jedoch
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in konträrer Weise ausdeuten. Zudem versucht insbesondere Salutati die Nähe der Dichtung zur Heiligen Schrift herauszuarbeiten. Bis zum Beginn der Gegenreformation behält die humanistische Deutung in dieser Debatte die Oberhand. Demselben Thema widmet sich Christine Schmitz mit ihrem Beitrag ‘Ficta … veterum mendacia vatum – Maffeo Vegios hagiographisches Epos ‹Antonias› zwischen Polemik und Aneignung’. Sie arbeitet heraus, wie sich Vegio mit seinem Eintritt in die Kurie Eugens IV. von der paganen Poesie distanziert und den in ihr propagierten Mythos als Lüge entlarvt. Greifbar wird diese programmatische Neuausrichtung in der 1436/1437 verfassten, inhaltlich auf der ‹Vita Pauli› des Hieronymus beruhenden ‹Antonias›, in welcher die klassischen Elemente des Heldenepos konsequent durch eindeutig christliche Dichtungstraditionen ersetzt werden. Dabei greift Vegio die Polemik der spätantiken christlichen Autoren auf und verleiht auf diese Weise der poetologischen Debatte ein theologisches Fundament, das dem kurialen und päpstlichen Publikum angemessen ist. Zugleich distanziert er sich von seiner früheren, antikisierenden Poesie und entwertet diese als spielerisch gemeintes ‘Jugendwerk’. Manfred Kern widmet sich in seiner Studie über ‘Mythologie und Mythographie in Simon Schaidenreissers ‹Odyssea› (1537) und in Jörg Wickrams ‹Metamorphosen› (1545)’ den deutschen Übertragungen zweier für die Kultur des Abendlandes zentraler Epen. Dabei differenziert er auf methodologischer und begrifflicher Ebene zunächst zwischen einer Mythologie, welche in der narrativen Repräsentation des paganen Mythos besteht, und einer Mythographie, welche den Mythos systematisiert und deutet. Mit Hilfe dieser Unterscheidung geht er der Frage nach, inwieweit die deutschen Übersetzungen des 16. Jahrhunderts das hochmittelalterliche Mythenverständnis lediglich fortführen und inwieweit man von einem genuin humanistischen Neuansatz sprechen kann. Hierzu führt er aus, dass der Begriff der ‘Toleranz’ sich als Unterscheidungsmerkmal kaum eignet, da im Mittelalter die antik-pagane Religion längst abgewickelt war und mithin nicht mehr ‘toleriert’ werden musste, sondern lediglich als Objekt künstlerischer Verfahren diente. Epochale Unterschiede sieht Kern hingegen in dem literarischen Umgang mit dem Mythos: Seit dem 14. Jahrhundert dient die Götterwelt weniger als Gegenstand der autoritativen Ausdeutung denn als ästhetisches Faszinosum, mit dem man unbefangen und ohne interpretierende Entschärfung operieren kann. Verdeutlicht wird dies an zwei kontrastiven Beispielen: Während sich Wickrams Bearbeitung der ovidischen ‹Metamorphosen›, welche auf der um 1200 angefertigten Übersetzung Albrechts von Halberstadt beruht, in narrativer und stilistischer Hinsicht deutlich vom lateinischen Original entfernt und den Mythos somit aufbereitet, weist Schaidenreisser in seiner (auf einer lateinischen Zwischenstufe beruhenden) Prosa-Übersetzung der homerischen ‹Odyssee› eine erstaunliche Treue zur Vorlage auf. Die Toleranz besteht hier in der Bewahrung des mythischen Narrativs; das Neue findet man hingegen nur in den deutenden Paratexten. Gerlinde Huber-Rebenich untersucht die humanistische Auseinandersetzung mit dem paganen Mythos am Beispiel von ‘Ovids Göttersagen in illustrierten
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Ausgaben des 15. und 16. Jahrhunderts’. Hier wird deutlich, dass der jeweilige Umgang mit den ovidischen ‹Metamorphosen› ein zentraler Indikator der Rezeption des Mythos ist. Grundsätzlich lassen sich bezüglich der Text-Bild-Relation sehr unterschiedliche Verfahrensweisen erkennen: In der ersten illustrierten, 1484 in Brügge bei Colard Mansion erschienenen Druckausgabe des ‹Ovide moralisé› (‹Bible des poëtes›) begegnen sich die mittelalterliche Allegorese und der traditionelle pagan-christliche Synkretismus. Die Abbildungen bieten keine zusätzlichen, über den Text hinausgehenden Deutungen an, jedoch werden die antiken Götter und Heroen bildlich aktualisiert und vergegenwärtigt. In dem 1375/1377 entstandenen und 1497 gedruckten ‹Ovidio metamorphoseos vulgare› des Giovanni dei Bonsignori folgen die Abbildungen der erzählten Handlung und enthalten keine Auslegungen. Der Text lässt sich auf die Erfahrungswelt der zeitgenössischen Leser ein, die Illustrationen hingegen deuten zumindest an, dass eine Differenz zwischen der erzählten Mythenwelt und der zeitgenössischen Realität besteht. In der humanistisch inspirierten, von Raphael Regius besorgten Ausgabe werden die (für ein volkssprachliches Publikum geschaffenen) Bonsignori-Abbildungen aufgegriffen und recht unpassend neben die gelehrten Kommentare gestellt. Zur Beseitigung dieser Disharmonie schafft man danach für die von Giovanni Tacuino gedruckte Ausgabe des Jahres 1513 eine neue Bildserie, die sich deutlicher an den gelehrten Text anpasst. Lieselotte Saurma-Jeltsch untersucht aus kunsthistorischer Sicht die ‘Muslime im Bild des Spätmittelalters’. Hierbei zeigt sich, dass der Muslim in den spätmittelalterlichen Darstellungen überwiegend als Sarazene auftritt und zudem stets topisch gezeichnet ist. Er wird einerseits als tapferer und den Christen militärisch ebenbürtiger Kämpfer inszeniert, welcher die Bewunderung des Betrachters verdient und das Bewusstsein einer gemeinsamen, suprareligiösen Ritterkultur stärkt. Er wird andererseits als Schrecken verbreitender und vom teuflischen Wahnsinn geleiteter Berserker präsentiert, der beim Betrachter das Gefühl der fundamentalen Fremdheit auslöst. Dabei verfügt der Sarazene keineswegs über eine spezifische Repräsentation, vielmehr erscheint er als Teil einer Gruppe, zu der auch der Jude und der Heide gehören. Sie alle treten in der abendländischen Perspektive als fremde ‘Orientalen’ auf. Nicht zuletzt aufgrund der intensivierten Kontakte mit dem östlichen Mittelmeerraum wird im 15. Jahrhundert die Topik der Darstellungen zunehmend überwunden, sie macht einer individuelleren, gleichwohl immer noch an die Interessen der Künstler und ihrer Auftraggeber gebundenen Zeichnung Platz. Der Sarazene wandelt sich dabei im Rahmen der Kreuzzugspropaganda zum Türken. Thomas Kaufmann behandelt in seinem Beitrag einige zentrale ‘Aspekte christlicher Wahrnehmung der türkischen Religion im 15. und 16. Jahrhundert im Spiegel publizistischer Quellen’. Er betont zunächst, dass die christliche Sicht auf den moslemischen Glauben entscheidend von der militärischen Bedrohung des Westens durch das Osmanische Reich sowie von der Furcht vor einer Islamisierung Europas geprägt war. Das Wissen über die ‘türkische Religion’ wurde in zwei mächtigen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen organisiert: Einerseits
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wurden die türkischen Muslime gemäß dem häresiologischen Muster als eine in der Nachfolge altkirchlicher Heterodoxien stehende Sekte aufgefasst. Andererseits wurden sie gemäß einem empirischen Muster in den von sog. ‘Experten’ verfassten Erfahrungsberichten gezeichnet, welche über die (perversen) Sitten und Gebräuche informierten (als zentrale Quelle erscheint hier im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert der Traktat des Siebenbürgeners Georgius de Hungaria, welcher zwanzig Jahre in türkischer Gefangenschaft verbracht hat). In den folgenden Jahrzehnten werden solche auf persönlichen Erfahrungen beruhenden Berichte durch die theologischen Auseinandersetzungen mit dem Koran sowie durch die ethnographische ‘Fachliteratur’ weitgehend abgelöst. Ähnlichen Fragestellungen widmet sich Almut Höfert in ihrem Aufsatz über ‘Die religio Turcorum im Spannungsfeld zwischen häresiologischer und ethnographischer Tradition’. Auch sie geht auf die Polemik des Georgius de Hungaria ein, verweist aber darauf, dass die Türken keineswegs in allen Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts als ontologisch andersartig dargestellt werden. So unterstreicht etwa die ethnographische und kosmologische Wissensliteratur die Einheitlichkeit der bewohnten Welt und verzichtet auf einen apokalyptischen Unterton. Als besonders aufschlussreich erweisen sich zudem die sachlich strukturierten Berichte der Diplomaten. In den elf Reiseberichten, welche auch mit quantitativen Methoden ausgewertet werden, zeigt sich, dass die Religion einerseits oftmals als normaler Bestandteil der nüchternen ethnographischen Deskription auftritt, andererseits von manchen Autoren als Distinktionsmerkmal verwendet wird, um die fundamentale Alterität gegenüber dem Christentum herauszustellen. Nach einer langen Odyssee auf dem unruhigen Meer der Religionen ist der Heimathafen nun glücklich erreicht. Die Herausgeber bedanken sich bei allen Beiträgern der zu diesem Arbeitszyklus gehörenden Tagungsbände und hoffen zusammen mit ihnen, dass die vorliegenden Studien zur wechselseitigen Wahrnehmung und Deutung der die europäische Geschichte prägenden Religionen einige neue Perspektiven und weitere interdisziplinäre Ansätze ermöglichen.
Humanistische Erforschung und Anerkennung nicht-christlicher Kultur und Religion – Schritte auf dem Weg zur Toleranz? WALTHER LUDWIG I. Problemstellung, zur Begriffsgeschichte von Toleranz und die Rolle Augustins II. Beobachtungen an Desiderius Erasmus, Thomas Morus und Justus Lipsius III. Die Kritik von Jean Le Clerc an Augustins Brief an Vincentius und ihre Zurückweisung durch Robert Jenkin und Lodovico Antonio Muratori
I. Problemstellung, zur Begriffsgeschichte von Toleranz und die Rolle Augustins Der Begriff der Toleranz, in der frühen Neuzeit auf die religiöse Toleranz einer christlichen Mehrheit gegenüber einer andersgläubigen christlichen Minderheit beschränkt, wurde im 20. Jahrhundert stark erweitert und ist zu einer der wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Normen unserer Zeit geworden. Entsprechend immens ist die Literatur zu diesem Begriff, seiner Entwicklung, Anwendung und Verbreitung.1 Historiker, Philosophen, Politologen und Theo1
Genannt seien hier nur die Gesamtdarstellungen der Geschichte der Toleranz von JOLECLER SJ, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation. 2 Bde., Stuttgart 1965, von HENRY KAMEN, Intoleranz und Toleranz zwischen Reformation und Aufklärung. Kindlers Universitätsbibliothek 1967, und von PEREZ ZAGORIN, How the idea of religious toleration came to the West. Princeton - Oxford 2003, der Aufsatz von ROGER AUBERT, Das Problem der Religionsfreiheit in der Geschichte des Christentums (1969). In: HEINRICH LUTZ, Hrsg., Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Darmstadt 1977 (Wege der Forschung 246), S. 422-454, der aufschlußreiche Sammelband von OLE PETER GRELL und BOB SCHREIBER, Hrsg., Tolerance and intolerance in the European Reformation. Cambridge 1996, mit neuen Gesichtspunkten zur wechselvollen Geschichte der Toleranz und Intoleranz zwischen 1500 und 1648, der Forschungsüberblick in MICHAEL MAURER, Kirche Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert, München 1999 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 51), S. 101-105, sowie die auch andere Aspekte umfassenden ausführlichen Lexikonartikel zum Stichwort Toleranz in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 445-605 (KLAUS SCHREINER und GERHARD BESIER), Historisches Wörterbuch zur Philosophie. Bd. 10, Darmstadt 1998, Sp. 1251-1262, Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl., Bd. 8, Tübingen 2005, SEPH
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logen haben an diesen Forschungen und Reflexionen mit vielen Ergebnissen teilgenommen. Latinisten waren bisher kaum darunter, aber es interessierte mich, ob der Humanismus durch die Methoden seiner Erforschung und seine Hochschätzung der nichtchristlichen antiken Kultur, Literatur und Philosophie irgendwie dazu beitrug, daß sich der Toleranzgedanke im Lauf der frühen Neuzeit durchsetzen konnte, ob der Weg zur Toleranz irgendwie durch den Humanismus mitgebahnt wurde.2 Ich merkte bald, daß dies noch immer eine sehr umfangreiche Frage ist, bei deren Verfolgung sich eine Fülle von Beobachtungen einstellen und die sich zudem, wie dann bald deutlich wird, nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten läßt. So ließe sich z.B. fragen, inwieweit der Anteil, den Humanisten wie Marsilio Ficino, Morus oder Melanchthon im 15. und 16. Jahrhundert an der Ausbildung des Begriffs der prisca theologia bzw. der natürlichen Religion hatten, aufklärerischen Vorstellungen der religiösen Toleranz vorarbeitete, es ließe sich verfolgen, inwieweit die allegorische Interpretation antiker Götter und Mythen von humanistischer Seite, die wir im 14.-16. Jahrhundert z.B. bei Boccaccio und Natalis Comes beobachten können, die christliche Verteufelung heidnischer Götter ablöste und zu einem verständnisvollerem Verhältnis zu nicht-christlichen Glaubensformen beitrug, und es ließe sich feststellen, wie die humanistische Textphilologie von Erasmus bis Jean Le Clerc/Clericus eine kritische Überprüfung bisher gängiger religiöser Vorstellungen ermöglichte. In sprachlichen Einzelbeobachtungen kann man sehen, wie die humanistische Historiographie eine andere Sprechweise über Häretiker mit sich brachte. Johannes Sichardus z.B. veröffentlichte 1529 in Basel zuerst aus einer Handschrift die Chronik des Mönches Hermannus Contractus, der als Zeitgenosse zum Jahr 1051 angemerkt hatte: „Der Kaiser [Heinrich III.] verbrachte das Weihnachtsfest in Goslar und ließ dort mit der Zustimmung von allen einige Häretiker, die unter anderen schlimm irrtümlichen Lehren der manichäischen Sekte den Verzehr von allen Tieren verdammt hatten, an Galgen aufhängen, damit die sich weiter verbreitende häretische Infektion nicht noch mehr Menschen anstecke.“3 Daraus wurde in den Annales Boiorum des Johannes Aventinus:
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Sp. 458-470, und Theologische Realenzyklopädie. Bd. 33, Berlin 2002, S. 646-676, alle mit weiteren Literaturhinweisen. Vgl. dazu auch KLAUS GARBER, Imperiled heritage: tradition, history, and utopia in early modern German literature, edited. with an introduction by MAX REINHART,[übersetzt von JOE G. DELAP u.a.]. Aldershot u.a. 2000 (Studies in European cultural transition 5), S. 29-40 („Humanism in the Religious Wars“), S. 50f. („Humanist Affinities with Calvinism and Other Reformisms“), und WALTHER LUDWIG, Literatur und Geschichte. Ortwin Gratius, die ‘Dunkelmännerbriefe’ und ‘Das Testament des Philipp Melanchthon’ von WALTER JENS (1999). In: ders., Miscella Neolatina, Ausgewählte Aufsätze 19892003, ed. curavit ASTRID STEINER-WEBER. Hildesheim 2004-2005 (Noctes Neolatinae 2. 1-3), Bd. 2, S. 523-571, hier S. 551-569. JOHANNES SICHARDUS, Hrsg., En damus Chronicon divinum plane opus eruditissimorum autorum, repetitum ab ipso mundi initio, ad annum usque salutis M.D.XII. Eusebii
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„Schließlich beging er die Festtage im Dezember in Goslar mit korrekter Teilnahme an den Gottesdiensten, wie es einem christlichen Fürsten ansteht. Einige etwas Abergläubische, die den Verzehr von Fleisch verdammten, ließ er aufhängen, damit das Übel sich nicht weiter verbreite.“4 Er ersetzte quosdam Haereticos durch quosdam religiosulos und vermittelte dadurch dem Leser eine andere Bewertung. Für den Protestanten Johannes Wolff wurde aus der Nachricht von Hermann dem Lahmen zu Ende des 16. Jahrhunderts Munition gegen die Anhänger des Papstes: „Im Jahr 1052 ließ Kaiser Heinrich in Goslar einige Häretiker aufhängen, die den Verzehr von Fleisch verboten hatten. Heute ermorden die Papisten die, die mit Gott diesen Verzehr zulassen und billigen.“5 Am besten erforscht und bekannt sind vielleicht die Vorstellungen des Nikolaus von Kues über die Gemeinsamkeit der monotheistischen Religionen bei unterschiedlichen Riten, das Verhältnis des Humanisten Reuchlin zur hebräischen Literatur und den Juden und die Aufforderungen Castellios zu einer Toleranz zwischen Christen, die die Atheisten freilich, wie es durchweg geschah, ausschloß. Die vielen Möglichkeiten, die Beziehungen von Humanismus und Toleranz zu verfolgen, veranlaßten mich, mich auf einige Bemerkungen zu Desiderius Erasmus, Thomas Morus und Justus Lipsius zu beschränken, so daß der Titel dieses Vortrags auch lauten konnte: ‘Humanismus und Toleranz - Beobachtungen an Erasmus, Morus und Lipsius’. In der vorliegenden schriftlichen Fassung kommt durch das hinzugefügte III. Kapitel dazu die Vorstellung der humanistisch-christlichen Augustinkritik und des Toleranzverständnisses von Jean Le Clerc/Clericus, der Erasmus sowohl rezipierte als auch transzendierte,
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Pamphili Caesariensis, D. Hieronymo interprete. D. Hieronymi Presbyteri. Prosperi Aquitanici. M. Aurelii Cassiodori Patricij Rom: Hermanni Contracti Comitis Veringen: Matthaei Palmerij Florentini. Mathiae Palmerij Pisani. Basel 1529, Bl. 203v-204r: Imperator natalem Domini Goslare egit, ibique quosdam Haereticos inter alia pravi erroris dogmata Manichaeae sectae [ed. Sichardi: Manichaea secta] omnis esum animalis execrantes, consensu cunctorum, ne haeretica scabies latius serpens plures inficeret, in patibulis suspendi iussit. NICOLAUS CISNERUS, Hrsg., Io. Aventini Annalium Boiorum libri VII. Basel 1580, S. 424: ultimo Decembris festos dies, rem divinam, ut Christianum decet principem, Goslariae rite perpetrat. Quosdam religiosulos, carnis usum execrantes, ne latius malum serperet, in crucem agi praecipit. Das klassisch nicht belegte deminutive Adjektiv religiosulus (RENE HOVEN, Lexique de la prose latine de la Renaissance. Leiden u.a. 1994, S. 309, zitiert dafür Briefe des Erasmus) scheint hier der durch Gellius N. A. 4, 9, 2 gegebenen Bedeutung von religiosus (religiosus is appellabatur, qui nimia et superstitiosa religione sese alligaverat) zu folgen, diese Bedeutung jedoch durch das Deminutiv in den Bereich des Kleineren und Unbedeutenderen zu rücken. Der Begriff haereticus sollte offenbar als zu gewichtig vermieden werden. Die religiös bedingte Ablehnung des Fleischverzehrs rückte dadurch aus dem Bereich der Häresie in den des religösen Übereifers. JOHANNES WOLFIUS, Lectionum memorabilium et reconditarum Centenarii XVI. Lauingen 1600, S. 283: Esus carnium punitus et concessus. Anno 1052 Imperator Henricus Goslariae suspendi iussit in malam crucem quosdam haereticos, qui esum carnium prohibuerant; hodie Papistae iugulant eos, qui cum Deo eundam concedunt et probant.
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sowie die anglikanische und katholische Reaktion durch Robert Jenkin und Lodovico Antonio Muratori. Zuvor aber möchte ich als Philologe nach der Herkunft des Wortes Toleranz fragen, denn in den gängigen Wörterbüchern und Lexiken erfährt man dazu in der Regel nur, daß Luther das deutsche Wort „Tolerantz“ 1541 zuerst gebraucht habe und daß es von dem lateinischen Nomen tolerantia stamme, das von dem Verbum tolerare abgeleitet sei.6 Nur Klaus Schreiner ist durch seine ausgezeichneten Untersuchungen zum Toleranzbegriff da etwas genauer.7 Ich hoffe den springenden Punkt unter Benützung seiner Angaben aber noch etwas klarer herausarbeiten zu können. In der nichtchristlichen Antike wurden tolerare, das relativ wenig verwendete tolerantia und das damals sehr seltene Synonym toleratio für das Ertragen, Aushalten, Aufsichnehmen und Dulden von etwas Unangenehmem gebraucht. Neben Schmerzen, Strapazen, schlechtem Wetter und mala allgemein konnten dies auch die mores eines Menschen, etwa seine Arroganz, sein, und dieser Gebrauch lebte natürlich im neuzeitlichen Latein fort. Auch das frühe christliche Latein übernahm diesen Sprachgebrauch und konnte in der tolerantia, mit der Christen die Schwächen anderer ertrugen, eine Form der christlichen caritas sehen. Das Tolerieren oder Nicht-Tolerieren von Häretikern wurde erst eine aktuelle Frage, als der katholischen Kirche die Machtmittel eines christlichen Staates zur Verfügung standen, obgleich die heftigsten Auseinandersetzungen zwischen voneinander abweichenden christlichen Glaubensrichtungen schon seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert ausgetragen worden waren. Augustin diskutierte und empfahl das tolerare sowie die tolerantia und toleratio von Häretikern und sprach sich gegen deren Zwangsbekehrung aus, bis er in den Auseinandersetzungen mit den Donatisten sich insbesondere in seinem Brief an den schismatischen Bischof Vincentius für das mit staatlicher Hilfe ausgeübte cogere, für auf Bekehrung zum orthodoxen Glauben zielende Zwangsmaßnahmen erklärte. Seine mehrfachen Äußerungen zu dieser Problematik, die sich vor allem auf zwei Gleichnisse Jesu beriefen, nämlich auf das vom Unkraut und dem Weizen und auf das von der 6
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Vgl. die in Anm. 1 genannten Lexikonartikel sowie JACOB und WILHELM GRIMM, Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, 1, 1, Leipzig 1935, Sp. 631, Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 5, Berlin 1961, S. 279-284, und Duden. Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter, 2. Aufl., Mannheim 2000, S. 1341. Vgl. den in Anm. 1 genannten Lexikonartikel von SCHREINER sowie vom gleichen Verfasser: ‘Duldsamkeit’ (tolerantia) und ‘Schrecken’ (terror). Reaktionsformen auf Abweichungen von der religiösen Norm, untersucht und dargestellt am Beispiel des augustinischen Toleranz- und Gewaltkonzeptes und dessen Rezeption im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: DIETER SIMON, Hrsg., Religiöse Devianz. Untersuchungen zu sozialen, rechtlichen und theologischen Reaktionen auf religiöse Abweichung im westlichen und östlichen Mittelalter. Frankfurt am Main 1990 (Ius Commune. Sonderhefte. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 48), S. 159-210, und: ‘Tolerantia’. Begriffs- und wirkungsgeschichtliche Studien zur Toleranzauffassung des Kirchenvaters Augustin. In: ALEXANDER PATSCHOVSKY und HARALD ZIMMERMANN, Hrsg., Toleranz im Mittelalter. Sigmaringen 1998 (Vorträge und Forschungen 45), S. 335-389.
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Nötigung Fremder zu einem Gastmahl, bei dem die zuerst eingeladenen Gäste ausgeblieben waren, blieben in den folgenden Jahrhunderten ein ständiger Bezugspunkt für die Frage, wie mit Ketzern umzugehen sei, so auch in der Diskussion des Thomas von Aquin, ob haeretici und infideles zu tolerieren seien oder nicht. Augustins prinzipiell gehaltene Begründungen für das Vorgehen gegen die Donatisten wurden in ihrer Rezeption auf das angemessene Verhalten gegenüber Ketzern und Ungläubigen allgemein bezogen, und Augustin bot, in diesem Fall gegen seine Intention, auch eine Begründung für die Hinrichtung von Ketzern, so daß sich Fürsprecher der religiösen Toleranz im 16. bis 18. Jahrhundert vor allem mit ihm auseinanderzusetzen hatten und christliche Vertreter religiöser Intoleranz in ihm ihren wichtigsten Zeugen sahen. Einen aufschlußreichen, relativ späten Einblick in diese andauernde Debatte gibt der berühmte Jurist Christian Thomasius (1655-1728) in Halle 1697. Er hat die Dissertation An haeresis sit crimen?, deren Ziel es ist, diese Frage mit Nein zu beantworten, ausnahmsweise in die Form eines Dialogs gefaßt, in dem ein Christianus als sein Sprachrohr und der - gleichfalls protestantische - Orthodoxus als sein Widerpart miteinander sprechen. Letzterer betont die große Autorität Augustins bei Katholiken, Lutheranern und Calvinisten (penes omnes tres religiones in Imperio). Ersterer konzediert, daß fast die ganze christliche Welt eine Augustinische Welt geworden sei (non errabo, si dixerim, totum fere orbem Christianum Augustinianum factum esse), erklärt aber, daß die protestantischen Theologen und Juristen gegenwärtig der Autorität von Augustin und seinen Schriften zu viel Gewicht beimessen (quod hodie nostrates et Theologi et Jcti plus, quam par est, eius autoritati et libris tribuant) und führt zur Begründung unter anderem aus:8 Laboravit Augustinus communi illo humani generis naevo, quo, si alii nos iniuria afficiant, facillime ius videamus ipsosque de aequitate admoneamus, at si vindictam sumendi occasionem nanciscamur ipsi, caecutiamus statim et sub specie recti, aequitatis prioris obliti, iniqua agamus eaque sub larva aequitatis aliis occultare studeamus. Donatistis in orthodoxos grassantibus egregie se opposuit Augustinus eosque docuit, quam parum Christiane quis ad religionem cogatur. Sed cum Imperatores ex sua 8
[CHRISTIANUS THOMASIUS], Problema juridicum An haeresis sit crimen? In Academia Fridericiana Rectore Magnificentissimo, Serenissimo Principe ac Domino, Dn. Friderico Wilhelmo, Elect. Brandenb. Haerede etc. etc. etc. Praeside Dn. Christiano Thomasio, Consil. Elect. Brandenb. et Prof. Publ. d. 14. Jul. Anni M DC XCVII h.l.q.c. publico et placido examini subijciet Johannes Christophorus Ruhe, Advoc. Duc. Sax. Salfeld., Halle [1697], 42 S., [2] Bl., hier S. 4f. Für das Aufsehen, das diese Schrift erregte, zeugt, daß im Jahr 1697 6 Drucke dieser Schrift erschienen. Thomasius führt in einem am Ende des Drucks wiedergegebenen Brief an den Respondenten (Bl. F3-4) aus, daß dieser ihm Disputationem de crimine Haereseos docte elaboratam geschickt und er sie überarbeitet, ergänzt und in die vorliegende Form eines - in 12 Kapitel gegliederten - Dialogs gebracht habe, dessen Inhalt auf S. 40-42 in den Summaria Dissertationis zusammengefaßt wird. Vgl. ERNST LANDSBERG, Thomasius, Christian. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 38, Leipzig 1894, S. 93-102, hier 98, und MATTHIAS J. FRITSCH, Begründungen religiöser Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung - konfesionelle Differenzen, Hamburg 2004 (Studien zum 18. Jahrhundert 28), S. 48-65.
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formula nacti essent orthodoxi, mox vestem vertit Augustinus et quamvis sub magna specie misericordiae et aequitatis coactionem haereticorum defendit. Et in tantum quidem diversus in hac materia a se ipso comparuit subinde Augustinus, ut eruditis occasionem dederit foecundam de genuina eius sententia in doctrina de persecutione haereticorum dissentiendi. Ab utraque enim parte in partes hic vocari solet. Pro coactione haereticorum v. g. adducunt Bellarminus, Franciscus Burchhardus, Hierotheus Boranowsky aliique. Rursus horum adversarii, Antonius Benbellona, Samuel Pomarius et nostrates passim contra Pontificios pro libertate conscientiarum eius testimoniis utuntur et adversa mitigare ac conciliare allaborant, etsi saepe sophistice magis, quam ex ratione. De duriore in haereticos sententia Augustini queruntur Johannes Clericus et Philippus a Limborch, quam tamen defendere mentemque Augustini paulo aliter explicare intendit Petrus Poiret, quamvis, ut alibi dixi, priorum sententia mihi videatur verior. Augustin litt unter jener allgemeinen Schwäche des Menschengeschlechts, durch die wir, wenn andere uns Unrecht tun, sehr leicht das Recht sehen und diese zu einem gerechten Verhalten auffordern, wenn wir aber eine Gelegenheit, selbst Rache zu nehmen, erlangen, alsbald erblinden und unter dem Vorwand des Rechts, das frühere gerechte Verhalten vergessend, Unrecht tun und dies unter der Maske eines gerechten Verhaltens vor den anderen geheim zu halten trachten. Als die Donatisten gegen die Orthodoxen vorgingen, setzte sich Augustin ihnen hervorragend entgegen und belehrte sie, wie wenig christlich es ist, jemand zu einer bestimmten Religion zu zwingen. Doch als die Orthodoxen Kaiser ihres Bekenntnisses erlangt hatten, wechselte Augustin bald sein Kleid und verteidigte - wenn auch hinter einer großen Kulisse von Mitgefühl und Gerechtigkeit - Zwangsmaßnahmen gegen die Ketzer. Und Augustin erschien allmählich in dieser Sache so ungleich zu sich selbst, daß er den Gelehrten fruchtbaren Anlaß gab, über seine wirkliche Auffassung in der Lehre der Ketzerverfolgung verschiedener Meinung zu sein. Denn er pflegt von beiden Parteien auf ihre Seite gerufen zu werden. Für Zwangsmaßnahmen gegen Ketzer führen ihn Bellarmino,9 Franz Burchardi,10 Hierotheus Boranowsky11 und andere an. Deren Gegner wiederum, Antonio Benbellona,12 Samuel Pomarius13 und unsere [Protestanten], die allenthalben gegen die Papisten für die Freiheit der Gewissen sind, gebrauchen gleichfalls seine Zeugnisse und bemühen sich die Widersprüche abzumildern
9 Kardinal ROBERTO BELLARMINO S. J (1542-1621), vgl. z.B. De controversiis Christianae Fidei adversus huius temporis haereticos [...], Köln 1628. 10 FRANZ BURCHARDI (1518-1590), Erleuterung des Buchs von der Freystellung der Religion [...], Oh. O. 1629. 11 HIEROTHEUS BORANOWSKY [Pseudonym des selbst zum Katholizismus konvertierten JOHANNES SCHEFFLER alias ANGELUS SILESIUS (1624-1677)], Gerechtfertigter Gewissenszwang oder Erweiß daß man die Ketzer zum Wahren Glauben zwingen könne und solle [...], Neyß (= Neisse bei Breslau) 1673. 12 ANTONIO BENBELLONA DE GODENTIIS [Pseudonym des Franziskaners BARTHOLOMAEUS GERICKE (gen. 1557)], Tempestivum suscitabulum pro principibus. Hoc est ad Edictum Imperatoris. Diocletiani de maleficis et Manichaeis in Cod. Hermog., quod in Christianos scriptum est, Commentarius, Zerbst 1602. 13 SAMUEL POMARIUS (1574-1593), Bewiesener Ungerechter Gewissens-Zwang: Entgegengesetzt Hierothei Boranowsky Gerechtfertigtem Gewissens-Zwang, Wittenberg 1674.
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und zu harmonisieren - wenn auch oft mehr sophistisch als rational. Über die zu harte Auffassung Augustins gegenüber Ketzern klagen Le Clerc14 und Philippus van Limborch,15 jedoch ist Pierre Poiret bestrebt, sie zu verteidigen und die Absicht Augustins etwas anders zu erklären,16 obgleich mir, wie ich andern Orts schon sagte,17 die Auffassung der zuvor genannten zutreffender erscheint.
Das heißt: die seit dem Mittelalter besprochenen positiven und negativen Äußerungen des Kirchenvaters Augustin über die Toleranz gegenüber Häretikern führten den Begriff ein, hielten ihn jahrhundertelang in der Diskussion und sind so letztlich auch dafür verantwortlich, daß der Begriff in alle europäischen Sprachen übernommen wurde. Das deutsche Wort Toleranz geht also ebenso wie das im Englischen bevorzugte „toleration“ nicht auf den klassischen oder frühchristlichen, sondern speziell auf den Augustinischen Gebrauch von tolerare, tolerantia und toleratio zurück.18 Der augustinische Ursprung des Begriffes tolerantia war auch eine Ursache dafür, daß tolerantia in der frühen Neuzeit vor allem die Verhältnisse innerhalb der Christenheit betraf. Nicolaus von Kues hatte in seinem Dialog De pace fidei im Rahmen seines Versuchs einer Harmonisierung der Religionen zwar darüber hinaus durch das Sprachrohr des Apostels Paulus erklären lassen, daß, wenn die Nicht-Christen den Kern des christlichen Glaubens akzeptierten, die Christen ihrerseits die verschiedenen religiösen Riten, wozu er auch die Beschneidung rechnete, tolerieren sollten.19 Gegenüber den Mohammedanern sah man aber im 14 Anonym [JEAN LE CLERC/CLERICUS (1657-1736)], Défense des Sentimens de quelques Théologiens de Hollande: Sur l’Histoire Critique du Vieux Testament. Contre La Reponse du Prieur de Bolleville, Amsterdam 1686. Die erst 1703 veröffentlichten Animadversiones dieses Autors zu Augustin (vgl. dazu Anm. 28 und den Anhang zu dieser Abhandlung) waren Thomasius natürlich noch unbekannt. 15 PHILIPPUS VAN LIMBORCH (1633-1712), Historia Inquisitionis [...], Amsterdam 1692. 16 PIERRE POIRET (1646-1719), De eruditione solida, superficiaria et falsa Libri tres [...] Frankfurt 1694. 17 CHRISTIANUS THOMASIUS, Dissertatio ad Petri Poiret Libros de eruditione solida [...] Frankfurt 1694. 18 Reflexionen über Toleranz, die von der klassischen Wortbedeutung von tolerare ausgehen, wie es auch von theologischer Seite geschieht (vgl. z. B. DOROTHEE VON TIPPELSKIRCH, Von göttlicher Geduld und gebotener Toleranz. In: CHRISTOPH SCHWÖBEL und DOROTHEE VON TIPPELSKIRCH, Hrsg., Die religiösen Wurzeln der Toleranz. Freiburg u.a. 2002, S. 223-251, hier S. 224), sind deshalb nicht historisch relevant, sondern philosophisch und spekulativ. 19 KLAUS BERGER, Hrsg., Nicolaus von Kues, De pace fidei. Vom Frieden zwischen den Religionen: lateinisch-deutsch. Frankfurt am Main u.a. 2002, S. 16 (Kap. 16): si propter pacem maior pars se minori conformaret et reciperet circumcisionem, arbitrarer faciendum, ut sic ex mutuis communicationibus pax firmaretur. Sic enim aliae nationes a Christianis fidem et Christiani ab ipsis ob pacem circumcisionem recipiendo, pax melius fieret et solidaretur. Arbitror autem praxim huius difficilem. Sufficiat igitur pacem in fide et lege dilectionis firmari, ritum hinc inde tolerando. Die Toleranz der verschiedenen Riten setzt also zunächst eine Übernahme des christlichen Glaubens von Seiten der Nicht-Christen voraus. Vgl.
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allgemeinen kein Problem der Toleranz, da es lange keine mohammedanischen Minderheiten innerhalb der christlichen Staaten des abendländischen Europa gab und die Türken diese von Südosteuropa aus militärisch bedrohten. Und für das Verhältnis zu den Juden galt prinzipiell lange - natürlich mit erheblichen Schwankungen in der praktischen Durchführung und seltenen positiven Ausnahmen - die Vorstellung, die Erasmus in einem Schreiben an die Pariser theologische Fakultät in die Worte kleidete: „weil Paulus vorhersagte, daß die Juden sich dereinst schließlich zur Herde Christi gesellen, tolerieren wir das gottlose und blasphemische Volk“.20 Im Folgenden wird uns deshalb vor allem die innerchristliche Toleranz in ihren Beziehungen zum Humanismus beschäftigen.
II. Beobachtungen an Desiderius Erasmus, Thomas Morus und Justus Lipsius Einer der interessantesten und bekanntesten Dialoge des Erasmus (ca. 14691536) ist das zwischen 1519 und 1522 verfaßte Convivium religiosum (‘Gastmahl mit Gesprächen über die Religion’), das zusammen mit vielen anderen Texten aus seiner Feder seit 1559 Jahrhunderte lang auf dem Index der verbotenen Bücher der Katholischen Kirche stand.21 Heute ziert ein Satz gerade aus diesem auch KURT FLASCH, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie. Frankfurt am Main 1998, S. 330-381, dort auch S. 375 zum Verhältnis der Gedanken des Cusanus zu den Formulierungen von Marsilius Ficinus in De christiana religione (1473), der die über Cusanus hinausgehende Auffassung vertrat, daß Gott innerhalb der allen Menschen gemeinsamen Gottesverehrung ritus adorationis varios zugelassen hatte. 20 DESIDERIUS ERASMUS, Opera omnia, Leiden 1703-1706, Tom. 9, Sp. 909: quia Paulus praedixit fore ut Judaei tandem aggregentur ad ovile Christi, toleramus impiam et blasphemam gentem. (Ich benütze ein Exemplar dieser Ausgabe, das sich bis 1972 in der King’s Inn Library, Dublin, befand. Die Versteigerung ihrer nicht-juristischen Bücher durch Sotheby’s löste damals irische Proteste aus als „dispersal of an irreplaceable collection“). Zum sogenannten Philosemitismus in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vgl. HANS JOACHIM SCHOEPS, Philosemitismus im Barock: religions- und geistesgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1952, und JOSEF ESKHULT, Andreas Norrelius’ Latin translation of Johan Kemper’s Hebrew commentary on Matthew. Edited with introduction and philological commentary, Uppsala 2007 (Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Latina Upsaliensis 32), S. 51-53. 21 Der erste römische Index von 1559 verbot alle Schriften des Erasmus. Nach dem tridentinischen Index von 1564 blieben insgesamt verboten Familiaria colloquia, zu denen das Convivium religiosum gehört, Moriae encomium, Lingua, Christiani matrimonii institutio, De interdicto carnium; die übrigen Schriften wurden nach einer gründlichen Expurgierung, d.h. Schwärzung, aller als anstößig befundenen Stellen zugelassen. Auf der Titelseite sollten hinter Erasmi Roterodami die Worte Auctoris damnati, hinter Opera die Worte hactenus prohibita, nunc vero cum expurgatione permissa und der Satz Opera omnia Erasmi caute legenda; tam multa enim insunt correctione digna, ut vix omnia expurgari possunt hin-
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Dialog des vormals so verfemten Erasmus überraschenderweise das InternetPortal der Biblioteca Vaticana,22 was vermutlich als ein Stück stiller vatikanischer Vergangenheitsbewältigung aufzufassen ist. Ich möchte hier nur kurz an den Inhalt des Dialogs erinnern, da er am besten zeigt, wie Erasmus durch seine Bewunderung gewisser antiker Schriften zu einer Anerkennung der Gleichwertigkeit ihrer heidnischen Autoren mit christlichen Heiligen gelangte. Bei diesem Convivium auf einem Landgut unterhalten sich Personen mit fiktiven Namen. Der Gastgeber Eusebius erklärt:23 „Nichts was fromm ist und zu gutem Verhalten beiträgt, soll man unchristlich nennen. Den Heiligen Schriften steht überall die erste Autorität zu, aber trotzdem stoße ich manchmal auf gewisse Aussprüche der Alten oder auf Schriften der Heiden, auch ihrer Dichter, die so keusch, so zugefügt werden. Vgl. die Übersicht über die indizierten Schriften und die zu expurgierenden Stellen in: ERASMUS (wie Anm. 20), Tom. 10, S. 1782-1844 (Index expurgatorius Hispanicus et Romanus, ut et Alexandri VII. et Concilii Tridentini Operum Desiderii Erasmi Roterodami), zur Index-Geschichte allgemein HUBERT WOLF, Index: der Vatikan und die verbotenen Bücher. 2. Aufl., München 2006, zu den Auswirkungen der Indizierungen auch WALTHER LUDWIG, Wissenschaft und katholische Bücherzensur in der frühen Neuzeit. In: JÜRGEN KIEFER, Hrsg., Parerga - Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. In Memoriam Horst Rudolf Abe. Erfurt 2007 (Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt Sonderschriften 37), S. 31-50, hier S. 36f. 22 Die seit 2002 (und auch 2007) bestehende Home page der Bibliothek (http://bav.Vatican. va/it/v_home_bav/home_bav.shtml) lautet:: „Biblioteca Apostolica Vaticana.| Nunc adeamus bibliothecam, non illam quidem multis instructam libris, sed exquisitis. ERASMUS Copyright © Biblioteca Apostolica Vaticana“. Die meisten Leser werden irrtümlicherweise annehmen, Erasmus habe diesen Satz über die Vatikanische Bibliothek gesagt. Ein Kenner des Erasmus aber weiß, daß der Satz dem Convivium religiosum entnommen ist, daß er aus dem Munde des dortigen Gastgebers Eusebius stammt und daß dieser damit in seine eigene Bibliothek seine Freunde einlädt, zu denen er, und zwar aufgrund der in dieser Bibliothek enthaltenen Bücher, zuvor eben die Worte gesagt hatte, um derentwillen der Dialog Jahrhunderte lang auf dem Index stand. Vgl. zum Kontext ERASMUS (wie Anm. 20), Sp. 688, und ERASMUS VON ROTTERDAM, Colloquia Familiaria. Vertraute Gespräche. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von WERNER WELZIG. Darmstadt 1967 (Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften 6), S. 116f. Es ist nicht vorstellbar, daß dieses Zitat in Unkenntnis dieser Zusammenhänge und ohne Autorisierung von höherer Seite für das Internet-Portal der Vatikanischen Bibliothek ausgewählt worden ist. 23 S. ERASMUS (wie Anm. 20), Tom. 1, Sp. 681f.: Immo profanum dici non debet, quicquid pium est, et ad bonos mores conducens. Sacris quidem literis ubique prima debetur auctoritas: sed tamen ego nonnunquam offendo quaedam vel dicta a veteribus, vel scripta ab ethnicis, etiam poetis, tam caste, tam sancte, tam divinitus, ut mihi non possim persuadere, quin pectus illorum, quum illa scriberent, numen aliquod bonum agitaverit. Et fortasse latius se fundit spiritus Christi, quam nos interpretamur. Et multi sunt in consortio sanctorum, qui non sunt apud nos in catalogo. Fateor affectum meum apud amicos: non possum legere librum Ciceronis de Senectute, de Amicitia, de Officiis, de Tusculanis quaestionibus, quin aliquoties exosculer codicem, ac venerer sanctum illud pectus afflatum coelesti numine. Vgl. auch DESIDERIUS ERASMUS, Opera omnia, Bd. I/3, Amsterdam 1972, S. 251, und WELZIG (wie Anm. 22), S. 76-79.
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heilig, so göttlich sind, daß ich mich nicht dahin bringen kann zu glauben, daß ihr Herz, als sie dies schrieben, nicht von einem guten Geist inspiriert war. Und vielleicht ergießt sich der Geist Christi weiter, als wir es behaupten, und es sind viele im Kreis der Heiligen, die nicht in unserem Katalog stehen. Ich gestehe mein Gefühl bei meinen Freunden: ich kann Ciceros Bücher De senectute, De amicitia, De officiis, De Tusculanis quaestionibus nicht lesen, ohne einigemal das Buch zu küssen und jenes heilige, von einem himmlischen Geist angehauchte Herz zu verehren.“ In den Schriften Ciceros, Plutarchs und Platos werden Gedanken gefunden, die der Heiligen Schrift entsprechen, im Verhalten von Cato und Sokrates wird eine Moral entdeckt, die einem Christen gut anstehen würde und die viele Christen nicht erreichten. Hier fällt auch der berühmt gewordene Satz Sancte Socrates, ora pro nobis! und anschließend werden die Seelen von Vergil und Horaz selig gepriesen. Weniger spektakulär, aber von der gleichen Grundeinstellung aus äußerte sich Erasmus in einem nicht in die Leidener Ausgabe aufgenommenen und deshalb heute kaum beachteten Text, der im 16. Jahrhundert jedoch viel gelesen wurde, nämlich in seiner an den Leser gerichteten Vorrede zu seinerAnthologie von Abschnitten aus Seneca, die er Flores Lucii Annei Senecae nannte und die nach ihrer Antwerpener Erstausgabe von 1528 auch 1534 (Antwerpen, Paris), 1539 (Antwerpen), 1547 (Paris), 1554 (Frankfurt am Main), 1555 (Köln), 1557 (Paris) und 1642 in Amsterdam gedruckt wurde.24 Er erklärt dort, er habe jüngst ausgewählte Seneca-Texte in einer Schule vorgelesen und interpretiert und habe sie auf die Bitten seiner Zuhörer nun in Druck gegeben, damit alle virtutum et scientiae amatores sie lesen könnten. „Es fehlen jedoch nicht gewisse Dummköpfe, die die studierenden jungen Männer von Büchern dieser Art abschrecken, da sie heidnisch oder poetisch seien und der guten Moral schadeten. Ich halte sie jedoch für wert, daß die Lehrer sie der Jugend in allen Schulen vorlesen und sie für sich lesen und daß man sie im Alter wieder liest. Denn was für einen Geist verlangt dieser unser Seneca von denen, die die wahren Tugenden zu erfassen begehren, wie setzt er jene bewundernsund liebenswürdige Gestalt der Tugend vor unsere Augen, wie vieles und auf welch heilige, ja sogar göttliche Weise [!] berichtet er über die wirkliche Verachtung des Reichtums, über die heilbringende Abtötung des Fleisches, über die 24 Im folgenden wird nach der zuletzt genannten Ausgabe zitiert: L. ANNAEI SENECAE Philosophi Flores, sive Sententiae insigniores, excerptae per D. ERASMUM ROTEROD. item L. Annaei Senecae Tragici Sententiae, Amsterdam: Apud Ludovicum Elzevirium 1642 (die Vorrede des Erasmus dort auf S. 3-6). Die von Cor[nelis] Cl[aezoon] Duysend gestochene Titelseite dieser Ausgabe zeigt eine Version des bekannten in einem Badezuber stehenden und bis auf einen Lendenschurz nackten Seneca, der hier einen Kreis von um ihn stehenden, mit Mänteln und Hüten bekleideten Männern belehrt. Das von mir benützte, in Privatbesitz befindliche Exemplar war im 17. Jahrhundert im Besitz des herzoglich württembergischen Gelehrten Oberrats Dr. iur. utr. Theodor Hasenloff (gestorben Stuttgart 7.X.1679, s. WALTHER PFEILSTICKER, Neues Württembergisches Dienerbuch. Bd. 1, Stuttgart 1957, § 1219).
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Bewahrung der Freundschaft und über die Zucht der guten Sitten. Dabei sollten wir uns unserer Sitten schämen, die wir, belehrt durch die Heiligen Schriften und durch so große Vorbilder und Belohnungen herausgefordert, die Lehre des Evangelium bekennen, aber nicht leben.“25 Zur Stütze beruft sich Erasmus hier gerne auf den Heiligen Augustinus, der angeblich geschrieben habe, daß die guten Taten der Heiden stärkere Anreize zur Tugend gäben als die der Christen.26 Erasmus, der damit über das, was Augustinus geschrieben hat, freilich etwas hinausging, bezieht sich hier auf die von ihm als Beleg anschließend im Wortlaut zitierte Stelle in De doctrina Christiana [2, 60] 40, in der Augustinus ausführt, daß die mit dem christlichen Glauben übereinstimmenden philosophischen Schriften der Heiden, besonders die Platons, nicht zu verwerfen, sondern so anzueignen seien, wie einst die Israeliten sich das Gold der Ägypter nahmen und im Dienst ihres Gottes einer besseren Verwendung zuführten.27 Nach diesem längeren Zitat bekennt Erasmus, daß auch er fordere, daß die menschlichen Schriften und Wissenschaften hinter dem Evangelium zurückstehen, und wünsche, daß ihre Lichter vor dem Licht des Evangelium verblassen, jedoch seien zur Zeit die menschlichen Schriften und Wissenschaften verblaßt, ohne daß die Stärke der Frömmigkeit zugenommen habe, weswegen er nun das nach seiner Auffassung für ein ethisches Verhalten und ein ehrbares Leben Beste für diejenigen exzerpiert habe, die sich nicht alle diese großen Bände (gemeint sind anscheinend über die Schriften Senecas hinaus die antiken heidnischen Autoren allgemein) leisten könnten. Wirkte sich diese, im Convivium religiosum allerdings unter dem Schutz fiktiver Namen ausgesprochene, äußerst weitgehende Anerkennung des Denkens und Verhaltens antiker Heiden, deren Schriften für von Gott inspiriert betrachtet werden, auch auf die Einstellung des Erasmus zur antiken Religion und des weiteren zu christlichen Häretikern aus? Hat sie im Verbund mit seiner bekannten Geringschätzung der Riten und dem Wert, den er dem menschlichen Verhal25 ERASMUS (wie Anm. 24), S. 3f.: Non tamen desunt crassi quidam, qui studiosos adulescentes, ab huiusmodi literis deterreant, ceu Ethnicis aut Poeticis, et ad morum integritatem officientibus. Ego vero dignos censens, quo et omnibus in ludis praelegant adolescentiae literatores, et sibi legant, relegantque senes. Hic enim noster Seneca, quem animum exigit ab his, qui veras virtutes amplecti desiderant, ut admirabilem illam et amabilem virtutis speciem ponit ob oculos, quam multa, quam sancte, imo quam divinitus [!] tradit: de vero divitiarum contemptu, de salubri carnis mortificatione, de tuenda amicitia, ac bonorum morum disciplina. Pudeat interim nostrorum morum, qui sacris libris edocti, qui tantis et exemplis et praemiis provocati, doctrinam Evangelicam profitemur, nec praestamus. 26 ERASMUS, S. 4: ex Ethnicorum benefactis, acriores addi stimulos ad virtutem quam nostratium - diese Worte sind in dem in Anm. 24 genannten Exemplar mit alter Tinte - offenbar von einem Sympathisanten - unterstrichen. 27 Erasmus bezog sich damit auf eine der Kernstellen, an denen CHRISTIAN GNILKA, ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur. I. Der Begriff des „rechten Gebrauchs“. Basel - Stuttgart 1984, die altchristliche Methode des usus iustus erhellte.
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ten beimaß, sowie auch seinem prinzipiell friedfertigen und auf Ausgleich bedachten Temperament zu seiner Einstellung gegenüber christlichen Häretikern und zu seinen Äußerungen über sie beigetragen? Sein Grundsatz, mit dem er gegen die herrschende theologische Lehre und kaiserliche Gesetze verstieß, war, daß man christliche Häretiker nicht wegen ihrer Häresie zum Tod verurteilen sollte, auch wenn er dies nicht immer eindeutig zum Ausdruck brachte, und er war froh, daß er sich dafür auf Augustinus berufen konnte. Mehrfach hebt er hervor, daß Augustinus sich gegen die Todesstrafe für Häretiker ausgesprochen und deswegen bei Magistraten interveniert habe,28 28 So in SANCTUS AURELIUS AUGUSTINUS, Operum tomus primus - undecimus. Post Lovanensium Theologorum Recensionem castigatus denuo ad manuscriptos codices Gallicanos, Vaticanos, Anglicanos, Belgicos etc. nec non ad editiones antiquiores et castigatiores. Opera et studio Monachorum Ordinis Sancti Benedicti e Congregatione Sancti Mauri. Editio Nova a multis mendis purgata. Antwerpen: Sumptibus Societatis 1700, Tom. 2, Sp. 318f. (Epist. 139). Diese Ausgabe ist ein revidierter Abdruck der von den Mauriner Benediktinern François Delfau, Thomas Blampin, Peter Constant und Claude Guesnié in Paris 1679-1700 herausgebenen elfbändigen Ausgabe der Werke des Augustinus (Tomus XI enthält die Indices), deren Besonderheit es ist, daß ihr als Tomus XII ein in der gleichen Aufmachung gefertigter, aber mit einer anderen Verlagsangabe versehener Folioband angeblich auf Wunsch der Buchhändler, die eine Zugabe zu dem Abdruck der früheren Ausgabe für vorteilhaft erachtetet hätten, hinzugefügt wurde. Er wurde von Jean Le Clerc/Clericus unter dem Pseudonym Ioannes Phereponus und dem Titel Appendix Augustiniana zusammengestellt und herausgegeben. Bei den hier zu Augustin gesammelten Texten befindet sich auch eine Animadversiones betitelte teilweise Kommentierung der Werke Augustins aus der Feder des Herausgebers, deren Augustin kritischer Inhalt wie eine Konterbande in und zu dieser Augustinausgabe wirkt: [JEAN LE CLERC, Hrsg.], Appendix Augustiniana, in qua sunt S. Prosperi Carmen de ingratis, cum notis Lovaniensis theologi, Joannis Garnerii Societatis Jesu Presbyteri, Dissertationes pertinentes ad historiam Pelagianam, Pelagii Britanni Commentarii in Epistolas S. Pauli; ac denique Des. Erasmi, Joan. Lud. Vivis, Jacobi Sirmondi, Henrici Norisii, Joannis Phereponi et aliorum Praefationes, Censurae, Notae et Animadversiones in omnia S. Augustini Opera.Tomus XII, qui huic editioni peculiaris, undecim prioribus ex sola Editione Parisiensi sine mutatione expressis, Antwerpen: Apud Petrum Mortier 1703. Antwerpen ist ein fiktiver, den Tomi I-XI angeglichener Druckort anstelle des wirklichen Druckorts Amsterdam, da Petrus Mortier (1661-1711) eine Verlagsbuchhandlung in Amsterdam hatte und der Band sowohl wegen seines Augustin kritischen Inhalts als auch schon, da Jean Le Clerc seit 1702 mit seinen sämtlichen Werken auf dem katholischen Index librorum prohibitorum stand, in Antwerpen nicht hätte gedruckt werden können. Zitiert wird im Folgenden aus einem in Privatbesitz befindlichen Exemplar, das die positive Beachtung gerade der so erweiterten Augustinausgabe in den Niederlanden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert bezeugt. Denn es enthält die Tomi I-XII in gleichartigen Pergamenteinbänden und auf dem Vorsatz von Tomus I folgenden Schenkungseintrag des Groninger Theologieprofessors Dr. theol. Pieter Abresch (1736-1812) vom 25.10. 1804 an den Groninger Pastor Jan Rutgers, der eine Berufung nach Den Haag abgelehnt hatte: Viro pietate humanitateque plurimum venerabili Jo. Rutgersio, insignem suum amorem erga hanc Civitatem et Ecclesiam in abnuenda Haganorum vocatione, luculenter testato, haec Aur. Augustini opera, gratissimi animi pignus, D.D. Petrus Abresch S.S. Theol. D. et Prof. Ord. Groningae a.d. XXV Octobr. MDCCCIV.
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die aufgrund eines Theodosianischen Gesetzes Häretiker nicht nur zu Geldstrafen und zur Verbannung, sondern auch zum Tod verurteilen konnten und dies offenbar auch taten. Die Kirche hatte sich offiziell nicht gegen diese Bestimmung gewandt. Kaiser Theodosius hatte auch ein Gesetz erlassen, daß die heidnischen Tempel geschlossen und Heiden, die dennoch ihre kultischen Riten durchführten, zum Tod mit Vermögenseinzug verurteilt werden sollten. Provinzialgouverneure, die diese Strafen nicht verhängten, bedrohte das Gesetz mit den gleichen Strafen.29 Augustinus äußert sich in seinem Brief an den schismatischen Bischof Vincentius dahin, daß er und der Adressat doch darin einig seien, daß das kaiserliche Gesetz den Ungläubigen mit Recht die Todesstrafe androhe.30 Erasmus hat zu dieser Augustinstelle in dem an sich mehrfach von ihm zitierten Brief m.W. nie Stellung genommen und nie den naheliegenden Einwand erhoben, daß die Christen, die sich in den ersten Jahrhunderten gegen die Verfolgung durch die heidnischen Kaiser wandten, eigentlich aufgrund ihrer früher vertretenen Argumente nicht das Recht hatten, nach ihrer Machtübernahme nun die Heiden wegen der Ausübung ihrer Kulte zu verfolgen.31 Augustinus unterschied eine ungerechte und eine gerechte Verfolgung, je nachdem ob die Christen verfolgt oder Verfolger waren, und war damit durchgedrungen. Erasmus hat sich zu dieser Frage nie geäußert, aber er schrieb in anderem Zusammenhang: „die christlichen Fürsten sollten die Strenge der Gesetze soweit möglich nach der Milde christlicher Mäßigung verändern. Denn es muß ein großer Unterschied sein zwischen einem heidnischen und einem christlichen Fürsten.“32 Von diesem Gedanken aus hätte es eigentlich nahe liegen müssen, auch an der Verfolgung der Heiden durch die christlichen Kaiser Kritik zu üben. Die theoretischen Äußerungen des Erasmus zur Toleranz knüpfen alle an seine Paraphrase des Gleichnisses vom Weizen und Unkraut in Matthaeus 13 an. In ihr hatte er das Unkraut als Peudo-Apostel und Häresiarchen interpretiert, was auf der Linie der konventionellen Interpretation lag, und war dann dem 29 S. Cod. Theod. 16, 10 und ADOLF LIPPOLD, Theodosius I. In: Paulys Realencyklopädie der classischen Altertumswissenschaft. Supplementband 13, München 1973, Sp. 837961 und 1043, hier Sp. 898, 958, 1043. 30 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 177 (Epist. 93, 10): Quis enim nostrum, quis vestrum non laudat leges ab Imperatoribus datas adversus sacrificia paganorum? Et certe longe ibi poena severior [sc. quam in schismaticos] constituta est, illius quippe impietatis capitale supplicium est.. 31 In diesem Sinn äußerte sich jedoch später Phereponus alias Le Clerc/Clericus in seiner Augustinkommentierung: [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 459- 622, hier S. 603 Für den Wortlaut sei hier auf Kapitel III verwiesen, wo die Kritik Le Clercs an den von Augustin in seinem Brief an den Bischof Vincentius geäußerten Vorstellungen von dem gegenüber Häretikern und Heiden gebotenen Vorgehen dargestellt wird. 32 ERASMUS (wie Anm. 20), Tom. 9, Sp. 1056: ipsos oportet legum rigorem ad Christianae moderationis lenitatem quatenus licet deflectere. Multum enim interesse debet inter Principem Ethnicum et Christianum.
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Wortlaut des Gleichnisses und seiner Erklärung durch Jesus entsprechend dafür eingetreten, daß Gott das Urteil über die Häretiker dem jüngsten Gericht vorbehalten hatte und dies nicht durch eifrige Diener jetzt vorweggenommen werden sollte.33 Das entsprach zweifellos ebenso seiner humanistischen Methode einer sich an den Wortlaut des Textes haltenden Interpretation wie seiner persönlichen Überzeugung. Stillschweigend verwarf er das von vielen christlichen Theologen empfohlene Verfahren, das eine Interpretation des alten Augustin ermöglichte, wonach man schon jetzt das Unkraut, das unzweifelhaft Unkraut war, jäten solle, wenn man die Weizenpflanzen dabei nicht beschädigte,34 und er hielt sich auch nicht mit anderen Rechtfertigungen der Gewalt gegen Häretiker auf wie z.B. mit der Augustinischen Ausdeutung der alttestamentlichen Geschichte von Sarah und Hagar. Der Pariser Theologe und Inquisitor Natalis Bedda, die Pariser theologische Fakultät und die Dominikaner der spanischen Inquisition verurteilten die Erasmische Paraphrase und Auslegung des Gleichnisses ebenso wie andere schriftliche Äußerungen des Erasmus als nicht rechtgläubig, da sie den Ketzerverbrennungen den Boden entzogen. Erasmus hat sich in drei ausführlichen Schreiben gegen diese Kritiker zu rechtfertigen gesucht.35 Seine theoretischen Äußerungen zur Toleranz werden in diesem Zusammenhang vorgebracht, d.h. es 33 ERASMUS, (wie Anm. 20), Tom. 7, Sp. 80: Porro triticum, quod enatum est bonum, ex bono semini, sunt ii, qui ex institutione Evangelica sese dignos praebent regno coelorum, professioni suae vita factisque respondentes. His admixta ex malo semine, mala zizania, sunt improbi, qui non sincere profitentur Evangelicam doctrinam. Inimicus autem ille, qui nocte clam admiscuit suum semen, unde nascitur perversa doctrina, est Diabolus. Servi qui volunt ante tempus colligere zizania, sunt ii, qui Pseudapostolos et Haeresiarchas gladiis ac mortibus existimant e medio tollendos, cum pater familias nolit eos extingui, sed tolerari, si forte resipiscant, et e zizaniis vertantur in triticum. Quodsi non resipiscant, serventur suo Judici, cui poenas dabunt aliquando. Tempus messis est consummatio seculi. Messores Angeli sunt. Interim igitur mali bonis admixti ferendi sunt, quando minore pernicie tolerantur, quam tollerentur. Indiziert wurden in dieser Passage die Sätze Servi qui volunt [...] poenas dabunt aliquando (s. ERASMUS [wie Anm. 20], Tom. 10, Sp. 1833, vgl. Anm. 21), die sich gegen eine strafrechtliche Verfolgung von Häretikern wenden. 34 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 9, Sp. 42 (Contra epist. Parm. 3, 13): Dominus cum servis volentibus zizania colligere dixit, Sinite utraque crescere ad messem, praemisit caussam dicens, ne forte cum vultis colligere zizania, eradicetis simul et triticum. Ubi satis ostendit, cum metus iste non subest, sed omnino de frumentorum certa stabilitate certa securitas manet, id est quando ita cuiusque crimen notum est, et omnibus exsecrabile apparet, ut vel nullos prorsus vel non tales habeat defensores, per quos possit schisma contingere, non dormiat severitas disciplinae, in qua tanto est efficacior emendatio pravitatis, quanto diligentior conservatio caritatis. In der gegen Ende des II. Vatikanischen Konzils am 7.12. 1965 zustandegekommenen Declaratio de libertate religiosa. Dignitatis humanae § 11 (zitiert nach der Internetausgabe des Vatikan) wird diese Augustinische Interpretation des Gleichnisses dann ebenso stillschweigend wie hier von Erasmus verworfen und eine mit Erasmus übereinstimmende Auslegung des Gleichnisses gegeben: Ipse vero, agnoscens zizaniam cum tritico seminatam, iussit sinere utraque crescere usque ad messem quae fiet in consummatione saeculi (Cf. Mt. 13, 30. 40-42). 35 ERASMUS (wie Anm. 20), Tom. 9, Sp. 580-583, 904-910, 1054-1060.
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sind keine allgemeinen und ungefährdeten Erklärungen, sondern Verteidigungsschreiben, bei denen man nicht erwarten kann, daß er sich zu allen Fragen zu diesem Thema freimütig und vollständig äußerte. Non est enim facile in eum scribere, qui potest proscribere.36 Im Zusammenhang mit diesen Rechtfertigungsschreiben stehen auch die Äußerungen zur Ketzerverfolgung in seiner Epistola, contra quosdam qui se falso iactant Evangelicos von 1530, in denen er sich deutlicher als zuvor für die Berechtigung der Todesstrafe gegen bestimmte Häretiker aussprach,37 da sein bisheriger Freund Gerard Geldenhouwer ihn in mehreren Veröffentlichungen gegen seine Interessen als unbedingten Gegner der Ketzerverfolgungen dargestellt hatte38 und dies seine drei Rechtfertigungsschreiben nur desavouieren konnte. Er fürchtete, daß durch Geldenhouwers libelli die beabsichtigte Wirkung seiner Schreiben verloren ginge und er in eine akute Gefährdung geriete. Nosti monachorum iras, scis quod fulmen vibrent irati Ioves („Du kennst den Zorn der Mönche und weißt, welchen Blitz die erzürnten Juppiter schleudern“) schreibt er ihm entsetzt39 und meint das Wüten der dominikanischen Inquisition und die drohenden päpstlichen Bannsprüche, um danach unter Zitat von und kontrastierender Anspielung auf Prov. 16, 14 Indignatio regis nuntii mortis, et vir sapiens placabit eam an das übliche Verhalten der weltlichen Fürsten bis hinauf zum Kaiser zu erinnern: Indignatio regis, ait Salomon, nuncii mortis, nec semper adest vir ille bonus qui placet iram eius, sed frequenter adsunt mali, qui oleum addant camino. Nec ignoras quam multa nesciant principes, quam ad multa parum sint attenti, tot nimirum distracti negociis, nec te fugit quot artibus sit armata calumnia quantumque valeat interdum apud summos etiam monarchas. Saepe iacet innocens priusquam sciat se delatum („Des Königs Grimm, sagt Salomo, ist ein Bote des Todes, und es ist nicht immer jener gute Mann da, der seinen Zorn versöhnt, sondern häufig sind nur Böse da, die noch Öl ins Feuer gießen. Und du weißt auch sehr wohl, wie viel die Fürsten nicht wissen, wie vieles sie, abgehalten durch ihre verschiedenen Geschäfte, nicht beachten, und es entgeht dir auch nicht, mit wie vielen Künsten die Verleumdung bewehrt ist und wie viel sie bisweilen sogar bei den höchsten Monarchen bewirkt. Oft liegt der Unschuldige schon am Boden ehe er weiß, daß er angezeigt worden ist“). Es läßt sich beobachten, wie er das in der Paraphrase zu Matthaeus noch eindeutig ausgedrückte Verbot, Häretiker schon jetzt zu töten, in den drei langen 36 Das sagte Pollio, als Augustus zur Zeit des Triumvirats Spottverse gegen ihn geschrieben hatte (Macrob. Sat. 2, 4, 21). 37 Vgl. ERASMUS (wie Anm. 20), Tom. 9, Sp. 1573-1587, besonders 1575f., ERASMUS (wie Anm. 23), Bd. IX/1, Amsterdam - Oxford 1982, S. 263-309 mit der Einleitung und Kommentierung von Cornelis Augustijn, und dort speziell den berühmt gewordenen Satz auf S. 288: Itaque ut peccant qui ob quemvis errorem pertrahunt homines ad ignem, ita peccant qui in nullos haereticos arbitrantur prophano magistratui ius esse occidendi. 38 Vgl. zu ihm CORNELIS AUGUSTIJN, Gerard Geldenhouwer und die religiöse Toleranz. Archiv für Reformationsgeschichte 69, 1978, S. 132-156. 39 ERASMUS (wie Anm. 37), S. 290.
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Rechtfertigungsschreiben in etwas gewundenen Erklärungen einerseits durchlöcherte, andererseits tendenziell immer wieder zu ihm zurückkehrte. Einmal differenzierte er, daß er Fürsten zur Tötung von Häretikern weder zu- noch abrate, er habe nur die Aufgaben der Priester zeigen wollen. Dann betonte er, christliche Fürsten sollten nur, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft seien, und nur aus äußerst dringenden Gründen sich überhaupt für eine Verurteilung zum Tod entscheiden und sich dabei bewußt sein, daß sie dafür dem König der Könige dereinst genauestens Rechenschaft ablegen müssen. Entsprechend sollten Theologen zwischen einem einfach irrenden Häretiker und einem bösartigen Häresiarchen unterscheiden, geringfügige Irrtümer nicht aufbauschen und vom üblich gewordenen raschen Ruf nach der Todesstrafe ablassen sowohl wegen dem Gleichnis vom Weizen und Unkraut als auch, weil die Verurteilung eines Häretikers leicht von menschlichen Affekten beeinflußt werde und manchmal auch die Wahrheit zweifelhaft sei. Aufgabe des Priesters sei, Häretiker, soweit es an ihnen liege, zu bewahren in Hoffnung auf ihre künftige Bekehrung. Auch wenn Erasmus hier von einer radikalen Verneinung der Todesstrafe für Häretiker abrückt, häuft er doch so viele Hürden vor ihr auf, daß sein eigentlicher Wunsch, die Todesstrafe zu vermeiden, durchscheint. Dagegen scheint Erasmus die Augustinische Auffassung des anderen Gleichnisses geteilt zu haben. Augustin hatte in dem Gleichnis in Lukas 14, in dem der Gastgeber, bei dem die Gäste ausgeblieben sind, schließlich zu seinen Dienern sagt: Compellite, oder wie Augustin las: Cogite intrare, diese Worte als eine göttliche Billigung verstanden, Häretiker auch mit staatlichen Zwangsmitteln zu einer Bekehrung zu bringen.40 Er mißverstand - ob gewollt oder ungewollt, sei dahingestellt - die Stelle, indem er sie nicht aus ihrem Kontext interpretierte, sondern cogere einfach in seiner am häufigsten gebrauchten Bedeutung verstand. Erasmus paraphrasierte den griechischen Text dieser Stelle lateinisch mit den Worten: „wenn sie Umstände machen zu kommen, nötige sie sogar rücksichtslos zu mir zu kommen.“41 Er fügte vel improbitate hinzu, was ich hier mit den Worten „sogar rücksichtslos“ übersetzt habe und das hier wohl ein milderndes Synonym zu einem Augustin noch mehr entsprechenden vel vi („sogar mit Gewalt“) darstellt. Eine bessere Paraphrase des Sinnes wäre durch vel urgentibus precibus („sogar mit drängenden Bitten“) gegeben worden. Denn der Griechischkenner Erasmus hätte, zumal mit Blick auf andere Bibelstellen, in denen ἀναγκάζειν oder κατα- und παραβιάζειν verwendet werden, erkennen können, daß diese Verben bei Einladungen in einer gemilderten Bedeutung verwendet wurden,42 ebenso wie wir 40 Vgl. z.B. AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 175f. (Epist. 93, 5), Sp. 468 (Epist. 173, 10). 41 ERASMUS (wie Anm. 20), Tom. 7, Sp. 403: qui si graventur venire, vel improbitate compelle, ut veniant ad me. 42 So argumentierte schon Jean Le Clerc/Clericus als Phereponus in: [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 493. Dort verweist er, in seinen Animadversiones zu Augustinus, Epist. 93, 5, auf die Parallelstellen in Gen. 19, 3, Matth. 14, 22, Marc. 6, 45, Luc. 24, 29 und Gal. 11, 24. Vgl. Kapitel III.
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‘nötigen’ auch im Sinne eines höflichen Drängens verwenden, ein angebotenes Geschenk anzunehmen.43 Auch die modernen Lexika zum neutestamentlichen Sprachgebrauch vertreten diese Interpretation.44 Damit wäre die angenommene Allegorie im Sinne eines zwangsweisen Zuführens gegenstandslos geworden. Unter dem Gewicht der Augustinischen und der mit Zwangsmitteln ausgestatteten kirchlichen Autorität kam bei Erasmus das durch seine humanistischen Kenntnisse an sich gebotene Textverständnis nicht zum Zug. Sein Verhalten hier ist vergleichbar mit seiner Behandlung des berüchtigten Satzteils im 1. Brief des Johannes, dem sogenannten Comma Johanneum, in dem die einzige ausdrückliche Bezeugung der Dreieinigkeit im Neuen Testament steht. Er ließ ihn zunächst in seiner Ausgabe des Neuen Testaments weg, da seine sechs griechischen Handschriften ihn nicht boten und setzte sich dabei ausführlich mit Hieronymus auseinander, fügte den Satzteil später aber aufgrund der erfahrenen Kritik und einer neugefundenen griechischen Handschrift, die den Satz enthielt, wieder ein, obwohl er eigentlich annahm, daß er in diese Handschrift interpoliert worden war: „Aus dieser britannischen Handschrift haben wir also [in die Ausgabe] zurückgesetzt, was, wie wir sagten, in unseren [griechischen] Handschriften fehlte, damit es keinen Anlaß für irgendeine üble Nachrede gebe, obgleich ich vermute, daß jene [britannische griechische] Handschrift erst nach unseren [lateinischen] Handschriften korrigiert worden ist.“45 Auch hier mußte seine humanistische Textphilologie vor der kirchlichen Autorität zurückstehen. Die Interpolation von 1. Johannes, 5, 7-8, wird jetzt jedoch sogar von der katholisch-protestantischen „Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift“ von 1980 anerkannt.46 Explizit hat Erasmus m.W. nie zu dem Augustinischen Verständnis von cogite intrare Stellung genommen. In seinen theoretischen Äußerungen betont er, daß er nicht gegen eine Bestrafung von Häretikern diesseits der Todesstrafe sei. Die Amtsenthebung eines häretischen Predigers und eine Exkommunikation 43 Erinnert sei an jene ostpreußische Dame, die nach einer Einladung zur Begründung, daß sie kein zweites Kuchenstück, das sie eigentlich wollte, genommen hatte, über ihre Gastgeberin sagte: „Sie hat mich nich jenug jenötigt.“ 44 Vgl. WALTER BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur. Berlin 1937, Sp. 87. 45 ERASMUS (wie Anm. 20), Tom. 6, Sp. 1080: Ex hoc igitur codice Britannico reposuimus, quod in nostris dicebatur deesse, ne cui sit ansa calumniandi. Tametsi suspicor codicem illum ad nostros esse correctum. Vgl. dazu JERRY H. BENTLEY, Erasmus, Jean Le Clerc, and the Principle of the Harder Reading, Renaissance Quarterly 31, 1978, S. 309-321, hier 314f., H. J. DE JONGE, Erasmus and the Comma Johanneum. Ephemerides Theologicae Lovanienses 56, 1980, S. 381-389, JOSEPH M. LEVINE, Erasmus and the problem of the Johannine comma. Journal of the History of Ideas 58, 1997, S. 573-596, CHARLES O. BRINK, Klassische Studien in England. Historische Reflexionen über Bentley, Porson und Housman. Aus dem Englischen übersetzt von MARCUS DEUFERT. Stuttgart - Leipzig 1997, S. 135-140. 46 Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Die Bibel. Gesamtausgabe. Psalmen und Neues Testament Ökumenischer Text. Stuttgart - Klosterneuburg 1980, S. 1369.
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sind für ihn als äußerste kirchliche Mittel möglich. Welche staatlichen Zwangsmittel er für denkbar hält, erklärt er nicht ganz deutlich. Gefängnis und Hinrichtung lehnt er im Grunde ab, bejaht die Todesstrafe aber, in die Enge getrieben, zumindest äußerlich in bestimmten Ausnahmefällen. Andererseits spricht er sich gegen eine erheuchelte und nur unter Zwang zustande gekommene Bekehrung aus und empfiehlt, wenn die Zahl der Häretiker in einem Gemeinwesen sehr zugenommen hat, aus pragmatischen Gründen eine Duldung ihrer Religionsausübung in der Hoffnung auf eine spätere Wiedergewinnung der kirchlichen Eintracht. Seine humanistischen Studien brachten Erasmus also nicht nur zu einer außergewöhnlichen Wertschätzung bestimmter Heiden, sondern sie öffneten ihm auch Möglichkeiten für ein neues Verständnis der Heiligen Schrift, die zu einer vollen Widerlegung von Interpretationen hätten führen können, auf denen man bisher die Rechtfertigung der Verfolgung von Häretikern aufgebaut hatte. Erasmus konnte diese Wege jedoch nicht zu Ende gehen, da das Gewicht der von ihm anerkannten Autorität der Kirchenväter und der Kirche und auch seine Furcht vor gegen ihn gerichteten Zwangsmaßnahmen stärker war.47 Entsprechend konstruierte sein Freund Thomas Morus (1478-1535) die Religion in der Utopia 1516 auf einer humanistischen Grundlage, indem er dort alle religiösen Überzeugungen, die sich im Rahmen der ‘natürlichen Religion’ hielten, für zulässig und nur wie schon Platon eine atheistische Propaganda für strafbar erklärte,48 während derselbe Morus 1529 für die Realität des englischen Königreichs in einem englischsprachigen Dialog die gewaltsame Unterdrückung und sogar Tötung von protestantischen Häretikern rechtfertigte.49 Humanistische Gedankenspiele traten sozusagen im Ernstfall zurück hinter der unangezweifelten Argumentation und Autorität der römisch-katholischen Kirche. Bei Justus Lipsius (1547-1606), dessen Ansehen als Humanist am Ende des 16. Jahrhunderts sich mit dem von Erasmus am Anfang desselben vergleichen läßt, finden wir überraschenderweise sogar eine gegen eine religiöse Toleranz gerichtete Verwendung humanistischer Kenntnisse.
47 PETRUS CANISIUS (Opus Catechisticum sive de summa doctrinae Christianae, zuerst Köln 1569, hier zitiert nach der umfangreichsten Ausgabe letzter Hand, Editio tertia, Köln 1586, S. 446-454) stellt unter der Frage Quando nostra Conniventia alienis criminibus implicamur? die biblischen und patristischen Testimonien zusammen, die eine gewaltsame Verfolgung der Häretiker gebieten. Darunter befinden sich vor allem auch die Äußerungen Augustins (Retract. 2, 5, Epist. 48 ad Vincentium, 50 ad Bonifacium, 204 ad Donatum und In Ev. Joh. Tract. 11). 48 Vgl. zur Utopia CORNELIS AUGUSTIJN, Humanismus, Göttingen 2003 (Die Kirche in ihrer Geschichte Bd. 2, Lfg. H. 2), S. 90-92. In seinen Vorstellungen zur natürlichen Religion scheint Morus in der Tradition Ficinos zu stehen. Vgl. Anm. 19 und zur natürlichen Religion und der Todesstrafe gegen Atheisten auch die Hinweise bei LUDWIG (wie Anm. 2), S. 561-565. 49 Vgl. ZAGORIN (wie Anm. 1), S. 69-72.
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Im Index Gnomologicus der Ausgabe der Briefe des Lipsius von 1616 findet sich unter dem Stichwort Religio das Zitat: „Ich glaube fest an einen einzigen Gott und seinen Sohn Christus, der uns gnädig erlöste und befreite, auf den die ganze Hoffnung des menschlichen Heils gesetzt ist, und an die in den Heiligen Schriften ausgedrückten Wege, zu ihm zu gelangen, und daß alles dieses Äußerliche und das Philologische und Philosophische nichts als gewisse Zutaten und Verzierungen sind, Blätter und nicht die Früchte.“50 Der Satz stammt aus einem Brief von 1584 an den damaligen Generalvikar des Bistums Lüttich Laevinus Torrentius.51 Gedanklich verwandt und auch im Ausdruck teilweise übereinstimmend ist die philosophiae Christianae summa, wie sie Erasmus 1519 in einem Brief an den Böhmen Slechta definiert hatte.52 Zuvor erklärt Lipsius auf die Kritik des Torrentius, das Christliche sei in seinem Katalog De Constantia53 zu kurz gekommen, daß er in diesem Dialog eigentlich die alte Philosophie an die christliche Wahrheit hatte anpassen wollen, und bekennt, daß im Eifer der Arbeit vielleicht einiges eingeflossen sei, was mehr nach Philosophie als nach der christlichen Religion schmecke. Anschließend an das Zitat schreibt er, daß er Seneca und Epiktet wegen ihrer Kraft über die Tugend nicht nur zu reden, sondern sie einzupflanzen, Plato und Aristoteles vorziehe. Die alte Philosophie liegt ihm näher (nicht von ungefähr war seine Devise Moribus antiquis),54 in der christlichen Religion zieht er sich auf den Kernbestand zurück und hält alles andere für Nebensächlichkeiten, was ihm gestattete als Lutheraner unter Lutheranern in 50 IUSTUS LIPSIUS, Epistolarum Selectarum Chilias. Lyon 1616, Bl. Zzz iiij v: RELIGIO. Ego serio scio et sentio in uno Deo et filio eius Christo, qui nos benigne redemit, liberavit, spem omnem positam humanae salutis, vias ad eam perveniendi expressas in sacris literis nec haec externa omnia et philologa sive philosopha aliud esse quam accesiones quasdam et ornamenta, folia, inquam, non fructus. 51 LIPSIUS (wie Anm. 50), S. 11-112 (Cent. 1, 97); IUSTI LIPSI Epistolae, Brüssel 1978, Pars II (1983), 840-506. Vgl. zu Torrentius JEANINE DE LANDTSHEER, DIRK SACRE, CHRIS COPPENS, Hrsg., Justus Lipsius (1547-1606). Een Geleerde en zijn europese netwerk. Leuven 2006 (Supplementa Humanistica Lovaniensia 21), S. 352-365, und MARC LAUREYS, Torrentius und Horaz. In: ASTRID STEINER-WEBER, THOMAS A. SCHMITZ, MARC LAUREYS, Hrsg., Bilder der Antike, Göttingen - Bonn 2007, S. 127-144. 52 ERASMUS (wie Anm. 20), Tom. 2, Sp. 517-522, hier Sp. 521: Porro philosophiae Christianae summa in hoc sita est, ut intelligamus omnem spem nostram in Deo positam esse, qui gratis nobis largitur omnia per Filium suum Jesum. Huius morte nos esse redemptos, in huius corpus nos insitos esse per baptismum [...]. 53 IUSTUS LIPSIUS, De constantia libri duo. Antwerpen: Apud Christophorum Plantinum 1584. 54 Dieses Motto, das gerne auf seinen Porträtkupferstichen angebracht wurde - s. z.B. IUSTI LIPSI sapientiae et litterarum antistitis fama postuma. Antwerpen 1607, Bl. [2], abgebildet in DE LANDTSHEER (wie Anm. 51), S. 8 - geht direkt auf Ennius, Ann. frg. 500 V zurück. Vgl. Iusti Lipsi Electorum liber 1, 23 (zuerst 1580, hier zitiert nach IUSTUS LIPSIUS, Opera omnia, Tom. 1, Wesel 1675, S. 721f.): Scitum illud Ennii, quod non iniuria amo: Moribus antiquis res stat Romana virisque, war aber vielleicht auch angeregt durch Gellius, N.A. 1, 10, 4: antiquitatem tibi placere ais, quod honesta et bona et sobria et modesta sit. Vive ergo moribus praeteritis, loquere verbis praesentibus.
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Jena und als Calvinist unter Calvinisten in Leiden zu leben und bald auch als Katholik unter Katholiken in Löwen. In der zweiten Auflage von De constantia aber rechtfertigt er sich in einer zusätzlichen Vorrede gegenüber den Lesern,55 die mehr Christliches in seinem Werk zu finden wünschten. Er habe nicht als Theologe, sondern als Philosoph gesprochen, jedoch als christlicher (Philosophum ego agam, sed Christianum).56 1589 veröffentlichte er dann seine Politicorum sive civilis doctrinae libri VI, in denen er in Buch 4, Kapitel 2-4 der optimalen Staatsräson folgend aufgrund seiner neo-stoischen und zum Skeptizismus neigenden Einstellung geradezu machiavellistisch das richtige Verhalten eines Fürsten zur Religion in seinem Staat beschreibt.57 Abgesehen davon, daß es eine monotheistische Religion zu sein hat und es nur eine einzige anerkannte Religion in einem Staat geben soll, empfiehlt er keine bestimmte Religion, sondern nur, daß die überkommene mit ihren Riten nicht verändert werden soll, da sonst Unruhen und Aufruhr im Staat entstünden. Der Monotheismus ist seit Cicero ein Bestandteil der natürlichen, alle normalen Menschen verbindenden Religion. Die geforderte eine Staatsreligion entspricht der alten und damals immer noch weit verbreiteten Vorstellung, daß die innere Sicherheit sonst gefährdet ist. Nach diesen Festlegungen erklärt er: „Gefragt kann jedoch zweierlei werden. Sind die religiösen Dissidenten immer und sind alle religiösen Dissidenten zu bestrafen? Dies zu erörtern drängt nicht die Neugier, sondern das Gemeinwohl und der gegenwärtige Zustand Europas, den ich nur unter Tränen ansehen kann. O besserer Teil der Welt, was für Fackeln von Glaubenszwistigkeiten zündet die Religion dir an! Es stoßen die Häupter der Christenheit aufeinander, und Tausende von Menschen gingen und gehen zugrunde unter dem Vorwand der Frömmigkeit.“58 Das steht gedanklich dem lukrezischen Tantum religio potuit suadere malorum schon recht nahe. Die Behandlung der Religion im Staatsentwurf des Lipsius soll also dazu dienen, diese schreckliche Situation zu beenden. Wie will er dies bewerkstelligen? Lipsius unterscheidet religiöse Dissidenten, die andere auf ihre Seite zu ziehen suchen und damit angeblich Unruhe stiften, und solche, die ihren abweichenden Glauben für sich behalten. Die ersten sind, so empfiehlt er, gnadenlos aus dem Staat zu entfernen. Wie das geschehen soll, wird dem Leser, der an eine Hinrich55 Hier zitiert nach LIPSIUS, Tom. 4 (wie Anm. 54), S. 513-515. 56 Der Ausdruck Philosophus Christianus knüpft möglicherweise an den Erasmischen Begriff der Philosophia Christiana an. 57 IUSTUS LIPSIUS, Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, Leiden 1589, S. 104-113. Vgl. zu dem Werk allgemein MARTIN VAN GELDEREN, The Political Thought of the Dutch Revolt 1555-1590, Cambridge 1992, S. 180-187, 251-256. 58 LIPSIUS (wie Anm. 57), S. 108: Quaeri tamen duo possunt: Semperne puniendi qui dissentiunt, et an omnes? Qua de re ut disseram, non curiositas me impellit, sed publica utilitas, et praesens hic Europae status, quem nego me sine lacrimis intueri. O melior mundi pars, quas dissidiorum faces religio tibi accendit! Colliduntur inter se Christianae rei pub. capita, et milleni aliquot homines perierunt ac pereunt per speciem Pietatis.
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tung denken kann, nicht deutlich gesagt. Sofern es aber in einem Staatswesen zu viele erklärte Dissidenten gibt, ist es nach Lipsius’ Auffassung für den Regenten klüger mit einer Bestrafung abzuwarten, um nicht dadurch noch größere Unruhen hervorzurufen. Diese Toleranz ist hier pragmatisch motiviert ähnlich wie zuvor bei Erasmus, der gleichfalls empfohlen hatte, Häretiker, wenn sie in einem Gemeinwesen in größerer Zahl existieren, zu dulden. Die stillen Dissidenten aber soll man Lipsius zufolge in Ruhe lassen und nicht aufspüren, denn dies brächte keinen staatlichen Nutzen. Lipsius hat hier mit seiner sonst nur der Staatsräson dienenden Argumentation die persönliche Glaubensfreiheit in den eigenen vier Wänden verbunden, die er auch für sich in Anspruch nahm und die um des inneren Friedens willen mit einer äußerlichen Anpassung an die Riten der Staatsreligion verbunden werden sollte. Seine Politica sind so verfaßt, daß sie fast einen Cento aus nur durch kurze eigene Zwischensätze verbundenen Zitaten darstellen. In den drei referierten Kapiteln sind heidnische Autoren 32mal zitiert (davon 7 mal Seneca und 4 mal Tacitus), christliche 16mal (davon 7mal Laktanz und 4mal Augustin, einmal die Bibel). Die nicht-christliche antike Literatur liefert sozusagen zwei Drittel der Bausteine für die Konstruktion eines neuzeitlichen Staates, der keine religiöse Toleranz im öffentlichen Leben kennt. Das Ziel der Konstruktion war, auf diese Weise staatliche Sicherheit zu erreichen und zugleich die von ihm beklagte Tötung vieler Menschen aus religiösen Gründen zu vermeiden. Sein für eine umfassende religiöse Toleranz und einen multikonfessionellen Staat eintretender und auch humanistisch gebildeter Landsmann Dirck Coornhert war über die von Lipsius gutgeheißene Bestrafung der offenen Dissidenten so empört, daß er gleich 1590 in niederländischer Sprache eine Streitschrift „Proces van’t Ketter-Doden onder Dwangh der Conscientien“ verfaßte, in der er jeden Satz in diesen Kapiteln kritisch kommentierte.59 Besonders entsetzten ihn Lipsius’ Worte zur Bestrafung der missionierenden und damit Unruhe stiftenden Dissidenten: Clementiae non hic locus. Ure, seca, ut membrorum potius aliquod, quam totum corpus intereat60 („Hier ist kein Platz für Milde. Brenne, schneide, damit eher eines der Glieder als der ganze Körper zugrunde gehe!“). Man konnte diesen Satz bei Lipsius unmittelbar nach dem Wortlaut und angesichts erfolgter Hinrichtungen von Häretikern als ein Plaidoyer für die durch Feuer oder Schwert zu verhängende Todesstrafe gegen missionierende Dissidenten auffassen.
59 Zu Coornhert vgl. ZAGORIN (wie Anm. 1), S. 154-164, VAN GELDEREN (wie Anm. 57), S. 243-256, JAMES D. TRACY, Erasmus, Coornhert and the acceptance of religious disunity in the body politic: a Low Countries tradition? In: C. BERKVENS-STEVELINCK, J. ISRAEL, G.H.M. POSTHUMUS MEYJES, Hrsg., The emergence of tolerance in the Dutch Republic. Leiden u.a. 1997 (Studies in the History of Christian Thought 76), S. 49-62, hier S. 55-60, DE LANDTSHEER (wie Anm. 51), S. 173-182, RICHARD TUCK, Scepticism and toleration in the seventeenth century. In: SUSAN MENDUS, Hrsg., Justifying Toleration. Conceptual and historical perspectives. Cambridge 1988, S. 21-36, hier S. 22-28. 60 LIPSIUS (wie Anm. 57), S. 109.
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So wurde er von vielen, die ihn empört lasen, verstanden, und so verstand ihn auch Coornhert. Der Satz war jedoch im Sinne von Lipsius metaphorisch zu verstehen. Er war, worauf eine Randbemerkung hingewiesen hatte, ein - allerdings etwas abgeändertes, durch die Imperative verschärftes - Zitat aus Ciceros 8. Philippica gegen Antonius, wo Cicero das medizinische Bild des chirurgischen Abschneidens eines Gliedes und des der Blutstillung dienenden Ausbrennens der Wundfläche in der Form eines Hysteronproteron verwendete, um deutlich zu machen, daß Antonius wie einst Catilina um der Sicherheit des Staates und seiner Bürger willen beseitigt werden müsse: In corpore, si quid eius modi est, quod reliquo corpori noceat, id uri secarique patimur, ut membrum aliquod potius quam totum corpus intereat. Sic in rei publicae corpore, ut totum salvum sit, quicquid est pestiferum amputetur („Wenn es im Körper etwas von der Art gibt, was dem übrigen Körper schadet, so dulden wir, daß dies geschnitten und gebrannt wird, damit eher ein Glied als der ganze Körper zugrunde geht. So sollte im Körper des Staates, damit er als Ganzes gesichert ist, alles Verderbliche amputiert werden“).61 Der Ausdruck τέμνειν καὶ καίειν stammte aus der griechischen Medizin und beschrieb die bei schweren Krankheiten oder Verletzungen angebrachte Heilung durch Amputation eines Gliedes. Schon Platon hatte diese medizinische Heilmethode vergleichsweise auf Maßnahmen einer staatlichen Regierung übertragen. Als Lipsius erfuhr, daß empörte Leser wie Coornhert seinen Ausdruck buchstäblich und nicht bildlich und zudem als erste und nicht als letzte von ihm empfohlene Maßnahme verstanden, bereute er, ihn verwendet zu haben. In seinem noch im gleichen Jahr veröffentlichten De una religione adversus dialogistam liber,62 in dem er Coornhert insgesamt invektivisch und ziemlich von oben herab als humanistisch ungebildet und unverständig abkanzelt, gesteht er, daß er jetzt diese Verben lieber nicht geschrieben hätte: Ure, seca: O verba nata ad turbas. perissent illa et calamus, cum scripsi („Brenne, schneide: O diese Worte, die Verwirrung stiften mußten! Hätte ich doch nur sie und die Feder verloren, als ich schrieb!“). Bei näherer Prüfung sieht er sie jedoch als eigentlich vertretbar an: A veteris medicinae ritu sumptus sermo, qui in ulcere aut vulnere secabant et deinde sistendo sanguini urebant („Der Ausdruck ist von einem Verfahren der antiken 61 Cicero, Phil. 8, 5, 15. Lipsius übernahm das Ciceronische Hysteronproteron uri secarique in der Imperativfolge ure seca und führte dafür in De una religione adversus dialogistam liber - s. LIPSIUS (wie Anm. 54), Tom. 4, S. 307 - als Parallele auch Seneca, Cons. ad Helv. 2 Hoc erit non molli via mederi, sed urere et secare an. Durch das Hysteronproteron wird der Nachdruck auf das den Operationsvorgang abschließende Kauterisieren gelegt. Vgl. zur Verwendung des Hysteronproteron JOHANN BAPTIST HOFMANN - ANTON SZANTYR, Lateinische Syntax und Stilistik. München 1965, S. 698f. und für den entsprechenden griechischen Ausdruck EDUARD FRAENKEL, Aeschylus. Agamemnon. Oxford 1950, Bd.2, S. 388 zu V. 849, wo die beiden entsprechenden Verben gleichfalls in der Form eines Hysteronproteron gesetzt sind. Fraenkel und LSJ s.v. καίω IV nennen andere Stellen für den Ausdruck aus der griechischen Literatur 62 Hier zitiert nach LIPSIUS (wie Anm. 54), Tom. 4, S. 273-319.
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Medizin genommen, die bei Geschwür oder Verwundung schnitten und danach, um das Blut zu stillen, brannten“). Coornhert wird belehrt, daß Seneca, Properz und Hieronymus diese Worte auch bildlich verwendet hätten, und daß er selbstverständlich nicht als erste, sondern als letzte Maßnahme an die Todesstrafe gedacht habe, wie auch Seneca, De ira 1, 5 ausführe, daß ein Gerichtsherr und Staatslenker es zuerst mit freundlichen, dann mit ernsten Worten versuchen und dann erst zu Strafen übergehen und auch hier zuerst leichtere und zurücknehmbare verhängen und die Hinrichtung als äußerste Strafe für äußerste Verbrechen vorbehalten solle. So empfehle er eine vierfache Stufung von möglichen Strafmaßnahmen im Falle von Unruhe stiftenden Dissidenten, erstens die Geldstrafe, zweitens die öffentliche Ehrlosigkeit, drittens die Verbannung, bei der man es notfalls möglichst bewenden lassen sollte, und erst zuletzt die Hinrichtung, die als Drohkulisse in erster Linie der Abschreckung dienen solle. Diese Stufung hatte sich dem zuerst veröffentlichten Text allerdings nicht entnehmen lassen, die Stelle aus Seneca, De ira 1, 5 ist erst jetzt eingeführt, und die Aufforderung Clementiae non hic locus ließ den Leser an eine solche Abschreckungsstrategie nicht denken. Es ist deshalb nicht auszuschließen, daß Lipsius erst durch erneute Überlegungen nach den ersten Reaktionen auf seine Äußerungen zu dieser Interpretation seiner ursprünglichen Vorstellungen kam. Am Ende seiner rechtfertigenden Erklärung steht der aufschlußreiche Satz: Deum precor, tibi o Princeps moderatam mentem, illis sanam et paenitentiam det („Ich bitte Gott, daß er dir, Fürst, einen maßvollen Geist und jenen eine heilsame Reue gebe“).63 Beides, daß der Regent nicht vorschnell zu äußersten Strafmaßnahmen greift und daß die Unruhe stiftenden Dissidenten, die im übrigen nur ein in einem anderen Staat orthodoxes Bekenntnis vertreten konnten, durch Änderung ihres Verhaltens Strafmaßnahmen überflüssig machen, sind unerläßliche Voraussetzungen, damit sein Staatsmodell im gewünschten Sinn funktioniert. Lipsius suchte so wohl tatsächlich die Kapitalstrafe zu minimieren, hielt die äußerste Strafandrohung aber im Interesse des innerstaatlichen Friedens für notwendig. Er konnte sich öffentliche Toleranz nur in besonderen Situationen aus pragmatischen Gründen vorstellen, stellte im übrigen die Sicherheit verbürgende Staatsräson vor die öffentliche Religionsausübung christlicher Dissidenten und sah sich durch seinen abwegig wirkenden Vergleich der bekennenden und missionierenden Dissidenten mit Antonius und Catilina gestützt. Cicero hatte seinen Appell, Antonius zu beseitigen, mit dem Satz gerechtfertigt: „Ein hartes Wort, aber noch weit härter ist: ‘unversehrt sollen die Schurken, die Verbrecher, die Gottlosen sein, vernichtet seien die Unschuldigen, die Ehrbaren, die Guten, der ganze Staat’.“64 Für Lipsius hatte aufgrund seiner Erfahrungen und Wünsche das Leben in einem im Inneren friedlichen und sicheren Staat die unbedingte Priorität. Um 63 LIPSIUS (wie Anm. 54), Tom. 4, S. 307-310. 64 Cicero, Phil. 8, 5, 16: Dura vox! Multo illa durior: ‘Salvi sint improbi, scelerati, impii; deleantur innocentes, honesti, boni, tota res publica!’
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dies zu gewährleisten, schien ihm eine einzige Staatsreligion nötig und der Verzicht auf öffentliche Religionsausübung Andersgläubiger zumutbar. Er fürchtet so sehr Gefährdungen des inneren Friedens, daß er ihnen die öffentliche Religionsausübung Andersgläubiger im gleichen Staat opfert und die mögliche kapitale Bestrafung bestimmter Andersgläubiger hinnimmt. Coornherts erster Wert ist dagegen die Freiheit des Gewissens und der religiösen Überzeugung, die der Staat seinerseits zu dulden hat - es dauerte lange, bis sich diese Auffassung allgemein durchsetzen konnte. Welche Erkenntnisse lassen sich im Blick auf diese Beobachtungen an Erasmus, Morus und Lipsius für das Verhältnis von Humanismus und Toleranz gewinnen? Humanistische Kenntnisse und Methoden enthielten Potentiale, die auf eine religiöse Toleranz wiesen und sie wurden in gewissem Umfang auch genutzt. Aber sie mußten selbst bei den berühmtesten Humanisten des 16. Jahrhunderts vor psychologisch stärkeren Momenten zurückweichen, ob dies nun die Überzeugungskraft der kirchlichen Lehren oder kirchliche und staatliche Zwangsmaßnahmen waren oder das Bedürfnis, in einer friedlichen Umwelt sicher zu leben und zu arbeiten. Der Humanismus trug langfristig zur Entwicklung der religiösen Toleranz bei, aber die entscheidenden Anstöße zu ihrer Durchsetzung kamen, so müssen wir feststellen, von anderen Seiten. Oder anders ausgedrückt: nur unter bestimmten Umständen, so in Verbindung mit religiösen Überzeugungen, die ihr Daseinsrecht gegen andere herrschende Vorstellungen zu behaupten suchten, konnten die Toleranzpotentiale des Humanismus zu voller Wirkung kommen, wie z.B. bei dem im Folgenden noch näher betrachteten Arminianer Jean Le Clerc.65 Religiöse, aber unter Umständen auch politische und ökonomische Faktoren, die eine interkonfessionelle Toleranz begünstigten, scheinen bei deren Durchsetzung primäre Bedeutung gehabt zu haben. Humanistische Kenntnisse und Wertvorstellungen konnten dann unterstützend hinzutreten. Andererseits ist aber auch nicht zu vergessen, daß die humanistischen Studien in der Zeit der Konfessionskontroversen des 16. und 17. Jahrhunderts eine geistig verbindende Gemeinsamkeit der gebildeten Schichten darstellten, die eine Brückenfunktion hatte und die Personen, die in konfessionell getrennten Lagern standen, auch im übertragenen Sinn eine gemeinsame Sprache gab (wie z.B. dem Jesuiten Jakob Balde und dem Calvinisten Caspar Barlaeus für ihre freundschaftliche Korrespondenz)66. Die Erforschung des Verhältnisses von Humanismus und Toleranz hat beiden Aspekten Aufmerksamkeit zu schenken.
65 Vgl. Anm. 28, 31 und Kapitel III. 66 Vgl. GEORG WESTERMAYER, Jacobus Balde (1604-1668). Sein Leben und seine Werke, München 1868, hrsg. von Hans Pörnbacher und Wilfried Stroh, Amsterdam1998, S. 180-185 und LUDWIG (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 252.
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III. Die Kritik von Jean Le Clerc an Augustins Brief an Vincentius und ihre Zurückweisung durch Robert Jenkin und Lodovico Antonio Muratori Wie angekündigt, folgt hier eine Darstellung der christlich und humanistisch geprägten Kritik, die Jean Le Clerc (1657-1736) unter dem Pseudonym eines Ioannes Phereponus in seiner Appendix Augustiniana67 an dem an den schismatischen Bischof Vincentius gerichteten Brief Augustins (Epist. 93, früher 48) äußerte.68 Der Genfer Le Clerc/Clericus hatte seine Ausbildung in seiner Heimatstadt und an der Hugenotten-Akademie in Saumur erhalten, war um der Freiheit seiner religiösen Überzeugungen willen nach Amsterdam gezogen und unterrichtete dort seit 1684 an der Hochschule der Arminianer bzw. Remonstranten Philosophie, die studia humaniora, die Hebräische Sprache und Kirchengeschichte.69 Er korrespondierte mit John Locke, dessen „Letter of Toleration“ er ins Französische übersetzte. Bevor er aus Verehrung für Erasmus 1703-1706 die große Leidener Erasmusausgabe edierte, gab er 1703 eine Appendix Augustiniana als Tomus XII zu der Antwerpener Augustinausgabe von 1700 heraus.70 Sie als ganzes theologisch und kirchengeschichtlich zu würdigen, ist hier nicht der Ort. Ihr erster Bestandteil sind die Texte, die sich mit Pelagius befassen bzw. Schriften 67 S. [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 492-495 und 602-603. Le Clerc hatte bereits unter einem anderen sprechenden Pseudonym heikle Fragen diskutiert in: Parrhasiana ou Pensées Diverses sur des Matières de Critique, d’Histoire, de Morale et de Politique [...] par Theodore Parrhase, Amsterdam 1699-1701. 68 Eine ähnliche Augustinkritik hatte Le Clerc kürzer und anonym bereits in: Défense des Sentimens (wie Anm. 14), S. 366ff., vorgebracht. 69 Vgl. zu ihm und zur Kirche der Arminianer, der er angehörte, SAMUEL A. GOLDEN, Jean LeClerc, New York 1972 (Twayne's world authors series 209), LUISA SIMONUTTI, Arminianesimo e tolleranza nel seicento olandese: il carteggio Ph. van Limborch J. Le Clerc, Florenz 1984 (Accademia toscana di scienze e lettere ‘La Colombaria’, Studi 70), MARIA CRISTINA PITASSI, Entre croire et savoir: le problème de la méthode critique chez Jean LeClerc, Leiden 1987, MARIO und MARIA GRAZIA SINA (Hrsg.), Epistolario. Jean Le Clerc, 4 Bde. Florenz 1987-1997 (Le correspondenze letterarie, scientifiche ed erudite dal Rinascimento all’età moderna 1, 2, 5, 6) und SIMONE ZURBUCHEN, Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzproblems von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rouseau, Würzburg 1991 (Epistemata, R. Philosophie 82), S. 194 (Register). Auf Le Clercs Bedeutung als klassischer Philologe ist die kurze Darstellung von John Edwin Sandys, A History of Classical Scholarship,Bd. 2, zuerst Cambridge 1958, hier New York und London 1967, S. 441-443, konzentriert. Die ausführlichste Werkliste enthält der Artikel „Clerc (Jean le)“ in: LOUIS MORERI, CLAUDE-PIERRE GOUJET, ÉTIENNE FRANÇOIS DROUET, Le Grand Dictionnaire Historique [...] Nouvelle Édition [...], T. 3, Paris 1759 (letzte Ausgabe), S.743-749. 70 Vgl. Anm. 28. Diese Appendix Augustiniana und die dortige Auseinandersetzung mit Augustin werden nicht erwähnt in den eben genannten Büchern von GOLDEN, PITASSI, SANDYS, SIMONUTTI und ZURBUCHEN. Vermerkt wird sie jedoch in MORÉRI, S. 748.
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von ihm edieren. Die Präsentation dieses Augustingegners, der sich gegen die strenge augustinische Gnaden- und Prädestinationslehre gewandt hatte, war auch von aktueller Bedeutung, da die Arminianische bzw. Remonstrantische Kirche sich vom orthodoxen Calvinismus eben im Bereich der Gnaden- und Prädestinationslehre unterschied. Der zweite Hauptteil der Appendix Augustiniana enthält die Praefationes et Censurae des Erasmus aus dessen in Basel 1528-1529 gedruckter Augustin-Ausgabe, andere Bemerkungen früherer Autoren zu Augustin und vor allem Le Clercs eigene hier pseudonym veröffentlichte Animadversiones in omnia S. Augustini Opera. Letztere sind so vermischt mit den Erasmischen Praefationes et Censurae gedruckt, daß sich dem aufmerksamen Leser der Gedanke aufdrängt, Le Clerc hätte eine solche Kommentierung gerne bereits aus der Feder des Erasmus gelesen. Phereponus widerspricht hier unter anderem sehr dezidiert allen Augustinischen Rechtfertigungen einer Gewalt gegen Häretiker und Heiden. Und wer nur Teile des Bandes liest, könnte sogar die Animadversiones des Phereponus für Äußerungen des Erasmus halten. Denn es folgen die Animadversiones den Erasmischen Abschnitten jeweils ohne eigene Verfasserangaben. So stehen z.B. hintereinander auf S. 487f. unter der Überschrift Animadversiones in Tomum secundum S. Augustini zuerst die 1527 geschriebene Vorrede des Erasmus zu diesem Band, betitelt Des. Erasmus Roterodamus Pio Lectori S. D. (in ihr betont Erasmus u.a., daß man in allen Äußerungen Augustins Christianae caritatis nativam dulcedinem spüre), und danach, ohne daß hier als neuer Verfassername der des Phereponus erscheint, dessen Animadversiones in Epistolas S. Augustini. Die nötige Aufklärung gibt jedoch zu Beginn des ganzen Tomus XII Joannis Phereponi Praefatio. Er schreibt dort zunächst zurückhaltend zum Inhalt der Appendix zu Tomus I-X speziell zu Tomus II „In den übrigen Bemerkungen zu diesem Band ist Verschiedenes, das sich auf die Septuaginta, die Verfolgung der Donatisten und anderer Häretiker, sowie die Verurteilung der Pelagianer bezieht. Das ist wert von einem vorurteilslosen Leser erwogen zu werden“.71 Sodann erklärt er kurz zu Tomus IX: „In den Büchern gegen den Brief des Parmenianus handelten wir abermals von der Verfolgung der Häretiker, worüber wir schon genügend in vielen Bemerkungen zu Tomus II gesprochen hatten.“72 Danach wird er in einer allgemeinen Stellungnahme zu seinen Animadversiones, die er als Einzelbemerkungen von einem durchgehenden Kommentar unterschieden sehen will, jedoch deutlicher: „Die gar zu grämlichen Leser wird es ärgern, daß wir über den Heiligen Augustin, über den sie beinahe wie über ein
71 [LE CLERC] (wie Anm. 28), Bl. *2v: In ceteris ad hunc Tomum Animadversionibus varia sunt ad versionem LXX. Intepretum, vexationem Donatistarum ut et quorumvis Haereticorum et damnationem Pelagianorum, quae digna sunt, quae a Lectore praejudiciorum vacuo expendantur. 72 [LE CLERC] (wie Anm. 28), Bl. *3r: In libros contra Epistolam Parmeniani nos quoque iterum egimus de persequutione Haereticorum, de qua sat multis in Animadversionibus ad Tom. II. dixeramus.
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Orakel mit religiösem Schauder zu sprechen pflegen,73 oft so gehandelt haben, als ob wir es mit irgendeinem anderen Menschen zu tun hätten. Aber auch wenn sie alles gesagt haben, was ihnen eine gewisse abergläubische Ehrfurcht gegenüber diesem Schriftsteller eingab, den sie vielleicht niemals aufmerksam und immer mit den größten Vorurteilen lasen, werden sie es dennoch nicht dahin bringen können, daß meine aus der Vernunft, der Sprachlehre und der genauesten Schriftinterpretation gewonnenen Argumente weniger sicher werden. Wenn sie aber wahr sind, wie ich glaube, sollten sie mir Dank sagen oder wenigstens dankbar sein, weil ich bewirkt haben werde, daß sie nicht zusammen mit dem Schriftsteller, den sie allzu hoch schätzen, irren. Wenn meine Argumente jedoch falsch wären, brauchten sie für das Ansehen Augustins nichts zu befürchten. Denn Falsches, das man mit Wahrem zusammenbringt, verschwindet sogleich, wenn man es nicht mit Gewalt verteidigt. [...] Aber ich glaube zu hören, daß da einige rufen, was von mir an verschiedenen Stellen gesagt sei, sei mehr geeignet, ein richtiges Urteil zu korrumpieren als es auszubilden. Ihnen antworte ich: wenn ich ihre Auffassung gehabt hätte, hätte ich diese Äußerungen unterlassen. Aber da ich eine andere Auffassung hatte, konnte ich mich nicht dahin bringen zu unterlassen, das zu sagen, was mir das Beste schien.“74 Er beruft sich als Christ auf Matth. 23, 8, und erklärt, er habe seit dreißig Jahren, also etwa seit seinem 16. Lebensjahr,75 dem durch die Vernunft und durch die Offenbarung zu den Menschen gebrachten Licht Gottes seine volle Aufmerksamkeit zuzuwenden versucht und habe dabei alle Lehrer als Helfer, aber keinen als Herrn seiner Urteile gehabt. „Deshalb habe ich sowohl die Logik sorgfältig gelernt, damit mir keine Trugschlüsse unterlaufen, als auch der Logik nach Kräften die Grammatik und die Kritik [d.h. die Kunst der literarischen Interpretation], sei es daß du an die hebräische oder die griechische Literatur
73 Vgl. - mit Anm. 8 - das oben von Christian Thomasius Zitierte. 74 [LE CLERC] (wie Anm. 28), Bl. *3r-v: Aegre ferent [sc. morosiores Lectores] nimirum nos de S. Augustino, de quo ferme quasi de oraculo quodam non sine horrore religioso loqui solent, ita saepe egisse, quasi de quovis alio homine ageremus. Sed postquam omnia dixerint, quae superstitiosa quaedam reverentia eis suggesserit erga Scriptorem, quem forte numquam attente legerunt et semper cum maximo praejudicio, non efficient ut argumenta ex recta Ratione, Grammaticaque ac certissima Scripturae Interpretatione deducta fiant minus firma. Quod si sint vera, ut quidem ego puto, mihi gratias agere aut certe habere debebunt, quia, ne una cum Scriptore, quem nimio in pretio habent, errarent, effecero. Quod si contra essent falsa, nihil est quod propterea existimationi ejus timeant: falsitas enim Veritati collata facillime evanescit, nisi vi defenditur. [...] Verum audire mihi videor homines nonnullos clamitantes, quae a me dicta sunt variis in locis, ea apta esse ad corrumpendum potius quam ad excolendum judicium. Quibus respondeo, me, si in illorum sententia fuissem, ea omissurum fuisse, sed cum aliter senserim, non potuisse committere, ut ea, quae mihi optima dictu videbantur, praetermitterem. 75 Nach MORÉRI (wie Anm. 69), S. 743, der sich hier auf die 1711 erschienene Autobiographie von Le Clerc stützt, begann dieser 1673 das Studium der Philosophie und 1676 19jährig das der Theologie.
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denkst,76 sowie eine unermüdliche Lektüre nicht nur der Übersetzungen, sondern auch der authentischen Bücher der Schrift hinzugefügt, um zu erkennen, was Gott offenbarte, und diese Erkenntnis dann mit meinem ganzen Geist festgehalten. Wieviel Fortschritte ich in all diesem machte, weiß ich nicht, das weiß Gott. Aber kein billig Denkender wird von mir verlangen, daß ich das für wahr halte, was mir nach Hinzuziehung all dieser Hilfsmittel klar falsch zu sein scheint.“77 Das Studium der Logik und der humanistischen Disziplinen und ihre Anwendung auf die Bibelinterpretation78 sowie das arminianische, durch erlittene Verfolgungen bekräftigte Bewußtsein, daß Christen einander nicht mit Drohungen und Gewalt begegnen sollten, und auch die christliche Entschiedenheit, das als wahr Erkannte zu bekennen, sind hier zu einer Einheit verschmolzen. Le Clerc führte selektierend rezipierte erasmische Gedanken mit einer unerasmischen Konsequenz zu Ende und gelangte speziell in seiner Besprechung von Augustins 93. Brief so zu einer Apologie der religiösen Toleranz und einer Philippica gegen den von Erasmus gerade auch in seinen Briefen hochgeschätzten Augustin, dem Le Clerc unter anderem elementare Verstöße gegen Logik und literarische Hermeneutik vorhält. Die kritische Auseinandersetzung mit Augustins Argumenten bringt Le Clerc hier sogar - ähnlich wie einst Petrarca die Auseinandersetzung mit Cicero - zu einer direkten Anrede des antiken Autors. Ein rhetorisch hinreißend formulierter Text mit gedanklichem Sprengstoff, der die Verteidigung der Verfolgung und Zwangsbekehrung von Häretikern durch Augustin ad absurdum führt und seine Zustimmung zur Tötung von Heiden als völlig unmoralisch bloßstellt und verurteilt, verbirgt sich zur Überraschung der Leser unter der wohl bewußt unauffällig gehaltenen Überschrift Animadversiones, unter der man eher trockene textkritische Bemerkungen vermutet. Vielleicht ist dies ein Grund, weshalb diese Augustinkritik von der modernen Humanismus76 Vgl. JEAN LE CLERC, Ars critica, in qua ad studia Linguarum Latinae, Graecae et Hebraicae via munitur; Veterumque emendandorum, et Spuriorum Scriptorum a Genuinis dignoscendorum ratio traditur, zuerst Amsterdam 1697, und dazu sowie zu seinem Studium des Hebräischen PITASSI (wie Anm. 69). 77 [LE CLERC] (wie Anm. 28), Bl. *3v: Quamobrem et Dialecticam diligenter colui, ne ratiocinando fallerer, et Grammaticam ac Criticam, sive litteras Hebraicas, sive Graecas spectes, lectionemque indefessam non versionum tantum, sed et Authenticoum Scripturae librorum Dialecticae pro virili adjeci, ut intelligerem, quid revelarit Deus, ac intellectum toto animo amplecterer. Quantum in hisce omnibus profecerim, nescio, Deus novit; sed ut verum id esse credam, quod adhibitis omnibus illis subsidiis falsum esse liquido videre mihi videor, nemo aequus a me exegerit. 78 Dieses Studium geht über die Vorgaben in Augustins De doctrina Christiana libri IV weit hinaus. Diese Schrift steht am Anfang von Tomus III, der Libros de interpretatione Scripturae aut varias eius interpretationes enthält, zu denen Phereponus in seiner Vorrede, Tomus XII, Bl. *2v, schreibt: Ideoque multae occurrent in hosce Libros Animadversiones Criticae, ex quibus intelligere licebit, quam necessaria fuisset S. Augustino Graecae et Hebraicae Linguarum peritia; quae cum ei deesset, necesse fuit frequenter hominem labi, quod insignibus aliquot exemplis manifestum sit. Multa alia potuissent addi, si Commentarium in hosce Tractatus scribere statuissemus.
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und Toleranzforschung und ebenso in den speziellen Forschungen zu Le Clerc bisher meist unbeachtet geblieben ist - im Gegensatz zu den lebhaften Reaktionen unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung. 1709 wird Le Clerc eine Schrift von Hugo Grotius, der der arminianischen Kirche in der Zeit ihrer Verfolgung durch die orthodoxen Calvinisten angehört und selbst Verfolgung erlitten hatte, mit dem Titel De veritate religionis Christianae kommentiert neu herausgeben und einen eigenen kurzen Traktat De eligenda inter Christianos dissentientes Sententia daran anschließen. Gegen Ende desselben faßt er seine Überzeugung hinsichtlich der gebotenen interkonfessionellen Toleranz, die bereits im Hintergrund seiner Kritik von Augustins Brief an Vincentius steht, so zusammen:79 „Wenn sie [die Christen] erkennen würden, daß sie in der Hauptsache übereinstimmen, wie dies auch wirklich der Fall ist, und sich im übrigen gegenseitig tolerierten und nicht die anderen mit Drohungen, Gewalt oder anderen üblen Mitteln zu ihrer Auffassung oder zu ihren Riten zu ziehen suchten, gäbe es die Eintracht, die auf Erden allein erhofft werden kann. In dieser durch mannigfache Leidenschaften gefangenen Unwissenheit und Unkenntnis des Menschengeschlechts wird kein Kluger erwarten, daß alle mit Gewalt oder durch Argumente dahin gebracht werden könnten, daß sie das Gleiche denken und tun. Die edelmütigeren und verständigen Menschen können Gewalt, die ein Begleiter der Lüge, nicht der Wahrheit ist, nicht billigen; und die weniger gebildeten bzw. die, die durch Leidenschaften oder durch von ihrer Erziehung herrührende Vorurteile oder durch Anderes verblendet sind und die immer in der großen Überzahl sein werden, sind unterdessen nicht zu zwingen, gegen ihre eigene Meinung zu handeln oder zu sprechen.“ Die Kommentierung - und Widerlegung - von Augustins Brief an Vincentius ist das Produkt eines arminianisch-christlichen, auf Erasmus gründenden und ihn transzendierenden Humanismus. Für Erasmus waren Cicero und Seneca göttlich inspiriert, für Le Clerc wird Sanctus Augustinus zum verführerischen, aber widerlegbaren Rhetor von Hippo. Eine solche Stellungnahme erforderte Mut und konnte nachteilige Folgen für ihren Autor haben (und vielleicht hat Le Clerc deshalb unter dem Pseudonym Phereponus geschrieben), die tödliche Gefährdung, in die noch Erasmus durch ein entschiedenes Eintreten für generelle Toleranz gegenüber Häretikern geraten wäre, war freilich unterdessen entfallen. 79 S. HUGO GROTIUS, De veritate religionis Christianae. Editio accuratior, quam recensuit, notulisque adjectis illustravit JOHANNES CLERICUS; cuius accessit De eligenda inter Christianos dissentientes Sententia Liber unicus. Amsterdam 1709, S. 342: Si modo de summa rei consentire se intelligerent, quemadmodum re vera consentiunt, et se invicem in ceteris ferrent, nec alios minis, vi aut aliis malis artibus ad suam sententiam aut suos ritus trahere conarentur,ea esset concordia, quae sola in terris sperari potest. In hac humani generis ignorantia et inscitia, tam variis adfectibus praepedita, nemo prudens expectet omnes posse, idem ut sentiant ac faciant, vi aut rationibus adduci. Generosiores animi intelligentesque probare nequeunt vim, quae Mendacii, non Veritatis est satelles; nec minus eruditi adfectibusve aut educationis praejudiciis aliisque occaecati, quales semper erunt longe plurimi, rationum pondus satis intelligunt nec interea cogendi sunt contra id, quod sentiunt, facere aut loqui.
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Augustin schrieb an den Rogatisten Vincentius, daß bereits viele Donatisten zur katholischen Kirche zurückgekehrt seien, nachdem sie durch Androhung von Gewalt dazu gebracht worden waren, ihren Geist auf die Wahrheit zu richten (Epist. 93 § 1) und fährt fort (§ 2): „Wenn wir sie, die einstmals unsere trotzigen Feinde waren und die unseren Frieden durch verschiedene Arten von Gewalt und Hinterlist schwer beeinträchtigten, nicht ernst nehmen und dulden würden, daß überhaupt nichts, was sie schrecken und verbessern könnte, von uns erdacht und ins Werk gesetzt würde, so würden wir in der Tat Böses mit Bösem vergelten. Denn wenn einer einen Feind, der durch gefährliche Fieber geisteskrank wurde, zu einem Abgrund laufen sehen würde, würde er dann nicht eher Böses mit Bösem vergelten, wenn er zuließe, daß er so läuft, als wenn er dafür sorgte, daß man ihn ergreift und fesselt?“80 Dazu schreibt der Verfasser der Animadversiones: „In diesem Brief unternimmt es der Bischof von Hippo ausführlichst zu beweisen, daß die Verfolgung derer erlaubt sei, die wir für im Irrtum befindlich halten, damit sie zum Bekenntnis der Wahrheit gebracht werden. Da viele seiner Meinung fälschlicherweise folgten und auch heute noch folgen, wird es, glaube ich, nicht unnütz sein, zu zeigen, daß Augustinus in dieser Angelegenheit schwer geirrt hat und von einer zutreffenden Auffassung zu einer schlechteren ging, auch wenn ich im übrigen das Schisma und den Starrsinn der Donatisten keineswegs billige. Deshalb werde ich seine wichtigsten Argumente in der Reihenfolge, wie sie in dem Brief auftauchen, einer Prüfung unterziehen. Was den ersten Punkt anlangt, so hat der Vergleich mit einem Geisteskranken keinerlei Gewicht. Denn Geisteskranke sind ohne jeden Zweifel geisteskrank und stören eindeutig die bürgerliche Gesellschaft. Deshalb lassen die bürgerlichen Gesetze zu und befehlen, sie festzuhalten, bis sie behandelt ihre frühere Gesundheit wiedergewonnen haben. Aber in religiösen Kontroversen, in denen man oft sieht, daß die gegensätzlichen Parteien sich in gleicher Weise um die christlichen Tugenden bemühen und den bürgerlichen Gesetzen gleichermaßen Folge leisten, ist die Sache weder so offensichtlich, daß die eine Partei die Menschen der anderen für geisteskrank halten kann, noch können bei so großen Emotionen, wie sie hier angetroffen werden, die einen die Richter der anderen sein. Die Mehrheit oder die Macht, die hier das Recht richterlich zu entscheiden mit Gewalt für sich zu beanspruchen pflegt, haben hier keine Bedeutung, da Gott nirgends versprochen hat, daß die Wahrheit bei den Meisten und Mächtigsten sein werde. Und behaupte ruhig das Gegenteil: Du wirst sehen, daß du gegen dich selbst geurteilt hast, wenn sich die Situation einmal ändert, wie es wenig später in Afrika der Fall war, wo die arianischen Vanda80 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 174f.: Istos ergo atroces quondam inimicos nostros, pacem et quietem nostram variis violentiarum et insidiarum generibus graviter infestantes, si sic contemneremus et toleraremus, ut nihil omnino, quod ad eos terrendos ac corrigendos valere posset, excogitaretur et ageretur a nobis, vere malum pro malo redderemus. Si enim quisquam inimicum suum periculosis febribus phreneticum factum currere videret in praeceps, nonne tunc potius malum pro malo redderet, si eum sic currere permitteret, quam si corripiendum ligandumque curaret?
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len, und in Italien, wo die der gleichen Häresie anhängenden Goten dann weit mächtiger waren. Wenn Augustinus bis zu dieser Zeit gelebt und gesehen hätte, daß die katholischen Afrikaner gewissermaßen als gottlos und geisteskrank von den arianischen Vandalen übel behandelt wurden, so hätte er leicht gemerkt, daß er eine gefährliche Argumentation gegen die Donatisten benützte, und hätte wiederum die Auffassung zu verteidigen begonnen, von der er im Affekt abgewichen war. Denn er hätte vergeblich behauptet, daß die Wahrheit auf seiner Seite stünde, wie es ebenso die Donatisten machten; die Arianer hätten dies geleugnet, und da sie in seiner Sache die Richter gewesen wären, wären sie mit ihm verfahren wie mit einem starrsinnigen Häretiker und hätten ihm alle die Mißhandlungen vorgehalten, die die Arianer von den Katholiken erduldet hatten, so wie er hier den Donatisten das Rasen der Circumcellionen vorhält. O welch unglückselige Argumente, die wenig später bloße Sophistereien sind! O welch unkluge und trügerische Begründungen, die Irrtum und Wahrheit gleichermaßen verteidigen!“81 Augustin rühmte den Erfolg der strafrechtlichen Maßnahmen gegenüber der radikalen donatistischen Gruppe der Circumcellionen (§ 2): „O wenn ich dir zeigen könnte, wie viele selbst von den Circumcellionen wir nun als bekennende Katholiken haben, die ihr früheres Leben und ihren elenden Irrtum verdammen, mit dem sie für die Kirche Gottes zu tun glaubten, was sie in ihrer ruhestörenden 81 [Le Clerc] (wie Anm. 28), S. 492: Hac Epistola copiosissime probare aggreditur Hipponensis Episcopus licitam esse persequutionem ad eos, quos in errore versari putamus, ad veritatis professionem adducendos. Qua ejus opinione cum multi abusi fuerint et etiamnum hodie abutantur, non erit, ut opinor, inutile ostendere Augustinum graviter hoc in negotio errasse et a vera sententia in deteriorem abiisse, quamvis ceteroqui schisma et pertinaciam Donatistarum nequaquam probemus. Igitur potissima quaeque ejus argumenta ad examen revocabimus, prout ordine nobis occurrent. Ad primum quidem quod attinet, comparatio ex phrenetico deducta nullius est ponderis. Phrenetici enim sine ullo dubio sunt phrenetici et societatem civilem plane perturbant. Itaue leges civiles eos coerceri patiuntur et jubent, donec curati pristinam valetudinem recuperarint. At in controversiis de Religione, in quibus saepe videas contrarias partes virtutum Christianarum aeque studiosas legibusque civilibus pariter obsequentes, res non est neque adeo manifesta, ut alterae partes alterarum homines phreneticorum loco habere queant, nec in tantis affectibus, quanti hic deprehenduntur, alii aliorum judices esse possunt. Multitudo aut potentia, quae sibi jus judicandi vi adrogare solent, huc nihil faciunt, cum veritatem penes plerosque et potentissimos fore nusquam promiserit Deus. Ac sane contrarium statuito, videbis te contra te ipsum iudicasse, si tempora mutentur, ut contigit paulo post in Africa, ubi Vandali Ariani, et in Italia, ubi Gotthi eidem haeresi addicti longe potentiores fuerunt. Si ad ea usque tempora vitam produxisset Augustinus vidissetque a Vandalis Arianis male haberi Catholicos Afros quasi impios ac phreneticos, facile sensisset se periculosa ratiocinatione esse usum contra Donatistas et denuo coepisset defendere sententiam, quam prae affectu retractarat. Nam frustra reposuisset a suis partibus veritatem stare, uti faciebant Donatistae, negassent hoc Ariani, et cum judices in hac sua causa essent, cum eo se gessissent quasi cum pertinace Haeretico exprobrassentque ei omnes vexationes, quas Ariani a Catholicis passi erant, quemadmodum hic Donatistis exprobrat Circumcellionum furores. O infelicia argumenta, quae paulo post mera sophismata facta sunt! O rationes imprudentes ac fallaces, quae errori aeque patrocinabantur ac veritati!
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Unbesonnenheit taten; und sie wären nicht zum gesunden Verhalten gebracht worden, wenn sie nicht durch die Fesseln der Gesetze, die dir mißfallen, wie Geisteskranke gefesselt worden wären.“82 Der Verfasser der Animadversiones kommentiert: „Doch wer glaubt denn, daß die Übeltäter, die nicht durch vernünftige Gründe, die sie immer verschmäht hatten, bevor Gewalt angewendet wurde, sondern durch Strafen plötzlich dazu gebracht wurden, das zu bekennen, was sie zuvor verurteilt hatten, so in ihrem Geist verändert wurden und nicht eher der mächtigeren Partei nach dem Munde redeten. Sehr leichtgläubig muß der sein, der durch Furcht erzwungenen Worten so leicht Glauben schenkt. Doch die afrikanischen Peiniger waren zufrieden, die Partei der Donatisten niedergeworfen zu haben, und sie kümmerten sich nicht viel darum, ob sie deren Seelen wirklich geheilt hatten, wenn sie sich nur deren Körper untertan gemacht hatten. Außerdem konnten sich die Arianer für Ähnliches brüsten, nachdem sie den Katholiken eine Zeit lang übel zugesetzt hatten. Denn diese brachten viele von den Schwächeren und Leichtfertigeren durch den Schrecken vor den Strafen dazu, das Nikäische Bekenntnis abzuschwören. So geschah es, daß gerade die besten, die es ablehnten, gegen ihr Gewissen zu handeln und zu reden und die deshalb zu loben sind, auch wenn sie sich im übrigen im Irrtum befanden, am schlimmsten bestraft wurden, und dagegen gerade die Leichtfertigsten und die schlauesten Heuchler von den Katholiken und von den Arianern gelobt wurden.“83 Augustin rechtfertigte das Vorgehen (§ 3): „Wenn sie geschreckt und nicht belehrt würden, würde es als eine unbillige Herrschaft angesehen. Wenn sie aber nur belehrt und nicht geschreckt würden, würden sie, durch alte Gewohnheit verhärtet, langsamer dazu bewegt werden, den Weg zum Heil einzuschlagen.“84 Der Verfasser der Animadversiones kontert: „Doch der mit der Belehrung ver82 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 175: O si possem tibi ostendere, ex ipsis Circumcellionibus quam multos jam Catholicos manifestos habeamus, damnantes suam pristinam vitam et miserabilem errorem, quo se arbitrabantur pro Ecclesia Dei facere quicquid inquieta temeritate faciebant; qui tamen ad hanc sanitatem non perducerentur, nisi legum istarum, quae tibi displicent, vinculis tamquam phrenetici ligarentur. 83 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 492: At quis credat homines facinorosos non rationibus, quas semper spreverant antequam vis admoveretur, sed poenis subito adductos ad id profitendum, quod damnarant, ita esse mutatos animo, non vero potentioribus partibus ore gratificatos? Valde credulum esse oportet, qui verbis metu extortis tam facile fidem habet. Sed satis habebant vexatores Afri partes Donatistarum afflixisse, nec multum curabant, an eorum animos vere sanassent, si modo corpora obnoxia haberent. Praeterea similia jactare poeterant Ariani, postquam aliquamdiu Catholicos male habuerant; nam multos ex infirmioribus aut nequioribus adducebant terrore suppliciorum ad abjurandam Synodum Nicaenam. Sic fiebat, ut optimi quique, qui contra animi conscientiam agere et loqui detrectabant atque propterea laudandi, licet ceteroquin in errore versarentur, erant, pessime mulctarentur; et contra, ut levissimi quique ac dissimulatores callidissimi laudes et a Catholicis et ab Arianis referrent. 84 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 175: Si enim terrerentur et non docerentur, improba quasi dominatio videretur. Rursus si docerentur et non terrerentur, vetustate consuetudinis obdurati ad capescendam viam salutis pigrius moverentur.
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bundene Schrecken macht diese sehr suspekt. Denn die Menschen glauben, daß diese Belehrung, nicht unterstützt durch Gewalt und Autorität, in sich zusammenfallen werde, und daß man den Schrecken des Gesetzes nur deshalb anwendet, weil sie die Menschen nicht durch das Licht ihrer Wahrheit gewinnen kann. Das hätte Augustinus den Arianern entgegengehalten, wenn er ein wenig länger gelebt hätte. Er hätte dann gesehen, daß sie dieselben Argumente gegen die Katholiken verwendeten.“85 Augustin argumentiert dann mit dem Prinzip ‘wen der Herr liebt, den züchtigt er’ (§ 4): „Nicht jeder, der einen schont, ist ein Freund; und nicht jeder, der einen schlägt, ist ein Feind. Durch einen Freund verursachte Wunden sind besser als freiwillige Küsse eines Feindes. Es ist besser, mit Strenge zu lieben, als mit Milde zu betrügen. [...] Wer einen Geisteskranken fesselt und einen Lethargiker aufweckt, liebt beide. Wer kann uns mehr lieben als Gott? Und dennoch hört er nicht auf, uns nicht nur angenehm zu belehren, sondern auch heilsam zu schrecken. [...] Wir wollen auch unsere Feinde lieben, da dies recht und von Gott befohlen ist, damit wir die Söhne unseres Vaters, der im Himmel ist, sind. Er läßt seine Sonne über Guten und Bösen aufgehen und regnet über Gerechte und Ungerechte. Aber wie wir diese seine Gaben loben, so sollen wir auch an die Schläge gegen die, die er liebt, denken.“86 Der Verfasser der Animadversiones läßt diesen Vergleich mit Gott nicht gelten: „Ich will nicht wiederholen, daß dies eine zweischneidige Hilfe ist, die die Arianer ebenso gegen Katholiken anwenden konnten. Welcher Mensch wird es wagen, für sich gegenüber denen, die Seinesgleichen sind, dasselbe Recht zu beanspruchen wie Gott, außer er hat vergessen, daß er ein Mensch ist? Denn wer nicht weiß, daß der Schöpfer gegenüber seinen Geschöpfen ein völlig anderes Recht hat als die Geschöpfe untereinander und daß die Liebe Gottes zu den Menschen und die der Menschen untereinander zwei verschiedene Dinge sind? Gott ist der Höchste, kraft der Schöpfung Herr und ebenso Richter des Menschengeschlechts und frei von jedem Irrtum und jeder Leidenschaft; die Menschen aber sind alle gleichermaßen Knechte und Irrtümern und schlechten Leidenschaften unterworfen. Deshalb gab es keinen 85 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 492: Sed terror coniunctus doctrinae eam vehementer suspectam facit; quippe quam putant homines, nisi vi et auctoritate fulciretur, sponte sua collapsuram, nec terrore legum uti, nisi quia lumine veritatis sibi hominum animos conciliare nequit. Haec quae dicimus Arianis objecisset Augustinus, si paulo diutius vixisset, quando eos vidisset iisdem argumentis uti contra Catholicos. 86 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 175: Non omnis, qui parcit, amicus est, nec omnis, qui verberat, inimicus. Meliora sunt vulnera amici quam voluntaria oscula inimici. Melius est cum severitate diligere quam cum lenitate decipere. [...] Et qui phreneticum ligat et qui lethargicum excitat, ambobus molestus, ambos amat. Quis nos potest amplius amare quam Deus? Et tamen nos non solum docere suaviter, verum etiam salubriter terrere non cessat. [...] Diligamus etiam inimicos nostros, quia hoc justum est et hoc praecipit Deus, ut simus filii patris nostri, qui in caelis est, qui facit solem suum oriri super bonos et malos et pluit super justos et injustos. Sed sicut ista dona ejus laudamus, ita etiam flagella ejus in eos, quos diligit, cogitemus.
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Grund, warum Augustin die Liebe der Peiniger zu ihren Brüdern mit der Liebe Gottes zum Menschengeschlecht verglich.“87 Augustin bedient sich nun eines Zitates aus dem Neuen Testament (§ 5): „Du glaubst, niemand solle zur Gerechtigkeit gezwungen werden, obwohl du liest, daß der Hausherr seinen Knechten sagte: ‘Zwingt alle, die ihr antrefft, einzutreten!’ und obwohl du liest, daß selbst der, der zuerst Saulus, dann Paulus war, zum Erkennen und Festhalten der Wahrheit mit großer Gewaltsamkeit durch Christus selbst gezwungen worden ist.“88 Der Verfasser der Animadversiones führt hier dagegen aus, daß „zwingen“ in Lukas 14, 23 sich nicht auf gesetzliche Strafen und Zwang im eigentlichen Sinn, sondern auf Bitten beziehe, und führt Gen. 19, 3 und vier weitere Stellen aus dem Neuen Testament an,89 in denen ἀναγκάζειν und κατα- bzw. παραβιάζειν redensartlich im Sinne von „durch Bitten bewegen“ gebraucht werde. Humanistische Sprachbeobachtung ermittelt hier die zutreffende abgemilderte Bedeutung der Verben. Damit fällt die allegorische Bedeutung im Sinne eines gewalttätigen Zwanges weg. Und was die Berufung von Saulus angehe, so sei diese ein himmlisches Wunder gewesen, und damit ließen sich militärische und strafrechtliche Maßnahmen von Menschen keinesfalls vergleichen. Vor den arianischen Vandalen hätte Augustin einen derartigen Vergleich im übrigen gewiß als blasphemisch bezeichnet. In § 6 zieht Augustin die figurative Auslegung der Geschichte von Sara, Hagar, Ismael und Isaak durch Paulus in Gal. 4, 29 heran, nach der die angebliche Verfolgung Isaaks durch Ismael der früheren Verfolgung der Christen durch die Juden entspricht, und vergleicht damit die Verfolgung der katholischen Kirche durch die Donatisten, die nun ihrerseits gerechterweise durch die katholische Kirche verfolgt würden. Mit bitterem Sarkasmus entgegnet der Verfasser der Animadversiones: „[...] Es ist absurd, die Verfolgungen, die die Christen zur Zeit des Paulus ertrugen, mit dem Gemütszustand der afrikanischen Bischöfe und anderen Kleriker zu vergleichen, die sich darüber ärgerten, daß ihnen von den Donatisten widersprochen wurde. Wer erträgt es, daß gesagt wird, der erleide eine Verfolgung, den es schmerzt, daß er nicht über andere herrscht, und zwar eine ebenso schlimme wie die armen Donatisten, die ihres ganzen Vermögens 87 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 493: Ne jam repetam hoc quoque esse anceps auxilium, quo Ariani aeque uti poterant in Catholicos. Quis homo audeat sibi jus in ejusdem naturae participes idem ac Deus adrogare, nisi qui se hominem esse sit oblitus? Quis enim ignorat aliud plane jus esse Creatoris in creaturas, aliud creaturarum in se invicem aliamque Dei ac hominum affectionem? Deus summus est, jure creationis dominus humani generis idemque judex, omnis erroris et affectus expers; homines vero conservi, erroribus ac pravis affectibus obnoxii. Itaque non erat, cur Augustinus vexatorum amores erga fratres compararet cum amore divino in humanum genus. 88 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 175f.: Putas neminem debere cogi ad justitiam, cum legas patrem familias dixisse servis ‘Quoscumque inveneritis, cogite intrare’, cum legas etiam ipsum primo Saulum, postea Paulum, ad cognoscendam et tenendam veritatem magna violentia Christi cogentis esse compulsum. 89 S. oben Anm. 42.
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beraubt, in Verbannung geschickt, mit Prügeln geschlagen, ja sogar getötet wurden? (Letzteres geht aus dem 100. Brief Augustins hervor, in dem er interveniert, daß dies nicht mehr geschehe.) Wahrhaftig der Rhetor von Hippo spottete über die armen, da er glaubte, daß er dies alles ungestraft über sie sagen konnte. Aber wenn die überlegenen Arianer so gegen die Katholiken gesprochen hätten, hätten die nicht zum Himmel schreiendes Unrecht beklagt? Außerdem, und das hätte zuerst gesagt werden sollen, setzt Augustin hier und überall als Tatsache voraus, was noch umstritten war, nämlich daß seine Kirche unter Ausschluß der Donatisten die einzige Kirche Christi ist. Ich billige nicht das Schisma der Donatisten, aber es war absurd, daß er in der Auseinandersetzung mit ihnen ständig das voraussetzte, was jene strikt leugneten. [...]“90 In § 7 holt Augustin abermals ein Argument aus dem Neuen Testament und beginnt so: „Sieh dir auch die Verhältnisse im Neuen Testament an. Da war die Milde der Liebe nicht nur im Herzen zu bewahren, sondern auch im Licht zu zeigen, als das Schwert des Petrus von Christus in die Scheide zurückgerufen und gezeigt wird, daß es nicht einmal für Christus aus der Scheide hätte herausgenommen werden sollen.“91 Der Verfasser der Animadversiones bemerkt dazu scharf: „Wenn einer dies gelesen hat und nicht weiterlesen würde, würde er leicht glauben, daß dies die Worte eines Donatisten sind, der damit zeigen wollte, daß in unserer zeitlichen Welt Strafen in Sachen, die die Religion betreffen, nicht gestattet sind, da sie der Anlage und dem Geist der evangelischen Lehre völlig zuwider sind. Doch Augustin leitet anschließend etwas ganz anderes davon ab. Er will nämlich, daß daraus gefolgert wird, daß Gott Vater nicht weniger barmherzig war, als er seinen Sohn der Hinrichtung am Kreuz auslieferte und daß man so auch nicht der afrikanischen Kirche ein Brandmal für ihre Grausamkeit einbrennen könne, weil sie die Donatisten den Liktoren zum Strafvollzug auslieferte. Denn man müsse hier auf die Absicht der Ausliefernden achten, die auf eine Besserung der Ausgelieferten abzielte. Wenn also die Katholiken sich nicht anders benahmen als Verfolger, dürfe man sie doch nicht der unerlaubten Verfol90 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 493: Absurdum est conferri hasce persequutiones, quas tempore Pauli Christiani ferebant, cum affectione animi Episcoporum et ceterorum Clericorum Afrorum, qua aegre patiebantur sibi contradici a Donatistis. Quis ferat eum persequutionem dici pati, cui dolet, quod non dominetur aliis, aeque ac miseros, qui facultatibus omnibus spoliantur, in exsilium mittuntur, fustibus caeduntur, imo et occiduntur, nam hoc factum liquet ex Epistola c, in qua Augustinus intercedit, ne amplius fiat? Illudebat sane miseris Hipponensis Rhetor, quia sentiebat omnia impune a se in illos potuisse dici. Sed si Ariani superiores ita loquuti essent adversus Catholicos, an non hi coelum terrae miscuissent? Praeterea, quod primum dici oportuit, hic et ubique statuit atque adsumit pro comperto Augustinus, quod in controversia erat positum, suam nimirum Ecclesiam fuisse unam exclusis Donatistis Christi Ecclesiam. Non equidem probo Donatistarum schisma, sed cum illis disceptanti absurdum fuit perpetuo id adsumere, quod praefracte negabant. 91 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 176: Adspice etiam tempora Novi Testamenti, quando jam ipsa mansuetudo caritatis non solum in corde erat servanda, verum etiam in luce monstranda, quando Petri gladius in vaginam revocatur a Christo et ostenditur non debuisse de vagina eximi nec pro Christo.
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gung bezichtigen. Er sagte: ‘Wir sollen, Bruder, lernen, in der Ähnlichkeit der Werke die verschiedene Absicht der Handelnden zu unterscheiden, und sollen nicht mit geschlossenen Augen verleumden und Wohlmeinende wie Schuldige anklagen.’ Doch zuerst, welche Ähnlichkeit besteht denn zwischen der Handlung Gottes, der es duldet, daß sein es selbst wollender Sohn zum Heil des Menschengeschlechts von verbrecherischen Menschen getötet wird, und den Anstrengungen von Kirchenmännern, die Magistrate gegen die armen Donatisten aufzuhetzen. Man schämt sich, bei der Widerlegung derartiger Argumente zu verweilen, die man heute nicht einmal im logischen Anfangsunterricht durchgehen lassen würde. Doch selbst wenn ich einräumte, daß dies verglichen werden könnte, hatte denn auch nur einer der Afrikaner eine so dreiste Stirn, daß er von den unglücklichen Donatisten zu fordern wagte, daß sie glaubten, die Katholiken liebten die, die von ihnen gepeinigt wurden, ebenso sehr wie Gott die Menschen, als er seinen eigenen Sohn den Peinigungen auslieferte, damit das Menschengeschlecht gerettet würde? Gott hat fürwahr aus unserer Rettung keinen Gewinn gezogen, aber die afrikanischen Bischöfe waren an Autorität, Würde und Vermögen umso größer, je zahlreicher ihre Herden wurden, was nicht die letzte Ursache für diese Peinigungen gewesen zu sein scheint. Doch unser Rhetor achtet nicht nur nicht auf die Wahrheit, sondern nicht einmal auf die Wahrscheinlichkeit; und das war auch nicht nötig, da Strafen, Gefängnisse, Verbannungen und Todesurteile auf die durch diese Spitzfindigkeiten keineswegs überzeugten Menschen warteten.“92 Augustin (§ 8): „Wenn es immer lobenswert wäre Verfolgung zu erdulden, genügte es dem Herrn zu sagen: ‘Selig sind die, die Verfolgung erleiden’ und er 92 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 493: Si quis his lectis ulterius non pergeret, facile crederet haec esse verba Donatistae ostendentis illicitas esse poenas temporales in rebus ad Religionem pertinentibus, quod sint indoli atque ingenio doctrinae Evangelicae plane contrariae. At hinc consectarium prorsus diversum deducit. Nempe vult inde colligi, ut Deus Pater tradidit Filium suum supplicio crucis, nec tamen minus est misericors. Sic nec Ecclesiae Africanae crudelitatis notam inuri posse, quod Donatistas lictoribus plectendos traderet; nam spectandum hic esse animum tradentium, qui ad emendationem traditorum tendebat. Igitur quamvis Catholici non aliter se gererent ac persequutores, eos tamen non esse illicitae persequutionis incusandos. ‘Discamus,’ inquit, ‘frater, in similitudine operum discernere animos operantium, nec clausis oculis calumniemur et benevolos pro nocentibus accusemus.’ At primum, quid simile est actioni Dei patientis volentem Filium suum occidi in salutem humani generis a sceleratis hominibus in moliminibus Ecclesiastorum, qui concitabant Magistratus in miseros Donatistas? Pudet immorari confutandis ejusmodi ratiocinationibus, quae ne Logicae quidem tironibus hodie condonarentur. Sed ut concedam haec posse conferri, an quisquam inter Afros fuit tam perfrictae frontis, ut auderet postulare ab infelicibus Donatistis, ut credent Catholicos tam bene erga eos, quos vexabant, affectos, quam erat Deus erga homines, cum Filium suum vexationibus traderet, ut genus humanum servaret? Deus certe ex nostra salute nihil lucrabatur, sed Afri Episcopi auctoritate, dignitate atque opibus eo majores erant, quo greges eorum numerosiores fiebant, quae non ultima causa harum vexationem fuisse videtur. At Rhetor noster non tantum veri, sed ne verisimilis quidem ullam rationem habet; nec opus erat, cum hisce argutiis minime cessuros mulctae, carceres, exsilia, mors manerent.
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würde nicht hinzusetzen ‘um der Gerechtigkeit willen’ (Matth. 5, 10).“93 Die Kritik trifft nun jeden Satz: „Doch die Donatisten zogen ihre Partei den Katholiken nicht deswegen vor, weil sie Verfolgung erlitten, sondern weil, wie sie wenigstens glaubten, dies um der Gerechtigkeit, d.h. um der Tugend willen geschah, weil sie nämlich nicht das tun wollten, was ihrer Ansicht nach nicht gestattet war und Gott mißfiel. Diese geistige Einstellung ist auch bei Irrenden zu loben, so daß demgegenüber die zu tadeln sind, die Unwillige dazu zwingen, aus Furcht vor Strafen das zu tun, was sie für unerlaubt halten. Wenn nämlich auch das, was sie unwillig tun, eigentlich das Richtige wäre, so könnte dies Gott nur mißfallen, da er nicht nur mit dem Mund, sondern am meisten mit dem Herzen verehrt werden will und von Unwilligen nichts annimmt.“94 Augustin: „Ebenso, wenn es schuldhaft wäre, jemanden zu verfolgen, stünde in den Heiligen Schriften nicht geschrieben: ‘Wer seinen Nächsten heimlich verleumdet, den verfolge ich ‘ (Ps. 100, 5). Manchmal ist also auch der, der die Verfolgung erleidet, ungerecht und der, der sie tut, gerecht.“95 Dagegen: „Doch hier handelt es sich nicht um irgendeine Verfolgung, d.h. um irgendwelche Strafen, sondern nur um die Verfolgung, die um bestimmter Glaubenssätze willen erfolgt, nicht wegen Vergehen, die die bürgerliche Gesellschaft stören und die nicht nach religiösen, sondern nach bürgerlichen Gesetzen bestraft werden können.“96 Bei Psalm 100, 5 gehe es nicht um einen kontroversen Glauben, sondern um eine Verleumdung, und König David verspreche, Verleumder zu bestrafen. Die Animadversiones attackierten Augustin mit einem philologisch-hermeneutischen Argument: „Ist das ein angemessenes Interpretieren der Schrift oder nicht eher ein willkürliches Herausreißen eines schlecht verstandenen Wortes, so daß man etwas zu sagen scheint, während man in Wirklichkeit nichts sagt?“97
93 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 176: Si semper esset laudabile persequutionem pati, sufficeret Domino dicere ‘Beati qui persecutionem patiuntur’, nec adderet ‘propter justitiam’. 94 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 493f.: At Donatistae partes suas Catholicis non praeferebant dumtaxat quia ‘persequutionem patiebantur’, sed quia, ut quidem putabant hoc fiebat ‘justitiae’, hoc est virtutis causa, quod nollent id facere quod sibi illicitum esse ac Deo displicere credebant. Ea est sane animi affectio laudanda, etiam in errantibus, ut contra vituperandi qui ab invitis extorquent, ut id faciant metu suppliciorum, quod illicitum esse putant; quamvis enim quod inviti faciunt natura sua rectum esset, Deo non posset non displicere, qui non vult ore dumtaxat coli, sed potissimum animo, nec ab invitis quidquam accipit. 95 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 176f.: Item si semper esset culpabile persecutionem facere, non scriptum esset in sanctis libris ‘Detrahentem proximo suo occulte hunc persequar’. Aliquando ergo et qui eam patitur, injustus est, et qui eam facit, justus est. 96 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 494: Verum non hic de quavis persequutione, hoc est, quibusvis poenis agitur, sed de ea tantum, quae fit propter dogmata, non propter delicta, quibus perturbatur societas civilis et de quibus non ex religiosis, sed ex civilibus legibus poenae sumi possunt. 97 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 494: Hoccine est Scripturam, ut decet, interpretari, an temere arripere vocabulum male intellectum, ut videaris aliquid dicere, cum revera nihil dicas?
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Augustin: „Es töteten Gottlose Propheten, und es töteten auch Propheten Gottlose.“98 Dagegen: „Augustin hätte sagen sollen, wen die Propheten denn wegen bloßer Ansichten töteten, denn wenn sie welche wegen Übeltaten töteten, die nach Moses Gesetz mit dem Tod zu bestrafen waren, so ist das im Hinblick auf die Donatisten und andere ähnlich Irrende ohne Belang. Außerdem wäre zu zeigen gewesen, daß das, was die Propheten taten, unter dem Neuen Testament erlaubt ist, denn dies leugnet Christus in Lukas 9, 55-56 ausdrücklich, und von den durch Christus gebrachten Gesetzen kann die Autorität Augustins niemanden lösen. Augustin sagte: ‘Die Juden geißelten Christus, und Christus geißelte die Juden.’ Als ob die Geißelung, mit der Christus Vieh eher als Menschen aus dem Tempel vertrieb, mit der grausamen Geißelung verglichen werden könnte, die Christus von den Römern erlitt, die damit den Juden einen Gefallen taten. Entweder hielt Augustin sehr wenig vom Denkvermögen der Donatisten, deren Mund er mit solchen Argumenten verschließen zu können hoffte, oder er hatte ein weit größeres Vertrauen zu den Edikten des Kaisers Honorius als zu dem Gewicht seiner Gründe. Und er fährt dann weiter so fort: ‘Ausgeliefert wurden die Apostel von Menschen der menschlichen Macht, und die Apostel lieferten Menschen der Macht Satans aus.’ Auch du, Augustin, hättest die Donatisten, wenn du es nur gekonnt hättest, gerne der Macht Satans ausgeliefert. Aber da er dir nicht gehorchte, liefertest du sie den Liktoren aus. Das ist ein großer Unterschied. Denn ein leichtfertiger Mensch liefert oft Unschuldige den Liktoren aus, nie aber dem Satan, der niemandem gehorcht außer dem, dem Gott ihn unterstellte, und er wird von Gott nur einem Mann unterstellt, der mit höchster Tugend und der Kraft, Wunder zu bewirken, ausgestattet ist.“99 Der Verfasser der Animadversiones kommt nach weiteren Bemerkungen zu § 9 und 11 zu dem vernichtenden Urteil: „Ich kann mich nicht genug wundern, wie Augustin durch so fadenscheinige Gründe dazu gebracht werden konnte, die 98 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 177: Occiderunt impii Prophetas, occiderunt impios et Prophetae. 99 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 494: Quosnam propter meras opiniones occiderint Prophetae, debuisset dicere Augustinus; nam si quos occiderint propter male facta ex Lege ipsa Mosis plectenda hoc nihil facit ad Donatistas aut alios similiter errantes. Praeterea ostendendum fuisset, quidquid fecerunt Prophetae id licitum esse sub Novo Testamento, nam hoc pernegat Christus disertissimis verbis Luc. IX, 55, 56. nec quemquam legibus a Christo latis solvere potest Augustini auctoritas ‘Flagellaverunt’, inquit, ‘Judaei Christum, Judaeos flagellavit et Christus.’ Quasi vero flagellatio illa, qua Christus pecudes potius quam homines ejecit e Templo, possit conferri cum crudeli flagellatione, quam Christus passus est a Romanis Judaeis gratificantibus! Aut Augustinus valde spernebat ingenia Donatistarum, quibus se ejusmodi ratiocinationibus os obstruere posse sperabat, aut multo maiorem fiduciam habuit in Edictis Honorii quam in pondere rationum. Sic quoque pergit: ‘Traditi sunt Apostoli ab hominibus potestati humanae, tradiderunt et Apostoli homines potestati Satanae.’ Tu quoque tradidisses Donatistas, si potuisses, potestati Satanae, sed quia eum dicto audientem non habuisti, lictoribus tradebas; inter quae maximum est discrimen. Nam homo nequam saepe innocentes lictoribus tradidit, numquam vero Satanae, qui nemini paret, nisi ei, cui Deus eum subjicit, nec a Deo cuiquam subjicitur, nisi summae virtutis viro et potestate edendorum miraculorum instructo.
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Verfolgung der Donatisten zu billigen und zu loben, und nicht sah, daß sie mit der christlichen Liebe auf keine Weise vereinbart werden kann. Ich glaube, er war durch seinen leidenschaftlichen Affekt erblindet.“100 Danach werden in der gleichen Art noch einige Sätze aus den §§ 17, 18 und 22 kommentiert, um mit einer durch § 35 veranlaßten Bemerkung zu schließen. Augustin hatte dort gesagt, daß die Schriften der Kirchenväter von der Autorität der kanonischen Heiligen Schriften zu unterscheiden sind: „denn sie werden nicht so gelesen, daß man ein Zitat aus ihnen vorbringt, gegen das keine Einwendungen erlaubt sind, da sie gelegentlich auch anders urteilten, als die Wahrheit es erfordert.“101 Le Clerc begrüßt diesen Satz und wendet ihn auf Augustin an: „Dies sollte mit goldenen Lettern an den Anfang der einzelnen Kirchenväter-Editionen geschrieben werden, damit deren Autorität nicht der Wahrheit vorgezogen wird. Auch ich bin nach diesem Grundsatz mit Augustin selbst verfahren, was für Menschen gegenüber keineswegs göttlich inspirierten Menschen immer notwendig ist.“102 Es ist der berühmte Grundsatz, dem Aristoteles folgte, der in der Nikomachischen Ethik (1, 4) der Wahrheit den Vorzug gegenüber Platon gibt. In seinen in der Ausgabe später folgenden Animadversiones zu den Libri III contra epistolam Parmeniani verweist der Autor zu Kapitel I 9 auf seine Besprechung des Briefes an Vincentius und stellt zusammenfassend fest: „Nicht entschuldigt werden können die christlichen Kaiser, die die heidnischen nachahmten und bloße Meinungen für Verbrechen hielten und mit schweren Strafen ahndeten. Denn ein Vorgehen von solcher Bedeutung, das so schreckliche Folgen hat, hätte niemals von Christen unternommen werden sollen, wobei Gott ja nicht nur [über ein solches Vorgehen gegen Häretiker] schwieg, sondern auch durch seine so vielen und so großen wiederholten Lehren über seine Liebe zum gesamten Menschengeschlecht dieses Vorgehen mit genügender Deutlichkeit verbot. Man lese das 16. Buch des Codex Theodosianus und vergleiche es mit den Gesetzen der heidnischen Kaiser gegen die Christen. Dann wird sofort möglich sein zu erkennen, daß in einem ähnlichen Zeitraum von den heidnischen Kaisern nicht so viele Gesetze gegen die Christen erlassen worden sind wie von den christlichen Kaisern gegen die Häretiker. Das ist sicherlich ein Makel für das
100 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 494: satis mirari non possum, qui Augustinus tam futilibus rationibus ad persequutionem probandam ac laudandam adduci potuerit nec viderit eam cum caritate Christiana consistere nullo modo posse. Affectu, ut puto, occaecatus est. 101 AUGUSTINUS (wie Anm. 28), Tom. 2, Sp. 186: hoc genus litterarum [sc. episcoporum scripta; Hilarius und Cyprianus werden zuvor beispielshalber genannt] ab auctoritate canonis distinguendum est. Non enim sic leguntur, tamquam ita ex eis testimonium proferatur, ut contra sentire non liceat, sicubi forte aliter sapuerunt quam veritas postulat. 102 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 495: Haec aureis litteris scribenda essent in fronte operum singulorum Patrum, quae eduntur, ne auctoritas eorum veritati praeferatur. Nos quoque hoc jure erga ipsum Augustinum usi sumus, quod hominibus in homines minime afflatos perpetuo sit necesse est.
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Christentum, den - außer durch gegensätzliche Einrichtungen - die Fürsten und Magistrate nie tilgen werden.“103 Damit nicht genug. Der Verfasser dieser Animadversiones kommt gleich danach innerhalb des gleichen Kapitels noch einmal auf den Brief an Vincentius zurück und dehnt den Toleranzgedanken auch auf die Heiden aus. Augustin hatte in § 10 dieses Briefes geäußert, daß die Katholiken und die schismatischen Rogatisten wie Vincentius übereinstimmend die Gesetzgebung der christlichen Kaiser lobten, die gegen Heiden die Todesstrafe verhängte, wenn sie trotz der Verbote noch heidnische Opfer darbrachten.104 Diese Gesetzgebung sei, so erklärt der Kommentator nun, „wahrhaft grausam und der christlichen Milde völlig unwürdig“105 und er wird jetzt gewissermaßen zum Anwalt der Heiden: „Wenn dies gelobt werden könnte, wäre alles, was von den Christen in den ersten Jahrhunderten gegen die religiöse Verfolgung gesagt wurde, entweder dumm oder betrügerisch gesagt worden. [...] Wenn die Christen eine Verfolgung billigten, die Rechtgläubige gegen Irrende durchführten, hätten sie, wenn sie ehrlich sein wollten, den Heiden sagen müssen: ‘Wir begehren zwar jetzt, wo wir die Schwächeren sind, daß ihr uns toleriert, wenn wir anderer Meinung sind als ihr. Aber wenn wir einmal die Macht erlangen werden, so werden wir, täuscht euch da nicht, gegenüber euch nicht die gleiche Milde walten lassen. Wir werden alle eure Altäre, Tempel und Götterbilder zerstören und eure Gottesdienste bei Todesstrafe verbieten. In der Zwischenzeit bitten wir euch, milde mit uns zu verfahren, solange ihr überlegen seid, obgleich wir, falls wir jemals christliche Kaiser haben können, euch als Gottlose töten werden, wenn ihr den Kult eurer Religion bewahren wollt.’ [...] Jetzt urteile jeder, der sich noch eine Spur von Anstand bewahrt hat, ob das gute Menschen sind, die so denken. Aber das sind die notwendigen Folgerungen aus der Erklärung Augustins.“106 103 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 603: non possunt excusari Christiani Imperatores, qui Ethnicos imitati meras opiniones pro delictis habuerunt et gravibus poenis affecerunt. Res enim tanti momenti et cujus sunt tam horrendae sequelae, numquam debuit a Christianis tentari, Deo non tantum tacente, sed etiam tot et tantis de amore in universum humanum genus iteratis praeceptis disertissimis satis aperte rem vetante. Legatur Codicis Theodosiani Liber XVI. conferaturque cum legibus Ethnicorum Principum in Christianos, atque illico licebit intelligere, simili quidem temporis intervallo, non tot leges ab Ethnicis in Christianos latas, quot sunt a Christianis in Haereticos; quae certe macula est nominis Christiani, quam numquam, nisi contrariis institutis, Principes ac Magistratus delebunt. 104 Vgl. Anm. 30. 105 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 603: Crudelis sane lex et Christiana mansuetudine prorsus indigna. 106 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 603: Haec si possent laudari, omnia a Christianis per tria prima saecula dicta contra persequutionem Religionis causa quasi stulta aut mala fide dicta essent habenda. [...] Quodsi persequutionem non improbabant, si modo a recte sentientibus in errantes exerceretur, oportuisset eos, si animum nudare voluissent, sic Ethnicos alloqui: ‘nunc quidem, dum infirmiores sumus, o Ethnici, a vobis dissentientes clementer ferri cupimus, sed si quando rerum potiemur, ne fallamini, non eamdem clementiam vobis praestare statuimus. Aras, templa ac simulacra omnia evertemus, sacrificiaque vestra ita vetabimus, ut sacra Diis
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Le Clerc verurteilte die Verfolgung der Heiden durch die Christen. Er mißt Heiden und Christen mit dem gleichen Maß, respektiert das Eigenrecht der Heiden und ging damit einen Weg zu Ende, auf dem Erasmus mit seinem Convivium religiosum schon ein beträchtliches Stück gegangen war. Die Opera omnia des Joannes Clericus (Le Clerc) waren bereits 1702 - ein Jahr vor dem Erscheinen seiner Appendix Augustiniana - auf den Index librorum prohibitorum der katholischen Kirche gesetzt worden, was auf dem letzten Index von 1948 noch einmal bekräftigt wurde und somit bis 1967 galt. Scharfe negative Reaktionen auf Le Clercs Augustinkritik ließen von katholischer, aber auch von anglikanischer Seite nicht lange auf sich warten. Sie kamen von zwei Autoren, die ihrerseits eine umfassende humanistische Ausbildung genossen hatten. Robert Jenkin (1656-1727), Fellow des St. John’s College in Cambridge, an dem er auch studiert hatte, und zugleich ein anglikanischer Geistlicher,107 verteidigte Augustin anonym in: Defensio S. Augustini adversus Joannis Phereponi in ejus opera animadversiones, Cambridge 1707,108 2. Auflage London 1707, 3. London 1728. Jenkin wurde 1709 zum Doctor of Divinity promoviert und 1711 Professor of Divinity und Master des St. John’s College. Gerechtfertigt oder, wie eine spätere deutsche Übersetzung es ausdrückt, „gerettet“ wurde Augustin dann wenige Jahre später noch wesentlich ausführlicher von dem hier unter dem bisher unerklärten Pseudonym eines Lamindus Pritanius schreibenden, in Modena tätigen, zuvor in Mailand zum Dr. theol. promovierten und als Geschichtsschreiber berühmten Jesuiten Lodovico Antonio Muratori (1672-1750)109 in: Lamindi Pritanii De ingeniorum moderatione in religionis negotio, ubi quae jura, quae frena futura sint homini Christiano in inquirenda et tradenda veritate ostenditur; et Sanctus Augustinus vindicatur a multiplici censura
vestris facere vobis capitale futurum sit. Interea vos oramus, ut erga nos clementer vos geratis, dum superiores estis, quamvis, si umquam Imperatores Christianos habere possimus, vos quasi impios simus interfecturi, si Religionis vestrae cultum tueri velitis.’ [...] Judicent nunc, quicumque omnem animi candorem ac probitatem non exuerunt, an boni essent habendi, quorum animus ita affectus fuisset. Haec tamen sunt necessaria sententiae Augustinianae consectaria. 107 Er hatte zuvor veröffentlicht ROBERT JENKIN, The reasonableness and certainty of the Christian religion, London 1698 (6. Aufl. London 1734). Vgl. D. A. BRUNTON, Jenkin, Robert. In: Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 29, Oxford 2004, S. 942f., wo Jenkins Defensio S. Augustini jedoch nicht unter seinen Werken erwähnt wird. 108 Zitiert wird im folgenden nach dieser Ausgabe: [ROBERT JENKIN], Defensio S. Augustini adversus Joannis Phereponi in ejus Opera Animadversiones, Cambridge 1707 ([8] Bl., 222 S., [1] Bl). Das von mir benützte Exemplar stammt aus der Bibliothek der Earls of Macclesfield in Shirburn Castle bei Oxford, die seit 2004 bei Sotheby’s versteigert wird, und hat ein Exlibris der zuvor dort befindlichen „South Library“ von 1860. 109 Der Artikel über ihn im „Dizionario Biografico degli Italiani“ wird in Bälde erscheinen (Bd. 68, Rom 2007, reicht bis Mangalli); vgl. bis dahin die Nachweise in: Indice Biografico Italiano, 2a edizione, Bd. 5, München 1997, S. 1739.
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Joannis Phereponi, Paris 1714.110 Der Widmungsbrief Jo: Paulo Bignon, Abbati Quintini etc., ist datiert Mutinae IV. Kalend. Nov. M. DCCXII. Muratori beginnt den Brief mit einem Lob König Ludwigs XIV. von Frankreich als Patron der Literatur. Er schätzt ihn aber auch, wie aus einer späteren Bemerkung hervorgeht, wegen seiner Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes im Jahr 1685,111 nennt ihn im Widmungsbrief Ludovicum Magnum und erwähnt dort, daß der König den Adressaten Jean-Paul Bignon (1662-1743), Abt von Saint-Quentin, zum Präsidenten der „Académie royale des sciences“ ernannt hat.112 Dies erklärt die Wahl des Widmungsadressaten und den Druckort der Erstausgabe von 1714, deren Herstellung Bignon wohl vermittelte. Muratoris den katholischen Lesern offenbar sehr willkommene bzw. für sie wichtige Schrift wurde bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder neu aufgelegt. Belegt sind nach der Erstausgabe die Ausgaben Köln 1715, Frankfurt am Main 1716, 1718, Venedig 1727, Paris 1737, Venedig 1738, 1741, 1752, 1763, 1768, 1777, Augsburg 1779, Venedig 1793, Bamberg 1795 und Venedig 1840; deutsche Übersetzungen erschienen außerdem in Frankfurt am Main 1770 und Koblenz 1837. In der letzten Ausgabe des zuerst von Moréri herausgegebenen „Grand Dictionnaire Historique“ (1759) findet sich deshalb auch die Bemerkung:113 „Les remarques de le Clerc sont pleines d’aigreur et de faussetés contre S. Augustin et sa doctrine. M. Muratori l’a fait voir dans son livre De ingeniorum moderatione, etc. donné sous le nom de Lamindus Pritanius.“ Sogar Lob von lutherischer Seite blieb nicht aus: Der gelehrte Nürnberger Arzt und Büchersammler Gottfried Thomasius (ca. 1660-1746), ein Bruder des oben genannten Christian Thomasius, schrieb auf den Vorsatz der in seinem Besitz befindlichen Ausgabe des Limandus Pritanius, Paris 1714: Elegans hoc limatum Lud. Ant. Muratorii opus Coloniae recusum prodiit an. 1715 [...].114
110 Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe: [LODOVICO ANTONIO MURATORI], Lamindi Pritanii De ingeniorum moderatione in religionis negotio, ubi quae Jura, quae Frena futura sint homini Christiano in inquirenda et tradenda veritate ostenditur; et S. Augustinus vindicatur a multiplici censura Joannis Phereponi. Editio novissima ab Auctore recensita et aucta, Venedig 1768 Cum approbatione ac privilegio (XVI, 664 S.). Das Werk ist in drei Libri zu 24, 14 und 17 Kapiteln eingeteilt, über denen jeweils eine summarische Inhaltsangabe steht. Das von mir benützte Exemplar befand sich 1806 im Besitz eines Geistlichen in Ungarn. 111 [MURATORI] (wie Anm. 109), S. 310, beklagt sich über die acres quaerimoniae in Catholicos et in Christianissimum praecipue Galliarum Regem, qui quinque et viginti abhinc annis hisce castigationibus est usus, ut Calvini sectatores sibi subjectos in gremium Ecclesiae Catholicae impelleret. 112 [MURATORI], S.IIIf.:Te idem Princeps, eximius ingeniorum aestimator, constituerit Scientiarum et Artium Academiae Praefectum. 113 MORÉRI (wie Anm. 69), S. 747. 114 GEORG WOLFGANG PANZER, Bibliothecae Thomasianae [...] Volumen I [...] Adiectae sunt notae litterariae quas illustris possessor sua manu non paucis in fronte inscripsit libris [...], Nürnberg 1765, S. 162 zu Nr. 1436, wo zudem von Thomasius auf die Bespre-
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Ein eingehender Vergleich dieser Verteidigungen und Rechtfertigungen Augustins ist hier nicht möglich, eine auf den Brief an Vincentius beschränkte Charakterisierung der Argumentationen dagegen angebracht, zumal da die Stimmen von Le Clerc, Jenkin und Muratori im Toleranzdiskurs des 18. Jahrhunderts bisher wenig Berücksichtigung zu finden scheinen. Der anonym bleibende Jenkin erklärt in seiner Praefatio zunächst, daß er mit seiner Entgegnung zugewartet habe, da er den Benediktinern von St. Maurin, die dann aber doch nicht das Wort ergriffen hätten, den Vortritt habe lassen wollen, und wirft Joannes Phereponus, hinter dem er Joannes Clericus erkennt, Arroganz und Böswilligkeit vor.115 Er beschreibt ihn als unehrerbietig, hitzig, unversöhnlich, selbstgefällig und als Verächter der anderen, besonders der antiken Autoren.116 Er selbst aber wolle beweisen, daß Le Clerc nicht so sehr irre, als vielmehr verrückt sei,117 und jeweils die Augustinstellen zitieren, danach die betreffende Bemerkung des Phereponus und schließlich seine eigene Stellungnahme hinzufügen.118 Die Anordnung seiner Bemerkungen folgt dann den Tomi I-X der Werkausgabe; die Behandlung verläßt jedoch gelegentlich die angekündigte Methode durch zusammenfassende allgemeine Bemerkungen und verzichtet darauf, alle Bemerkungen des Phereponus aufzugreifen. So eröffnet Jenkin seine Erörterung des 93. Briefes119 mit einer allgemeinen, die Aussagen Le Clercs freilich verzerrenden Kritik: „In den Animadversiones zu diesem Brief belädt Phereponus die Katholiken anhand von wortreichen Gemeinheiten mit Beschimpfungen und mildert, entschuldigt und verteidigt nach seinen Kräften die Verbrechen der Donatisten. Selbst die Gesetze des Reiches kritisiert und schmäht er [...], und er bestimmt gegen jede historische Treue, daß die Häretiker nur nach dem Vorbild der Katholiken grausam gewesen seien.“120 Augustin habe nach seinen Erfahrungen mit den Donatisten allen Grund gehabt, sie nicht straflos zu lassen, sondern zu empfehlen, so mit ihnen zu verfahren, daß sie dazu gebracht würden, die Wege und Gründe ihres Irrtums zu betrachten und zu erwägen, damit sie nicht blind blinden Führern folgten und so ins Verchung des Buches in den Acta historico-ecclesiastica P. 43, S. 130ff. (nicht eingesehen) verwiesen wird. 115 [JENKIN] (wie Anm. 107), Bl. a2v: nec ferendum iudicavi, ut [...] arrogantia cujuspiam aut malevolentia ludibrio haberetur [sc. Augustinus]. 116 [JENKIN], Bl. a6r: homo inverecundus, vehemens, implacabilis, admirator sui, contemptor aliorum, praesertim veterum. 117 [JENKIN], Bl. a6v: Hoc igitur probandum in me suscipio, non tam errare, quam delirare saepissime gravem hunc et atrocem Augustini reprehensorem. 118 [JENKIN] Bl. a6v: Ponam autem in medio verba primo S. Augustini [...]; deinde Phereponi Animadversiones; postremo Responsiones meas subjiciam. 119 [JENKIN], S. 79-89. 120 [JENKIN], S. 79: In Animadversionibus ad hanc Epistolam Phereponus multa circuitione Verborum et atrocitate Catholicos conviciis onerat, Donatistarum elevat crimina, excusat, defendit, quantum potest. Leges ipsas Imperii proscindit et infamat [...] Haereticos contra omnis Historiae fidem, non nisi Catholicorum exemplo crudeles fuisse decernit.
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derben stürzten.121 Nach einer entsprechenden weiteren Rechtfertigung einer Strafverfolgung von Häretikern, kommt Jenkin zu dem Schluß: „Da es so um die Gründe und den Status dieses Falles steht, ist es nicht nötig im einzelnen auf die Beschuldigungen der Heuchelei, der Unredlichkeit und der Grausamkeit einzugehen, die Phereponus dem integersten und sanftmütigsten Manne vorzuwerfen beliebte.“122 Er beschränkt seine Einzelbemerkungen dann auf eine einzige, in der obigen Besprechung übergangene Stelle, in der Augustin den Rogatisten unterstellt, daß sie nur deshalb keine Untaten begingen, weil sie ihrer geringen Zahl wegen dazu nicht in der Lage seien, und Phereponus sie gegen diese Unterstellung in Schutz nahm.123 Zu den oben zu Kapitel I 9 der Libri III contra epistolam Parmeniani zitierten Animadversiones,124 in denen Le Clerc den christlichen Kaisern vorwarf, im gleichen Zeitraum mehr Gesetze gegen die Heiden erlassen zu haben als umgekehrt die heidnischen Kaiser gegen die Christen und in denen er durch eine fiktive Rede der Christen an die Heiden deren Verfolgung der Heiden bloßstellte und verurteilte, beschuldigt Jenkin Le Clerc, gar nicht wissen zu können, ob die christlichen Kaiser tatsächlich mehr Gesetze gegen die Häretiker [sic] erließen, erinnert an das Lob, das Le Clerc 1686 Grotius erteilt habe, weil dieser den politischen Behörden das Recht zugesprochen hatte, gegen Zwistigkeiten von Kirchen untereinander einzuschreiten und kritisiert den Stil jener fiktiven Rede, ohne sich inhaltlich mit ihr auseinanderzusetzen, mit folgenden Worten,: „Er bringt darauf die Christen jener Zeit auf eine lächerliche und verächtliche Weise gewissermaßen auf eine Schauspielbühne und fingiert, daß sie die Heiden ansprechen. Denn in solchen Witzworten gegen die heiligen Väter gefällt er sich gar wunderbar. Da er in einigen Sprachen nicht unwissend ist, aber zu wenig Urteilsvermögen und viel zu viel Selbstvertrauen hat, ist ihm das in besonderem Maße zu eigen, was er bei anderen außerordentlich verachtet und verspottet, nämlich die deklamatorische Geschwätzigkeit.“125 Jenkin versteht es, seine Empörung zu vermitteln, aber Le Clerc mußte seine Animadversiones zu Epist. 93 und Contra Ep. Parm. 1, 9 durch diese Auslassungen nicht als widerlegt betrachten. 121 [JENKIN], S. 79f.: Nec tamen experientia tandem edoctus, Donatistas quosvis omni Poena eximendos existimavit; sed eo potius modo tractandos, ad erroris sui viam et rationem considerandam atque perpendendam ut perducerentur, nec caeci caecos Duces secuti in perniciem corruerent. 122 [JENKIN], S. 86: Talis cum sit huius causae Ratio et Status, non necesse est ire per singula, quae visum est Pherepono Simulationis, malae Fidei, Saevitiae crimina, Viro integerrimo eidemque clementissimo objectare. 123 [LE CLERC] (wie Anm. 28), S. 494, [JENKIN], S. 86-89. 124 [LE CLERC], S. 603, dazu [JENKIN], S. 201-209. 125 [JENKIN], S. 204: Deinde Christianos illorum Temporum in Fabulae suae scenam quandam ridiculo ac detestando modo inducit, Paganosque alloqui fingit. Nam in huiusmodi adversus Sanctos Patres [ed.: Satres] dicteriis mirabiliter sibi placet; Qui cum Linguarum aliquot non sit inscius, judicio parum, confidentia plurimum valeat, hoc habet ipse praecipuum, quod in aliis maxime contemnit ac irridet, Declamatoriam Loquacitatem.
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Erheblich mehr Gewicht und Substanz hat die Gegenschrift Muratoris. Er erklärt im Widmungsbrief, daß die Animadversiones des Phereponus ihm den Anstoß gaben, eine Apologie des Rufes von Augustin und der von Phereponus angegriffenen Wahrheit zu verfassen.126 Er hatte einen ähnlichen Eindruck von Phereponus wie Jenkin und beschreibt ihn in einer bildreichen Sprache so: „Nichts konnte Phereponus davon abschrecken, Augustin zum Prozeß vorzuladen und ungestraft gegen ihn mit Beleidigungen und Beschimpfungen zu toben. Er mißbilligte nicht nur einzelne Aussprüche und Sätze Augustins, sondern erklärte dem Ansehen Augustins einen totalen Krieg und unterließ nichts, um seinen sophistischen, intrigantischen und schwächlichen Geist, der irgendwie auch vor üblen Machenschaften nicht zurückschreckt und sich beinahe verschworen hat, die Religion zu vernichten, unvorsichtigen Lesern zu enthüllen.“127 Muratori wollte sich jedoch nicht speziell auf eine Kritik an Phereponus beschränken, auch wenn er sein Hauptgegner bleibt, sondern diese Kritik in einen größeren Rahmen stellen. Er stellt fest, daß die an sich sehr lobenswerte und äußerst nützliche Ars Critica, d.h. die Kunst der literarischen Interpretation, die ebenso wie die übrigen Künste, z.B. die Medizin, Rhetorik und Logik, als Geschenk Gottes den Menschen übergeben worden sei, manchmal Schaden zufüge, und zwar durch die Schuld des sie Mißbrauchenden (und dabei durfte man auch an die Ars critica Jean Le Clercs denken128). So schade die Critica durch menschliche Fehler der Wahrheit, obwohl sie vor allem zum Schutz der Wahrheit erdacht worden sei. „Und wenn ein Student der Literatur sich mit locker gelassenen Zügeln zur Erforschung der Wahrheit begibt und seinem ehrgeizigen Geist keine Grenze vorschreibt, was wundert es dann, daß so viele und so hartnäckige Häresien und Irrtümer emporwuchern und sich von Tag zu Tag weiter ausbreiten?“129 Die Ars Critica könne nicht weniger verderblich sein als ein Messer in der Hand eines Wahnsinnigen, obgleich dasselbe Messer in der Hand eines kundigen Arztes Krankheiten heilen könne. Das Grundproblem des Buches ist also die Frage, wo der Critica freier Lauf gelassen werden darf und wann, wo und wie ihr heilsame Zügel (salutaria frena) angelegt werden müssen. Dies darzulegen sei die Aufgabe dieser Disputation de ingeniorum Moderatione in Religionis negotio
126 [MURATORI] (wie Anm. 109), S. VIIIf.: hinc mihi natum consilium texendae Apologiae, qua consulerem tum Augustini fama, tum Veritati lacessitae. 127 [MURATORI], S. VI: At nulla res Phereponum deterrere potuit, quominus Augustino diem diceret, atque in illum impune debaccharetur contumeliis et flagris. Non illius dicta quaedam, non aliquae tantum sententiae per ipsum improbatae, sed generale Augustini gloriae indictum est bellum; nihilque praetermissum, quo cum illius ingenium [...] sophisticum, et captiosum, et imbecillum, tum ejus animus a malis etiam artibus quodammodo non abhorrens, atque in Religionis perniciem paene conjuratus incautis Lectoribus exhiberetur. 128 Vgl. Anm. 76. 129 [MURATORI], S. IX: dum Litterarum studiosus laxatis habenis ad inquisitionem Veri se confert, nullumque ambitioso ingenio limitem praescribit; quid mirum, quod tot, ac tam pertinaces Haereses atque errores sobolescant, latiusque serpant in dies?
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(„Über das [erforderliche] Maßhalten des menschlichen Geistes in Religionssachen“).130 Die einzelnen Animadversiones des Phereponus werden deshalb hier nicht in ihrer ursprünglichen Reihenfolge vorgenommen, sondern dort, wo sie im Laufe der Erörterung hinpassen. Doch es trifft sich, daß Muratori gerade die Animadversiones zu Augustins Brief an Vincentius ausführlichst hintereinander in den Kapiteln VII-XII seines zweiten Buches (= S. 309-374) bespricht, als er zu der Frage kommt, ob es den höchsten Magistraten gestattet ist, jemanden zur wahren Religion zu zwingen. An den Anfang dieser Erörterung stellt Muratori glasklar und stahlhart seine Gewißheit, daß es selbstverständlich Aufgabe der katholischen Kirche und der weltlichen Autoritäten ist, Häretiker zur wahren Religion zu zwingen: „Es bleibt zu fragen, welches Recht die Menschen und welches die Kirche beim Religionsbekenntnis hat, ob nämlich in Zukunft alle die Freiheit haben sollen, diejenige Religion zu bekennen, die ein jeder selbst für die beste und für wahr hält, oder ob die Kirche als sichere Wächterin der Wahrheit sich einer solchen Freiheit entgegensetzen und die Widerstrebenden zum besseren Glauben ziehen und zwingen soll. [...] Da der Kirche die Heiden, Mohammedaner und Juden nicht untertan sind, nimmt sie kein Recht ihnen gegenüber in Anspruch, außer eben das Recht, sie zu bereden und zu ermahnen, ihren Irrtümern abzusagen und der wahren Religion zuzustimmen. Die Kirche besitzt einen Rechtsanspruch nur gegenüber den Häretikern. Denn sie glaubt, daß diese sich nicht deshalb aus ihrem Rechtsbereich gelöst haben, weil sie sich selbst der Gemeinschaft der Kirche entzogen. Denn auch fahnenflüchtige Soldaten bleiben Soldaten ihres Herrschers, und entlaufene Sklaven und Söhne bleiben im Besitz und Rechtsbereich ihrer Herren bzw. Eltern. Häretiker kann die Kirche also mit ihren Waffen bedrängen, um sie wieder in ihren Schafspferch zu führen, ich meine, mit ihren geistigen Waffen, mit Exkommunizierungen und allen Verwünschungen. Auf die Könige und die weltlichen Fürsten kommt dann die Aufgabe zu, die auf Abwege Geratenen oder die dem Glauben Entfremdeten auch mit heilsamen Strafen aufzuwecken, damit sie nicht länger im Irrtum bleiben und nicht in ihm sterben.“131 Die Aktionen der Kirche und der weltlichen Herrscher entsprechen den 130 In einzelnen Internetseiten mit katholischen Inhalten (z.B. St. Alphonsus de Liguori: The Glories of Mary und Catholic Answers) wird dieser Titel irrtümlich mit „Well-regulated Devotion“ übersetzt. Muratoris Schrift wird in innerkatholischen Auseinandersetzungen gelegentlich kritisch zitiert, da [MURATORI], S. 169f. (= lib. 1, cap. 17), den Glauben an Marias Immaculata Conceptio und Assumtio in coelum fromm, aber nicht notwendig nannte. 131 [MURATORI], S. 309f.: Inquirendum nunc restat, quodnam jus humanis ingeniis, quodnam Ecclesiae sit in professione Religionis; num videlicet futura sit omnibus libertas illius Religionis profitendae, quam ipse putat optimam ac veram; an huiusmodi libertati opponere se debeat certa Veritatis custos Ecclesia, reluctantesque ad meliorem Fidem pertrahere atque compellere. [...] Quum Ecclesiae subjecti non sint Gentiles, Muhammedani, atque Iudaei, nihil eadem juris in ipsos sibi tribuit, nisi suadendi, atque hortandi, ut suis erroribus abdicatis cum Religio-
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einschlägigen Vorschriften des in den Dekretalien Papst Gregors IX. formulierten kirchlichen Rechts.132 Nach dieser Positionsbestimmung bespricht Muratori Augustins Brief an Vincentius und in ihm jeden Kritikpunkt Le Clercs. Es muß und kann hier genügen, Muratoris Behandlung133 des ersten Arguments von Augustin und der dagegen erhobenen Einwendungen (es ist der Vergleich mit dem Geisteskranken, den man gefesselt hat, um ihn vor einem Sturz zu bewahren)134 zu präsentieren, um prinzipiell zu erkennen, wie in diesem Brief die Animadversiones Le Clercs ‘widerlegt’ werden. Muratori zitiert zuerst die Augustinstelle, stellt dann summarisch fest, der Vergleich mit dem Geisteskranken solle zeigen, daß die Verfolgung derer erlaubt sei, die wir zum Bekenntnis der Wahrheit und der wahren Religion bringen wollen; darauf zitiert er die Einwendungen des Phereponus und gibt dann zunächst die folgende grundsätzliche Aussage, die auch für seine späteren Stellungnahmen relevant bleibt: „Leicht verschwinden diese und andere später zu unserer Sache vorzubringenden Scharfsinnigkeiten des Zensors, wenn wir ein einziges Prinzip feststellen, ne vera consentiant. Jus est ipsi Ecclesiae in solos Haereticos, quos nempe a sua ditione non ideo solutos credit, quod ipsi ab ejus communione sese exemerint; nam et in transfugis militibus regius character perdurat, et possessione ac jure servorum atque filiorum, quod a se fugerint, nequaquam spoliantur domini, atque parentes. Haereticos ergo Ecclesia potest suis urgere armis, quo illos in suam caulam rursus perducat; armis, inquam, spiritalibus, excommunicatione, ac diris omnibus. Ad Reges autem, Saeculique Principes spectat, salutaribus etiam poenis solicitare devios, aut alienos a Fide, ne in errore diutius perstent, neve eidem immoriantur. Im Anschluß daran erfolgt die lobende Erwähnung der Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV., auf die oben mit Anm. 111 hingewiesen wurde. Die hier zum Ausdruck gebrachte Auffassung über die Zwangsbekehrung von Häretikern als Aufgabe der katholischen Kirche wurde im II. Vatikanischen Konzil durch die Declaratio de libertate religiosa (vgl. Anm. 34) offiziell aufgegeben und durch ein Bekenntnis zur Religionsfreiheit ersetzt, ohne daß jedoch die Abkehr der Kirche von der früheren Position oder ein Bedauern über ihre Konsequenzen explizit ausgesprochen worden wären. Vgl. dazu KONRAD HILPERT, Die Anerkennung der Religionsfreiheit. In: Stimmen der Zeit. Die Zeitschrift für christliche Kultur 12/2005, S. 809-819, hier 814 (auch im Internet). 132 Vgl. Decret. Greg. lb. 5, tit. 7 De Haereticis, cap. 9 Ad abolendam [...] und cap.13 Excommunicamus itaque et anathematizamus [...] sowie Lib. Sext. Decret., lb. 5, tit. 2 De Haereticis, (eingesehen wurde die Ausgabe: Corpus Iuris Canonici emendatum et notis illustratum Gregorii XIII. Pont. Max. iussu editum, Lyon 1616) und IOANNES PAULUS LANCELOTTUS, Institutiones Iuris Canonici, Lyon 1616, Sp. 139 (lb. 4, tit.4), der unter Verweis auf diese Stellen schrieb: In haeresi autem deprehensi praeter perpetui vinculum anathematis, si clerici sint [...] secularis relinquentur arbitrio potestatis, animadversione debita puniendi. [...] Laici vero [...] secularis iudicis arbitrio relinquentur, debitam pro qualitate facinoris ultionem recepturi. Die erst spätantik-christlichen Fremdworte anathema bzw. anathematizare, die den Kirchenbann bezeichnen, ersetzte Muratori als Humanist durch das klassische lateinische Wort dirae (zu seinem Vorkommen vgl. OCD s.v. 2). 133 Vgl. [MURATORI], S. 311-315. 134 Vgl. oben mit Anm. 80 und 81.
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dessen Nichtwissen oder Mißachtung wohl jeden vom richtigen Christsein ausschließt, nämlich daß es unter den Menschen eine von Gott eingerichtete Religion geben muß und wirklich gibt, die nicht nur wahr, sicher und göttlich, sondern auch offenkundig glaubhaft ist und von jedem erfaßt werden kann, der ihre Gründe und Lehren hört und erwägt. Und was wäre es bitte für ein Plan des besten und weisesten Gottes gewesen, das Menschengeschlecht die wahre Religion zu lehren, wenn diese seine wahre Religion sich nicht unter den übrigen falschen verriete und sie nicht ihre tatsächliche Exzellenz immer offenkundig hätte machen können und gemacht hätte? Was hätte den Menschen diese göttliche Wohltat genützt und was nützte sie ihnen, wenn nie jemandem zuteil würde, daß er ohne jeden Zweifel durchschaut und erkennt, welches denn diese einzige himmlische Religion ist? Könnte sich nicht einer mit Recht bei Gott entschuldigen, der bei der Auswahl der Religion irrt, wenn immer verborgen, dunkel und zweifelhaft wäre, was als einzige Religion erfaßt werden soll? Dann hätte Christus uns vergeblich belehrt, dann hätte der Heilige Geist vergeblich durch die Propheten, die Aposteln und die Evangelisten gesprochen.“135 Auf diese Basis baut Muratori ein Netzwerk von Schlüssen, deren logische Stringenz unzerreißbar wirken soll (weiterhin ist deshalb ergo eine Leitpartikel): „Aus diesem Prinzip ergibt sich von selbst das andere. Denn wenn der richtige Verstand uns zu bekennen zwingt, daß eine wahre und offenkundig glaubhafte Religion nicht nur in der Vorstellung der Menschen sein, sondern tatsächlich existieren muß, und wenn [...] allein die Religion Christi die eine ist, zu der die offenkundigen Zeichen der Wahrheit und Göttlichkeit gehören, dann werden alle offenkundig irren, die von der christlichen Religion entfernt sind. Wenn aber nun wiederum diese Religion in mehrere sehr unterschiedliche und voneinander abweichende und sogar gegensätzliche Gesellschaften zerteilt wird, besitzt notwendigerweise nur eine einzige unter diesen Gesellschaften die wahre und echte Religion Christi; die übrigen folgen falschen und irrigen Vorstellungen. Und diese Gesellschaft kann keine andere sein als die katholische, wie auch wir früher
135 [MURATORI], S. 311f.: Facile evanescent istae ac aliae in hanc rem afferendae postea Censoris argutiae, si unum principium statuimus, quod qui ignorat, sive contemnit, nescio quam recte inter Christianos sit adhuc recensendus. Nempe, esse debere, et esse reipsa, Religionem aliquam inter homines a Deo constitutam, eamque non solum veram, certam ac divinam, sed etiam evidenter credibilem, et a quocumque amplectandam, dum ejus rationes et dogmata audiantur, atque expendantur. Et quale quaeso Dei optimi ac sapientissimi consilium fuisset, mortalium genus edocere Religionem veram, nisi vera haec ejus Religio inter reliquas falsas prodere se, et suam revera praecellentiam manifeste semper aperire potuisset, ac posset? Quid hominibus profuisset, atque prodesset divinum beneficium, si nemini umquam contingeret sine dubitatione perspicere, atque cognoscere, quaenam sit unica illa caelestis Religio? Nonne apud Deum excusare se merito posset, quicumque erraret in Religionis delectu, quando abditum, obscurum et dubium semper foret, quae una sit amplectenda? Ergo frustra Christus nos docuisset. Ergo frustra Spiritus Sanctus loquutus fuisset per Prophetas, Apostolos et Evangelistas.
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bereits nachwiesen.136 Also muß die Religion der Katholiken offenkundig glaubhaft sein, und sie ist es auch, wenn jenes erste Prinzip richtig festgestellt worden ist, daß nämlich notwendigerweise eine Religion unter den Menschen sein wird, die offenkundige Zeichen der Wahrheit und Sicherheit vor sich herträgt. Wenn aber die katholische Religion offenkundig glaubhaft ist, was folgt daraus anderes, als daß die übrigen Gesellschaften der Christen irren und wahnsinnig sind und, soweit es den Glauben betrifft, für geisteskrank zu halten sind. Wenn aber schließlich außer den Katholiken die übrigen Menschen wahnsinnig sind, also auch gegen die Wahrheit und gegen Gott sich versündigen, dann ist es also nur eine lobenswerte Absicht christlicher Liebe, sie mit Hilfe von heilsamen Qualen von den ewigen Strafen zurückzurufen.“137 Muratori gibt gewissermaßen ein geschlossenes scholastisches System, in dem jeder Zweifel ausgeschlossen ist. Eigentlich hätte er jetzt schon sein Beweisziel, daß alle nichtkatholischen Christen von katholischer Seite gewissermaßen wie Geisteskranke zu behandeln sind, erreicht. Er zitiert jedoch nun noch einmal einen Teil der Einwendungen von Phereponus, nämlich daß bei religiösen Kontroversen nicht so klar sei, welche Partei die andere für geisteskrank halten dürfe und daß wegen der verbreiteten Emotionen keine Partei Richter über die andere sein könne, und führt danach aus, daß das der rechte Freibrief für alle, selbst für Heiden, Mohammedaner und Juden sei. Jeder Häretiker, auch der von den Lehren der Katholiken und sogar der Protestanten entfernteste, jeder, der nur an Gott und Christus glaube und sich in seiner religiösen Sekte schlechter Taten enthalte, habe damit eine ehrbare Entschuldigung und werde glauben, er könne so das ewige Heil erlangen. Also müsse man den ganzen Wirrwarr aller Häretiker ertragen und Gott hätte uns nicht die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden gelehrt, nicht in seiner Kirche Christus als Richter über alle Kontroversen eingesetzt, der Apostel Paulus hätte vergeblich vor Häretikern gewarnt (er verweist auf
136 Nach [MURATORI], S. 17-138 (insbesondere S. 25-30 = lib.1, cap.4), beweisen Ratio und Auctoritas die Wahrheit der Religion der katholischen christlichen Kirche. 137 [MURATORI], S. 312f.: Ex hoc principio sponte alia fluunt. Nam si recta ratio fateri nos cogit, veram aliquam Religionem, eamque evidenter credibilem, non debere dumtaxat esse inter homines, sed esse re ipsa; sique [...] sola Religio Christi eadem una est, cui evidentia conveniunt Veritatis et Divinitatis signa: ergo evidenter errabunt, quicumque a Christiana Religione absunt. Rursus, cum Religio ista in plures, easque diversissimas societates, invicem dissidentes atque contrarias dividatur: necesse est, una tantum inter societates hasce veram et germanam Christi Religionem possideat; reliquae falsitatem et errorem sectentur. Atqui nulla alia esse societas ista potest, quam Catholicorum, uti et nos supra ostendimus. Ergo Religio Catholicorum evidenter credibilis esse debet, atque adeo est, si recte positum est primum illud principium, nempe necessario futuram esse inter homines Religionem aliquam, evidentia veritatis ac certitudinis signa praeferentem. Quod si Catholica Religio evidenter credibilis est, quid aliud consequitur, nisi ceteras Christianorum societates errare, delirare, et quod est ad Fidem, loco phreneticorum esse habendas? Denique si exceptis Catholicis ceteri homines in Religione delirant, ergo etiam in Veritatem, et in Deum peccant, ergo salutarium vexationum ope illos revocare ab aeternis poenis, nonnisi Caritatis Christianae consilium laudabile fuerit.
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Titus 3, 10-11 und 2. Tim. 2, 16-18) und Gott hätte vergeblich seine einzige, einträchtige, reine Kirche eingerichtet. Für die Häretiker aber treffe das Bekenntnis des Häretikers Phereponus zu, wenn er sage, daß bei religiösen Kontroversen nicht genügend feststehe, bei welcher Partei die Wahrheit sei. „In dem Augenblick nämlich, in dem einer aus der katholischen Kirche hinausgeht und leugnet, daß sie sichtbar, heilig, irrtumsgefeit und Richter über religiöse Kontroversen ist, kündigt er alle Prinzipien auf, durch die ihm deutlich werden könnte, wo mit Sicherheit die Wahrheit des Glaubens regiert.“138 Dann werde der Häretiker nur noch von Gefühlen oder den Kräften seines eigenen Verstandes geleitet, jeder könne die Heiligen Schriften nach seinem Sinn auslegen, und damit könne nie offenkundig werden, wer im Irrtum sei und wer die Wahrheit erreicht habe. „Doch die katholische Kirche, gestärkt durch gewisse göttliche Privilegien, erkennt und nimmt offenkundig wahr, daß bei ihr die Wahrheit, bei den Häretikern aber der Irrtum ist. Denn sie ist es, die Gott unter die Menschen als ‘Säule und Firmament der Wahrheit’ [1. Tim. 3, 15] setzte, der Christus die Ewigkeit versprochen hat, in die er sichtbare und richtig erwählte Hirten und Lehrer setzte, die von einer anderen Kirche nicht abgespalten ist, wie es bei allen Häretikern der Fall ist, die zu hören und der zu glauben uns befohlen ist, die keiner Falschheit und keinem Irrtum unterworfen ist, soweit es die Dogmen und die Glaubenskontroversen betrifft, und die im Gegenteil von Gott als Richter über alle religiösen Kontroversen eingesetzt ist.“139 Nach dieser Vergewisserung kommt Muratori, die Besprechung von Augustins erstem Argument abschließend, noch einmal auf den Vergleich mit den Geisteskranken zurück, um ihn nun näher auszuführen: „Sobald den Katholiken offenkundig ist, daß sie das Wahre überliefern und glauben, ist auch folgerichtig, daß von den Häretikern, die Gegenteiliges lehren und glauben, gesagt wird, sie seien in gewisser Weise verrückt und daß die Rechtgläubigen mit Recht ihre Richter sein können. Wenn aber die Häretiker irren und verrückt sind, sind sie somit den Geisteskranken ähnlich140 und deshalb einzuschließen und auch mit 138 [MURATORI], S. 314: Ex quo enim quis e Catholica Ecclesia excessit, eamque visibilem, sanctam, errare nesciam, et judicem controversiarum negat: ille jam renuntiat principiis omnibus, quibus sibi palam fieri posset, ubinam certo Veritas Fidei regnet. 139 [MURATORI], S. 314: At Ecclesia Catholica divinis quibusdam privilegiis munita, evidenter intelligit ac sentit, a se veritatem, ab Haereticis vero errorem stare. Ea quippe est, quam Deus locavit inter homines ‘columnam ac firmamentum Veritatis’; quacum Christus pollicitus est se aeternum fore; in qua posuit visibiles et rite electos Pastores, atque Doctores; quae ab aliqua Ecclesia, ut Haereticis omnibus accidit, divulsa non est; quam audire, cui credere jubemur; nulli enim fallaciae atque errori (quoties de Dogmate, et de Fidei controversiis agitur) obnoxia est; immo Judex controversiarum omnium, in Religione occurrentium, a Deo constituta fuit. 140 Die Gleichung errantes = delirantes = phrenetici sowie deren Generalisierung hat klassische Vorgänger in der Verbindung von errare mit delirare in Cic. De divin. 2, 90 O delirationem incredibilem! Non enim omnis error stultitia dicenda est (vgl. die gleiche Verbindung bereits bei [JENKIN], wie Anm. 117!) und in der rigoristischen Verurteilung jedes
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bitteren Heilmitteln zur Gesundheit zurückzurufen. [...] Wie nämlich die Geisteskranken, deren Vorstellungen durch die Krankheit fehlerhaft sind, rasen und toben und nicht allein sich, sondern auch ihrer Gemeinde Schaden und Nachteil bringen können und deshalb unter Kontrolle gebracht werden müssen, so müssen auch die Häretiker, deren Verstand wegen ihres Irrtums fehlerhaft ist, da sie sich und anderen schaden können, indem sie ewige Strafen auf sich leiten und andere in denselben Irrtum und dieselbe Verdammnis ziehen, unter Kontrolle gebracht werden.“141 Mit teilweise anderen Argumenten, aber immer mit der gleichen Selbstsicherheit, der gleichen Betonung der logischen Denknotwendigkeit und der gleichen aggressiven Intoleranz gegen Nichtkatholiken geht Muratori, Wiederholungen zur Einschärfung nicht scheuend, ausführlich auf die weiteren Animadversiones des Phereponus zu Augustins Brief ein und vertritt dabei uneingeschränkt die Berechtigung der katholischen Verfolgung von Häretikern im Sinne Augustins und des katholischen Kirchenrechts. Jenkin, der ein Jahr älter, und Muratori, der 15 Jahre jünger als Le Clerc war, haben wie dieser die humanistischen Disziplinen, Philosophie und Theologie jeweils in ihrem, dem anglikanischen, calvinistischen und katholischen Milieu studiert. Jenkin und Muratori verteidigten die Augustinischen Positionen, die die stark humanistisch geprägte christliche Argumentation Le Clercs kritisiert hatte, und verwendeten dazu auch ihre humanistischen Kenntnisse, zu denen die Ars critica als literarische Interpretationskunst gehörte. Muratori hat dabei ausdrücklich betont, daß seine Critica durch seinen katholisch-christlichen Glauben mit „heilsamen Zügeln“ versehen ist. Vom Inhaltlichen abgesehen, ist sein Darlegungsstil in den zitierten Passagen weniger ciceronisch-humanistisch als philosophisch-scholastisch zu nennen. Le Clerc und Muratori waren beide große GeDummen als eines Geisteskranken in Cicero, Parad. Stoic. 4 Omnes stultos insanire. Ego vero te non stultum, ut saepe, non improbum, ut semper, sed dementem et insanum rebus addicam necessariis. Die Paradoxa Stoicorum gehörten im 17.-18. Jahrhundert zur Schullektüre (zusammengedruckt mit De Officiis, Cato und Laelius z.B. Lemgo 1772) und wurden zu Redeübungen verwendet, in denen man sie in christliche Paradoxa verwandelte; vgl. für den protestantischen Bereich WALTHER LUDWIG, Deklamationen und Schuldramen im 17. Jahrhundert - das Beispiel des Gymnasium der Reichsstadt Schwäbisch-Hall. In: BIANCA-JEANETTE und JENS PETER SCHRÖDER, Hrsg., Studium Declamatorium. Untersuchungen zu Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit, München - Leipzig 2003 (Beiträge zur Altertumskunde 176), S. 335-372, hier 347, 357f. 141 [MURATORI], S. 315: Ubi enim Catholicis evidens sit, se vera tradere et credere, consequens etiam est, ut Haeretici contraria docentes, atque credentes, delirare quodammodo dicantur, et Orthodoxi istorum Judices merito esse possint. Quod si Haeretici errant atque delirant, ergo phreneticorum similes sunt, proptereaque coercendi, et medicamentis etiam amaris ad sanitatem revocandi. [...] Ut enim phrenetici, phantasia ex morbo vitiata, in furias acti, non sibi solum, sed rei etiam publicae esse damno atque incommodo possunt, ideoque cohibendi sunt: ita et Haeretici, intellectu propter errorem corrupto, cum sibi tum aliis nocere queunt, aeternas in se poenas derivando, et alios in eumdem errorem, eamdemque damnationem trahendo.
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lehrte, die beide beanspruchten, Christen zu sein, aber total entgegengesetzte religiöse Vorstellungen und zugleich diametral entgegengesetzte Temperamente hatten. Ihre humanistischen Kenntnisse waren durch die Ausschlag gebenden religiösen Überzeugungen konditioniert. Ihre bis ins 19. Jahrhundert gelesenen Kommentierungen von Augustins Brief an Vincentius vertreten Anfang des 18. Jahrhunderts geradezu beispielhaft die konträren Positionen der Toleranz und Intoleranz gegen Andersgläubige. Das 18. Jahrhundert wird in der modernen Forschung oft als Jahrhundert der Toleranz bezeichnet. Das sollte nicht übersehen lassen, daß Intoleranz auch in diesem Jahrhundert noch vehement vertreten wurde. In der gegenwärtigen Augustinrezeption spielt Augustins Eintreten für Zwangsbekehrungen von Häretikern und die Tötung von Heiden nur eine geringe Rolle, und in den Forschungen zum Toleranzdiskurs des 18. Jahrhunderts ist von den umfangreichen lateinischen Texten Le Clercs, Jenkins und Muratoris, soweit ich sehe, nicht die Rede. Die vorstehenden Seiten dürften sie jedoch etwas in das ihnen zukommende Licht gerückt und bewußt gemacht haben, welch große Bedeutung die Toleranz- und besonders die Intoleranzvorstellungen Augustins hatten und wie umstritten sie auch während des 18. Jahrhunderts waren.
Zur Rezeption der paganen Götter bei Boccaccio und Ficino DOROTHEE GALL Die folgende Untersuchung hat ihren Schwerpunkt in der Analyse von Boccaccios Genealogie deorum gentilium libri. Der Blick auf Ficino ist eher eklektisch und bereits geleitet durch die Ergebnisse des ersten Teils; vor allem beschränkt er sich weitgehend auf Ficinos Epistolarium. Die Textauswahl führt also zum Vergleich von völlig unterschiedlichen Gattungen, wobei die Entscheidung für Boccaccios Genealogia auf der Hand liegt, die für Ficinos Briefcorpus dagegen zu begründen ist: Natürlich spielt hier eine Rolle, dass pagane (Götter-)Mythen und ihre Auslegung letztlich alle Schriften Ficinos prägen, so dass ein systematischer Zugang im Rahmen dieser Studie nicht möglich ist; tatsächlich hat sich aber auch gezeigt, dass sein Epistolarium, auch wenn es thematisch breit gefächert ist, eine besonders facettenreiche und vielfältige Perspektive auf den antiken Mythos eröffnet. Man mag das gerade auf die Gattung zurückführen mit ihren je nach Rezipient und Thema variierenden Sprech- bzw. Schreibweisen und rhetorischen Strategien. Diese „Offenheit“ der Gattung erlaubt Ficino einen Zugriff auf den Mythos, der den für Boccaccio nachzuweisenden Wertungen und Sichtweisen partiell korrespondiert. Die Abstammungslinien der heidnischen Götter und ihrer Nachfahren hat Boccaccio in dem umfänglichsten seiner lateinischen Werke in langen Mythenreferaten nachgezeichnet; die Arbeit an dieser Schrift1 begann er um das Jahr 1350; ca. 1360 schloss er die erste Fassung ab, Ergänzungen und Korrekturen sollte er bis zu seinem Tod im Jahre 1375 vornehmen.2 Noch zu seinen Lebzeiten und zu seinem großen Leidwesen spaltete sich die Überlieferung in zwei Stränge: Der eine beruht auf der von ihm selbst ständig erweiterten und korrigierten Fassung, die durch ein Autograph bezeugt ist (Codex Laurentianus Pl. 52,9); der andere Strang, die sog. Vulgata, beruht auf einer nicht autorisierten und gegen den Wil-
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Zur Titelalternative Genealogie s. Vittorio ZACCARIA, Boccaccio narratore, storico, moralista e mitografo, Firenze 2001, 109 n. 64, und Wolfgang HÜBNER, Noch einmal zum Titel von Boccaccios Genealogia, in: Neulateinisches Jahrbuch 4, 2002, 323-325. Vgl. Egon FLAIG, Giovanni Boccaccio (Die grossen Klassiker. Literatur der Welt in Bildern, Texten, Daten), Salzburg 1984, 67, Sp. 2.
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len des Autors kopierten und verbreiteten Handschrift. Die Frühdrucke der Genealogia folgen insgesamt der Vulgata, Romanos Textausgabe dem Autograph.3 Das Werk umfasst fünfzehn Bücher. Dem Titel im engeren Sinn entsprechen die Bücher 1-13, zwei weitere Bücher widmen sich abschließend der Apologetik des eigenen Unterfangens und der Dichtung überhaupt.4 In ihnen verbürgt sich Boccaccio nicht nur für die Zuverlässigkeit seiner Quellen; unter Verweis auf christliche Autoren, die sich der antiken Kultur und Literatur widmeten, und mittels eines umfänglichen Rekurses auf die in der heidnischen Dichtung verborgene Wahrheit wehrt er engagiert die Kritik christlicher Zeitgenossen ab, die den paganen Mythos und Dichtung insgesamt als sinn- und nutzloses Lügengebäude abtun. Ein umfängliches Prooem zu Buch 1 erläutert die Intention der Schrift: In direkter Ansprache an König Hugo von Zypern führt der Autor sein Sammelwerk auf dessen ausdrücklichen Wunsch und Auftrag zurück.5 Er definiert damit auch zugleich den Charakter des folgenden Werkes, der durch zwei königliche Anliegen bestimmt wird: ein Kompendium der antiken Mythen zu besitzen und zugleich hinter dem Schriftsinn den tieferen Sinn dieser Mythen zu ergründen (Gen. 1 p. 16):
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ROMANO zeichnet die Überlieferungsgeschichte der Genealogie libri im Nachwort seiner Textedition nach (Vincenzo ROMANO, Bari 1951 [= Giovanni Boccaccio, Opere Bd. X und XI]); vgl. dazu auch Guido MARTELLOTTI, Le due redazioni delle “genealogie” del Boccaccio, Roma 1951, und ZACCARIA, 90. Hierzu Brigitte HEGE, Boccaccios Apologie der heidnischen Dichtung in den „Genealogie deorum gentilium“ Buch XIV: Text, Übersetzung, Kommentar und Abhandlung, Tübingen 1997; zur Apologie der Dichtung s. August BUCK, Boccaccios Verteidigung der Dichtung in den Genealogie deorum, in: BOURNOY, Gilbert (Hrsg.), Boccaccio in Europe. Proceedings of the Boccaccio Conference, Leuven 1977, 53-65. Dieser Wunsch war dem Autor durch einen Höfling des Königs, Donnino da Parma, überbracht worden; die Vorrede zu Buch 1 inszeniert Boccaccios Vorbehalte und schließliche Einwilligung in einem unmfänglichen und rhetorisch ausgefeilten Gespräch mit Donnino. Alle Stellenangaben beziehen sich auf die zweibändige Ausgabe von ROMANO; diese Ausgabe ist mittlerweile von der Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition der Österreichischen Akademie der Wissenschaften als Volltext ins Internet gestellt worden (http://www.oeaw.ac.at/kal/mythos). Bei meinen Zitaten behalte ich die Textgestalt von Romanos Edition bei und verweise nur in besonders schwerwiegenden Fällen auf grammatische oder lexikalische Abweichungen vom ‚klassischen‘ Latein; inwieweit diese auf den Autor oder den Editor zurückgehen, habe ich nicht geprüft. – Gen. 1-5 liegt jetzt auch vor in der Edition und englischen Übersetzung von Jon SOLOMON (Boccaccio. Genealogy of the Pagan Gods, ed. and translated by J. SOLOMON, vol. I, London 2011).
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[…] summopere cupis genealogiam deorum gentilium et heroum ex eis iuxta fictiones veterum descendentium, atque cum hac, quid sub fabularum tegmine illustres quondam senserint viri, […].7
Insgesamt werden mehr als 700 mythische Gestalten teils knapp, teils äußerst breit und mit großer Erzählfreude erläutert. Boccaccio entfaltet das griechischrömische Pantheon gemäß der Struktur eines Stammbaums, dessen Verästelungen aus Großzweigen er jeweils ein Buch widmet.8 So stellt das erste Buch Demogorgon9 und seine Nachkommenschaft vor; das zweite setzt mit Aether ein, einem Sohn von Herebus (Erebos), der lichtlosen Tiefe, und Nyx, der Nacht;10 Aethers Stammlinie wird hier zunächst mit den Nachfahren seines ersten Sohnes Iuppiter, im folgenden Buch 3 mit denen des zweiten Sohnes Caelius entfaltet. Dessen Genealogie verfolgt auch das vierte Buch, das besonders das Geschlecht der Titanen berücksichtigt. Am Ende ist der gesamte Kosmos der Götter und Götterkinder – erweitert um einige Gestalten, die falschen Lesarten und Missverständnissen entspringen – in Abstammungslinien eingeordnet und zugleich in vielen seiner Erscheinungsformen metonymisch, allegorisch oder aitiologisch ausgedeutet. Der Versuch, die in vielen Aspekten widersprüchlichen und variantenreichen antiken Mythologeme einer einheitlichen Ordnung zu unterwerfen, verlangt eine umfängliche Manipulation der Quellen. Das Leitprinzip der Geschlechterlinien wird durch widersprüchliche Erzählungen und die dem Mythos eigenen Anachronismen aufs äußerste erschwert; die Götter präsentieren sich hinsichtlich von Abstammung und zugeschriebenen Nachkommen, Taten, Geschicken und auch 7 Der hier eingeführte Begriff der fabula meint den Mythos, die mythische Erzählung (vgl. dazu Boccaccios Rekurs auf Macrobius, s. u. S. 72f.). Die Begriffe Mythos und Mythologie waren in Mittelalter und Renaissance nicht unbekannt, aber ungebräuchlich; vgl. Michael THIMANN, Lügenhafte Bilder. Ovids favole und das Historienbild in der italienischen Renaissance, Göttingen 2002, 21. Bei Boccaccio findet sich ‚Mythos‘ in der Ableitung mithicon in Gen. 1 p. 4, unter Berufung auf Varro; wo aber Varros theologia tripartita (vgl. PÉPIN, 13ff. und 308ff.) zwischen der theologia mythica der Dichter und der theologia physica der Philosophen unterscheidet (und als dritte Kategorie die theologia civilis einführt, die den Interessen des Staates entspricht), differenziert Boccaccio nicht weiter zwischen theologia mithica und physica und macht für ihre Erklärung insgesamt die Theologen haftbar: Sane circa huiusmodi explicationes longe plus quam putes difficultatis et theologi hominis labor est, nam, dato, iuxta Varronis sententiam, ubi de divinis et humanis rebus multa descripsit, genus hoc theologie sit, quod mithicon seu, ut aliis placet et forte melius, physicon dicitur, et si plurimum ridende falsitatis habeat, multum tamen ad illam eliciendam artis exquirit. 8 Vgl. Gen. 1, p. 9, über die einzelnen Bücher: Quorum unius cuiusque principio arborem apponendam censeo, cuius in radice pater assit propaginis, in ramis vero iuxta degradationes seriem apponere omnem dilatatam propaginem, ut per hanc videas, de quibus et quo ordine in sequenti libro perquiras. 9 Zu Demogorgon s.u. S. 70f. 10 Darin scheint Boccaccio Hesiod zu folgen, wenngleich er den Ursprung aller Dinge laut Hesiod, das Chaos, durch Demogorgon ersetzt.
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Namen in fruchtbarer, aber auch verwirrender Varianz. Boccaccio hilft sich hier vor allem mit Hypostasierung: So differenziert er, um nur ein Beispiel zu geben, zwischen Iuppiter primus, dem Sohn des Aether und der Nacht, Iuppiter secundus, einem Sohn von Caelius und Ops, und Iuppiter tertius, Sohn des Saturnus. Das Verfahren wurde bereits in der Antike angewandt; so lässst Cicero in De natura deorum III den von der Skepsis der Akademie geprägten Cotta das Konstrukt mehrerer Ioves, Hercules usw. referieren.11 Boccaccio, der sich auch sonst auf diese Schrift beruft,12 übernimmt freilich nicht den Tenor der dortigen Argumentation. Bei Cicero wird ein solches Verfahren als Angriff auf die Religion gewertet;13 Boccaccio rezipiert dagegen die Vervielfachung der Götter kritiklos.14 Im Umfang schwanken die Kapitel zu den einzelnen Göttern und Heroen zwischen wenigen Zeilen und mehreren Folio-Seiten. Die Struktur ist nicht einheitlich, folgt aber mehrheitlich einem gelegentlich gekürzten Schema, das bei den Eltern einsetzt, dann die Nachkommen benennt, die Verdienste und Namen anführt und die äußere Gestalt mit ihren Attributen in der Vorstellung der Antike skizziert;15 vor allem dieser Teil ist häufig und reichhaltig mit Zitaten aus Texten der römischen Literatur belegt, eine Technik, die schon Macrobius an-
11 Cic. nat. deor. 3, 42: Quamquam quem potissimum Herculem colamus, scire sane velim; pluris enim tradunt nobis ii, qui interiores scrutantur et reconditas litteras, antiquissimum Iove natum -- sed item Iove antiquissimo, nam Ioves quoque pluris in priscis Graecorum litteris invenimus. - 3,53: Dicamus igitur, Balbe, oportet contra illos etiam, qui hos deos ex hominum genere in caelum translatos non re, sed opinione esse dicunt, quos auguste omnes sancteque veneramur. Principio Ioves tres numerant ii, qui theologi nominantur, ex quibus primum et secundum natos in Arcadia; alterum patre Aethere, ex quo etiam Proserpinam natam ferunt et Liberum, alterum patre Caelo, qui genuisse Minervam dicitur, quam principem et inventricem belli ferunt; tertium Cretensem Saturni filium; cuius in illa insula sepulcrum ostenditur. Dioscoroe etiam apud Graios multis modis nominantur: primi tres, qui appellantur Anactes Athenis, ex rege Iove antiquissimo et Proserpina nati Tritopatreus, Eubuleus, Dionysus; secundi Iove tertio nati et Leda, Castor et Pollux; tertii dicuntur a nonnullis Alco et Melampus et Tmolus, Atrei filii, qui Pelope natus fuit. 12 Zuerst in Gen. 1, p. 25 (Cicero autem has Parcas vocat, ubi De naturis deorum scribit, et filias Herebi Noctisque fuisse dicit) ; speziell zur Hypostasierung z.B. in Gen. 2, p. 68 (Ether, ut placet Tullio in libro De naturis deorum, filius fuit Noctis et Herebi […] sed visum est Ciceroni cedendum. Quem quantumcunque sterilem multi faciant, ipse tamen eum scribit fuisse secundum, et Jovem genuisse primum et Celium, e quibus emanavit omnis numerosa deorum prosapia). 13 Vgl. PEASE ad Cic. nat. deor. 3,53 (M. Tulli Ciceronis de natura deorum libri, ed. Arthur St. PEASE, Cambridge 1958). 14 Eine kritische Sicht hätten ihm auch christliche Autoren vermitteln können, die die Liste der vervielfältigten Götter diskutieren: Clem. Protre. 28, 1-29; Arnob. 4, 13-15; Lact. in Stat. Theb. 4, 482; Firm. De errore 15-16 u.a. (vgl. PEASE ad Cic. nat. deor, 3, 53). 15 In der Betonung des genealogischen Prinzips und in der Grundanlage der Mythenerzählung entspricht Boccaccios Verfahren dem Hygins; dessen Fabulae bleiben aber weit knapper, auf das Handlungsgerüst konzentriert. Einen Hinweis auf Hygin habe ich bei Boccaccio nur einmal in der Genealogia gefunden (im 8. Buch, p. 412).
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wendet. Als Beispiel sei Kapitel IV des ersten Buches vorgeführt (De Pane secundo Demogorgonis filio): Mit ca. drei Folio-Seiten ist hier dem Gott Pan ungewöhnlich viel Raum gewidmet. Boccaccio setzt ein mit einer Erzählung: Pan habe Cupido gereizt, der ihn mit der Liebe zu einer arkadischen Nymphe gestraft habe; diese aber habe zuvor schon die Satyrn verlacht und sei nun vor Merkur geflohen und, als der Fluss Ladon ihre Flucht behindert habe, in Schilfrohr verwandelt worden. Dieses habe Pan zur Flöte verbunden und als erster darauf gespielt. Als Zeugnis hierfür zitiert Boccaccio Vergil ohne Werk- oder Stellenangabe (Buc. 2, 32f. Pan primus calamos cera coniungere plures / instituit etc.). Damit ist Pan als Begründer der Musik, also als Kulturstifter, eingeführt. Unmittelbar anschließend geht Boccaccio unter Verweis auf Hrabanus Maurus zur mirabilis figura des Gottes über: Nam ut Rabanus in libro De origine rerum ait: Is ante alia fronti habet infixa cornua in celum tendentia, barbam prolixam et in pectus pendulam, et loco pallii pellem distinctam maculis, quam / nebridem vocavere prisci, sic et manu virgam atque septem calamorum fistulam. Preterea inferioribus membris yrsutum atque hyspidum dicit, et pedes habere capreos et, ut addit Virgilius purpuream faciem.
Anschließend erweist Boccaccio Hrabanus als fehlerhaft in seiner Gleichsetzung von Pan und Silvanus, indem er nachweist, wie Vergil zwischen beiden differenziert (Buc. 10, 24-6; Georg. 2, 494). Die bisher angeführten Motive werden nun der Reihe nach der Allegorese unterzogen. Dass Pan Cupido unterliegt, bedeutet die Liebe der Natur zu dem, was sie selbst hervorbringt, ist Pan doch die Schöpfung (natura naturata), die der Liebe zum von ihr Bewirkten unterliegt. In einer auf Theodontius (s.u. S. 66) zurückgeführten Etymologie aus dem Griechischen wird syren (die Syrinx, also die Hirtenflöte) etymologisch als deo cantans erläutert und – hier ist Pythagoras namentlich angeführt – mit der Sphärenmusik gleichgesetzt. Dass die von Merkur verfolgte Nymphe aus Arkadien stamme, bedeute, dass nach Ansicht der Erfinder des Mythos dort die Flöte erfunden worden sei, eine Theorie, die Boccaccio allerdings durch Verweis auf anderslautende Lehren bei Macrobius und Flavius Iosephus in Frage zieht. Dass die Nymphe die Satyrn verspottet, zeige ihre Abneigung gegen rohe unmusikalische Wesen; ihre Flucht vor dem der Musik zugeneigten Pan bedeute dagegen, dass seine Musik einer langen Vorbereitung und Übung (meditatio) bedürfe, ehe sie aus seinem Herzen heraustreten könne; die Mitwirkung des Flusses Ladon verweise darauf, dass aus einem trockenen Instrument kein guter Ton treten könne. Boccaccio geht dann über zur Auslegung von Pans Erscheinungsbild: Seine beiden Hörner verweisen auf die Sterne und symbolisieren unseren doppelten Zugang zu den Himmelskörpern: durch die Wissenschaft (arte scilicet, qua discursus syderum investigantes cognoscimus) und indem wir ihr Wirken in unserem Inneren spüren (sensu quo eorum in nos confusiones sentimus, p. 23). Sein feuriges Antlitz verweist auf das Element des Feuers, das nach Ansicht nicht we-
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niger der Luft verbunden ist16; aus Feuer und Luft sei Iuppiter zusammengesetzt. Pans herabhängender Bart, Symbol der Männlichkeit, meint die virtus activa, die diese beiden Elemente bei der Gestaltung von Erde und Wasser entfalteten17. Das fleckige Fell, das ihn bedeckt, meint die Schönheit der achten Sphäre (octave spere mirabilis pulchritudo crebro stellarum fulgore depicta, p. 24), die Erde und Menschen umhüllt. Merkurs Stab bedeutet die Herrschaft der Natur über die Dinge, besonders über alles, was der ratio entbehre; seine Flöte verweist auf die Sphärenharmonie, seine zottigen Beine auf die unebene Oberfläche der Erde. – Nachdem soweit die Allegorese von der Formel Pan = natura naturata ausgegangen ist, vollzieht Boccaccio nunmehr einen zweiten Durchgang der Auslegung, diesmal ausgehend von der Formel Pan = Sol (Alii vero sensere aliter. Solem scilicet per hanc ymaginem designari, quem rerum patrem dominumque credidere, quos inter fuit Macrobius, p. 24). Auf diese Weise bedeuten die Hörner den Mond, das feuerfarbene Gesicht das Morgen- und Abendrot, der herabhängende Bart die auf die Erde hinabfallenden Sonnenstrahlen, das Fell die aus der Sonne hervorgehende Schönheit des Himmels, der Stab die Herrschaft über den Himmel, die Flöte (wiederum) die von der Sonnenbewegung herrührende Sphärenharmonie (per fistulam celi armoniam a motu solis cognitam etc. prout supra, p. 24). Den Abschluss des Kapitels (p. 25) bilden Erwägungen zu Pans Beinamen Lykaios, der auf zwei Weisen gedeutet wird: Nach Augustinus trage er den Namen, weil sich die Arkader häufig in Wölfe (Wolf: gr. λύκo ς) verwandelten, was nur mit Hilfe einer Gottheit gelingen könne18; nach Macrobius trage er den Beinamen in seiner Eigenschaft als Sonne, da bei Aufgang der Sonne die Wölfe zu fliehen pflegten.19 Der letzte Passus gibt ein Beispiel dafür, dass Boccaccio seine Quellen eher oberflächlich rezipiert: Zwar nennt Macrobius Pan durchaus auch Sol, aber den Beinamen Lykaios, den ja neben Pan auch Apoll trägt, erläutert Macrobius in der angeführten Weise nur an letzterem (I 17, 36): Apollinis Lycii plures accipimus cognominis causas. Antipater Stoicus Lycium Apollinem nuncupatum scribit ἀπὸ τοῦ λευκαίνεσθαι πάντα φωτίζοντος ἡλίου. Cleanthes Lycium Apollinem appellatum notat, quod, veluti lupi pecora rapiunt, ita ipse quoque humorem eripit radiis. (37) Prisci Graecorum primam lucem, quae praecedit solis exortus, λύκην appellaverunt ἀπὸ τοῦ λευκοῦ. Id temporis hodieque λυκόφως cognominant. (38) De quo tempore ita poeta scribit: Ἦμος δ᾽ οὔτ᾽ ἄρ πω 16 Fulgentius spricht Iuppiter das Feuer, Iuno die Luft zu, betont aber beider enge Verbundenheit (Fulg. Myth. cap. 1,3). 17 Zum Übergang von den Elementen Feuer und Luft zu Erde und Wasser vgl. Fulgentius, cap. 1,3. 18 Aug. civ. dei 18, 17: Nec idem propter aliud arbitratur historicus [scil. Varro] in Arcadia tale nomen adfictum Pani Lycaeo et Ioui Lycaeo nisi propter hanc in lupos hominum mutationem, quod eam nisi ui diuina fieri non putarent. 19 Macrob. Sat. I 22, 2: Pan ipse, quem vocant Inuum, sub hoc habitu quo cernitur solem se esse prudentioribus permittit intellegi. Hier mag der Stamm griech. λυχν- (λυχνεύς Fackel, Laterne) eingeflossen sein.
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ἠὼς, ἔτι δ᾽ ἀμφιλύκη νύξ. idem Homerus: Εὒχεο δ᾽ Ἀπόλλωνι Λυκηγενέι κλυτοτόζῳ, quod significat τῷ γεννῶντι τὴν λύκην, id est qui generat exortu suo
lucem: radiorum enim splendor propinquantem solem longe lateque praecedens, atque caliginem paulatim extenuans tenebrarum, parit lucem.
Das Pan-Kapitel ist in vieler Hinsicht exemplarisch: Es vereinigt Material aus ganz unterschiedlichen und weder genau belegten noch ganz korrekt zitierten Quellen, wobei christlichen und antiken Autoren identische Autorität zugemessen wird; so entsteht eine bunte, nicht hierarchisierte und auch weitgehend ohne Wertung dargebotene Fülle von Aspekten: Liebe, Erfindung und Wirken der Götter für die Erde; Sphärenharmonie, Flötenmusik, Beschaffenheit des Kosmos und der Erde, Astrologie. - Christologisches oder Eschatologisches spielt dagegen für die Allegorese keine Rolle; wichtig ist vor allem die im Mythos verborgen angelegte Erklärung zu Natur und Welt. Erkennbar strebt Boccaccio nach einem vollständigen Referat des Mythos in all seinen Aspekten: Beispielsweise werden im Rahmen seiner Quellen und Kenntnisse offensichtlich alle Kultnamen und alle Attribute angeführt, die er in seinen Quellen fand; hier liegt ein deutlicher Unterschied zu Fulgentius, der in den Mythologiae das Mythenreferat gewöhnlich auf diejenigen Angaben beschränkt, die sich zur allegorischen Auslegung anbieten. Den einzelnen Motiven lässt Boccaccio Hinweise auf deren „eigentliche Bedeutung“ und nicht selten die Begründung des Vergöttlichungsglaubens in einem spezifischen Verdienst folgen.20 Dass es eines der Primärziele Boccaccios war, den facettenreich und häufig in widersprüchlichen Varianten tradierten Stoff des griechisch-römischen Göttermythos nicht nur nachzuerzählen und zu deuten, sondern ihn auch im Sinne eines Lehrbuchs bzw. eines einschlägigen Lexikons transparent zu machen, geht aus der äußeren Anlage des Werkes unstrittig hervor. Ähnliche Systematik und Transparenz erstrebte er auch im Gebiet antiker Ortsnamen: Seit ca. 1355/57, 20 Diese rationalistische Erklärung entspricht einem der Argumentationsstränge, die der Stoiker Balbus in Ciceros Schrift De natura deorum für den Vergöttlichungsglauben und die Vielzahl der Götter anführt (nat. deor. 2, 59ff.; hier 62, 24: Suscepit autem vita hominum consuetudoque communis ut beneficiis excellentis viros in caelum fama ac voluntate tollerent, hinc Hercules hinc Castor et Pollux hinc Aesculapius hinc Liber etiam […]; er bezieht sich hier vermutlich auf Euhemeros, der im 3. Jh. v. Chr. die Tradition der “euhemeristischen” Götterdeutung begründete, der zufolge der Götterglaube auf die Anmaßung der Mächtigen selbst oder ihre Verehrung im Volk zurückgeht (vgl. Euhemeros, frg. 1 NÉMETHY [p. 45], überliefert bei Sextus Empiricus, Adv. math. 9, 17). Balbus nennt bei Cicero drei weitere Ursachen: die Vorstellung, auch der Himmel müsse Götter hervorbringen; die Übertragung des Gottesnamens auf das vom Gott Hervorgebrachte (z.B. Wein und Frucht); die Vorstellung, es müsse göttlich sein, was große Kraft in sich trage (z.B. Fides und Mens; vgl. PÉPIN, 125ff.). - Wenn Boccaccio einleitend bemerkt, (Gen. 1 p. 2), die Vergöttlichungen entsprängen dem Wahn der Menschen, von Göttern abstammen zu wollen, wird seine christlich korrekte Distanz zu solchen Apotheosen deutlich; innerhalb der Mythenreferate wird der Kult aber eher kritiklos auf Leistung und Verdienst zurückgeführt.
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also etwa gleichzeitig mit der Genealogia, arbeitete er an einem Katalog der geographischen Bezeichnungen der Antike; mit einiger Zuversicht lässt sich vermuten, dass ihm die Lektüre der antiken Autoren zur gleichen Zeit das Material für beide Sammelwerke bot.21 Boccaccio hat, wie seinen eigenen Angaben zu entnehmen ist, zahlreiche antike, mittelalterliche und zeitgenössische Quellen berücksichtigt. Vieles wird er aus zweiter Hand rezipiert haben;22 auf jeden Fall hatte er aber in Neapel in der Bibliothek von Castelnuovo und in Florenz in der Bibliothek von Santo Spirito Zugang zu mehr Quellen als alle Mythographen vor ihm.23 Und für die griechischen Texte standen ihm zudem seine Zeitgenossen Barlaam und Leonzius Pilatus (auf dessen verwildertes Aussehen und unkultiviertes Betragen er in aller Freundschaft hinweist24) zur Seite. Als eine seiner Hauptquellen nennt er in Gen. 15, p. 761 sq. eine schon zu seinen Lebzeiten verlorene Schrift, nämlich ein Werk des Paolo da Perugia, eines Bibliothekars Roberts von Neapel. Diese Schrift, mit dem Titel Collectiones,25 habe u.a. die antiken Götter thematisiert und auf umfangreichen Studien der griechischen und lateinischen Literatur (erstere erschlossen durch die Hilfe Barlaams, mit dem Paolo in Freundschaft verbunden gewesen sei) und ganz besonders auf dem Werk eines gewissen Theodontius beruht. Sie sei aber nach dem Tod des Autors durch die Schuld seiner Ehefrau Biella vernichtet worden – zum großen Schaden für Boccaccios Mythensammlung. Über den Einfluss der Collectiones auf die Genealogia gibt Boccaccio selbst Aufschluss: Beim Studium des
21 Wie sehr der Bildungseifer und auch der Stolz über die umfänglichen zusammengetragenen Materialien Boccaccios Darstellung prägt, lässt sich nicht zuletzt an Exkursen ablesen, die nicht unmittelbar zum Thema gehören, aber doch Stoff weiterreichen, der dem Autor bei seinen Recherchen zuwuchs. So nutzt er etwa das Kapitel zum Tag, der 20. Tochter des Erebos und der Nacht, um unter Berufung auf Macrobius die römische Tageseinteilung von der prima hora über meridies und vespera bis zur nox intempesta darzulegen (gen. 1 p. 64). 22 Sein Anspruch allerdings war der Rückgriff auf die frühen Quellen: Insipidum est ex rivulis quaerere quod possis ex fonte percipere (Gen. 15, p. 765); vgl. ZACCARIA, 94. 23 Vgl. ZACCARIA, 95. 24 Gen. 15, p. 762: Qui quidem aspectu horridus homo est, turpi facie, barba prolixa et capillicio nigro, et meditatione occupatus assidua, moribus incultus, nec satis urbanus homo, verum, uti experientia notum fecit licterarum Grecarum doctissimus, et quodam modo Grecarum hystoriarum atque fabularum arcivum inexhaustum, esto Latinarum non satis adhuc instructus sit. Huius ego nullum vidi opus, sane quicquid ex eo recito, ab eo viva voce referente percepi; nam eum legentem Homerum et mecum singulari amicitia conversantem fere tribus annis audivi, nec infinitis ab eo recitatis, urgente etiam alia cura animum acrior, suffecisset memoria, ni cedulis conmendassem. 25 Vgl. auch Gen. 1 p. 30.
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Textes habe er Exzerpte und Notizen verfasst, und zwar ganz besonders von den Passagen, die auf Theodontius zurückgingen.26 Auf diesen Theodontius beruft sich Boccaccio vom ersten Buch an mit großer Häufigkeit; er setzt ihn offensichtlich als bekannt voraus. Allerdings ist ein mythographisches Werk dieses Namens oder Autors weder vor noch nach Boccaccio (und unabhängig von ihm) bezeugt; Lilius Gregorius Gyraldus, der ca. 150 Jahre nach Boccaccio seine Historiae deorum gentilium verfasst, bestreitet implicite, ihn zu kennen.27 Man darf angesichts von Boccaccios eigener Aussage, er habe aus Paolo vorzugsweise das notiert, was auf Theodontius zurückging, mit einiger Sicherheit voraussetzen, dass seine Kenntnis des Theodontius allein von Paolo da Perugia abhing. In dem von Teresa Hankey Paolo zugeschriebenen Text aus einer Neapolitaner Sammelhandschrift für Johanna von Neapel ist Theodontius häufiger erwähnt; genaueren Aufschluss über ihn gibt aber auch dieser Text nicht.28 Ob er der Antike angehört oder einer jüngeren Zeit (Boccaccio vermutet, er sei ein novus homo)29, ob Paolo da Perugia ihn seinerseits aus zweiter Hand rezipierte, selbst las oder gar erfand, ist nicht mit Sicherheit30 zu klären; dass Boccaccio ihn 26 Gen. 15, p. 761 sq.: Hic ingentem scripsit librum, quem Collectionum titulaverat, in quo inter cetera, que multa erant et ad varia spectantia, quicquid de diis gentilium non solum apud Latinos, sed etiam apud Grecos inveniri potest, adiutorio Barlae arbitror collegisse. Nec dixisse verebor, ego iuvenculus adhuc, longe antequam tu in hoc opus animum meum traheres, ex illo multa avidus potius quam intelligens sumpsi, et potissime ea omnia, que sub nomine Theodontii apposita sunt. Quem librum maximo huius operis incomodo, Bielle, umpudice [sic] coniugis, crimine, eo defuncto, cum pluribus aliis ex libris eiusdem deperditum comperi. 27 Er erwähnt ihn nirgends, leugnet aber strikt, für den bei Boccaccio unter dezidierter Berufung auf Theodontius zum Urgott erhobenen Demogorgon eine andere Quelle als Lactantium, seu Lutatium grammaticum (gemeint ist der Lactantius Placidus wohl fälschlich zugeschriebene Kommentar zu Statius, Thebais 4, 500-518) gefunden zu haben: nam quos caeteros citat, non minus mihi ignoti, quam ipse est Demogorgon. – Bei Ps.-Lactanz handelt es sich womöglich um eine Verschreibung, vielleicht zu δημιουργός, die aber im Lucan-Kommentar der Scholia Bernensia weitertradiert und so zum Bestandteil mittelalterlichen Mythenwissens wurde. 28 Auf Paolo führt Teresa HANKEY die ersten 5 Folio-Seiten zurück, die die Handschrift von 1374 eröffnen (vgl. T. HANKEY, Un nuovo codice delle Genealogie Deorum di Paolo da Perugia (e tre Manualetti contemporanei), in: Studi sul Boccaccio, 18, 1989, 65-161; sie untersucht den Text auch im Vergleich mit Boccaccio, hält ihn aber nicht für einen Teil der Collectiones, sondern für eine weitere Schrift Paolos. Eng berührt sich mit dieser Schrift ein Text aus Boccaccios Zibaldone magliabechiano mit dem Titel Genealogia tam hominum quam deorum; JOCELYN hält ihn für die Abschrift eines Werkes von Paolo (vgl. Henry David JOCELYN, The Sources of Boccaccio`s Genealogie Deorum Gentilium Libri and the Myths about early Italy, in: Luisa ROTONDI SECCHI TARUGI, Il mito nel Rinascimento. Atti del III Convegno Internazionale di Studi Umanistici, Milano 1993, 726, 15). 29 Gen. 1, p. 11: Theodontius vero, ut arbitror, novus homo sed talium investigator […] 30 Zu Domenico Bandinis Erwähnung eines Teodontius Campanus diligens investigator poetici figmenti s. JOCELYN, 18; sein Hinweis beruht auf Boccaccio.
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erfunden hat, halte ich für ausgeschlossen; zu selbstverständlich und geläufig sind seine Berufungen auf diese Autorität, zu groß ist insgesamt sein Eifer, ein umfänglich belegtes wissenschaftlich tragfähiges Werk hervorzubringen. Es ist ein durchaus ambivalentes Bild der antiken Götter, das Boccaccios Genealogia vermittelt. Diese Ambivalenz resultiert, wie kaum anders zu erwarten, aus dem Konflikt zwischen Antikebegeisterung und christlicher Bindung. Die Lösung findet der Autor in verschiedenen Strategien: Manchmal distanziert er sich mit mehr oder weniger deutlicher Ironie von den „Absurditäten“ des referierten Mythos; häufig rechtfertigt er den Mythos mittels der Theorie vom mehrfachen Schriftsinn, wobei er die unterschiedlichsten und nicht selten widersprüchlichen Allegoresen mit großer Naivität wiedergibt;31 gelegentlich vereinnahmt er die paganen Schriftsteller im Sinne der prisca religio für christliche Inspiration und damit für ein christliches Gottesbild. Alle drei Muster finden sich bereits im Einsatz des Textes, wenn Boccaccio sich grundsätzlich mit dem heidnischen Polytheismus auseinandersetzt. Seinem eigenen programmatisch vorangestellten monotheistischen Credo lässt er die These folgen, jede Theologie bezeuge in ihrem Ursprung die Lehre von dem einen Gott und Vater; als er, der Autor, nämlich einen Ausgangspunkt für seine Darstellung gesucht und alle Religionen durchmustert habe, da habe er erkannt, dass Menschen verschiedenster Religionen sich auf einen wahren und unsichtbaren allmächtigen Gott, ohne Anfang und Ende, Vater und Schöpfer der sichtbaren und unsichtbaren Dinge, beriefen: surgentesque extemplo plurimos vidi nec unius tantum religionis homines cuiuscunque tamen veritatis fidedignissimos testes, gravitate asserentes sua deum unicum esse quem nemo vidit unquam et hunc verum esse principio fineque carentem, potentem omnia, rerum patrem atque creatorem tam patentium quam non patentium nobis. Quod cum optime crederem et ab ipsis puerilibus annis crediderim, semper cepi mente revolvere veterum quam plurium circa hunc varias atque diversas opiniones (p. 10).
Dass aus diesem ursprünglichen Monotheismus der pagane Polytheismus entstehen konnte, führt Boccaccio auf einen logischen Fehler der frühen Weisen zu31 Kritisches zur (stoischen) Mythenallegorese konnte Boccaccio z.B. finden bei Cicero nat. deor. 1, 41 (über Chrysipps Buch De natura deorum): […] in secundo autem volt Orphei, Musaei, Hesiodi, Homerique fabellas accommodare ad ea quae ipse primo libro de deis inmortalibus dixerit, ut etiam veterrimi poetae, qui haec ne suspicati quidem sint, Stoici fuisse videantur. Auch christliche Quellen distanzierten sich von der Allegorese; vgl. Lactanz Inst. 1, 11, 48, der Cicero zitiert, und Arnobius, Adv. gentes 4, 15 und 5, 33, der dezidiert moniert, dass die Göttermythen, selbst wenn sie allegorisch gedeutet werden, noch Falsches von den Göttern aussagen und dass die allegorischen Auslegungen nicht von den Verfassern der Mythen autorisiert seien (vgl. PÉPIN, 405f., und DEMATS, 46). Eine solche grundsätzlich allegorie-feindliche Haltung ist für Boccaccio aber schon insofern inopportun, als er aus dem allegorisch verhüllten sensus der Mythenerzählung die Apologetik der paganen Dichtung gewinnt.
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rück: die Vertauschung von Schöpfer und Schöpfung. Bei der Suche nach dem Urprinzip seien nämlich Philosophen wie Dichter dem Irrtum erlegen, die von ihnen unterschiedlich definierten primae causae der Dinge mit den dei primi gleichzusetzen: Visumque michi est hoc idem fere ipsos credere gentiles, sed eos decipi dum creature creatoris attribuunt dignitatem nec omnes uni sed diversi diversis conantur impendere. Cui errori causam intulisse phylosophantes et diversimode sentientes existimo, dum ostenderent prisce ruditati et post eos poete, quos primos theologizantes Aristotiles dicit, secundum suas credulitates eos esse deos primos quos ipsi arbitrabantur rerum primas fuisse causas (p. 10).
So sei es gekommen, dass die Völker- und Glaubensgemeinschaften jeweils an unterschiedliche Götter geglaubt hätten, eine jede aber den ihrigen für den wahren und ersten und einzigen gehalten und ihn zum Vater und Herrn der übrigen erklärt habe: Et hinc, si plures et diversimode opinantes fuere, de necessitate secutum est ut plures et diversos deos diverse haberent nationes vel secte, quarum unaqueque suum existimavit verum et primum et unicum esse deum aliorum patrem et dominum (p. 10 sq.).
Boccaccios Theorie zum Ursprung des Polytheismus verfolgt zwei Ziele: Sie sucht nachzuweisen, dass der Glaube an einen einzigen Gott grundlegend für alle frühen religiösen bzw. philosophischen Richtungen ist; damit wird der Monotheismus zur primären und allen späteren paganen Götterdynastien vorangehenden „Wahrheit“. – Die Vervielfältigung der Götter führt Boccaccio auf Vermittlungsprobleme dieser Wahrheit angesichts der prisca ruditas und auf der Menge gegenüber bewusst eingebrachte poetische Verschleierungen zurück; damit ist die Lehre vorbereitet, dass die Wahrheit einer unkundigen Masse nur in Verhüllung und dichterischer Ummäntelung vermittelt werden kann. Dass der Autor selbst zu den Kundigen gehört, die solche Verschleierungen durchschauen, vermittelt er mittels eines ironischen Kommentars: Die solcherart vervielfältigte Schar der heidnischen Götter bezeichnet er als monstrum mit weit mehr Köpfen, als der Kerberos sie habe. Bürgen seiner Theorie sind ihm die Philosophen, vor allem die Vorsokratiker, und ihre Bestimmung eines Grundstoffes der Welt. Thales, Anaximenes und Chrysipp, zu einer leibhaftigen Begegnung mit dem Autor herbeschworen, dürfen selbst ihren jeweiligen Urstoff – Wasser, Luft und Feuer – benennen. Wenn dann die Lehre eines gewissen Alkinoos von Kroton – gemeint ist Alkmaion von Kroton (6./5. Jh. v. Chr.; Boccaccio dürfte hier aus Cicero, De natura deorum 1, 11, 27 schöpfen)32 – referiert wird, Sonne, Mond und Sterne seien zusammen
32 Der ganze Passus steht unter dem Einfluss von Cicero, nat. deor. 1,25 ff; auch Cicero führt Alkmaion im Kontext einer Übersicht über Theorien zum primum initium an, genau genommen sagt er aber über ihn nur, dass er den Himmelskörpern und ebenso der menschlichen Seele (animus) Unsterblichkeit zugesprochen habe. Bei Cicero ist Alkmaion
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mit dem ganzen Himmel Schöpfer (fabri) der Welt, greift der Autor erneut zur Ironie als Mittel der Distanzierung von solcher Lehre: O liberalis homo, quam uni tantum elemento ceteri dederant, hic omnibus supercelestium corporibus deitatem largitus est (p. 11).
Dass, wie Boccaccio anschließend anführt, Macrobius nur die Sonne,33 der geheimnisvolle Theodontius allein die mit göttlichem Geist beseelte Erde als Schöpfergott ansah34, klingt nun wie eine (freilich immer noch von der christlichen Wahrheit abweichende) Rückkehr zu vernünftigem Maß. In einem zweiten Schritt seiner Suche nach dem „Ur-Gott“ ersetzt Boccaccio nun die Urstoffe durch die Namen, die sie von den Dichtern erhielten: Das Wasser ist Oceanus, der Himmel Celius oder Celum, Feuer und Luft Iuppiter. Für all diese, ebenso wie für Sol, habe er in den Quellen teils mehrere Väter benannt gefunden, so dass sie nicht am Anfang der Götter-Genealogie stehen könnten (p. 11 sq.). Porro ut de reliquis taceamus, poete qui Thaletis opinionem secuti sunt, aque elementum Occeanum vocavere et rerum omnium hominum atque deorum dixere patrem, et ab eodem genealogie deorum dedere principium. Quod et nos fecisse poteramus nisi invenissemus secundum quosdam Occeanum filium fuissi Celi. […] Sic et qui Macrobium primoresque suos Soli genealogie concessere primatum. Quem multos habuisse parentes ipsi testantur poete, nunc illi Iovem patrem, nunc Yperionem, nunc Vulcanum attribuentes. Qui autem terram rerum omnium productricem voluere, ut Theodontius dicit, inmixtam illi divinam mentem Demogorgonem nuncupavere. Quem profecto ego deorum gentilium omnium patrem principiumque existimo, cum neminem illi secundum poeticas fictiones patrem fuisse compererim; et cum Etheris non tantum patrem, sed avum extitisse legerim, et deorum aliorum plurium, ex quibus hi orti sunt, de quibus supra mentio facta est.
Die Logik dieser Deduktion ist äußerst prekär: Boccaccio begründet zunächst ein ursprüngliches menschliches Bewusstsein von der Existenz des e i n e n Gottes mittels der ein einziges Schöpfungsprinzip postulierenden Philosophen. In der Divergenz dieser Theorien erkennt er „rezeptionsgeschichtlich“ den Ursprung eines polytheistischen Weltbildes. Im Rekurs auf die rhetorischen Konventionen der Dichter weist er nun auf, das keine der dichterischen Metonymien der von der jeweiligen philosophischen Schule aufgestellten Theorie gerecht wird. Als logische Folge ergibt sich daraus die philosophische Unzulänglichkeit der Metonach Thales, Anaximander, Anaximenes und Anaxagoras genannt; diese Reihe erscheint bei Boccaccio gekürzt und variiert. 33 Die in Macrobius’ Saturnalien eingeschlagene Strategie, alle Götter mit Sol zu identifizieren (vgl. Macr. Sat. 1,20,6), fand Boccaccio sichtlich interessant und brauchbar; er verweist wiederholt darauf. 34 Gen. 1, p. 12: Theodontius vero, ut arbitror, novus homo sed talium investigator precipuus neminem nominando respondit: Vetustissimorum Arcadum fuisse opinionem terram rerum omnium esse causam, eique, ut de aqua dicit Thales, mentem inesse divinam existimantes, crediderunt eius opere omnia fuisse producta atque creata.
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nymien; stattdessen erklärt Boccaccio auf Grund des Widerspruchs zwischen Philosophie und Dichtung die Philosophie für widerlegt und lässt allein Demogorgon, für den er kein Metonym und keinen Vater gefunden hat, als Ur-Vater gelten. Diese Überleitung von der Theorie eines ursprünglichen Monotheismus zur Genealogie Demorgorgons ist so brüchig, dass man kaum annehmen kann, Boccaccio habe sie ganz ernst gemeint. Der Passus ist offensichtlich der Strategie verpflichtet, von einem die eigene Festigkeit im Glauben beschwörenden Bekenntnis möglichst rasch zur bunten Welt des Mythos überzuleiten. Er dokumentiert zugleich Boccaccios Desinteresse an der Philosophie an sich. Dazu passt, dass Boccaccio zwischen Philosophen, Theologen und Dichtern keinerlei Unterscheidung trifft: Im bunten terminologischen Wechsel begegnen theologizantes, poetae, philosophi – allesamt als Begründer des antiken Göttermythos. Demogorgon ist der einzige „Ur-Gott“, zu dem Boccaccio keinen Vater gefunden hat. Das ist kein Wunder, denn Demogorgon kommt in eigentlich mythographischen Quellen der Antike überhaupt nicht vor; seine Geburt scheint der Verschreibung eines Scholiasten des späten vierten Jahrhunderts zu danken zu sein, von wo er Eingang in die mythographische Literatur fand; Boccaccio hat ihn bei Theodontius gefunden. Es ist gerade diese mythographische Leere, die Demogorgon als Ur-Gott so passend macht: Er ist kaum mehr als ein Begriff und insofern flexibel für ein Gottesbild, das zwischen paganem Mythos und christlichem Glauben interferiert.35 Die Aufdeckung des mehrfachen Textsinns stellt – als Nachweis einer vielfältigen Heilsamkeit des paganen Mythos für den christlichen Leser – die zentrale apologetische Strategie der Genealogia dar. Boccaccios Verfahren der Rezeption, Imitation und Transformation, das verschiedenartige Praetexte kontaminiert und variiert, tritt hier besonders klar hervor. Zunächst konstatiert er die Unmöglichkeit, allein auf Grund der antiken Quellen selbst sein Ziel zu erreichen: Was kluge Männer unter der lächerlichen Rinde der Fabeln verborgen hätten, könne nur ein Theologe aufdecken, stellt er fest, und beruft sich dabei auf Varros Lehre von der theologia tripartita (Gen. 1 p. 4).36 Wenig später spitzt er den Bescheidenheits35 Dass er nicht mit dem christlichen Gott gleichzusetzen ist, macht Boccaccio ganz deutlich: Er nennt ihn non rerum patrem sed deorum gentilium. (p. 12). 36 Gen. 1, p. 4: Sane circa huiusmodi explicationes longe plus quam putes difficultatis et theologi hominis labor est, nam, dato, iuxta Varronis sententiam, ubi de divinis et humanis rebus multa descripsit, genus hoc theologie sit, quod mithicon seu, ut aliis placet et forte melius, physicon dicitur, et si plurimum ridende falsitatis habeat, multum tamen ad illam eliciendam artis exquirit. Ähnlich Pico della Mirandola, Oratio de dignitate hominis, 45, 286: Sed (qui erat veterum mos theologorum) ita Orpheus suorum dogmatum mysteria fabularum intexit involucris et poetico velamento dissimulavit, ut si quis legat illius hymnos, nihil subesse credat praeter fabellas nugasque meracissimas. (287) Quod volui dixisse ut cognoscatur quis mihi labor quae fuerit difficultas, ex affectatis enigmatum syrpis, ex fabularum latebris latitantes eruere secretae philosophiae sensus, nulla praesertim in re tam gravi tam abscondita inexplorataque adiuto aliorum interpretum opera et diligentia.
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topos noch weiter zu: Aufdecken zu können, was die antiqui gedacht und gemeint hätten, sei nicht menschlich, sondern göttlich.37 Deutlich relativiert wird der Bescheidenheitstopos dann aber in der conclusio des Werkes, wenn Boccaccio sich zur partiellen Eigenständigkeit im Feld der Exegese bekennt: Dem Auftrag des Königs folgend und nach Maßgabe seiner Verstandeskräfte habe er nicht nur die Erfindungen der Mythen dargelegt, sondern auch ihre Bedeutungen dargestellt, „entweder von den Alten übernommen, oder aus meinem schwachen Verstand ausgeschneuzt“: […] et iuxta mandatum tue serenitatis pro viribus ingenii mei post fabulas fictionum sensus, seu ab antiquis sumptos, seu a tenui intellectum [sic!] meo emunctos, apposui (Gen. 15, p. 784).
Die Existenz eines „verborgenen Sinns“ vertritt Boccaccio dann in enger Anlehnung an Macrobius’ Erörterungen zum Wesen der fabula. Im Kommentar zum Somnium Scipionis differenziert der Neuplatoniker zwischen verschiedenen Formen der fabula (Somn. Scip. 1,2,7ff.): Die nur zur Ergötzung der Ohren verfasste verbannt er zu den Wiegen der Ammen (1,2,8: hoc totum fabularum genus quod solus aurium delicias profitetur, e sacrario suo in nutricum cunas sapientiae tractatus eliminat). Unter den fabulae, die den Geist des Lesers zu irgendeiner Form der Tugenden ermahnen (ad quandam virtutum speciem intellectum legentis hortantur), unterscheidet er zwischen dem Typos aesopischer Fabeln, deren Stoff auf bloßer Erfindung beruht (argumentum ex ficto locatur, 1,2,9), und den eigentlichen Wahrheiten z.B. der orphischen oder hesiodischen Lehren, wo der Stoff in der festen Wahrheit begründet ist, diese Wahrheit aber durch Erfundenes vorgetragen wird (argumentum quidem fundatur veri soliditate sed haec ipsa veritas per quaedam composita et ficta profertur. 1,2,9). Vor allem diese Form der fabula billigt Macrobius in der Philosophie, wenn sie keinen Anstoß erregt – also beispielsweise nicht von der Entmannung des Kronos durch Saturn erzählt (1,2,11f.),38 und wenn sie sich nicht an die tiefsten Wahrheiten von Gott und der Vernunftseele (animus) heranwagt (1,2,13ff.).39 Die Mythen über die übrigen 37 Gen. 1, p. 8: Quis enim tempestate nostra antiquorum queat terebrare pectora et mentes excutere, in vitam aliam iam diu a mortali segregatas, et, quos habuere, sensus edicere? Esset edepol divinum potius quam humanum! 38 Der Neuplatoniker Proklos, In remp. II, p. 106, 23-26 KROLL, führt diesen Gedanken auf Platon zurück: Platon habe nicht die ganze Mythologie verdammt, sondern nur die, die sich mit hässlichen Dingen abgebe. 39 Zu Macrobius’ Definition und Einteilung der fabulae vgl. Ekkehart SYSKA, Studien zur Theologie im ersten Buch der Saturnalien des Ambrosius Macrobius, Beiträge zur Altertumskunde 44, Stuttgart 1999, 4ff.; PÉPIN, 210ff.; A. SETAIOLI, L`esegesi omerica nel commento di Macrobio al „Somnium Scipionis“, in: SIFC XXXVIII, 1966, 154-198, hier 159 u. n. 4; Luigi SCARPA, Commentariorum in somnium Scipionis libri dui. Introduzione, Texto. Traduzione e note, Padova 1981, 373 (ad. 1,2,6). SETAIOLI führt aus, Plotin habe nicht daran geglaubt, dass die Dichter Homer und Hesiod unter der Hülle der Mythen Wahrheiten verbergen; er bediene sich zwar der von ihnen gebotenen Bilder, gebe aber keine Auslegungen zu Homer und Hesiod (165); vgl. auch Clemens ZINTZEN,
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Götter und über anima (als niederer Seelenteil) sind dagegen gerechtfertigt durch den Wunsch der Natur, ihre Geheimnisse den homines vulgares nur unter dem Schleier der Dichtung zu vermitteln; der Natur sei ja eine Bloßlegung zuwider, und wie sie den Sinnen der ungebildeten Menschen die Erkenntnis ihres Wesens durch die verschiedenartigen Verhüllungen der Dinge entzogen habe, so wolle sie auch, dass die Weisen ihre Geheimnisse nur mittels des Mythos behandeln; nur den allerbesten Männern zeige sie sich, die mittels der Weisheit der geheimen Wahrheit kundig seien; die übrigen mögen zufrieden sein mit der Verehrung (scil. der Mysterien), da die Symbole das Geheime vor der Entweihung bewahren (1,2, 17-18). De dis autem […] ceteris, et de anima non frustra se, nec ut oblectent ad fabulosa convertunt, sed quia sciunt inimicam esse nature apertam undique expositionem sui, que sicut vulgaribus hominum sensibus intellectum sui vario rerum tegmine operimento subtraxit, ita a prudentibus arcana sua voluit per fabulosa tractari. Sic ipsa misteria fabularum cuniculis operiuntur, ne vel hoc adeptis nudam rerum talium natura se prebeat, sed summatibus tantum viris sapientia interprete veri archani consciis, contenti sint reliqui ad venerationem, figuris defendentibus a vilitate secretum.
Boccaccio zitiert Macrobius Wort für Wort bis contenti sunt40 reliqui und markiert die Zitatgrenze mit der Wendung: Hec Macrobius. Er fährt dann fort mit einer Erläuterung des mehrfachen Schriftsinns (p. 19): Hec Macrobius, quibus etsi multo plura dici possent, satis responsum arbitror exquirentibus41. Insuper, rex precipue, sciendum est his fictionibus non esse tantum unicum intellectum, quin imo dici potest potius polisenum, hoc est moltiplicium sensum. Nam sensus primus habetur per corticem, et hic licteralis vocatus est; alii per significata per corticem, et hi allegorici nuncupantur. Et ut quid velim facilius assummatur, ponemus exemplum. Perseus Iovis filius figmento poetico occidit Gorgonem, et victor evolavit in ethera. Hoc dum legitur per licteram hystorialis sensus prestatur. Si moralis ex hac lictera queritur intellectus, victoria ostenditur prudentis in vicium, et ad virtutem accessio. Allegorice autem si velimus assummere, pie mentis spretis mundanis deliciis ad celestia elevatio designatur. Preterea posset et anagogice dici per fabulam Christi ascensum ad patrem mundi principe superato figurari. Qui tamen sensus etsi variis nuncupentur nominibus, possunt tamen omnes allegorici appellari, quod ut plurimum fit. Nam allegoria dicitur ab allon, quod alienum la-
in: Athen – Rom – Florenz. Ausgewählte kleine Schriften, hrsg. v. D. GALL/P. RIEMER, Hannover 2000, 286 Anm. 8. 40 Da ich die Handschrift nicht eingesehen habe, kann ich über die Abweichung (sunt statt sint, wie bei Macrobius) kein Urteil treffen. Allerdings mag auch Boccaccios MacrobiusText die Lesart sunt gehabt haben, vgl. WILLIS, app. crit. (Ambrosii Theodosii Macrobii commentarii in Somnium Scipionis, ed. Iacobus WILLIS, Stuttgart 1970). 41 Vgl. die Einleitung des Macrobiuszitats, Gen. 1, p. 18: prius respondendum est persepe dicentibus, quid poete dei opera vel nature vel hominum hoc sub fabularum velamine tradidere?
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tine significat, sive diversum, et ideo quot diversi ab hystoriali seu licterali sint sensu, allegorici possunt, ut dictum est, merito vocitari.
Die hier etwas umständlich entfaltete Differenzierung zwischen verschiedenen Sinnebenen (sensus) ist natürlich ebenso wenig Boccaccios Erfindung wie die vorangehende Rechtfertigung der figmenta in der Dichtung; die Quelle ist hier Dantes Brief an Cangrande,42 und Boccaccio rezipiert ihn unter Austausch des Beispiels: Wo Dante sich eines Exempels aus dem Alten Testament (Auszug der Israeliten aus Ägypten) bedient, um dem Briefempfänger die Sinnvielfalt seines christlich geprägten Werkes, der Comedia, zu verdeutlichen, da benutzt Boccaccio, wie es im Kontext der Genealogia nur stimmig ist, ein Beispiel aus dem paganen Mythos. Im Kontext der Erläuterungen zur fabula, gleich im Anschluss an den oben zitierten Passus, referiert Macrobius den Traum des Platonikers Numenius von Apameia, dem die Göttinnen von Eleusis erschienen, wie sie sich im Aufzug von Dirnen vor einem offenen Bordell feilboten; auf seine Frage nach der Ursache solch unwürdigen Verhaltens musste der Philosoph den Vorwurf hinnehmen, von ihm selbst, dem Exegeten ihrer Mysterien, seien sie aus dem Tempel ihrer Keuschheit gewaltsam hervorgezogen und der Masse feilgeboten worden (Somn. Scip. 1, 19).43 Numenio denique, inter philosophos occultorum curiosiori, offensam numinum, quod Eleusinia sacra interpretando vulgaverit, somnia prodiderunt, viso sibi ipsas Eleusinias deas habitu meretricio ante apertum lupanar videre prostantes, admiranti-
42 Vgl. Jean PEPIN, Dante et la tradition de l’allégorie, Monréal/Paris 1970 (Conférence Albert-le-Grand 1969), 68. - Dante, Epistula ad Cangrande 7: sciendum est quod istius operis non est simplex sensus, immo dici potest polysemos, hoc est plurium sensuum; nam primus sensus est qui habetur per literam, alius est qui habetur per significata per literam. Et primus dicitur literalis, secundus vero allegoricus, sive moralis, sive anagogicus. Qui modus tractandi, ut melius pateat, potest considerari in his versibus: "In exitu Israel de Aegypto, domus Iacob de populo barbaro, facta est Iudaea sanctificatio eius, Israel potestas eius." Nam si ad literam solam inspiciemus, significatur nobis exitus filiorum Israel de Aegypto, tempore Moysi; si ad allegoriam, nobis significatur nostra redemptio facta per Christum; si ad moralem sensum, significatur nobis conversio animae de luctu et miseria peccati ad statum gratiae; si ad anagogicum, significatur exitus animae sanctae ab huius corruptionis servitute ad aeternae gloriae libertatem. Et quamquam isti sensus mystici variis appellentur nominibus, generaliter omnes dici possunt allegorici, quum sint a literali sive historiali diversi. Nam allegoria dicitur ab ‘alleon’ graece, quod in latinum dicitur alienum, sive diversum. 43 Dieser dem mittleren Platonismus zuzurechnende Philosoph des 2. Jahrhunderts n. Chr. hatte sich durch allegorische Auslegungen u.a. der platonischen Schriften hervorgetan; so ist für ihn nicht nur die Interpretation der eleusinischen Mysterien durch Macrobius bezeugt (Num. frg. 39 LEEMANN), er soll auch allegorische Auslegungen des AtlantisMythos aus Platons Timaios (bezeugt bei Proklos, In Tim. 1, 77, 3ff.) und des ErMythos aus Platons Politeia (bezeugt bei Proklos, In remp. 2, 96, 11) verfasst haben; vgl. Matthias BALTES, Numenios von Apamea und der platonische Timaios, in: DERS., Dianoemata. Kleine Schriften zu Platon und zum Platonismus, Stuttgart 1999, 1-32.
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que et causas non convenientis numinibus turpitudinis consulenti respondisse iratas ab ipso se de adyto pudicitiae suae vi abstractas et passim adeuntibus prostitutas.
Auf diesen Passus rekurriert Boccaccio im Einsatz von Buch 3 der Genealogia. Hier sieht sich der „Erzähler“ nach langem Sturm an die attische Küste verschlagen,44 wo ihm Numenius entgegentritt und ihn fragt: Quid labore tuo numina ledis, ubi quiete illis poteras placuisse?
Numenius referiert nun auch bei Boccaccio seinen Traum – freilich weit dramatischer als bei Macrobius – und erklärt, durch diesen Traum zur Diskretion bekehrt worden zu sein; um nicht noch größeren Zorn der Göttinnen auf sich zu ziehen, habe er von seinen Allegoresen abgelassen (Gen. 3, p. 118): Ego autem, et si somno plurimo marcerem, non aliter quam vigilans intellexi indignantes illico, et cognovi dormiens, quod vigilando non videram, sacra scilicet misteria paucorum esse debere; et extemplo a ceptis destiti, ne indignationem acriorem incurrerem.
An diesem Punkt bricht Boccaccio gänzlich aus der Macrobius-Nachfolge aus. Erbittert hält er Numenius entgegen, er sei von Schwefelgestank und höllischer Dunkelheit geschwärzt, dass er einem Christen Furcht vor den heidnischen Göttern einflößen wolle. Die Macht der alten Götter sei gebrochen, dennoch dringe er, der Autor, nicht in die Schlafgemächer der Götter ein, um ihre Verlockungen aus größerer Nähe zu sehen, sondern damit einsichtig werde, dass die Dichter, wenn sie in rechter Weise über Gott geurteilt hätten, berühmte und wegen ihres wundersamen Kunstwerks verehrungswürdige Menschen gewesen wären: Quibus te ab oris, queso, Numeni, hos inter scopulos evehis? Ab Inferis arbitror, odore enim sulphureo cuncta reples, et es inferna caligine fuscus. Et hec veteris et infausti Plutonis mandata sint credo, quasi christiano homini, uti iamdudum gentilibus consueverat, talibus timorem putet incutere. Ille quidem veteres cecidere cathene, et arma hostis antiqui contrita sunt; vicimus precioso redempti sanguine, et in eo renati lotique, suas decipolas non curamus. Attamen ego dearum tuarum non resero thalamos, nec deorum tuorum secessus aperio, quasi velim illecebras eorum magis ex propinquo conspicere, sed ut appareat poetas, si bene de deo sensissent, homines fuisse preclaros et ob mirabile artificium venerandos; […].
Die erbitterte Beschimpfung, die Numenius bei Boccaccio erfährt, tut dem für seine allegorischen Auslegungen bekannten Philosophen aber sicher Unrecht. Der Traum des Numenius verweist bei Macrobius auf die Grenzen der Allegorese, die vor den tiefsten Wahrheiten Scheu wahren soll. Bei Boccaccio wird Numenius dagegen zum Vertreter einer dichtungs- und wissensfeindlichen Haltung, die zwar in der Invektive als heidnisch-plutonisch gescholten wird, tatsächlich
44 Gen. 3, p. 117: Sulcanti michi exiguo cortice errorum vetustatis salum et ecce inter aspreta scopulorum et frequentia freta grandevus senex, Numenius phylosophus, vir quidem suo seculo autoritatis inclite, se obtulit obvium, et placida satis voce sermoneque composito inquit: […]
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aber den Auseinandersetzungen mit den christlichen Gegnern der Dichtung in Buch 15 der Genealogia präludiert. Indem Boccaccio Numenius zum Gegner der Mythenallegorese macht, kann er auch die christliche dichtungsfeindliche Einstellung als „Werk Plutos“, d.h. als Haltung einer dunklen, unerlösten Zeit darstellen. Die Freiheit seiner eigenen literarischen und exegetischen Tätigkeit begründet er dagegen gerade in der christlichen Erlösung, die ihn vor unheilvollen Folgen seines Studiums schütze. Damit ist nicht nur eine neue Bastion der Apologetik antiker Dichtung errichtet; die sich hier abzeichnende Perspektive auf Mythos und Christentum scheint mir überhaupt höchst reizvoll, verschiebt sie doch das Kriterium für die Akzeptanz von Dichtung vom Werk auf den Rezipienten. Nicht in dem paganen oder christlichen bzw. sittlichen oder unsittlichen Charakter der Texte liegt das Kriterium ihrer Wahrheit, sondern in dem erlösten oder unerlösten Charakter des Interpreten: Dem Reinen ist alles rein, bzw.: Wer sich der antiken Bildung verweigert, gibt sich als schlechter Christ zu erkennen. Boccaccios eigenwillige Übernahme des Numenius-Traums aus Macrobius demonstriert nicht zuletzt den engen Zusammenhalt des Gesamtwerks in der Konzeption des Autors: Was in Buch 14 und 15 invektivenhaft gegen christliche Kritik angeführt wird, ist in den einzelnen Mythendarstellungen und -erläuterungen vorweggenommen.45 Das Modell der theologia prisca, das in den antiken Göttern und Mythen bereits Heilswahrheiten verborgen sieht, gilt als neues Deutungsmuster der Renaissance. Diesem Verfahren der Antiketransformation ist Boccaccio zutiefst verpflichtet. 46 Das demonstriert schon seine Grundthese über die Wahrheit der Fabeln, dass sie nämlich auf Inspiration der Dichter durch Gott (bzw. die Natur oder andere Menschen) beruhe (Gen. 1, p. 18): prius respondendum est persepe dicentibus, quid poete dei opera vel nature vel hominum hoc sub fabularum velamine tradidere?
Die Verwendung des includenten ‚oder‘ in der vel ... vel -Formel (statt aut ... aut) legt Zeugnis davon ab, dass Boccaccio hier keine Alternative, sondern eine gemeinsam wirkende Traditionslinie sieht, an deren Ursprung immer das Göttliche steht; das Modell der catena aurea schimmert im Hintergrund auf.
45 Zur Einheit des Gesamtwerks s. auch ZACCARIA, 103ff. 46 Zu Recht weist GARIN auf die innovative Kraft der „Diskussion über Poesie und Mythen“ hin, „an der sich Künstler wie Boccaccio, Rechtsgelehrte, Moralisten und Philosophen wie Coluccio Salutati und schließlich auch Denker wie Cristoforo Landino und Marsilio Ficino beteiligten“ und deren „größtes Verdienst“ darin bestehe, „die allzu starren Grenzen zwischen Philosophie und Poesie, Philosophie und Kunst aufgebrochen und so auch den Weg für die Mode der poetischen Theologien geebnet zu haben.“ (Eugenio GARIN, Der Philosoph und der Magier, in: DERS. [Hg.], Der Mensch der Renaissance, 175-214, aus d. Italien. übers. v. Asa-Bettina WUTHENOW, Frkf./N.Y. 1990).
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Göttliche Inspiration paganer Dichtung proklamiert auch Boccaccios Hinwendung zu dem Gott, der Wasser in Wein verwandelte (Gen. 5 p. 233: eius invocato nomine, qui iam dudum in suave vinum insipidas vertit aquas in Chana […]), scil. den Erzählungen der Alten die Qualität christlicher Wahrheit verlieh. Dabei versteht Boccaccio den Göttermythos aber weniger als Theologie, sondern in erster Linie als Dichtung über die Natur und den Menschen. So richtet sich seine Allegorese auch gern auf die Plausibilität und moralische Tauglichkeit der Mythen und auf ihre Aussagekraft über das, was im menschlichen Leben wichtig ist. Als Beispiel sei die Darstellung Merkurs skizziert. Der Autor beruft sich zunächst auf Albumasar, der dem Planeten Merkur wegen seiner Mischung von Trockenheit und Kälte den Einfluss besonderer Flexibilität zuweist; dann führt er in einer stattlichen Liste die Qualitäten an, die sein astrologischer Lehrer Andalò del Negro Merkur zuschrieb – darunter Beredsamkeit, Schönheit und Geistesschärfe, aber auch Verlogenheit, Unverschämtheit, alles Qualitäten, die Merkur auch in den von Boccaccio zitierten Texten römischer Dichter zugesprochen werden (… ut, quantum cum astrologis conveniant, manifestetur apertius.“, Gen. 2, p. 78). Merkurs Flügelschuhe bezeichnen seine Wandelbarkeit – wie dann nach der Lehre Andalòs ein unter Merkur geborener Mensch „mit Männern Mann und mit Frauen Frau“ ist; der Helm verweist auf die Verschlagenheit, mit der er seine Pläne verhüllt. Merkur ist Seelenführer, weil ihm der Schutz der Ungeborenen im 6. Monat zugeschrieben wird; in diesem Monat aber empfängt das Ungeborene die anima rationalis (p. 79). Und er gilt als Schenker von Träumen, weil Traum und Tod identisch sind: Den Menschen die Träume nehmen, heißt also, sie ins Leben zu führen; ihnen die Träume wiederzugeben, heißt sie dem Tod zu überantworten.47 Als Sohn Iuppiters aber sei er bezeichnet worden, weil alle Schöpfung auf den einen Gott zurückgehe. Während der Schlusspassus dieser Mythenauslegung den Monotheismus verteidigt, dient die überwiegende Mehrzahl der Einzelauslegungen dazu, Aussagen über den Menschen zu treffen. Das gilt auch für Mercurius secundus. Über ihn konstatiert Boccaccio, er sei ein wunderschöner Mensch gewesen, sehr beredt und in allen Handfertigkeiten hoch begabt – all dies habe ihm die Ernennung zum Gott der Diebe eingebracht (Gen. 2, p. 82). Laut Leontios habe diese Vergöttlichung ihren Ursprung in einem Witz gehabt, dann aber an Einfluss gewonnen und nach seinem Tod zu Tempelbau und Kult geführt. Dass ein Dieb als Gott verehrt wird, ist Boccaccio keinerlei entrüsteten Kommentar wert; vielmehr dient ihm Merkur als exemplum für menschliche Qualitäten, die in der Gesellschaft wichtig und angesehen sind. So setzt auch das Kapitel zu Iuppiter unter Berufung auf Leontios mit der These ein, der menschliche Iuppiter (Iuppiter primus) sei auf Grund seiner Verdienste um die Athener für einen Gott gehalten worden (Gen. 2, p. 68 sq.).
47 Gen. 2,7, p. 79: Somnos adimere et dare idem est cum eo quod dictum est in vitam educere nascentes, quod est somnum adimere, et in mortem solvere, quod est somnum dare.
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Referebat enim Leontius, grecus homo, et talium abundantissimus, hunc ante quesitum maius nomen Lysaniam nuncupatum, hominem Arcadem, et profecto nobilem, et ex Arcadia Athenas ivisse, et cum esset ingentis ingenii, vidissetque rudi in seculo rudi et fere bestiali ritu viventes Atticos, ante omnia compositis legibus illos publico instituto vivere docuit, et qui feminas fere communes habebant, primus matrimonia celebrare monstravit, et cum iam ad humanos redegisset mores, monuit eos deos colere, et eis aras et templa atque sacerdotes instituit et multa insuper illis ostendit utilia. Que dum mirarentur silvestres Attici atque commendarent, eum rati deum, Jovem vocavere, regemque suum fecere.
Boccaccio deutet den Gott einerseits etymologisch-theologisch und gemäß dem üblichen Schema im Sinne einer prisca religio: Der Stamm Iov von iuvare verweise auf das Wesen Gottes als eine Helfers.48 Von dieser Lehre distanziert sich der Autor aber aus christlicher Warte: Volunt enim aliqui et graves viri quod idem Juppiter sonet quod iuvans pater, quod soli vero Deo convenit. Ipse enim vere pater est et ab eterno fuit et erit in sempiternum, quod de alio nemine dici potest, similiter et iuvans est omnibus et nulli nocens, et in tantum iuvans est, ut si suum retrahatur iuvamen periclitentur confestim omnia necesse sit (Gen. 2, p. 70).
Akzeptiert wird dagegen die gesellschaftlich-anthropologische Interpretation: Iuppiter primus sei ein Kulturstifter gewesen, er habe den zuvor gesetzlos lebenden Bewohnern Attikas Gesetze, die Einrichtung der Ehe, den Kult der Götter und vieles weitere Nützliche gebracht.49 Ebenso werden später beispielsweise Minerva (Gen. 2, p. 71 sqq.) und Camena (Gen. (5, 287)50 als Kulturstifterinnen aufgeführt. Die euhemeristische Auffassung, die paganen Götter seien Menschen, die sich zur Stärkung ihrer Autorität die Göttlichkeit angemaßt hätten oder denen auf Grund ihrer Verdienste ein Kult zugewachsen sei, prägt zahlreiche Mythenre48 Die nach heutigem Erkenntnisstand falsche Etymologie vertritt bei Cicero, De nat. deor. 2, 64, auch der Stoiker Balbus: ipse Iuppiter, id est iuvans pater, […]. 49 Gen. 2,2, p. 71, führt Boccaccio in direkter Anrede an den König auch Sols beneficia als Ursache seines Kultes unter den Menschen an; hier liegt ihm offensichtlich daran, ein Beispiel königlicher Großzügigkeit aufzustellen. 50 Camena ist Erfinderin und Lehrerin der Schrift: Et cum silvestres comperisset incolas, novos licterarum caracteres adinvenit, eosque earum coniunctiones sonosque edocuit. Que et si ab initio XVI tantum fuerint, aliis a posteris superadditis, eis in hodiernum usque utimur. Cuius rei admirati rudes, non hominem sed deam potius arbitrati sunt. Et cum eam adhuc viventem divinis celebrassent honoribus, mortue sub infima Capitolini montis parte, ubi vitam duxerat, sacellum suo nomini condidere. Et ad eius perpetuandam memoriam a suo nomine loca adiacentia Carmentalia vocavere (5, 287 = Ende von Buch 5). Boccaccio identifiziert hier Camena, die seit den Anfängen der römischen Literatur (Livius Andronicus), vermutlich wegen des Anklangs an carmen, als Synonym für die Muse dienen konnte, mit der Geburtshelferin und prophetischen Göttin Carmentis, die am Fuß des Kapitols ein Heiligtum besaß. Ein Blick in Ovids Fasti (1,628ff.) oder Gellius (N.A. 16,16,4) hätte ihn zur Vorsicht mahnen können.
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ferate. Überschaut man die Tugenden, die eine solche Apotheose bewirken, so sind es eben nicht primär christliche Tugenden, sondern eher Qualitäten, die die Renaissance an den historischen Gestalten der Antike zu schätzen wusste: So konstatiert Boccaccio zu Sol (Gen. 2,cap. 5, p. 76), er müsse ein glanzvoller Mensch gewesen sein, ausgezeichnet mit einem gewaltigen und königlichen Geist: credendum est eum insignem atque splendidum fuisse hominem et ingentis atque regii animi preditum, et eo modo quo supra de Jove dictum est tam claro nomine decoratum.51
Minerva wird zunächst als Allegorie der Weisheit erläutert; ihr Ursprung aus dem Haupt Iuppiters verweist auf die Göttlichkeit der Weisheit, ihre Jungfräulichkeit darauf, dass Weisheit durch keine Befleckung Sterblicher geschändet werden kann, die ihr als Attribut beigegebene Eule symbolisiert die Kraft des Weisen, im Dunklen zu sehen, sein Tun zu planen und den rechten Zeitpunkt abzuwarten. (Gen. 2,3 De Minerva prima, primi Iovis prima filia, p. 73). Nach diesen allegorischen Auslegungen geht Boccaccio zu einer historisierenden Betrachtung über: Minerva sei eine Jungfrau mit hoher Erfindungsgabe gewesen, die kraft ihrer vis ingenii atque sapientia die Technik des Spinnens und Webens entwickelt habe. Dass Boccaccio das Motiv der Jungfräulichkeit nicht im Sinne christlicher Askese oder gar mariologisch deutet, dürfte nicht nur durch seine Quellen beeinflusst sein; das Gewicht, das er auf die Textiltechnik als das Ergebnis eines erfinderischen Geistes legt, verweist auf ein ganz spezifisches und primär innerweltlich ausgerichtetes Menschenbild. Es geht ihm dabei nur partiell um die rational-historische Herleitung von Kultphänomenen an sich, sondern mindestens ebenso um die Ausbeutung des Mythos im Sinne einer bürgerlichen Ethik: Überschaut man die Tugenden, die jeweils die Apotheose bewirken, so sind es nicht primär christliche Tugenden, sondern durchaus weltliche Qualitäten: vis ingenii, Herrscherautorität, Erfindungskraft, Schönheit, Stärke. Man könnte dies als den methodisch korrekten Verzicht auf die Projektion eines christlichen Weltbildes in eine vorschristliche Epoche auffassen. Es scheint mir aber doch kein Zufall zu sein, dass Boccaccio ebenden Kanon innerweltlich wirkungsvoller Kompetenzen fokussiert, die die Renaissance, wie die Schriftengruppe de viris illustribus oder de claris mulieribus demonstriert, auch an den historischen Gestalten der Antike zu schätzen wusste. Die folgenden Aspekte haben sich in der Analyse der Genealogia Deorum Gentilium libri XV als prägend erwiesen: das Bemühen um enzyklopädische Vollständigkeit; der Rekurs auf zahlreiche Quellen v.a. dichterischer Natur; das Konzept der theologia prisca, das auch für die antiken Autoren göttliche Inspiration bean51 Gen. 2, p. 71 fasst Boccaccio in direkter Anrede an den König verschiedene Motive der Vergöttlichung zusammen: Er nennt den Wunsch der Menschen, ihre Städte auf göttliche Gründer zurückzuführen, aber auch die Dankbarkeit für empfangene beneficia und den Wunsch, zur Nachahmung ruhmreicher und guter Taten anzustacheln.
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sprucht; eine besondere Mobilisierung dieses Konzepts für den Nachweis eines ursprünglichen Monotheismus; die Rechtfertigung der Beschäftigung mit dem paganen Mythos mittels einer Aufdeckung seines verborgenen Sinns in Verfahren der Allegorese; zugleich eine gewisse Skrupulosität, die auch gelegentlich Distanz zu den überlieferten fabulae herstellt. Diese Aspekte lassen sich auch in Ficinos Epistolarium aufweisen; sie stehen aber vielfach unter anderem Vorzeichen. Ficinos Epistolarium wurde nach den Angaben des Autors in der Vorrede 1494 zusammengestellt (Fic. op.omn. 3); es enthält nicht alle, aber doch die meisten Briefe des Verfassers, angeordnet in zwölf Büchern. Die Adressaten sind neben der Familie der Medici vor allem Ficinos Freunde und Humanistenkollegen, einige Briefe gehen an hohe krichliche oder politische Würdenträger wie Papst Sixtus VI. und den ungarischen König Matthias Corvinus. Die chronologische Reihenfolge ist in der Anordnung im Epistolarium nicht gewahrt. Thematisch finden sich Freundschaftsbriefe neben philosophischen oder religiösen Traktaten, Stellungnahmen zu politischen Fragen (dies freilich selten!) neben solchen zu ethischen oder astrologischen Aspekten. In all diesen Themenkreisen bildet der antike Mythos neben der Philosophie und den Schriften des Alten und Neuen Testaments einen häufig beigezogenen Referenzrahmen.52 Dabei geht es Ficino aber natürlich keineswegs darum, eine möglichst breite Mythenkenntnis enzyklopädisch zu demonstrieren. Seine Rezeption der paganen Götter ist in erster Linie durch sein Studium Platons und der Neuplatoniker determiniert und in seine christliche Adaptation der neuplatonischen Lehre von der Ordnung der Schöpfung hin zu dem Einen integriert. Diese Lehre, die in besonderer Weise die als Kommentar zu Platons Symposion angelegte Schrift De amore (Commentarium in convivium Platonis de amore) und die Theologia platonica prägt, bestimmt auch nicht wenige Texte des Epistolariums, die der Gattung nach eher philosophisch-theologische Traktate als epistulae sind. Gegen die Lehre der Averroisten vom Universalintellekt, an dem alle Menschen teilhaben, setzt Ficino seine Theorie des Individualintellekts und der unsterblichen Individualseele. Die Philosophie der Neuplatoniker, insbesondere Plotins Ideenlehre, Gottesbegriff und Menschenbild, harmonisiert er mit der christlichen Theologie, indem er das neuplatonische Hen (das Eine) mit dem christlichen Gott, die Dämonen des Neuplatonismus mit den Engeln, die platonische ȥȣȤ ޤmit dem Menschen identifiziert. So entfaltet sich die neuplatonische Emanationslehre zur Stufenleiter: an der Spitze der sich hypostasierend nach unten ergießende eine Gott, unter ihm die Engel; dann die Menschen, darunter – hier weicht Ficino unter dem Einfluss des Aristotelismus und mit dem Ziel, der Seele eine Mittelposition in der Stufenleiter zu sichern, von Plotin ab – die qualitas, die Stufe, der 52 Tatsächlich führt Ficino die griechische Philosophie, ebenso wie die Weisheitslehren der Ägypter, auf das Alte Testament zurück (De christiana religione c. 26 [op.omn. 29]; vgl. Walter Andreas EULER, „Pia philosophia“ et „docta religio“. Theologie und Religion bei Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola, Humanistische Bibliothek, Reihe I, Abhandlungen, Bd. 48), 76f.
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die Gattungskonstituenten zuzuordnen sind,53 an der Basis silva oder ȜȘ, die Materie; in der Mitte steht die menschliche Seele, das Bindeglied zwischen den beiden Extremen des Hen und der Materie, in seiner reinen ȥȣȤ ޤAusfluss des Göttlichen, das sie ihrem Körper und, in der Einheit von Seele und Körper, der Materie überhaupt mitteilt. Begabt mit göttlicher Schöpferkraft, wird der Mensch gegenüber der Materie, die er gestaltet, zum Gott auf Erden; in liebender und nach Erkenntnis strebender Hinwendung nach oben ausgerichtet, wird er dem Gotte gleich, der sich in ihn ergießt und ihn an sich zieht. Macrobius` Theorie von Sol als dem alleinigen Gott hat Boccaccio im Rahmen seiner Argumentation für einen urprünglichen paganen Monotheismus aufgegriffen. Für die Neuplatoniker und insbesondere Dionysios und Plotin besaß die Deus-Sol-Formel aber einen tieferen Sinn: Sie setzten die Theorie der Emanation in Analogie zum Sonnenlicht; damit gewann der Sonnengott eine Zentralstellung in ihrer Metaphorik. Mit dem Gleichnis vom Sonnenlicht illustriert auch Ficino wiederholt seine christliche Stufenleiter, in der Gott alle Schöpfung mit seinem Licht erfüllt. Ein kleiner Traktat zu Beginn der Briefsammlung – ein Dialog zwischen Anima und Deus zur Frage Que sit ad felicitatem via54 – erläutert Ficinos Theologie und Seelenlehre mittels dieser neuplatonischen Sonnenmetaphorik: Der Mensch, der den Anblick des Guten, von dem er geschaffen wurde, ersehnt, wird auf den vom Sonnenlicht erfüllten Kosmos verwiesen und in seiner Kontemplation durch die höheren Seinsstufen bis zum Göttlichen selbst geleitet: Die Abstraktion von der Materie auf das rein Geistige erzeugt die Erkenntnis seiner selbst, d.h. seiner anima; die Abstraktion vom Wandel auf die Konstanz führt zur nächsten Stufe und bringt die Anschauung des intellectus angelicus hervor; die letzte Abstraktion von der Vielfältigkeit (varietas) zur Einheit führt zur Anschauung Gottes (Ficino, Lettere I,4, ed. Gentile, 14f., 76-97): Bonum igitur ipsum procreator tuus est, Anima; […] Boni faciem intueri desideras? Mundum conspice universum, solis lumine plenum; lumen conspice in materia mundi, plenum omnibus rerum omnium formis atque volubile; subtrahe materiam, relinque cetera: habes animam, incorporeum lumen, omniforme, mutabile. Deme rursus huic mutationem: es iam intellectum angelicum consecuta, incorporeum lumen, omniforme, immutabile; detrahe huic eam diversitatem per quam forma quelibet diversa est a lumine et aliunde infusa est lumini, ita ut eadem luminis et forme cuiusque essentia sit, lumenque ipsum sese formet perque formas suas formet omnia: lumen hoc infinite lucet, quia natura lucet sua, neque alterius mixtione inficitur vel contrahitur; per omnia est quia in nullo; in nullo est proprie, ut aeque per omnia fulgeat; vivit ex se et vitam prestat cunctis, quandoquidem umbra eius, qualis est lux 53 In der Zwischenstellung der qualitas zwischen Materie und Seele vermengen sich Aristotelismus und Thomismus: Die qualitas eröffnet der Seele die Teilhabe an der Welt der Ideen, zugleich ermöglicht sie erst die anagogische Gnade Gottes. 54 GENTILE zählt ihn als Text 4 nach dem Widmungsschreiben an Giuliano de’ Medici (Marsilio Ficino, Lettere, Epistolarum familiarium liber I, a cura di Sebastiano GENTILE, Firenze 1990, 12-16).
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ista solis, sola in corporalibus est vivifica; sentit quelibet sensumque largitur, si umbra eius sensus omnes omnibus excitat; amat denique singula, si maxime sua sunt singula. Ergo quid solis est lumen? Umbra Dei. Ergo quid Deus est? S o l s o l i s e s t D e u s .55
Der Vergleich mit Boccaccio gerät plakativ: Unter Verweis auf Macrobius referiert Boccaccio distanziert die Formel Deus = Sol und weist sie von christlicher Warte aus zurück (s.o. S. 69f.); Ficino dagegen legt die Analogie Deus - Sol dem als Dialogpartner der Seele figurierenden Gott selbst in den Mund und lässt ihn sie übersteigern in der Formel: Sol solis est Deus. Die Sonne wird so in Ficinos Nachfolge neuplatonischer Motive zum Symbol56 eines christlichen Gottesbildes, das Sonnenlicht illustriert das Wirken der Gottheit, die zugleich als „Sonne der Sonne“ auf einer höheren Erkenntnisebene angesiedelt ist. Boccaccio rezipiert das Philosophem der Sonnenhaftigkeit des Hen in einer personalisierend mythologischen Weise, um sich davon zu distanzieren; Ficino rezipiert dasselbe Philosophem als Symbol theologisch-kosmologischer Wahrheit. Die bei Bocaccio beobachteten Strategien der allegorischen Vereinnahmung und Apologetik antiker Götter und Göttermythen wendet auch Ficino an; die spätantike und mittelalterliche Tradition der Mythenrezeption wirkt auch im Quattrocento weiter. Es ist vor allem das bei Boccaccio wiederholt aufscheinende, aber noch nicht zum methodischen Grundstein erhobene gedankliche Modell der theologia prisca, das bei Ficino nahezu programmatische Bedeutung gewinnt. Die catena aurea der sapientia entfaltet sich naturgemäß für Ficino leichter, weil ihm die Gleichsetzung von Theologie und (platonischer) Philosophie die Fokussierung auf philosophische Autoritäten erleichtert; damit kann er sich auf die Rezeption des philosophischen Mythengebrauchs beschränken – wenngleich er diesen expressis verbis ursprünglich der Dichtung zuschreibt (Epist. 3; op.omn. p. 72457): Miscere uero Poëtica philosophicis docet nos omnis antiquitas, quae ante Aristotelem potissimum semper id factitauit, ob hanc maxime rationem, ut sacra Mineruae mysteria tum omnibus et ueneranda et uenusta, tum paucis et illis quidem puris, communia forent. Docet nos idem ipsa diuinitas, quae Poetica quaedam figura ubique gaudens in numeris coelum luminibus quasi pratum floribus exornauit atque ita diuersos sphaerarum circuitus modulata est, ut concentibus congruis harmoniam mirificam melodiamque conficerent. 58
55 Vgl. auch die Oratio ad Deum theologica (Epist. 1, Fic. op.omn. p. 211). 56 Zum Übergang vom Gleichnis zum Symbol in Ficinos Schriften vgl. Paul Oskar KRISTELLER, Die Philosophie des Marsilio Ficino, Frankfurt am Main 1972, 75ff. 57 Abgesehen von den durch Gentile edierten Lettere des ersten Buches werden Ficinos Briefe zitiert nach der Editio Basiliensis von 1576, ND Turin 1959. 58 Dieser Vorstellung bedient sich Ficino auch, um das Verhältnis zwischen Platon und den Neuplatonikern zu erläutern: Was Platon unter göttlicher Inspiration in glänzende, aber nicht jedem Verstand zugängliche Worte gekleidet habe, das enthüllen die Neuplatoniker. Für Platons Wahrheit tritt hier die Metapher des Goldes ein: Verum in Plotini pri-
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Letztlich bezieht er hier wie auch Boccaccio die Dichter in den Kreis der theologi prisci mit ein; in jedem Fall sind ihre figmenta dem Gott wohlgefällig. Die von Ficino schon in der um 1463 verfassten Vorrede zur Übersetzung des „Pimander“59 aufgestellte Genealogie der Philosophie nimmt ihren Anfang bei dem ägyptischen Weisen Hermes Trismegistos – später wird ihm Zoroaster vorangestellt60 – und gelangt über Orpheus, Pythagoras, Platon und die Neuplatoniker bis in die eigene Gegenwart.61 Die Exegese der durch diese „Weisheitslehrer“ vertretenen poetisch-philosophischen Theologie enthüllt diese als verum bzw. quasi verum, wie es der wiederum der Sonnenmetaphorik gewidmete Brief an Giovanni Cavalcanti und seinen Schüler Letterio Neroni (Orphica comparatio Solis ad Deum, atque declaratio idearum, Epist. 6, p. 825 op.omn.) demonstriert; er endet in der Schlussfolgerung (p. 826 op.omn.): Quapropter Orphicum mysterium illud, si nolumus fateri uerum, saltem parumper fingamus quasi uerum, ut Solem coelestem ita suspiciendo prospiciamus in eo supercoelestem illum tanquam in speculo, qui in Sole posuit tabernaculum suum.
Mit den Begriffen verum bzw. quasi verum ist so etwas wie eine Identität paganer und christlicher Lehre angedeutet, wobei die pagan-mythische Darstellung freilich der Auslegung von christlicher Warte bedarf, wie sie hier in der Interpretationsanleitung (prospiciamus in eo …) mitgeliefert wird. Auch Ficino kennt aber die Sorge, durch den unkommentierten Rekurs auf mythisch-paganes Schrifttum seinen christlichen Glauben zu verraten; das dokumentiert der Brief an den Tübinger Juristen Martin Brenninger (Martinus Uranius; Opiniones non temere diuulgandae. Item Orphei carmina; Epist. 11, op.omn. p. 933): Ficino erläutert ihm, seine frühen Übersetzungen der Argonautika des Apollonios Rhodios, der orphischen Hymnen, Homers, des Proklos und der Theologie (gemeint ist die Theogonie) Hesiods habe er, ebenso wie seinen Kommentar zu Lukrez, nie ediert, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, seine Leser zum nunmehr überwundenen Götter- und Dämonenkult zurückleiten zu wollen. Es liegt nahe zu vermuten, dass Ficinos Skrupel nicht nur christlicher Orthodoxie entsprangen, sondern auch Zweifeln an der Qualität dieser Frühschriften; immerhin verdeutlicht der Brief an Brenniger aber doch, dass er von einem Unterschied zwischen dem erkennbar metaphorisch-symbolischen Sprechen im Rahmen üblicher rhetorischer Strategien und philosophischer bzw. theologischer Tradition einerseits und den im übrigen unkommentierten Überset-
mum, Porphyrii deinde et Iamblici ac denique Proculi officinam aurum illud iniectum, exquisitissimo ignis examine excussis arenis enituit usque adeo, ut omnem orbem miro splendore repleverit (Ficino, Lettere I,12, ed. Gentile, 12-15). 59 Fic., op.omn. 1836. 60 Vgl. EULER 212f. 61 Vgl. Angela VOSS, The Musical Magic of Marsilio Ficino, in: ALLEN, Michael J.B. / REES, Valery (Hgg.), Marsilio Ficino: His Theology, His Philosophy, His Legacy, Leiden u.a. 2002, 227-241, 229f.
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zungen, denen also keine Interpretationsanleitung beigegeben ist, andererseits ausgeht: Argonautica et hymnos Orphei et Homeri et Proculi Theologiamque Hesiodi, quae adolescens (nescio quomodo) ad uerbum mihi soli transtuli, quemadmodum tu nuper hospes apud me uidisti, edere nunquam placuit, ne forte lectores ad priscum deorum daemonumque cultum iamdiu merito reprobatum reuocare uiderer, quantum enim Pythagoricis quondam cura fuit, ne diuina in uulgus ederent, tanta mihi semper cura fuit non diuulgare prophana adeo, ut neque commentariolis in Lucretium meis, quae puer adhuc (nescio quomodo) commentabar, deinde pepercerim, haec enim sicut et Plato tragoedias elegiasque suas Vulcano dedi. Maturior enim aetas exquisitiusque examen (ut inquit Plato) saepe damnat, quae leuitas iuuenilis uel temere credidit uel saltem (ut par erat) reprobare nesciuit. Periculosius uero est (ut et Plato inquit) noxias opiniones imbibere, quam uenenum pessimum diuulgare, sicut enim bonum, quo latius, eo diuinius, ita latissimum malum, pestilentissimum. Promisi uero tibi tutiora quaedam Orphei carmina mittere. Ecce mitto.
Da Ficino aber, anders als Boccaccio, kein Mythenkompendium verfasst, sondern den Mythos nur nach Bedarf und Tauglichkeit – und meist geleitet von der philosophischen Tradition – aufgreift, kann er im allgemeinen auf skrupulöse Distanzierungen vom heidnischen Stoff verzichten. Nur selten wird die Mythenvereinnahmung und -deutung aus christlicher oder allgemein philosophischer Sicht konterkariert durch eine ablehnende Haltung gegenüber den paganen Göttermythen. Im zehnten Brief des vierten Buches vermengen sich die Intentionen, wenn Ficino einerseits sich und sein Gottesbild mit Hilfe des antiken Mythos verdeutlicht (Phaëton, Phoebus), andererseits seine Deus-Sol-Theologie vom antiken Sonnenkult (Iulianus apostata) und vom antiken Göttermythos der Dichtung (Claudian) abgrenzt (Epist. 4, op.omn. p. 756): O Sol iustitiae fons, Sol largitatis exemplar, quam me uehementer accendis ut quaeram, tam clare, tamque salubriter refulge quaerenti. An forte subito nimium impuris oculis purissimum ausus sum suspicere lumen. Phaëton forsitan hac in re fateor quodammodo fui, fui tamen et sum, Phoebe, tuus. Ergo calore me purga precor foueque tuo. Tantum salubri flamma potes omnibus, Phoebe, mederi, quantum per omnia radios iaculari. Ego enim neque sicut Iulianus ille et Platonicus et Christianus olim, sed apostata, Solem ipsum sine Sole cantaui. Neque charam, ut aiunt, sororem tuam una cum Claudiano Proserpinam raptam ad inferos impie cecini, sed filium tuum potius Aesculapium quendam Tarsensem medicum animorum ad superos raptum una cum Luca, Hierotheo, Dionysio celebraui. Neque sicut Stesichorus et Homerus infelicem Helenae, id est, terrenae formae rapinam, sed, ut ueri Platonici solent, beatissimum depinxi coelestis mentis ascensum.62
62 Im weiteren Verlauf des Textes verweist Ficino wie schon Boccaccio auf den Traum des Numenius: Neque uel instar Numeni [im Text: numeri] passim Eleusina sacra uulgaui, vel tanquam Pherecides Syrus abdita coelestium animorum terreno cuilibet patefeci, vel sicut Hipparcus Pythagoricus Delphica praeceptoris sancti mysteria iure communia paucissimis cunctis unquam feci communia, vel Dionysii Syracusani more Apollineos Platonis sensus im-
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Der Vorwurf an Iulian Apostata, er habe die Sonne selbst ohne die Sonne (Solem ipsum sine Sole) besungen,63 definiert präzise die Vorbedingung, an die Ficino die Integration mythischer Elemente in seine Philosophie anbindet: Der Mythos erfüllt den Anspruch des verum bzw. quasi verum nicht in seiner simplen Litteralform, sondern nur, insofern er „mit Gottes Hilfe“ auf eine höhere Wahrheit verweist, sie symbolisiert. Aus rhetorischer Warte ist im zuletzt zitierten Passus die Antithetik von Aufund Abstieg zentral; das dem Verweis auf Claudians Proserpina-Erzählung beigefügte Adverb impie trifft aber zugleich auch eine Aussage über die ethische Qualität des Mythos, der als Verleugnung der Götter bestimmt wird. Hier liegt eine ähnliche Ambivalenz zwischen Vereinnahmung und Distanzierung vor, wie sie für Boccaccio kennzeichnend ist. Den mythischen Berichten über die Liebschaften und Verbrechen der Götter und ihrer Nachkommen stellt Ficino die christlich-neuplatonische Erlösungslehre gegenüber, der gemäß die Seele nicht den traurigen Abstieg in die Unterwelt (d.h. den Tod) erfährt, sondern den Aufstieg zur ewigen Seligkeit der Gottnähe (beatissimus ascensus), nicht die durch körperliche Schönheit verursachte Entführung, sondern die seelische Erhebung.64 In dem der Gegenüberstellung zugrunde gelegten allegorischen Verfahren (Helena = terrena forma = Materie; Proserpina bzw. Aesculapius = anima; Raub durch Hades bzw. Entführung zu den Göttern = Tod der Seele bzw. ascensus animi ad Deum) berührt sich Ficino mit Boccaccios Methodik der Textexegese; wo sich Boccaccio aber damit begnügt, die in der Tradition christlicher Antikendeutung vorgezeichneten alternativen Modelle der Exegese nachzuzeichnen,65 da integriert Ficino die eine „wahre“ Deutung, die freilich auch mit einer gewissen hermeneutischen Wilkür den Mythen unterlegt wird, in lebhafter Rhetorik in sein eigenes gedankliches System.66
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puris uulgi sensibus reserare contendi. Non palam locutus sum quae non licet homini loqui, non dedi sanctum canibus porcisue dilaniandum, […]. Iulians Rede auf König Helios (or. 4) verbindet die Rühmung der Sonne und ihres Lichtes mit der Berufung auf Platon und einer schroffen Distanzierung vom Christentum. Vgl. VOSS 229. Bei diesem Verfahren kann der Abstieg in den Orcus alternativ negativ und positiv gedeutet werden: Eurydikes Tod bedeutet das Beharren in der concupiscentia, Orpheus` Abstieg aber die Kontemplation: Quod autem ob id Orpheus ad Inferos descenderit, debemus accipere prudentes viros non nunquam ratione contemplationis in perituras res et hominum ignavias oculos meditationis deflectere, ut, dum que damnare debeant viderint, que appetenda sunt ferventiori desiderio concupiscant (Bocc. Gen. 5, 245 sq.). Vgl. Paul Oskar KRISTELLER, Marsilio Ficino and His Work After 500 Years, 1987, 10: “His writings are full of allusions to classical mythology which he likes to interpret allegorically in order to make it agree with the Christian religion and with his own Platonist philosophy and cosmology. The myths of Venus, Amor, Narcissus and others, allegorized by him along lines suggested by the Neoplatonists or even by Plato hinself, add a poetic lustre to his writings and seem to have inspired many poets and artists of his and of the following century.”
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Die von Ficino vertretenen Allegoresen können aber auch ebenso wenig originell sein wie die von Boccaccio; beide Autoren folgen hier einer langen Traditionsreihe. Deutlicher als Boccaccio ironisiert Ficino allerdings das Verfahren der Allegorese: So dient die als Expositio allegorica seculi aurei atque aliorum angekündigte Mythenexegese für Iacobo Antiquari (Epist. 7, op. omn. p. 860 sq.) einzig einem Kompliment an den Adressaten: Sie mündet in der „Moral“, dieser habe mit seiner Zuwendung zur „goldenen Vergangenheit“ den besseren Teil erwählt. Etwas ironisch hantiert Ficino auch in seinem Brief an den Arzt Mazinus mit dem mehrfachen Schriftsinn, wenn er die Frage aufwirft, ob die Verwandlung des Weines in Wasser in Kanaa neben dem mystischen und moralischen auch einen sensus naturalis bzw. physicus habe.67 Ironie ließ sich auch bei Boccaccio feststellen; sie dient aber dort dazu, die Absurdität des Mythos aufzudecken, dem erst mittels der Allegorese ein Sinn zugeordnet werden kann. Ficino richtet die Ironie gegen die Allegorese selbst: Indem er ihre Möglichkeiten spielerisch überdehnt, weist er im Einzelfall ihre Beliebigkeit auf. Dass er wie so viele seiner Vorläufer in der Mythenexegese auch die schulgemäße Ausdeutung des sensus moralis vel ethicus beherrscht, demonstriert Ficino in perfekter Schlüssigkeit in einem astrologisch ausgerichteten Brief an Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici (Laurentius iunior): In rationalistischer Deutung kontrastiert er die Gestirne Luna, Mars, Saturn, Sol, Iuppiter, Mercurius und Venus in der Geburtskonstellation mit den Fähigkeiten und Tugenden, auf die sie allegorisch verweisen:68 Luna bedeute die ständige Bewegung von Geist und Körper, Mars die Schnelligkeit, Saturn die Langsamkeit, Sol bedeute Gott, Iuppiter das Gesetz, Merkur die Vernunft, Venus die humanitas. Diese Qualitäten seien aber nicht, wie die Astrologen meinen, durch die Geburtskonstellation prädestiniert, sondern könnten und müssten, wie die Theologen lehren, von jedem einzelnen im eigenen Inneren in der richtigen Mischung versammelt werden (Epist. 5, p. 805): Tradunt Astrologi eum nasci omnium fortunatissimum cui fatum ita Signa coelestia temperauerit, ut Luna primum haud male aspiciat Martem atque Saturnum, deinde aspiciat bene Solem et Iouem Mercuriumque et Venerem. Quantum Astrologi faciunt fortunatum, cui fatum bene coelestia disposuerit, tantum illum Theologi beatum faciunt, qui ipsemet sibi similiter eadem temperauerit. At uero magnum id esse nimium inquies. Magnum certe, aggredere tamen bona spe, ingenue Laurenti, maior admodum est ille coelo, qui te fecit, maior coelo eris et ipse, cum primum aggredi constitueris. Non enim sunt haec alicubi nobis extra quaerenda, nempe totum in 67 Epist. 12, op.omn. 955: An praeter mysticam allegoriam atque moralem, physicum quoque sensum habeat? 68 Der Passus kann nicht grundsätzlich als Absage an die Astrologie verstanden werden; Ficinos Einstellung ist in dieser Hinsicht höchst ambivalent, was ebenso für viele seiner Zeitgenossen gilt: vgl. Eugenio GARIN, Astrologie in der Renaissance, Frankfurt a. M. 1997, und Christine RAFFINI, Marsilio Ficino, Pietro Bembo, Baldassare Castiglione. Philosophical, Aesthetic, and Political Approaches in Renaissance Platonism, Renaissance and Baroque Studies and Texts 21, N.Y. u.a. 1998, 46ff.
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nobis est coelum, quibus igneus uigor inest et coelestis origo. Principio, Luna quidnam in nobis significat aliud praeter nostram illam continuam animi et corporis motionem? Mars deinde celeritatem, tarditatem uero Saturnus. Proinde Sol Deum, Iupiter legem, Mercurius rationem, Venus humanitatem. Eya, accingere iam, generose adolescens, atque hunc in modum una mecum tempera tibi coelum.
Wenige Sätze später werden die Planetengötter noch deutlicher auf die rechte Lebensführung verpflichtet, wobei in der Beziehung von Luna (die hier eher der Seele gleichgesetzt ist) und Sol (Gott) wiederum das im Stufenmodell repräsentierte Menschenbild durchscheint: Praeterea Luna haec in te tua respiciat continue Solem, id est Deum ipsum, a quo almos semper radios accipit, ut ubique colas prae caeteris illum, a quo habes et tu id ipsum, ut sis colendus. Intueatur quoque Iouem, hoc est diuinas humanasque leges, quas nunquam transgrediatur. Siquidem abire a legibus, quibus omnia constant, nihil est aliud quam perire. In Mercurium item, id est in consilium et rationem scientiamque, aciem diriga; neque absque prudentum consilio quicquam aggrediatur neque dicat agatue quippiam, cuius non possit rationem probabilem reddere. Rursus hominem scientiae literarumque expertem quodammodo coecum arbitretur et mutum. Demum in Venerem ipsam, id est humanitatem, figat intuitum.69
Der Versuch, die astrologische Theorie der Vorbestimmung in einer christlichhumanistischen Ethik aufgehen zu lassen, ist von einer anderen Haltung zur astrologischen Götterdeutung geprägt, als sie in Boccaccios Genealogia deutlich wurde: Boccaccio referiert zusammengetragenes astrologisches Wissen, das in weiten Passagen unhierarchisiertes Bildungsgut – d.h. ohne den Anspruch der Gültigkeit – bleibt; Ficino müht sich schon ernsthafter (und wohl auch persönlich betroffener) um eine tiefere Wahrheit astrologischer Lehren, die mit einem christlichen Weltbild vereinbar und v.a. frei sein soll von einem im Wesen paganen Determinismus. Wie Boccaccio differenziert auch Ficino zwischen verschiedenen Trägern der Götternamen. Wo aber Boccaccio historische Reihenfolgen erstellt, die der Fülle des Mythos und seinen Widersprüchen und Anachronismen gerecht werden sollen, bleibt Ficinos philosophische Mythendeutung der Vorstellung einer einheitlichen Götterpersönlichkeit verpflichtet, die in verschiedenen Manifestationen wirkt und sich offenbart. Im Phaidros-Kommentar differenziert er zwischen sieben Manifestationen Merkurs, von seiner höchsten Manifestation in Iuppiter bis zur niedrigsten in Tieren, Pflanzen, Steinen und Orten.70 In methodischer Analogie zu Boccaccio, der das Theorem eines ursprünglichen Monotheismus durch die Berufung auf antike Zeugen vertritt, behauptet Ficino den göttlichen Ursprung aller Gesetze mittels des Zeugnisses antiker Gesetzgeber, an deren Anfang er Moses rückt; Wendungen wie veritate compulsi und sub variis figmentis liegt dasselbe Bild von der inspirierten Natur des Mythos und 69 Allegorisch ist auch Ficinos Auflösung der Iuppiter-Plastik in Buch 11 der Epistulae, p. 935. 70 Ficino, Phaidros-Komm., summa 49; s.a. Komm. cap. X. Vgl. A LLEN 36f.
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der willentlichen Verhüllung der Wahrheit mittels der mythischen fabula zugrunde, dass, aus Macrobius rezipiert, für Boccaccios Apologetik des (poetischen) Mythos zum Leitmotiv wird (Fic. Lettere I,5, ed. Gentile, 17 f., 19-33): Quamobrem omnes legum conditores, partim Moysem tanquam simie imitati, divinarum legum verissimum auctorem, partim, nescio quomodo, veritate compulsi, a Deo leges se habuisse sub variis figmentis affirmaverunt: Egyptiorum legum lator Osiris a Mercurio, Zautrastes apud Arimaspos a bono numine, Xamolsis apud Scithas a Vesta, Minos Cretensis et Solon Atheniensis ab Iove, Lycurgus Lacedemonius ab Apolline, Numa rex Romanorum a nympha Egeria, Mahumetes rex Arabum ab angelo Gabriele. Noster Plato libros exhorditur a Deo, quem esse ait communem legum omnium conditorem; quod etiam in dialogo qui Protagoras inscribitur confirmavit, dicens artes illas que ad victum pertinent a Prometheo, hoc est humana providentia, nobis traditas esse; legem vero bene feliciterque vivendi ab Iove, id est divina providentia, per Mercurium, hoc est inspirationem angelicam, fuisse concessam.
Als inspiratorische Kräfte, die in den figmenta der Völker die Gesetze an die Menschen vermitteln, werden – ohne qualitativen Unterschied – Merkur (in Bezug auf die Ägypter als Hermes Trismegistos), ein bonum numen, Vesta, Iuppiter, Apollo, die römische Nymphe Egeria und der Engel Gabriel angeführt. Der anschließende Rekurs auf Platons Protagoras bezieht all diese göttlichen Kräfte rückwirkend mit ein in eine christlich-(neu)platonische Deutung: Das die menschliche providentia (Prometheus) übersteigende Gesetz des guten und glücklichen Lebens entstammt der Providenz Gottes (Iuppiters), vermittelt durch seine Engel (Merkur). Neben das im Gedanken der theologia prisca beschworene Modell der Kontinuität von antiker und christlicher Theologie tritt bei Ficino gelegentlich das typologische Modell, das die Mythen der Philosophie – analog zu den Schriften des Alten Testaments – in ein Vorläufer- und Verweisverhältnis zur tieferen christlichen Wahrheit rückt; in solchen Vorstellungen sind antike und gegenwärtige Philosophie nicht gänzlich als Kontinuum, sondern als an zwei Seiten einer Achse positionierte Theorien gedacht, von denen nur die christliche in den Bereich der „wahren Wahrheit“ gelangt, die vor-christliche diese aber präfiguriert. Ein Beispiel ist das De vita 1,2671 dargestellte Verhältnis zwischen Sokrates und Christus: Nicht den Pfleger des Leibes, Hippokrates, sondern den der Seele, Sokrates, habe Apoll zum weisesten Menschen erklärt und so auf die Prävalenz der Seele über den Körper hingewiesen; die wahre Heilung aber habe erst Christus gebracht. Dem gedanklichen Modell der theologia prisca korrespondiert auch, dass Ficino mit großer Selbstverständlichkeit als Referenzpunkt heidnischer, jüdischer und christlicher sapientia ein- und denselben Gott ansetzt. Dazu konstatiert er im Brief an Giovanni Cavalcanti (Sapientia a solo Deo; Epist. 7, op.omn. p. 841):
71 Ebenso Supplementum Ficinianum 1,64.
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Omnes apud Iudaeos Christianosque sacrae literae clamant sapientiam nisi docente Deo disci non posse. Ideoque ab eo solo esse fide quaerendam, spe petendam, charitate pulsandam. Quod quidem cum Plato noster animaduerteret, suis studiis non confisus in quotidianis ad Deum precibus solam a Deo solo sapientiam saepe poscebat. Hac in re pulcherrime fabulatus Orpheus sapientiam solo Iouis summi capite natam canit; Musas quoque ab Ioue habere principium; Iouis omnia plena.
Die Interpretation des orphischen Iovis omnia plena lässt vom Prinzip des Göttlichen die Weisheit (Minerva als aus Zeus’ Haupt geborene sapientia) und die Kunst (Musae) ausgehen; das klingt einerseits an die neuplatonische Emanationslehre an, zieht zugleich aber auch, wie es in der Rezeption eines orphischen Carmen nahe liegt, wiederum die Dichtung mit ein in die theologia prisca. Der Orpheus zugeordnete Begriff fabulatus greift auf Macrobius` Verständnis von fabula zurück, wobei das Adverb pulcherrime die dichterische Umschreibung ausdrücklich rechtfertigt.72 Ficino tritt nicht wie Boccaccio kämpferisch für die Dichtung ein – und muss es wohl in seiner Zeit auch nicht mehr. Aber auch er weist der Poesie eine weit über die delectatio hinausreichende Bedeutung zu. Aufschlussreich dafür ist der Brief an Allius,73 der aus Motiven der platonischen Dialoge Ion und Phaidros eine Inspirationstheorie entwickelt, die der Dichtung Gottnähe zuweist (Fic. Lettere I,6 ed. Gentile, 25, 149-151; 26, 168): Quo fit ut [poesis] non solum auribus blandiatur, verum etiam suavissimum et ambrosie celestis similimum menti pabulum afferat, ideoque ad divinitatem propius accedere videatur. Hac igitur ratione poesis a divino furore, furor a Musis, Muse vero a Iove proficiscuntur.
Dichtung stammt von Gott und führt daher zu Gott hin.74 Dass die Rezeption paganer Götter in einem Mythenkompendium anders verläuft als in privaten Briefen oder philosophischen bzw. theologischen Traktaten, ist selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich ist, dass die mächtige Tradition der poetischen Mythenerzählung und der Mythenexegese für Autoren des Trecento wie des Quattrocento weiterhin ihren Einfluss und ihren Reiz entfaltet. 72 Voss 230: „The Orpheus of the hymns and of the Orphic epic Argonautica was revered by Ficino precisely for giving voice to the divine truth of theology through a poetic mythology and the singing of hymns. In naming Jupiter as the supreme creative principle, the ‘beginning, middle and end of the universe’, Orpheus demonstrated his understanding of one of the fundamental assertions of the ancient theology; that the whole of creation is constantly being regenerated in a never-ending movement towards unity: […].” 73 De divino furore (Lettere I,6, ed. Gentile, 19-28). 74 Vgl. Clemens ZINTZEN, Die Inspiration des Dichters. Ein Brief Ficinos aus dem Jahre 1457, in: Pratum Savariense. FS f. P. Steinmetz, hg. v. W. Görler u. S. Köster, Stuttgart 1990, 189-197; ND: Clemens ZINTZEN, Athen – Rom – Florenz. Ausgewählte Kleine Schriften, hg. v. D. Gall u. P. Riemer, Hildesheim u.a. 2000, 427-447.
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Unter Berücksichtigung dieser Prämissen muss der Vergleich der Rezeption antiker Götter und Mythen bei den beiden humanistischen Autoren geführt werden. Das Ergebnis kann nicht sein, eine Entwicklungslinie aufzuzeichnen oder grundsätzlich konträre Haltungen nachzuweisen; eher geht es darum, verschiedene durch die unterschiedlichen Perspektiven bedingte Facetten der Mythenrezeption zu verdeutlichen. Boccaccios Zugriff auf den paganen Mythos verläuft in erster Linie über das Medium der Poesie und über die reiche Tradition ihrer Auslegung; sein Interesse ist dreifach: die (teilweise) lebendige Mythenerzählung, die enzyklopädische Systematisierung, die den Wahrheitsanspruch des Mythos in seiner Qualität als Dichtung verteidigende Allegorese. Dabei strebt er nach Vollständigkeit des Mythenreferats; in den allegorischen Auslegungen bietet er gerne Alternativen; eine gewisse Bevorzugung ethischer Allegorien und ein eher den in der Welt wirkenden Qualitäten und Tugenden zugewandtes Menschenbild ließ sich feststellen. Ficino wählt einen in vielfacher Hinsicht anderen Zugang: Die antike Mythologie ist ihm selbstverständlich vertraut, aber sein eigentlicher Referenzbereich ist nicht ihre Überlieferung in der Poesie, sondern ihre Integration in die antike Philosophie, vor allem Platons und der Neuplatoniker sowie der Texte, die er einer frühen Theologie zurechnet (Orphik; corpus Hermeticum). Boccaccio und Ficino stimmen aber darin überein, dass die antike Dichtung Theologie bzw. göttlich inspiriert ist.75 Umfangreicher und selbständiger als Boccaccio kann Ficino auf griechische Texte zurückgreifen; er bedarf nicht mehr eines zeitgenössischen Vermittlers oder lateinischer Übersetzungen. Im Gebrauch der Allegorese ist er nur selten apologetisch, meist vereinnahmt er den Mythos unbefangen für seine eigene philosophische Theologie; diese Vereinnahmung verläuft nicht enzyklopädisch ordnend, sondern eklektisch. Ficino geht es nicht darum, in der Darlegung alternativer Allegoresen den grundsätzlichen Wahrheitsanspruch des Mythos und damit auch den Rang der (paganen) Dichtung zu behaupten, vielmehr legt er die Mythen, insbesondere, soweit sie in philosophische Texte Eingang fanden, auf einen Sinn fest, der sich v.a. als symbolische Wahrheit darstellt. Dabei wird ihm die Auseinandersetzung mit dem Mythos aber nie zum Selbstzweck; sie dient entweder der gelehrten oder auch kunstvoll rhetorischen Anspielung bzw. der argumentativen Verstärkung oder steht im Dienst seiner Philosophie, die sich zugleich als Theologie definiert. Gemäß der philosophischenTradition, der Ficino folgt, treten einige Götter in den Vordergrund: Iuppiter als Garant des Rechts und als Metapher für das 75 Vgl. z.B. Ficino, Lettere I, 130, ed. Gentile 238f., gerichtet an Alessandro Braccio: Jüdische wie heidnische Dichtung sei von Gott inspiriert; Dichtung solle nicht Irdisches, sondern Göttliches besingen: Quod quidem non Moyses solum et David ceterique Hebreorum prophete, verum etiam Zoroaster, Linus, Orpheus, Museus, Moscus, Empedocles, Parmenides, Heraclitus, Xenophanes manifeste nos religiosis carminibus suis admonuerunt; admonuere insuper Pythagoras atque Plato […]. Vgl. Eugenio GARIN, Medioevo e Rinascimento. Studi e ricerche, Bari 1954, 73.
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Göttliche schlechthin; Minerva als Allegorie der sapientia, Venus als das Gegenprinzip der voluptas. Hermes ist, unter dem Einfluss des corpus Hermeticum und des humanistischen Interesses an Hermes Trismegistos, von seinen Diebsqualitäten gereinigt und wird zum inspiratorischen Götterboten, ein Verkünder höherer Weisheit; ebenso sind die Planetengötter Repräsentanten menschlicher Fähigkeiten und Tugenden. Boccaccios enzyklopädischem Eifer und Stolz steht Ficinos Anschluss an eine spezifische philosophische Schule konträr gegenüber. Aber so wie Boccaccio nicht damit zufrieden ist, die antiken Götter- und Heroen-Mythen nachzuerzählen und zu katalogisieren, so beschränkt sich auch Ficino nicht auf die Übersetzung Platons und Plotins: Boccaccios euhemeristisch geprägtes exegetisches Grundschema lässt Menschen auf Grund ihrer Verdienste zu göttlichen Ehren kommen; Ficinos neuplatonisch geprägte Stufenlehre eröffnet dem Menschen die Chance, mittels seiner Erkenntniskraft zur Gottgleichheit zu gelangen. Damit sind zwei ganz verschiedene Ansätze beschrieben: Der euhemeristischen Deutung des Mythographen steht die komplexe Metaphysik des Philosophen gegenüber. Beiden gemeinsam ist aber, dass sie – der eine aus der mythologischen, der andere aus der philosophischen Götterlehre – das Instrument einer Anthropologie schmieden, die den Wert des Menschen nicht in seinen (christlichen) Tugenden und auch nicht in der willkürlich wirkenden göttlichen Gnade festmacht, sondern in seinen Fähigkeiten und seinem Intellekt.
Zur religiösen Polemik gegen das Studium der antiken Dichter in Italien um 1400 BODO GUTHMÜLLER Die zunehmende Bedeutung, die die studia humanitatis in Schul- und Universitätsunterricht und im allgemeinen Kulturbewusstsein im Lauf des Trecento erlangten, ließ auf der anderen Seite den Widerstand derer anwachsen, die den Wert der antiken Literatur und zumal der mythologischen Dichtung für den Christen in Frage stellten und deren Lektüre geradezu als gefährlich für Moral und Glauben ansahen.1 Eine frühe, relativ gut dokumentierte Kontroverse ist nicht zufällig aus Padua überliefert, der Hochburg prähumanistischer Studien im frühen 14. Jahrhundert. Sie konfrontiert den Notar Albertino Mussato, der sich 1315 zum Dichter krönen ließ, d.h. die laurea in der Dichtkunst erwarb, und der für die ‚göttliche‘ ars poetica an der Universität einen eigenen, der Theologie gleichwertigen Status forderte, und den Professor der Theologie am Studium generale der Dominikaner in Padua, Giovannino da Mantova, der die Thesen Mussatos verwarf und den grundsätzlichen Unterschied zwischen der sacra doctrina der Theologie und der infima inter omnes doctrinas2, der Dichtkunst, herausstellte.3 Die hier vorgefundene Konstellation wird typisch werden für die 1
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Siehe CLAUDIO MÉSONIAT: Poetica Theologia. La «Lucula Noctis» di Giovanni Dominici e le dispute letterarie tra ’300 e ’400. Roma, Edizioni di Storia e Letteratura, 1984 GIORGIO RONCONI: Le origini delle dispute umanistiche sulla poesia (Mussato e Petrarca). Roma, Bulzoni, 1976 - ROLF BACHEM: Dichtung als verborgene Theologie. Ein dichtungstheoretischer Topos vom Barock bis zur Goethezeit und seine Vorbilder. Bonn, Bouvier, 1956 - AUGUST BUCK: Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance. Tübingen, Niemeyer, 1952, S. 67ff. Thomas von Aquin: «Summa Theologiae», pars prima, quaestio 1, articulus 9 (S. Thomae de Aquino Opera omnia, recognovit ac instruxit ENRIQUE ALARCÓN automato electronico Pampiloniae ad Universitatis studiorum Navarrensis aedes a MM A.D.). Der erste Brief Mussatos an Giovannino ist verloren, sein Inhalt ist jedoch aus Giovanninos Antwortschreiben gut bekannt. In einem weiteren Schreiben an Giovannino bekräftigt Mussato seine Argumente (Brief XVIII). Albertino Mussato: Historia Augusta Henrici VII Caesaris et alia quae extant opera, ed. PIGNORIA, OSIO e VILLANI. Venezia 1636. Die wichtigsten Texte der Konroverse finden sich in: Il pensiero pedagogico dello Umanesimo, a cura di EUGENIO GARIN. Firenze, Giuntine-Sansoni, 1958, Parte Prima: La polemica sugli antichi e la difesa della poesia. Vgl. ERNST ROBERT CURTIUS: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/München, Francke, 81973, S. 221ff. - GUIDO BILLANOVICH: Il preumanesimo padovano. In: Storia della cultura veneta, II: Il Trecento. Vicenza, Neri Pozza, 1976, S. 19-110 - GUSTAVO VINAY: Studi sul Mussato, I: Il
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im späteren Trecento und frühen Quattrocento ausgetragene Kontroverse: auf der einen Seite Lob und nachdrückliche Verteidigung der antiken Autoren durch die sog. Humanisten, die oratores4, die meist Lehrer der Grammatik und Rhetorik oder Sekretäre waren, und auf der anderen Seite heftige Verurteilung der antiken Dichtung, der Mythologie zumal, durch rigoristische Kleriker, die oft dem Dominikaner-Orden angehörten, dem ganz auf die scholastische Theologie eingeschworenen und insofern konservativsten religiösen Orden der Zeit. Die vollständigste Sammlung der Argumente, die bis dahin von den homines religiosi gegen das Studium der antiken Dichter vorgebracht worden waren, findet sich im 14. Buch der «Genealogia deorum gentilium», wo Boccaccio sie in zwölf Punkten zusammenstellt, um sie dann, häufig im Rekurs auf Petrarca5, in nicht selten sarkastischem Ton zu widerlegen.6 Boccaccio zeichnet von seinen Gegnern das Bild unwissender Fanatiker, die bei dem Wort Dichtung glühende Augen bekommen und schnauben, als ob sie Todfeinden gegenüber stünden.7 In einem
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Mussato e l’estetica medievale. In: Giornale storico della letteratura italiana, CXXVI (1949), S. 113-159 - MANLIO DAZZI: Il Mussato preumanista (1261-1329). L’ambiente e l’opera. Vicenza, Neri Pozza, 1964, insbes. pp. 108-123; im Anhang bringt Dazzi Übersetzungen der «Priapea» sowie der Briefe VII (1309, an Giovanni da Vigonza), I (1315, an das Collegio degli Artisti), IV (1316, an Giovanni professore di grammatica) und XVIII (1316, an Giovannino da Mantova). Siehe GIUSEPPE BILLANOVICH: Auctorista, humanista, orator. In: Rivista di cultura classica e medievale, VII (1965), S. 143-163. Petrarca nimmt mehrfach zu den Angriffen gegen die antike Dichtung Stellung. Siehe inbes. die «Collatio edita Rome, in Capitolio, tempore laureationis suae» (In: Francesco Petrarca: Opere latine, a cura di ANTONIETTA BUFANO, vol. II. Torino, Utet, 1975, S. 1256-1283), die «Invective contra medicum» (1352-53, ebda., S. 818-981), die «Epistolae Seniles», V.3 und XV.11 (In: Francesco Petrarca, Lettere Senili, volgarizzate e dichiarate con note di GIUSEPPE FRACASSETTI. 2 voll., Firenze, Le Monnier, 1892), sowie Brief X.4 der «Familiares» (In: Le Familiari, ed. crit. per cura di VITTORIO ROSSI, Bd. II. Firenze, Sansoni, 1934, S. 301-303) und II.10 der «Metricae» (In: F. Petrarchae poemata minora, a cura di D. ROSSETTI, II. Milano 1831, pp. 214-241). Vgl. GIUSEPPE BILLANOVICH: Petrarca letterato. I: Lo scrittoio del Petrarca. Roma, Ed. di Storia e Letteratura, 1947 - RONCONI: Le origini (wie Anm. 1), S. 60ff. «Genealogie deorum gentilium», a cura di VITTORIO ZACCARIA. 2. Bde., Milano, Mondadori, 1998 (Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, a cura di Vittore Branca, VII-VIII); s. außerdem Boccaccios «Trattatello in laude di Dante», a cura di PIER GIORGIO RICCI (ebda., Bd. III., 1974, S. 468ff.) sowie die «Esposizioni sopra la Comedia di Dante», a cura di GIORGIO PADOAN. 2 Bde., Milano, Mondadori, 1994, insbes. Bd. I, S. 34-43 (Canto I (I), L. III). Vgl. CHARLES G. OSGOOD: Boccaccio on Poetry, Being the Preface and the Fourteenth and Fifteenth Books of Boccaccio’s «Genealogia Deorum Gentilium». Indianapolis, Bobbs-Merrill, 1956. «Genealogia», XIV.5. An anderer Stelle («Genealogia», XIV.15, S. 1456-1459) berichtet Boccaccio von einem ehrwürdigen Professor der Theologie, der, als er während einer Vorlesung auf das Wort poeta stößt, mit glühendem Gesicht, flammenden Augen und erregter Stimme über die Dichter herzieht und dann, gleichsam um sein Urteil zu bekräftigen, bekennt, er habe nie einen Gedichtsband in die Hand genommen und werde dies auch in Zukunft nicht tun. Poteratne loqui stultius ab insano?, so kommentiert Boccaccio.
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Brief an Petrarca berichtet er von einer aufschlussreichen Begebenheit: ein Mönch (Pietro da Siena) habe auf dem Totenbett aus Sorge um ihr Seelenheil Boccaccio und Petrarca dazu aufgerufen, vom Studium der Dichtkunst abzulassen, da ihr Tod nahe bevor stehe.8 Cepit ille fastidiosissime stomacari et execrabiliter abhorrere, so schildert Pietro da Monteforte, ein Neapolitaner Jurist, in einem «In defensione et laude poesis» betitelten Brief an den bewunderten Boccaccio die Reaktion eines jungen Doktors der Theologie, als dieser in einer Unterhaltung auf Dichtung und Dichter hin angesprochen wurde.9 Als Folge der sich immer weiter ausbreitenden humanistischen Bewegung erreicht die Kontroverse im späten Trecento ihren Höhepunkt. Ein extremes Zeugnis ist der gegen den Humanisten Ambrogio Migli gerichtete anonyme «Antiovidianus», den vermutlich ein Mailänder Franziskaner verfasst hat; Ore tuo putrido fetida queque vomis (Vers 138), in diesem Ton wird der antike Autor gegeißelt.10 Ovid stellt allerdings einen Sonderfall dar, insofern auch Humanisten im Gefolge Petrarcas gegenüber seiner Liebesdichtung moralische Vorbehalte hatten. Auf der anderen Seite schreibt Francesco da Fiano, ein Bewunderer Boccaccios und Freund Salutatis, um 1400 sein aggressives Pamphlet «Contra ridiculos oblocutores et fellitos detractores poetarum»11, in dem er Prälaten der Kurie aufgrund ihrer dichtungsfeindlichen Einstellung attackiert. In Florenz kommt es zu der bekannten Debatte über den Wert der studia humanitatis zwischen dem Dominikaner Giovanni Dominici, der als Reformator seines Ordens, als populärer Prediger und als Professor am Studium generale eine herausragende Rolle im Florentiner Leben der Zeit spielte, und dem Kamaldulenser Giovanni da Samminiato auf der einen Seite, sowie dem damaligen Haupt der Humanisten Co8 Siehe Petrarca: «Seniles», I.5 (Lettere senili, Bd. I, S. 32-49). 9 Siehe GIUSEPPE BILLANOVICH: Pietro Piccolo da Monteforte tra il Petrarca e il Boccaccio. In: Medioevo e Rinascimento. Studi in onore di Bruno Nardi. Firenze, Sansoni, 1955, S. 3-76; der Brief, dessen Titel vermutlich von Boccaccio stammt, findet sich S. 44-58, das Antwortschreiben Boccaccios S. 59-65. Pietro da Monteforte führt in dem Brief zahlreiche Argumente auf, mit denen er die Dichtung gegen den Theologen verteidigt hat; Boccaccio übernimmt, wie Billanovich gezeigt hat, diese Argumente z. T. wörtlich in die «Genealogia». 10 Hg. von RICHARD KIENAST nach cod. 509 der Dombibliothek von Olmütz; s. Aus Petrarcas ältestem deutschen Schülerkreise. Texte und Untersuchungen, unter Mitwirkung RICHARD KIENASTS, hg. von KONRAD BURDACH. Berlin 1929 (Vom Mittelalter zur Reformation, 4), S. 81-111. Kienast schreibt den Epilog des Gedichts irrtümlich Petrarca zu; s. FAUSTO GHISALBERTI, Di un epilogo latino attribuito al Petrarca. In: Giornale storico della letteratura italiana, CI (1933), S. 81-93. 11 Un opuscolo inedito di Francesco da Fiano in difesa della poesia, a cura di MARIA LUISA PLAISANT. In: Rinascimento, seconda serie, I (1961), S. 119-162. Zuverlässiger und informationsreicher ist die Ausgabe von IGINO TAÙ, in: Archivio italiano per la storia della pietà, IV (1965), S. 254-350; siehe die Besprechung von GIORGIO RONCONI in: Studi sul Boccaccio, III (1965), S. 403-411; vgl. HANS BARON: The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. Princeton, Princeton University Press, 1966, S. 300ff.
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luccio Salutati und seinem Schützling Angelo Corbinelli auf der anderen. Giovanni da Samminiato hatte vermutlich Anfang 1405 an Angelo Corbinelli eine «Epistola exhortatoria ut discedat a lectura poetarum et sacre pagine codicibus innitatur» geschrieben12, auf die Salutati am 25. Januar 1405(?)13 mit einem langen Brief, der die Form eines kleinen Traktates hat, antwortet.14 Dieser Brief provoziert die (Salutati gewidmete) «Lucula Noctis» des Giovanni Dominici (1405), eine gewichtige Schrift von mehreren hundert Seiten, in der der Dominikaner eine refutatio aller humanistischen Argumente für die klassische Erziehung anstrebt15; der Titel, das ‚Glühwürmchen, das in der Nacht leuchtet‘, spielt an auf Johannes I.5: ‚Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen‘; das Licht ist natürlich der christliche Glauben, die Finsternis das im Humanismus wiederauflebende Heidentum. Die «Lucula Noctis» darf ohne Zweifel als der Schlüsseltext der religiösen Polemik gegen das Studium der antiken Dichter in der Zeit des Frühhumanismus gelten16, doch bezieht Dominici Positionen, die in ihrer fundamentalistischen Tendenz und generellen Gegnerschaft gegenüber der klassischen Kultur von den Positionen der Autoritäten, auf die er sich beruft, der Kirchenväter und großer mittelalterlicher Theologen wie Thomas, abweichen und in ihrer Radikalität keineswegs von allen Angehörigen seines Ordens geteilt wurden.17 Pietro da Monteforte z.B. berichtet in dem schon 12 Siehe den Text des Briefes in: BERTHOLD L. ULLMAN: Studies in the Italian Renaissance. Roma, Ed. di storia e letteratura, 1955, S. 251-255. Giovanni da Samminiato wirft Corbinelli u.a. vor, er finde Gefallen an den unmoralischen Mythen: Placet Methamorfoseis et Demogorgonis nomen diis horrendum. Et ut mille huiusmodi monstruosa preteream, placet Dampnes incestus, Proserpine raptus, Martis Venerisque adulterium, Minerve lanificia tua, Bachi orgia, Priapi nefanda de celo turbatio, Europe furtum. [...] Hec omnia [...] velut monstruosa portenta mentem inquinant, mores dissipant, et, si quid boni animo possides huius peste veneni perimetur. Um seiner Verdammung der Dichter Nachdruck zu verleihen, zitiert Giovanni die üblichen Stellen aus Hieronymus (Demonum cibus sunt carmina poetarum; Ciceronianus non Christianus es) und Boethius (Quis has scenicas meretriculas ad hunc egrum permisit accedere?). 13 Zur Datierung s. die Bemerkungen Novatis in Coluccio Salutati: Epistolario, a cura di FRANCESCO NOVATI. Roma, Forzani, 1891-1911, Bd. IV, S. 171f. sowie ULLMAN: Studies in the Italian Renaissance (wie Anm. 12), S. 250f. 14 Brief XIV.23 vom 25. Januar 1405 (1404?), Epistolario, Bd. IV, S. 170-205. Salutatis Ausführungen zur Dichtkunst finden sich außer in den Briefen an Giovanni da Samminiato und an Giuliano Zonarini in «De laboribus Herculis», hg. von BERTHOLD L. ULLMAN. 2 Bde., Turici, Thesaurus Mundi, 1951, insbes. in Buch I (das Werk ist zu Lebzeiten Salutatis nicht veröffentlicht worden). Vgl. BERTHOLD L. ULLMAN, The Humanism of Colluccio Salutati. Padova, Antenore, 1963, S. 53ff. 15 Iohannis Dominici «Lucula Noctis», hg. von EDMUND HUNT. Notre Dame (Indiana), The University of Notre Dame, 1940. Salutati hat eine Entgegnung begonnen, konnte sie aber aufgrund seines Todes 1406 nicht fertigstellen; siehe Epistolario, Bd. IV, S. 205240. 16 Vgl. MÉSIONAT (wie Anm. 1), S. 7. 17 Wir wissen, dass Dominici mit seinen Reformbestrebungen, insbesondere mit seinem Verbot des usus librorum, auch innerhalb seines Ordens auf Widerstand stieß; 1399 war
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genannten Brief an Boccaccio von dem großen Interesse, das Boccaccios «Genealogia» in Neapel auch bei Theologen findet; ein Exemplar soll sogar in die Bibliothek der Dominikaner eingestellt werden ad magistrorum, lectorum atque studentium et predicantium commodum.18 Die «Lucula» hat die Struktur eines scholastischen articulus19; am Anfang steht die Formulierung der quaestio (an fidelibus Christianis licitum sit litteris secularibus uti20- die Begriffe ‚weltlich‘ und ‚heidnisch‘ sind bei Dominici weitgehend synonym); es folgt die pars affermativa, die 12 argumenta umfasst, in denen Dominici die Gründe der Fürsprecher, vor allem Salutatis und Boccaccios, referiert, sowie jene Stellen der antiken Autoren und Kirchenväter zitiert und diskutiert, die von den Humanisten zur Stützung ihrer Thesen herangezogen wurden. (Der ständige Rekurs auf auctoritates kennzeichnet beide Lager). In Kap. 13 folgt das sed contra, der Widerspruch, zunächst pauschal mittels eines einzigen Arguments, das Dominicis Grundhaltung gegenüber den gegnerischen Thesen vorwegnimmt: Ich übersetze: ‚Jeder Christ darf sich nur mit dem befassen, was ihn zur wahren Glückseligkeit führt oder wenigstens auf dem Weg dahin nicht behindert. Das Studium der weltlichen Schriften führt ihn nicht zur wahren Glückseligkeit, sondern hindert ihn meist. Daher dürfen diese Werke von den Christen nicht studiert werden‘.21 In den Kap. 15-17 definiert Dominici die in der quaestio enthaltenen Begriffe, christianus, philosophia und licitum: Christ ist derjenige, der die Nachfolge Christi in Wort und Tat als erste Lebensaufgabe ansieht, philosophia ist die Gesamtheit der heidnisch-weltlichen Schriften22; lici-
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er aufgrund seines Extremismus aus Venedig ausgewiesen worden; s. GIORGIO CRACCO: Banchini, Giovanni di Domenico. In: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. V. Roma, Istituto dell’Enciclopedia italiana, 1963, S. 657-664: 658f. BILLANOVICH: Pietro Piccolo da Monteforte (wie Anm. 9), S. 49 und 56; Beryl Smalley zeichnet in Thomas Waleys das Bild eines Dominikaners, “(who) combined his duties as theologian und preacher with a love for pagan antiquity”; BERYL SMALLEY: Thomas Waleys O.P. In: Archivum fratrum praedicatorum, XXIV (1954), pp. 50-107: 50; Smalley nennt als weitere Beispiele von Dominikanern, “(who) saw the classics as a treasure to be exploited for pious purposes” (p. 106), Robert Holcot und Thomas Ringstede. Die Kontroverse über das Studium der antiken Dichter lebte im 15. Jahrhundert fort, verlor jedoch viel von ihrer Schärfe und Grundsätzlichkeit. Siehe z. B. die «Orationes contra poetas» (1455) des Veroneser Bischofs Ermolao Barbaro, der vor den antiken Mythen warnt, die Weisheit und Beredsamkeit der antiken Autoren jedoch schätzt und bewundert. Ermolao Barbaro il Vecchio: Orationes contra poetas. Epistolae, ed. crit. a cura di GIORGIO RONCONI. Firenze, Sansoni, 1972. Vgl. MÉSIONAT (wie Anm. 1), S. 56f. «Lucula», Kap. 1, S. 6. Christianus quilibet illis solum debet intendere que ipsum ad veram beatitudinem ducunt aut saltem non impediunt. Sed philosophorum studium ad veram beatitudinem non perducit sed plerumque impedit. Igitur eorum dicta studeri non debent ab eis (Kap. 13, S. 119). Eam hic dico philosophiam, seu seculares litteras voco, quam ethnici sive seculares homines ut communiter invenisse creduntur. Hanc, auctore Varrone, quadrifariam diviserunt, videlicet
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tum besagt, dass es dem Christen erlaubt ist, omni re creata uti, sed non abuti. Auf die Lektüre der heidnischen Autoren übertragen heißt dies: sie ist nur erlaubt, wenn sie dem Lob Gottes dient, jede andere Motivation ist Missbrauch, etwa um weltliche Ehren zu erlangen, um Geld zu verdienen oder weil man Freude daran hat.23 Das von den Humanisten immer wieder ins Feld geführte Argument, das Studium der antiken Autoren werde durch das Vorbild der Kirchenväter, und insbesondere des Augustinus und Hieronymus24, die sie auf Schritt und Tritt zitierten, legitimiert25, ist für Dominici hinfällig: die Kirchenväter studierten die heidnischen Autoren propter Deum, was für die modernen Humanisten nicht zutreffe. In den Kapiteln 18-47 folgen dann die Antworten auf die einzelnen argumenta der pars affermativa. Die «Lucula» bringt so, ähnlich wie Boccaccios «Genealogia», die Polemik aus der Perspektive beider Seiten und ist insofern zum Verständnis der Kontroverse besonders aufschlussreich. Dominici antwortet zunächst auf die These, die dem Kanzler der Republik Florenz besonders am Herzen lag: der Staatsmann bedürfe zur rechten Staatsführung der Weisheit der Alten. Die Schar der Philosophen, so setzt Dominici dagegen, von denen jeder etwas anderes sagt und die den wahren Gott nicht kannten, schadet nur (Kap. 18-19); dass die Bildung des Laien, im vorliegenden Fall des Staatsmannes, ggf. eine andere sein muss als die des Klerikers, zieht Dominici nicht in Betracht. Gleich in der zweiten responsio kommt er auf die zentrale Frage des Verständnisses der antiken Götter und der Beziehung des antiken Götterglaubens zum christlichen Glauben zu sprechen (Kap. 20-23). Er musste sich vor allem dieser Problematik stellen, waren doch die Leitgedanken der frühen Humanisten, mit denen sie das Studium der antiken Autoren legitimierten, die besondere Nähe der antiken Dichtung zu den «Heiligen Schriften» sowie das allegorische Verständnis der Mythen, mit dessen Hilfe die hauptsächlichen Vorwürfe der Vielgötterei, der Unmoral, der Falschheit und Verführung entkräftet werden konnten. Dominici rekurriert auf die von Augustinus in «De Civitate Dei» überlieferte Unterscheidung von drei Arten des Götterglaubens in der Antike (tria genera theologiae): die Präsenz der Götter in der Dichtung (genus mythicon), in den in rationalem, moralem, naturalem, et divinam. Die Dichtung gehört in diesem Schema zur Moralphilosophie («Lucula», Kap. 16, S. 132). 23 «Lucula», Kap. 17, S. 144. 24 Salutati bringt zusätzlich Basilius ins Spiel, dessen kurzer Traktat «Ad adolescentes» Petrarca und Boccaccio noch nicht bekannt war. Die Rezeption des Traktats im Westen beginnt um 1400 mit Brunis Salutati gewidmeter Übersetzung ins Lateinische. Für Basilius bieten die antiken Dichter, richtig gelesen, moralische Belehrungen und bereiten auf das Studium der «Bibel» vor; Salutati, Brief vom 25. Januar 1405 (1404?), Epistolario, IV, S. 184-186. Siehe LUZI SCHUCAN: Das Nachleben von Basilius Magnus «ad adolescentes». Ein Beitrag zur Geschichte des christlichen Humanismus. Genève, Droz, 1973. 25 Siehe etwa Petrarca: «Invective», III, S. 892 - Boccaccio: «Genealogia», XIV.18, S. 14761481, XV.9, S. 1556 - Salutati: Brief X.16, vom 23. April 1398 an Pellegrino Zambeccari, Epistolario, Bd. III, S. 285-308: 290 und Brief XIV.23, ebda., Bd. IV, S. 182ff.
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Werken der Philosophen (genus physicon) und im religiösen Kult (genus civile)26. Augustinus führt diese Unterscheidung in Buch IV, Kap. 27, offenbar nach dem Zeugnis der «Antiquitates rerum humanarum et divinarum» Varros, auf den römischen Pontifex Maximus Mucius Scaevola zurück, in Buch VI, Kap. 5ff. setzt er sich dann direkt mit Varro auseinander27. Der heidnische Autor verdamme zu Recht die Theologie der Dichter, die die Götter entwürdige und verunglimpfe, indem sie ihnen schändliche Taten unterstelle und ihnen z.B. andichte, sie seien aus einem Blutstropfen entstanden oder einem Schädel entsprungen (Anspielungen auf die Geburt des Saturn und der Minerva). Die theologia civilis, den schändlichen antiken Götterkult, stelle Varro jedoch nicht in Frage, und in der theologia physica, den Spekulationen der Philosophen über die Natur der Götter (dii qui sint, ubi, quod genus...) erkenne er die höchste Form der Theologie, die allerdings, Augustinus deckt den Widerspruch auf, nicht für die Ohren des Volks bestimmt ist, das an die traditionellen falschen Götter glauben soll.28 Für den Kirchenvater war es ein Leichtes aufzuzeigen, dass es zwischen dem Bild der Götter in der Dichtung und den Göttern im religiösen Kult keinen prinzipiellen Unterschied gibt: die Götter, die man im Theater verlacht, sind dieselben wie die, denen man Opfer darbringt; sie haben in Dichtung und Kult dieselben Attribute; in den Tempeln geschehen aus Anlass der Götterfeste ähnliche Schändlichkeiten und Freveltaten wie die, die in der Dichtung geschildert werden.29 Augustinus nennt u.a. das Cybelefest, an dem sich zu Ehren der Göttin junge Männer verstümmelten30. Varro scheue sich, den staatlichen Götterkult zu kritisieren; er erachte ihn für notwendig, obwohl er sehe, dass er unvereinbar sei mit der Natur des Göttlichen.31 Was schließlich die theologia physica angeht, so legten die heidnischen Philosophen die Mythen als Verweise auf Naturphänomene aus, um das Schändliche der antiken Götter zu verbergen; so deuteten sie z.B. Saturn, der seine Kinder verschlingt, als die alles vertilgende Zeit.32 Diese Erörterung des Augustinus wird von Gegnern der antiken Dichtung und der antiken Mythen immer wieder aufgegriffen, um ihre Kritik durch die Autorität des Kirchenvaters zu untermauern. Doch die Verteidiger der antiken Dichtung berufen sich ihrerseits auf Augustinus, wie geht dies zusammen?
26 Augustinus: «De Civitate Dei», Buch VI, Kap. 5. (Ich zitiere nach der Ausgabe Sancti Aurelii Augustini Episcopi De Civitate Dei libri XXII, rec. BERNARDUS DOMBART et ALFONSUS KALB. 2 Bde., Darmstadt, WB, 51981). Dominici rekurriert in Kap. 21 auf «De Civitate Dei», IV.27 und in Kap. 39 auf «De Civitate Dei», Kap. VI.5 ff. 27 Vgl. JEAN PEPIN: Mythe et allégorie. Les origines grecques et les contestations judéochrétiennes. Aubier, Ed. Montaigne, 1958, S. 280-290. 28 Vgl. Augustinus’ Auseinandersetzung mit Mucius Scaevola, «De Civitate Dei», IV.27 und 31. 29 Ebda., VI. 6-7. 30 Vgl. ebda., VII.25-26. 31 Ebda., VI.2 und 6-7. 32 Ebda., VI.8.
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Petrarca, Boccaccio, Salutati sahen sich der Schwierigkeit gegenüber, dass sie einerseits die Autorität des Kirchenvaters nicht in Frage stellen konnten, andererseits aber seiner Bewertung der Dichtung nicht zustimmen wollten. Sie finden deshalb folgenden Ausweg, den Petrarca vorzeichnet und Boccaccio dann in Buch XV, Kap. 8 der «Genealogia» ausführlich entwickelt. Die theologia civilis oder sacrificula33, der antike Götterkult, ist selbstverständlich auch für Petrarca und seine Schüler schändlich, doch noch immer gegen ihn zu polemisieren, ist müßig, ist doch der heidnische Irrglaube dank Christus seit langem endgültig besiegt und ausgerottet worden. Was aber die theologia mythica betrifft, so meinten Varro und Augustinus (behaupten die Humanisten) damit nicht die antike Dichtung schlechthin, sondern nur schändliche Werke, die des Namens Dichtung nicht würdig sind, insbesondere obszöne Komödien ohne tieferen Sinn, in denen die Götter verlacht und in den Schmutz gezogen werden.34 Die wahre Dichtung eines Homer oder Virgil jedoch werde in «De Civitate Dei» nicht verworfen.35 Die Humanisten bewegen sich hier ohne Zweifel auf brüchigem Boden, da Augustinus zwar vor allem das Theater, das ja Teil der Götterfeste, des Kults war, anprangert, von seiner Kritik jedoch die übrige mythologische Dichtung nicht ausnimmt.36 Ebenso problematisch ist die Behauptung Petrarcas, Boccaccios, Salutatis, Plato habe nur die zum Laster anstiftenden Dichter, insbesondere die Komiker, aus seinem idealen Staat vertreiben wollen37 und Boethius habe nur die 33 «Genealogia», Buch XV, Kap.8, S. 1546. 34 In ultimo agmine poetarum quidam sunt quos scenicos vocant, ad quos pertinet [...] quidquid a quolibet contra poetas vere dicitur; et hi quidem ipsos inter poetas contemnuntur (Petrarca: «Invective», III, S. 908; ders. «Lettere Senili», XV.11, vol. II, p. 438f.). 35 «Genealogia», XIV.9, S. 1414 - Petrarca: «Invective», III, S. 908. Zu den wahren Dichtern zählen für Boccaccio auch die großen Komiker Terenz und Plautus. 36 Siehe z.B. «De Civitate Dei», II.14 (Bd. I, S. 69): An forte Graeco Platoni potius palma danda est, qui cum ratione formaret, qualis esse civitas debeat, tamquam adversarios veritatis poetas censuit urbe pellendos? Iste vero et deorum iniurias indigne tulit et fucari corrumpique figmentis animos civium noluit. 37 Boccaccio: «Genealogia», XIV.19: Minime poete omnes iussu Platonis pellendi sunt urbibus - Petrarca: «Invective», III, S. 908: Ut enim constet non de omnibus eum sensisse, sed de scenicis tantum, ipsius Platonis ratio audienda est ab Augustino posita: quia, scilicet, ludos scenicos "indignos deorum maiestate ac bonitate” censebat [...]. Id tamen Platonis iudicium non modo heroycis atque aliis nil nocebat, imo vero multum proderat, quoniam, velut excussor poeticam ingressus in aream, valido verbi flabro grana discrevit a paleis (vgl. Augustinus: «De Civitate Dei», VIII.13, Bd. I, S. 340) - Salutati: «De laboribus Herculis», I, 4ff. Die Behauptung, Plato wolle nur die Komiker aus der Stadt vertreiben, große Dichter wie Homer nehme er aus, widerspricht eindeutig Platos Worten, der seine Kritik an der Dichtung gerade am Beispiel Homers entwickelt. Homer spreche in entwürdigender Weise von den Göttern, er lasse sie jammern und klagen, zeige sie der Liebeslust verfallen, geldgierig und bestechlich (III, 387d-398b); Homers Dichtung sei ohne Erkenntniswert und moralischen Nutzen, im Gegenteil sie wirke auf das Unvernünftige in der Seele ein und bestärke die schlechten Regungen und Leidenschaften (X, 598d-608b); Platon: Politeia. Der Staat, bearbeitet von DIETRICH KURZ. Griechischer Text von ÉMILE
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frivolen, verführerischen Musen gemeint, als er die Philosophie die poeticas Musas von seinem Krankenbett verjagen ließ.38 Nur die frivole, lasterhafte Dichtung dürfe der verwerflichen theologia mythica zugeordnet werden, die wahren Dichter hingegen gehörten zur ‚lobenswerten, weil nützlichen‘ theologia physica der Philosophen. [Theologia] physica, so Boccaccio, poetis egregiis attribuitur, eo quod sub fictionibus suis naturalia contegant atque moralia et virorum illustrium gesta.39 Die wahre Dichtung hat einen doppelten Sinn: was auf der Ebene des Literalsinns erzählt wird, die Göttergeschichten, ist von den Dichtern erfunden worden, unter dem fiktiven cortex jedoch verbergen sich wichtige Wahrheiten, die entweder Naturphänomene oder die Ethik oder die Taten großer Männer betreffen. Die ursprünglich im Begriff der theologia physica liegende Bedeutung, es gehe hier um die Spekulationen der Philosophen über Gott und die Natur, wird von Boccaccio ausgeweitet auf Moral und Geschichte, und er erreicht so die in der Tradition der Dichterallegorese übliche dreifache Auslegung nach dem sensus naturalis, moralis und historicus. Boccaccio fährt fort und referiert die auf Sueton und Isidor zurückgehende These Petrarcas, die frühen Dichter hätten ihre Gedichte zum Lob der Götter verfasst und seien nach dem Zeugnis des Aristoteles, weil sie als erste über die Götter nachgedacht hätten, die ersten Theologen genannt worden.40 Boccaccio, der die Namen Orpheus, Linus, Musaeus, die Aristoteles nicht nennt, von Augustinus übernimmt41, versteht, wie auch Petrarca und schon vorher Mussato,
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CHAMBRY. Deutsche Übersetzung von FRIEDRICH SCHLEIERMACHER. Darmstadt, WB, 1971. Petrarca und Boccaccio kannten das Werk nur über Augustinus. Boccaccio: «Genealogia», XIV.20, S. 1496: Ex quibus satis possunt quod ignorabant videre poetis infesti, Boetium scilicet, dum Musas meretriculas scenicas vocitabat, de theatrali Musarum specie intellexisse - Boethius, «Consolatio Philosophiae», I, 1. Prosa (Boethii Consolationis philosophiae libri quinque, hg. u. übers. von ERNST GEGENSCHATZ und OLOF GIGON. 3. Aufl., Zürich-München, Artemis, 1981); vgl. Petrarca: «Invective», I, S. 840843, III, S. 902-905, 908-909 - ders.: «Lettere Senili», XV.11, vol. II, p. 439 - Salutati: Brief XIV.23, Epistolario, Bd. IV, S. 191-193. «Genealogia», XV.8, S. 1546. Vgl. Pietro da Monteforte: «In defensione et laude poesis» (wie Anm. 9), S. 50. «Genealogia», XV.8, S. 1546; vgl. Boccaccio: «Esposizioni», I, S. 34-36 - Petrarca: «Familiares», X.4 - Isidor: «Etymologiae», VIII.7, 1-3 und 9 (Isidor beruft sich auf Sueton: «De poetis»; s. Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX, hg. von WALLACE MARTIN LINDSAY. Oxford 1911) - Aristoteles: «Metaphysik», I, 983b: ‚Manche meinen auch, dass die Alten, welche lange vor unserer Generation und zuerst über die göttlichen Dinge geforscht haben (die ersten Theologen), ebenso (wie Thales) über die Natur gedacht hätten; denn den Okeanos und die Thetys machten sie zu Erzeugern der Entstehung‘ (Aristoteles: Metaphysik, nach der Übersetzung von HERMANN BONITZ bearbeitet von HORST SEIDL. Hamburg, Meiner, o.J., S. 9). Augustinus: «De Civitate Dei», XVIII.14, Bd. II, S. 274 («De theologis poetis»): Per idem temporis intervallum (in der Zeit der Richter) extiterunt poetae, qui etiam theologi dicerentur, quoniam de diis carmina faciebant, doch sangen sie - Orpheus, Musaeus, Linus von falschen Göttern, nec a fabuloso deorum suorum dedecore etiam ipsi se abstinere potuerunt; vgl. ebda., XVIII. 37. Aristoteles nennt an dieser Stelle keine Namen; er spielt
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die Bezeichnung des Aristoteles primos theologizantes (τοὺσ πρῶτουσ θϵολογῆσαντασ) als Ausdruck des Ansehens und der erhabenen Würde der Dichtkunst.42 Einer solchen Deutung hatte jedoch schon Giovannino da Mantova zu Recht widersprochen, der Thomas folgend festhält, dass nach Angaben des Aristoteles von den frühen Dichtern Okeanos und Thetys zu Urhebern der Schöpfung und damit, unter mythischer Verkleidung (sub fabulari similitudine43), das Wasser zum höchsten Gott erhoben wurde. Quia ergo non de vero Deo, sed de falsis diis tractaverunt, ideo veram theologiam non tradiderunt, nec veri theologi appellari potuerunt.44 Vermutlich meint Boccaccio eben auch Giovannino da Mantova, wenn er von quidam [...] religiosi homines spricht, die ‚in heiligem Eifer‘ den heidnischen Dichtern den Titel Theologen absprechen wollen.45 Die heidnischen Dichter haben zwar vor der Offenbarung geschrieben und konnten dementsprechend die christliche Doktrin nicht kennen, doch, so setzt Boccaccio, Petrarca folgend46, dagegen, sie haben die Vielgötterei bereits als falsch erkannt und sprechen in ihren Gedichten, wenn auch in unvollkommener Form, von der einen Gottheit.47 Virgil besingt die Allmacht Iupiters und legt das Epitheton omnipotens nur ihm und keinem anderen Gott zu; die übrigen Götter (Reliquam autem deorum multitudinem) hielten die Dichter nicht eigentlich für Götter, sondern für Teile oder Aufgabenbereiche der einen Gottheit (non deos, sed dei membra aut divinita-
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jedoch an auf Homer: «Ilias», XIV, 201 und 246; später im Text spricht er von Hesiod ‚und allen übrigen Theologen‘, die ‚Götter zu Prinzipien machen und aus Göttern alles entstehen lassen‘ («Metaphysik», 1000a, S. 53). Petrarca: «Invective», III, S. 920: Primos nempe theologos apud gentes fuisse poetas et philosophorum maximi testantur (Aristoteles) et sanctorum confirmat auctoritas (Augustinus) [...]. In quibus maxime nobilitatus Orpheus, cuius decimoctavo civitatis eterne libro Augustinus meminit; vgl. Augustinus: «De Civitate Dei», XVIII.24 (Bd. II, S. 288): unter den Dichtertheologen Orpheus maxime omnium nobilitatus est». Thomas: «Sententia libri Metaphysicae», liber 1, lectio 4, n. 15: Ad cuius evidentiam sciendum est, quod apud Graecos primi famosi in scientia fuerunt quidam poetae theologi, sic dicti, quia de divinis carmina faciebant. Fuerunt autem tres, Orpheus, Museus et Linus, quorum Orpheus famosior fuit [...]. Dixerunt enim quod Oceanus, ubi est maxima aquarum aggregatio, et Thetis, quae dicitur dea aquarum, sunt parentes generationis: ex hoc sub fabulari similitudine dantes intelligere aquam esse generationis principium. «Epistola fratris Ioannini de Mantua ordinis praedicatorum, [...] quam misit Mussato poetae Paduano invehens contra poeticam», in: GARIN (wie Anm. 3), S. 2-13: 6. Der Brief, den Mussato an Giovannino gerichtet hatte, ist verloren; in seiner Antwort referiert Giovannino jedoch ausführlich Mussatos Argumente. «Genealogia», XV.8, S. 1544: Quidam forte religiosi homines, sancto movente zelo, [...] dicent iniuriam sacrosancte religioni christiane illatam, dum poetas gentiles dicimus esse theologos, quos solos divinis instructos licteris hoc insigne faciamus Christani decoros. «Invective», III, S. 892: Poetarum clarissimi unum omnipotentem, omnia creantem, omnia regentem, opificem rerum Deum in suis operibus sunt confessi. Vgl. Francesco da Fiano: «Contra ridiculos oblocutores» (wie Anm. 11), S. 128. «Genealogia», XIV.13, S. 1443. Vgl. Petrarca: «Invective», III, S. 892.
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tis officia putavere48). So wie die Christen hervorragende Menschen Heilige nennen, so nannten die Heiden sie Götter; dabei ist der Begriff Götter nicht wörtlich zu verstehen, sondern, so schon Mussato, im Sinn des Boethius, der schreibt, Nam quidem unus est Deus; participatione autem nihil prohibet esse quamplurimos.49 Kommen wir zurück zu Dominici. Er musste sich vor allem mit der in der Kontroverse zentralen Frage der Beziehungen zwischen Dichtung und Theologie auseinandersetzen und greift gleich zweimal die These von den drei Arten des antiken Götterglaubens auf, in der zweiten responsio, die unter dem Motto steht Sinceritati fidei philosophorum sunt traditiones adversae, und in der zehnten: Nullus ethnicus fuit philosophus secundum veram philosophiam, et ideo communiter nullus est legendus.50 Prima [theologia], so Dominici, ludit in theatris in iniuriam deorum, secunda strepit in gignasiis aut mentibus tumentium philosophorum, sed tertia errat in templis faustu demoniorum51; die erste, die theologia fabulosa der Dichter, treibt ihr Spiel in den Theatern zum Schimpf der Götter, die zweite lärmt in den Schulen und in den Köpfen aufgeblasener Philosophen, die dritte irrt in den Kirchen unter dem Schutz und dem Beifall der Dämonen. Diese summarische Charakteristik der drei genera theologiae in der Antike deutet schon an, dass es Dominici nicht um Auseinandersetzung geht, sondern um polemische Abweisung. Alle drei Traditionen sind gegen den wahren Glauben gerichtet und deshalb ohne Nutzen und gefährlich. Satis est vidisse, so fasst Dominici zusammen, in tota hac theologia non Deum, non beatitudinem, non denique veritatem sinceram aliquam inveniri.52 ‚Für den Christen‘, so heißt es lapidar, ‚ist es nützlicher, die Erde zu pflügen als die Bücher der Heiden zu lesen‘ (Utilius est Christianis terram arare quam gentilium intendere libris, Kap. 32, S. 252). Für Dominici zählt allein die religiöse Bildung, außerhalb der «Bibel» gibt es keine Wahrheit. Er verschließt sich eng und unbeweglich allen anderen kulturellen Bereichen und möchte die Klosterstrenge auf die gesamte Gesellschaft übertragen, nur so scheint ihm das ewige Seelenheil, das oberste Ziel des Christen, erreichbar. Wie entstand der heidnische Götterkult, die theologia civilis? Dominici greift die bei Laktanz oder Fulgentius53 zu findende euhemeristische Göttererklärung 48 «Genealogia», XIV.13, S. 1442 - Augustinus: «De Civitate Dei», IV.11, Bd. I, S. 160: De multis diis, quos doctiores paganorum unum eundemque Iovem esse defendunt. 49 (Mussato): «Declaratio epistolae responsivae», in: GARIN (wie Anm. 3) S. 14 - Boethius: «Consolatio», III, 10. Prosa, S. 136: Et natura quidem unus; participatione vero nihil prohibet esse quam plurimos. Vgl. Francesco da Fiano: «Contra ridiculos oblocutores» (wie Anm. 11), S. 144f. 50 Siehe «Lucula», Kap. 18, S. 147, Kap. 20-23 und Kap. 39-43. 51 Ebda., Kap. 39, S. 337. 52 Ebda., Kap. 40, S. 345. 53 Lactantius: «Institutiones», I.15 (Lactance: Institutions divines, livre I, introduction, texte critique, traduction et notes par PIERRE MONAT. Paris, Les éditions du Cerf, 1986, S. 153ff. - Fabius Planciades Fulgentius: «Mitologiarum libri tres», in: Opera [...], recensuit R. HELM, Leipzig 1898, Kap. 1: «Unde idolum?».
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auf, die er mit dem Dämonenglauben verbindet.54 Die Heiden verehrten bestimmte Menschen aufgrund ihrer besonderen Verdienste. Die Dichter besangen diese Menschen in ihren Liedern und lobten sie in den Himmel. So entstand bei den Nachfahren allmählich der Irrtum, den die Dämonen kräftig schürten, in diesen Menschen Götter zu sehen. Die Dämonen versteckten sich in den Standbildern, die man den angeblichen Göttern errichtete, und ließen an ihnen Wunder geschehen. Der Psalmist sagt zu Recht Omnes dii gentium demonia (Psalm XCV.5). Da in jeder Region andere Menschen verehrt wurden, Isis in Ägypten, Iupiter in Kreta, Minerva in Athen, Apoll in Delos usw. entstand die heidnische Vielgötterei. Selbst die Philosophen, die Urheber der theologia naturalis, und sogar Plato, billigten es, dass mehreren Göttern Opfergaben dargebracht wurden und huldigten damit der Schar der Dämonen. Dem Schändlichen und Obszönen versuchten sie das Anstößige zu nehmen (Dominici folgt wieder Augustinus), indem sie es allegorisch als Verweise auf Naturphänomene deuteten.55 Um das Unmenschliche der antiken Kulthandlungen zu brandmarken, rekurriert Dominici ausnahmsweise auf das Urteil eines Heiden, Senecas, der in seinem (heute verlorenen) Dialog «De Superstitione» die Grausamkeiten des staatlichen Götterkultes missbilligt hatte. Ille, so hatte er u.a. geschrieben (Dominici zitiert Seneca nach Augustinus), viriles partes amputat, ille lacertos secat. Ubi iratos deos timent, qui sic propitios merentur?56 Die Erörterung der theologia der Philosophen beginnt Dominici mit dem Satz: Philosophicum autem genus deorum ita est obnoxium religioni Christiane ut principalis intentio Christi fuerit per suos predicatores illud delere57. Die theologia der Philosophen gilt deshalb als besonders schädlich, weil sie angeblich für die Vielgötterei und den verdammenswerten Kult der Idolatrie verantwortlich ist.58 Indem die Philosophen in anmaßenden Nachforschungen Gott finden wollten und viele widersprüchliche Thesen über seine Natur aufstellten, er sei die Welt, der Geist, das Wasser usw.59, seien sie schließlich Opfer der Dämonen geworden und hätten die Welt mit Götzen angefüllt. Dominici zitiert Paulus’ «Brief an die Römer»: ‚Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden‘. Sie kamen, getrieben vom hostis antiquus, gar zu der Wahnvorstellung, der allmächtige Gott 54 55 56 57 58
«Lucula», Kap. 21, S. 174. Ebda., Kap. 40, S. 344f. - Augustinus: «De Civitate Dei», VII.33. «Luculaه ੱ», Kap. 40, S. 345 - Augustinus: «De Civitate Dei», VI.10, Bd. I, S. 267f. «Lucula», Kap. 21, S. 171. Dominici beruft sich auf das «Buch der Weisheit» (XIII: Vani autem sunt omnes homines, in quibus non subest scientia Dei), auf Paulus’ «Brief an die Römer», I.22f., und auf Augustinus: «De Trinitate» (XIV.1): Nam sapientia huius mundi stultitia est apud deum; Aurelius Augustinus: «De Trinitate» (Bücher VIII-XI, XIV-XV, Anhang: Buch V). Neu übersetzt und mit Einleitung hg. von JOHANN KREUZER. Lateinisch-deutsch. Darmstadt, WB, 2001; Buch XIV.1, 1 (S. 180). 59 «Lucula», Kap. 21, S. 172. Dominici bringt ein langes Zitat aus Isidor zur Vielzahl der Meinungen der Philosophen über die Natur Gottes, s. Isidor: «Etymologiae», VIII.6, 1820.
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habe sich in Vögel, Vierbeiner und Schlangen verwandelt (eine Anspielung auf die Metamorphosen Iupiters).60 Petrarca und Boccaccio hatten bei dieser Frage darauf verwiesen, dass auch Christus in der «Bibel» verschiedene Tiernamen zugelegt werden, bald erscheine er als Löwe, bald als Lamm, bald als Wurm.61 Auch Philosophen wie Seneca, die sich dem wahren Glauben anzunähern scheinen62, enthalten für Dominici doch so viel Eitles und Frevelhaftes, dass man sich besser an Hieronymus hält, der im Brief an Damasus schreibt: Absit quod in ore Christiano sonet Iupiter omnipotens.63 Und man meint heute, so Dominici polemisch gegen die studia humanitatis gerichtet, man müsse die heidnischen Philosophen zurückrufen, die ydola zu neuem Leben erwecken und den Dämonen huldigen.64 Wo immer es Gymnasien gebe, wimmele es von derartigen Schändlichkeiten, und es fänden sich Leser, Protektoren und Förderer, die diejenigen, die die rechte Verehrung Christi forderten, diffamierten.65 In den Gymnasien (soll ich lieber in den Seelenbordellen sagen?, fragt Dominici66) schwatzen Plato und die Platoniker, die Stoiker, die alten und die neuen Akademiker, Porphyrius, der, gestützt auf das Orakel des teuflischen Apoll, Christus und seine Anhänger schmäht67, Cicero, der in seinem Herzen Gott leugnet68, Virgil, der meint, es gäbe keine Hölle.69 Wenn man mit Virgil behauptet, die vielen Götter seien Glieder des einen allmächtigen Gottes und dabei auf Paulus Lehre vom corpus mysticum Christi verweist70, wenn man behauptet, die Heiden hätten herausragende Menschen Götter genannt, so wie die Christen sie Heilige nennen, so ist dies für Dominici eine Verunglimpfung der Heiligen, deren gottgefälliges Leben und Märtyrertod nicht mit den Schändlichkeiten und Verbrechen der heidnischen Götter, die in Wirklichkeit verkommene Menschen waren, auf eine Stufe 60 Dominici: «Lucula», Kap. 21, S. 172: Dicentes se esse sapientes, stulti facti sunt, in tantam turpitudinem incidentes quod erubesco etiam cum honesto Paulo Apostolo calamo recitare Paulus: «Brief an die Römer», I.22-23. 61 Petrarca: «Familiares», X.4, Bd. II, S. 301 - Boccaccio: «Genealogia», XIV.14, S. 1452. Siehe u. Anm. 102. 62 Dominici zitiert Seneca: «De Beneficiis«, IV.7-8 und verweist auf Augustinus: «De Civitate Dei», IV.10-11, vgl. ebda., VII.9. 63 «Lucula», Kap, 21, S. 173f. Hieronymus: Absit, ut de ore Christiano sonet „Iuppiter omnipotens“ et „mehercule“ et „mecastor“, et cetera magis portenta quam numina (Brief XXI.13, Saint Jérôme: Lettres, tome 1, texte établi et traduit par JEROME LABOURT. Paris, Les Belles Lettres, 1949, S. 93). 64 «Lucula», Kap. 21, S. 171. 65 Ebda., S. 172. 66 Ebda., Kap., 40, S. 343. 67 Siehe Augustinus: «De Civitate Dei», XIX.23. 68 Ebda., V.9. 69 «Aeneis», VI, 733ff. - Augustinus: «De Civitate Dei», XXI.13 (Bd. II, S. 515): Qui hoc opinantur, nullas poenas nisi purgatorias volunt esse post mortem. 70 ‚Ihr seid aber der Leib Christi und Glieder, ein jeglicher nach seinem Teil‘ (1. Kor., XII.27).
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gestellt werden können.71 Wie sollen Schüler zur Kenntnis des wahren Gottes gelangen unter Lehrern, die Gott nicht kennen, seine Majestät leugnen und mit hochgezogenen Augenbrauen und aufgeblasenen Backen ihre Meinung verteidigen?72 Wie hier beschwört Dominici immer wieder die Gefahr, die Lektüre der antiken Philosophen könne den wahren Glauben bedrohen, ja den heidnischen Kult wiederbeleben, eine Gefahr, die im 15. Jahrhundert sicher nicht gegeben war. Die Gegner zumindest, mit denen sich Dominici auseinandersetzt, Petrarca, Boccaccio, Salutati, waren überzeugte Christen, Boccaccio legt in «Genealogia» XV.9 geradezu ein seitenlanges orthodoxes Glaubensbekenntnis ab. Victrix Ecclesia castra possidet hostium, so erklärt er, Quam ob causam fere absque periculo talia [studia humanitatis] exquiruntur atque tractantur.73 Dominicis Polemik wird besonders scharf, wenn es um die theologia fabulosa, die Mythen der Dichter, geht: Genus deorum traditum a poetis ita est turpe atque nephandum, ut non modo celicolas sed et ipsos latrones atque siccarios eos pudeat imitari. Quod enim facinus, scelus, et iniquitas potest nominari, que de illorum diis non referant causa lucri populares poete?74 Auf das Argument Petrarcas oder auch Salutatis, die Respektlosigkeit der antiken Dichter vor den Göttern beweise doch, dass sie nicht an diese glaubten75, geht Dominici nicht ein. Er verwirft die antike Dichtung insgesamt76 und nicht nur, wie Petrarca, Boccaccio, Salutati, die lasziven Dichtungen und Komödien, und er kann sich in dieser Frage mit größerem Recht als die Humanisten auf Augustinus berufen, der, wie Plato, die antiken Dichter allgemein als Feinde der Wahrheit ansieht; selbst Virgil hat Augustinus zufolge nach Art der Dichter gelogen.77 Er wundere sich, so Dominici, dass der venerandus et modernus poeta Boccaccio die antiken Dichter als fictores illustres preise und behaupte, Plato habe sie nicht verurteilt, obwohl dieser doch gerade
71 «Lucula», Kap. 39, S. 339 - Paulus: «Brief an die Römer», XII.5. Vgl. Augustinus: «De Cicitate Dei», VIII.27 (Bd. I, S. 367): Absit ut eos, quamvis deos habeant, sanctis martyribus nostris, quos tamen deos non habemus, ulla ex parte audeant comparare. 72 «Lucula», Kap. 40, S. 342. 73 «Genealogia», XV.9, S. 1550. 74 «Lucula», Kap. 21, S. 170. 75 Petrarca:«Invective», III, S. 920: Quis penitus crederet deos esse, quorum ea flagitia audiret, que nec in hominibus tolerabilia iudicaret? Cui preterea dubium esse potest, quin peccata que humanitatem ipsam hominibus ereptura essent, eadem multo magis diis talibus preriperent deitatem? Nach Salutati trägt von den drei theologiae allein die theologia mythica zur Wahrheitsfindung bei, denn sie zeigt, dass die heidnischen Götter nichts anderes als verdorbene Menschen waren; Salutati: Brief XIV.23, Epistolario, Bd. IV, S. 197f. 76 Poesiam utique illecebris plenam, non solum comicam sed etiam quam vocant heroycam, dyabolus adinvenit, «Lucula», Kap. 46, S. 412. 77 Veritatis vero hostes fuisse poetas non tacuit Augustinus, ubi eorum fabulas dicit multa mentientes et vix veri aliquid indicantes vel significantes. [...] Virgiliumque, quem non satis sibi commendasse videtur, more poetarum ait fuisse mentitum; «Lucula», Kap. 39, S. 338; vgl. Augustinus: «De Civitate Dei», II.14 und I.4: Vergilius poetarum more illa mentitus est (Bd. I, S. 9).
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auch Homer, den Vater dieser Dichter (vatum talium pater78), aus seinem Staat vertreiben wollte, und nicht nur die frivolen Komiker, wie Boccaccio behauptet.79 Zu Recht verjage auch die sancta philosophia in Boethius’ «Consolatio» die buhlerischen Musen vom Krankenbett, denn die weltlichen Schriften trügen zur rechten Lebensführung nichts bei.80 Die antiken Dichter, die, für Dominici völlig unpassend, Theologen genannt werden, sind Feinde der christlichen Doktrin81, sie verderben die Sitten, verfälschen die Wahrheit, zerrütten den Geist, beleidigen die Heiligen, zerstören die Fundamente des wahren Glaubens; sie sind keine ‚Gefäße Gottes‘ – so hatte Mussato den Begriff vates gedeutet (vas Dei) - , sondern Instrumente des Teufels. Puto quidem, so Dominici, [...] auctore dyabolo hos mundi vates fuisse locutos.82 Vor den Nachstellungen des Teufels, der überall lauert, Gott simuliert, lügt und tötet, um seine Ziele zu erreichen83, warnt Dominici seine Leser auf Schritt und Tritt. Auch er zitiert natürlich den viel bemühten Satz aus dem Schreiben des Hieronymus an Papst Damasus Demonum cibus est (sic) carmina poetarum, secularis scientia, rethoricorum pompa verborum.84 Nonne tibi videtur, so fragt Hieronymus in demselben Brief, sub aliis verbis dicere (Paulus), ne legas philosophos, oratores, poetas, ne in eorum lectione requiescas? Salutati hatte mit Hilfe humanistischer Argumente (Giovanni da Samminiato zitiere unvollständig, reiße Sätze aus ihrem Kontext, benutze einen korrupten Text, verfälsche die Intention des Autors) versucht zu zeigen, dass der Kirchenvater die Lektüre der heidnischen Autoren keineswegs schlechthin verbiete, sondern nur, u.a. mit Hilfe des Bildes von der schönen Kriegsgefangenen, vor Übertreibungen warnen und zur Vorsicht mahnen wolle.85 Dominici jedoch kommentiert: Per quod patet Ieronimum cum Paulo non solum diuturnum usum sed et quamlibet lectionem talium denegasse.86 Ein solches Lektüreverbot, so Salutati verärgert an 78 «Lucula», Kap. 39, S. 341. 79 Ebda., Kap. 45, S. 392; vgl. Kap. 18, S. 155. In Kap. 10, S. 87f. bringt Dominici ein langes Zitat aus «Genealogia» XIV.19, wo Boccaccio von der großen Hochachtung spricht, die die Antike Homer entgegenbrachte. 80 «Lucula», Kap. 42, S. 364. 81 Ex hiis omnibus videtur concludi poetas inimicos vere fidei fore et procul a fidelibus abigendos; «Lucula», Kap. 39, S. 339. 82 Ebda., Kap. 39, S. 338. 83 Ebda., Kap. 46, S. 411. 84 Ebda., Kap. 17, S. 141 - Hieronymus: Brief XXI.13 (Lettres, Bd. I, S. 93). Auch der Theologe, von dem Pietro da Monteforte in seinem Brief an Boccaccio berichtet, benutzt als Hauptwaffe gegen die Dichter dieses Wort des Hieronymus; Pietro da Monteforte widerlegt ihn (ähnlich wie Salutati Dominici) mit Hilfe der figura mulieris captive; BILLANOVICH: Pietro da Monteforte (wie Anm. 9), S. 49. 85 Hieronymus: Brief XXI.13 (Lettres, Bd. I, S. 94) - Salutati: Brief XIV.23, Epistolario, Bd. IV, S. 186ff.; vgl. Petrarca: «Seniles», XV.11 - Boccaccio: «Genealogia», XIV.18, S. 1476-1479. Das Bild von der gefangenen Heidin, so hält Dominici dagegen, hat keineswegs allgemeine Gültigkeit: ex quo patet quam stolide quisque deliret, inferens hinc omnibus [...] gentilium traditionum studium esse concessum, «Lucula», Kap. 35, S. 288. 86 Ebda, Kap. 28, S. 231, vgl. Kap. 17, S. 141f.
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Giovanni, sollten die Mönche im Kloster propagieren, außerhalb der Klostermauern hätten derartige Ansichten jedoch nichts zu suchen.87 In solchen Sätzen kündigt sich der Auseinanderfall von religiöser Kultur und Laienkultur an. In seiner pädagogischen Schrift «Regola del governo di cura familiare» findet Dominici die eindringlichsten Formulierungen, um vor den Gefahren der modernen Erziehung zu warnen, in der die verderbliche Lektüre der antiken Dichter an die Stelle der traditionellen erbaulichen Schultexte, der «Disticha Catonis», der «Fabeln» des Äsop, der «Ecloga» des Theodulus usw., getreten ist.88 Der den Humanisten wichtige Aspekt der sprachlichen Schulung anhand der klassischen Autoren interessiert Dominici nicht.89 Ora sì crescono i moderni figliuoli [...] nel mezzo degli atti disonesti sollicitanti la ancora imponente natura al peccato, e insegnando tutti i vituperosi mali che si possono pensare, nello studio d'Ovidio maggiore, delle pistole, De arte amandi, e più meretriciosi suoi libri e carnali scritture. Così si passa per Vergilio, tragedie e altri occupamenti, più insegnanti d’amare secondo carne che mostratori di buoni costumi. E, che peggio è, quella teneruccia mente si riempie del modo del sacrificio fatto agli falsi iddii e riverenze grandi, udendo di loro falsi miracoli e vane trasmutazioni; prima diventando pagani che cristiani, e prima chiamando dio Juppiter o Saturno Venus o Cibeles che il sommo Padre, Figliuolo e Spirito santo: donde procede la vera fede essere dispregiata, Dio non riverito, sconosciuto il vero, fondato il peccato.90 Indem sie von den eitlen Wundern und Verwandlungen der falschen Götter hören, werden die Kinder eher zu Heiden als zu Christen und rufen eher Jupiter und Saturn an als Gottvater, den Sohn und den Heiligen Geist. Die Lektüre der antiken Dichter stellt insofern eine große Gefahr für die Moral und den Glauben der Kinder dar und damit für ihr Seelenheil. Und doch werde in Florenz und anderswo in Italien ohne jede Furcht vor den Gesetzen die obszöne Dicht- und 87 Brief XIV.23, Epistolario, Bd. IV, S. 182. Dem Kanzler von Bologna Giuliano Zonarini, der es abgelehnt hatte, für ihn eine Ausgabe Virgils zu erwerben, weil das «Decretum Gratianum» die Lektüre dieses vates mentificus verbiete, antwortet Salutati am 25. Okt. 1378, das «Decretum» gelte nur für Kleriker; Zonarini sei doch kein Priester und solle unbedingt Virgil, den ‚göttlichsten aller Dichter‘ lesen: apud illum enim invenies quod visum delectet, mentem pascat et reficiat intellectum; Brief IV.15, Epistolario, Bd. I, S. 298307, insbes. 300 und 307. 88 Dominici nennt außer den «Disticha Catonis», den «Fabeln» des Aesop und der «Ecloga Theoduli» , die «Fidei Confessio» des Boethius, die von Prosperus in Verse gebrachten Sentenzen des Augustinus, «Eva colomba» (das «Dittochaeum» des Prudentius, ein Kompendium in Versen des «Alten» und des «Neuen Testaments») und «Tres leo naturas» (das zweite Buch von «De bestiis» des Hugo von Sankt Viktor). Siehe GARIN (wie Anm. 3), S. 91ff. 89 Zu Salutatis Kritik am Latein der Mönche s. ULLMAN: Studies in Italian Renaissance (wie Anm. 12), S. 257-277. 90 «Del governo di cura familiare» (estratti), in: Prosatori volgari del Quattrocento, hg. von CLAUDIO VARESE. Milano/Napoli, 1955, S. 28. Vgl. AUGUSTIN RÖSLER: Kardinal Johannes Dominicis Erziehungslehre und die übrigen pädagogischen Leistungen Italiens im 15. Jahrhundert. Freiburg 1894.
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Schauspielkunst (scenicam et obscenam artem poeticam) öffentlich gelehrt.91 Dominici polemisiert hier gegen die Lektüre der antiken Dichter in der Schule, doch an anderen Stellen betont er deren Gefährlichkeit auch für den erwachsenen Leser, und selbst für die, die das seculum Philosophen und Weise nennt.92 Die Polemik ist im Übrigen nicht nur gegen die Humanisten gerichtet, sondern ebenso gegen bestimmte Prediger, die die antiken Philosophen und Dichter und ihre fabulae von der Kanzel herab verkünden.93 Wie überall vermutet Dominici auch hier das Wirken des Teufels, der alten Schlange, die nicht nur über Heiden und Juden herrschen will, sondern auch über möglichst viele Christen. Wenn man (wie Boccaccio) sagt, die fabulae seien nur erfunden und verhüllten einen tieferen Sinn, - ein Naturphänomen oder ein historisches Ereignis - , den man mit Hilfe der Allegorie freilegen könne, so ist dem zu entgegnen, dass es dem Christen verboten ist und dem Naturgesetz widerspricht, Falsches als wahr zu lesen, Falsches aber als falsch zu lesen, sei nutzlos.94 Außerdem betreffe die naturphilosophische Allegorie Wissenschaften wie die Physik und die Astrologie, von denen die Kinder nichts verstünden, so dass sie die fabulae ausschließlich auf der Ebene des lügnerischen Literalsinns rezipieren könnten. Wenn schließlich Laster der Menschen auf die Götter übertragen werden, so werden diese Laster gleichsam entschuldigt, wie etwa die frevelhafte Liebe in der Erzählung von Jupiter und Danae; Dominici zitiert aus Terenz’ Komödie «Der Eunuch», wo ein Jüngling beim Anblick einer Danae-Darstellung sich angetrieben fühlt, es Jupiter gleichzutun (Akt III.5).95 Die moralische Entwicklung der Kinder wird durch die obszönen Lügengeschichten der Dichter, die zu den Werten, die das Evangelium lehrt, in völligem Gegensatz stehen, gefährdet. ‚Prägt den Kindern das Bild des Kreuzes und der wahren Heiligen ein‘, so ermahnt Dominici die Lehrer, ‚nicht das Bild des Narziss, der Tisbe, der Myrrha, der Phädra, des Ganymed oder des Alexis‘.96 Die mythologischen exempla sind hier mit Bedacht gewählt und verweisen ausnahmslos auf schwere Sünden: die Eigenliebe, den Selbstmord, den Inzest, die Homosexualität. Offenbar befürchtet Dominici auch, die antiken Mythen könnten als teuflische Präfigurationen den christlichen Wundern ihre Glaubwürdigkeit nehmen. Wenn ein Unbedarfter erfährt, die Dichter hätten die Geschichte von Perseus, Andromeda und dem Drachen erfunden, so könnte er meinen, dass auch die ähnliche Geschichte vom hg. Georg nichts als ein Hirnge91 «Lucula», Kap. 45, S. 391; langes Zitat aus «Genealogia», XIV.13, wo Boccaccio die schimpflichen Komödien tadelt. 92 «Lucula», Kap. 39, S. 338. Gelegentlich scheint Dominici zu Zugeständnissen bereit zu sein: den im Glauben Gefestigten könne man die Lektüre der Dichter erlauben, doch er nimmt das Zugeständnis gleich wieder zurück, wenn er hinzufügt, es sei auf jeden Fall besser, ganz auf die Lektüre zu verzichten. Die einzige Sorge des Christen hat sein Seelenheil zu sein. 93 Siehe insbes. «Lucula», Kap. 28, S. 224 und Kap. 34, S. 272. 94 Ebda., Kap. 21, S. 170f. 95 Ebda., Kap. 39, S. 338, vgl. Kap. 21, S. 171. 96 Ebda., Kap. 44, S. 387.
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spinst sei.97 Wenn jemand unbedingt Dichtung lesen wolle (si delectat poetas legere [...] propter dulcedinem metri et eloquii venustatem), so soll er doch bitte christliche Autoren lesen, Boethius, Prudentius, Sedulius... oder auch Petrarca oder Dante.98 Ein zentrales Argument der Humanisten in ihrem Versuch, die Dichtung aufzuwerten und ihr einen neuen Status zu geben, ist der Nachweis ihrer Nähe zur «Heiligen Schrift». Bereits Mussato hatte mehrere Punkte zusammengestellt, die diese These belegen sollten: Die ältesten Dichter hätten von göttlichen Dingen gehandelt und seien deshalb Theologen genannt worden (die übliche Anspielung auf Aristoteles); die Bezeichnung vates verweise darauf, dass die Dichter Gefäße Gottes seien: quis quis erat Vates, Vas erat ille Dei; die Dichtung sei maxime admirabilis und von unvergänglicher Schönheit; sie sei göttlichen Ursprungs und erzähle, wie die «Genesis», doch in verhüllter Art und Weise, die Schöpfung. Moses bediene sich wie die Dichter zum Lobe Gottes der poetischen Versform; auch in der «Bibel» (in der Apokalypse z.B.) finde sich der für die Dichtung charakteristische doppelte Schriftsinn; wie die Propheten verwiesen auch die antiken Dichter (Virgil zumal) voraus auf den christlichen Glauben.99 Der Text, der in der Folgezeit in dieser Frage kanonisch wurde, dessen Argumente von Boccaccio und Salutati aufgenommen und weiterentwickelt wurden, ist Petrarcas Brief an den Bruder Gherardo, dem die Lektüre der antiken Dichter, seitdem er sich für das Klosterleben entschieden hatte, problematisch geworden war.100 ‚Die Poesie‘, so beginnt Petrarca, der Mussatos Schriften gut kennt101, seine Apologie, ‚steht durchaus nicht im Gegensatz zur Theologie. [...] Fast möchte ich sagen, dass die Theologie eine Gott betreffende Poetik ist‘ (theologiam poeticam esse de Deo). Wenn z.B. Christus in der «Bibel» bald Löwe, bald Lamm, bald Wurm genannt wird, was ist das anderes als Poesie?102 Was sind die Parabeln Christi im Neuen Testament anderes als allegorische Rede, also Dich-
97 Ebda., Kap. 47, S. 423f. 98 Ebda., Kap. 45, S. 395. Dominici empfiehlt Petrarcas und Dantes bukolische Dichtung. Ob er auch an Dantes «Commedia» denkt (vgl. Kap. 10, S. 88 und Boccaccio: «Genealogia», XIV.22), deren Lektüre lange Zeit in Dominicis Kloster Santa Maria Novella verboten war, bleibt unklar. 99 Giovannino da Mantova: «Epistola», in: GARIN (wie Anm. 3), S. 4-7. Vgl. Fulgentius, der in der «Expositio Virgilianae continentiae secundum philosophos moralis» Virgil in die Nähe des christlichen Glaubens rückt und damit zur mittelalterlichen Wertschätzung Virgils entscheidend beigetragen hat; Fulgentius: Opera (wie Anm. 53). 100 Siehe «Familiares», X.4 (Le Familiari, Bd. II, S. 301-303). 101 BILLANOVICH: Pietro Piccolo da Monteforte (wie Anm. 9), S. 19. 102 Vgl. Salutati: Brief XIV.24 an Giovanni Dominici (1406), Epistolario, Bd. IV, S. 205240: 237f. Der Löwe wird z.B. in der «Offenbarung des Johannes» genannt (V.5), das Lamm ebda., V.6, der Wurm «Jesaia» XLI.14.
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tung, der diese Redeweise eigen ist?103 Und auch die Versform teilen die Dichtung und die «Heilige Schrift»; Petrarca beruft sich auf Hieronymus104, der angibt, dass Moses, Hiob, David, Salomon, Jeremias sich ursprünglich poetischer Formen bedienten, ebenso wie die frühen Dichter, die, nach dem Zeugnis des Aristoteles und des Isidor, Gedichte über den Ursprung der Dinge verfassten und zum Lobpreis der Götter eine neue Redeweise, die gebundene Rede, erfanden.105 Der Gegenstand der Rede ist natürlich in der Dichtung und in der «Bibel» ein anderer; hier ist die Rede von dem einen wahren Gott, so stellt Petrarca klar, dort von Göttern und Menschen. Der Gedanke der besonderen Nähe der Dichtung zur «Bibel» wird vor allem von Salutati vertieft.106 Er behandelt die «Heilige Schrift» und die Dichtung zwar nicht als gleichberechtigt, doch in beständiger Parallele. In seinem Brief an Giovanni da Samminiato vom 21. September 1401 verweist er wie Petrarca auf Hieronymus’ Angabe, dass Teile der «Bibel», etwa der Psalter oder die Klagelieder des Jeremias, ursprünglich in gebundener Rede verfasst waren.107 In seinem langen Brief vom 25. Januar 1405, der Dominici dazu provozierte, die «Lucula Noctis» zu schreiben, geht Salutati dann beträchtlich weiter und erklärt überspitzt, die gesamte «Bibel» sei der Redeform nach nichts anderes als Dichtung: Quid enim est divina Scriptura, so fragt er, quantum ad loquendi formam attinet, nisi fictum aliquid quod de virtute sermonis falsum est?108 Sein Argument ist vor allem, und er kann sich in dieser Frage auf Augustinus berufen109, dass von Gott in der «Genesis» und auch sonst im «Alten Testament» nur in Metaphern gesprochen wird, indem ihm anthropomorphe Züge beigelegt werden (Gott sieht, spricht, erzürnt, bereut ...); dies aber sei ein poetisches Verfahren: Hic loquendi modus poeticus est, falsitatem corticitus pre se ferens, intrinsecus vero latentem continens veritatem.110 Die Dichtung entstand als die ersten Menschen begannen, Gott zu preisen. Da die maiestas Gottes unsagbar ist, erfanden sie die figürliche Re103 In den fabulae der Dichter allegoricus sapidissimus ac iucundissimus sensus inest, quo fere omnis Sacrarum etiam Scripturarum textus abundat, Petrarca: «Invective», I, S. 842. Vgl. Boccaccio: «Genealogia», XIV.9, S. 1414-1417. 104 Hieronymus: Brief Ad Paulinum Presbyterum, LIII.8 (Lettres, Bd. III, S. 16ff.). 105 Vgl. Boccaccio: «Genealogia», XIV.7, S. 1400 - Augustinus: «De Civitate Dei», VI.5 sowie XVIII.14 - Isidor: «Etymologiae», VII.1-3, 9. In der Krönungsrede zitiert Petrarca aus der von ihm entdeckten Rede Ciceros «Pro Archia» (VIII.18) den Gedanken der göttlichen Inspiraton des Dichters (S. 1258). Er zitiert die Stelle erneut in den «Invective», I, S. 836. Vgl. Boccaccio: «Genealogia», XIV, 7, S. 1400-1403. 106 Vgl. MÉSONIAT (wie Anm. 1), S. 105ff. - BARON (wie Anm. 11), S. 295ff. 107 Brief XII.20, Epistolario, Bd. III, S. 541. 108 Brief XIV.23, ebda., Bd. IV, S. 178; vgl. «De laboribus Herculis», I, S. 8f. 109 Brief XIV.23, Epistolario, Bd. IV, S. 179. Salutati zitiert aus «De spiritu et littera», XXXIII.58: Semel locutus est deus, hoc est incommutabiliter (Aurelius Augustinus: Geist und Buchstabe. De spiritu et littera liber unus, übertragen von ANSELM FORSTER. Paderborn, Schöningh, 1968, S. 116); vgl. Psalm LXI.12. 110 Brief XIV.23, Epistolario, Bd. IV, S. 177.
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de111, und da sie nichts Erhabeneres als den Menschen kannten, sprachen sie von Gott, velut aliquis foret homo; quicquid ergo de Deo loquimur, fictum est et a nobis et nostris actibus mutuatum.112 Diese Redeweise übernahmen sowohl die Autoren der «Bibel» als auch die heidnischen Dichter. Salutati führt die Autorität Ciceros an, der über die Göttergeschichten Homers sagt: fingebat hec Homerus et humana ad deos transferebat.113 Die «Bibel» und den antiken Mythos verbindet somit dasselbe Verfahren, menschliche Züge auf Gott bzw. auf die Götter zu übertragen. Dies ist es, worauf es Salutati vor allem ankommt, zu zeigen, dass die heidnischen Dichter-Theologen, wie Orpheus, Musaeus und Linus, und auf der anderen Seite die biblischen Autoren sich derselben poetischen Methode, desselben modus [...] loquendi tegendique veritatis studium sub cortice falsitatis bedienen.114 Die göttliche Inspiration der «Bibel» wird durch diese Analogien für Salutati natürlich nicht in Frage gestellt.115 Will Salutati auf den Beweis der großen Nähe von Dichtung und «Bibel», was die Redeweise betrifft, hinaus, so geht es Dominici darum, den radikalen Unterschied zwischen «Bibel» und Dichtung auch in dieser Hinsicht aufzuzeigen. Constat non sane dictum esse divinam scripturam fore quid fictum, quod est de virtute sermonis falsum, so weist er die These Salutatis, die er im achten Kapitel zitiert hatte, zurück.116 Die «Heilige Schrift» ist (anders als die Dichtung) auch auf der Ebene des cortex, einschließlich der Darstellung Gottes in der «Genesis», historisch wahre Erzählung: Vera est enim de virtute sermonis tota divina scriptura. Dominici beruft sich zur Unterstützung seiner These, die «Bibel» sei im wörtlichen Sinn (de virtute sermonis) wahr, u.a. auf Augustinus117, hier aber zu Unrecht, da dieser sich für eine metaphorische Deutung der anthropomorphen Beschreibungen Gottes in der «Bibel» ausspricht.118 Für eine Reihe von Bibelstellen muss freilich auch Dominici einräumen, dass sie dem Wortsinn nach erfunden, also Salutatis Definition nach Dichtung sind; er nennt u.a. die «Cantica canticorum», den Apolog der Bäume, die einen König wählen («Das Buch der Richter», IX) und die Gleichnisse von der königlichen Hochzeit und vom Schalksknecht (Matthäus, XXII und XVIII).119 Die Intention solcher Erfindungen ist jedoch, das 111 Brief X.16 vom 15. Dez. 1397(?) an Giovanni da Samminiato, ebda., Bd. III, S. 221231: 226f. 112 Brief XIV.23, ebda., Bd. IV, S. 176. 113 Ebda.; Cicero: «Disputationes Tusculanae», I.xxvi.65 (Cicéron, Tusculanes, tome I (I-II), texte établi par GEORGES FOHLEN et traduit par JULES HUMBERT. Paris, Les Belles Lettres, 1964, S. 40f.). Das Zitat lautet weiter: divina mallem ad nos, d.h. hier wird Homer kritisiert, wie Augustinus richtig bemerkt («De Civitate Dei», IV.26, Bd. I, S. 178): Merito displicuit viro gravi divinorum criminum poeta confictor. 114 Brief XIV.23, Epistolario, Bd. IV, S. 181. 115 Ebda., S. 199. 116 «Lucula», Kap. 35, S. 295, vgl. Kap. 8, S. 69. 117 Augustinus: «De Genesi ad litteram», I.1 und 9. 118 Vgl. MÉSONIAT (wie Anm. 1), S. 110, 113. 119 «Lucula», Kap. 46, S. 411 und Kap. 44, S. 383.
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hatte bereits Giovannino, Thomas folgend, herausgestellt, hier und da eine völlig andere: der Dichter will erzählen, erfreuen, verführen, die Verhüllungen in der «Bibel» aber zielen darauf ab, dass die Würdigen (die Gläubigen) aufmerksamer lesen, den Unwürdigen aber die Wahrheit verschlossen bleibt.120 Aufgrund einiger weniger Stellen, die erfunden sind, kann man natürlich nicht sagen, die «Heilige Schrift» sei Dichtung. Sie berichtet vielmehr, von diesen Stellen abgesehen, so insistiert Dominici, auf der Ebene des Literalsinns, des cortex, historisch wahre Begebenheiten und keine falschen, lügnerischen Erfindungen wie die Werke der Dichter121; die in der «Bibel» geschilderten Ereignisse sic se habuerunt in esse reali sicut littere sonant, in quo quidem mira sapientia auctoris pagine sacre monstratur, ut et veritas sub cortice sit et sine simulatione sit cortex.122 Salutati hatte nachdrücklich darauf hingewiesen, dass, wie im Mythos, auch in der «Bibel» frevelhafte Taten erzählt werden: Brudermord, Bigamie, Sodomie, Inzest usw.123; dies geschieht jedoch, so Dominici, in der «Bibel» wiederum mit anderer Intention als in der Dichtung. In der «Bibel» sind die geschilderten Laster Medizin des Heils, in der Dichtung aber bringen sie die Pest über den Leser, denn die Dichter sind homines seculi, die mit ihren Erzählungen vom Ehebruch des Mars und der Venus oder von der verbotenen Liebe von Pyramus und Tisbe fleischliche Lust wecken und die Sitten verderben.124 Salutati hatte demgegenüber unter Berufung auf Aristoteles eben die moralische Belehrung, neben dem doppelten Sinn und der gebundenen Rede, als eine der Grundeigenschaften der Dichtung herausgestellt125: die Dichter sprechen von Lastern, damit der Leser sie meidet, von Tu120 Giovannino da Mantova: «Epistola», in: GARIN (wie Anm. 3), S. 10: Nam poetica utitur metaphoris ad repraesentandum et delectandum; sed divina Scriptura ad radium divinae Scripturae et veritatis circumvelandum ut a dignis studiosius inquiratur, et indignis occultetur. Ob hoc enim teguntur, ne vilescant divinae Scripturae; et ob hoc aperiuntur, ut pascant animum. Dasselbe Argument nehmen die Humanisten, leicht abgewandelt, zur Erklärung der obscuritas der Dichter für sich in Anspruch; s. Petrarca: «Invective», I, S. 844: Poete [...] studium est veritatem rerum pulcris velaminibus adornare, ut vulgus insulsum [...] lateat, ingeniosis autem studiosisque lectoribus et quesitu difficilior et dulcior sit inventu»; vgl. ebda. III, S. 914ff. - Boccaccio: «Genealogia», XIV.12, S. 1430ff. Vgl. Matthäus, XIII.14 - Salutati: Brief X.16, Epistolario, III, S. 293. 121 Mussato hatte behauptet, dass die Dichtung unter poetischer Hülle wie die «Genesis» die Schöpfung erzählt. Giovannino weist dies zurück: Die Geschichte von Deucalion und Pyrrha z.B. ist keine poetische Hülle der Noah-Erzählung, sondern ist schlicht falsch; Giovannino da Mantova: «Epistola», in: GARIN (wie Anm. 3), S. 9. 122 «Lucula», Kap. 44, S. 383. 123 Brief XIV.23, Epsitolario, Bd. IV, S. 194-196. 124 «Lucula», Kap. 38, S. 333. Mentium insuper seductores clamitant esse poetas ac suasores criminum, so hatte Boccaccio den siebten Vorwurf der homines religiosi zusammengefasst («Genealogia», XIV.5, S. 1390-1393). 125 [Poetae] vitam nostram, qualis esse debeat, virtutes laudando reprehendendoque vitia, designa[re]nt», Brief XIV.23, Epistolario, Bd. IV, S. 197. Vgl. Salutati: «De laboribus Herculis», I, S. 63: Est igitur poeta vir optimus laudandi vituperandique peritus, metrico figurativoque sermone sub alicuius narrationis misterio vera recondens.
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genden, damit er ihnen folgt, sie haben damit eine ähnliche Intention wie die Autoren der «Bibel», was Dominici, der überall die radikale Verschiedenheit sieht, kategorisch zurückweist: die Dichter sind Lügner und Verführer und keine Morallehrer. Die von Dominici immer wieder betonte radikale Verschiedenheit betrifft auch die Methode der allegorischen Deutung von «Bibel» und Dichtung. Boccaccio tut den Unterschied in Kap. XIV.13 der «Genealogia» kurz ab: wenn die Theologen hinsichtlich der Bücher der Propheten oder der Apokalypse nicht von fictiones, sondern von figurae sprechen, um die Andersartigkeit zu markieren, so ist dies eine ‚lächerliche Ausflucht‘, es handelt sich nur um verschiedene Namen für dieselbe Sache.126 Boccaccio spricht hier nicht von der typologischen Deutung, er bezieht sich allein auf die metaphorischen Teile der «Bibel». Salutati hingegen spielt den Unterschied zwischen Bibelallegorese und Allegorese der Dichtung generell als sekundär gegenüber dem, was sie verbindet (die figürliche Rede), herunter: nichil attinet sive vera sint sive falsa illa, quibus veritatem quam volumus exprimamus127, es ist gleichgültig, ob das, wodurch wir Wahres zum Ausdruck bringen wollen, wahr oder falsch ist. So wie in der «Bibel» die Wahrheit aus der Wahrheit hervorgeht, so entsteht in der Dichtung die Wahrheit (außer aus der Wahrheit) aus den Erfindungen der Menschen (Ut sicut in illa veritas ex veritate processit, sic in ista non ex veritatibus solum, sed ex fictis et humanis inventis ipsa veritas oriatur128). Die Zitate stammen aus einem Brief Salutatis an Pellegrino Zambeccari, der dem langen Brief an Giovanni da Samminiato um einige Jahre vorausliegt; hier geht Salutati noch davon aus, dass die «Bibel» auf der Ebene des Wortsinns historisch Wahres berichtet. Dominici weist Salutatis Analogien wiederum entschieden zurück; der radikale Unterschied liegt darin, dass die «Heiligen Schriften» Gott zum Autor haben, die Dichtung aber den Menschen. Allein in der Macht Gottes liegt es, quod (non solum) voces significent, quod etiam ordinat homo, sed et res ipse aliqua preloquantur, quod est proprium in presenti scientia. Significatio vocum ad litteralem pertinet sensum, sed significatio rerum triplicem ambit spiritus intellectum.129 Dominici zitiert hier Thomas, an 126 «Genealogia», XIV.13, S. 1440. Vgl. Francesco da Fiano: «Contra ridiculos oblocutores» (wie Anm. 11), S. 134. 127 Brief X.16, Epistolario, Bd. III, S. 285-308: 292; vgl. den Brief an Giovanni Dominici (XIV.24), ebda., Bd. IV, S. 238-240. 128 Brief X.16, ebda., Bd. III, S. 293. 129 «Lucula», Kap. 30, S. 243. Vgl. Thomas: «Summa Theologiae» (wie Anm. 2), pars prima, quaestio 1, articulus 10: Auctor sacrae Scripturae est Deus, in cuius potestate est ut non solum voces ad significandum accommodet (quod etiam homo facere potest), sed etiam res ipsas. Et ideo, cum in omnibus scientiis voces significent, hoc habet proprium ista scientia, quod ipsae res significatae per voces, etiam significant aliquid. Illa ergo prima significatio, qua voces significant res, pertinet ad primum sensum, qui est sensus historicus vel litteralis. Illa vero significatio qua res significatae per voces, iterum res alias significant, dicitur sensus spiritualis. Vgl. HENRI DE LUBAC: Exégèse médiévale. Les quatre sens de l’Écriture. 4 Bde., Paris, Aubier, 1959-1964.
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dessen Erörterungen in quaestio I der «Summa theologiae» er sich in der Frage der Bibelallegorese eng anschließt: Der sensus spiritualis, den also allein die von Gott inspirierte «Heilige Schrift» aufweist, unterteilt sich in den sensus allegoricus (lex vetus figura est novae legis), den sensus moralis (quae nos agere debemus) und den sensus anagogicus (et ipsa nova lex [...] est figura futurae gloriae). Wenn man dem entgegenhält, auch die fabulae der Dichter wären Träger mehrerer verborgener Sinne (des sensus historicus, naturalis und moralis), so ist darauf zu antworten, dass die Schriften der Menschen immer nur den Sinn haben können, den die Autoren hineinlegen. Die Werke der Dichter haben dementsprechend nur einen Sinn, den Literalsinn, den Thomas als sensus [...] quem auctor intendit definiert. Hundert Jahre nach Dominici zieht ein weiterer Dominikaner in Florenz gegen das Studium der antiken Dichter zu Feld: Girolamo Savonarola. Savonarola bringt zum guten Teil dieselben Argumente wie Dominici und benutzt einen ähnlich polemischen Ton. Die antiken Dichter sind Lügner, keine Morallehrer oder tiefsinnige Philosophen, wie die Humanisten dies meinen; ihre fabulae entbehren jeglichen Wahrheitsgehalts, sind bloße Erfindung und erzählen überdies von nichts anderem als niederer Wollust und törichten und ruchlosen Liebesverbindungen zwischen Göttern und Menschen. Diese Fabeln setzt man den unschuldigen und wehrlosen Kindern in der Schule vor; man gefährdet so ihren Glauben und ihre Sittenreinheit, ja liefert sie, Körper und Seele, dem Teufel aus. Derartige Bücher müssen von Staats wegen verboten werden, sie gehören auf den Scheiterhaufen. Doch nicht nur in der Schule herrschen die antiken Mythen, selbst von der Kanzel herab verkündet man die lügnerischen fabulae der antiken Dichter. Savonarola wettert gegen diese Unsitte bestimmter Prediger, den Mythen Ovids heilsgeschichtliche Bedeutung zuzusprechen, Ovid ist einfach nur fabuloso und pazo, ein närrisches Lügenmaul. Diejenigen, die die heidnischen Werke nach demselben Verfahren wie die «Heilige Schrift» deuten - gemeint ist vor allem die typologische Deutung des Alten Testaments -, setzen sich der ewigen Verdammnis aus, denn sie verkennen, dass jene nicht auf eine solche Interpretation hin angelegt sind; allein die von Gott verfasste «Heilige Schrift» weist den sensus spiritualis auf und kann dementsprechend christlich-allegorisch gedeutet werden.130 130 «Opus perutile de divisione, ordine ac utilitate omnium scientiarum [...] in poeticen apologeticus». In: Compendium totius philosophiae tam naturalis quam moralis reverendi p. Fratris Hieronymi Savonarole de Ferraria ordinis praedicatorum. Venedig 1534, Bl. 20r-21v - «Prediche del reverendo padre Fra Ieronimo da Ferrara per tutto l’anno», nuovamente con somma dligentia ricorretto. Venedig 1539, Bl. 250r-v. Zu Savonarolas Kritik an der humanistischen Erziehung s. J. SCHNITZER: Savonarola. 2 Bde., München 1924, Kap. 34: Stellung zu Humanismus und Wissenschaft. Vgl. BODO GUTHMÜLLER, Formen des Mythenverständnisses um 1500. In: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von H. BOOCKMANN u.a. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1995 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse, dritte Folge, 208), S. 109-131.
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Savonarola steht mit seiner radikalen Kritik an den antiken Mythen und ihrer Verbreitung in Schule und Kirche in der Tradition des späten Tre- und frühen Quattrocento, als sich, wie wir sahen, in rigoristischen kirchlichen Kreisen, wo die Unterschiede zwischen heidnischer und christlicher Kultur hervorgehoben wurden, Widerstand gegen die immer stärker werdenden neuen humanistischen Tendenzen regte. Die um 1400 vorgefundene Konstellation: scharfe Verurteilung der Unmoral und des Irrglaubens der antiken Dichter, die vor allem die Bettelorden zu ihrem Anliegen machten, Lob und Verteidigung der klassischen Autoren durch die Grammatik- und Rhetorikprofessoren (die Humanisten), ist für das Italien der Zeit um 1500 jedoch nicht mehr typisch. Der Humanismus hatte sich im Laufe des Quattrocento durchgesetzt, Savonarola steht mit seinem antihumanistischen Rigorismus an der Schwelle zum 16. Jahrhundert weitgehend alleine da. Erst in der Epoche der Gegenreformation wird die Polemik erneut Aufwind bekommen.
Ficta ... veterum mendacia vatum – Maffeo Vegios hagiographisches Epos ‹Antonias› zwischen Polemik und Aneignung CHRISTINE SCHMITZ I. Einleitung Der christliche Humanist Maffeo Vegio, 1407 in Lodi bei Mailand geboren, 1458 in Rom gestorben, eignet sich in besonderer Weise als repräsentatives Beispiel für die Frage, wie die antik-pagane Religion im Zeitalter des RenaissanceHumanismus adaptiert, reflektiert und kritisiert wurde. Bewegte sich Vegio zu Beginn seiner dichterischen Karriere noch im engen Anschluß an die klassischen römischen Dichter, geht mit seiner Hinwendung zur päpstlichen Kurie ein Paradigmenwechsel einher. In seiner in dieser Zeit entstandenen und Papst Eugen IV. gewidmeten christlichen Dichtung Antonias (1436/1437)1 setzt er sich programmatisch von der bunten Götterwelt paganer Dichter als einer in Wahrheit nicht existierenden Fiktion ab. Das Werk stellt in vier kurzen Büchern von insgesamt rund 500 Versen die Begegnung des heiligen Antonius mit dem Eremiten Paulus von Theben in der ägyptischen Wüste dar. Von der nicht zuletzt durch seinen Wechsel in die päpstliche Kurie2 begründeten neuen Ausrichtung seiner 1
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Der Text wird im Folgenden zitiert nach: Maffeo Vegio. Short Epics. Edited and translated by MICHAEL C. J. PUTNAM with JAMES HANKINS (The I Tatti Renaissance Library 15), Cambridge (Mass.); London 2004; die Edition beruht auf Vorarbeiten von HANKINS (s. S. 169); zur Textgeschichte vgl. ferner SHALIMAR ABIGAIL O. FOJAS / JAMES HANKINS, A Checklist of Manuscripts and early editions containing Maffeo Vegio’s Astyanax (1430) and Antonias (1436/7), with a note on the date of the Antonias, Scriptorium 58, 2004, 265–273. Zu Vegios vergeblichen Ambitionen, bei den Visconti in Mailand Hofpoet zu werden, bevor er in päpstlichen Dienst gelangte, vgl. AGOSTINO SOTTILI, Zur Biographie Giuseppe Brivios und Maffeo Vegios, MLatJb 4, 1967, 219–242, hier 224–242. Im Zusammenhang mit Vegios Antonias ist vor allem ein von Giuseppe Brivio zu Gunsten von Maffeo Vegio an Eugen IV. gerichtetes Empfehlungsschreiben von Bedeutung, vgl. SOTTILI, 224–226. In diesem Empfehlungsbrief, der von Sottili abgedruckt wird, spielt auch die rühmende Erwähnung der Antonias, die Brivio vor der Veröffentlichung lesen durfte, eine Rolle: Inter que (sc. opera) unum fecit librum insignem et preclarum vite beati Antonii tue Sanctitati inscriptum, cuius historie maiestati non defuerunt eloquentie ornamenta depicta quidem et proprio verborum splendore et sententiarum dignitate et versus suavitate et elegantia. Quod opusculum cum videbis, censebis dignum tua maiestate, dignum sanctitate beati
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poetischen Projekte auf christliche Themen hin und der damit einhergehenden polemischen Distanzierung von der griechisch-römischen Götterwelt bleibt freilich die antikisierende Ausgestaltung seines hagiographischen Themas ausgenommen. Vegio bedient sich vielmehr der gängigen Praxis der Substitution. Die Musen und Phoebus Apollo werden im Prooemium (Ant. 1,1–14) durch Jesus Christus und Antonius, den Titelhelden, ersetzt, der Götterbote Merkur wird zum Erzengel Gabriel (Ant. 1,137), der von der Höhe des Olymps auf die irdische Welt schauende Pater omnipotens (Ant. 1,53, vgl. 4,7 regnator Olympi) ist nunmehr nicht Jupiter, sondern der christliche Gott; entsprechend heißt der Unterweltsherrscher (Ant. 2,1 horrendi rector Averni) nicht mehr Pluto, sondern Satan (Ant. 2,42). Andere, aus der griechisch-römischen Epostradition ererbte Konventionen führt Vegio dagegen unverändert fort. So verläßt Aurora auf rosigem Pferdegespann vor Tagesanbruch wie gewohnt das Schlafgemach ihres Gatten Tithonus (Et nondum roseis provecta quadrigis / linquebat solitum Tithoni Aurora cubile, Ant. 3,9f.; s. auch unten Anm. 63). Ein kurzer Rückblick auf Vegios poetisches Schaffen vor seinem hagiographischen Kleinepos zeigt, daß sich mit der Antonias in der Tat ein Paradigmenwechsel in Vegios Dichten vollzieht, ein Paradigmenwechsel, der sich aber bezeichnenderweise allein auf den Inhalt beschränkt, während der humanistische Dichter die epische Form in gewohnten Bahnen fortsetzt.3 Nachhaltig bekannt
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Antonii, dignum suo nobili auctore dignissimumque etiam posterum celebritate, laude, fama (SOTTILI, 225). Zur Vita des Maffeo Vegio vgl. ferner: BERND SCHNEIDER, Das Aeneissupplement des Maffeo Vegio. Eingeleitet, nach den Handschriften herausgegeben, übersetzt und mit einem Index versehen (Acta humaniora), Weinheim 1985, 15; REINHOLD F. GLEI / MICHAEL KÖHLER, Maffeo Vegio. Vellus Aureum – Das Goldene Vlies (1431). Einleitung, kritische Edition, Übersetzung (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 38), Trier 1998, 8–11; PUTNAM (wie Anm. 1), Introduction VII. Insofern ist die Zusammenführung der vier, im Zeitraum von ca. acht Jahren veröffentlichten, formal kohärenten Kleinepen (Supplement zur Aeneis, Astyanax, Vellus aureum und Antonias) in einem gemeinsamen Band „Maffeo Vegio. Short epics“ der Reihe «The I Tatti Renaissance Library» nur konsequent, handelt es sich doch um eine einheitliche hexametrische Produktion – mit dem einzigen Unterschied, daß das Sujet des letzten Kleinepos nunmehr kein mythologisches, sondern ein hagiographisches ist. PUTNAMs Inanspruchnahme des kleinen Werks als erstes christliches Epos der Renaissance ist wohl doch etwas zu plakativ; vgl. PUTNAM (wie Anm. 1), Introduction XXXVIIf.: „Vegio’s Antoniad is the first Christian Latin epic of the Renaissance, preceding by nearly a century Jacopo Sannazaro’s De Partu Virginis (1526) and the contemporary Christiad (1535) of Marco Girolamo Vida“; eine ähnliche Formulierung findet sich auch im Klappentext. Darüber hinaus verbindet Vegios Tendenz, seine Kleinepen mit einem glücklichen Ende abzuschließen, die pagan-mythologischen Epen mit der Antonias. Dies hat bereits KARL BORINSKI, Das Epos der Renaissance, Vierteljahrsschrift für Kultur und Litteratur der Renaissance 1, 1886, 187–205 richtig bemerkt, vgl. S. 201: „Auch er (sc. Antonius) sieht am Schlusse, wie seine Genossen in Vegio’s weltlichen Epen glücklich domum et socios wieder.“ In der Tat kehrt Antonius am Ende seiner ungewissen und gefährlichen Reise zu dem ihm unbekannten Eremiten Paulus zu seinen Gefährten zurück, um ihnen, wenn auch – unmittelbar nach seiner Beerdigung des heiligen Leichnams des Paulus – nicht
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wurde Maffeo Vegio bereits als jugendlicher Dichter durch sein Aeneissupplement (630 Verse), mit dem er dem abrupt endenden4 römischen Nationalepos die scheinbar fehlende Fortsetzung hinzufügte. Das 1428 abgeschlossene Supplementum Aeneidos wurde bereits von Zeitgenossen als gelungene Vollendung der Aeneis gefeiert5 und fand als ‘Dreizehntes Aeneisbuch’ in Handschriften und Drucken bis ins 16. Jh. weite Verbreitung.6 Rein mythologischen Themen widmete sich Vegio in zwei weiteren Kleinepen. Der Astyanax (1430) behandelt in 318 Versen den Tod des kleinen Astyanax, des Sohnes Hektors und Andromaches, einen Stoff, der vom Tragödiendichter Seneca in den Troades als Drama gestaltet worden war.7 Im Jahr darauf schuf er wiederum ganz im antiken Stil ein weiteres, diesmal etwas umfangreicheres Epos: das Vellus aureum (1431), das in vier Büchern von ca. 1000 Versen die Ereignisse auf Kolchis darstellt. Nicht der Raub des Goldenen Vlieses, sondern Medeas leidenschaftliche Liebe zum Anführer der Argonauten steht im Mittelpunkt dieses mythologischen Kleinepos. Auch hier spürt man, wie im Supplementum, das Bestreben, an die verehrten antiken Vorgänger anzuknüpfen und Leerstellen zu füllen.8 Der humanistische Dichter bedient sich allenthalben des sogenannten epischen Götterapparates, motivieren doch die Götter die Handlung und greifen auch unmittelbar in das irdische Geschehen ein. Vor dem Hintergrund dieser mythologischen Kleinepen verspürte Maffeo Vegio wohl die Notwendigkeit einer Rechtfertigung seiner bisherigen poetischen Produktion in dem Augenblick, als er sich ein genuin christliches Sujet,9 die
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froh, so doch eifrig von den wunderbaren Begebenheiten zu erzählen (Ant. 4,133): cupidus ... domum sociosque revisit. Das Aeneissupplement endete mit der Freude der Mutter über die Verstirnung ihres Sohnes Aeneas (627–630): Dehinc l a e t a recentem / felicemque animam secum super aera duxit (sc. Venus), / immisitque Aenean astris ... Am Ende des Astyanax segeln die Griechen mit der um ihren getöteten Sohn Astyanax noch klagenden Andromache an Bord froh in ihre Heimat zurück (318, letzter Vers): et patrias l a e t i petiere Mycenas. Ebenso frohgemut segeln die Argonauten zusammen mit Jasons neuer Gattin Medea am Ende des Vellus aureum in ihre heimatlichen Häfen zurück (4,251f.): patrios victor portusque petebat / Aesonides l a e t i que nova cum coniuge Grai. Bekanntlich hält das verstörende Finale der Aeneis, daß nämlich pius Aeneas den um Gnade flehenden Turnus zornentbrannt tötet, nachdem er die erbeutete Rüstung des Pallas auf Turnus’ Schulter erblickt hat, noch bis heute Interpreten in Atem. Freilich auch von Pier Candido Decembrio (1392–1477) mit dem Vorwurf des Plagiats belegt, vgl. SCHNEIDER (wie Anm. 2), 17f. Vgl. SCHNEIDER (wie Anm. 2), 17–23; PUTNAM (wie Anm. 1), Introduction VIII– XXIII. Vgl. GLEI; KÖHLER (wie Anm. 2), 12–14. Vgl. die Einleitung zur zweisprachigen Ausgabe von GLEI / KÖHLER (wie Anm. 2), 15– 47; insbes. 17–19 (Inhaltsübersicht) und 19–34 ausführlich zu den literarischen Vorbildern. Zu vergleichen ist auch die Rezension von WIDU-WOLFGANG EHLERS, MLatJb 36, 2001, 370–374. Daß christliche Elemente in den frühen Kleinepen nicht nur fehlen, sondern von Vegio sogar bewußt vermieden wurden, hat PUTNAM (wie Anm. 1) für das Aeneissupplement,
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Begegnung der beiden Eremiten Antonius und Paulus, für ein Werk wählte, das er dem Papst zukommen lassen wollte. Daß sein Opusculum auf das Wohlwollen des Adressaten hoffen konnte, liegt in der Person Papst Eugens IV. begründet, der zeit seines Lebens dem Augustiner-Eremitenorden zugetan war.10 Die besondere Eignung gerade dieses Papstes mit seinen asketisch-monastischen Tendenzen macht es nicht unwahrscheinlich, daß Vegio das Thema seines christlichen Werkes letztlich mit Blick auf die Interessen des Papstes gewählt hat.11 Der ägyptische Mönch Antonios (251/252–356 n. Chr.), der aufgrund der einflußreichen Vita Antonii des Athanasios von Alexandreia als Prototyp der Eremiten und Begründer des eremitischen Mönchtums galt, bot sich als Identifikationsfigur für Papst Eugen IV. an. Entsprechend suggeriert Vegio in seiner metrisch vom eigentlichen Werk abgesetzten Praefatio, die mit der Anrede an Eugenius beginnt (Eugeni, ductor populi ...), eine enge Verbindung des Adressaten zu den in seinem Werk verherrlichten Wüstenvätern. Nach Nennung des Titels des nachfolgenden Werkes und einer knappen Andeutung des Inhalts (Hic Antoniaden – titulum si scire libelli / cura sit –, hic divum persequar acta patrum, 7–8) widmet Vegio die restlichen Verse seiner Praefatio dem hymnischen Preis des Papstes (9–16). Der Übergang von der Themenangabe, die betont mit patrum endet (V. 8), zum Lob des Papstes, der mit Digne pater angesprochen wird (V. 9), legt besonderes Gewicht auf den ehrenvollen Begriff pater. Mit seiner wiederholten Apostrophierung des Papstes als Digne pater (V. 9 und 11) stellt er eine direkte Beziehung zu den divi patres, den Wüstenvätern, her. Im anschließenden Werk ist pater denn auch die bevorzugte Bezeichnung nicht nur für den allmächtigen Gottvater (Pater omnipotens, Ant. 1,53), sondern vor allem sowohl für Antonius, der als veterum sanctissime patrum angesprochen wird (1,11; vgl. ferner 1,48; 1,149; 3,31; 4,22; 4,118 sanctus pater), als auch für den Eremiten Paulus (3,49 pater optime; 3,52; 3,57; 4,34 sanctus pater; 4,79; 4,101 divinus insbesondere für die abschließende Verstirnung der anima des Aeneas gezeigt, Introduction XVIII. 10 Zu Persönlichkeit und Pontifikat Eugens IV. (1431–1447) s. J. HELMRATH, Art. Eugen IV., in: Lexikon des Mittelalters IV, 1999, 80–82; ferner JOSEPH GILL, S. J.: Eugenius IV. Pope of Christian Union, Westminster, Md. 1961, insbes. 7. Kap.: „Eugenius IV: the Man and His Work, 169–202, hier 171, 198; und 201 (jeweils ohne nähere Quellenangaben) zu Eugenius’ asketischer Lebensform und Religiosität; S. 201 werden als seine ‘letzten Worte’, die sein Biograph Vespasiano da Bisticci (1421–1498) gehört haben will und in seinem Werk «Vite di uomini illustri del secolo XV» mitgeteilt hat, referiert, daß er auf dem Totenbett bereut habe, je das zurückgezogene mönchische Leben für seine Ämter aufgegeben zu haben. Vgl. auch PUTNAM (wie Anm. 1), Introduction XXXVIII mit Anm. 67. 11 PUTNAM weist bei der Frage nach der Wahl des Stoffes mit Recht auf die Bedeutung der Vita Antonii in Augustins Confessiones hin (PUTNAM [wie Anm. 1], Introduction XXXVIII–XLIV). Unmittelbar vor dem eigentlichen Bekehrungserlebnis erzählt ein gewisser Ponticianus Augustin und Alypius von der Wirkung der Vita Antonii (Aug. conf. 8,6,14–15). Diese war im Westen durch lateinische Übersetzungen, insbesondere die des Evagrius von Antiochien, zugänglich.
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pater); beide werden Ant. 3,121 als patres bezeichnet. Schließlich läßt Vegio im letzten Distichon das Motiv der Nachfolge Christi anklingen (Qui Salvatoris vestigia sancta secutus, 15), das um den Gedanken des geduldigen Ertragens unzähliger Bedrohungen (tot casus nosti, totque pericla pati, 16) erweitert wird, wodurch er Eugen IV. wiederum in enge Beziehung zu den Wüstenvätern setzt. Über diese panegyrische Positionierung des Papstes hinaus enthält die Praefatio aber auch noch Vegios poetologisches Programm. In der Tat war der Ort, der sich traditionellerweise für einen Blick auf die eigene Dichtung anbot, zum einen die Praefatio,12 zum anderen das Prooemium. Genau diese prominenten Stellen nutzt Vegio in seiner Antonias zur eigenen Standortbestimmung. Im folgenden soll Vegios poetologischen Aussagen die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet werden, hängt doch seine Poetologie eng mit seiner ‘Theologie’ zusammen.
II. Vegios Poetologie und ‘Theologie’ Vegios gewandelter, neuer Umgang mit der antik-paganen Tradition und Religion läßt sich besonders deutlich in seinem Prooemium erkennen. Eng verbunden mit der Themenangabe führt er hier eine Diskussion über die angemessene Inspirationsquelle für seine Poesie. Seine poetologischen Äußerungen entfalten sich in zwei Richtungen: zum einen grenzt er seine Dichtung allgemein von den falschen, nur erfundenen Göttern der antik-paganen Poesie ab, zum anderen bittet er den wahrhaften Gott um Beistand für seine Dichtung, die sich der Rühmung eines christlichen Helden widmet. Programmatisch setzt Vegio in seinem Prooemium (Ant. 1,1–14) mit einer Reihe von Negationen ein: non hic ..., non ..., non ..., neque ... aut ... (1–6a). Nachdem er ausgeführt hat, was er nicht behandeln will, folgt endlich die positive Darlegung. Diese Abgrenzung setzt das bereits in der Widmungselegie an Papst Eugenius IV. begonnene Verfahren fort – non hic knüpft auch sprachlich an Vers 5 der Praefatio an. Auch hier wurde zunächst gesagt, womit der angesprochene Papst als prominentester Leser in diesem Gedicht nicht konfrontiert werde, bevor die positive Aussage folgte (5f.): Non hic ficta leges13 veterum mendacia vatum: Tu sacer et sacra dignus es historia.
12 Einen systematischen Überblick über Profil und Funktion der – wie hier bei Vegio metrisch abgesetzten – Praefationes Claudians gibt FRITZ FELGENTREU, Claudians praefationes. Bedingungen, Beschreibungen und Wirkungen einer poetischen Kleinform (Beiträge zur Altertumskunde 130), Stuttgart; Leipzig 1999; 39–57 allgemein zur Entwicklung der Praefatio bis zur Zeit Claudians. 13 Zum gleichen Eingang innerhalb einer langen Aufzählung topischer Themen, deren Behandlung der Dichter jeweils mit non als Auftakt ablehnt, vgl. Sidonius Apollinaris, carm. 9,38 Non hic Cecropios leges triumphos.
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„Nicht wirst du hier die erfundenen Lügen der antiken Dichter lesen müssen: Du bist heilig und nur einer wahren heiligen Geschichte würdig.“
Das pleonastisch zu mendacia gesetzte, bewußt ambivalente ficta „erfunden und erlogen“ unterstreicht nicht nur die Fiktionalität von Dichtung überhaupt, sondern läßt auch moralisierend den alten Vorwurf der absichtlichen Täuschung anklingen.14 Der an dieser prominenten Stelle des Widmungsgedichts noch abstrakt geäußerte Vorwurf der Lügenhaftigkeit wird in Satan, der sich zur Täuschung des Antonius in einen Kentauren verwandelt, leibhaftige Gestalt annehmen (Ant. 2,46–48, s. u. S. 143). In seinem Prooemium setzt Vegio dann mit seiner Ablehnung des konventionellen Musenanrufs gleich zu Beginn seines Gedichts deutliche Akzente (Ant. 1,1–3a): Non hic Pegasides, non ficta et inania Musae nomina, non prisco numen de more vocarim, Phoebe, tuum. „Nicht will ich hier die Pegassiden, nicht die erfundenen und leeren Namen einer Muse, nicht nach althergebrachter Weise deine Gottheit, Phoebus, anrufen.“
Die antik-paganen Götter seien bloße Erfindungen der heidnischen Dichter und besäßen keine Wirklichkeit. Mit dem Wortspiel in Vers 2 nomina – numen werden die Musen ihres göttlichen Charakters beraubt und auf eitle und leere Namen (ficta et inania ... nomina), die ihre Existenz einzig den Dichtern verdanken, reduziert. Die Begründung für seine Ablehnung des Musenanrufs liefert der Dichter sogleich im Anschluß: derartige Musenanrufe seien als fester Bestandteil des antik-paganen Epos, in dem traditionellerweise Themen wie Kriege, Jupiters Verwandlungen und überhaupt die ganze Schar der heidnischen Götter behandelt zu werden pflegten,15 dem Inhalt seines Werks nicht angemessen (3b–6a): neque enim regum nunc tristia bella aut veterem falsumque Iovem turbamve deorum incertam lususque leves pompasque tumentes ordiri est animus.
14 Daß es sich um einen alten, geradezu topischen Vorwurf handelt, scheint Vegio auch dadurch zu betonen, daß er sich einer bereits geprägten Wendung bedient: veterum mendacia vatum begegnet bei Ov. am. 3,6,17. Zur Formulierung vgl. auch Maximianus, 1. Elegie, V. 11f. Saepe poetarum mendacia dulcia finxi / et veros titulos res mihi ficta dabat; FRANÇOIS SPALTENSTEIN führt in seinem Kommentar (Commentaire des élégies de Maximien, Rom 1983) S. 85, s. v. mendacia weitere Parallelen an; ebenda auch zum Gegensatz veros ... ficta. S. auch unten S. 143 mit Anm. 65. 15 Zu den für seine Dichtung abgelehnten antik-paganen Stoffen s. ausführlicher unten S. 131f.
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„Denn nicht mit leidvollen Kämpfen von Fürsten oder dem antik-paganen und falschen Gott Jupiter oder mit der unbestimmten Schar der heidnischen Götter – das heißt mit leichten Spielereien und aufgeblasenen Paradestücken16 – jetzt anzuheben habe ich im Sinn.“
Statt dessen wendet sich der Dichter im Prooemium zu seinem Gedicht, das vom Christengott und von ‘Gottmenschen’,17 seligen Menschen auf Erden, handeln werde (V. 6–7), an andere Instanzen: er ruft Jesus Christus, den wahrhaftigen, von der Jungfrau Maria geborenen Gott (6a–10), und Antonius selbst, der wenig später als wahrer Prophet (verus vates, 1,26) angesprochen wird, um Unterstützung für sein Unternehmen herbei (11–14): nunc te, sate virgine, te nunc certe Deus, nunc mortales, tua munera, divos angelicos dicam in terris hominesque beatos. Ergo, dei magni soboles, pande optime nostris 10 vela18 secunda Iesu placidusque adlabere coeptis. Et tu, care Deo, veterum sanctissime patrum Antoni, ... 14 nosce pium desiderium et succurre vocanti. 6
Diese christliche Polemik gegen die Gottheiten der heidnischen Dichter erinnert an die mit Vehemenz geführten Auseinandersetzungen in der christlichen Literatur der Spätantike.19 In der Tat läßt sich eine Fülle an programmatischen Äuße16 Zu dieser Apposition vgl. meine Interpretation weiter unten, S. 132, Anm. 37. 17 Tatsächlich wird Antonius seinen Mitbrüdern bekennen, daß er im heiligen Paulus ein Abbild Gottes in einer menschlichen Brust gesehen habe (Ant. 4,55): divinum humano specimen sub pectore vidi; vgl. auch BASILIUS STEIDLE O. S. B., Homo Dei Antonius. Zum Bild des «Mannes Gottes» im alten Mönchtum, in: Antonius Magnus Eremita 356– 1956. Studia ad antiquum monachismum spectantia, cura Basilii Steidle (Studia Anselmiana 38), Rom 1956, 148–200. 18 Zum Befehl pande vela vgl. insbes. Plin. epist. 8,4,5. Hier fordert Plinius seinen Adressaten Caninius Rufus, der im Begriff ist, den Dakerkrieg in einem Epos zu behandeln, auf: proinde iure vatum invocatis dis ... immitte rudentes, pande vela ac ... toto ingenio vehere! cur enim non ego quoque poetice cum poeta? Auf die bei einem epischen Unternehmen beliebte poetologische Metapher der Seefahrt, die auch Vegio hier in der Bitte um günstige Fahrt anklingen läßt, gehe ich in unserem Zusammenhang nicht weiter ein. 19 Das Verhältnis von Humanisten zur christlich-lateinischen Dichtung der Spätantike ist bereits von unterschiedlichen Seiten beleuchtet worden. Zum Interesse der Humanisten an den Kirchenvätern, die sie in den Rang von – nunmehr christlichen – Klassikern erhoben, s. allgemein AUGUST BUCK, Der Rückgriff des Renaissance-Humanismus auf die Patristik, in: Festschrift Walter von Wartburg zum 80. Geburtstag, hrsg. von KURT BALDINGER, Tübingen 1968, 153–175; zur Popularität des Kirchenvaters Hieronymus 164. Zur christlichen Begründung der Poesie in Spätantike und Frührenaissance ist der systematische Beitrag von REINHART HERZOG zu vergleichen: Veritas Fucata. Hermeneutik und Poetik in der Frührenaissance, in: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania (Romanisches Kolloquium 4), hrsg. von WOLF-DIETER STEMPEL/ KARLHEINZ STIERLE, München 1987, 107–136. Wie die christlich-lateinische Poesie der
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rungen spätantik-christlicher Dichter anführen, die nicht nur inhaltlich, sondern teilweise auch bis in den Wortlaut hinein mit Vegios Argumentation übereinstimmen.20 So meldet sich Juvencus, der Archeget der christlich-lateinischen Poesie im allgemeinen und des Bibelepos im besonderen, in seinem Prooemium21 selbstbewußt zu Wort: wenn schon der antik-paganen Dichtung ein so lang andauernder Ruhm zuteil geworden sei, einer Dichtung, die doch den Taten ihrer sterblichen Helden Lügen (mendacia) beigemischt habe, um wieviel mehr könne dann sein Gedicht, dessen Gegenstand die lebenspendenden Taten Christi bildeten und das
Spätantike von Humanisten (überwiegend im Umfeld des deutschen Humanismus) rezipiert wurde, hat FIDEL RÄDLE in einem grundlegenden Beitrag zu Motiven, Programmen, Eigenarten und Problemen dieser Rezeption untersucht: Die lateinische Dichtung der christlichen Spätantike im Humanismus, in: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, hrsg. von LUDGER GRENZMANN / KLAUS GRUBMÜLLER / FIDEL RÄDLE / MARTIN STAEHELIN (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, Bd. 263), Göttingen 2004, 195–229; in unserem Zusammenhang ist insbes. der Abschnitt „Die Rolle der christlichen Dichtung in der Spätantike“, 200–205 zu vergleichen. 20 THOMAS GÄRTNER untersucht in seinem Beitrag „Die Musen im Dienste Christi: Strategien der Rechtfertigung christlicher Dichtung in der lateinischen Spätantike“ (Vigiliae Christianae 58, 2004, 424–446) poetologische Selbstrechtfertigungen einzelner Dichter und Dichterinnen (Proba, Prudentius, Orientius, Juvencus, Sedulius und – unter Adaptation der Rechtfertigungsstrategie des Sedulius – Hrotsvith von Gandersheim), wobei er die Besonderheit des jeweiligen poetologischen Konzepts sowie dessen Nachwirken im Mittelalter herausarbeitet. Mit welchen Strategien auch noch 200 Jahre nach Vegios Antonias die offenbar als notwendig empfundene Legitimierung der poetischen Form überhaupt und der Integration von Vergils paganer Dichtung in ein christliches Epos geführt wurde, zeigt die Christias des Alexander Ross (1638); zu den poetologischen Äußerungen in Praefatio und Prooemium dieses epischen Bibelcentos vgl. die eingehende Analyse von SIEGMAR DÖPP, Virgilius Evangelisans. Zu Praefatio und Prooemium von Alexander Ross’ Christias (1638), Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, Jg. 2000, Nr. 6. 21 Zur ‘Praefatio’ des Juvencus, die man korrekter als Prooemium bezeichnen sollte (s. REINHART HERZOG, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike. Formgeschichte einer erbaulichen Gattung I, München 1975, 68, Anm. 102 und Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. 5. Bd.: Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr., München 1989, § 561, 331–336, hier 332 und 335; zur Interpretation des Prooemiums 334–336), vgl. P. G. VAN DER NAT, Die Praefatio der Evangelienparaphrase des Iuvencus, in: Romanitas et Christianitas. Studia I. H. Waszink ... oblata, edd. W. DEN BOER / P. G. VAN DER NAT / C. M. J. SICKING / J. C. M. VAN WINDEN, Amsterdam; London 1973, 249–257; FRANZ QUADLBAUER, Zur ‘invocatio’ des Iuvencus (praef. 25–27), Grazer Beiträge 2, 1974, 189–212. Mit Juvencus’ Poetologie, insbes. mit dem Ruhmesgedanken, setzt sich auch GÄRTNER (wie Anm. 20), 431–434 näher auseinander. Vgl. auch ausführlich ROGER P. H. GREEN, Latin Epics of the New Testament. Juvencus, Sedulius, Arator, Oxford 2006, 15–23, insbes. 20–23.
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frei vom Vorwurf der Falschheit sei, Anspruch auf ewigen Ruhm erheben, Iuvencus, evangelia (ca. 330, ed. I. HUEMER, CSEL 24) 15–20: Quod si tam longam meruerunt carmina famam, quae veterum gestis hominum mendacia nectunt, nobis certa fides aeternae in saecula laudis inmortale decus tribuet meritumque rependet. nam mihi carmen erit Christi vitalia gesta, 20 divinum populis falsi sine crimine donum. 15
Entsprechend ersetzt der Heilige Geist als Urheber des Gedichts den Musenanruf und das Wasser des Jordan den Musenquell (25–27): 25
Ergo age! sanctificus adsit mihi carminis auctor spiritus, et puro mentem riget amne canentis dulcis Iordanis, ut Christo digna loquamur.
Auch Sedulius fragt im Prooemium seines carmen paschale (ca. 431), warum er die berühmten Wundertaten Christi, des Heilbringers, verschweigen solle, während doch die heidnischen Dichter eifrig ihre lügnerischen Erfindungen (figmenta, mendacia) propagierten (Sedul. carm. pasch.22 1,17–26): Cum sua gentiles studeant figmenta poetae grandisonis pompare23 modis ... 21 et scelerum monumenta canant, rituque magistro plurima Niliacis tradant mendacia biblis: cur ego ... 26 clara salutiferi taceam miracula Christi?
Wie Juvencus den Gegensatz zwischen den mendacia der paganen Dichter (16) und den Christi gesta (19) seines Gedichts betont, wie Sedulius den figmenta (1,17) und mendacia (1,22) der heidnischen Dichter die miracula Christi (1,26) entgegensetzt, so grenzt sich auch Vegios Erzähler, der die facta (1,13) des heiligen Antonius besingen will, von den veterum mendacia vatum (Praef. 5) ab. Die christliche Polemik gegen die Musen als Gestalten der heidnischen Götterwelt zielt vor allem auf ihren persönlichen Charakter.24 Die Problematisierung 22 Ed. I. HUEMER, CSEL 10, editio altera supplementis aucta curante VICTORIA PANAGL, 2007; zum Prooemium des Sedulius vgl. GREEN (wie Anm. 21), 162f. 23 Mit dem erlesenen Verb pompare (1,18) betont Sedulius die unangemessen hohe Stillage im Gegensatz zum nichtigen Inhalt. RÄDLE (wie Anm. 19), 201 übersetzt den Ausdruck grandisonis pompare modis elegant mit „groß in Szene zu setzen“. Zu vergleichen ist auch Sedulius’ entsprechende Prosaparaphrase des Ausdrucks grandisonis pompare modis durch commendare pompa verborum im Paschale opus (176,8, Edition s. Anm. 22). Auch Vegio wählt zur Bezeichnung der pompösen, aufgeblasenen Darstellung der heidnischen Götter das bildhafte Wort pompa, das er noch durch das ebenfalls pejorative tumens verstärkt (1,5). 24 Vgl. KLAUS HEITMANN, Boethius’ Verdammung der Musen im Mittelalter, in: Renatae Litterae. Studien zum Nachleben der Antike und zur europäischen Renaissance August
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des traditionellen Musenanrufs dient den christlichen Dichtern aber nicht nur zur Entgöttlichung der Musen, sondern bietet ihnen zugleich Gelegenheit, ihr eigenes poetisches Programm vorzustellen. Hierbei weist Vegios Poetologie eine besondere Affinität zu Positionen auf, wie sie der spätantike Dichter Paulinus von Nola (ca. 353–431) nach seiner Konversion25 zum monastischen Leben in seinen Gedichten vertritt. Vielleicht bot sich für Vegio in seiner – zumindest in der Wahl seiner Themen erkennbaren, vielleicht auch bewußt propagierten – Neuorientierung auf den christlichen Glauben hin gerade dieser spätantike Dichter als Leitbild für seine Abkehr von der paganen Poesie an.26 Besonders aufschlußreich ist in unserem Zusammenhang die Antwort des Paulinus an Ausoni-
Buck zum 60. Geburtstag am 3.12.1971 dargebracht von Freunden und Schülern, hrsg. von KLAUS HEITMANN / ECKHART SCHROEDER, Frankfurt a. M. 1973, 23–49 zum „christlichen Rigorismus der patristischen Zeit, der in seinem Kampf gegen den heidnischen Polytheismus allen überirdischen Wesen der griechisch-römischen Mythologie die Existenz absprach“, 31. Zur topischen Ablehnung der heidnischen Musen durch christliche Dichter sei aus der Fülle an Literatur vor allem auf folgende Untersuchungen hingewiesen: ERNST ROBERT CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern; München 101984, 235–252, insbes. ab 241, verfolgt den Topos der Musen-Ablehnung bis ins 17. Jh. Ferner ist der umfassende Überblick von PAUL KLOPSCH (Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980, insbes. zur Exordialtopik der Invocatio: 20–37) heranzuziehen; zur Inspiration des Dichters in der humanistischen Dichtungstheorie vgl. auch unten Anm. 65. WALTHER LUDWIG, Musenkult und Gottesdienst – Evangelischer Humanismus der Reformationszeit, in: WALTHER LUDWIG, Miscella Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 1989–2003, edenda curavit ASTRID STEINERWEBER (Noctes Neolatinae 2.1), Hildesheim; Zürich; New York 2004, 249–294. LUDWIG, der in seinem systematischen Beitrag vor allem den Traditionsstrang der Musen als Metaphern und Allegorie für die artes liberales bei Melanchthon und den Humanisten des 16. Jahrhunderts verfolgt, skizziert zunächst die Rolle der Musen als inspirierende göttliche Kraft in der spätantiken christlichen Dichtung (Abkehr von den Musen, S. 254), in der mittellateinischen Dichtung (Musa kann freilich auch hier metonymisch für Dichtung stehen, Anm. 16) und bei humanistischen Dichtern des 15. Jahrhunderts, die „die Musen oder eine von ihnen wie Thalia oder Calliope ... als Inspiratorinnen ihrer Poesie“ beschworen (S. 255); Anm. 18 führt er allerdings auch ein Beispiel aus einem (1486 veröffentlichten) Gedicht des Münsteraner Humanisten Rudolph von Langen an, der den konventionellen Musenanruf ausdrücklich ablehnt und durch eine Bitte an Jesus ersetzt. 25 Zum Begriff der conversio bei Paulinus s. MATTHIAS SKEB OSB, Christo vivere. Studien zum literarischen Christusbild des Paulinus von Nola (Hereditas. Studien zur Alten Kirchengeschichte 11), Bonn 1997, 60–68. 26 Ob man allerdings mit SOTTILI von einem ‘Gesinnungswandel’ sprechen sollte, ist höchst fragwürdig; vgl. SOTTILI (wie Anm. 2), 232: „bei Vegio stellt sich ja ohne Zweifel das Problem eines Gesinnungswandels: sein schriftstellerisches Schaffen nimmt nämlich in der Reifezeit einen Ton an, der von dem seiner Jugendschriften vollkommen verschieden ist; denn er richtet nun seine Bemühungen vorwiegend auf hagiographische Probleme und Fragen der Askese.“
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us, der einen Brief an seinen ehemaligen Schüler und Freund mit folgendem Appell beendet hatte (Auson. epist. 21, ed. R. P. H. GREEN), 73f.: haec precor, hanc vocem, Boeotia numina, Musae, accipite et Latiis vatem revocate Camenis.
Ausonius bittet Paulinus also inständig, zu den latinischen Camenen zurückzukehren, was gleichbedeutend mit der Rückkehr zur paganen Dichtung ist. Paulinus aber erteilt dieser Bitte in seinem carmen 10, einem hochpoetischen, in drei verschiedenen Metren abgefaßten Antwortschreiben,27 eine deutliche Absage (Paul. Nol.28 carm. 10,19–42): 20
Quid abdicatas in meam curam, pater, redire Musas praecipis? negant Camenis nec patent Apollini dicata Christo pectora. „Warum verlangst du, Vater, daß die Musen, von denen ich mich losgesagt habe, sich wieder in meine liebevolle Sorge begeben? Es verweigert sich den Camenen und ist für Apollo nicht zugänglich ein Herz, das sich Christus geweiht hat.“
In einer Gegenüberstellung von einst (quondam, 23) und jetzt (nunc, 29) distanziert er sich rückblickend von seiner einstigen Gewohnheit, Apollo, den er nun als taub bezeichnet, und die Musen als Gottheiten anzurufen (carm. 10,25f.):
27 Zu vergleichen ist die Analyse des Gedichts durch CHARLES WITKE, Numen Litterarum. The Old and the New in Latin Poetry from Constantine to Gregory the Great (Mittellateinische Studien und Texte 5), Leiden; Köln 1971, insbes. 44–51. Daß Paulinus angesichts seiner engen Verzahnung von Leben und Dichtung mit einer neuen Poetik auf seine rigorose Hinwendung zu einer christlich-asketischen Lebensform reagieren mußte, hebt DENNIS E. TROUT (Paulinus of Nola. Life, Letters, and Poems [The Transformation of the Classical Heritage 27], Berkeley; Los Angeles; London 1999, 78f.) mit Recht hervor. Zur Poetik in carm. 10 ist ferner heranzuziehen: KLAUS KOHLWES, Christliche Dichtung und stilistische Form bei Paulinus von Nola (Habelts Dissertationsdrucke, Reihe Klass. Philologie 29), Bonn 1979, insbes. 34–41 und 153–157 zur invocatio der heidnischen Inspirationsgottheiten. Mit Kohlwes setzt sich wiederum SKEB (wie Anm. 25) kritisch auseinander, vgl. insbes. S. 110–130: „Carm. 10: ‘Literaturtheorie’ und monastische conversio. Zum carmen 10 als Auseinandersetzung des Paulinus „mit der eigenen Vergangenheit in der Gestalt des Freundes Ausonius“ s. allgemein SKEB (wie Anm. 25), 76–84. Vgl. auch die neuere Kommentierung des 10. Briefgedichts durch DAVID AMHERDT, Ausone et Paulin de Nole: correspondance. Introduction, texte latin, traduction et notes (Sapheneia 9), Bern; Berlin; Bruxelles; usw. 2004, insbes. 126–131 und 138. 28 Ed. G. DE HARTEL, CSEL 30, editio altera supplementis aucta curante MARGIT KAMPTNER 1999.
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ciere surdum Delphica Phoebum specu, vocare Musas numina.29
Im weiteren Verlauf des Gedichts verurteilt der christliche Dichter die heidnische Literatur mit den üblichen Ausdrücken, die das Erfundene, Unwahre, Falsche betonen: vanae, fabulosae litterae (33f.), figmenta vatum (38), falsa atque vana (39); diese Literatur führe nicht zum Heil (salus, 41) oder zur Wahrheit (veritas, 42). Mit betonter Verneinung bestimmt Paulinus auch in carmen 15 seine Abgrenzung von der konventionellen Praxis des Herbeirufens der Musen, die allein der Phantasie der heidnischen Dichter entsprungen seien, sowie des ohnehin tauben Apollo (carm. 15,30f.): non ego Castalidas, vatum phantasmata, Musas nec surdum Aonia Phoebum30 de rupe ciebo;
Der Vorsänger seines Gedichts ist dagegen Christus (carm. 15,32f.): carminis incentor Christus mihi, munere Christi audeo peccator sanctum et caelestia fari.
Ebenso beruft sich Paulinus von Périgueux für seine Dichtung über den heiligen Martin (ca. 460/470) auf eine andere als die von den heidnischen Dichtern bemühte Inspirationsquelle, Paulinus Petricordiae, de vita Martini episcopi (ed. M. PETSCHENIG, CSEL 16,1) 1,298–306: Hic modo si veterum recolamus carmina vatum,31 cum subito adtonitos quaterent miracula sensus, 300 clamaret miserum vecors insania Foebum nec sineret falsas saltim requiescere Musas, Delfica mentito quaterentur Apolline templa 29 In der hexametrischen Partie dieses Briefgedichts wendet er sich erneut, eingeleitet durch eine rhetorische Frage (V. 110–112), gegen die von Ausonius vorgetragene Bitte, zu den Kastalischen Musen zurückzukehren. Auch hier leugnet er die Göttlichkeit der Musen mit dem paronomastischen Wortspiel sine numine nomina (V. 115), das auch Vegio in Vers 2 seines Prooemiums verwendet (113–115): 110
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revocandum me tibi credam, cum steriles fundas non ad divina precatus, Castalidis (Dat. Pl. !) supplex averso numine Musis? non his numinibus tibi me patriaeque reducis. surda vocas et nulla rogas (levis hoc feret aura quod datur in nihilum) sine numine nomina Musas.
30 Wie hier verwendet Paulinus auch in carm. 10,25 die Junktur surdum ... Phoebum an gleicher Versstelle; vgl. auch die im folgenden zitierte Passage aus Paul. Petric. Mart. 1,303 surdae ... sorores. Jeweils liegt die Vorstellung zugrunde, daß es vergeblich sei, diese heidnischen Instanzen anzurufen, da es sich nur – wie Vegio es formuliert – um bloße Namen (ficta et inania ... nomina, Ant. 1,1–2), aber eben nicht um Gottheiten handle. 31 Der alliterierende Genitiv veterum ... vatum findet sich auch in Vegios Praefatio zur Antonias im Hexameterschluß, s. o. Anm. 14.
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cunctaque surdarum raperetur turba sororum, excita vel totum conplerent monstra furorem: 305 nos, quibus a Christo sensus vel verba petuntur, christicola inspires paulum Martine, precamur.
Wieder begegnet das bekannte Vokabular: Die heidnischen Dichter bemühten falsche, das heißt erfundene Musen, einen ebenfalls nur erlogenen, also fingierten Apollo – falsus (V. 301) wird synonym mit mentitus (302) gebraucht –, so daß die Musen auf Anrufungen natürlich nicht reagierten (surdae sorores, 303). Entsprechend läßt Paulinus seinen Erzähler den von ihm gefeierten Heiligen selbst um Inspiration bitten (1,305f.). Zu vergleichen ist noch das Binnenprooemium 4,245–253: auch hier dient der besungene Heilige als Inspirator, der an die Stelle des heidnischen Musageten tritt (4,250): nos Martinus agat. Wie dem christlichen Dichter Juvencus (Praef. 26–27) der Jordan als Symbol für reines, geläutertes, dem heiligen Gegenstand angemessenes Dichten dient, stellt auch Paulinus von Petricordia den Fluß Jordan unter Anspielung auf die dort von Johannes vollzogene Taufe Jesu der – den Musen und Apollo geweihten – kastalischen Quelle, die für die vom Wahnsinn ergriffenen heidnischen Dichter zuständig sei, gegenüber (Paul. Petric. Mart. 4,252f.): Castalias poscant lymfatica pectora lymfas: altera pocla decent homines Iordane renatos.32
Vegios Prooemium steht ganz in dieser gegen die antiken Götter geführten Polemik spätantiker christlicher Dichter. Angesichts seiner ablehnenden Haltung gegenüber den Musen im Auftakt der Antonias könnte es zunächst irritierend wirken, daß er am Ende des Prooems die Musen doch noch in den Dienst nimmt (13): accingor facta Aoniis celebrare Camoenis33 „ich gürte mich, die Taten «des heiligen Antonius» mit Hilfe der Aonischen Camenen zu preisen“.
Die ihres persönlichen Charakters entkleideten und von ihrer falschen, nur angedichteten Göttlichkeit gereinigten Musen kann er aber nunmehr in den Dienst seiner christlichen Dichtung stellen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, falschen Göttern zu dienen. Durch die programmatische Ablehnung der religiösen Sichtweise der Musen zu Beginn des Prooems hat der Dichter dafür Sorge getragen, daß die Musen nicht als Göttinnen der Inspiration, sondern lediglich als personifizierter bzw. metonymischer Ausdruck für Dichtung schlechthin verstanden werden. Die Musen sind als instrumentaler Ablativ nicht nur syntaktisch 32 Zum Ausdruck Iordane renatus als Umschreibung für ‘Christ’ s. JOHANNES B. BAUER, Art. Jordan, RAC 18, 1998, 699–715, hier 708; zur Bedeutung des Jordan bei Juvencus vgl. ebd. Sp. 712. 33 Zur Junktur Aoniae ... Camoenae vgl.: Ov. fast. 4,245; Ven. Fort. carm. 8,1; ferner noch Verg. georg. 3,11 Aonio rediens deducam vertice Musas.
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untergeordnet, sondern werden auch inhaltlich zu Helferinnen des Dichters degradiert. Antonius, der wenige Verse später als verus vates (26) bezeichnet wird, nimmt als geeignetere Inspirationsquelle die Stelle der Musen ein, wie der Anruf mit Bitte um Beistand zeigt (Ant. 1,11–14): Et tu, ... Antoni, ... succurre vocanti. Auf die Musen kann Vegio aber nun unbeschwert als bloßes Synonym für Dichtung zurückgreifen. Durch den konventionellen Ausdruck facta Aoniis celebrare Camoenis im vorletzten Vers seines Prooems deutet der Dichter freilich an, daß er sich zur Verherrlichung seines Titelhelden auch der heidnischen Dichtung bedienen wird, lassen sich die bewundernswerten Taten seines Heiligen doch durchaus an die Seite der Helden heidnischer Poesie stellen. Mit dieser Interpretation ist das anspielungsreiche Prooemium der Antonias aber noch nicht ausgeschöpft. Vegio setzt sich durch die betonten Verneinungen zu Beginn seines Werks nicht nur von der paganen Praxis ab, die Musen und Phoebus Apollo, den Gott der Musen, als göttliche Inspirationsquelle anzurufen. Vielmehr distanziert er sich auch von seiner eigenen poetischen Produktion, hatte er sich doch in den Prooemien seiner der Antonias vorangehenden mythologischen Kleinepen noch selbst des traditionellen Musenanrufs bedient. So wandte sich der Dichter im Astyanax – mit deutlichen Anklängen an Vergils Aeneis – gleich im ersten Vers bittend an die Muse, die wenig später als Göttin (diva, V. 4) bezeichnet wird (Astyanax 1–5a):
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Musa, refer quae causa metum post diruta Troiae moenia et extremas clades incussit Achivis principibus. Cur certa omnis penderet inulto Astyanacte salus Danaum? Tu, diva, canentem prosequere.
Auch bei seinem nächsten Werk, dem Vellus aureum, fehlte im Prooemium der traditionelle Anruf an die als deae apostrophierten Musen nicht (1,18–21): Vos memorate, deae, veteresque resolvite causas – res antiqua ingens et non obscura sub antris 20 Aoniis –; quae me totiens Helicona moventem iuvistis, vestro rursum succurrite vati!
Der Dichter, der sich hier noch ganz den heidnischen Musen anvertraute (vester vates, V. 21), richtet in seinem hagiographischen Epos – wie etwa auch Paulinus von Périgueux 1,306 an den heiligen Martin – die Bitte um Beistand für sein neues Unternehmen an den zu rühmenden Heiligen selbst (Ant. 1,11–14): Et tu, care Deo, veterum sanctissime patrum Antoni, ... 14 nosce pium desiderium et succurre vocanti.
Die Aufforderung um Beistand an gleicher Versstelle (succurrite vati, Vellus 1,21 und succurre vocanti, Ant. 1,14) zeigt deutlich, daß der Dichter die früher angerufene Instanz, die Musen, nunmehr durch den heiligen Antonius ersetzt hat.
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Vor dem Hintergrund dieser traditionellen Musenanrufe in seinen früheren Werken wird nochmals deutlich, wie notwendig es für Vegio war, seine intendierten Leser überhaupt erst einmal für sein neues Werk zu gewinnen. Diese Aufgabe der captatio benevolentiae kommt der Praefatio und dem Prooemium zu. An diesen prominenten Stellen stimmt der Dichter seine Leser gleichsam beruhigend darauf ein, daß sie hier keine Fortsetzung seiner bisherigen poetischen Produktion zu erwarten haben. Gleich nach der Anrede versichert der Dichter daher dem angesprochenen Papst, daß er gerade keine frivole Erzählung antik-paganer Prägung befürchten müsse, vielmehr eine seinem würdigen Amt angemessene Geschichte: Tu sacer et sacra dignus es historia (Praef. 6). Positiv nennt er dann sogleich den Titel seines Werks (Antonias, „ein Epos über den heiligen Antonius“) und skizziert den Inhalt mit divum ... acta patrum, wobei er in betonter Frontstellung durch den Gleichklang mit dem kurz zuvor abgewehrten Inhalt veterum ... mendacia vatum (Praef. 5) die Dignität seines Themas hervorhebt. Daher setzt der Dichter auch zu Beginn des eigentlichen Werks nochmals (wie in der Praefatio, V. 5) mit dem betonten Abwehrgestus non hic ... ein. Die Ablehnung des üblichen Musenanrufs hängt eng mit dem neuen Gegenstand zusammen. Vegio bestimmt seine poetische Neuorientierung in dem nachfolgenden Werk zunächst wiederum negativ, indem er einen Katalog dichterischer Sujets anführt, die er nicht zu behandeln gedenkt (Ant. 1,3b–6a, s.o. S. 123):
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neque enim regum nunc tristia bella aut veterem falsumque Iovem turbamve deorum incertam lususque leves pompasque tumentes ordiri est animus.
Besonderes Augenmerk verdient der Ausdruck vetus falsusque Iupiter in Vers 4: vetus hat hier die Konnotation wie in der Wendung veterum mendacia vatum im fünften Vers der Praefatio. Auf metapoetischer Ebene zielt es auf die antikpaganen Dichter, denen allein die Konstruktion eines ’Gottes‘ Jupiter zu verdanken ist. Die weitere Charakterisierung Jupiters als falsus ist bewußt ambivalent gebraucht: zum einen knüpft falsus an den Gedanken der Fiktion der mythologischen Erzählungen durch die heidnischen Dichter an, bedeutet also soviel wie „erfunden“, „erlogen“, „in der Wirklichkeit nicht existierend“, zum anderen erinnert es aber auch an die zahlreichen Verwandlungen, denen sich der höchste Göttervater in falscher, trügerischer Gestalt bei seinen diversen Liebesabenteuern unterzog. Zu denken ist an die vor allem aus Ovids Metamorphosen sattsam bekannten Verwandlungen Jupiters in einen Stier (Europa), einen Schwan (Leda) oder einen Goldregen (Danae).34 Eine adäquate Übersetzung von falsus Iupiter 34 So heißt es in Ovids Metamorphosen-Erzählung über die Entführung der Königstochter durch Jupiter in Gestalt eines Stieres (met. 2,870f.) d e u s a terra siccoque a litore sensim / f a l s a pedum primo vestigia ponit in undis; besonders aufschlußreich ist in unserem Zusammenhang die pejorative Anspielung auf Jupiters Verwandlung in Gold, die hier polemisch in Frage gestellt wird (Ov. met. 5,11f.): falsum versus in aurum / Iuppiter; vgl. hierzu F. BÖMERs Kommentar (Heidelberg 1976) S. 234f. mit weiteren Belegen zur Be-
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müßte also etwas ausführlicher ausfallen, etwa: „der trügerische Jupiter, der sich in alle möglichen Gestalten zu verwandeln pflegte, in Tat und Wahrheit aber nur eine poetische Fiktion ist“. Diese zurückgewiesenen Themen wie Kriege,35 Jupiter und überhaupt die ganze heidnische Götterschar, wozu dann auch der konventionelle Anruf an die Musen und Apollo passen würde, werden in einem pejorativen Kommentar abschließend mit der Apposition lususque leves pompasque tumentes (Ant. 1,5) „frivole poetische Spielereien36 und schwülstige Schilderungen von prunkvollen Festumzügen“ zusammengefaßt.37 Vegios poetologische Äußerungen in Praefatio und Prooemium sind aufs engste mit dem Thema der Antonias verschränkt. Der bereits im Prooemium sichtbar gewordene Gestus der Aufdeckung des fiktionalen Charakters der antiken Götter wird sich auch in der Ausführung des Themas fortsetzen, wenn Vegio nämlich seinen Helden Antonius mit dem gleichen Vokabular (vani dei, falsa numina im Gegensatz zum verus salvator) die Nichtigkeit der paganen Götter
deutung von falsus in aktivischer Bedeutung im Sinne von fallax, „trügerisch“ in Verwandlungsszenen. Vgl. auch Stat. silv. 1,2,135f. falsus huic (sc. Violentillae) pennas et cornua sumeret aethrae / rector, in hanc vero cecidisset Iuppiter auro mit FRIEDRICH VOLLMERs Kommentar (Leipzig 1898) z. St., S. 249. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Vegio nirgends in seinem hagiographischen Epos den in der christlichen Polemik topischen Vorwurf, daß die unwürdigen Gottesbilder moralisch zersetzend wirkten, erhebt. 35 Vegio lehnt hier das traditionelle Epos als Thema für seine Dichtung ab. Mit dem Ausdruck regum ... tristia bella (V. 3) zitiert er geradezu Horaz, ars 73, wonach der Hexameter das angemessene Versmaß für res gestae regumque ducumque et tristia bella sei. 36 Zu lusus im metonymischen Sinne von carmina leviora bzw. vom Schreiben solcher carmina s. ThLL VII 2, 1890,64–1891,31, s. v. lusus; der pejorative Sinn, mit dem Vegio an unserer Stelle die traditionellen Stoffe als zu ‘leichten’, d. h. leichtfertigen und unangemessenen Gegenstand seines Gedichts ablehnt, kommt gut in einem poetologischen Martial-Epigramm zum Ausdruck, in dem der Epigrammatiker seine Gedichte von epischer und tragischer Dichtung abgrenzt (4,49): Nescit ..., quid sint epigrammata, ..., / qui tantum lusus illa iocosque vocat. / ille magis ludit, qui scribit prandia saevi / Tereos aut ... Vgl. noch V. 7–8 a nostris procul est omnis vesica libellis, / Musa nec insano syrmate nostra tumet – der Gedanke des Schwulstes in vesica und tumet erinnert an Vegios pompae tumentes. 37 Ich verstehe den Ausdruck also nicht wie GLEI / KÖHLER (wie Anm. 2), 10 in ihrer Übersetzung dieser Passage mit „das unzuverlässige Völkchen der Götter, ihre frivolen Spielchen und ihr aufgeblasenes Prahlen“ als Apposition, die sich lediglich auf die Götter bezieht; auch nicht mit PUTNAM (wie Anm. 1), S. 133 allgemein als „life’s fleeting follies and prideful parades“. Möglicherweise ist Vegios Junktur pompae tumentes kontrastierend auf die Ankündigung der Dichter-persona im Prooemium zum 3. Georgica-Buch bezogen (Verg. georg. 3,22f.): sollemnis ducere pompas / ad delubra iuvat, wo pompa zunächst natürlich in der eigentlichen Bedeutung „Festzug“ gebraucht ist, zugleich aber auch auf die poetische Darstellungsweise der feierlichen Prozessionen zielt, da der Dichter ja bereits das künftige panegyrische Epos imaginiert. Zu pompa vgl. auch Sedulius’ pompare, s. o. Anm. 23.
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feststellen läßt. In einer Apostrophe verurteilt Antonius den Aberglauben des ägyptischen Volkes (Ant. 2,96–100): ‘Heu, quae impia vanis’, inquit, ‘Alexandrina deis gens construis aras! Heu, quae caelestes falsis exsolvis honores numinibus, gens infelix, quae temnere verum 100 salvatorem audes hominum ...’
Das konventionelle Vokabular der Täuschung, das von Vegio zur Abqualifizierung der von heidnischen Dichtern erfundenen Götter eingesetzt wurde (ficta, mendacia, inania, falsus), verwendet er bezeichnenderweise auch zur Charakterisierung der Täuschungsabsichten des Teufels, wie weiter unten (S. 143) ausgeführt werden wird. Die Abgrenzung des eigenen Gegenstandes in Prooemien christlicher Dichter kann sich im allgemeinen nach zwei Richtungen hin entfalten: entweder erfolgt eine Gegenüberstellung eines einst behandelten Themas (quondam) mit dem jetzt (nunc) in Angriff genommenen38 oder der christliche Dichter setzt sein Thema von den üblicherweise von heidnischen Dichtern behandelten Themen ab. Ein typisches Beispiel einer Kontrastierung innerhalb der eigenen poetischen Produktion liegt im Prooemium der christlichen Dichterin Proba zu ihrem Vergil-Cento (ca. 360) 1–28 vor.39 Einem früheren Bürgerkriegsepos stellt sie nun (nunc, V. 9) das jetzige christliche Gedicht gegenüber. Dies erinnert an Vegios Abfolge in seinem Prooemium: mit Probas Wendung regum crudelia bella (V. 3) ist Vegios Ausdruck regum ... tristia bella (ebenfalls V. 3), der freilich auch ein direktes Zitat aus Horaz, ars poetica 73 sein kann,40 zu vergleichen. Auch Vegio kündigt in den Versen 6–7 mit nunc (in dreifacher Anapher) sein nun folgendes Thema an. Den Gedanken einer poetischen Entwicklung in dem Sinn, daß der Jugendphase (quondam) poetische Spielereien zugeordnet werden, dem reifen Alter aber (nunc) ernsthaftere Themen, entfaltet Paulinus in carmen 22, einem brieflichen Protreptikos an Jovius, (Paul. Nol. carm. 22,9–19): heia age tende chelym, fecundum concute pectus, magna movens; abeat solitis inpensa facultas carminibus, maior rerum tibi nascitur ordo. non modo iudicium Paridis nec bella gigantum falsa canis. fuerit puerili ludus in aevo iste tuus quondam; decuerunt ludicra parvum. 15 nunc animis gravior, quantum provectior annis, aspernare leves maturo corde Camenas, et qualem castis iam congrua moribus aetas 10
38 Dieses Motiv wird von KLOPSCH (wie Anm. 24), 15 als „biographischer Kontrastierungstopos“ bezeichnet; auch GÄRTNER (wie Anm. 20), 426f. spricht in enger Anlehnung an KLOPSCH vom „biographischen Kontrast-Topos“. 39 Vgl. KLOPSCH (wie Anm. 24), 15; GÄRTNER (wie Anm. 20), 426f. 40 S. o. Anm. 35.
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atque tui specimen venerabile postulat oris, suscipe materiam, divinos concipe sensus.
Hier werden die traditionellen Sujets eines mythologischen Epos wie Paris-Urteil und Gigantenkämpfe als erfunden (falsa) verurteilt, als eine Spielerei (ludus), die allenfalls dem kindlichen Alter angemessen sei. Jetzt aber seien die frivolen Camenen zu verabschieden, da es nunmehr – mit vergilischem Ausdruck (maior rerum tibi nascitur ordo, Aen. 7,44) wird das erhabenere Projekt angekündigt – gelte, divinos ... sensus (V. 19) „Gottes Gedanken“41 darzustellen. In Vegios Prooemium liegen beide Oppositionen vor: einmal setzt er seine Antonias von genuin heidnischen Themen ab, zum andern ist sein hagiographisches Epos aber eine, wenn auch unausgesprochene Absage an seine eigene bisherige Dichtung. Daß Vegio sich in seinem Prooemium nicht nur von den üblichen heidnischen Sujets abgrenzt, sondern auch von seiner eigenen poetischen Vergangenheit, legen seine intertextuellen Verweise auf das Prooemium zum Culex (1–41) nahe. Geht man diesen Spuren nach, kommt die Aussage noch deutlicher zum Ausdruck. Mit der Wendung nostris / ... adlabere coeptis (V. 9f.) zitiert der humanistische Dichter geradezu die invocatio aus dem CulexProoemium. Hier wird der verehrungswürdige C. Octavius, Octavianus, der spätere Augustus, zum poetischen Unternehmen herbeigerufen (Appendix Vergiliana, Culex 24–25): 25
et tu, cui meritis oritur fiducia chartis, Octavi venerande, meis adlabere coeptis.42
Zuvor war Phoebus Apollo als Führer und Urheber des Gedichts bezeichnet worden (Culex 11f.): Latonae magnique Iovis decus, aurea proles, Phoebus erit nostri princeps et carminis auctor.43
41 Vgl. hierzu SKEB (wie Anm. 25), 163f. 42 Diese Stelle rekurriert wiederum auf zwei weitere Prooemien: Verg. georg. 1,40 (Anrufung Octavians) da facilem cursum atque audacibus adnue coeptis und Ov. met. 1,2f. di, coeptis ... / adspirate meis. Daß das Culex-Prooemium nach dem Muster von Vergils erstem Georgica-Prooemium gearbeitet ist, betont WOLFRAM AX, Die pseudovergilische „Mücke“ – ein Beispiel römischer Literaturparodie, Philologus 128, 1984, 230–249, vgl. bes. 237 und 239. 43 Zur Junktur carminis auctor vgl. Juvencus’ Prooemium V. 25, s. o. S. 125; vgl. auch VAN DER NAT (wie Anm. 21), 252 mit Anm. 15, QUADLBAUER (wie Anm. 21), 194 mit Anm. 18, s. ferner KLOPSCH (wie Anm. 24), 22, Anm. 27. Neuerdings wendet sich ROGER GREEN (Approaching Christian epic: The preface of Juvencus, in: Latin Epic and Didactic Poetry. Genre, Tradition and Individuality, ed. by MONICA GALE, Swansea 2004, 203–222, hier 216f.) gegen QUADLBAUER und bestreitet, daß es sich in V. 25 wirklich um eine bewußte Reminiszenz handle, ohne jedoch seinerseits den Kontext des Culex-Prooems weiter zu berücksichtigen. Mit Recht bekräftigt er dagegen den schon von VAN DER NAT hervorgehobenen intertextuellen Verweis des letzten Verses (29) der
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Ebenso war sein Gefolge der Musen angesprochen und kunstvoll umschrieben worden (18f.): quare, Pierii laticis decus, ite, sorores Naides, et celebrate deum ludente chorea.
Wenn Vegio es ausdrücklich ablehnt, prisco ... de more Phoebus anzurufen (non prisco numen de more vocarim, / Phoebe, tuum, Ant. 1,2–3a), ist in dieser exponierten Ablehnung einer invocatio der Musen und ihres Anführers Phoebus Apollo eine deutliche Kontrastimitation gegenüber der im Culex-Prooemium geübten Praxis zu sehen. Die Begründung für diese Verweigerung neque enim regum nunc tristia bella ... ordiri est animus (Ant. 1,3b–6a) hat dagegen wiederum eine Parallele im Culex-Prooem, in welchem der Dichter sich ebenso vom Krieg als Gegenstand seines Gedichts distanziert (Culex 26f.): sancte puer, tibi namque canit non pagina bellum / triste Iovis. Wie in der pseudovergilischen Mücke werden mit der Einleitungsformel et tu (Culex 20 und 24)44 auch in Vegios Prooem (V. 11) verschiedene Instanzen um Beistand für das Werk angerufen. Durch diese intertextuellen Bezüge45 bekräftigt Vegio seine poetischen Ambitionen, die er mit der Antonias verbindet. Der Culex, ein nach heute gängiger Auffassung nach-vergilisches Kleinepos in der Appendix Vergiliana, galt lange Zeit als ein Jugendwerk Vergils,46 als eine poetische Vorbereitung,47 die von den bedeutenderen Werken Vergils abgegrenzt
44 45 46
47
‘Praefatio’ des Juvencus ut Christo digna loquamur auf Verg. Aen. 6,662 (über die pii vates, als deren Qualität Phoebo digna locuti hervorgehoben wird). Zur zweifachen Anrede im Du-Stil, die Anklänge an den Hymnenstil zeigt, vgl. W. A. BAEHRENS, Zum Prooemium des Culex, Philologus 81, 1926, 364–375, hier 369 und 371. Außerhalb der beiden Prooemien ist noch auf folgenden parallelen Versschluß zu verweisen: Culex 44 tenebras Aurora fugarat und Ant. 4,132 tenebras Aurora fugavit. Im Martial-Epigramm 8,55 (56) repräsentiert der Culex innerhalb Vergils poetischer Entwicklung das Frühwerk des Dichters (19–20): protinus Italiam concepit et ‘arma virumque’, / qui modo vix Culicem fleverat ore rudi; vgl. auch Mart. 14,185. Zu Tendenzen der neueren Culex-Forschung vgl. MARKUS JANKA, Prolusio oder Posttext? Zum intertextuellen Stammbaum des hypervergilischen Culex, in: Die Appendix Vergiliana. Pseudepigraphen im literarischen Kontext, hrsg. von NIKLAS HOLZBERG (Classica Monacensia 30), Tübingen 2005, 28–67; hier 30–35 zu den Zeugnissen zum Culex: „Die frühe Rezeption des Culex: Die Geburt der prolusio-These: Statius und Martial“. Vgl. Statius’ Prosa-Praefatio zum ersten Buch der Silvae: Sed et Culicem legimus et Batrachomachiam etiam agnoscimus, nec quisquam est illustrium poetarum qui non aliquid operibus suis stilo remissiore praeluserit. In Statius’ Achilleis stellt der Dichter im Prooemium dem Princeps Domitian in Aussicht (1,19): magnus ... tibi praeludit Achilles. Formen von ludere begegnen allgemein zur poetologischen Charakterisierung von poetischen Kleinigkeiten, die der Dichter als spielerische Fingerübung bewertet, bevor er sich höheren Aufgaben widmet, vgl. ROBERT MUTH, Poeta ludens. Zu einem Prinzip der alexandrinisch-hellenistischen und der römisch-neoterischen Dichtung, in: R. MUTH (Hrsg.), Serta Philologica Aenipontana II (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 17), Innsbruck 1972, 65–82, insbes. 71 zu Vergil und zum Culex.
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zu werden pflegte. Durch den intertextuellen Verweis auf den Culex rechtfertigt Vegio indirekt seine eigene poetische Entwicklung: seine bisherigen Epen paganer Prägung gehören der Vergangenheit an, sie waren – wie der Culex des Vergil – ein Jugendwerk, eine spielerische Fingerübung.48 Wie in Vegios Prooemium zielen die ‘Spiel’-Begriffe (ludere, ludus, lusus) nicht auf die rein dichterische Gestaltung eines Stoffes, vielmehr auf eine inhaltliche Abwertung der bisher behandelten, wenig erhabenen Stoffe, die nunmehr einem gewichtigeren Thema weichen müssen.49 Vegio lehnt es also in seinem Prooemium ab, leichtsinnige Spielereien (lusus leves,50 V. 5) darzustellen, was eine Absage an traditionelle Poesie bedeutet, insofern sie sich des paganen Götterapparates bedient. Maffeo Vegio widmete sich am Anfang seines poetischen Schaffens der antiken Dichtung. In seinem berühmtesten Werk, dem Supplementum der Aeneis, hat die Fortsetzung der Dichtung im Geiste der Antike geradezu symbolischen Ausdruck gefunden. Jetzt verabschiedet er sich von dieser paganen Dichtung, fühlt er sich doch zu Höherem, eben zum Lobpreis des heiligen Antonius, berufen. Der intertextuelle Bezug auf das Culex-Prooemium leistet also Doppeltes: Damit distanziert und verabschiedet er sich nicht nur von seiner eigenen dichterischen Produktion der Vergangenheit, sondern rechtfertigt diese gleichzeitig im Nachhinein als poetisches Spiel seiner Jugendzeit. Diese unreife Phase seiner Jugenddichtung ist aber jetzt abgeschlossen und hat ernsthaften Themen Platz gemacht. Der intertextuelle Verweis setzt wissende Leser voraus, die unser poeta doctus geradezu augenzwinkernd darauf hinweist, daß sie seine bisherige Dichtung, die mythologischen Epen, als poetische Spielerei, Tändelei betrachten sollen, daß er nunmehr aber ein hagiographisches Projekt in Angriff nimmt, wie es dem Adressaten, Papst Eugen IV., einzig angemessen ist. Mit seinem Prooemium 48 Zu den topischen Elementen der apologetischen Form im Culex-Eingang vgl. WALTER WIMMEL, Kallimachos in Rom. Die Nachfolge seines apologetischen Dichtens in der Augusteerzeit (Hermes Einzelschriften 16), Wiesbaden 1960, 307–308. Zum Beginn von Vergils sechster Ekloge als einem für die Poetologie des Culex-Prooemiums strukturbildenden Intertext vgl. JANKA (wie Anm. 46), 45–52, hier insbes. S. 48 zum verbindenden Motiv des ludus/ludere. 49 Das Vokabular des poetischen Spiels durchzieht leitmotivisch das Culex-Prooemium, das gleich im ersten Vers betont mit lusimus, Octavi, gracili modulante Thalia anhebt; lusimus wird dann zu Beginn des dritten Verses wiederholt, gefolgt von per ludum (V. 4) und ludere (V. 36). Eingeleitet durch die rhetorische Frage (6–7): quisquis erit culpare iocos musamque paratus, pondere vel culicis levior famaque feretur, folgt die Ankündigung, dem angesprochenen Octavian inskünftig ein würdigeres Lied zu widmen (8–10): posterius graviore sono tibi musa loquetur nostra, dabunt cum securos mihi tempora fructus, ut tibi digna tuo poliantur carmina sensu. 50 Paulinus von Nola hatte in seiner Aufforderung aspernare leves maturo corde Camenas (carm. 22,16, s. o. S. 133) zur Abwendung von leichtfertiger Jugendpoesie sowie zur Hinwendung zu würdigeren Stoffen aufgefordert.
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setzt Vegio aber seine Antonias nicht nur in intertextuelle Beziehung zum Culex, sondern auch zu Vergils Georgica. Wenn er im vorletzten Vers seines Prooems ankündigt (Ant. 1,13): accingor facta Aoniis celebrare Camoenis,
läßt er eine Stelle aus dem Prooemium zum 3. Buch der Georgica bedeutsam anklingen (georg. 3,46–48): mox tamen ardentis accingar51 dicere pugnas Caesaris et nomen fama tot ferre per annos, Tithoni prima quot abest ab origine Caesar.
Hier stellt die persona des augusteischen Dichters durch die Schilderung von Bau und Weihung eines Marmortempels allegorisch ein Epos auf den Princeps in Aussicht. Wie hier nur angekündigt wird, die Taten des Herrschers bald zu preisen, schickt sich Vegio nun wirklich an, seinen Helden, den heiligen Antonius, in einem Epos zu rühmen. Auch wenn Vegio in seiner Praefatio und vor allem in der christlich transformierten Inspirationsbitte des Prooemiums sein hagiographisches Projekt von den traditionellen Themen der antik-paganen Dichter abgrenzt, bedient er sich gleichwohl einer antikisierenden Form, um seinen Helden angemessen darzustellen. Zur Rühmung eines Helden bot sich traditionellerweise das heroische Versmaß des Epos an.
III. Vegios Aneignung der epischen Form zur Ausgestaltung seiner Vorlage, der Vita Pauli des Hieronymus:* die Vereinigung antik-epischer und christlicher Elemente Nicht nur das Argumentationsrepertoire stammt von christlichen Autoren der Spätantike, sondern auch die Vorlage. Die Erzählung über die Begegnung der beiden Eremiten in der Wüste geht unmittelbar auf Hieronymus’ Schrift Vita Pauli zurück.52 Maffeo Vegio wählt sich mit dieser Mönchsvita des Hieronymus53 eine Prosavorlage, der er bis in einzelne Wendungen hinein eng folgt. 51 Hiervon ist wiederum die Ankündigung des Dichters in Nemesians Prooemium zum Lehrgedicht über die Jagd beeinflußt (Nemes. cyn. 63f.): mox vestros meliore lyra memorare triumphos / accingar, divi fortissima pignora Cari. Nach den Cynegetica solle ein panegyrisches Epos auf die Söhne des Kaisers Carus folgen – auch dies in enger Nachahmung der vergilischen Abfolge von Georgica und Aeneis. * Johannes Schwind (Trier) danke ich für hilfreiche Hinweise zur Vita Pauli des Hieronymus. 52 Die Vita Pauli primi eremitae war offenbar – von einigen Briefen abgesehen – das literarische Erstlingswerk des Hieronymus; sie ist wohl während des Aufenthalts in der syrischen Wüste (etwa 375–378) entstanden. Die Heiligenvita des Eremiten Paulus wurde von Jacobus de Voragine unter ausdrücklicher Berufung auf Hieronymus in seine Sammlung
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Schon vor Vegio war jemand auf die Idee gekommen, die Vita des angeblich ersten Eremiten Paulus nach Hieronymus’ Vorlage dichterisch zu gestalten. Nigellus von Longchamps (* ca. 1130, † um 1200), der zahlreiche hagiographische Stoffe versifizierte,54 hat auch eine Vita s. Pauli primi eremitae in Hexametern verfaßt. Das Werk im Umfang von 747 Versen, das nur in einer einzigen Handschrift aus dem 13. Jahrhundert erhalten ist, scheint allerdings keine große Verbreitung gefunden zu haben,55 und es läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob Vegio überhaupt Kenntnis von dem Unternehmen hatte bzw. haben konnte. Ein Vergleich der 747 endreimenden Hexameter des Nigellus mit den 526 Hexametern Vegios läßt jedenfalls – über die gemeinsame Prosavorlage des Hieronymus hinaus – keine Parallelen erkennen. Die in Vegios Antonias zu beobachtende stark episierende Durchformung nach dem Vorbild Vergils jedenfalls fehlt in der Adaptation der spätantiken Vita Pauli des Hieronymus durch Nigellus. Während Vegio eine Episode aus der Vita Pauli herausgreift (Ant. 1,15–36, s. u. Anm. 57), läßt Nigellus sein kontinuierlich fortschreitendes Werk mit der Christenverfolgung unter Decius einsetzen. Der mittelalterliche Autor hat seine Vorlage darüber hinaus um allgemeine, diatribenhafte Passagen erweitert, in denen etwa dem Lobpreis der Armut die Verurteilung des weltlichen Luxus gegenübergestellt wird, vgl. insbesondere die Verse 110–126. Für die Episierung einer Heiligenvita konnte Vegio freilich wiederum auf spätantike Vorbilder zurückgreifen. So dienten die Schriften des Sulpicius Severus über das Leben des heiligen Martin von Tours gleich zwei Dichtern als Vorlage für ihre hagiographischen Epen, nämlich Paulinus von Périgueux und Venantius Fortunatus.56 Gegenüber seiner stofflichen Vorlage konzentriert Vegio seine
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der Legenda aurea (ca. 1263–1273) aufgenommen, vgl. Iacopo da Varazze, Legenda aurea. Edizione critica a cura di GIOVANNI PAOLO MAGGIONI. Seconda edizione rivista dall’ autore, Firenze 1998, XV, S. 141f. Daß Vegio sich dem Kirchenvater Hieronymus als einer anerkannten Autorität direkt anschließt, nicht aber der kurzgefaßten Legenda aurea, zeigt sich auf Schritt und Tritt bei einem auch nur oberflächlichen Vergleich beider Versionen. Vegio zieht auch Details heran, die nur im Text des Hieronymus stehen. Die Junktur aduncis naribus etwa begegnet Hier. Vita Pauli 8,1 und Vegio, Ant. 2,66 zur Beschreibung des Satyrn, nicht aber in der Legenda aurea. Zum Fortwirken einer anderen fabulösen Hieronymus-Vita s. FIDEL RÄDLE, Keuschheit und Abenteuer. Hieronymus’ ‘Vita Malchi’ und ihre Wiederkehr auf der Jesuitenbühne, in: Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt, hrsg. von ANDREAS BIHRER / ELISABETH STEIN, Leipzig 2004, 962–988. Vgl. B. PABST, Art. Nigellus de Longo Campo, in: Lexikon des Mittelalters VI, 1999, 1148. Zur Überlieferung vgl. ANDRÉ BOUTEMY, Une vie inédite de Paul de Thèbes par Nigellus de Longchamps, RBPH 10, 1931, 931–963; J. H. MOZLEY, The Unprinted Poems of Nigel Wireker. An Examination of MS. Cotton Vespasian D xix, fols. 1–53, Speculum 7, 1932, 398–423; L. M. KAISER, A Critical Edition of Nigel Wireker’s Vita Sancti Pauli Primi Eremitae, Classical Folia 14, 1960, 63–81. Zu den Martinsepen des Paulinus von Périgueux und des Venantius Fortunatus vgl. WOLFGANG KIRSCH, Laudes sanctorum. Geschichte der hagiographischen Versepik vom
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hexametrische Paraphrase allein auf die Beschreibung,57 wie Antonius sich auf Gottes Geheiß hin auf die Suche nach dem heiligen Paulus begibt, wie er nach langem Bitten Zugang zum Eremiten erhält, wie die beiden greisen Wüstenväter sich im Gespräch austauschen58 und wie Antonius schließlich den verstorbenen Paulus mit Hilfe zweier Löwen in der Wüste bestattet. Vegios poetische Ambitionen lassen sich gleich zu Beginn seines Werks an einer Szene im ersten Buch erkennen, in der er von seiner Vorlage abweicht. Während Hieronymus den heiligen Antonius mittels eines nur knapp referierten Traumes erfahren läßt,59 daß er sich mit seinem Glauben, er sei der erste Wüstenvater, im Irrtum befinde, und daß es einen viel älteren und vollkommeneren Mönch weiter im Innern der Wüste gebe, den er aufsuchen solle, formt Vegio seine Prosavorlage in eine epische Botenszene um. Obwohl Traumdarstellungen IV. bis X. Jahrhundert (Quellen und Untersuchungen zur Lateinischen Philologie des Mittelalters 14), Stuttgart 2004, 312–362 (mit ausführlicher Diskussion der Forschungsliteratur). Zu Paulinus’ Paraphrase-Technik ist ferner ELISABETH GRÜNBERG, Studien zur Vita S. Martini des Paulinus von Petricordia, Wien (Diss.) 1990 zu vergleichen. Mehrere neuere Arbeiten beschäftigen sich mit einer Synkrisis der beiden epischen Bearbeitungen der Vita S. Martini; vgl. SYLVIE LABARRE, Le manteau partagé. Deux métamorphoses poétiques de la Vie de saint Martin chez Paulin de Périgueux (Ve s.) et Venance Fortunat (VIe s.) (Collection des Études Augustiniennes, Série Antiquité 158), Paris 1998; KARLA POLLMANN, Kontiguität und Eklipse: zwei Auffassungen von Heiligkeit im hagiographischen Epos der lateinischen Spätantike, in: Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spätantiken Denkens. Akten des Internationalen Kongresses vom 13.– 17. März 2001 in Würzburg, hrsg. von THEO KOBUSCH / MICHAEL ERLER (Beiträge zur Altertumskunde 160), München; Leipzig 2002, 611–638 möchte zwei unterschiedliche Auffassungen von Heiligkeit aufzeigen. Mit Pollmanns polarem Erklärungsmodell setzt sich wiederum MEINOLF VIELBERG, Divergierende Formen von Heiligkeit? Der Mönchsbischof von Tours in den hagiographischen Versepen des Paulinus von Petricordia und des Venantius Fortunatus, in: JOHANNES HAHN / MEINOLF VIELBERG (Hrsgg.): Formen und Funktionen von Leitbildern (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 17), Stuttgart 2007, 135–145 kritisch auseinander, insbes. 138–142. 57 Direkt im Anschluß an das Prooemium kündigt der Dichter seine Auswahl aus der Fülle der zu verherrlichenden Taten an (Ant. 1,15f.): At non cuncta sequi rerum divina tuarum / gesta velim. Nach einer ausführlichen Praeteritio sagt er dann positiv, was er darstellen will (Ant. 1,32–35): Verum quo magni monitu imperioque Tonantis / accesti loca vasta situque horrentia longo / sacrum ingressus iter divi sacra limina Pauli / expediam. 58 Diese Szene ist in Gemälden insbesondere des beginnenden 16. Jahrhunderts öfter festgehalten worden, vgl. Abbildung am Ende, S. 150/151. 59 Hier. vita Pauli 7,1 cum iam centesimo tertio decimo aetatis suae anno beatus Paulus coelestem vitam ageret in terris, et nonagenarius in alia solitudine Antonius moraretur, ut ipse adserere solebat, haec in mentem eius cogitatio incidit, nullum ultra se monachorum in eremo consedisse. 2 Atque illi per noctem quiescenti revelatum est, esse alium interius multo se meliorem, ad quem visendum properare deberet. Text nach: Jérôme, Trois vies de moines (Paul, Malchus, Hilarion). Introduction par PIERRE LECLERC, EDGARDO MARTIN MORALES, ADALBERT DE VOGÜE; Texte critique par E. M. MORALES, Traduction par P. LECLERC; Notes de la traduction par E. M. MORALES / P. LECLERC (Sources chrétiennes 508), Paris 2007.
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auch im Epos fest verankert sind,60 motiviert der neulateinische Dichter Antonius’ Reise zu Paulus durch Gottes Befehl, der eben nicht in einem Traum übermittelt wird, sondern durch das leibhaftige Auftreten eines von Gott entsandten Überbringers. Die Botenszene in Vegios erstem Buch (Ant. 1,137–157) erscheint ganz im antiken Gewand, wobei einzig das pagane Personal ausgetauscht wird. Jupiter wird durch den christlichen Gott ersetzt, der Götterbote Merkur durch den Erzengel Gabriel. Aus dem antiken Epos übernimmt Vegio aber nicht nur den Szenentyp einer Götterversammlung, sondern auch die polytheistisch geprägte Götterprädikation für den höchsten Gott divumque hominumque creator61 (Ant. 1,143). Ein christlicher Humanist bleibt ein Humanist, das heißt den klassischen Autoren verhaftet: diese, insbesondere Vergils Aeneis, bieten die Muster für Szenen: So bildet die Entsendung des Götterboten Merkur zu dem in Karthago säumenden, pflichtvergessenen Aeneas im vierten Buch der Aeneis das Modell für Vegios Szene im ersten Buch, wenn Gott seinen Erzengel Gabriel62 zu Antonius entsendet, um ihn über den noch älteren Eremiten Paulus zu informieren. Es sind eher unscheinbare Akzente, die aber dem mit Vergil Vertrauten63 genügen, um an die Vorbildszene in Vergils Aeneis erinnert zu werden, in der Jupi60 Vgl. etwa CHRISTINE WALDE, Die Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung, München; Leipzig 2001. 61 Vgl. Verg. Aen. 1,254 hominum sator atque deorum mit R. G. AUSTINs Kommentar (Oxford 1971) z. St. und Ennius, ann. 591 divomque hominumque pater, rex mit OTTO SKUTSCHs Kommentar (Oxford 1985) zu ann. 591 und 592. Zu Vegios Gebrauch von divus für Engel in den Wendungen divum pater (Ant. 1,131) und divum ... creator s. auch THOMAS GREENE, The Descent from Heaven. A Study in Epic Continuity, New Haven; London 1963, 110, ferner PUTNAM (wie Anm. 1), Introduction Anm. 79. 62 Die Substitution des paganen Götterboten durch Gabriel war so naheliegend, daß man geradezu von einem Topos sprechen kann, vgl. BARBARA KIEFER LEWALSKI, Milton’s Brief Epic. The Genre, Meaning, and Art of Paradise Regained, Providence, R. I.; London 1966, 56. 64 allgemein und konkret 60f. zu Jacopo Sannazaros Bibelepos De partu virginis (1526). 63 Bezeichnend für den Humanisten Vegio ist überhaupt sein Umgang mit dem antiken Dichter Vergil. An der Stelle, an der Hieronymus durch eine geschickte Zitatkombination aus Vergils Aeneis die Szene der Begegnung zwischen den beiden Wüstenvätern gestaltet hat, vermeidet Vegio bewußt die direkte Übernahme, läßt aber durch sparsam gesetzte Anklänge an die Vergilverse seine Vorlage durchscheinen: Hier. vita Pauli 9,6 kommentiert Hieronymus abschließend die Bittrede des Antonius mit folgendem Vergilzitat (Aen. 2,650): Talia perstabat memorans fixusque manebat und leitet die Antwort des Paulus mit einem Zitat aus Aen. 6,672 Atque huic responsum paucis ita reddidit heros ein. Vegio kommentiert Antonius’ ‘Paraklausithyron’ Ant. 3,57–59 (Pande fores, pater ...) mit Talia p e r sistens lacrimis fundebat obortis (Ant. 3,60), wobei er nur den Anfang zitiert und aus dem bei Hieronymus folgenden Vergilzitat lediglich ein Wort für die Einleitung der Rede des Paulus übernimmt (Ant. 3,61): Cui sic ille refert p a u c i s . Die an dieser Stelle gegenüber Hieronymus reduzierten Vergilanspielungen sind weniger rigoristischen Gründen geschuldet, um etwa Vergil als Repräsentanten der paganen Dichtung zu vermeiden, als vielmehr, um in einen Dialog mit seinen in der antiken Literatur gründlich
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ter Merkur zu Aeneas entsendet. Bei einem Vergleich von Ant. 1,137–157 mit Verg. Aen. 4,219–278 lassen sich folgende Parallelen hervorheben: Jeweils erscheint das Verb mandat am Versende (Aen. 4,222 und Ant. 1,139), wobei Jupiters Auftrag an Merkur in der Aeneis direkt zitiert, Gottes Botschaft an Antonius aber nur indirekt mitgeteilt wird. Nach Erteilung des Auftrags wird in beiden Szenen mit ille (Aen. 4,238 und Ant. 1,140) die Aufmerksamkeit des Lesers auf die nun folgende Aktion des Boten gelenkt, der Flug des Boten selbst wird mit volans (Aen. 4,246) bzw. volat (Ant. 1,140) bezeichnet. Einen deutlichen intertextuellen Verweis setzt Vegio, wenn er Gabriels Abgang nach seiner Rede ganz analog zu Merkurs Verschwinden beschreibt; zu vergleichen ist Ant. 1,150 Sic ait, in tenues fugiensque relabitur auras mit Aen. 4,278 et procul in tenuem ex oculis evanuit auram. Darüber hinaus läßt Vegio hier auch eine Stelle aus Paulinus von Nola anklingen, der den Abgang des Engels Gabriel, nachdem er Zacharias die Geburt des Johannes verkündet hat, folgendermaßen beschreibt (Paul. Nol. carm. 6,84): haec ait et tenues elabitur ales in auras. Hiermit ist wiederum Iuvenc. 1,42 haec ait et sese teneris inmiscuit auris und Verg. Aen. 5,861 zu vergleichen, wo es über den Schlafgott heißt: ipse volans tenuis se sustulit ales ad auras. Die Reaktion der Angesprochenen wird jeweils mit at (Aen. 4,279 At vero Aeneas ... und Ant. 1,151 At sacer...) eingeführt. Gegenstand eines Epos sind die Taten von Helden und das Wirken der Götter. Die göttliche Intervention wurde von Vegio offenbar als konstitutiv für die epische Gattung empfunden. Zur Götterversammlung im Himmel, die im Zentrum des ersten Buchs steht, bildet zu Beginn des zweiten Buchs ein Höllenkonzil, zu dem Satan einlädt, das Pendant. Hierfür bot der Anfang von Claudians Invektive In Rufinum ein Vorbild.64 Vegio kleidet seine Erzählung der Begegnung der beiden heiligen Wüstenväter also in ein antikisierendes Gewand, ersetzt pagane Gottesvorstellungen durch Christliches, behält aber die vergilische Szenerie einer Götterversammlung bei. Aber keinesfalls handelt es sich bei der Antonias nur um eine episierende, mit Anklängen an Vergil durchsetzte versifizierende Ausgestaltung einer Vorlage. Vielmehr sucht der christliche Humanist in dieser mit zwitterhaften Gestalten
belesenen Rezipienten zu treten, denen ein Anzitieren genügte, um den ganzen Kontext abzurufen. An anderer Stelle bietet der Dichter seinerseits einen Cento aus Aeneis-Versen. Seine Beschreibung eines Tagesanbruchs (Ant. 3,9f.) Et nondum roseis provecta quadrigis / linquebat solitum Tithoni Aurora cubile setzt sich zusammen aus Aen. 6,535 roseis Aurora quadrigis und Aen. 4,585 Tithoni croceum linquens Aurora cubile. 64 Zur Beliebtheit von Claudians Schilderungen der Unterwelt, insbesondere der Rahmenpartien der Invektive gegen Rufin (1,25–122; 2,456–527), bei Epikern der Renaissance vgl. SIEGMAR DÖPP, Claudian und lateinische Epik zwischen 1300 und 1600, Res Publica Litterarum 12, 1989, 39–50, insbes. 46–48; zu Maffeo Vegios Claudian-Nachahmung 47 mit Anm. 45.
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des antiken Mythos bevölkerten Erzählung des Hieronymus die Auseinandersetzung mit der antik-paganen Religion.
IV. Vegios polemische Auseinandersetzung mit der antik-paganen Religion In Vegios Erzählung über Antonius’ Suche nach dem heiligen Eremiten Paulus wimmelt es – wie in seiner spätantiken Vorlage – nur so von phantastischen Mischwesen und wunderbaren Tiergestalten: nicht nur kreuzen ein Kentaur und ein Satyr den Weg des heiligen Antonius, auch eine Wölfin zeigt ihm den Eingang der Höhle des Paulus, ein Rabe, der den Eremiten – in Anspielung auf die Speisung des Propheten Elias durch Raben – täglich mit Brot versorgt, bringt anläßlich des Besuchs des Antonius eine doppelte Brotration und schließlich tauchen in dem Moment, in dem Antonius ratlos ist, wie er den Leichnam seines verstorbenen Freundes mit bloßen Händen in der Wüste begraben soll, zwei Löwen unerwartet aus dem Innern der Wüste auf, um ein Grab mit ihren Tatzen auszuscharren. Die Begegnung des vorbildlichen Heiligen Antonius mit dem Teufel, der die Gestalt eines Kentauren angenommen hat, und mit einem Satyr sowie die wunderbare Hilfe zahlreicher Tiere bieten Vegio Gelegenheit, seine Position gegenüber der antik-paganen Religion zu reflektieren. Zeigt Antonius’ Begegnung mit den hilfreichen Tieren das wunderbare Heilswirken und die Macht Gottes, bietet das Auftreten Satans und des satyrartigen Wesens dem Dichter Gelegenheit, den christlichen Glauben vom antik-paganen Aberglauben abzugrenzen. Wie einen allwissenden und vorausschauenden Erzähler läßt Vegio den christlichen Gott in der Versammlung im Himmel das Treiben des Teufels, der als antiquus draco (Ant. 1,84) bzw. hostis antiquus (Ant. 1,101f.) bezeichnet wird, enthüllen (Ant. 1,91f.): fallit veterum sub relligione deorum / mortales („er täuscht unter dem Deckmantel des Glaubens an die alten Götter die Menschen“). Wenn Satan dann wirklich in Aktion tritt, läßt der Dichter erst gar nicht irgendeinen Zweifel aufkommen, wer sich hinter der fabulösen Gestalt des Kentauren verbirgt, indem er aus der Perspektive des Teufels die Täuschungsabsichten darstellt, die aber beim heiligen Antonius nicht zum Erfolg führen werden (Ant. 2,43– 46a): Continuo horrendam effigiem, qua fallere sanctum ac terrere virum, spe multum aggressus inani est, 45 induit (sc. Satan) – os informe hominis, pectusque manusque, cetera equum –
Der Erzähler kennzeichnet die verwandelte Gestalt des Teufels in einem auktorialen Kommentar ausdrücklich als Trugbild (46–48):
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tali mentitus imagine, qualem centauris docti tribuere immanibus olim, dum multa exornant, dum fingunt plurima vates.
Hier begegnet, wie bereits in der Praefatio und im Prooemium, der geradezu topische Vorwurf der Fiktionalität und Lügenhaftigkeit der antiken Dichter.65 Vegio setzt die vom Teufel vollzogene Simulation einer antik-mythischen Gestalt ausdrücklich in Analogie zur fingierenden Tätigkeit der Dichter, womit er an die Ankündigung non hic ficta leges veterum mendacia vatum der Praefatio (V. 5) anknüpft. Durch den Vergleich tali ... qualem (V. 46) wird der Teufel in enge Beziehung zu den Dichtern gesetzt, die hier also gerade nicht – nach einer beliebten Vorstellung der Renaissance – als Ebenbild des göttlichen Schöpfers gesehen werden.66 Ebenso wie die Musen werden die zwitterhaften Wesen der griechischrömischen Mythologie als nichtige und falsche Gottheiten im Gegensatz zum wahren Gott von Antonius in einer Verfluchung der heidnischen Religion bezeichnet (Ant. 2,96–101): ‘Heu, quae impia vanis’ inquit, ‘Alexandrina deis gens construis aras! Heu, quae caelestes falsis exsolvis honores numinibus, gens infelix, quae temnere verum 100 salvatorem audes hominum quem bellua mitis fassa ultro est et opem precibus venerata poposcit!’
In Wirklichkeit gebe es keine Kentauren, vielmehr handle es sich um eine von Satan vorgetäuschte Form, so wie auch die heidnischen Dichter diese Gestalt nur erfunden hätten. Vegios rationalistische Deutung der paganen Götter erinnert in Argumentation und Vokabular an Äußerungen des spätantiken Dichters Dracontius in den
65 Die Wendung fingunt plurima vates (Ant. 2,48) klingt fast wie eine lateinische Übersetzung der schon von Solon formulierten Dichterkritik (frg. 29, ed. M. L. WEST, Oxford 1982): πολλὰ ψεύδονται ἀοιδοί „vieles lügen die Sänger“. Zur Skepsis gegen alle poetische Fiktion und zum alten Vorwurf der Lügenhaftigkeit der Dichter vgl. LUDWIG GOMPF, Figmenta poetarum, in: Literatur und Sprache im europäischen Mittelalter, Festschrift für Karl Langosch, hrsg. von A. ÖNNERFORS / J. RATHOFER / F. WAGNER, Darmstadt 1973, 53–62; ferner ANDREAS KABLITZ, Dichtung und Wahrheit – Zur Legitimität der Fiktion in der Poetologie des Cinquecento, in: Ritterepik der Renaissance. Akten des Deutsch-Italienischen Kolloquiums. Berlin 30.3.–2.4.1987 (Text und Kontext 6), hrsg. von KLAUS W. HEMPFER, Stuttgart 1989, 77–122, insbes. zu Widerlegungsstrategien des topischen Vorwurfs. Umfassend zur Inspiration des Dichters in der humanistischen Dichtungstheorie und neuplatonischen Renaissance-Philosophie Italiens (von Francesco Petrarca bis Marsilio Ficino): CHRISTOPH J. STEPPICH, Numine afflatur. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance (Gratia 39), Wiesbaden 2002, hier erster Teil, 29–214. 66 Zu dieser Vorstellung s. ausführlich STEPPICH (wie Anm. 65), 127–145.
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Laudes Dei.67 Zur Vorstellung der Nichtexistenz und Fiktionalität der antiken Götter ist insbesondere das dritte Buch der Laudes Dei zu vergleichen (laud. dei, 3,527f.): Conficti sermone dei68 quos fabula mendax / extulit et miseros incassum adorare coegit (vgl. laud. dei 3,526 numen vanum). Die paganen Götter sind reine Fiktion, einzig durch die mythologischen Erzählungen der Menschen ins Leben gerufen, seit jeher tradiert und ausgeschmückt. Von diesen fingierten Göttern grenzt Dracontius den wahren christlichen Gott ab (laud. dei 3,533–535): Ecce Deus verus, de quo nil fingitur, in quem / fabula nulla cadit, quem numquam verba diserti / exornant.69 Vegios Gestaltung hebt sich deutlich von Hieronymus’ Darstellung der Begegnung des heiligen Antonius mit einem Kentauren ab. In der HieronymusVita wird dieser Vorgang folgendermaßen beschrieben (Hier. vita Pauli 7,4): conspicatur hominem equo mixtum, cui opinio poetarum Centauro vocabulum indidit. Zwar begegnet auch hier der distanzierende Verweis auf die poetische Praxis, doch nachdem der Kentaur dem erstaunten Antonius den Weg gezeigt und die Flucht ergriffen hat, läßt Hieronymus es ausdrücklich offen, ob es sich bei der Fabelgestalt um den Teufel oder um einen wirklichen Wüstenbewohner handelt (vita Pauli 7,6): Verum hoc utrum diabolus ad terrendum eum simulaverit, an, ut solet, eremus monstruosorum ferax animalium istam quoque gignat bestiam, incertum habemus. Mit der ersten Alternative utrum diabolus ... liefert der spätantike Kirchenvater dem Renaissance-Dichter sozusagen das Stichwort für die Verwandlung Satans in die Gestalt eines Kentauren. Während Vegio apodiktisch erklärt, daß Kentauren lediglich poetische Erfindungen seien, zeigt sich Hieronymus viel toleranter gegenüber den poetischen Fabelwesen. Manfred Fuhrmann hat mit Recht bemerkt, daß diese phantasievolle Geschichte „in ihrer Duldsamkeit gegenüber dem heidnischen Mythos ohne Parallele“70 sei. Im unmittelbaren Anschluß an die Flucht des Kentauren läßt Vegio ein satyrartiges, stupsnasiges Mischwesen, dessen menschliche Gestalt bocksfüßig ausläuft, auftreten (Ant. 2,64b–67): 67 Vgl. hierzu ROSWITHA SIMONS, Dracontius und der Mythos. Christliche Weltsicht und pagane Kultur in der ausgehenden Spätantike (Beiträge zur Altertumskunde 186), München; Leipzig 2005, 71–75. Edition: Dracontius. Œuvres. Tome II. Louanges de Dieu, Livre III, Réparation. Texte établi et traduit par CLAUDE MOUSSY, Paris 22002. 68 MOUSSY (wie Anm. 67, S. 109) und SIMONS (wie Anm. 67, S. 71, Anm. 8) verweisen auf die ähnliche Vorstellung und Formulierung in Drac. laud. dei 2,592 dei ficti sermone vetusto, wobei sermo synonym mit fabula verwendet ist. 69 Das Verb exornant erscheint auch in Vegios Vorwurf gegenüber den Dichtern: dum multa exornant, dum fingunt plurima vates (Ant. 2,48). SIMONS (wie Anm. 67) hebt mit Recht hervor, daß es für Dracontius am Ende des 5. Jahrhunderts n. Chr. im Gegensatz zur antipaganen Polemik der christlichen Apologeten nicht mehr notwendig war, die in der mythenkritischen Tradition diskutierten Argumente ausführlich zu behandeln (S. 75). 70 MANFRED FUHRMANN, Christen in der Wüste. Drei Hieronymus-Legenden, übersetzt und erläutert, Zürich; München 1983, S. 92.
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ecce altera monstri saxosam convallem inter se forma bicornis humana effigie, sed aduncis naribus offert quae capram media parte inferiore figurat.
Nachdem der heilige Antonius sich beim Anblick des seltsamen Wesens zunächst mit dem Kreuzeszeichen gewappnet hat (Ant. 2,69), fordert er sein Gegenüber auf zu sagen, wer es sei. Daraufhin erklärt das panähnliche Wesen seine Identität. In bewußter Abgrenzung von der trügerischen Erscheinung des Teufels (Ant. 2,46 tali mentitus imagine) verneint es ausdrücklich, ein Trugbild zu sein (Ant. 2,73f.): ‘Ne dubita, non vana oculos decepit imago nostra tuos, pater, o magnis carissime divis’.
Vielmehr erklärt es seine menschliche Identität und daß das Altertum, d. h. die heidnischen Dichter, ihn und seinesgleichen in blinder Bewunderung zu Unrecht Götter, Satyrn und Faune genannt habe (Ant. 2,75–78): 75
et mortalis ego, et mortali ex sanguine cretus, et tacita haec habito, quae nunc deserta pererras. Sum numero ex illorum olim quos caeca vetustas admirata deos, satyros, faunosque vocavit.
Das heißt: es deckt sein sterbliches, erlösungsbedürftiges Wesen auf und entdämonisiert sich damit selbst. Im Gegensatz zum Teufel will es nicht täuschen. Dies in engem Anschluß an Hier. vita Pauli 8,3, wo sich das als Satyr beschriebene Wesen ebenfalls in direkter Rede an den heiligen Antonius wendet: ‘Mortalis ego sum, et unus ex accolis eremi, quos vario delusa errore gentilitas Faunos, Satyrosque et Incubos colit’. Im Namen seiner Genossen bittet dieses Wesen schließlich Antonius um Fürsprache bei dem allen gemeinsamen Herrn (vgl. Ant. 2,79–86 und Hier. vita Pauli 8,3). Bei der Begegnung des Heiligen mit den aus der antiken Mythologie bekannten Fabelwesen wendet Vegio zwei verschiedene Erklärungsmodelle an, die im Grunde den in der christlichen und philosophischen Tradition geübten Strategien der Mythenkritik und Entmythisierung paganer Götter entsprechen: zum einen wird der Kentaur, das Fabelwesen heidnischer Mythologie,71 dämonisiert, 71 Die Kentauren, zweigestaltige, mit menschlichem Oberkörper und Pferdeleib gebildete Wesen, boten sich besonders für einen Diskurs über Fiktion und Wahrheit an, galt doch gerade der Hippokentaur neben der Chimaera in philosophischen Reflexionen der Antike als Paradebeispiel für erfundene, nicht existierende Fabelwesen. So führt Lukrez in der Erörterung über mythische Zwitterwesen, die nie existierten (Lucr. 5,878–924), an erster Stelle die Kentauren an (Lucr. 5,878–880): Sed neque Centauri fuerunt nec tempore in ullo / esse queunt duplici natura et corpore bino / ex alienigenis membris compacta; vgl. CYRIL BAILEYs Kommentar, III, Oxford 1947, 1467f. Ebenso läßt Cicero im zweiten Buch von De natura deorum Balbus ausführen, daß die Zeit mit dieser Art von Hirngespinsten im Gegensatz zu wahrhaft existierenden Göttern aufräume (nat. deor. 2,5): Etenim videmus
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indem vor Augen geführt wird, daß der Kentaur die Gestalt ist, die der Teufel zur Täuschung angenommen hat; zum andern wird ein auch im Volksglauben verbreitetes Fabelwesen entmythisiert, indem gezeigt wird, daß es sich beim Satyrn um eine Zwittergestalt (semivir, Ant. 2,71) handelt, in jedem Fall um ein sterbliches Wesen, das den heiligen Antonius um Fürsprache beim christlichen Gott bittet. Putnam (wie Anm. 1) paraphrasiert den Inhalt des zweiten Buchs in seiner Einleitung folgendermaßen: „Satan leaves Hell in order to tempt the saint on his journey. He assumes the form of a centaur and a pan but in neither guise is he successful against Antony“ (Introduction XXXVII). Satan nimmt jedoch nur die Gestalt eines Kentauren an, nicht die eines panähnlichen Fauns. Daß der Teufel auch die Gestalt eines Satyrn angenommen habe, um Antonius von seinem Weg zu Paulus abzuhalten, wird an keiner Stelle gesagt und ist auch unwahrscheinlich. Vegio hätte wohl kaum die identische Wendung placido ... ore72 für den Heiligen und den unter dem Trugbild eines Satyrn auftretenden Teufel verwendet. Darüber hinaus lehnt Vegio sich eng an seine Vorlage, die Vita Pauli des Hieronymus, an. Auch Hieronymus erklärte die beiden Wesen unterschiedlich. Ganz wie bei Hieronymus, der die Wesensbestimmung des Kentauren offen gelassen hatte, beim Satyr aber sogar entschieden einen historischen Beweis für die Glaubwürdigkeit ins Feld geführt hatte (vita Pauli 8,6),73 bittet das satyrähnliche Geschöpf ceteras opiniones fictas atque vanas diuturnitate extabuisse. Quis enim hippocentaurum fuisse aut Chimaeram putat quaeve anus tam excors inveniri potest, quae illa, quae quondam credebantur apud inferos portenta extimescat? Opinionis enim commenta delet dies, naturae iudicia confirmat. Zu einer symbolischen Deutung des mythischen Kentauren in Hieronymus’ Vita Pauli s. PATRICIA COX MILLER, Jeromes’s Centaur. A Hyper-Icon of the Desert, Journal of Early Christian Studies 4, 1996, 209–233, insbes. 216–221. 227. 233. Unwissenschaftlich und unseriös sind die Ausführungen von VIRGINIA BURRUS, Queer Lives of Saints: Jerome’s Hagiography, Journal of the History of Sexuality 10, 2001, 442–479. 72 Vgl. Ant. 2,71f. (über das satyrähnliche Wesen): Sic semivir illum / hortantem placido supplex est ore secutus und 3,47 multa diu placido fundens Antonius ore (vgl. auch 4,3 über Paulus: Tunc placido externum Paulus sermone parentem / compellat). 73 Hoc ne cui ad incredulitatem scrupulum moveat, sub rege Constantino, universo mundo teste, defenditur. Nam Alexandriam istiusmodi homo vivus perductus magnum populo spectaculum praebuit, et postea cadaver exanime, ne calore aestatis dissiparetur, sale infusum, et Antiochiam, ut ab imperatore videretur, adlatum est. Vgl. auch MANFRED FUHRMANN, Die Mönchsgeschichten des Hieronymus. Formexperimente in erzählender Literatur, in: Christianisme et formes littéraires de l’antiquité tardive en Occident (Entretiens sur l’antiquité classique 23), Vandœuvres-Genève 1977, 41–99, hier S. 79 zum unterschiedlichen Wahrheitsdiskurs des Hieronymus: „aus der wohl richtigen Erwägung, ein apodiktisch als Tatsache hingestellter Hippozentaur möchte selbst naiven Gemütern allzu viel zumuten, lässt er hier dem Leser freie Hand – er jedenfalls will sich nicht dafür verbürgen, ob es sich um Teufelsspuk oder um ein wirkliches Monstrum der Wüste gehandelt habe. Desto weniger ist er beim Satyrn bereit, einer skeptischen Einstellung Konzessionen zu machen: dergleichen sei unter Constantius in Alexandrien lebend dem Volke gezeigt und in Antiochien als konservierte Leiche dem Herrscher selbst vorgeführt worden.“
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den Heiligen für sich und sein ganzes Geschlecht sogleich um Fürsprache bei Gott. Maffeo Vegios Umgang mit der antik-paganen Religion läßt sich also deutlich an seiner Interpretation mythischer Mischwesen wie Kentauren und Satyrn zeigen. Er verfolgt zwar verschiedene Strategien, um das leibhaftige Auftreten der Mischwesen zu erklären, in seiner Leugnung der Fabelwesen heidnischen Aberglaubens wendet er aber das gleiche Deutungsmuster an wie bei seinem Umgang mit den Musen: so wie die alten, d. h. paganen Dichter die Musen fälschlich Gottheiten nannten, gaben sie auch diesen Wesen falsche Namen.
V. Resümee: Kontinuität und Diskontinuität in Vegios Umgang mit der antik-paganen Religion Vegios Adaptation christlich-lateinischer Autoren der Spätantike könnte den Eindruck erwecken, als setze er die Auseinandersetzung etwa eines Paulinus von Nola mit der antik-paganen Dichtung und deren mythologischen Gegenständen unmittelbar fort. Es ist jedoch zu vergegenwärtigen, daß sich diese Anbindung erst nach eigenen Dichtungen, die aus dem reichen Fundus der antiken Mythologie schöpften, im Zuge einer Neuorientierung vollzog. Wenngleich also Linien der Kontinuität von der Spätantike unmittelbar ins 15. Jh. zu führen scheinen, gilt es doch auch die Unterschiede hervorzuheben. Ein signifikanter Unterschied liegt darin, daß sich der humanistische Dichter die Position christlicher Autoren der Spätantike – ganz so, wie er kurz vorher die antik-paganen Autoren imitiert hatte – erst aneignen mußte, um sie nun in rigoristischer, gegen den antikpaganen Mythos gerichteter Polemik, die freilich auch erst revitalisiert werden mußte, einzusetzen. Es kann also nicht von einer ununterbrochenen Traditionslinie gesprochen werden, allenfalls von einer neuen Hinwendung zur christlichspätantiken Tradition. Mit seiner bewußten Abkehr vom antik-paganen Mythos beendet Vegio seine eigene bisher in enger Anlehnung an die klassische Tradition geübte Dichterphase, um sich nunmehr Grundmotive der christlichen Polemik gegen die antik-paganen Götter74 zu eigen zu machen. Der christliche Humanist ersetzt also nur die mythologischen Stoffe der Klassiker durch christliche Inhalte spätantiker Autoren, die antike Gattung des Epos behält er aber als würdige 74 Zum Instrumentarium der christlichen Mythenkritik und Mythenerklärung in der Spätantike s. allgemein MANFRED FUHRMANN, Die antiken Mythen im christlich-heidnischen Weltanschauungskampf der Spätantike, Antike und Abendland 36, 1990, 138– 151. Das Konkurrenzverhältnis verschiedener Mythendiskurse untersucht jetzt NIKOLAUS STAUBACH am Beispiel des Theodulf von Orléans, der die literarisch-allegorische Mythentradition mit der patristischen Idolatriekritik, die in den alten Göttern eine dämonische Bedrohung der Christenheit sah, bewußt verbindet: Zwischen Mythenallegorese und Idolatriekritik. Bischof Theodulf von Orléans und die heidnischen Götter, in: Mensch – Heros – Gott. Weltentwürfe und Lebensmodelle im Mythos der Vormoderne, hrsg. von CHRISTINE SCHMITZ und ANJA BETTENWORTH, Stuttgart 2009, 149–165.
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Form bei, um nunmehr seinen Helden Antonius, der in seiner pietas dem vergilischen Aeneas in nichts nachsteht, angemessen zu rühmen. Angesichts des in der Widmungselegie an Papst Eugen IV. von Vegio selbst erhobenen Anspruchs, keine von antiken Dichtern erfundenen Lügengeschichten (ficta ... veterum mendacia vatum, V. 5) zu bieten, ist es von besonderem Interesse, daß die von ihm als Prosavorlage für sein hexametrisch-episches Gedicht gewählte Erzählung über die Begegnung des Antonius mit Paulus in der Wüste sehr wahrscheinlich einzig der Phantasie des Hieronymus entsprungen ist.75 Für den christlichen Humanisten aber ist die von der Autorität des Kirchenvaters übernommene Geschichte über die beiden Heiligen eine sacra historia, eine des heiligen Papstes würdige Geschichte, handelt sie doch vom Sieg der beiden uralten monastisch-asketischen Eremiten, insbesondere des gottesfürchtigen Antonius, über Satan und erweist letztlich Gottes Macht und Heilswirken. Unter diesem Aspekt dürfte die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Hieronymus’ PaulusGestalt für Vegio und seine Zeitgenossen sekundär gewesen sein. Übte Hieronymus in seiner Vita Pauli im Umgang mit mythischen Fabelwesen noch Toleranz, läßt Vegio die alte Frontstellung zwischen Christentum und paganem Mythos wieder aufleben. Er versetzt die in der Spätantike vehement geführte Auseinandersetzung gewissermaßen in seine eigene Zeit, in der das Christentum freilich längst den Sieg über die antik-pagane Kultur davongetragen hat. Vegios hagiographisches Epos vereinigt Polemik und Aneignung in sich: einerseits bildet die antik-pagane Gleichsetzung der Musen und des als Inspirationsgottheit angerufenen Apollo mit Göttern, ferner mythische Fabelwesen wie Kentauren und Satyrn, die doch ihre göttliche Existenz allein poetischer Phantasie verdankten, eine Zielscheibe seiner Kritik, andererseits adaptiert der humanistische Dichter für seine Kritik an den lügnerischen Erfindungen der heidnischen Dichter (ficta ... veterum mendacia vatum, Praef. 5) vor allem die Argumentation christlicher Autoren der Spätantike.
75 Zur heftig umstrittenen Historizität des Einsiedlers Paulus von Theben vgl. JOH. B. BAUER, Novellistisches bei Hieronymus Vita Pauli 3, Wiener Studien 74, 1961, 130– 137, hier 135–137; zur Fiktionalität des Paulus vgl. auch die Diskussion im Anschluß an FUHRMANNs Vortrag in Vandœuvres (wie Anm. 73), 90–99, ferner HERBERT KECH, Hagiographie als christliche Unterhaltungsliteratur. Studien zum Phänomen des Erbaulichen anhand der Mönchsviten des hl. Hieronymus (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 225), Göppingen 1977, 7; STEFAN REBENICH, Der Kirchenvater Hieronymus als Hagiograph. Die Vita Sancti Pauli primi eremitae, in: Beiträge zur Geschichte des Paulinerordens, hrsg. von KASPAR ELM (Berliner Historische Studien 32), Berlin 2000, 23–40, insbes. 23–27. In der ausführlichen Einleitung der neuesten Übersetzung der Mönchsviten (es handelt sich allerdings nur um eine Überarbeitung der Ausgabe Kempten und München [Bibliothek der Kirchenväter] 1914: Die Mönchsviten des heiligen Hieronymus, hrsg. von KATHARINA GRESCHAT und MICHAEL TILLY, Wiesbaden 2009, 97–106) wird wiederum der Versuch unternommen, alle Einwände gegen die Geschichtlichkeit des Eremiten Paulus von Theben zu entkräften.
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Zur Abbildung S. 150/151 Jan de Cock (um 1480–vor 1527): Die heiligen Einsiedler Antonius und Paulus in der Wüste (aus: Meisterwerke der Sammlungen des Fürsten von Liechtenstein, ausgewählt und beschrieben von REINHOLD BAUMSTARK, Zürich; München 1980, Nr. 31; Beschreibung S. 77f.). Das um 1520 entstandene Gemälde zeigt im Vordergrund die legendäre Begegnung der beiden heiligen Greise, des neunzigjährigen Antonius und des hundertdreizehnjährigen Paulus von Theben, vgl. BAUMSTARK S. 77: „mit beschwörender Gestikulation führen die Eremiten eine geistliche Disputation, wenn sie nicht gar das vor ihren Augen eingetretene Wunder kommentieren, da der Rabe, der dem heiligen Paulus das tägliche Brot brachte, diesmal vom Himmel mit der doppelten Ration betraut worden war.“ Vegio schildert die Begebenheit mit dem Raben und den anschließenden frommen ‘Streit’ (pia lis heißt es in der Legenda aurea) zwischen den beiden Heiligen, wem der Vorrang gebühre, das Brot zu brechen, bis sie sich schließlich darauf einigen, das Brot gemeinsam zu teilen, ausführlich in Ant. 3, 106–125; vgl. Hier. vita Pauli 10,2–11,1. Im rechten Bildhintergrund ist zu sehen, wie Antonius vor der Höhle des Paulus sitzend den Eremiten, der den Eingang fest verschlossen hatte, um Einlaß bittet; zu diesem ‘Paraklausithyron’ vgl. Vegio, Ant. 3,46–60, Hier. vita Pauli 9,5f. Im linken Hintergrund ist dargestellt, wie Antonius den Leichnam des in seiner Abwesenheit verstorbenen Paulus zur Grablegung aus der Höhle schafft (Vegio, Ant. 4,127f., Hier. vita Pauli 16,1).76
76 Vgl. auch die Abbildungen, die Antonius’ Begegnung mit dem Eremiten thematisieren, im Katalog zu einer Ausstellung des Bucerius Kunst Forums Hamburg vom 9. Februar bis 18. Mai 2008: MICHAEL PHILIPP, Schrecken und Lust. Die Versuchung des heiligen Antonius von Hieronymus Bosch bis Max Ernst, München 2008, S. 32 (Bestattung des Paulus Eremita durch Antonius auf Martin Schaffners Salemer Antonius-Tafeln von 1517), S. 39 (auch das Gemälde auf dem linken Flügel der dritten Schauseite des Isenheimer Altars des Grünewald genannten Mathis Gothart-Nithart stellt die beiden Eremiten im Gespräch dar, um 1512/16), S. 40 (Meister der Heiligen Sippe in München: Legende des Eremiten, um 1500/10) und S. 87 (Meister der kleinen Passion, Legende des Einsiedlers Antonius, um 1410/15; unten rechts ist übrigens die Begegnung des Antonius mit dem Kentauren dargestellt, nicht „seine Begegnung mit dem Eselsfüßigen“, wie es in der Beschreibung S. 86 heißt).
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Weltweyse Fabeln / lüstlich unnd nützlich zulesen Mythologie und Mythographie in Simon Schaidenreissers ‹Odyssea› (1537) und in Jörg Wickrams ‹Metamorphosen› (1545)› MANFRED KERN Im Jahr 1537 erscheint die erste deutsche Übersetzung eines homerischen Textes, die Prosafassung der ‹Odyssee› von Maister Simon Schaidenreisser/ genannt Mineruiu[s] bei Alexander Weissenhorn in Augsburg; 1584 wird die ungedruckt gebliebene Prosaübersetzung der ‹Ilias› durch Johann Baptista Rexius abgeschlossen; 1610 folgen, ebenfalls in einem Augsburger Druck, die Versübersetzungen der ‹Ilias› und der ‹Aeneis› durch Johannes Spreng.1 Vor Schaidenreissers 1
Odyࡇssea, Das seind die aller zierlichsten vnd lustigsten vier und zwaintzig bücher des eltisten kunstreichesten Vatters aller Poeten Homeri zu Teütsch tranßferiert / mit argumenten vnd kurtzen scholijs erkläret durch Simon Schaidenreisser. Faksimiledruck der Ausgabe Augsburg 1537. Im Auftrage der Grimmelshausen-Gesellschaft hg. von GÜNTHER WEYDT und TIMOTHY SODMANN. Münster 1986 (zum Titel vgl. Abb. 1); Schaidenreissers Odyssea. Augsburg 1537. Neudruck hg. von FRIEDRICH WEIDLING. Leipzig 1911 (Teutonia 13); Zitate im Folgenden nach der Faksimileausgabe (mit Auflösung der Abkürzungen und Nasalstriche), die beigegebenen Stellenangaben nach der Ausgabe von WEIDLING sind durch ein vorangestelltes ‚W‘ gekennzeichnet. Zu den genannten Texten und zur deutschen Übersetzungsliteratur allgemein vgl. RICHARD NEWALD: Die deutschen Homerübersetzungen des 16. Jahrhunderts. Das humanistische Gymnasium 43 (1932), S. 47-52; HANS RUPPRICH: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Erster Teil: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance 1370-1520. Zweite Auflage. Neubearbeitet von HEDWIG HEGER. München 1994. Zweiter Teil: Das Zeitalter der Reformation 1520-1570. München 1973 (Geschichte der deutschen Literatur, hg. von H. DE BOOR und R. NEWALD IV/1 und IV/2); KLEMENS ALFEN, PETRA FOCHLER, ELISABETH LIENERT: Deutsche Trojatexte des 12. bis 16. Jahrhunderts. Repertorium. In: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen. Hg. von HORST BRUNNER. Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 3), S. 7-197, hier S. 131-142; PETRA FOCHLER: Fiktion als Historie. Der Trojanische Krieg in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 4). REGINA TÖPFER: ‚Mit fleiß zů Teütsch tranßferiert‘. Schaidenreissers ‚Odyssea‘ im Kontext der humanistischen Homer-Rezeption. In: B. BUßMANN, A. HAUSMANN, A. KREFT, C. LOGEMANN (Hgg.): Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin / New York 2005 (Trends in Medieval Philology 5), S. 329-348; DIES.: ,inn vnserer sprach von new gleich erst geboren‘. Deutsche Homer-Rezeption und frühneuzeitliche Poetologie. In: Euphorion 103 (2009), S. 103-130. Zur Druckgeschichte bis
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‹Odyssea›, nämlich 1515, war in Straßburg die deutsche ‹Aeneis› von Thomas Murner, einschließlich des 13. Buches von Mapheus Vegius, erschienen, schon sie wie diejenige Sprengs in Reimpaarversen. 1545 gehen die deutschen ‹Metamorphosen› Jörg Wickrams zu Mainz in Druck.2 In ihrem Fall handelt es sich freilich – wie schon im Titel festgehalten wird3 – um keine eigenständige Übersetzung, sondern um eine Bearbeitung der nur noch fragmentarisch erhaltenen mittelhochdeutschen Übertragung Albrechts von Halberstadt von 1210 (oder 1190), der überhaupt ersten Eindeutschung eines antiken Epos.4 Meine Ausführungen konzentrieren sich auf Schaidenreissers ‹Odyssea› und werden am Ende auf Wickrams ‹Metamorphosen› zu sprechen kommen. Vorweg lässt sich sagen, dass beide Zeugnisse zwar in unmittelbarer zeitlicher Nähe entstanden sind, dennoch aber unterschiedliche Paradigmen abgeben – Paradigmen, die für den Umgang mit Antike und antiker Mythologie in der volkssprachlichen, deutschen Rezeption des 16. Jahrhunderts und für die mithin irritierende Gleichzeitigkeit oder Verwobenheit von Kontinuität und Innovation signifikant sind. Schon die Entstehungsgeschichte der Texte zeigt, dass Schaidenreisser – grob gesprochen – einen neuen Weg einschlägt, während Wickram mit der bloßen Wahl seiner Vorlage im Modus der adaptierenden mittelalterlichen Antikerezeption verbleiben muss. Wie immer stellen sich die Verhältnisse freilich komplizierter dar, wenn man genauer hinblickt, da auch Schaidenreisser nicht aus dem Griechischen, sondern aus der lateinischen Prosafassung übersetzt und
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1550 vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Deutsche Antikerezeption 1450-1550. Teil I: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren. Mit einer Bibliographie der Übersetzer. Boppard 1976 (Veröffentlichungen zur Humanismusforschung 1); ferner: Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts. VD 16. Hg. von der Bayerischen Staatsbibliothek in München in Verbindung mit der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. I. Abteilung: Verfasser – Körperschaften – Anonyma. Band 9: Herr–In. Stuttgart 1987. Einen summarischen Überblick zur deutschsprachigen Antikerezeption des 15. und 16. Jahrhunderts bietet VOLKER RIEDEL: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2000, S. 13-75. Georg Wickram: Sämtliche Werke. Hg. von HANS-GERT ROLOFF. 13. Band, 1. und 2. Teil: Ovids Metamorphosen. Berlin/New York 1990. Stellenangaben sind im Folgenden gekennzeichnet mit ‚R‘. P. Ovidii Nasonis deß aller sinnreichsten Poeten Metamorphosis. […] Etwan durch den Wolgelerten M. Albrechten von Halberstat inn Reime weiß verteutscht/ Jetz erstlich gebessert vnd mit Figuren der Fabeln gezirt / durch Georg Wickram zu Colmar. BRIGITTE RÜCKER: Die Bearbeitung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram und ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius. Göppingen 1997 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 641); Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hg. von MANFRED KERN und ALFRED EBENBAUER unter Mitwirkung von SILVIA KRÄMER-SEIFERT. Berlin/New York 2003, Einleitung, bes. S. XXI-XXIII. Zur neueren Wickramforschung im Allgemeinen vgl. die Beiträge in: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der WickramForschung. Hrsg. von MARIA E. MÜLLER und MICHAEL MECKLENBURG unter Mitarbeit von ANDREA SIEBER. Bern (u.a.) 2007.
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Albrechts von Halberstadt ‹Metamorphosen› vergleichsweise nahe an Ovids Text bleiben. Ich möchte nun die grundlegende Frage stellen, wie Mythologie und Mythographie in beiden Texten zusammengehen. Unter Mythologie begreife ich dabei – gewissermaßen etymologisch – das ‚Hersagen des Mythos‘, seine narrative Repräsentation, unter Mythographie aber die systematisierende, deutende Auseinandersetzung mit der antiken Götter- und Heroenwelt. Im Sinne des bereits Gesagten stellt sich diese grundlegende Frage unter zwei Aspekten: nämlich unter dem Aspekt der Weiterführung oder der Abgrenzung von den Aneignungsweisen der hochmittelalterlichen Literatur und unter dem Aspekt der Repräsentation und Vermittlung eines humanistischen Mythologieverständnisses und der mit ihr verzahnten Bildungsideologie im Medium der Volkssprache – und damit in Kommunikation mit einem Publikum, das nicht a priori als ein gelehrtes Publikum zu begreifen ist. Beide Texte – Schaidenreissers ‹Odyssea› wie Wickrams ‹Metamorphosen› – sind also unter der Perspektive einer mehrschichtigen Transformation zu betrachten.
I. Um diese Mehrschichtigkeit etwas präziser zu beleuchten, möchte ich einige grundsätzliche Überlegungen zur Antikerezeption des 13. bis 16. Jahrhunderts vorausschicken. Zunächst hat mich an der Formulierung des Themas der Tagung, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist, der Begriff ‚antik-pagane Religion‘ und die Frage der Toleranz, die sich mit ihm einstellt, irritiert. Wie, so dachte ich, kann man oder muss man gegenüber einem religiösen System noch tolerant sein, das nur mehr ‚reine‘ Mythologie ist und dies – zumal in seiner künstlerischen und literarischen Repräsentation – schon in der Antike weitgehend war?5 Das Mittelalter war sich über den fiktionalen Status der antiken Götterwelt im Grunde einig. Zwar ist man ihr mitunter noch mit polemischem, sozusagen apologetischem Ernst entgegengetreten (man hat sie dann als Lüge oder als teuflische Verirrung begriffen), tendenziell aber lässt sich von einem Verhältnis der Akzeptanz sprechen.6 Diese Akzeptanz beruht auf dem Faktum, 5
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Zum Problem des religiösen Status der Mythologie ist noch immer maßgeblich PAUL VEYNE: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft. Übersetzt von MARKUS MAY. Frankfurt am Main 1987 (es 1226); vgl. auch DERS.: Die griechisch-römische Religion. Kult, Frömmigkeit und Moral. Geleitwort von CHRISTIAN MEIER. Stuttgart 2008. Es ließe sich durchaus behaupten, dass gerade die frühe Apologetik diese Erkenntnis der bloß fiktionalen Geltung der Mythologie befördert habe. Sie operierte mit einer dogmatischen Festlegung der Mythologie und tat sich somit vergleichsweise leicht, den derart fixierten, theologisch beim Wort genommenen Mythos zu widerlegen. Prozess und Strategie der Dogmatisierung werden ausführlich beschrieben und diskutiert bei HANS BLUMENBERG: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: H. B.: Äs-
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dass man sich eben über die ‚bloß‘ allegorische, integumentale oder historische Geltung der Mythologie schnell verständigt hatte. Sie wurde über die schon in der griechisch-römischen Antike grundgelegten Deutungsverfahren umfassend erzeugt und eingeübt.7 Und diesem deutenden Zugriff verdankt sich wiederum die Produktivität mythologischer Register schon in den Literaturen und Künsten des Mittelalters. Unter diesem Aspekt schien mir der Begriff der Religion bzw. der Toleranz – sit venia verbo – zunächst einmal schief. Ich fragte mich dann aber weiter, ob nicht genau diese scheinbare Schieflage für eine neue Klärung von Komplexitäten fruchtbar zu machen wäre; ob unter dem Titel ‚Toleranz‘ nicht auch die Frage der Kontinuität oder des epochalen Bruchs zwischen der antiken Mythologie, wie sie das Mittelalter ‚gebildet‘ hatte, und der antiken Mythologie der Renaissance (und des Humanismus) neu gedacht werden könnte. Das Widerständige, oder pointiert gesagt: das scheinbar Widersinnige im Begriff der Toleranz, könnte zunächst einmal dazu anhalten, auf einem Moment der Spannung oder der hermeneutischen Schwierigkeit zu insistieren, die in der Aneignung eines autoritativen künstlerischen und philosophischen Wissenssystems, wie es die Antike vorstellt, immer akut bleiben muss. Diese Spannung oder Schwierigkeit aber manifestiert sich vorzüglich in der Konfrontation, im Widerstreit der metaphysischen Konzepte, einer ‚ungültigen‘ Mythologie auf der einen und der ‚gültigen‘ christlichen Religion auf der anderen Seite. Unter diesem Aspekt lässt sich das Verhältnis der nachfolgenden Epochen zur Antike, in unserem Fall des Mittelalters und der Renaissance, als Phänomen der ‚heißen Rezeption‘ und zugleich im Modus der Aufgeregtheit beschreiben.8
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thetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von ANSELM HAVERKAMP. Frankfurt a. M. 2001 (stw 1513), S. 327-405, erstmals in: Terror und Spiel. Hg. von MANFRED FUHRMANN. München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 11-66. Gerade die frühe Apologetik weiß zugleich aber auch das wirkungsästhetische Potenzial der Mythologie zu nutzen, wie etwa die Stilisierung von Christus zum Orpheus novus bei Clemens von Alexandria (‹Exhortatio ad Graecos› I.1,3f.) zeigt, vgl. hierzu die Einleitung zum Lexikon der antiken Gestalten (wie Anm. 4), S. XIf. Hierzu JEAN SEZNEC: Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance. Aus dem Frz. von HEINZ JATHO. München 1990 (Originalausgabe: La Survivance des Dieux Antiques. London 1940). Ich verwende den Begriff der ‚heißen Rezeption‘ in Anlehnung an den Begriff der ‚heißen Erinnerung‘ bei JAN ASSMANN: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 3. Aufl., München 2000 (Beck’sche Reihe 1307), S. 66-86. Der Hintersinn dieser Adaptation wäre der, dass der zur Mythologie geronnene Mythos auch und gerade in der sekundären Rezeption aufgrund seines kulturell und diskursiv autoritativen Status ein wesentliches Moment im Erzeugen kultureller Identität darstellt, wobei der Prozess der Auseinandersetzung durchaus polemischen Charakter annehmen kann. Nicht zufällig scheint sich ja gerade in den mythologischen Sujets und in den antiken Ikonographien, zumal in mythologischen Körperbildern und Körperkonzepten ein neuer Weltbezug und damit auch eine neue ‚Weltmächtigkeit‘ der künstle-
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Genau dies tut etwa Erwin Panofsky in seinem großen Buch ‹Die Renaissancen der europäischen Kunst›, wenn er die Divergenz zwischen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Antikerezeption mit folgendem Bild zu fassen versucht: „Das Mittelalter hatte die Antike unbeerdigt gelassen und ihren Leichnam abwechselnd galvanisiert und exorziert. Die Renaissance stand weinend an ihrem Grab und versuchte, ihre Seele auferstehen zu lassen. Und in einem schicksalhaft günstigen Augenblick gelang ihr das. Deshalb war die mittelalterliche Vorstellung von der Antike so konkret und gleichzeitig so unvollständig und verzerrt; während die moderne, die sich in den letzten drei oder vier Jahrhunderten allmählich entwickelte, so umfassend und in sich geschlossen, aber, wenn ich so sagen darf, abstrakt ist. Und deshalb waren die mittelalterlichen Renaissancen vorübergehend, während d i e Renaissance dauerhaft bleiben sollte. Auferstandene Seelen sind unberührbar, aber haben den Vorteil der Unsterblichkeit und Allgegenwart. Daher ist die Rolle der klassischen Antike nach der Renaissance ein wenig ungreifbar und andererseits durchdringend – und veränderbar nur im Zusammenhang mit einer Veränderung unserer Kultur im Ganzen.“9
Mit den Metaphern von der Antike als Leiche und der Auferstehung ihrer Seele setzt Panofsky eine kalkulierte Dramatisierung; sie insistiert auf der epochalen Brisanz des Themas und inszeniert zugleich die eigene These. Rezeption der Antike und die Beschäftigung mit ihr stehen im Zeichen einer epochalen Erregung, die – ironisch und affirmativ zugleich – in eschatologischen Andeutungen gipfelt. Das dialektische Begriffspaar von Galvanisierung und Exorzierung für die mittelalterliche Rezeption ist gut gewählt. Denn zum einen bewahrt sie doch eine akute ‚Intoleranz‘ gegenüber den Heidengöttern, weil sie zugleich als die aktuellen Heidengötter der Muslime aufgefasst sind10 und weil sie als Manifestationen des Dämonischen begriffen werden können. Diese Vorstellung verbindet sich vor allem mit den Götterstatuen, man denke an die bekannte Sage vom Venusbild – in ihr wird ästhetische Faszination in ein erotisches Begehren umgedeutet, das wiederum dämonische Ursachen hat.11 rischen Produktion zu repräsentieren, wie nicht zuletzt die stereotypen Ikonen der Epoche, Botticellis Venus oder Michelangelos David, zeigen. 9 ERWIN PANOFSKY: Die Renaissancen der europäischen Kunst. Übersetzt von HORST GÜNTHER. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1996 (stw 883), S. 116f. (Originalausgabe: Renaissance and Renascences in Western Art. Stockholm 1960); Hervorhebung im Text. 10 Hierzu VERF.: Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik. Amsterdam/Atlanta 1998 (Amsterdamer Beiträge zur Sprache und Literatur 135), S. 385-397. 11 Hierzu s.v. Venus, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters (wie Anm. 4), S. 639-662, bes. S. 655f. Eines der frühesten Beispiele gibt die Astrolabius-Episode in der ‹Kaiserchronik› (ebd., S. 647f.). Der Sagentypus scheint eine bereits antike Tradition fortzusetzen, die u.a. im Pygmalionmythos zu fassen ist und im ästhetischen Faszinosum der Knidischen Aphrodite des Praxiteles ihren offenbar konkreten Ausgangspunkt hat, hierzu BERTHOLD HINZ: Aphrodite. Geschichte einer abendländischen Passion. München/Wien 1998.
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Zum anderen kann man aber eben schon für das Hochmittelalter von einer poetisch grundierten Toleranz sprechen. Ich verweise auf Texte wie die ‹Ecloga Theoduli› (10. Jh.), die im Rahmen eines Streitgesprächs zwischen dem heidnischen Hirten Pseustis und der christlichen Aletheia die antike Mythologie als fiktives, ‚lügnerisches‘ System der Bibel als wahre und heilige Schrift gegenüber stellt und so eine quasi-typologische Relation erzeugt, in deren Fahrwasser das Mythologische auch wieder ins Recht gesetzt wird; ich verweise auf die vor allem ovidianische Mythologie der ‹Carmina Burana›, auf die allegorisierte Mythologie der großen Allegoriedichtung, etwa Alans von Lille, und schließlich auf die höfisierte Mythologie der volkssprachlichen Antikeromane,12 allen voran des ‹Trojanerkriegs› Konrads von Würzburg (um 1280-86), der das poetische Potenzial einer euhemerisierten Götterwelt in höfischer Gewandung gut zu nutzen weiß.13 Gerade in der höfischen Literatur wird dabei ein Verfahren der Adaptation manifest, das Panofsky mit dem Begriff der ‚Disjunktion‘ benannte.14 Gemeint ist ein Auseinandertreten von Darstellung und Inhalt. Antike Inhalte werden mediävalisiert: Venus erscheint als höfische Dame; antike Darstellungsformen aber tragen mittelalterlichen Sinn: Die nackte Venus repräsentiert Luxuria. Unter der Formel Galvanisierung und Exorzismus ließe sich auch Dantes angespannte Affinität zu Mythologie und Antike fassen. Dantes Beispiel ist deshalb wichtig, weil wir in ihm ein Scharnier zwischen der Antike des Mittelalters und der Antike der Renaissance erkennen können (auch in seinem Fortwirken natürlich) und weil es uns zugleich davor warnt, epochale Veränderungen als unhintergehbar zu begreifen, wie es Panofsky insgeheim tut. An der mythologischen Rede in der ‹Comedia› ist vielmehr eine Ambivalenz zu beobachten, die schon die mittelalterliche Rezeption grundiert und die in der Renaissance fortwirkt: Da ist zum einen eine nach vorne weisende Begeisterung, die sich nicht zuletzt auf das poetische Potenzial und die ästhetische Qualität mythologischer Bilder und Gestalten gründet und die in der Autorität der antiken Meister, allen voran Ver-
12 Einen Einblick geben die entsprechenden Einträge im Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters (wie Anm. 4), vgl. auch ELISABETH LIENERT: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39). 13 So beim Aufzug der Götter am Hochzeitsfest von Peleus und Thetis: Hier erscheinen u.a. Apollo, der Erfinder der Heilkunst und des Arzneiwesens, mit seiner Apotheke, Pallas Athene mit einer Menge Bücher, die ihre Gelehrsamkeit bezeugen, Mars versucht, gleichsam als Polizist, für Ordnung zu sorgen, hat aber seine Mühe mit Cupido, der mit seinen Liebespfeilen für Unruhe sorgt; Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten K. FROMMANNS und F. ROTHS zum ersten Mal hg. durch ADELBERT VON KELLER. Stuttgart 1858 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 44). Nachdruck, Stuttgart 1965, Vv. 917-1091; zur Stelle ELISABETH LIENERT: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ‹Trojanerkrieg›. Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22), S. 41-44. 14 PANOFSKY (wie Anm. 9), S. 90.
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gils, verankert ist.15 Dieses Potenzial lässt sich mit den tradierten allegorischen und metaphorischen Verfahren aber nicht (oder nicht mehr?) bändigen, sondern begründet jene Dynamik, mit der die Mythologie in ihrer konkreten Materialität gleichsam ihr Recht einmahnt. Sie findet ihren Niederschlag etwa im Gottestitel sommo Giove (‹Inferno› XXXI,92). Und vielleicht erklären sich gerade aus dieser Gefahr, aus dieser Affinität auch Dantes Strategien der Distanzierung. Panofsky zufolge ist es ja auch die besondere ‚Anfälligkeit‘ des Hochmittelalters gegenüber der Antike, die die simultanen Verfahren der Distanzierung gleichsam erzwingt, deren vorzüglichstes eben das „Prinzip der Disjunktion“ wäre. Und Dantes Mythologie ist ja eine mustergültig ‚disjunktive‘ im oben skizzierten Sinne, man denke an die mythologischen Teufel wie Minos oder Chiron. Insbesondere Vergils allem Anschein nach unabänderliche Verbannung im Inferno könnte eine Manifestation dieser dialektischen Spannung von Affinität und Distanzierung sein. Sie ist zudem in der offen antagonistischen Haltung gegenüber Ovid zu fassen (wenngleich auch ihm ein Platz in der bella scuola der antiken Poeten im Limbus eingeräumt wird; ‹Inferno› IV,85-96). Nicht zufällig gibt die Metamorphose eines der hervorragendsten infernalischen Strafinstrumentarien ab, und nicht zufällig mündet der Wechsel von Schlangen- und Menschengestalt, den Francesco und Buoso in Canto XXV des ‹Inferno›, dem Metamorphosen-Gesang schlechthin, vollziehen, in eine triumphale Überbietung der ‹Metamorphosen›.16 Dantes mithin aggressives Verhältnis zu Ovid mag auch seiner Vergil-Nachfolge geschuldet sein, jedenfalls erweist er sich hierbei eher als antiquus denn als modernus.17
15 Eine aktuelle Auseinandersetzung mit der Vergilgestalt bei Dante findet sich bei KARLHEINZ STIERLE: Das große Meer des Sinns. Hermenautische Erkundungen in Dantes ‹Commedia›. München 2007, bes. Kap. I.5, „L’arco del dir. Dantes Fragen“, S. 120-177. 16 Taccia di Cadmo e d’Aretusa Ovidio;/ Chè se quello in serpente e quella in fonte/ Converte poetando io non lo invidio;// Chè due nature mai a fronte a fronte/ Non trasmutò si che ambedue le forme/ A cambiar lor materia fosser pronte. ‚Nun mag Ovid von Arethusa schweigen/ Und Kadmus; macht er ihn zu einer Schlange/ Und sie zur Quelle, will ichs ihm nicht neiden,// Denn niemals hat er zwei Naturgebilde/ Stirn gegen Stirn verwandelt, so daß beide/ Bereit gewesen, ihren Stoff zu tauschen.‘ – Inf. XXV,97-102, Text und Übersetzung nach: Dante Alighieri. Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Übersetzt und kommentiert von HERMANN GMELIN. 6 Bde. München 1988. Zur Stelle sowie grundsätzlich zu Relationen und Analogien zwischen Ovids ‹Metamorphosen› und Dantes ‹Comedia› STIERLE (wie Anm. 15), Kap. III.6 „Die Fabel der Welt und das System der Schönen Künste: Ovid, Dante, Proust“, S. 419-441. 17 Auch über derartige Zuschreibungen ließe sich freilich intensiv diskutieren. Denn von der hochmittelalterlichen Ovid-Mode her gesehen wäre Dantes Vergilnachfolge wieder das moderne Paradigma. Stilistisch lässt sie sich aber als Renaissance oder eben Restauration eines antik-klassischen, vergilianischen Ideals des Erhabenen begreifen, von dem sich wiederum Rhetorisierung und Überladung bei Ovid und noch stärker bei Lucan – als modernistische Tendenzen – abheben würden, wenn man hierin ERICH AUERBACH (Camilla oder über die Wiedergeburt des Erhabenen. In: E. A.: Literatursprache und
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Mit der Metapher der Beerdigung des antiken Leichnams illustriert Panofsky seine Grundthese von der historischen Distanz zur Antike, der sich die Renaissance erstmals bewusst werde (und dieses Bewusstsein eines epochalen Bruchs führt bekanntlich auch zur Vorstellung einer Zwischenzeit, des ‚Mittelalters‘). Erst was wirklich zu Grabe getragen wurde, kann nun aber auch beerbt werden, und dieses Erbe wird – um in Panofskys Bild zu bleiben – im Zeichen der Tränen angetreten. Damit stellt sich jedoch die Frage, ob sich Trauer und Eifer der Erben tatsächlich darauf beschränke, bloß die Seele der Verstorbenen auferstehen zu lassen, oder ob sie nicht doch auch in einer Exhumierung ihrer Leiche gipfeln könnten. Toleranz bestünde damit in der unbedingten Aneignung des Verlorenen, des historisch distanzierten Vorbildes. Sie bestünde gleichsam in einer Umkehrung des Toleranzparadigmas: Es ist die Antike, die sich nun als tolerant genug erweist, das christliche Zeitalter gleichsam zu absorbieren (wohingegen zuvor das Mittelalter die Antike absorbieren konnte). Die radikalisierte und invertierte Toleranz der Renaissance ließe sich als Verschiebung der christlichen Religion in die Sphäre jenes poetischen oder philosophischen Sprechens und jener künstlerischen Darstellungsformen begreifen, die die antike Mythologie anbietet. Nicht erscheint die antike Vergangenheit im Gewand einer christlich-mittelalterlichen Gegenwart, sondern die christliche Gegenwart erscheint im Gewand der antiken Mythologie. Für diesen Prozess ließe sich u.a. auf das ikonographische Programm Michelangelos verweisen (der auferstandene Christus, Sistina, Moses). Und er steuert auf nichts weniger als auf eine Mythologisierung des Christentums zu, auf die Kenntlichmachung der mythologischen Struktur und der Historizität christlicher Metaphysik. Die neue Toleranz, die neue Wahrnehmung der Antike wäre somit nicht als ‚Ertragen‘ des antiken Polytheismus, der antiken Mythologie, sondern als Integration antiker Denkformen und Darstellungsformen zu begreifen, deren Potenzial in der Verschiebung und Metamorphose christlicher theologischer, philosophischer, poetischer und künstlerischer Konzepte bestünde. Schon Paulus hatte die Toleranz des antiken Polytheismus benutzt, um auf der Athener Agora seinen unbekannten Gott bekannt zu machen. Diese Strategie hat vielleicht in der Renaissance eine unerhörte Wendung genommen: Die Antike, die gleichsam mit Leib und Seele aus ihrem offenen mittelalterlichen Grab gestiegen war, ist nun tolerant genug, auch noch christliche Philosophie und Theologie in sich aufzunehmen, sie zu mythologisieren – sei es im Platonismus Ficinos, sei es in der Ikonographie Michelangelos, sei es (später) im Historismus Vicos. Was ich auch mit Blick auf das Folgende betonen möchte, ist das Phänomen der Materialität: Die antike Mythologie scheint ab dem 14. Jahrhundert in ihrem Sosein ein ästhetisches Faszinosum zu bilden. Die Verfahren der adaptierenden Repräsentation (nicht aber die der mythographischen Deutung!) treten in den Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Bern 1958, S.135-176) folgen will.
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Hintergrund, das Prinzip der Disjunktion kann aufgegeben werden.18 Damit verschieben sich auch die Interessen, die den Umgang mit Mythologie kennzeichnen, sie pluralisieren und differenzieren sich. Sie lösen sich von den eingeübten Deutungsweisen, von den klaren hermeneutischen Festlegungen. Das primäre Faszinosum ist ästhetisch, es besteht im mythologischen Sujet selbst, nicht in den Sinnperspektiven, die es bereitstellt.19 Dies manifestiert sich nicht zuletzt in einer neu gefassten Phänomenalität des mythologischen Körpers, zumal des Frauenkörpers. Und genau hier setzt interessanterweise in der deutschen Kunst eine Tendenz zur Negativierung ein. Ich erinnere an ein Sujet wie Tod und Mädchen bei Hans Baldung Grien. Es konfrontiert eine neue, mythologisch abgesicherte Ikonographie mit überkommenen Ikonologien der Negativität. Der Renaissanceakt, der Venus-Körper wird wieder zur Verkörperung der Luxuria, die negative Allegorese leistet die Figur des männlichen Todes. Das Beispiel belegt außerdem die Kopräsenz von progressiven und restaurativen Konzepten (das Restaurative ist hier zugleich nicht einfach mittelalterliches Relikt, sondern aktuelle reformatorische Tendenz). Ich wollte mit diesem Exkurs zu Beginn einerseits auf dem Begriff der Toleranz insistieren, weil er zu einer interessanten Umkehrung oder Verschiebung des Toleranzparadigmas hinführt und weil er historische Prozesse als ‚epochale Dramen‘ zu inszenieren weiß. Die Dramatisierung hat etwas Unterhaltsames, sie ermöglicht aber auch – wie Panofskys Buch zeigt – Erkenntnis. Zweitens sind wir auf den materiellen Wert der Mythologie verwiesen, Mythologie kommt – wie es Hans Ulrich Gumbrecht formuliert hat20 – „diesseits der Hermeneutik“ zur Geltung, diesseits der Allegorisierungen und Deutungsweisen, die sich mit ihr verbunden haben; an diesem Punkt ist – wie mir scheint – ein tatsächlich innovatives Interesse, sind neue Formen der Repräsentation von Mythologie zu fassen – ‚Repräsentation‘ im Sinne von Darstellung wie Vergegenwärtigung, Präsenz. Und dies möchte ich nun am Beispiel von Schaidenreissers ‹Odyssea› und – eben am Rande – an Wickrams ‹Metamorphosen› diskutieren: Mit beiden Texten befinden wir uns in der Sphäre einer ‚mythologischen‘ Übersetzungspraxis, also gewissermaßen auf dem Boden des ‚Wörtlichen‘ – womit sich das skiz-
18 JEAN SEZNEC (wie Anm. 7), S. 157f. spricht übrigens etwas nüchterner als PANOFSKY von einer Wieder-Zusammenführung von literarischen und bildnerischen Traditionen, die in der Karolinger Zeit auseinander gedriftet seien. 19 Ein frühes Indiz dafür könnte das Konzept der claritas sein, das Boccaccio in De claris mulieribus entwickelt. Claritas ist hier keine ethisch untermauerte Kategorie, sie ist ein Faktum für sich. Eine clara mulier kann gut oder schlecht sein, sie kann Penelope oder Medea heißen. Natürlich ist jede Gestalt in dieser über weite Strecken mythologischmythographischen Schrift bewertet, aber diese Wertung wird von einer Erzählerstimme vertreten, die in Diskussion tritt mit den Rezipierenden, die diese Wertung somit als etwas Verhandelbares, als etwas, worüber sich streiten lässt, ausgibt. 20 HANS ULRICH GUMBRECHT: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von JOACHIM SCHULTE. Frankfurt a. M. 2004 (es 2364).
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zierte epochale Drama und damit auch der affektive Gestus seiner Interpretation deutlich abkühlen können.
II. Simon Schaidenreisser hat von etwa 1500-1572 gelebt.21 Geboren ist er in Bautzen, 1516 erwirbt er in Wittenberg das Bakkalaureat, 1523 in Basel den Magister artium. Danach ist er in München tätig, von 1525-1534 als Stadtpoet und Rektor der Lateinschule, dann bis 1537 als Stadtschreiber und schließlich als Gerichtsschreiber („Unterrichter“), dies offenbar bis zu seinem Tod. Schaidenreisser war Mitglied einer sodalitas litteraria, führte den humanistischen Beinamen Minervius und war unter anderem mit Marcus Tatius Alpinus befreundet, der 1536 den fingierten Augenzeugenbericht des Dares über den Trojanischen Krieg übersetzte. Überliefert sind von ihm einige lateinische Gedichte und Briefe, eine Übersetzung von Ciceros ‹Paradoxa Stoicorum› (1538) und eben die ‹Odyssea› (1537).22 Der Vorrede zur ‹Odyssea› zufolge wollte Schaidenreisser auch die ‹Ilias› übersetzen.23 Wie weit er dieses Unternehmen gebracht hat, ist unklar, jedenfalls kam es nie zum Druck und es ist auch sonst nichts davon erhalten. Eine gute Kenntnis des Textes belegen aber nicht nur einige Anmerkungen in der ‹Odyssea›, sondern vor allem das an der Universitätsbibliothek Salzburg aufbewahrte Exemplar der ‹Ilias›-Übersetzung Vallas, das Schaidenreissers Besitzervermerk trägt und von ihm durchgearbeitet wurde (Abb. 3).24 Ich werde darauf zurückkommen.
21 Die folgenden Angaben nach WEIDLING, S. IXf., ALFEN/FOCHLER/LIENERT, S. 131 und FOCHLER, S. 70f. (alle wie Anm. 1). 22 Es handelt sich bei den Gedichten weitgehend um ‚Anlasstexte‘, darunter drei Empfehlungsgedichte zu Schriften humanistischer Kollegen, eine poetische Einladung an Tatius zum Gastmahl; erhalten ist ferner eine Widmungsvorrede zu den ‹Varia carminum genera› von Ludwig Senfl, gerichtet an Bartholomäus Schrenck; ausführlich unterrichtet über Schaidenreissers Werke WINFRIED ZEHETMEIER: Simon Minervius Schaidenreisser. Leben und Schriften. Diss. (masch.), München 1961. 23 „[…] solches mir ain fürnempste anraizung sein wirt/ das groesser werck Homeri von der expedition vnd krieg für Troia/ Iliada intituliert/ welches ich yetz zůtranßferieren angefangen/ vnd vnderhanden hab/ auch etliche bue cher Ciceronis namentlich Paradoxa/ Somnium Scipionis/ in den truck zůgeben.“ (Vorrede, fol. va, W 7,28-32); das dem Augsburger Erstdruck der ‹Odyssea› vorangestellte Druckprivileg von König Ferdinand schließt die ‹Ilias›-Übersetzung mit ein. 24 Es handelt sich um die Druckausgabe von 1522: Homeri poetae clarissimi Ilias per Laurentium Vallensem Romanum latina facta. Cum indice. Coloniae apud Heronem Alopecium, Salzburg, Universitätsbibliothek, F I 580. Am oberen Rand des Titelblattes findet sich in rotbrauner Tinte der Vermerk: Sum Simonis Mineruij, die Randglossen im Text sind mit derselben Tinte geschrieben. Für die Abbildung und die Druckerlaubnis danke ich Frau Dr. Beatrix Koll.
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Die deutsche ‹Odyssea› ist wie gesagt 1537 in Augsburg bei Alexander Weissenhorn erschienen (gleich 1538 wurde eine zweite Auflage nötig). Dem Erstdruck sind 19 Holzschnitte beigegeben (auffallenderweise fehlen gerade zu den Abenteuern des Odysseus die Bilder). Ein Nachdruck, besorgt von Johann Schmidt und verlegt bei Hieronymus Feyerabend, erscheint 1570 in Frankfurt. Schaidenreissers Prosaübersetzung liegt die lateinische, ebenfalls prosaische Übertragung durch Raphael Volaterranus († 1521) zugrunde, sie wurde erstmals 1510 in Rom gedruckt und mehrmals neu aufgelegt.25 Weidling (S. XXIV) vermutet, dass Schaidenreisser die Ausgabe von 1534 verwendet habe; wenn aber die ‹Ilias› von 1522 in seinem Besitz war, so wird er wohl auch früher schon eine ‹Odyssee›-Ausgabe besessen haben.26 Neben Raphaels lateinischer ‹Odyssea› hat Schaidenreisser wahrscheinlich auch die ebenfalls 1510 in Straßburg gedruckte Prosaübersetzung von Gregorius oder Georgius Maxillus alias Übelin herangezogen, allerdings nur als Korrektiv.27 Dass er auch auf das griechische Original zurückgegriffen hat, lässt sich nicht erweisen, dass er Kenntnisse im Griechischen hatte, ist allerdings anzunehmen.28 Im Titel der ‹Odyssea› heißt es: Laeser ee du iudicierest, laß dich nit beuielen die vorred zůlesen. Ich möchte nun genau das Gegenteil tun und den Charakter der Übersetzung gleichsam unverstellt skizzieren, wobei ich etwas genauer auf die
25 Köln 1523, 1524 und 1534, Antwerpen 1528; vgl. die Zusammenstellung bei WEIDLING (wie Anm. 1), S. XXII und VD 16, H 4703-4705. 26 WEIDLING (wie Anm. 1), S. XXIV, argumentiert in seiner These mit den Bezügen zwischen der Homer-Vita in Schaidenreisser ‹Odyssea› und dem ‹Herodoti de […] vita Homeri libellus› in der Raphaelschen ‹Odyssee›-Ausgabe von 1534. Eher hat Schaidenreisser dies zusätzlich herangezogen. Ich beziehe mich jedenfalls auf die Ausgabe von 1524 (im Folgenden abgekürzt RV, Zitate mit Auflösung der Abbreviaturen und Nasalstriche); sie ist am selben Ort und beim selben Verleger erschienen wie Schaidenreissers Exemplar von Vallas ‹Ilias›: Homeri Odyssea, Metaphraste Raphaele Volaterrano, quàm diligentissime excusa. Cvm Indice. Apud sanctam Vbiorum Agrippinam per Heronem Alopecium. Anno M. D. XXIIII. 27 Titel: Homeri Poetarum Clarissimi Odyssea De Erroribus Vlyxis. [Drucknachweis am Ende:] Argentoraci Ex officina Ioannis Schotti: impe֥sis vero egregij. I.V. Doctoris Georgij Maxilli: al’s übelin: episcopalis curiae Argen֥. Signatoris. ad nonu֥ Kal. Iunij. Anno a natali cristiano M. D. X. (im Folgenden abgekürzt M). Ob die Übersetzung, wie in der Vorrede unmissverständlich behauptet wird, tatsächlich von Maxillus stammt, ist nicht gesichert, sie könnte möglicherweise auf Francesco Aretino zurückgehen, hierzu WEIDLING (wie Anm. 1), S. XXIII. Die Namensformen bei Schaidenreisser halten sich konsequent an Raphael, bei diesem auch einige versifizierte Passagen (aufgelistet bei WEIDLING, S. XXIII), ein Verfahren, das Schaidenreisser an vier Stellen nachahmt: im Proömium, fol. 1a, bei Ulysses’ Reden an Nausikaa, fol. XXIVb-XXVa, und Euryalus, fol. XXXIa, sowie beim Gesang der Sirenen, fol. LIIa; FOCHLER (wie Anm. 1), S. 69, Anm. 2. Einige Abweichungen und Korrekturen zu Raphael stimmen freilich mit Georgius Maxillus überein, vgl. die Zusammenstellung bei WEIDLING, S. XXIV-XXX. 28 Hierzu WEIDLING (wie Anm. 1), XXII-XXIV, ZEHETMEIER (wie Anm. 22), S. 43f., (mit etwas überzogener Skepsis) FOCHLER (wie Anm.1), S. 76f., und TÖPFER (wie Anm.1).
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Bücher 8-12, also auf Odysseus’ Aufenthalt bei den Phäaken und auf die Irrfahrten-Erzählung eingehen werde. Grundsätzlich ist das Urteil der Forschung über Schaidenreissers Übersetzung positiv ausgefallen. Friedrich Weidling, der erste Herausgeber des Drucks (1911), spricht von einer „glückliche[n] Eindeutschung“ (S. XIV), fühlt sich dann aber doch zu der süffisanten Bemerkung hingerissen, dass bei der „sinnsweisen“ Übersetzung, wie Schaidenreisser selbst sein Verfahren charakterisiert (Vorrede, fol. va; W 7,20), „auch oft genug Unsinn herausgekommen ist“ (S. XXII). Dabei bleibt unberücksichtigt, wieviel „Unsinn“ sich den Vorlagen verdankt,29 und ein solches Verdikt fällt schon deshalb auf den Sprecher zurück, weil es an Schaidenreisser die Maßstäbe der Gymnasialkultur des 19. Jahrhunderts anlegt. Anachronistische Tendenzen zeigt auch die Einschätzung im Repertorium der Trojatexte des 12.16. Jahrhunderts von Alfen, Fochler und Lienert, wenn Änderungen, Kürzungen und sonstige Modifikationen im deutschen Text in m. E. übertriebener Weise hervorgehoben werden.30 Eine adäquate Bewertung hat von jener Tradition auszugehen, die Schaidenreisser vorangegangen ist, und da nehmen sich seine Eingriffe geradezu minimal aus. Im Vergleich zu den höfischen Antikeromanen gilt dies ohnehin, es gilt aber auch im Vergleich zu den ‹Metamorphosen› Wickrams, die sich ebenso eine Übersetzung nennen. Unter dieser Perspektive muss man von einer erstaunlichen Nähe zum Original (das hier im Übrigen das durch die lateinischen Fassungen vermittelte wäre) sprechen. Grundsätzlich ist mit der Prosaform natürlich eine gravierende formale Differenz gegeben, freilich nicht zu Schaidenreissers lateinischen Vorlagen. Im Vergleich zu einer Versübersetzung – um dieses Problem lässt sich ja noch heute diskutieren – bleibt sie aber dennoch näher am Ausgangstext: Hätten Raphael Volaterranus und Georgius Maxillus die ‹Odyssee› in lateinische Hexameter gebracht, so hätte dies wohl zu einer stilistischen Verschiebung hin zu Vergil führen müssen; der deutsche, vierhebige Reimpaarvers aber, der im 16. Jahrhundert 29 Für Schaidenreissers sorgfältige Arbeit spricht, dass er Fehler bei Raphael Volaterranus korrigiert, so etwa in der Rede der Minerva an Jupiter im ersten Buch die Verwechslung von Calypso und Circe, sh. unten Anm. 32. 30 ALFEN/FOCHLER/LIENERT (wie Anm. 1), S. 133f. folgen im Wesentlichen dem Urteil ZEHETMEIERs (wie Anm. 22), S. 47-60, der sich einerseits von der ‚gymnasialen‘ Tradition beeinflusst zeigt, andererseits auch merklich gegen sie anschreibt. ZEHETMEIERs allgemeiner Befund lautet: „Meistens verkürzt Sch. seine Vorlagen, die ihrerseits schon nur mehr einen bloßen Extrakt des griechischen Epos bilden“ (S. 59). Das ist mehr als übertrieben. Immerhin wird der Topos von der verzerrenden Übersetzung, die dem ‚großen‘ Homer (in Wahrheit dem Homer des 19. Jahrhunderts) nicht gerecht werde, ins Positive gewendet: „Wir müssen froh sein, daß Sch. so frei mit seiner Vorlage umspringt. So gewinnt seine Übersetzung auf weite Strecken den Anhauch eines originalen Werkes“ (S. 60), was nun wiederum eine Übertreibung in die umgekehrte Richtung darstellt. Dort, wo ZEHETMEIER objektiv beobachtet, dort, wo er die Übersetzung im zeitgenössischen Zusammenhang betrachtet, und dort, wo er übersetzten Text und deutende Scholien auseinanderhält, kommt er aber schließlich zu einem anderen Befund, eben dem der überraschend ‚getreuen‘ Wiedergabe (vgl. bes. S. 105f.).
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die entsprechende metrische Form gewesen wäre, hätte einen reichlich verknittelten Homer ergeben, wie Schaidenreissers gereimtes Proömium zeigt: GOttin des gesangs dich rue ff ich an Hilff preisen mir den thewren man Der land vnd stedt durchrayset hat Geue bt darzů mang gef aerlich that Da er sein weißlose gefertt Auß noeten gern errettet het Welch doch all verdorben synd Faulend in regen schnee vnd wind, Darumb das sie můttwilliglich Geraubet han der Sonnen viech (fol. Ia, W 11,16-25).
Rhythmus und Reimzwang führen gleichsam wie von selbst zu einem adaptierenden, ‚altdeutschen‘ Plauderton, wie er für Wickrams ‹Metamorphosen› typisch ist, die Dynamik der schleichenden Adaptation manifestiert sich auch in dem ganz unmediterranen Motiv des Schnees.31 Dagegen bewahrt die erste Rede der Minerva an Jupiter vergleichsweise gut den antiken Redegestus: 31 Das hexametrische Proömium in RV (fol. 3b) bleibt dagegen relativ nah am Ausgangstext: Dic mihi musa virum, captæ post tempora Troiæ.| Qui mores hominum multorum uidit et urbes.| Multa quoque et ponto passus dum naufragus errat:| Vt sibi, tum socijs uitam seruaret in alto.| Non tamen hos cupiens fato deprompsit acerbo,| Ob scelus admissum extinctos ausumque malignum:| Qui fame compulsi solis rapuere iuuencos.| Stulti, ex quo reditum ad patrias deus abstulit oras.| Horum itaque exitium memora mihi musa canenti. Die Stelle lautet in M (fol. IIa): Dic mihi musa/ virum perquam exercitatum: qui post sacram vrbem Ilium dirutam longis erroribus et ciuitates multas vidit et hominum mentes cognouit: diuque mari iactatus: vt se et socios in patriam reduceret: multos anxius labores perpassus est. Non tamen in illis liberandis suo satis fecit desiderio. Suis enim illi in deos periere flagitijs. Quippe qui stulti desuper currentis solis boves comederunt. Hinc ille reditum eis abstulit. Horum tu dea Iouis filia causam et nobis refer. Im griechischen Original lauten die Verse (zitiert nach: Homeri Opera. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Thomas W. Allen. Tomus III Odysseae libros I-XII continens. Tomus IV Odysseae libros XIII-XXIV continens. Editio altera. Oxford 1917): Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ/ πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσε·/ πολλῶν δ᾽ ἀνθρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω,/ πολλὰ δ᾽ ὅ γ᾽ ἐν πόντῳ πάθεν ἄλγεα ὃν κατὰ θυμόν,/ ἀρνύμενος ἥν τε ψυχὴν καὶ νόστον ἑταίρων./ ἀλλ᾽ οὐδ᾽ ὣς ἑτάρους ἐρρύσατο, ἱέμενός περ·/ αὐτῶν γὰρ σφετέρῃσιν ἀτασθαλίῃσιν ὄλοντο,/ νήπιοι, οἳ κατὰ βοῦς Ὑπερίονος Ἠελίοιο/ ἤσθιον· αὐτὰρ ὁ τοῖσιν ἀφείλετο νόστιμον ἦμαρ./ τῶν ἁμόθεν γε, θεά, θύγατερ Διός, εἰπὲ καὶ ἡμῖν.
In der deutschen Übersetzung von WOLFGANG SCHADEWALDT (Homer: Die Odyssee. Deutsch von W. Sch. Hamburg 1998 [Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, Griechische Literatur 2]): „Den Mann nenne mir Muse, den vielgewandten, der gar viel umgetrieben wurde, nachdem er Trojas heilige Stadt zerstörte. Von vielen Menschen sah er die Städte und lernte kennen ihre Sinnesart; viel auch erlitt er Schmerzen auf dem Meer in seinem Gemüte, während er sein Leben zu gewinnen suchte wie auch die Heimkehr der Gefährten. Jedoch er rettete auch so nicht die Gefährten, so sehr er es begehrte. Selber nämlich durch ihre eignen Freveltaten verdarben sie, die Toren, die die
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„O liebstervater/ er ist aines verdienten tods gestorben vnd ich wunsch daz allen die solliche laster würcken/ kain anders noch pessers end zůthail werde/ mich rewet Egystus gar nit/ aber der vnnfal des arm seligen Ulissis bekommert mich/ Der da fern von seinem vaterland/ mitten im moe r/ in dem hauß Calypsos/ der goe ttin vnd tochter Athlantis/ mit suessen liebkosenden worten aufgehalten vnd angestrengt wirt/ Das er seins vater lands vergesse vnd bei jr beleibe. Aber Ulysses begert nur zůuor den rauch zesehen auß den Caminen seines hauß/ auffsteigen/ ist darnach willig one lenger frist in seinem vaterland zesterben. O vatter sorgstu nit für daz lieb haupt […]?“ (Od. I, fol. Ib-IIa, W 12,41-13,5).32
Rinder des Sohns der Höhe, Helios, verzehrten. Der aber nahm ihnen den Tag der Heimkehr. Davon – du magst beginnen, wo es sein mag – Göttin, Tochter des Zeus! sage auch uns!“ 32 RV, fol. 4a-4b: Cui Minerua: O pater (inquit) summe, nempe ille merito interijt exitio, quod utinam sortiatur quicunque talia perpetrabit. [Es folgen die abgesetzten Verse:] Sed me sollicitat miseri nunc casus Vlyssis,| Qui procul à patria magnos iam sustinet æstus.| In pelagi medio, qua totum in parte uidetur,| Insula conspicitur, nigris circundata lymphis.| Arboribusque obtecta domus, quam filia diri| [4b] Atlantis Circe [!] retinet, maria alta tuentis| Hic fluctus celsas (mirum) super ipse columnas,| Tellurem, pariterque omnem prospectat olympum.| [Das Weitere in Prosa:] Huius itaque filia illum cohibet miserum: continuoque et mollibus et blandis demulcet uerbis, ut Ithacae obliuiscatur. At Vlisses fumum é sua terra exeuntem cupiens, mortem optat. An tibi curæ non est charum caput o genitor? M, fol. IIa: Tum cesijs oculis Minerua: Pater inquit/ Saturniæ samiæ regnum: merita et ipse Aegysthus morte adfectus est: et quicunque eiusmodi patrauerit. Sed super bellicoso et infœlici Vlyxe meus angitur animus: qui tamdiu in mari circumflua et nemorosa insula sociorum errata luit. Illic exitiosi Atlantis/ qui maris vada et a terra in cœlum proceras columnas habet/ filia misere flentem lenibus verbis consolatur: ac mulcet/ ut Ithacæ obliuiscatur. Verum Vlyxes euaporantem domo fumum/ et in patria mortem obire desiderat. Neque remouet: quis apud classem Troiano in agro gratum tibi obtulit sacrificium. Od., 1,44-60: Τὸν δ᾽ ἠμείβετ᾽ ἔπειτα θεά γλαυκῶπις Ἀθήνη·/ „ὦ πάτερ ἡμέτερε Κρονίδη, ὕπατε κρειόντων,/ καὶ λίην κεῖνός γε ἐοικότι κεῖται ὀλέθρῳ·/ ὡς ἀπόλοιτο καὶ ἄλλος ὅτις τοιαῦτά γε ῥέζοι./ ἀλλά μοι ἀμφ᾽ Ὀδυσῆϊ δαΐφρονι δαίεται ἦτορ,/ δυσμόρῳ, ὃς δὴ δηθὰ φίλων ἄπο πήματα πάσχει/ νήσῳ ἐν ἀμφιρύτῃ, ὅθι τ᾽ ὀμφαλός ἐστι θαλάσσης./ νῆσος δενδρήεσσα, θεὰ δ᾽ ἐν δώματα ναίει,/ Ἄτλαντος θυγάτηρ ὀλοόφρονος, ὅς τε θαλάσσης/ πάσης βένθεα οἶδεν, ἔχει δέ τε κίονας αὐτὸς/ μακράς, αἳ γαῖάν τε καὶ οὐρανὸν ἀμφὶς ἔχουσι·/ τοῦ θυγάτηρ δύστηνον ὀδυρόμενον κατερύκει,/ αἰεὶ δὲ μαλακοῖσι καὶ αἱμυλίοισι λόγοισιν/ θέλγει, ὅπως Ἰθάκης ἐπιλήσεται· αὐτὰρ Ὀδυσσεύς,/ ἱέμενος καὶ καπνὸν ἀποθρῴσκοντα νοῆσαι/ ἧς γαίης, θανέειν ἱμείρεται. οὐδέ νυ σοί περ/ ἐντρέπεται φίλον ἦτορ, Ὀλύμπιε.“
Übersetzung von Schadewaldt: „Da antwortete ihm die Göttin, die helläugige Athene: ‚Unser Vater, Kronide, Höchster derer, die da herrschen! Ja, jener ist freilich dem verdienten Verderben erlegen. So möge auch jeder andere zugrunde gehen, wer derlei tut! Mir aber ist um den Odysseus, den kluggesonnenen, das Herz zerrissen, den Unglückseligen, der schon lange, entfernt von den Seinen, Leiden leidet auf einer umströmten Insel, wo der Nabel des Meeres ist. Die Insel ist baumreich, und eine Göttin bewohnt auf ihr die Häuser: des bösegesonnenen Atlas Tochter, welcher des ganzen Meeres Tiefen kennt und hält die Pfeiler, er selbst, die großen, die Erde und Himmel auseinander halten. Dessen Tochter hält den Unglückseligen, den Jammernden zurück, und immer sucht sie ihn mit weichen und einschmeichelnden Worten zu bezaubern, daß er Ithakas
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Natürlich hat sich einiges verschoben, wenn man mit philologischer Akribie nachrechnet: Odysseus will bei Homer nicht den Rauch seines Hauses, sondern „seiner Erde“ sehen, und er will dort nicht „ohne längere Frist“ sterben (die Abweichungen entsprechen Maxillus), sondern er sehnt sich aus Heimweh nach dem Tod. Homers bewahrte mythologische Glosse zu Atlas, der alle Täler des Meeres kenne, selbst aber die Säulen halte, die Himmel und Erde ringsum tragen, fällt kurzerhand aus (Volaterranus und Maxillus bewahren sie). Wichtiger ist aber, was bleibt, dass sich der homerische Text im Durchgang durch zwei Sprachen als hochgradig resistent erweist: So werden die beiden Adjektiva zu Kalypsos Worten – μαλακοῖσι καὶ αἱμυλίοισι λόγοισι (Od. I,56; RV: et mollibus et blandis uerbis) – recht akkurat wiedergegeben. Und die Metonymie lieb haupt ist zwar falsch übersetzt (nach charum caput in RV) und falsch bezogen – im griechischen Text heißt es φίλον ἦτορ (Od. I,60) und gemeint ist das ‚liebe Herz‘ des Zeus –, aber der stilistische Effekt, der Effekt einer historischstilistischen Alterität des homerischen Tons ist erhalten geblieben. Auf einige weitere Modifikationen möchte ich hinweisen: So wird im achten Buch das Lied des Demodokos von der Zerstörung Trojas in indirekter Rede wiedergegeben;33 Odysseus wird von Alkinoos mit Namen angesprochen, noch bevor er sich zu Beginn des neunten Buches eigentlich vorstellt (fol. 33b, W 80,17). Diese auffälligeren Abweichungen könnten entstehungsgeschichtlich begründet sein, vielleicht gehören gerade die Bücher 8-12 jener früheren Schicht an, von der Schaidenreisser in der Vorrede spricht (fol. va, W 7,10-21). Die fehlenden Holzschnitte und die Konzentration der Inhaltsangabe auf die Irrfahrten wären dafür weitere Indizien. Der prosaische Stil könnte auch das Ziel der Affektmäßigung verfolgen, immerhin ist auffällig, dass der von Euryalos in Zorn gebrachte Odysseus plötzlich in Versen spricht (fol. XXXIa, W 75,4-11; RV 55b-56a). Der vereinzelte Wechsel zum Vers, mitunter auch zum lateinischen Vers, bricht vor allem aber den Fiktionscharakter. Die Übersetzung wird durch dieses Changieren der stilistischen und sprachlichen Register als solche kenntlich gehalten. Die formalen Schichtungen inszenieren also mithin Historizität und Distanz des Originals. Die Versform kann aber auch aus inhaltlichen Gründen zur Anwendung kommen, so beim Gesang der Sirenen (LIIa, W 122,31-42; RV 92a-92b). Im Übrigen konnte sich Schaidenreisser bei allen diesen Wechseln ins Metrum Raphael Volaterranus zum Vorbild nehmen. Interessant ist eine Umdeutung in der Νέκυια, also bei Odysseus’ Gang zur Unterwelt (11. Buch). Hier hat Persephone einen aufschlussreichen Auftritt. Die berühmten Frauen der Mythologie sammeln sich nicht wie bei Homer auf Persevergäße. Doch Odysseus, der sich sehnt, auch nur den Rauch aufsteigen zu sehen von seinem Lande, wünscht sich zu sterben. Und da kehrt sich auch dir nicht das eigene Herz um, Olympier?‘“ 33 Fol. 34a-34b, W 82,27-46; so auch in RV, fol. 60b. Schon bei Homer (Od. VIII,499520) changiert die Stelle zwischen Resümee und direktem epischen Bericht, was bei M, fol. XVIIIa, bewahrt ist.
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phones Geheiß um Odysseus’ Opfergrube (Od. 11,225-227), vielmehr ist sie selbst es, die ihren Zug anführt: Und dieweil wir [Ulysses und seine Mutter Anticle] also redeten/ nempt war/ kam Persephone/ f ue ret mit jhr vil weibsbilder/ welche haußfrawen und t oe chter waren gewesen der tapffern helden [.] (fol. XLVIIb, W 112,14-17)
Hier wird offensichtlich das moderne, petrarkasche Paradigma des Triumphzugs eingespiegelt.34 Und bei dem folgenden mythologischen Exkurs über Neptuns Beischlaf mit Tiro bedient sich der Gott einer Anrede, die an den englischen Gruß, das Ave gratia plena erinnert: sey gegrue ßt/ vnd frewe dich weibßbild vnsers beyschlaffens/ es ist nit ain klains noch verachtlichs ding/ wann sich ain gott mit ainem menschen vermischt/ über ain jar wirstu zwai kindlin gep aeren [.] (ebd., W 112,30-33)35
Das ist eine der wenigen mythologischen Adaptationen.36 Dass in den Figurenreden mitunter von Gott und nicht von den Göttern gesprochen wird, weist in dieselbe Richtung; bemerkenswerter sind aber jene Stellen, die den homerischen Polytheismus beibehalten, etwa Odysseus’ Wort von „irgendeinem Gott“, der ihn davor bewahrt habe, gleich selbst zu Kirkes Haus zu gehen (Buch 10, fol. XLIIa, W 100,4). Detailtreue und Interesse lassen sich ferner an genau jenen Stellen festmachen, die im Repertorium von Alfen, Fochler und Lienert als besonders streichungsanfällig gelten, nämlich an den Gleichnissen. Ein signifikantes Beispiel findet sich bei der zweiten Charybdis-Episode, als sich der auf dem Floß einhertreibende Odysseus am Ast eines Feigenbaums festhält, um dem Strudel zu entgehen: […] kam wider zů dem verderblichen moerwunder Charibdim/ das verschlickte geschwind die b ae um vnd pr ae tter/ darauff ich gesessen ware/ vnd ward mir in dieser verschlückung nit mer dann ain ast/ aines wilden Feigenbaums (so gerad über Charibdim stůnd) zůthail/ daran hielt ich mich mit der handt/ stae met die f ue ß vnden an die wurzen/ also hangende wie ain nasse fledermauß/ auch offt versůchende/ ob ich mich auff den baum moechte schwingen/ Aber es war umb sunst/ ich můste inn grosser angst hangen vnnd war34 Das ‚produktive Missverständnis‘ ist schon bei Raphael Volaterranus (fol. 83b) angelegt, Schaidenreisser verdeutlicht die dortige Tendenz: Nobis igitur sic inter nos colloquentibus, ecce fœminæ ueniunt, quas Persephone adduxit, quæcumque fortium uirorum uxores seu filiæ fuere, ac omnes circa sanguinem conuenere. Bei Maxillus (fol. XXIIIIa) heißt es, näher am griechischen Text: Cum ita Mutuis verbis loquaremur: Proserpinæ iussu, quæ clarorum virorum coniuges fuerant et filiæ circum nigrum sanguinem astiterunt. 35 RV, fol. 83b: gaude mulier ob amorem nostrum. Nam anno uertente præclaros edes partus, quando non uani deorum lecti ac concubitus. Tu vero fer atque nutri. M, fol. XXIIIIa: Aue dilecta mihi puella: reuoluto anno pulchra paries pignora. Non enim vani inmortalium complexus. eorum tu curam suscipias: eos educes. 36 Weiteres ist aufgelistet bei ZEHETMEIER (wie Anm. 22), S. 82-93, allerdings ohne strenge Trennung von Adaptation in Text oder Paratext. Auch ZEHETMEIER kommt insgesamt zu dem Befund, dass gerade im Bereich der Götter keine konsequente Glättung oder Reduzierung zu bemerken sei.
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ten/ biß Charibdis die verschlückten br aetter wider auß speyete. Unnd ungef aerlich über so lang/ als ainer ain gůts mal hett moe gen entpfahen/ schoß mein zerbrochens schiff auß dem rachen Charibdis/ des ich behend war name/ ließ mich mit henden vnd fue ssen herab von dem baum/ fiel in das schiff mit grossem gerümpel/ saß darnach nider/ růdert mit den henden/ fůr also neün tag. (fol. LIIIIa, W 127,9-23)37
Beide homerischen Gleichnisse – die Fledermaus für die schwierige Hängeposition und der Hungrige für die lange Dauer – sind bewahrt oder werden vielmehr mit leichten Strichen und also durchaus reflektiert retuschiert: Dass sich Odysseus gegen Homer und die lateinische Übersetzung mit den Füßen abstützt, könnte man Schaidenreisser als Fehler anlasten.38 Ebensogut ließe sich aber sagen, er würde einen Mangel der homerischen Vergleichsrelation glätten wollen, denn das Wesentliche ist ja, dass sich die Fledermaus mit den Füßen hält und kopfüber hängt. Indem Schaidenreisser das Adjektiv ‚nass‘ hinzufügt, steigert er die komische Qualität der Szene, ihren Münchhausen-Charakter, der ja nicht zuletzt im ‚niederen Stil‘ des Vergleichs zum Ausdruck kommt. Als Moment der dezenten und überlegten Arbeit am Text mag schließlich die Streichung beim zweiten Gleichnis gelten, dem Schiedsrichter, der nach einem langen Tag der Entscheidung über die Wettkämpfe der Jungen müde und hungrig nach Hause kommt. Insgesamt können wir somit von einem hochgradig aufmerksamen Zugang sprechen, der sich der Historizität und des Eigenwerts des übersetzten Textes 37 RV, fol. 95b: Haque nocte tota ad exitialem rursus sum delatus Charybdim. Oriente autem sole ad Scyllæ scopulum Charybdimque diram impulsus sum: hæc maris aquam resorbuit. At ego ad altam caprificum superne sum arreptus, cui vehementer innixius ueluti uespertilio adherebam: nec facultas propterea aut pedes stabiliter firmandi, aut ascendendi fuit. Radices enim longe serpebant. rami quoque in sublime recedebant, ita proceritate charybdim obumbrarent. Aegre autem adherebam, quod illa rursus malum et carinam uorauerat cupienti: tandem mihi ferius reuersa sunt: Vt quando uir à foro ad prandium redire solet, qui multas litigantium iuuenum contentiones iudicat et cognoscit, sic tunc, demum ligna hæc ex Charybdis ore reiecta apparuerunt. Ego vero me tunc pedibus manibusque proiectis ad inferna demittens, sonitu ingenti in ipsorum medio cecidi, in hisque confidens manibus proprijs ea diuidebam. M XXVIIb: Per noctem iactatus/ illucescente die inter Scyllæ scopulum et diram deprehendor chaybdim. Quæ cum carinam absorberet: tum ego proceram caprificum amplexus/ vespertilionis more ubi pedibus inniterer non habebam: neque ascendere dabatur. A radice enim alte consurgebant rami: et charybdim inumbrabant. Illam ego tamen firme tenebam: donec rursus carinam et malum charybdis reuomuit et percupido mihi restituit: licet ferius. quemadmodum a concione ad cœnam redire solet qui multas litigantium iuuevnum lites iudicavit. Tum ego me in carinam demisi. Maxillus scheint eine interessante Lesung des FledermausVergleichs bei Homer zu bieten, Od. 12,433f.: τῷ προσφὺς ἐχόμην ὡς νυκτερίς· οὐδέ πῃ εἶχον/ οὔτε στηρίξαι ποσὶν ἔμπεδον οὔτ’ ἐπιβῆναι. Er bezieht ihn offenbar auf den folgenden negierten Satz, liest also: ‚Dem [Ast] anhaftend hielt ich mich; nicht wie eine Fledermaus aber hatte ich etwas, die Füße zu befestigen oder hinaufzusteigen‘ statt: ‚Dem anhaftend hielt ich mich wie eine Fledermaus und hatte nichts, usw.‘ Der Vergleich ist also als negativ aufgefasst, womit er eben auch stimmiger wäre. 38 So ZEHETMEIER (wie Anm. 22), S. 58.
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bewusst ist – und dies mag etwas heißen im Lichte der zeitgenössischen Übersetzungen und vor allem im Lichte der hochmittelalterlichen, höfischen Adaptationen, die im deutschen Kontext keineswegs vergessen waren, wovon neben Wickrams ‹Metamorphosen› auch die Troja- und Odysseus-Rezeption im Meistersang und in den Dramen des Hans Sachs zeugen.39 In diesem Zusammenhang erweist sich vor allem eben die Prosaform als eine kluge Wahl, die keineswegs selbstverständlich ist, wie wiederum Wickram, aber auch Murners ‹Aeneis› und Sprengs ‹Ilias› zeigen. Schaidenreisser entgeht mit der Prosa einer Tendenz der Popularisierung, die Form dokumentiert somit die Absicht einer möglichst getreuen Annäherung an das Original, sie dokumentiert den Anspruch, den ‚echten‘ Homer erstmals ins Deutsche zu bringen – und in diesem Anspruch manifestiert sich mithin die bildungsgeschichtliche Bedeutung von Schaidenreissers Übersetzung.40 Mit ihrer mittleren Stillage trifft sie vielleicht den homerische Ton und seinen Kontrast zum artifiziellen epischen Stil Vergils und Ovids recht gut und schließlich mag sie dem immer wieder behaupteten Romancharakter der Odyssee entgegenkommen.
39 Vgl. hierzu die Zusammenstellungen bei ALFEN/FOCHLER/LIENERT (wie Anm. 1), S. 44174 und bei FOCHLER (wie Anm. 1), S. 99-156; zu möglichen Spuren von Schaidenreissers ‹Odyssea› bei Grimmelshausen vgl. GÜNTHER WEYDT: Grimmelshausen und Homer. Zum Lektürekanon des Simplicissimus-Dichters. Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 8 (1986), S. 170-175; ein Resümee hierzu im Nachwort der Faksimile-Ausgabe der ‹Odyssea› von WEYDT/SODMANN (wie Anm. 1), S. 14f. 40 Schaidenreisser gibt in seiner Vorrede keine explizite Begründung für die gewählte Form; es ist aber gut möglich, dass er sich an die Argumente in der Vorrede von Raphael Volaterranus gehalten hat, wo es heißt: Prosam elegi orationem Vallam ante me imitatus/ qui Iliada sic vertit ut opus integrum in hoc genere nostris traderetur: simulque quod non satis uenuste hic auctor aliter convertatur, nec priorum aliquis tentauerit: cum ob angustiores carminis leges apud nos, qui musas colimus sæueriores, arduum sit fidem cum elegantia coniungere. Huc accedit modus diuersus, in quo si carmen carmini, aut uerbum uerbo reddatur, uidebis (inquit Hyeronymus noster) ordinem ridiculum, et poetam eloquentissimum uix loquentem (RV fol. a2r). ‚Die Prosaform wählte ich in Nachfolge meines Vorgängers Valla, der die Ilias auf diese Weise übertrug, damit das gesamte Werk in dieser Gattung den Unseren übermittelt werde; ferner, weil auf andere Art dieser Autor nicht angemessen genug übertragen werden kann, und weil es kein Früherer versuchte. Denn wegen der engeren Vorschriften des Gesangs bei uns, die wir gestrengere Musen verehren, wäre es mühselig, Treue mit Eleganz zu verbinden. Hinzu kommt eine unterschiedliche Grammatik, wodurch, wenn Lied mit Lied, oder Wort für Wort wiedergegeben wird, du – wie unser Hieronymus sagt – eine lächerliche Wortfolge und den beredtesten Dichter als kaum sprechfähigen sehen wirst.‘ Im Folgenden vermerkt Raphael, dass er vor allem im Bereich der Epitheta gekürzt habe, um den Redefluss nicht zu stören.
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III. Was einen neuen Zugang zu mythologischer Poesie und Mythenexegese im volkssprachlichen Kontext betrifft, ist das eigentlich Entscheidende nun aber die mehr oder weniger strikte, programmatische Trennung von homerischer Narration und humanistischer Deutung. Der deutende Zugriff wird ausgelagert in die Paratexte, wie Gérard Genette dies genannt hat,41 in die Rand- und Zwischenkommentare, in die Argumenta und in die großen Einleitungstexte, namentlich in die Vorrede und in die vorangestellte Inhaltsangabe. Die Verfahren der Aneignung laufen nicht wie in der mittelalterlichen Antikerezeption integral, sie bestehen nicht in einer textkonstitutiven Transformation der antiken Sujets und mit ihr der Mythologie. Mythologie und Mythographie, das Hersagen des Mythos und seine Kommentierung sind strikt getrennt, sie stehen zueinander im Verhältnis einer programmatischen Dissoziation. Die mise en pages macht dies unmittelbar evident. Der mythographische Zugriff ist paratextualisiert, der mythologische Haupttext bildet das Zentrum, auf das die Paratexte freilich bezogen sind. Mythologie, der mythologische Haupttext kommt einerseits für sich zur Geltung, andererseits ist er dennoch von der Mythographie, von den mythographischen Nebentexten gleichsam umstellt, abgesichert, perspektiviert. Diese mythographischen Nebentexte reproduzieren nun verschiedene Verfahren der Mythendeutung, der Textorganisation und der Rezeptionslenkung, sie bedienen unterschiedliche Rezeptionsinteressen und Lektüremöglichkeiten. Dies lässt sich am Beginn des zehnten Buches gut illustrieren (Abb. 2). Es finden sich zum einen indizierende Inhaltsglossen wie Beschreibung der Insel Aeolie oder Aeolus gibt Ulyssi die wind in aim liderin sack versperret (fol. XLb). Wir finden Hinweise auf rhetorische Muster, die meist lateinisch benannt werden – hier beispielsweise ORATIO (fol. XLIa), im Falle von Gleichnissen Simile. Sie bedienen offensichtlich ein neues Interesse am homerischen Stil. Wir finden historische, geographische und archäologische Erklärungen. Sie gehen fließend über in die eigentlich mythographischen Verfahren wie den Euhemerismus, der in der eingeschobenen Anmerkung zur „wahren Beschaffenheit“ des Aeolus zu fassen ist: Aeolus ain Künig über etlich Inseln in Sicilien etc. (fol. XLb).42 Analoges gilt für proverbiale Bemerkungen zum Geschehen wie Die tugent wirt allenthalben werde gehalten oder Besser verdorben als gestorben (fol. XLIa). Sie spiegeln die Tradition der mythographischen moralisatio oder allegoria. 41 GÉRARD GENETTE: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2001 (stw 1510) [frz. erstmals 1987]. 42 Das mythographische Kennwort von der „wahren Beschaffenheit“ mythologischer Gestalten und Daten verwendet noch die von Johann Joachim Schwaben revidierte Fassung von Benjamin Hederichs „Gründlichem mythologischen Lexikon“ (Leipzig 1770, Nachdruck: Darmstadt 1967).
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In solchen Kommentaren wird denn auch mitunter überkommene Kritik am Polytheismus geübt, so wenn Apoll als „Abgott“ betitelt wird (fol. XXXb, W 73,19) oder wenn sich zum Adulterium Veneris eine kritische Zwischenbemerkung über die Tempelhurerei findet, die auf Justinus und Laktanz als Autoritäten verweist (fol. XXXIIIa, W 79,44).43 An derselben Stelle findet sich am Rand der Hinweis auf die Grazien, die gerne „nackt und bloß“ gehen – hier wird also auf ein modernes ikonographisches Paradigma verwiesen, das mit einem alten apologetischen Interesse unmittelbar kollidiert.44 Nach wie vor oder auch neuerlich konzentriert sich die allegorische Deutung vorzüglich auf das Tugend-Laster-Schema, wie vor allem die Moralisierungen im erotischen Kontext zeigen. So heißt es zu Circe: Durch Circen will Homerus und all Poeten die wollust zůversteen geben/ welche durch jren siessen tranck/ das seind die leiblichen raitzungen/ vihische/ ungeperdsam und unvernünfftige leüt macht. (fol. XLIIa, W 99,34)
Dieser Ansatz wird wieder aufgegriffen in einem Kommentar zur Götterwurzel Moly, der seinerseits euhemeristische und allegorische Deutung verbindet: Mercurius der erfinder viler sprachen und künst/ [Euhemerismus] ain gott der gelerten und weisen/ gibt Ulyssi die wurtzel Moly/ das ist die weißhait/ [Allegoria] durch welcher krafft der theüre held all anfechtung der schedlichen wollust überwindet. (fol. XLIIIa, W 102,20)
Dieser Seitentext konfligiert auf eine geradezu erheiternde Weise mit dem mythologischen Haupttext. Dort meint Mercurius zu Ulysses, er werde ihm gegen Circe dise edle preseruatiue (ebd. W 102,33) geben.45 Man darf den Begriff durchaus anachronistisch verstehen, denn natürlich steigt Ulysses auch bei Schaidenreisser ins Bett der Göttin, was er mit den lapidaren Worten schildert: 43 Paphos ain statt in Cypern/ darinn Venus ainen kostlichen tempel hett/ in welchem die jungkfrawen ergeben worden der vnkeüschen g oe ttin inn flaischlicher üppigkait zůdienen/ als Justinus vnnd Lactantius bezeügen. 44 Gratie das ist die holdseligkaiten/ seind th oe chter Iouis nachdienerin Veneris/ geen nacket vnd ploß/ jre nammen seind Pasythea/ Egiales/ Euphrosyne. Dieses unkommentierte Herausstreichen der Nacktheit der Grazien verrät eine gleichsam voyeuristische Tendenz, die in ihrer Kontaktstellung zum moralischen Kommentar über die Tempeljungfrauen der Venus frappiert. Der Kölner Druck der lateinischen Übersetzung des Raphael Volaterranus von 1524 bietet übrigens am Titel eine mehrfache Abbildung der Grazien, oben mit einem Dichter, mutmaßlich Homer, in der Mitte, links und rechts vom Titel zu dreien und unten neben einer badenden Venus; diese Szene bezieht sich offenbar auf das reinigende Bad, das die Göttin der ‹Odyssee› zufolge auf Paphos nach dem Ehebruch mit Mars nimmt. 45 alsbald du zů jr kummen/ wirt sy dir ain trunck fürtragen/ aber dise edle perseruatiue so ich dir geben/ wirt dich nit lassen bethoren noch bezauberen; RV, fol. 78b: Tibi namque pharmacum frumento mixtum potioni offeret, uerum te nullatenus attonitum aut consopitum reddere ualebit, pharmaco bono quod præbebo non permittente; M, fol. XXIIa: Miscebit tibi et poculo et cibo venenum: sed te minime decipere poterit. hoc te unguentum tuebitur.
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darauff ich mitt jr zů beth gangen/ haben das spil Veneris mitainander gespilt (fol. XLIIb, W 103,41f.).46 Der „teure Held“ macht also genau das, was ihm Circe, eben noch Allegorie der Wollust, empfiehlt, aber er macht es eben mit dem göttlichen Präservativ – in den Worten der moralisatio gesprochen: er überwindet alle Anfechtungen der schändlichen Wollust, indem er sich auf sie einlässt. Schaidenreisser kommentiert dies nicht mehr moralisch, sondern vermerkt bloß: Ulysses vermischt sich mit Circe. Sobald der Mann die Logik des Begehrens bestimmt, ist die Wollust gebändigt, auch wenn sie evidentermaßen den Sieg davonträgt. Die allegorischen Glossen zur Circe-Episode ergeben so etwas wie eine kleine mythographische Meta-Erzählung zum mythologischen Bericht. Das ist der eine Aspekt. Sie legen zugleich ein Verfahren frei, das mir für den mythographischen Neuansatz wichtig erscheint: Die Narration wird gewissermaßen emblematisiert, sie wird immer wieder in paratextuellen Emblemen stillgestellt. Dies ist wohl kein Zufall. Die erste Ausgabe des ‹Emblematum liber› von Andreas Alciatus (1492-1550) ist 1531 in Augsburg erschienen. Schaidenreisser mag sie durchaus gekannt haben. Gerade die Odysseus-Embleme nehmen nun in der zweiten Ausgabe von 1550 deutlich zu: Es finden sich Embleme zur Götterwurzel Moly, zu Circe als meretrix, zu den Sirenen und zu Scylla.47 Ein neues Interesse an der ‹Odyssee› und eine zunehmende Textkenntnis scheinen also auf die wachsende Emblemkultur zurückgewirkt zu haben. Man wird dieses Interesse natürlich nicht direkt mit der deutschen Übersetzung gegenrechnen können, jedenfalls aber fassen wir in der emblematischen oder proverbialen Tendenz von Schaidenreissers Kommentaren eine klare Perspektivierung der Lektüre und ein so produktives wie aktuelles Verfahren der Textverwertung, das im Übrigen von den ‹Adagia› des Erasmus (1500) wohl wesentlich angeregt wurde.48 Aber auch für diese emblematisierende Tendenz kann von keinem wirklich stringenten Deutungsansatz und von keinem massiven Deutungseinsatz die Rede sein. Und so ist für Schaidenreissers mythographischen Zugang mitunter aufschlussreicher, was nicht kommentiert wird: etwa die ‚totale‘, inzestuöse Familie des Aeolus,49 die Feuerbestattung des Elpenor (Od. 12,8-15; ‹Odyssea› 46 RV, fol. 79b: ego subito illius adivi lectum; M, fol. XXIIa: ut iussi sic eius me lecto credidi. 47 Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. von ARTHUR HENKEL und ALBRECHT SCHÖNE. Stuttgart 1967. Taschenausgabe. Stuttgart/Weimar 1996, Sp. 1694-1702, zu Moly Sp. 315f. Die erste Ausgabe beschränkt sich nach Ausweis von HENKEL/SCHÖNE auf Polyphem (ebd., Sp. 1692). 48 Ein gutes Beispiel für Erasmus’ ‚Homer-Auslese‘ gibt Adagium I.5,4 (Evitata Charybdi in Scyllam incidi), Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. 8 Bde. Lat./Dt. Hg. von WERNER WELZIG. 7. Bd.: Dialogus Cui Titulus Ciceronianus […], Adagiorum Chiliades (Adagia Selecta) […]. Übers., eingel. und mit Anmerkungen versehen von THERESIA PAYR. Sonderausgabe, Darmstadt 1995, S. 396-403. 49 In yetzgenanter Insel regieret *Aeolus ain sun Hippote/ [es folgt die oben genannte, eingeschobene euhemeristische Anmerkung] Ain freünd der goe tter/ ain gewaltiger Künig der wind/ hat zwoelff leibliche kind/ sechs m aennlichs vnd souil weiblichs geschl aechts/ diese seind alle vnderainander eelich verbunden/ hausen vnd essen über tags die süne mit jrem herrn vatter/
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fol. Lb), die Sirenen, bei denen Schaidenreissers Circe bloß verdeutlichend hinzufügt, dass sie selbst es sind, die ihren Zuhörern die Haut abziehen (fol. LIa, W 120,15-20), während die Homerische Kirke bekanntlich darüber schweigt, warum auf der grünen Sirenen-Wiese ringsum die Knochen der Zuhörer liegen und die Häute verwesen (Od. 12,45f.).50 Dieses Fehlen der mythographischen Paratexte an Stellen, die förmlich nach einer moralisatio rufen, deutet auf eine Kultur des Hinnehmens, der Akzeptanz homerischer mythologischer Alterität hin, weil diese Alterität eben als eine vorbildliche, autoritative begriffen wird: autoritativ nicht im Sinne der historischen Authentizität des Epos, sondern im Sinne der poetischen Autorität der Dichtergestalt. Diese Autorität wird schon in der Titelvignette inszeniert: Homer erscheint als princeps poetarum im Sinne jener Neuentdeckung, von der wir erst-
die toechter mit jrer fraw můtter/ vnd leben in küniklicher scheinbarkaitt/ also das den gantzen tag das feür nitt erlischt/ sunder ist on vnderlaß ain sieden vnd praten in den kuchen/ ein st ae tes ein vnd außgeen. in dem hoff/ zůnachts schlafft ain yeder brůder bey seiner gespons vnd schwester inn seiden betthen mit schoe nen teppichen zierlich bedeckt. (fol. XLa, W 96,2597,1) Zwar wirkt hier die euhemeristische Glosse auf den Haupttext ein, ansonsten aber bleibt es bei dem lapidaren Hinweis am Rand: Aeoli hoffhaltung. 50 Erstlich fleüch die moerwunder Sirenes/ welche alle menschen so vnuerwarter und vnuerdachter ding/ jren gesang zůhoeren/ pflegen zůerwaichen/ also das sy jrer haußfrawen vnd kleinen kinden/ vergessende/ gar nit mer gedencken heim zůkummen/ so über alle maß siessigklich singen sy/ sitzende auff ainer grue nen wisen/ neben jn ligen grosse hauffen der todten gebain vnd heüt/ die sy jren zůhoe rern ab gezogen haben/ darauß abzůnemmen/ was für gef ae rlichait entlich gewarten mue ssen/ die jren gesang oren thůn geben. RV, fol. 92a: Sireneas primum fuge, quæ omnes homines ad eas adeuntes emolire ac demulcere solent. Quicunque igitur per ignorantiam illis propinquat, seu uocem illarum audiet, huic domum redeundi neque uxoris neque denique paruorum filiorum cura ulla fuerit: ita molliter canunt in prato sedentes. Plurimus autem in littore ossorum cumulus eorum qui auscultant, circaque cutes direptæ idem significantes conspiciuntur. M fol. XXVIa: Hinc abiens ad Sirenas primum adpelles: quæ canendi suauitate adeo omnium animos/ qui eas incauti audierint demulcent: ut neque ab uxore/ neque liberis amplius expectandi sint: neque quisque eorum sit reditu gauisurus. Illæ namque in prato ubi ingens humanorum ossium congeries/ et tabo absumptæ cutes sedentes: omnes illac transeuntes cantu ad se pelliciunt. Od. 12,39-46: Σειρῆνας μὲν πρῶτον ἀφίξεαι, αἵ ῥά τε πάντας/ ἀνθρώπους θέλγουσιν, ὅτις σφεας εἰσαφίκηται./ ὅς τις ἀϊδρείῃ πελάσῃ καὶ φθόγγον ἀκούσῃ/ Σειρήνων, τῷ δ᾽ οὔ τι γυνὴ καὶ νήπια τέκνα/ οἴκαδε νοστήσαντι παρίσταται οὐδὲ γάνυνται,/ ἀλλά τε Σειρῆνες λιγυρῇ θέλγουσιν ἀοιδῇ,/ ἥμεναι ἐν λειμῶνι· πολὺς δ᾽ ἀμφ᾽ ὀστεόφιν θὶς/ ἀνδρῶν πυθομένων, περὶ δὲ ῥινοὶ μινύθουσι.
Übersetzung von Schadewaldt: „Zuerst wirst du zu den Sirenen gelangen, die alle Menschen bezaubern, wer auch zu ihnen hingelangt. Wer sich in seinem Unverstande ihnen nähert und den Laut der Sirenen hört, zu dem treten nicht Frau und unmündige Kinder, wenn er nach Hause kehrt, und freuen sich seiner, sondern die Sirenen bezaubern ihn mit ihrem hellen Gesang, auf einer Wiese sitzend, und um sie her ist von Knochen ein großer Haufen, von Männern, die verfaulen, und es schrumpfen rings an ihnen die Häute ein.“
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mals in Petrarcas fingiertem Brief (‹Epistolae familiares› XXIV.12) ausführlich lesen können.51 Homers poetische Autorität ist es, die die Mühe des Übersetzens wie des Kommentierens rechtfertigt – das konnte Schaidenreisser schon in den Vorreden von Raphael Volaterranus und Georgius Maxillus lesen. Sie begründet und erklärt die Akzeptanz gegenüber dem Text und stellt eine programmatische Rezeptionsperspektive dar: on widerred [soll] das poema oder schreiben des aller gelertesten/ sinnreichesten/ vnd redsprechesten Poetens Homeri/ allen andern fürgezogen/ über andere zum hoe chsten gelobt/ geliebt/ vnd gelesen werden. Darinn der Printz vnd vatter aller Poeten/ die m oe rfart des geduldigsten vnnd vilgenietesten Helds Ulyssis/ also artlich/ ordentlich/ vnd zierlich beschreibt/ das ainem yeden weltmenschen auß allen weltlichen bue chern/ zů raitzung vnd lieb der tugent/ zů viler dingen erfarung/ auch zů laitung der vernunfft in aller handen weltweise gescheidigkait (meins bedunckens) nitt leicht etwas fruchtbarlichers/ auch zů vertreibung der langkweil oder melancoley/ nichts lieblichers noch bequemers sein/ gefunden/ geschriben/ gelesen/ vnnd erdacht mag werden/ als eben die vnvergleichlichen bue cher Homeri [.] (fol. iib, W 3,23-34)
Das poetische Vermögen des Dichterfürsten und -vaters spiegelt sich gleichsam simultan in der ethischen Vorbildlichkeit des Gedichts wie des Protagonisten. Dem Argument der auctoritas springen unmittelbar die moralisierenden Lektüren bei, die die Vorrede vorgibt: Odysseus als Sinnbild aines weldtweysen gescheyden, der dem Weltmenschen ein Vorbild gibt; Penelope als Paradigma der treuen Gattin (vgl. fol. iiib, W 5,1-5; das notorische Ehethema, die ‚Ehemarotte‘ des Humanismus ist auch hier zu fassen). Die Geschichte ist außerdem ein Remedium gegen Langeweile und Melancholie. Verwiesen wird auch auf die Frage des Geschicks oder der Schickung, das Homer verhandle – damit ist offensichtlich auf die im Kontext der Reformation neu aufflammende Prädestinationsdebatte angespielt, worauf Schaidenreisser allerdings nicht näher eingehen will, nur soviel will er gesagt haben, dass in diesen Fragen Homerus formlicher vnnd naher zů dem rechten weg redt/ dann vil Philosophi (fol. iiiia, W 5,47-54).52 Das Epos erweist sich somit als zeitlos aktuell: 51 Abb. 1. Homer wird von einer Muse bekränzt, Apollo reicht ihm die Lyra, von seinem Mund geht das poetische Feuer über auf Vergil, Ovid und Horaz; wer der vierte, etwas dahinter stehende Dichter sein könnte, bleibt dunkel, vielleicht jeder, der sich nun als solcher sehen wollte. 52 ZEHETMEIER (wie Anm. 22), S. 96f. meint feststellen zu können, dass Schaidenreissers Auffassung offensichtlich nicht die katholische sei, was mir allerdings kaum verifizierbar scheint. Eher steht er in der Tradition eines humanistischen Stoizismus gegenüber fatum und Fortuna, wie er seit Petrarca und vor allem auch von Erasmus vertreten und dann eben proverbial und emblematisch kultiviert wird. Der Odysseus seiner Vorrede und seiner Kommentare ist ja als „Weltweiser“ nicht nur der, der sich fügt, sondern auch der, der sich aktiv und willentlich in der Welt bewährt, also einen positiven Weltbezug verkörpern soll. Dass der Mensch seines Glückes Schmied sei, betont ja auch schon die erste Rede des Zeus. Schaidenreissers Interesse an der Frage belegt im Übrigen ein handschrift-
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Vnnd warlich vnnder anderen Goettlichen gaben/ darmit Homerus reychlich erfüllet gewesen/ ist gantz wunderbar das er so vor zway tausent vnnd fünff hundert vnnd sechß vnd zwaintzig jar gegrue net/ seyn schreyben/ sprüch/ sententzen also geschicklich gemasset vnnd gestelt hatt/ das sie sich auff ainer jeden zeit/ ains jeden alters/ gepreüch/ sitten/ vnd institut/ so aygentlich rewmen/ als w ae r in so langer zeit kain ae nderung nie geschehen. (fol. iiiia, W 5,42-47)53
Diesen programmatischen Betrachtungen in der Vorrede entsprechend, bedienen die mythographischen Paratexte rhetorische, stilistische, proverbiale und moralische Interessen, eröffnen aber auch weitere, andere Perspektiven wie geographische und historische bzw. historisch-euhemeristische Kenntnisse, Wissen um die ‚Altertümer‘ und um kulturelle Alterität. Die paratextuelle Mythographie verbindet heterogene Verfahren, sie repräsentiert das, was schon Jean Seznec die „enzyklopädische Tradition“ der Mythendeutung genannt hat.54 Zwar diversifiziert und fragmentiert sie den Text (schon indem sie den Blick der Lesenden von ihm abzieht), vor allem aber verhindert sie eine einsinnige Deutung. Was die Paratexte vorschlagen, sind Leseweisen, historische, moralische oder poetisch-stilistische Abwege, Unterbrechungen zum Haupttext. Sie sind momentane Leselenkungen und Ablenkungen, wobei dieses Moment der Ablenkung schon in der mise en pages realisiert ist: Sie führt den Blick auf die Seite, auf die Marginalien. Auf diese Weise wird zwar die Lektüre des Haupttextes angehalten, aber doch auch in ihrem Sosein zugelassen, die Mythologie wird in ihrer narrativen Materialität letztlich nicht tangiert. Paratextualisierung der Mythographie, das bedeutet Pluralisierung und Schichtung der Rezeption und der Wahrnehmung von Mythologie. Sie gliedert den mythologisch-mythographischen Gesamttext, den Schaidenreissers Buch präsentiert, in das homogene narrativ-mythologische Gefüge auf der einen Seite und in die disparaten mythographischen Nebenerzählungen auf der anderen. Letztere zielen auf ein reflexives Moment: auf das Bedenken des Textes, auf die Präsentation diversifizierter und fragmentierter Sinnangebote. Sie sind momentan, sie eröffnen stilistische, rationalisierende oder moralisierende Seitenwege, sie formulieren emblematische Aperçus. Es ist zu betonen, dass Schaidenreisser die Möglichkeiten einer aktuellen humanistischen Textpräsentation aufgreift, ihre Methoden und ihre thematische Ausrichtung aber ausweitet. Die Paratexte in den lateinischen Übersetzungen beschränken sich auf Argumenta und Hinweise zum Inhalt. Mythographische Erklärungen fehlen, der andere Bildungsstand ihres Zielpublikums mag sie obsolet machen bzw. fallen sie in den Zuständigkeitsbereich anderer, eigener Textsorlicher Eintrag in seinem ‹Ilias›-Exemplar (fol. 268b, oberer Rand) zu Achilleus’ Rede von Gut und Übel, das die Götter zuteilen (‹Ilias› 24,525-533): Sic a dijs comparatum est ut bonis et malis sint obnoxij. 53 Warum Schaidenreisser ausgerechnet auf die Zahl 2526, also auf eine Datierung der Odyssee im Jahre 989 v. Chr. kommt, ist mir nicht erklärlich. 54 SEZNEC (wie Anm. 7).
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ten wie der Kommentare oder eben der ‹Adagia› des Erasmus und der Emblembücher. Schaidenreisser re-integriert diese eigenständige mythographische Tradition in seine Übersetzung.55 Die ‚Autarkie‘ des mythologischen Textes scheint damit auf einen ersten Blick in den lateinischen ‹Odyssee›-Übersetzungen höher, es wäre aber falsch, das Verfahren der deutschen Übersetzung als einen Schritt zurück zu begreifen. Vielmehr erklärt es sich aus der notwendigen Arbeit der Vermittlung, die freilich nicht nur Rücksicht nimmt auf die geringeren Kenntnisse eines volkssprachlichen Publikums, sondern mit ihrem Augenmerk für Rhetorik und die proverbiale Qualität des Textes auch zeitgenössisch-gelehrte Interessen bedient. Im Übrigen sind Schaidenreissers diversifizierte Kommentierung und ihre mise en pages keineswegs neu, sondern schon im Mittelalter üblich. Die entsprechenden Verfahren und ihre zum Teil ausufernden Tendenzen haben u.a. Thomas Haye und Bernhard Papst für den Bereich des lateinischen Lehrgedichts beschrieben und analysiert.56 Dabei scheint ein Prozess der Verschriftlichung von Erklärungs- und Auslegungsverfahren vorzuliegen, die ursprünglich Gegenstand des mündlichen Unterrichts waren. Die rein indizierenden Anmerkungen der lateinischen ‹Odyssee›-Übersetzungen ließen sich unter diesem Aspekt gleichsam als ‚Blanko-Exemplare‘ eines gelehrten humanistischen Schulbetriebs auffassen, die von den Unterrichtenden mit weiteren, deutenden Glossen ausgestattet werden konnten – einen solchen Umgang mit dem Buch belegen etwa das mit zahlreichen handschriftlichen Bemerkungen versehene Exemplar der Maxillus‹Odyssea› an der Universitätsbibliothek Salzburg57 oder eben auch die Vallasche 55 Ein Überblick über die möglichen Quellen bei ZEHETMEIER (Anm. 22), S. 63-68 und FOCHLER (wie Anm. 1), S. 72, Anm. 7. Die Anmerkungen Schaidenreissers geben zumeist sehr präzise Verweise auf antike und moderne Autoren (darunter Herodot, Cicero, aber auch Boccaccio). An Schaidenreissers ‹Ilias›-Ausgabe lässt sich vielleicht sein sammelndes Vorgehen ablesen. Die handschriftlichen Eintragungen betreffen schon hier die skizzierten Bereiche: Es finden sich Hinweise zur Rhetorik (z.B. Chrisidis oratio, fol. 2b), proverbiale Bemerkungen (Amor impedit consilium, ebd.; Robor [sic!] deorum munus, fol. 6a) und antiquarische Erklärungen (Apollo pestilentie author, fol. 3b). Möglicherweise gehen Schaidenreissers deutsche Glossierungen vor allem auf entsprechende Notizen zurück, die er in sein mutmaßliches Exemplar der lateinischen ‹Odyssea› eingetragen hatte. 56 THOMAS HAYE: Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter. Analyse einer Gattung. Leiden (u.a.) 1997 (Mittellateinische Studien und Texte 22); BERNHARD PAPST: Text und Paratext als Sinneinheit? Lehrhafte Dichtungen des Mittelalters und ihre Glossierung. In: Wolfram-Studien XIX. Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Kolloquium 2004. Hg. von ECKART CONRAD LUTZ. Berlin 2006, S. 117-145. Ein konkretes, eindrückliches Beispiel für ein umfassend glossiertes (mittellateinisches) Epos gibt etwa die Handschrift der ‹Alexandreis› Walters von Châtillon der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, cod. 568 von 1175. Zur allgemeinen buchgeschichtlichen Entwicklung vgl. u.a. MARION JANZIN, JOACHIM GÜNTNER: Das Buch vom Buch. 5000 Jahre Buchgeschichte. Neuausgabe. 2., verbesserte Aufl., Hannover 1997, S. 160-202. 57 Salzburg, Universitätsbibliothek, F II 223.
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‹Ilias› aus Schaidenreissers Besitz. Die schon im Druck selbst intensiv glossierte deutsche ‹Odyssea› scheint solche Erklärungsverfahren an ein Publikum vermitteln zu wollen, das nicht an die schulischen Institutionen gebunden ist. Sie erwiese sich somit als ein aufschlussreiches Dokument für die Verbreitung eines aktuellen gelehrten Wissens und einer aktuellen gelehrten Kultur des Umgangs mit antiken Texten in einer neuen Gemeinschaft von Lesenden. Die Rubriken der Kommentare – Hinweise auf Inhalt und rhetorische Formen, Erklärung der ‚Altertümer‘ sowie moralisierende und proverbiale Auszeichnung des Textes – ermöglichen und illustrieren Formen des Verstehens und des Gebrauchs, sie zielen auf eine reflektierende und lebensweltlich-performative Verwertung. Im Zentrum steht mit der Narration selbst jedoch immer das Faszinosum des mythologischen Berichts in seiner Materialität. Dies manifestiert sich gerade an jenen intrikaten Stellen, an denen der Text seiner moralischpragmatischen Bändigung in den Paratexten voraus ist, sie gleichsam zum Verstummen bringt, wie im Falle Kirkes zu sehen war. Vor allem in der Darstellung des Erotischen und in ihren initiativen Frauengestalten durchbricht auch die deutsche ‹Odyssee› das Lektüreprogramm vom ‚Tugendlehrbuch‘ und konfrontiert es mit Öffnungen, die die Alterität, das Herausfordernde und zugleich die autoritative Geltung des antiken Epos sichtbar werden lassen.58 Im Übrigen deuten die Stilisierung Penelopes zum weiblichen Tugend-Pendant des Odysseus und jene Nausikaas zur ‚klugen Jungfrau‘59 darauf hin, dass Schaidenreisser auch mit einem weiblichen Lesepublikum rechnet. Explizit ist dies bei Wickram der Fall. Auf dessen Metamorphosenübersetzung sei nun an dieser Stelle noch kurz verwiesen. Sie zeigt einerseits Analogien zu Schaidenreissers Verfahren. Auch hier gibt es mythographische Paratexte, Argumenta und Hinweise inhaltlicher Natur, vor allem aber gibt es die großen zwischengeschalteten Deutungspassagen von Gerhard Lorichius. Auch in Wickrams ‹Metamorphosen› sind Mythologie und Mythographie getrennt. Und Wickram nennt schon im Titel ein modernes Ziel des Werkes, nämlich die Unterrichtung der Künstler in neuen Sujets: Es sei Jederman lüstlich/ Besonder aber allen Malern/ Bildthhauwern/ unnd dergleichen allen Künstnern nützlich/ Von wegen der ertigen Invention unnd Tichtung. Wieder zielt das Interesse vor allem auf die Mythologie in ihrer Materialität, in ihrer narrativen Substanz. Auch hier wird dieses Interesse freilich mythographisch abgesichert und gebändigt. Im Falle der ‹Metamorphosen› erweisen sich die hermeneutischen Zügel der Mythographie natürlich als um vieles dringlicher nötig. Und es bedarf eines weitaus höheren Aufwands, sie als moralisch taugliches, vorbildliches Buch 58 Und insofern verkürzt eben eine Aussage wie die ZEHETMEIERs (wie Anm. 22), S. 75: „Eines läßt sich an Sch.s Homerinterpretation wiederum erkennen: die Wendung des deutschen Humanismus ins Pädagogisch-Parainetische.“ 59 Vgl. den Kommentar zu Nausicaas Worten an Ulysses beim Aufbruch zur Stadt der Phäaken (er wolle hinter ihrem Wagen nachgehen, damit keine Gerüchte aufkommen): Nachrede ist den jungkfrawen zůmeiden. Die welt ist vol argwons (fol. XXVb, W 63,33).
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zu präsentieren, damit es – wie es in Wickrams Vorrede heißt – auch von jungen und alten Frawen und Junckfrawen/ sunder allen anstos gelesen werden könne (wobei wohl in erster Linie der Anstoß gemeint ist, den die Männer nehmen würden, wenn sie ein solches Buch in den Händen ihrer lesenden Mütter, Frauen und Töchter wüssten). Das Problem wird deutlicher und ausführlicher noch in Lorichius’ „Zuschreibung“ angesprochen.60 Karl Stackmann hat in seinem noch immer maßgeblichen Aufsatz die zentralen Tendenzen in Lorichius’ ‹Außlegung› herausgearbeitet:61 Es sind dies Kritik an und Warnung vor Ketzerei, Laster und Hofleben, wobei der ‚laszive‘ Text den Deuter zu der paradoxen These nötigt, der Dichter wolle das Unmoralische gerade durch seine unverstellte Darstellung anprangern. Stackmann präsentiert Lorichius’ mythographische Arbeit in luziden Synthesen. Freilich vermitteln sie gerade deshalb auch ein schiefes Bild. Denn der mythologische Text zwingt den mythographischen Kommentar zur Übernahme seiner Technik der Fragmentierung, der Andeutung, der Verflechtung. Immer wieder verlieren sich die Ausführungen in Assoziationen; die geschichtete mythologische Erzählweise Ovids lässt sie gleichsam zu keinem klaren, stringenten Gedanken kommen. Und so darf man Stackmanns Grundaussage, die Auslegungen des Lorichius würden das Verständnis des Textes „färben“ (S. 121), auch umkehren: Der Text verfärbt das Verständnis der Auslegungen.62 Worin sich nun dieser Text selbst, nämlich Wickrams Bearbeitung der ‹Metamorphosen›-Übertragung Albrechts von Halberstadt, deutlich von Schaidenreissers ‹Odyssea› unterscheidet, ist die stilistische und narrative Entfernung vom lateinischen Original im Reimpaarvers und in seinem beruhigten, holzschnittartigen Erzählstil – und diese Entfernung vom Original konnte man leicht erkennen, wenn man eine einigermaßen adäquate Vorstellung von Ovid hatte. Wickram greift wie gesagt auf Albrecht von Halberstadt zurück, er greift auf eine Übertragung zurück, die unter dem Prinzip der höfischen Adaptation Ovid ins Deutsche gebracht hat – wobei Albrecht für seine Zeit allem Anschein nach ver60 Wickram: fol. a3v, R 10,13-15; Lorichius: bijr-bijv, R 18,27-20,21; es bedarf deß heyligen Goe ttlichen worts Antidodum oder Tiriack, dann kann die heidnische Phantasterei nicht schaden oder vielmehr lehrt sie dann die Tugend, und genau dieses Gegenmittel wollen Lorichius’ Auslegungen verabreichen. 61 KARL STACKMANN: Die Auslegungen des Gerhard Lorichius zur ‚Metamorphosen‘Nachdichtung Jörg Wickrams. Beschreibung eines deutschen Ovid-Kommentars aus der Reformationszeit. Zeitschrift für deutsche Philologie 86 (1967). Sonderheft: Spätes Mittelalter. Wolfgang Stammler zum Gedenken. Besorgt von HUGO MOSER und KURT RUH, S. 120-160. 62 Ein äußert illustratives Beispiel hierfür gibt die ‚Auslegung‘ zu den Erzählungen der Minyaden am Beginn des vierten Buchs (R, S. 243-246): Hier durchdringen sich die unterschiedlichen Deutungsebenen, die die Rahmenhandlung und die Binnerzählungen (v.a. Pyramus und Thisbe, Mars und Venus) eröffnen. Das schöne System, das STACKMANN destilliert, tritt somit effektiv, also im Text in der reinsten und heitersten Konfusion in Erscheinung.
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gleichsweise moderat adaptiert, mithin die spezifisch ovidianische, rhetorische Organisation der Erzählung bewahrt (etwa die Apostrophen), und also erst Wickram Ovid so richtig verknittelt. Von Form, Stil und Narration her tendiert der mythologische Text bei Wickram jedenfalls zu jenen Verfahren der Adaptation, die in den populären Registern der zeitgenössischen deutschen Antikerezeption, in den Meisterliedern und Dramen von Hans Sachs weiter geübt werden. Wickram ist gewissermaßen das ‚missing link‘, was wiederum die Schichtung des poetischen Gebrauchs antiker Mythologie in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts vor Augen führt. Schaidenreisser verkörpert die innovative Tendenz, eine Tendenz der Europäisierung, die erst im 17. Jahrhundert wirklich greifen sollte.63 Dennoch: Epochale Innovation im Umgang mit der Antike und mit ihrer Mythologie erweist sich an der Pluralität, an der Schichtung der Interessen, die sich bei Schaidenreisser in der Paratextualisierung des mythographischen Zugriffs manifestiert. Und sie erweist sich in der Zentrierung des lesenden Blicks auf den materiellen, narrativen und nicht auf den hermeneutischen, adaptiven Wert der Mythologie. Die mythographischen Kommentare erzeugen keine essentielle Metamorphose, sondern bloß momentane Metamorphosen des mythologischen Grundtextes. ‚Toleranz‘ gegenüber der Mythologie heißt Perspektivierung des eigenen deutenden Zugriffs hin auf die Autorität des poetischen Textes. Sie bedeutet Repräsentation und Bewahrung seiner mythologischen Materialität, seiner narrativen Substanz. Die mythographischen, vor allem die moralisch-allegorischen Seitentexte dienen dabei nicht zuletzt der Rechtfertigung des Faszinosums. Sie sind argumentative Handreichungen an die Rezipienten, im Falle Ovids zumal an die Künstler; Handreichungen, die ihnen erlauben, dieses Faszinosum auch vor sich selbst zu rechtfertigen. Die paratextuelle Mythographie lässt sich somit als ein Instrument zur Bändigung jener Dynamik, jener invertierten Toleranz begreifen, von der anfangs die Rede war: der Tendenz zur Mythologisierung, zur Suspension der allegorischen, moralischen und historischen Perspektiven, die die mythologische Repräsentation immer mitzudenken erlaubt. Die verstärkte Präsenz der Auslegung in den volkssprachlichen Übersetzungen antik-mythologischer Epik dient der Verbreitung eines kommentierenden Wissens, das den mythologischen Text als Faszinationstyp akzeptabel macht. Sie bietet die Basis, den Anker für jenes ästhetische Potenzial und für jene Autorität, die der mythologische Text, nun gefasst als große Poesie, im elitären Humanis63 Bei Schaidenreisser ist die Disjunktion, von der PANOFSKY spricht, aufgegeben. Antiker Inhalt kann wieder in antiker Form repräsentiert werden, und zwar durch die Dissoziierung von Mythologie und Mythographie. Das Verfahren der Adaptation bleibt freilich auch bei ihm bestehen, und zwar im Bereich der Bilder: Die Antike erscheint im Kleid des 16. Jahrhunderts. So hat die Homervignette am Titelblatt in ihrem Bildsinn etwas Renaissancehaftes, in der Ikonographie bleibt Homer der ‚Erzpoet‘, der er schon im Mittelalter ist.
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mus längst erreicht hat. In diese Richtung deuten die divergenten Strategien der Rechtfertigung in den Vorreden: Während sich Raphael Volaterranus und Georgius Maxillus auf die literarische und sprachliche auctoritas Homers konzentrieren, die in ihren Übersetzungen unverstellt zugänglich werden soll, konzentriert sich Schaidenreisser auf die Vorbild- und Lehrfunktion von Sujet und Gestalten. In dieser Absicherung eines neuen mythologischen Interesses auch in der Volkssprache, erweist sich freilich jene elaborierte und spielerische Auseinandersetzung vorbereitet, die die deutsche Barockliteratur kultivieren wird.64 Das manifeste Interesse an der Mythologie besteht dabei schon bei Schaidenreisser und auch bei Wickram in ihrem Weltbezug, und ein solcher neuer Weltbezug ist zugleich der Grund des Interesses. Die antiken Epen werden zu Bibeln für das Diesseits, die nicht nur der Belehrung, sondern auch der Unterhaltung und Zerstreuung, der Bewahrung vor Melancholie und Langeweile, der künstlerischen Produktion und dem ästhetischen Genuss dienen. Damit wäre in Schaidenreissers ‹Odyssea› und in Wickrams ‹Metamorphosen› das große epochale Drama, wenn es denn ein solches gibt, gespiegelt, gespiegelt in der differenzierten mise en page dessen, was die Grundlage dieses Dramas bilden müsste, nämlich des mythologisch-mythographischen Textbuchs.
64 Anders stellt sich die Situation im italienischen Cinquecento dar, wo sich gerade in Auseinandersetzung mit antiker Epik ein neues Selbstverständnis und eine neue Kultur der adaptierenden Rezeption im volgare etabliert, die auf den eigenen volkssprachlichen Kanon zurückgreift, hierzu BODO GUTHMÜLLER: Antico-moderno, latino-volgare. Zum literarischen Traditionsbewußtsein im Cinquecento. In: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1999 bis 2002. Hg. von LUDGER GRENZMANN, KLAUS GRUBMÜLLER, FIDEL RÄDLE und MARTIN STAEHELIN. Göttingen 2004 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse, Dritte Folge 263), S. 231-246.
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Abb. 1: Simon Schaidenreisser: ‹Odyssea›, Titel des Erstdrucks von 1537, aus: WEYDT/SODMANN (wie Anm. 1).
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Abb. 2: Simon Schaidenreisser: ‹Odyssea›, Beginn des 10. Buches, fol. XLb und XLIa, aus: WEYDT/SODMANN (wie Anm. 1).
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Abb. 3: Titelblatt des Exemplars der Ilias-Übersetzung von Lorenzo Valla (Köln 1522) mit dem Besitzervermerk von Simon Schaidenreisser, Salzburg, Universitätsbibliothek, F I 580.
Ovids Göttersagen in illustrierten Ausgaben des 15. und 16. Jahrhunderts GERLINDE HUBER-REBENICH Der vorliegende Beitrag zu ‘neuen Wahrnehmungsmustern der antik-paganen Religion im Renaissance-Humanismus’ beschäftigt sich mit illustrierten «Metamorphosen»-Ausgaben des 15. und 16. Jahrhunderts. Die Wahl des Gegenstandes läßt sich leicht begründen: Warum die «Metamorphosen»? Das Werk hat wie kaum ein anderes zur Verbreitung mythologischer Kenntnisse in der Frühen Neuzeit beigetragen und ist auf so vielfältige Weise bearbeitet worden, daß schon die «Metamorphosen»Rezeption allein verschiedenste Formen des Zugangs zur antiken Götterwelt widerspiegelt. Warum die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert? Weil es sich zeigt, daß in dieser Zeit ältere, noch an mittelalterlichen Vorstellungen orientierte Rezeptionsformen allmählich durch neue ersetzt werden, oder vorsichtiger: weil neue an deren Seite treten, so daß ein Vergleich in dieser Periode besonders fruchtbar auszufallen verspricht. Und schließlich: Warum illustrierte Ausgaben? Weil die Bilder, die die Texte begleiten, zusätzliche Einblicke in die zeitgenössische Vorstellungswelt – von Produzenten wie Rezipienten – gewähren. Sie zeigen – im wahrsten Sinne des Wortes –, welches Bild man sich von den antiken Göttern machte, die in den entsprechenden Texten vorkamen, und lassen uns erschließen, wie man die paganen Mythen vor dem geistigen Auge visualisierte. Denn der Illustrator muß sich bei der Gestaltung des Ambientes – Kleidung, Raumausstattung und dergleichen – auf eine bestimmte Lösung festlegen, während der Text in diesem Bereich meist größere Spielräume läßt. Die folgenden Bildbeispiele können freilich keinen vollständigen Überblick über die Ovid-Illustrierung im Renaissance-Humanismus vermitteln. Sie sind jedoch so gewählt, daß sie die wichtigsten Formen und Etappen der «Metamorphosen»-Verbildlichung in der Wendezeit vom 15. zum 16. Jahrhundert repräsentieren. Die erste illustrierte Druckausgabe der «Metamorphosen» erschien 1484 in Brügge bei Colard Mansion.1 Der Text ist nicht der lateinische Ovid, sondern
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Cy commence Ouide de // Salmonen son liure jntitu= // le Methamorphose. Conte // na[n]t .XV. liures particuliers // moralisie par maistre Tho // mas Waleys docteur en the
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Gerlinde Huber-Rebenich
eine französische Prosabearbeitung des «Ovide moralisé» mit Zutaten aus dem «Ovidius moralizatus» und anderen Quellen.2 Dieses auf mittelalterlichen Vorlagen beruhende Amalgam von Paraphrase und Allegorese trägt in allen späteren Ausgaben den Titel «Bible des poëtes».3 Jedes der 15 «Metamorphosen»-Bücher wird darin mit einem Folio-Holzschnitt eröffnet, der sich zumeist auf den Anfang des betreffenden Buches bezieht. Diese Prototypen der «Metamorphosen»Illustration wurden zwar nur einmal, eben 1484, gedruckt,4 wirkten aber über Kopien, die der Pariser Verleger Antoine Vérard5 herstellen ließ, noch bis in die 30er Jahre des 16. Jahrhunderts fort. Zuerst erschienen diese Kopien in Vérards «Bible des poëtes» von 1493.6
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// ologie de lordre sainct domi= // nique Translate & Compi // le par Colard mansion en // la noble ville de Bruges. Fait & jmprime en la no // ble ville de Bruges en flan // dres par Colart mansion // citoien de jcelle ou mois de // May lan de grace mil qua= // tre cens iiij. xx. iiij (Brügge: Colard Mansion 1484). Eingehende Analyse der Quellen und möglichen Handschriftenvorlagen unter Berücksichtigung älterer Forschungsergebnisse in JEAN-CLAUDE MOISAN/SABRINA VERVACKE, Les Métamorphoses d’Ovide et le monde de l’imprimé: la Bible des poëtes, Bruges, Colard Mansion, 1484, in: Lectures d’Ovide, publiées à la mémoire de Jean-Pierre Néraudau, hrsg. v. EMMANUEL BURY, Paris 2003, S. 217-237 (‘Stemma’ S. 237). Der Inhalt bleibt, abgesehen von den üblichen variae lectiones, in all diesen Ausgaben konstant (vgl. JEAN-CLAUDE MOISAN/SABRINA VERVACKE, La naissance du monde dans la Bible des poëtes, in: La naissance du monde et l’invention du poème. Mélanges de poétique et d’histoire littéraire du XVIe siècle offerts à Yvonne Bellenger, hrsg. v. JEANCLAUDE TERNAUX, Paris 1998 [Etudes et Essais sur la Renaissance; 21], S. 121-145, hier: 121). Zum Charakter dieser «Metamorphosen»-Bearbeitung s. GHISLAINE AMIELLE, Les traductions françaises des Métamorphoses d’Ovide, Tours 1989 (Collection Caesarodunum: Textes et Images de l’Antiquité; 1), S. 31-76 – MARIE-FRANCE VIEL, La Bible des poëtes: une réécriture rhétorique des Métamorphoses d’Ovide, in: Edition critique et intertextualité. Réécritures, reprises, dérivations, hrsg. v. ANNE PASQUIER u. REAL OUELLET, Québec 2004 (Tangence; 74), S. 25-44. 1484 erschienen bei Colard Mansion zwei Auflagen des Werkes mit nicht ganz identischer Ausstattung; die Unterschiede sind für unseren Untersuchungsgegenstand jedoch irrelevant. Zu den beiden Auflagen s. MAX DITMAR HENKEL, De Houtsneden van Mansion’s Ovide moralisé, Amsterdam 1922, S. 6 f.; seine Zuordnung bekannter Exemplare zu den beiden Auflagen scheint nicht in jedem Fall zuzutreffen, s. die abweichende Beschreibung des inzwischen nur noch fragmentarisch erhaltenen Rudolstädter Exemplars bei MAX BELWE, Die Rudolstädter Landesbibliothek, in: 3. Jahresbericht der Erfurter Bibliotheks-Gesellschaft (1927), S. 3-29, hier: 27. Ein Exemplar der ersten Auflage ist Paris, BN, Rés. g. Yc. 1002, ein Exemplar der zweiten Auflage Paris, BN, Rés. g. Yc. 1028. Zu Antoine Vérard s. JOHN MACFARLANE, Antoine Vérard, London 1899 – MARY BETH WINN, Anthoine Vérard. Parisian Publisher, 1485-1512. Prologues, Poems and Presentations, Genf 1997. La bible des poetes. metha= // morphoze. nouuelleme[n]t // imprime a paris. Cy finist la bible des poetes de // methamorphoze Imprime a pa // ris ce premier iour de mars mil // mil [sic] quatre cens quatre vings // et treze par anthoine verard li= // braire
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Beide Serien waren in der Vergangenheit mehrfach Gegenstand der Forschung. Der Brügger Serie hat Max Ditmar Henkel bereits 1922 eine Studie gewidmet, in der er vor allem Vorlagen und Stilentwicklungen untersucht.7 Bis heute gültig geblieben ist seine Feststellung, daß der Künstler, der die Motive entworfen hat, die Personen und Geschehensabläufe nach Tracht und Szenerie in das niederländische Milieu des ausgehenden 15. Jahrhunderts eingeordnet, also zu Zeitgenossen der damaligen Leser und Betrachter gemacht hat.8 Entsprechend seien die Pariser Kopien von 1493, gemäß dem Geschmack des Publikums, vom eher bürgerlichen in ein raffinierteres, höfischeres Milieu verlegt.9 So ist etwa der französische Holzschnitt zum 8. Buch, der die Begegnung von Minos und Scylla zeigt, wesentlich detail- und dekorreicher als sein Brügger Pendant (vgl. Abb. 1 u. 2). Ins Auge fällt auch, daß weder Architektur und Ausstattung noch Kleidung und sonstige Requisiten antikisierende Züge aufweisen: Die Belagerung von Megara findet auf dem Holzschnitt im 15. Jahrhundert statt. Solche Aktualisierungstendenzen liegen grundsätzlich ganz auf der Linie mittelalterlicher Antikenrezeption, wie wir sie auch aus Texten kennen: Die zeitliche Distanz zu den Göttern und Heroen des Altertums wird aufgehoben; diese werden als zeitgenössische Herren, Ritter und Könige in das eigene Weltbild eingeordnet. Diesen Umstand betont auch Ghislaine Amielle, die der Serie von 1493 in ihrer Monographie zu den französischen «Metamorphosen»-Übersetzungen des 15. und 16. Jahrhunderts ein eigenes Kapitel gewidmet hat.10 Ihr geht es im Gegensatz zu Henkel weniger um die Stilentwicklung, sondern vielmehr um das Verhältnis von Text und Bild und die Frage nach dem Eigengewicht der Bilder, d. h. um die Frage, inwiefern sie Informationen oder Deutungen vermitteln, die der Text in dieser Form nicht enthält – vor allem im Hinblick auf eine allegorische Aufladung des dargestellten Geschehens. Und hier sei ein kurzer Seitenblick auf Wahrnehmungsmuster in der modernen Forschung über die Wahrnehmung antiker Göttersagen bei spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Künstlern geworfen: Hat man einmal die grundsätzliche Tendenz zur Assimilierung der antiken Inhalte an die eigene Zeit diagnostiziert,
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demourant a paris sur // le pont nostredame a lymaige // sainct iehan leuangeliste ou au // palais au premier pillier ou on // chante la messe des presidens (Paris: Antoine Vérard 1493). Der Text der «Metamorphosen»-Bearbeitung in dieser wie in späteren Drucken der «Bible des poëtes» entspricht im wesentlichen dem der Brügger Ausgabe; es fallen lediglich Teile der dieser beigegebenen Paratexte weg (s. MOISAN/VERVACKE [wie Anm. 2], S. 237). S. HENKEL (wie Anm. 4). HENKEL (wie Anm. 4), S. 28 f. – DERS., Illustrierte Ausgaben von Ovids Metamorphosen im XV., XVI. und XVII. Jahrhundert, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 19261927, hrsg. v. FRITZ SAXL, Leipzig/Berlin 1930, S. 58-144, hier: 62. HENKEL (wie Anm. 4), S. 32 f. – HENKEL (wie Anm. 8), S. 64. S. AMIELLE (wie Anm. 3), S. 31-76.
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läuft man Gefahr, jeden Befund in dieses Deutungsschema einzuordnen. So auch Amielle bei der Interpretation der Phaëthon-Illustration von 1493,11 die erheblich vom Brügger Prototyp abweicht (vgl. Abb. 3 u. 4):
Abb. 1: [Bible des poëtes], Brügge: Colard Mansion 1484: Minos & Scylla
11 Ihr folgt PIERRE MARECHAUX, Les métamorphoses de Phaëton: étude sur les illustrations d’un mythe à travers les éditions des Métamorphoses d’Ovide de 1484 à 1552, in: Revue de l’art 90 (1990), S. 88-103, v. a. 90-92.
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Abb. 2: Bible des poëtes, Paris: Antoine Vérard 1493: Minos & Scylla
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Abb. 3: [Bible des poëtes], Brügge: Colard Mansion 1484: Phaëthon
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Abb. 4: Bible des poëtes, Paris: Antoine Vérard 1493: ‘Phaëthon’ (= Vespasian)
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Auf dem Brügger Holzschnitt befindet sich – völlig textkonform – im linken Bildhintergrund Phaëthon im Gespräch mit seiner Mutter Clymene. Im Vordergrund sehen wir ihn vor dem Thron Sol-Apollos, der von einem FlammenNimbus umgeben ist. Die Gestik der beiden Personen deutet darauf hin, daß Phaëthon bereits seine Bitte, für einen Tag den Sonnenwagen lenken zu dürfen, vorgetragen hat, denn Sol weist mit der Rechten warnend auf den tödlichen Ausgang dieses Unterfangens: den Sturz und den Weltenbrand. Ganz anders das Motiv, das das 2. «Metamorphosen»-Buch des VérardDruckes von 1493 eröffnet. Amielle beschreibt es folgendermaßen:12 Phoebus siège au milieu de courtisans lorsqu’il reçoit Phaéton, tel un suzerain. Le roi, puisqu’il apparaît tel, est pourvu des insignes de la puissance temporelle, l’épée et la couronne. Il accueille l’hommage du jeune homme, agenouillé sur l’un des degrés qui conduisent au trône. Cette belle scène est animé: le graveur a choisi de figurer les membres de l’assemblée en train de converser. La représentation d’un chien, au premier plan, égaye le tableau, qui nous fait pénétrer au sein d’une cour royale [...].
Bei näherem Hinsehen beschleicht einen jedoch ein gewisses Unbehagen: ‘Phaëthon’ ist viel zu alt für einen Knaben, nichts kennzeichnet den thronenden König als Sonnengott, und die Insignien weisen auf einen Akt der Machtübertragung. Die umstehenden Höflinge sind in keiner Weise als Allegorien der Monate oder Jahreszeiten markiert, die im Text die regia Solis schmücken. Und so stellt sich denn auch heraus, daß Vérard an dieser Stelle einen Holzschnitt benutzt hat, der ursprünglich für den «Josephus de la bataille judaïque» (1492) bestimmt war. Er zeigt Nero, der Vespasian den Oberbefehl über den Krieg gegen die Juden erteilt.13 Der Künstler hat also keineswegs ein Bild geschaffen, in dem man alle Elemente aus der eigenen Zeit zurückübersetzen muß, um es mit dem Phaëthonmythos in Einklang zu bringen, sondern eine echte Textillustration zu Flavius Iosephus. Einen Phaëthon hat es für die «Bible des poëtes» wohl nie gegeben – zumindest ist kein Exemplar mit einem entsprechenden Holzschnitt bekannt. Ausschlaggebend für den Einsatz dieses Bildes zur Eröffnung des 2. Buches waren gewiß allgemeine formale Übereinstimmungen mit der Phaëthon-Handlung, nämlich daß es einen Devotionsgestus vor einem thronenden Herrscher in Anwesenheit von Hofstaat zeigt. Die Tatsache, daß Vespasian auch in allen Nachdrucken und Kopien den Phaëthon ersetzt, ist ein Indiz dafür, daß zeitgenössische Betrachter offenbar bereitwillig eine ähnliche Transferleistung vollzogen wie die moderne Interpretin und an den Widersprüchen zwischen Bild und Text nicht weiter Anstoß nahmen. Aber diese ‘Deutungsflexibilität’ lag eben auf seiten des Rezipienten, während der Illustrator in der Regel um eine textkonforme Wiedergabe bemüht war. 12 S. AMIELLE (wie Anm. 3), S. 50. 13 Vgl. Flavius Iosephus, Bellum Iudaicum III, 1-3. Derselbe Holzschnitt wurde auch noch einmal als Dedikationsbild im «Miroir Historial» von 1495/96 benutzt (s. WINN [wie Anm. 5], S. 350-357, v. a. 353 u. 356 [Abb. 5.11a]).
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Diese Wiedergabe ist tendenziell ‘wörtlich’ zu nehmen, auch wenn es gang und gäbe war, in Texten, Bildern – überhaupt in allen Dingen der Welt, dem ‘Buch der Natur’ – weitere Sinnebenen zu dechiffrieren.14 Wenn auf den Holzschnitten von 1484 und 1493 ff. allegorische Elemente vorkommen, dann deshalb, weil der Text sie vorgibt, nicht weil der Künstler sie selbständig aus diesem extrapoliert hätte. Mehr als in allen anderen Büchern der «Bible des poëtes», wo die allegorischen Auslegungen säuberlich von den Mythenparaphrasen getrennt sind, greifen im 1. Buch mit der Schöpfungsgeschichte, dem Sündenfall und der großen Flut heidnische und christliche Vorstellungen ineinander. Dieser ‘Synkretismus’ spiegelt sich auch in der Ikonographie der Illustrationen wider. Hier können wir uns auf die Betrachtung des Prototyps von 1484 beschränken, da die Pariser Kopie in den für uns wesentlichen Punkten nicht davon abweicht (Abb. 5): Die Person, die im Gebäude auf der linken Seite an einem Tisch sitzt und mit der Linken ein Ei aus dem geöffneten Fenster hält, ist der Dichter Ovid, dessen Name in der mittelalterlichen Tradition als ovum dividens etymologisiert wird,15 weil er mit dem Eisymbol die Ordnung der vier Elemente durch den Schöpfergott erklärt: Erde (= Dotter), Wasser (= Eiweiß), Luft (= Häutchen), Himmel (= Schale).16
14 Daß bei dieser Umdeutung nicht allen Zeitgenossen wohl war, belegen die Miniaturen, mit denen die Holzschnitte in den beiden Pariser Exemplaren BN, Vélins 559 (Abb. in MARÉCHAUX [wie Anm.11], S. 92, Abb. 5) und 560 übermalt sind: Sie zeigen einen Sonnengott mit Strahlennimbus, einen jungen Phaëthon und die vier Jahreszeiten, daneben weitere mit dem Text kompatible Dekorationen. Im – ebenfalls kolorierten – Grenobler Exemplar (Bibliothèque municipale, I.57.Rés.; Abb. bei AMIELLE [wie Anm. 3], Taf. III, S. 293) fehlt in dieser Szenerie Phaëthon. Dem Künstler scheint es entweder allein auf die Darstellung der regia Solis angekommen zu sein, oder er hat eine Bildvorlage mißverstanden. AMIELLE (wie Anm. 3), S. 50 f. deutet auf dieser Miniatur die weitgehend nackte Gestalt zu Sols Rechten als Phaëthon-Christus, der dem Bild einen mystischen Charakter verleihe und so die allegorische Ebene mit ins Bild bringe. Sie räumt zwar Widersprüche zur gängigen Christusikonographie ein und erkennt auch an, daß der Text keine Handhabe für diese Interpretation bietet. Was sie übersieht ist, daß der Nackte dort unmißverständlich mit dem Sommer identifiziert wird: Este y estoit tout nu [...] (wie Anm. 6 [hier wie im folgenden benutztes Exemplar: Paris, BN, Vélins 559], fol. XIIra). Weder handelt es sich also bei dem Holzschnitt um eine spezifisch höfische Adaptation noch bei der Miniatur um eine christliche Allegorie. 15 S. FAUSTO GHISALBERTI, Mediaeval Biographies of Ovid, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 9 (1946), S. 10-59, hier: 27 (mit Abb. 6) – FRANK T. COULSON, Hitherto Unedited Medieval and Renaissance Lives of Ovid (I), in: Mediaeval Studies 49 (1987), S. 152-207, hier: 159 f. – DERS. (Hrsg.), The ‘Vulgate’ Commentary on Ovid’s Metamorphoses. The Creation Myth and the Story of Orpheus (Toronto Medieval Texts; 20), Toronto 1991, S. 25, Z. 26-39 mit Anm. 27 – MOISAN/VERVACKE (wie Anm. 3), S. 137 f. 16 S. fol. IIra.
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Abb. 5: [Bible des poëtes], Brügge: Colard Mansion 1484: Buch 1 (‘Genesis’)
Im Zusammenhang mit der Erschaffung der Welt und ihrer Kreaturen ist auch von den Engeln und dem Sturz der hochmütigen in die Hölle die Rede, wo sie als horribles dyables fortexistieren.17 Beide sind auf der rechten Bildseite zu sehen. Daß die Teufel von einem wehrhaften Engel (man denkt an Michael) in die Tiefe vertrieben werden, hat keine Grundlage im Text, sondern speist sich wohl aus christlichen Vorstellungen, die hier in der Tat – textunabhängig – die Darstellungsweise beeinflussen. Unterhalb des Engels sieht man eine Stadt in der 17 S. fol. IIvb u. fol. IIIra.
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Sintflut versinken. Im linken Vordergrund haben Deucalion und Pyrrha Steine hinter sich geworfen, aus denen das neue Menschengeschlecht entsteht.18 Die Steine selbst sieht man nicht. Dafür erinnert die Konstellation der beiden nackten Gestalten an biblische Darstellungen mit der Geburt Evas aus Adams Rippe.19 Möglicherweise ist diese Ambivalenz hier gewollt, um im Bild die ‘unchristliche’ Erschaffung von Menschen durch Menschen christlich abzufedern. Halten wir also fest: Die «Metamorphosen»-Adaptation, die als erste im Druck illustriert wurde, ist zwar selbst von allegorischen Deutungen durchsetzt und steht fest auf dem Boden der mittelalterlichen Tradition. Die Bilder, die sie begleiten, sind nach eben diesem Text angefertigt. Sie versetzen das dargestellte Geschehen formal in zeitgenössisches – irdisches! –Ambiente, liefern aber in aller Regel keine zusätzlichen Deutungen, die nicht aus dem Text hervorgehen. Der ‘Erzengel Michael’ in dem stark christlich gefärbten ersten Buch bildet die absolute Ausnahme. Auch ist die Illustration zum ersten Buch die einzige überhaupt, die allegorische Elemente aus dem Text aufnimmt. Alle übrigen setzen ‘im Litteralsinn’ Szenen oder Szenenfolgen aus den narrativen Partien um. Sie spiegeln mithin nicht alle Sinnebenen der Textvorlage wider. Auch der erste in Italien gedruckte Zyklus von «Metamorphosen»-Illustrationen begleitet nicht den lateinischen Ovid, sondern eine volkssprachliche Adaptation der Verwandlungssagen, den «Ovidio metamorphoseos vulgare» des Giovanni dei Bonsignori.20 Die Illustrierung dieses zwischen 1375 und 1377 entstandenen Werkes, dessen editio princeps 1497 in Venedig gedruckt wurde,21 ist mit 52 Holzschnitten22 wesentlich umfänglicher als die der «Bible des poëtes». Der «Ovidio metamorphoseos vulgare» weist gegenüber dem lateinischen Original eine Reihe von Abweichungen und Ergänzungen auf: Erklärungen zu Realien aus der Welt der Antike, konkurrierende Mythenvarianten (insbesondere im Sinne des Euhemerismus), Ergänzungen zu von Ovid nur kurz gestreiften Erzählungen 18 So HENKEL (wie Anm. 4), S. 36. 19 Von der Erschaffung Adams und Evas ist in der «Bible des poëtes» ausdrücklich die Rede (fol. IIva u. IIIra), allerdings nicht im Kontext von Deucalion & Pyrrha. 20 Kritische Edition: ERMINIA ARDISSINO (Hrsg.), Ovidio Metamorphoseos vulgare / Giovanni Bonsignori da Città di Castello, Bologna 2001; grundlegende Untersuchung des Werkes, seiner Quellen und seiner Stellung innerhalb der Ovidrezeption in der italienischen Renaissance: BODO GUTHMÜLLER, Ovidio metamorphoseos vulgare. Formen und Funktionen der volkssprachlichen Wiedergabe klassischer Dichtung in der italienischen Renaissance, Boppard 1981. 21 [Giovanni dei Bonsignori] Ouidio methamor- // phoseos vulgare. Stampato in Venetia per // Zoane rosso uercellese ad instantia del // nobile homo miser Lucantonio zonta // fiorentino del. M. CCCC. LXXXXVII. // A di. X. del mese de Aprile (Venedig: Giovanni Rosso für Lucantonio Giunta 1497). Vgl. HENKEL (wie Anm. 8), S. 65-68 u. GUTHMÜLLER (wie Anm. 20), S. 282 f. (mit weiterer Literatur). 22 Davon einer doppelt: Streit um die Waffen Achills (Anfang Buch 13; wiederholt zu Beginn der Rede des Ulixes).
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aus anderen Quellen und auch allegorische Auslegungen. Die Änderungen gegenüber dem lateinischen Ovid dienten im wesentlichen dazu, das dargestellte Geschehen dem Bildungs- und Vorstellungshorizont des zeitgenössischen Publikums anzupassen.23 Die Illustrationen ihrerseits folgen bei der Wiedergabe der Handlung treu den narrativen Partien des «Ovidio metamorphoseos vulgare».24 Die ‘Allegorie’ hingegen finden, wie auch in der «Bible des poëtes», in ihnen keinen Niederschlag. Anders als dort versetzt die italienische Bildserie das Geschehen nicht mehr ausnahmslos in die gegenwärtige Realität: Hercules wird zwar in einem Gemach mit venezianischem Intérieur geboren, Apollo und Marsyas tragen ihren Wettstreit auf Bratsche und Schalmei aus,25 und die türmereichen Silhouetten, die auf vielen Bildern den Hintergrund füllen, entsprechen zeitgenössischen Stadtansichten. Eine solche sehen wir etwa auf der Illustration zu Apollo & Daphne (Abb. 6).
23 Die diesem Zweck dienenden Abweichungen vom ovidischen Original gehen nicht erst auf Bonsignori zurück, sondern schon auf dessen unmittelbare Vorlage, die «Expositio» des Giovanni del Virgilio, eine Bologneser Universitätsvorlesung über die «Metamorphosen» aus den frühen zwanziger Jahren des Quattrocento (s. GUTHMÜLLER [wie Anm. 20], S. 71-78 u. passim; zur Eigenart und Tradition der «Expositio» s. GERLINDE HUBERREBENICH, Der Metamorphosen-Kommentar des Giovanni del Virgilio, in: Der antike Mythos und Europa. Texte und Bilder von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, hrsg. v. FRANCESCA CAPPELLETTI u. GERLINDE HUBER-REBENICH, Berlin 1997, S. 20-33 – DIES., Die Metamorphosen-Paraphrase des Giovanni del Virgilio, in: Gli umanesimi medievali, hrsg. v. CLAUDIO LEONARDI, Florenz 1998, S. 215-229 – DIES., A Lecture with Consequences. Tracing a Trecento’s Commentary on the ‚Metamorphoses‘, in: Images of the Pagan Gods. Papers of a Conference in Memory of Jean Seznec, hrsg. v. REMBRANDT DUITS u. FRANÇOIS QUIVIGER, London/Turin 2009, S. 177-198. 24 Zur Text-Bild-Relation s. GERLINDE HUBER-REBENICH, Die Holzschnitte zum Ovidio Methamorphoseos vulgare in ihrem Textbezug, in: Die Rezeption der Metamorphosen des Ovid in der Neuzeit. Der antike Mythos in Text und Bild, hrsg. v. HERMANN WALTER u. HANS-JÜRGEN HORN, Berlin 1995, S. 48-57 mit Taf. 12-15, wo nachgewiesen wird, daß sich der Inventor der Serie nicht an Ovid, sondern an Bonsignori orientierte. Eine umfassende Untersuchung der Serie unter Berücksichtung der Bildtradition mythologischer Themen im Entstehungskontext, stilistischer Merkmale und der visuellen Umsetzung von Narration bietet EVAMARIE BLATTNER, Holzschnittfolgen zu den Metamorphosen des Ovid: Venedig 1497 und Mainz 1545 (Beiträge zur Kunstwissenschaft; 72), München 1998. 25 Die Schalmei bezeichnet auch der Text als solche (zaramella), während das Instrument Apolls als cithara angegeben wird (s. Bonsignori [wie Anm. 21], fol. XLIXvb).
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Abb. 6: Bonsignori, Ovidio metamorphoseos vulgare, Venedig: Giovanni Rosso für Lucantonio Giunta 1497: Apollo & Daphne
Aber es gibt auch Hinweise darauf, daß der Künstler zu seinen Gegenständen eine größere Distanz wahrt als die Illustratoren der «Bible des poëtes»: Götter sind nicht immer, aber häufig, als solche markiert, indem sie auf Wolken schweben und dem irdischen Bildraum enthoben sind (so Apoll und Amor auf Abb. 6). Zudem sind sie oft nackt dargestellt – nicht nur der kleine Amor, zu dessen Bildtradition die Nacktheit gehört,26 sondern auch andere, ebenso einige Sterbliche, etwa die dem Seeungeheuer ausgesetzte Andromeda. Die öffentliche Zurschaustellung von Nacktheit gehört nicht eben zu den Alltagserfahrungen des zeitgenössischen Publikums.27 Die dargestellten Personen, vor allem Götter und Heroen, sind häufig (wie hier Apoll) in antikisierende Rüstungen (Muskelpanzer mit Pteryges) gesteckt. Und die – zugegebenermaßen eher seltene – Verbildlichung von Verwandlungen (wie die Baumwerdung der Daphne) eröffnet eine übernatürliche, realitätsferne Dimension. 26 Vgl. Theodulf von Orléans, «De libris quos legere solebam et qualiter fabulae poetarum a philosophis mystice pertractentur», vv. 33 u. 35 (MGH Poetae I, hrsg. v. ERNST DÜMMLER, S. 543 f.) in Anlehnung an ältere mythographische Literatur. 27 Daß die Darstellung von Nacktheit als ungewöhnlich und anstoßerregend empfunden wurde, zeigt die Reaktion des Patriarchen von Venedig, Tommaso Donà, auf die Holzschnittserie zum «Ovidio metamorphoseos vulgare»: Er verfügte per Dekret vom 21. Februar 1497, u. a. unter Bezugnahme auf die Darstellung von nackten Frauen, die Exkommunikation des Verlegers, falls er den Druck in der geplanten Form auf den Markt bringen sollte. Zu diesem ‘Skandal’ s. GUTHMÜLLER [wie Anm. 20], S. 183 f.
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Obwohl die Serie zum «Ovidio metamorphoseos vulgare» von 1497 mit zahlreichen Nachdrucken, Kopien und Derivaten einen ungeheuren Einfluß auf die «Metamorphosen»-Illustrierung noch bis etwa zur Mitte des 16. Jahrhunderts ausübte, will ich es bei diesen kurzen Bemerkungen bewenden lassen, zumal zu diesem Text und seinen Bildern schon viel gesagt und geschrieben wurde.28 Worauf es ankommt, ist folgendes: Während der Text des «Ovidio metamorphoseos vulgare» der Erfahrungswelt der zeitgenössischen Leser weit entgegenkommt, verraten die Illustrationen, abweichend von der «Bible des poëtes», mit der gewählten Formensprache ansatzweise ein Bewußtsein dafür, daß die in den Mythenerzählungen dargestellte Welt nicht die der Gegenwart ist.29 Anders als die Bilder zur «Bible des poëtes», die immer den gleichen Text begleiten, wird der beliebte Kompositionstypus von 1497 (incl. ikonographisch treuer Kopien) bis 1528 komplett oder in Auswahl nicht weniger als 16 Mal in lateinischen Textausgaben verwendet, von denen sechs zudem den humanistischen Kommentar des Raphael Regius enthalten und die restlichen neben diesem noch weitere, auch ‘mittelalterlichere’ Auslegungen.30 Gerade in den reinen ‘Humanisteneditionen’, deren Herausgeber, Raphael Regius, die studierende Jugend nach eigener Aussage31 anhand der ovidischen 28 S. GUTHMÜLLER (wie Anm. 20), v. a. S. 182-185 u. 282-290 – DERS., Bild und Text in Lodovico Dolces Trasformationi, in: Die Rezeption der Metamorphosen des Ovid in der Neuzeit. Der antike Mythos in Text und Bild, hrsg. v. HERMANN WALTER u. HANSJÜRGEN HORN, Berlin 1995, S. 58-78 mit Taf. 16-24 – HUBER-REBENICH (wie Anm. 24) – DIES., Kontinuität und Wandel in der frühen italienischen Ovid-Illustration. Die Tradition der Holzschnitte zu Giovanni dei Bonsignoris Ovidio metamorphoseos vulgare, in: Metamorphosen. Wandlungen und Verwandlungen in Literatur, Sprache und Kunst von der Antike bis zur Gegenwart (FS für Bodo Guthmüller zum 65. Geburtstag), hrsg. v. HEIDI MAREK, ANNE NEUSCHÄFER u. SUSANNE TICHY, Wiesbaden 2002, S. 69-85 – BLATTNER (wie Anm. 24). 29 In einem früheren Beitrag (HUBER-REBENICH [wie Anm. 24], S. 54 f.), in dem ich mich ausschließlich dem Bildtypus von 1497 widmete und in dem weniger die Formensprache als vielmehr der Text-Bild-Bezug im Vordergrund stand, war ich zu dem Ergebnis gekommen, daß die venezianische Serie „zur Aktualisierung und ‘Normalisierung’“ tendiere. Dies trifft auf viele Bilder tatsächlich zu, ist aber nach dem Vergleich mit den Mansion/Vérard-Illustrationen und unter stärkerer Berücksichtigung der antikisierenden Formelemente zu relativieren. 30 Lateinischer Text mit Regius-Kommentar: 2 x Parma: Franciscus Mazalis 1505 – Venedig: Giorgio Rusconi 1509 – Mailand: Leonardus Pachel für Giorgio Rusconi 1510 – Venedig: Giorgio Rusconi 1517. – Lateinischer Text mit Regius-Kommentar und weiteren annotationes: Lyon: Etienne Gueynard 1510 – Lyon: Jacques Huguetan 1512 – Lyon: Johannes Rubionus 1513 – Lyon: Jacques Huguetan 1516 – dito 1518 – Lyon: Jacques Mareschal 1519 – dito 1524 – Lyon: Jean Crespin für Guillaume Boulle 1527 – dito 1528 – Mailand: Johannes Angelus Scinzenzeler 1517 – Mailand: Niccolò Gorgonzola 1518. 31 Vgl. die Widmungsvorreden zu den Ausgaben seines Kommentars und dazu BODO GUTHMÜLLER, Lateinische und volkssprachliche Kommentare zu den Metamorphosen, in: DERS., Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance, Weinheim
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«Metamorphosen» reiches Sachwissen und eine vielfältige copia verborum lehren und ihr Beispiele für richtiges und falschen Verhalten vor Augen führen will, wirken die Bonsignori-Illustration – zumindest aus heutiger Sicht – fehl am Platz. Zum einen waren humanistische Texteditionen ohnehin wesentlich seltener illustriert als volkssprachliche Versionen, da für die Gelehrten der Zeit der Text im Vordergrund stand und der Bilderschmuck eher der Sphäre der volkssprachlichen Antikenbearbeitungen, also einer Form der gehobenen Unterhaltungsliteratur für Lateinunkundige, zugerechnet wurde.32 Zum andern sollte man erwarten, daß gerade der humanistisch Gebildete sich daran stößt, wenn sein ‘auctor’ mit Bildern ausgestattet ist, die ihn gar nicht exakt wiedergeben, sondern vielmehr die aus den volgarizzamenti bekannte mythographische Tradition widerspiegeln. Der Erfolg der Serie von 1497 ist ein Indiz dafür, daß die Fronten in der Realität nicht so klar verliefen, wie die gedankliche Trennung in Humanisten und ‘Illitterati’ es im Rückblick vermuten ließe. Er ist auch ein Indiz dafür, daß die Seh- und Deutungsgewohnheiten, die bei den Lesern der «Bible des poëtes» einen Vespasian als Phaëthon durchgehen ließen, auch noch in humanistisch gebildeten Kreisen weiterwirkten. Ein Beleg dafür, daß man aber doch ein gewisses Mißverhältnis empfand, ist die Tatsache, daß acht Jahre nach der Erstverwendung der Bonsignori-Illustrationen in der Regius-Ausgabe für ebendiesen Text ein neuer Bildzyklus geschaffen wurde, der zwar seine Abhängigkeit von der ursprünglichen Serie nicht verleugnen kann, aber inhaltlich doch eigene Akzente setzt. Dieser erstmals 1513 bei Giovanni Tacuino gedruckten Bildserie33 wurde in der Vergangenheit nur geringe Aufmerksamkeit zuteil, wohl weil sie künstlerisch kein großer Wurf ist. Henkel spricht geradezu von „verballhornte[n ...] Kopien“.34 Bei näherer Betrachtung der Ikonographie erweist es sich aber, daß die Motive inhaltlich keineswegs ‘verballhornt’ sind, sondern im Gegenteil so modifiziert, daß sie besser in die kommentierte Textausgabe passen als ihre ‘vulgären’ Vorläufer. Der Anpassungspro-
1986, S. 37-46, v. a. 40-43 (zuerst in: Der Kommentar in der Renaissance, hrsg. v. August Buck u. Otto Herding [Kommission für Humanismusforschung, Mitteilung I], Boppard 1975, S. 119-139) – ANN MOSS, Latin Commentaries on Ovid from the Renaissance, Signal Mountain, Tenn. 1998, S. 29-37. 32 So GUTHMÜLLER (wie Anm. 20), S. 182 mit Verweis auf ERNST PHILIP GOLDSCHMIDT, The Printed Book of the Renaissance. Three Lectures on Type, Illustration, Ornament, Amsterdam 21966, v. a. S. 37 ff. 33 Ouidii // Metamorphosis cu[m] luculentissimis Ra // phaelis Regii enarrationibus: qui= // bus cu[m] alia q[uae]dam ascripta sunt: q[uae] i[n] // exemplaribus antea impressis // non inueniuntur: tum eorum // apologia quae fuerant // a quibusdam re= // praehensa. // Cum Gratia & Priuilegio. Impressum Venetiis Per Ioannem Thacuinum de Tridino. M. D. XIII (Venedig: Giovanni Tacuino 1513). 34 S. HENKEL (wie Anm. 8), S. 70.
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zeß ist zwar nicht in allen Fällen vollzogen oder gelungen,35 aber es gibt ausreichend Beispiele, die das Streben nach Textkompatibilität belegen, und ebenso gibt es Fälle, die zeigen, daß die Illustrationen – wie ein zweiter gelehrter Kommentar im Medium Bild – zusätzliches Wissen über die antiken Götter in die humanistische Ausgabe integrieren.36 Betrachten wir als erstes Beispiel den Holzschnitt zu Phrixus & Helle, der seit seinem Erstdruck Parma 1505 mindestens genausooft wie im Bonsignori-Text, dem er folgt, im lateinischen Ovid benutzt wurde, obwohl dieser die Sage gar nicht ausführt (Abb. 7): Dargestellt ist die Trauung von König Athamas mit seiner zweiten Frau Ino, ferner Inos Intrige: das Abkochen der Saatkörner, welche Phrixus und Helle, Athamas’ Kinder aus erster Ehe, aussäen sollen und die – gekocht wie sie sind – nicht aufgehen können; schließlich die Flucht der Kinder über den nachmaligen Hellespont auf dem goldenen Widder, den ihnen ihre Mutter Nephele zur Verfügung gestellt hat.37 Das Bild steht regelmäßig am Anfang von Buch 7 der lateinischen «Metamorphosen», das mit dem Argonautenzug beginnt. Es lag daher nahe, es mit der Geschichte von Iason und Medea in Verbindung zu bringen, zumal es sich um die Vorgeschichte dieser Episode handelt und auch einige Bildelemente – mutatis mutandis – auf beide Mythen bezogen werden können.38 Die Kopie von 1513 35 So stirbt etwa Achill nicht wie in der ovidischen Version nach Absprache zwischen Neptun und Apoll in der Schlacht durch den Pfeil des Paris (Met. 12.580-606), sondern wird durch eine List der Hecuba im Apollo-Tempel in einen Hinterhalt gelockt. Während die Bildvorlage von 1497, in Einklang mit dem Bonsignori-Text (wie Anm. 21, fol. CXIv) beide Versionen nebeneinanderstellte, behält der Illustrator von 1513 (wie Anm. 33, fol. CXXv) in diesem Fall gerade diejenige Fassung bei, die n i c h t zum Kontext paßt: den Hinterhalt im Tempel. Achills Mörder indes ist durch die Beischrift zweifelsfrei als Paris gekennzeichnet. 36 Eine Reihe von Veränderungen gegenüber den Vorlagen ergeben sich daraus, daß die Maße der Derivatserie erheblich verkleinert sind. Dadurch fallen nicht selten einzelne Figuren oder ganze Szenen weg, oder aber es werden Episoden, die ursprünglich auf einem Holzschnitt Platz fanden, jetzt auf zwei verteilt. Solche allein auf Platzmangel beruhenden Modifizierungen werden im folgenden nicht berücksichtigt. 37 So HUBER-REBENICH (wie Anm. 24), S. 55 f. 38 Diese Parallelen sind es auch, die ERICH KRAUSE, Die Mythendarstellungen in der venezianischen Ovidausgabe von 1497 (Diss. Würzburg), Tilsit 1926, S. 37, dazu verleiteten, den Holzschnitt von Anfang an als Iason & Medea zu interpretieren: „Im Vordergrund links setzt nun die Illustration des Ovidtextes mit der Jason und Medea-Geschichte ein [...] Man sieht Jason [...] hinter dem Pflug einherschreiten, neben ihm Medea, die einen Korb in der Rechten trägt und mit der Linken die Drachenzähne sät. Links vorne begrüßt Aeson das junge Weib seines Sohnes [...]“. Diese Auslegung krankt daran, daß Medea von der Logik der Handlung her Iason bei der Aussaat der Drachenzähne auf keinen Fall helfen darf, da sie zu diesem Zeitpunkt ihre Liebe zu dem Argonauten noch geheimhalten muß. Zudem ist Aeson laut Ovid, von dem KRAUSE das Bild ableitet, viel zu gebrechlich, als daß er an den Begrüßungsfeierlichkeiten für die Heimkehrenden teilnehmen könnte ([...] sed abest gratantibus Aeson, / iam propior leto fessusque senilibus annis.
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Abb. 7: P. Ovidius Naso, Metamorphoses mit Kommentar des Raphael Regius, Parma: Franciscus Mazalis 1505; Illustrationen gearbeitet nach dem Text von Bonsignori, Ovidio metamorphoseos vulgare: Phrixus & Helle
wandelt das Kompositionsschema von Phrixus & Helle so ab, daß es sich reibungslos in den lateinischen Kontext der Argonautensage einfügt (Abb. 8): Im Hintergrund sehen wir noch die Vorgeschichte mit Helles Sturz vom Widder, die zwar nicht bei Ovid, dafür aber im Kommentar des Raphael Regius referiert wird.39 Die Szene im Mittelgrund steht mit der Zähmung der Stiere für die Abenteuer in Colchis: Der Pflügende trägt hier nicht mehr ein ganz alltägliches Gewand, sondern einen Panzer, der ihn als Krieger kennzeichnet. Medea befindet sich zwar noch in unmittelbarer Nähe, hilft jedoch nicht, wie einst Helle, bei der Aussaat. Vorn links findet die Hochzeit statt,40 nun nicht mehr die von Athamas
Met. 7.162 f.). Dennoch schließt sich EKATERINI KEPETZIS, Medea in der Bildenden Kunst vom Mittelalter zur Neuzeit (Europäische Hochschulschriften; 28, 305), Frankfurt a. M./Berlin 1997, S. 120 Anm. 423 unter Ignorierung des Bonsignori-Textes Krauses Interpretation an. 39 Raphael Regius (wie Anm. 33), fol. LXVr (in leicht von Bonsignori abweichender Version). 40 Die Hochzeit ist im Ovid-Text nur implizit erwähnt (Met. 7.158: „tetigit c u m c o n i u g e portus“), konnte aber leicht als selbstverständliche Weiterentwicklung der Handlung empfunden und ins Bild gesetzt werden. Da der Illustrator ohnehin die Grundkonstellation der Vorlage übernahm, kam ihm eine Hochzeit von Iason und Medea an der Stelle, wo einst Athamas und Ino sich das Jawort gegeben hatte, gerade recht. Explizit
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Abb. 8: P. Ovidii Metamorphosis cum luculentissimis Raphaelis Regii enarrationibus, Venedig: Giovanni Tacuino 1513: Iason & Medea
und Ino, sondern von Iason und Medea.41 Durch die Beischriften besteht über die Identität der dargestellten Personen kein Zweifel. Die Vorlage wurde unter formaler Beibehaltung der Grundkonstellation auf den neuen Kontext zugeschnitten: Die neue Komposition paßt jetzt zum Ovid-Text und enthält – mit dem Ritt über den Hellespont – auch ein Element aus dem Kommentar, der ihn begleitet. Hier könnte man zu Recht einwenden, daß der Ritt auf dem Widder die enarrationes des Raphael Regius nicht notwendigerweise braucht, sondern einfach aus der Bildvorlage übernommen sein könnte – obgleich nicht dieselbe Phase der Handlung verbildlicht ist: 1497 verliert Helle gerade den Halt (Abb. 7); 1513 ist sie bereits ins Meer gestürzt (Abb. 8). Daß der Illustrator aber sehr wohl Informationen aus dem Kommentar aufgreift, zeigt ein anderes Beispiel: In Todesqualen richtet Hercules im 9. Buch eine Klagerede an Iuno, in der er seiner Erzfeindin seine Heldentaten vor Augen führt. Stellvertretend für all diese, hat der Illustrator von 1497 den Kampf gegen die Amazonen um den goldenen Gürtel ihrer Königin ausgewählt (Abb. 9).
4.982 ff.; letzteren nennt Raphael Regius (wie Anm. 33), fol. LXVIva in anderem Zusammenhang. 41 Wollte man die Szene als das Zusammentreffen von Iason und Medea deuten, möglicherweise als Iasons Schwur, sein Eheversprechen zu halten (Met. 7.94-97), wäre der Dritte im Bunde, dessen Anwesenheit sich nicht aus dem Text erklärt, als formales Relikt aus der Vorlage zu betrachten (so noch HUBER-REBENICH [wie Anm. 24], S. 56).
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Abb. 9: Bonsignori, Ovidio metamorphoseos vulgare, Venedig: Giovanni Rosso für Lucantonio Giunta 1497: Amazonenschlacht
Diese Illustration wird 1513 durch einen Holzschnitt ersetzt, der trotz des kleinen Formats erstaunlich viele Episoden in sich vereinigt (Abb. 10): die Tötung des Busiris und seines Sohnes Iphidamas, die Erlösung des Prometheus von dem Adler, der ihm das Herz zerfrißt, und die Übernahme der Himmelskugel (von Atlas, der selbst nicht zu sehen ist). Von all diesen Taten erwähnt Ovid allein die Tötung des Busiris – ohne Iphidamas.42 Die übrigen finden sich im Kommentar des Raphael Regius zum Stichwort ‘Äpfel der Hesperiden’:43 [...] Busirin [...] & Iphidamantem ipsius filium [...] in ara iovis in qua ipsi advenas necabant, imolavit. [...] pervenit ad Prometheum, quem supplicantem miseratus aquilam illius cor exedentem sagitta confecit. Quo quidem pro beneficio Prometheus ipsum admonuit ne ad auraea [!] poma rapienda abiret. Verum se ad Atlantem conferret sibique illa ipsum afferre iuberet. Ac pro Atlante caelum tantisper sustineret, dum ipse ab Hesperidibus auraea poma afferret. [...] Atlas igitur Herculis humeris cum imposuisset caelum, [...].
42 Vgl. Met. 9.183; auch bei Bonsignori (wie Anm. 21), fol. LXXIIIv. 43 Met. 9.190; Raphael Regius (wie Anm. 33), fol. LXXXIXva/b.
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Abb. 10: P. Ovidii Metamorphosis cum luculentissimis Raphaelis Regii enarrationibus, Venedig: Giovanni Tacuino 1513: Taten des Hercules
Das Bild stimmt bis in Einzelheiten wie den Iuppiter-Altar und die Haltung des flehenden Prometheus mit dem Kommentar überein. Es besteht kein Zweifel daran, daß dieser Text der Illustration zugrundeliegt. Das bedeutet zugleich, daß über dessen Vermittlung gelehrte Zusatzinformationen in den Bildzyklus integriert wurden.44 Es ist nur schwer vorstellbar, daß der Illustrator, zumal ein so ungeschickter wie unser ‘Meister’ von 1513, die Anregung zu diesem Bild selbständig aus der Lektüre des lateinischen Kommentars gewonnen haben sollte. Wohl eher wird hier der Einfluß eines humanistisch gebildeten Beraters, vielleicht eines ‘Verlagslektors’, spürbar. Dieser könnte dem Illustrator auch die lateinischen Beischriften vorgegeben haben (mündlich oder auf einem Stichwortzettel), die dieser – nicht immer korrekt – umsetzte. Die Beispiele, die wir bisher betrachtet haben, zeugen also von dem Bemühen, einerseits den Primärtext angemessen zu illustrieren, andererseits aber auch gelehrtes Wissen nicht nur im Kommentar, sondern ebenso im Medium Bild zu vermitteln. Die ‘verballhornten Kopien’ erweisen sich mithin als humanistisch inspiriert. Dafür daß ein gebildeter Berater dem Illustrator Zusatzinformationen einflüsterte, sprechen auch einige Bildelemente, die sich weder aus Ovid, noch aus Raphael Regius noch aus Bonsignori, der ja auch immer als leicht zugängliche Quelle für einen Illustrator in Frage kommt, erklären lassen. Ein solcher Fall ist der 44 Daß der Regius-Kommentar auch in anderen Fällen – allerdings eher ausnahmsweise – als Quelle für Bildentwürfe gedient hat, wurde nachgewiesen von MICHAEL THIMANN, Jean Jacques Boissard, Ovids Metamorphosen 1556. Die Bildhandschrift 79 C 7 aus dem Berliner Kupferstichkabinett, Berlin 2005, v. a. S. 63 u. 65-70.
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Holzschnitt zum Tod des Aiax, der mit einer weiteren Szene kombiniert ist, in der laut Beischrift Ulixes und Neoptolemus zu sehen sind (Abb. 11).
Abb. 11: P. Ovidii Metamorphosis cum luculentissimis Raphaelis Regii enarrationibus, Venedig: Giovanni Tacuino 1513: Tod des Aiax & Einholung des Philoctet
Die Serie von 1497 bietet keine Vorlage für einen gemeinsamen Auftritt der beiden. Auf dem Holzschnitt von 1513 stehen sie zusammen mit einer dritten männlichen Person bei einem Schiff. Die Textfolge legt nahe, daß es sich dabei um die Einholung des Philoctet handelt, den Ulixes unmittelbar nach dem rhetorischen Sieg über Aiax von Lemnos nach Troia bringt.45 Allerdings wird er weder bei Ovid noch bei Bonsignori von Neoptolemus begleitet. Auch der Kommentar des Raphael Regius zu dieser Stelle weiß nichts von seiner Teilnahme an der Mission. Die bekannteste Version, in der Neoptolemus bei der Einholung des Philoctet eine tragende Rolle spielt, ist die Tragödie des Sophocles. Der Illustrator scheint also Kenntnis von der sophocleischen Version gehabt haben. Es ist nicht wahrscheinlich, daß er sie aus einer Bildvorlage kannte, jedenfalls ist eine solche nicht nachweisbar. Daß er, ein Handwerker, mit der griechischen Tragödie vetraut genug war, um an der betreffenden Stelle im Ovid-Text selbständig den sophocleischen Philoctet zu assoziieren, ist ebensowenig denkbar. Möglicherweise ist die Anwesenheit des Neoptolemus in dieser Szene ein Indiz 45 Vgl. Met. 13.399-410; Bonsignori (wie Anm. 21), fol. CXr. Im Bild festgehalten ist die Aussendung von Ulixes und Neoptolemus durch Agamemnon.
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für die Mitwirkung unseres imaginären humanistischen Beraters, der dem Illustrator empfahl, die Vorlage um die Einholung des Philoctet zu erweitern, diese aber gegenüber der stark verkürzten ovidischen Fassung ausführlich in der sophocleischen Variante wiedergab. Daß diese nach der editio princeps von 1502 bei Aldus Manutius in den gebildeten Kreisen Venedigs präsent war, steht außer Frage. Auf Spekulationen darüber, wer dieser humanistische Berater gewesen sein könnte, will ich mich an dieser Stelle aus Mangel an Beweisen gar nicht erst einlassen,46 ist doch für unsere Fragestellung nicht entscheidend, welche konkrete Person für die neue Bildfindung verantwortlich zeichnet. Interesse verdient diese vielmehr deshalb, weil sie das Bemühen um einen neuen Zugang zu den ovidischen Verwandlungssagen dokumentiert. Rekapitulieren wir abschließend noch einmal, welche Wahrnehmungsmuster der antiken Götterwelt die behandelten Verbildlichungen reflektieren: Die beiden Serien zur «Bible des poëtes» stehen für eine Totalassimilation der antiken Sageninhalte an die Welt des 15. Jahrhunderts. Indem die Götter und Heroen zu Zeitgenossen werden, werden sie zugleich ihrer in dieser Welt inakzeptablen Göttlichkeit beraubt und geltenden Konventionen angepaßt. Ihre Funktion besteht – über den rein dekorativen Anspruch hinaus – darin, die Distanz zwischen der Gegenwart und dem dargestellten Geschehen zu überbrücken, um dieses in das herrschende System integrieren und darin nutzbar machen zu können. Auch die Holzschnitte zum «Ovidio metamorphoseos vulgare» von 1497 spiegeln in vielerlei Hinsicht den Erfahrungshorizont ihrer Zeit wider. Sie weisen aber auch eine Reihe von Elementen auf, die aus dem Rahmen des Gewohnten fallen und Befremden auslösen oder gar Anstoß erregen können. Die Bilder fügen sich nicht mehr mit all ihren Einzelheiten in den zeitgenössischen Kosmos ein. Der Betrachter wird mit einer fremden Welt konfrontiert. Die kleinformatigen Kopien zum lateinischen Ovid von 1513 knüpfen an diese Tendenz an, die – über die Distanzierung – letztlich zur Objektivierung des Gegenstandes, der Verwandlungssagen, führen wird. Diese sind Bildungsinhalte, die es möglichst klar und in möglichst reicher Fülle zu vermitteln gilt – daher das Streben nach Kompatibilität von Text und Bild und die Aufladung der Bilder mit gelehrtem Wissen. Das Bemühen um die Harmonisierung der beiden Medien deutet auch darauf hin, daß das gebildete Publikum offenbar weniger bereit
46 Man könnte sich fragen, ob vielleicht Raphael Regius selbst für die gelehrten Veränderungen an den Bildvorlagen von 1497 verantwortlich ist. Immerhin war er zur Zeit des Drucks von 1513 in Venedig, und er hat diesem, gegenüber dem Erstdruck von 1493, Addenda und Corrigenda beigegeben, d. h. er hat an seiner Gestaltung aktiv mitgewirkt. Ein positiver Beweis für seinen Einfluß auf die Bilder läßt sich m. W. nicht erbringen. In den Paratexten zur Edition von 1513 geht er nur auf die Veränderungen am Text ein; Bilder erwähnt er nicht.
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war als das breite Lesepublikum, gar nicht oder nur halbwegs passende Bilder als passend zurechtzuinterpretieren. Was sich an den ausgewählten Beispielen als neue Tendenz abzeichnet, ist aber eben nur eine Tendenz, kein flächendeckender Befund. Die Serien selbst enthalten eine Reihe von Belegen, die den skizzierten Ergebnissen zuwiderlaufen,47 und zeitgleich werden Editionen publiziert (und damit auch rezipiert), die eine andere (Bilder-)Sprache sprechen. Dennoch lassen die ausgewählten Fälle den Schluß zu, daß bei den Schöpfern der italienischen Buchillustrationen allmählich ein Bewußtsein dafür aufkam, daß die antiken Mythen in eine Welt gehören, die nicht die ihre ist.
47 Bsp. in Anm. 35.
Muslime im Bild des Spätmittelalters: Unterschiedliche Blicke auf die ‘Anderen’1 LIESELOTTE E. SAURMA-JELTSCH Einleitung: Der wechselnde Blick auf ein Bild Der Papstbesuch in Deutschland 2006, insbesondere die Regensburger Rede, brachte ein mittelalterliches Bild wieder ins Gespräch, das seit 2001 mehrfach Ziel ikonoklastischer Akte gewesen war, nämlich die Höllendarstellung von Giovanni da Modena. Dem 1415 gemalten Fresko in San Petronio in Bologna verschafften Gazetten, Internetseiten und in der Folge auch wissenschaftliche Analysen2 einen Bekanntheitsgrad, den es nahezu 600 Jahre nicht besessen hatte. Die in den Medien vielfach reproduzierte Darstellung3 des an einen Fels gefesselten nackten Propheten Mohammed wurde von muslimischen Gruppierungen trotz ihrer lange zurückliegenden Entstehung als unmittelbare Kränkung empfunden, die es auszumerzen und zu zerstören galt.4 Literarisch liefert Dante die 1
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Der Beitrag wurde überarbeitet im Zusammenhang des Projektes: „Images of Alterity in East and West“, gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Heidelberg „Asia and Europe in a Global Context: Shifting Asymmetries in Cultural Flows.“ In veränderter Form ist er auf Englisch unter dem Titel erschienen: Saracens. Opponents to the Body of Christianity. The Medieval History Journal 13/1, (2010) S. 55–95. Weiterführende Gedanken finden sich in meinem Beitrag The Metamorphic Other and the Discourse of Alterity in Parisian Miniatures of the Fourteenth Century. In: Images of Otherness in Medieval and Early Modern Times: Exclusion, Inclusion and Assimilation. Hg. von ANJA EISENBEIß und LIESELOTTE E. SAURMA-JELTSCH, Berlin 2012, S. 37-56, Pl. 1.11.10. ‒ Anja Eisenbeiß M. A. und Annette Hoffmann M. A. sei für die inspirierenden Gespräche gedankt. JULIAN NAMÉ: ‘Muslimische Identität’ und das explosive Vermächtnis des Multikulturalismus. Novo 82 (Mai / Juni 2006), URL: (6.2.2009). Archive ‘San Petronio’, 7. April 2006: Terrorist Attacks Thwarted in Italy, URL: (6.2.2009). Schon vor den Drohungen und Attacken gegen San Petronio hatte Adel Smith, Präsident der Unione dei Musulmani d’Italia gefordert, das Wandbild des Jüngsten Gerichts zu zerstören, da es kränkender sei als Salman Rushdies «Satanische Verse», dazu BERND WEILER: Das alte Europa, seine neuen Bürger und der Streit um religiös-weltanschauliche Symbole im öffentlichen Raum. In: Demographie. Bewegungen einer Gesellschaft im Ruhestand. Multidisziplinäre Perspektiven zur Demographiefolgenforschung. Hg. von
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berühmteste Vorlage für diese Einbindung Mohammeds in die Szenerie des Jüngsten Gerichts. Im neunten Höllenkreis5 sieht er unter den Stiftern von Gezänk und Zwietracht (scisma) auch den Propheten. Freilich war die Motivation zu dieser Darstellung hochpolitisch, ist doch der Prophet an prominenter Stelle – im Vordergrund des Wandbildes direkt über dem Höllenschlund – nicht als Einzelfigur zu verstehen, sondern bildet mit dem ihm gegenüber auf einem zweiten Felsplateau liegenden Gegenpapst Nikolaus V. (Pietro Rainalducci)6 ein zusammengehöriges Paar. In polemischer Weise wird der auf Betreiben Kaiser Ludwigs des Bayern gegen Johannes XXII. eingesetzte Papst, der sich nur kurz halten konnte (1328–1330), schon sehr bald mit einem Mönch Niccolò verschmolzen, der sich angeblich dem Islam zugewandt haben soll.7 Insbesondere im Kontext der Kirchenspaltung wird diese Gestalt geschmäht, für das Schisma verantwortlich gemacht8 und gemeinsam mit Mohammed zum Inbegriff jener Häretiker, die zu einer Spaltung des Christentums führen.9 Die literarische Schilderung Dantes, die sich dem Zustand der ‘gespaltenen’ Körper widmet, wird in der Wandmalerei nach der üblichen Ikonographie des Jüngsten Gerichts gestaltet, wenn Teufel sich mit ihren Krallen in die Gliedmaßen der Schismatiker schlagen und sie so als Sinnbild ihrer eigenen zerstörerischen Tätigkeit mit tiefen Wunden versehen.10 Was für den gläubigen Muslim blasphemisch erscheint, gibt in einer in der westlichen Kunst vertrauten Bildersprache die Vorstellungen des ausge-
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STEPHAN A. JANSEN, BIRGER P. PRIDDAT und NICO STEHR. Wiesbaden 2005 (ZU / Schriften der Zeppelin University zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik), S. 322–361, hier 341. Inferno XXVIII, 30 f.: dicendo: Or vedi com’io mi dilacco! / Vedi come storpiato è Maometto!, und 34–36: E tutti li altri che tu vedi qui / seminator di scandalo e di scisma / fuor vivi, e però son fessi così. Zitiert nach Dante Alighieri: Commedia. Inferno. Hg. von EMILIO PASQUINI und ANTONIO QUAGLIO. Mailand 1982 (I grandi libri Garzanti. Band 274). ANSGAR FRENKEN: Nikolaus V. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon VI (1993), Sp. 871–872. ILKA KLOTEN: Wandmalerei im großen Kirchenschisma. Die Cappella Bolognini in San Petronio zu Bologna. Heidelberg 1986, S. 73 ff. JOSEPH POLZER: Aristotle, Mohammed and Nicholas V in Hell. The Art Bulletin 46 (1964) S. 457–469, bes. 458. MARNIE ANJENETTE LEIST: The Virgin and Hell. An Anomalous Fifteenth-Century Italian Mural. Master Thesis University of Cincinnati 2005 (ProQuest Dissertations & Theses Full Text, Publication Number AAT 1429379), bes. S. 111 ff. Hier auch zum besonderen Interesse der Auftraggeber und der Kommune von Bologna an der Demonstration der Zugehörigkeit zu Johannes XXII. und dem damit verbundenen Häresievorwurf gegen Nikolaus V. Ähnlich in den um 1300 entstandenen Archivolten von Santa Maria in Toro bei Zamora; dazu YVES CHRIST: Das Jüngste Gericht. Regensburg 2001 (Die Welt des Mittelalters), Abb. 161, Detail, S. 157, und im Sinne Dantes vor allem in Buffalmaccos Höllendarstellung im Camposanto in Pisa, die auch für die Bolognini-Kapelle in San Petronio maßgebend ist; dazu vor allem KLOTEN (wie Anm. 7), S. 84 ff.
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henden Mittelalters vom Inferno wieder, in dem alle Stände ebenso wie Päpste und Kaiser gleich behandelt werden. Für den Propheten wurde unter den Verdammten keine eigene Ikonographie entwickelt. Er ist wie auch der Papst nackt und allenfalls sein Bart und das mit einer an kufische Zeichen gemahnenden Bordüre versehene Kopftuch signalisieren seine Fremdheit. Seine Identität ist ausschließlich anhand der Beschriftung zu erkennen. Für den Auftraggeber und den zeitgenössischen Betrachter ist der Prophet – sowohl in Pisa als auch in der Bolognini-Kapelle in Bologna – dazu instrumentalisiert worden, den angeblich abtrünnigen Papst der Schande preis zu geben. Das Skandalöse erwuchs aus dem Doppelbildnis und diente dazu, Nikolaus V. oder in Bologna die Gegner Johannes XXIII., die im Konzil von Pisa als Häretiker geschmähten Päpste Gregor XII. und Benedikt XIII., als Kirchenspalter zu diffamieren.11 Diesen schismatischen Gegnern galt das Interesse und sie sollten – den Topos des Niccolò und des Propheten aufgreifend – in effigie in die Hölle verdammt werden.12 Nicht die Charakterisierung der Gestalten lässt die Malerei so blasphemisch erscheinen, wobei die Zeitgenossen im 15. Jahrhundert diese ‘Schandmalerei’ durchaus in ihrer skandalisierenden Absicht verstanden, allerdings selbstverständlich in Bezug auf die Darstellung der innerkirchlichen Thematik, sondern der Kontext, die prominente Stellung und die namentliche Auszeichnung der Gestalten. Diente die Verurteilung im Bild den Zeitgenossen zur Identitätsbeschwörung der Anhängerschaft des bolognesischen Papstes Johannes XXIII., so wurde die ‘Schande’ im Bild von der relativ kleinen muslimischen Gruppierung in Italien 600 Jahre später in derselben Weise interpretiert und auch instrumentalisiert. Das Beispiel der Bolognini-Kappelle soll deutlich machen, dass bis weit ins 15. Jahrhundert hinein nicht die mimetische Darstellung des Propheten oder der Muslime, gar in historisierender Absicht13 vorgetragen, zu erwarten ist, sondern ein Imaginaire der Muslime. Eine größere Realitätsnähe oder Ferne der Dargestellten sagt noch nichts über deren Wertschätzung, Verständnis, positive oder negative Konnotation aus. Allein der Kontext übermittelt in der Regel die Bildintention, wobei gerade diese – wie am Beispiel der Bolognini-Kapelle offensichtlich wird – je nach Rezipient, historischen Umständen und Bilderwartung ganz unterschiedliche Interpretationen findet. Allerdings besteht wohl kein Zweifel an der bereits bei der Entstehung angestrebten polemischen Ausrichtung der An11 Zur besonderen Verbindung des Auftraggebers Bartolomeo Bolognini zu dem im Konklave in Bologna 1410 gewählten Johannes XXIII., der sich seinerseits als Nachfolger Johannes XXII. verstand, dem das Pisaner Schandbild zugedacht war, KLOTEN (wie Anm. 7), S. 13–15. 12 KLOTEN (wie Anm. 7), S. 86 f. 13 Eine eigenartige Form eines kulturellen Missverständnisses lässt sich in einer Zusammenstellung der Bilder des Propheten zum Karikaturenstreit beobachten. Alle historischen Darstellungen werden als nicht ‘realistisch’ kommentiert: Mohammed Image Archive. Depictions of Mohammed Throughout History, URL: (7.2.2009).
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ordnung, die den Propheten und den Papst zentral unmittelbar über Luzifer in ihrer Qual zur Schau stellt.
I. Der Wandel der Bedeutung des topischen Sarazenen Geradezu verblüffend ist die Erfahrung, wie topisch die Bildmotive sind, mit denen das Spätmittelalter in der Regel Muslime charakterisiert. Dies ist umso erstaunlicher, als die Kontakte in der Zeit der Kreuzzüge, aber auch durch Handel, Delegationen und Pilgerreisen relativ eng waren und insbesondere in Venedig, dem großen Tor in die Welt des Nahen und Fernen Ostens, die Künstler durchaus Muslime mit eigenen Augen sehen konnten. Nun kann man freilich, wie bereits das Beispiel der Cappella Bolognini zeigte, auch im 15. Jahrhundert nicht unbedingt eine mimetische Schilderung etwa osmanischer oder mameluckischer Persönlichkeiten erwarten, beginnt doch in dieser Zeit gerade eben erst das Interesse an der Darstellung der Besonderheit von Individuen, wie beispielsweise die Geschichte des frühen Porträts seit dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts erkennen lässt. Nicht das Abbild des ‘realen’ Muslims wird denn in Malerei und Graphik des ausgehenden Mittelalters zu suchen sein, sondern die Darstellungen werden in unterschiedlichen Zusammenhängen jeweils andere Aspekte des Imaginaire des Orientalen verdeutlichen. Im Folgenden sollen einzelne Varianten angesprochen werden, um anhand der kontextuellen Situierung – sowohl innerhalb des Objektes als auch von den Interessen der Auftraggeber und Rezipienten her gesehen – das Spektrum der jeweiligen Deutungsangebote darzustellen. In den literarischen und bildlichen Beschreibungen des ‘Ostens’ spielen neben den aus der Antike abgeleiteten Vorstellungen der unterschiedlichen Ethnien und Rassen14 die Sarazenen als Oberbegriff für alle nichtchristlichen, heidnischen, vor allem aber islamisch-östlichen Gruppierungen die entscheidende Rolle. Unter diesem Oberbegriff verbirgt sich nicht nur ein das ganze Mittelalter andauernder Diskurs, der jeweils mit anderen Feindbildern arbeitet, sondern er meint nicht selten auch den Feind in den eigenen Reihen. Schon sehr früh setzt sich die Vorstellung durch, Mohammed sei nichts anderes als der Gründer einer fehlgeleiteten Sekte und der Islam eine Häresie des Christentums, die mehr oder minder einsichtig einer Bekehrung gegenüber stünde. Insofern können mit Sara-
14 RUTH BARTAL: The Image of the Oriental. Western and Byzantine Perceptions. In: East Meets West. Art in the Land of Israel. Hg. von ASHER OVADIAH und NURITH KENNANKEDAR. Tel Aviv 1998 (Assaph, Section B. Band 3), S. 131–148, bes. 131 – DEBRA HIGGS STRICKLAND: Saracens, Demons, and Jews. Making Monsters in Medieval Art. Princeton (NJ) / Oxford 2003, S. 30–46.
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zenen durchaus auch Juden, Katarer und Waldenser umschrieben werden.15 Sarazenen stehen somit stellvertretend für die zu bekämpfenden innerkirchlichen Entwicklungen oder gar gesamthaft für mangelnde, fehlgeleitete Glaubenskraft. Da Juden und Muslime als eng miteinander verbunden verstanden wurden, soll doch Mohammed seine Lehre von jüdischen Gelehrten übermittelt bekommen und diese dann übel abgewandelt haben, wie vor allem Petrus Alfonsi und Petrus Venerabilis argumentieren,16 werden Muslime und Juden zumindest im 12. und auch noch im 13. Jahrhundert häufig nicht weiter differenziert. Ebenso können sich auch Mongolen und andere Völkerschaften unter dem zum Synonym für alle paganen Gesellschaften gewordenen Bild des Sarazenen finden.17 Zwar hat Geraldine Heng auf die zunehmende Kodifizierung des Lebens, des Rechts und damit auch der Differenzierung der Gruppen seit dem frühen 13. Jahrhundert aufmerksam gemacht und vor allem auf die im vierten Laterankonzil 1215 erlassenen Verordnungen hingewiesen,18 die eine visualisierte Differenzierung der Minderheiten durch spezielle Kleidervorschriften einfordern, aber darauf scheinen die Bilder selbst eher zögerlich zu reagieren. Es werden zwar unterschiedliche Formeln für orientalische Gestalten verwendet, ohne dass damit in der Regel jedoch konkrete ethnische Gruppen gemeint würden.
a) Der Sarazene als gleichwertiger, ritterlicher Kämpfer Am weitesten verbreitet ist die Ikonographie des tapferen Kämpfers, der sich durch Habitus, oft abenteuerliche Rüstungen und Waffendetails von anderen Gruppen unterscheidet. In der nach 1333 in Paris, wohl im Atelier von Richard de Montbaston entstandenen Handschrift mit Werken der Reiseliteratur und dem Alexanderroman werden die üblichen Formeln für den kämpferischen Orientalen in mehreren Bildern für ganz unterschiedliche Parteien vom Nahen bis in den Fernen Osten gleichermaßen eingesetzt (Abb. 1).19 15 Zu den unterschiedlichen Gruppierungen JOHN VICTOR TOLAN: Sons of Ishmael. Muslims through European Eyes in the Middle Ages. Gainesville 2008, bes. S. IX–XIII und 46 ff. 16 Dazu TOLAN (wie Anm. 15), S. 56 f. 17 STRICKLAND (wie Anm. 14), S. 192–206. 18 GERALDINE HENG: The Romance of England. Richard Coer de Lyon, Saracens, Jews, and the Politics of Race and Nation. In: The Postcolonial Middle Ages. Hg. von JEFFREY JEROME COHEN. New York (NY) 2000, S. 135–171, bes. 137 f. 19 Vgl. zur Handschrift Royal 19 D I der British Library, London CONSUELO WAGER DUTSCHKE: Francesco Pipino and the Manuscripts of Marco Polo’s «Travels». Diss. University of California, Los Angeles (Ca) 1993 (ProQuest Dissertations & Theses Full Text, Publication Number AAT 9320360), S. 338–346, Kat. Nr. 51. – Zum möglichen Atelier RICHARD H. und MARY A. ROUSE: The Commercial Production of Manuscript Books in Late-Thirteenth-Century and Early-Fourteenth-Century Paris. In: Medieval Book Production. Assessing the Evidence. Hg. von LINDA L. BROWNING. Los Altos Hills (Ca) 1990, S. 103–131, bes. 109–111.
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Abb. 1: Die Leute von Mien erheben sich gegen Kublai Khan. Reisehandschrift, Paris, nach 1333. London, The British Library: Royal 19 D I, fol. 103
Die gegen Kublai Khan sich erhebenden Aufständischen von Mien übernehmen den in der gesamten Handschrift für die ‘Fremden’, die Orientalen, verwendeten Typus des Sarazenen. Dieselben Formeln schildern auch den Kampf der französischen Kreuzfahrer mit den Sarazenen (Abb. 2). Hierzu gehören die beeindruckenden Krummschwerter, deren Bedrohlichkeit im Kreuzritterkampf durch die beiden aus dem Bild heraus in den Raum des Codex hinein ragenden Exemplare verstärkt wird. Gleichermaßen ist das um den Kopf gewundene, seitlich von einem einfachen Knoten zusammengefasste Tuch ein fester Bestandteil dieser Formel. Beide Parteien sind vollständig geschützt mit Ringelpanzern, über denen sie Waffenröcke tragen. Während aber die Partei Kublai Khans und der Kreuzritter durch den Helm mit dem heruntergelassenen Visier zusätzlichen Schutz genießt, der lediglich bei der hintersten Gestalt nicht so massiv wirkt, greift diese doch mit offenem Visier an, sind die orientalisierten Kämpfer mit bloßem Haupt angetreten und tragen lediglich den Turban. Der Erste aus der Schar von Mien und der Sarazenen ist denn auch bereits von einem Schwertstreich des mongolischen Heerführers beziehungsweise der Kreuzritter verletzt und holt gerade zum Gegenschlag aus. Die beiden Parteien sind jeweils spiegelbildlich angeordnet und
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lediglich der nur von einem Tuch geschützte Kopf und die martialischeren Waffen, vor allem das ‘Sarazenenschwert’, lassen die Kämpfer von Mien und die Sarazenen im Gegensatz zu den hier den westlichen Kämpfern gleichgesetzten Mongolen als üblichen Typus des ‘Orientalen’ erkennen.
Abb. 2: Kampf zwischen Sarazenen und Kreuzrittern. Reisehandschrift, Paris, nach 1333. London, The British Library: Royal 19 D I, fol. 189v
Alle Gruppierungen gehören einem phantastischen Imaginaire an, in dem Fremdes und Eigenes auf unterschiedliche Weise verwoben ist, und dies obwohl zu den Mongolen eine durchaus breite Literatur existierte, die sich gerade für deren physische ‘Schrecklichkeit’ interessierte.20 Auffällig ist zunächst die bei allen Parteien den westlichen Gewohnheiten vollständig angepasste Bewaffnung und Rüstung sowie der Schutz der Pferde durch Schabracken. Lediglich die Kämpfer von Mien reiten auf ungeschützten Pferden, was freilich eher in den Bereich der Variation als der Charakterisierung gehört.21 Alle in diesem Band versammelten Akteure kriegerischer Auseinandersetzungen sind also im weiteren Sinn dem 20 STRICKLAND (wie Anm. 14), S. 192–206, auch zur Gleichsetzung mit den Tartaren. 21 London, The British Library: Royal 19 D I, auf fol. 125 reiten die Kämpfer von Maabar auf Pferden, die von Schabracken geschützt sind.
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Körper des westlichen Rittertums eingegliedert. Freilich sind die Gewichte dennoch unterschiedlich verteilt, was allerdings mit heraldischen Mitteln erreicht wird. Am auffälligsten ist die Unterscheidung der Hautfarbe, sind doch die Leute von Mien wie auch die Sarazenen schwarz, während ihre Kontrahenten – und dies lässt das offene Visier des jeweils hintersten Kämpfers im Gefolge Kublai Khans wie auch unter den Kreuzrittern deutlich erkennen – Weiße sind. Die schwarzen Halbmonde auf der gelben Schabracke des Anführers der Sarazenen wie auch die gelben Halbmonde auf dem orangen-farbigen Schild des Anführers von Mien unterstützen ihre Zuordnung, während der Anführer der Mongolen durch die goldenen Lilien auf blauem Grund dieselbe noble heraldische Zuordnung erhält wie der französische König im Heer der Kreuzfahrer.22 Der sagenhafte Mongolenherrscher ist zu einem der französischen Krone äquivalenten Potentaten geworden. Der Angriff des Kreuzfahrerheers im Heiligen Land (Abb. 2) hat durch den goldenen Stern auf blauem Grund dieselbe auszeichnende Farbigkeit erhalten, verweist aber zugleich mit dem Stern auf die östliche Zugehörigkeit des Kreuzfahrerheers als Gesamtes.23 Die schwarze Hautfarbe jeweils einer der Parteien, nämlich der Sarazenen im weitesten Sinne, ist Teil der heraldischen Erzählweise, die in der Londoner Handschrift für sehr unterschiedliche Texte verwendet wird, und dient zunächst der Parteienbezeichnung, ohne damit eine Wertung oder konkretere Charakterisierung zu meinen. Die Leute von Mien und die Krieger aus dem Nahen Osten, denen die Kreuzfahrer im Heiligen Land begegnen, sind gleichermaßen Sarazenen. Der kriegerische Sarazene ebenso wie der christliche Orient sind somit ein weit entferntes Spiegelbild der eigenen Kultur, das diese nicht nur zum Maßstab macht, sondern die Anderen zu einer Art kulturanthropologischen Entwicklungsstufe der eigenen Kultur werden lässt. Die Bilder schaffen mit dieser Kombination von Fremdem mit Eigenem eine ‘Orientalisierung’24, die nicht so sehr der Abgrenzung dient als der Inferiorisierung des ‘Anderen’ auf eine noch der eigenen Kultur anzupassende Entwicklungsstufe. Zugleich verdeutlichen sie dem Betrachter die Ferne in einer ihm verständlichen Nähe.
22 London, The British Library: Royal 19 D I, fol. 187v: im Schiff, in dem die Kreuzfahrer die Sarazenenfestung belagern, sind um den französischen König weitere Parteien mit ihren heraldischen Zeichen versammelt. 23 FANNY CAROFF: Différencier, caractériser, avertir. Les armoiries imaginaires attribuées au monde musulman. Médiévales 38 (2000) S. 137–147, bes. 139. 24 IVAN DAVIDSON KALMAR: Jesus Did Not Wear a Turban. Orientalism, the Jews, and Christian Art. In: Orientalism and the Jews. Hg. von IVAN DAVIDSON KALMAR und DEREK JONATHAN PENSLAR. Hanover / London 2005 (The Tauber Institute for the Study of European Jewry Series), S. 3–31 und 225–228, bes. 9 f., betont ebenfalls, dass diese Varianten einer Orientalisierung im 13. Jahrhundert bereits als frühe Form des Orientalismus verstanden werden können.
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b) Der Sarazene als Berserker Noch deutlicher – allerdings mit einer anderen Note – wird diese rein imaginative Zusammenstellung der Sarazenen in der verwandten Handschrift der «Histoire d’Outremer» des Wilhelm von Tyrus gestaltet.25 Das 1337 datierte Manuskript dürfte aus demselben Umkreis stammen wie die Londoner Reisehandschrift, aus der Pariser Montbaston-Werkstatt und deren Nachbarn Geoffroy von Saint-Léger.26 Die Schlacht um Damaskus (Abb. 3) arbeitet mit denselben Mitteln wie die Kampfszenen in den Londoner Reiseerzählungen. Allerdings werden in diesen Bildern die Sarazenen nun eindeutig mit einer bestimmten Wertung dargestellt. Während die Gesichter in der Londoner Handschrift mit ihren riesig aufgerissenen Augen (Abb. 1 und 2) denjenigen der Weißen entsprechen und lediglich schwarz gefärbt sind, haben sie in der «Histoire d’Outremer» karikierende Züge gewonnen. Der grimmige Ausdruck, die ausgeprägt knolligen Nasen und das gekrauste Haar schaffen eine negativ konnotierte Variante der Schwarzen, die gleichwohl ambivalent bleibt. Ihre Attacke reiten die Sarazenen mit einer bloßen Tunika bekleidet mit nackten Füßen in den Steigbügeln ohne jegliche Rüstung. Das Berserkerhafte, das diesen Gegnern der Kreuzfahrer im Gegensatz zu denjenigen der Londoner Handschrift aneignet, schwankt zwischen Schrecken und Bewunderung, erhält aber durch die Heraldik eine eindeutige Erklärung. Die beiden hinter dem Anführer reitenden Sarazenen tragen Schilde, auf denen einmal ein schwarzer Drache und im anderen Fall zwei schwarze Hände zu sehen sind. Der schwarze Drache, ein häufiges Motiv zur Bezeichnung von Muslimen, wird als Kreatur oder sogar Synonym des Teufels verstanden und denunziert somit die zugleich bewunderte Kampfeswut der Gegner als satanische Kraft.27 Hatten die Kreuzfahrerhandschriften im 13. Jahrhundert besonderen Wert auf die Nobilitierung ihrer eigenen Leistung durch eine Angleichung ihres Gegners gelegt, sind die bereits mit einer gewissen Nostalgie behafteten Kreuzfahrertexte im 14. Jahrhundert in einem ganz anderen Milieu und mit veränderten Interessen illustriert worden. Insbesondere der erste Valoiskönig Philipp VI. verknüpfte seine Bestrebungen, sich in direkter Linie der Kapetinger zu verstehen, eng mit einer historischen Legitimation, die nicht nur in dem enormen Zuwachs der historischen Chroniken zum Ausdruck kommt, sondern auch in seiner Bemühung, eine neue Kreuzzugspolitik zu propagieren.28 In diesem Kon25 Paris, BnF: Ms. fr. 22495; dazu JAROSLAV THAYER FOLDA: The Illustrations in Manuscripts of the «History of Outremer» by William of Tyre. 3 Bde. Diss. Baltimore 1968 (Mikrokopie Ann Arbor [Mi] 1973), Bd. 2, S. 176–203. 26 COLETTE BEAUNE: Les manuscrits des rois de France au Moyen Âge. Le Miroir du Pouvoir. Paris 1997 (Bibliothèque de l’Image), S. 182: in der Werkstatt des Geoffroy von Saint-Léger entstanden (Richard H. und Mary A. Rouse). 27 Dazu CAROFF (wie Anm. 23), S. 142 f. – STRICKLAND (wie Anm. 14), S. 180 f. 28 ANNE D. HEDEMAN: The Royal Image. Illustrations of the «Grandes Chroniques de France» 1274–1422. Berkeley (Ca) u. a. 1991 (California Studies in the History of Art. Band 28), S. 63–68.
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Abb. 3: Die Schlacht um Damaskus. Wilhelm von Tyrus, «Histoire d’Outremer», Paris, 1337. Paris, Bibliothèque nationale de France: Ms. fr. 22495, fol. 154v
text, in dem auch die Auseinandersetzung mit England eine Rolle spielt,29 geht es vor allem darum, Philipps direkte Nachfolge des Heiligen Ludwig zu beschwören. Hierzu dienen eine Reihe historischer Handschriften, unter denen auch Texte wie die «Histoire d’Outremer» in auffällig vielen Exemplaren produziert werden.30 Der betont berserkerhaften, ja teuflischen Kampfeswut der Sarazenen in der Pariser Handschrift (Abb. 3) steht umso vorteilhafter das angemessene und vor allem disziplinierte, also ‘kultivierte’ Verhalten der Kreuzritter gegenüber: Sie kämpfen für eine gerechte Sache gegen vom Satan verleitete Gegner. In diesem Bild wird das fortgesetzt, was wir schon in der Londoner Reisehandschrift be29 Philipp VI. sammelt ab 1334 für einen Kreuzzug und benutzt dieses Geld 1335–1337 zur Finanzierung des Krieges gegen England; dazu HEDEMAN (wie Anm. 28), S. 64. 30 FOLDA (wie Anm. 25), Bd. 1, S. 402–477, stellt eine große Gruppe von vergleichbaren Handschriften zusammen, die alle durch ein ausgeweitetes Bildprogramm und ähnliche Entstehungsumstände auffallen.
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obachteten, eine Konkretisierung der Kreuzfahrer und nun negative Imaginierung der Sarazenen. Die Rüstungen, Helme und die von den Kreuzfahrern getragenen Achselstücke mit den Wappen sind im Vergleich zu der phantastischen Schilderung der angreifenden Sarazenen von einem ganz anderen Realitätsgrad. Die in der Pariser Handschrift angelegte Unterstellung einer vom Teufel inspirierten sarazenischen Kampfeswut ist bereits im Text Wilhelms von Tyrus vorgeformt.31 Die mimetische Angleichung der sarazenischen Gegner an ‘wilde Schwarze’ ist freilich nicht ethnisch zu lesen, sondern schöpft aus der Vorstellung dämonisierter Fremder, die in die Regionen der außerchristlichen Welt gehören.32 Jeffrey Jerome Cohen verweist auf die in den «Grandes Chroniques» mit dämonischen Masken vor Córdoba gegen das Heer Karls des Großen antretenden Sarazenen und wertet dies als Ausdruck der Reflexion über das ‘Sarazenische’, das durchaus auch als christliches Konstrukt verstanden worden sei.33 In dem für Charles V. hergestellten Exemplar der «Grandes Chroniques de France» wird diese Textstelle auch ins Bild umgesetzt, und die in den anderen Darstellungen lediglich als schwarze Pendants zu den christlichen Rittern erscheinenden Gegner tauchen hier vor dem eher verdutzt als erschreckt wirkenden Karl mit dämonischen Masken auf.34 Dem Zeitgenossen muss diese künstliche Verfremdung verständlich gewesen sein, kannte er doch ähnliche Masken etwa vom Charivari.35 Die Wandelbarkeit des Sarazenenbildes ist also durchaus bewusst geblieben, so dass es mit den in diesen Darstellungen zum Ausdruck gebrachten negativen Vorurteilen keineswegs als festgeschrieben gelten kann.
II. Heiden – Juden – Osmanen: eine ‘orientalisierende’ Überblendung Die vorgestellte Formel für den Sarazenen wurde nicht aus einem neuen Repertoire kreiert, es handelt sich vielmehr um eine synthetische Gestalt: In ihm scheint das Bild des Heiden, manchmal auch des antiken Kriegers und nicht selten des Juden auf. Die Frage, wie weit die historische und geographische Konkretisierung der Erzählung in der Zeit vor 1400 ein Darstellungskriterium ist, kann wohl nicht summarisch beantwortet werden. Der Sarazene ist meist nicht nur in seiner Wertung ausschließlich über den Kontext lesbar, sondern sogar in 31 STRICKLAND (wie Anm. 14), S. 169. 32 JEFFREY JEROME COHEN: On Saracen Enjoyment. Some Fantasies of Race in Late Medieval France and England. Journal of Medieval and Early Modern Studies 31/1 (2001) 113–146, bes. 115–122 mit weiterer Literatur. 33 COHEN (wie Anm. 32), S. 121 f. 34 Paris, BnF: Ms. fr. 2813, fol. 119; Abb. S TRICKLAND (wie Anm. 14), Abb. 80 und S. 169 f. 35 Paris, BnF: Ms. fr. 146, fol. 34; Abb. CHARLES STERLING: La peinture médiévale à Paris 1300–1500. Bd. 1. Paris 1987, Abb. 23.
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seiner Zuordnung zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. In der so genannten Arsenal-Bibel36, einer Handschrift, die zwischen 1250 und 1254 in der letzten Hochburg der Kreuzfahrer, in Akkon, als altfranzösische Bibel hergestellt wurde, nehmen die einzelnen Volksgruppen einen geradezu symbiotischen Gemeinschaftscharakter an. Wahrscheinlich im Auftrag des französischen Königs entstanden, werden die Juden – etwa in Moses Rede an das Volk – mit den phrygischen Mützen der Antike als allgemein fremdländisch gekennzeichnet.37 Die israelitischen Kämpfer tragen konische Helme mit einem nach vorne ausschwingenden Grat, die der antikischen Version der phrygischen Mütze entsprechen.38 Dem mittelalterlichen Verständnis einer antikischen Rüstung folgen auch der auf einem Lederwams befestigte Schienenpanzer und die Achsel und Unterleib schützenden vergoldeten, schmalen Schienen, die in der Arsenal-Bibel verschiedentlich vorkommen. Die alttestamentlichen Kämpfer sind somit in dieser für den französischen Hof hergestellten Handschrift von Akkon gleichsam kolonialisiert, indem sie als biblische Vorläufer des zeitgenössischen Ritters verstanden werden und zugleich aufgehen in jener allgemein orientalisch-antikischen Kultur, in welcher die Kreuzfahrer das christianisierte Heilige Land sehen und die, so belegte Daniel Weiss eindrucksvoll, der königlichen Ideologie einen adäquaten Ausdruck verlieh.39
a) Orientalisierung und Ambivalenz Gleichwohl scheint das ‘multikulturelle’ Ineinanderübergehen der unterschiedlichen Gruppen nicht ganz so wertfrei übermittelt zu werden, wie man zunächst glauben möchte. Im Frontispiz zum Buch Judith (Abb. 4) reitet das assyrische Heer des Holofernes mit den Bannern des Orients – Halbmond und Stern – als westlich gerüstete Schar gegen Bethulien. Nur wenig deutet darauf hin, dass es sich nicht um die übliche ritterliche Schar handeln könnte, wie sie etwa auch die alttestamentlichen Reiterheere der ebenfalls in königlichem Auftrag entstandenen Morgan Bibel vertreten.40 Über dem Ringelpanzer, dessen Kapuze sie über den Kopf gezogen haben, tragen die Kämpfer einen Eisenhut. Die Dreieckschilde und ein geschürzter Waffenrock entsprechen der üblichen Rüstung westlicher 36 Paris, BnF: Ms. Arsenal 5211; dazu DANIEL H. WEISS: Art and Crusade in the Age of Saint Louis. Cambridge 1998, S. 85–104 – Derselbe: Biblical History and Medieval Historiography. Rationalizing Strategies in Crusader Art. Modern Language Notes 108 / 4 (1993) S. 710–737, bes. 715 f. – HUGO BUCHTHAL: Miniature Painting in the Latin Kingdom of Jerusalem. Oxford 1957, S. 54–68. 37 Abb. BUCHTHAL (wie Anm. 36), Taf. 66a. 38 Abb. BUCHTHAL (wie Anm. 36), Taf. 66a, 67a etc. 39 WEISS, Art and Crusade (wie Anm. 36), S. 203. 40 New York, The Pierpont Morgan Library: M 638, fol. 20v und fol. 37v; dazu SYDNEY C. COCKERELL: Old Testament Miniatures. A Medieval Picture Book with 283 Paintings from the Creation to the Story of David. London 1969, Abb. 133, 170.
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Abb. 4: Frontispiz zum Buch Judith. Französische Bibel, Akkon, 1250–1254. Paris, Bibliothèque nationale de France: Ms. Arsenal 5211, fol. 252
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Kämpfer, lediglich die auffällig kurzen Steigbügel, die den vordersten Reiter beinahe mit angezogenen Beinen auf dem Pferd sitzen lassen, gemahnen an östliche Gepflogenheiten.41 In der zweiten Szene beratschlagen sich die Israeliten in Bethulien. Die meisten der Männer sind in eine rote oder blaue Tunika gekleidet, nur dem im Zentrum sitzenden jungen Mann liegt noch ein Pallium ungewöhnlicherweise über der rechten Schulter. Außerdem tragen alle jüngeren Männer die sowohl in byzantinischen als auch orientalischen Handschriften vorkommende, an einen Fes erinnernde krempenlose Kopfbedeckung.42 Drei ältere Männer sind mit weißen Bärten und zu einem Turban geschlungenen großen Tüchern als islamische Würdenträger gekennzeichnet. In der nächsten Szene spricht Judith in westlicher Witwengewandung zu den Ältesten, die wiederum in ihren weißen Gewändern mit breiten goldenen Bändern am Oberarm, dem Tiraz, als aristokratische Muslime gekennzeichnet sind.43 Die mit einem gold-blau gestreiften Gewand und einem bodenlangen, mit Pelz verbrämten Mantel bekleidete Judith, die mit der Magd ins Lager des Holofernes aufbricht, scheint zunächst westlich gekleidet, ebenso wie die Magd. Ungewöhnlich an Judith ist die für Frauen unübliche Farbigkeit, die aber wiederum an die byzantinischen Vorlagen erinnert, die den Malern offenbar ebenso wie westliche und wohl auch orientalische zur Verfügung standen.44 Für den westlichen Betrachter unmissverständlich freilich muss diese Gewandung pejorativ zu verstehen sein und zumindest auf Judiths List verweisen.45 Holofernes, vor dem Judith in der anschließenden Darstellung kniet, trägt ein vereinfachtes byzantinisches Diadem mit einer aufgesetzten bogenförmigen Platte über der Stirn.46 Die mit breiten 41 Dazu etwa die Darstellung eines Ayyoubidischen Reiters des 13. Jahrhunderts; Abb. L’Orient de Saladin. L’art des Ayyoubides. Ausstellungskatalog Paris, Institut du Monde Arabe 2001 / 2002. Hg. von SOPHIE MAKARIOU und ERIC DELPONT. Paris 2001, S. 69. – Allgemein H. RUSSELL ROBINSON: Oriental Armour. New York (NY) 1967, Reprint Mineola (NY) 2002, S. 11. 42 Die Mützenform ist wohl aus dem Orient nach Byzanz gelangt; dazu MARIA G. PARANI: Reconstructing the Reality of Images. Byzantine Material Culture and Religious Iconography (11th – 15th Centuries). Leiden 2003 (The Medieval Mediterranean. Band 41), S. 70 f. 43 WEISS, Art and Crusade (wie Anm. 36), S. 184. – Die Goldauszeichnungen an der Ärmeltunika kennt auch das byzantinische Gewand, wohl seinerseits an den orientalischen Tiraz angelehnt; PARANI (wie Anm. 42), S. 54. – Im Madrider Skylitzes kommt diese Gewandung sehr häufig vor; Abb. VASILIKI TSAMAKDA: The Illustrated Chronicle of Ioannas Skylitzes in Madrid. Leiden 2002, Abb. 85. 44 Vgl. die Darstellung der Tänzerinnen in der Handschrift Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana: Vat. gr. 752, fol. 448v; Abb. AXINIA DŽUROVA: Byzantinische Miniaturen. Schätze der Buchmalerei vom 4. bis zum 19. Jahrhundert. Regensburg 2002, Taf. 62. – Zur Amalgamierung der unterschiedlichen Vorlagen in dieser Handschrift BUCHTHAL (wie Anm. 36), S. 54 ff. 45 Dazu MICHEL PASTOUREAU: Des Teufels Tuch. Eine Kulturgeschichte der Streifen, Frankfurt am Main / New York 1995, S. 20 f. 46 PARANI (wie Anm. 42), Taf. 31c.
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Goldstreifen über der Brust und schmalen Clavi an den Ärmeln dekorierte Tunika scheint ein Gewandtypus zu sein, der sich etwa auch in den von westlichen Malern hergestellten Illustrationen des Skylitzes ähnlich findet und wohl eine Umsetzung byzantinischer Gewänder meint.47 Der über die Schulter geworfene Fehmantel hingegen, vor allem aber die übereinander geschlagenen Beine sind westliche Motive.48 Die Fremdheit des Ganzen wird schließlich in der letzten Szene mit der Darstellung zu Judiths Triumph besonders offensichtlich. Auf einem Schemel stehend präsentiert sie frontal den Kopf des Holofernes und ragt mit ihren weit ausgebreiteten Armen wie eine Statue vor den Bethuliern auf, die sich adorierend vor ihr auf die Knie geworfen haben. Hier beherrschen die orientalisierten Würdenträger die Gruppe der Adoranten und gleichen nun deutlich jenen hohen Amtsträgern, die auch in einer syrischen Handschrift vorkommen (Abb. 5)49. In dieser Form ist die Szene von Judiths Triumph einmalig. Seit dem 12. Jahrhundert hat sich die Judithikonographie zu einer Tugendikonographie entwickelt,50 wird Judith doch als Inbegriff der Castitas gefeiert. Die Darstellung in der Arsenal-Bibel freilich scheint einen Diskurs aufzugreifen, der ambivalent bleibt. In der Bibel von Roda (Abb. 6)51, einer spanischen illustrierten Bibel aus dem 11. Jahrhundert, findet sich ein Vorläufer, der dem westlichen Zeitgenossen eher verständlich gewesen wäre, wird doch dort Judith von den Bethuliern mit dem antiken Akklamationsgestus begrüßt. Das Bild in der Arsenal-Bibel jedoch rekurriert auf den Typus des triumphierenden, erhöhten byzantinischen Kaisers, vor dem die Feinde in Proskynese fallen. Ähnlich ist dieses Zeremoniell im Psalter Basilius II. 47 Madrid, NB: Codex Vitr. 26–2, fol. 106; Abb. TSAMAKDA (wie Anm. 43), Abb. 239. 48 New York, The Pierpont Morgan Library: M 638, fol. 40v; Abb. COCKERELL (wie Anm. 40), Abb. 247. 49 Istanbul, Bibliothek des Topkapi Sarayi Müzesi: Ahmet III 1227, fol. IV und 2r: Es handelt sich um ein Diptychon, auf dessen einer Seite Gelehrte oder Studenten dem auf der rechten Seite thronenden Autor Dioskorides Abschriften seines Textes darbringen. Die Bilder entsprechen byzantinischen Autorenbildern, wie sie auch in Evangelien vorkommen, allerdings sind die Gestalten in der Kleidung islamisiert. Auf der nachfolgenden Seite (fol. 2v), auf der sich der Autor mit einem Studenten unterhält, sitzen beide mit untergeschlagenen Beinen auf einem runden Kissen, was als Hinweis auf ihre islamische Herkunft verstanden werden darf. – Abb. The Glory of Byzantium. Art and Culture of the Middle Byzantine Era A. D. 843–1261. Ausstellungskatalog Metropolitan Museum of Art, New York. Hg. von HELEN C. EVANS und WILLIAM D. WIXOM. New York (NY) 1997, Nr. 288, S. 429–433. 50 LESLIE ABEND CALLAHAN: Ambiguity and Appropriation. The Story of Judith in Medieval Narrative and Iconographic Traditions. In: Telling Tales. Medieval Narratives and the Folk Tradition. Hg. von FRANCESCA CANADÉ SAUTMAN, DIANA CONCHADO und GIUSEPPE CARLO DI SCIPIO. New York 1998, S. 79–99, bes. 84–86 – MIRA FRIEDMAN: The Metamorphoses of Judith. Jewish Art 12/13 (1986/1987) S. 225–246, bes. 232– 235. 51 Paris, BnF: Ms. lat. 6, fol. 134v; dazu FRANCES G. GODWIN: The Judith Illustration of the Hortus Deliciarum. Gazette des Beaux-Arts 36 (1949) S. 25–46, dort Abb. 5.
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Abb. 5: Gelehrte präsentieren Dioskorides das Buch. «De materia medica», Nord-Mesopotamien, 1229. Istanbul, Bibliothek des Topkapi Saray Müzesi: Ms. Ahmet III 1227, fol. IV
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Abb. 6: Frontispiz zum Buch Judith. Roda Bibel, Spanisch, 11. Jahrhundert. Paris, Bibliothèque nationale de France: Ms. lat. 6, fol. 134v
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dargestellt.52 In der Arsenal-Bibel sind orientalische Würdenträger vor einer Frau in eine für den westlichen Betrachter unübliche, ja verdammenswerte Verehrung gefallen. Ist die für eine ‘seriöse’ Frau ungehörig farbige Gewandung, die statuenhaft erhöhte Repräsentation und die anbetende Haltung durch die Muslime lediglich ein Genderdiskurs oder ist hier nicht doch jene Fremdheit angesprochen, auf die noch einzugehen sein wird und die mit dem Idolatrievorwurf verbunden ist? Das Frontispiz zur Judithgeschichte will ebenso wie die anderen alttestamentlichen Beispiele, in denen muslimische Kostüme und Gewohnheiten gemeinsam mit byzantinischen und westlichen dargestellt werden,53 die Transkulturalität des lateinischen Königreichs betonen.54 Damit wird zweifellos zunächst einmal die Authentizität des ‘Heiligen Landes’ verstärkt, in dem die multikulturelle Gesellschaft der Kreuzfahrer existiert. Freilich muss die Annahme, die diversen Ethnien seien differenziert – ähnlich wie etwa Architektur, Fauna, und Flora – um die heiligen Orte und deren Befreiung authentisch in Erinnerung zu rufen,55 einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Die Muslime, die etwa von den orientalischen Juden unterschieden werden,56 sind nicht als bloße Variation neben den sonst byzantinische und westliche Motive aufgreifenden Bildern eingefügt. Ihnen wird, und dies müsste weiter geprüft werden, ein Status zugewiesen, der sie zur Uneinsichtigkeit – Balaam, die Bethulier – verführt, sie aber zugleich eher der Bekehrung für würdig erachtet als die nur selten ausgezeichneten Juden. Ähnlich wie in den «Histoires d’Outremer» scheinen die Muslime diejenigen Akteure zu sein, mit denen sich die Auftraggeber – wahrscheinlich Ludwig IX. selbst – auseinander zu setzen haben57 und die es gilt, in den Körper des Christentums einzubinden.
52 Venedig, Biblioteca Marciana: Ms. gr. Z 17, fol. 111; Abb. Glory of Byzantium (wie Anm. 49), S. 186. 53 Zu den weiteren eindeutig muslimischen Verweisen BUCHTHAL (wie Anm. 36), S. 65. 54 WEISS, Art and Crusade (wie Anm. 36), bes. S. 187–195. 55 Dazu WEISS, Art and Crusade (wie Anm. 36), S. 210–215 – BUCHTHAL (wie Anm. 36), S. 64 ff. 56 Dazu die Darstellung der Freunde Hiobs (fol. 269r), die in denselben Gewändern wie die orientalisierten Bethulier auftreten, wobei allerdings einer die Zizith trägt; vgl. WEISS, Art and Crusade (wie Anm. 36), Taf. VII und S. 188. 57 In der Amalekiterschlacht etwa sind die beiden Heere nicht voneinander unterschieden, sowohl Israeliten wie Amalekiter tragen mameluckische Rüstungen; vgl. WEISS, Art and Crusade (wie Anm. 36), Abb. 36 zu ROBINSON (wie Anm. 41), Taf. VI und VII.
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III. Die Faszination des Fremden und Aneignung als das zugleich Eigene Wurde das Bild der Sarazenen in einigen Kreuzfahrerhandschriften dazu eingesetzt, durch Angleichung der beiden Parteien eine gemeinsame Ritterkultur zu verherrlichen, so nehmen im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert die Zeugnisse eines gesteigerten Interesses an einer konkretisierenden Schilderung der Andersartigkeit deutlich zu. Mimetisches Darstellen ist ein Paradigmenwechsel in der Kunst, der mit einer sich verändernden Erfahrungswelt der Zeitgenossen einhergeht und insofern auch das Bild des Ostens einem veränderten Blick unterwirft. Der eine Topos weicht einer Vielfalt von Topoi. Bereits im 14. Jahrhundert werden vor allem in Italien unterschiedliche, nun auch rassisch definierte Fremde aus dem Osten dargestellt. Giottos präzise geschilderter Schwarzer unter den Peinigern in der Darstellung der Verspottung Christi in der Arena-Kapelle in Padua signalisiert, wie Rosamond E. Mack annimmt, auch für den zeitgenössischen Betrachter, dass es sich hier um einen aus Afrika stammenden Sklaven handelt, waren doch oberitalienische Städte bereits seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert mit dem Handel muslimischer Afrikaner befasst.58 Zunehmend werden Mongolen und unterschiedliche Völkerstämme aus Asien konkretisiert und ihre charakteristischen Gesichtszüge, vor allem aber Details ihrer Gewandung, genau geschildert. Die genauere Beobachtung und Darstellung hängt auch mit dem im Lauf des 13., vor allem aber des 14. Jahrhunderts sich verschärfenden rassischen Diskurs59 zusammen, der sich im Rahmen des vor allem durch die Bettelorden propagierten, zur Compassio anregenden Passionsrealismus in besonderer Weise auf die negativen Gestalten im Kontext der Passion Christi und der Heiligenmartyrien konzentriert.60 Die Niederlage von Nikopolis 1396 scheint beim westlichen Adel eine tiefe Krise ausgelöst zu haben, die mit einer neuen Sicht auf den Orient verbunden war und zu einer Differenzierung der Gegner führte: Die Sarazenen werden nun zunehmend zu Türken.61 Die Kreuzzugspropaganda wird neu verschärft, und das Bild der osmanischen Türken ist in einem Maße polarisiert, wie nur selten in früheren Zeiten. Zwischen Schrecken und Bewunderung schwankend stellen die Texte sie dar. 1397 verfasst Coluccio Salutati, der Florentiner Kanzler, ein Schreiben, das große Verbreitung fand und dessen Argumentation bis ins 16. Jahrhundert weiter tradiert werden sollte.62 Er schildert bewun58 ROSAMOND E. MACK: Bazaar to Piazza. Islamic Trade and Italian Art, 1300–1699. Berkeley (Ca) / Los Angeles (Ca) / London 2002, S. 151–153. 59 HENG (wie Anm. 18), S. 139. 60 STRICKLAND (wie Anm. 14), S. 173–175. 61 NANCY BISAHA: Creating East and West. Renaissance Humanists and the Ottoman Turks. Philadelphia (Pa) 2004, S. 55 f. – JOYCE KUBISKI: Orientalizing Costume in Early Fifteenth-Century French Manuscript Painting (Cité des Dames Master, Limbourg Brothers, Boucicaut Master, Bedford Master). Gesta 40 (2001) S. 161–180, bes. 162 f. 62 BISAHA (wie Anm. 61), S. 56–59.
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dernd die Kraft des türkischen Heeres, dessen Ausbildungsgänge und bringt vor allem die Schwäche des Westens mit dessen fehlender Entschiedenheit und Erziehung im Glauben zusammen. Die Christen, die nicht im Stande seien das Schisma zu beenden, werden den osmanischen Türken gegenübergestellt, deren Glaubenskraft – auch im Heiligen Krieg – und Geschlossenheit er seinen Zeitgenossen als Spiegel vorhält; eine Argumentation, die auch in der Türkenpropaganda des 16. Jahrhunderts noch zu finden sein wird.63 Vor diesem Hintergrund dürften auch die sehr präzisen Darstellungen osmanischer und östlicher Gestalten im Umkreis des französischen Hofes zu interpretieren sein. Eine weitere Aufwertung erfahren Türken in ihrer Identifizierung mit den Trojanern, sind sie doch damit an Anciennität den Römern überlegen, die sich ja ihrerseits auf die Trojaner zurückführen.64
a) Orientalisierung und Ermahnung Die topische Tradierung und gleichzeitige Instrumentalisierung des Sarazenen eröffnet in einer Augustinus-Handschrift aus dem zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts einen Subtext im zeitgenössischen Rahmen.65 Die Miniatur zum Exempel der Begegnung des Makedonenkönigs Alexander des Großen mit dem Piraten (Abb. 7) beschäftigt sich mit der richtigen Regentschaft. Ein Pirat nähert sich in seinem Schiff und fragt Alexander, was denn der Unterschied zwischen seinem und des Herrschers Verhalten sei. Er kämpfe mit seinem kleinen Schiff und werde Pirat genannt und Alexander mit einer Flotte und heiße Admiral. Der Maler, der für bedeutende Auftraggeber gearbeitet hat,66 überträgt das belehrende Exempel in eine übliche europäische Landschaft und kleidet den in seinem Boot sitzenden Piraten in eine abenteuerliche Rüstung, die eindeutig orientalisierend 63 BISAHA (wie Anm. 61), S. 161–166. 64 JAMES G. HARPER: Turks as Trojans; Trojans as Turks. Visual Imagery of the Trojan War and the Politics of Cultural Identity in Fifteenth-Century Europe. In: Postcolonial Approaches to the European Middle Ages. Translating Cultures. Hg. von ANANYA JAHANARA KABIR und DEANNE WILLIAMS. Cambridge 2005, S. 151–179 – BISAHA (wie Anm. 61), S. 56. 65 Paris, BnF: Ms. fr. 20 und 21; dazu INES VILLELA-PETIT: Deux visions de la Cité de Dieu. Le Maître de Virgile et le Maître de Boèce. Art de l’enluminure 17 (2006) S. 2–19, S. 28–29 – SHARON DUNLAP SMITH: New Themes for the «City of God» around 1400. The Illustrations of Raoul de Presles’ Translation. Scriptorium 36 (1982) S. 68–82. – Zur Zuschreibung an den Boethius-Meister SHARON OFF DUNLAP SMITH: Illustrations of Raoul de Praelles’ Translation of St. Augustine’s «City of God» between 1375 and 1420. Diss. New York University 1974 (ProQuest Dissertations & Theses Full Text, Publication Number AAT 48106), S. 146 ff. 66 VILLELA-PETIT (wie Anm. 65), S. 19, gibt als Provenienz den Buchhändler Jean Bonhomme an, der die Handschriften 1488 von Jean Cueillette, Schatzmeister des Pierre de Beaujeu, Herzog von Bourbon gekauft haben will; zu weiteren Auftraggebern des Boethius-Meisters: Paris 1400. Les arts sous Charles VI. Ausstellungskatalog Musée du Louvre, Paris 2004. Paris 2004, Kat. 174, S. 283 f.
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Abb. 7: Alexander und der Pirat. Augustinus, «Cité de Dieu», Paris: Boethius-Meister, um 1415. Paris, Bibliothèque nationale de France: Ms. fr. 20, fol. 111v
gestaltet ist. Eine Beckenhaube, die allerdings einen Nasenschutz kennt, wie er bei türkischen und mameluckischen Helmen üblich ist67, wird kombiniert mit einem goldenen Kettenpanzer als Nackenschutz. Riesige goldene Achselrosetten, die in Lamellen auslaufen, gelten üblicherweise als imponierende Accessoires fremder Kämpfer.68 Ein Schuppenpanzer bedeckt den Körper. Nicht um eine konkrete Rüstung handelt es sich in dieser wohl um 1414 hergestellten Handschrift, sondern um eine Zusammenstellung unterschiedlicher Modelle, die andere Maler desselben Milieus durchaus sehr genau studiert und aufgegriffen haben.69 Der Makedonenkönig selbst, der mit dem Piraten debattiert, ist nun keineswegs der orientalische Potentat, den man erwarten würde, sondern ist 67 ROBINSON (wie Anm. 41), Tafel IX. 68 So etwa Feirefiz im Heidelberger «Parzival», Heidelberg, UB: Cod. Pal. germ. 339, fol. 540v; URL: (17.2.09). 69 KUBISKI (wie Anm. 61), S. 165 f.
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vielmehr zu einem Zeitgenossen geworden, den man mit dem französischen König assoziiert. Die Lilienkrone auf dem Haupt, ist er in die von Charles V. eingeführte graue Robe gekleidet70, die er allerdings gegürtet trägt und die vorne einen modischen Schlitz besitzt, der das Pelzfutter vorblitzen lässt. Unter dieser Robe sieht man die engen Ärmel einer goldfarbenen Tunika, über die Schultern fällt ein bodenlanger, blauer Mantel, über dem ein breiter Zobelkragen liegt. In der Linken präsentiert er die Fahnenlanze. All dies sind Elemente der vertrauten herrscherlichen Darstellung eines französischen Königs. Seine Begleiter erst definieren den mit einem kurzen, zweigeteilten Bart gezeigten König als nicht westlichen Potentaten in einer ‘fremden’ Umgebung. Mit ihren konischen Hüten und der um den Kopf geschlungenen Binde, deren Enden weit über den Rücken hängen, sind beide Gestalten orientalisiert. Sie tragen zwar nahezu dieselben an Schauben gemahnenden Roben wie der König, diese sind aber, vor allem bei dem heftig Gestikulierenden, mit kostbaren Besätzen versehen, auf denen ebenso wie an den Binden eingewebte kufische Zeichen angedeutet werden. Alexanders Heer ist wiederum ein rein westliches, tragen doch die Soldaten die übliche zeitgenössische Beckenhaube mit der eng anschließenden Helmbrünne. Die orientalisierten Pairs spielen im Kontext der Belehrung des Herrschers durch den Piraten eine wichtige Rolle, die ihnen auch in anderen Bildern der Handschrift zukommt. Sie sind die weisen Diskutanten, die diesem Exempel erst die entscheidende Deutung verleihen, so sind sie es auch, die in einer weiteren Miniatur über Gott debattieren.71 Nicht eine zufällige Mode oder das allgemeine Interesse an einer Orientalisierung der Mode, das sowohl in Italien wie auch im Norden seit 1400 anzutreffen ist72, auch nicht allein ein historisierender Wille, dem Makedonenkönig durch die orientalisierten Begleiter wenigstens eine angemessene Entourage zu verleihen, sind hier die Beweggründe für diese zwischen östlichen und westlichen Traditionen vermittelnden Figuren. Zwar ist die Beobachtung Ivan Davidson Kalmars richtig, dass eine einzige ‘orientalisierte’ Gestalt in einer Gruppe diese gesamthaft in den Orient versetzt.73 Damit wird auch der Makedonenkönig in gewisser Weise orientalisiert. Nun ist freilich die Hauptfigur als westlicher, genauer als französischer König dargestellt und das Exempel somit als Belehrung durch einen hybridisierten Fremden, einen Piraten, an den Regenten in der Zeit interpretiert. Ihm zur Seite stehen jene Weisen aus dem Orient, die auch das Gespräch über die Gottesfrage führen, und sie sind denn auch die Akteure, die redend und hörend das Thema erörtern. Der ‘Orientalis70 STERLING (wie Anm. 35), Abb. 108. 71 Paris, BnF: Ms. fr. 20, fol. 212, URL: (17.2.09) – Frau Anja Eisenbeiß M. A. sei für Anregungen zu dieser Handschrift gedankt. 72 Dazu REINER HAUSSHERR: Convenevolezza. Historische Angemessenheit in der Darstellung von Kostüm und Schauplatz seit der Spätantike bis ins 16. Jahrhundert. Wiesbaden 1984 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. Band 1984,4), S. 13 f. 73 KALMAR (wie Anm. 24), S. 29–31.
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mus’ in dieser Handschrift dürfte somit weniger auf eine zeitliche und örtliche Situierung des Ereignisses hinzielen, als vielmehr eine autoritative Verstärkung der Belehrung durch die orientalischen Philosophen anstreben. Als Subtext dürfte damit auch ein politischer Aufruf zur Einbindung ‘fremder’ Denker in die Reihen der Krone verbunden sein. Die Handschrift muss in den bibliophilen Kreisen des Hofes entstanden sein und ist um 1415 in einer Situation geschaffen worden, in der das abendländische Schisma, der Hundertjährige Krieg, die Armagnakenkriege und der geschwächte König Charles VI. die Krone und den Herzog von Berry in eine labile Lage gebracht haben.74 Vor diesem Hintergrund ist das Exempel mit dem Piraten, erörtert von den Weisen des Orients, eine deutliche Ermahnung, die richtige Regentschaft zu bedenken.
b) Orientalisierung als Identifikationsangebot Eine wesentlich komplexere Form der Orientalisierung, die zugleich mit einer Identifizierung gerade mit dem Orient verbunden ist, kann an der eigenartig hybriden Augustusgestalt in den «Très Riches Heures» des Duc de Berry (Abb. 8) dekonstruiert werden. Die Vision des Kaisers Augustus, der gemeinsam mit der tiburtinischen Sibylle Maria mit dem Kind in einem Strahlenkranz sieht,75 ist eines der Themen, das vom Duc de Berry und dessen Umkreis nicht nur geschätzt, sondern entschieden gefördert wurde.76 Der römische Kaiser Augustus, bereits bei Petrarca als Inbegriff des heroischen Vereinigers beschrieben,77 wird in dieser Darstellung zum Orientalen. Er trägt einen langen weißen Bart und einen hohen Hut, dessen vertikale Segmente mit goldenen Kanten und Perlschnüren geschmückt sind und auf dessen Spitze ein roter Stein sitzt. Die mit Pelz verbrämte, gespaltene Krempe ist hoch geschlagen. Es dürfte sich um eine Variante jenes Hutes handeln, mit dem Pisanello Johannes VII. Paläologus darstellen sollte und der in der westlichen bildenden Kunst eine wiederholte Aufnahme fand.78 Mit dieser Kopfbedeckung ist wohl eine dem Kaiser der Paläologenzeit vorbehaltene Kopfbedeckung gemeint,79 die – wie Joyce Kubiski nachweist – freilich ihrerseits von asiatischen Kronenhüten beeinflusst ist.80 Insbesondere die steile Form 74 FRANÇOISE AUTRAND: Jean de Berry. L’art et le pouvoir. Paris 2000, S. 197–243. 75 Artikel „Augustus“. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 1 (1968), Sp. 225–227 – GERTRUD SCHILLER: Ikonographie der christlichen Kunst. Bd. 1. Gütersloh 31981, S. 92 f. und Bd. 4.2. Gütersloh 1980, S. 215 f. – EVA SEBALD: Augustus und Sibylle – Ara Coeli. In: Marienlexikon 1 (1988), S. 300. 76 MILLARD MEISS: French Painting in the Time of Jean de Berry. The Late Fourteenth Century and the Patronage of the Duke. 2 Bde. London / New York 1967 (National Gallery of Art, Kress Foundation Studies in the History of European Art. 2), Bd. 1, S. 233–235. 77 BISAHA (wie Anm. 61), S. 51–53. 78 KUBISKI (wie Anm. 61), bes. Abb. 2. 79 PARANI (wie Anm. 42), S. 70. 80 KUBISKI (wie Anm. 61), S. 163.
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Abb. 8: Vision des Kaisers Augustus. «Très Riches Heures» des Duc de Berry, Gebrüder Limbourg, 1416. Chantilly, Musée Condé: Ms. 65, fol. 22
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und die Verzierung der ‘Melonenschnitze’ durch Goldauflagen und Perlschnüre entsprechen persischen wie auch mongolischen und türkischen Modellen.81 Über seinem mit goldenen Tiraz durchwirkten Gewand trägt Augustus ein gelbes Lederwams, das als Schutz in dieser kurzen Form nicht dem mittelalterlichen Lentner entspricht, sondern eher dem orientalischen Brustschutz. 82 Das Wams ist mit goldenen heraldischen Zeichen besetzt, die eine eigenartige Unbestimmtheit besitzen und sehr verwandt, nun allerdings auf einer über einem Tappert getragenen Brigantine, bei David erscheinen in den beiden Miniaturen zu dem großen Dankgebet (Ps 99/100) und der Vision des auferstehenden Gottessohnes (Ps 62/63).83 Die Zeichen changieren zwischen Kreuzen, Blumen und ‘werdenden’ Fleur de Lys. Um die Hüfte trägt Augustus ein geknotetes, mit Goldstreifen durchwirktes Tuch, das wiederum eher in ein allgemein orientalisierendes Repertoire gehört. An einer goldenen Kette hängt an zwei längeren goldenen Riemen sein sehr präzise dargestelltes Krummschwert in der Scheide.84 Sowohl die Art der Befestigung wie auch die Verzierung der Schwertscheide, der geschwungene Knauf und der Schmuck der Parierstange verweisen auf orientalische, wohl mameluckische Waffen.85 Die Perfektion, mit der gerade die Brüder Limbourg, aber in noch viel stärkerem Maß der Cité des Dames Meister unterschiedliche Realien, Kostüme und auch Gesichter aus dem Nahen und Fernen Osten in den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts darstellen, lässt auf eine breite Kenntnis ganz unterschiedlicher Kostümgewohnheiten östlicher Herkunft schließen. Die übliche Erklärung ist der Besuch Manuels II. Paläologus in den Jahren zwischen 1399 und 1402 in London und Paris, der mit seinem Gefolge große Aufmerksamkeit erregte.86 Zudem scheinen mongolische, türkische und persische Handschriften zirkuliert zu haben.87 Die vielen aus dem Nahen und Fernen Osten importierten Waren,
81 KUBISKI (wie Anm. 61), Abb. 5a. 82 Zu dem kurzen Wams ROBINSON (wie Anm. 41), Taf. VI. – Denselben Brustschutz trägt der älteste der Heiligen Drei Könige auf fol. 51v, der auch in den anderen Details der Gewandung weitgehend mit Augustus übereinstimmt; dazu KALMAR (wie Anm. 24), S. 3 f. 83 Chantilly, Musée Condé: Ms. 65, fol. 39v; Abb. Les «Très Riches Heures» du Duc de Berry, Faksimile des Originals, das sich unter der Nr. 65 im Musée Condé in Chantilly befindet. Luzern 1984. 84 Abb. DAVID C. NICOLLE: Arms and Armour in the Crusading Era, 1050–1350. 2 Bde. White Plains (NY) 1988, Bd. 2, S. 694, Abb. 328 und S. 696, Abb. 334 AJ. 85 Turks. A Journey of a Thousand Years, 600–1600. Ausstellungskatalog Royal Academy of Arts, London 2005. Hg. von DAVID J. ROXBURGH. London 2005, Abb. 158 und 249 zum Schwert, zum Schwertgehänge Abb. 162. 86 JOHN W. BARKER: Manuel II Palaeologus (1391–1425). A Study in Late Byzantine Statesmanship. New Brunswick (NJ) 1969, S. 167 ff. – KUBISKI (wie Anm. 61), S. 175 – KALMAR (wie Anm. 24), S. 5 f. 87 KUBISKI (wie Anm. 61), S. 175 f.
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die als bewunderte Luxusgüter galten, dürften weitere Kenntnisse vermittelt haben.88 Freilich kann die veränderte Aufmerksamkeit und das Interesse für das Orientalische, das durchaus im 15. Jahrhundert modischen Charakter zu entwickeln scheint, Darstellungen wie diejenige des Augustus nicht erklären. Nicht allein die Freude am Fremdländischen kommt in solchen Montagen zum Ausdruck, wird doch an diesem Beispiel des Augustus deutlich, dass die historische Figur in ein komplexes Verweissystem eingespannt ist. Ein römischer Kaiser, der mit der Legende seiner Vision offenbar für den Auftraggeber von besonderer Bedeutung gewesen ist, kann doch der Duc de Berry als wichtigster Beförderer dieses Themas89 angesehen werden, wird zu einem orientalischen Fürsten, in dem Oströmisch-Byzantinisches mit Mameluckischem, Türkischem und Persischem verschmilzt. Zugleich schafft seine Gestalt innerhalb der Handschrift einen Bezug zu den Heiligen Drei Königen auf ihrer Reise zu dem Gottessohn, auf der sie ebenfalls einer Vision, dem Stern, folgen.90 Mit der Verwandtschaft zu David schließt sich ein typologischer Kreis, der die alttestamentliche Vision Davids über den die Geburt des Gottessohnes sehenden römischen Kaiser zu den Heiligen Drei Königen verfolgt, die ihn ‘leibhaftig’ berühren können.91 Die typologische Vernetzung ist, wie Margaret M. Manion am Beispiel der Psalmenillustrationen belegt, ein zentrales Anliegen des Programms dieser Handschrift.92 Ebenso wird das für ein Stundenbuch unübliche Verständnis des Liturgischen93 auch in dieser Darstellung zum Ausdruck gebracht. Augustus erlebt nicht nur die Vision, sondern empfängt diese in einer liturgischen Situation, schwenkt er doch das Weihrauchfass.94 Die Interpretationsangebote der Augustusgestalt sind vielfältig. Der typologische Verweis wird mit einem liturgischen verbunden. Insbesondere in der Einbindung unterschiedlicher zeitlicher und ethnischer Bezüge wird ein Anspruch deutlich, der in manchen Psalmendarstellungen noch klarer formuliert wird. Wenn zu Psalm 8 (Abb. 9), in dem David Gottes Schöpfung besingt, unter dem über Wolken erscheinenden Christus-Logos die Menschen, denen Gott sich zuwendet, als eine Gruppe schwarzer hochrangiger Mamelucken gezeigt wer-
88 MACK (wie Anm. 58), S. 20–24. 89 MILLARD MEISS: French Painting in the Time of Jean de Berry. The Limbourgs and their Contemporaries. 2 Bde. London 1974 (The Franklin Jasper Walls Lectures. Band 2), Bd. 1, S. 64. 90 Chantilly, Musée Condé: Ms. 65, fol. 51v; Abb. Faksimile (wie Anm. 83). 91 Chantilly, Musée Condé: Ms. 65, fol. 52r; Abb. Faksimile (wie Anm. 83). 92 MARGARET M. MANION: Psalter Illustration in the Très Riches Heures of Jean de Berry. Gesta 34 (1995) S. 147–161, bes. 151. 93 MANION (wie Anm. 92), S. 148. 94 In keiner der anderen Darstellungen ist Augustus vergleichbar orientalisiert und aktiv, vgl. dazu MEISS, Limbourgs (wie Anm. 89), Abb. 399 und ebenfalls von den Gebrüdern Limbourg, Abb. 397.
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Abb. 9: Davids Lobpreis (Ps 8). «Très Riches Heures» des Duc de Berry, Gebrüder Limbourg, 1416. Chantilly, Musée Condé: Ms. 65, fol. 27v
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den95, kommt hier ebenso wie in dem Augustus-Bild die Erwartung an eine alle Menschen umfassende Zuwendung Gottes zum Ausdruck. Auch die entblößte Brust der Mameluckin, die von dem Wort der Säuglinge, die im dritten Vers als Gott Preisende erwähnt werden, angeregt ist96, wird die Zeitgenossen an Maria gemahnen, die ihre Brust als Fürbittende weist. Die Fremden werden der Gnade Gottes teilhaftig oder werden mindestens durch das Wort erreicht, wie im anschließenden Bild (fol. 28), in dem die Apostel unterschiedlich orientalisierten Völkergruppen predigen. Vor dem Hintergrund des Schwankens zwischen der Hoffnung auf eine Versöhnung und Beilegung des Schismas im Konstanzer Konzil97 und dem auch in anderen Bildern der «Très Riches Heures» angesprochenen innerfranzösischen Konflikt98 wird die Vision des Kaisers Augustus zu einem Bild der Ermahnung und der Legitimierung für den mit dem römischen Kaiser sich identifizierenden Auftraggeber, den Duc de Berry99. Im zugehörigen Gebet O Intemerata wird Maria, an die zu glauben die göttliche Gnade sichere, um Vermittlung gebeten, auf dass sich der Heilige Geist so in das Herz des Betenden senke, dass er Gottes Liebe würdig werde. Um Glaubensstärke und Erleuchtung geht es dabei, und gerade die Glaubensstärke war in Salutatis Propaganda der Grund für die Betonung der Kraft der für den Glauben kämpfenden Türken, wogegen er das Fehlen des wahren Glaubens als Ursache für das Schisma ausmachte. Im Bild überblendet der glaubensstarke Türke den oströmischen Kaiser, der damit orientalisiert erscheint. Die Darstellung dürfte in jene Reihe von Aneignungen ‘orientalisierter’ Gestalten gehören, die dem sich damit identifizierenden Auftraggeber Legitimation und Autorität verleihen sollen, seine Intentionen zu verdeutlichen, im konkreten Fall die Befriedung der innerfranzösischen Krise und die durch das Schisma heraufbeschworene Glaubenskrise. In der Zusammenschau der Zeiten und der Sicherheit im Glauben an eine Welt umspannende Existenz Gottes, die auch jene berühren und erleuchten wird, die sich der Missionierung derzeit noch verschließen, ist Augustus gerade in seiner hybriden Gestalt zu einem Vorbild und Hoffnungsträger geworden.
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Zu den Gewändern LEO A. MAYER: Mamluk Costume. Genf 1952, bes. S. 59. MANION (wie Anm. 92), S. 150. AUTRAND (wie Anm. 74), S. 418 f. AUTRAND (wie Anm. 74), S. 444–446 – SIMONA SLANIČKA: Krieg der Zeichen. Die visuelle Politik Johanns ohne Furcht und der armagnakisch-burgundische Bürgerkrieg. Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Band 182), S. 267–279. 99 MEISS, Limbourgs (wie Anm. 89), S. 64.
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IV. Der Andere als das Böse Während die orientalisierenden Motive in der Gestalt des Augustus dessen Vorbildlichkeit als Identifikationsgestalt verstärken, werden in anderen Beispielen eher negative Kombinationen gewählt. Die vor allem von Joyce Kubiski beobachteten absurden Montagen orientalisierender Elemente schaffen eine Form konkretisierten Andersseins, das neue Züge erhalten hat. Die Gewänder der Fremden werden in ihrer Übertriebenheit, ihrem unbekannten Luxus – wie sogar am Beispiel des Augustus –, in ihrer unvertrauten Zusammenstellung zu einem kulturell überformten und neu montierten Hybridkörper, der in älteren Darstellungen eher in Form physischer Monstrositäten somatisiert wird. Bereits um einen reflektierten Umgang mit dem Akt der Dämonisierung von Sarazenen dürfte es sich – wie schon erwähnt – bei den dämonische Masken tragenden Gegnern Karls des Großen vor Córdoba handeln, wie sie in der für Charles V. hergestellten «Grandes Chroniques de France» gezeigt werden. Geht es in solchen Montagen zunächst um ein Darstellen ‘be-fremdlicher’ Unvertrautheit durch Maßlosigkeit und Übertreibung, die in dem streng regulierten System der Kleiderordnungen durchaus lächerlich wirkt, so ist damit dennoch nicht unbedingt eine generell negative Wertung verbunden. Bereits seit dem Frühmittelalter, aber erstaunlich selten werden Muslime zu den Anderen, auf die das absolut Böse projiziert wird. Wenige Bilder des Propheten begleiten die weit verbreitete schriftliche Propaganda, die ihn als verwerflichen Sektierer und bösen Verführer zeiht.100 Am breitesten wird die anti-islamische Propaganda im Spätmittelalter im Rahmen des Idolatrievorwurfs ausgelebt. Muslime werden in dieser Darstellung zu den Heiden par excellence, die oft mit den Römern gleichgesetzt werden und mit diesen die Anbetung von Götzenbildern teilen.101 Nicht selten werden denn die Idole selbst zu Mohammeds, und die Vorstellung, der Prophet habe von sich ein Bildnis herstellen lassen und diesem mittels schwarzer Magie dämonische Kräfte eingeflößt, kommt etwa in der sehr einflussreichen Chronik des Pseudo-Turpin vor.102 Dass Idole Herrschaft über die Menschen ausüben ist eine Formel, die zum Inbegriff der Besessenheit wurde. In der Londoner Handschrift mit den unterschiedlichen Reiseberichten ist, obwohl in den Bildern, wie schon beobachtet, eine Gleichrangigkeit zwischen ‘Fremden’ und Christen verbildlicht wird, die Botschaft in der Illustration zu Campision (Abb. 10) eine andere.103 100 Dazu MICHAEL UEBEL: Ecstatic Transformation. On the Uses of Alterity in the Middle Ages. New York (NY) 2005, S. 25–36. – Zu den Bildern STRICKLAND (wie Anm. 14), S. 189–192. 101 JOHN VICTOR TOLAN: Saracens. Islam in the Medieval European Imagination. New York (NY) 2002, S. 126–134. 102 Dazu TOLAN, Saracens (wie Anm. 101), S. 133. 103 Marco Polo: Das Buch der Wunder. Aus: «Le Livre des Merveilles du Monde», Ms. fr. 2810 der Bibliothèque nationale de France, Paris. Übersetzung der Handschrift MARIE-
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Abb. 10: Die Leute von Campision vor dem Vertreter des Großkhan. Reisehandschrift, Paris, nach 1333. London, The British Library: Royal 19 D I, fol. 76
Der Vertreter des Großkhans, der in westlicher Weise thronend mit übergeschlagenen Beinen und zeitgenössischen durchbrochenen Schuhen dargestellt ist, weist mit einem Zeigegestus auf die mit ihm redenden Sarazenen. Hinter dem HÉLÈNE TESNIÈRE, mit Beiträgen von FRANÇOIS AVRIL und MARIE-THÉRÈSE GOUSSET. München 1999, S. 63: Campicion als Kan-chou identifiziert.
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Herrscher steht auf einem goldenen Säulenpodest eine goldene nackte Statue, ein Idol, das den Herrschergestus vorgebend als die eigentliche Macht dargestellt wird. Gleichsam hinter dem Rücken des Herrschenden werden er und seine Untertanen als diejenigen denunziert, die unter der Gewalt eines Idols stehen. Dass die Untertanen mit nackten Füßen vor den Herrscher treten, ist wohl ebenfalls eher als sublime Inferiorisierung denn als besondere Frömmigkeit zu deuten, treten doch nur noch in zwei anderen Illustrationen Kontrahenten barfüßig auf, nämlich die auf das Gnadenbrot des Großkhan angewiesenen Armen (fol. 95r) und die zu Wildmännern mutierten, in Fell gekleideten Tibeter (Abb. 11).
Abb. 11: Die Leute von Tibet in ihren Fellkleidern an ihren Feuern. Reisehandschrift, Paris nach 1333. London, The British Library: Royal 19 D I, fol. 98v
Einen breiten Pool an propagandistischen Bildern zur Denunziation aller Häretiker kennen die «Bible moralisée»-Handschriften des 13. Jahrhunderts. Dass in diesen Exemplaren im Bild nicht zwischen Juden, Römern und Muslimen unterschieden wird, kann nicht nur als Bildkonvention erklärt werden, sondern hängt entscheidend mit der Intention der Handschriften zusammen, die in einem zuvor
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Abb. 12: Szenen aus 1 Könige 5, 2; 3–4; 6 und 6,5. «Bible moralisée», Paris, 1220–1226. Wien, Österreichische Nationalbibliothek: Cod 2554, fol. 36
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Detail aus Abb. 12: Die Bundeslade im Tempel des Dagon
nicht gekannten Maß einen Propagandafeldzug gegen jegliche Form der Häresie betrieben.104 Im Bild werden besonders Juden dämonisiert, die gleichzeitig mit anti-semitischen Verfügungen ausgegrenzt werden.105 Juden und jegliche Art von Häretiker, Heiden, Nichtgläubige sowie Pervertierte und Tugendlose werden sowohl im zeitgenössischen Schrifttum als auch in den Bildern unmittelbar aus104 SARA LIPTON: Images of Intolerance. The Representation of Jews and Judaism in the Bible moralisée. Berkeley (Ca) / Los Angeles (Ca) / London 1999, S. 49 f. und 82 ff. 105 LIPTON (wie Anm. 104), S. 6.
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tauschbar.106 Das Thema der Idolatrie wird geradezu zu einem Paradigma, das diese Gruppen gemeinsam charakterisieren soll.107 Die behauptete Verbindung zwischen Idolatrie und Habgier ist der Syllogismus, der diese Gruppen zusammenschweißt und auch visualisiert wird. In der französischen Version der «Bible moralisée», Codex 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, die wohl zwischen 1220 und 1226 für Louis VIII. entstanden sein dürfte,108 sind die negativen Gestalten in besonderer Drastik ins Bild gesetzt. Die Schänder der Bundeslade (Abb. 12), die Philister, werden im Text109 zu Sarazenen und ihr Tempel zur mahommerie, zum Sitz des Islamischen und mithin Heidnischen schlechthin.110 Im ersten Medaillon werden die sarrazin gezeigt, wie sie die geraubte Bundeslade unter den Tabernakel eines ihrer Götter, Dagon, stellen. Sie sind ununterscheidbar von den Juden in anderen Darstellungen und fallen ebenso wie die Israeliten in anderen Bildern durch ihren extremen Habitus auf.111 Im Medaillon darunter wird der Vorgang erklärt: Der zum Belzebub gewordene Dagon befindet sich in einem Tabernakel neben Maria als Bild für die Kirche. Die sarrazin, die diese frevelhafte Zusammenstellung angezettelt haben, sind im Bild nun zu teuflischen Wesen geworden.112 Das Bild der sarrazin wird mit dem Götzendiener und dem Bösen schlechthin in eins gesetzt, das die Kirche bedroht. Das Konstrukt des Sarazenen ist nicht nur mit Kampfeskraft, unendlichem Reichtum und Disziplin verbunden, sondern es eignet sich mithin auch dazu, in ihm das Böse schlechthin zu sehen. Wie Silke Tammen zu zeigen vermochte, ist denn nicht nur die Idolatrie als Inbegriff der Häresie in dieser Seite visualisiert, sondern die Götzenverehrung wird mit der Perversion der Homosexualität verknüpft.113 In der dritten Medaillonreihe werden die hartnäckig an der Schändung der Bundeslade festhaltenden Sarazenen von Gott bestraft, indem sie von Ratten überfallen werden. In der Moralisatio wird erklärt: „Dass die Sarraceni die Lade 106 LIPTON (wie Anm. 104), S. 83 ff. 107 LIPTON (wie Anm. 104), S. 40–42. 108 JOHN LOWDEN: The Making of the Bibles Moralisées. 2 Bde. University Park (Pa) 2000, Bd. 1, S. 90–94. 109 Dazu HANS-WALTER STORK: Bible moralisée. Codex Vindobonensis 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek. Transkription und Übersetzung. St. Ingbert 1988 (Saarbrücker Hochschulschriften. Band 9: Kunstgeschichte), S. 104 f.: 88A–88D. 110 FRANÇOIS BERRIOT: Spiritualités, hétérodoxies et imaginaires. Études sur le Moyen Âge et la Renaissance. Saint-Étienne 1994, S. 148, wird der Begriff mahommerie mit Barbastro, der maurischen Festung, gleichgesetzt. 111 Vgl. etwa fol. 30, Abb. Bible moralisée. Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek. Graz 1973 (Codices selecti. Band 40). 112 Der Text der Moralisatio lautet: „Daß die Sarraceni die heilige Lade bei einem ihrer Götter, der den Namen Dagon hat, setzen, bedeutet die Teufel, die die heilige Kirche, die sie geraubt haben, zu einem ihrer Götter, der den Namen Beelzebub hat.“ Zitiert nach STORK (wie Anm. 109), S. 105: 88a. 113 SILKE TAMMEN: Das Bild der Sodomie in der Bible Moralisée. Sexuelle und ideologische Perversionen. Frauen Kunst Wissenschaft 21 (1996) S. 30–48.
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mit Gewalt behalten und Gott ihnen zürnt und ihnen Ratten schickt, die ihnen die Eingeweide auffressen: das bedeutet die schlechten Bischöfe, die das Geld und den Zehnten durch Kauf und Simonie erhalten, und Gott zürnt ihnen und sie sind geschlagen mit Sodomie, die ihnen die Adern und die Eingeweide auffrisst“.114 Beide Kontrahenten, die mit Sodomie geschlagenen Geistlichen, die im untersten Medaillon links gezeigt werden, wie sie sich mit Knaben abgeben und die Ecclesia verstoßen, und sogar die Sarazenen sind ‘heil-bar’. Sie müssen bereuen und die Sarazenen in einer Art Analogiegeschenk fünf goldene Ratten und fünf Goldstücke dem wahren Gott opfern. Daraufhin fallen die Ratten von ihnen ab. Eine Reihe ineinander verflochtener Vorurteilsthemen ist in dieser Seite angesprochen. Sodomie wird der Habgier zugerechnet, die durch eine Zuwendung zu Gott geheilt werden kann. Es ist die Kirche, die letztlich siegt – im zweitobersten Medaillon rechts –, indem die Marienstatue, die bereits schon im zweiten Medaillon links neben dem Gott Dagon zu sehen ist, diesen in der Darstellung daneben zerstört hat und die dämonischen Sarazenen ihr Idol nur noch an Haupt und Gliedern zerschmettert wieder finden. Als vom Teufel besetzte und dem Teufel folgende Häretiker sind die Sarazenen verstanden, die allerdings durch die Zuwendung zum richtigen Gott gerettet werden können. Häresie wird mit der Bilderverehrung gleichgesetzt und ‘Fleischesverirrung’ zu einer Folge der Häresie erklärt.115 Dies trifft auch auf die von der Sodomie befallenen Geistlichen zu, die mit den von den Ratten befallenen Sarazenen gleichgesetzt werden, ist doch ihr Impetus Habgier, die sie zu simonistischem Gebaren innerhalb der Kirche verführt. Die anti Jüdischen und Islam feindlichen Darstellungen der «Bible moralisée», die aufgehen in einem Vorstellungskomplex, der sich gegen die Feinde der Kirche insgesamt richtet, sind von der Intention der Handschriften geprägt, den Kampf gegen jegliche Häretiker zu propagieren und zu legitimieren.116
Ausblick In den «Bibles moralisées» hat sich das Bild der Sarazenen zwar als negativ erwiesen, ist aber aufgegangen in dem großen Imaginaire der die Kirche bedrohenden Häretiker. Nicht einmal die üblichen Formeln sind dazu verwendet worden, eine Differenzierung der unterschiedlichen Gruppierungen zu erreichen. Der Text erst benennt die Figuren und konkretisiert die dämonischen und teuflischen Wesen als Muslime, was freilich ins Bild nicht aufgenommen wird. In den übrigen Beispielen hat sich die Darstellung des Sarazenen auf wenige Zeichen beschränkt. In der Regel konzentriert sich die Charakterisierung auf die Kopfbede114 Zitiert nach STORK (wie Anm. 109), S. 105: 88c. 115 Dazu auch LIPTON (wie Anm. 104), S. 105 ff. 116 LIPTON (wie Anm. 104), S. 132 f.
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ckung, einen Turban oder eine um den Kopf geschlungene Binde. Die Illustrationen der Londoner Reisehandschrift, in der alle Nichtchristen aus dem Nahen und Fernen Osten mit einer einzigen Formel – schwarzes Gesicht und um den Kopf geschlungenes Tuch – gezeigt werden, ändern je nach Kontext ihre Wertung. Ja, dieselbe Gestalt, nämlich der Khan, kann sogar in einem besonderen Zusammenhang, einer nach westlichem Muster verlaufenden Krönungsszene, durchaus weiß erscheinen und damit somatisch der Bedeutung des Rituals entsprechend sich verwandeln.117 Genau dies lässt sich auch in der «Bible moralisée» beobachten, in der die schließlich durch die Zuwendung zu Gott geretteten Sarazenen aus einem dämonischen Haufen ungeordneter Gestalten mit ausfahrenden Bewegungen zu gesittet ihr Opfer Darbringenden werden. Muslime werden zwar wahrgenommen, gehen aber in den Bildern meist in der Gruppe der Sarazenen unter, unter die alle Nichtchristen subsumiert werden. Eine Wertung ist damit zunächst nicht verbunden, sondern diese wird durch den jeweiligen Kontext zum Ausdruck gebracht, so dass dieselbe Gruppe innerhalb einer Handschrift oder eines Zyklus durchaus unterschiedliche Bedeutungen gewinnen kann. Das zunehmende Interesse an einer Differenzierung der Gruppen und Akteure im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert geht mit einer genaueren Beschreibung von Details sowohl der Kostüme als auch der Physiognomien einher. Ungewöhnliche Gewandkombinationen ebenso wie eigenartige körperliche Erscheinungen verdeutlichen den Eindruck des Fremden. Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Fremden in Form von Studien, die auch für die Details der Realien in der Zeit um 1400 bereits vorausgesetzt werden dürfen, lässt den vertrauten Topos des Sarazenen immer mehr in den Hintergrund treten.118 Die Verwendung des Topos und die damit verbundenen Intentionen sind ebenso vielfältig wie die Auseinandersetzung mit den Sarazenen in der schriftlichen Überlieferung. Die Wertung scheint zwischen Bewunderung und Schrecken zu schwanken, und eine grundsätzliche Ambivalenz scheint immer mit zu schwingen. Eine Reihe von beliebig montierbaren Vorurteilen steht zur Verfügung und wird jeweils wechselnd miteinander verknüpft. Dämonische Kräfte, sexuelle Überaktivitäten, Perversionen, Bilderkulte, aber auch übergroße Weisheit, enormer Reichtum und andere Eigenschaften und Gewohnheiten werden mit dem Topos des Sarazenen ebenso verbunden, wie damit auch Juden oder andere Gruppen ausgegrenzt werden.119 Der Topos dient der Abgrenzung, ist aber – und dies wird in den Bildern mindestens unterschwellig vermittelt – nicht nur zur Schilderung des Fremden eingesetzt, sondern in ihm spiegelt sich zugleich das Eigene. Die Gleichrangigkeit der Kämpfenden in den Londoner Reiseberichten ebenso wie die Dämonisierung der Gegner in der «Histoire d’Outremer» wirft ein besonders ehrenvolles Licht auf die Kreuzritter und edelt 117 London, The British Library: Royal 19 D I, fol. 97. 118 MACK (wie Anm. 58), S. 153–170. 119 STRICKLAND (wie Anm. 14), S. 95 ff. und 157 ff.
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deren Einsatz für die gerechte Sache. Die orientalischen Potentaten oder Weisen als Berater oder Visionäre sind – sowohl in der Augustinus-Handschrift als auch im Stundenbuch des Duc de Berry – dem Codex gleichsam inkorporiert worden, um seine Wirkung als Hort des Wissens, der Belehrung und des Gebets zu stärken. Zugleich heben sie das Prestige des Besitzers, indem sie die Weiträumigkeit und Pracht seiner Sammlungstätigkeit bezeugen. Das Andere ist folglich nicht als ‘Fremderfahrung’ dargestellt, sondern wird im großen Vorstellungskomplex des Eigenen als topisches Muster gespeichert und kann je nach Ausrichtung des Bildprogramms unterschiedlich montiert für jeweils andere Gruppen eingesetzt werden. Am Beispiel der Bolognini-Kapelle konnte gezeigt werden, wie wenig die Mohammed-Darstellung mit dem Propheten selbst oder auch nur mit der Vorstellung der Muslime als geschlossener Gruppe zu tun hat, sondern in diesem Wandbild dazu instrumentalisiert wird, den Gegenpapst zu diskreditieren. In diesem Sinne wurde in allen untersuchten Beispielen der Topos des Sarazenen für bestimmte Zwecke eingesetzt und diente kaum je dazu, Muslime zu charakterisieren.
Abbildungsnachweis: Abb. 1, 2, 10, 11: London, The British Library Board; Abb. 3, 4, 6, 7: Paris, Bibliothèque nationale de France; Abb. 5: Heidelberg, Renate J. Deckers-Matzko; Abb. 8, 9: © Faksimile Verlag/wissenmedia in der inmediaONE] GmbH Güterlsloh/München; Abb. 12: Wien, Österreichische Nationalbibliothek
Aspekte christlicher Wahrnehmung der „türkischen Religion“ im 15. und 16. Jahrhundert im Spiegel publizistischer Quellen* THOMAS KAUFMANN Der Blick lateineuropäischer Christen auf die ‚fremde Religion‘ der Anhänger Mohammeds war im 15. und 16. Jahrhundert entscheidend von Erfahrungen und Schilderungen ‚realer‘ oder ‚gefühlter‘ militärischer Bedrohung, physischer Gewalt und kultureller Oppression durch das Osmanische Reich geprägt. Dies gilt insbesondere für die publizistische Ebene der Wahrnehmung der „türkischen Religion“, auf der es galt, den Zusammenhalt der christianitas gegen den Feind von außen zu stärken, sie zur Buße zu rufen und zur mentalen und militärischen
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Die Abkürzungen folgen dem Verzeichnis von Siegfried Schwertner: Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie, Berlin, New York 21994. Die übrigen Kürzel bedeuten: DBI = Deutscher Biographischer Index, 3. kumulierte und erweiterte Ausgabe, bearb. von Victor Herrero Mediavilla, München 2004; DBETh = Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen, hg. von Bernd Moeller mit Bruno Jahn, Bd. 1 und 2, München 2005; Ex. = Exemplar; Köhler, Bibl. = HansJoachim Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts. Teil I: Das frühe 16. Jahrhundert (1501-1530), Druckbeschreibungen, Bd. 1 ff., Tübingen 1991 ff.; LexMA = Lexikon des Mittelalters, Bd. I-IX, München u.a. 1980-1999, ND München 2002; MBW = Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. von Heinz Scheible, Abt. Regesten, bearb. von Heinz Scheible und Walter Thüringer, Stuttgart – Bad Cannstatt 1977 ff.; MF = Hans-Joachim Köhler (Hg.), Flugschriften des späteren 16. Jahrhunderts, Mikroficheserie, Leiden 1990-2003; MF = Hans-Joachim Köhler – H. Hebenstreit-Wilfert – C. Weissmann (Hg.), Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts, Mikroficheserie, Zug 1978-1988; ND = Neudruck; o.Dr.= ohne Druckerangabe; o.J. = ohne Jahresangabe; o.O. = ohne Ortsangabe; RGG4 = Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. völlig neu bearb. Aufl., Bd. 1-8, Tübingen 1998-2005; Register Tübingen 2007; TRE = Theologische Realenzyklopädie, Bd. 1-36, Berlin, New York 1971-2004; VD 16 = Bayerische Staatsbibliothek [München] – Herzog August Bibliothek [Wolfenbüttel] (Hg.), Verzeichnis der im deutschen Sprachgebiet erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts, Bd. 1-25, Stuttgart 1983-2000. (http://www.vd16.de); VD 17 = Verzeichnis der Drucke des 17. Jahrhunderts. Retrospektive deutsche Nationalbibliographie für den Zeitraum von 1601 bis 1700. (http://www.vd17.de).
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Gegenwehr zu mobilisieren.1 Aspekte eines relativ befriedeten Miteinanders zwischen erobernden Türken2 und eroberten Christen, ökonomische und diplomatische Interaktionen zwischen christlichen und türkischen Potentaten3 oder – freilich höchst vereinzelte – Momente gelehrten Wettstreits und kolloquial ausgetragener Religionskonkurrenz4 spielten demgegenüber auf der publizistischen Ebene eine sehr untergeordnete oder gar keine Rolle.5 Insofern lassen sich mittels der einschlägigen Publizistik zu den Türken zwar einige allgemeinere Aspekte christlicher Wahrnehmung gewinnen (I), aber kein ‚Gesamtbild‘ einer christlich1
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Einige der im Rahmen dieses Beitrages nur knapp angesprochenen Aspekte habe ich ausführlicher behandelt in: THOMAS KAUFMANN: „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation [FKDG 97], Göttingen 2008. Vgl. etwa: GÉZA DÁVID: Limitation of Conversion: Muslims and Christians in the Balcans in the Sixteenth Century, in: ESZTER ANDOR – ISTVÁN GYÖRGY TOTH (Hrsg.): Frontiers of Faith. Religious Exchange and the Constitution of Religious Identities 14001750, Budapest 2001, S. 149-156. Nach Borgolte sollen laut eines Zensus von 1520/30 im Osmanischen Reich 80 % Christen, 19 % Muslime und 1 % Juden gelebt haben, vgl. MICHAEL BORGOLTE: Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300-1400 n. Chr. [Siedler Geschichte Europas], Berlin 2006, S. 299. Vgl. GERARD POUMAREDE: Pour en finir avec la Croisade. Mythes et réalités de la lutte contre les Turcs aux XVIe et XVIIe siècles, Paris 2004; HEINZ SCHILLING: Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559-1660 [Handbuch der Geschichte der diplomatischen Beziehungen Bd. 2], Paderborn u. a. 2007, S. 201ff; HOLGER TH. GRÄF: „Erbfeind der Christenheit!“ oder potentieller Bündnispartner? Das Osmanenreich im europäischen Mächtesystem des 16. und 17. Jahrhunderts gegenwartspolitisch betrachtet, in: MARLENE KURZ – MARTIN SCHEUTZ – KARL VOCELKA – THOMAS WINKELBAUER (Hrsg.): Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie [Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 48], Wien, München 2005, S. 37-52; CEMAL KAFEDAR: The Ottomans in Europe, in: THOMAS A. BRADY – HEIKO A. OBERMAN – JAMES M. TRACY (Hrsg.): Handbook of European History. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation 1400-1600, Bd. 1, Leiden u.a., 1994, S. 589-635; im Bezug auf die vertragsgeschichtlichen Aspekte instruktiv: GUIDO KOMATSU: Die Türkei und das europäische Staatensystem im 16. Jahrhundert. Untersuchungen zu Theorie und Praxis des frühneuzeitlichen Völkerrechts, in: CHRISTINE ROLL u.a. (Hrsg.): Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe, Frankfurt/M. 21997, S. 121-144; DIETER MERTENS: Europäischer Friede und Türkenkrieg im Spätmittelalter. Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: HEINZ DUCHHARDT (Hrsg.): Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit [Münstersche historische Forschungen I], Köln 1991, S. 45-90. Vgl. einzelne Hinweise in KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 28; 143. Zur Publizistik grundlegend: CARL GÖLLNER: Die europäischen Türkendrucke des XVI. Jahrhunderts, 3 Bde, 1. Aufl. Bukarest/Baden-Baden 1961-1979 [BBAur XIX; XXIII; LXX], ND Baden-Baden 1994; vgl. auch ALMUT HÖFERT: Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450-1600 [Campus historische Studien 35], Frankfurt/M., New York 2003.
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islamischen histoire croisée zeichnen. Darin ist eine ‚Grenze‘ dieser Ausführungen zu sehen. In einem zweiten Schritt sollen exemplarische Selbstzeugnisse von „Türkenexperten“ analysiert werden (II).
I. Der primär polemisch-religionskulturkämpferische Charakter der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Türkenliteratur blieb während des 15. und 16. Jahrhunderts im Ganzen stabil. Seit der Eroberung Konstantinopels6 lassen sich in dichtem Akkord mit militärischen Szenarien publizistische Konjunkturen nachweisen, die im 16. Jahrhundert im historischen Umfeld der Eroberung Belgrads (1521), der Schlacht von Mohács (1526) – sie führte zum Tod Ludwigs II. von Ungarn und Böhmen und zur Errichtung eines vasallitischen Regimes unter Johann Zápolya –, der Belagerung Wiens (September/Oktober 1529), der Eroberung Budas und Pests (1541), der Eroberung Szigets (1566), der Seeschlacht von Lepanto (1571) – sie endete mit einem Sieg der Heiligen Liga (Spanien, Venedig, Papst) über die türkische Flotte – und schließlich in dem sogenannten ‚langen‘ osmanisch-habsburgischen Krieg (1593-1606) ihre jeweiligen Höhepunkte erreichten.7 Nicht selten wurden bei diesen Anlässen oder in ihrem Gefolge auch ältere Schriften erneut in den Druck gegeben: Die reformationszeitliche Verbreitung des Tractus de moribus … turcorum des Siebenbürgeners Georgius8 etwa setzte im Nachgang der Belagerung Wiens ein; die lateinische Koranausgabe Biblianders9 6
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STEVEN RUNCIMAN: La chute de Constantinople 1453, Paris 2007; ERICH MEUTHEN: Der Fall von Konstantinopel und der lateinische Westen, in: HZ 237, 1983, S. 1-35; MATTHIAS THUMSER: Türkenfrage und öffentliche Meinung. Zeitgenössische Zeugnisse nach dem Fall von Konstantinopel (1453), in: FRANZ REINER ERKENS (Hrsg.): Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalters [ZMF Beiheft 20], Berlin 1997, S. 59-78; anregend auch der Sammelband: BODO GUTHMÜLLER – WILHELM KÜHLMANN (Hrsg.): Europa und die Türken in der Renaissance [Frühe Neuzeit Bd. 54], Tübingen 2000. Zu den militärisch-politischen Aspekten kundig und instruktiv: KLAUS-PETER MATSCHKE: Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege, Düsseldorf, Zürich 2004; stärker kulturgeschichtlich akzentuiert: FRANCO CARDINI: Europa und der Islam. Geschichte eines Missverständnisses, München 2000; eine detaillierte Darstellung des letzten der genannten Kriege bietet: JAN PAUL NIEDERKORN: Die europäischen Mächte und der „lange Türkenkrieg“ Kaiser Rudolf II. (1593-1606) [Archiv für österreichische Geschichte 135], Wien 1993. REINHARD KLOCKOW: Georgius de Hungaria, Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia turcorum [Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 15], Köln u.a. 2. unv. Aufl. 1994; Hinweise zu der Person des Verfassers s. unter II. Grundlegend: HARTMUT BOBZIN: Der Koran im Zeitalter der Reformation [Beiruter Texte und Studien 42], Beirut 1995, bes. S. 159ff; vgl. auch: VICTOR SEGESVARY: L’Islam et la Réforme. Etude sur l’attitude des Réformateurs Zurichois envers l’Islam
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und die sie flankierende Edition zahlreicher älterer ‚islamkundlicher‘ Texte der lateineuropäischen Tradition – wie auch Luthers Übersetzung des dominikanischen Traktates des Ricoldo de Montecrucis10 – folgten dem intensivierten öffentlichen Interesse am „Türken“ nach 1541; die Türkenschriften des Wittenberger Reformators erlebten im Kontext späterer ‚Bedrohungswellen‘ und damit einhergehender Interessenskonjunkturen ungewöhnlich häufige Nachdrucke11 in Form von Einzelpublikationen. 1510-1550, San Francisco/Calif. 1998, S. 161ff; zu Bibliander instruktiv: HANS-MARTIN KIRN: Humanismus, Reformation und Antijudaismus: der Schweizer Theologe Theodor Bibliander (1504/09-1564), in: ACHIM DETMERS – J. MARIUS J. LANGE VAN RAVENSWAAY (Hrsg.): Bundeseinheit und Gottesvolk. Reformierter Protestantismus und Judentum im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts [Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 9], Wuppertal 2005, S. 39-58; zuletzt: CHRISTIAN MOSER: Theodor Bibliander (1505-1564). Annotierte Bibliographie des gedruckten Werkes [Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte 27], Zürich 2009 (zu den Turcica bzw. der großen Koranausgabe bes. S. 8ff; 111ff); zu Luthers Gutachten im Zusammenhang mit der Koranausgabe zuletzt: EHMANN, Luther, Türken und Islam, wie Anm. 10, S. 422ff. 10 WA 53, S. 261-396: Verlegung des Alcorani Bruder Richardi, Prediger Ordens (1542). Eine lateinisch-deutsche kommentierte Ausgabe liegt vor von: JOHANNES EHMANN: Ricoldus de Montecrucis Confutatio Alcorani (1300). Martin Luther Verlegung des Alcoran (1542) [CISC 6], Würzburg, Altenberge 1999; zur Interpretation der Lutherschen Übersetzung s. JOHANNES EHMANN, Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515-1546) [QFRG 80], Gütersloh 2008, S. 75ff. 11 Luthers Schrift Vom Kriege wider die Türken (zuerst: Mitte April 1529; JOSEF BENZING – HELMUT CLAUS: Lutherbibliographie [BBAur X], Baden-Baden ²1998, Nr. 2701-2709; WA 30 III, S. 97) erschien zunächst in neun Drucken 1529, dann in einem 1542 (BENZING – CLAUS Nr. 2701), sodann jeweils in einem in den Jahren 1563, 1565, 1566, 1569, 1573, 1593, 1596 und 1601 (WA 30 III, S. 98-100; VD 16 L 7049-7052). Bei der Heerpredigt wider den Türken (zuerst 1529/30: sieben Drucke; WA 30 III, S. 151; BENZING – CLAUS Nr. 2711-2717) verhielt es sich ähnlich: auf eine erste Druckwelle 1529/30 folgten fünf Drucke von 1541/2 (a.a.O., S. 152f; BENZING – CLAUS Nr. 27192722) und dann spätere Nachdrucke von 1573, 1593, 1596 und 1601, vgl. VD 16 L 7049-7052. Luthers Vermahnung zum Gebet wider den Türken (1541) fällt aus dem Rahmen und scheint kaum separate Nachdrucke während der späteren Türkenkriege erlebt zu haben (WA 51, S. 580-582; 1541/2: 10 Drucke, BENZING – CLAUS Nr. 33783387; VD 16 L 6944-6949 [lateinische und Sammelausgaben]). Auch die Übersetzung der Ricoldus-Schrift wurde nach den ersten beiden Drucken von 1542 erst im 17. Jahrhundert wieder nachgedruckt, WA 53, S. 270; 1684: VD 17 23:6683321M. Mit Ausnahme der religiös-liturgischen Gebrauchstexte (Katechismen, Lieder, Postillen) erschienen Luthersche Schriften als Einzelausgaben in der Regel nur im engsten historischen Umkreis ihrer Erstveröffentlichung in Nachdrucken. Ansonsten bildeten die Sammelbzw. Gesamtausgaben sowie die Florilegien-Sammlungen (ERNST KOCH: Lutherflorilegien zwischen 1550 und 1600. Zum Lutherbild der ersten nachreformatorischen Generation, in: Theologische Versuche XVI, 1986, S. 105-117; WOLFGANG SOMMER: Luther – Prophet der Deutschen und der Endzeit, in: DERS.: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der frühen Neuzeit [FKDG 74], Göttingen 1999, S. 155-176; zuletzt: THOMAS KAUFMANN: Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“
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Die Herausforderungen durch das Osmanische Reich wirkten in Bezug auf das politische System in Deutschland im Ganzen stabilisierend und integrierend12, doch den durch die Reformation aufgebrochenen religiös-theologischen, kulturellen und mentalen Riss vermochte auch die gemeinsame Gegnerschaft gegen die Türken nicht zu schließen. An den wechselseitigen konfessionspolemischen Turkisierungsstrategien13 des jeweiligen Gegners, bei denen etwa ‚Werkerei‘, Mönchtum oder asketisches Heiligungsstreben der Katholiken, Abschaffung oder religionspraktische Relativierung der Bilder und Ächtung des Pflichtzölibats bei den Lutheranern, ‚Gesetzlichkeit‘, Ikonoklasmus und ‚antiochenische‘ Tendenzen in der Christologie bei den Reformierten zum Anlass genommen wurden, um sich gegenseitig als ‚Türken‘ zu verunglimpfen, wird deutlich, dass die Konfessionsgesellschaften des 16. Jahrhunderts über mühelos aktivierbare Kenntnisressourcen hinsichtlich der Türken verfügten. Das Breitenwissen über den ‚einen großen Feind‘ der ‚Christenheit‘ war jedenfalls umfassend genug, um polemische Anspielungen auf „türkische“ Verhaltensweisen des konfessionellen Gegners, aber auch infamisierter, marginalisierter oder moralisch diskreditierter Feinde in der ‚Nachbarschaft‘ dechiffrieren zu können.14 Die multimediale Omnipräsenz des ‚Türken‘ in Liedern15 und Fastnachtsspielen, auf illustrierten Flugblättern oder in Flugschriften, im geschriebenen, gelesenen und gepredigten Wort16, im mahnen-
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[1548-1551/2] [BHTh 123], Tübingen 2003, S. 367ff) die maßgebliche Form der Überlieferung und Verbreitung seines Werkes. Nachdrucke einzelner Schriften Luthers in Einzeldrucken bildeten die Ausnahme und begegneten nur bei zeitgenössisch besonders umstrittenen Themen, etwa der christologischen Zwei-Naturen- und der Abendmahlslehre (z.B. VD 16 L 6987-6989) sowie der ‚Judenfrage‘ (z. B. VD 16 L 7155). Dies ist das grundlegende, weithin unbestrittene Ergebnis der Studie von WINFRIED SCHULZE: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert, München 1978. Vg. dazu KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 42ff; 181ff. Vgl. THOMAS KAUFMANN: Religions- und konfessionskulturelle Konflikte in der Nachbarschaft. Einige Beobachtungen zum 16. und 17. Jahrhundert, in: GEORG PFLEIDERER – EKKEHARD W. STEGEMANN (Hrsg.): Religion und Respekt. Beiträge zu einem spannungsreichen Verhältnis [Christentum und Kultur V], Zürich 2006, S. 139-172. Vgl. SENOL ÖZYURT: Die Türkenlieder und das Türkenbild in der deutschen Volksüberlieferung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert [Motive 4], München 1972. Zur Gattung der Türkenpredigten vgl. nur: SUSAN R. BOETTCHER: German Orientalism in the Age of Confessional Consolidation: Jacob Andreae’s Thirteen Sermons on the Turk, 1568, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 24/2, 2004, S. 101-114; SIEGFRIED RAEDER: Die Türkenpredigten des Jacob Andreae, in: MARTIN BRECHT (Hrsg.): Theologen und Theologie an der Universität Tübingen, Tübingen 1977, S. 96-122; DERS., Tübinger Türkenpredigten, in: ROLF-DIETER KLUGE (Hrsg.): Ein Leben zwischen Laibach und Tübingen. Primus Truber und seine Zeit [Segners Slavistische Sammlung 24], München 1995, S. 133-146; DERS.: Johannes Brenz und die Islamfrage, in: BWKG 100, 2000, S. 345-367; NORBERT HAAG: „Erbfeind der Christenheit“. Türkenpredigten im 16. und 17. Jahrhundert, in: GABRIELE HAUG- MORITZ – LUDOLF PELIZAEUS (Hrsg.): Repräsentationen der islamischen Welt im Europa der frühen Neuzeit, Münster 2010, S. 127-149.
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den Klang der „Türkenglocke“17 oder in monetären18, visuellen und vestimentären19 Repräsentationen hatte seit der Mitte des 15. Jahrhunderts dazu geführt, dass wohl alle Schichten der Gesellschaft auf die symbolischen Potenziale seines ‚Bildes‘ ansprechbar waren. Durch „Türkenpredigten“, die insbesondere von lutherischen Theologen vorgetragen und publiziert wurden, waren Informationen, Ressentiments oder Bestände an Erfahrungs- und Orientierungswissen über die „türkische Religion“ und ihre widerchristliche Grausamkeit verbreitet, die nicht zuletzt für den interkonfessionellen Kampf genutzt werden konnten. Der Umstand freilich, dass sowohl die Lutheraner als auch die Reformierten für ihre Auseinandersetzung mit der „türkischen Religion“ auf Text- und Traditionsbestände des lateinischen Mittelalters zurückgriffen, illustriert, dass es sachgerecht ist, die Kontinuitäten und Persistenzen in der Wahrnehmung der „türkischen Religion“ seit dem 15. Jahrhundert eigens zu betonen.20 Ungeachtet mancherlei Auf- und Umbruchsdynamik im Zuge der Reformation blieben im 16. Jahrhundert Wertungen und Wahrnehmungen der „türkischen Religion“ intakt bzw. wurden reaktiviert, die vor allem im 15. Jahrhundert entwickelt und ausgearbeitet worden waren. In Bezug auf die Wahrnehmung der „türkischen Religion“ im 15. und 16. Jahrhundert lassen sich vornehmlich zwei unterschiedliche Formen bzw. Typen 17 Vgl. LUDWIG FREIHERR VON PASTOR: Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance bis zur Wahl Pius II., Bd. 1, 12. unv. Auflage, Freiburg/B. u.a. 1955, S. 721-723 mit Anm. 1; GERHARD DOHRN-VAN ROSSUM: Die Geschichte der Stunde [dtv 4673], München 1995, S. 191; ÖZYURT, Türkenlieder, wie Anm. 15, S. 32; vgl. LexMA IV, Sp. 1499f; zum weiteren historischen Kontext: KLAUS SCHREINER: Kriege im Namen Gottes, Jesu und Mariä. Heilige Abwehrkämpfe gegen die Türken im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: DERS. (Hrsg.): Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich [Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 78], München 2008, S. 151-192. 18 Vgl. zur Türkensteuer knapp: LexMA VIII, Sp. 1108f; PETER SCHMID: Der Gemeine Pfennig von 1495 [SHKBAW 34], Göttingen 1989, S. 87ff; passim. 19 Die Beispiele für die Präsenz „türkisch“ gekleideter Menschen in der Druckgraphik des 16. Jahrhunderts sind Legion; einige Beispiele in: KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 82ff; eindrucksvolle Bilder von Jan Swarts van Groningen und Daniel Hopfer in: CHRISTOPH METZGER (Hrsg.): Daniel Hopfer. Ein Augsburger Meister der Renaissance, Berlin, München 2009, Nr. 67-71, S. 172-177; 389-392; ein Einfluss türkischer Kleidung auf den ‚Westen‘ scheint gleichwohl nicht evident, vgl. ANNEMARIE BÖNSCH: Formengeschichte europäischer Kleidung [Konservierungswissenschaft, Restaurierung, Technologie 1], Wien 2001, S. 97-150; JULIA LEHNER: Mode im alten Nürnberg [Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte Bd. 36], Nürnberg 1984, S. 73-93 (S. 87 immerhin der Hinweis auf einen türkischen Einfluss auf die in die burgundische Mode eindringenden Schnabelschuhe). 20 Vgl. THOMAS KAUFMANN: Kontinuitäten und Transformationen im okzidentalen Islambild des 15. und 16. Jahrhunderts, in: LOTHAR GALL u.a. (Hrsg.): Judaism, Christianity, and Islam in the Course of History: Exchange and Conflicts [Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 82], München 2010, S. 287-306.
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differenzieren, die freilich auch kombiniert auftraten: das eine Wahrnehmungsmodell folgte dem seit der Spätantike, insbesondere seit Johannes Damaszenus etablierten häresiologischen Muster und beschrieb die türkische „Sekte“ oder „Religion“ als Derivat gnostischer, manichäischer Ketzerei oder der altkirchlichen christologischen Heterodoxien des Arianismus oder des Nestorianismus.21 In dieser Perspektive dominierte das Interesse daran, „die Mahometische oder Türkisch Lehr und Glauben“ allein von daher zu verstehen, „wie derselbig verfasset ist worden vor neünhundert Jaren in Arabi-Sprach / in dem Buch / das Alcoran genennet würdt“22. Die Kritik an der ketzerischen Lehre des Korans stand in der durch den Damaszener eingeübten Tradition und sah in der Bezugnahme auf biblische Sachverhalte und Personen in der „Heiligen Schrift“ der Muslime eine angemessene Grundlage dafür, deren doctrina am Maßstab der biblischen Norm zu beurteilen. Die „Mahometische Religion“ wurde entsprechend primär als überzeitliche Agglomeration bestimmter Lehren verstanden, die in einer als normativ gesetzten heiligen Urkunde enthalten waren. Was es um diese „Religion“ sei, erschloss sich also primär aus den Lehren des Koran.23 Reformatorische Theologen intensivierten und verfeinerten die hermeneutische Kriteriologie nach Maßgabe des in der innerchristlichen Kontroverstheologie profilierten Schriftprinzips, knüpften ansonsten aber an das häresiologische Wahrnehmungsmodell in Bezug auf den Islam an. Die im Reformationsjahrhundert forcierten Bemühungen darum, den ‚Text‘ des ins Lateinische übersetzten Korans zugänglich zu
21 Vgl. Jean Damascène: Ècrits sur l’Islam, présentation, commentaires et traduction par R. LEYMAN LE COZ [SC 383], Paris 1992; REINHOLD GLEI – ADEL THEODOR KHOURY (Hrsg.): Schriften zum Islam / Johannes Damaskenos und Theodor Abu-Qurra, kommentierte griech.-deutsche Textausgabe [CISC Ser. Graeca 3], Würzburg, Altenberge 1995; DANIEL SAHAS: The Arab character of the Christian disputation with Islam. The case of John of Damascus (ca. 655-ca. 749), in: FRIEDRICH NIEWÖHNER – BERNARD LEWIS (Hrsg.): Religionsgespräche im Mittelalter [Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 4], Wiesbaden 1992, S. 185-205; STEFAN SCHREINER: Der Islam als politisches und theologisches Problem der Christen und die Anfänge christlich-antiislamischer Polemik, in: HANSJÖRG SCHMID – ANDREAS RENZ – JUTTE SPERBER – DURAN TERZI (Hrsg.): Identität durch Abgrenzung? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam, Regensburg 2007, S. 119-138, bes. 132 ff. 22 Lukas Osiander, Bericht / Was der Türcken glaub sey / gezogen auß dem Türkischen Alcoran / sampt desselben Widerlegung …, Tübingen, U. Mohart W., 1570; VD 16 O 1182; Ex. MF 1839f Nr. 2046, )()( 1r/v; zu Lukas I. Osiander (1534-1603) vgl. DBETh 2, S. 1013f; RGG4, Bd. 6, 2003, Sp. 720f; DBI 921, 94-117. 23 Die Rede von der „türkischen“ oder „mahometischen Religion“ ist durchaus geläufig, vgl. WA 30 II, S. 205,2f; 206,3 („Turcorum seu Mahomethi religionem“); in dieser Wortverwendung kann die „türkische“ der „christlichen Religion“ entgegengesetzt werden. Weitere Beobachtungen zu „religio“ in der „Turcica“, die sich mit dem von ERNST FEIL herausgearbeiteten Befunden (Religio, 4 Bde [FKDG 36; 70; 79; 91], Göttingen 19862007; vgl. DERS.: Artikel Religion I/II, in: RGG4, Bd. 7, 2004, Sp. 263-274) nicht ohne weiteres decken, in: KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 113 Anm. 9; HÖFERT, Alteritätsdiskurse, wie Anm. 91, S. 33f.
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machen, folgten polemisch-apologetischen Tendenzen24, die tief in der christlichen Wahrnehmungsgeschichte des Islam verwurzelt waren. Ein anderes, schon von den Zeitgenossen gegenüber dem ersten deutlich unterschiedenes Wahrnehmungsmodell der „türkischen Religion“ setzte gleichsam empirisch bzw. experientiell (s. u. II.) an. Es brachte vornehmlich zur Darstellung, was bei den Türken „für Tyranney und Unzucht getrieben werde“25 und verband diese Schilderungen nicht selten mit Berichten eigener oder fremder Reise- oder Gefangenschaftserfahrungen. Im Rahmen dieser Berichte wurden auch die kulturellen Attraktionsmomente des Lebens unter dem Halbmond breit behandelt: die architektonischen Höchstleistungen beim Bau faszinierender Moscheen, die eindrucksvollen Fertigkeiten in Handwerk und Handel, das asketische Virtuosentum der Derwische, die Demut und Disziplin der in polygamen Ehen lebenden Frauen, die Härte und Martyriumsbereitschaft der zumeist durch die Knabenlese gewonnenen Janitscharen, der überwältigende Prunk am Hofe des Sultans – dies sind die thematischen Felder, die in kaum einem der „Erfahrungsberichte“ fehlten.26 Anhand der eindrucksvollen Momente türkischer Kultur wurde zum einen 24 Vgl. HARTMUT BOBZIN: „Aber itzt … hab ich den Alcoran gesehen latinisch…“ Gedanken Martin Luthers zum Islam, in: HANS MEDICK – PEER SCHMIDT (Hrsg.): Luther zwischen den Kulturen, Göttingen 2004, S. 260-276. 25 Osiander, Bericht, wie Anm. 22, )()( 1r. 26 Vgl. dazu KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, passim; HÖFERT, Feind, wie Anm. 5, passim; als Beispiel für die Aufnahme vornehmlich aus Reise- und Gefangenschaftsberichten bekannter Wissensbestände in die kosmographische Literatur sei auf deren Rezeption bei Sebastian Münster verwiesen: Cosmographey. Oder Beschreibung Aller Länder herschafften und fürnehmsten Stetten des gantzen Erdbodens …, Basel 1588, ND Grünwald bei München 1977, S. 1263-1270. Sebastian Franck behandelt die Entstehung des „Türkisch glaub“, den er als „neüwen und schantlichen aberglauben“ darstellt, „durch welchen nahend unser glaub ist ausgelöscht“, im Rahmen der Kaiserchronik: Chronica Zeitbuch und Geschichtbibell von anbegyn bisz in dies gegenwertig M.D. XXXVI. Iar verlengt … [Ulm] 1536, ND Darmstadt 1964, S. CXCVIIIv-CXCIXr. Während in dem Abschnitt zu Mohammed auch Wissen aus der Franck aufgrund seiner Übersetzung der Schrift des Georgius (s. u. Anm. 68 ) intensiv vertrauten Gefangenschaftsliteratur eingeflossen ist, wirkt in seiner knappen Behandlung des Korans die traditionelle häresiologische Wahrnehmungsform nach: „Es ist aber Alcora der Türken Talmut / oder Decret / darin ist yr geystlichkeyt verfaßt / durch Machomet / auß beistand Joannis Antiocheni / des Arianischen ketzers / Sergii / und eines Juden zusammen getragen. Darin wirt angezeigt / das Christus gen himel sei gestigen / hab aber nitt gelitten sunder Judas der verräter / sei auß göttlicher Kraft / als sie Christum suchten / in die gestalt Christi verwandlet / für yn ergriffen / gecreütziget worden. Wer im eebruch ergriffen wirt / der wirt auß vermög Alcore versteinigt / wer aber mit einer ledigen sündiget / dem werden achtzig schleg geben. Item es steht darin / einem dieb zum erst und andern mal ergriffen / sollen etlich streich geben werden / zum dritten sol er beide hend geben zum vierdten beide fuß / und viel andere gesetz / zulang hie zuerzelen.“ A.a.O., CIXv. Das ist es, was der Leser der Chronik über den Koran erfährt! Vgl. zum legendarischen Hintergrund: NORMA DAVID: Islam and the West. The Making of an Image, ND Oxford 2003, S. 100ff; BARBARA ROGGEMA: A Christian Reading of the Qur’an: the Legend of Sergius-Bahīrā and
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konkretisiert, dass dieser ‚Gegner‘ oder ‚Feind‘ den Erwartungshorizont dessen, was unter christlichen Gesellschaften üblich war, vollständig sprengte, dass er über alle Maßen gefährlich, ja wohl gar unbesiegbar sein müsse und dass die Grausamkeiten, das Tremendum, das zu schildern man nicht müde wurde, mit dem Faszinosum seiner schillernden kulturellen Leistungen untrennbar zusammengehörte. Sowohl für die Anhänger der „türkischen Religion“, als auch für diese selbst war im 15. und 16. Jahrhundert eine Vielfalt an Bezeichnungen verbreitet: Heiden, Sarazenen, Türken, Ismaeliten, Hagarener, Mahumetisten und Muselmanen bzw. die jeweiligen lateinischen Äquivalente benutzte man für die Personen, lex, bzw. Gesetz, secta bzw. Sekte, superstitio oder Aberglaube, haeresis bzw. Ketzerei, Lehre oder doctrina, Glauben bzw. fides und religio/Religion wurde ihre „Religion“ genannt.27 Der semantischen entspricht eine epistemologische Varianz: die „türkische Religion“ ist als Häresie ein depravierter Teil der ‚eigenen‘, als lex, secta oder religio das substantielle Element einer ganz und gar ‚fremden‘ Geschichte. Im Unterschied zum Judentum, mit dem man im interpretativen Kampf um die maßgebliche religiöse Ressource des Alten Testaments schicksalhaft-agonal verbunden war28, stellte sich die „türkische Religion“ als ein in aller Negativität eigenständiges, freilich ‚hybrides‘ Gebilde dar: Als ein „gemangk“29, aus Heidentum, Christentum und Judentum, das „jeglichem Glauben zu gefallen“ versuche, das also anderen „Religionen“ jeweils einzelne Elemente aus ihrem Eigenen anbiete, um den „Alcoran desto leichter unter alle Völcker [zu] verkauffen“30. Mit dem hybriden Charakter des türkischen Religionsgemischs hänge seine bedrohliche Verführungskraft zusammen, mache es Christen doch glauben, dass „die Christlich und Mahometische Religion oder Glaub / nicht so weit von
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its Use of Qur’an and Sīra, in: DAVID THOMAS (Hrsg.): Syrian Christians under Islam, Leiden u.a. 2001, S. 57-74 [Lit.]; zur Umformung bzw. Fortschreibung der Jesustraditionen im Koran s. MARTIN BAUSCHKE: Jesus im Koran, Köln 2001. Vgl. die Einzelnachweise in: KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 18f; 120ff. Vgl. exemplarisch: DEAN PHILIP BELL – STEPHEN G. BURNETT (Hrsg.): Jews, Judaism and the Reformation in Sixteenth-Century Germany [Studies in Central European Histories 37], Leiden/Boston 2007; THOMAS KAUFMANN: Luthers „Judenschrifen”. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 2011; ROLF DECOT – MATTHIEU ARNOLD (Hrsg.): Christen und Juden im Reformationszeitalter [VIEG Beiheft 72], Mainz 2006; instruktiv auch einzelne Artikel in: WOLFGANG BENZ (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 1ff, München 2008ff. Georg Mylius, Zehen Predigten vom Türken In welchen gehandelt wird vom Ursprung und Anfang / Glauben und Religion / unfug und Tyranney …, Jena, Tobias Steinmann 1596; VD 16 M 5407; Ex. MF 1885-1887, Nr. 3155, S. 16r; zu Mylius vgl. KENNETH APPOLD: Der Fall Georg Mylius, in: IRENE DINGEL – GÜNTHER WARTENBERG (Hrsg.): Die Theologische Fakultät Wittenberg, 1502-1602 [LStRLO 5], Leipzig 2002, S. 155172; weitere Hinweise in: THOMAS KAUFMANN: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts [SuR N. R. 29], Tübingen 2006, passim. Mylius, Zehen Predigten, S. 16r.
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einander [seien] / und ein Christ seinen Glauben nicht allerdings verlassen / und sich des Herrn Christi gar verleugnen müßte / ob er sich schon in die Türkische Religion begebe.“31 Wenn von Vertretern der „türkischen Religion“, wohl vor allem in Kontext der unter osmanischer Herrschaft stehenden Gebiete, etwa mit dem Hinweis auf die Bedeutung Jesu im Koran eine ‚Nähe‘ beider „Religionen“ suggeriert wurde, so veranlasste dies die theologischen Identitätshüter der christlichen Religion zu umso entschiedener Distinktion: Dort, wo die „türkische Religion“ im Gefolge der osmanischen Eroberungen bedrohlich nahe kam und Ängste vor massenhaften Konversionen innerlich wenig gefestigter christlicher Gesellschaften auslöste bzw. auszulösen drohte, evozierte dies Anstrengungen katechetischer Gegenmobilisierung und semantischer Separation als dezidiert eigener Religion.32 Die Attraktionskraft der „türkischen Religion“ wurde mit ihrem diabolischen Herkommen oder ihrem antichristlichen Charakter erklärt; der ‚Meister des schönen Scheins‘, der Teufel, verstehe es, durch heuchlerische Demut und die trügerische Vorspiegelung von Frömmigkeit und Tugend (exemplarits simulata et religionis ficta ostentatio)33 Christen zu verführen und sie damit unter seine Herrschaft zu bringen. Für Georgius de Hungaria ist der Aufstieg der „Theorici“ – so der angebliche etymologische Ursprung der „Turci“, d. h. der „spirituales“, denen eine besondere und geheimnisvolle Kraft eigne, Christen zu ihrer Bosheit
31 Osiander, Bericht, wie Anm. 22, )( 3r. 32 Dies lässt sich besonders deutlich an Luthers im Abfassungjahr seiner Katechismen erschienener Heerpredigt wider den Türken (1529) zeigen, vgl. bes. WA 30 II, S. 186,15ff; s. a.: THOMAS KAUFMANN: Das Bekenntnis im Luthertum des konfessionellen Zeitalters, in: ZThK 105, 2008, S. 281-314, bes. 308ff; s. a. unten Anm. 95f. In dem für die Anfänge der lutherischen Bekenntnisbildung zentral wichtigen Unterricht der Visitatoren (1528) sahen die Wittenberger Reformatoren einen eigenen Artikel „Vom Turcken“ vor; die spätere Lehrbildung folgte diesem Ansatz nicht. Dieser Artikel begründete vor allem das Recht auf eine militärische Verteidigung gegen den Türken und setzte sich mit der ‚radikal-reformatorischen‘ Verweigerung derselben auseinander; dass letztere sich freilich auf Luthers früheste Äußerungen berufen konnte, sei lediglich angemerkt (s. dazu KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 53; 206; 70ff). Die Berechtigung, ja Verpflichtung zur Türkenabwehr wird von den Wittenberger Reformatoren vornehmlich ethisch-politisch motiviert: „Darumb man schuldig ist / den Türcken zu weren / die nicht allein die Lender begern zu verderben / weib und kinder schenden und ermorden / Sondern auch Landrecht / Gottes dienst / und alle gute ordnung wegnemen / Das auch die ubrigen nachmals nit mügen sicher leben / Noch die Kinder zu zucht und tugent gezogen werden. […] Lieber / Wenn schon der Christliche glaube nichts were / so ists dennoch not / das wir streiten widder die Tuercken / umb unser weib und kind willen / Denn wir lieber tod sein wollen / ehe wir solche schande und unzucht an den unsern sehen und leiden wollen / Denn die Türcken treiben die leute zu marckt / keuffen und verkeuffens / brauchens auch wie das vihe / es sey man odder weib / iung odder alt / iungfraw odder ehelich / des gar ein schendlich wesen ist umb das Türkisch wesen.“ LuStA 3, S. 448,28-32; 449,2-8 = WA 26, S. 229,25-28.37-43. 33 KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 166.
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hin- und von der Heilsgemeinschaft der Kirche abzuziehen34 – im apokalyptischen Bild des zweigehörnten Tiers (Apk 13,11), das wie ein Drache redet und aus der Erde kommt, prophezeit: Der Aufstieg aus der Erde bedeute, dass die Kirche des türkischen Antichristen auf der Grundlage der christlichen Kirche entstanden sei; aufgrund teuflischer Kraft (virtute diabolica)35 ziehe sie ihre Lebendigkeit daraus, das pervertierte Gegenbild der wahren kirchlichen Herrschaft darzustellen. Wie das Böse an sich, so sei auch die „türkische Religion“ ohne eigene Subsistenz, sondern existiere parasitär. Sie verdanke ihre Anziehungskraft also einzig und allein dem Christentum, das sie kopiere. Deshalb sei es auch angemessen, sie nach Maßgabe des Eigenen zu beurteilen: Ihr Beschneidungsritus soll ein Heilsmittel sein, besitze aber keinerlei sakramentale Qualität; ihre phantastischen Jenseitsschilderungen seien reines Blendwerk, Projektionen menschlicher Glückswünsche; ihre Waschungen hätten mit der Heilswirkung der Taufe nichts gemein; mittels koranischer Verse betriebene Wortmagie sei mit der Kraft des Evangeliums nicht zu vergleichen; Christus, der wahre Gottmensch, sei von dem zum menschlichen Abgott aufgeworfenen Mohammed himmelweit verschieden.36 Nicht zuletzt der prophetische Überbietungsanspruch Mohammeds gegenüber Christentum und Judentum rechtfertige es, die einzelnen Aspekte dieser Religion in vergleichend-wertende Beziehung zum Eigenen zu setzen. Das Urteil des Petrus Venerabilis, der Koran sei der Irrtum aller Irrtümer, der Bodensatz, auf dem sich alle Ketzereien seit Christi Geburt abgelagert hätten, konnte von einem profilierten lutherischen Theologen wie Georg Mylius am Ende des 16. Jahrhunderts ohne Einschränkungen positiv aufgenommen werden.37 34 „Et ex tunc intravit ille novus et spiritualis Mechometus, nuncius Antichristi, et ceperunt iam non Sarraceni, sed ‚Theorici‘, id est ‚spirituales‘, nomen habere, eo quod in attrahendis Christianis ad suam maliciam et avertendis a fide Christi et societate ecclesie quasi supranaturalem viderentur habere efficaciam.“ KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 164/6. In einigen ‚Turcica‘ des 16. Jahrhunderts wurde die wohl von Georgius von Ungarn ersonnene (vgl. KLOCKOW, a.a.O., S. 165 Anm. 29) Etymologie Turci m Theorici aufgenommen, so bei dem Nürnberger Arzt Erasmus Flochius (Prognostica de imperiis christiano et turcico …, Nürnberg, Valentin Neuber, 1560; VD 16 N 77; Ex. MF 2191 Nr. 2500, A2r) oder bei Justus Jonas / [Philipp Melanchthon], Das siebend Capitel Danielis / von des Türcken Gottes Lesterung und schrecklicher morderey …, Wittenberg, Hans Lufft [1530]; Köhler, Bibl. II, Nr. 1789, S. 139f; Ex. MF 481 Nr. 1291, E3r. 35 KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 168: „Ista enim bestia ascendit de terra, quia a soliditate et firmitate catholice fidei orta. Habet duo cornua similia agni, maliciam invidie sub specie pietatis et nequiciam superbie sub specie humilitatis […]. Loquitur sicut draco, quia opera falsorum miraculorum virtute dyabolica se facere ostendit.” 36 Vgl. KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 360ff. 37 Mylius, Zehen Predigten, wie Anm. 29, S. 10r. Zu Petrus Venerabilis’ Haltung gegenüber dem Islam und seiner Rolle im Zusammenhang mit der Übersetzung des Korans durch Robert von Ketton vgl. REINHOLD GLEI (Hrsg.): Petrus Venerabilis: Die Schriften zum Islam [CISC 1], Altenberge 1985; JAMES KRITZECK: Peter the Venerable and Islam, Princeton NJ 1964; MARIA ROSA MENOCAL: Die Palme im Westen. Muslime, Juden
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Ungeachtet dieser Kontinuitäten dominierte in der christlichen Türkenliteratur seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aber doch das Bewusstsein einer akzelerierenden Not, einer dramatischen, endzeitlichen Zuspitzung. Während die Muslime in der Zeit der erfolgreichen Maurenmission des Dominikaners Vinzenz Ferrer (1350-1419)38 noch auf der mittleren Stufe der Gottesgegner gestanden hätten – auf der ersten befänden sich die Ungläubigen und die Todsünder, die außerhalb der göttlichen Gnade stünden; auf der dritten die agressivkämpferischen Feinde, über die der Teufel definitiv die Macht gewonnen habe; auf der zweiten die notorischen Sünder, Ketzer und falschen Gottesverehrer –39, stünden sie am Ende des 15. Jahrhunderts, so Georgius, auf der dritten Stufe. Aus den vom Heil abgeschnittenen Ketzern, Heiden, ja „semichristiani“40 waren für Georgius von Ungarn „inkarnierte Teufel“41 geworden, für die die Bezeichnung „Hunde“42 angemessen sei und von denen auch Luther meinte, dass sie, sofern sie dem Koran glaubten, „nicht werd [seien], das sie Menschen heissen“.43 Freilich differenzierte der Wittenberger Reformator in Hinblick auf die auch ihm nicht verborgen gebliebenen astronomischen, philosophischen und medizinischen Fertigkeiten der Araber: „Nu, ich [sc. Luther] will dis mal setzen […], das die Türken zum teil auch Menschen sein und dem Alcoran nicht gleuben […]. Denn auch unser Medici und Astronomi viel Saracenen bücher haben als
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und Christen im alten Andalusien, Berlin 2003, S. 245ff; JOSÉ MARTINEZ – OSCAR DE LA CRUZ – CANDIDA FERERO – NÁDIA PETRUS: Die lateinischen Koran-Übersetzungen in Spanien, in: MATTHIAS LUTZ-BACHMANN – ALEXANDER FIDORA (Hrsg.): Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter, Darmstadt 2004, S. 27-39. Vgl. KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 314f; zu Ferrer vgl. RGG4, Bd. 8, 2005, Sp. 1118f. KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 312-315. Erasmus, Consultatio de bello turcico, Opera [ASD] Bd. V/3, Amsterdam u.a. 1986, S. 52,396 (Kasus von mir geändert, Th.K). KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 314. Die Bezeichnung der Nichtchristen als „Hunde“ hat im Kontext häresiologischer Polemik als konventionell zu gelten, vgl. HARALD DICKERHOFF: „nomine canum gentiles designantur.“ Zum Heidenbild in mittelalterlichen Bibellexika, in: Secundum regulam vivere. FS Norbert Backmund, Windberg 1978, S. 41-71; eine gleichwohl vorhandene Tradition, die mittels der imago Dei die Wertung der Heiden als Menschen kirchenrechtlich einschärfte, stellt RÜDIGER SCHNELL dar: Die Christen und die „Anderen“. Mittelalterliche Positionen und germanistische Perspektiven, in: ODILO ENGELS – PETER SCHREINER (Hrsg.): Die Begegnung des Westens mit dem Osten, Sigmaringen 1993, S. 185-202. Auch Luthers dramatisch gewandelte Auffassungen in der ‚Judenfrage‘ spiegeln sich insbesondere im Gebrauch der Hundemetaphorik: Hatte er 1523 die Christenheit beschuldigt, die Juden wie „hunde nicht menschen“ (WA 11, S. 315,3f) zu behandeln, so forderte er zwei Jahrzehnte später, dass die Juden „wie die tollen hunde aus[zu]jagen“ (WA 53, S. 541,36-542,1) seien. Vgl. dazu KAUFMANN, „Judenschriften“, wie Anm. 28; DERS., Der „alte“ und der „junge“ Luther als theologisches Problem, in: CHRISTOPH BULTMANN – VOLKER LEPPIN – ANDREAS LINDNER (Hrsg.): Luther und das monastische Erbe [SMHR 39], Tübingen 2007, S. 187-205. WA 53, S. 388,33.
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Avincennam [Ibn Sina], Mesue [Ibn Masawayh], Hali [Ali Ibn al’Abbas], Albumasar [Abu Ma’shar Djafar ben Muhammad], Alfraganas [Alfragana] etc., die freilich Menschen gewest und dem Alcoran nicht gegleubt, sondern der vernufft gefolget haben, wie Plato, Cicero und der gleichen Philosophi, Solche Leute, achte ich, sind uber der secten irre worden Und haben weder Jüden noch Christen noch Sarracen sein wollen und sich der vernufft und Philosophia gehalten.“44 Die Aussage lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass die „Türken“ bzw. – für Luther synonym – Araber, sofern sie dem Koran, jenem „verflucht[en], schändlich[en], verzweifelt[en], buch […] voller Lugen, Fabeln und aller Greuel“45 folgten, einen Anspruch auf die mit dem Begriff des Menschen verbundene ethische Bewertung verwirkten. Im Unterschied zur Philosophie und zur Vernunft im Allgemeinen, denen Luther coram mundo et hominibus eine wichtige, freilich in keiner Weise heilsrelevante Bedeutung zuerkannte46, hatte der Koran für den Wittenberger Reformator mit Rationalität nichts zu tun. Die traditionelle häresiologische Behandlung des Islam spielte bei ihm, der von der negativen Sicht des Georgius stark beeinflusst war, nurmehr eine untergeordnete Rolle. Das Besondere im Verhältnis des Christentums zum „Türken“ und seiner „Religion“ bestand generell darin, dass es sich nicht auf ein solches der äußerlichen Distanz und der distinkten Abgrenzung fixieren ließ, sondern ‚Innen‘ und ‚Außen‘, ‚Nähe‘ und ‚Ferne‘ notorisch ineinander griffen. Denn der Türke, so konstatierte Mylius, „nötiget sich ohne unterlaß zur Kirchen / und will mit deren ohne auffhören zu thun haben / er erstreitet und kriget unabläßlich wider dieselbige / er verstöret die Heiligen des Höchsten / und gehet darauff umb mit aller seiner Macht / das er entweder uns zu seinem Alcoran hinzu bringe / und auch zu Türcken mache: Oder aber den namen Christi und seiner gleubigen allerdings vertilgen und ausrotten könde.“47 Die Ambivalenz von Nähe und Ferne, Innen und Außen, teilte der „Türke“ im Kontext der innerchristlichen Auseinandersetzung des 16. Jahrhunderts mit den konfessionellen Gegnern. Die wechselseitigen Turkisierungsstrategien der Katholiken, Lutheraner und Reformierten setzten die Ambiguität dieses Verhältnisses voraus.48 44 WA 53, S. 389,31-390,5; vgl. EHMANN, Ricoldus, wie Anm. 10, S. 185; 314f. 45 WABr 10, Nr. 3802, S. 160-163, hier: 162,35f. 46 Vgl. zuletzt: THOMAS KAUFMANN: Die Ehre der Hure. Zum vernünftigen Gottesgedanken in der Reformation, in: JÖRG LAUSTER – BERND OBERDORFER (Hrsg.): Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftiger Gottesgedanke [RPT 41], Tübingen 2009, S. 61-92, bes. 64ff. 47 Mylius, Zehen Predigten, wie Anm. 29, S. 34v. 48 Vgl. KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 42ff; 175ff. Im Jahr 1642 erschien ein Buch mit dem Titel Luthers Alcoran (o. O., o. Dr.; Quelle: Early English Books online [EEBO], PPN 00201937X), das sich als englische Übersetzung eines gleichnamigen, von einem französischen Kardinal namens Peron [Jacques Davy du Perron ] verfassten Werkes gegen die Hugenotten präsentiert und das der Übersetzer „N. N. P.“ mit einer gegen die englischen Puritaner gerichteten Absicht veröffentlichte (S. 3f). Der Traktat entfaltet die These, dass die Lutheraner – d. h. alle Protestanten! – in 40 vor al-
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Unter den Bedingungen der militärischen Bedrohung durch das Osmanische Reich, die in der Regierungszeit Sultan Suleimans des Großen (1520-1566)49 ihre dramatischste Steigerung erfuhr, geriet die christliche Wahrnehmung der „türkischen Religion“ zugleich in einen forcierten Prozess der Diversifikation und der fortschreitenden Negativierung: Man nahm neues Wissen und Nachrichten aller Art begierig auf und setzte sie in literarische und mündliche Formen der Agitation um; man führte traditionelle häresiologische Wertungsmuster fort; man bemächtigte sich durch Publikation und Auslegung der wichtigsten religiösen Ressource dieser Religion, des Korans, und man präzisierte den geschichtstheologischen Ort der Türken, indem man ihn in der Bibel fand. Vor der Reformation waren die Türkenkreuzzüge und die mit diesen verbundenen und durch sie nachdrücklich geförderten Plenarablässe das entscheidende Instrument gewesen, mit dem die Papstkirche der kollektiven Herausforderung durch die Osmanen begegnet war und dem entsprechenden Widerstandskampf der Christen heilswirksame Gnadeneffekte verheißen hatte.50 Diese Strategie war mit Luthers bußtheologisch motivierter Ablasskritik in eine tiefe Krise geraten. Ähnlich vereinzelten devianten Stimmen vor der Reformation51, die in den Siegen der Türken eine Züchtigung des seine verkommene Christenheit strafenden Gottes sahen, hatte Luther zu Beginn des Ablassstreites betont, dass vor allem Buße, innere Einkehr und Läuterung des ganzen christlichen Lebens und Wesens die angemessene Reaktion auf den göttlichen Zorn sein müsse.52 Dass die zum
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lem auf die Lehre bezogenen Fragen von der wahren katholischen Kirche abwichen und mit der türkischen bzw. Religion Mohammeds übereinstimmten. Die Beweisführung schritt von eher symbolischen Beobachtungen wie etwa der Parallele zwischen Sergius [s. ROGGEMA, Legend, wie Anm. 26] und Luther als zwei gewesenen Mönchen zu einem Katalog identischer Lehren fort. Der Text ist deshalb interessant, weil er verdeutlicht, dass die wechselseitige ‚Turkisierung‘ des konfessionellen Gegners auch außerhalb Deutschlands praktiziert wurde. Vgl. nur: Im Lichte des Halbmondes. Das Abendland und der türkische Orient. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, Leipzig 1995, S. 63ff; N. JORGA, Geschichte des osmanischen Reiches nach den Quellen dargestellt, II. Band, Gotha 1909, S. 366ff; III. Band, Gotha 1920; Soliman le Magnifique, 15. Février au 14 Mai 1990, Galéries Nationales du Grand Palais, Paris 1990. NIKOLAUS PAULUS, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Darmstadt ²2000, S. 166ff; KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 61; 220f; zu den im Unterschied zu den Ablasskampagnen ab ca. 1510 sehr erfolgreichen Türken-Kreuzzugsablässen, die der römische Legat Raimund Peraudi 1486-1488, 1489/90 und 1501-1503 propagierte, vgl. WINTERHAGER, Ablasskritik, wie Anm. 53, bes. S. 22ff. Einige Nachweise in: KAUFMANN, „Türkenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 174f. Anm. 300. Vgl. WA 1, S. 233,18f; 534,20f; 534,22-536,5; vgl. RUDOLF MAU: Luthers Stellung zu den Türken, in: HELMAR JUNGHANS (Hrsg.): Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, 2. Aufl. Berlin 1985, S. 647-662; 956-966; SIEGFRIED RAEDER, Luther und die Türken, in: ALBRECHT BEUTEL (Hrsg.): Luther Handbuch [utb 3416], Tübingen ²2010, S. 224-231; ADAM S. FRANCISCO: Martin Luther and Islam [History of Christian-
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Zweck der Türkenkriege gesammelten Gelder regelmäßig in anderen Kanälen versickerten, trug zur Plausibilitätskrise des Ablasses wesentlich bei.53 In den sich in den 1520er Jahren bildenden radikalreformatorischen Milieus votierten einzelne Stimmen im Sinne einer pazifistischen Absage an jede Gewalt, selbst gegen die Türken54; andere sahen in ihm den endzeitlichen Beistand der kleinen Schar der Gerechten, der eine eschatologische „Veränderung“ heraufführen und am Ende auch den grimmigen Christusfeind bekehren werde.55 Erst nach und nach trat Luther auch publizistisch als Anwalt eines legitimen christlichen Selbstverteidigungsrechtes gegen die Türken hervor,56 konnte aber nicht mehr verhindern, dass er von altgläubiger Seite immer wieder als ‚Türkenfreund‘ diskreditiert und für die militärischen Erfolge der Osmanen verantwortlich gemacht werde.57 Gegenüber der geschichtstheologischen Verortung des „Türken“ im biblischen Horizont spielte die historische Erinnerung an die jahrhundertelange Beziehungs- und Konfliktgeschichte von Christentum und Islam, etwa in der Zeit der Kreuzzüge, eine vergleichsweise geringe Rolle. Wenn, dann kam man eher in häresiologischen Zusammenhängen darauf zurück, zumeist in Verbindung mit Erinnerungen an den Propheten Mohammed. Im Gefolge der Eroberung Konstantinopels und im Zuge der osmanischen Vorstöße auf dem Balkan und nach
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Muslim Relations 8], Leiden, Boston 2007; EHMANN, Luther, Türken und Islam, wie Anm. 10, S. 204ff. Vgl. WILHELM ERNST WINTERHAGER: Ablasskritik als Indikator historischen Wandels vor 1517: Ein Beitrag zu Voraussetzungen und Einordnung der Reformation, in: ARG 90, 1999, S. 6-71. „Wir sollen uns des Türken und anderer unserer verfolger nit erweren, sonder mit strengem gebet gegen Gott anhalten, das er weer und widerstand tu.“ Artikel und Handlung, so Michel Sattler zu Rotenburg am Necker mit seinem Blut bezeuget hat, in: LYDIA MÜLLER: Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter [QFRG 20], Leipzig 1938, S. 39. In der Flugschrift Eine neue wunderbarliche Geschichte von Michael Sattler zu Rottenburg am Neckar heißt es: „[…] wenn der Türk kumpt, soll mann sich sein nit weren, denn es stat geschriben: Du solt niemant tödten [Ex 20,13; Mt 5,21]. Wir sollen uns des Türken, und andrer unser verfolger mit gestrengem betten anhalten gegen Got weren.“ ADOLF LAUBE (Hrsg.): Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526-1535), Berlin 1992, Bd. 2, S. 1553,22-25. Zu ähnlichen Vorstellungen aus dem Kontext der Böhmischen Brüder vgl. die Nachweise in: KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 174f Anm. 300. Vgl. zu Müntzer, Hut und Bader die Nachweise in: KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 48ff; 145ff. In Bezug auf die ‚Türkenhoffnung‘ im Rahmen der Verkündigung des im Januar 1522 in Wittenberg auftretenden ‚neuen Propheten‘ bin ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass in seine Gestalt Züge Thomas Müntzers eingegangen sind, vgl. THOMAS KAUFMANN: Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation [Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Veröffentlichungen Nr. 12], Mühlhausen 2010, S. 75ff. Vgl. zu den Einzelheiten: EHMANN, Luther, Türken und Islam, wie Anm. 10, S. 216ff. Vgl. die Nachweise in: KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 45f; 99; 183ff.
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Zentraleuropa dominierte hingegen die apokalyptische Sicht des Türken, auch wenn sich um 1500 die Stimmung zeitweilig ein wenig beruhigt hatte und die Vorstellung verbreitet war, der Christenheit stehe in der Regierungszeit Maximilians I. ein gewaltiger Sieg über ihren ‚Erbfeind‘, eine Reformation und eine Christianisierung des Weltkreises bevor.58 Hinsichtlich der Intensität, mit der apokalyptische Denkfiguren in Bezug auf die Türken verwendet wurden, lassen sich im späteren 16. Jahrhundert deutliche Unterschiede zwischen den Konfessionen feststellen. Insbesondere für lutherische Theologen war der Türke ein fester Bestandteil ihres Geschichtsbildes und ihres Zeitverständnisses, während der römische Katholizismus in seinem Hauptstrang deutlich ‚unapokalyptischer‘ war.59 Einheitliche Endzeitlehren bildeten die Konfessionen freilich kaum aus; für die Protestanten, insbesondere die Lutheraner, galt der „Türke“ als ‚orientalischer‘ Antichrist, neben dem Papst, dem ‚okzidentalen‘ Antichristen; bei katholischen Autoren schwankten die Deutungen als Vorläufer des Antichristen oder als Antichrist selbst.60 Im frühen 16. Jahrhundert, insbesondere in der Regierungszeit der militärisch so erfolgreich operierenden Sultane Selim I. (1512-1520) und Suleiman I., ließ sich eine Intensivierung apokalyptischer Naherwartungen wahrnehmen, die auch auf die frühreformatorische Bewegung als endzeitliche Bußbewegung eingewirkt hatte.61 Man nahm die Schreckensbilder der Johannesapokalypse, des Danielbuches und der apokalyptischen Passagen des Buches Ezechiel (Ez 38f) auf, um die Christenheit mit drastischen Bildern zur Umkehr zu mahnen; innerhalb der allgemeinen Verfallserscheinungen ‚im Greisenalter‘ der Welt galt das blutrünstige Tier, der Türke, als das sicherste Zeichen des Endes. Im Kontext der Wittenberger Theologie war im historischen Umkreis der Belagerung Wiens die Theorie entwickelt worden, dass das ‚kleine Horn‘ aus dem Danielbuch (Dan 7,8.25) mit dem Osmanischen Reich zu identifizieren sei: es werde drei Reiche
58 Vgl. KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 62; 223 mit Anm. 523; freilich scheint Maximilian im Vergleich zu seinem Vorgänger und vor allem seinem Nachfolger nur geringere Erwartungen des endzeitlichen Heilskaisertums auf sich gezogen zu haben, vgl. HANNES MÖHRING: Der Weltkaiser der Endzeit [Mittelalter-Forschungen Bd. 3], Stuttgart 2000, S. 268. 59 Dies ist durch verschiedene neuere Forschungen im Wesentlichen bestätig worden, vgl. etwa: ROBIN B. BARNES: Prophecy and Gnosis: Apocalyptism in the Wake of Lutheran Reformation, Stanford 1988; VOLKER LEPPIN, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548-1618 [QFRG 69], Gütersloh 1999; HERIBERT SMOLINSKY: Deutungen der Zeit im Streit der Konfessionen. Kontroverstheologie, Apokalyptik und Astrologie im 16. Jahrhundert [Schriften der phil.-hist. Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 20], Heidelberg 2000; KAUFMANN, Konfession und Kultur, wie Anm. 29; zuletzt: ANJA MORITZ, Interim und Apokalypse [SMHR 47], Tübingen 2009. 60 KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 63 61 Vgl. zur frühreformatorischen Bewegung zuletzt: THOMAS KAUFMANN: Geschichte der Reformation, Berlin ²2010, S. 300ff.
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bzw. Könige stürzen, nämlich Ägypten, Asien und Griechenland62, die Heiligen des Höchsten vernichten, den Höchsten lästern, Festzeiten und Gesetze ändern, d. h. dem Christentum den Wurzelboden entziehen: „Danach wird das Gericht gehalten werden; dann wird ihm seine Macht genommen und ganz und gar vernichtet werden“ (Dan 7,26). Die Identifizierung des osmanischen bzw. „saracenisch[en] oder turckisch[en] Reich[s]“63 mit dem letzten Reich, das aus dem Imperium Romanum hervorgehen sollte, situierte also die eigene Gegenwart innerhalb des heilsgeschichtlichen Verlaufsplans am unmittelbaren Ende der Geschichte. Die endzeitliche Sensibilisierung für die ‚Zeichen der Zeit‘ dürfte einen mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund dafür gebildet haben, dass Erfahrungsberichte von Menschen, die unter der Herrschaft des Halbmondes gelebt hatten und detailliertere Einblicke in die kulturelle und religiöse Lebenswelt der „Türken“ gewährten – oder zu gewähren schienen –, von „Türkenexperten“64 also, in der zeitgenössischen Leserschaft auf besonderes Interesse stießen und auch von anderen Schriftstellern zur ‚Türkenfrage‘ breit rezipiert wurden.
62 „[…] das der Mahometh dasselbige kleine horn sein muss, Denn er ist von geringem anfang auffkomen, Er ist aber also gewachsen, das er drey hörner ym Römischen Keyserthum hat abgestossen und eingenomen, nemlich Egyptum, Griechland und Asiam. Denn der Soltan und Sarracener haben lange zeit dieser hörner oder königreich zwey ynnen gehabt, Egypten und Asiam, und sind also drinnen blieben sitzen, wie auch der Türck drinnen sitzt auff den heutigen tag und hat das dritte horn, Griechland, dazu gewonnen. Solchs hat sonst niemand gethan und wir sehens da für augen stehen, das geschehen ist, Das ist Mahomeths reich, da haben wir das kleine horn gewis.“ WA 30 II, S. 167,4-12; vgl. 171,25; WADB 11/2, S. 12,16; 13,17; [Jonas], Das siebend Capitel, wie Anm. 34, C4r; E1r; H2v; zur Entdeckung des türkischen Antichristen im Kontext der Wittenberger Exegese im historischen Umkreis der Belagerung Wiens vgl. ARNO SEIFFERT: Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte [Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 31], Köln, Wien 1990, S. 11ff; vgl. zum auslegungsgeschichtlichen Hintergrund differenzierend: KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 226 Anm. 539. 63 Philipp Melanchthon, Christliche Ermahnung an Ferdinand, zitiert nach der Edition in: LAUBE, Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, wie Anm. 54, Bd. 1, S. 486,31f. 64 Im Unterschied zur eindrücklichen Profilierung des Expertenbegriffs, die FRANK REXROTH insbesondere in Bezug auf die Ambivalenz der Rolle und der Erwartungen des ‚Experten‘ vorgetragen hat (Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter [Freiburger Mediävistische Vorträge 1], Basel 2008) geht meine Verwendung des Terminus ‚Experte‘ im vorliegenden Zusammenhang von der Inanspruchnahme einer außeralltäglichen, nicht durch zeitgenössische Bildungsinstitutionen vermittelten „experientia“ aus, die die „Türkenexperten“ im öffentlichen Raum zu gefragten Kommunikatoren werden ließ.
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II. Eine der einflussreichsten Schriften zur türkischen Religion in Spätmittelalter und Früher Neuzeit überhaupt war der bereits mehrfach angeführte Traktat des „Georgius de Hungaria“65. Die Schrift erschien zwischen 1481 und 1514 in sieben lateinischen Ausgaben.66 Unter dem Eindruck der türkischen Belagerung Wiens gab Luther diese Schrift 1530 dann mit einer programmatischen Vorrede erneut heraus; bis 1550 folgten drei weitere lateinische Ausgaben.67 Luthers Edition veranlasste Sebastian Franck zu einer deutschen Übersetzung, von der in den Jahren 1530/31 allein neun Drucke nachgewiesen sind.68 Einzelne Kapitel des Tractatus gingen in deutsche und lateinische Sammelschriften ein. Keine Einzelschrift zur Türkenthematik erreichte im deutschen Sprachgebiet eine größere Verbreitung als dieses in vieler Hinsicht merkwürdige Selbstzeugnis des vermutlich 1422/3 in Romes in Siebenbürgen geborenen, 15- oder 16jährig in die Türkei verschleppten, während 20 Jahren als kriegsgefangener Sklave lebenden und in den 1470er Jahren unter abenteuerlichen Umständen nach Rom geflohenen Mannes, der seinen Lebensabend als hoch geachteter Dominikanermönch zubrachte und 1502 verstorben ist. In der literatur-, kultur- und geschichtswissenschaftlichen Forschung ist dem Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia turcorum deshalb besondere Auf65 Alle wesentlichen Informationen hat minutiös zusammengetragen: KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 11ff. 66 Vgl. KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 61-66, Nr. 1-7. 67 KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 67-69, Nr. 8-11; Edition des Vorwortes Luthers von 1530 in: WA 30 II, S. 205-208; zur Datierung vgl. WABr 5, S. 215,5ff; die deutsche Übersetzung der Vorrede Luthers durch Sebastian Franck, die höchst eigensinnige Interpolationen enthält, erschien im Nachdruck in: CARL GÖLLNER (Hrsg.): Chronica und Beschreibung der Türkei. Mit einer Vorrhed D. Martini Lutheri [Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 6], Köln Wien 1983, S. 1-8; zu Francks Übersetzung s. die Hinweise von CHRISTOPH DEJUNG: Sebastian Franck, Sämtliche Werke Bd. 1: Frühe Schriften: Kommentar, Stuttgart-Bad Canstatt 2005, S. 407-412. Francks Übersetzung der Lutherschen Vorrede veranlasste Justus Jonas dazu, sie seinerseits ‚korrekt‘ wiederzugeben, in: Ursprung des turkischen Reichs / bis auf den Itzigen Solyman / durch D. Paulum Juvium [Paolo Giovio, vgl. MBW 12, S. 147f] … verdeutschet durch Justum Jonam [o.O., o Dr., o. J.]; VD 16 G 2151; Ex. SUB Göttingen 8 H Turc 715 (2), U3r-X4v; vgl. zu Luthers Vorrede auch: EHMANN, Luther, Türken und Islam, wie Anm. 10, S. 324-327. 68 Zu den Einzelheiten vgl. DEJUNG, Franck Bd. 1, wie Anm. 67, S. 335ff in Verbindung mit VD 16 G 1377-1388 und KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 160f Anm. 202; die Neuedition der Franckschen Übersetzung liegt vor in: Sebastian Franck, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. 1: Frühe Schriften, TextRedaktion PETER KNAUER, Bern 1993, S. 236-327; s. auch: STEPHEN C. WILLIAMS, ‚Türkenchronik‘. Ausdeutende Übersetzung: Georgs von Ungarn ‚Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia Turcorum‘ in der Verdeutschung Sebastian Francks, in: DIETRICH HUSCHENBETT – JOHN MARGETTS (Hrsg.): Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalter [Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 7], Würzburg 1991, S. 185-195.
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merksamkeit geschenkt worden, weil er einer der wichtigsten medialen Träger für „ethnographisches“ und religionskulturelles Wissen über die Türken und ihre Religion darstellt, den das 15. und 16. Jahrhundert besaß.69 Für die gesamte Türkenpublizistik im Alten Reich ist die These berechtigt, dass das in ihr enthaltene ethnographische und religionskulturelle Wissen bis in die 1540er Jahre hinein, d.h. bis in die Zeit der erfolgreichen Publikationsphase des zeitgenössischen ‚Türkenexperten‘ Bartholomäus Georgejević (s. u.), wesentlich vom Tractatus des Siebenbürgeners abhing. Insofern ist seine Schrift das Beispiel eines rezeptionsgeschichtlich außerordentlich wirkungsreichen ‚Selbstzeugnisses‘.70 Für die große Resonanz, die dem Tractatus zuteil wurde, war ganz entscheidend, dass das über die türkische Religion Berichtete 1. keineswegs nur negativ 69 Vgl. HÖFERT, Feind beschreiben, wie Anm. 5, bes. S. 27ff; 179ff; passim. Meine Kritik an Höferts Methodik bezieht sich vor allem auf ihren Umgang mit den Quellen, denen sie primär ethnographisches Wissen entnimmt, allerdings der Verbindung dieses mit anderen, etwa häresiologischen Wissensformen und -beständen, nicht weiter nachgeht. Dies ändert freilich nichts daran, dass ihre Rekonstruktion ethnographischer Wissensbestände einen wichtigen Forschungsimpuls darstellt. 70 Die Forschungen zu frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen haben in den letzten beiden Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung gewonnen. Die meines Erachtens instruktivsten methodischen Reflektionen bietet: KASPER VON GREYERZ: Vom Nutzen und Vorteil der Selbstzeugnisforschung für die Frühneuzeithistorie, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2004, München 2005, S. 27-47, sowie die einführenden Überlegungen desselben, in: DERS. (Hrsg.): Selbstzeugnisse in der frühen Neuzeit [Schriften des historischen Kollegs Kolloquien 68], München 2007, S. 1-9; zuletzt: DERS.: Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen 2010. Im Unterschied zu einer auf Individualisierungsprozesse fokussierten Selbstzeugnisforschung geht es mir im Folgenden allerdings um publizistisch besonders wirkungsvolle Dokumente, in denen literarische Akteure einen bestimmten Aspekt ihrer Lebensgeschichte, nämlich die Erfahrung der türkischen Gefangenschaft, und ihre daraus erwachsene ‚Expertise‘ einer ‚Öffentlichkeit‘ präsentierten, um vor den Türken zu warnen und zur Treue zum Christentum zu mahnen. Ein anhand solcher Selbstzeugnisse beobachteter apologetischer Grundzug (ERNSTPETER RUHE: Christensklaven als Beute afrikanischer Piraten. Das Bild des Maghreb im Europa des 16. Jahrhunderts, in: DERS. [Hrsg.]: Europas islamische Nachbarn. Studien zur Literatur und Geschichte des Maghreb, Würzburg 1995, S. 159186; CLAUDIA ULBRICH: „Hat man also bald ein solches Blutbad, Würgen und Wüten in der Stadt gehört und gesehn, daß mich solches jammert wieder zu gedenken …“ Religion und Gewalt in Michael Heberer von Brettens ‚Aegyptiaca Servitus‘ (1620), in: KASPER VON GREYERZ – KIM SIEBENHÜNER [Hrsg.]: Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen [1500-1800] [VMPIG 215], Göttingen 2006, S. 58-108) dürfte auch für die von mir hier herangezogenen Texte aufzuweisen sein. Insofern stellt sich der Ansatzpunkt, Selbstzeugnisse als soziale Praxis zu kontextualisieren, für einzelne ‚Türkenbüchlein‘ ehemaliger Gefangener als ähnlich produktiv dar, wie dies anhand eines bemerkenswerten Selbstzeugnisses eines muslimischen Autors gezeigt wurde, vgl. SURAIYA FAROGHI: Ein Istanbuler Derwisch des 17. Jahrhunderts, seine Familie und seine Freunde: Das Tagebuch des Sayyid Hasan, in: VON GREYERZ, Selbstzeugnisse, s.o., S. 113-126; zur älteren Literatur instruktiv: HANS-JOCHEN SCHIEWER: Leben unter Heiden. Hans Schiltbergers türkische und tartarische Erfahrungen, in: Daphnis 21, 1997, S. 159-178.
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war, sondern unterschiedliche Rezeptionsweisen ermöglichte und 2. auf persönlichem Erleben des ehemaligen Sklaven basierte oder doch zu basieren schien. Der anonym publizierte Text, der seine Zeitgenossen vor den Türken warnen, auf Konversionsgefahren vorbereiten und sie deshalb prophylaktisch informieren wollte, ist mit Hinweisen auf die eigene Erfahrung (experientia) durchzogen.71 Diese Strategie entsprach der spezifischen Gefahr, die nach der Meinung des Verfassers von den Türken ausgehe. Denn im Unterschied zu anderen Verfolgern, die es auf den Leib abgesehen hätten, ziele der Türke darauf ab, dem Menschen den Glauben zu nehmen und mit teuflischer Verschlagenheit die Seele zu töten.72 Aufgrund seiner experientia wird der siebenbürgische „expertus“ zum exemplum: „Ich selber habe am eigenen Leibe erfahren (in meipso expertus didici), dass der Türke die besiegten Christen deshalb in die Gefangenschaft führt, damit er ihnen im Laufe der Zeit das Gift seiner Religion und seiner schillernden Kultur einflößt, um sie zur Verleugnung des christlichen Glaubens zu veranlassen (renegare).“73 Exemplum wird der expertus deshalb, weil ihm genau dies widerfahren war: Er hatte sich vom Gift der türkischen Irrlehre anstecken lassen, habe 71 Der Siebenbürgener wies etwa einleitend darauf hin, dass die Türken die Gefangenen vor dem körperlichen Tod (morte corporali) bewahrten und sie verschleppten, im Laufe der Zeit das Gift des falschen Glaubens in sie einflößten und sie dazu brächten, „fidem christi turpiter renegare“ (KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 146). Dafür berief sich [Georgius] auf sein eigenes Erleben: „Huius rei veritatem et in meipso expertus didici […]“ ebd. Die eigene Erfahrung des Erzählers sei deshalb so wichtig, weil viele Christen die Verschlagenheit der Türken nicht wahrhaben wollten, bis sie durch ihre eigene Erfahrung belehrt würden („docentur experientia“, a.a.O., S. 148). Der eigenen Erfahrung kommt eine zentral wichtige Funktion in Bezug auf seine Warnungen zu; dass er keine Fabeln erzähle, könne der Leser daran sehen, dass er einfach die am eigenen Leibe erfahrene Wahrheit („expertam in meipso veritatem narrare simpliciter“, ebd.) berichte. Dass der Widerstand gegen die Lockungen der fremden Religion unter der permanenten Präsenz der Todesgefahr schwinde, solle man ihm als „experto“ (a.a.O., S. 176) glauben. Indem er selbst beteuert, dass er das, was er zu erzählen habe, in eigener Person niemals geglaubt hätte, wenn er es nicht selbst erfahren hätte („me experientia docuisset“, a.a.O., S. 190), nimmt er den erwarteten Einwänden den ‚Wind aus den Segeln‘. Der Erfahrung kommt auch in Bezug auf die Wahrheitserkenntnis der christlichen und die Unwahrheitserkenntnis der türkischen Religion eine entscheidende Bedeutung zu, und zwar weil die „temptationes“ dieser Religion primär sinnlich vermittelt würden (per experientiam) und deshalb auch durch die dem Leser vermittelte „experiantia“ (a.a.O., S. 220) des ehemaligen Gefangenen angemessen bearbeitet und beurteilt werden könnten, vgl. 226ff. Zur Beglaubigung seiner Erzählung appelliert er an die lebensweltliche Evidenz der Erfahrung: „Wenn man in den Zweifelsfällen des menschlichen Lebens der größeren Erfahrung („maiori experientie“) mehr Glauben schenkt, so meine ich nicht weniger Glauben zu verdienen als sonst einer von denen, die über die Verhältnisse und die Lebensweise der Türken sprechen.“ A.a.O., S. 406f [Übersetzung KLOCKOW]. 72 „Non enim in corpora, sicut ceteri persecutores, sed in animas sevit, et dum corpora exterius fovendo sub pietatis specie non occidit, interius fidem auferendo animas sua diabolica astucia occidere intendit“ a.a.O., S. 146. 73 A.a.O., S. 146; vgl. oben Anm. 71.
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begonnen, jede Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat preiszugeben und am christlichen Glauben zu zweifeln, ja er hatte – wie aus der intimen Kenntnis muslimischer praxis pietatis hervorgehen dürfte – eine Konversion zur fremden, attraktiv und kulturell überlegen erscheinenden türkischen Religion vollzogen.74 Die außeralltägliche Lebensgeschichte einer Person, die in ihrem eigenen Scheitern die größtmögliche religionskulturelle Katastrophe, die willentliche Verleugnung des wahren Glaubens, durchlebt und durchlitten, aber durch die „misericordia dei“75 schließlich zum Christentum zurückgefunden hatte, machte ihn zum „Experten“, zum Lehrer und Ermahner all derer, die in vergleichbare Situationen geraten konnten. Und derer waren viele – so setzte der Verfasser voraus –, denn der Türke sei beständig auf dem Vormarsch und strebe danach, die Christen definitiv zu vernichten. Insofern ist der Siebenbürgener auch sich selbst Adressat: Sollte er noch einmal in die Gefangenschaft des Türken geraten, so wolle er sich mit seinen Aufzeichnungen besser vor dessen Irrlehren schützen, als er es in seiner Jugend vermocht habe.76 Der apokalyptische Horizont, der die mentale Welt des Siebenbürgeners integrierte, verlieh seiner Paränese unabweisbare Dringlichkeit. Die stilisierte Selbstermahnung und -belehrung des ehemaligen Gefangenen zielte eo ipso darauf ab, durch experientia die Glaubenstreue der Leser zu festigen. Struktur und Gehalt des Tractatus sind entscheidend von der Anmutung authentischen eigenen Erlebens, von der Behauptung der experientia, bestimmt und geprägt. Aufgrund eigener Erfahrung77 wusste der Verfasser, dass Gewöhnung die religiösen Widerstandskräfte schwäche; aus experientia, d.h. weil er es mit eigenen Augen gesehen hatte, wusste er, wie trickreich der Türke darin sei, unerfahrene Christen zu blenden und – ganz gelehriger Sohn seines Vaters, des Teufels –, sich in einen Engel des Lichtes zu verwandeln, indem er sich darauf 74 Vgl. die Hinweise in Anm. 71; dass der gefangene Siebenbürgener eine durch eigene Praxis gewonnene Kenntnis ritueller Praktiken der Derwische besaß, die ohne die Hinwendung zum Islam undenkbar gewesen wäre, hat KLOCKOW überzeugend betont, vgl. Tractatus, wie Anm. 8, S. 19f; 21f. Auch der Hinweis auf ein ihm angebotenes geistliches Amt (a.a.O., S. 408f) lässt meines Erachtens keine Zweifel an einer regelrechten Konversion des Siebenbürgeners zu. 75 A.a.O., S. 146. 76 „Igitur mee intentionis in hoc tractatu est ea, que de actibus, condictionibus, moribus et nequiciis Turcorum experientia me docuit, memoriae et scriptis recomendare, ut, si secunda vice – quod deus avertat, licet adhuc satis timeam – me iam senem in manus eorum incidere contingat, ab eorum erroribus melius, quam iuvenis feci, me custodire valeam.“ A.a.O., S. 146/8. Die mutmaßliche Abfassungszeit des Textes – zwischen August 1480 und Mai 1481, vgl. KLOCKOW, a.a.O., S. 31 – war von der Erwartung einer osmanischen Offensive in Mittelitalien geprägt, vgl. dazu die Schilderung der Invasion in Apulien (Sommer 1480) mit einer Exekution von 800 Einwohnern von Otranto, die umgebracht wurden, weil sie „sich weigerten, den Islam anzunehmen“, bei FRANZ BABINGER, Mehmed der Eroberer und seine Zeit. Weltenstürmer einer Zeitenwende, München 1953, S. 432; zum Kontext: 430ff. 77 Vgl. zum folgenden die Nachweise in Anm. 71.
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verstehe, durch disziplinierte Kultusveranstaltungen, eindrückliche Zeremonien, das züchtige Miteinander der Geschlechter, sittsame Kleidung, Reinlichkeit im Essen und in der Körperpflege, beim Schlachten, auch durch virtuose Askeseleistungen, wie er sie selbst bei den Derwischen beobachtet hatte, Eindruck zu machen. Die sittlichen Vorzüge der türkischen Gesellschaft wurden der verkommenen christianitas als Spiegel vorgehalten. Die eigene Erfahrung des Berichterstatters, der beide einander fremde Welten von innen kannte, gewährleistete die Plausibilität seiner Paränese. Gerade weil Georgius selbst dem schönen Schein des Türken erlegen war, konnte an der Wertung seiner zum Teil nur andeutenden Schilderungen eigentlich keinerlei Zweifel bestehen: „[...] ich ekle und schäme mich zu berichten, was ich im einzelnen davon gesehen und gehört habe.“78 Unter diesem Vorzeichen stand sein Bekenntnis zum Derwischorden, für dessen Riten er durch die besondere Nähe zu christlichen Praktiken eingenommen worden sei; auch seine Faszination durch Formen der Heiligenverehrung bei den Türken speiste sich aus Analogien zum Christentum. Doch gerade in den Momenten der Ähnlichkeit zwischen türkischer und christlicher Religion zeigten sich dem „expertus“ die Brüche besonders deutlich; gerade an ihnen werde klar, wie gefährlich der Glaube der Mohammedaner sei, bewiesen sie doch die Minderwertigkeit dieser aus teuflischen Depravationen des Christentums geformten Religionskultur. Die Erfahrung der Nähe zu beiden Religionen, die der christliche Sklave bei durchaus ehrenwerten Herrschaften intensiv und von innen kennen gelernt hatte, provozierte, ermöglichte und profilierte die wertende Unterscheidung und begründete die Gewissheit ihrer Unversöhnlichkeit. Aus der Fülle der Erfahrungen, der 20jährigen Dauer der Gefangenschaft, den unermesslichen seelischen und körperlichen Qualen der Sklaverei und der Tiefe der Gefährdung des christlichen Glaubens wuchs dem Siebenbürgener eine besondere Autorität im virulenten Diskurs über den Türken zu. Sein Charakter als Selbstzeugnis fundamentierte Georgius’ Beitrag zur ethisch-theologischen Diskussion und machte es zum Fokus einer Mentalität. Die große Verbreitung des Tractatus legt es nahe, dass sich manche Zeitgenossen durch dieses paulinische Legitimationsmuster aufnehmende Selbstzeugnis, das die Glaubwürdigkeit des religionskulturellen Wissens durch Leidenserfahrung plausibilisierte79, besonders angesprochen fühlten. Seine Glaubwürdigkeit, so setzte Georgius voraus, ergab sich schlicht und ergreifend (simpliciter) daraus, dass er eine an sich selbst erfahrene Wahrheit erzählte (expertam in meipso veritatem narrare).80 Diese hermeneutische Prämisse ist bemerkenswert, weil sie dem in der experientia gründenden Wissen eine Prävalenz gegenüber jeder anderen Beglaubigungsinstanz, Mutmaßung (coniectura) 78 KLOCKOW, Tractatus, wie Anm. 8, S. 271 (Übersetzung Klockow). 79 Vgl. bes. a.a.O., S. 408f (mit Parallelen zu dem Peristasenkatalog 2 Kor 11,16ff); 176f; 190f. 80 A.a.O., S. 148; vgl. oben Anm. 71.
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oder Hörensagen (auditum)81, einräumte. Die existentielle Not des Glaubenszweifels, in die man unter türkischem Einfluss geraten konnte, war nicht primär durch exegetisches oder dogmatisches Wissen zu bearbeiten und aufzufangen, sondern bedurfte des experientiellen Wissens. Ohne das Traditionswissen der okzidentalen Christenheit in Sachen Islam explizit infrage zu stellen oder zu relativieren, bot der Tractatus des Siebenbürgeners eine der zeitgenössischen Gesellschaft und Theologie entsprechende Erfahrungsdimension. Wo die Gefahr drohte, mit dem Türken selbst „Erfahrungen“ machen zu müssen – das okzidentale Angsttrauma seit dem Fall Konstantinopels 1453! –, wuchs, so scheint es, das Bedürfnis nach erfahrungsbezogenem Orientierungs- und Handlungswissen. Das Selbstzeugnis des eigenen Erlebens bildete das Fundament, auf dem der Siebenbürgener aufbaute, um weiteres doktrinales und bibeltheologisches Traditionswissen aufzuschichten und zu einer Verteidigungsbastion auszubauen. Das Faktum des eigenen Erlebens eröffnete die intendierte soziale Praxis und war wichtiger als etwa der eigene Name, den der Siebenbürgener zu nennen sogar für unnötig hielt. Durch die erfolgreiche Druckgeschichte während des späteren 15. und des frühen 16. Jahrhunderts ist die Persistenz dieser Wahrnehmungsform dokumentiert. Gegenläufig zur Bedeutung des experientiellen Expertenwissens, wie es der Tractatus des Siebenbürgeners repräsentiert, mehrten sich im Laufe des späteren 16. Jahrhunderts insbesondere unter protestantischen Autoren die Stimmen derer, die die Auseinandersetzung mit den Türken primär auf der Basis skripturalen, auf den Koran gegründeten Wissens führen wollten. Dieser Strategie lag die durch die innerchristliche Kontroversistik geförderte Einsicht in die Ambivalenz der Erfahrung zugrunde: ebenso wenig – so argumentierte etwa Lukas Osiander in Tübingen – wie sich die Unwahrheit der evangelischen Lehre durch einen Verweis auf die sittlichen Zustände in den evangelischen Kirchentümern beweisen lasse, ebenso wenig dürfe die Erfahrung mit türkischer Lebenswelt als Argument gegen die türkische Religion verwendet werden.82 Die Wahrheit oder Unwahrheit der Religion zeige sich allein an ihren Schriften. Hinsichtlich der Diskursstrategien im Umgang mit der türkischen Religion kam also der Verbrei-
81 A.a.O., S. 220. 82 Osiander, Bericht, wie Anm. 22, )(4r/v. Osiander machte übrigens die Gefangenschaftsberichte aufgrund der in ihnen enthaltenen positiven Darstellung des Ethos der Türken entscheidend dafür verantwortlich, dass sich ‚schwache‘ Christen ein falsches Bild von ihrer Religion machten. Es sei der Teufel, der die folgende Überlegung eingebe: Wenn Gott der christliche Glaube so viel besser gefiele als der türkische, würde er doch die Tyrannei des Türken beenden. Der Rekurs allein auf den Koran als Grundlage der Auseinandersetzung mit der türkischen Religion zielte also auch darauf ab, eine Deutungshoheit der Theologen gegenüber den ‚sonstigen‘ Experten der Reise- und Gefangenschaftsberichte zu erlangen und nur solche überindividuellen und transempirischen Motive in der Auseinandersetzung um die türkische Religion gelten zu lassen, „die auch ein Türck selbs nicht umbstossen kann“ (Bericht, wie Anm. 22, )(4v).
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terung des Wissens infolge der Biblianderschen Koranausgabe von 1542 eine entscheidende Bedeutung zu. In Hinblick auf Selbstzeugnisse, die Erfahrungen mit den Türken und ihrer Religion thematisierten, blieb dies – soweit ich sehe – nicht folgenlos. Natürlich ist die Vorstellung einer linearen Entwicklung von einer dominant experientiellen vorreformatorischen zu einer primär skripturalen reformatorisch-nachreformatorischen Argumentationslogik in Bezug auf die türkische Religion unzutreffend und die Idee einer Entkoppelung von Erfahrungs- und religiösem Wahrheitsdiskurs in Bezug auf die „türkische Religion“ problematisch. Allerdings fällt auf, dass der erfolgreichste Publizist zur Türkenfrage im späten 16. Jahrhundert, Bartholomäus Georgejević,83 – ein Ungar kroatischer Abstammung, der 13 Jahre lang als kriegsgefangener Sklave in der Türkei gelebt hatte, freigekommen und über Jerusalem nach Europa geflohen war –, die Schilderung seines eigenen Erlebens und die Darstellung religionskulturellen bzw. ethnographischen Wissens vom Türken im Unterschied zu Georgius literarisch trennte. Georgejević, von dessen seit 1544 erschienenen Schriften bis zum Ende des 16. Jahrhunderts ca. 43, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts insgesamt über 80 Drucke in lateinischer, niederländischer, französischer, italienischer, englischer, tschechischer, polnischer und deutscher Sprache nachgewiesen werden können, veröffentlichte rasch hintereinander zunächst eine Schrift De Turcarum ritu et caeremoniis, drei Monate später De afflictione tam captivorum quam etiam sub Turcae tributo viventium christianorum, schließlich einige kleinere Schriften wie einen Türkenkriegsaufruf an Erzherzog Maximilian, eine türkische Weissagung über das Ende der Osmanen oder den Bericht von einem Religionsgespräch, das er 1547 mit einem türkischen Derwisch in Großwardein geführt hatte. In dieser Disputation widerlegte er die islamische Polemik gegen die Trinität mittels im Koran selbst enthaltener Bezugnahmen auf das Alte Testament.84 In dem komplizierten Rezeptionsprozess der Schriften des Georgejević wurden die einzelnen Texte, insbesondere der Traktat über die Sitten und Zeremonien und die Schrift über die Situation der Gefangenen, immer wieder in Sammeldrucken veröffentlicht. Ein undatierter, aber wohl in die Anfänge seiner literarischen Tätigkeit nach seiner Flucht zurückreichender Traktat vornehmlich autobiographischen Inhaltes bot eine Schilderung der spannenden Lebensgeschichte85: seiner Gefangenschaft als junger Mann nach der Schlacht von 83 Zur Biographie und zu den Schriften grundlegend: REINHARD KLOCKOW: Bartholomäus Georgivitz oder die Umwandlung von Leben in Literatur, in: Daphnis 26, 1997, S. 1-32; knappes Biogramm des am 11.8.1544 in Wittenberg nachgewiesenen Kroaten in: MBW 11, S. 133. 84 Vgl. die Hinweise bei KLOCKOW, Georgivitz, wie Anm. 83, S. 3ff; GÖLLNER, Türkendrucke, wie Anm. 5 , Bd. I, Nr. 829ff, S. 388ff; passim; vgl. KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1, S. 143 Anm. 142. 85 Vgl. zu den Einzelheiten: KLOCKOW, Georgivitz, wie Anm. 83. Es handelt sich um den von FRANZ KIDRIČ: Bartholomaeus Gjorgjevic. Biographische und bibliographische Zusammenfassung [Museion. Veröffentlichungen aus der Nationalbibliothek Wien, Mittei-
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Mohács, der Verschleppung zu Sklavenhändlern, die ihn an einen ehemaligen Christen verkauften, wo er dann als Wasserverkäufer beschäftigt war. Als der neue Herr merkte, dass sein Sklave am Christentum festhielt, habe er begonnen, dessen Flucht zu fürchten und gab ihn an den Sklavenhändler zurück. Im Unterschied zu Georgius’, der gerade als lapsus und reconciliatus Autorität gewann, inszenierte sich Bartholomäus, ein Zeitgenosse des heraufziehenden konfessionellen Zeitalters, als unbeugsamer Christ. Mehrmals wurde er weiterverkauft und fristete ein hartes Dasein, dessen Darstellung sich um immer neue Fluchtpläne und -versuche rankt. Nach jedem gescheiterten Fluchtversuch verschlimmerte sich sein Schicksal. Doch schließlich glückte die Flucht und mit Unterstützung griechischer und armenischer Christen, die ihn nicht für einen Sklaven, sondern aufgrund seiner offenbar exzellenten griechischen Sprachkenntnisse für einen freien Griechen hielten; so gelang es ihm, sich bis nach Jerusalem durchzuschlagen. Dort kam er zunächst als Nachtwächter bei den Franziskanern auf dem Berg Zion unter; nach einem Jahr brach ein Schiff nach Spanien auf, das ihm die Rückkehr nach Europa ermöglichte. Diese Lebensgeschichte wurde in ihrem letzten Teil durch die Einlösung eines Gelübdes, außer Jerusalem auch Rom und Santiago de Compostella zu besuchen, strukturiert. Da diese Lebensgeschichte, die ihren Verfasser als treuen Sohn der römischen Kirche ausweist, nur ein einziges Mal auf Latein gedruckt wurde und mit den sonstigen Schriften des Bartholomäus Georgejević unverbunden blieb, unterlag die Rezeption seiner ethnographisch-religionskundlichen Texte86 keiner konfessionellen Begrenzung. Die eigentliche Lebensbeschreibung des Bartholomäus blieb im 16. Jahrhundert publizistisch annähernd wirkungslos. Er selbst, der sich auf verschiedenen Reisen, u.a. nach Wittenberg87, als Türkenex-
lungen 2], Wien 1920, S. 12ff, Georgievitz zugeschriebenen Libellus: Bartholomaei Georgii Pannonii De ritibus et diffentis Graecorum et Armeniorum: tum etiam de captivitate ilius, ac caeremoniis Hierorolymitanorum in die Paschalis celebrandis libellus; in lateinischer, deutscher und türkischer Textfassung liegt es neu ediert vor unter dem Titel: Gefangen in der Türkei – De captivitate sua apud Turcas, hrsg. von REINHARD KLOCKOW und MONIKA EBERTOWSKI, Berlin 2000; vgl. zum Folgenden die Einleitung von KLOCKOW, ebd. 86 Einfach greifbar und instruktiv ist der faksimilierte Druck: Türkey Oder Von ytziger Türkcen Kirchengepräng / Sitten und Leben / auch was grausamen jochs / was unseglichen jamers die gefangenen Christen / under den selben gedulden müssen…, verdeutscht durch Joannem Herold, Basel, A. Cratander E., 1545, VD 16 D3043; Abdruck in: GÖLLNER (Hrsg.), Chronica, wie Anm. 67, S. [165]-[227]. 87 Luther und Melanchthon stellten Georgijević am 11.8.1544 in Wittenberg ein Testimonium aus, das seine Lebensgeschichte rekapitulierte und um Unterstützung für seine Person warb, WABr 10, Nr. 4019, S. 624f; MBW Bd. 4, Nr. 3656 ; vgl. zu ihm als Tischgenossen Melanchthons MBW Bd. 4 Nr. 3661; CR 5 Nr. 3013, Sp. 467; 1560 erschien ein von dem Empfänger veranlasster, schon 1552 geplanter (MBW Bd. 6, Nr. 6684) Nachdruck eines Türkenbuchs des Georgiejević in Wittenberg mit einer Vorrede Melanchthons (MBW Bd. 8, Nr. 9185; CR 9, Sp. 1026f; VD 16 D 3032f; vgl. auch: OTTO CLEMEN: Bartholomaeus Georgievitz peregrinus
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perte empfohlen hatte, sah von der Verbreitung dieses autobiographischen Textes ab, wohl auch, um ein überkonfessionelles christliches Publikum anzusprechen. Wirkungsreicher als die Lebensbeschreibung wurden freilich jene seiner Texte, in denen er erfahrungsgesättigtes ethnographisches Wissen ohne persönliche Einfärbungen präsentierte und die christianitas als ganze durch Informationen über die Gefahren christlicher Massenkonversionen zur kriegerischen Gegenwehr gegen die Osmanen zu mobilisieren versuchte. Das dabei gezeichnete Türkenbild war negativer als das seiner ‚Autobiographie‘ und stellte wohl eine Anpassung an zeitgenössische Lesererwartungen dar. Insofern markiert sein literarisches Werk den Übergang vom experientiellen Selbstzeugnis des Türkeibesuchers zu einem ‚versachlichten‘ Expertentum, das zwar mit dem Faktum eigener Erfahrung legitimiert wurde, dieses aber nicht mehr eigens thematisierte. Diese Tendenz weist Analogien zu bestimmten Beispielen der Konvertitenliteratur auf, in der zwar das biographische Faktum ehemaliger persönlicher Verbundenheit – sei es mit der jüdischen Religion, sei es mit einer christlichen Konfession oder dem Jesuitenorden88 – entscheidend blieb, die jeweiligen biographischen Umstände oder individuellen Dispositionen gegenüber der ethnographisch-religionskulturellen Schilderung aber deutlich, zum Teil vollständig, zurücktraten. Mit Bartholomäus Georgejevićs im Deutschen als Türckey oder von yetzigen Türcken Kirchengepräng betiteltem Sammeldruck89 lag ein historisch bei Mohammeds Geburt einsetzendes Sachbuch vor, das alle denkbaren Aspekte religiöser und kultureller Praxis im Osmanischen Reich beschrieb: Das Kriegswesen, die soziale und die kulturelle Situation des Handwerks und des Bauerntums, auch die Geschlechterverhältnisse wurden ausführlich gewürdigt. Im Unterschied zu Georgius dominierte ein auffallend sachlicher Ton. Eigenes Erleben stand im Einzelfall hinter der Darstellung, wurde aber nicht direkt expliziert. Der auf dem Hierosolytamus, in: DERS., Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte, hrsg. von ERNST KOCH, Bd. 7, Leipzig 1985, S. 534-544). 88 Dies ließe sich meines Erachtens etwa an der sehr einflussreichen, freilich primär ‚ethnographisch‘ wirksam gewordenen Schrift des zum Christentum konvertierten ‚Judentumsexperten‘ Anthonius Margaritha zeigen, vgl. dazu nur: PETER VON DER OSTENSACKEN: Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31), Stuttgart 2002, S. 162ff; MARIA DIEMLING: Anthonius Margaritha on the „Whole Jewish Faith“: A Sixteenth-Century Convert from Judaism and his Depiction of the Jewish Religion, in: BELL – BURNETT, Jews, wie Anm. 28, S. 303-333; JAACOV DEUTSCH: Polemical Ethnographies: Description of Yom Kippur in the Writings of Christian Hebraists and Jewish Converts to Christianity in Early Modern Europe, in: ALLISON COUDERT – JEOFFREY SHOULSON (Hrsg.): Hebraica Veritas? Christian Hebraists, Jews and the Study of Judaism in Early Modern Europe, Philadelphia 2004, S. 202-233; zu Perspektiven auf Margaritha und zu jesuitischer Konvertitenliteratur vgl. KAUFMANN, Konfession und Kultur, wie Anm. 29, S. 118ff; 268ff; zur Konversionsforschung instruktiv: UTE LOTZ-HEUMANN – MATTHIAS POHLIG – JENSFRIEDRICH MIßFELDER (Hrsg.): Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit [SVRG 205], Gütersloh 2007. 89 Vgl. Anm. 86.
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Titelblatt als ehemaliger türkischer Sklave annoncierte Autor präsentierte sich als objektiver Berichterstatter, als ‚Türkenexperte‘, dessen Expertise nicht mehr explizit von einer Legitimation durch eigene Erfahrung, sondern von der Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit seiner Schilderungen abhing. Was folgt aus diesen Beobachtungen zu den Traktaten des Georgius aus Siebenbürgen und des Bartholomäus Georgijevićs, den meines Wissens meistgedruckten Schriften zum „Türken“ und seiner Religion, die das 15. und 16. Jahrhundert kannte? Erstens sicher, dass der persönlichen experientia eine wichtige Legitimationsund Plausibilisierungsfunktion in der Vermittlung von Wissen über den Türken zukam. Wenn Bartholomäus den Anspruch erhob, nichts „auß den Scribenten / so etwo vormals dises volcks [sc. den Türcken] art zu beschreyben sich under standen“, zu entlehnen, sondern „eben / das“ zu bieten, „so ich selbs gesehen / im langen brauch selbs erfaren“90, dann deutet dies darauf hin, dass er bei seinen Lesern voraussetzte, dass sie der Erfahrung eine unverzichtbare Legitimationsund Authentifizierungsfunktion zuschrieben. Zum anderen wird im Vergleich der beiden Texte deutlich, dass experientia bei Bartholomäus nicht mehr als narrativ entfaltetes Selbstzeugnis, sondern eher als brutum factum, mithin als Autorisierungsmoment eines ‚Türkenexperten‘ begegnet und dazu dient, dem als mühelos überprüfbar behaupteten sachlichen Gehalt seiner Ausführungen Aufmerksamkeit zu sichern. Drittens ergibt sich aus den gewählten Beispielen, dass die experientia im Kontext der spätmittelalterlich-frühzeitlichen ‚Erfahrung der Welt‘91 einen wichtigen heuristischen Schlüssel für die Kommunikation des 90 Georgiejević betonte zu Beginn und am Schluss seines Büchleins über die Sitten und Riten der Türken, dass seine Darstellung von anderen „Türkenbüchlein“ völlig unabhängig und aus eigener Anschauung geschöpft sei: „Protestier mich auch / das ich auß den Scribenten / so etwa vormals dieses volcks art zu beschreyben sich unter standen / nichtsz mit entlehnen oder hierein fliehen wölle / sonder eben das / so ich selbs gesehen / im langen brauch selbs erfaren / mit höchster trew und waarheit / so viel mir Gott verstandt verleycht / nit umb rhums willen / sondern gemeynen nutz zu guttem beschreiben.“ Türkey, wie Anm. 86, S. 169f. „Ich darff wohl hoch schwören / das ich die ploß warheit fürgeben hab / kein andren scribenten braucht der von den Türcken etwas geschryben hab. Das urtl setz ich denen heim / so die Türkey auch erfaren / ir sprach erlernet haben. Dornach gib ich es denen / so ander ding / dz von den sitten unn gepärdt dieser Nation beschryben wol erwegen.“ Türkey, wie Anm. 86, S. 203. Das ‚Expertentum‘ des Georgiejević hatte sich also etwa gegenüber dem des Siebenbürgeners dahingegen weiterentwickelt, dass es der Legitimation durch christliche Autoritäten oder des Ausweises am Koran nicht mehr bedurfte. Im Vergleich damit wirkte die von Luther propagierte und etwa von Jakob Andreä und Lukas Osiander praktizierte skriptorale Wahrnehmungsstrategie deutlich traditioneller – worin wohl auch eine Folge von Luthers Anknüpfung an Ricoldus de Montecrucis (s.o. Anm. 10) zu sehen ist. 91 Vgl. etwa: FOLKER REICHERT: Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnungen im späten Mittelalter, Stuttgart 2001; zum allgemeinen Hintergrund: HORST GRÜNDER: Eine Geschichte der europäischen Expansion, Darmstadt 2003; URS BITTERLI: Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäischen-überseeischen Begegnung, München ³2004; zur Dynamik der Alteritätskonstrukti-
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Fremden bildete. Wachsende Skepsis gegenüber tradiertem Buchwissen aber entsprach der Akzeleration neuen Wissens, das vermittels der experientia kanalisiert, plausibilisiert und kommuniziert werden konnte. Viertens: Die Selbstzeugnisse Georgejevićs und des Siebenbürgeners enthalten apologetische Momente, denen man entnehmen kann, dass die christlichen Gesellschaften, für die die ehemaligen Kriegsgefangenen und Reisenden schrieben, gegenüber Menschen misstrauisch blieben, die lange Zeit ‚draußen‘ gewesen waren und an denen Momente der bedrohlichen Fremdheit jener Welt, die sie besucht hatten und von der sie berichteten, gleichsam ‚haften‘ blieb.92 Natürlich war die erfahrungsgegründete Auseinandersetzung mit den Türken und ihrer Religion weder im 15. noch im 16. Jahrhundert die einzig legitime Form noch per se unumstritten. Im Hinblick auf ihre argumentationsstrategischen Grundsätze der vor allem auf den Koran zentrierten antiislamischen Apologetik waren Nikolaus v. Cues, Ricoldo de Montecrucis, Theodor Bibliander, Martin Luther, Jakob Andreä und Lukas Osiander Brüder im Geiste. Sie setzten auf eine Auseinandersetzung mit dem Islam, die sich primär auf dessen heiligste Urkunde, den Koran, bezog. Lukas Osiander etwa lehnte es ja sogar explizit ab, sein Urteil über die „türkische Religion“ auf die Erfahrungen Reisender oder die Nachrichten über das moralisch zweifelhafte Leben Mohammeds und seiner Nachfolger zu gründen.93 Und Luthers Ausgabe des Ricoldus de Montecrucis zielte gleichfalls darauf ab, den Koran als Quelle aller Ketzereien besonders in bezug auf die Trinitätslehre und die Christologie zu erweisen. Luthers Publikationspraxis machte es im lutherischen Protestantismus unmöglich, eine erfahrungsbezogene Diskursstrategie im Umgang mit den Türken gegen eine skripturale, texthermeneutische Apologetik auszuspielen. Möglicherweise spiegeln die Turcica des 16. Jahrhunderts eine epochenspezifische Pluralisierungstendenz in den Umgangsweisen mit der bedrohlichen Fremdreligion, die der Vervielfachung der Herausforderungen und Reaktionsmuster im Angesicht der erfahrenen oder imaginativ gesteigerten osmanischen Bedrohung und der Intensität der innerchristlichen Konfrontationsdynamik entsprach. Die – wie es scheint – gewachsene Nachfrage nach Selbstzeugnissen im Umgang mit den Türken, die im Verlauf des späteren 15. und des 16. Jahrhunderts zu beobachten ist, dürfte damit zusammenhängen, dass mit den militärischen Vorstößen der Osmanen die Angst davor wuchs, dass die Christen in den eroberten Gebieten über kurz oder lang islamisiert würden. Luther stellte seine literarion der Türken bzw. des Islams im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert instruktiv: LUDOLF PELIZAEUS: Die Konstruktion eines Islambildes in Spanien und Portugal als iberischer Integrationsfaktor, in: HAUG-MORITZ – DERS. (Hrsg.): Repräsentationen, wie Anm. 16, S. 177-205; zur Alteritätsforschung im allgemeinen instruktiv: ALMUT HÖFERT, Alteritätsdiskurse: Analyseparameter historischer Antagonismusnarrative und ihre historiographische Folgen, in: ebd. S. 21-40. 92 Vgl. RUHE, Christensklaven, wie Anm. 70; ULBRICH, Religion und Gewalt, wie Anm. 70. 93 S. o. Anm. 82.
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sche Tätigkeit in der Türkenfrage vornehmlich in die Perspektive, drohende Konversionen zu verhindern. Ähnlich wie der Prophet Jeremia die nach Babylon deportierte Gemeinde Israels zu Geduld und Glaubensfestigkeit ermahnt hatte, appellierte Luther an die Christenheit, „ia ym rechten glauben“94 zu bleiben. Die Erinnerung an die katechetischen Kerngehalte des christlichen Glaubens diente der geistlichen Munitionierung angesichts drohender Apostasie. Vor allem der zweite Artikel des Glaubensbekenntnisses war dabei für den Wittenberger Reformator entscheidend. Denn durch „diesen artickel wird unser glaube gesondert von allen andern glauben auff erden, Denn die Jüden haben des nicht, Die Türcken und Sarracener auch nicht, dazu kein Papist noch falscher Christ […]. Darumb, wo du ynn die Türckey komest, da du keine prediger noch bücher haben kanst, da erzele bey dir selbs, es sey im bette odder ynn der erbeit, es sey mit worten odder gedancken, dein Vater unser, den Glauben und die Zehen gebot, und wenn du auff diesen artickel kömpst, so drucke mit dem daumen auff einen finger odder gib dir sonst etwa ein zeichen mit der hand odder fuss, auff das du diesen artickel dir wol einbildest […].“95 In der zitierten Weise sollte der Christ schließlich auch verfahren, wenn es ihn in eine Moschee verschlug und er – wie Luther aus der Schrift des Siebenbürgeners wusste – von der Zucht, Andacht und Schönheit des muslimischen Zeremoniells überwältigt zu werden drohte. „Sihe, das möcht aber mal ein solchen gedancken geben ynn deyn hertz und sagen: Für war, So fein halten und stellen sich die Christen nicht ynn yhrer kirchen ec. Da drücke aber mal mit dem daumen auff einen finger und dencke an Jhesum Christum, den sie nicht haben noch achten, Denn las sich zieren, stellen, geberden wer do wil und wie er wil, gleubt er nicht an Jhesu Christ, so bistu gewis, das Gott lieber hat Essen und trincken ym glauben, denn fasten on glauben […].“96 Die religionskulturellen Informationen aus der fremden Welt, die Luther vor allem durch das Selbstzeugnis des Siebenbürgeners erhalten hatte, machten ihm auf eindrückliche Weise deutlich, wie akut die Gefahr der Konversion angesichts der attraktiven Momente der islamischen Kultur war. Damit aber wurde das Selbstzeugnis des Siebenbürgeners zu einem Standarddokument von geradezu kanonischer Geltung und konnte als maßgebliches Präparatorium für den christlichen Überlebenskampf angesichts der Türkengefahr fungieren. Das ethnographische Wissen, das dieses Selbstzeugnis enthielt, war ein Mittel, um auf den unumgänglichen religiösen Überlebenskampf am Ende der Zeiten vorzubereiten. Die Faszination des Grauens, die von den Türken ausging, erschloss sich im Modus der experientia eines einzelnen Individuums unmittelbarer und intensiver als durch andere Textgruppen. Insofern hängen die Konversionsängste und die Konjunktur der Selbstzeugnisse unter den Turcica wohl unmittelbarer zusammen, als in der bisherigen Forschung wahrgenommen wurde. 94 WA 30 II, S. 185,29. 95 WA 30 II, S. 186,15-24. 96 WA 30 II, S. 187, 24-30.
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III. Zusammenfassend lässt sich feststellen: 1. Die Formen der christlichen Wahrnehmung der „türkischen Religion“ waren vielfältig, unterlagen einer historischen Dynamik und sind von der ‚Erfahrung‘ militärischer Bedrohung nicht zu trennen. Neben traditionellen häresiologischen Wahrnehmungsmustern spielten solche, die sich mit dem Koran und seiner ‚Lehre‘ auseinandersetzten, und erfahrungsbezogene, aus Reiseoder Gefangenschaftsberichten erwachsene oder bestehende Schriften, eine im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert stetig wachsende Rolle. 2. Das Interesse an den kulturellen und religiösen Gewohnheiten der „Türken“ – so der faktisch alle Anhänger des Islams bezeichnende Hauptbegriff des späten Mittelalters und der Reformationszeit – ist von der Türkenangst der Leser und Schriftsteller nicht zu trennen. Auch das Bemühen, die ‚bona‘97, die guten Seiten der türkischen Religion und Kultur, zu beschreiben, haben mit Turkophilie oder einer Aufgeschlossenheit gegenüber einem ‚Kulturtransfer‘ nichts zu tun. Denn es gehörte zur Kunst des mit den Türken im engsten Zusammenhang gebrachten Teufel, dass er durch den schönen Schein zu blenden versuchte. 3. In vielen Türkenschriften spielt die endzeitliche Einordnung ihres Auftretens eine wichtige Rolle. Die vor allem von protestantischen Autoren vertretene Identifizierung des Türken mit den ‚kleinen Horn‘ aus der Danielapokalypse rückte sein Auftreten ans äußerste Ende der Geschichte. Als Zuchtrute Gottes war der Türke ein wichtiges Moment der Bußpredigt gegenüber den christlichen Gesellschaften. 4. Die im Zuge vor- und frühreformatorischer volkssprachlicher Publizistik entstehende „Öffentlichkeit“ nahm im großen Maße an der Türkenfrage Anteil. Infolge der kritischen Äußerungen, die Luther zum Türkenkrieg getätigt hatte und die in der Bannandrohungsbulle verurteilt worden waren, begann sich die Türkenliteratur recht bald zu konfessionalisieren. Die wechselseitige interkonfessionelle Diffamierung der konfessionellen Gegner als „Türken“ 97 In dem Vorwort zu seiner Ausgabe des Libellus de ritu et moribus Turcorum von 1530 hatte Luther an der Cribratio des Nikolaus von Cues und an der Confutatio des Ricoldus unter anderem kritisiert: „Sed dum nimio student quaeque turpissima et absurdissima ex Alkorano excerpere, quae ad odium faciunt et ad invidiam movere possint vulgum, et bona, quae in eo sunt, vel transeunt non confutata vel occulunt, factum est, ut parum fidei et autoritatis invenerint, quasi vel odio illorum vel impotentia confutandi sua vulgarint.” WA 30 II, S. 205,10-15. Sein später geändertes Urteil über die Schrift des Ricoldus führte Luther darauf zurück, dass er in der „Fastnacht” (21.2.) 1542 den „Alcoran […] latinisch, doch seer ubel vordolmetscht“ gesehen habe. „So viel aber daraus gemarckt, das dieser Bruder Richard sein Buch nicht ertichtet, Sondern gleich mit stimmet.“ WA 53, S. 272,16-19; zum Kontext vgl. nur BOBZIN, Koran, wie Anm. 9, S. 95ff; DERS., Gedanken, wie Anm. 24; EHMANN, Luther, Türken und Islam, wie Anm. 10, S. 75f; 460ff.
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setzte die über die Negativbewertungen des häresiologischen Diskurses deutlich hinausgehende Dämonisierung der ‚Feinde aus dem Osten‘ voraus. 5. Teile Ost-, Latein- und Zentraleuropas waren im 15. und 16. Jahrhundert von einer obessiven Okkupationsangst durch das Osmanische Reich geprägt, die in der Regel mit der im Ganzen unzutreffenden Vorstellung einherging, dass ein religiöses Überleben für Christen unter türkischer Herrschaft unmöglich und eine Zwangskonversion zur „türkischen Religion“ unabwendbar sei. Katechisierende Strategien sollten dazu dienen, Christenmenschen mit der ‚eisernen Ration‘ überlebensermöglichenden christlichen Grundwissens nach dem Zusammenbruch jeder gemeindlichen Infrastruktur zu versorgen. 6. Schon vor dem ‚Ausbruch‘ der Reformation hatten nationale und regionale politische Interessen und Konflikte unter den christlichen Staaten Europas ein konzertiertes Vorgehen gegen die osmanische Bedrohung verhindert; im Gefolge der Reformation bildete die Nötigung zum reichspolitischen Kompromiss um der Türkenabwehr willen eine maßgebliche Voraussetzung, um die dauerhafte Etablierung der Reformation zu erreichen.98 7. Im Vergleich mit dem Niveau der christlich-islamischen Religionsgespräche des früheren Mittelalters erscheint das 15. und 16. Jahrhundert als eine Epoche des Niedergangs. Allerdings bemühten sich insbesondere die reformatorischen Theologen darum, die klassischen Wissensbestände in Sachen Islam zu thesaurieren und zu publizieren und so dazu beizutragen, dass das gesellschaftlich verfügbare Türkenwissen präsent blieb, ja sukzessive ausgeweitet werden konnte.99 Mittels populärer Medien dürfte das 16. umfassender über die „türkische Religion“ informiert gewesen sein als jedes andere Jahrhundert zuvor.
98 Vg. KAUFMANN, „Türckenbüchlein“, wie Anm. 1; STEPHEN FISCHER-GALATI: Ottoman Imperialism and German Protestantism 1521-1555, Cambridge 1959. 99 Auch für die dänische Gesellschaft des 16. Jahrhunderts ist ein hohes „Informationsniveau“ in Bezug auf den ‚Türken‘ nachgewiesen worden, das zu einem nicht unerheblichen Teil auf Text- und Ideenimport aus dem lutherischen Deutschland basierte, vgl. MARTIN SCHWARZ LAUSTEN: Tyrkerfrygt og Tyrkerskat. Islamofobi, Religion og Politik hos Teologer og Regenter i Reformationstidens Danmark, Kopenhagen 2010, S. 294; deutsche Zusammenfassung: a.a.O., S. 291-295.
Insana scabies et historia orbis terrarum. Die religio turcorum im Spannungsfeld zwischen häresiologischer und ethnographischer Tradition ALMUT HÖFERT I. Es ist nicht sonderlich schwierig, im lateinischen Europa spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen zu finden, die den Islam im Rahmen eines fundamentalen theologischen Antagonismus schildern. Der in habsburgischen Diensten stehende Humanist Johannes Cuspinian (gest. 1529) begann seinen Bericht über die Religion und Lebensweise der Türken mit den folgenden Worten: „Die Sache selbst erfordert es, dass wir, nachdem wir die militärische Disziplin der Türken, die sie drinnen und draußen praktizieren, behandelt haben, nun von ihrer alltäglichen und häuslichen Lebensweise sprechen. Als erstes von allen Dingen ist von ihrer Religion [zu sprechen], die solch lange und ausgedehnte Wurzeln treibt, dass diese tobende Krätze [insana scabies] den größten Teil Asiens, den überwiegenden Teil Afrikas (denn auch die Sarazenen haben sich zur Religion Mahomets bekannt) und schließlich einen nicht geringen Teil Europas eingenommen hat. Nach Europa ist jener falsche Prophet Mahomet eingedrungen, und er betrog das unglückliche und dumme Volk mit seinem völlig ungereimten Gesetz, wenn man das alberne Zeug und den Haufen Lügen (die sein Alcoran enthält) schon als Gesetz bezeichnen muss.“1
Cuspinian schildert den „falschen Propheten“ als einen Häretiker, der die Irrlehre des christlichen Mönches Sergius weiter verfälschte und mit dem Schwert verbreitete und greift dabei auf den einschlägigen Kanon mittelalterlicher Auto1
Cuspinian, Johannes: De Turcorum origine, religione, ac immanissima eorum in Christianos tyrannide. Antwerpen: Joh. Steelsium 1541, hier zitiert nach Ders.: De Caesaribus atque imperatoribus romanis. Frankfurt: Wechelian apud Claudium 1601, S. 471: „Exigit res ipsa, ut posteaquam militarem disservimus Turcorum disciplinam, qua domi forisque utuntur, nunc de quotidiano ac domestico loquamur vivendi ritu. Atque primum omnium de religione ipsorum, quae ita longe lateque radices egit, ut maximam Asiae, maiorem Africae (nam & Saraceni Mahometis religioni addicti sunt) haud parvam denique Europae partem occupavit insana isthaec scabies. hanc Mahometes ille pseudopropheta invexit, miseramque gentem ac stolidam fefellit lege sua ineptissima, si modo deliramentum & acervus mendaciorum (quae Alcoranus eius continet) lex dici debet.“
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ren wie Johannes von Damaskus, Petrus von Cluny, Riccoldo di Monte Croce und andere zurück, die den Islam als Häresie einordneten. Cuspinians Hauptquelle für die zeitgenössische Lebensweise der Türken ist jedoch der vielfach gedruckte Traktat über die Sitten, die Lebensverhältnisse und die Arglist der Türken, den der Dominikaner Georg von Ungarn um 1480 verfaßt hatte.2 Georg von Ungarn war als junger Dominikanernovize 1438 in osmanische Gefangenschaft geraten und hatte zweiundzwanzig Jahre als Sklave im Osmanischen Reich verbracht. Dort war er zum Islam konvertiert, begab sich dann mit einem Freibrief versehen nach Rom, wo er sich wieder den Dominikanern anschloss. In seinem Traktat legt Georg ausführlich die Gründe dafür dar, dass er sich in der Gefangenschaft von der teuflischen Irrlehre hatte verführen lassen und verweist dabei auf den Umstand, dass ihn nicht nur acht vergebliche Fluchtversuche an Gottes Willen hatten zweifeln lassen, sondern er vor Ort besonderen Versuchungen ausgesetzt gewesen war: „[Es] ist anzumerken, dass die Versuchungen, die über die visuelle Erfahrung ausgelöst werden, heftiger wirken als die, die durch Mutmaßung und Hörensagen auf einen zukommen.“3
In Georgs Traktat spielen diese Versuchungen der Erfahrungen durch eigene Anschauung eine herausragende Rolle, da Georg in der osmanischen Gesellschaft auf Verhältnisse traf, die ihn zunächst von einer herausragenden Tugendhaftigkeit der Türken und Türkinnen überzeugten, die – ganz anders als die Christen – in ihrem Alltagsleben so viel Frömmigkeit, Enthaltsamkeit, Schlichtheit und Sauberkeit an den Tag zu legen schienen. Georgs bewundernde Beschreibung der sittsamen Frauen und militärisch disziplinierten Männer, der peniblen Körperpflege, der schlichten Tischsitten und der ehrfürchtigen Ruhe in den Gotteshäusern dient in seiner Argumentation jedoch nicht nur der Kritik am sündigen Lebenswandel der Christen, sondern wird auch deshalb so stark gemacht, um sein Hauptargument zu stützen: All diese scheinbare Tugendhaftigkeit sei nichts anderes als das teuflische Blendwerk des Antichrist, mit dem dieser arglose Christen zum Glaubensabfall verführe. Der Antichrist kämpfe daher durch seine türkischen Helfer nicht nur mit kriegerischer Eroberung, sondern bediene sich einer besonders teuflischen Heimtücke, um auf allen Ebenen christliche Seelen der Verdammnis zuzuführen. Dabei habe er vor allem bei schlichteren Gemütern Erfolg, die sich vom äußeren tugendhaften Schein der Türken verführen ließen: „Denn in allen Äußerlichkeiten verhalten sich Gut und Böse gleich. Der entscheidende Unterschied liegt in der Absicht. Wenn man diese erkannt hat, kann man
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Georg von Ungarn: Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia Turcorum. Hg. und übers. von Reinhard Klockow (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 15). Köln, Weimar, Wien 1993. Ebd., S. 220f.: „quod temptationes, que fiunt per experientiam visus, vehementius se ingerunt quam ille, que per auditum et coniecturam percipiuntur.“ Übersetzung von Reinhard Klockow.
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leicht beurteilen, welchem Ziel die Werke eines jeden zustreben. Wenn wir also aufgrund der Absicht urteilen wollen, dann sehen wir, dass Gott und Teufel in Christen und Türken gegeneinander kämpfen.“4
Georgs Traktat wurde auf Latein und in deutscher Übersetzung bis 1600 in mehr als zwanzig Ausgaben verbreitet und als Textvorlage in viele weitere Schriften integriert.5 Dieser Text fand damit Eingang in das umfangreiche Schrifttum, in dem vor allem seit der Eroberung Konstantinopels unter Mehmed II. die osmanische Expansion als heilsgeschichtliche Bedrohung der angeblich auf Europa zurückgedrängten Christenheit gedeutet wurde. Es gibt eine umfangreiche Forschungsliteratur über die Art und Weise, wie sich die lateinische Christenheit seit dem Frühen Mittelalter mit dem Islam auseinandersetzte und wie sich diese Diskurse im Angesicht der osmanischen Expansion und der durch den Buchdruck erfolgten kommunikativen Verdichtung auch im Rahmen der konfessionellen Auseinandersetzungen verdichteten, veränderten und eine herausragende Stellung erlangten.6 Der theologisch fundierte Antagonismus, mit dem die unitas 4
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Ebd., S. 330f: „Nam omnia, que in exterioribus geruntur, bonis et malis communia sunt, quorum iudicium et differentia in intentione consistit; qua agnita, uniuscuiusque opus ad quem finem tendat, faciliter iudicatur. Si igitur secundum intentionem volumus iudicare, videbimus deum in Christianis et diabolum in Turcis invicem pugnantes.“ Übersetzung von Reinhard Klockow. Eine Zusammenstellung der Drucke findet sich bei Höfert, Almut: Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich (1453-1600). Frankfurt am Main 2003, S. 392f. Daniel, Norman: Islam and the West. The Making of an Image. Edinburgh 1960 (rev. Aufl. Oxford 1993); Waardenburg, Jean Jacques: L’islam dans le miroir de l’occident. Paris 1962; Southern, Richard W.: Das Islambild des Mittelalters. Stuttgart 1981; d’Alverny, Marie-Thérèse: Connaissance de l’Islam dans l’Occident médiévale. London 1994; Blanks, David / Frasetto, Michael (Hg.): Western Views of Islam in Medieval and Early Modern Europe. Perception of Other. Basingstoke 1999; Tolan, John: Saracens. Islam in the Medieval European Imagination. New York 2002; Attia, Iman (Hg.): Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Berlin 2007. Zur Thematik der „Türken“ in der Frühen Neuzeit: Rouillard, Clarence Dana: The Turk in French History. Thought and Literature. Paris s. a. [1940]; Schwoebel, Robert: The Shadow of the Crescent. The Renaissance Image of the Turk (1453-1517). Niewkoop 1967; Göllner, Carl: Turcica. 3 Bde, Bukarest, Berlin, Baden-Baden 1961, 1968, 1978; Preto, Paolo: Venezia e i Turchi. Florenz 1975; Schulze, Winfried: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978; Yerasimos, Stéphane: Les voyageurs dans l’empire ottoman (XIV-XVIème siècles). Bibliographie, itinéraire et inventaires des lieux habités. Ankara 1991; Matar, Nabil I.: Turks, Moors, and Englishmen in the Age of Discovery. New York 1999; Tinguely, Frédéric: L’écriture du levant à la renaissance. Enquête sur les voyageurs français dans l’empire de Soliman le Magnifique. Genf 2000; Guthmüller, Bodo / Kühlmann, Wilhelm (Hg.): Europa und die Türken in der Renaissance. Tübingen 2000; Soykut, Mustafa: The Image of the "Turk" in Italy. A History of the "Other" in Early Modern Europe. Berlin 2001; Höfert, Den Feind beschreiben (wie Anm. 5); Kuran-Burçoğlu, Nedret: Die Wandlungen des Türkenbildes in Europa vom 11. Jahrhundert bis zur heutigen
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christiana im Angesicht der Türkengefahr modelliert wurde, entfaltete sich in den unterschiedlichsten Kontexten und wurde mit den Nachrichten über die grausamen Drangsalisierungen der Christen durch die Türken und ihren verdammenswerten häretischen Irrglauben gespeist. Das Konstrukt des Türken (dieser Begriff aus der damaligen christlichen Polemik sollte nicht mit der korrekten Eigenbezeichnung Osmanen verwechselt werden) kann daher in vielerlei Hinsicht als der christliche Inbegriff „des Anderen“ gelesen werden. Edward Saids Studie zum modernen Orientalismus nach 1798, den er als „ a style of thought based upon an ontological and epistemological distinction made between ‚the Orient’ and (most of the time) ‚the Occident’“ definierte7, könnte man daher im Diskurs der Türkengefahr für eine frühe Phase bestätigt sehen, wobei dessen postulierter christlich-türkischer Antagonismus in die moderne Dichotomie von Orient und Okzident eingeschrieben wurde. Saids Studie ist inzwischen ein Klassiker der Postcolonial Studies und hat einen entscheidenden Beitrag zur Dekonstruktion der Objektivität von Wissen geleistet. Es wäre töricht, die Erkenntnisse des Linguistic Turn zu ignorieren, mit denen auch in heutigen orientalistischen und geschichtswissenschaftlichen Forschungen eine Sichtweise identifiziert werden kann, die den Islam aus der historischen Zeit aussondert und aus dem Blickwinkel unveränderlicher Transzendenz, einer „vor aller Geschichtlichkeit geschützten Ontologie“ betrachtet.8 Trotz dieser Verdienste weist Saids Studie – neben zahlreichen inhaltlichen Ungenauigkeiten und Inkonsistenzen – einen entscheidenden Denkfehler auf, der auch den geschichts- und literaturwissenschaftlichen Forschungen mit der Leitfrage, wie in „Europa“ „das Andere“ oder „das Fremde“ wahrgenommen wurde, zugrunde liegt: Said verteilte Täter- und Opferrollen im Orientalismusdiskurs genau jener Grenze zwischen Orient und Okzident entlang, deren Postulat für ihn das Hauptmerkmal des Orientalismus war. Damit reproduzierte Said die Dichotomie, die er dekonstruieren wollte und erwies sich letztlich selbst als „Orientalist“. Es steht außer Frage, dass die theologischen und epistemologischen Grenzziehungen zwischen Christentum und Islam, Okzident und Orient eine wichtige
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Zeit. Eine kritische Perspektive. Zürich 2005; MacLean, Gerald: Looking East. English Writing and the Ottoman Empire Before 1800. Basingstoke 2007; Schmuck, Stephan: Politics of Anxiety. The imago Turci in Early Modern English Prose, c.1550-1620. Phil. Diss. Aberystwyth 2007; Meserve, Margaret: Empires of Islam in Renaissance Historical Thought. Cambridge (Mass.), London 2008; Kaufmann, Thomas: „Türckenbüchlein“ Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation. Göttingen 2008. Said, Edward: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London 1978, S. 2. Arkoun, Mohammed: Der Islam. Annäherung an eine Religion (frz. Ouvertures sur l’Islam, 1989, erw. Aufl. 1992: L’islam. Approche critique). Heidelberg 1999, S. 25; Al-Azmeh, Aziz: Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welten einer politischen Theologie. Frankfurt am Main 1996; Höfert, Almut: Europa und der Nahe Osten. Der transkulturelle Vergleich in der Vormoderne und die Meistererzählungen über den Islam. In: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 561-597.
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Rolle spielen, aber bei ihrer Erforschung sollte man bedenken, dass durch unsere derzeitige Wissenschaftsorganisation diesen Grenzziehungen mehr Relevanz zugeschrieben wird, als sie historisch gehabt haben. Das Feld einer Entangled History kann aufgrund der erforderlichen Sprach- und Methodenkenntnisse derzeit nur von wenigen bestellt werden. Daher ist es zunächst erst einmal nützlich, die westeuropäischen Turcica nicht a priori unter die Prämisse zu stellen, dass sie zwangsläufig und durchgängig von einer fundamentalen Alterität der Türken ausgingen, wie es in den eingangs zitierten Quellen der Fall ist. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Türken und ihre Religion im 15. und 16. Jahrhundert nicht nur als das ontologisch Andere im Rahmen einer fundamentalen Dichotomie wahrgenommen wurden. Neben den Turcica, die sich in ihrem Narrativ am theologischen Antagonismus der Türkengefahr orientierten, gab es Schriften, die man als Turcica-Ethnographica bezeichnen könnte, welche einem ethnographischen Gestaltungsmuster folgten, dessen oberste Priorität nicht der Nachweis einer teuflischen Alterität der türkischen Religion war, sondern die Teil eines groß angelegten Projektes waren, das die Völker und Länder des Erdkreises im Namen des christlichen Gottes epistemologisch erfassen sollte. Dieses Unternehmen war durch die Türkengefahr und dem Wunsch frühmoderner Territorialmächte nach machtpolitisch operationalisierbarem Wissen bestimmt, folgte jedoch auch einem Motiv, das man mit dem Said-Kritiker Robert Irwin For Lust of Knowing bezeichnen könnte:9 Das präsentierte Wissen galt nicht nur als nützlich, sondern auch als unterhaltsam, gemäß einem alten Topos: als utile et dulce. Das Motto, unter dem diese Schriften standen, war keine fundamentale Alteritätskonstruktion, wie sie in der häresiologischen Lesung der Türken erfolgte, sondern, ganz im Gegenteil, die Setzung einheitlicher Kategorien, die prinzipiell für alle beschriebenen Völker galten und die die Gestaltung der Texte bestimmten, während Alteritätsmarkierungen erst innerhalb dieses Rasters vorgenommen wurden. Die von Georg von Ungarn so gefürchtete visuelle Erfahrung über andere Welten wurde in diesen Schriften nicht als teuflische Versuchung, sondern als Vollzug des göttlichen Auftrages zu reisen und dabei Wissen und Weisheit zu gewinnen, aufgefasst, wobei „es kein sicheres Wissen als jenes, das uns über das Sehen zuteil wurde“ gebe.10 Da Gott den Menschen zum Herrn über Länder und Meere gemacht habe, „hat er ihm den Instinkt verliehen, seinen weltlichen Besitz bis zu den äußersten Grenzen kennenlernen zu wollen (...) damit (so mag man glauben) durch solche Reisen und Verständigungen alle verschiedenen Nationen der Welt sich aneinander ge-
9 Irwin, Robert: For Lust of Knowing. The Orientalists and Their Enemies. London 2006. 10 Thevet, André: Cosmographie de Levant. Lyon: Ian de Tournes et Guil. Gazeau 1556, Fol. b3r: „nous volant en cela designer qu’il n’y a savoir plus certein que celui qui nous est acquis par la vuë.“
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wöhnen und miteinander vertraut werden, einander die barbarischen Laster austreiben und sich ebenso in der wahren Religion [= dem Christentum] unterrichten.“11
Neben den zahlreichen Reiseberichten wurden auch die antiken Autoren gedruckt. Bei allem Respekt für das bei Herodot, Plinius, Ptolomäus und anderen präsentierte ehrwürdige Wissen lag es jedoch auf der Hand, dass diese Schriften aktualisiert werden müssten: „Die alten so Ptolemeus/ Strabo und Cornelius Tacitus beschriben haben/ zeigen an was für Völcker und wohnungen zu ihren zeiten in einem jeden Landt sind gewesen/ und so dieselbigen jetzund zu mehrerm theil in ein abgang oder verenderung kommen sind/ hat von nöhten wollen seyn/ durch newe Tafeln gelegenheit der Welt und eins jeden Lands anzuzeigen (...).“12
Die italienischen Herausgeber der Geographie des Ptolomäus erläutern dabei, dass der Kosmograph vor dem Problem stehe, dass er eigentlich ein Blatt Papier von der Größe der Stadt Roms bräuchte, um auf einer Tafel die ganze Welt darzustellen. Daher müsse man auf zwei Ebenen mit einer Arbeitsteilung zwischen Geographie und Corographie (Länderbeschreibung) vorgehen: Während der Geograph die Lage der Orte auf seinen Tafeln verzeichne, beschreibe der Corograph in Worten alle topographischen Eigenheiten und „Historien“ des jeweiligen Ortes.13 Genauso wie die Türkengefahr ihre Durchschlagkraft der Druckerpresse verdankte, waren auch die Reiseberichte durch den Buchdruck geprägt und bildeten mit Kosmographien und Länderbeschreibungen ein frühneuzeitliches Wissensgebiet, in dem der Anstieg des empirischen Wissens besonders ausgeprägt war und das mit der gelehrten Tradition von Geographie, Kosmographie und Pilgerberichten zur frühneuzeitlichen Ausformung der historia verschmolzen wurde.14 Als historia wurden generell nicht nur Berichte über die Vergangenheit, sondern 11 Nicolay, Nicolas de: Dans l’empire de Soliman le Magnifique. Hg. von Marie-Christine Gamez-Geraud und Stéphane Yerasimos, Paris 1989 (Erstausgabe: Les quatre premiers livres des Navigations et Pérégrination de N. de Nicolay. Lyon 1568), S. 46: „(...) lui a donné instinct de vouloir connaître sa possession temporelle jusqu’aux dernières fins (...) à celle fin (comme il est croyable) que par telles pérégrinations und communications, toutes les nations diverses du monde s’apprivoisent et familiarisent les unes aux autres, s’émendent mutuellement les vices barbares, s’enseignent pareillement la vraie religion.“ 12 Münster, Sebastian: Cosmographei oder beschreibung aller länder, herrschafften, fürnemsten stetten, geschichten, gebreuchen, hantierungen etc. Basel: Henrichus Petri 1550 (ND Amsterdam 1968), Fol. a5r. 13 Ptolomäus, Claudius: La geografia di Claudio Tolomeo Alessandrino, già tradotta di Greco in Italiano da M. Giero Ruscelli, et ora in questa nuova editione da M. Gio. Malombra ricoretta, et purgarta d’infiniti errori. Venedig: Giordano Ziletti 1574, Kap. 1. 14 Stagl, Justin: Der wohl unterwiesene Passagier. Reisekunst und Gesellschaftsbeschreibung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Krasnobaev, B. I./ Robel, Gert/ Zeman, Herbert (Hg.): Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert. Essen 1987; Rassem, Mohammed / Stagl, Justin (Hg.): Geschichte der Staatsbeschreibung. Ausgewählte Quellentexte 1456-1813. Berlin 1994; Stagl, Justin: A History of Curiosity. Chur 1995.
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auch das nach bestimmten Prinzipien generierte Erfahrungswissen bezeichnet, das der Polyhistor erforschte und verwaltete.15 Das Attribut „empirisch“ ist dabei sowohl für jene Informationen zu verwenden, die tatsächlich konkret vor Ort erhoben wurden, als auch für jene Wissensbestände, die als solche deklariert wurden. Bei den Reiseberichten über das Osmanische Reich lässt sich gut erkennen, dass einige Schriften einen Pionierstatus erlangten, indem spätere Autoren besonders häufig auf sie zurückgriffen. Frédéric Tinguely hat beispielsweise gezeigt, wie Konstantinopel, das unter Süleyman I. mit einem großangelegten Bauprogramm verändert wurde, von einer Gruppe französischer Reiseberichte neu verzeichnet wurde. Die dabei etablierten Topoi erlangten für die nachfolgenden Schriften eine hohe Gültigkeit als Bezugspunkte.16 Es versteht sich von selbst, dass auch jene Berichterstatter, deren Texte eine solche Pionierrolle im Wissenskorpus einnahmen, ihrerseits in einer Tradition standen, eine standortgebundene Sichtweise an den Tag legten und die Dinge innerhalb ihres Verständnishorizontes wahrnahmen. Die angestrebte Vollständigkeit des empirischen Wissens folgte also den Vorgaben und Parametern des ethnographischen Projektes und sollte nicht mit dem Bild verwechselt werden, das wir uns innerhalb des heutigen islam- und geschichtswissenschaftlichen Paradigmas vom Osmanischen Reich machen. In der Entwicklung des Genres der Reiseberichte spielte vor allem für die Berichte über das Osmanische Reich die frühneuzeitliche Diplomatie, wie sie sich seit dem Spätmittelalter auf der italienischen Halbinsel und vor allem in der römischen Kurie herausgebildet hatte, eine wichtige Rolle. Venedig, das unbestrittene Informationszentrum über die Osmanen hatte hier mit seinem weitgespannten Netz an Botschaftern, Händlern und Spionen die Federführung.17 In der venezi15 Seifert, Arno: Cognitio historica. Die Geschichte als Namensgeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin, München 1976. 16 Tinguely, L’écriture du levant (wie Anm. 6). 17 Beck, Hans-Georg /Pertusi, Agostino / Mannoussacas, Manoussos (Hg.): Veniza. Centro di mediazione tra oriente e occidente (secoli XV-XVI). Florenz 1977; Preto, Paolo: Venezia e i Turchi. Florenz 1975; Brown, H. F.: Venetian Diplomacy at the Sublime Porte during the Sixteenth Century. In: Ders.: Studies in the History of Venice, Bd. 2. London 1907, S. 138; Antibon, Francesca: Le relazioni a stampa degli ambasciatori veneti. Padua 1939; Villain-Gandossi, Christiane: Contribution à l'etude des relations diplomatiques et commerciales entre Venise et la Porte ottomane au XVIe siècle. In: Südostforschungen Bd. 26 (1967), S. 22-45, Bd. 28 (1969), S. 13-47, Bd. 29 (1970), S. 290-300; Villain-Gandossi, Christiane: Les dépêches chiffrées de Vettore Bragadin, baile de Constantinople (12 Juillet 1564 - 15 Juin 1566). In: Turcica Bd. 9-10 (1978), S. 52-106; Simon, Bruno: I rappresentanti di diplomatici veneziani a Costantinopoli. In: Pirovano, Carlo (Hg.): Venezia e i Turchi. Venedig 1985, S. 38-55; Valensi, Lucette: Venezia e la Subime Prota. La nascita del despota. Bologna 1989; Boschini, Roberto: Gli ambasciatori veneziani da Solimano il Magnifico. Venedig 1998; Comisso, Giovanni (Hg.): Gli ambasciatori veneti (15251792). Relazioni di viaggio e di missione. Mailand 1992; Dursteler, Eric R.: The Bailo in Constantinople: Crisis and Career in Venice’s Early Modern Diplomatic Corps. In: Mediterranean Historical Review Bd. 16 (2001), S. 1-29.
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anischen Diplomatie war es generell üblich geworden, die sogenannten Relationen – jene Berichte, in denen der venezianische Botschafter nach der Rückkehr von seiner Mission vor dem Großen Rat einen Abriß über das von ihm besuchte Territorium präsentierte – entlang bestimmter Kategorien zu strukturieren, die eingangs in der Rede auch genannt wurden und beispielsweise über (1) den Reichtum des türkischen Sultans, (2) das türkische Militärwesen und (3) die Regierung zu sprechen. Derartige Kategorien variierten explizite Anweisungen über das, was eine Relation enthalten sollte. Nach einem venezianischen Manuskript aus dem Rat der Zehn des 16. Jahrhunderts sollte der Botschafter in seiner Rede folgende Punkte abdecken – eine Liste, die nicht nur für das Osmanische Reich, sondern alle Länder galt:18 (1) die Provinz (also das besuchte Land) mit a. Namen und geographischer Lage b. Verwaltungseinheiten c. wichtigen Städten etc. d. wichtigsten Flüssen (2) die (geographischen) Eigenschaften der Provinz (3) Einwohner der Provinz a. Sitten und Kleider b. Religion c. Militär d. Handel e. Adel und Volk (4) der Fürst a. Genealogie b. Person c. Sitten d. Hof e. Freund- und Feindschaften. Diese Art von Muster mit vorgeschriebenen festen Kategorien für die Relationen, das von gelehrten Traditionen geprägt war, wurde dann von den Botschaftern variiert. Innerhalb der venezianischen Diplomatie hatte sich also die Tendenz herausgebildet, das politisch relevante ethnographische Material nach einem abstrakten Kategorienschema, welches grundsätzlich für die Beschreibungen aller Länder geeignet war, zu strukturieren. Anhand der frühneuzeitlichen Staatenbeschreibungen lässt sich ebenso zeigen, dass im ethnographischen Projekt das Wissen über das Osmanische Reich nicht innerhalb eines Alteritätsdiskurses, sondern grundsätzlich innerhalb eines einheitlichen Tableaus verortet wurde, das für alle politisch relevanten Mächte galt. Francesco Sansovino nahm in seiner Staatenbeschreibung von 1560 beispielsweise den Reisebericht des Venezianers Benedetto Ramberti über das Osmanische Reich auf, wo dieser an die Seite von Beschrei18 Zitiert nach Antibon, Relazioni (wie Anm. 17), S. 16.
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bungen über die republikanischen und monarchischen Regierungsformen von Venedig, Nürnberg, Frankreich, England, Persien, der Kurie, Athen, Sparta, Utopia und anderen trat.19 Die Tendenz, ein einheitliches Ordnungsmuster mit bestimmten Kategorien zu etablieren, die das ethnographische Material strukturierten, setzte sich auch im Genre der gedruckten Reisebeschreibungen außerhalb des diplomatischen Kontextes durch. Innerhalb der Reiseberichte über das Osmanische Reich, die bis 1600 am häufigsten gedruckt wurden, hatte sich dabei bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts ein Ordnungsmuster etabliert, das sich für die Präsentation des ethnographischen Materials als besonders erfolgreich erwies. Anders als das traditionelle Muster, einen Reisebericht entlang des Itinerars zu strukturieren, ordneten die Autoren, die dem ethnographischen Ordnungsprinzip folgten, die ethnographischen Informationen unter allgemeinen Kategorien unabhängig von ihrem Reiseweg ein. Dabei hatte sich noch kein völlig einheitliches Prinzip durchgesetzt, es ist jedoch eine eindeutige Tendenz auszumachen, das ethnographische Material unter den drei folgenden Hauptfeldern einzuordnen: -
(1) Hof, Regierung und Militär („la court du grant Turc,” „Regiment,” „gouvernement,” „de milizia”), (2) Religion („Gesetz,” „rito,”, „religion,” „fides,” „superstitia,” „vita”), (3) Sitten und Gebräuche („modo di vivere,” „costumi,” „rito”, „moeurs et conditions,” „nature des Turcs en general”).20
Dabei waren die einzelnen Felder nicht eindeutig voneinander abgegrenzt und konnten einander sowohl in ihren Kategorien als auch ihrem Inhalt überschneiden. Der Erfolg dieses Ordnungsmuster läßt sich daran erkennen, daß die Reiseberichte, die ihre Darstellung an solchen Hauptkategorien ausrichteten, überdurchschnittlich häufig in allgemeinen Kompendien über die Türken aufgenommen wurden. Anders als die Reiseberichte, die dem Itinerarmuster und damit dem Weg ihrer Reise folgten, war das ethnographische Ordnungsmuster nicht an die konkreten Umstände einer Reise gebunden, sondern orientierte sich an einem allgemeinen Muster gesellschaftlicher Beschreibung, das sich mutatis mutandis auch auf andere Länder übertragen ließ. Das ethnographische Ordnungsmuster erwies sich damit als besonders geeignet, um einen konkreten Reisebericht aus dem Genre seiner Gattung in das Genre einer Kosmographie oder einer Staatenbeschreibung zu überführen. Damit hatten die Reiseberichte über das Osmanische Reich eine Entwicklung in ihrer Textpraxis antizipiert, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von der neuen Disziplin der Reisetheorie, der ars apodemica, explizit gemacht wurde. Ähnlich wie die venezianischen Vorgaben über den empfohlenen Aufbau der Relationen entwickelte die ars apo-
19 Sansovino, Francesco: Del governo de regni et delle republiche antiche et moderne. Venedig: Francesco Sansovino 1560. 20 Höfert, Den Feind beschreiben (wie Anm. 5), S. 274-282.
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demica mit dem Prinzip des sogenannten Ramismus hierarchische Schemata, nach denen die Reisenden ihre Beobachtungen festhalten sollten.21 Damit war das Prinzip bereit gestellt, mit dem die frühneuzeitlichen Staaten Wissen über ihr eigenes Territorium als auch das anderer Länder sammelten. Mit dem Projekt, die historia orbis terrarum zu verzeichnen22, hatte Europa nun das Rüstzeug, um sich epistemologisch der Welt zu bemächtigen, auch wenn bezüglich des Osmanischen Reiches von einer de-facto-Bemächtigung nicht die Rede sein konnte. Dabei ist das ethnographische Ordnungsmuster eine neue Erscheinung des 16. Jahrhunderts – weder die antiken Autoren wie Herodot und Plinius noch die mittelalterlichen Kompilatoren hatten das Prinzip entwickelt, ethnographisches Wissen anhand eines abstrakten Schemas gesellschaftlicher Kategorien, das prinzipiell auf alle Völker und Länder anwendbar war, zu strukturieren. Diese Transformation in der Organisation ethnographischen Wissens war nicht allein den Reiseberichten über das Osmanische Reich geschuldet. Humanistische Länderbeschreibungen, Kosmographien und Reiseberichte über europäische und andere nicht-europäische Völker spielten in diesem Prozeß genauso eine Rolle. Da den Türkendrucken jedoch durch den Kontext der europäisch-osmanischen Auseinandersetzungen quantitativ wie qualitativ eine wichtige Rolle zukam und sie ein Wissenskorpus mit einem hohen Grad an intertextuellen Beziehungen darstellten, waren sie in dieser Entwicklung ein wichtiger Faktor. Dabei ist nun ein Punkt für unseren Zusammenhang von besonderer Bedeutung: die Ausbildung des ethnographischen Feldes der Religion. Die Verwendung des Wortes Religion als einen Oberbegriff, der sowohl christliche Glaubenspraktiken und -inhalte genauso bezeichnet wie den islamischen und jüdischen Glauben, ist neu. Wie Ernst Feil gezeigt hat, wurde religio vor 1620 in der spätantiken Bedeutung von Gottesverehrung oder Gottesbeachtung in erster Linie auf das Christentum angewandt, wobei religio kein Oberbegriff war, sondern im Sinn von ritus, cultus, pietas und caerimonia verwendet wurde. Im Gegensatz dazu bezeichnete fides die Gesamtheit des christlichen Glaubens und war ausschließlich der christlichen Sphäre vorbehalten. Wenn mittelalterliche Autoren von anderen Glaubenssystemen sprachen, verwandten sie durchgängig die beiden Begriffe lex und secta. Christentum und nichtchristliche Religionen waren also im Mittelalter durch eine begriffliche Dichotomie voneinander getrennt.23 In den Reiseberichten über das Osmanische Reich kündigt sich nun mit der allmählichen Etablierung des ethnographischen Feldes der Religion der neuzeitliche Oberbegriff von Religion an. In mittelalterlichen theologischen Abhandlun21 Stagl, Justin: Apodemiken. Eine räsonnierte Bibliographie der reisetheoretischen Literatur des 16., 17. und 18. Jahrhunderts. Paderborn 1983. 22 Becmann, Johann Christoph: Historia orbis terrarum, geographica et civilis. Frankfurt an der Oder: Fincelius 1673. 23 Feil, Ernst: Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffes vom Frühchristentum bis zur Reformation. Göttingen 1986; ders.: Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffes zwischen Reformation und Rationalismus (1540-1620). Göttingen 1996.
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gen wie auch in den Texten, die sich zum Diskurs der Türkengefahr zuordnen lassen, war es undenkbar, von den Sarazenen, Mauren und Türken anders als in einer theologischen Begrifflichkeit zu sprechen, die die Sekte Mahomets als häretisch, heidnisch oder teuflisch disqualifizierte. Das ethnographische Ordnungsmuster, das sich im 16. Jahrhundert etablierte und manifestierte, verwies derartige Urteile jedoch an bestimmte, exponierte Stellen der Reisebeschreibungen, während sich in denselben Texten an anderen Punkten ein Raum eröffnete, der es möglich machte, ohne diese Zuschreibungen über die religio Turcorum zu sprechen. Der strikte Antagonismus der Türkengefahr zwischen Christen und Türken wurde in diesem Raum unmerklich unterlaufen: ein Raum, der mit dem Haupttopos Religion benannt wurde, in dem der Gegensatz zwischen christlich und heidnisch/häretisch nicht mehr primär maßgeblich war, da dieses Urteil an einer anderen Stelle im Text gefällt wurde. Mit dem ethnographischen Ordnungsmuster wurde der Weg vom ausschließlich theologischen Bezugsrahmen, in dem der Islam zwangsläufig als lex diabolica bezeichnet wurde, zu einem Kategoriensystem geebnet, in dem mit der impliziten begrifflichen Gleichsetzung von Christentum und Islam ein entscheidender Schritt vollzogen wurde. In den Reiseberichten kommt dies auch im Vokabular zum Ausdruck, wenn die Begriffe Religion und fede/fides sowohl für christliche wie muslimische Glaubenspraktiken und -inhalte verwendet werden. Allerdings wird dieser begriffliche und kategoriale Wandel nicht vollständig vollzogen – Begriffe wie secta, legge/loi/Gesetz und superstition kommen weiterhin in den Reiseberichten vor. Darüber hinaus war dieser Wandel keineswegs ein Selbstläufer, der sich ohne weiteres durchsetzte. Als Philipp Lonicer den italienischen Reisebericht von Giovanantonio Menavino 1578 ins Lateinische übersetzte, machte er viele der von Menavino vorgenommenen begrifflichen Angleichungen zwischen Christentum und Islam wieder rückgängig – vor allem Menavinos kühner Gebrauch von fede für den Islam wurde von Lonicer rigoros abgeschafft. Anstatt italienisch fede im Lateinischen als fides zu übersetzen, sprach Lonicer hier von lex oder superstitio Mahometana.24 Dieser in den Reiseberichten angedeutete kategoriale Wandel von der mittelalterlichen exklusiv christlichen fides hin zum modernen Oberbegriff der Religion wurde in den theologischen Schriften erst später vollzogen.25 Dieser Übergang war natürlich maßgeblich von konfessionellen innerchristlichen Auseinandersetzungen geprägt. Es ist jedoch bemerkenswert, daß der konzeptionelle Wechsel zum Oberbegriff der Religion innerhalb des ethnographischen Wissens bereits im 16. Jahrhundert vorgenommen wurde. Die Auseinandersetzung mit den Türken 24 Menavino, Giovananton: I cinque libri della legge, religione, et vita de’ Turchi. Venedig: Vincenzo Valgrisi 1548; Lonicer, Philipp: Chronicorum Turcicorum, in quibus Turcorum origo, principes, imperatores, bella, praelia, caedes, victoriae, reique militaris ratio et caetera huc pertinentia, continuo ordine et perspicua brevitate exponuntur. Frankfurt am Main: Sigmund Feyerabend 1578, Fol. 55r-66v passim. 25 Kaufmann, Türckenbüchlein (wie Anm. 6), S. 113.
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hatte hier unter der frühneuzeitlichen Aufwertung empirischen Wissens unmerklich eine Dynamik entfaltet, die mit der sich bildenden ethnographischen Kategorie von Religion den theologischen Antagonismus von Türkengefahr zwischen Christen und Türken konzeptionell konterkarierte. Gleichwohl bleibt die Tatsache, daß die Beschreibung türkischer Glaubensinhalte und -praktiken nicht ohne wenigstens eine klare Verurteilung erfolgen konnte, während eine entsprechende negative Wertung für alle anderen Bereiche des ethnographischen Wissens optional war. Religion war daher keine normale ethnographische Kategorien wie die anderen (Sitten/Gebräuche und Militär), sondern forderte weiterhin eine klare Wertung im Sinne des Christentums als einzig wahrer Religion. Als ethnographische Kategorie kam der Religion daher eine herausragende Rolle in der Markierung von grundlegender Alterität zu. Damit erwies sich die Religion im Spannungsfeld zwischen häresiologischer und ethnologischer Tradition als eine janusköpfige Kategorie. Im zweiten Abschnitt soll nun ausgehend von den elf Reiseberichten über das Osmanische Reich, die bis 1600 nach dem derzeitigen Forschungsstand am häufigsten gedruckt wurden, die Darstellung der türkischen Religion in dieser Ambivalenz zwischen theologischem und ethnographischem Bezugssystem skizziert werden Dabei beziehe ich mich auch auf die Ergebnisse einer quantitativen Textanalyse, deren Ergebnisse mit der Erläuterung der benutzten Parameter und detaillierter Quellennachweise bereits vorliegen und die ich hier für das Feld der Religion in erweiteter Form ausgewertet habe. 26 Die dabei aufgeführten Prozentzahlen sollten in ihrer Aussagekraft nicht überschätzt werden (zumal es keine absolut gültige Methode gibt, solche Zahlen zu erheben), sind jedoch nützlich, um zusätzliche Orientierungslinien in der vielfältigen Präsentation der ethnographischen Informationen zu schlagen.
26 Höfert, Den Feind beschreiben (wie Anm. 5). Bei den elf Reiseberichten handelt es sich um folgende Texte: Schiltberger, Hans: Reisebuch. Faksimile des Augsburger Druckes von 1476, hg. von Elisabeth Geck. Wiesbaden 1969; Georg von Ungarn, Tractatus (wie Anm. 2); Ramberti, Benedetto: Libri tre delle cose de Turchi. Venedig: Casa de’ figluioli di Aldo 1539; Georgejevič, Bartholomäus: De Turcarum ritu et caeremoniis. Antwerpen: Gregor Bontius 1544; Bassano, Luigi: I costumi, et i modi particolari della vita de Turchi. Rom: Antonio Blado Asolano 1545 (ND München 1963); Geuffroy, Antoine: Briefve description de la court du grant turc. Paris: Chrestian Wechel 1546; Menavino, I cinque libri (wie Anm. 24); Spandugino, Theodoro: Della casa regale de Cantacusini Patritio Constantinopolitano, delle historie, & origine de principi de Turchi, ordine della Corte, loro rito, & costumi. Lucca: Vincentio Busdrago 1550; Belon, Pierre: Les observations de plusieurs singularitez & choses memorables. Paris: Gilles Corrozet 1554; Nicolay, Dans l’empire de Soliman (wie Anm. 11); Villamont, Charles de: Les voyages du seigneur de Villamont. Paris: Claude de Montroeil et Jean Richer 1600.
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II. Unter den hier behandelten Autoren nimmt der oben zitierte Georg von Ungarn eine Sonderstellung ein. Sein Traktat, das in seiner Überschrift bereits ankündigt, nicht nur von Sitten und Lebensverhältnissen, sondern auch von der Arglist der Türken zu sprechen, ist von seinem Aufbau her innerhalb der hier betrachteten Quellengruppe als einziger Text keine ethnographische, sondern eine theologische Schrift und dementsprechend gesamthaft auf den Nachweis des türkischen Irrglaubens ausgerichtet. Im Gegensatz zu Georg begnügen sich alle anderen Autoren vor allem mit summarischen Urteilen über den türkischen Irrglauben, die sie an exponierten Stellen, nicht durchgängig anbringen. Bartholomäus Georgejevič, der in seinem Buch über Die Drangsalierung der gefangenen und unter türkischer Oberhoheit lebenden Christen seine gesamte Darstellung darauf ausgerichtet hat, um der Leserschaft eindrücklich das elende Los der christlichen Sklavinnen und Sklaven von den Massenvergewaltigungen bei der Gefangennahme über die unaussprechlich schmutzigen Dienste bis zu den lebensgefährlichen Fluchtmöglichkeiten nahezubringen27, hält sich in seiner anderen, ebenfalls knapp gefaßten Schrift über die türkischen Sitten und Gebräuche mit ausdrücklichen Verurteilungen sehr zurück. Der Abschnitt De Sacerdotibus eorum umfasst folgenden Bericht: Die Priester werden in ihrer Sprache Talismanlar genannt und unterscheiden sich nur wenig oder gar nicht von den Laien, ebenso wenig von den Prälaten der Zeremonien (die bei uns Bischöfe heißen). Es wird von ihnen nicht viel Gelehrsamkeit verlangt, es reicht, wenn sie gelernt haben, den Elcoran und Mussaphus zu lesen, allerdings werden jene, die auch nach dem Text übersetzen können, für überaus kundig gehalten, denn die Schriften wurden von Mehemmet nicht in der türkischen Volkssprache, sondern auf Arabisch überliefert, daher halten sie es für einen Frevel, wenn diese in die Volkssprache übersetzt würden. Diese pontifices werden vom Volk gewählt, erhalten aber vom König Lohn für ihre Arbeit. Sie haben Ehefrauen und tragen Kleider wie die Laien. Wenn ihr Lohn wegen ihrer vielen Kinder nicht ausreicht, machen sie etwas Handwerkliches und was eines freien Mannes würdig ist. Sie werden als Vorsteher über Schulen eingesetzt oder schreiben Bücher. Ich habe allerdings bei ihnen keine Drucker gesehen, aber sie stellen ausgezeichnetes Papier her. Andere gehen einem anderen Erwerb nach wie Schneider, Schuster oder ähnliches.28
27 Georgejevič, Bartholomäus: De afflictione tam captivorum quam etiam sub Turcae tributo viventium Christianorum libellus. Antwerpen: Copenius 1544. Diese Schrift ist in meiner Studie Den Feind beschreiben Teil der quantitativen Textanalyse, von deren Zahlen ich hier ausgehe, fällt mit einem geschätzten Umfang von 3000 Wörtern und einem Prozent Anteil am gesamten Textkorpus jedoch nicht sonderlich ins Gewicht. 28 Georgejevič, De Turcarum ritu (wie Anm. 26), Fol. B2r-B2v: „Sacerdotes vero, illorum lingua Talismanlar vocati, parum vel nihil differunt à laicis, nec etiam à Proceribus caeremoniarum, (quales apud nos sunt Episcopi) nec magna in ipsis doctrina requiritur, si Elcoranum, & Mussaphum noverint legere sufficit: illi autem qui etiam interpretari secundum textum noverint, peritissimi habentur: quoniam non vulgari lingua Turcica,
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Dieser Beschreibung liegt – wie allen hier besprochenen Texten – eine christliche Folie zugrunde, aber die geschilderten Abweichungen von der christlichen Norm werden in diesem Abschnitt nicht als solche explizit gekennzeichnet oder als häretische Praktiken verurteilt. Der nächste Paragraph Über ihre Schulen schließt sich nahtlos an. In dieser Tonalität ist die gesamte Darstellung gehalten – nur gelegentlich findet sich eine explizite Wertung. Erst am Ende steht ein summarisches Urteil: Oh ihr Götter, wer könnte die Grausamkeit und die überaus schändlichen Mißbräuche sowohl in den säkularen Dingen als auch den Zeremonien des mahommedanischen Glaubens aufzählen, wie es ihr, meine Leser, nun von ihrer Waschung und Reinlichkeit erfahren habt, worin sie glauben, die Hoffnung ihres Seelenheils zu finden, wenn sie diese praktizieren, während sie innerlich mit dem Beistand ihres verblendeten Führers Mehemmet mit jeder Unflätigkeit von Freveln angefüllt den unsterblichen Gott erzürnen.29
Die Autoren der Reiseberichte verorteten sich also alle eindeutig im Rahmen der Türkengefahr, aber der entscheidende Unterschied, der sie als TurcicaEthnographica auszeichnete, liegt darin, dass die Türkengefahr zwar ein wichtiges Leitmotiv war, aber nicht textgestaltend wirkte. Benedetto Ramberti war beispielsweise als Venezianer weniger an der heilsgeschichtlichen als vielmehr der politischen Dimension der Türkengefahr interessiert, denn Venedig war von der osmanischen Expansion im Gegensatz zum Römisch-Deutschen Reich konkret betroffen. Ramberti sah die osmanischen Erfolge daher nicht als Gottesgeißel oder Anzeichen für den Antichrist, sondern als Gunstbeweis der launischen Fortuna im politischen Spiel der Mächte an. Aber auch er verweilt nicht lange bei diesen Ausführungen, denn im ethnographischen Diskurs ging es vorrangig um eine umfassende Beschreibung der Türken: „[Aufgrund der von der Fortuna begünstigten Erfolge der Türken] ist unser Elend umso schmerzhafter und beklagenswerter, als zur Zeit überhaupt kein Anzeichen dafür zu sichten ist, dass das Schicksal sich wenden wird oder zumindest sein Rad dort anhält, wo es sich gerade befindet. Aber da es nicht meine Absicht ist, dieses Thema nun zu besprechen und ich über den Hof dieses Herrn [des Sultans] jene Dinge gesagt habe, die ich für erinnerungswürdig halte, komme ich nun zu den anderen Din-
sed Arabica à Mehemmeto sunt tradita, nephas enim esse putant, si vulgari lingua interpretata describerentur. Eliguntur isti Pontifices à populo, stipendium autem à Rege pro labore accipiunt: uxores habent, & habitum ut seculares: si stipendium non sufficit propter multitudinem liberorum, mechanica tractant ac libero etiam homine digna attingunt: praeficiuntur scholis, aut libros describunt. Apud illos sane nullos vidi Typographos, sed chartam optime parant. Alij alium quaestum faciunt, ut sartoris, sutoris, & similia.“ 29 Ebd., Fol. D3v: „Dij boni, quis possit enarrare crudelitatem & turpissimos abusus tam in rebus secularibus quam fidei Mehemmetice caeremonijs, prout legentes intellexistis de lotione & munditia eorum, in qua sola sperantes salutem suae ipsorum animae existimant se consequuturos, cum intus repleti omni spurcitia scelerum Mehemmeto ceco duce Deum irritant immortalem.“
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gen, die zur vollständigen Kenntnis der Sitten dieser Nation, ihrer Lebensweise und ihrer Regierung gehören.“30
In den Texten finden sich häufig Bemerkungen zur impliziten Frage, wann ein Thema hinreichend abgehandelt worden ist, welche Dinge hingegen noch zu beschreiben sind oder bei welchen Themen der Autor auf das Vorwissen seines Lesepublikums bauen kann: „Die Türken haben noch andere Sitten und eine andere Lebensweise, von denen nichts erzählt werden muß, überdies wisst ihr darüber genug und hört davon alle Tage.“31 „Da andere bereits ausführlich über den Serail und die Löhne, die [den dortigen Amtsträgern und Dienern32] bezahlt werden, berichtet haben, muß ich nur noch beschreiben, wo der Serail (...) von Konstantinopel liegt, der um seiner Schönheit willen auch mehr Worte verdient, und dann werden wir manch anderen Teil behandeln, über den die anderen bisher nichts gesagt haben.“33
Die Religion ist bei der Frage, in welcher Ordnung das ethnographische Material im konkreten Fall am besten präsentiert werden soll, nur ein Thema unter anderen und wird als ein Teilbereich der Gesellschaft identifiziert: „Ich hatte keine Absicht, in diesem ersten Band etwas zur Religion der Türken zu sagen und habe sie für den zweiten Teil reserviert, wo ich, Gott zum Gefallen, wie ich es oben vorgeschlagen habe, all das erklären werde, was die Tatsache und den Zustand ihrer Religion und Zeremonien, ihre Justiz und deren Verwaltung, die mit der Religion zusammenhängt, betreffen könnte.“34
30 Ramberti, Libri tre (wie Anm. 26), Fol. 26v: „Per laqual cosa tanto piu dolorosa, et lamentabile parmi che sia la miseria nostra, quanto che per ancora non si vede pur cenno alcuno ch’ella habbia a voltarsi, o pur fermar la ruota dove hora si trova. Ma perche non è mio intendimento di trattare al presente questa parte, & gia havendo io circa la Corte di questo Signore notate quelle cose che ho giudicate degne di memoria, verrò hora a quelle altre che sono pertinenti alla compita cognitione de i costumi dico tal natione, & del modo del viver & del governo loro.“ 31 Geuffroy, Briefve description (wie Anm. 26), Fol. Fijv: „Les Turcs ont d’autres coustumes & façon de vivre, qu’il n’est besoing de racompter, außi vous en sçavez assez, & en entendez tous les iours.“ 32 Diese Lohnlisten, die vom Wesir bis zum Stallburschen alle Einkommen der Beschäftigten im Serail aufführen, wurden vor allem in den italienischen Reiseberichten wiedergegeben. 33 Bassano, Costumi (wie Anm. 26), Fol. 16r.: „Essendo da altri lungamente stato detto del Serraglio, e de salari ch’in quello si danno, à me resta solamente descrivere il sito del Serraglio (...) di Costantinopoli, il quale come piu bello merita piu parole, & ancho anderemo toccando qualche altra parte non detta fin’hora da gl’altri.“ 34 Nicolay, Dans l’empire de Soliman (wie Anm. 11), S. 185: „Je n’étais délibéré de traiter en ce premier tome aucune chose appartenant à la religion des Turcs, proposant la réserver pour la seconde partie, où j’espère, au plaisir de Dieu, déclarer comme ci-dessus j’ai pro-
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Wenn man die hier zugrunde gelegten Texte mit ihren Passagen über die Türken (= 100%) zugrunde legt, hat die Beschreibung der türkischen Religion einen durchschnittlichen Anteil von 17%, wobei die Spannweite innerhalb der einzelnen Reiseberichte von 4% beim Venezianer Benedetto Ramberti bis zu 40% beim französischen Ordensritter Antoine Geuffroy reicht. Im Angesicht der Türkengefahr ist dieser durchschnittliche Anteil, den die Berichterstatter der Religion widmen, überraschend niedrig. Das demgegenüber größere Interesse am türkischen Hof und Militärwesen mit durchschnittlich 27% lässt sich mit dem häufig in den Vorworten dargelegten Motiv, Informationen für die Besiegung des türkischen Feindes zu präsentieren, erklären. Das Gesamtbild wird jedoch erst vollständig, wenn man die Türkengefahr zwar als wichtigen Impuls für diese Schriften ansieht, diese aber insgesamt als Ethnographica auffasst – mit durchschnittlich 21% befassen sich diese Berichte mit dem Feld der Sitten und Gebräuche und berichten hier über türkische Hospitäler und Verrückte, Hochzeiten, das Jagdwesen, Kleidung, Handwerksarbeiten, die vergnüglichen, hohen Erwachsenen-Schaukeln auf türkischen Festen und so fort. Unter den restlichen 35%, die von mir keinem der drei Hauptfelder zugeordnet wurden, finden sich schließlich Berichte über Juden und Christen (wobei die Christen sowohl als drangsalierte Glaubensgenossen als auch zusammen mit den Juden als ein Teil der Einwohner des Osmanischen Reiches in ihrer Lebensweise geschildert werden), über die Stadt Konstantinopel, herrenlose Hunde, Landstriche, Gewässer, Tiere und Pflanzen. Die drei Dinge, die von allen elf oder zumindest zehn Reiseberichten angesprochen wurden, zeugen ebenfalls von der vorrangigen Orientierung am ethnographischen Projekt, nicht an der Türkengefahr. Es handelt sich dabei um Essen und Eßsitten, die Verschleierung und Segregierung der Türkinnen (über die die – durchweg männlichen Autoren – widersprüchlich berichten) und Personengruppen, die von den Autoren als türkische Pendants zu christlichen Priestern und Mönchen eingestuft wurden und hier als religiosi bezeichnet werden. Es klang bereits an, dass nicht bei allen Dingen eindeutig war, unter welcher ethnographischen Kategorie sie aufgeführt werden sollten. Da die Bereiche Sitten und Gebräuche und Religion ohnehin einander überlappten, war dafür keine feste Regel, sondern das iudicium (um einen zentralen Begriff aus den damaligen Diskussionen über die Ordnung des Wissens zu nennen) des Autors über eine angemessene Ordnung ausschlaggebend. Es gab jedoch drei Bereiche, die immer oder überwiegend unter der Kategorie der Religion aufgeführt wurden: religiöse Glaubensinhalte (durchschnittlicher Anteil dieses Themas im Gesamtkorpus: 8%), religiöse Riten und Gebäude (5%) sowie die religiosi (4%). Die Glaubensinhalte nehmen vor allem bei Antoine Geuffroy (37% seines Gesamttextes), dem Genuesen Giovanantonio Menavino (18%) dem französi-
posé, tout ce qui peut concerner le fait et état de leur religion et cérémonies, de leur justice et administration d’icelle, qui avec leur religion est conjointe.“
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schen Apotheker Pierre Belon35, Georg von Ungarn (13%) und dem königlichen Stallmeister Charles de Villamont (13%) beträchtlichen Raum ein, werden von anderen Autoren jedoch nur am Rande oder überhaupt nicht aufgeführt. Mit den Überschriften der einschlägigen Passagen verorten die Autoren ihre Schilderungen in zwei unterschiedlichen Kontexten. Georg von Ungarn ist, wie erwähnt, zur theologischen Literatur zu rechnen. Geuffroy fasst die Glaubensinhalte als einen von vier Teilen seines Textes unter dem Titel Second livre contenant autres superstitions des Turcs zusammen und bezieht diese Kategorie damit nicht auf den ethnographischen, sondern häresiologischen Diskurs. Auch Pierre Belon orientiert sich in seinen Überschriften an theologischen Einordnungen, die allerdings nicht wie bei Geuffroy einen ganzen Teil, sondern nur Unterabschnitte bezeichnen36. Menavino wählt mit der Überschrift seines ersten Buches Il primo libro della vita, et legge turchesca eine Kategorie („legge“), die sowohl häresiologisch als auch ethnographisch gelesen werden kann, nimmt jedoch keinerlei Häresieurteile in den folgenden sechszehn Kapitelüberschriften vor. Villamont bleibt im ethnographischen Begriffsfeld.37 Am Thema der Glaubensinhalte lässt sich damit gut erkennen, wie innerhalb des ethnographischen Paradigmas, das in allen Reiseberichten außer bei Georg von Ungarn zum Tragen kam, auf einer zweiten Ebene die von Thomas Kaufmann als „häresiologische Basisthese“ bezeichnete Verurteilung des türkischen Glaubens unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Die geschilderten Glaubensinhalte wie Vorstellungen vom Paradies und der Hölle, des Jüngsten Gerichts und der jüdisch-christlichen Propheten werden zu einem guten Teil, aber nicht ausschließlich explizit auf den Koran zurückgeführt. Der Hinweis, dass Mahomet im Koran Elemente aus der Bibel zur Irrlehre verdreht habe, fehlt nur bei Menavino, der mit guten Gründen, wie wir sehen werden, auch auf die Person des Propheten nicht eigens eingeht.38 Pierre Belon und Antoine Geuffroy berichten zudem über die nächtliche Himmelsfahrt des Propheten, der vom Engel Gabriel auf dem Reittier namens „Alborach“ (arab. al35 Bei Pierre Belon, der ein Viertel seiner sehr umfangreichen Beschreibung der Naturkunde widmete, liegt die Zahl bei 6%, in absoluten Zahlen kommt der Umfang der einschlägigen Textpassagen jedoch Geuffroy und Menavino nahe. 36 Der dritte Teil Pierre Belons Le troisième livre des observations de plusieurs singularitez et choses memorables de divers pays estranges enthält beispielsweise die Überschriften von Kap. 2 „De quelle astuce usa Mahomet au commencement, en seduysant le peuple ignorant pour l’attirer à sa loy, & de ceulx qui luy aiderent“ (Fol. 172r) und Kap. 9: „Brief recit du paradis feint, tel que Mahomet l’a promis aux Turcs, & des choses fantastiques qu’il racompte“ (Belon, Observations, wie Anm. 26, Fol. 177v). 37 Villamont, Voyages (wie Anm. 26), Buch III, Kap. 9: „Quelle opinion ont les Turcs de Iesus Christ, del la Vierge Marie, & de la foy Catholique: ensemble de leurs coustumes sur ceux qui blasphement Iesus-Christ & Mahomet, de la punition des adulteres, & de plerus que font les Iuifs sur leurs morts“ (Fol. 253v). 38 Bassano, Costumi, Fol 11v; Belon, Observations, Fol. 173r; Geuffroy, Briefve description, Fol. o2v; Ramberti, Tre libri, Fol. 27r, Schiltberger, Reisebuch, S. 69f (alle wie Anm. 26).
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burāq) nach einem Banquet mit seinen Prophetenvorgängern von Jerusalem durch alle sieben Himmel geführt wurde und dort Gottes Licht erblickte.39 Die Geschichte dieses Aufstieges (arab. micrāЂ) ging nicht nur auf muslimische Hadithe zurück, sondern war im Islam Gegenstand einer ganzen Literatur und Motiv in Dichtung und Miniaturmalerei geworden.40 Belon und Geuffroy schildern diese Geschichte sehr detailliert, so dass es sich lohnen könnte, nach einer identifizierbaren muslimischen Vorlage zu forschen: Beide ziehen diese Geschichte zum Nachweis der türkischen Irrlehre heran. Giovanantonio Menavino, der im Gegensatz zu Belon (der 1547-49 als Mitglied der diplomatischen Mission des französischen Botschafters Gabriel d’Aramon im Osmanischen Reich war41) und Geuffroy (dessen Schrift vermutlich eine Schreibtischkompilation ist42) zehn Jahre als Sklave im Serail verbracht hatte und daher im osmanischen System erzogen worden war, wählte hingegen eine ganz andere Darstellungsstrategie. Obgleich auch er die türkische Religion als perfidia verurteilte43, ging er davon aus, dass die Türken bekehrt werden könnten: Sie seien wie wilde Pflanzen in ihren superstitioni verwurzelt und könnten nach einer Domestizierung zum rechten Glauben anstelle von bitteren süße Früchte hervorbringen.44 Mit dieser Einschätzung, die den Türken wie den Heiden eine grundsätzliche Heilsfähigkeit zugestand, korrespondiert Menavinos Aufbau seines ersten Buches, das ebenso wie Geuffroy ausschließlich türkische Glaubensinhalte behandelt, diese jedoch unter ganz andere Prämissen stellt, indem er sie als acht Gebote bezeichnet45: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Gebot, Gott zu lieben, Gebot, Vater und Mutter zu gehorchen, Gebot, niemanden das anzutun, was man selbst nicht erleiden möchte, Gebot, zum Gebet in die „Tempel“ zu gehen, Gebot zu fasten, Gebot zu opfern und Almosen zu spenden, Gebot der Heirat, Gebot, nicht zu töten.
Nach den Erläuterungen der acht Gebote, in denen Menavino auch Heiratsbräuche und andere religiöse Riten beschreibt, folgen auf weiteren acht Seiten die sieben „Todsünden der Mahomettaner“, die identisch mit dem christlichen Sündenkatalog sind. Damit ist Menavino der einzige Autor, der der häresiologischen 39 Belon, Observations, Fol 175r-176v; Geuffroy, Briefve description, Fol. m3v-ov. 40 Schrieke, B. / Horovitz, J. / Bencheikh, J. E. / Knappert, J. / Robinson, B. W.: „Micrādj.“ In Encyclopaedia of Islam 2. Aufl. s. v. 41 Yerasimos, Voyageurs (wie Anm. 6), S. 205. 42 Höfert, Den Feind beschreiben (wie Anm. 5), S.209-211. 43 Menavino, I Cinque libri (wie Anm. 24), S. 16. 44 Ebd., S. 80f. 45 Ebd., S. 17-36.
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Basisthese nicht folgte, sondern die Dogmen der fede turchesca den Lehren der fede christiana anglich – nicht um die Türken als Häretiker zu entlarven, sondern um ihre potentielle Bekehrbarkeit so plausibel wie möglich zu machen. Beim Thema der Glaubensinhalte waren theologische Wertungen also unumgänglich – der Berichterstatter musste hier in jedem Fall eine Position beziehen, unabhängig davon, wie das Urteil ausfiel. Es ist bezeichnend, dass das gesamte erste Buch Menavinos über diese quasi christologischen Lehren von den ethnographischen Turcica zwar als Ganzes Aufnahme im Kompendium Francesco Sansovinos fand46 und auch ins Deutsche übersetzt wurde47, aber nicht wie viele seiner anderen Passagen ein Pioniertext war, aus dessen Fundus sich andere Reiseberichterstatter bedienten. Diese Pionierstellung Menavinos lässt sich am Thema der religiosi gut erkennen. Die Vielfalt der religiosi innerhalb und außerhalb der osmanischen Ämterhierarchie wurde in den Reiseberichten sehr selektiv und uneinheitlich dargestellt. Luigi Bassano ordnet ausgewählten türkischen Bezeichnungen christliche Pendants zu: „Denjenigen, den wir Papst, Erzbischof, Bischof, Priester, Diakon, Mönch und Eremit nennen, nennen sie Mufthi, Cadilescher, Cadì, Chozà, Thallisman, Dervis.“48
Die „Cadilescher“, die als Richter für das Militär zuständig waren und an der Spitze aller Qadis im Osmanischen Reich standen, bekleideten in der osmanischen Ämterhierarchie einen wichtigen Rang. Die umfangreichen Auflistungen der Ämter im Serail waren vor allem in italienischen Reiseberichten zu finden und gehen in ihrer Ausführlichkeit möglicherweise auf osmanische Vorlagen zurück.49 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Cadilescher in den Reiseberichten, die sie erwähnen, einhellig als hohe religiöse Amtsträger beschrieben und in den Fällen, in denen die Hofhierarchie geschildert wird, unter der Rubrik Hof und Militär genannt werden.50 Bei Nicolas de Nicolay, der seinem Bericht 60 Kupferstiche hinzufügte, die jeweils einen Repräsentanten oder eine Repräsentantin von beruflichen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Gruppen zeigten und die zu zentralen Vorlagen für diesen ikonographischen Traditionsstrang 46 Sansovino, Dell’ historia universale dell’ origine et imperio de Turchi Parte Prima. Venedig: Francesco Sansovino 1560, Fol. 17r-65r. 47 Müller, Heinrich: Türckische Historien. Frankfurt am Main 1563 (Göllner Turcica Nr. 1042 – wie Anm. 6). 48 Bassano, Costumi (wie Anm. 26), Fol. 29v: „Quello che noi chiamiamo Papa, Arcivescovo, Vescovo, Prete, Diacono, e Monacho, e Eremita, loro chiamano Mufthi, Cadilescher, Cadì, Chozà, Thallisman, Dervis.“ 49 Auf diesen Punkt hat mich Cornell Fleischer, University of Chicago, aufmerksam gemacht. 50 Bassano, Costumi, Fol. 18v; Geuffroy, Briefve description, Fol. D1r; Menavino, Cinque libri, S. 50-52; Nicolay, Dans l’empire de Soliman, S. 185-187; Spandugino, Delle historie, Fol. H7v-H8v; Villamont, Voyages, Fol. 254r (alle wie Anm. 26).
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unter den Turcica avancierten, findet sich auch eine Abbildung des Cadislesquer.51 Bei den anderen religiosi waren sich die Autoren in einer Zuordnung sehr viel uneiniger. Menavino begründete hier jedoch eine Tradition, vier Gruppierungen von religiosi aus den damaligen religiösen Gemeinschaften zu identifizieren: „Giomailer, Calender, Dervisi, Torlachi“, denen er jeweils ein Kapitel widmet. Die erste Bezeichnung geht laut Marie-Christine Gamez-Geraud und Stéphane Yerasimos auf eine Sufi-Gemeinschaft zurück, die sich auf den persischen Sufi Aতmad-i ۛāmīc (gest. 1141) bezog, Calender steht offensichtlich für die Kalandarīya, eine weitere Sufi-Gemeinschaft, die seit dem 13. Jahrhundert nachweisbar ist.52 Mit den dervisi hatte Menavino laut Gamez-Geraud und Yerasimos Angehörige der Bektaschi im Auge (während Georg von Ungarn sich mit dieser Bezeichnung auf die kreistanzenden Mevlevi-Derwische bezieht53), die wohl auch das Material für Menavinos Torlachi bereitstellten – Torlachi ist offenbar vom türkischen Wort torlak inspiriert, das keine konkrete Gruppe, sondern einen Adepten bezeichnet, hier jedoch wie die gleichfalls allgemeine Bezeichnung dervis zu einem konkreten türkischen „Orden“ avancierte. Menavinos handliche ViererListe, die er aus den damaligen zahlreichen Gruppen konstruierte, wurde noch von Nicolae Jorga in seiner Geschichte des Osmanischen Reiches 1908-1913 zur Darstellung des Alltagslebens im 16. Jahrhundert herangezogen.54 Nicolas de Nicolay folgte Menavino ebenfalls, wobei er dessen neutral gehaltene Vorlage mit abfälligen Wertungen ausschmückte und den so geschaffenen Gruppen durch vier repräsentative Kupferstiche zusätzliche Authentizität verlieh. Unter den religiösen Riten finden sich schließlich Berichte über die täglichen fünf Gebete, die rituellen Waschungen, das Fasten und das Bayramfest am Ende der Fastenzeit, die Pilgerfahrt, das Spenden von Almosen und die Moscheen. Im Gegensatz zu den Glaubensinhalten und den religiosi, die nur sehr ausschnittsweise von den Reisenden wahrgenommen wurden, waren die religiösen Riten damit ein Bereich, der den Autoren grundsätzlich vertrauter war und zwar ebenfalls oberflächlich, aber deutlich umfassender wahrgenommen wurde. Innerhalb dieses Horizontes finden sich auch hier unterschiedliche Tonalitäten. Antoine Geuffroy, der bei der Schilderung der Glaubensinhalte in seinem Second livre de leurs superstitions nicht mit strikten Verurteilungen sparte, hält sich in seinem ersten Teil De la court du grant Turc (für den er andere Vorlagen verwendete) sehr viel bedeckter. Nach der Aufzählung der fünf täglichen Gebete fährt er fort:
51 52 53 54
Nicolay, Dans l’empire de Soliman, S. 186. Yazici, Tahsin: „Kalandar.“ In: Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., s. v. Georg, Tractatus, (wie Anm. 2), S. 279. ND 1990, Bd. 2, S. 429-432.
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„Die genannten Stunden werden ihnen durch die Talismans angezeigt, die auf die Türme ihrer Moscheen steigen und mit lauter Stimme die oben genannten Wörter schreien, wobei sie sich die Finger in ihre Ohren halten.“55
Luigi Bassano kann es sich beim gleichen Thema hingegen nicht verkneifen, diese Prozedur ins Lächerliche zu ziehen: „[Der astrologische Priester der Hauptmoschee], fängt an zu schreien, und die anderen [Priester auf den Minaretten anderer Moscheen] antworten ihm alle zugleich, wobei sie wie die Wölfe heulen, so das sie häufig die Hunde dazu provozieren, ihr Geheule nachzuahmen, was bei den Christen große Erheiterung hervorruft, die sich wegen der Hinterlist der türkischen Priester jedoch zurückhalten.“56
Religion erwies sich in den ethnographischen Schriften unter den Turcica also als eine ambivalente Kategorie. Auf der einen Seite stand sie für eine Sektion des ethnographischen Beschreibungsmusters, kennzeichnete einen Teilbereich innerhalb der Völkerbeschreibungen und hob damit die Darstellungen der religio Christianorum und Turcorum konzeptionell auf eine gemeinsame Ebene. Auf der anderen Seite kam ihr innerhalb des ethnographischen Tableaus eine herausragende Rolle in der Markierung von grundlegender Alterität zu, denn die einschlägigen Darstellungen lassen sich durchgängig vom unterschiedlich stark ausgeprägten Bekenntnisgrad der Autoren zur häresiologischen Basisthese her verstehen. Als in der ethnographischen Wissenskonfiguration der Wechsel von der mittelalterlichen Dichotomie (fides-lex) zum einheitlichen Oberbegriff von Religion vollzogen wurde, absorbierte die ethnographische Kategorie von Religion den theologischen Antagonismus der Türkengefahr. Genauso wie Europa durch die Türkengefahr als Territorium mit der Christenheit eng verknüpft worden war, war auch der neue Oberbegriff von Religion kein neutraler Terminus, sondern erwies sich – heute wie damals – im europäischen Selbstverständnis als eine herausragende Achse, über die Europa kollektive Identität und Alterität verhandelte. Es ist auch dieses Erbe, dass die heutigen religionswissenschaftlichen Probleme mit dem Religionsbegriff maßgeblich bestimmt.57
55 Geuffroy, Briefve description (wie Anm. 26), Fol. e2v: „Lesdictes heures leurs sont annuncées par les Talismans, qui montent es tours de leurs Meschites, et crient a haultes voix les parolles cy dessus escriptes, estouppans leurs oreilles de leurs doigts.“ 56 Bassano, Costumi (wie Anm. 26), Fol. 10r: „Della Chiesa maggiore, laquale loro chiamano Buiuch Mecith, com’è detto, si comincia à gridare, e gl’altri rispondono e seguono urlando tutti in un tempo come Lupi, di sorte che molte fiate provocano gli Cani à imitarli con urli, non senza gran risa de Christiani, liquali si contengono però, per l’insidie delli Preti Turchi.“ 57 Auffarth, Christoph / Mohr, Hubert: „Religion“. In: Metzler Lexikon Religion Bd. 3. Stuttgart 2000, S. 160-172; Homann, Harald: „Religion“. In: Wörterbuch der Religionssoziologie. Gütersloh 1994, S. 260-267; Asad, Talal: Genealogies of Religions. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam. Baltimore 1997; Beckford, James A.: Social Theory and Religion. Cambridge 2003.
Register Erstellt von Andreas Ohlemacher. Angaben aus dem Teilband 1 sind normal, Angaben aus dem Teilband 2 kursiv gedruckt. Sammelangaben (mit „f.“ oder „von-bis“) können Fußnotenstellen einschließen, ohne dass diese ausdrücklich aufgeführt sind. Namensschreibweisen divergieren z. T. erheblich zwischen den Aufsätzen und in der Literatur. Maßgeblich waren in diesen Fällen die Angaben des BBKL oder anderer einschlägiger Lexika.
I. Orte / Geographische Bezeichnungen Abendland s. Europa und Okzident Afrika (allgemein) 125, 232, 237, 238f. Anm. 24; 36-38, 279 Agrigent 167 Ägypten 66, 77 Anm. 15; 263 Akkon 220 Alexandria 146 Anm. 73 Alte Welt s. Europa Amerika (allgemein) 54f., 58, 65, 70, 75f., 80f., 82-89, 92, 121-123, 125127, 130, 132-135, 137, 231, 237 Amsterdam 18 Anm. 28, 31 Angers 79f. Anm. 21 Antiochia 146 Anm. 73 Antwerpen 18 Anm. 28, 31 Apulien 148-150, 152-155, 159, 170f.; 267 Anm. 76 Arabien 78 Aragón 160, 162f., 168, 251, 273, 277, 280 Arles 260 Aschaffenburg 271f. Anm. 66 Asien (allgemein, vgl. auch Ostasien, Südasien) VIII, 70, 73; 227, 263, 279
Asturien 57 Athen 160, 287 Attika 78 Augsburg 66, 196 Anm. 28, 200, 253255, 257, 265 Anm. 45, 268, 271f., 277, 279; 153, 173 Avignon 260 Anm. 28 Bagdad 28f, 32f. Balkan 261 Bari 150, 167f., 170 Basel 252, 255, 268f., 275; 8, 162 Bassano 241 Bautzen 162 Belgrad 249 Bern 245 Bethlehem 208 Béziers 261 Bologna 126; 108 Anm. 87, 196 Anm. 23, 209-211 Bovino 149f. Brasilien 54, 82 Breslau 257 Brügge 200; 4, 185
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Register
Brüssel 87 Buda 249 Burgos 132 Burgund 81, 84, 91; 252 Anm. 19 Byzanz 222 Cahors 261 Anm. 31 Cambridge 246 mit Anm. 46; 47 China 53, 57, 63f., 66, 68, 70, 80 Colombo 64 Como 204 Córdoba 219 Damaskus 217 Dänemark 68; 277 Anm. 99 Deutschland IX, 5, 8, 174f., 177-179, 187f., 195, 249; 251, 277 Anm. 99 Djerba 238f. Anm. 24 England 63, 245, 246 Anm. 46; 24, 218, 287 Erfurt 263 Anm. 41 Europa (allgemein) VIII, 51, 54, 58f., 61f., 66, 68, 71, 73, 76, 80, 85, 87, 118, 135, 140, 143, 162, 231f., 237, 244; 1, 26, 180, 228, 247, 262, 270, 277, 279, 281f., 288, 299 Ferrara 242 Fes 238f. Anm. 24 Florenz 65, 148, 183 Anm. 49, 204, 236, 241f.; 2, 66, 95, 98, 108, 115 Forli 264 Franken 244, 250, 253 Frankenreich 52, 260 Frankfurt/Main 184, 254 Anm. 10 und 12, 258 Anm. 23, 263 Anm. 41, 267 mit Anm. 50, 270f. Frankreich 5, 8, 11-21 (historiograhpiegesch.), 105, 161f., 168, 239, 245, 277, 280; 48 mit Anm. 111, 231, 236, 287 Genf 31 Gibraltar 125 Goslar 8 Granada 238f. Anm. 24
Gravedona 277f. Griechenland 53, 66, 69; 263 Großbritannien 64 Großwardein 270 Halbinsel, Iberische (vgl. auch Spanien) 138, 170, 237, 242, 276 Halle/Saale 68f.; 11 Heidelberg 245 Iglau 253 Anm. 8 Indien 58, 64, 66, 68-71, 76, 78, 80f. Innsbruck 191-193, 198 Ipsheim 232f. Isny 235, 245 Israel 52 Italien IX, 53, 85, 144f., 149, 163f., 166, 168f., 171, 174f., 177-179, 183, 186f., 204, 217f., 233, 240242, 246, 248-250, 264f. Anm. 44, 276f., 280; 37, 93, 108, 116, 195, 211, 227, 230, 267 Anm. 76, 285, 293 Anm. 32 Japan 53, 57, 64f., 70 Jerusalem 206-208, 227f.; 270f., 296 Kalabrien 149, 165, 168, 170 Kampanien 149f., 155, 171 Kanada 54, 63 Kantabrien 57 Köln 257, 262, 263 Anm. 41 Konstantinopel 53, 236, 238; 249, 261, 269, 281, 285, 293f. Konstanz 235, 245, 254 Anm. 12, 265 Anm. 45, 275 Kreta 240 Kuba 84 Kurpfalz 245 Land, Heiliges s. Palästina Lateinamerika 62f. Leiden 26 Leipzig 183 Lepanto 249 Leuven s. Löwen Libanon 78
Orte / Geographische Bezeichnungen
Linz 178 Lodi 117 London 233 Löwen (Leuven) 180, 184; 26 Lucera 159 Lüttich 25 Mailand 47, 117 Mainz 206, 254, 271f. Anm. 66; 154 Mantua 175, 242, 250 Mecheln 74f. Melfi 149 Mexiko 57, 59 Mien 214-216 Mittelamerika 57 Modena 47 Mohács 271 Molukken 55, 75f. Mongolei 63 Monte Cassino 165 München 202f., 258 Anm. 23; 162 Narbonne 238 Neapel IX, 48, 143, 145-150, 154, 157159, 163, 168f., 171; 66, 97 Neue Welt s. Amerika (allgemein) Neuengland 56, 59, 62 Neuguinea 55 Neustadt an der Aisch 233, 235 Niederlande 68, 202; 187 Nikopolis 227 Nil 77f. Nîmes 261 Anm. 31 Nördlingen 253, 255, 267 Anm. 50 Nürnberg 244, 254 Anm. 12, 265, 268 mit Anm. 53; 287 Okzident (vgl. auch Europa) 38, 43; 228, 230, 262, 282 Olm 267 Anm. 50 Orient 38, 43, 49; 212f., 216, 222, 227, 230f., 233f., 236f., 262, 277, 282 Ostasien 63f., 71 Osten (allgemein) s. Orient
303
Osten, Naher 216 Otranto 267 Anm. 76 Ottobeuren 179 Anm. 29 Padua 174f., 180, 233f., 236, 240; 93 Palästina 105, 119, 206, 211; 216, 226 Paris 68, 128,132, 234, 258 Anm. 23; 186, 233 Persien 48 Anm. 63, 77f., 237; 287 Peru 57, 62 Perugia 261 Anm. 31 Pest 249 Pfalz s. Kurpfalz Pisa 210f. Pisaro 234 Portugal 68, 121 Provence 161-163, 168, 263 Anm. 40 Regensburg IX, 189-201, 203, 205, 209f., 219, 221, 229, 239, 254 Anm. 12; 209 Reich, Altes s. Reich, Heiliges Römisches deutscher Nation Reich, Heiliges Römisches deutscher Nation 276; 265, 292 Reich, Osmanisches 53, 111; 227f., 247f., 251-25, 259-265, 267-270, 272, 274f., 277, 280f., 285-287, 288, 290, 292, 294, 296f. Reich, Römisches (Imperium Romanum) 52f., 66, 69, 101, 122; 49, 263 Rheinzabern 245 Rodez 261 Anm. 31 Rom 29, 67f., 178, 179 Anm. 31, 182, 198, 202, 204, 231, 234, 236, 237 Anm. 16, 238, 238f. Anm. 24, 242, 250; 117, 264, 271, 280 Romagna 277 Rothenburg ob der Tauber 252, 254 Anm. 12, 255, 268 Rouen 232 Salerno 150, 155-160 San Germano 165 San Severo 150 Santiago de Compostella 271
304
Register
Sardinien 242 Saumur 31 Schaffhausen 254 Anm. 12 Sinai 206 Sizilien 145, 149, 153, 156 Anm. 55, 159, 164-167, 168, 170f., 241f. Spanien VIII, 51, 57, 60, 62, 64, 84f., 87, 105, 110, 121f., 126, 128, 132135, 137, 173, 239, 242; 249, 271 Sparta 287 St. Gallen 204 Straßburg 12, 245; 154 Südamerika (vgl. auch Lateinamerika) 75, 82 Südasien 63 Südsee 77f. Sziget 249 Taren 165, 167 Tarragona 161 Tenochtitlan 85f. Teruel 162 Tibet 239 Toledo 263 Toro 210 Anm. 10 Trani 146f., 150f., 154f., 166f., 170f. Tranquebar 68, 70
Trier 261 Anm. 31 Troja 249 Tschechoslowakei 8f. Anm. 25 Tübingen 173, 183; 83, 269 Tulle 261 Anm. 31 Tunis 238f. Anm. 24 Türkei s. Reich, Osmanisches Türkei s. Reich, Osmanisches Ulm 173, 185, 207, 238 Utrecht 206 Vatikan 15 Venedig 204, 233-235, 242-244; 96f. Anm. 17, 197 Anm. 27, 206, 212, 249, 285-287, 292 Viterbo 236 Wartburg 49 Wels 191 Westen s. Okzident Westindische Inseln s. Amerika (allgemein) Wien 180, 257; 249, 264 Wittenberg 176; 162, 256 Anm. 32, 261f., 271 Worms 175, 177f., 182, 199, 245, 256 Anm. 15, 263 Anm. 41 Zürich 252, 254 Anm. 12, 265f., 268, 270-272, 274f., 277, 279
II. Personen Abbas Panormitanus 111 Abraham de Balmes 175, 184, 187 Abramo, Clemente 176, 187 Abresch, Pieter 18 Anm. 28 Abulafia, David 146 Achilles, Albert (Markgraf) 233 Adam, Michael 176, 182 Adrianus, Matthäus 173, 175f., 184, 187 Aegidius Romanus 54, 110, 120 Aegidius von Viterbo IX
Aemilius, Paulus 182, 187 Akiba, Rabbi 250 Alain de Lille 158 Alberti, Leon Battista 85 Albertus Magnus 77, 88 Albrecht von Halberstadt 3, 154f., 179f. Albumasar (Dscha‘far ibn Muhammad Abu Ma‘schar al-Balchi) 77, 259 Alciatus, Andreas 173 Alexander der Große 228-230 Alexander II. (Papst) 105, 118
Personen
Alexander III. (Papst) 106 Alexander VI. (Papst) 121f., 175, 242 Alfen, Klemens 164, 168 Alfonso de Valdés 135 Alfragana 259 Alkmaion von Kroton 69 Allemano, Yohanan 177, 183f., 241 Alpinus, Marcus Tatius 162 Altdorfer, Albrecht IX, 89, 189, 193197, 199-206, 209-214, 216-220, 224f. Alunno d’Alife 81 Ambrosius von Mailand 102 Amielle, Ghislaine 187f., 192f. Amman, Kaspar 179 Anaxagoras 69f. Anm. 32 Anaximenes 69f. Anaximenes 69f. Anm. 32 Andalò del Negro 77 Andrea de Augusta 154 Andreae, Jacob 273f. Angelus Silesius s. Boranowsky, Hierotheus Angerstorfer, Andreas 189f. Anm. 3, 193f. Anm. 21, 211 Anm. 84, 214f. Anm. 92 Antiquari, Iacobo 86 Antoninus von Florenz 111, 119, 121f. Antonius (Eremit) 117f., 120, 122f., 125, 129-133, 136f., 139-146, 148151 Antonius, Marcus 28f. Apelles 86 Apollonios Rhodios 83, 202 Aramon, Gabriel d‘ 296 Aretino, Francesco 163 Anm. 27 Ariès, Philippe 14f. Aristoteles 56, 68, 128, 139; 25, 45, 69, 82, 101f., 110f., 113 Arnobius d. Ä. 62 Anm. 14, 68 Anm. 31 Asher, Rabbi Yehuda ben 263 Ashkenasi, Rabbi Asher ben 232f. Äsop 108
305
Assmann, Jan 156f. Anm. 8 Athanasius von Alexandria 120 Augustinus von Ancona 129 Augustinus, Aurelius 24f., 52f., 65, 102105, 107, 118, 122f., 125, 131; 1f., 9-13, 17-24, 31-47, 49-53, 56-58, 64, 98-106, 108 Anm. 88, 111f., 120 Anm. 11, 228 Augustus (Gaius Octavius) 134, 136 Anm. 49, 231, 233f., 236f. Ausonius, Decimius Magnus 126f Aventinus, Johannes 8f. Averroës (Ibn Rushd) 240f. Avincenna (Ibn Sina) 259 Bach, Friedrich Teja 89f. Bachtin, Michail 27 Anm. 12 Balde, Jakob 30 Baldung-Grien, Hans 77 Balenus s. Gennep, Andreas van Barlaam von Kalabrien 66 Barlaeus, Caspar 30 Bartholomäus (Apostel) 57, 67 Bartholomeus d’Aquila 149, 154-158, 160 Bartolomé de Las Casas 56f., 60f., 66, 69, 72, 87, 93 Anm. 69, 121, 127, 130, 139 Bartolomé Miranda de Carranza 127 Bartolomeo Bolognini 211 Anm. 11 Bartolus von Sassoferato 118 Baschet, Jérôme 13 Basilius Magnus 98 Anm. 24 Bassano, Luigi 297, 299 Battenberg, Friedrich 116 Bedda, Natalis 20 Beifus von Worms 267 Bellarmin, Robert 12 Belon, Pierre 77; 295f. Benbellona, Antonio 12 Benedikt XIII. (Gegenpapst) 211 Benedikt XVI. (Papst) 209 Berger, Peter 20
306
Register
Bernardus de Podio 161 Bernhard von Pavia 106 Bernhard von Breydenbach 206-208 Bernhardino de Sahagun 59, 60. 69 Berruguete, Alonso 86 Beumann, Helmut 3 mit Anm. 9 Biard, Pierre 54 Bibliander, Theodor (Buchmann) 249, 270, 274 Bignon, Jean-Paul 48 Bloch, Marc 11-16, 18f. Boccaccio, Giovanni 84 Anm. 39; 2, 8, 59-79, 8f.1-91, 94f., 97, 100-102, 105-107, 109-111, 113f., 161 Anm. 19, 177 Anm. 55 Boerius, Nicolaus 260 Boethius, Anicius Manlius Severinus 96 Anm. 12, 100, 103, 107f., 110 Böhm, Johannes 173, 182, 185 Böhmer, Justus Henning 101 Anm. 2 Bomberg, Daniel 178, 183f., 234 Bonhomme, Jean 228 Anm. 66 Bonifatius IX. (Papst) 170 Bonsignori, Giovanni dei 4, 195f., 199f., 201, 204f. Boranowski, Hierotheus 12 Borckeloo, Harmen van 208f., 228 Botticelli, Sandro 157 Anm. 8 Bourdieu, Pierre 19f. Bracciolini, Poggio 204 Brenninger, Martin 83 Breu, Jörg 89 Brivio Giuseppe 117 Anm. 2 Bruni, Leonardo 98 Anm. 24 Bucer, Martin 245, 246 Anm. 46 Büchlein, Paul s. Fagius, Paul Bumke, Joachim 24 Burchardi, Franz 12 Burckhardt, Jacob 218 Burghartz, Susanna 251f., 270, 273 Buroner, Paul Heinrich 101 Anm. 2 Bushart, Magdalena 89
Cajetan (Thomas de Vio) 53, 134 Calonimos, Carlo 187 Camerarius, Joachim 79 Camilles, Michael 92 Campanini, Saverio 178, 182 Canisius, Petrus 24 Anm. 47 Cano, Melchor 127 Capito, Wolfgang 184, 245 Carlebach, Elisheva 179 Carls, Wieland 212 Anm. 87 Cassuto, Umberto 146 Castellio, Sebastian 9 Catilina, Lucius Sergius 28f. Cato, Marcus Porcius d. J. 16, 108 Cellarius, Johannes 187 Cennini, Cennino 88 Cesariano, Cesare 204f. Chajim, Rabbi Jakob ben 234 Charles s. Karl Chrétiens de Troyes 28, 43 Chrysipp (Chrysippos von Soloi) 69 Cicero, Marcus Tullius 55; 16, 26, 28f., 34f., 56f. Anm. 140, 62, 65 Anm. 20, 68 Anm. 31, 69, 78 Anm. 48, 105, 111f., 145 Anm. 71, 177 Anm. 55, 259 Claude d’Abbeville 54 Claudian (Claudius Claudianus) 84f., 121, 141 Clemens IV. (Papst) 152, 167 Clemens V. (Papst) 261 Clemens VII. (Papst) 242 Clemens von Alexandria (Titus Flavius) 62 Anm. 14, 156 Anm. 6 Clementia von Habsburg 160 Cohen, Jeremy 144-146 Columbus s. Kolumbus Comes, Natalis 8 Constantius, Flavius Julius 146 Anm. 73 Contarini, Gasparo 86 Contractus, Hermannus 8 Coornhert, Dirck 27f., 30
Personen
Corbinelli, Angelo 2, 96 Cortés, Hernan 86 Coryate, Thomas 243f. Cranach, Lucas 89 Cueillette, Jean 228 Anm. 66 Cuspinian, Johannes 279f. Cyprian, Thascius Caecilius 45 Anm. 101 Czerwinski, Peter 23f. Anm. 3 Damhouder, Jost 260 Dante Alighieri 125; 74, 110, 158f., 209f. Dassmann, Ernst 102 David (König) 90 Anm. 75, 111, 233f. Decembrio, Pier Candido 119 Anm. 5 Decius, Gaius Messius Quintus Traianus 138 Delgado, Mariano 60 Delmedigo, Eliya 240f. Demokrit 67 Denck, Hans 175 Desiderius Erasmus s. Erasmus von Rotterdam Diana von Poitiers 232 Díaz del Castillo, Bernal 86 Dietrich von Bern 235, 249 Dietrich, Veit 244 Dinzelbacher, Peter 9f-11, 276 Anm. 78 Dionysios 81 Dioskorides 223 Anm. 49 Dominici s. Giovanni Dominici Domitian(us), Titus Flavius 135 Anm. 47 Döpler, Jacob 260 Dracontius, Blossius Aemilius 143f. Droysen, Johann Gustav 2 Anm. 5 Duby, Georges 12-14 Duc de Berry s. Jean de Valois Dürer, Albrecht VIII, 80, 82f., 86-93, 95-97, 99 Durkheim, Emile 11, 17-20
307
Duysend, Cornelis Claezoon 16 Anm. 24 Edward VI. von England (König) 245 Egidius Spiritualis von Perugia 120 Eichberger, Dagmar 74 Elbogen, Ismar 196 Anm. 28 Eliano, Vittorio 250 Elias Germanus s. Levita Bachur, Elija Elijah del Medigo 183, 187 Eliot, John 63 Elisabeth I. von England (Königin) 246 Anm. 46 Ellius, Quintus 25 Anm. 54 Epich, Hans von 258 Anm. 23 Epiktet 25 Erasmus von Rotterdam 59; 2, 8f., 1427, 30-32, 34f., 173, 175 Anm. 52, 177 Ermolao Barbaro d. Ä. (Bischof) 97 Anm. 18 Este (Familie) 242 Eugen IV. (Papst) 3, 117, 120f., 131, 136, 148 Euhemeros 65 Anm. 20 Evagrius von Antiochien 120 Anm. 11 Ezra, Abraham Ibn 238 Fabri, Felix 207f., 212 Fagius, Paul 233, 245f. mit Anm. 46 Faventinus, Johannes 113 Febvre, Lucien 12f., 15f. Feest, Christian F. 73f. Anm. 1, 88 Felipe Guamán Poma de Ayala 62 Ferdinand II. von Aragón (König Spaniens) 171, 242 Fernández de Oviedo 81 Ferrer, Vincenz 258 Fichtenau, Heinrich 2 Anm. 4 Ficino, Marsilio 236; 2, 8, 14 Anm. 19, 24 Anm. 48., 76 Anm. 43, 80-91, 160 Fieschi, Sinibaldo s. Innozenz IV. (Papst) Filarete (Antonio di Pietro Averlino) 85
308
Register
Firmilian von Caesarea 62 Anm. 14 Fishman, Isidore 181 Anm. 38 Fivli von Aschaffenburg 271f. Anm. 66 Flaccus, Valerius 201f. Anm. 40 Flochius, Erasmus 257 Fochler, Petra 164, 168 Forster, Johannes 185 Francesco da Fiano 95, 102f., 114 Anm. 126 Francesco di Giorgio Martini 85 Francisco de Vitoria VIII, 53, 121f., 126f., 132-141 Franck, Sebastian 254, 264 Franz I. von Frankreich (König) 234 Franz von Assisi 52f., 59 Frédol, Berengar 261 Friedrich II. (Kaiser) 108, 145, 151, 164170, 257 Friedrich II. von der Pfalz (Kurfürst) 245 Friedrich III. (Kaiser) 175, 182, 191 Fries, Johannes 186 Fucan, Fabian 70 Fulgentius, Fabius Claudius Gordianus 64 Anm. 16, 65, 103, 110 Anm. 99 Funkenstein, Amos 216 Anm. 97 Gabbai, Jacob 187 Gabriel von Venedig 237 Anm. 16 Gallus, Johannes 259, 260 Anm. 28 und 30 Garcilaso de la Vega 62 Gattinara, Mercurio Arborio 84 Gaufridus (Pariser krimineller Bürger) 259 Geldenhouwer, Gerard 21 Gellius, Aulus 25 Anm. 54, 78 Anm. 50 Gemeiner, Carl Theodor 192 Anm. 14, 193f. Anm. 21 Genette, Gérard 171 Gengenbach (Familie) 252, 258, 268f., 275 Gennep, Andreas van (Balenus) 180
Geoffroy de Saint-Léger 217 Georg von Ungarn s. Georgius de Hungaria Georg zu Firmian 193 Anm. 16, 198f. Anm. 40 Georgejević, Bartholomäus 265, 270274, 291 Georges de Selve 234 Georgius de Hungaria 5, 249, 254, 256259, 264, 266 -275, 280f., 284, 291, 295, 298 Gericke, Bartholomaeus s. Benbellona, Antonio Gessner, Konrad 76f., 176 Anm. 14 Geuffroy, Antoine 294, 296-299 Giacomo da Varazze s. Jacobus de Voragine Gikatilla, Josef 183 Giocondo, Fra Giovanni 204 Giordano da Pisa 148 Giotto di Bondone 227 Giovanni da Cora 63 Giovanni da Modena 209 Giovanni da Montecorvino 64 Giovanni da Piano Carpini 63 Giovanni da Samminiato 2, 95f., 107 Giovanni del Virgilio 196 Anm. 23 Giovanni Dominici 2, 95-99, 103-115 Giovannino da Mantova 93, 102, 110 Anm. 99, 113 Giovannino de‘ Grassi 79 Giraldi, Giglio Gregorio s. Gyraldus, Lilius Gregorius Giustaniani, Agostino 238 Goetz, Hans-Werner 4 Anm. 10 Gonzaga (Familie) 242 Göppingen, Bernhard 176, 187 Gratian 104, 118, 123 Graus, František 8f. Grayzel, Solomon 151 Gregor IX. (Papst) 106, 165f.; 53 Gregor X. (Papst) 152
Personen
Gregor XII. (Gegenpapst) 211 Gregor von Tours 52 Greyerz, Kasper von 265 Anm. 70 Grien, Hans Baldung 161 Grimani, Domenico 175, 177, 182 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 170 Anm. 39 Grotius, Hugo 35, 50 Grünewald, Matthias (Mathis GothartNithart) 149 Anm. 76 Guilelmus de Tocco 149, 159 Gumbrecht, Hans Ulrich 161 Gumprecht (von Frankfurt/M.) 267 Gyraldus, Lilius Gregorius 67 Hadrian VI. (Papst) 236 Hageneder, Othmar 107 Ha-Kohen, Joseph 146 Halbwachs, Maurice 18 Anm. 73 Halfan, Rabbi Elia 177, 187 Hali (Ali Ibn al’Abbas) 259 Hampe, Karl 3 Anm. 6 Hans von Straßburg 267 Anm. 50 Hardy, Johannes 259 Harnest, Joseph 202, 203 Anm. 56 Hartmann, Alfred 176 Hasenloff, Theodor 16 Anm. 24 Hätzer, Ludwig 175 Haye, Thomas 177 Heinrich II. von Frankreich (König) 232 Heinrich III. (Kaiser) 8f. Heinrich VI. (Kaiser) 167 Heinrich von Segusio s. Hostiensis Heng, Geraldine 213 Henkel, Max Ditmar 187, 199 Hermann der Lahme 9 Herodot 177 Anm. 55, 284, 288 Hesiod 61 Anm. 10, 72, 83f., 101f. Anm. 41 Heydenreich, Erhard 209
309
Hieronymus 107; 3, 23, 29, 96 Anm. 12, 105, 107, 111, 137-140, 142, 144-146, 148 Hilarius, Quintus Julius 45 Anm. 101 Hippokrates 88 Hochstaden, Konrad von 257 Hochwart, Laurentius 198 Höfert, Almut 265 Anm. 69 Hoffmann, Christoph s. Ostrofrancus, Christophorus Höffner, Jospeh 111f. Holder-Egger, Oswald 3 Anm. 6 Homer 65, 66 Anm. 24, 72 Anm. 39, 83f., 100, 101f. Anm. 41, 107, 112, 153, 164f., 167-170, 172, 174-176, 180f. Honorius, Flavius (Kaiser) 44 Hopfer, Daniel 200f., 203, 210, 222 Horaz (Quintus Horacius Flaccus) 16, 132f., 175 Anm. 51 Hostiensis 53, 109-111, 118, 120 Houckgeest, Gerard 211 Hrabanus Maurus 63 Hubmaier, Balthasar 191, 197 Hugo (IV.) von Zypern (König) 60, 72, 78 Anm. 49, 79 Anm. 51 Hugo von Sankt Viktor 108 Anm. 88 Huschner, Wolfgang 2 Anm. 4 Hyginus 62 Anm. 15 Iacopo da Varazze s. Jacobus de Voragine Ibn Verga, Salomon 146-148 Iggers, Georg G. 6f. Anm. 18 Ignatius von Loyola 64 Innozenz III. (Papst) 106f. Innozenz IV. (Papst) 53, 108-111, 119, 128f. Isaac, Johannes 179f., 188 Isaac, Stephen 188 Isaak Sohn des Samuel Bassan 250 Isabella von Spanien (Königin) 242 Isidor (Philosoph) 101, 104, 111 Isidor von Sevilla 107
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Register
Isserlein von Wien, Rabbi 264 Anm. 42 Jacobus de Voragine 137f. Anm. 52 Jakob de Theatre 154 Jan de Cock 149 Jan van Campen 184 Jaume II. von Aragón 160 Jean de Mandeville 80 Jean de Valois (Herzog) 231, 234, 236, 244 Jean le Clerc 2 Jenkin, Robert 2, 10, 47, 49-51 Jesus Christus 34, 39, 42, 51f., 60f., 63, 66, 119, 130, 152, 207-209, 23710, 20, 40f., 44, 56, 73, 77, 88, 100, 105, 110, 118, 121, 123-129, 156 Anm. 6, 160, 193 Anm. 14, 233f., 254, 256-259, 275 Jitzchak, Rabbi Schlomo ben, s. Raschi Johann I. von Ungarn s. Zápolya, János Johannes VII. Paläologus 231 Johannes XXII. (Papst) 170; 210-212 Johann von Dalberg 178 Johannes de Sancto Martino 149, 159 Johannes Skylitzes 222f. Johannes Teutonicus 105 Johannes von Damaskus 253, 280 Johannes von Lignano 118 Jonas, Justus 257 Anm. 34, 264 Anm. 67 Jorga, Nicolae 298 José de Acosta 57f., 61, 66 Josef, Rabbi Akiba ben s. Akiba, Rabbi Joselmann von Rosheim 196 Anm. 28 Josephus, Flavius 63, 192 Jud, Antonius 187 Julian Apostata 84f. Julius II. (Papst) 242 Justin der Märtyrer 172 Justinian (Kaiser) 112f. Juvencus, Gaius Vettius Aquilinus 124f., 129 Kalmar, Ivan Davidson 230
Karl der Große 219, 237 Karl I. von Anjou (König) 148f., 151, 153, 156 Anm. 55, 159, 161-163, 166-168 Karl II. von Anjou (König) 150, 158, 160-163, 168 Karl IX. (Kaiser) 232 Karl V. (Kaiser) 74-76, 86, 125, 127, 196 Anm. 28, 199, 234, 245 Karl V. von Frankreich 219, 230, 237 Karl VI. von Frankreich 231 Karl Martell (hier: Prinz von Neapel) 155, 160 Karl von Ungarn 159 Katz, Jacob 177 Anm. 20 Kaufmann, Thomas 295 Kern, Jacob 193 Khan s. Kublai Khan Khimchi s. Kimchi Khimchi, Rabbi David 233, 234 Anm. 8, 238 Kiesewetter, Andreas 146 Kimhi, Moses 173, 181f., 185, 238 Klemens VII. (Papst) 236 Kolumbus, Christopher 54, 60, 73, 80, 125, 231 Konrad von Megenberg 80 Konrad von Würzburg 158 Konstantin (Kaiser) VIII, 101, 122 Krause, Erich 200f. Anm. 38 Kublai Khan 214, 238f., 244 Laktanz (Lucius Caecilius Firmianus) 27, 62 Anm. 14, 68 Anm. 31, 103, 172 Laktanz, Pseudo- 67 Anm. 27 Lampert von Hersfeld 3Anm. 6 Landino, Cristoforo 76 Anm. 43 Laudensis, Martinus 118 Le Clerc, Jean 8f.,13,18f., 22 Anm. 42, 30-35, 38-47, 49-51, 53, 56-58 Le Goff, Jaques 12f., 15 Lemaire de Belges, Jean 84 Anm. 39
Personen
Leo Africanus 238, 238f. Anm. 24 Leo X. (Papst) 179 Anm. 31, 236, 238f. Anm. 24 Leonhard, David 188 Leontius Pilates 66, 77f. Levita Bachur, Elija IXf., 175f., 178, 182, 184, 186f., 231-236, 238f., 242, 244-250 Lienert, Elisabeth 164, 168 Limbourg, Gebrüder 233 Linus (antiker Dichter) 101f., 112 Lipsius, Justus 2, 9, 24-30 Loans, Jacob Jehiel 175, 178, 182, 187 Locke, John 31 Loeb, Rabbi (Liva) 187 Lonicer, Philipp 289 Lopez de Gómara, Francisco 86 López, Gregorio 129 Lorichius, Gerhard 178f. Louis s. Ludwig Lucan(us), Marcus Annaeus 159f. Anm. 17 Luckmann, Thomas 20 Ludwig der Bayer (Kaiser) 210 Ludwig II. von Ungarn und Böhmen 249 Ludwig IX. (Herzog) von Niederbayern 190f. Ludwig IX. von Frankreich (L. der Heilige) 218, 226 Ludwig VIII. von Frankreich (L. der Löwe) 242 Ludwig XIV. (König) von Frankreich 48 Ludwig von der Pfalz (Kurfürst) 198f. Anm. 40 Lukan s. Lucan(us), Marcus Annaeus Lukrez (Titus Lucretius Carus) 83f., 145 Anm. 71 Lupus, Johannes 118 Luther, Martin 129, 176, 231, 236, 244f.; 10, 250f., 256 Anm. 32, 258261, 264, 271 Anm. 87, 273f., 276
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Macrobius, Theodosius Ambrosius 6264, 66 Anm. 21, 70, 72-76, 81f., 88f. Magellan, Ferdinand (Fernão de Magalhães) 75f. Mahomet s. Mohammed (Prophet) Maimonides, Moses 240, 263 Mair, John 128 Mansion, Colard 4, 185-188, 198 Anm. 29 Manuel II. Paläologus 233 Manuforte 151f. Manutius, Aldus 178; 206 Margarete von Österreich 74f., 78, 80, 83f. Margaritha, Anthonius 176 Anm. 11, 179f., 182, 188, 196, 215-217; 272 Margoles, Samuel 216 Maria Tudor (Königin) 246 Anm. 46 Maria von Burgund 90 Marmion, Simon 81 Martial(is), Marcus Valerius 132 Anm. 36 Martin IV. (Papst) 153 Martin von Tours 128-130, 138f. Martino, Jacob 175, 182 Anm. 44, 187 Marx, Karl 20 Anm. 79 Mather, Cotton 63 Matthias Corvinus von Ungarn (König) 80 Maxillus, Georgius („Übelin“) 163f., 167169, 175, 177, 181 Maximianus (Elegiker) 122 Anm. 14 Maximilian I., Kaiser VIII, 74, 89, 91, 97, 191; 262 Maximilian III. (Erzherzog) 270 Maximilian von Transsylvanien 75f. Medici (Familie) 242; 80 Medici, Ippolito 232 Medici, Johannes Leo de s. Leo Africanus Medici, Katharina von 232 Medici, Lorenzo die Pierfrancesco de (jun.) 86 Mehmed II. der Eroberer (Sultan) 281
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Register
Meir von Rothenburg 263 Anm. 41 Meister W mit dem Schlüssel 201, 204, 223 Meister, Cité des Dames 233 Melanchthon, Philipp 183f., 244; 8, 257 Anm. 34, 271 Anm. 87 Menavino, Giovanantonio 289, 294-298 Mesue (Ibn Masawayh) 259 Meyer, Eduard 2 Anm. 5 Michelangelo (di Lodovico Buonarroti Simoni) 86, 250; 157 Anm. 8, 160 Michelet, Jules 13 Anm. 48, 218 Mielke, Hans 202f., 214f. Anm. 92 Migli, Ambrogio 95 Miguel de Arcos 132 Mithridates, Flavius 177, 183, 187, 240 Moctezuma (Herrscher) 75, 84f., 87 Moelln, Rabbi Moshe 187 Mohammed (Prophet) 69, 119; 88, 209-212, 237, 245, 247, 253f., 257, 261, 263, 272, 274, 279, 289, 291f., 295 Molinet, Jean 81 Mommsen, Wolfgang J. 6 Anm. 18 Moncada, Guiglelmus Raimundus s. Mihtridates, Flavius Montezuma s. Moctezuma Moraw, Peter 8f. Anm. 25 More, Thomas 2, 8f., 24, 30 Mortier, Petrus 18 Anm. 28 Mosse von Andernach 253 Mössli (Züricher Bürger) 269, 271, 275 Mühleisen, Mangold 277 Müller, Jan-Dirk 23f. Anm. 3 Münster, Sebastian X, 175, 179, 184, 186, 233, 234 Anm. 8, 238 mit Anm. 21, 244; 254, 284 Müntzer, Thomas 261 Anm. 55 Muratori, Lodovico Antonio 2, 10, 4749, 51-54, 56-58 Murner, Thomas 154, 170 Musaios (Musaeus) 101f., 112
Mussato, Albertino 93, 101-103, 107, 110, 113 Mylius, Georg 257, 259 Nemesian(us), Marcus Aurelius Olympius 137 Anm. 51 Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus 192 Nicolaus de Tudeschis s. Abbas Panormitanus Nicolay, Nicolas de 283f., 297f. Nigellus von Longchamps 138 Nikolaus IV. (Papst) 162 Nikolaus V. (Gegenpapst) 210f., 245 Nikolaus von Kues 9, 13f., 274, 276 Anm. 97 Nirenberg, David 251, 273 Numenius von Apameia 74-76, 84f. Anm. 62 Odorico da Pordenone 64 Oekolampad, Johannes 184 Oexle, Otto Gerhard 1 Anm. 3 Oldradus de Ponte 110, 260 Anm. 28 Orosius 52 Orpheus 72, 83-85, 89, 101f., 112 Osiander, Andreas 244 Osiander, Lukas 269, 274 Ostendorfer, Michael 209, 211, 213f., 229 Ostrofrancus, Christophorus 190 Anm. 4, 191-193, 202 Anm. 48 Ovid (Publius Ovidius Naso) 3f., 78 Anm. 50, 95, 108, 115, 122 Anm. 14, 131, 155, 158f.,170, 175 Anm. 51, 179f., 185f., 193, 195f., 198, 200-204, 206 Pagnini, Santes 176 Panofsky, Erwin 157-161, 180 Anm. 63 Paolo da Perugia 66f. Papst, Bernhard 177 Patschovsky, Alexander 103, 166 Paul III. (Papst) 55, 242 Pauli, Johannes 173 Anm. 1
Personen
Paulinus von Nola (Pontius Neropius Anicius) 126-128, 133f., 141, 147 Paulinus von Périgueux (Petricordiae) 128-130, 138f. Paulus (Apostel) 57, 131; 13f., 40, 55, 104, 106f., 160, 268 Paulus von Theben 117, 120, 123, 138140, 146, 148-151 Pelagius 31f Pellikan, Konrad 173f., 176, 179, 182186 Peraudi, Raimundus 260 Anm. 50 Perron, Jaques Davy du 259 Anm. 48 Peter III. von Aragón 160 Petrarca, Francesco 2, 34, 94f., 98, 100102, 105f., 110f., 113, 168, 175, 231 Petrus Alfonsi 213 Petrus de Guinzac 155 Petrus Lombardus 237 Anm. 16 Petrus Martyr von Angleria (Anglerius / Pietro Martire d’Anghiera) 55, 80, 84f., 87 Petrus Nigris 173 Petrus Venerabilis 213, 257 Petrus von Cluny 280 Pfedersheim, Paulus von 173 Anm. 1 Pfefferkorn, Johannes 196 Anm. 28 Phidias 85 Philipp II. von Frankreich 161 Philipp IV. von Frankreich 162 Anm. 80 Philipp VI. von Frankreich 217f. Philipp von Kleve 90f. Philippus van Limborch 13 Pico della Mirandola, Giovanni 125, 176f., 182-184, 186, 236, 239-241; 71 Anm. 36 Pierre de Beaujeu 228 Anm. 66 Pietro Piccolo da Monteforte 95-97, 107 Anm. 84 Pigafetta, Antonio 76 Pisanello, Antonio 231
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Plato 236; 16f., 24f., 28, 45, 72 Anm. 38, 74 Anm. 43, 80, 82-85, 88-91, 100, 104-106, 259 Plautus, Titus Maccius 100 Anm. 35 Plinius 78; 123, 284, 288 Plotin 72 Anm. 39, 80f. Anm. 58, 91 Plutarch 77; 16 Poiret, Pierre 13 Polyklet 82 Pomarius, Samuel 12 Porphyrios 105 Prato, Felix 178, 183, 187 Praxiteles 85 Prierias, Silvestro 129 Proba, Faltonia Betitia 133 Proklos 72 Anm. 38, 83 Properz (Sextus Aurelius Propertius) 29 Prosper von Aquitanien (Prosperus) 108 Anm. 88 Prudentius, Aurelius Clemens 108 Anm. 88, 110 Ptolemäus, Claudius 284 Putnam, Michael C. J. 120 Anm. 11, 146 Pythagoras 67; 63, 83, 90 Anm. 75 Raffael (Raffaelo Santi) 202, 204 Raimundus Lullus 53 Ramberti, Benedetto 286, 292, 294 Ranke, Leopold 3 Anm. 6 Raschi (Jitzchak, Rabbi Schlomo ben) 181 Regius, Raphael 4, 198f., 201-203, 205f. René I. d’Anjou 79 Reuchlin, Johannes 173, 177-179, 182186, 234 Anm. 8, 238f., 245; 9 Reuwich, Erhard 206, 208f., 211, 227 Rexius, Johann Baptista 153 Rexroth, Frank 263 Anm. 64 Ricci, Matteo 66-69, 72 Riccoldo di Monte Croce s. Ricoldus de Montecrucis Richard de Montbaston 213
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Register
Richard von San Germano 165 Ricius, Paulus 175, 183, 186f. Ricoldus de Montecrucis 250, 273f., 276 Anm. 97, 280 Rigger, Kuntzmann 269 Robert von Artois 155, 159 Robert von Neapel 66 Röckelein, Hedwig 213 Anm. 89 Rodriguez, João 65 Rogerius, Abraham 68 Rordorf, Hans 277 Ross, Alexander 124 Anm. 20 Rudermann, David 174 Rudolph von Langen 126 Anm. 24 Ruffinelli, Giacomo 250 Rushdie, Salman 209f. Anm. 4 Rutgers, Jan 18 Anm. 28 Sachs, Hans 170, 180 Saenredam, Pieter 201 Anm. 46, 211 Said, Edward 282f. Saladin (Sultan) 208 Salutati, Coluccio 2f., 76 Anm. 46, 9598, 100, 106-108, 110-114, 227, 236 Samuel, Rabbi Jehuda ben (ben Qalynos he-chasid) 239 Sansovino, Francesco 286, 297 Savonarola, Girolamo 115f. Scaevola, Quintus Mucius (Pontifex Maximus) 99 Schaidenreisser, Simon 3, 154f., 161-184 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 61 Schoenmann, Jöhlin 277, 279 Scholem, Gerhard (Gershom) 240 Anm. 30 Schott, Sebastian 193f. Anm. 21 Schreiner, Klaus 10 Schütz, Alfred 4 Anm. 12 Sedulius, Caelius 110, 125 Selim I. (Sultan) 262
Seneca, Lucius Annaeus 16f., 25, 29, 35, 104f., 119 Sepúlveda, Juan Ginés de 56, 126-132, 135, 237 Sergius-Bahīrā 260 Anm. 48, 279 Severino de Platia 154 Seznec, Jan 176 Sforno, Obadja 175, 177f., 182, 184, 187 Shatzmiller, Joseph 146 Sichardus, Johannes 8 Sidonius Apollinaris 121 Anm. 13 Sieveking, Hinrich 89 Anm. 57 Simian, François 11 Simon von Bisignano 113 Simonsohn, Shlomo 146 Sixtus VI. (Papst) 80 Slechta, Johannes 25 Smaria (von Zürich) 270, 277 Smith, Adel 209f. Anm. 4 Sokrates 16, 88 Solon von Athen 143 Anm. 65 Soncino, Gershom 178, 187 Sophokles 205 Spreng, Johannes 153f., 170 Stackmann, Karl 179 Staffelsteiner, Pail 188 Starr, Joshua 146 Statius, Publius Papinius 135 Anm.47 Storch, Jacob 188 Strabo 284 Strehler, Johannes 183 Anm. 49 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 101 Suleiman s. Süleyman Süleyman I. der Große 260, 262 Sulpicius Severus 138 Sulpizio, Giovanni 204 Süßlein, Alexander (ha-Kohen) 263 Anm. 41 Symachus, Quintus Aurelius 101f.
Personen
Tacitus, Publius Cornelius 27, 284 Tacuino, Giovanni 4, 199 Terenz (Publius Terentius Afer) 100 Anm. 35, 109 Thales von Milet 69f., 101 Anm. 40 Theodontius 63, 66f., 70f. Theodosius (Kaiser) 52, 112 Theodulus (Gottschalk von Orbais) 108, 158 Thomas (Apostel) 57, 61f., 64, 67 Thomas de Cantimpré 80 Thomas de Herrera 236 Thomas de Vio s. Cajetan Thomas Morus s. More, Thomas Thomas von Aquin 53, 59-61, 66, 70, 103, 110, 118, 127; 11, 93 Anm. 2, 96, 102, 113-115 Thomasius, Christian 11 mit Anm. 8; 13 Anm. 14 Thomasius, Gottfried 48 Tinguely, Frédéric 285 Tippelskirch, Dorothea von 13 Anm. 18 Toaffs, Ariel 252, 254 Toch, Michael 216 Anm. 97, 252 Anm. 3, 278f. Todorov, Tzvetan 138 Anm. 22 Tommaso Donà 197 Anm. 27 Toribio de Benavente (Motolinía) 60 Torrentius, Laevinus 25 Tremellius, Immanuel 179f., 187f. Treves, Rabbi Naftali 177, 182, 187 Trigault, Nicolas 66f. Turpin, Pseudo- 237 Usque, Samuel 146-148 Valentyn, François 55 Valla, Lorenzo 162, 170 Anm. 40, 177f. Varro 61 Anm. 7, 64 Anm. 18, 71, 97100 Vegio, Maffeo 3, 117-126, 128-149, 154 Venantius Fortunatus 138f. Vérard, Antoine 186, 192, 198 Anm. 29
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Vergil (Publius Vergilius Maro) 48; 63, 102, 105f., 108, 110, 124 Anm. 20, 130, 134-138, 140f., 158f., 164, 170, 175 Anm. 51 Vespasian, Titus Flavius 192 Vespasiano da Bisticci 120 Anm. 10 Vespucci, Amerigo 80, 82 Vico, Giambattista 160 Viktor von Karben 196 Anm. 28 Villamont, Charles de 295 Vincentius (Rogatistenbischof) 1, 10, 19, 46 Vinzenz von Beauvais 77f. Virgil s. Vergil Viterbo, Pietro Egidio da 178, 182, 184, 186, 231, 234-239, 241, 244 Vitoria s. Francisco de Vitoria Vitruvius (Marcus Vitruvius Pollio) 85, 204-206 Volaterranus, Raphael 163f., 167f., 170 Anm. 40, 172, 175 Volkert, Wilhelm 189 Anm. 3 Walther, Helmut C. 104 Warncke, Carsten-Peter 82 Weidling, Friedrich 163f. Weidner, Paul 175, 187f. Weinstein, Roni 264f. Anm. 44, 267 Anm. 49 Weissenhorn, Alexander 153 Wenninger, Markus J. 193f. Anm. 21 Wichelmann (Züricher Bürger) 269 Wickram, Jörg 3, 154f., 161, 164-167, 170, 178-181 Widmann, Leonhart 193f., 197f., 200, 202 Anm. 48 Widmanstetter, Johann Albrecht von 182f., 186, 238 Wilhelm von Tyrus 53; 217, 219 Winzinger, Franz 212 Witte, Emanuel de 211 Wittmer, Siegfried 189f. Anm. 3 Wolff, Johann 9
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Register
Wolfram von Eschenbach VII, 23f., 2628, 31 Anm. 21, 34f., 37, 39-47 Yedaiah, Rabbi Isaak ben 263 Anm. 40 Zápolya, János 249
Zehetmeier, Winfried 164 Anm. 30, 175f. Anm. 52, 178 Anm. 58 Ziegenbalg, Bartholomäus 68f. Zonarini, Giuliano 108 Anm. 87 Zwingli, Huldrych 245
Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Neue Folge
Wer kauft Liebesgötter? Metastasen eines Motivs Dietrich Gerhardt, Berlin/New York 2008 ISBN 978-3-11-020291-5 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 1
Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III Hrsg. von Jochen Johrendt und Harald Müller, Berlin/New York 2008 ISBN 978-3-11-020223-6 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 2
Gesetzgebung, Menschenbild und Sozialmodell im Familien- und Sozialrecht Hrsg. von Okko Behrends und Eva Schumann, Berlin/New York 2008 ISBN 978-3-11-020777-4 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 3
Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit I. Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden) Hrsg. von Ludger Grenzmann, Thomas Haye, Nikolaus Henkel u. Thomas Kaufmann, Berlin/New York 2009 ISBN 978-3-11-021352-2 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 4
Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia Hrsg. von Klaus Herbers und Jochen Johrendt, Berlin/New York 2009 ISBN 978-3-11-021467-3 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 5
Die Grundlagen der slowenischen Kultur Hrsg. von France Bernik und Reinhard Lauer, Berlin/New York 2010 ISBN 978-3-11-022076-6 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 6 Studien zur Philologie und zur Musikwissenschaft
318 Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin/New York 2009. ISBN 978-3-11-021763-6 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 7
Perspektiven der Modernisierung. Die Pariser Weltausstellung, die Arbeiterbewegung, das koloniale China in europäischen und amerikanischen Kulturzeitschriften um 1900 Hrsg. von Ulrich Mölk und Heinrich Detering, in Zusammenarb. mit Christoph Jürgensen, Berlin/New York 2010 ISBN 978-3-11-023425-1 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 8
Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat. 15. Symposion der Kommission: „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart‘‘ Hrsg. von Eva Schumann, Berlin/New York 2010 ISBN 978-3-11-023477-0 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 9
Studien zur Wissenschafts- und zur Religionsgeschichte Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin/New York 2011 ISBN 978-3-11-025175-3 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 10
Erinnerung --- Niederschrift --- Nutzung. Das Papsttum und die Schriftlichkeit im mittelalterlichen Westeuropa Hrsg. von Klaus Herbers und Ingo Fleisch, Berlin/New York 2011 ISBN 978-3-11-025370-2 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 11
Erinnerungskultur in Südosteuropa Hrsg. von Reinhard Lauer, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-025304-7 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 12
Old Avestan Syntax and Stylistics Hrsg. von Martin West, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-025308-5 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 13 Edmund Husserl 1859-2009. Beiträge aus Anlass der 150. Wiederkehr des Geburtstages des Philosophen
319 Hrsg. von Konrad Cramer und Christian Beyer, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-026060-1 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 14
Kleinüberlieferungen mehrstimmiger Musik vor 1550 in deutschem Sprachgebiet. Neue Quellen des Spätmittelalters aus Deutschland und der Schweiz Hrsg. von Martin Staehelin, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-026138-7 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 15
Carl Friedrich Gauß und Russland. Sein Briefwechsel mit in Russland wirkenden Wissenschaftlern Hrsg. von Karin Reich und Elena Roussanova, unter Mitwirkung von Werner Lehfeldt, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-025306-1 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 16
Der östliche Manichäismus --- Gattungs- und Werksgeschichte. Vorträge des Göttinger Symposiums vom 4./5. März 2010 Hrsg. von Zekine Özertural und Jens Wilkens, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11- 026137-0 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 17