Was sagt die Kunst?: Gegenwartskunst und Wissenschaft im Dialog 9783839461365

Welche Einsichten und Überlegungen kommen auf, wenn Kunst und Wissenschaft im Kontext einer Universität aufeinandertreff

222 27 18MB

German Pages 340 Year 2022

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Im Vorbeigehen
Was sagt die Kunst?
JULIUS DEUTSCHBAUER
Die Bibliothek der (un)gelesenen Bücher – ein Komplementärphänomen des Leseverhaltens
MARIA BUSSMANN
Zeichnen und Schreiben ohne Schluss oder Liebe Sophie
KARINA NIMMERFALL
Soft Feelings in Steel-Hard Casing
OLIVER RESSLER
Die Aufteilung des Sinnlichen
SHAHRAM ENTEKHABI
Sprechen über Kunst
KAROLINE RUDOLF
In Räume ästhetisch intervenieren
JULIA CROTON
Der Wert der Kunst
HEINZ BAUMÜLLER
Das Kontinuum zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit zu erleuchteter Gegenwart erwecken
ULRIKE ETTINGER
„Wenn ich jetzt irgendwo eine Ausstellung sehe, denke ich anders darüber!“
BIRGIT PETRI
Der Kreativität ihre Freiheit
ESIN TURAN
Bilder im Kopf stehen Kopf
THOMAS FATZINEK
Katholische Kirche und autoritärer Staat
SILVIA AMANCEI & BOGDAN ARMANU
Together forever in debt
SOPHIE DANZER
Et illud transit
HANS PUCHHAMMER
Welche Öffentlichkeit?
UTE NEUBER
„Im Vorbeigehen“ studieren
IRENA LAGATOR PEJOVIC
This is Not a Landscape Any Longer
PARASTOU FOROUHAR
Moderne und zeitgenössische Kunst in Iran
MONIKA DROŻYŃSKA
Neue und alte Stickmuster: Textile Kunst zwischen Tradition, Stereotyp und Emanzipation
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
KURZBIOGRAFIEN KÜNSTLER*INNEN
KURZBIOGRAFIEN AUTOR*INNEN
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Was sagt die Kunst?: Gegenwartskunst und Wissenschaft im Dialog
 9783839461365

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Monika Leisch-Kiesl | Franziska Heiß [Hg.]

WAS SAGT DIE KUNST?

GEGENWARTSKUNST UND WISSENSCHAFT IM DIALOG

Was sagt die Kunst.indb 1

11.09.2022 21:54:28

Linzer Beiträge zur Kunst wissenschaf t und Philosophie  Band 13 Monika Leisch-Kiesl I Stephan Grotz [Hg.]

Fakultät für Philosophie und für Kunstwissenschaft KATHOLISCH E PRIVAT U N IVERSIT ÄT LINZ

Beirat: Artur Boelderl, Klagenfurt Ludwig Nagl, Wien Audrey Rieber, Lyon Sigrid Schade, Zürich Anselm Wagner, Graz

Was sagt die Kunst.indb 2

11.09.2022 21:54:28

Monika Leisch-Kiesl | Franziska Heiß [Hg.]

WAS SAGT DIE KUNST? GEGENWARTSKUNST UND WISSENSCHAFT IM DIALOG

Was sagt die Kunst.indb 3

11.09.2022 21:54:28

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung von: Günter Rombold Privatstiftung Freunde der KU Linz Bischöflicher Fonds zur Förderung der KU Linz Raiffeisen Landesbank Oberösterreich Energie AG Oberösterreich

Coverabbildungen: Vorderseite: Esin Turan, Under-Cover, 2015. Fotografie hinter Acrylglas, 80 × 80 cm. © Esin Turan, Bildrecht Wien 2022 Rückseite: Monika Droz˙yn´ska, Stos papieru / Pieces of Paper, 2019ff, Ausstellungsansicht KU Linz, Sommersemester 2021. Work in Progress, Handstickerei auf Baumwollstoff, je 220 x 145 cm. Foto: Monika Leisch-Kiesl, © Monika Droz˙yn´ska, Courtesy KU Linz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung, Layout und Satz: BK Layout+Textsatz, 4845 Rutzenmoos (A) Druck: Samson Druck GmbH, 5581 St. Margarethen (A) Print-ISBN: 978-3-8376-6136-1 PDF-ISBN: 978-3-8394-6136-5 https://doi.org/10.14361/9783839461365 Buchreihen-ISSN: 2703-0156 Buchreihen-eISSN: 2703-0164 Papier: Kern: Salzer Eos sonder-extraweiß 1.50 Vol. 115 g/m2 Cover: Algro Design Duo 300 g/m2 Besuchen Sie uns im Internet: www.transcript-verlag.de

Was sagt die Kunst.indb 4

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter: www.transcript-verlag.de/vorschau-download

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INHALTSVERZEICHNIS



Vorwort | MONIKA LEISCH-KIESL und FRANZISKA HEISS 9

Im Vorbeigehen. Zum kuratorischen Konzept | MONIKA LEISCH-KIESL 11



Was sagt die Kunst? Eine begriffliche Annäherung | FRANZISKA HEISS 17

21 JULIUS DEUTSCHBAUER  Bibliothek ungelesener Bücher |   IM VORBEIGEHEN II/01 | WiSe 11/12



Die Bibliothek der (un)gelesenen Bücher – ein Komplementärphänomen des Leseverhaltens | INGO GLÜCKLER 29

39 MARIA BUSSMANN  Zum Sichtbaren und Unsichtbaren bei Merleau-Ponty |   IM VORBEIGEHEN II/02 | SoSe 12

Zeichnen und Schreiben ohne Schluss oder Liebe Sophie | ISABEL ZÜRCHER 47

51 KARINA NIMMERFALL  Cross Sections through Real and Imagined Spaces |   IM VORBEIGEHEN II/03 | WiSe 12/13



Soft Feelings in Steel-Hard Casing. Notes on Stephen Willats and Karina Nimmerfall’s Affective Cartographies | ARKADIUSZ PÓŁTORAK 59

69 OLIVER RESSLER  no replastering, the structure is rotten |   IM VORBEIGEHEN II/04 | SoSe 13

Die Aufteilung des Sinnlichen | JACQUES RANCIÈRE 77

85 SHAHRAM ENTEKHABI  Atlas Program |   IM VORBEIGEHEN II/05 | WiSe 13/14



Was sagt die Kunst.indb 5

Sprechen über Kunst. Eine Annäherung aus Sicht der Kunstvermittlung | SANDRA KRATOCHWILL 93

11.09.2022 21:54:28

|  IM VORBEIGEHEN II

99 KAROLINE RUDOLF einleuchtend |   IM VORBEIGEHEN II/06 | SoSe 14

In Räume ästhetisch intervenieren | SIGLINDE LANG 107

113 JULIA CROTON  Beweggründe |   IM VORBEIGEHEN II/07 | WiSe 14/15

Der Wert der Kunst | MANFRED PRECHTL 121

133 HEINZ BAUMÜLLER  Ich denke an Gott |   IM VORBEIGEHEN II/08 | SoSe 15 | 6



Das Kontinuum zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit zu erleuchteter Gegenwart erwecken | HANJO SAUER 141

151 ULRIKE ETTINGER  cultural displays |   IM VORBEIGEHEN II/09 | WiSe 15/16



„Wenn ich jetzt irgendwo eine Ausstellung sehe, denke ich anders darüber!“ |

FRANZISKA HEISS im Gespräch mit EVA VOGL und ALBERT VIERLINGER 159

165 BIRGIT PETRI  Waldhaarmützenmoos |   IM VORBEIGEHEN II/10 | SoSe 16



Der Kreativität ihre Freiheit. Die Unabschließbarkeit der Zeichenbewegung bei Birgit Petri | STEFAN GASSENBAUER 173

181 ESIN TURAN  Explosive Fortunes |   IM VORBEIGEHEN II/11 | WiSe 16/17



Bilder im Kopf stehen Kopf! | ANGELINA KRATSCHANOVA 189

193 THOMAS FATZINEK  Als die Nacht begann |   IM VORBEIGEHEN II/12 | SoSe 17



Katholische Kirche und autoritärer Staat. Thomas Fatzinek zeigt uns Ambivalenzen der katholischen politischen Ethik | CHRISTIAN SPIESS 201

209 SILVIA AMANCEI & BOGDAN ARMANU  What Past, What Future? |   IM VORBEIGEHEN II/13 | WiSe 17/18



Was sagt die Kunst.indb 6

Together forever in debt. Im Zwischengeschoss des Mitseins, eine Überlebensaufgabe. Zu einigen Arbeiten von Silvia Amancei & Bogdan Armanu | ELISABETH SCHÄFER 217

11.09.2022 21:54:28

INHALTSVERZEICHNIS  |

225 SOPHIE DANZER  4 Wände soll es haben |   IM VORBEIGEHEN II/14 | SoSe 18



Et illud transit | STEPHAN GROTZ 233

239 HANS PUCHHAMMER  Raum für Wissenschaft |   IM VORBEIGEHEN II/15 | WiSe 18/19



Welche Öffentlichkeit? Im Vorbeigehen – Hans Puchhammer | LUKAS KAELIN 247

253 UTE NEUBER  9 m Umfang zwischen Körper und Raum |   IM VORBEIGEHEN II/16 | SoSe 19



„Im Vorbeigehen“ studieren. Wie mich die im Studienalltag präsente Kunst bereichert und herausgefordert hat | BARBARA MAYR-FORSTER 261

7  |

267 IRENA LAGATOR PEJOVIC  For the Common Good |   IM VORBEIGEHEN II/17 | WiSe 19/20



This is Not a Landscape Any Longer | Conversation between

TONI HILDEBRANDT and IRENA LAGATOR PEJOVIC 275

285 PARASTOU FOROUHAR |   IM VORBEIGEHEN II/18 | SoSe 20 bis WiSe 20/21





Moderne und zeitgenössische Kunst in Iran. Kulturelle Authentizität, glokale Verortungen und transnationale Verflechtungen | JULIA ALLERSTORFER

im Gespräch mit HANNAH JACOBI und KATRIN NAHIDI 293

305 MONIKA DROZ YNSKA  Dwa / Fünf |   IM VORBEIGEHEN II/19 | SoSe 21



Neue und alte Stickmuster: Textile Kunst zwischen Tradition, Stereotyp und Emanzipation | KERSTIN BORCHHARDT 313



ABBILDUNGSVERZEICHNIS 325



KURZBIOGRAFIEN KÜNSTLER*INNEN 335



KURZBIOGRAFIEN AUTOR*INNEN 337

Was sagt die Kunst.indb 7

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Was sagt die Kunst.indb 8

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VORWORT Schon einmal, 2011, wurde die Arena zwischen Gegenwartskunst und Wissenschaft ausgespannt: Was spricht das Bild? Gegenwartskunst und Wissenschaft im Dialog, herausgegeben von Monika Leisch-Kiesl und Johanna Schwanberg.1 Nach weiteren 19 Präsentationen von Im Vorbeigehen. Kunst an der KU Linz in den Jahren 2011 bis 2021 erscheint nun Band Zwei mit leicht veränderter Fragestellung im Haupt-Titel: Was sagt die Kunst? Die Materialbasis der vorliegenden Publikation bilden erneut die Arbeiten der in den Räumen einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Universität gezeigten Positionen zeitgenössischer Kunst. Zum Teil witzig schräg, zum Teil behutsam einfühlend, zum Teil politisch brisant belebten sie den Alltag der Lehrenden und Studierenden, Mitarbeter:innen und Gäste der im Stadtzentrum, unweit der Fußgängerzone, gelegenen Privatuniversität. Sie formieren nun den Ausgangspunkt für Erörterungen zu Fragen nach der Relevanz von Bibliotheken, nach dem öffentlichen Raum oder auch nach dem Wert der Kunst; nach Grenzen und Übergängen zwischen Populär- und Hochkultur, nach der Rolle der Kirche im Dritten Reich, oder auch nach den ästhetischen und thematischen Herausforderungen der Kunst an die Theologie; nach der Bedeutung von Tränen, ökologischen Imperativen, oder auch nach der Chance von Überraschungen. So bieten sich den Leser:innen vielfältige Pfade durch die zeitgenössische Kunst und ihren je eigenen Erkundungen und Einsichten. Unser Dank gilt zunächst den Künstler:innen, die sich mental nochmals in ihre Präsentation in den Räumlichkeiten der Universität begeben und Bildmaterial der gezeigten Arbeiten sowie aus dem größeren Werkzusammenhang zur Verfügung gestellt haben; weiters den Kurator:innen der Ausstellungen, die im Rückblick die künstlerischen Statements in medialer und thematischer Hinsicht charakterisieren und kontextualisieren; schließlich den Autor:innen und Gesprächs-

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|  IM VORBEIGEHEN II

partner:innen der Theoriebeiträge, die die künstlerischen Impulse aus der Perspektive ihres jeweiligen Faches beleuchten und reflektieren. Unser Dank gilt Bernhard Kagerer, der gemeinsam mit den Herausgeberinnen das Layoutkonzept entwickelt, die Beiträge gesetzt und die Druckvorstufe erstellt hat; weiters den Mitarbeiter:innen von Samson Druck, die mit hoher Fachkompetenz und wohltuender Zuverlässigkeit Druck und Bindung realisiert haben; schließlich den Ansprechpartner:innen des transcript Verlags, die für Vertrieb und Marketing verantwortlich zeichnen. Unser Dank gilt den Förderern der Wissenschaftlichen Reihe sowie des konkreten Bandes, der Günter Rombold Privatstiftung, den Freunden der KU Linz, dem Bischöflichen Fonds zur Förderung der KU Linz, der Raiffeisenlandesbank sowie der Energie AG Oberösterreich. Zuletzt bedanken wir uns für den lebendigen und lustvollen Prozess in der Entwicklung dieses Buches. Monika Leisch-Kiesl und Franziska Heiss

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Anmerkung 1

Erschienen als Band 4 der Reihe Linzer Beiträge zur Kunstwissenschaft und Philosophie im transcript Verlag, Bielefeld.

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IM VORBEIGEHEN ZUM KURATORISCHEN KONZEPT Monika Leisch-Kiesl

Plötzlich waren die Wände weiß. Die Sammlung Rombold, hochkarätig bestückt mit Werken des Deutschen Expressionismus, des (vornehmlich) österreichischen Informel sowie der sogenannten Neuen Wilden der 1980er Jahre, ging per Schenkung an das Oberösterreichische Landesmuseum in Linz – und mit ihr verließen Holzschnitte Max Beckmanns und Ernst Ludwig Kirchners, großformatige Blätter von Markus Prachensky und Arnulf Rainer, Ölbilder von Gunter Damisch und Gottfried Mairwöger die Räume der Katholischen Privat-Universität Linz in der Bethlehemstraße.1 Weiße Wände – doch kein White Cube; und auch kein Museum, keine Galerie. Vielmehr eine Universität mit den Fachbereichen Theologie, Philosophie und Kunstwissenschaft. Ein Gebäude im Zentrum von Linz, zum einen Teil ein barockes Bürgerhaus aus dem 18. Jahrhundert, zum anderen Teil ein postmoderner Neubau der späten 1980er Jahre, beides adaptiert

Was sagt die Kunst.indb 11

bzw. neu errichtet und miteinander verschränkt durch das Architekturbüro Hans Puchhammer, Wien. Der Auszug der Kunst erfolgte Ende der 1990er Jahre – und erneut (wie schon zuvor durch Werke aus der Sammlung des renommierten Geistlichen und Kunstexperten) wurde das Haus und mit ihm der geisteswissenschaftliche Fächerkanon von der dazumal noch kleinsten Disziplin, der Kunstwissenschaft, her aufgemischt.

DIE AUSSTELLUNGSREIHE Drei Ziele verfolgten Monika Leisch-Kiesl, seit 1996 Inhaberin des Lehrstuhls für Kunstwissenschaft und Ästhetik, und Johanna Schwanberg, erste wissenschaftliche Assistentin am neu gegründeten Institut für Kunst / später: für Kunstwissenschaft der KU Linz. Zunächst ging es darum, zeitgenössische Kunst in ihren unterschiedlichen Facetten und Medi-

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|  IM VORBEIGEHEN II

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en ‚ins Haus zu holen‘ und ihr damit eine Bühne und einen Ort vielfältiger – räumlicher und theoretischer – Auseinandersetzung zu bieten. Sodann war es ein vitales Kunst-und-Bau-Projekt, hielt doch im Halbjahres-Rhythmus jeweils eine andere künstlerische Position (mitunter auch ein Künstlerkollektiv) Einzug in das komplexe Raumensemble. Schließlich war es eine Form, zeitgenössische Kunst in den Universitätsalltag und in die Lehre zu involvieren. Damit war Im Vorbeigehen. Kunst an der KU Linz, so der Titel der Ausstellungsreihe, geboren. Seit dem ersten, noch eher experimentell angelegten Vorstoß mit einer Präsentation von Lorenz Estermann im Wintersemester 2000/01 wurden insgesamt 38 Positionen gezeigt; die letzte Schau erfolgte im Sommersemester 2021 mit Monika Droz˙yn´ska. Richtig, die Rechnung geht nicht ganz auf; es gab eine Unterbrechung sowie zwei Verzögerungen: Eine Unterbrechung erfolgte 2010 nach 19 Ausstellungen, die sowohl in konzeptueller als auch medialer Hinsicht vielfältiger nicht hätten sein können: eine Nachdenkpause. Sollte ein Ausstellungsformat, das sich bis dahin einen selbstverständlichen Ort im Leben der Universität sowie innerhalb der Linzer Kunstszene geschaffen hatte, weitergeführt werden? Das Nachdenken mündete in ein Buch: Was sagt das Bild? Gegenwartskunst und Wissenschaft im Dialog, erschienen im Frühjahr 20112. Im Wintersemester 2011/12 fand die Reihe unter dem leicht modifizierten Titel: Im Vorbeigehen II ihre Fortsetzung. Und die Verzögerungen? Die letzten beiden Ausstellungen wurden unter Corona-Bedingungen durchgeführt: Im Vorbeigehen II/18 startete wohl noch unbedarft mit 1. März 2020, wurde aber Lockdown-bedingt kurz darauf sowohl für die Studierenden als auch für die Öffentlichkeit ge-

Was sagt die Kunst.indb 12

schlossen – lediglich die (partiell anwesenden) Mitarbeiter:innen stießen in den ansonsten verwaisten Bibliotheksräumen und Gängen auf Werke der aus dem Iran kommenden, nun in Deutschland lebenden Künstlerin Parastou Forouhar – und deshalb um ein weiteres Semester verlängert. Und ähnlich erging es der ab März 2021 aufgebauten Ausstellung der in Polen tätigen Textilkünstlerin Monika Droz˙yn´ska, welche bereits unter CoronaBedingungen konzipiert wurde und damit von vornherein auf die verschiedenen Eventualitäten (partieller) Schließungen und (zwischenzeitlicher) Öffnungen des Universitätsgebäudes ausgerichtet war.3 Wurden die hoch gesteckten Ziele erreicht? Aus Sicht der Kuratorin – und zudem in Forschung, Lehre und Administration aktiven Professorin – gesprochen, ja. Jedenfalls hinsichtlich des ersten Punktes. Ohne Ausnahme alle eingeladenen Künstler:innen haben die Herausforderung eines, sowohl architektonisch als auch institutionell gesehen, Nicht-KunstRaumes mit großem Engagement und hoher Kompetenz aufgegriffen und einerseits vorhandene Arbeiten an dafür reizvollen, weil ungewöhnlichen Orten präsentiert, andererseits neue Arbeiten für die spezifische Situation geschaffen. Damit ist auch bereits der zweite Punkt positiv beantwortet. Semester für Semester präsentierte sich das Haus verändert; bis zuletzt wurden neue, bis dahin nicht beachtete Plätze entdeckt. Dabei blieb es – mitbedingt durch die Tatsache, dass es weder eine Vernissage noch einen detaillierten Ausstellungsführer gab – selbst für langjährige Mitarbeiter:innen, aktive und ehemalige Studierende (die nicht zuletzt die Ausstellungen immer wieder einmal an ‚ihre‘ Uni lockten) sowie regelmäßige Gäste (darunter häufig auch Künstler:innen früherer Im VorbeigehenPräsentationen) oft bis zuletzt offen, ob

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MONIKA LEISCH-KIESL · Im Vorbeigehen. Zum kuratorischen Konzept  |

man wohl alle gezeigten Arbeiten auch gesehen hatte. Im Vorbeigehen eben, wobei Menschen an einer Universität zunächst ja ganz andere Intentionen verfolgen, als Kunst zu finden. Am schwierigsten lässt sich, aus der Position der Kuratorin, die dritte Frage beantworten, die nach der Resonanz. Klar, es gibt Indikatoren: Wenn, bedingt durch Verzögerungen im Ausstellungsaufbau, zu Beginn eines Semesters die Gänge und Wände eben noch leer sind und ein Mitarbeiter die Frage stellt: „Gibt es diesmal kein Im Vorbeigehen?“, dann ist das eine Bestätigung für die Kurator:innen; Kunst wird inzwischen erwartet. Daneben gibt es aber mit Sicherheit auch viele, denen das Fehlen künstlerischer Interventionen nicht aufgefallen ist bzw. die diese auch nicht vermisst haben. Vandalismus – als ein anderes mögliches Indiz – gab es keinen, selbst nicht bei mitunter stark provozierenden Präsentationen. Dabei bleibt anzumerken, dass ein derartiger Aufschrei auch nicht wirklich zum kommunikativen Repertoire dieser Privatuniversität gehört; Kritik würde wohl eher hinter vorgehaltener Hand geäußert; oder „man denkt sich seinen eigenen Teil“. Jedenfalls: Ein Skandal blieb während der 20 Jahre aus. Toleranz, im Sinne einer grundsätzlich geistigen und ideologischen Offenheit? Oder schlichtweg Gleichgültigkeit, weil vorrangig mit anderen Dingen beschäftigt? Vermutlich beides. Ein weiteres Indiz: Die Kunstgespräche zur Mittagszeit. Keine Vernissage, wurde oben angemerkt; die künstlerischen Arbeiten waren einfach da und wurden während der Wochen, in denen man sich durch die beiden Gebäudeteile bewegte, sukzessive entdeckt; oder eben auch nicht. Doch es gab, meist im zweiten Drittel des Semesters, die Möglichkeit, mit dem/der Kurator:in und dem/der Künstler:in ins Gespräch zu kommen. Und zwar

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für jedermann und jedefrau: Angehörige des Lehrkörpers ebenso wie Mitarbeiter:innen der Administration, Studierende und Absolvent:innen ebenso wie das wissenschaftliche Personal der Universitätsbibliothek, Künstler:innen meist aus dem regionalen Raum ebenso wie eine allgemeine, an zeitgenössischer Kunst interessierte Öffentlichkeit. Darunter einige Stammgäste; aber ferner, je nach dem beruflichen und privaten Umfeld der präsentierten Künstler:innen, Personen, die die KU Linz wohl zum ersten Mal besuchten. Wie, so ließe sich weiter fragen, stand es mit der medialen Resonanz? Ich würde meinen: einem regionalen Event mit punktuell internationaler Ausstrahlung angemessen. Mit einer (selbstredend) dichteren Konzentration zu Beginn des Projekts; weiters dann, wenn die gezeigten Künstler:innen gerade größere Aufmerksamkeit auf sich zogen (bzw. diese selbst gute Pressekontakte hatten); schließlich eine auch überregionale Berichterstattung im Zuge des Schlusspunkts der Reihe. Wie weit Lehrende in ihren Vorlesungen und Seminaren aktuell gezeigte Arbeiten auch explizit einbezogen, ließe sich nur durch eine empirische Erhebung beantworten. Ich selbst habe festgestellt, dass ich selbstverständlich stets auf die Ausstellungen aufmerksam gemacht, inhaltlich, d. h. hinsichtlich der gerade verhandelten Themen, aber häufiger auf vergangene Präsentationen Bezug genommen habe. Bedeutet dies, die akademische Lehre hängt der zeitgenössischen Kunst ein wenig nach? Kann gut sein. Was heißt nun im Zusammenhang eines solchen Kunstprojekts außerhalb des White Cube ‚Kuratieren‘? Wie haben wir diese Profession – die in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat – verstanden? Zunächst ist damit einmal so viel gesagt: Die Ausstellungen waren – durchwegs – kuratiert. D.h. nicht

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die Künstler:innen haben sich beworben (das kam wohl mitunter auch vor, spielte in der Auswahl aber eine nur untergeordnete Rolle); vielmehr gingen wir auf die Künstler:innen zu. Dabei lag unser Augenmerk ebenso auf frisch gebackenen Absolvent:innen der Linzer Kunstuniversität wie auch auf bereits international renommierten Positionen. Die Qualität musste stimmen. Keine Hobbykunst. Und letztlich ergab die Mischung die Würze. Wer waren die Kurator:innen? Es gab die Kuratorinnen der Reihe, und zwar jeweils als Duo: Monika Leisch-Kiesl (durchgängig) zusammen mit einer der wissenschaftlichen Assistentinnen bzw. Assistenzprofessorinnen am Institut; zunächst mit Johanna Schwanberg, nach ihrem Ausscheiden mit Julia Allerstorfer. Und es gab die Kurator:innen der einzelnen Ausstellungen: Nahezu sämtliche Kolleg:innen des Fachbereichs haben jedenfalls einmal die Gelegenheit, selbst eine der Ausstellungen auszurichten, ergriffen. Einmal hat, mit Sarah Jonas, eine Masterstudentin im Rahmen ihrer Projektarbeit eine Präsentation eigenständig kuratiert; einmal, Franziska Heiß, im Zuge ihrer Tätigkeit als studentische Assistenz eine Ausstellung mitkuratiert und zudem, ebenfalls im Rahmen ihrer Projektarbeit, die Kunstvermittlung, insbesondere auf der Ebene der Social Media, konzipiert. Was waren dabei die Kriterien der Auswahl sowie die Leitplanken der thematischen Ausrichtung? Im Prinzip alles, was bereits angeführt wurde: Die Qualität musste stimmen. Die Abfolge der einzelnen Präsentationen sollte eine gewisse Rhythmik ergeben und insgesamt eine Vorstellung des Spektrums zeitgenössischer Kunst vor Augen führen. Es sollte architektonisch attraktiv sein, d.h. die ausgestellten Werke sollten mit den räumlichen Gegebenheiten in eine Auseinandersetzung und einen Dialog tre-

Was sagt die Kunst.indb 14

ten. Und: Die ausgewählten Positionen bildeten einen Reflex der jeweils aktuell verhandelten Forschungsthemen; sei es, dass die Kurator:innen im Zusammenhang ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit den entsprechenden Künstler:innen zu tun hatten; sei es, dass sie im Zuge von Ausstellungsbesuchen Arbeiten entdeckten, von denen sie sich einen Impuls für die eigene Forschung erwarteten. Gleich Wünschelruten tasteten die Forscher:innen das zeitgenössische Kunstgeschehen ab. Last but not least bedurfte es Künstler:innen, die bereit und willens waren, sich und ihre Arbeit zu ‚Low Budget Bedingungen‘ in das Vorhaben Im Vorbeigehen einzubringen. Die diesbezüglichen Rahmenbedingungen sind rasch abgesteckt. Es war gesorgt für die Herstellungskosten, Transport und Versicherung sowie die Reiseund Aufenthaltsspesen. Für jede Ausstellung wurde ein grafisch anspruchsvoller Folder von lucy.d, Wien kreiert und (neben der Homepage-Präsentation und einem Newsletter) sowohl über den Verteiler der Fakultät als auch den der jeweiligen Künstler:in postalisch verschickt. Diese Folder sind über die zwei Dezennien zu Sammlungspreziosen geworden. Weiters gab es für das Kunstgespräch ein kleines Anerkennungshonorar. Und, eigens hervorzuheben, die Künstler:innen hatten die Möglichkeit, ihre Werke zu verkaufen, wobei der volle Ertrag bei dem/der Künstler:in verblieb, die Institution also keine Galerieabgabe einforderte – eben weil: keine Galerie. Das Jahr für Jahr erforderliche Budget wurde zur Gänze aus Drittmitteln, zum Teil der Günter Rombold Privatstiftung, zum Teil der öffentlichen Hand und zum Teil privater Sponsoren gespeist. Im Rückblick auf 20 Jahre Kunst an der KU Linz – so der Untertitel der Reihe –, was hat sich verändert?

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MONIKA LEISCH-KIESL · Im Vorbeigehen. Zum kuratorischen Konzept  |

Zunächst: Die Kunst. Und entsprechend auch die Ausstellungsdesigns. Sodann: Es kam zu einer nochmals stärkeren Internationalisierung, was schlicht der Tatsache geschuldet ist, dass sowohl die Kunstwelt als auch unsere Forschungshorizonte globaler geworden sind. Dass die letzte Ausstellung von Im Vorbeigehen [I] mit Iris Andraschek und Hubert Lobnig im Sommersemester 2010 den Titel trug „Wohin verschwinden die Grenzen?“ kann so gesehen bereits als richtungweisend begriffen werden. Weiters: Die Fragestellungen, die uns auf die einzelnen Positionen zugehen ließen. Schließlich: Die medialen Kommunikationsmöglichkeiten. Waren zunächst die Folder die einzige Bewerbungsschiene und entsprechend die lokale und überregionale Presse ein unverzichtbarer Partner, so wurde der Postweg zunehmend durch digitale Kommunikationsformen wie Uni-Homepage, Newsletter des Fachbereichs Kunstwissenschaft und schließlich auch Social Media erweitert. All die Jahre hindurch jedoch – so viel sei lapidar konstatiert – war die Mundpropaganda der wesentliche Faktor. Weitergesagt von Student zu Studentin, von Absolventin zu Kollege, von Künstler zu Künstlerin, von Besucher zu Journalistin. Doch – und das war für das Gesamtsetting prägend – die Räume und der das Projekt tragende Rhythmus und die damit verknüpften Spielregeln blieben durchgängig dieselben. Und auch die persönlichen wie fachlichen Begegnungen – im Vorbeigehen, und dann eben doch auch vertiefend – wirken nachhaltig.

DAS BUCH Auf den zweiten Blick: Es gab nicht nur die Folder. Es gab – auch schon einmal –

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ein Buch. Was sagt das Bild? Gegenwartskunst und Wissenschaft im Dialog, erschienen im Frühjahr 2011, setzte sich zum Ziel, das, was Semester für Semester über einen Zeitraum von zehn Jahren auffallend beiläufig über die Bühne ging, explizit zu machen. Zum einen kamen dort nochmals die 19 gezeigten künstlerischen Positionen – in Form von Bildseiten sowie einem kurzen kuratorischen Text – zur Sprache. Zum anderen luden wir Fachleute und Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen dazu ein, einen der Werkkomplexe aufzugreifen und aus ihrer Perspektive theoretisch zu reflektieren. Dabei suchten wir, Monika Leisch-Kiesl und Johanna Schwanberg, eine ausgewogene Mischung von an der Universität tätigen Kolleg:innen einerseits und Fachleuten aus dem regionalen und internationalen Umfeld andererseits in dieses Ping Pong zwischen Kunst und Theorie einzubeziehen. Der Begriff Theorie war dabei weit gefasst; er reichte von Interviews über literarische Texte und Essays bis hin zu wissenschaftlichen Artikeln. Für das Layout zeichneten lucy.d, also jenes Designerinnen-Duo, das durch die Konzeption der einzelnen Folder bereits bestens mit dem Projekt vertraut war, verantwortlich. Was sagt die Kunst? Gegenwartskunst und Wissenschaft im Dialog begreift sich als Band Zwei und gleichzeitig als Abschlussreflexion. Markierte Band Eins eine Nachdenkpause, so setzt Band Zwei einen final point. In der sowohl inhaltlichen als auch grafischen Konzeption folgt er Band Eins. Die Stimmen der kuratorischen Texte sind vielfältiger geworden – was, einfach gesagt, der Tatsache geschuldet ist, dass bei Im Vorbeigehen II mehr Gastkurator:innen eingebunden waren. Bei einem Teil dieser Texte, zwei von Maria ReitterKollmann und einem von Marius Stiehler wurde dieses Prinzip durchbrochen; sie

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sind als Autor:innen später hinzugekommen. Für die Theorie-Beiträge lassen sich eine weitere Spielregel und eine Spracherweiterung benennen. Erneut ersuchten wir Persönlichkeiten aus dem Kolleg:innenkreis der KU Linz um einen Beitrag, allerdings ausschließlich solche, die sich nicht bereits in Band Eins geäußert hatten. Und die Tatsache einer größeren Beteiligung von künstlerischen Positionen, die weder aus Österreich stammen noch hier leben oder tätig sind, hat selbstverständlich auch einen Widerhall in den theoretischen Auseinandersetzungen gefunden. Von daher sind einige Beiträge in englischer Sprache verfasst. Hinsichtlich des grafischen Konzepts griff Bernhard Kagerer die von lucy.d in Band Eins gezogenen Grundlinien auf, legte das gesamte Setting jedoch sowohl hinsichtlich Schrifttypen als auch Seitenumfang großzügiger an. An die Stelle der enormen Dichte des ersten Bandes ist nun mehr Zwischenraum getreten.

Eine letzte Bemerkung erfordert schließlich der Titel. Was spricht das Bild? situierte sich Ende der Nuller-Jahre im Kontext der Bildwissenschaften und der in der Anfangsphase am Fachbereich intensiv und vielseitig erörterten Fragestellungen im Kontext der Text-Bild-Forschung. Diese Ausrichtung interdisziplinärer Forschung wurde weitergeführt im Forschungsschwerpunkt Zeichensetzung bzw., in anderer Syntaktik, ZeichenSetzung, worin neben bildwissenschaftlichen Theoremen zeichentheoretischen Akzentuierungen und Kontextualisierungen ein prinzipiell größerer Stellenwert eingeräumt wird.4 Nicht die spezifische Qualität des Bildlichen gegenüber der Theorieleistung des Begrifflichen steht demnach bei Was sagt die Kunst? im Fokus, sondern das Agieren der Kunst in den vielen Facetten politscher, ästhetischer und theoretischer Handlungsfelder.

Anmerkungen 1 Zu der, nach einer längeren Vorbereitungsphase, erfolgten Schenkung im Jahre 2002 sowie zu einer weiteren Schenkung und schließlich dem Nachlass im Jahr 2017 s. https://ooekultur.at/detail/passionkunst-die-sammlung-rombold [15.06.2022]. Im Zuge der Ausstellung der Sammlung Rombold in der Landesgalerie Linz im Frühjahr 2020 ist zudem ein umfassender Sammlungskatalog erschienen: Auf Kunst verzichten, heißt sprachlos werden. Die Sammlung Rombold, hg. v. Sabine Sobotka und Gabriele Spindler (Kataloge des Oberösterreichischen Landesmuseums N.S. 197), Weitra 2020. 2 Was sagt das Bild? Gegenwartskunst und Wissenschaft im Dialog, hg. v. Monika Leisch-Kiesl und Johanna Schwanberg (Linzer Beiträge zur Kunstwissenschaft und Philosophie Bd. 4), Bielefeld 2011. 3 Für einen Überblick zur gesamten Reihe s. https://ku-linz.at/kunstwissenschaft/veranstaltungen/ausstellungen/im_vorbeigehen [15.06.2022]. 4 Für einen Überblick zum Forschungsschwerpunkt s. https://ku-linz.at/kunstwissenschaft/institute/institut_fuer_geschichte_und_theorie_der_kunst/zeichensetzung [15.06.2022]; https://leisch-kiesl.com/ forschung/forschungsprojekte/ [15.06.2022]; Leisch-Kiesl, Monika (Hg.) ZEICH(N)EN. SETZEN. Bedeutungsgenerierung im Mäandern zwischen Bildern und Begriffen (Linzer Beiträge zur Kunstwissenschaft und Philosophie Bd. 11), Bielefeld 2020.

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WAS SAGT DIE KUNST? EINE BEGRIFFLICHE ANNÄHERUNG Franziska Heiss

Was sagt die Kunst? Was hat die Wissenschaft darauf zu antworten? Bereits die Gegenüberstellung von Gegenwartskunst und Wissenschaft im Untertitel dieses Bandes und deren Verbindung durch den Dialog zeigt, dass es sich bei den beiden Begriffen um grundsätzlich voneinander getrennte Sphären handelt, die sich aber dennoch miteinander in Austausch befinden. Stand man sich anfänglich, einsetzend mit dem wachsenden Stellenwert der Wissenschaft, noch skeptisch gegenüber, schätzt man heute zunehmend das Zusammenspiel aus kreativen Prozessen und vermeintlich starrem Wissen. Deutlich wird diese Entwicklung mit einem Blick auf die gegenwärtige akademische Landschaft. An vielen Institutionen finden Bestrebungen statt, diesen Dialog voranzutreiben. Auch die Katholische Privat-Universität (KU) Linz mit ihren beiden Fakultäten für Theologie sowie für Philosophie und für

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Kunstwissenschaft beteiligt sich daran mit unterschiedlichen Initiativen. Eine der prominentesten, auch weit über die Grenzen der Universität hinaus bekannte, bildete die Ausstellungsreihe Im Vorbeigehen. Diese wuchs seit ihrer Entstehung im Jahr 2000 zu einer fixen Größe im Veranstaltungskalender der KU und bildete nicht zuletzt ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den Fachbereichen. Verschiedene künstlerische Positionen prägten über Jahre hinweg das Erscheinungsbild des Gebäudes und waren Inspiration und Anstoß für Gespräche und Diskussionen. Doch auch innerhalb der Lehre spielt die Verknüpfung der Sphären eine Rolle, wie sich durch die Schaffung des Studiengangs Kunstwissenschaft zeigt, der nicht zuletzt auch eine begriffliche Brücke zwischen den Bereichen bildet. Eine Verschränkung ist weiters auf inhaltlicher Ebene wahrzunehmen. Künst­ ler*innen und Wissenschaftler*innen bedienen sich oftmals ähnlicher Themen-

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gebiete und machen diese zum Gegenstand ihres Faches. Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung mit den ‚großen Fragen des Lebens‘ die sowohl in den (Geistes-)Wissenschaften diskutiert werden als auch den Ausgangspunkt für manche künstlerischen Werke bilden. Während es inhaltlich also durchaus Überschneidungen gibt, bedienen sich die beiden Bereiche unterschiedlicher Zugänge und Methoden. Am Beginn der wissenschaftlichen Aufarbeitung eines Themas steht oftmals ein langer Weg der Recherche – dies kann natürlich auch bei der Kunst der Fall sein, ist hier aber kein grundsätzlich notwendiger Bestandteil des Prozesses. Auf diese erste Phase der Wissensgenerierung und inhaltlichen Erschließung der Fragestellung sowie bereits möglicher Lösungsansätze folgt die Zeit der Forschung. Dafür tauchen Wissenschaftler*innen ganz in die Materie ein, tauschen sich mit Kolleg*innen im Diskurs aus oder führen – je nach Fachrichtung – Erhebungen und Untersuchungen durch. Auch den Künstler*innen ist dieser Ablauf nicht unbekannt, denn auch sie setzen sich intensiv mit ihren Sujets auseinander, probieren und testen aus, ehe sie ein Kunstwerk erschaffen. Sichtbar werden Unterschiede schließlich vor allem in der Umsetzung, der Manifestierung des Prozesses. Während in der Wissenschaft Ergebnisse vorwiegend in Form von Publikationen oder Vorträgen festgehalten werden, verleiht die Kunst ihren Aussagen durch unterschiedliche Farben und Techniken Ausdruck und hebt sich durch diese Formen des LebendigWerdens von den theoretisch geprägten Texten der Wissenschaftler*innen ab. Je nach Fachbereich und Gestaltung greifen Kunst und Wissenschaft unterschiedlich ineinander. Die Vielfalt dieses Austauschs wurde auch im Rahmen von Im Vorbeigehen sichtbar. Einige der im

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Folgenden vorgestellten Positionen beschäftigten sich im Rahmen ihrer Ausstellung direkt mit der KU Linz und stellten auf diese Weise eine Verbindung zwischen den eigenen Werken und dem Haus her. Positionen wie die Installationen von Karoline Rudolf, die multi-mediale Kunst von Karina Nimmerfall, die kleinteiligen Arbeiten von Birgit Petri, die Keramiken von Sophie Danzer oder auch die Architektur-Skizzen von Hans Puchhammer interagierten mal mehr mal weniger explizit mit den Räumlichkeiten der Universität. Doch auch inhaltlich wurden Verbindungen hergestellt. So reagierte Oliver Ressler mit seinem großformatigen Wandtext auf die damalige Umbruchstimmung innerhalb der KU. Anknüpfungspunkte an die Philosophie waren bei den Zeichnungen von Maria Bussmann oder auch bei manchen Bildern von Shahram Ente­ khabi zu finden. Eine Brücke zur im Haus ohnehin sehr präsenten Theologie schlug nicht zuletzt Heinz Baumüller mit seinen (Schrift-)Bildern. Neben Zugängen über das Gebäude oder die Inhalte, wurde von vielen Künstler*innen auch der Kontakt zu den Menschen vor Ort gesucht. Einerseits durch die malerisch-ästhetische Gestaltung der Innenräume wie bei Julia Croton, andererseits mit der direkten Interaktion mit den Studierenden, Lehrenden und Besucher*innen. So luden Julius Deutschbauer mit Handarbeitszirkeln inmitten seiner Installation oder auch Ute Neuber mit ihren textilen Installationen zum Mitmachen ein. Kunstwerke aus Stoff waren auch in den Ausstellungen von Ulrike Ettinger und Monika Droz˙yn´ska zentrale Bestandteile, welche das Publikum jedoch weniger zum Mitmachen als vielmehr zum Mitdenken anregen sollten. Diese Positionen bilden gleichzeitig auch den Übergang zu einer der präsentesten Gruppe innerhalb der Reihe: künst-

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FRANZISKA HEISS · Was sagt die Kunst? Eine begriffliche Annäherung  |

lerische Auseinandersetzungen mit politischen Themen, die auf individuelle und vielschichtige Weise Reaktionen der Betrachtenden verlangten. Esin Turan widmete sich diesen in unterschiedlich akzentuierten Installationen, Thomas Fatzinek in seinen Graphic Novels, das Künstler*innen-Duo Silvia Amancei und Bogdan Armanu mit Videoinstallationen und analogen Werken, Irena Lagator Pejovic´ mit (Video-)Installationen und Parastou Forouhar mit ihren ornamentalen, digitalen Zeichnungen. So zeigt dieser

Streifzug durch die vielfältigen künstlerischen Positionen sowohl die Bandbreite innerhalb der (zeitgenössischen) Kunst selbst als auch die der möglichen Verschränkungen zwischen Kunst und Wissenschaft. Auch das vorliegende Buch soll den Dialog fördern, stellt es doch den oben angeführten Ausstellungen Wissenschaftler*innen an die Seite, die die Kunst aufgreifen und sie durch die Linse ihres Fachgebiets sehen, oder das Gesehene um dieses erweitern.

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Im Gespräch über sein ungelesenes Buch – Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften – meinte H. C. Artmann: „Alles Ungelesene ist vortrefflich.“ Dies avancierte nachgerade zum Motto der Bibliothek ungelesener Bücher. Julius Deutschbauer

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JULIUS DEUTSCHBAUER BIBLIOTHEK UNGELESENER BÜCHER Eine Bibliothek in einer Universität, alles andere als ungewöhnlich. Allerdings nahm die Bibliothek, die im Wintersemester 2010/11 an der KU Linz im Hörsaal 3 zu Gast war, eine andere Funktion als herkömmliche Universitätsbibliotheken ein. Denn sie war kein Zentrum des einsamen stillen Studierens, sondern ein Ort des gemeinsamen Handarbeitens, lauten Vorlesens und Zuhörens. Ihr Erscheinungsbild erinnerte mit einem runden Holzglastisch, gepolsterten Armsesseln auf einem bunten Teppich, einem Regal mit feinsäuberlich sortierten Büchern und einer darüber angebrachten Wetterstation sowie den vielen Plakaten an den Wänden an ein gemütlich-nostalgisches Wohnzimmer der 1950er-Jahre. Es brachte ein Semester lang ein Stück Privatheit in die helle Glasarchitektur, die das Foyer des Universitätszubaus von Hans Puchhammer aus den 1980er-Jahren kennzeichnet. Auffallend war ein grauer „Arbeitsmantel“, der die gesamte Ausstellungsdauer als Verweis auf die Figur des Bibliothekars an dem Bücherregal hing; das Kleidungsstück verstärkte den Eindruck der theaterähnlichen Atmosphäre. „Die beste Definition von Heimat ist Bibliothek“ heißt es in Elias Canettis Roman Die Blendung.1 Ein Satz, den der bildende Künstler, Performer, Theatermacher, Filmer und Autor Julius Deutschbauer

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Julius Deutschbauer, Bibliothek ungelesener Bücher, MMKK Museum Moderner Kunst Kärnten, 2013

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gerne zitiert, wenn es um die Charakterisierung seiner Bibliothek ungelesener Bücher geht. Seit 1997 interviewt Deutschbauer Menschen und befragt sie nach denjenigen Büchern, die sie nicht gelesen haben. Dabei folgt der Interviewer einer strengen, sich von Interview zu Interview nur leicht verändernden Gesprächsstruktur. Zu Beginn steht dabei stets die scheinbar banale Frage nach dem Wetter des heutigen Tages, selbstverständlich angelehnt an ein Stück Weltliteratur, nämlich den ersten Satz des meistgenannten Werks von Deutschbauers Bibliotheksprojekt. Daran schließt unmittelbar die Kernfrage an: „Welches Buch haben Sie noch nicht gelesen?“. Genannt werden darf dabei jede erdenkliche Publikation, mit Ausnahme von Bilderbüchern und Kunstbänden, sie befinden sich auf dem INDEX LIBRORUM PROHIBITORUM: „Alle Bücher sind erlaubt: geliebte ungelesene Bücher, ungeliebte ungelesene Bücher, übel beleumdete Bücher und in den Himmel gelobte ungelesene Bücher.“2 Deutschbauer fragt nie nach dem Warum des Nichtlesens, vielmehr animiert er die Fantasie seiner Gesprächspartner*innen, indem er sie imaginieren lässt, welche Kleidung zu ihrem ungelesenen Buch am besten passen und ob dieses Werk sich als idealer Urlaubsort oder Ort des Verbrechens eignen würde? Der Rezeptionsprozess weicht hier einem Produktionsprozess, statt Wissenswiedergabe kommt die Fantasie ins Spiel: „Die Bibliothek ungelesener Bücher hat primär Sprecher, erst in zweiter Linie Leser. Jeder Sprecher muss ein des Lesens kundiger ,Un-Leser‘ des von ihm genannten und nicht gelesenen Buches sein. Er könnte dabei zu einer Lesart gelangen, die derjenigen des Autors nur gleicht, damit aber nicht identisch ist. Der Sprecher arbeitet am Werk des im Dunkel bleibenden Urhebers weiter.“3 Über 800 Gespräche umfasst das Audioarchiv inzwischen. Gemeinsam mit den Büchern, die von den Gesprächspartner*innen als ungelesen genannt werden und die Deutschbauer im Anschluss käuflich erwirbt und beschriftet, sodass sie dem jeweiligen Interview zuordenbar sind, bildet es das Kernstück seiner Bibliothek. Einige Bücher finden sich in zahlreichen Exemplaren vertreten, schließlich gibt es auch in der Bibliothek ungelesener Bücher eine Bestsellerliste: Auf Platz 1 rangiert Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften mit zweiundzwanzig Nennungen, gefolgt von James Joyces Ulysses (20), der Bibel (19) und Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (16); Hitlers Mein Kampf und Karl Marx‘ Das Kapital finden sich mit fünf Nennungen ex aequo auf dem fünften Platz. Wesentlicher Bestandteil der Bibliothek, die seit den 1990erJahren an über 30 verschiedenen Orten zu sehen war, sind auch die Plakate, die für jeden Halt kreiert werden und in deren Zentrum stets der Künstler selbst in unterschiedlicher Inszenierung zu sehen ist. Das Linzer Plakat zeigt Deutschbauer mit einer Bibel in der Hand in New York posieren. In ihrer Gesamtheit erzählen die Plakate die Geschichte der Bibliothekstour, vor allem gestalten sie den Bibliotheksraum

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Julius Deutschbauer, Bibliothek ungelesener Bücher, Stadtbibliothek Stuttgart, 2020

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Julius Deutschbauer, Plakat zur Bibliothek ungelesener Bücher, Katholische Privat-Universität Linz, 2011

durch ihre unverkennbare Text-Bild-Kombination und dem aus ihnen sprechenden anarchischen Humor entscheidend mit; zugleich vernetzen sie den jeweiligen Ausstellungsort mit anderen Institutionen und Interessierten, verschickt der Künstler sie doch stets an zahlreiche Sammler*innen und Kunstfreund*innen als Teil eines sich ständig erweiternden Plakatprojekts. Kommunikativer Dreh- und Angelpunkt von Deutschbauers Bibliotheksprojekt war seine „Gastgebertätigkeit“ in Form von kontinuierlich veranstalteten Terminen, bei denen er unter einer Themenstellung wie „Rand“, „Ader“ oder „Lager“ zum „Lesen und Handarbeiten

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Lesen und Handarbeiten im Zirkel, Katholische Privat-Univerisität Linz, Wintersemester 2011/12

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Julius Deutschbauer, Bibliothek ungelesener Bücher, Literaturhaus Salzburg, 2014

im Zirkel“ lud. Dabei konnten die Mitwirkenden eigene Handarbeitsutensilien mitbringen oder auf die vor Ort zur Verfügung gestellten zurückgreifen: „Das erklärte Ziel des Zirkels ist ein Zustand, in dem ein und derselbe Mensch blind handarbeitet und daneben liest, dabei können sich Lese- und Strickfaden mitunter ganz schön verheddern.“4 Bemerkenswert war, dass im Rahmen von Im Vorbeigehen so viel ge-

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JULIUS DEUTSCHBAUER · Bibliothek ungelesener Bücher  |

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Julius Deutschbauer, Bibliothek ungelesener Bücher, Literaturhaus Salzburg, 2014

strickt und gehäkelt wurde wie an keinem anderen Ort, an dem die Bibliothek ungelesener Bücher bisher stationiert war;5 Höhepunkt der stets gut besuchten Abende waren Lesungen von in die Bibliothek geladenen Autor*innen wie Michaela Falkner oder Stefan Rois. So überraschend diese Bibliothek ungelesener Bücher Studierenden und Lehrenden der KU auf den ersten Blick erschienen sein

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mag, schließlich ist die Erwartung an eine Ausstellungsreihe in universitären Räumlichkeiten, bildende Kunst – seien es Gemälde, Zeichnungen, Fotografien oder Skulpturen – zu zeigen, so schnell wurde sie zu einem der beliebtesten Kunstprojekte des Hauses. Das lag zum einen an der Möglichkeit zur Mitgestaltung und Gemeinschaftsbildung, zum anderen hing es mit der humorvollen Leichtigkeit und der subversiven, widerständigen Strategie zusammen, die das Projekt auszeichnete. Präzise traf Deutschbauer mit der partizipativ-performativen Arbeit in einem kleinen Hörsaal nahe des Foyers ins Herz universitären Denkens und Agierens. In der für seine Kunst typischen Ambiguität hinterfragte der Künstler mit der Bibliothek ungelesener Bücher die Bedeutung von kanonischer Bildung und überbordendem Bücherwissen, zugleich betonte er aber, wie zentral die Welt der Bücher und Bibliotheken für den Menschen als Ort der Imagination und Identitätsfindung ist. Wie oft kommt man in einer Universität schon in die Gelegenheit zu gestehen, was man alles nicht weiß, was man alles nicht gelesen hat – wie oft hat man hier die Möglichkeit, seine Hände und nicht nur seinen Geist zu betätigen? Herausragend war diese Intervention gerade für die Ausstellungsreihe Im Vorbeigehen an der KU, weil es Deutschbauer als kongenialem Grenzüberschreiter zwischen bildender Kunst und Literatur auf einzigartige Weise gelang, das Feld des Textuellen mit jenem des Visuellen zu verbinden und somit auch die beiden Standpfeiler der KU spielerisch miteinander in einen Dialog zu bringen.

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Johanna Schwanberg

Anmerkungen 1 Canetti, Elias, Die Blendung, Frankfurt a. M. 1987, 57. 2 Deutschbauer, Julius, Staub in der Bibliothek ungelesener Bücher, in: WetzlingerGrundnig, Christine, Nebelland habe ich gesehen*. Zum Verhältnis von Kunst und Literatur, Klagenfurt 2013, 90. 3 Ebd. 4 Deutschbauer, Julius, Staub ungelesener Bücher, anlässlich der Station in der Stadtbibliothek am Mailänder Platz in Stuttgart, 25.9. bis 18.10.2020, Manuskript, unpaginiert. 5 Aus einem Gespräch mit dem Künstler am 09.03.2022 in Wien.

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DIE BIBLIOTHEK DER (UN)GELESENEN BÜCHER – EIN KOMPLEMENTÄRPHÄNOMEN DES LESEVERHALTENS Ingo Glückler

Autor*innen definieren den Erfolg einer Publikation anhand ihrer flächendeckenden Dissemination. Die Bibliometrie untersucht diese Rezeption von Büchern. Dabei zeigt sich, dass wenige Neuerscheinungen, die einmal die Aufmerksamkeit ihrer Leser*innen gewonnen haben, eine Zeit lang wie von selbst gelesen werden. Sie werden mit einer durchschnittlichen Halbwertszeit von fünfzehn Jahren zum Bestseller oder zum „Citation Classic“. Vergleichbare andere dagegen verschwinden ungelesen in der Versenkung. Dieses Phänomen wird Matthäus-Effekt genannt, ein vom Soziologen Robert K. Merton 1968 postuliertes Prinzip.1 Ein Vers aus dem Matthäusevangelium ist auch der Namensgeber: „Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.“

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(Mt 25:29). Bekannte Autor*innen werden also häufiger gelesen und damit noch bekannter: „success breeds success“. Eine verschwindend geringe Anzahl von Neuerscheinungen verbucht also den Hauptteil aller Erfolge auf sich. Die Mehrheit der Publikationen bleibt dagegen erfolglos und ungelesen. Warum ist das aber so?

STATISTIK DES BÖRSENVEREINS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS Die Statistik des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels aus dem Jahr 2021 zeigt, dass jede*r Deutsche im Jahr durchschnittlich 12,3 Bücher kauft. Diese Zahl steigt kontinuierlich. Im Gegenzug dazu sind es aber immer weniger Menschen, die Bücher kaufen. Im Jahr 2010 kauften 35,9 Millionen Deutsche ein Buch.

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Bibliothek der KU Linz, Lesesaal, 2013

Im Jahr 2019 waren es nur noch 28,8 Millionen, also sieben Millionen weniger. Der Börsenverein erhebt allerdings nicht, wie viele der 12,3 gekauften Bücher pro Kopf tatsächlich gelesen, geschweige denn, ganz gelesen werden.2 Man muss sich dieser Frage indirekt nähern. Die Anzahl derer, die mehrmals wöchentlich in Büchern lesen, stagniert in Deutschland auf hohem Niveau, zwischen 17 und 18 Millionen. Das heißt aber, wenn 18 Millionen Deutsche lesen und 28,8 Millionen Deutsche Bücher kaufen, was geschieht mit den vermeintlichen 11 Millionen Büchern, die gekauft, aber nie gelesen werden? Werden diese gekauften Bücher

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zuhause gestapelt, mit der Absicht, sie irgendwann zu lesen? Diese Gewohnheit wird in Japan Tsundoku genannt.3 Oder werden diese Bücher vielleicht nur anoder quergelesen? Gilt ein Buch in diesem Fall dann überhaupt als gelesen?

JORDAN ELLENBERGS „HAWKING-INDEX“ Der Mathematiker Jordan Ellenberg wollte 2014 klären, welche der Bestseller am wenigsten gelesen werden.4 Amazon gibt bei eBooks an, welche fünf Stellen im Text am häufigsten markiert werden.

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Wird also ein Buch ganz gelesen, sind diese Hervorhebungen über das ganze Buch verteilt zu finden. Finden sich aber die fünf Markierungen nur am Anfang, dann wurde das Buch wohl nur angelesen. Ellenberg stellte folgende Formel auf: Der Mittelwert der markierten Seitenzahlen geteilt durch die Gesamtzahl der Buchseiten ergibt die Fertiglesequote in Prozent. Je höher das Ergebnis, desto größer ist die Chance, dass die meisten Leser*innen das Buch ganz gelesen haben. Als Stichprobe wählte Ellenberg Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit. Wie bei dieser eher trockenen Materie zu erwarten, war das Ergebnis im unteren Prozentbereich: 6,6 %. Fifty Shades of Grey von Erika Leonard James mit 25,9 % ist dagegen im Mittelfeld. Für Donna Tartts Roman Der Distelfink errechnete er den beeindruckenden Lesewert von 98,5 %. Durchschnittlich liegt das Ergebnis für die meisten Publikationen im unteren Prozentdrittel. Ellenberg nennt diese Methode den „HawkingIndex“, der auch vom Börsenblatt des Deutschen Buchhandels bestätigt wird: „Manche Bücher von Literaturnobelpreisträgern haben nur eine Fertiglesequote von 5 bis 10 %.“ Die Daten, mit denen Ellenbergs Faustformel rechnet, lassen sich allerdings auch anders auslegen: Leser*innen bevorzugen lieber analoge Bücher oder waren derart gefesselt, dass sie völlig vergaßen, Markierungen vorzunehmen. Vielleicht markieren sie auch nie Textstellen und in eBooks schon gar nicht.

DEREK J. DE SOLLA PRICE: „BIG SCIENCE“ Darüber hinaus sollte man die Publikationswut der Neuzeit, die auf dem Grundsatz „publish or perish“ fußt, nicht aus

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dem Blick verlieren. Empirisch-statistische Aussagen über alle Bereiche der Wissenschaft zeigen mit eindrucksvoller Konsistenz, dass das normale Wachstum beliebig genügend großer Teilstücke der Wissenschaft exponentiell erfolgt. Dieses Grundgesetz zur Beschreibung der modernen Wissenschaft wurde 1963 vom Mitbegründer der Szientometrie Derek J. de Solla Price formuliert. Die zweite Eigenschaft des Wissenschaftswachstums ist seine Geschwindigkeit, charakterisiert durch Verdopplungs- oder Verzehnfachungsraten. Alle fünfzig Jahre verdoppelt sich die Zahl der Universitäten, alle vierzig Jahre die Bestände von Bibliotheken, alle zwanzig Jahre die der Studienanfänger*innen und alle fünfzehn Jahre die von publizierter Information, was über drei Jahrhunderte hinweg einer Vermehrung von 220, also dem Faktor eine Million entspricht. Dagegen wächst Wissen als hochkomprimierte Form von Information und Redundanz deutlich langsamer. Die ständige Verdopplung erzeugt eine eigenartige Gegenwartskonzentration der Wissenschaft. 81 bis 96 % aller jemals existierenden Wissenschaftler*innen sind unsere Zeitgenoss*innen. Damit stammen dann auch 90 % aller wissenschaftlichen Publikationen aus der Gegenwart.

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UNGELESENE BÜCHER – EIN SONDERFALL ODER DER NORMALZUSTAND? Der Matthäus-Effekt zeigt, dass die Mehrheit aller Publikationen erfolglos und ungelesen bleibt. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels erhob zudem, dass fast ein Drittel der Buchkäufer*innen ihre gekauften Bücher nicht lesen. Der „Hawking-Index“ fand heraus, dass Publikationen fast nur an- statt ausgelesen werden. Schließlich zeigen die

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exponentiellen Wachstumsraten und die Verdopplungszeiten, dass niemals alle Publikationen eine*n Leser*in finden werden. Die Argumentationskette könnte endlos fortgesetzt werden. Dieses Ergebnis gilt nun nicht nur für die überschaubaren Sammlungen von Privatpersonen, sondern auch für große institutionelle Büchersammlungen wie die Library of Congress, die Österreichische Nationalbibliothek aber auch die legendäre Bibliothek von Alexandria. Die schiere Masse der ungelesenen Bücher ist auch dort überwältigend. Wer eine Bibliothek besitzt oder leitet und etwas anderes behauptet, gibt sich einer Illusion hin. Zu mehr als zwei Dritteln sind seine Bücher ungelesen und werden es auch auf unabsehbare Zeit bleiben. Denn eine Bibliothek ist keine Sammlung gelesener Bücher, eher die physische Gestalt einer Vision: jedes ungelesene Buch ist ein bisher unrealisierter Traum, der auf zukünftige Verwirklichung hofft; die mahnende Erinnerung eines persönlichen Scheiterns. Die Bibliothek ungelesener Bücher ist deshalb kein Ausnahmezustand, sondern der Normalfall, sodass man postulieren kann, dass alle Büchersammlungen „Bibliotheken ungelesener Bücher“ sind und damit – wie Deutschbauer sagt – die „größte Bibliothek der Menschheit“ bilden. Pierre Bayard macht das an einem Beispiel aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften deutlich.5 Ein General ist der Meinung, dass alle großen Ideen in der Hofbibliothek zu finden sind: „Wir sind den kolossalen Bücherschatz abgeschritten, […]. Nur habe ich nach einer Weile anfangen müssen, im Kopf zu rechnen, und das hatte ein unerwartetes Ergebnis. Siehst du, ich hatte mir vorher gedacht, wenn ich jeden Tag da ein Buch lese, so müsste das zwar sehr anstrengend sein, aber irgendwann müsste ich

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damit zu Ende kommen und dürfte dann eine gewisse Position im Geistesleben beanspruchen, selbst wenn ich ein oder das andere auslasse.“ Aber als er erfährt, dass die Bibliothek dreieinhalb Millionen Bände umfasst, rechnet er sich kurzerhand aus: „Zehntausend Jahre würde ich auf diese Weise gebraucht haben, um mich mit meinem Vorsatz durchzusetzen!“6

DIE BIBLIOTHEK UNGELESENER BÜCHER – EINE BIBLIOTHEK IM KLASSISCHEN SINN? Gerade Musils Roman ist Spitzenreiter in Julius Deutschbauers Bibliothek ungelesener Bücher. Seine umher tingelnde Wanderbibliothek gastierte samt Beständen und Mobiliar im Rahmen der Ausstellungsreihe Im Vorbeigehen von Oktober 2011 bis Jänner 2012 an der Katholischen Privat-Universität Linz im Hörsaal 3. Der aus Klagenfurt stammende bildende Künstler und „Bibliothekar“ dieser Bibliothek gibt seit Juni 1997 ungelesenen Büchern eine Heimat und befragt bibliothekarisch wortkarg, manchmal barsch und schrullig zumeist buchaffine Menschen nach Büchern, die sie nicht gelesen haben. Dabei interessiert er sich nicht für den allgemein anerkannten Kanon der bildungsbürgerlichen Pflichtlektüre, die hundert wichtigsten Bücher, die man gelesen haben sollte. Diesen tut er als „Bildungsbürgerquatsch“ ab. Stattdessen will er wissen, welchen Einfluss ein einziges bestimmtes Buch auf Menschen hatte, weil sie es nicht gelesen haben. In seinen standardisierten zwanzigminütigen Interviews beleuchtet er diese Fragestellung von allen Seiten. Ihn interessieren dabei Mutmaßungen über das Ungelesene. Diese Nicht-Leseerfahrungen sind „oft spannender als das Buch

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INGO GLÜCKLER · Die Bibliothek der (un)gelesenen Bücher – Ein Komplementärphänomen des Leseverhaltens  |

selbst“, sagt Deutschbauer. Er sieht sich zudem als Sozialarbeiter und „Beichtvater des schlechten Lesergewissens“.7 Mit der Bibliothek ungelesener Bücher bietet Deutschbauer Nicht-Leser*innen, als quasi priesterlicher Seelsorger im Beichtstuhl des Interviews den medienpastoralen Dienst an, sich durch das Bekenntnis ihres Nicht-Lesens dem belastenden Buch durch Gewissenserforschung und Reue ein für alle Mal zu entledigen. Die NichtLeser*innen befreien ihr schlechtes Gewissen und versöhnen sich mit dem Buch; ein der Lossprechung im Bußsakrament vergleichbarer befreiender Prozess.8 Wie alle Büchersammlungen bleibt die Bibliothek ungelesener Bücher aber trotz aller pastoralen Annäherungen eine hybride Bibliothek, die unter archivarischen, ökonomischen, und synoptischen Gesichtspunkten analog und digital publizierte Informationen sammelt, erschließt und verfügbar macht. Damit ist sie für das ungelesene Buch die informationslogistische Grundlage zur Erzeugung und Integration neuen Nicht-Wissens, von Mutmaßungen und Vermutungen.

1. ERSTE AUFGABE: SAMMELN VON INFORMATIONEN Die grundlegenden Prinzipien des Sammlungsaufbaus an allen Bibliotheken sind: Kontinuität, Aktualität und Universalität. Sie sind bemüht, ihre Sammlungen kontinuierlich, aktuell und universal aufzubauen. Dabei verfügen sie nicht nur über einen soliden Fundus allgemeiner Literatur, sondern haben auch differenzierte Bestände mit zum Teil ausgesprochen seltenen Materialien. Das Erwerbungsprofil bzw. das erwerbungspolitische Bestandskonzept von Deutschbauers Bibliothek besteht

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in der Sammlung von digitalen Audiodateien von Interviews, mittlerweile über 800, und der Beschaffung des jeweils ungelesenen analogen Buches nach der Erwerbungsmethode der Patron Driven Acquisition (PDA) – entgegen bibliothekarischer Richtlinien auch mehrmals, als Dublette. Die Bibliothek ungelesener Bücher hat demnach primär Sprecher*innen und erst in zweiter Linie dann die des Lesens kundigen Nicht-Leser*innen des von ihnen genannten und nicht gelesenen Buches. Wie mühsam der Bestandsaufbau dabei ist, zeigt die Ausbeute: Pro Interviewabend kommt nach gründlicher und fachgerechter Sichtung nur jeweils ein neues Buch dazu. Damit erweitert Deutschbauer die Sammlung ungelesener Bücher zwar langsam, aber beständig. Bei der Auswahl aus dem aktuellen und historischen Publikationsaufkommen sind so gut wie alle Bücher erlaubt: geliebte ungelesene Bücher, ungeliebte ungelesene Bücher, bekannte ungelesene Bücher, seltene ungelesene Bücher; ausgenommen sind Bildbände. Diese stehen auf dem Index Librorum Prohibitorum von Deutschbauers Bibliothek. Weitere qualitative und quantitative Kriterien spielen im Erwerbungsprofil keine Rolle. Eine Deakquisition findet nicht statt.

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2. ZWEITE AUFGABE: ERSCHLIESSEN VON INFORMATIONEN Zur Lesekultur gehört es seit den 1980erJahren, die Bücher in einem öffentlichen Lesesaal thematisch vor sich im Regal zu finden. Deshalb präsentiert Deutschbauer die Medien in einem Gebäude oder Raum mit einer groß angelegten, frei zugänglichen und zentralen Buchaufstellung. Ein integrierter öffentlich zugänglicher Online-Katalog (OPAC) ist seit den

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1990er-Jahren das wichtigste Instrument, um Metadaten verschiedenster Art für die in der Bibliothek verwalteten Medienbestände nach einheitlichen Erschließungsregeln nachzuweisen. Diese formale Erschließung der ungelesenen Bücher erfolgt bei Deutschbauer allerdings noch klassisch analog über eine hinterlegte Linkliste auf seiner Homepage nach allerdings ebenfalls festgelegten, aber proprietären Hauskatalogregeln. Zudem wird im Rahmen seiner Formalerschließung jedes genannte Buch für die Bibliothek in Heften – pflichtbewusst, fast buchgelehrtenhaft und pedantisch – aufgenommen und damit erschlossen. Die Bücher sind penibel geordnet und werden mit Hilfe von Schablone, Feder oder einem Rotring-Stift 0,25 mm wie von einem technischen Zeichner systematisch signiert und ins Regal gestellt, versehen mit dem Namen dessen/derer, der/die dieses Buch nicht gelesen hat, und dem Numerus Currens, der laufenden Nummer des Interviews, mittels derer man das Interview zum Buch im Audioarchiv auffinden kann. Jedes Buch trägt als Signatur ein Etikett mit der Aufschrift: „Dieses Buch wurde von XY noch nicht gelesen.“ Zur inhaltlichen Erschließung der Bestände wird in wissenschaftlichen Bibliotheken eine Systematik erstellt. Sie ermöglicht in der Regel eine Übersicht über die einzelnen Fachgebiete. Diese zentrale Inhaltserschließung erfolgt bei Deutschbauer ohne elektronisches Library Management System mit einem MinidiscRekorder und einem Mikrofon, für ihn das Handwerkszeug des Bibliothekars. Mit ihnen ist er im Dienst, mit ihnen erfolgt die verbale Sacherschließung der ungelesenen Bestände; die Medienbearbeitung findet dabei in Wohnungen, Ateliers, Ämtern, Cafés, Hörsälen etc. statt und die

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Ablage des verbal-digitalen Katalogisats erfolgt auf der Bibliothekshomepage. Deutschbauer sitzt bei der Inhaltserschließung seinen Nicht-Leser*innen gegenüber, das Tonband läuft: „Welches Buch“, fragt er, „hast du noch nicht gelesen?“ Die Interviews unterliegen einem festgefügten Fragenkatalog, der immer mit der Frage „Welches Wetter haben wir heute?“ beginnt, abgeleitet vom ersten Satz aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Florjan Lipuš‘ Der Zögling Tjaž. Dieser wird ständig zum Wetter befragt, und ähnlich wie er hat sich auch Deutschbauer mit den Jahren „in harten Prüfungen zu einem Wetterexperten herausgebildet“.9 Der Fragenkatalog ist hauptsächlich aus Werken von Canetti, Diderot, Handke und Jonke zusammengestellt. Bei der Inhaltserschließung dürfen die Interviewpartner*innen natürlich zu Lesarten gelangen, die parteiisch oder ungerecht sind, aber auch Lesarten, die mit denjenigen der Autor*innen identisch sind oder ihnen widersprechen sind erlaubt. Dem Gegenwartskünstler geht es um Erinnerungen an das Leseerlebnis, die er erforscht, indem er nach Vorstellungen, Projektionen und Gedanken fragt, die mit Nicht-Gelesenem verbunden sind. Genau diese verschiedenen Konjunktive eines Buches archiviert er dann, um sie „für die Ewigkeit“ festzuhalten.10

3. DRITTE AUFGABE: VERFÜGBAR­ MACHUNG VON INFORMATIONEN Bibliotheken bemühen sich immer, die Menschen für ihre Arbeit und Schätze zu interessieren. Um in die Gesellschaft und die Kultur hineinwirken zu können, müssen sie die Menschen einladen. Dazu gehören auch kulturelle und wissenschaftliche Veranstaltungen sowie Aus-

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stellungen ihrer kostbaren und vielfältigen Bestände. Ihre Türen müssen weit offen sein. Dabei heißt „Verfügbarmachen“, einen leichten Zugriff auf aktuelle Medien durch Präsenzhaltung, Freihandaufstellung und durch elektronische Hilfsmittel zu ermöglichen. Es heißt aber auch, bestandserhaltende und bauliche Maßnahmen zu setzen und entsprechende Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Um die Nutzung der Bestände auf Dauer zu gewährleisten, müssen sie erhalten werden. Die Bestandserhaltung umfasst alle Vorkehrungen und Tätigkeiten, die dazu dienen, Bibliotheksgut vor Beschädigungen und Verlust zu schützen. Für Deutschbauer macht das Staubtuch und nicht der Charakter den guten Bibliothekar aus.11 So finden sich neben dem Staubtuch in der Bibliothek ungelesener Bücher auch ein Hausmeisterkittel, Schleifpapier der Körnung 220 gegen hartnäckige Verunreinigungen, und ein Bleistiftspitzer. Damit wären auch die bestandserhaltenden Aufgaben des Bibliothekars einigermaßen umrissen. Deutschbauer inszeniert seinen Buchbestand. Auffälliges, aber freundliches Mobiliar schafft den richtigen Rahmen, sorgt für die gewünschte Aufmerksamkeit und transportiert eine einladende Atmosphäre und ein gutes lernergonomisches Arbeitsklima. Braucht man ein Buch aus den Regalen der Bibliothek, so muss man sich vom bereitgestellten etwas muffigen Diwan erheben. Nach Deutschbauer antworten vier Fünftel aller Interviewpartner*innen auf die Frage „In welcher Stellung lesen Sie?“ mit „Liegend.“12 Um einen kniehohen Tisch drängen sich drei altertümliche, abgenutzte Fauteuils. Dieses Mobiliar gliedert den eigentlich sterilen Bibliotheksraums und bildet zugleich eine Barriere zum Schutz der Bücher. In diesem Rahmen interviewt Deutschbauer

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als „Bibliothekar“ seine Nicht-Leser*innen. Aber hier ist er auch Gastgeber. Regelmäßig einmal im Monat lädt Deutschbauer zu „Lesen und Handarbeiten im Zirkel“ ein. Das erklärte Ziel des Zirkels ist ein meditativer Zustand, in dem ein- und derselbe Mensch handarbeitet und gleichzeitig liest – Handarbeit beruhigt und schärft die Konzentration auf den Text. Dabei verheddern sich Lese- und Strickfaden dann und wann, auch verstricken sich die Besucher*innen in Gespräche. Gelesen wird zu allerlei Themen wie Nebel, Stuhl, Rückzug, Leiche oder einfach nur „Ach!“. Gekrönt wird der Zirkel durch Autor*innenlesungen. Gestrickte und gehäkelte Buchhüllen, Schutzumschläge, geklöppelte Ärmelschoner und gestickte Andachtsbildchen zeugen vom Engagement der Bibliotheksbesucher*innen.

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FAZIT Kehren wir zum Schluss zu Musil zurück. Der uns bereits bekannte General fragt den Bibliothekar, warum er sich in seiner Bibliothek so gut auskenne. „Weil ich keines dieser Bücher gelesen habe!“, antwortet der Bibliothekar, „ich verwalte nur die Titel.“ Dabei bemerkt er, es habe mal einen lesenden Bibliothekar gegeben, der sei aber verrückt geworden.13 Lesende Bibliothekar*innen sind genuin verloren und für ihren Beruf ungeeignet, Bibliotheksarbeit ist Akkordarbeit in der fortwährenden Datenproduktion. Die Menge ungelesener Bücher stellt diejenige gelesener bei weitem in den Schatten, deshalb schuf Deutschbauer ihnen wohl einen geschützten Zufluchtsort. In ihm „wird der bildungsbürgerliche ‚Kanon‘ präsentiert, um ihn gleichzeitig ironisch in Frage zu stellen.“14 Deutschbauers Bücherregale sind die „Klagemauer des

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Bildungsbürgertums“15. Nochmal anders gewendet: Es wäre wohl um ein Vielfaches spannender gewesen, eine Biblio-

thek der gelesenen Bücher zu schaffen, denn die gibt es – wie oben gezeigt – bisher noch nicht.

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Anmerkungen 1 Vgl. Ball, Rafael/Tunger, Dirk, Bibliometrische Analysen – Daten, Fakten und Methoden. Grundwissen Bibliometrie für Wissenschaftler, Wissenschaftsmanager, Forschungseinrichtungen und Hochschulen (Schriften des Forschungszentrums Jülich – Reihe Bibliothek/Library, 12), Jülich 2005, 26. 2 Vgl. Schulz, Roland, Ein ungelesenes Buch ist immer noch besser als kein Buch, SZ-Magazin 8/2022 (24. Februar 2022), https://sz-magazin.sueddeutsche.de/literatur/bibliothek-ungelesene-buecher-vorstellungskraft-91261 [13.03.2022]. 3 Vgl. ebd. 4 Zum Folgenden über Ellenberg s. ebd. 5 Pierre Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, München 2009, 23 –24. 6 Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, neue durchgesehene und verbesserte Auflage, Reinbek b. Hamburg 1981, Bd. 1, 460. 7 Vgl. Bibliothek ungelesener Bücher (Bücher-Wiki: Digitales Buchwissen), https://www.buecher-wiki.de/ index.php/BuecherWiki/BibliothekUngelesenerBuecher [12.03.2022] und Rühle, Alex, Mutmaßungen über Musil. Der Künstler Julius Deutschbauer befragt Menschen zu Büchern, die sie nie gelesen haben. Ein Gespräch über die Lügen des Gelesenhabens, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 10 (14. Januar 2021), 12, https://julius-deutschbauer.com/media/press/Stadtausgabe-14.01.202112.pdf [28.04.2022]. 8 Vgl. Bibliothek ungelesener Bücher (Bücher-Wiki: Digitales Buchwissen), https://www.buecher-wiki.de/ index.php/BuecherWiki/BibliothekUngelesenerBuecher [12.03.2022]. 9 Lipuš, Florjan, Der Zögling Tjaž, Klagenfurt 1992, 7. 10 Vgl. Rühle, Mutmaßungen über Musil, 12, https://julius-deutschbauer.com/media/press/Stadtausgabe-14.01.202112.pdf [28.04.2022].

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11 Vgl. Deutschbauer, Julius, Staub in der Bibliothek ungelesener Bücher, https://ebensperger.net/deutschbauer-bibliothek-funzigzwanzig [27.04.2022]. 12 Vgl. Ders., https://ebensperger.net/deutschbauer-bibliothek-funzigzwanzig [27.04.2022]. 13 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, 460. 14 Bibliothek ungelesener Bücher (Bücher-Wiki: Digitales Buchwissen), https://www.buecher-wiki.de/index. php/BuecherWiki/BibliothekUngelesenerBuecher [12.03.2022]. 15 Ehlers, Fiona, „Welches Buch haben sie noch nicht gelesen?“ Spiegel Magazin 7/2000, 26, http://magazin. spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/16877710 [29.04.2022].

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Merleau-Ponty entwickelt ein weitreichendes Konzept innerhalb der phänomenologischen Tradition zur Erfahrbarkeit von Kunst, indem er die traditionellen Grenzen der Wahrnehmung aufhebt und sie mit seinem Konzept von Körperlichkeit verbindet. Auf eine Kurzformel gebracht könnte man sagen, er betrachtet Kunst und Literatur als eine Erweiterung des Körpers. Malerei – und fügen wir die Zeichnung mit an – ist für Merleau-Ponty eine ‚ikonographische Philosophie des Sehens‘. Indem wir unser Verständnis von der visuellen Erfahrung ausdehnen, erweitern wir auch unser Verständnis selbst. Die ganze Serie ist so etwas wie ein konsequent durchgeführtes Spiel, wobei es um den Weg und nicht um ein Ziel geht. Maria Bussmann

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MARIA BUSSMANN ZUM SICHTBAREN UND UNSICHTBAREN BEI MERLEAU-PONTY Ein wesentlicher Grund, Maria Bussmann für eine Präsentation ihrer Arbeiten im Rahmen von Im Vorbeigehen einzuladen, war – neben der hervorragenden Qualität ihrer Arbeiten – das Phänomen einer Verknüpfung von zeitgenössischer Kunst und Philosophie. Schien diese doch perfekt in die Programmatik des IKP, der Vorgängerinstitution der Fakultät für Philosophie und für Kunstwissenschaft, zu passen. Und das tat sie auch! Doch wie führt eine Künstlerin einen Dialog mit philosophischen Positionen? Neben Merleau-Ponty, der im Zentrum der Linzer Ausstellung stand, widmete sich die in Wien und New York tätige Künstlerin und promovierte Philosophin auch Texten von Baruch Spinoza, Friedrich Schelling, Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger oder auch dem frühmittelalterlichen Dichter und Denker Walahfrid Strabo. Zunächst: Sie tut es zeichnerisch. In feinen Gespinsten fährt sie den oft komplexen Gedankengängen mit dem Bleistift nach. Wie (Spinn-) Fäden spannen sich die Linien über das Blatt. Doch bleiben die scharf gezogenen und präzise gesetzten Strichzüge nie bloße Linien, nie rein abstrakte Vermessungen der Fläche. Stets überkreuzen und verkringeln sie sich und werden zu Konturen von ‚etwas‘. Zu einem Sterngebilde, zu einem Grasbüschel, zu zwei einander berührenden Händen, zu einer

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Maria Bussmann, Liebe: Sophie. Zu Schellings Philosophische Unter­ suchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 6. Brief, 2020  –21

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Schmuckschatulle, zu einer Badeszene. Dabei legt meine Benennung bereits fest, wo die Zeichnung mehrere und immer wieder neue Lesarten offen hält. Da geht es nicht um richtig oder falsch, die korrekte Interpretation oder ein Verifizieren durch den Rückgriff auf die Intention der Künstlerin. Es geht vielmehr um ein Auf- und Erschließen von Möglichkeiten. Mitunter wähnt man sich gleichzeitig an der Innen- und an der Außenseite der Linie; so als würde sie sich aus- oder einstülpen. Und man meint, irgendwo hineinsehen oder dahinterblicken zu können. Das bevorzugte Material Maria Bussmanns ist Papier. Manchmal fragil gleich Seidenpapier, manchmal robuster, auch widerständiger Karton. Manchmal ein frisch erworbener Zeichenblock, manchmal in Schubladen gefundene, durch die Jahre vergilbte Blätter. Auch eine Kassenrolle, normalerweise genutzt, um Rechnungen auszudrucken und somit in kurzen Stücken abgerissen zu werden, kann als Zeichengrund dienen, wobei Maria Bussmann eine Schrift-, genauer gesagt eine Zeichnungs-Rolle daraus macht. Für ihre Zeichnungen bevorzugt die Künstlerin das kleine Format; die Merleau-Ponty-Serie mit Blättern in der Größe von 25,4 x 34,6 cm, also knapp DIN A3, zählt bereits zu den größeren Arbeiten. Gerade auch das DIN A5 Format scheint sie besonders zu mögen. Sodann: Sie tut es seriell. Die eine Zeichnung ist stets Teil einer Serie, im Fall von Merleau-Ponty handelt es sich gar um 102 Blätter. Was impliziert die Serie? Ein Blatt verweist auf ein nächstes und ein weiteres usw. Die Serie vermittelt ein Gefühl des Unabgeschlossenen, wie auch die Schrift Merleau-Pontys, Das Sichtbare und das Unsichtbare, auf die sie sich bezieht – doch dazu später. Anders als ein Zyklus, der als in sich abgeschlossen gilt, ist die Serie, wenn in dem Fall als Projekt auch 2004 abgeschlossen, so doch potenziell und prinzipiell offen. Mit der Serie verbindet sich sogleich auch die Frage, ob sie in einer bestimmten Reihenfolge gelesen werden will. Ich denke, nein. Die Zeichnungen sind selbstredend in einer bestimmten Reihenfolge entstanden, sie beziehen sich auf konkrete Seiten im Buch, was auf der Rückseite auch jeweils vermerkt ist. Sie sind jedoch dezidiert für eine verzweigte Lektüre offen. Dennoch, und das ist wichtig, steht jedes Blatt auch für sich und kann auch in isolierter Form eine Aussage – die stets mehrere sein können – treffen. Schließlich: Sie tut es spielerisch. Entwickelt sich ein Text argumentativ, so entwickeln sich die Zeichnungen Maria Bussmanns spielerisch, was keineswegs mit Oberflächlichkeit gleichzusetzen ist. Auch das Spiel hat seinen Ernst, und auch das Spiel folgt Regeln. Doch das Spiel setzt auf den Zufall, auf Überraschungen, und auf das Glück. Le Visible et l’Invisible [Das Sichtbare und das Unsichtbare] ist der letzte, bruchstückhaft überlieferte und erst posthum veröffentlichte Text des französischen Philosophen (1908  –1961). Was mag Maria Bussmann gelockt haben, was in einer Weise gereizt, dass sie dieser Spur mit über 100 Zeichnungen folgte?1

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MARIA BUSSMANN · Zum Sichtbaren und Unsichtbaren bei Merleau-Ponty  |

Zunächst sicher der Aspekt der Leiblichkeit, ‚chair‘ / ‚Fleisch‘, wie es Merleau-Ponty in seinen späten Schriften benennt, das als ein lebendiges Zwischen Subjekt und Objekt, dem Ich und der Welt vermittelt. Als ein Fluidum, das Leben überhaupt erst ermöglicht und uns die Wirklichkeit erkennen lässt. Die Zeichnung – nicht nur jene Maria Bussmanns, doch bei ihr in expliziter Weise – als das intimste künstlerische Medium, dem Körper des/der ZeichnerIn am nächsten, lotet genau dieses Zwischen aus. Das Papier vor sich, den Stift in der Hand, ortet die Künstlerin ihre Fährten. Dabei markiert das ‚chair‘ ein stets wechselseitiges, genauer gesagt chiastisches Respondieren zwischen einem Individuum und seinem Umraum. Merelau-Ponty bringt das Bild der einander berührenden Hände: Man berührt und fühlt sich berührt im selben Moment. Ein Motiv, das an einer Stelle dieser Serie auch explizit auftaucht. Merleau-Ponty spricht von einer ursprünglichen Intentionalität des Menschen auf die Welt hin. Demnach geht es nicht nur darum, unsere Aufmerksamkeit auf dies oder jenes zu richten; nein, nur weil wir Leib sind, haben wir auch Raum; und nur weil wir uns räumlich erleben, erfahren wir uns auch als lebendig. Maria Bussmann exerziert dieses räumliche Aus- und auch wieder Zurückschwingen Blatt für Blatt. Besonders gut nachvollziehbar sehe ich dies in einer Sternformation, die wie eine Margerite ihre Blätter öffnet oder auch gleich einer Pusteblume sich in alle Winde zerstreut, während man den Atem des Pustens noch auf den Lippen spürt; und sich dahinter, darunter eine feine nur strichliert gezeichnete Silhouette eines Frauenkörpers abzeichnet. Sie vollzieht diese Ausdehnung auch in Form der Serie; und ich kann nicht umhin, diese Serie als ein Blättermeer zu sehen. Die einzelnen Zeichnungen waren im Rahmen von Im Vorbeigehen in einer recht ungewöhnlichen Weise zu erfahren. Anders als in einer gängigen Museums- oder Galerie-Ausstellung waren die einzelnen Blätter eben nicht in einem White Cube, eins neben dem anderen präsentiert. Bedingt durch die Architektur des Universitätsgebäudes waren die Arbeiten über das gesamte Raumensemble verteilt: 15 Zeichnungen im Altbau; eine im Eingangsbereich, eine im Halbstock, eine beim Lift, zwei im Stiegenhaus, vier im Hörsaal auf der 2. Etage, sechs weitere im ausgebauten Dachgeschoss des Barockbaus, vier davon in einem Hörsaal, zwei in dem diesem gegenüberliegenden Seminarraum. 18 Zeichnungen im Neubau; zehn im Foyer, drei in der Aula, eine im 1. Stock im Verbindungsgang zwischen Alt- und Neubau der späten 1980er-Jahre, zwei im Gang zwischen den Büros des Fachbereichs Philosophie und zwei weitere im Treppenaufgang zur Kunstwissenschaft im 5. Stock. Und somit stets ausgefranst; an keiner Stelle im Haus konnte man sie in ihrer Gesamtheit überblicken. Maria Bussmann zeigte demnach 33 Blätter, also etwa ein Drittel der Serie. Die Lehrenden, Studierenden und MitarbeiterInnen des Hauses bekamen also nur einen Teil zu sehen; nur einen Teil der Serie

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Maria Bussmann, Zum Sichtbaren und Unsichtbaren Merleau-Pontys. Links: Kettengesicht, Mitte: Scharniere, rechts: Von Gedanken gesteuerter Kopf, 2004

und auch davon stets nur einen Ausschnitt. Ist es das, was MerleauPonty zum Ausdruck bringt, wenn er vom Unsichtbaren im Sichtbaren spricht? Ja und nein. Das Ja ist rasch erklärt: Man sah nicht alles, konnte nur vermuten, dass es noch mehr als die gerade vor

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MARIA BUSSMANN · Zum Sichtbaren und Unsichtbaren bei Merleau-Ponty  |

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Augen stehenden Blätter gibt. Mit dem Nein verhält es sich komplexer. Die weiteren im Universitätsgebäude verteilten, und ebenso der Rest der Serie waren bzw. wären prinzipiell sichtbar; man sieht sie bloß ‚noch nicht‘. Die Unsichtbarkeit, von der Merleau-Ponty schreibt,

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Maria Bussmann, Zum Sichtbaren und Unsichtbaren Merleau-Pontys. Berühren und berührt werden, 2004

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MARIA BUSSMANN · Zum Sichtbaren und Unsichtbaren bei Merleau-Ponty  |

Maria Bussmann, Liebe Sophie. Zu Schellings Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 1. Brief, 2020  –21

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Maria Bussmann, Liebe: Sophie. Zu Schellings Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 7. Brief, 2020  –21

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meint etwas Anderes, nämlich eine grundlegende Unsichtbarkeit. Alle Welt, und all das in ihr zu Sehende ist prinzipiell mit Unsichtbarem durchsetzt, einem Unsichtbaren, das das Sehen jedoch überhaupt erst ermöglicht. Dieses grundlegend Unsichtbare, ein Nichtsehen als Bedingung des Sehens, ist wohl eher an den Rändern zu entdecken: an den Rändern der Serie, an den Rändern der Blätter, an den Rändern der Linien. Monika Leisch-Kiesl

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Anmerkung 1 Zur Merleau-Ponty-Serie erschien ein Katalog: Bussmann, Maria, Zum Sichtbaren und Unsichtbaren bei Merleau-Ponty. Zeichnungen / About the Visible and Invisible of Merleau- Ponty. Drawings, Wien 2004.

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ZEICHNEN UND SCHREIBEN OHNE SCHLUSS ODER LIEBE SOPHIE

Isabel Zürcher

Zärtlich behandelt die Kunst ihre Welt. Nahbares wie Unheimliches holt sie ins Blatt. Liebe Sophie, das Wirkliche – man sieht, man hört, man liest es jeden Tag – ist undurchdringlich und von Fragen beseelt. Der Abstraktion von Worten entgegnet der Bleistift tastende Linien und feine Schraffur. Nachdenklichkeit erobert ihr eigenes Gelände – Hügel, Felder, See. Vorsichtig sind Landschaften freigelegt, kräuselt die Mine den tiefsten Punkt im Teich und erreicht die Weiten des Himmels. Vieles ereignet sich zwischen Nebelmeer und Wolkenband, vom Erdenklichen ganz zu schweigen. Gibt es sie, die Übersicht? Wie schwer wiegt Freiheit, wer darf sie sich auf Fahnen schreiben? Was hat ein Vogel mit Drohnen gemein und wo wohnt die Vernunft? Am Steg ruhen Boo-

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te, während die Strasse ins Unendliche flieht. Immer bedacht, liebe Sophie, überfliegt deine écriture Topografien, stichelt kantige Bahnen ins Weiss, umreisst Protagonistinnen der Sehnsucht und bietet Schatten auf: gespenstische Girlanden unter einem ICH, das als Büste sich dreht und vermählt nach links und nach rechts wie seit Menschengedenken. Dein Strich ist Entdeckung, Umkreisen auch – immer der Naht entlang zwischen innerem und äusserem Bild. Zeichnen gerät zur rätselhaften Aufklärung über das ferne bekannte Land. Laufend wandeln wird es sich, aber aufhören nie: Erkenntnis bleibt Versprechen, Sprache selbst kann erblinden und bleibt auf jeden Fall verzweigt. Geh nur, liebe Sophie. Denken ist Wagen. Und am Möglichen kommst du nicht vorbei.

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Maria Bussmann, Liebe: Sophie. Zu Schellings Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, links: 6. Brief, rechts: 12. Brief, 2020  –21

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ISABEL ZÜRCHER · Zeichnen und Schreiben ohne Schluss oder Liebe Sophie  |

Maria Bussmann, Liebe: Sophie, 6. Brief, Briefkuvert, 2020  –21

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Maria Bussmann, Liebe: Sophie, 12. Brief, 2020  –21

Anmerkung Während des Lockdowns hat sich Maria Bussmann unter die Empfängerinnen gemischt von Briefen, welche der Lehrbeauftragte Sven Jürgensen an der Universität Osnabrück an seine Studierenden verschickte. Thema seines Seminars, das ganz regulär und analog hätte stattfinden sollen, waren Schellings Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. Die Woche um Woche verschickten Briefe waren überschrieben mit «Liebe: Sophie». Maria Bussmanns Zeichnungen waren Antworten auf diese Briefe. Der obenstehende Text erprobt erneut ein Echo auf jene Antworten.

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… eine Form von Dokumentation, deren Ziel nicht das Zeigen der sogenannten ‚Wahrheit‘ in der Realität ist, sondern die versucht, die unterschiedlichen imaginativen Einschreibungen eines fik­ tiven Raumes zu beschreiben: Eines Raumes, der uns oft realer erscheint als die Realität selbst. Karina Nimmerfall

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KARINA NIMMERFALL CROSS SECTIONS THROUGH REAL AND IMAGINED SPACES Die Künstlerin Karina Nimmerfall interessiert sich für Räume und Orte des Medialen. In ihren Arbeiten stellt sie das Mediale keineswegs einem Materiellen gegenüber. Vielmehr erforscht sie die komplexen wechselseitigen Überlagerungen, die eine Unterscheidung in eine Sphäre des Medialen und eine Sphäre des Materiellen kaum mehr zulassen. Ihr Ausgangspunkt ist dabei wiederholt die Architektur der Moderne. Diese, insbesondere in ihrer Spielart des Neuen Bauens, erweist sich als von der Fotografie und dem Film durchdrungen. Beide Medien wurden nicht nur herangezogen, um die Charakteristika der Bauten herauszuarbeiten, sondern auch um die ihnen zu Grunde liegenden Ideen ins Bild zu setzen. Im Zentrum stand dabei die der Architektur eingeschriebene Erfahrung des Films. Das neue Medium veränderte Anfang des 20. Jahrhunderts die Seherfahrungen. Die gefilmten Objekte nahmen einen leichten und transparenten Charakter an. Die Wahrnehmung wurde dynamischer, flüchtiger und fragmentarischer. Das Neue Bauen reagierte darauf, indem es Analogien zum Film formulierte. Die plastischen, kubischen, scharfkantigen und oftmals auch vielgestaltigen Baukörper zeigen eine Leichtigkeit und Transparenz, die ihnen Dynamik verleiht und ihren materiellen Charakter in den

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Karina Nimmerfall, The Glass House (Modern Contemporary), 2010

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Karina Nimmerfall, The Glass House, Plakat, 2009

Hintergrund treten lässt. Besonders deutliche Bezüge zum Film zeigen die Bauten von Le Corbusier, Erich Mendelsohn oder Mies van der Rohe.1 Die Architekten setzen jeweils unterschiedliche Strategien ein. Le Corbusier entwickelte das Konzept der promenade architecturale, das von dem menschlichen Auge ausgeht, welches als ständig in Bewegung gedacht wird. Mies van der Rohe arbeitete vor allem mit Öff-

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KARINA NIMMERFALL · Cross Sections through Real and Imagined Spaces  |

nungen, die zu einer Durchdringung von Innen und Außen beitragen und den Blick der Bewohner*innen auf die Stadtlandschaft ausrichten. Erich Mendelsohns setzte eine reduzierte, großflächige, klare und von Rundungen geprägte Formensprache ein, die dem dynamisierten Blick der Großstadtbewohner*innen entgegenkommt. Die filmischen Qualitäten der Bauten wurden durch die formalen Experimente der Neuen Fotografie betont. Ungewöhnliche Perspektiven, spannungsvolle Blickführungen und effektvolle Hell- und Dunkelkontraste bestimmen die Bilder. Dynamische Strukturen beschleunigen den Blick und lassen ihn kaum zur Ruhe kommen. Wiederholt werden spektakuläre Fensterblicke durch die großen Glasflächen der Bauten in Szene gesetzt. Die Grenze zwischen Innen- und Außenraum verschwimmt. In der Fotografie gewinnt die Idee des offenen, immateriellen Baukörpers Realität. Darüber hinaus wurden Methoden der Bildbearbeitung, wie Retuschen, Filter oder perspektivische Entzerrungen eingesetzt, um die Abstraktionsqualitäten der Fotografie zu optimieren. Entworfen wird kein Bild der real gebauten Häuser, sondern des idealen Konzepts der Architektur. Andreas Haus folgert, dass sich die Fotografie somit „als Propagandawaffe für die Idee und weniger für die ‚Praxis‘ des ‚Neuen Bauens‘“ charakterisieren lässt.2 Karina Nimmerfall steht mit Arbeiten wie der Installation The Glass House (Modern Contemporary) aus dem Jahr 2010, die im Wintersemester 2012/13 in der Katholischen Privat-Universität Linz gezeigt wurde, in der Tradition dieser Diskurse der 1920er- und 1930er-Jahre. Sie entwirft ein Architekturmodell, das eine zeitgenössische modernistische Formensprache aufweist. Strahlend weiße, scharfkantige, glatte Flächen sind zu einem vielgestaltigen Baukörper zusammengefügt. Zahlreiche, großflächige Öffnungen, die die Betrachter*innen dazu einladen, sich um das Modell herumzubewegen, um die Ein- und Ausblicke aus verschiedenen Perspektiven zu erkunden, lassen eine Unterscheidung von Innen- und Außenraum kaum zu. Die Leichtigkeit und Transparenz, die das Holzmodell ausstrahlt, verstellen den Blick auf seinen materiellen Charakter. Die Vision des Immateriellen wird auf diese Weise weiter gefördert, dass auf eine Fläche des Modells ein kleinformatiges Video projiziert wird, das menschenleere Landschaften mit spektakulären Naturausschnitten zeigt, während andere Flächen mit Video-Stills versehen sind, die modernistische Architekturelementen erkennen lassen. Das Modell beruht auf einer Kombination verschiedener realer Bauten. Ausgewählt wurden solche Architekturbeispiele, die bereits in Spielfilmen als Filmkulisse gedient hatten – meist als Wohnsitze von Gaunern oder Gangstern. Die Art und Weise, wie Karina Nimmerfall das Medium des Architekturmodells zitiert und mit dem Einsatz bewegter Bilder verbindet, rückt nicht nur Fragen nach dem Verhältnis von Medialem und Realem, sondern auch nach dem von Realität und Fiktion ins Bewusstsein. Die Künstlerin aktualisiert und radikalisiert die Frage nach den wechselseitigen

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Karina Nimmerfall, The Glass House (Modern Contemporary), Detail, 2010

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KARINA NIMMERFALL · Cross Sections through Real and Imagined Spaces  |

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Überlagerungen des Medialen und des Materiellen, die durch die spezifischen Wechselwirkungen von Neuem Bauen, Fotografie und Film hervorgebracht wurden, indem sie diese um eine Analyse der Verquickungen von Realität und Fiktion ergänzt. In der Postmoderne wurde das Verhältnis zwischen der Welt der Bilder und der realen Welt neu gedacht. Die Vorstellung eines Dualismus zwischen diesen beiden Welten wurde aufgegeben. Demnach erleben wir nicht die Wirklichkeit, sondern entwirft jeder Mensch eine eigene, subjektive Welt, die der äußeren Welt nur locker verbunden ist. Unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Handeln werden durch Zeichen geprägt. Das Spiel der Zeichen ist jedoch kein willkürlicher Prozess, sondern gesellschaftlich strukturiert.

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KARINA NIMMERFALL · Cross Sections through Real and Imagined Spaces  |

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Karina Nimmerfall, Cinematic Maps, 2004  –2006, Installationsansicht Camera Austria Graz, 2007

 Karina Nimmerfall, Aus der Serie Cinematic Maps, 2004  –2006

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Deutlicher noch tritt die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion in der Fotoserie Cinematic Maps hervor, die zwischen 2004 und 2006 entstand, und die im Wintersemester 2012/13 ebenfalls in der Katholischen Privat-Universität Linz gezeigt wurde. Karina Nimmerfall bezieht sich dabei auf die US-amerikanische Fernsehserie Law and Order aus den 1990er-Jahren. Diese war nicht nur beim Publikum äußerst beliebt, sondern wurde auch mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Sie handelt von der Jagd nach Gewaltverbrecher*innen in und um New York und zeigt diese jeweils aus zwei Perspektiven: zunächst die der Polizei, dann die der Staatsanwaltschaft. Für eine Krimiserie ist dies ungewöhnlich. Unkonventionell ist zudem, dass ein Fall auch einmal ungelöst bleiben kann und auf Sachlichkeit großer Wert gelegt wird. Die Fotoserie hinterfragt den realistischen Charakter der Serie. In der Fernsehserie werden reale Adressen mit Bildern realer Bauten kombiniert, doch in der Realität passen die Adressangaben und die gezeigten Bauten nicht zusammen. Karina Nimmerfall geht dem nach, indem sie die Adressen aufsucht, die dort stehenden Bauten fotografiert und mit den Adressangaben aus der Fernsehserie kombiniert. Sie zielt damit ab auf „eine Form von Dokumentation, deren Ziel nicht das Zeigen der sogenannten ‚Wahrheit‘ in der Realität ist, sondern die versucht, die unterschiedlichen imaginativen Einschreibungen eines fiktiven Raumes zu beschreiben: Eines Raumes, der uns oft realer erscheint als die Realität selbst.“3 Ihre Arbeiten thematisieren Konzepte von Medialem und Materiellem sowie Realität und Fiktion nicht indem sie diese gegenüberstellt, sondern sie vielmehr in ihren vielschichtigen Durchdringungen, Überlagerungen und Überblendungen sichtbar macht.

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Barbara Schrödl

Anmerkungen 1 Siehe hierzu: Haus, Andreas, Fotogene Architektur, in: Daidalos. Architektur Kunst Kultur. Photographie als Argument, 66. Jahrgang (Dezember 1997), 84 – 91. 2 Haus, Andreas, Fotografische Polemik und Propaganda um das „Neue Bauen“ der 20er Jahre, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 20 (1981), 90  –106, hier 104. 3 Katholische Privatuniversität Linz, Flyer Im Vorbeigehen II/3: Karina Nimmerfall. Cross Sections through Real and Imagined Spaces, Linz 2012, o.S.

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SOFT FEELINGS IN STEEL-HARD CASING NOTES ON STEPHEN WILLATS AND KARINA NIMMERFALL’S AFFECTIVE CARTOGRAPHIES

Arkadiusz Półtorak

I suggest reading this short essay as a polemic. It polemicizes against the tendency – well-established in some currents of cultural studies and art criticism – to posi­ tively valorize affective stimulation regardless of context, ascribing to it a sui generis sociogenic character. This kind of valuation is most often rooted in a specific outlook on modern culture. According to this, modernity, preoccupied with rationalizing all existence and disenchanting the world, deprived people of the opportunities to establish fruitful, emotional relationships with their surroundings. This view, as well as the tendency to theorize affect in a binary manner (zero – valued pejoratively – “I feel nothing” or “I cannot access my feelings”; one – valued positively – “I feel something, ergo: I am”),has been discussed at length by such prominent authors as Eve Kosofsky

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Sedgwick, Adam Frank and Lauren Berlant.1 I will not cite their works here. Ra­ ther, responding to the open-ended invitation of this volume’s editors, I would like to add to Sedgwick, Frank and Berlant’s thoughts a few arguments based on the interpretation of artworks that have recently inspired my theoretical explorations. These come from Stephen Willats and Karina Nimmerfall. At first sight, Willats’ 1977 series of graphic works I Don’t Want to Be Like Anyone Else confirms the preconception about the affective numbness characterizing modern societies. At least in regard to the very modernity that the artist himself inhabited – namely, the Britain of big tower blocks, punk counterculture and worker strikes. The tableaux that make up the series in question take the form of diagrams. Diagonal lines connect pho-

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tographs depicting a young woman and scenes from a modernist working-class district with short inscriptions (seemingly torn out of a stream of consciousness: “I don’t want to be another processed customer. Do you know where I can decide for myself what I really need”; “I don’t want to be your domestic slave”, etc.). Assembled together, the texts and images present speculative scenarios of thought and action implemented by the female protagonist. They paint a picture of a self-aware and critical existence, yet one charged with the feeling of immobility, frustration and displacement. The distinctly modern environment of the young woman seems to present her with irresolvable dilemmas. The frustration and perceived passivity of the protagonist in I Don’t Want to Be Like Anyone Else is often brought up in critical commentaries. To give an example, let me quote Anselm Franke, Stephanie Hankey and Marek Tuszynski, the curators of the exhibition Nervous Systems: Quantified Life and the Social Question, held in 2016 at the Haus der Kulturen der Welt in Berlin: “In Willats’ work from 1977, I Don’t Want to Be Like Anyone Else, graphic lines map out the position of a woman in her social and physical surrounding. The panel texts represent questions that in the 1970s were at the core of the struggle of women battling with their normative position in society; who, according to Willats, were forced into a passivity which foreclosed participation in their own cultural identity, but which also reflect concerns of identity and freedom in the age of liberal consumerism.”2 Describing the attitude of the woman that Willats depicted in his panels, Franke, Hankey and Tuszynski invoke her “passivity,” understood as the tacit acceptance of her position in the social or-

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der. However, this is not a matter of mere conformity. Rather, the curators understand it as a corollary of the protagonist’s social conditioning, with traditional gender norms at the very forefront, although not exclusively. Noting the work’s setting in Avondale Estate in Hayes, West London – so, in many ways, a typical industrial district in a great metropolis – they suggest that Willats’ heroine might be approached as an everywoman. A number of premises support this argument (including the artist’s insistence on treating the young homemaker as a “symbolic individual”). As remarked by many scholars from Max Weber to Raymond Williams and their contemporary followers, the unwilful affective withdrawal and passivity lie at the core of the modern conditio humana. In their view, the type of aliena­ tion and identity crisis experienced by Willats’ protagonist is not (necessarily) a result of wrong choices or inherent flaws of the individual psyche but an infallible sign of one’s historicity. A particularly fitting account of this condition might be found in the writings of the German sociologist Andreas Reckwitz, who posits that preference for calculative rationality over affective ties with the world was inherent in industrial modernization during the nineteenth and twentieth centuries throughout the West: “The affect reduction brought with it a fundamental structural problem. It produced a deficiency of motivation. After all, what is the emotional incentive to participate in a rationalized form of life? What would incite anyone to hear the call and participate in institutions if not coercion? What motivates subjects to become actively involved? Where is the promise of emotional fulfilment? In short, what is there to make modernity appealing? Max Weber’s assessment of modern society as a ‘steel-hard casing’ can be understood

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as an astute insight into precisely this fundamental lack of motivation in modern, secularized, rationalized life.”3 The experiences of Willats’ protagonist match Reckwitz’s characterization of modernity as contained within a “steelhard casing” very closely. Pondering on her role as a consumer, worker, partner or a social activist, the protagonist of I Don’t Want to Be Like Anyone Else is vehement about every step. The norms governing her social surroundings seem entirely overwhelming. She certainly struggles with a lack of motivation, not to even mention excitement. Yet, if I Don’t Want to Be Like Anyone Else can indeed be interpreted as a commentary on modern individuals’ affective struggles with the surrounding world, it is not worth stabilizing the theoretical framework too quickly. Would it not be hasty to equate the protagonist’s lack of motivation with a complete extinguishing of affect? Or, in other words, can affects only ever be attributed a positive valence? A nuanced answer to the questions posed above is suggested by Willats himself in his works. Although the protagonist is not the “mistress of her own fate”, she is also not devoid of active interaction with her environment. In the lower sections of the diagrams, affective interstices appear – markings of “different perceptions” and “alternative understandings”; prospects of the protago­ nist’s existential freedom and psychological growth, put in sharp contrast with the adjacent visual material (that is, mainly photographs of rubble and abandoned buildings). To make things clear: Willats is not an optimist and does not equate affective stimulation with immediate fulfillment. At the same time, though, it is worth noting his ambiguous attitude to the modern surroundings that served as his own natural habitat. As

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a man of the tower blocks himself, Willats appreciated aspects of everyday life in Britain that might have escaped both the Thatcherite media and the critical academics concerned with victimization of the working class in the 1970s public discourse. Although the environment of the blocks’ inhabitants was enclosed in a steel-hard casing, the artist perceived the steel as porous and breathable. Sharon Irish writes about it with emphasis in her recently published monograph. A longer excerpt is worth quoting here: “Willats remarked in 2013: ‘I saw that the actual building blocks in which those residents lived, while having the function of housing people, were themselves expressions as objects.’ For Willats, tower blocks were both symbols of regulated living and actual objects that housed people. As objects, too, they held potential for alternate realities, created by those who occupied the spaces. These alternatives were uncertain, to be sure; inside flats, people selected objects, objects affected people, people and objects transformed within and between systems. […] In 1988, the National Tower Block Directory included a two-page spread on Willats. The editors wrote: ‘Stephen’s art is our art. By tower block tenants, about tower block tenants, and for tower block tenants.’”4 Taking Irish’s remarks into account, it is worth noting that the photographs of debris seen in the six panels in I Don’t Want to Be Like Anyone Else are replicated in other works by Willats, and in a rather particular context. In his 1978 series The Lurky Place, Willats presents the wasteland as an unlikely place of social (and at times playful) performances. Where the bourgeois, trained eye cannot reach, unexpected spaces of life open up. It is worthwhile to compare Willats’ perspective with the sociological one –

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Stephen Willats, I Don’t Want to Be Like Anyone Else, sechsteilig, 1977

for free spaces in the steel armor of modernity are also indicated by Andreas Reckwitz. In his case, however, the focus is not on small enclaves, but rather on three monumental dispositifs, which, according to the sociologist, have fulfilled a compensatory function since the dawn of modernity. From its beginnings, Reckwitz suggests, modernity was equipped with strategies for compensating the inherent affective imbalance: “In order to retrace these strategies in detail, a historical-sociological affect cartography of modernity would be required, which still has not been forthcoming. For the purpose of a preliminary account, this affective structure of modernity appears to have been composed of three lines of force. In addition to processes of aestheticization, the most im-

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portant zones of affective concentration in modern culture are constituted by religion and politics.”5 Reckwitz sketches a picture of humanity that can be described in economic terms, analogous to the “economy of drives” described by Freud. Eros and Thanatos; life and death; positive and negative affects must be constantly kept in balance. According to this logic, if the industrialized work culture brought people towards a state of alienation and affective withdrawal, other areas of social practice had to push the totality of social relations towards homeostasis. Therefore, as Reckwitz suggests – toning down the Weberian narrative – “in reality […] modernity cannot have been entirely devoid of affect.”6 Since the beginning of the Industrial Revolution, art, re-

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ligion and politics – conceived primarily as forms of public spectacle – were demanded to offer, in Reckwitz’s view, what rationalized modernity was unable to offer people in everyday life. It is only over the last half-century – and the passage from Fordism to Post-Fordism, the industrial regime to the post-industrial work culture – that positive affects have begun to bud across the social organism, and even in places unexpected from the perspective of the early twentieth century: in management curricula and corporate life. Willats’ work can easily be situated against the historical outline offered by Reckwitz. After all, the work I Don’t Want to Be Like Anyone Else was made precisely at the dawn of Fordist capitalism and born out of the artist’s interest in the lat-

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est science, engineering and humanities. It was these interests that led the curators Anselm Franke, Stephanie Hankey and Mark Tuszynski to show the panels in their 2016 exhibition Nervous Systems: Quantified Life and the Social Question, held at the Haus der Kulturen der Welt in Berlin. In the catalogue for the exhibition, the curators write that “the work em­ bodies a form of reflexive social quantification; it represents a historical momentum, where the social sciences and cybernetics had inherited the promises of progress and modernization, just before the rise of the ubiquitous data-sphere.”7 According to Reckwitz, it was largely thanks to these new promises that a new chapter of modernity replaced the Weberian cage. The one in which, as the sociologist writes, affects can spread free-

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ly; the one in which creativity is no longer treated as an obstacle to productivity, but rather, on the contrary, it is said to stimulate human activity; and, last but not least, the one in which people tend to think of the society in terms of an emergent system capable of self-organization. It is tempting to discuss Willats’ work as a kind of document of the “transitional time” between the two versions of mo­ dern life. I also find it worthwhile, though, to look beyond the images. Already in the 1960s, Stephen Willats developed a creative method based on scientific inspirations, the archetypal realization of which is the series I Don’t Want to Be Like Anyone Else. Building upon systems theory and psychology, the artist constructed scenarios for social performances, taking as his point of

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departure both the everyday and public life. Importantly, however, the methodology of “reflexive social quantification” that underpins Willats’ works is far from deterministic. In other words, Willats was never interested in simple instructions on how to increase one’s creativity, gain emotional fulfillment or access the good life. Certainly not in the sense in which they have come to occupy postmodern marketing and human resources experts. The decision-making processes that the artist visualizes in his works are probabilistic by nature; the degree of probability, meanwhile, remains undetermined in his neat-looking diagrams. This is an impor­ tant nuance, and one that points to the artist’s acute social sensitivity. It is worth recalling here an extract from a recent interview with Willats:

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“One thing I would say, I expect you’re aware that cybernetics sort of disappeared from view, and as I explained a bit before, the engineers of this world quietly sort of took it over. I don’t know if you’re a McLuhanite or not, but if you look at the idea of the fabric of things containing ideology, that was what happened with the development of the PC. Cybernetics almost got a bad name through its association with military and determinism and repression and so on. And I don’t know if you’re aware of its connection with fascism. Personally, I was appalled. The thing I wanted to say just before I close up, is that I did feel that there was a sort of fetishization of cybernetics from a new generation, a sort of nostalgia for something that is gone. You see, it was just a modeling tool. It was a good modeling tool, but it wasn’t a perfect modeling tool, because it was a transduction – you had to go down to go up. Cybernetics let you take a complex structure and make a simple representation.”8 In this interview, the artist emphasizes that cybernetics offered a good “modelling tool” because of inherent transductions. In other words, he stresses that the modelling capacity of systems thinking was owing to its inherent reductionism – and, therefore, his own cybernetics-inspired maps of the social realm should never be mistaken for the actual territories. I think that this kind of critical awareness already permeated Willats’ works in the 1970s. Although disillusionment with cybernetics came to Willats over time, in his early works it is hard not to see signs of irony conceived as an intellectual distance from the medium of choice. The models do not show readymade courses of action, but crossroads. Nor do they resolve what choosing any of the options will end up with. Perhaps all choices recorded in Willats’ diagrams

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are open-ended – or they might sometimes lead to dead ends… When confronted with the dilemmas of a “reliable” – and abused – worker, can one ever easi­ ly decide between “moving outside the system to eliminate inbuilt prejudice” and “participating on equal terms to accomplish things in their own way”? What lies behind the perceived passivity of Willats’ heroine is not an affective reduction. In other words, it is not the absolute lack of affective rootedness that lies at the source of the protagonist’s problems in I Don’t Want to Be Like Anyone Else, but rather the price she might pay for sustaining a continuous, optimistic investment in any given identity or way of life. Willats’ work presents a variety of potential attachments, none of which can potentially solve the identity crises at stake. In this light, the economic approach to affect is bound to fail, while the excess of existential angst cannot ultimately be compensated by any positive experience – neither a visit to the community garden, nor an adventure with stimulants, nor a religious performance or contemplation of works of art. Besides the aforementioned irony, another aspect of the series I Don’t Want to Be Like Anyone Else should not be overlooked. Namely, the fact that it is not the universal subject represented by a wellto-do white man that Willats chose to feature, but the perspective of a woman – a homemaker from a working-class or lower middle-class background, facing “mundane” questions in a seemingly “average” neighborhood. This is a very important choice, for it clearly indicates Willats’ awareness that the modern economy of affect was never universal, but always gendered and class-dependent. Contributing to the “historical-sociological affect cartography of modernity” that Andreas Reckwitz called for,

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Willats provides a complex account of the matter by focusing on a strongly situated experience. A contemporary artist who continues the cartography begun by Willats in a feminist spirit is Austrian-born Karina Nimmerfall. In her works, she takes modernist architecture as the starting point, approaching it as an object of artistic research but also a background for visual and textual narratives about the everyday life of women and their social struggles. The setting of women’s emancipatory efforts might appear similar in every context that Nimmerfall attends to. Whether reproducing clichés from cult TV series like Dallas (Power Play), dealing with the stories of women involved in post-war urban reconstruction (Indirect Interviews with Women) or the development of social housing (1953: Possible Scenarios of a Discontinued Future), Nimmerfall continually returns to the modernist, rationalist strains of architecture and urban planning that we owe to members of the Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM). And yet, as always, the devil (or the high priestess) lies in the details: each story features different personages and different strategies for adapting to modern life. To paraphrase the title of Willats’ 1978 work, there is so much that lurks from behind the modernist architectural grid: In the corporate spaces seen in Power Play, one recognizes the stage for multiple women’s social mimicry; in Indirect Interviews […], one confronts sincere perspectives of “average” London homemakers in the 1940s on their war-tinged real­ ity and the welfare state; in 1953: Possible Scenarios of a Discontinued Future, the female character advocates for social housing as a means of upward social mobility, confronting bourgeois stereotypes about great modernist estates and their inhabitants.

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Alluding to modern architecture as a cultural archive in its own right, Nimmerfall shows many different takes on the “steel-hard casing” of modern living spaces. In her work, rational modernism does not necessarily represent a cool, dehumanized space. Rather, its distinctive architecture symbolizes class ambitions, dreams of a good life, and finally – on an abstract level – the (feminist) desire for emancipation and (possibly) achieving the status of the universal, modern subject. These ambitions do not always reach fulfillment. In some of Nimmerfall’s works it is easy to recognize the irony typical of Willats. In The Glass House, the artist filters the modern landscape through Hollywood clichés, in which buildings modelled on the designs of Mies van der Rohe become an iconic backdrop for transgressions that deserve social condemnation (not unlike, one might add, the emancipation of women in the eyes of mid-twentieth-century Hollywood censors). In A New Room of One’s Own – a work whose title refers to a famous essay by Virginia Woolf – the iconography of feminism is incorporated into a property development advertisement (and thus a neutralized, co-opted parody of its own). In most works she points to the double bind that many modern women have been confronted with: affective attachment, although desired, is never an easy choice and never provides an easy grounding. In the works of Willats and Nimmerfall, it is clear that affects always occur in the plural and they rarely find easy release. Moreover, both artists also suggest that the Weberian perspective on modernity as an epoch of “affective extinction” deserves to be revised – not unlike the postmodern mythology of creativity, whose links to mechanisms of social control were rightly pointed out by Andreas Reckwitz. At all stages of their

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development, modern societies have produced styles of attachment in a conditional mode, linking promises of fulfillment and the good life to the task of adapting to the rapidly changing conditions of life. What the artists in question

point out is the variety of styles of adaptation and the ambiguity of minoritarian affective attachments, not necessarily coinciding with the ideals of the domi­ nant culture.

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Notes 1

Cf. Kosofsky Sedgwick, Eve / Frank, Adam, Shame in the Cybernetic Fold. Reading Silvan Tomkins, in: Critical Inquiry 21 (1995), 496  – 522; Berlant, Lauren, Cruel Optimism, Durham/London 2011. 2 Nervous Systems. Quantified Life and the Social Question (catalogue of the exhibition at the Haus der Kulturen der Welt in Berlin, March – May, 2016), eds. Anselm Franke, Stephanie Hankey, Marek Tuszynski, Leipzig 2016, 124. 3 Reckwitz, Andreas, The Invention of Creativity. Modern Society and the Culture of the New, transl. by Steven Black, Cambridge/Malden, MA 2017, 204. 4 Irish, Sharon, Concerning Stephen Willats and the Social Function of Art. Experiments in Cybernetics and Society, London/New York 2020, 137. 5 Reckwitz, The Invention, 204. 6 Reckwitz. 7 Nervous Systems, 124  – 25. 8 Hamerman, Sarah / Willats, Stephen, Control: Publishing as Cybernetic Practice, in: Avant.org (January 10, 2018), http://avant.org/artifact/stephen-willats/ [15.03.2022].

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Was I an activist by virtue of this activity, or was I rather a sympathetic observer positioned in solidarity with the object of research? I still have no definite answer to this question, partly because my practice of varying strategies between one project and the next could generate different answers in each particular case. But I have received an answer many times over from activists and movement participants when presenting and discussing my work both within an ‘art world’ context and outside it. Social movement activists have repeatedly told me that they regard me as part of the movements because of the way I approach my work. Oliver Ressler

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OLIVER RESSLER NO REPLASTERING, THE STRUCTURE IS ROTTEN Dieser Text behandelt Oliver Resslers Beitrag für die Ausstellungsreihe Im Vorbeigehen aus dem Jahr 2013. Er entstand im Frühjahr 2022 und reagierte auf eine Einladung von Monika Leisch-Kiesl für eine Mitwirkung am vorliegenden Buch. Es ist ein Zufall, dass sich ihre Anfrage im Herbst 2021 mit dem Erscheinen mehrerer Artikel über Oliver Ressler in österreichischen Zeitungen überschnitt. Konkret berichteten etwa die Salzburger Nachrichten am 16. Dezember 2021 von einer Klagsandrohung der Stadt Wien gegen den Künstler.1 So hätte die Behörde Ressler aufgefordert, seine Behinderung der Bauführung in der umstrittenen Causa Stadtstraße Aspern und Lobautunnel zu beenden. Zeitgleich sei ein entsprechendes Schreiben an rund 50 Aktivistinnen und Aktivisten ergangen und hätte der Anwalt der Stadt Wien Schadenersatzforderungen wegen der Verzögerung der Bauarbeiten angekündigt. Obwohl das Erscheinen des Artikels im Kulturteil der Salzburger Nachrichten durchaus der internationalen Bekanntheit des „Documenta-Künstlers“ geschuldet war, erwies sich die Kulturrubrik dennoch auch als der geeignetste Ort, den Sachverhalt in Bezug auf das künstlerische Selbstverständnis Resslers zu erörtern. Und es gelang dem Redakteur Martin Behr, durch seine differenzierten Ausführun-

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Oliver Ressler, no replaster­ ing, the structure is rotten, Hörsaal 1 der Katholischen Privat-Universität Linz, Sommersemester 2013

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gen, Oliver Ressler als Künstler zu beschreiben, ihn in Bezug zu sozialen Bewegungen zu setzen, Gerechtigkeitskämpfe als Werkikonografie auszuweisen und die künstlerische Praxis an der Schnittstelle von Kunst, Aktivismus und Politik zu verorten. So betonte Ressler auch selbst, dass er die Baustellenbesetzungen im Bereich der geplanten Stadtstraße Wien-Donaustadt zwar vollumfänglich für richtig hielte, seine Rolle im Rahmen der Proteste allerdings die eines Künstlers gewesen sei. In diesem Sinn sei er in den letzten Monaten mehrfach vor Ort gewesen, habe er gefilmt und fotografiert sowie Gesprächsrunden mit Umweltaktivistinnen und -aktivisten geführt. Einmal mehr wollte er auch bei diesen Protesten Material für seine künstlerischen Projekte sammeln. Eine Absicht, die Ressler noch während der laufenden Besetzungen umsetzen konnte. Denn bei der Ausstellung Barricading the Ice Sheets in der Grazer Camera Austria widmete er schon im Herbst 2021 eine Fotomontage den Protesten gegen den Lobautunnel. Als jüngstes Beispiel für Resslers Oeuvre, das sich seit den 1990erJahren u. a. mit Demokratie, Globalisierung, Klima, Migration, Ökologie, Ökonomie und Rassismus beschäftigt, war das Aspern-LobauProjekt hinsichtlich Kontext und Umständen seiner Entstehung, Thema und Anliegen seiner Konzeption sowie Form und Wirkung seiner Rezeption absolut repräsentativ für den Künstler. Auch passierte es nicht zum ersten Mal, dass Ressler für ein Werk kriminalisiert und sein künstlerisches Tun mit einem Straftatbestand in Verbindung gebracht wurde. Dabei gehört es zu seinem Selbstverständnis, Projekte in Form einer persönlichen Involvierung zu entwickeln und seinen dokumentarischen Blick aus der Perspektive der Protest- und Oppositionsbewegungen auf das jeweilige Thema zu richten. Ressler ist sich als Künstler der Notwendigkeit von Globalisierungskritik, Klimabewegungen und gesellschaftlichen Alternativen vollauf bewusst. Er teilt die Anliegen und Argumente der Protestierenden und beforscht als Künstler Theorien, Systeme, Konzepte und Selbstorganisationen des Widerstandes. Ebenso untersucht er Muster und Formen von Maßnahmen gegen soziale Bewegungen und juristische sowie polizeiliche Reaktionen auf Aktivistinnen und Aktivisten. Dass er sich damit auch selbst wiederholt diesen Behandlungen aussetzen muss, ist logische Konsequenz seiner Kunst. Oder anders gesagt: Als Weiterführung des Gedankens von Reinhard Braun, nach dem sich bei Oliver Ressler jede künstliche Grenze zwischen „Dokument“ und „Kunstwerk“ systematisch verwische,2 funktioniert die künstlerische Praxis in zwei Richtungen: Auf der einen Seite ist sie ein reflektierter Beitrag der Solidarität mit Protestbewegungen. Auf der anderen Seite leistet sie einen wichtigen Beitrag für die Sichtbarmachung von Inhalten, Theorien und Ästhetiken des Widerstandes im Betriebssystem Kunst. Eben diese These lässt sich auch auf Resslers Konzept für die Ausstellungsreihe Im Vorbeigehen von 2013 übertragen. Er entschied

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sich, auf die Projekteinladung des Instituts für Kunstwissenschaft und Philosophie der Katholischen Privat-Universität in Linz mit einem einzigen Satz zu reagieren. Und so platzierte der Künstler die Worte „no replastering, the structure is rotten“ mittels Klebefolien großformatig an zwei Wänden des „Hörsaals 1“. Ressler hatte den Satz aus einer Zusammenstellung anonymer Graffiti aus der Zeit der großen Proteste im Mai 1968 in Frankreich ausgewählt. Mit der Installation in der Universität in Linz schlug er 2013 einen Bogen zu den von den Studentenprotesten in Paris ausgelösten Unruhen, Demonstrationen und Streiks der 1960er-Jahre. Ressler vergegenwärtigte mit dem Zitat Geschichte. Gleichzeitig reaktualisierte er im Hörsaal in Linz politische, kulturelle und ökonomische Forderungen der 68er-Bewegung und schuf mit der Neukontextualisierung der Parole einen Bezugsrahmen auf Themen der Demokratisierung, der Kapitalismuskritik und der Friedensbewegung. Ebenso wichtig erschien Ressler bei der Konzeption des Beitrages, den inhaltlichen Gegenwartsbezug auch gestalterisch sichtbar werden zu lassen. Hierfür integrierte er Aufnahmen von Pflastersteinen, die bei Protesten in Athen aus der Straße herausgeschlagen worden waren, in den Wandtext und verwies damit auf die in den frühen

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Foyer der Katholischen Privat-Universität Linz, 2013

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Oliver Ressler, Drillbit, 2021  

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2010er-Jahren aktuellen Platzbesetzungsbewegungen. Deren Kritik an gesellschaftlichen Ungleichheiten und Demokratieabbau in Zeiten der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise bildete für Ressler die Gegenwart der in der Parole „no replastering, the structure is rotten“ angelegten historischen Widerstandsformen und der Forderungen nach gesellschaftlichen Alternativen. 2013 passte das Konzept Oliver Resslers für die Ausstellungsreihe Im Vorbeigehen nicht nur perfekt in die Zeit, sondern auch perfekt an den Ort einer Universität. Monatelang waren Institution, Lehrende und Studierende durch die großformatige Gestaltung des Textes im zentralen Hörsaal mit einer Parole aus der Geschichte der Studentenproteste konfrontiert. Sie waren durch Oliver Ressler aufgefordert, sich in diesem Echo der Geschichte zu reflektieren. Sie waren eingeladen, einem Kunstwerk und einem Dokument zu begegnen – und damit auch dem künstlerischen Selbstverständnis Oliver Resslers: An der Schnittstelle von Kunst, Aktivismus und Politik, als Ergebnis künstlerischer Forschung sowie als Ausdruck der Solidarität mit Widerstandsbewegungen für sozialökologische Transformationen und gesellschaftliche Alternativen. | 76

(Anmerkung: So wird Ressler auch seine Forschung über Klimagerechtigkeitsbewegungen weiterführen und damit die zwischenzeitliche Räumung des Protestcamps von Umweltaktivistinnen und -aktivisten auf der geplanten Baustelle der Stadtstraße in Wien-Donaustadt am 1. Februar 2022 in seine Werkbiografie einschreiben.) Martin Hochleitner

Anmerkungen 1 Behr, Martin, Künstler Oliver Ressler: „Man versucht, meine Arbeit zu kriminalisieren“, in: Salzburger Nachrichten, 16. Dezember 2021. 2 Braun, Reinhard, Oliver Ressler. Barricading the Ice Sheets, in: https://camera-austria.at/ausstellungen/oliver-ressler-barricading-the-ice-sheets/ [15.02.2022].

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DIE AUFTEILUNG DES SINNLICHEN

Jacques Rancière

VORBEMERKUNG Dieser kurze Auszug aus Jacques Rancières schmalem Band Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien / Le Partage du sensible. Esthétique et politique aus dem Jahr 2000 erachten wir als einen pointierten Text zur Frage des Zusammenwirkens von Ästhetik und Politik. Jacques Rancière (*  1940), der vor allem durch Das Unvernehmen / La Mésentente, erschienen bei Galilée 1995, die Aufmerksamkeit kritischer Philosophie ebenso wie die einer politisch wachen Öffentlichkeit auf sich zog, stellt wie kein Anderer ‚Sichtbarkeit‘ in den Fokus seiner politischen Philosophie. Oliver Resslers künstlerische Statements an den Schnittstellen gesellschaftlicher Problemzonen, und nicht zuletzt no replastering, the structure is rotten, vor dem Hintergrund Rancières Konzept einer Verschränkung ästhetischer und politischer Praktiken zu sehen, verleiht ihnen nicht nur eine theoretische Reflexionsebene, sondern auch zusätzliche Sprengkraft. (Red.)

„Aufteilung des Sinnlichen“ nenne ich jenes System sinnlicher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb dieses Gemeinsamen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden. Eine Aufteilung des Sinnlichen

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legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben. Diese Verteilung der Anteile und Orte beruht auf einer Aufteilung der Räume, Zeiten und Tätigkeiten, die die Art und Weise bestimmt, wie ein Gemeinsames sich der Teilhabe öffnet und wie die

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einen und die anderen daran teilhaben. Der Staatsbürger, sagt Aristoteles, ist derjenige, der am Regieren und Regiertwerden teilhat. Doch dieser Teilhabe geht eine andere Form von Aufteilung voraus, die bestimmt, wer daran teilhaben kann. Das sprechende Tier, sagt Aristoteles, ist ein politisches Tier. Doch der Sklave ‚besitzt‘ die Sprache nicht, obwohl er sie versteht. Nach Platon können sich die Handwerker nicht um die gemeinsamen Angelegenheiten kümmern, weil sie nicht die Zeit haben, um sich etwas anderem als ihrer Arbeit zu widmen. Sie können nicht anderswo sein, denn die Arbeit wartet nicht. Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Eine bestimmte Betätigung legt somit fest, wer fähig oder unfähig zum Gemeinsamen ist. Sie definiert die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit in einem gemeinsamen Raum und bestimmt, wer Zugang zu einer gemeinsamen Sprache hat und wer nicht, etc. Der Politik liegt mithin eine Ästhetik zugrunde, die jedoch nicht das Geringste mit jener „Ästhetisierung der Politik“ im „Zeitalter der Massen“ zu tun hat, von der Benjamin spricht. Diese Ästhetik soll nicht als perverser Zugriff eines Kunstwollens auf die Politik oder als die Auffassung der Volksmasse als Kunstwerk verstanden werden. Wenn man nach einer Analogie sucht, kann man diese Ästhetik im Sinne Kants als System der Formen a priori auffassen – vielleicht sogar wie sie von Foucault wieder aufgenommen wurde –, insofern sie bestimmen, was der sinnlichen Erfahrung überhaupt gegeben ist. Die Unterteilung der Zeiten und Räume, des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Lärms gibt zugleich den Ort und den Gegenstand der Politik als Form der Erfahrung vor. Die Politik bestimmt, was man sieht

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und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen, und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus. Erst auf der Basis dieser primären Ästhetik lässt sich die Frage nach „ästhetischen Praktiken“ im üblichen Sinne stellen, das heißt nach den Formen der Sichtbarkeit künstlerischer Praktiken, nach dem Ort, den sie einnehmen, und danach, was sie im Hinblick auf das Gemeinsame ‚tun‘. Bei den künstlerischen Praktiken handelt es sich um „Tätigkeitsformen“1, die in die allgemeine Verteilung der Tätigkeiten sowie in deren Beziehung zu den Seinsweisen und den Formen der Sichtbarkeit eingreifen. Platons Verbannung der Dichter gründet sich nicht erst auf den unmoralischen Inhalt der Fabeln, sondern bereits auf die Unfähigkeit, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Die Frage, was Fiktion ist, ist zunächst die Frage nach der Verteilung von Orten. Aus platonischer Sicht bringt die Theaterbühne – zugleich ein Raum öffentlicher Tätigkeit und ein Ort der Vorführung von ‚Trugbildern‘ – die Aufteilung von Identitäten, Tätigkeiten und Räumen durcheinander. Das Gleiche gilt für die Schrift: Indem das geschriebene Wort hin- und herschwankt, ohne zu wissen zu wem es sprechen oder nicht sprechen soll, wird jede legitime Basis für die Zirkulation der Worte sowie die Beziehung zwischen der Wirkung der Sprache und der Anordnung der Körper im gemeinsamen Raum zerstört. Platon benennt hier zwei Hauptmodelle, zwei maßgebliche Formen der Existenz und der sinnlichen Wirkung der Sprache, das Theater und die Schrift, die zugleich auch die Formen sind, die im Allgemeinen das Regime der Künste strukturieren. Doch sind beide Modelle von Beginn an mit einem bestimmten

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Regime der Politik verbunden, mit einem Regime der Unbestimmtheit der Identitäten, des Legitimationsentzugs der Sprecherpositionen, der Deregulierung der Aufteilungen von Raum und Zeit. Dieses ästhetische Regime der Politik ist die Demokratie, das heißt das Regime der Versammlungen der Handwerker, der unantastbaren schriftlichen Gesetze und der Institution des Theaters. Dem Theater und der Schrift setzt Platon eine dritte Form entgegen: eine gute Kunstform, die choreographische Form der Gemeinschaft, die singend und tanzend ihre Einheit stiftet. Demnach benennt Platon drei Weisen, wie Rede- und Körperpraktiken Figuren des Gemeinschaftlichen erschaffen können. Erstens die Oberfläche der stummen Zeichen, die, so Platon, wie Gemälde sind; zweitens den Bewegungs-

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raum der Körper, der sich in zwei antagonistische Modelle aufteilt: zum einen die Bewegung der Trugbilder auf der Bühne, mit denen sich das Publikum identifizieren kann, und zum anderen in die authentische Bewegung, das heißt die Bewegung der Körper der Gemeinschaft selbst. Die Oberfläche der ‚gemalten‘ Zeichen, die Doppelung des Theaters und der Rhythmus des tanzenden Chores sind drei Formen der Aufteilung des Sinnlichen, welche die Art und Weise strukturieren, in der die Künste gleichzeitig als Künste und als Formen der Einschreibung des Sinns der Gemeinschaft wahrgenommen und gedacht werden können. Diese Formen legen fest, wie Werke oder künstlerische Aufführungen ‚Politik machen‘, unabhängig von den sie bestimmenden Intentionen, vom Platz der Künstler in-

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nerhalb der Gesellschaft und davon, wie die künstlerischen Formen die sozialen Strukturen und Bewegungen reflektieren. Als Madame Bovary und Lehrjahre des Gefühls erscheinen, werden diese Werke trotz der aristokratischen Geste und des politischen Konformismus Flauberts augenblicklich als „Demokratie in literarischer Form“ wahrgenommen. Flauberts Weigerung, der Literatur eine Botschaft mitzugeben, wird als Zeugnis für demokratische Gleichheit aufgefasst. Seine Gegner nennen ihn einen Demokraten, da er lieber beschreibt als belehrt. Diese Gleichheit der Gleichgültigkeit ist die Konsequenz einer dichterischen Parteinahme. Denn die Gleichheit aller Gegenstände verneint jegliche notwendige Beziehung zwischen einer bestimmten Form und einem bestimmten Inhalt. Doch diese Gleichgültigkeit ist letztlich nichts anderes als die Gleichheit all dessen, was auf einer gedruckten, allen zugänglichen Seite geschieht. Sie zerstört sämtliche Hierarchien der Repräsentation und etabliert die Gemeinschaft der Leser als illegitime Gemeinschaft, die durch die Zufälligkeit der Anordnung der Buchstaben vorgezeichnet wird. Es gibt demnach eine sinnliche Politizität, die immer schon mit den Hauptformen der ästhetischen Aufteilung – Theater, Buchseite, Chor – verbunden wurde. Solche ‚Politiken‘ folgen ihrer jeweiligen Eigenlogik und können in ganz verschiedenen Epochen und Kontexten in Erscheinung treten. Ein Beispiel wäre die Art und Weise, wie jene Paradigmen in dem Knoten aus Kunst und Politik Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gewirkt haben. Ich denke zum Beispiel an die Rolle, die die Buchseite in ihren verschiedenen Ausprägungen, die weit über die reine Materialität einer beschriebenen Seite hinausgehen, gespielt hat: Es gibt eine Demokratie des Romans, das

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heißt die gleichgültige Demokratie der Schrift, so wie sie vom Roman im Verhältnis zu seinem Publikum symbolisiert wird. Darüber hinaus gibt es die typographische und ikonographische Kultur, jene Verflechtung der Macht des Buchstabens mit der Macht des Bildes, die in der Renaissance so wichtig war und mit den Vignetten und anderen Textornamenten sowie den verschiedenen sonstigen Neuerungen der romantischen Typographie wiedererweckt worden ist. Dieses Modell verwischt die Regeln der entfernten Zuordnung von Sagbarem und Sichtbarem, wie sie der Logik der Repräsentation eigen ist. Und es verwischt die Aufteilung zwischen den Werken der reinen und den Ornamenten der angewandten Kunst. Daher hat dieses Modell eine so wichtige und im Allgemeinen unterschätzte Rolle beim Umsturz des Repräsentationsparadigmas und seiner politischen Konsequenzen gespielt. […] Der Diskurs der Moderne versteht die Revolution der abstrakten Malerei als die Entdeckung des ureigensten ‚Mediums‘ der Malerei: die zweidimensionale Oberfläche. […]. Jene so unzutreffend ‚abstrakt‘ genannte und vorgeblich auf ihr ureigenes Medium zurückgeführte Malerei ist in Wirklichkeit ein integraler Bestandteil der Gesamtvision eines neuen Menschen, der in neuen Bauten wohnt, umgeben von neuen Gegenständen. Die Flächigkeit der Malerei steht im Zusammenhang mit der Flachheit der Schriftseite, des Plakats und des Wandteppichs. Es ist die Flachheit der Schnittstelle. Die anti-repräsentative ‚Reinheit‘ dieser Malerei schreibt sich in den Kontext der Verknüpfung von reiner mit angewandter Kunst ein, was ihr automatisch eine politische Bedeutung verleiht. […] So kam es, dass das ‚Flache‘ der Oberfläche der gemalten Zeichen, jene von Platon verdammte Form egalitärer Auf-

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teilung des Sinnlichen, zugleich als das Prinzip der ‚formalen‘ Revolution der Kunst und als Prinzip der politischen Neuverteilung der gemeinsamen Erfahrung auf den Plan tritt. Entsprechend könnte man über die weiteren erwähnten Hauptformen wie Chor oder Theater nachdenken. Eine Geschichte der ästhetischen Politik in diesem Sinne muss sich damit beschäftigen, wie diese Hauptformen sich einander entgegensetzen oder vermischen. Ich denke zum Beispiel daran, wie das Paradigma der Oberfläche von Zeichen und Formen mit dem theatralen Paradigma der Präsenz entweder in Konflikt getreten oder mit ihm verschmolzen ist – und an die verschiedenen Formen, die dieses theatrale Paradigma selbst angenommen hat, von der symbolistischen Darstellung der kollektiven Legende bis hin zum Chor als Realisierung des neuen Menschen. Die Politik spielt sich hier in der

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Beziehung von Bühne und Saal, in der Bedeutung des Körpers des Schauspielers, im Spiel von Nähe und Distanz ab. […] Demnach erscheinen diese Formen einerseits als Träger von Figuren der Gemeinschaft, die sich unabhängig vom Kontext immer selbst gleich bleiben. Umgekehrt aber können sie mit gegensätzlichen politischen Paradigmen assoziiert werden. Nehmen wir das Beispiel der tragischen Bühne. Für Platon öffnet sie sowohl dem Syndrom der Demokratie als auch der Macht der Illusion Tür und Tor. Indem Aristoteles dagegen die mimesis auf einen eigenen Raum beschränkt und die Tragödie in eine Gattungslogik mit einbezieht, hat er, ohne es zu wollen, den politischen Charakter der tragischen Bühne definiert. […] Man denke auch an die widersprüchlichen Geschicke des choreographischen Modells. Neuere Studien erinnern an die Wirkung der von Laban

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im Kontext der Körperbefreiung entwickelten Bewegungsschrift, die später als Modell der großen Naziaufmärsche diente, bevor sie im rebellischen Kontext der Performance Art subversive Frische zurückgewann. Benjamins Erklärung einer fatalen Ästhetisierung der Politik im „Zeitalter der Massen“ vergisst vielleicht das sehr alte Band zwischen der Einmütigkeit der freien Bürger und der Verherrlichung der freien Körperbewegungen. In seiner dem Theater und dem geschriebenen Gesetz feindlichen Gesellschaft empfahl Platon, die Babys ohne Unterlass zu schaukeln. Ich habe diese drei Formen ausgewählt, weil Platon sie konzeptionell in den Vordergrund gestellt hatte und sie sich über die Zeit hinweg gehalten haben. Natürlich umfassen sie nicht die Gesamtheit der Spielarten, durch die Figuren der Gemeinschaft ästhetisch entworfen werden. Mir geht es aber vor allem darum, zu zeigen, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ästhetik und Politik auf dieser Ebene anzusiedeln ist, das heißt auf der Ebene der sinnlichen Aufteilung des Gemeinsamen der Gemeinschaft, ihrer

Formen der Sichtbarkeit und ihres Aufbaus.2 Erst auf dieser Basis lassen sich die politischen Eingriffe der Künstler/Innen denken, angefangen von den literarischen Formen der Entzifferung der Gesellschaft in der Romantik über die symbolistische Poetik des Traums oder die dadaistische oder konstruktivistische Abschaffung der Kunst bis hin zu den heutigen Verfahren von Performancekunst und Installation. Erst auf dieser Basis können etliche Phantasiegeschichten über die ‚Modernität‘ der Kunst und die müßigen Debatten über ihre Autonomie oder ihre Unterwerfung unter die Politik infrage gestellt werden. Die Künste leihen den Unternehmungen der Herrschaft oder der Emanzipation immer nur das, was sie ihnen leihen können, also das, was sie mit ihnen gemeinsam haben: Positionen und Bewegungen von Körpern, Funktionen des Worts, Verteilungen des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Die Autonomie, deren sich die Künste erfreuen, und die Subversion, die sie sich zuschreiben können, beruhen auf derselben Basis. […]

Auszug aus: Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books 2006, 25 –34 [Le Partage du sensible. Esthétique et politique, Paris: La Fabrique éditions 2000, 12 – 25]. Aus dem Französischen von Maria Muhle und Susanne Leeb, basierend auf einer Übersetzung von Jürgen Link.3

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Anmerkungen 1

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„Manières de faire“ bedeutet in der genauen Übersetzung „die Weisen, etwas zu tun“, und ist hier durchgehend mit Tätigkeitsformen übersetzt. Ebenso wurde für „activité“ der Begriff Tätigkeiten gewählt (Anm. d. Übers.). Unter „Gemeinschaft des Sinnlichen“ verstehe ich keine Kollektivität, die auf einem gemeinsamen Gefühl beruht. Gemeint ist ein Rahmen der Sichtbarkeit und Intelligibilität, der Dinge oder Praktiken unter einer Bedeutung vereint und so einen bestimmten Sinn für Gemeinschaft entwirft. Eine Gemeinschaft des Sinnlichen entsteht, wenn Raum und Zeit auf eine bestimmte Weise eingeteilt und dadurch Praktiken, Formen der Sichtbarkeit und Verstehensmuster miteinander verknüpft werden. Dieses Ausschneiden und Verknüpfen nenne ich eine Aufteilung des Sinnlichen. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des b_books-Verlages.

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Während der Migrant gesellschaftlich ausgeschlossen ist, geht es in den Performances wie No Exit, Caution etc. darum, Raum zu beanspruchen und zu erobern. In den Arbeiten des AtlasProgramms wird die Opferrolle verlassen und mit einem Augenzwinkern eine Ansprache an die ganze Welt formuliert. Shahram Entekhabi

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SHAHRAM ENTEKHABI ATLAS PROGRAM Für das Ausstellungsprojekt mit dem Titel Atlas Program produzierte der iranisch-deutsche Künstler Shahram Entekhabi mehrere Aquarelle, die im Hörsaal 1 der KU Linz zu betrachten waren. Als Ausgangspunkt und in gewisser Hinsicht auch theoretische Grundlage dafür fungierte der bis heute einflussreiche Roman Atlas Shrugged1 (1957) der russisch-US-amerikanischen Autorin Ayn Rand. In dem über 1000-seitigen Werk geht es um die Geschichte von Dagny Taggart, Erbin einer transkontinentalen Eisenbahnlinie, die den wirtschaftlichen Niedergang der USA verhindern möchte, der aus dem mysteriösen Verschwinden von Großindustriellen resultiert. Der Buchtitel bezieht sich auf den Titanen Atlas aus der griechischen Mythologie. Rands zentrale Fragestellung lautet, was geschehen würde, wenn jene Menschen, die eine Gesellschaft „tragen“, auf einmal nicht mehr präsent sind. Was Shahram Entekhabi an dem Roman insbesondere interessierte, war die Philosophie des „rationalen Eigennutzes“ bzw. die Theorie und Weltanschauung des Objektivismus, den die Autorin in ihrem Buch entwickelt: Für Rand ist demnach Rationalität das Maß aller Dinge, Eigeninitiative und Egoismus gelten als Tugenden und ein sogenannter Laissez-faire-Kapitalismus sei das einzig richtige Wirtschaftssystem. „Wertvorstellungen“ wie diese entsprachen vor allem

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Shahram Entekhabi, Globe, Videostill, 2013

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den ideologisch-politischen Agenden der republikanischen Partei der USA, für die der Roman neben der Bibel als eine der Gründungsschriften gewertet wird.2 Detailgetreue und filigrane Zeichnungen, die anschließend koloriert wurden, fungieren als Grundlagen für Entekhabis surreale Bildfindungen. Einige Blätter der Serie werden von ausgewählten Textpassagen aus Rands Buch begleitet. Hauptprotagonist in allen Arbeiten der Serie ist der Künstler selbst. Weil abgesehen von perspektivischen Verkürzungen keine Räumlichkeit definiert wird, entsteht der Eindruck, als würden sich die Bildmotive in einem Schwebezustand befinden. Gleichzeitig scheinen sie aber doch in einer nicht sichtbaren Raumstruktur verankert zu sein. Die grafische Exaktheit, der Fokus auf die eigene Person sowie die scheinbare Raumlosigkeit zählen zu den grundlegenden Merkmalen von Entekhabis Arbeiten auf Papier. Ein Aquarell mit dem Titel Thinking zeigt den eigenwillig bekleideten Künstler mit Zylinder und einer Schere in der Hand, der durch einen leeren Türrahmen eine Eule betrachtet, die auf einer Stuhllehne sitzt. Ihr symbolischer Gehalt in der griechischen Mythologie, wo sie für Klugheit und Weisheit steht, verbindet sie mit einem Auszug von Rands objektivistischen Grundthesen unter der Darstellung: „Think­ ing is a man‘s only basic virtue, from which all the others proceed.“ Auf einem anderen Blatt sieht man Entekhabi in doppelter Ausführung, wie er sich von sich selbst die Schuhe putzen lässt und damit vielleicht auf den von Ayn Rand proklamierten rationalen Egoismus anspielt. Der graue Anzug und der Reisekoffer sind Motive, die sich wie ein roter Faden durch Entekhabis Arbeiten in unterschiedlichen Medien ziehen und auf seine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Migration und Konstruktionen sowie Zuschreibungen von kultureller Identität/Alterität verweisen. Eine weitere Arbeit mit dem Titel Happiness, die Entekhabi lachend mit einer blonden Dame in einem türkisenen Cabrio zeigt, scheint das neoliberalistische Lebensgefühl in einer kapitalorientierten Gesellschaft mehr oder weniger zu versinnbildlichen. Die Aquarelle der Serie sind jedoch nicht als bloße Illustrationen von Rands Philosophie des Objektivismus zu verstehen, sondern vielmehr als ein ironisierender, künstlerischer Kommentar mit durchaus kritischem Potenzial. In der Ausstellung zu sehen waren außerdem mehrere Videoarbeiten und Videoperformances, in denen der Künstler architektonische Interventionen (Parasite Architecture) vornimmt oder sich in Form von Rollenspiel und Maskerade als Repräsentant von unterschiedlichen gesellschaftlichen Randgruppen mit Migrationshintergrund inszeniert. Stets rekurriert Entekhabi dabei auf das hierarchisierte Regelwerk des urbanen Raums, den er von dem weißen Mittelklasse-Mann und dessen Aktivitäten dominiert betrachtet. In Videoperformances wie Mehmet oder Miguel schlüpft er in die stereotypen Figuren eines kurdischen Selbstmordattentäters und eines

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SHAHRAM ENTEKHABI · Atlas Program  |

Sharam Entekhabi, Thinking. Aus der Serie Atlas Shrugged, 2013

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Sharam Entekhabi, Happiness. Aus der Serie Atlas Shrugged, 2013

bewaffneten Guerillakämpfers. Aufgrund der starken Überzeichnung und humoristischen Komponente gelingt es ihm, abwertende und klischeebehaftete Fremdbilder vom männlichen Migranten zu dekonstruieren und alternative Praktiken und Systeme der Sichtbarkeit zu generieren.3 In seinem Schwarz-Weiß-Video Globe reinszeniert Entekhabi Charlie Chaplins berühmte Szene Dance to world domination aus dem satirischen Film Der Große Diktator (1940). In einem räumlichen Setting, das an einen White Cube erinnert, performt der Künstler elegante sowie theatralische, an den klassischen Balletttanz

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Shahram Entekhabi, Globe, Videostills, 2013

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SHAHRAM ENTEKHABI · Atlas Program  |

Shahram Entekhabi, My Mother – The History of Iran, Videostill, 2015

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Shahram Entekhabi, Instigator, Videostill, 2020–21

Shahram Entekhabi, Mehmet, Videostill, 2005; Miguel, Videostill, 2005  

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SHAHRAM ENTEKHABI · Atlas Program  |

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angelehnte Bewegungen, wirft den Globus in Form eines blauen Ballons in die Luft und fängt ihn wieder auf. Gegen Ende der Videoarbeit verpasst er der Weltkugel mit einer resignativ-entnervten Miene einen Fußtritt und verlässt den Schauplatz. Die Arbeit ist als parodistisches Statement zu hierarchischen Strukturen, ungleichen Machtverhältnissen und Ausschlusspraktiken in globalen und postkolonialen Kontexten interpretierbar. Seit einigen Jahren ist der Künstler verstärkt als Kurator und Lehrbeauftragter an unterschiedlichen Universitäten tätig und produzierte mehrere filmische Werke. Im dokumentarischen Videoessay My Mother – The History of Iran (2015), der auf Interviews mit seiner Mutter Agdas Al Moluk Dabestani basiert, verknüpft er zwei narrative Stränge: Eine persönlich-familiäre Erzählung und die Geschichte Irans der letzten 80 Jahre. Mit der Biographie seiner Mutter und seiner eigenen Familiengeschichte bietet Entekhabi eine alternative Erzählung im Vergleich zu jener der offiziellen Historiographie an und verweist auf die Perspektivität der Geschichtsbetrachtung, die stets subjektiv gefärbt ist. Eine seiner aktuellen Videoarbeiten ist Instigator (2020  –21), in der er sich in Kooperation mit der Künstlerin Ghazaleh Seidabadi mit dem Thema Frauenrechte und Frauenbewegungen in Iran auseinandersetzt. Seidabadi, die als Performerin agiert, repräsentiert eine weibliche Figur, die sich über regionale Ordnungssysteme hinwegsetzt und damit auf die Spannungsverhältnisse und Konfliktsituationen zwischen traditionellen und progressiven gesellschaftlichen Modellen verweist. Aktuell arbeitet Entekhabi an mehreren Ausstellungsprojekten und edukativen Programmen im Rahmen der 2015 gemeinsam mit Asieh Salimian gegründeten Plattform Factory TT.4

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Julia Allerstorfer

Anmerkungen 1

Vgl. Rand, Ayn, Atlas Shrugged, New York 1957. In den deutschsprachigen Ausgaben wurde der Titel mit Atlas wirft die Welt ab (Baden-Baden 1959 und München 1989), Wer ist John Galt? (Hamburg 1997), Der Streik (München 2012) oder zuletzt mit Der freie Mensch (Müncheberg 2021) übersetzt. 2 Vgl. Ayn Rand. Egoismus als Tugend, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, https:// www.cicero.de/wirtschaft/egoismus-als-tugend/42096, Stephan, Felix, Ayn Rand. Puppenhausprosa der Kapitalisten, in: Zeit Online (17.08.2012), https://www. zeit.de/kultur/literatur/2012-08/ayn-rand-der-streik/komplettansicht und https:// de.wikipedia.org/wiki/Atlas_wirft_die_Welt_ab#cite_note-2 [10.01.2022]. 3 Vgl. dazu Kap. 5 in folgender Publikation: Allerstorfer, Julia, Visuelle Identitäten. Künstlerische Selbstinszenierungen in der zeitgenössischen iranischen Videokunst, Bielefeld 2018, 219 –274. 4 Vgl. http://factorytt.com sowie https://www.instagram.com/factory_tt/ [19.02. 2022].

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SPRECHEN ÜBER KUNST EINE ANNÄHERUNG AUS SICHT DER KUNSTVERMITTLUNG

Sandra Kratochwill

„Kunstwerk und Betrachter kommen unter Bedingungen zusammen: sie sind keine klinisch reinen und isolierten Einheiten. Und so wie der Betrachter sich dem Werk nähert, so begegnet ihm das Kunstwerk: antwortend und seine Tätigkeit anerkennend.“1 Kann ein Kunstwerk sprechen, oder sogar Fragen beantworten? Eine Problemstellung, die mich seit nunmehr über zehn Jahren beschäftigt und mir auch in meiner beruflichen Tätigkeit als Kunstvermittlerin immer wieder begegnet. Als Möglichkeit einer Antwort möchte ich den rezeptionsästhetischen Zugang in der personellen Kunstvermittlung vorschlagen und hier den Theoretiker und Kunsthistoriker Wolfgang Kemp als Grundlage einer Auseinandersetzung mit der Fragestellung „Was sagt die Kunst?“ anführen. Dieser fasst

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sehr prägnant zusammen, dass Kunstwerke „auf aktive Ergänzungen durch den Betrachter angelegt sind (…), dass also ein Dialog der Partner stattfindet.“2 Sich einem Kunstwerk zu nähern, bedeutet, es zu sehen. Gerade das aktive Sehen ist ein Zugang, der in der personellen Kunstvermittlung einen hohen Stellenwert hat. Unter aktivierendem Sehen kann ein abtastendes und eigenständiges Sehen verstanden werden. Ein Sehen, das Erkenntnisse liefert, zum Nachdenken anregt und Zeit bedarf. Dieser Prozess ist meines Erachtens der elementare Auftrag einer zeitgemäßen personellen Kunstvermittlung. Der Vermittler/Die Vermittlerin agiert hier eher als Moderator/in denn als erklärende und wissende Instanz.

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Kunstgespräch mit Shahram Entekhabi, Wintersemester 2013/14

Eine von mir erprobte und sehr empfehlenswerte Methode ist die (neo-) sokratische Gesprächsmethode von kunstunddialog3. Hier nimmt der Moderator/ die Moderatorin die Funktion ein, den Teilnehmer/innen eine urteilsfreie und voraussetzungslose Gesprächssituation zu ermöglichen. Im eigenen Sehen und

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Verbalisieren nähert sich der Betrachter/ die Betrachterin einem Kunstwerk.4 Im engeren Sinne ist es eine Haltung, die der Kunstvermittler/die Kunstvermittlerin einnimmt: Offenheit, Empathie und radikaler Respekt sind die Grundpfeiler dieses Zugangs.

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SANDRA KRATOCHWILL · Sprechen über Kunst  |

Ziel ist es, das selbstständige Nachdenken über Kunst zu fördern: „Der Besucher will verstehen und erkennen, um was es sich dabei handelt. Bei dem eigentlichen Entschlüsseln erlebt der Betrachter ein Gefühl der Selbstwirksamkeit und Kompetenzerweiterung.“5 Die (neo-) sokratische Gesprächsmethode ist wesentlich für die Betrachter/innen-Position, die laut Wolfgang Kemp im Werk immer angelegt ist. So wie sich der Betrachter/die Betrachterin das Kunstwerk – im vorgestellten Kunstvermittlungssetting dialogisch – erschließt, so spricht das Werk zu ihm/ihr, so wird es eine erkenntnisstiftende Instanz. Die Frage nach den Mitteln, wie Kunst mit dem Betrachter/der Betrachterin in Kontakt tritt, wird somit verhandelt. Im Falle der künstlerischen Arbeiten No Exit und Caution von Shahram Entekhabi sticht schnell das Material des Absperrbandes ins Auge. Eine Fülle von rotweißen Bändern wird auf öffentlichen Plätzen oder in Ausstellungsräumen verwendet, um den Betrachter/innen entweder einen Zugang zu einem Gebäude zu erschweren oder um Ausstellungsbereiche abzugrenzen. Betrachter/innen gehen somit aktiv in Auseinandersetzung mit seinen Kunstwerken: Sie müssen entweder auf unorthodoxe Weise die Barrieren überwinden oder umkehren und unverrichteter Dinge die Plätze verlassen. Der Betrachter/die Betrachterin wird als aktives Individuum und Beteiligte/r der Arbeit des Künstlers gedacht. Diese Aktivität und das körperliche Agieren werden auch in Video und Fotografien eingefangen und als dokumentarische Objekte in Ausstellungskontexten präsentiert. Nach dieser ersten Sichtung der Kunstwerke von Shahram Entekhabi und

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einem auch möglichen körperlichen Nachempfinden der Situation sind noch Fragen nach den sozialgeschichtlichen und ästhetischen Aussagen, die getätigt werden, offen.6 Dieser größere Kontext, der nicht immer im Werk ersichtlich ist, kann in der personellen Kunstvermittlung gegeben werden.7 Was waren die Beweggründe für die Beschäftigung des Künstlers/der Künstlerin mit dieser Thematik? Weshalb wurde das gewählte Gestaltungsmittel verwendet? Welche Aussagen können damit verbunden werden? Der Künstler verwendet das zuvor erwähnte Absperrband als Gestaltung von „parasitären Architekturen“.8 Mit diesem Begriff beschreibt er ephemere Erweiterungen urbaner Architektur. Er verwendet dieses Material, da es zum einen für jeden Betrachter/jede Betrachterin sofort als Absperrband – als Zeichen des Aussperrens bzw. einer Barriere – erkennbar ist. Für ihn ist es ein Symbol der Inund Exklusion. Das ist exakt das Thema, das ihn seit Jahren beschäftigt: Migrationsgeschichte in kulturellen und künstlerischen Bereichen zu verhandeln.

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Er selbst äußert sich dazu folgendermaßen: „Während der Migrant gesellschaftlich ausgeschlossen ist, geht es in den Performances wie No Exit, Caution etc. darum, Raum zu beanspruchen und zu erobern.“9 Nach Erschließen der beiden Rezeptionsebenen Betrachter/innen-Perspektive und Künstler/innen-Perspektive ist nach Kemp ein Moment noch offen: die Unbestimmtheitsstelle.10 Der Moment, der zu Irritationen oder Unstimmigkeiten führt. Der Moment, der ein Kunstwerk ausgehend vom Betrachter/von der Betrachterin vollenden lässt und immer wieder zu neuen, nicht eindeutig beantwortbaren Fra-

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Kunstgespräch mit Hans Puchhammer, Wintersemester 2018/19

Kunstgespräch mit Karina Nimmerfall, Wintersemester 2012/13

Kunstgespräch mit Julia Croton, Wintersemester 2014/15

Kunstgespräch mit Irena Lagator Pejovic´, Wintersemester 2019/20

Workshop mit Monika Droz˙yn´ska, Sommersemester 2021

Kunstgespräch mit Parastou Forouhar, Wintersemester 2020/21

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SANDRA KRATOCHWILL · Sprechen über Kunst  |

gestellungen führt. Der eine immerwährende Beziehung zwischen Betrachter/in und Kunstwerk ermöglicht. Im Falle von Sharam Entekhabi wäre es die Frage nach den eigenen Barrieren und Grenzen, die in unterschiedlichen Kontexten täglich erlebt werde. Wo muss ich mich einer Hürde stellen, diese vielleicht sogar umgehen, um an das eigentliche Ziel zu gelangen? Das Absperrband bekommt durch die Biografie des Künstlers eine zusätzliche, aktuell stark verhandelte Komponente:

Wann bin ich Teil einer Gemeinschaft und wo werde ich ausgeschlossen? Wie wird in diesem künstlerischen Konzept mit Migrations-Biografien umgegangen? Zugleich fungiert das Zeichen der Grenze auch in einem allgemeingültigen Kontext. Wenn ich es auf mich – die Betrachterin – richte, stellen sich Fragen des eigenen Ausgeschlossen-Seins. Wo tritt dieses Gefühl auf? Wie verhandle ich es oder auch nicht?11 Und nun: Was sagt die Kunst?

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Anmerkungen 1

Kemp, Wolfgang, Kunstwerk und Betrachter. Der rezeptionsästhetische Ansatz, in: Belting, Hans u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, 6. Auflage, Berlin 2003, 248  –265, hier 248. 2 Kemp, Kunstwerk und Betrachter, 249. 3 Antje Kathrin Lielich-Wolf leitet das Institut für Kunst- und Kulturvermittlung kunstunddialog. Dieses Fort- und Weiterbildungsinstitut beschäftigt sich mit kommunikativen und didaktischen Kompetenzen der Kunstvermittlung. Vgl. https://www.kunstunddialog.de/ [18.4.2022]. 4 Die einzelnen ausführlichen Regeln für ein solches Gesprächssetting finden sich in den Kapiteln „(Neo-) Sokratische Gesprächsmethode“ (S. 59 –  63) und „Die Prinzipien einer dialogischen Vermittlung“ (S. 73  – 76), Lielich-Wolf, Antje Katrin, Multi-voices. Die Chance des Dialogs. Ein Handbuch zur dialogischen Kunstund Kulturvermittlung, Norderstedt 2017. 5 Lielich-Wolf, Multi-voices, 41. 6 Vgl. Kemp, Kunstwerk und Betrachter, 250. 7 Gerade hier nimmt die personelle Vermittlung im musealen Kontext leider oft eine Kompensations-Rolle ein. Diese Fragestellungen werden sehr selten in Ausstellungen kuratorisch zur Verfügung gestellt bzw. vermittelt. Vgl. hierzu auch die Streitschrift Tyradellis, Daniel, Müde Museen, Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern können, Hamburg 2014. 8 Vgl. hierzu https://www.entekhabi.org/ [18.04.2022]. 9 https://ku-linz.at/kunstwissenschaft/veranstaltungen/ausstellungen/detail/im-vorbeigehen-ii-5-shahram-entekhabi-atlas-program [18.04.2022]. 10 Vgl. Kemp, Kunstwerk und Betrachter, 254. 11 Aus meiner Sicht ist diese Unbestimmtheitsstelle der Moment, der in zukünftiger Kunstvermittlungstätigkeit an Bedeutung gewinnen muss. Die personelle Kunstvermittlung muss den Weg von einer Kompensations-Vermittlung zu einer demokratischen und dialogisch-verhandelnden Vermittlung gehen. Aktuell werden zahlreiche neue Formate in nationalen und internationalen Museen und Kultureinrichtungen versucht. Vom Speed Date (Volkskundemuseum Wien) über Yoga Workshops (MOMA New York) kann vieles ausprobiert und erlebt werden. Die Kunstvermittlung übernimmt hier nicht mehr eine „erklärende“ Funktion, sondern eine erweiternde und vertiefende Aufgabe.

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Meine Gipsinstallationen sind farblose Reliefe mit bitter-heiterem Nachgeschmack bzw. ausschwärmenden Formen. In einigen Fällen sind es fest verankerte Worte. Die Installationen und Performances finden meist im urbanen Kontext statt und verweben die Passant:innen beiläufig in den Fortgang. Meine Skulpturen und Bilderwelten sind mitunter ausgefranst, poppig, bisweilen ölig oder eben beunruhigend süß. Karoline Rudolf

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KAROLINE RUDOLF EINLEUCHTEND „Einleuchtend ist nicht alles, was man im Studium an einer Universität erfährt und lernt – und das Meiste schon gar nicht unmittelbar. Aber manchmal geht dann doch ein Licht auf im universitären Alltag … im Sommersemester 2014 jedenfalls gingen an der KatholischTheologischen Privatuniversität Linz neue Lichter auf und es leuchtet anders ein!“1 Mit diesen treffenden Worten skizzierte Reinhard Kren die Ausstellung einleuchtend, im Zuge derer Karoline Rudolf mehrere Lichtinstallationen an verschiedenen Orten der Universität platzierte. Die in Graz geborene Künstlerin, die an der Kunstuniversität Linz Bildhauerei und Experimentelle Gestaltung studierte, entwickelte dafür ein elaboriertes Konzept. Basierend auf mehreren Besuchen und Gesprächen mit Mitarbeiter*innen und Studierenden brachte Rudolf mit Unterstützung des Technikers Johannes Ramsl an vier Stationen des Gebäudes Lichtinstallationen an, die sowohl die jeweiligen Räume als auch bestimmte Personengruppen miteinander in Beziehung setzten und gewissermaßen auch interagieren ließen. An der Decke im zentralen Eingangsbereich der Universität hing eine Papierlampe, die von der Künstlerin Verena Katzer in Form des bekannten Finger- und Faltspiels Himmel oder Hölle gestaltet wurde und mit einem Gardero-

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Karoline Rudolf / Verena Katzer, Himmel und Hölle, KU Linz, Sommersemester 2014

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benkasten einer Vertreterin der Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) im Untergeschoß gekoppelt war. Sobald diese den Schrank benützte, begann die Lampe oben zu leuchten und signalisierte auf diese Weise die Präsenz der ÖH. Eine weitere Station befand sich im Hörsaal 1 im Erdgeschoß: Sobald jemand vor das Pult des Lehrpersonals trat, wurde diese Person von einem Bewegungsmelder registriert und ein kleines Nest am Kastanienbaum im Garten begann in unterschiedlichen Farben zu leuchten. Dieser insbesondere zur Abendzeit stimmungsvolle Lichteffekt konnte von den Studierenden und Lehrenden durch die Fenster beobachtet werden. Und auch in der Universitätsbibliothek realisierte Karoline Rudolf eine Lichtinstallation. In einer der mietbaren Studienkojen war eine Schreibtischlampe mit einem Bewegungsmelder im Postzimmer verbunden: Die Glühbirne begann zu blinken, sobald jemand der Mitarbeiter*innen des Hauses den Raum mit den Postfächern aufsperrte. Die letzte Station im Hörsaal 5 im Obergeschoß war jene, die wohl am meisten irritierte. An der Decke war ein Mikrofon angebracht, das sensibel auf akustische Signale wie etwa Klatschen, Husten oder andere Geräusche reagierte und ab einem bestimmten Lautstärkepegel die kreisförmigen Lampen, die entlang der Wände angebracht sind, zu einem SOS-förmigen Blinken und einem klickenden Geräusch veranlasste. Im Zuge von diversen Lehrveranstaltungen oder Sitzungen wurde zuweilen ein technisches Gebrechen vermutet und die Haustechnik kontaktiert. Oder aber man betrachtete die ungewöhnliche Situation als humorvolle Unterbrechung angestrengter Diskussionen. Eine im Foyer platzierte Grafik mit einer abstrakten Darstellung der miteinander in Verbindung gebrachten Orte diente der Orientierung über die unterschiedlichen Stationen im Haus. Als künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum der Universität verknüpften die Lichtinstallationen spezifische Räume und Menschen miteinander und forderten sowohl zur Interaktion als auch Reflexion über kommunikative Prozesse auf. Die Reaktionen von Studierenden und dem Lehrpersonal reichten von Verwunderung und Neugierde bis hin zur Erschrockenheit und Irritation. Mit der Frage nach Möglichkeiten der Zeichensetzungen durch künstlerische Interventionen stand hier ein Thema im Zentrum, das bis heute einen von Monika Leisch-Kiesl geleiteten und überfakultär angelegten Forschungsschwerpunkte bildet.2 Unterschiedliche Interventionsformen im öffentlichen Raum zählen zu den zentralen Momenten in Karoline Rudolfs künstlerischer Praxis. Ihre Performances und performativen Installationen finden häufig im urbanen Kontext statt und werden durch Fotografie, Video, Skizzen und Tagebucheinträge dokumentiert. Ein wichtiger Teil vieler Projekte ist die intensive Phase der Beobachtung und Analyse der spezifisch lokalen Gegebenheiten und sozialen Situation, wobei die Künstlerin insbesondere an kommunikativen Strukturen, Interaktionsspielräumen und Reaktionen des Publikums interessiert

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Karoline Rudolf, Lichtinstallation im Gartenareal der Universität, Sommersemester 2014

Karoline Rudolf, Entwurf für die Einladungskarte zu Im Vorbeigehen II/06, Sommersemester 2014 Zentrale Lichtsteuerung der Universität in der Portiersloge der KU Linz

ist. So organisierte sie in Projekten wie I lost my colt (Texas, 2013) und I lost myself (Tel Aviv, 2011) Flugzettelaktionen oder platzierte 32 selbstgenähte Polster mit I lost my pillow-Etiketten inklusive Mailadresse und Facebook-Seite auf diversen Parkbänken in Tel Aviv. Rudolfs Interventionen sind als minimale, sehr subtile und kontextsensible Eingriffe in bestehende Zusammenhänge zu verstehen und selten laut, schreiend oder plakativ. Häufig werden ihre Aktionen von einer

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Karoline Rudolf, I lost my colt, Texas 2013

feinen, humorvollen Komponente oder einem ironisch-satirischen Unterton begleitet. So etwa in der Performance I lost my colt (but anyway I try to lose control), in der sie 2011 mit Rollschuhen, Flagge und Flugzettel in Texas unterwegs war und auf der Suche nach Tipps zum alternativen Kontrollverlust war. Viele Arbeiten der Künstlerin lassen sich als performativ beschreiben, da sie ihren eigenen Körper als Medium einsetzt und als Performerin agiert. Im sprachwissenschaftlichen Zusammenhang rekurriert „performativ“ auf Sprechakte oder Sprechhandlungen, die sich in Rudolfs Kunstprojekten durch den Einsatz von Plakaten, Flugzetteln, Körper, Mimik oder Gestik äußern,

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KAROLINE RUDOLF · einleuchtend  |

103  | Karoline Rudolf, I love Ibiza, 2019

Karoline Rudolf, ein Versuch dir zu gefallen, 2021

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Karoline Rudolf, BANG!, 2019

Karoline Rudolf, the ship song, Ausschnitt, 2015

Karoline Rudolf, Madonna and me, 2019  

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KAROLINE RUDOLF · einleuchtend  |

Karoline Rudolf, a m o k, Ausschnitt, 2016

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die als materiell-mediale Basis für den Appell an das In-Kontakt- und In-Interkation-Treten mit einem ein Publikum fungieren. „Ausprobieren“ ist eine der Grunddevisen Karoline Rudolfs.3 2011 hatte die Künstlerin im Rahmen einer Ausstellung in Salzburg erstmals mit Gipsabdrücken gearbeitet. Und auch während ihres KunstraumSteiermark-Stipendiums 2015/16, als sie sich mit zeitgenössischem Stuck aus Gips beschäftigte, spielte dieses Material eine zentrale Rolle. Seitdem erkundet sie Gips und seine unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten in Form von Wandinstallationen. Ein sehr schönes Beispiel dafür ist das Projekt mein Schwarm, in der sie einmal 400 und ein anderes Mal, in der Arbeit umfischt von einem Schwarm, über 1000 Gipsstücke an den Wänden anbrachte und die Formen dabei von ortsspezifischen Gegebenheiten wie einem Heizungsgitter oder einem Deckengemälde ableitet. In der Arbeit >a m o k