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German Pages 694 [696] Year 2011
Hermann Deuser Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee?
Hermann Deuser
Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee? Kierkegaards Existenzdenken und die Inspiration des Pragmatismus Gesammelte Aufsätze zur Theologie und Religionsphilosophie
Herausgegeben von Niels Jørgen Cappelørn und Markus Kleinert
Für Hermann Deuser zum 65. Geburtstag
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022807-6 e-ISBN 978-3-11-022808-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Deuser, Hermann, 1946Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee? : Kierkegaards Existenzdenken und die Inspiration des Pragmatismus : gesammelte Aufsätze zur Theologie und Religionsphilosophie / Hermann Deuser. p. cm. German and English. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-022807-6 (hardcover : alk. paper) 1. Kierkegaard, Søren, 1813-1855. 2. Christianity - Philosophy. 3. Pragmatism. I. Title. B4378.C5D48 2011 1981.9-dc22 2010044917
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
A. Das Existenzdenken Kierkegaards 1. Kierkegaards Spätwerk als dialektische Theologie . . . . . . . . . .
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2. Bekenntnis und Handlung – nach Søren Kierkegaard . . . . . . . 25 3. Die Frage nach dem Glück in Kierkegaards Stadienlehre (Ästhetik, Ethik, Religion) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. ,In kraft des Absurden‘. Die Verborgenheit des Glaubens bei Søren Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5. Einbung im Christentum: Kritische Anmerkungen zu Kierkegaards Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 6. Kierkegaards Verteidigung der Kontingenz: „Dass etwas Inkommensurables in einem Menschenleben ist“ . . . . . . . . . . 90 7. Die Taten der Liebe: Kierkegaards wirkliche Ethik . . . . . . . . . . . 106 8. Religious Dialectics and Christology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 9. Die Inkommensurabilität des Kontingenten. Zwei Reden Kierkegaards: Über Besorgnis und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . 149 10. „Philosophie und Christentum lassen sich doch niemals vereinen.“ Kierkegaards theologische Ambivalenzen im Journal AA / BB (1835 – 37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 11. Kierkegaard and Luther: Kierkegaard’s One Thesis . . . . . . . . . 199 12. Existenz-Mitteilung – nicht unmittelbares Selbstbewusstsein: Kierkegaards Kritik transzendentaler Religionsbegründung . . 209 13. Søren Kierkegaard als Religionsphilosoph der Moderne . . . . . 229 14. Christologische Motive in den Christlichen Reden (dritte und vierte Abteilung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
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Inhalt
15. “…and moreover, lo, here is a ram.” Genesis 22 in ReligiousPhilosophical Metacriticism: Comments on S. Kierkegaard’s Fear and Trembling and J. Derrida’s Donner la mort . . . . . . . . . . 271
B. Die Inspiration des Pragmatismus 1. Glaubenserfahrung und Anthropologie. Röm 7, 14 – 25 und Luthers These: totum genus humanum carnem esse . . . . . 293 2. Gottes Handeln – Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung . 322 3. Mythos und Kritik. Theologische Aufklärung in Thomas Manns Josephsroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 4. Religion, Kontingenz und christlicher Glaube. Zu Niklas Luhmanns Funktion der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . 380 5. Christliche Religion – Zeichen unter Zeichen? . . . . . . . . . . . 410 6. Gotteserfahrung und Existenzkategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 7. Glaube und Werke. Zur Begründung theologischer Ethik . . . 438 8. Zeichenkonzeptionen in der Religion vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 9. William James: Pragmatism and Religion. Die achte Vorlesung über Pragmatismus von 1906 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 10. Instinkt und Symbol. Semiotische Phänomenologie der Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 11. Evolutionäre Metaphysik als Theorie des menschlichen Selbst. Beiträge zum Begriff religiöser Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . 549 12. Trinität: Relationenlogik und Geistesgegenwart . . . . . . . . . . . 588 13. Gottes Poesie oder Anschauung des Unbedingten? Semiotische Religionstheorie bei C. S. Peirce und P. Tillich . . . . . . . . . . . 604 14. Religion und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 15. Unmittelbares Selbstbewusstsein – semiotische und pragmatistische Überlegungen zu einem (fast) unzugänglichen Begriff . . . . . . . 652
Inhalt
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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 Nachweise der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675
Vorwort der Herausgeber Diese Sammlung von Hermann Deusers Aufsätzen zur Theologie und Religionsphilosophie erscheint anlässlich seines 65. Geburtstags. Wenn es auch vermessen wäre, ein Buch, zu dem der Jubilar so viel und die Gratulanten so wenig beigetragen haben, als Geburtstagsgeschenk auszugeben, so möchten die Herausgeber damit doch ihre Wertschätzung der außerordentlichen wissenschaftlichen Arbeit von Hermann Deuser und ihre Dankbarkeit für seine Kollegialität und Freundschaft zum Ausdruck bringen. Das mag hier in Bezug auf den Anlass der Veröffentlichung genügen, verleitet die Betrachtung des Anlasses doch leicht dazu, die Hauptsache zu vernachlässigen – eine Gefahr, die Kierkegaard in der Figur eines Rezensenten, der beim Nachdenken über das rätselhafte, zugleich zufällig und notwendig wirkende Wesen des Anlasses beinahe seine Rezension vergisst, so hinreißend vor Augen gestellt hat. Die in diesen Texten ausgebreitete Religionstheorie erwächst aus der konzentrierten Auseinandersetzung mit zwei geistesgeschichtlichen Strömungen: dem Existenzdenken Kierkegaards und der Philosophie des Pragmatismus, insbesondere dessen Ausformung durch Charles S. Peirce. Beide verbindet ja der Versuch, die Tatsächlichkeit des menschlichen Daseins anzuerkennen und mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit zu konfrontieren. Eine eindrucksvolle Formulierung dieser Aufgabe bietet die Aufzeichnung des jungen Kierkegaard, der das vorliegende Buch seinen Titel verdankt. In jenem Journaleintrag, der durch die Forderung einer „Wahrheit fr mich“ berühmt geworden ist (und der schon das für Kierkegaard charakteristische Schillern zwischen Bekenntnis und Inszenierung aufweist), heißt es: „Das war es, was mir fehlte, ein vollkommen menschliches Leben zu führen und nicht bloß eins der Erkenntnis, so dass ich dadurch dazu komme, meine Gedanken-Entwicklungen nicht auf das zu gründen – ja, auf etwas, das man objektiv nennt, – etwas, das doch auf jeden Fall nicht mein eigen ist, sondern auf etwas, das mit der tiefsten Wurzel meiner Existenz zusammenhängt, wodurch ich sozusagen mit dem Göttlichen verwachsen bin, daran festhänge, wenn auch die ganze Welt zusammen-
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Vorwort der Herausgeber
bricht.“ Und in einer Anmerkung zu dieser Passage: „Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee?“1 Die Beschäftigung mit den Traditionen des Existenzdenkens und des Pragmatismus, die das Verbindende wie das Trennende herausarbeitet, soll eine allgemeine und zeitgemäße Begründung von Theologie und Religionsphilosophie ermöglichen, die ihren Niederschlag in Hermann Deusers 2009 erschienener Religionsphilosophie gefunden hat.2 Die hier wiedergegebenen Aufsätze lassen sich deshalb auch als Hintergrund, Vorbereitung und Vertiefung der summarischen Religionsphilosophie verstehen. Die Aufsätze wurden in diesem Band den beiden entscheidenden Einflusssphären des Existenzdenkens und des Pragmatismus zugeordnet, doch besteht ein Reiz ihrer Zusammenstellung gerade darin, Überschneidungen und Korrespondenzen zwischen den verschiedenen Denkansätzen und Anwendungsmöglichkeiten hervortreten zu lassen. Das Themenspektrum reicht dabei von Untersuchungen, die unmittelbar auf die Kierkegaard-Forschung oder eine pragmatistische Religionsphilosophie bezogen sind, über Detailstudien zu systematisch-theologischen oder religionsphilosophischen Texten, Positionen und Methoden bis zur Durchdringung gegenwärtiger Debattenlagen (als Schlagworte seien nur Kierkegaards Christologie, Vergleichspunkte zu Schleiermacher, Thomas Manns Mythosbegriff, William James’ Religionsauffassung, Paul Tillichs Symbolbegriff, Semiotik, Trinität, Kontingenz und Evolution genannt). In den in einem Zeitraum von dreißig Jahren entstandenen Arbeiten spiegelt sich auch eine geistige Lebensgeschichte, die bei aller Konzentration auf die angestrebte Begründung von Theologie und Religionsphilosophie ihre Offenheit bewahrt, die für vielfältige geistige Anregungen empfänglich bleibt und den Dialog mit anderen Disziplinen, mit der Mathematik, den Naturwissenschaften und den Künsten sucht.3 Die Tätigkeit der Herausgeber beschränkte sich neben der in Absprache mit dem Autor getroffenen Auswahl und Anordnung der Artikel vor allem auf deren moderate formale Vereinheitlichung. Zur Orientierung dienten dabei die Richtlinien der von Hermann Deuser mitherausgegebenen und ebenfalls im Verlag de Gruyter erscheinenden Kierkegaard 1 2 3
AA:12 in SKS 17, 18 – 30, hier: 24 – 26 / DSKE 1, 16 – 31, hier: 24 – 26; vgl. dazu im vorliegenden Band Kap. A.10. H. Deuser Religionsphilosophie, Berlin / New York 2009. Ein Publikationsverzeichnis findet sich in Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken. FS H. Deuser, hg. v. G. Linde, R. Purkarthofer, H. Schulz und P. Steinacker, Marburg 2006, S. 499 – 509.
Vorwort der Herausgeber
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Studies: Yearbook und Kierkegaard Studies: Monograph Series, deren Abkürzungsverzeichnis beigefügt ist. In diesem Zusammenhang ist auch die Aktualisierung der Kierkegaard-Verweise zu erwähnen, die nun auf die neuen großen dänischen und deutschen Werkausgaben – Søren Kierkegaards Skrifter und Deutsche Søren Kierkegaard Edition – Bezug nehmen. Eine solche Aktualisierung schien nicht nur aus sachlichen Gründen, sondern auch wegen Hermann Deusers Einsatz für diese gewichtigen Editionsprojekte geboten. Das Buch enthält zusätzlich ein Namensregister, das gerade im Hinblick auf die erwähnten Parallelen zwischen den verschiedenen Arbeitsfeldern von Nutzen sein kann. Die Herausgeber danken Frau Irene Ring vom Søren Kierkegaard Forschungszentrum in Kopenhagen für die so schnell wie zuverlässig erledigte immense formal-redaktionelle Arbeit und Herrn Dr. des. Marc Zivojinovic vom Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt für seine gewissenhaften Register- und Korrekturarbeiten; gedankt sei natürlich auch den beiden genannten Institutionen für die Förderung. Danken möchten die Herausgeber ferner Herrn Dr. Albrecht Döhnert und Frau Dr. Sabine Krämer vom Verlag de Gruyter für ihre spontane Begeisterung für dieses Buchprojekt und für ihre Hilfe bei dessen Realisierung. Schließlich sei den aus den Drucknachweisen ersichtlichen Verlagen für ihre freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks der Artikel gedankt. Das Vorwort einer Aufsatzsammlung, in der auch das Verhältnis von Theologie und Literatur behandelt wird, mag mit dem Wort eines Dichters schließen. Das kann und soll nicht zur Illustration von Hermann Deusers Religionstheorie dienen, nein, im Gegenteil – das kleine Gedicht „Pfarrer und Bauer“ von Eduard Mörike veranschaulicht, wie es einer Theologie ergehen kann, die die Mühen der Aneignung und Interpretation scheut: Pfarrer Wie mögt Ihr nur so bang um Eure Nahrung sorgen! Da seht die Vögel unterm Himmel an! Fragt einer auch: „Was ess’ ich heut’ und morgen?“ Keiner verhungert, seht! dafür ist Gott der Mann. Wenn nun der Herr des Sperlings Schrei erhört, Seid Ihr nicht mehr denn alle wert? Bauer Ganz gut, Herr Pfarr! Doch, wenn’s Euch nicht erbost: Beim Licht besehn, ist das ein – Vogeltrost.
Niels Jørgen Cappelørn (Kopenhagen) Markus Kleinert (Erfurt)
A. Das Existenzdenken Kierkegaards
Kierkegaards Spätwerk als dialektische Theologie* I. Kierkegaards Aktualitt Wenn ,Kierkegaard‘ und ,dialektische Theologie‘ hier im Thema zusammengesetzt sind, so braucht das eine Erklärung. An die ,Dialektische Theologie‘, jene Bewegung protestantischer Theologen der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts, soll damit durchaus erinnert werden: an ihren Impuls und ihren Mut, die Erfahrungen ihrer Zeit neu in theologische Gedanken zu fassen, was ebenso gründlich kirchenpolitische und überhaupt politische Konsequenzen seit 1933 haben musste. Kierkegaard hat in diesen Auseinandersetzungen und Neuentwürfen – und zwar in wohl allen und jedenfalls den verschiedensten Richtungen – eine gewaltige Rolle gespielt. Sein Name also steht hier für Aktualität, die er damals hatte; und wenn nachträglich auch geurteilt werden muss, dass z. B. Karl Barths Theologie mit Kierkegaard viel weniger gemeinsam hatte, als man seinerzeit glaubte, dass zudem die Textkenntnisse bruchstückhaft sein mussten, von einer Kierkegaardforschung noch so gut wie keine Rede war, so ist hier doch mit großer Sympathie für die wissenschaftliche Skrupellosigkeit Barths, des Autors der Römerbriefkommentare, festzustellen: Barth hat den kritischen Kierkegaard gespürt und für sich entdeckt, den nicht angepassten Christen contra Staat und Kirche, und darin eine Art von Gleichzeitigkeit vollführt, die das Pathos verdient, mit dem Barth im Vorwort zum 2. Römerbriefkommentar Kierkegaard mit Dostojewski, Plato und Kant, Overbeck und Paulus als seine Zeugen nennt; eine Gleichzeitigkeit, die noch immer jeder noch so feingliedrigen, akribischen und pedantischen Kierkegaardforschung turmhoch überlegen ist. Und vor allem: hier erst handelt es sich um Kierkegaards eigenes Interesse, diese Gleichzeitigkeit in ihrer hermeneutischen wie ethischen Funktion. Daher Barth im Vorwort: „Es hängt mit meinem *
Der folgende Text setzt im Ganzen die detaillierte Auswertung von Kierkegaards Tagebüchern ab 1848 voraus, vgl. H. Deuser Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und dem Sptwerk Kierkegaards, München / Mainz 1980. Im Folgenden wird versucht, eine freier formulierte Übersicht dieser KierkegaardInterpretation zu geben.
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Kierkegaards Spätwerk als dialektische Theologie
Auslegungsgrundsatz zusammen, dass ich nicht einsehen kann, wieso zeitgeschichtliche Parallelen, die in anderen Kommentaren ungefähr alles sind, zu diesem Zweck an sich lehrreicher sein sollen als die Vorgänge, deren Zeugen wir selber sind.“1 An zweiter Stelle ist mit dem Stichwort einer dialektischen Theologie aber zugleich der Begriffsinhalt von Dialektik mitzudenken, wie er für Barths Theologie dann ganz untypisch aus der idealistischen Tradition der deutschen Philosophie stammt; ein unerledigter Auftrag der Theologie in erkenntniskritischer Hinsicht. Marx und Kierkegaard haben je verschieden und kontrovers die Umwandlung dieser dialektischen Philosophie im 19. Jahrhundert betrieben, und es scheint doch so – wenn es einmal erlaubt ist, von den modernen wissenschaftstheoretischen und linguistischen Philosophien abzusehen –, dass die akuten Problemstellungen unserer Gegenwart, verschärft durch die Katastrophenerfahrungen und -erwartungen dieses Jahrhunderts, noch immer modellhaft vorexerziert sind eben bei diesen Dialektikern des vorigen Jahrhunderts. So auch für die Theologie, die nach den Krisen ihrer gesellschaftlichen Funktionen und kirchlichen Praxis, nach der Selbstdestruktion der Offenbarungsqualität ihrer Basistexte durch kritische Wissenschaft gerade hier Zentren eines möglichen Selbstverständnisses hat, wo trotz radikalen Zwanges zur Kritik noch das gedacht und gelebt werden soll, was sich eigentlich nicht mehr denken und leben lässt. Diese letzte Formulierung schon ließ es hören, und ich will es hier unter den Voraussetzungen auch gleich beim Namen nennen, dass ich in der Philosophie Adornos, genauer: der Negativen Dialektik, die angemessenste und dringlichste Beschreibung dieser doch nicht hoffnungslosen Notlage sehe. Und das wiederum hat entschieden mit Kierkegaard zu tun, seinem Spätwerk vor allem, was in zwei Gedankenkreisen eben die Aktualität Kierkegaards nun einleitend vorstellen soll. 1. Unmittelbarkeit und Reflexion Die ,Autopsie des Glaubens‘, von der Climacus in den Philosophischen Brocken spricht, ist schon dort ganz charakteristisch ein philosophisch kunstfertig vom Pseudonym herausgeschältes Produkt,2 das entgegen dem Reflexionsaufwand seiner Ableitung nun die Unmittelbarkeit wieder decken soll, die in der theologischen Tradition mit Worten wie 1 2
AaO., Zürich 1967, S. XV. PS in SKS 4, 271.
Kierkegaards Spätwerk als dialektische Theologie
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Glaube, Gnade, Offenbarung verknüpft war. Hier ist wissenschaftliche Kritik an allen Stellen und auf allen Ebenen eingedrungen, Kierkegaard hat das als katastrophalen Zerfall gespürt und versucht gegenzusteuern, zusammenzusetzen, Unmittelbarkeit gerade gegen die Reflektiertheit der Wissenschaften zu begründen. Seine Denkanstrengung war darin weit beharrlicher als die der gegenwärtigen Entwürfe in der theologischen Diskussion, die in wissenschaftstheoretischen und überlieferungsgeschichtlichen Durchgängen die verlorene Unmittelbarkeit von vornherein als außertheoretisch kaltstellen. Dann kommt es gar nicht mehr zum Konflikt, die Wissenschaft zieht ihre reflektierenden Kreise, und der Glaube bleibt dem lyrischen, predigenden oder weltanschaulichen Subjekt überlassen. Das Fazit ist Resignation – vor diesem Glauben und vor dieser Wissenschaft –, und sie dürfte nicht zufällig die Ratlosigkeit unserer geistigen Situation in solchen Glaubensfragen widerspiegeln, denen pro oder contra fast jeder leidenschaftliche Einsatz fehlt, weil man es so oder so nicht genau weiß; Rationalität und Lebenseinsatz liegen wie abgekapselt auseinander. Kierkegaard wollte es genauer wissen, und so konservativ er wissenschaftliche Kritik von der Bibel fernhalten wollte, so radikal ist er dann kritisch mit der Tradition umgegangen, wenn er sie von seiner Situation aus interpretierte. Ich zitiere eine Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahr 1855 mit der Überschrift: „Ein besonderes Gottesverhältnis in Unmittelbarkeit und in Reflexion.“ „In der heiligen Schrift ist es immer so, dass Gott zu dem, der das besondere Verhältnis zu ihm hat, unmittelbar sagt, was er zu tun hat. Dies verstehe ich nicht, das will heißen, es lässt sich nicht denken, es ist für das Denken unzugängliche Unmittelbarkeit; aber deshalb kann es ja ebenso wirklich sein. In der Reflexion kann auf jeden Fall dies Verhältnis unmöglich vorkommen. In der Reflexion wird es zu etwas Dialektischem […] in der Reflexion kann man ja das unmittelbare Verhältnis nicht haben. Also beruht es doch zuletzt darauf, dass der Betreffende es wagt, sich besonders mit Gott einzulassen […] Wer unmittelbar das besondere Verhältnis zu Gott hat, hat also nur die Gefahr, die verbunden sein kann mit der Befolgung des ihm unmittelbar von Gott Befohlenen. In der Reflexion gibt es eine wesentliche Gefahr mehr, die Möglichkeit, das Wagnis versäumt zu haben, und die Möglichkeit, verkehrt gewagt zu haben.“3 Deshalb also ist dialektische Theologie nötig und die exakte Beschreibung für Kierkegaards Spätwerk: Das unmittelbare Gottesver3
NB36:32 in SKS 26, 429 – 432.
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Kierkegaards Spätwerk als dialektische Theologie
hältnis, wie es Kierkegaard im Beispiel biblischer Propheten und Apostel vor Augen hat, die sich ihres Auftrags, ihres Wortes Gottes gewiss sind, hat vor der modernen Reflexion keinen Bestand mehr. Das heißt aber gerade nicht, diese Unmittelbarkeit könne entfallen, heißt auch nicht, sie könne einfach mit in die wissenschaftliche Reflexion integriert werden; dass beides kein Ausweg ist, zwingt zur Dialektik, dass die Reflexion etwas akzeptiert und denken soll, was sie nicht selbst ist, und dessen Vollzug sogar außerhalb ihrer liegt: ,Wagnis‘ hat es Kierkegaard an dieser Stelle genannt. Die nüchterne Konsequenz: Es gibt nun, existentiell gesprochen, eine doppelte Gefahr (die der Sache selbst und die des Reflexionsverhältnisses); anders ausgedrückt: Die Verhältnisse sind erheblich komplizierter geworden, jeder Naivität entzogen, und der Apostel als Glaubensheld ist ein zu billiges, weil überholtes Exempel.4 2. Das Besondere und das Allgemeine Die gesellschaftliche Seite desselben Problems – und auch hier war Kierkegaard seinem politischen Konservativismus zum Trotz bis zum äußersten feinfühlig für die um 1848 geschehenden Umwälzungen – stellt sich als Übermacht des Allgemeinen über den Einzelnen dar; für Kierkegaard war das die politische Analogie auf die Hegelsche Systemphilosophie, wonach die unmittelbaren Regungen alles Besonderen dem umfassend vorweggewussten Allgemeinen zuzuschlagen sind. Gerade an dieser Stelle hat Adorno von Kierkegaard gelernt. „Die Gewalt des sich realisierenden Allgemeinen“ – schreibt Adorno in der Negativen Dialektik – „ist nicht, wie Hegel dachte, dem Wesen der Individuen an sich identisch, sondern immer auch konträr.“5 Genau das hat Kierkegaard in seinen Zeitdiagnosen nicht bloß entwickelt und theoretisiert, sondern zum Ende seines Lebens hin praktiziert. Sein Spätwerk ist der ausgetragene und provozierte Konflikt zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen. Zum Beleg für diese Linie zwei Zitate aus Kierkegaards Entwürfen für seine geplante Schrift gegen Adler von 1846 – 47. In einer Beilage, die schon die bezeichnende Überschrift trägt: „Die dialektischen Verhältnisse: Das Allgemeine, der Einzelne, der besondere Einzelne“, harmonisiert Kierkegaard zunächst ein befriedetes Gesellschaftsbild, in dem die Verhältnisse noch stimmen: 4 5
Vgl. nur das Verhältnis Sokrates – Apostel, das sich Kierkegaard in NB35:4 in SKS 26, 364f. ausmalt! AaO., Frankfurt am Main 1967, S. 304.
Kierkegaards Spätwerk als dialektische Theologie
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„Wenn der Einzelne in seinem Leben nur das Bestehende reproduziert […], so verhält er sich als der normale Einzelne, der ordentliche Einzelne zu dem Bestehenden“. – „Sobald hingegen der Einzelne seine Reflexion so tief greifen lässt, dass er über die Grundvoraussetzungen des Bestehenden reflektieren will: so ist er im Begriff, ein besonderer Einzelner sein zu wollen“. Geht er so weit, dass er „das Leben des Bestehenden erneuern will, indem er für dieses einen neuen Ausgangspunkt bringt […] in Bezug auf die Grundvoraussetzung des Bestehenden […], so ist er der Außerordentliche“.6 Nun ist es gerade so nicht geblieben und wohl auch 1846 für Kierkegaard längst nicht mehr gewesen; die Auseinandersetzung mit dem Corsar hatte begonnen, dieser Opfergang von politischem wie theologischem Symbolwert und einer Modellfunktion in seinen Nachwirkungen bis in den Kirchenangriff hinein. Dass Kierkegaard mit der Entwurfskizze eines ordentlichen Einzelnen im bestehenden Allgemeinen nicht durchkam und den ,besonderen Einzelnen‘ konzipieren muss, macht gerade die Gewalt seines Spätwerks aus. Schon in dem genannten Entwurf von 1846 – 47 kündigt sich das an, wenn der idealisierte Einzelne nur auf der Folie seines krassen Gegenstücks überhaupt noch zu entwickeln ist; und dieses Gegenstück ist die politische Realität und Gegenwart, in der von dem Einzelnen gelten soll: „Nie wird er Masse; nie steht er in der Mobilmachungsliste des Publikums […] die Verantwortung vor der Ewigkeit“ rettet ihn „vor der rein tierischen Bestimmung: Menge zu sein, Masse, Publikum, oder was für Ansammlungen es nun sind, die einem Ursache geben, von Menschen sprechen zu müssen, wie man von einem Auftrieb von Mastochsen spricht.“7
II. Zur Definition des Sptwerks Der Begriff Spätwerk wurde schon stillschweigend eingeführt, doch ist er noch nicht definiert. Dieser mehr philologisch-biographischen Pflicht will dieser zweite Abschnitt nachkommen. Für eine derartige Einteilung kommt als naheliegendste Orientierung natürlich Kierkegaards Selbstdarstellung in Frage, seine ,Schriften über sich selbst‘ (Om min Forfatter-Virksomhed / Synspunktet for min ForfatterVirksomhed); und darin gibt Kierkegaard die Unwissenschaftliche Nachschrift 6 7
Pap. VII 2 B 235, S. 40 u. S. 41. Pap. VII 2 B 235, S. 40 u. S. 41.
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Kierkegaards Spätwerk als dialektische Theologie
bekanntlich als Hauptwerk an, als Wendepunkt sozusagen zwischen Frühwerk und Spätwerk, wozu die ausgefeilte Struktur seiner Stadienlehre (vom Ästhetischen zum Religiösen) ebenso passt wie die Kalkuliertheit der parallelen ,Erbaulichen Reden‘ und die Taktik der wechselnden Pseudonymität. Problematisch an diesem schönen Gebilde ist nur, dass es Kierkegaard selbst mit Fleiß so kunstvoll über sich aufbaut; konzipiert in einer Zeit größter Krisen seines Selbstverständnisses seit 1848 und noch vor der Veröffentlichung der großen Schriften des neuen Pseudonyms Anti-Climacus. Mit einem Wort: er hatte es um diese Zeit nötig, sich selbst so darzustellen, es gab einen Zwang für den Taktiker der Pseudonyme, den geheimen Plan offenbaren zu müssen, ja, wie das Gegenpseudonym Anti-Climacus dann belegt, die ästhetische Pseudonymität auf den Kopf zu stellen. Ich kann hierzu jetzt nicht alle Verästelungen vornehmen, weder die sachlichen aus der Zeitsituation, noch die biographischen, noch alle Reflexionsvarianten zumal der Tagebücher, und ich konzentriere daher den Beweisgang im Folgenden auf vier Determinanten dieses Umbruchs, der das heraufführt, was ich das Spätwerk nennen möchte. Zuvor seine zeitliche und von der Einordnung der einzelnen Werke her vorzunehmende Abgrenzung: Das Spätwerk beginnt mit den Osteraufzeichnungen im Tagebuch von 1848, sein öffentlich-literarisches Zeugnis sind neben den Angriffsschriften von 1854 – 55 vor allem die beiden Anti-Climacus-Schriften, die erbaulichen Reden nach 1848 und die drei nur bruchstückhaft veröffentlichten Traktate: die Zwei ethisch-religiçsen Abhandlungen, ber meine Wirksamkeit als Schriftsteller, Zur Selbstprfung. Dass der Kontext gerade dieser drei letztgenannten Schriften gar nicht zur Veröffentlichung kam, ist bezeichnend für die ganze Situation des Spätwerks, das nach außen hin eher durch Zögern, Schweigen, Taktieren, Abwarten gekennzeichnet war als durch ungehemmte Produktivität – die erst in den Angriffsschriften wieder nach außen trat. Dahinter aber steht die nach wie vor ungebrochene Schriftstellermanie Kierkegaards, dem Schreiben zur Therapie geworden war und der sich trotzdem Schweigen und Warten abringen musste. Zeugnis für dies alles sind die Tagebücher, ein zweites literarisches Zeugnis, insofern aber durchaus kein sekundäres! Für eine Abgrenzung des Spätwerks nach vorne schlage ich Folgendes vor: Die eigentliche Wende zum Spätwerk hin kündigt sich – genau wie es Kierkegaard selbst in den ,Schriften über sich selbst‘ sagt – nach der Unwissenschaftlichen Nachschrift an. Der Übergang bis zum Durchbruch in den Osteraufzeichnungen von 1848 ist zu verfolgen in
Kierkegaards Spätwerk als dialektische Theologie
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der ,Literarischen Anzeige‘, den Corsar-Schriften, den Entwürfen einer Schrift gegen Adler und ganz besonders und in literarisch ausgefeilter Konstruiertheit in den drei großen Redenbänden von 1847 – 48. Die Determinanten des Sptwerks Die Osteraufzeichnungen von 1848 haben Signalwirkung. Eine prinzipielle Wendung wird zum ersten Mal ausgesprochen. Dass sie so nie eintrat, dass die geahnte Befreiung immer wieder und in den verschiedenen und sich steigernden Anläufen, in Umkehrungen, schwermütigen Reflexionen und Selbstverzweiflungen hängen blieb, ist selbst ein Charakteristikum der Tagebücher des Spätwerks. Solch quälendes Auf und Ab, das keineswegs wie ein organisches, schicksalzufriedenes Einund Ausatmen klassischer Weltanschauung vorgestellt werden darf, sondern nur als Selbstqual und Anfechtung bis hin zum Selbstopfer im Angriff richtig zu beschreiben ist, war sicher längst als Kierkegaards schwermütige Bestimmung von Jugend auf ihm selbst klar, Anlass der ästhetischen Pseudonyme und des dichterischen Werkes überhaupt, aber erst im Spätwerk werden diese Selbst- und Welterfahrungen – und letztere sind seit der Corsar-Auseinandersetzung für Kierkegaard gesellschaftlich konkret geworden – konsequent als Gottesverhältnis reflektiert. Das macht in mehreren Schüben, die sich immer auch biographisch registrieren lassen, Kierkegaards dialektische Theologie des Spätwerks aus, die damit das Erbe der Dialektik des Frühwerks konsequent und praktisch antritt. Der Terminus Spätwerk impliziert insofern die Werkeinheit, ganz wie Kierkegaard selbst sich verstanden hat, insistiert vor allem auf der Einheit von philosophischem, literarischem und theologischem Werk – unter Einschluss des Kirchenangriffs! – ohne allerdings die theologischen Wendungen des Spätwerks nivellieren zu wollen; diese sind, wie gesagt, als die nun wirklich existentiellen Konsequenzen des ganzen schriftstellerischen Werkes und der Stellung seines Autors aufzufassen. So vorbereitet kann der Text jener Osteraufzeichnungen in knappem Auszug folgen: Mein ganzes Wesen ist verändert. Meine Verborgenheit und Verschlossenheit ist zerbrochen – ich muss sprechen. Großer Gott, gib Gnade! Es ist doch ein wahres Wort über mich, was mein Vater sagte: „Es wird nie etwas aus dir, solange du Geld hast.“ Er hat prophetisch gesprochen […] mit meinem Scharfsinn und mit meiner Schwermut und dann mit Geld! O,
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was für eine Begünstigung, um alle Martern der Selbstquälerei in meinem Herzen zu entwickeln.8 Nein, nein, meine Verschlossenheit lässt sich doch nicht heben, zumindest nicht jetzt […] Aber die Sache war folgende. Meine Zukunft wird immer schwieriger in bezug auf den Lebensunterhalt. Müsste ich mich nun nicht mit jener Verschlossenheit plagen, dann könnte ich Beamter werden. Jetzt schwerlich […] Ich hoffe zu Gott, dass er auf die eine oder andere Weise meiner Wirksamkeit als Schriftsteller zu Hilfe kommen wird oder mir auf eine andere Weise zum Lebensunterhalt hilft, und mich somit Schriftsteller bleiben lässt.9
Die Determinanten des Spätwerks sind in der Rücknahme der durchbrechenden Befreiung allesamt angedeutet, es handelt sich um vier voneinander abhängige Entscheidungszwänge, die Kierkegaard in die totale Krise seines Selbstverständnisses treiben, das sich bis dahin in der Position eines unabhängigen, strengen, aber auch skurrilen Literaten einzupendeln schien: 1. Kierkegaards finanzielle Situation wird kritisch, d. h. seine unabhängige Stellung und die Selbstfinanzierung seiner Literatur kommen in Gefahr, zumindest an Grenzen finanzieller Art. 2. Seine ,Verschlossenheit‘, d. h. sein im Verborgenen gelebtes Leben des Poenitierenden steht zur Disposition, tritt offenbar aus der Verborgenheit heraus. Damit ist, was hier nicht direkt angesprochen wird, Kierkegaards besonderer Auftrag als isoliert lebende Einzelpersönlichkeit verbunden, die er bereits im Angriff auf den Corsar polemisch und opfernd ins öffentliche Spiel brachte; theologisch entsteht hieran immer intensiver die Frage nach dem christlichen Martyrium und der strengen Nachfolge. 3. Kierkegaard könnte diesen harten Konsequenzen entgehen, indem er eine Anstellung suchte, also Beamter würde. Damit wäre die finanzielle Lage geklärt, die Frage des Martyriums neutralisiert – insofern nach Kierkegaards konservativer Staatsmoral ein Beamter für Radikalität kaum mehr in Frage kommt; seine Position als distanziert-kritischer Schriftsteller aber wäre destruiert! 4. Der entscheidende Krisenpunkt, wie es die zitierte Aufzeichnung auch ihrer letzten Intention nach belegt, ist daher die Angst, die Schriftstellerposition zu verlieren, die niemals erwerbsmäßigen Sinn hatte, eher ein Zwang war, eine Selbstrettung in Produktivität. Darin lag ihre Kraft, und die scheint so ungebrochen wie sie zugleich plötzlich 8 9
NB4:152 in SKS 20, 357. NB4:155 in SKS 20, 359f.
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bedroht ist. All das ballt sich 1848 zusammen; ich will in knappen Zügen versuchen, die einzelnen Determinanten noch etwas detaillierter in ihrem Konfliktpotential zu beschreiben. (Dabei soll jeweils aus der Unmenge des Belegmaterials der Tagebücher nur immer ein möglichst exemplarisches Stück zugrunde gelegt werden.) Zu 1) Die biographischen und ökonomischen Daten zu Kierkegaards finanzieller Situation müssen hier nicht vorgenommen werden. Wesentlich ist, dass nach ersten Erwähnungen des Vermögensproblems im Tagebuch von 1846 sich dieses Thema 1847 – 48 durch den ungeschickten Verkauf des väterlichen Hauses so zuspitzt, dass Kierkegaards schriftstellerische Qualität auf dem Spiel steht: Denn er spürt jetzt, dass finanzielle Unabhängigkeit ein Privileg der Distanz sichert, in extremer Außensicht die inneren Verhältnisse seiner Gegenwart offenzulegen. Deshalb auch war er nicht durchschnittlich, sondern musste sich in dieser Überlegenheit, die allen anderen, ökonomisch eingespannten suspekt war, notwendig unbeliebt machen. Umgekehrt aber entdeckt Kierkegaard im gleichen Moment, dass er jetzt zum ersten Mal auch zur Realität gezwungen wird, in der alle anderen ja leben müssen; er kommt den existentiellen Verhältnissen näher, die er bislang nur literarisch spielend zum Prinzip machte. Damit ist sein Selbstverständnis als Schriftsteller (oder Dichter, wie er auch sagt) in der ökonomischen Basis und damit in der ideellen Position seit 1848 verändert: „Unabhängigkeit war die Unterstützung, die ich brauchte, und dass ich sie hatte, verbarg mir vielleicht, dass ich doch eigentlich Dichter war, jetzt habe ich es verstanden.“10 Zu 2) Parallel zur Erkenntnis der finanziellen Situation läuft Kierkegaards Arbeit an den Manuskripten der späteren Anti-ClimacusSchriften; in diesen Entwürfen und Kalkulationen geht Kierkegaard in geradezu tödlicher Analytik der Corsar-Erfahrungen auf das Ideal des christlichen Nachfolge-Martyriums zu, das er exakt in den politischgesellschaftlichen Verhältnissen von 1848 lokalisiert. Dass er als Einzelner stellvertretend Hohn und Spott auf sich zog, der Pöbel das genoss, was die guten Bürger und die Geistlichkeit zugleich schadenfroh goutierten – unwiderrufliches Thema in unendlichen Variationen in der gesamten Tagebuchproduktion des Spätwerks! – dies hat mehr und mehr christologischen Rang, zwingt zur Konsequenz: „Doch eines habe ich gelernt: die eigentlich christliche Kollision. Diese Kollision hat ursprünglich nicht in meinem Gesichtskreis gelegen, ich verdanke sie allein meinem 10 NB10:192 in SKS 21, 359.
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Konflikt mit der Menge. Meine Kollision ist echt christlich: ich werde verfolgt – weil ich gutmütig war.“11 Beängstigend an diesen Konsequenzen ist allerdings, dass sich Kierkegaard von seiner Position als Autor in ein ideales Extrem treiben lässt, das er persönlich gar nicht voll realisieren kann – und daran hängt in der Theorie der existierenden Wahrheit, des nachfolgenden Christen aber unbedingt alles. Auch von dieser Seite her droht paradoxerweise ein Ende der Schriftsteller-Distanz. Dieser Konflikt ist seit 1848 prägend für das Spätwerk; die volle Nachfolge hat Kierkegaard nie für sich selbst verantworten wollen, auch der Angriff bleibt bekanntlich unter Vorbehalten, obwohl er faktisch der Erfüllung der eigenen idealen Forderung an den Christen doch wenigstens nahe kommt. Dass Kierkegaard hier einen Kompromiss angesteuert hat, macht zwischen 1848 und 1855 seine Schriftstellerexistenz aus, die zunehmend unmöglich wurde, aber im großartigen Kompromiss des neuen Pseudonyms des Anti-Climacus, der der pseudonyme eigentliche Christ sein kann, gipfelte. Zu 3) Einfache Lösungen der Krise, etwa die, ’mal ins Ausland zu reisen, ’mal was Versöhnliches zu schreiben, hat Kierkegaard ebenfalls durchdacht, aber regelmäßig ausgeschlagen. Es wäre ihm wie Fahnenflucht vorgekommen. Und so ist auch die dritte Determinante, das Problem ein Pfarramt zu übernehmen, Beamter zu werden, im Grunde schon keine wirkliche Alternative mehr. Zwar lag eine solche Beendigung des Dichterseins eigentlich auf der Linie des Frühwerks: die Ästhetik einmal auf diese realistische Weise abzubrechen, indem man einen ordentlichen Beruf ergreift, doch angesichts der Konfliktsituation 1848, zumal nach den Corsar-Ereignissen wäre diese Lösung, die alles auflöste, allzu billig. Tatsächlich hat Kierkegaard in der Anstellungsfrage noch Schritte unternommen, trickreich wollte er sogar ein Angebot einholen, dass er dann ablehnen könnte; doch wie immer, kommt er auch hier sich selbst auf die Schliche: Zu seiner Position des religiösen Schriftstellers, dessen Gesamtwerk durchkalkuliert eine Totalwirkung exemplarisch erzielen soll, wie er es gleichzeitig in den Entwürfen ber meine Wirksamkeit als Schriftsteller durchrechnet, passt einfach keine Beamtenlaufbahn – „es gilt doch auch, sich selbst treu zu sein.“12 Zu 4) Der angesprochene Kompromiss im christlichen Pseudonym des Anti-Climacus war kein friedlicher, auf dem ein sich neu verstehender Autor hätte ausruhen können. Genau genommen hat Kierkegaard darin 11 NB:177 in SKS 20, 110. 12 NB10:39 von 1849 in SKS 21, 277f.
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seinen äußersten Konflikt noch einmal aus sich herausgesetzt: das widerspenstige Verhältnis von Ästhetik und Christentum. Während sich das Spätwerk nicht darin genug tun kann, Ästhetisches als unernst, lebensfremd und unchristlich zu brandmarken, bezieht sein Autor zugleich die Schutzburg eines Dichters des Religiösen, um den harten Konsequenzen, die er selbst – eben nur ,dichterisch‘ – fordert, noch einmal aus dem Weg zu gehen. Er muss eine Ausnahme machen, und was Kierkegaard selbst von allen anderen unterscheidet, ist nur dies eine, dass er diese schmähliche Ausnahme – gemessen am Christentum der Nachfolge – öffentlich zugibt. Das ist aber nur die polemische Seite dieser paradoxen Ästhetik. Von der Person des Autors her gesehen, war Kierkegaard nach eigener Einschätzung ein geborener Dichter, der seine Sprache und seine Arbeit liebte, darin lebte, schreiben musste. Den Konflikt zwischen Dichten und Denken hat er schließlich als seine spezielle Erziehung betrachtet, seine Aufgabe darin gesehen, die beiden Bereiche von Dichten und Existieren aufs schärfste zu konfrontieren; und während er selbst dazwischen stehen blieb, hat er doch beides entscheidend verändert. Eine Ästhetik bloß dichterischer, lebensferner Phantasie ist nach Kierkegaards Lebenseinsatz ebenso peinlich wie ein stummes und stumpfes Pathos naiver Unmittelbarkeit christlichen Lebens. Kierkegaard konnte nach 1848 Dichter bleiben, wie er es sehnlichst gewünscht hatte, doch er wurde trotzdem in die Konsequenzen der Praxis getrieben, vor denen er sich fürchtete, die er aber selbst entwickelt hatte, er und seine Pseudonyme! „Ich bin nur ein Dichter, ach nur ein Dichter. Seht nicht auf mein Leben – und doch, seht nur auf mein Leben, um zu sehen, welch mäßiger Christ ich bin, was ihr am besten sehen werdet wenn ihr auf meine Rede vom Ideal hört. Und darauf hört; denn auf mein bisschen Person kann man pfeifen.“13
III. Die dialektischen Verhltnisse im Sptwerk Die Aktualität Kierkegaards, wie sie in der problematischen Zuordnung von Unmittelbarkeit und Reflexion, Besonderem und Allgemeinem vorgestellt wurde, hat ihre Prägung im Spätwerk erfahren. Ganz generell gesprochen ist die gravierende Veränderung im Spätwerk in der krisenhaften Zunahme von Realisierungszwang zu sehen, wie es in den Determinanten beschreibbar war. Dass es sich dabei nicht um Uner13 NB23:33 in SKS 24, 220 – 223.
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wartetes, nicht um prinzipiell Neues handelt, was nicht schon wenigstens vorgedacht gewesen wäre, zeigt, um nur ein Beispiel zu nennen, die Spinoza-Anmerkung in den Philosophischen Brocken. Der Konflikt zwischen dem ,faktischen Sein‘ und dem ,ideellen Sein‘ ist hier auseinandergelegt. Kierkegaard ist dies Problem nie losgeworden, wollte es auch gar nicht; er ist nur immer tiefer hineingetrieben worden; und was für ihn konkret ,faktisches Sein‘ bedeutete, hat er seit 1848 erfahren und sich ausrechnen können. Und in dieser Konstellation des Spätwerks erst möchte ich den Begriff einer dialektischen Theologie einsetzen. Die Prognose dafür hatte sicher schon der frühe Kierkegaard gestellt, die Pseudonyme haben an der theoretischen Grundlegung gearbeitet, die großen Redenbände 1847 – 48 haben die theologischen Konsequenzen der Nachfolge durchgespielt, aber das Spätwerk erst zeigt diese dialektische Theologie. Was hier Dialektik heißen soll, wie sie sich bestimmt und damit heute von Bedeutung sein kann, soll zunächst mehr strukturell in den für das Spätwerk typischen dialektischen Verhältnisbegriffen geklärt werden, quasi in einer Tafel dialektischer Kategorien. 1. Subjekt und Objekt: Kierkegaards Begriff der Innerlichkeit Dass die Subjektivität, die Innerlichkeit die Wahrheit sei, ist im Spätwerk kein unerschütterliches Dogma, ist es so auch für Climacus nie gewesen. Der polemische Hintergrund nämlich ist die befremdende, als Lehre gleichgültig gewordene Objektivität, der Kierkegaards These von der subjektiven Wahrheit neue und entscheidende Relevanz abringen soll. Insoweit diese polemische Voraussetzung gilt, ist Adornos Kritik einer „objektlosen Innerlichkeit“ unzutreffend, jedenfalls für das Spätwerk. Denn unter dem Zwang konkreter zu werden, geht Kierkegaards Urteil auch weiterhin und immer härter gegen die Objektivität, die „unverschämte Objektivität“,14 in der man sich als Funktionär und Rollenträger selbst aus dem Spiel bringt. Doch zugleich sieht sich Kierkegaard zu einer Korrektur seines Begriffs der Innerlichkeit veranlasst, um eben gegen diese falsche Objektivität angehen zu können, er spürt, dass gerade er nun auf „einem kleinen bisschen Äußerlichkeit bestehen muss“, dass die christlich verborgene Innerlichkeit nicht reicht.15
14 NB25:101 in SKS 24, 514f. 15 NB12:176 in SKS 22, 249.
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In Kierkegaards Entwürfen für eine Polemik gegen Bischof Mynster aus dem Jahr 1852 findet sich daher die prägnante Wendung, dass die sog. ,objektive Lehre‘ und die ,verborgene Innerlichkeit‘, also die Grundlagen der bürgerlich-konservativen Position des alten Bischofs wie der Staatskirche, ein Betrug sind.16 Die jetzt zu fordernde Innerlichkeit ist nicht objektlos, sondern dialektisch; sie hat ihr Gegenüber in den falschen Objektivationen von Massengesellschaft, Geld, öffentlicher Meinung,17 ihre leitende utopische ,Objektivität‘ (die dann in Anführungszeichen geschrieben werden muss!) aber in der leidenschaftlichen Verdoppelung Gottes als Subjekt, das liebt, um geliebt zu werden; in der Ewigkeit, die, indem sie subjektiv ist, objektiv sein kann.18 Das gelungene Vermittlungsverhältnis dieser Dialektik von Subjekt und Objekt ist allein die ,Durchsichtigkeit‘, wie sie Anti-Climacus zu Beginn der Krankheit zum Tode im Entwurf des Selbst als abgeleitetes Verhältnis nennt. „Im Lichte des Jüngsten Tages hätte Kierkegaards ,Durchsichtigkeit‘ ihren Ort und ihre Stunde“, schreibt Adorno.19 Bis dahin aber bleibt nur die kämpferische Innerlichkeit, die nur innen nicht mehr bleiben kann. 2. Gleichzeitigkeit und Vermittlung Gleichzeitigkeit, Kierkegaards hermeneutische Kategorie, hatte die ursprüngliche Funktion, den Christus des Neuen Testaments aus seinen wissenschaftlich objektivierenden Vermittlungen über 1800 Jahre Weltgeschichte herauszubrechen und in die Lebensgegenwart einzuzeichnen. Die so entstehende Unmittelbarkeit des entscheidenden Augenblicks, wie sie Climacus in den Philosophischen Brocken intendiert, gewinnt allerdings gerade keine Direktheit der personalen Begegnung, sondern das Paradox des Gottes in der Zeit und sein Korrelat im paradoxen Glauben. Beides ist keineswegs ungeschichtlich, auch nicht bloß geschichtlich in jenem metaphorischen Sinn von ,Geschichtlichkeit‘, sondern real gebunden an die ,Situation‘, wie Kierkegaard sagt, die als meine Wirklichkeit ernst und faktisch zu nehmen ist, ohne sich auf weltgeschichtliche Vermittlungen herauszureden. Das macht den dialektischen Gewinn der Gleichzeitigkeit im Spätwerk, dass ihre Hermeneutik wider die objektiven Vermittlungen eben auf die richtigen Si16 17 18 19
Pap. X 6 B 222, S. 355. Vgl. z. B. NB8:70 in SKS 21, 174f. Vgl. NB13:29 in SKS 22, 290f.; NB18:74 in SKS 23, 303. Kierkegaard, Konstruktion des sthetischen, Frankfurt am Main 1966, S. 155.
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tuationsbedingungen meiner Gegenwart hinauswill: „Die Pointe des Christlichen ist, dass es das Gegenwärtige ist […]; denn ganz nahe ist das Christliche das Verhasste und Empörende.“20 Hier kommt das Paradox der Christologie zur Anwendung, dessen Sinn parallel zur Gleichzeitigkeit in der Abstoßung aus dem bloß reflektiven Vermittlungsverhältnis zu suchen ist. Geschichte wird daher an ihrem ,Werden‘ kenntlich, der jeweils gleichzeitigen, leidenschaftlichen Situation, die damit aus den Zwangsverhältnissen der immergleichen Natur- und Geschichtsgesetzlichkeit produktiv und kritisch herausspringen will. Kierkegaards dialektische Gleichzeitigkeit ist wie eine Sperre im geschichtlichen Verlauf, darin Adornos gesellschaftskritischem Begriff der ,Naturgeschichte‘ verwandt: „Die Bedingung für die Rettung eines Menschen ist der Glaube daran, dass es überall und in jedem Augenblick absoluten Beginn gibt“.21 Deshalb Kierkegaards polemische Abrechnung mit der Christenheit als bloß historischem Produkt; dialektisch liegt die Alternative nicht in naiver Existenzgegenwart, sondern im Risiko gegen und trotz dieser realen Vermittlungen. „Glaube“, so sagt er im Tagebuch, „ist die Unmittelbarkeit nach der Reflexion“,22 die „neue Unmittelbarkeit“.23 Ihr aufgegeben hermeneutisch wie ethisch das Paradox der Christologie: dass es Gott war, der leiden musste; das beschreibt unsere Realität, christlich paradox: ohne zu resignieren. „Die Reflexion vergisst nicht, sie erinnert sich rückwärts; und die Reflexion setzt das Leiden zusammen mit der Seligkeit.“24 3. Paradox und Existenzdialektik Die dialektischen Konstellationen von Subjekt und Objekt, Gleichzeitigkeit und Vermittlung haben ihren erkenntnistheoretischen Grund in Kierkegaards Paradox. Dieser Begriff, von Climacus im Frühwerk ausgearbeitet, ebenso präsent in den Tagebüchern und literarischen Arbeiten, wird in seiner zentralen Funktion im Spätwerk bestätigt. Die „Dialektik des Paradox“, wie Kierkegaard einmal sagt,25 bleibt seine
20 21 22 23 24 25
NB5:110 in SKS 20, 416. NB15:42 in SKS 23, 30. NB4:159 in SKS 20, 362 – 365. Pap. X 6 B 78. NB13:62 in SKS 22, 311. NB2:12 in SKS 20, 142.
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typischste Denkform, denn das Paradox ist so unpopulär wie er selbst26 und gibt allem Christlichen sein „negatives Kennzeichen“.27 Wenn ich das Paradox des Spätwerks als Existenzdialektik definieren will, so nicht, um die Begriffe restlos zu verwirren, sondern um sie aus dem Dunst der Unklarheit heraus präziser zuzuordnen. Das Paradox meint nicht ein logisches Problemstück (etwa das Problem der Antinomien oder dgl.), sondern ist als rhetorisches, literarisches, erkenntnistheoretisches Zeichen des Widerspruchs eingesetzt; es steht für das Denkunmögliche, den Widerspruch, der sich nicht denken lässt; und dabei hängt das Verständnis daran, die Betonung so auf Denken zu verlegen, dass sein Widerspruch: nämlich Existieren – geradezu herausspringt. Nicht also ein Widerspruch im Denken selbst, denn das wäre wiederum ein logisches Problem. Entscheidend ist der Abstoßeffekt des Paradox (man denke nur an sein christologisches Synonym im Begriff des Ärgernisses!), worin es zwingt, die Ebene zu wechseln, als Instanz der möglichen Vermittlung des Widerspruchs das Denken zu verlassen, die Existenz, das wirkliche Leben als Ort von Widerspruch und Vermittlung aufleuchten zu lassen. Insofern geht es dem Paradox, diesem unversöhnlichen Widerspruchszeichen, durchaus auch um Vermittlung; nur auf deren Ort kommt es an, weshalb von Existenzdialektik zur Benennung von Kierkegaards Einsatz gerade des christologischen Paradox im Spätwerk gesprochen werden soll. Selbstverständlich ist dabei mit ,Existenz‘ keine ontologische Kategorie des Selbst gemeint, sondern im Sinne des Spätwerks die faktischen Lebensverhältnisse, in denen sich die kämpferische Innerlichkeit, die Gleichzeitigkeit und das Paradox auszulegen und durchzusetzen haben. Aus den vielfältigen Belegen und Anwendungen dieser Existenzdialektik im Spätwerk will ich hier die eine, nicht so geläufige herausgreifen, nämlich die erkenntnistheoretische. In Tagebuchentwürfen zu einer Verteidigung seiner Position (geschrieben um 1850) heißt es bei Kierkegaard: Im strengsten Sinne, christlich verstanden, gibt es keine Christliche Wissenschaft; und in jedem Fall soll der christliche Wissenschaftler beim ,Glauben‘ um eine Indulgenz ersuchen, dass er es wagt, sich mit Wissenschaft zu beschäftigen, da Wissenschaft nicht das Superieure sondern das Inferieure ist. […] 26 NB12:135 in SKS 22, 224f. 27 NB34:39 in SKS 26, 350f.
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Soll es eine christliche Wissenschaft geben, so darf sie nicht auf der Basis aufgebaut werden: den Glauben zu begreifen, sondern auf der Basis: zu begreifen: dass man den Glauben nicht begreifen kann.28
Kierkegaard hat diese Seite seiner Arbeit nicht mehr weiterverfolgt; die biographische und gesellschaftskritische Situation, in die er sich gebracht und in die man ihn gedrängt hatte, ließen dafür keinen Raum mehr. Daher läuft das Paradox auf die Polemik des Angriffs zu, die Existenzdialektik geht von der theoretischen Konzeption in die Praxis über, die Kierkegaard gegen sich selbst durchführt. Damit befolgt er sein erstes Kriterium der Existenzdialektik: die Reduplikation von Leben und Lehre. Fasst man diesen exemplarischen Vorgang – der Magister möge es mir verzeihen! – wiederum erkenntnistheoretisch auf, so kommt es zu einer dialektischen Doppelstruktur, die unbedingt im Begriff der Existenzdialektik mitgehört werden muss. Es kommt zur Doppelgefahr, wie Kierkegaard auch sagt, zur „doppelten Dialektik“,29 die sich aus dem nicht mehr einfachen Verhältnis von Unmittelbarkeit (Glaube) und Reflexion ergeben muss. Das sich im Kirchenangriff opfernde Korrektiv ist damit noch nicht in Sieg und Ruhm gelandet (das wäre nur der Sinnentrug der Bewunderung, den Kierkegaard der Christenheit als verlogenen Mechanismus der Integration des Kritikers vorhält), sondern in der doppelten Gefahr, nun erst recht der Mitwelt zum Ärgernis zu werden. Diesem Doppelverhältnis auf der Ebene der vollzogenen Reduplikation (das Kierkegaard selbstverständlich christologisch unablässig durchdenkt und explizieren kann – bis ins Selbstbewusstsein Jesu hinein!) entspricht theologisch gesehen das ,Geistverhältnis‘ Gottes, das nicht mehr über einfache Unmittelbarkeit zugänglich ist, sondern eben nur im existenzdialektischen Vorbehalt der Versöhnung: „Ich kann keine unmittelbare Gewissheit darüber erlangen, ob ich den Glauben habe – denn Glauben ist ja eben dieses dialektische Schweben, welches ständig in Furcht und Zittern doch niemals verzweifelt.“30 4. Theorie und Praxis Aus Kierkegaards Existenzdialektik, die sich im nicht einfach integrierbaren Widerspruch des Paradoxes hält, ergibt sich für seine gesellschaftliche Stellung, die dem Spätwerk konstitutiv ist, eine Distanz und 28 Pap. X 6 B 114, S. 143 und S. 146. 29 NB3:75 in SKS 20, 279. 30 NB5:30 in SKS 20, 381f.
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doch eine Bereitschaft zum verändernden Eingreifen, die sich heute sachgemäß wohl nur mit dem Begriffspaar Theorie und Praxis benennen lässt. Auch hier wiederholt sich dann die doppelte Dialektik, auch dies Verhältnis ist nicht einfach als Übergang von Theorie in Praxis vorzustellen. Dass die richtige Praxis verstellt ist, wie Adorno seit 1968 gegen seine linken Kritiker als Resultat negativer Dialektik erklären musste, hat ihn näher an Kierkegaard herangebracht, als Adorno zu diesem Zeitpunkt wohl selbst geahnt hat. Nur ist Kierkegaard von der Gegenseite ausgegangen, hat die Praxis gar nicht direkt ansteuern wollen, um nie in den Verdacht solch eines platten Überganges von Theorie und Praxis zu geraten. Seine ,politische Theologie‘, die kritische Analyse von Theologie und Kirche in den faktischen Verhältnissen ihrer Repräsentanten, hält Kierkegaard daher zunächst in den Tagebüchern versteckt; etwa eine Stelle wie diese: „Ja, im Grunde würden die Menschen laut lachen, wenn einer im Ernst sagte, dass es die Pflicht eines Menschen (also auch die Seine) wäre, die Welt zu verändern[…]“. Der Christ lehrt, „dass die Welt im Bösen liegt, aber dessen ungeachtet gibt er sie nicht auf, sondern er wagt alles, um das Seine dazu beizutragen, dass sie besser würde und das Gute käme.“31 Bis Kierkegaard aber verändernd eingriff, hat er alle Stadien der Reflexion kontrollierend durchlaufen und sich taktisch tausendfach abgesichert, dass seine Praxis ja nicht falsch verstanden, von falschen Freunden vereinnahmt oder gar als neues, fröhliches politisches Programm bejubelt werde. Der Grund dafür liegt gerade nicht in Praxisangst: „Erst kommt das Leben; darauf, länger oder kürzer (aber danach) kommt die Theorie; nicht umgekehrt“.32 Denn das Christentum ist gar kein Erkenntnisproblem, Theorie „das Feigenblatt“.33 Doch die christliche Handlung und Praxis, die fehlt, ist ebenso wenig unmittelbar wie der Glaube; dialektisch deshalb, und dieser Schluss hat Kierkegaard in die Opfertheologie des Spätwerks getrieben. An dieser Stelle wäre von Kierkegaards späten Sympathien für die Märtyrer-Theologie der alten Kirche, das Mönchtum im Katholizismus und überhaupt die dualistischen, asketischen Züge seiner Tagebuchaufzeichnungen zu reden. Er hat sich damit Gewalt angetan, was sicher ganz auf der Linie seiner Schwermut lag, bis zuletzt. Aber er hat auch die andere Linie nie vergessen, wie es im Kompromiss, doch ein Dichter 31 NB8:70 in SKS 21, 174f. 32 NB21:86 in SKS 24, 56f. 33 NB33:42 in SKS 26, 283f.
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und nicht der Märtyrer sein zu können, seit 1849 für das Spätwerk bindend geworden war. Er war „verliebt in den Klang der Sprache“, die er schrieb,34 hat von diesem Glück nicht lassen können, den von ihm selbst angezettelten Konflikt zwischen Ästhetik und Christentum daher nie eindeutig gelöst – und das ist der Rest seines persönlichen Glücks gewesen, worin er humaner blieb als in den brutalen Zügen asketischer Grausamkeit, von denen die Späten Tagebücher immer dichter Zeugnis ablegen. Was Kierkegaard so gegen sich selbst durchsetzt, ist die Dialektik von Theorie und Praxis, die sich verdoppelt, wenn die glatten Übergänge verstellt sind, und das war nach seiner Analyse von Christenheit und Christentum der Fall. 5. Ideologiekritik Kierkegaards Kirchenangriff gehört mit in die Einheit des Gesamtwerkes, und gerade diese letzte Aktion hat Bedeutung für die Theorie, die mit dem Begriff einer dialektischen Theologie neu benannt werden soll. Das Auseinanderfallen von gesellschaftsoffizieller Selbstbegründung (zu Kierkegaards Zeit das lutherische Staatschristentum) und erfahrener Wirklichkeit (bei Kierkegaard die vornehme Zurückhaltung derselben Kirche in den praktischen Situationen, in die nach seiner Meinung und Auslegung des NT das Christentum eigentlich gehörte) trieben ihn in die gesellschaftskritische Unterscheidung von Christentum und Christenheit. Um diesen Vorgang zu erfassen, verbunden mit den schon angedeuteten extremen, asketischen Selbstbegründungen aufseiten von Kierkegaards Biographie, wird der Begriff der Ideologiekritik vorgeschlagen. Kierkegaard hat sie im gesamten Spätwerk durchgängig an Mynster und Martensen praktiziert, und die Tagebücher sind voll von vorbildlichen Analysen und Modellen ideologiekritischer Arbeit. Die zirkuläre Selbstbeweihräucherung eines ideologischen Systems hat Kierkegaard exakt analysiert und in den beiden Begriffen des „Bestehenden“ und der von ihm geforderten „Einräumung“ auf seine kämpferische Formel gebracht. „Das ,Bestehende‘ ist überhaupt ein ganz und gar unchristlicher Begriff.“ – heißt es im Tagebuch schon 1849.35 Und wiederum lässt sich auch in der ideologiekritischen Arbeit Kierkegaards, indem er dem dänischen Protestantismus seine gesellschaftspolitische Funktion vorhält, die mit Christentum nicht übereinzubringen ist, die 34 NB30:41 in SKS 25, 414f. 35 NB11:108 in SKS 22, 61.
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doppelte Dialektik verfolgen. Eindeutigkeit in der Position des Kritikers gewinnt Kierkegaard letztlich nur im Unterliegen des Korrektivs. Unmittelbarkeit des Christlichen hat er selbst nicht und verlangt sie nicht von den Repräsentanten des Bestehenden, sondern allein diese ,Einräumung‘, diesen Vorbehalt, der zuzugeben wäre, eine Reflexionsleistung, die aber zugleich mehr war als bloß dies – wie hätte es um diese Kleinigkeit sonst diesen Streit gegeben? Kierkegaards Theologie bewegt sich bewusst wie biographisch determiniert auf der Schneide zwischen Wahnsinn und Christentum. Adorno hat dies damit erklärt, dass im 19. Jahrhundert der Wendepunkt liege, nach dem Versöhnung und Menschlichkeit sich nur noch so hätten artikulieren können. Kierkegaard jedenfalls hat bis zuletzt darin keine Kompromisse gemacht und sein Korrektiv bis zum letzten Augenblick bewähren wollen. Die Dialektik bleibt, nimmt man sie jetzt als Theorie, bis zuletzt offen, aufgerissen der Bruch, an dem Kierkegaard selbst litt. Zwei Zitate sollen das belegen. Auf der einen Seite zwingt sich Kierkegaard auf der Linie kompromissloser Ideologiekritik bis in die grausamsten Züge christlicher Opfertheologie: „Das Dialektische ist: hier wird ein Trost angeboten – und sieh, der Trost ist schlimmer als was man sonst leidet.“36 Auf der anderen Seite hat Kierkegaard die Versöhnung doch nie verloren geben können: „Das Grausame ist nicht das Christliche, sondern das, was dem Christlichen widerfährt. Das Christliche ist in sich selbst Milde und Liebe, oder die Liebe selbst, oder selbst die Liebe.“37
IV. Dialektische Theologie: Opfer und „Christentum im Interesse des Menschen“ Alle fünf angeführten Kategorien sind letztlich theologischer Art, was nicht hindert, sie strukturell einmal so zu isolieren, obwohl der Wirkung und der Sache nach Kierkegaards literarisches Werk, seine theologischen und philosophischen Inhalte durchaus als einheitlich gehalten werden können. Dieser Zusammenhang sei abschließend am christologischen Problemkontext präzisiert. Dabei können zwei Aussagen Kierkegaards als regulierende Fixpunkte eingeführt werden, nämlich die eine über das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Reflexion: dass die Reflexion rückwärts erinnere 36 NB7:35 in SKS 21, 93f. 37 NB7:72 in SKS 21, 112.
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und Leiden mit der Seligkeit zusammensetze;38 die andere ist mehr biographischer Art und geht auf Kierkegaards zwanghaften Opfergang des Korrektivs ein, wie er zuletzt als Ideologiekritik beschrieben wurde: „weshalb war Bischof Mynster doch ein Lump! Wäre nur etwas an ihm gewesen, so wäre ich nicht so weit hinausgebracht worden, wie es der Fall ist. Ich hätte hier eingeschwenkt, und ich, gerade ich wäre dahin gekommen, in sympathetischer Schwermut darzustellen, was man Christentum im Interesse des Menschen nennen müsste.“39 Existenzdialektisch lösbar wird diese Situation des Korrektivs wider Willen nur in der christologischen Orientierung, an der sich Kierkegaards späte Tagebücher abmühen. Es ist zumal die lutherische Kritik, die Kierkegaard mit sicherem Gespür sofort provoziert und der er sich selbst schon stellen müsste: Wie stehe es um Glaube und Werke, wieweit ist Christus Vorbild und Forderung zur märtyrerhaften Nachfolge, wieweit ist die Gnade ganz ohne Bedingungen uns schon zugut angerechnet? Es ist bekannt, dass Kierkegaards Kritik an Luther – gemeint ist zuallererst das Luthertum! – zum Ende hin immer härter wird, vor allem in den Tagebüchern. Die Kritik lässt sich darin zusammenfassen, dass Luther kein Dialektiker war,40 und genau darin gehen Kierkegaards theologische Arbeiten des Spätwerks über das ihm vorliegende Luthertum hinaus. Er versetzt neu und polemisch gegen eine selbstsichere, protestantische Gnadenlehre – vor allem gegen deren ideologische Funktionen! – den Glauben in die existenzdialektischen ,Situationen‘ und ,Handlungen‘ des tatsächlichen Lebens, in dem man sich auch durchaus ,freiwillig‘ einer Gefahr aussetzt, wie es Kierkegaard selbst in der Corsar-Auseinandersetzung provoziert hat. Dann kommt es zu „christlichen Situationen“,41 und die sollte man nicht fürchten und sich mit der Abwehr von Werkgerechtigkeit herausreden. Dass diese einfache Logik, alles Handeln tendiere zur Werkgerechtigkeit, nicht trifft, zeigt Kierkegaard in seinen christologisch-dialektischen Analysen. In Doppelbegriffen wie ,Strenge und Milde‘, ,Vorbild und Versöhner‘ versucht er zu zeigen, dass die Versöhnung verkümmert, zum billigen Trost degradiert wird, wenn der fordernde Charakter gerade dieser Versöhnung, die ja faktisch immer wieder aussteht, ausgeschlossen bleiben soll. Am treffendsten hat Kierkegaard dies im Gleichnis von der ,zahmen Gans‘ seinem Protestantismus 38 39 40 41
NB13:62 in SKS 22, 311. NB32:127 in SKS 26, 214 – 217. Vgl. NB5:10 in SKS 20, 373 – 375. Vgl. z. B. NB27:75 in SKS 25, 190.
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vorgehalten, der im nur noch ideologischen Gedenken an die Gefahren des Fliegens und des rauhen Lebens der Wildgänse zahm und fett seinem natürlichen Schicksal entgegengeht.42 Leidenserfahrung, Forderung der Nachfolge in der konkreten Situation müssen konstitutiv für ein Christentum sein, das diesem Gleichnis von der zahmen Gans entkommen will; christologisch gesprochen kommt die Zuordnung von Kreuz und Auferstehung, Nachfolge und Versöhnung in eine bleibende Spannung der faktischen Verhältnisse, trotz und wegen der übergeordneten Versöhnung, wie sie im Gottesbegriff zugeordnet werden muss. Die doppelte Dialektik, von der oben bei der Definition der Existenzdialektik gesprochen wurde, ist genau hier in der Christologie zu lokalisieren. Um die Aktualität dieser Zuordnung zum Sprechen zu bringen, will ich vorschlagen, das, was die lutherische Tradition etwa mit dem Begriffspaar von simul iustus et peccator zum Ausdruck brachte und was Kierkegaard in seiner dialektischen Interpretation von Gnade als Forderung durchdenkt, neu zu fassen in dem Begriffspaar Zwang und Befreiung. Kierkegaard war hier sicherlich in der Gefahr, in seiner Rolle des Korrektivs den Zwang, der faktisch vorliegt und auf den er aufmerksam machen wollte, im Selbstopfer zu stilisieren, worüber die Befreiung – das „Christentum im Interesse des Menschen“ – scheinbar ins Jenseits wegrückte. Zu bestehen ist aber mit Kierkegaard auf diesem kreuzestheologischen Aspekt zur Diagnose und Therapie unserer Gegenwart durch das Christentum: Seine, si placet, frohmachende Rede davon, dass es hier Trost und Erlösung gibt, wird zur Plage für die Gesellschaft, indem sie daran erinnert, nach welchem furchtbaren Maßstab in der Welt gelitten wird, und indem sie an den Schrecken der Sünde erinnert.43
Die Befreiung also geht über Veränderung, die Kierkegaard selbst in Gang bringen wollte und die ihr Bild in der Auferstehung hat, die zum Kreuz gehört; sie ist allerdings so wenig unmittelbar wie der Glaube, existenzdialektisch zugesagt und verschlüsselt. Aber von der faktischen „Behebung einer irdischen Not, eines zeitlichen Kreuzes“, wie es in der Krankheit zum Tode heißt,44 ist trotzdem nichts nachzulassen.45 Dass Kierkegaard hier geschwankt hat, ist nach allem verständlich und verdient 42 Gemeint ist die zweite Fassung von 1854 in NB25:22 in SKS 24, 451f.; vgl. die erste in NB30:24 in SKS 25, 401 – 403. 43 NB14:62 in SKS 22, 380f. 44 SD in SKS 11, 285. 45 Vgl. auch NB13:18 in SKS 22, 283f.
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angesichts dieses Lebens und seines bewussten Weges nur größten Respekt. Die dialektische Theologie, die von Kierkegaard lernen will, wird Zwang und Befreiung zusammendenken müssen, nicht als glatte Vermittlung, das verbietet das Paradox, aber als Veränderung, die in Gang gekommen ist und in Gang gebracht werden muss; auch wenn dazu immer wieder der Vorbehalt gehört, der Befreiung unserer Produktionsund Konsumtionssphäre entzogen sein lässt. So sehr sind Theorie und Praxis, Zwang und Befreiung gegeneinander verstellt und aufgegeben. Dies durchdacht und durchlebt zu haben, macht Kierkegaards theologische Aktualität; ausgehalten hat er als Dichter des Religiösen, der im Angriff zum Satiriker und damit engagierten Literaten wird – die ästhetische Dimension ist nicht wegzudenken. Ob die Philosophie hier noch mitdenken will, wage ich zurzeit nicht zu entscheiden. Dass Kierkegaard die Dialektik auch im Gottesbegriff, wie es sich für eine richtige Christologie von selbst versteht, ebenso entdecken musste, was doch auch philosophischen Rang hat, sollte zum Schluss noch zitatweise vorgelegt werden: Christentum ist: was Gott mit uns Menschen leiden muss […] Nun ist, wenn man so will, in Gott der Widerspruch, der die Quelle aller Qual ist: er ist Liebe und dennoch ist er ewig unveränderlich […] Als Christus rief „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – da war das entsetzlich für Christus, und so wird es auch gewöhnlich dargestellt. Aber mich dünkt, es ist noch entsetzlicher für Gott gewesen, das zu hören […] derart unveränderlich sein und dann Liebe sein: unendliche, tiefe, unergründliche Trauer!“46
46 NB31:86 in SKS 26, 63.
Bekenntnis und Handlung – nach Søren Kierkegaard* Man kann Christus nur durch Handlung bekennen. […] Sieh, dies hat man in der Christenheit abgeschafft! 1 S. Kierkegaard
I. Zur Nikodemus-Typologie in Kierkegaards Tagebchern Kierkegaard war betroffen von der Figur des Nikodemus, diesem halbherzigen, uneindeutigen, ja vielleicht kann man sagen: diesem verunglückten Jünger Jesu, wie ihn das Johannesevangelium darstellt. Dieser Nikodemus ist hintergründig eingebaut. An drei Stellen taucht er im 4. Evangelium auf: Formell eingeführt und als nächtlicher Gesprächspartner Jesu zum Thema Glaube und Geist in Kap. 3; er ist Repräsentant der jüdisch-religiösen Führungsschicht, das Gespräch wäre eigentlich ein offizielles Treffen, durch die nächtliche Tarnung aber wird es offiziös, vielleicht auch romantisch für den Politiker Nikodemus, den man sich dann nachts heimlich zu dem berühmten Rabbi Jesus hinstehlen sieht, damit diese Zusammenkunft vor der Presse und der öffentlichen Meinung verborgen bleibt. Die dann noch folgenden Erwähnungen des Nikodemus im Johannes-Evangelium geschehen mehr am Rande, so in Kap. 7 während eines Streitgesprächs mit den Pharisäern und in Kap. 19 bei der Bestattung Jesu, in beiden Fällen aber wird ausdrücklich die geheimnisvolle Szene in Erinnerung gebracht, es handle sich um den, der damals bei Nacht gekommen sei! Ich muss bei dieser Szenerie immer an die – sicher monströse – Evangelien-Verfilmung von Zeffirelli denken, die doch in einigen Zügen interessante Deutungen eingesetzt hat; hier nämlich die, diesen Nikodemus während des Kreuzestodes Jesu unter die * 1
Deutsche Fassung des Vortrags, der am 15. 3. 1980 in Haslev / Dänemark während einer Konferenz der theologischen Fakultät der Universität Kopenhagen (Thema: Bekenntnis und Handlung) gehalten wurde. Pap. X 6 B 261, S. 433.
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Zuschauer zu stellen, und wenn ich mich recht erinnere, hat eben dieser Nikodemus in der Kreuzesszene die Worte vom Gottesknecht aus Jesaja 53 für sich und damit für die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Ereignisses rezitiert. Kierkegaards Sympathien für diese Figur aber sind zwiespältig, weil er Nikodemus keineswegs als halbherziges Vorbild für eine halbherzige Christenheit rühmt, sondern weil er in Nikodemus den Typus einer ehrlichen Verstecktheit der unehrlichen Christenheit seiner Gegenwart entgegenhält. Nikodemus wird so zum indirekten Zeugen für die verkehrten Verhältnisse des ,Bestehenden‘, denn Kierkegaards ideologiekritische Analysen seit 1846 – 48, seit den Corsar-Ereignissen und seit Anti-Climacus, laufen darauf hinaus, dass dem offiziellen Christentum keinerlei Berufung auf seinen ntl. Ursprung mehr zustehe, dass es ihm deshalb besser anstünde, sich wie Nikodemus zu Jesus zu verhalten, das Licht des Tages zu scheuen und lieber im Geheimen mit Jesus Kontakt zu halten als im Brustton der Offizialität. Kierkegaards Spätwerk, ich meine damit die Zeit nach und seit 1848, bestreitet der Kirche die christliche Legimitation, bestreitet die ,verborgene Innerlichkeit‘ des Glaubens, wie sie in den pseudonymen Werken vor 1848 noch herausgearbeitet worden war, als christliches Kriterium – sonst hätte Jesus den heimlichen Nikodemus ja als Jünger akzeptieren können! 2 Das Unehrliche der Gegenwart hat in Nikodemus sein ehrliches Vorbild, so wie Kierkegaard etwa die Kritik Feuerbachs am Christentum durchaus als willkommenen und notwendigen Angriff auf das tatsächliche Verhalten der Christen akzeptiert, während er die weltanschauliche Verketzerung des sog. ,Freidenkers‘ Feuerbach durch das offizielle Christentum für einen Selbstbetrug, für eine „ungeheuere Fälschung“, hält.3 Und genau in dieser ,dialektischen‘ Funktion, in der eine wahrhafte Verteidigung des Christentums wie ein Angriff aussieht, versteht Kierkegaard in derselben Tagebuchaufzeichnung von 1849 die Leistung des Pseudonyms Johannes Climacus; dieser hat bereits durch seine Ausgrenzung des Christlichen aus allen möglichen bürgerlichen, religiösen, ästhetischen und ethischen Vermittlungen seinen Beitrag zur Klärung der Situation geleistet, die Kierkegaard dann endgültig und offiziell im Kirchenangriff 1854 – 55 – als wäre sie jetzt spontan – herausschleudert: Christentum ist unvereinbar mit der bürgerlichen Verfassung von Staat und Kirche, worin die Praxis des Lebens nach ökonomischen 2 3
Vgl. NB31:152 in SKS 26, 112. Vgl. NB13:92 in SKS 22, 335 – 337 / T IV, 28ff.
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und politischen Bestimmungen abläuft, die sich nur noch ideologisch in christlicher Weltanschauung, Theorie und verborgener Innerlichkeit halten. Typus dieser verkehrten Verhältnisse ist Nikodemus! In einer Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahr 1853 heißt es unter der Überschrift: „Nikodemus und ich“: „Je mehr ich über die Verhältnisse nachdenke, desto klarer wird es mir: auf die Weise Christ zu sein wie heutzutage in der Christenheit, ganz richtig am hellichten Tage, das ist 100.000-mal schlimmer als wie Nikodemus in der Nacht zu kommen.“4
II. Das Prinzip ,Handlung‘ als existentielle Ethik Dass Kierkegaard im Spätwerk Christentum geradewegs als Handlung definiert, klingt für die Ohren einer lutherisch geprägten Theologie natürlich skandalös. Man hört in dieser Definition mehr den JakobusBrief als Luthers Auslegung des Paulus; und wie steht es um den allein rechtfertigenden Glauben, wenn erst die Handlung dem Christentum Sinn geben soll, wie Kierkegaard fordert, riecht das nicht gefährlich nach ,guten Werken‘? An dieser Stelle steht also eine theologische Entscheidung bevor, hier sind Konsequenzen aus Kierkegaards Theologie zu ziehen, aus seiner Position im und gegen das ,Bestehende‘, wie er die gesellschaftliche Situation im 19. Jahrhundert nannte. Zuvor aber muss geklärt sein, dass diese theologische Wendung Kierkegaards durchaus nicht unmotiviert eintritt, dass die Frage seines Lebens, wie einer Christ ,werden‘ könne, geradezu auf solch eine Handlungsbestimmung zuläuft. Und in der Konsequenz der Durcharbeitung dieser einen Frage steht Kierkegaards gesamtes Schriftstellerwerk; die Abfolge der verschiedenen Pseudonyme, die Parallelität der verschiedenen Schreibformen, die taktische und listige Einordnung des Gesamtwerks nach dem Stadienschema (des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen) dienen dem einen Ziel, endlich einmal wieder angeben zu können, was Christentum sei, wenn man nur die Traditionen des Abendlandes, die Verwicklungen der Kirchengeschichte, die Denkbedingungen der idealistischen Reflexionsphilosophie und schließlich die politisch-ökonomischen Entwicklungsformen und Gesetzmäßigkeiten des 19. Jahrhunderts in Abzug bringen könnte. Dies Programm einer geradezu phantastischen Reduktion bedurfte allerdings der Umwege und indirekten Zugänge, und das ist es, was die Sonderstellung von Kierkegaards literarischen Werken 4
NB28:37 in SKS 25, 244f. / T V, 167.
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und der sie begleitenden Texte, ich meine nicht nur die erbaulichen Reden, sondern auch die Tagebücher, ausmacht: die kompromisslose Strategie, der die versponnenste dichterische Passage genauso unterstellt sein soll wie die extreme Denkanstrengung philosophischer und psychologischer Präzision; die Strategie, die sich selbst als religiöses Interesse kundgibt. Dieses Religiöse wiederum braucht notwendig den indirekten Weg, Kierkegaard definiert es bekanntlich als Innerlichkeit – zum Trotz gegen alle Errungenschaften an Objektivität und Wissenschaft seiner Zeit, zum Trotz gegen alle Vermittlungen von Denken und Sein, Geist und Geschichte, Gott und Welt. Deshalb lässt sich auf offiziellem Weg über diese Innerlichkeit gar nichts ausmachen, staatskirchliche Bekenntnisse sind ihr äußerlich, die philosophische Dialektik überspringt diese Innerlichkeit ebenso wie die bürgerliche Tugendlehre; Innerlichkeit ist das ganz Andere, nicht einfach Zugängliche, deshalb diese groß angelegte Reduktion von allem Vermittelbaren weg zu dem Lebensbereich, der allein über Sprünge, über Hineinversetzen, Nachvollziehen, Sympathie, Selbstbezüglichkeit – wenn überhaupt – zugänglich ist. Hier liegen die literarischen wie sachlichen Aufgaben und Leistungen der Pseudonyme, solche Figuren als Exempel ins Bild zu setzen: Abraham, der potentielle Mörder in Innerlichkeit; die an Wahnsinn grenzenden unglücklich Verliebten in allen Texten der frühen Pseudonyme; Sokrates als der ehrliche Denker, der auch lebt, was er denkt, und diesen Zusammenhang zum Kriterium erhebt. Im Hintergrund dieser Masken, Rollen und Funktionen, die die Pseudonyme vorzuführen haben, steht Kierkegaard selbst in eigenem Versteckspiel, und schon in diesem frühen, dem nicht ganz mit Recht immer als ,ästhetisch‘ bezeichneten Bereich seiner Biographie, lebt er bei allen dichterischen Distanzierungen doch das selbst, was er andere reden und schreiben lässt – und ja doch letztlich immer selbst schreibt. Aber in dieser Phase darf zumindest der ganze Zusammenhang noch in der ironischen oder humorvollen Schwebe gehalten werden: der Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis – Bekenntnis und Handlung, wie man durchaus schon sagen könnte; wie treffend nachempfunden Karl Barth in seiner frühen ,Christlichen Dogmatik‘ einmal zum Verhältnis Kierkegaard / Hegel und Don Giovanni / Leporello formuliert hat: „Wir stehen hier vor dem Punkt, wo einst Kierkegaard gegen Hegel die Interessen des Christentums und der Philosophie meinte wahrnehmen zu müssen. Ihm kam das Verhältnis der Hegelschen Dialektik zu der wirklichen vor wie das des Leporello mit seinem Register zu seinem Herrn Don Juan, der im Unterscheid zu jenem
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selber trinkt, verführt, genießt und dementsprechend dann selber zur Hölle fährt.“5 Worum hier wie in Kierkegaards sämtlichen pseudonymen Werken gestritten wird, das ist die Wirklichkeit, die nicht bloß gedacht, sondern gelebt werden soll; das gilt ästhetisch gesehen z. B. für Kierkegaards Kritik an Goethe, ethisch gesehen z. B. für den Zeitgenossen (Etatsrat Molbech), der sich Kierkegaard gegenüber beklagte, in Gesellschaften zum Weintrinken genötigt zu werden, was ihm gar nicht bekomme; Kierkegaard empfiehlt in der ihm eigenen, psychologisch geschulten, zugleich aber etwas bissigen Art, doch nur einmal in solch einer Situation die Güte des Weines anzuzweifeln, und keiner würde ihn mehr zum Trinken nötigen! Fazit und Überschrift dieser Tagebuchaufzeichnung betreffs Goethe und Molbech: „Geschwätz und Gerede und Geplapper anstatt Handlung“.6 Wirklichkeit und Wahrheit, das ist vor allem Kierkegaards philosophisches Programm, werden prinzipiell verfehlt, wenn sie nur im Allgemeinen, d. h. im Bereich logischer, metaphysischer oder dogmatischer Wirklichkeit lokalisiert werden oder gar im weltgeschichtlichen Durchgang philosophischer Mediation, wie es Climacus in unermüdlicher Ironie Hegel und dem Zeitgeist vorhält. Das Gegenteil zu erreichen, geschieht daher in streng immanenter Kritik im Abräumen der sich im Allgemeinen und Objektiven sichernden Vermittlungen: ästhetisch, indem alle Spannung in den inneren Konflikt verlagert wird; ethisch, indem die Entscheidung von ihren äußeren Gegenständen tendenziell auf die Entschiedenheit konzentriert wird; politisch, indem gegen die von Kierkegaard eigens analysierten Zeitcharaktere der ,Nivellierung‘, der Menge, der Masse und der Presse, der alles umschließenden Instanz der öffentlichen Meinung in zugespitzter Reduktion der ,Einzelne‘ kontrastiert wird. Das alles kommt zusammen in der christlich-religiösen und damit zugleich exklusiven Kategorie des Paradox, das die Wirklichkeit auf eine doppelte Weise verschlüsselt sein lässt: Nach innen in unbedingter Leidenschaft in der Frage nach sich selbst, dem ethischen und existentiellen Denken, wie es vor allem Climacus in der ,Nachschrift‘ entwickelt, oder wie es schon im Begriff Angst hieß, „dass die Wahrheit nur für den Einzelnen ist, sofern er selbst sie handelnd erzeugt.“7 Letztere ,Religiosität B‘ hängt demnach als Potenzierung an ihrer allgemeinen ,Religiosität A‘, und so sehr die gemeinsame Bedingung intensivste Inner5 6 7
K. Barth Die christliche Dogmatik im Entwurf, München 1927, S. 12. NB:18 in SKS 20, 28f. / T II, 57 – aus dem Jahr 1846. BA in SKS 4, 439f. / BA in GW1 7, 144.
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lichkeit, das Pathos existentiellen Selbstinteresses am zu lebenden Leben darstellt, so sehr muss zur paradoxen Kennzeichnung des Christentums der Außenbezug, das Historische – und schließlich in den Bestimmungen des Anti-Climacus – die Sonderexistenz in der Nachfolge hinzutreten. Es zeichnet sich sofort ab, dass sich für Kierkegaard hier eine Aporie ergibt, die aus dem Ansetzen der Gesamtaufgabe seines Lebens notwendig folgen muss: Die Strategie der Reduktion, der Rückführung aller äußeren, gegenstandsmäßigen, ableitenden Vermittlungen (Climacus spricht für diesen Bereich exemplarisch von ,Approximation‘ und bloß ,quantitativem‘ Verhältnis) auf den existentiell alles entscheidenden Akt begibt sich zunächst zwangsläufig und mit Absicht sogar jeder äußeren Bestimmbarkeit, während das Christentum – der eigentliche, religiöse Sinn des gesamten literarischen Aufwandes, den Kierkegaard in Gang bringt – geradezu definiert ist durch ein historisches Außenverhältnis bzw. durch eine konkrete Existenzbestimmtheit: die Nachfolge. Dass sich Kierkegaard dieser Aporie bewusst ist, besser gesagt zunehmend erst bewusst wird, ließe sich an der Krisenzeit seines Selbstverständnisses um 1848 demonstrieren. Hier nur kurz zusammenfasst: Mit diesem Zeitpunkt, resultierend aus den politischen Umwälzungen, den Cosarerfahrungen (d. h. hier bereits im Rückblick auf eine bewusst und freiwillig eingesetzte Handlung als Christ!) und der eigenen finanziell unabgesicherten Situation als freier Schriftsteller gerät Kierkegaard in den Entscheidungszwang, entweder seine Arbeit an der idealen Ausformulierung und den praktischen Konsequenzen wirklichen Christentums einzustellen (weil er darin längst zu weit gegangen war, als dass er sich auf dieser Basis ehrlicherweise noch mit dem ,Bestehenden‘ in Kirche, Staat und Gesellschaft hätte arrangieren können) oder diese ideale Konsequenz des Christentums auf seine Weise noch radikaler herauszuarbeiten, dann aber auf Kosten und mit dem vollen Risiko, sich öffentlich zum Ärgernis, zur Ausnahme, zum Opfer zu machen, ohne die geringste ökonomische Lebensabsicherung für die nächsten Jahre. Kierkegaard hat unter Qualen und Selbstzwang sich schubweise zu der zweiten Alternative entschlossen, das neue Pseudonym von 1849: Anti-Climacus war ein entscheidender Schritt in dieser Richtung, der Kirchenangriff dann der letzte. Dadurch ist Kierkegaards eigenes Leben und nicht nur seine Literatur für die eigene Lehre exemplarisch geworden, genau so, wie seine Pseudonyme immer schon den Zusammenhang von Leben und Lehre des existentiellen Denkers gefordert hatten. Die faktische Vermittlung von Theorie und Praxis hat derselbe Kierkegaard – zumindest partiell und als Korrektiv – an sich selbst und allen zum Ärgernis vorgeführt, der zugleich innerhalb der
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Theorie seiner Schriften und deren Konstruiertheit nicht müde wurde zu betonen, dass zwischen Theorie und Praxis, zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit ein Graben sei, ein Sprung nötig wäre, der Glaube die einzige, reflektiv nicht zu integrierende Zwischenbestimmung. Die genannte Aporie entsteht in der Diskrepanz der selbst geforderten und selbst gelebten Situationsbestimmungen: Einerseits hat Kierkegaard als Anti-Climacus ideale Märtyrerforderungen als Charakteristik des wahren Christentums aufgestellt, denen er selbst auch zum Ende hin nicht nachkommen konnte und durfte, sofern er der Dichter dieses Christentums blieb mit der begrenzten Aufgabe, nur ,aufmerksam machen‘ zu können, als ,Korrektiv‘ eben diese Diskrepanz ins Licht rücken zu müssen; andererseits – und das ist der materiale Aspekt derselben Sache – hat Kierkegaard die konkrete Bestimmung der Nachfolge als bestimmte ,Handlung‘ in der bestimmten ,Situation‘ insofern praktiziert und zum Kriterium des Christentums gemacht, obwohl die Strategie des Gesamtwerks die Festlegung auf Außenbedingungen absolut hätte meiden müssen. Genau an dieser Aporie, an Kierkegaards produktiver Inkonsequenz entsteht für eine aktuelle Kierkegaard-Interpretation das Recht zu einer kritischen Aufnahme seiner Theologie. Angriff und Verteidigung des Christentums in der Christenheit kommen dabei dialektisch verschlungen zur Geltung, wie es Kierkegaard in der eingangs zitierten Bemerkung über Nikodemus und die Aufgabe des Climacus bereits festgestellt hat, und unter dieser Interpretationsvorgabe lässt sich kurz der Denkweg des Climacus in dieser Sache noch einmal anführen. Climacus bricht alle denkmöglichen Vermittlungsstützen des Christentums – vor allem die des philosophischen Zeitgeistes. Die ,ewige Seligkeit‘ – vielleicht sollten wir heute dafür von der utopischen Intention ,richtigen Lebens‘ sprechen, die nicht aufgeht im faktisch Bestehenden – diese ewige Bestimmung wird in den philosophischen Analysen des Climacus aus ihrer ,griechischen‘ Position im Rücken der Menschen (,Erinnerung‘) herausgenommen und über die Neubestimmung der christlichen Wahrheit des Gottes in der Zeit als Aufgabe der ,Entscheidung in der Zeit‘ vor den Menschen gerückt.8 Gegen alle Einheits- und Totalbestimmungen setzt das Christentum daher eben diese ,Disjunktion‘,9 Wirklichkeit und Wahrheit in diesem Sinne – dafür steht bei Climacus das ,Ethische‘ – liegen weder in Reflexion noch hinter 8 9
Vgl. AE in SKS 7, 92 / AUN in GW1 10, 87. Ebd.
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oder über mir, sondern vor mir:10 „denn gerade darin liegt die Entwicklung der Subjektivität, dass der Mensch handelnd in seinem Denken über seine eigene Existenz sich selbst durcharbeitet; dass er also wirklich das Gedachte denkt, indem er es verwirklicht“.11 Die theologische Fassung dieser Erkenntnis des Climacus lautet folgendermaßen: „dort, wo die Ewigkeit sich als das Kommende zum Werdenden verhält, dort ist die absolute Disjunktion zu Hause. Wenn ich nämlich Ewigkeit und Werden zusammen setzte, bekomme ich nicht Ruhe, sondern das Kommende.“12 Und mit gebührendem Respekt ist hier anzumerken, dass die Theologie des 20. Jahrhunderts seit einiger Zeit dabei ist, diesen Kenntnisstand des Climacus einzuholen, indem sie Gott bestimmt als in Hoffnung, im Werden, im Kommen. Der kritische Punkt in solch einem Vergleich ist allerdings, dass Climacus aus dieser Erkenntnis heraus keine Gotteslehre, keine Christologie usw. im schultheologischen Sinn vorträgt, sondern dass die Ableitung des ,Kommens‘ der Ewigkeit als immer aktueller Widerspruch im und gegen das ,Werden‘ festzuhalten ist; und auch dieses ,Festhalten‘ ist keine Aufgabe des Gedankens allein, sondern eine des Existierens, die Aufgabe nämlich, das Disparate zusammenzusetzen. Dies ist die alles entscheidende Handlung, so will es Climacus, dies nennt er ,Existenz-Dialektik‘,13 weil die theoretisierend zu ermittelnde Widersprüchlichkeit ihren Sinn und ihren notwendig praktischen Ort allein in der Existenz hat, dem zu lebenden Leben; und wie es sich für Climacus, den Spezialisten indirekter Mitteilung, gehört, hat er dies im Theoretischen nie aufgehende Phänomen in ein nicht zu übertreffendes Bild gefasst (das Bild vom Fuhrmann, der mit einem Pegasus und einem Schinder zugleich zurecht kommen muss): „Die Ewigkeit ist wie jener geflügelte Renner unendlich schnell, und die Zeitlichkeit ist ein Schinder, und der Existierende ist der Fuhrmann, wenn nämlich Existieren nicht so etwas sein soll, was man so existieren nennt; denn dann ist der Existierende kein Fuhrmann, sondern ein voller Bauer, der im Wagen liegt und schläft und den Pferden ihren Lauf lässt.“14 Diese Aufgabe mit diesen beiden Pferden wird jeden ein Leben lang in 10 Vgl. SKS 7, 110 / GW1 10, 106: „und die Reflexion kann nur angehalten werden durch etwas anderes, und dieses andere ist etwas ganz anderes als das Logische, da es ein Entschluss ist.“ – SKS 7, 115 / GW1 10, 112: „Alles Verstehen kommt hinterher.“ 11 SKS 7, 156f. / GW1 10, 160. 12 SKS 7, 279f. / GW1 11, 8. 13 SKS 7, 282 / GW1 11, 10. 14 SKS 7, 284 / GW1 11, 12f.
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Atem halten, und das hat Climacus mit diesem Bild auch beabsichtigt, denn wer ständig unter solchem Druck steht, wird kaum Zeit finden, sich dann auch noch mit philosophischen Systemen, mit Dogmatik oder Ethik an sich zu beschäftigen. „Das Ewige ist die Kontinuierlichkeit der Bewegung“,15 und in diese Bewegung gehören Bekenntnis und Handlung gleichermaßen und ohne Ansprüche höherer Ordnung. Gerade die praktische Gleichzeitigkeit von Bekenntnis und Handlung ist die Grundbedingung dafür, dass nicht abstrakt über das Existieren, aus dem keiner sich verabschieden kann, hinweggeredet wird. Das bedeutet sicher nicht den kurzschlüssigen Zwang, Dogmatik und Ethik seien nun dasselbe, sofern weder Theorie und Praxis noch Denken und Handeln irgendwie existenzialistisch zusammenfallen; im Gegenteil: hier ist genau zu unterscheiden, das aber eben im Blick auf die Einheit des Existierens, die noch keiner einfach zur Verfügung hat. Würde man an dieser Stelle nicht differenzieren, erkaufte man die zu schnell vorgespiegelte Identität von Denken und Sein mit theoretischer Dummheit; umgekehrt die selbstgenügsame, sich nicht vor ihrem praktischen Forum verantwortende Theorie mit der Lüge über die wirklichen Verhältnisse, in denen existiert wird. Diese beiden Fehler auszuschließen, ist Climacus als vortragendes Pseudonym konstruiert und gehört insofern zur Sache; seine Handlung ist seine theoretische Fassung der Existenz in der Frage nach dem Christwerden. Deshalb kann er als Kennzeichen bereits ein ,Streben‘16 fordern, obwohl zugleich gilt, dass Christentum weder als die entscheidende Handlung noch als die ,glückliche Leidenschaft‘ des Glaubens (wie es Climacus in den Philosophischen Brocken fasst) so einfach produziert werden kann; von dieser Schwierigkeit hängt alles ab: Christentum ist nicht die ,Perspektive nach rückwärts‘, sondern „Christentum ist die Richtung nach vorn hin, zum Christwerden hin, und es dadurch werden, dass man fortfährt, es zu sein.“17
III. Kritik der existentiellen Ethik Die Konzentration auf die eine Problemstellung: das Existieren bzw. das Christwerden, wird ermöglicht durch die Reduktion weg von allen äußeren Vermittlungsinstanzen auf die Leidenschaftliche Innerlichkeit. 15 SKS 7, 284f. / GW1 11, 13. 16 SKS 7, 478 / GW1 11, 236. 17 SKS 7, 547 / GW1 11, 316.
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Dies drückt sich bei Climacus am krassesten in seiner Fassung des Ethischen, der Handlung darin aus, dass der Gedanke an ein nun wirklich praktisches Ergebnis einer Handlung, an eine nun wirklich konkrete Tat oder Veränderung mit demselben Pathos und mit derselben Eloquenz abgebogen werden, mit der zuvor die existentielle Tathandlung absolut unentbehrlich gemacht wurde. Climacus nimmt damit die Position von Kierkegaards Ethik, wie er sie 1847 in der Redensammlung Taten der Liebe vorgetragen hat, vorweg. ,Handlung‘ und ,wahre ethische Begeisterung‘ werden vom Pseudonym aufgefordert, „niemals daran zu denken, ob man dadurch etwas ausrichtet oder nicht.“18 – „Die Wirklichkeit ist nicht die äußere Handlung, sondern ein Inneres“.19 Wie ernst es Kierkegaard mit dieser Reduktion ist, zeigt am besten die hier angefügte Auslegung des Samariter-Beispiels nach Lukas 10.20 Für Kierkegaard wird dieser Fall praktischer Ethik – und kann man Nächstenliebe als konkrete und indirekte Hilfeleistung eigentlich noch plastischer vorlegen, als es in dieser Beispielgeschichte vom Mann, der unter die Räuber fiel, geschieht? –, für Kierkegaard wird dieser Fall überhaupt erst interessant, wenn er sich den ausdenkt, der nicht hilft: Der Levit, und als er dann doch helfen will, sich nach Bedenken zur Handlung entschlossen hat, kommt er zu spät, kann faktisch nicht mehr helfen! ,Hätte er dann nicht gehandelt?‘ fragt Climacus und gibt selbst die Antwort, seine Antwort: „Ganz gewiss hätte er gehandelt, und doch kam er nicht dazu, im Äußeren zu handeln.“21 Dass Kierkegaard, während er längst daran gegangen ist, die Kritik des bürgerlichen Christentums zu betreiben, trotzdem noch diese Diastase von Äußerem und Innerem aufrichtet, nicht nur den Glauben in die Innerlichkeit verlegt, was die Christenheit, wie er sehr gut weiß, längst mitvollzogen hat, sondern ausgerechnet auch die Handlung, die Nächstenliebe, das ist so extrem, dass hier nicht eine fehlerhafte Variante in Kierkegaards Ethik vorliegen kann, sondern ihre Absicht. Diese ist allerdings nur in einer Gesamtinterpretation Kierkegaards aufzunehmen, zurückkommend auf die Gesamtintention seines Lebenswerks und dessen Strategie, darin erst hält sich auch die hier unumgängliche Kritik. Ich will dies beispielhaft im Verweis auf die Entwicklung des Begriffs der Innerlichkeit im Gesamtwerk versuchen: Die Position des Climacus 18 19 20 21
SKS 7, 126 / GW1 10, 125. SKS 7, 310 / GW1 11, 42. SKS 7, 311 / GW1 11, 43f. Ebd.
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steht zwischen Frühwerk und Spätwerk Kierkegaards, d. h. während in Furcht und Zittern die religiöse Innerlichkeit noch im Modell des ,Glaubensritters‘ gehalten war,22 für den es im Äußeren keinerlei Merkmale geben kann, hat das Spätwerk vor allem in der Analyse und Kritik Mynsters als Exempel für die Christenheit den Begriff dieser ,verborgenen Innerlichkeit‘ aufgegeben, sieht umgekehrt darin gerade den Betrug der Christenheit am Christentum, und setzt als Kriterium die Nachfolge, die konkrete Situation und Handlung. Dazwischen steht Climacus in dem Bemühen, die verborgene Innerlichkeit abgetrennt vom Äußeren noch zu halten, sie zugleich aber so zu verstärken, dass sie eigentlich nicht mehr bleiben kann, worin sie doch gefangen gehalten werden soll: „lass uns nie vergessen, dass Innerlichkeit ohne Äußerlichkeit die schwierigste Innerlichkeit ist“,23 und: „solange der Streit und das Leiden in der Innerlichkeit dauern, solange wird es ihm nicht gelingen, die Innerlichkeit ganz zu verbergen“, heißt es über den Humor, als Inkognito des Religiösen.24 In diesem Übergang, den Climacus hier darstellt, macht sich also die oben schon angekündigte Aporie geltend, in die Kierkegaard zwangsläufig mit dem Spätwerk dann gerät, die äußerliche Wirklichkeit in der paradox aufs äußerste gespannten Innerlichkeit nicht mehr blockieren zu können. Der Begriff des Ethischen und der Handlung wird so gesehen doppeldeutig, die allein innere Entschiedenheit, wie es Climacus noch fasst, antizipiert Kierkegaards faktische Handlung, mit der er im CorsarStreit sich freiwillig opfert und im Kirchenangriff dann selbst aus der konstruierten Isolation im Protest heraustritt. Dass Kierkegaard in dieser Tendenz des Gesamtwerks wie in seiner Aporie mehr zum Ausdruck bringt als seine biographischen Voraussetzungen hier vielleicht erklären könnten, hat in der Kierkegaardforschung einzigartig Th. W. Adorno ins Blickfeld gerückt. Vor allem in einer Kritik von Kierkegaards Reden über die Taten der Liebe, worin ebenfalls im Extrem die höchste Liebe als die zu einem Verstorbenen gepriesen wird, stellt Adorno den geschichtsphilosophischen Zusammenhang her, diese Reduktion des Ethischen weg von aller äußeren Verbindlichkeit charakterisiere das 19. Jahrhundert: Kierkegaard „gehört mit wenigen Denkern seiner Epoche wie E. A. Poe, Tocqueville und Baudelaire zu denen, die etwas von den wahrhaft 22 Vgl. FB in SKS 4, 134 / FZ in GW1 3, 37ff. 23 SKS 7, 369 / GW1 11, 112. 24 SKS 7, 453f. / GW1 11, 209f.; vgl. ebd. die Fußnote zum ,Glaubensritter’ in Furcht und Zittern.
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chthonischen Veränderungen verspürt haben, die zu Beginn des Hochkapitalismus mit den Menschen selber, mit menschlichen Verhaltensweisen und mit der inneren Zusammensetzung menschlicher Erfahrung sich zugetragen haben.“ – „Die Paradoxie, dass wahrhaft lebendig bloß noch die Liebe zum Toten sei, drückt vollkommen aus, wohin es mit aller Unmittelbarkeit kam.“25 Kierkegaards Position ist deshalb weder einfach zu wiederholen noch pauschal zu verdammen; wenn Christentum und Theologie hier lernen wollen, müssen die veränderten Bedingungen des 20. Jahrhunderts zur produktiven Kritik Kierkegaards wie zur neuen theologischen Positionsbestimmung herangezogen werden.
IV. Theologische Konsequenzen Ich möchte die bisherige Diskussion zum Verhältnis von Bekenntnis und Handlung wie den Versuch einer Bestimmung der theologischen Konsequenzen in einer abschließenden Thesenreihe zusammenfassen: 1) Kierkegaards Ausgangspunkt besteht darin: Christentum in der Christenheit darf keine bestimmte äußere Handlung als spezifisch christlich ausgeben, weil so nur die längst praktizierte Verwirrung gefördert wird, Christentum sei ethisch gesehen so in etwa dasselbe wie bürgerliche Tugend, ordentlicher Lebenswandel. Kierkegaards – von Anfang an daher polemischer und dialektisch auf die Außenverhältnisse bezogener – Gegenbegriff ist der der religiösen ,Innerlichkeit‘. 2) Kierkegaard demonstriert, dass durch die Vermengung von Bürgerlichkeit und christlicher Tradition – im Spätwerk durchgehend: der ,Sinnentrug‘ des ,Bestehenden‘ genannt – auch das eigentlich christliche Bekenntnis völlig in den Hintergrund getreten ist; es ist zum Traditionsbestand degradiert worden, der volkstümlich und fraglos vorausgesetzt und im wissenschaftlich aufgeklärten Zeitgeist für letztlich integrierbar gehalten wird, jedenfalls aus sich heraus keinerlei kritische und produktive Anforderung mehr darstellt. (Die Position von Freidenkern oder Atheisten nimmt Kierkegaard dabei nur am Rande wahr, hält deren Einstellung aber für konsequenter und ehrlicher als den nur bemäntelten Atheismus der sog. ,geographischen Christenheit‘.) 25 Th. W. Adorno Kierkegaard. Konstruktion des sthetischen, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1966, S. 283 und S. 288.
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3) In dieser ,Situation‘ der Christenheit, des Bestehenden gilt es zuerst, auf diesen unhaltbaren, ideologischen Zustand aufmerksam zu machen, d. h. die Verwechslung des christlichen Bekenntnisses mit bürgerlichen Errungenschaften und gesellschaftlichen Ordnungen ist zu kündigen. Dies Programm realisieren die Pseudonyme im Hervortreiben der exklusiven Kategorie des Paradox-Religiösen (mit Hilfe der Stadienlehre), taktisch und funktional eingesetzt in der jeweiligen Rolle im Rahmen des Gesamtwerks. 4) Die Existenzdialektik als Programm Kierkegaards wird dadurch aporetisch, dass er als religiöser Schriftsteller seit 1848 unter dem Zwang steht, Christentum, das er als Paradox polemisch aus allen Vermittlungen (politisch, wissenschaftlich, kirchlich) ausgegrenzt hat, nun selbst leben zu müssen; zeigen zu müssen, was es in Wirklichkeit – seiner ureigensten Kategorie der Existenz – zu bedeuten habe. 5) Um dem Sinnentrug (siehe These 1 und 2) nicht wieder zu erliegen, werden Bekenntnis und Handlung des Christentums tendenziell als Nachfolge im Extrem des Selbstopfers (Martyrium) lokalisiert, worin die Selbstkonstitution der Wahrheit und Wirklichkeit ohne Abstriche erst vermittelbar ist; dann allerdings isoliert von allen, human-allgemein denkbaren ethischen Realisierungen (Nächstenliebe als Liebe zum Toten). 6) Der Preis für die gesellschaftlich reine und unverwechselbar christliche Situation ist die abstrakt werdende, extrem innerliche Ethik und (biographisch gesehen) im Spätwerk ein dualistisch-asketischer, welthassender Zug, der mit dem humanen Pathos von Kierkegaards Gesamtwerk nicht zusammenpasst; wie ebenso die faktisch weiter praktizierte Ästhetik (des religiösen Schriftstellers) mit der strengen christlichen Wirklichkeit kollidiert, die solches Verbleiben in dichterischer Möglichkeit und Distanz eigentlich verbietet; d. h. Kierkegaard kann selbst dem eigenen Anspruch aus prinzipiellen Gründen seiner Darstellbarkeit nicht genügen. 7) Aus dieser immanent fundierten Kritik folgt als heute akute Aufnahme der Stellung Kierkegaards: 7.1) Der Abstand zwischen den gesellschaftlichen Realitäten und der jeweiligen Christlichkeit ist im 20. Jahrhundert in enormem Ausmaß angewachsen, so dass die Ideologie des Bestehenden nur selten noch des Christlichen bedarf, ihre Legitimation eher aus einer allgemeinen Humanität (Menschenrechte) bezieht. Aufgabe des Christentums wäre es dann, diese neue Distanz zur produktiven Kritik zu nutzen, die die faktischen Verhältnisse an ihrem
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humanen Anspruch prüft und dabei gerade das Ethische, humane Handlung und Veränderung im Blick hat (wobei sich das Christentum von ,äußerer‘ Realisierung natürlich keineswegs dispensiert). 7.2) In diesem Aspekt des Ethischen ist Kierkegaards Kritik der Situation aufzunehmen. Christliches ist niemals einfach identisch mit einer bestimmten Realisierung; sondern mit der notwendigen humanen Realisierung und Veränderung besteht zugleich der Vorbehalt, der aus der ,absoluten Disjunktion‘ stammt: das Ewige (das ,richtige Leben‘) sei im Werden, im Kommen und als solches eben diese Bewegung, die immer neu die handelnde, verwirklichende Existenz verlangt und in ihrer Situation herausfordert. 7.3) Leitbild dieser Bewegung, dieser Situations- und Handlungsbestimmtheit des Christentums ist die ,christologische Situation‘ Gottes – Gott in der Zeit (wie von Climacus herausgestellt). Eine allgemeine Religiosität (Religiosität ,A‘ der Nachschrift), die heutigen Erfahrungs- und Verstehensbedingungen entsprechend ausgearbeitet werden müsste, kommt darin in ihre kritische Potenzierung (Religiosität ,B‘): in ihre Verwirklichung, in ihr Außenverhältnis (Geschichte und Gesellschaft) – die Menschlichkeit Gottes. 7.4) Dass sich diese Selbstkonstitution Gottes in der christologischen Situation nicht automatisch ergibt, das sicherte Kierkegaard durch das Kriterium des Paradox (in theoretischer Hinsicht), durch das ,Streben‘ und die ,Freiwilligkeit‘ der Nachfolge (in praktischer Hinsicht). Dabei stehen die faktischen Zwänge (die biographischen wie die gesellschaftlichen Existenzbedingungen) gegen die Befreiung im Glauben und umgekehrt. Der Vorbehalt, der vor der fixen Identifizierung von Christentum in bestimmten Realisierungen schützt (vgl. 7.2), ist zugleich utopisch-produktiv der Vorbehalt eines ,noch nicht‘ gelungenen Lebens in der anstehenden Veränderung.26 Eben dieser Widerspruch macht die Handlungssituation des Christentums, in der wir alle stehen und die wir zugleich alle nötig haben. Deshalb ist als ,Situation des Christentums‘ nicht nur der ,Augenblick des Todes‘ anzugeben, wie es Climacus am Ende der Nachschrift tut,27 sondern der Augenblick des Lebens. 7.5) „Religiös ,Wirklichkeit‘ zu erreichen, bedeutet: nicht gedeckt von der Objektivität einer Lehre, was der Glaubende im Allgemeinen tut […] nicht zu sagen: der Glaubende glaubt dies und das, sondern ich 26 Vgl. zu dieser Problematik von Christentum und Messianität: J. Moltmann Im Gesprch mit Ernst Bloch. Eine theologische Wegbegleitung, München 1976, S. 87. 27 SKS 7, 535 / GW1 11, 302.
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glaube dies und das, und kraft dieses meines Glaubens handle ich in diesem ganz konkreten Fall. So ist die Wirklichkeit erreicht, so kann Gott dazukommen, so ist die Verhexung gelöst, so ist der Sinnentrug gesprengt, Gott kann dazukommen, mit der Wirklichkeit zu kommunizieren.“28 Und dazu aus Blochs Münzer-Buch von 1921 – aus dem Jahr des frühen Tagebuchs, worin Bloch das Programm Kierkegaards: „Sich selbst in Existenz Verstehen“, als tiefgreifenden Impuls seines Denkens nennt – diesen einen Satz: „Da ist ein Frommer soviel wert, wie er handelt, und nicht, wie er sich genießt. Er muss gute Früchte tragen, anders wird Jesus nur geschmeckt statt befolgt.“29
28 NB14:32 in SKS 362f. 29 E. Bloch Thomas Mnzer als Theologe der Revolution, Frankfurt am Main 1962, S. 230f.; vgl. E. Bloch Ergnzungsband zur Gesamtausgabe: Tendenz – Latenz – Utopie, Frankfurt am Main 1978, S. 18.
Die Frage nach dem Glück in Kierkegaards Stadienlehre (Ästhetik, Ethik, Religion)* Wirst du dann nicht sagen müssen: „Hier könnte ich ebenso gut einen Kreis wie ein Rechteck oder eine Herzform zeichnen; es fließen ja alle Farben durcheinander. Es stimmt alles; und nichts.“ – Und in dieser Lage befindet sich z. B. der, der in der Ästhetik oder Ethik nach Definitionen sucht, die unseren Begriffen entsprechen. Frage dich in dieser Schwierigkeit immer: Wie haben wir denn die Bedeutung dieses Wortes („gut“ z. B.) gelernt? An was für Beispielen; in welchen Sprachspielen? Wittgenstein 1
Kierkegaard hätte diesem Statement Wittgensteins zunächst auch zugestimmt; denn als so verschwommen beurteilte er die Kategorien, die Maßstäbe der Lebensverhältnisse in seinem 19. Jahrhundert. Im geistigen wie im politisch-gesellschaftlichen Gefolge der Hegelschen Philosophie, also unter dem Einfluss der sogenannten Hegelianer, spekulierte jeder schlichte Bürger durch die ganze Welt bis ins Absolute und wieder zurück, und auf diesem Weg durchmaß er sämtliche irdischen und geistigen Lebensräume und -zeiten, die Künste ebenso wie die Religion; der herrschende Protestantismus in Dänemark erstrahlte zugleich in philosophischer Verklärung, und seine Anpassungsfähigkeit an das Zeitalter der bürgerlichen Revolution und die Biederkeit der Geschäftswelt waren wie *
1
Dieser Vortrag von 1977 kann in seiner Eigenart durchaus für sich bestehen, für den Zusammenhang der damit vorgelegten Kierkegaard-Interpretation ist aber auf die beiden danach erst publizierten Bände hinzuweisen: Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Sptwerk Kierkegaards, München / Mainz 1980; Kierkegaard – Die Philosophie des religiçsen Schriftstellers, Darmstadt 1985. Philosophische Untersuchungen § 77.
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selbstverständlich abgesichert. Diesen Verhältnissen fühlte sich Kierkegaard zeitlebens ausgeliefert; unangepasst wie er war, musste er ihnen auf den Grund gehen, auf die Schliche kommen. Diese Lage, in der alles und nichts zu stimmen schien, je nachdem, wie man es reflektiv wendete und drehte, die war der Stachel seines Denkens, das deshalb gerade dem Verschwommenen, dem Kategorienlosen, dem Grenzenlosen, das doch zugleich so bürgerlich war, ans Leben wollte. Nun war Kierkegaard ebenso von seiner Zeit geprägt, wie er sie hasste; die Philosophie und Theologie des deutschen Idealismus und der Romantik (mit ihren dänischen Verzweigungen) waren seine Basis und sein Angriffspunkt, zumal die Dialektik Hegels, die Ethik Fichtes und nicht zuletzt die darin überlieferte antike Philosophie – Sokrates vor allem. Sokrates – Thema von Kierkegaards Dissertation 1841 – wird bereits zeitkritisch als Unruhefaktor im Bestehenden interpretiert, als Ironie, eine ästhetische Einstufung in ethischer Absicht, die zur Kritik an den geistigen wie politischen Verhältnissen dient: gegen die modernen Sophisten, die Hegelianer. Als Dialektiker von Rang ist Kierkegaard scharfsinnig genug, nun nicht als biederer Wissenschaftler sich daranzumachen, das Hegelsche System widerlegen zu wollen – das gerade entbehrte dann nicht trauriger Ironie. Zu sehr war sich Kierkegaard darüber im klaren, dass es die praktischen Lebensverhältnisse seiner Zeit waren, in denen die Verwirrung verankert war; zuletzt immer, wie er meinte, die praktischen Lebensverhältnisse der einzelnen Menschen, in denen sie steckten, meist ohne sich an dieser Stelle Rechenschaft geben zu wollen. Hier liegt früh schon – und das zuerst aus biographischen Gründen – Kierkegaards Interesse, ja ein Zwang dazu, bei sich selbst, der eigenen Not, der eigenen Lebensbedingung und -frage anzusetzen. Dies ist das Existentielle, der Ernst der eigenen Existenz, mit dem Kierkegaard gegen das allgemeine, weltgeschichtliche Spekulieren vorgehen will; darin will er den Faden festmachen, der sonst allen durch die Hände gleitet; hieraus sollen sich die Konturen ergeben, die den Bildern und Farben fehlen, in denen alles verschwimmt. Und so setzt seine Kritik am Verschwommenen ironisch bei diesem selbst ein, nicht anderswo, nicht mit einem Gegensystem; sondern in diesem scheinbar selbstbewussten Reflexionszeitalter wird dessen eigene Melodie, mit anderem Grundton freilich, diesem vorgespielt: Heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen; entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides […] hänge dich auf oder hänge dich
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nicht auf, du wirst beides bereuen; entweder du hängst dich auf oder du hängst dich nicht auf, du wirst beides bereuen.2
So heißt es in den „Diapsalmata“, dem ersten Teilstück der Schriften des fiktiven ,Ästhetikers‘ mit der Bezeichnung ,A‘, die Kierkegaards Pseudonym Viktor Eremita 1843 herausgibt; dazu gehören im zweiten Teil des Werkes die Papiere des ,Ethikers‘, bezeichnet mit ,B‘. Und dieser ,B‘ geht in seiner Auseinandersetzung mit ,A‘ soweit, ihm zum Schluss die Predigt eines Freundes zuzuschicken, die unter der Überschrift „Ultimatum“ als letztes Teilstück dieser Sammlung des Viktor Eremita beigefügt ist. Entweder – Oder ist übrigens der Titel dieses ersten großen Buches, zugleich der Einsatz von Kierkegaards von da an genauestens geplantem literarischen Werk. Es hat exakte Kalkulationen im Hintergrund (keineswegs finanzielle, die gerade nicht, denn Kierkegaard hat sein Vermögen mit seiner Existenz als Privatgelehrter und der Veröffentlichung seiner Werke aufgezehrt; nichts daran verdient, wie er später oft beklagt, aber auch als eigenes Opfer akzeptiert), nein – die Kalkulation ist eine existentielle, sie entspricht der ,Dialektik der Mitteilung‘, wie Kierkegaard dies Verfahren auch genannt hat: sie kalkuliert den Leser, den er verändern will, dem er an die Existenz will. Wie gesagt, nicht mit einem philosophischen oder gar politischen Gegensystem, sondern mit allen literarischen Tricks und Winkelzügen, die ihm in romantischer Tradition zur Verfügung standen: mit Pseudonymen, aufgefundenen Papieren, Briefen, Tagebuchformen, ironischen Exkursen, sarkastischen Kritiken, dann umgekehrt mit ethischer Reinheit und bürgerlicher Ordnung, typisierend bis hin zu dieser Predigt – womit er dem Leser auf den Pelz rückt, auf den Nerv geht. Das beginnt – und hier offenbart bereits diese erste Schrift Kierkegaards das von nun an gewählte kämpferische Schema – ästhetisch: Das Entweder-Oder, die erzwingende Alternative, die intendierte ethische Entscheidung gibt sich zuerst ironisch unentschieden, so wie Kierkegaard seine Gegenwart einschätzt: Heirate oder nicht, hänge dich auf oder nicht, entweder – oder […], du bereust es sowieso! Wer da nicht sieht, dass es auf Entschiedenheit ankommt! Und jetzt hat Kierkegaard den Leser in der Zange: Die ausgefeilte Ästhetik treibt zum zweiten Modell, in das man hinein muss, die Ethik. Der Mensch in der Entscheidung, der Ehemann in Kierkegaards Beispiel, löst die Wahllosigkeit, die immer potentielle Verlorenheit der ästhetischen Stufe ab. Auf die Ästhetik folgt also die Ethik, und wie die 2
EO1 in GW1, 41f.
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angeführte Predigt schon in Entweder – Oder zeigt: die dritte Stufe ist die Religion.
Exkurs: Zur Entstehung der Stadienlehre Die dialektische Form der Stadien, der Dreischritt, wie die ständige Betonung des Dialektischen in Kierkegaards gesamtem Werk dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stadienlehre nicht aus der dialektischen Philosophie des Idealismus allein abzuleiten ist. Kierkegaard verarbeitet schon früh neben den klassisch-philosophischen Autoren die, wie man sagen könnte, unregelmäßigen Verben der philosophischen Sprache jener Zeit: Hamann, Baader und die beiden Dänen: Sibbern und Poul Martin Møller. Diese gemeinsam zu charakterisieren ist möglich mit den Stichworten: nicht aufklärerisch, antirationalistisch, eher lebensphilosophisch und literarisch eingestellt und arbeitend; das psychologische Interesse in der Beschreibung des Menschen ist dem kognitiven, bloß denkerischen vorgeordnet. Besonders zu nennen ist der Begriff des ,Kollateralen‘ in der Beschreibung der menschlichen Existenz, wie ihn Sibbern gebrauchte, und wie ihn der Kierkegaardforscher Gregor Malantschuk wohl zuerst deutlich wieder hervorgehoben hat.3 Kollateral ist dabei als Gegenbegriff zu Hegels linearer, aufsteigender dialektischer Geistbewegung verstanden, letztlich als Verteidigung der vom Denken her nicht erreichbaren und aufzuhebenden Gefühlswelt des Menschen und seines nicht voll verrechenbaren Willens – und dort ist die Religion unumgänglich und unaufhebbar. Hegels Rechnung also kann nicht aufgehen. ,Erkenntnis, Gefühl und Wille‘ sind als gleichberechtigte, nebeneinanderlaufende, eigenständige Fähigkeiten des Menschen anzusetzen und daher wissenschaftlich nur plural zugänglich, kollateral also und nicht linear zu vereinheitlichen. Hinter dieser Hegel-Kritik, die Kierkegaard aus seiner Zeit schon aufnehmen kann, steht ein eher ,organisch‘ orientiertes Denken, das sich Lebendigkeit nicht durch den Primat des Denkens verderben lassen will. Kierkegaard bildet demgemäß zur Beschreibung der menschlichen Existenz Begriffsreihen, Doppelbegriffe wie Zeit – Ewigkeit, Endlichkeit – Unendlichkeit usw. Zumal Kierkegaards am 3
Vgl. G. Malantschuk Sçren Kierkegaard und das kollaterale Denken. Zeitschrift f. phil. Forschung 24 (1970), 3 – 16; vgl. auch Malantschuk Dialektik og Eksistens hos Søren Kierkegaard, Kopenhagen 1968, S. 123ff. (amerikanische Ausg.: Kierkegaard’s Thougt, trans. by H. V. Hong and E. H. Hong, Princeton 1971, S. 126ff.)
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konsequentesten psychologisch ausgearbeitete Schriften Der Begriff Angst und Die Krankheit zum Tode zeigen die virtuose Anwendung solcher Begriffsdoppelungen zu einer Phänomenologie der menschlichen Lebens- und Erfahrungsverhältnisse in Angst und Verzweiflung. Diese Doppelungen charakterisieren Kierkegaards Begriff der Dialektik, nicht der vermittelnde Dreischritt Hegels. ,Existenzdialektik‘ sollte daher Kierkegaards Denken genannt werden. Zum anderen ist die Dreiheit von Denken, Gefühl und Wille im Sinne des Kollateralen beständig bei Kierkegaard nachzuweisen, eine anthropologische Grundannahme, die ebenfalls nicht logisch-dialektisch im System zu entwickeln ist, sondern auf allen Stufen, im pluralen Zugang zur Geltung kommen muss. Diese Dreiheit ist also gerade nicht in die Abfolge der Stadien zu bringen, sondern wie in Längs- und Querschnitten gleichermaßen auf jedes Stadium zu beziehen; sie steht quer zur Stadienlehre und akzentuiert erneut das Spezifikum der Kierkegaardschen Existenzdialektik.4 Anlass und Umriss der Stadien sind damit erreicht. Gegen die Systematik und ihre Übergänge setzt Kierkegaard die Konturen und Abgrenzungen. Die praktischen Lebensverhältnisse verlangen Entschiedenheit und Konsequenz, den Ernst der Selbstklärung: wo befinde ich mich, oder wo befinden wir uns gegenwärtig? Dazu braucht es Maßstäbe, diagnostische Möglichkeiten, Register von Symptomen – und das alles breitet Kierkegaards Frühwerk (auch das pseudonyme oder ästhetische Werk genannt) rückhaltlos bis in die Extreme aus; und diese sind nötig, denn im Extrem, in Leidenschaft, Ärgernis, Begeisterung will Kierkegaard den Leser ja zur Entscheidung zwingen, für oder gegen; jedenfalls zu sich selbst, weg aus der Abstraktion, aus der Spekulation, und ins Existentielle, in die eigenen, die praktischen Lebensverhältnisse, die eben nicht verschwommen sein dürfen: Es gibt drei Existenzsphären: die ästhetische, die ethische, die religiöse. Das Metaphysische ist die Abstraktion, und es gibt keinen Menschen, der metaphysisch existiert. Das Metaphysische, das Ontologische ist, aber es ist nicht 4
Zum Zusammenhang von Kollateralem und Kierkegaards Stadien muss neben den Arbeiten von Malantschuk auf die Untersuchung von A. Hügli Die Erkenntnis der Subjektivitt und die Objektivitt des Erkennens bei Søren Kierkegaard, Zürich 1973 (Basler Beitrge zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 7) hingewiesen werden. Hügli geht gerade Kierkegaards Begriffsreihen sehr sorgfältig nach im Blick auf die Stadienlehre, speziell in Fragen der Ethik, versucht auch Kierkegaards Bestimmungen – mit den Koordinaten der Stadien und des Kollateralen – tabellarisch zu ordnen, vgl. aaO., S. 195.
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da, denn wenn es da ist, so ist es im Ästhetischen, im Ethischen und im Religiösen.5
Die Definition der Stadien Kierkegaard will die Kraft der Unterscheidung. Zwar sind es drei Stadien oder Sphären, wie er auch sagt, die Dialektik des Dreischritts darin verborgen, seine Übergänge aber sind durchaus nicht die des denkbaren Umschlagens, dessen Ort das philosophische System wäre, sondern charakterisiert als Sprung. Diesen gilt es zu leben; existentiell also ist diese Dialektik nur einzuholen, und daher markiert die zuerst zitierte Definition der Stadien diese auch gegen jede objektive Metaphysik. Jedes gedachte, philosophische wie theologische System (Metaphysik, Logik, Ontologie, Dogmatik) hält Kierkegaard für objektiv, gesetzlich, abstrakt daher, es ist ohne Bewegung, muss abstrakt sein; es ist, aber es ist nicht da, d. h. es lebt nicht, kann nicht erlebt werden. Das Leben aber will Kierkegaard wie in einer total angelegten Phänomenologie erfassen, pedantisch fast ordnen in den drei Stadien, deren Übergänge dann als ,qualitative‘ bezeichnet werden; Vermittlungen, die sich nicht ohne weiteres vermitteln lassen (das wären die quantitativen Übergänge, zu denen er Hegels Dialektik rechnete). Der qualitative Sprung ist der der leidenschaftlichen Existenz, diese also ist gemäß der Dialektik der Mitteilung ständig das eigentliche Thema, während Kierkegaards Pseudonyme bzw. er selbst in den sogenannten Erbaulichen Reden Sachthemen, Typen, Leben ausbreitet, quasi indirekt immer, weil er direkt die Subjektivität des eigentlich gemeinten Lesers nicht erreichen kann.6 Um dieser indirekten Methode, die die Sache selbst ist (Dialektik der Mitteilung, auch: indirekte Mitteilung), gerecht zu werden, muss sich Kierkegaard Zeit nehmen, muss in die – wenn auch literarisch fiktiven – konkreten Lebensverhältnisse, Lebensformen hineingehen. Das Gesamtwerk ist daher auf das Durchlaufen der Stadien angelegt, es lebt in ihnen. In den sogenannten Schriften ber sich selbst, die keine Autobiographie darstellen, sondern den Gesamtplan der kalkulierten literarischen Werke bis hin zum 5 6
SLW in GW1 9, 507. Vgl. zum Ansatz der Stadien im Umkreis von Kierkegaards eigener Entwicklung bei Malantschuk Dialektik og Eksistens, aaO., S. 50; Kierkegaard’s Thought, aaO., S. 47. Dort auch das wichtige Tagebuchzitat aus dem Jahr 1842 – 43, Pap. IV C 105: „Das Verhältnis zwischen Ästhetik und Ethik. – Der Übergang – pathetisch nicht dialektisch, da beginnt eine qualitativ verschiedene Dialektik.“
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eigenen Lebenseinsatz vorrechnen, in dieser Selbstdeutung hat Kierkegaard seinen Weg teils nachträglich idealisierend, teils das Ende im christlichen Protest des Kirchenangriffs anvisierend selbst noch in zweiter Reflexion gerechtfertigt.7 Will man die Stadien nicht als diese abstrakte Konstruktion des Taktikers Kierkegaard fassen, muss man ihren literarischen Lebensformen nachgehen, den musikalischen und poetischen Analysen, den fiktiven Tagebuchautoren und Briefeschreibern in der pseudonymen Literatur wie ihren Figuren (Don Giovanni und Faust, Antigone und dem Wassermann, Abraham und dem tödlich verliebten Quidam, dem Gerichtsrat Wilhelm und wie sie alle heißen; vorgeführt von den Pseudonymen, dem Johannes de silentio, Frater Taciturnus, Hilarius Buchbinder usw.). In seinem Hauptwerk dann, der Unwissenschaftlichen Nachschrift – nur noch halb pseudonym von Johannes Climacus und mit Kierkegaard selbst als Herausgeber erschienen – ist die Nahtstelle des Gesamtwerks zu finden, die im theologischen Interesse Kierkegaards das Stadienschema als Ganzes erörtert, es auf sein Ziel der dritten Stufe hin auslegt. Diese Definitionen sind noch heranzuziehen: Es gibt drei Existenzsphären: die ästhetische, die ethische und die religiöse. Diesen drei entsprechen zwei Grenzgebiete (Confinien): die Ironie ist das Grenzgebiet zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen; der Humor ist das Grenzgebiet zwischen dem Ethischen und dem Religiösen.8 Die Sphären verhalten sich folgendermaßen: Unmittelbarkeit; endliche Verständigkeit; Ironie; Ethik mit Ironie als Inkognito; Humor; Religiosität mit Humor als Inkognito – dann schließlich das Christliche, kenntlich an dem paradoxen Akzentuieren der Existenz, am Paradox, am Bruch mit der Immanenz und am Absurden.9
Die einzelnen Stadien sind also je für sich und mit ihren Grenzübergängen beschreibbar: 1. sthetik meint dabei gar nicht in erster Linie eine wissenschaftliche Disziplin, auch keine Kunstlehre – obwohl beide Bedeutungen bei Kierkegaard selbstverständlich auch eine Rolle spielen. Er kannte und studierte die zeitgenössischen Ästhetiken (Hegel und die Romantiker), stufte seine eigene Arbeit auch weitgehend als literarisch-dichterisch ein, 7
8 9
Vgl. Die Schriften ber sich selbst (33. Abtlg.), worin enthalten sind: Kierkegaards Schrift aus dem Jahr 1851 ber meine Wirksamkeit als Schriftsteller, und die erst posthum veröffentlichte Schrift Der Gesichtspunkt fr meine Wirksamkeit als Schriftsteller. AUN in GW1 11, 211. AaO., S. 242, Anm.
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was vor allem im Spätwerk für ihn zu einem eigenen, biographischen Problem wird: wie er selbst als solch ein ,Dichter des Religiösen‘ sich denn zum streng Christlichen verhalten könne! Innerhalb der Stadienlehre aber bezeichnet Ästhetik vor allem eine Lebensform, ein Selbstverhältnis und zwar das der ,Unmittelbarkeit‘, wie Kierkegaard oben formulierte. Diese wiederum hat verschiedene Stufen, Kierkegaard hat sie im ästhetischen Teil von Entweder – Oder an Mozarts Musik interpretiert, Musik als den gegebenen Ausdruck von Unmittelbarkeit überhaupt bezeichnet.10 Unmittelbarkeit reicht von kindlicher Naivität, unmittelbarem Glück, das gar nicht um sich weiß, weiter über die ,sinnliche Genialität‘ eines Don Juan bis zur ästhetischen Spitzengestalt des reflektiert rechnenden Verführers.11 Reflexion ist von dieser ästhetischen Unmittelbarkeit keineswegs ausgeschlossen; gerade die schwermütige Reflektiertheit ist für verfeinerte ästhetische Lebensformen typisch und liegt Kierkegaard selbst biographisch am nächsten. Dadurch fallen ganze philosophische Systeme in das Raster des ersten Stadiums: sie sind ästhetisch, tendenziell unmittelbar im Verlangen nach Genießen und Glück, dessen Bedingungen aber zufällig und heteronom bleiben. Der flüchtige Augenblick ist die einzige Zuflucht ästhetischen Lebens, dessen Folie aus Angst und Verzweiflung auch dadurch nicht abzudecken ist.12 Diese Kritik am ästhetischen Leben bringt Kierkegaard nicht in der Treuherzigkeit des Wissenschaftlers vor, der das, worüber er richtet, nur vom Hörensagen kennt, sich selbst in der Figur des Verführers, den er moralisch verurteilt, nur lächerlich machte! Kierkegaard geht in die Lebensform hinein, lässt sie – in den pseudonymen Gestalten und deren Dichtungen – faszinierend lebendig werden; denn erst wer dem ästhetischen Leben verfallen war, seine Kraft kennt, der wird den Sprung zum nächsten Stadium machen können, die existentielle Leidenschaft mitnehmen und der Ästhetik das Privileg auf Begeisterung, Erlebnis und Leidenschaft des Unendlichen mit Fug und Recht bestreiten können. Nur eines von Tausend Beispielen, unendlichen Beispielen zum Ästhetischen, zu denen Kierkegaards Produktivität fähig war:
10 EO1 in GW1 1, 74, 79ff. 11 Vgl. EO1 in GW1 1, 93ff., 323ff.; KT in GW1, 17, 49. 12 Vgl. zum Ganzen die Darstellung bei H. Fahrenbach Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt am Main 1968, S. 64ff.; vgl. auch EO2 in GW1 2, bes. S. 203ff.
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Hör Don Juan, das will heißen, vermagst du nicht dadurch, dass du Don Juan hörst, eine Vorstellung von ihm zu fassen, so bekommst du sie nie. Höre seines Lebens Anfang; gleich wie der Blitz sich aus dem Finster der Gewitterwolke löst, ebenso bricht er hervor aus des Ernstes Tiefe, rascher als des Blitzes Fahrt, unsteter denn diese und doch ebenso taktfest; höre wie er sich in des Lebens Mannigfaltigkeit stürzt, wie er an dessen festen Deichen sich bricht, höre diese leichten tanzenden Geigentöne, höre der Freude Locken, höre der Lust Gejubel, höre des Genusses festliche Seligkeit; höre seine wilde Flucht, er eilt an sich selber vorüber, immer geschwinder, immer unaufhaltsamer, höre der Leidenschaft zügelloses Begehren, höre der Liebe Gesäusel, höre der Versuchung Geflüster, höre der Verführung Wirbeltanz, höre des Augenblicks Stille – höre, höre, höre Mozarts Don Juan.13
Ein Nachtrag zur ästhetischen Sphäre ist allerdings noch zu machen, und dieser Nachtrag wiegt doch so schwer wie Kierkegaards Spätwerk bis hin zum Kirchenangriff: Er hat zwar die dichterische Seite, seine literarische Produktion nie aufgeben können, ja die satirischen und sarkastischen Angriffsschriften gegen die Kirche seiner Zeit, diese Flugblätter und Zeitungsartikel gegen den Protestantismus in Dänemark, die waren ohne seine ästhetische Begabung gar nicht denkbar. Doch – und hier steckt Kierkegaards immerwährender dialektischer Stachel – mit gleicher und im Spätwerk mit noch größerer Kraft schleudert er den Verdacht des Ästhetischen von sich, christlich gesehen ist es die Sünde der falschen Unmittelbarkeit, der Distanziertheit zur Wirklichkeit, denn der Dichter setzt die Phantasie anstelle des Lebens. So hat Kierkegaard auch hier zuletzt in der Rolle des Korrektivs sicher übertrieben, die Konturen überzeichnet. Listig und im Vorfeld und als Mittel zum Zweck eingesetzt war die Ästhetik aber schon immer, sie war in all ihrer Faszination und verführerischen Kraft in ein Zwangsbett gesteckt: Die Poesie hat mit der Unmittelbarkeit zu tun und kann sich daher eine Duplizität nicht denken.14
Oder: Der Dichter kann das ganze Dasein verklären (transfigurieren), aber er kann sich nicht selbst erklären […] 15
Das Spätwerk zieht daraus radikale Konsequenzen, verlegt streng die Dichtung in den Bereich der nichtchristlichen Vorstufen. Gerade die 13 EO1 in GW1 1, 110. 14 SLW in GW1 9, 431 (E. Hirsch übersetzt hier Poesie mit Dichtung und Duplizität mit Zwiefältigkeit). 15 AUN in GW1 11, 152.
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Urteile zur Ästhetik sind daher Abbild von Kierkegaards Zeitkritik, indem er über die Einstufung als bloß ästhetisch die Gegenwart als unchristlich diagnostiziert. Die ethische Stufe ist auf diesem Weg die des Übergangs. 2. Ethik meint im Zusammenhang der Stadien selbstverständlich ebenso wenig wie Ästhetik die wissenschaftliche Disziplin. Was Kierkegaard mit Ethik bezeichnet, ist die Lebensform, die die reflektierende Unmittelbarkeit ablöst in Richtung einer möglichen Selbstwerdung, Selbstfindung, weg von der im Ästhetischen permanent drohenden und verleugneten Heteronomie des glücklichen Zufalls und Augenblicks. Doch soll die Leidenschaft des Subjekts hier nicht verlorengehen, anstelle des Verführers soll nicht der trockene Moralist treten, sondern die Ethik bezieht die Leidenschaft der Existenz auf die bewusste und willentliche Wahl des Selbst; nicht die Wahl von Objekten, Ideen und Idealen – das wären immer noch ästhetische Verhältnisse; sondern die ethische Wahl des Selbst ist die Wahl der Wahl, eine absolute Wahl sozusagen, ein existentieller Akt.16 In ihm löst sich der im Ethischen stets angelegte Konflikt zwischen Gut und Böse, Freiheit und Notwendigkeit, Subjekt und Objekt, Gott und Mensch darin, dass die Wahl aus der ästhetisch unwahren Distanz und Verlorenheit gegenüber ihren möglichen Gegenständen in die Entschiedenheit und Gegenwart des praktischen und handelnden Selbst führt: Das Ästhetische in einem Menschen ist das, dadurch er unmittelbar das ist was er ist; das Ethische ist das, dadurch er das wird was er wird.17 Das dichterische Ideal ist stets ein unwahres Ideal, denn das wahre Ideal ist stets das wirkliche.18
Man wird nicht sagen können, dass die ethische Wahl damit aus der verzweifelten Situation des ästhetischen Lebens hinausspringe; umgekehrt besteht der Sprung darin, hineinzuspringen, die Verzweiflung wahrzuhaben, den Widerspruch auf sich zu nehmen (zwischen Gut und Böse, Freiheit und Notwendigkeit, Mensch und Gott). Kennzeichen dafür ist die Reue, bereits ein Übergangsphänomen zur religiösen Sphäre, doch zuerst aber der Versuch, im Ethischen den Widerspruch aushalten zu können: 16 Vgl. EO2 in GW1 1, 165ff.; vgl. zum Ganzen bei Fahrenbach, aaO., S. 72ff.; bei Hügli, aaO., S. 156ff. 17 EO2 in GW1 1, 190. 18 AaO., S. 223.
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Es könnte bedenklich scheinen, dass ich den Ausdruck gebraucht habe: sich selbst absolut wählen; denn es könnte scheinen, als ob darin läge, dass ich das Gute und das Böse beide gleich absolut wählte, und dass beide, das Gute und das Böse, mir gleich wesentlich zugehörten. Um dies Missverständnis zu verhindern, hab ich den Ausdruck gebraucht, dass ich mich aus dem ganzen Dasein hinausreue. Reue ist nämlich der Ausdruck dafür, dass das Böse mir wesentlich zugehört, und zugleich der Ausdruck dafür, dass es mir nicht wesentlich zugehört.19
Zwischenstufe bleibt die Ethik aus mehreren Gründen: Einmal ist in ihrem Versuch, die Idealität der Forderung des Guten, die ,ewige Gültigkeit‘, wie Kierkegaard auch sagt, zu wählen, die Ewigkeit Gottes in ihrem Konflikt mit der Zeit bereits mitgesetzt. Ohne Christentum, ohne Gottesbegriff wird es diese Ethik der absoluten Wahl nicht geben können,20 und in diesen Zusammenhängen setzt Kierkegaards Begriff der Ethik auch immer Pflicht, Gehorsam, Idealität, Streben im Sinne idealistischer und theologischer Tradition voraus; zumal der Begriff des Strebens wird von ihm im Spätwerk als ethische Grundbedingung des Christentums angesehen. Zum anderen erscheint die Ableitung der Ethik in Kierkegaards pseudonymem Frühwerk doch bedenklich oft in der Nähe der bürgerlichen Moral, gegen die die ästhetischen Pseudonyme so grandios polemisieren, und die Ethik Kierkegaards empfängt nicht zuletzt ihre Kraft, eben ihre Leidenschaft von der ästhetischen Sphäre – anders müsste sie unterliegen. Schließlich ist zu beachten, dass bereits im Frühwerk, in Furcht und Zittern, der ganz und gar unbürgerliche Begriff der ,Suspension des Ethischen‘ in ästhetischer wie religiöser Tendenz eingesetzt wird.21 Abrahams in Gottes Auftrag geplanter Mord an seinem Sohn ist Kierkegaards Modell einer solchen Suspension des Ethischen in einem diese Sphäre überschreitenden Konflikt jetzt leidenschaftlicher Religiosität. Die Stadienlehre in ihrer geordneten Abfolge wird hier überkreuzt von der Dialektik des Besonderen und Allgemeinen, und so verbindlich Kierkegaard das bürgerlich Allgemeine als konservativer Staatsbürger und Monarchist achtete, so radikal hat er als Christ das kirchenstaatlich Allgemeine verachtet und im Namen des besonderen Einzelnen, der dann höher steht als jenes Allgemeine, angegriffen und der Lächerlichkeit preisgegeben. 19 AaO., S. 239; vgl. auch Kierkegaards Anwendung der Reue in seiner Gelegenheitsrede von 1847 in ERG in GW1 20, 11ff. 20 Vgl. bei Hügli, aaO., S. 170, 178. 21 Vgl. FZ in GW1 3, 57ff.
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Kierkegaards Ethik ist abgründig, Übergang zur Religion, die in vielem auf die erste Sphäre des Ästhetischen zurückgreift. 3. Dass die Religion als drittes Stadium die beiden ersten vermittelnd in sich enthält, ergibt sich schon aus der dialektischen Konstruktion – mit dem Vorbehalt allerdings, dass von glatten Vermittlungen keine Rede sein kann, sondern eben von existentiell-qualitativen Sprüngen, die Kierkegaard als lebendige Mahnungen dazwischenschiebt, etwa die Gestalt des Vaters des Glaubens, Abraham; wer sich auf diesen ohne weiteres berufen will, sollte eben seine Suspension des Ethischen in aller Konsequenz an sich selbst durchdenken! Die Religion, das Christentum, ist der Sinn der Stadienlehre, Sinn des Gesamtwerks, das die urchristliche, neutestamentliche Reinheit der ursprünglichen Kollision von Gott und Mensch im absoluten Paradox der Christologie wiederherzustellen sucht. Abgrenzung davon ist alles andere; und noch auf dieser Stufe der Religion vollzieht Kierkegaard in der Nachschrift eine zusätzliche Unterscheidung, um eine allgemeine Religiosität – genannt A – von der spezifisch christlichen (B) abzuheben, die damit in die Distanz einer Sonderform rückt, eine Ausnahme nur sein kann, nicht die Regel. Insofern sind die Stadien durchaus nicht nur fiktiv als christliche Vorstufen konstruiert, sondern sie beschreiben realistisch die Selbsterfahrungen, wie sie üblicherweise gelten. Bestenfalls ist man in Europa allgemein religiös; daher Kierkegaards Sympathie für die Lebensformen der antiken Ironie in Sokrates und für den nach seiner Einschätzung klassisch repräsentierten Humor in Hamann: kritische Übergangsfiguren, denen Kierkegaard mehr Redlichkeit und Ernst zubilligte als den Christen, die nicht mehr wissen, dass sie es oder dass sie es nicht und was sie eigentlich sind. Von der Religiosität, der dritten Stadienstufe aus ist daher Kierkegaards Stadienlehre zu beurteilen. Die Frage nach dem Glück, dem gelungenen Leben, wie sie durchgehend als biographische Linie und in den fiktiven Formen und Typen präsent ist, verschiebt sich zur christlichen Religiosität hin immer mehr zur Frage nach dem erlaubten Glück, nach dem christlich realisierbaren Gelingen gemessen am christologischen Leitbild des paradoxen Gottes in der Zeit, dessen Glück ins Unglück des Kreuzes ging. Dieser Widerspruch bildet den immer gewaltiger sich öffnenden Horizont der Stadien, deren Abfolge und Steigerung nach dem jeweils austragbaren Widerspruch, der Dialektik also bemessen wird. Summarisch heißt es dazu in der Nachschrift:
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Ist das Individuum in sich undialektisch, und hat es seine Dialektik außerhalb seiner: so haben wir die ästhetischen Auffassungen. Ist das Individuum nach innen zu in sich selbst, in Selbstbehauptung, dialektisch, in der Weise, dass also der letzte Grund nicht dialektisch in sich wird, da das zugrunde liegende Selbst dazu gebraucht wird, sich selbst zu überwinden und zu behaupten: so haben wir die ethische Auffassung. Ist das Individuum dialektisch nach innen zu in Selbstvernichtung vor Gott bestimmt: so haben wir die Religiosität A. Ist das Individuum paradox-dialektisch, jeder Rest von ursprünglicher Immanenz vernichtet, und aller Zusammenhang abgeschnitten, das Individuum angebracht im Äußersten der Existenz: so haben wir das Paradox-Religiöse.22
Die Frage nach dem Glck in der Stadienlehre Dialektik also ist der Atem der ganzen Stadienlehre, und zwar Dialektik in sich überschreitender Potenzierung, deren Leidenschaft und Leidenspunkt der menschlich unauflösliche Widerspruch ist: das Paradox. Lässt man die dialektischen Einordnungen einmal gelten, wie Kierkegaard sie zur Klärung des christlichen Glaubens braucht, so besteht dieser eigentlich in der unmenschlichsten Aufhebung menschlicher Existenz, die denkbar ist: Das Paradox-Religiöse ist dialektisch in der Weise, dass Vermittlungen abgeschnitten sind; diese sind im Ästhetischen jederzeit möglich, gestützt auf die – allerdings scheinbare, wie Kierkegaard behauptet – ungebrochene Erlebnishaltung der rastlosen Unmittelbarkeit, ihr Glück erlebt ihr Unglück jeweils außerhalb, die eigene Gebrochenheit bleibt ferngehalten, die Vermittlung zu ihr daher Schein; diese faktische Manipulierbarkeit des Ästhetischen verlässt die ethische Entschiedenheit, die in Wahl und Reue gerade die eigene Gebrochenheit und widersetzliche Erfahrung des Selbst thematisiert (Schuld), dialektisch also in sich selbst ist, ohne allerdings bis zur Aufhebung dieses Selbst fortzuschreiten, weshalb hier im ethischen Bereich jederzeit der Übergang in bürgerliche Zufriedenheit trotz und in Erfahrung menschlicher Verbrechen und Niedrigkeit droht. Die Religion definiert Kierkegaard als ,Selbstvernichtung vor Gott‘, vielleicht ist das auch religionswissenschaftlich eine brauchbare Hypothese; wichtiger aber ist sie hier als Vorstufe zur christlichen Religiosität, die zudem noch das religiöse Sichverlassen und immanente (etwa kultisch-liturgisch vermittelte) Sichstützen auf diese göttliche Selbstaufhebung verbietet und die christologisch den unauflöslichen Widerspruch 22 AUN in GW1 11, 283f.
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zwischen Zeit und Ewigkeit, der gleichwohl in Christus leibhaftig war, strukturell und prinzipiell die immanente Existenzbestimmung überlagern lässt. Das Paradox-Religiöse bricht mit der Immanenz, und macht das Existieren zum absoluten Widerspruch, nicht innerhalb der Immanenz, sondern gegen die Immanenz.23
Gilt dies, so ist für geglücktes Leben im menschlichen Sinn kein Verständnis mehr zu erwarten: „das religiöse Handeln ist am Leiden kenntlich“,24 und: „Die Unmittelbarkeit ist Glück, denn in der Unmittelbarkeit ist kein Widerspruch“.25 Wenn Kierkegaards Pseudonyme der frühen Zeit den Anschein gaben, als ginge es ihnen um romantisch akzentuierte Lust, Glück des Lebens oder der Gedanken; und wenn Kierkegaards Ethiker, den er ebenso pseudonym auftreten ließ, den Anschein gab, als sei das Glück des Lebens in der ordentlichen Ehe und Familie zu Hause – so war beides offenbar ein Missverständnis der Pseudonyme oder ein Vergessen und Missachten der bei ihnen immer festgehaltenen grenzenlosen Leidenschaftlichkeit, des Extrems an Begeisterung und Ernst in jeder Situation, der Bedingung geradezu, dass ästhetisches oder ethisches Leben im typisierten Beispiel überhaupt in Gang kamen. Zu Hause aber ist das Extrem erst, wenn seine übermenschliche Spannkraft, wie sie an Abrahams göttlichem Mordauftrag schon aufleuchtete, in der potenziertesten Widerspruchsform einen paradoxen Ort gefunden hat, der nicht mehr weiter aufzusprengen ist. Die Existenz ist dann nicht eigentlich weiter aus sich herausgegangen, sondern immer tiefer in sich hinein – allerdings nicht in tendenzieller Innerlichkeit des religiösen Schneckenhauses, wie man zumal in Deutschland Kierkegaard lange Zeit interpretiert hat, sondern in der weiterhin explosiven Spannung des Paradoxen auf seine zeitliche und menschliche Realisierung hin, die Kierkegaard selbst und biographisch durchdacht im Kirchenangriff zu Tage brachte. Die Vertiefung in die eigene Existenz verlässt dann weder die gesellschaftlichen noch die ästhetischen und ethischen Dimensionen, wenn sie weiter in sich hineingeht. Nur ist dann kritisch zu bedenken, dass jetzt die Abfolge der Stadien, die zuerst wie eine Leiter von unten nach oben zum Christlichen hin anzugehen war, ihre Funktion verändert, wenn nicht ganz aufgegeben hat. Denn die 23 AaO., S. 284. 24 AaO., S. 140. 25 AaO., S. 141.
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vorbereitenden Stufen, die ausgegrenzten und polemisch vom Christentum abgetrennten Lebensbereiche kommen von diesem aus gesehen in die Rolle gleichzeitig konkurrierender Lebensentwürfe mit für das Christentum unaufgebbaren geistigen wie realen Lebenselementen. Man wird gerade angesichts von Kierkegaards Gesamtwerk schließen müssen, dass es ohne Ästhetik und Ethik, also ohne glückliche Unmittelbarkeit und realisierbare Gegenwart gar nicht zu dem gekommen wäre, was Kierkegaard in den Philosophischen Brocken als die ,glückliche Leidenschaft‘ des Verstandes bezeichnete: das Paradox des Glaubens.26 Dann aber und rückwärts betrachtet erscheinen das ästhetische wie das ethische Stadium in ihrer konstitutiven Rolle umgekehrt auch in der Möglichkeit einer erneuten Interpretation durch die christlich-paradoxe Religiosität: Es müsste eine Ästhetik wie eine Ethik geben können, die der dialektischen Konstruktion des christlichen Paradox genügten, womit die Stufenfolge der Stadien aufgelöst wäre. Allerdings begehen wir mit dieser kritischen Überlegung einen Fehler, wir gehen damit nicht nur in theoretisch produktiver Interpretation über Kierkegaard hinaus, sondern wir machen uns der Abstraktion schuldig, springen aus dem konkreten Dasein heraus – um dessentwillen die Stadienlehre ja entwickelt wurde –, als könnten wir quasi von außerhalb der Stadien und nachträglich diese überblicken. Kierkegaard jedenfalls hat sein Leben lang auf diese Abstraktion eben Verzicht getan, und biographisch gesehen hat er dies im Zwang gegen sich selbst durchgehalten bis hin zum Selbstopfer im Kirchenangriff (was neben den Schriften des Anti-Climacus und den Augenblicksschriften vor allem die späten Tagebücher belegen).27 Nicht aus Sturheit, nicht aus Stolz, nicht aus Übertreibung – obwohl dies alles ihm nicht unbedingt fern lag und eine Rolle gespielt haben mag –, sondern weil er von der prinzipiellen Erkenntnis des Frühwerks, d. h. der ästhetischen Pseudonyme, nicht mehr abgewichen ist, die Wahrheit müsse in den praktischen Lebensbedingungen, existentiell, wie er sagte, erfahren und ge26 Vgl. PB in GW1 6, 46, 56. 27 Vgl. die Schriften des Anti-Climacus Die Krankheit zum Tode (GW1 17); Einbung im Christentum (GW1 18). Anti-Climacus ist von Kierkegaard im Spätwerk als bewusstes Gegenpseudonym zu Johannes Climacus, dem Verfasser von Philosophische Brocken und Nachschrift eingesetzt. Kierkegaards Angriffsschriften der Zeit um 1854 – 55 sind in der 34. Abtlg. der deutschen Ausgabe gesammelt unter der Überschrift Der Augenblick. Zu den Tagebuchbelegen vgl. man vor allem die Aufzeichnungen der letzten Jahre, gesammelt in Bd. 5 der deutschen Ausgabe von H. Gerdes.
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dacht werden, in ihren Daseinsverhältnissen und nicht mehr anders. Auf diesem Weg kam er in die Konsequenzen des christlichen Leidens, orientiert am Christus-Vorbild; so musste er das Unglück zunächst dem Glück vorziehen, und der polemische Zugang zu dieser Klärung ist die Stadienlehre, die ihre ausgebrannten Stufen der Reihe nach von sich absprengt. Das Spätwerk treibt ins potenzierte Leiden, macht prinzipiell noch einmal die Differenzen klar in der Schrift ber den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel, und die Analytik des Climacus aus der Nachschrift wird aggressiver: Religiös gesehen kommt es nämlich […] darauf an, dass man das Leiden erfasst und so darin bleibt, dass die Reflexion auf das Leiden, nicht weg vom Leiden gerichtet ist.28 Was hat die in der Irre gehende Exegese und Spekulation getan, um das Christliche in Verwirrung zu bringen […]? Ganz kurz und mit kategorischer Genauigkeit gesagt das Folgende: sie hat den Bereich des Paradox-Religiösen zurückgeschoben in das Ästhetische und es dadurch erreicht, dass jeder christliche Terminus, welcher, wenn er in dem ihm eigenen Bereiche bleibt, eine qualitative Kategorie ist, nun, in einem reduzierten Zustande, brauchbare Dienste leistet als ein geistreicher Ausdruck, der da, ach, so allerlei bedeutet.29
Auf diesem Weg bleibt Glück, befragt man die Stadienlehre daraufhin, auf der Strecke. Ästhetisch ist es der unmittelbare Schein im flüchtigen Augenblick; ethisch ist es als Kategorie gar nicht am Platze; religiös gesehen kommt es nicht mehr vor – wenn nicht in jener ,glücklichen Leidenschaft‘, von der die Philosophischen Brocken sprachen, und, wie es im Tagebuch einmal definiert wird: „Der Glaube ist die Unmittelbarkeit nach der Reflexion.“30 Das Ästhetische, seine Unmittelbarkeit kehrt dann wieder, ganz anders sicher als in den Stadienstufen ausgegrenzt und abgeworfen, nämlich als Glück und Unmittelbarkeit ohne bewusstloses Verfallensein an den Augenblick oder hilfloses Ausgeliefertsein an die verzweifelte Reflektiertheit. Was Kierkegaard hier anvisiert, Glück auf höchster Stufe, die Realisierung aus der Frage nach der ewigen Seligkeit unter ihren zeitlichen Konflikten und der christologischen Paradoxie gedacht, hat er selbst nur angedeutet: „Die Reflexion vergisst nicht, sie erinnert sich rückwärts; und die Reflexion setzt das Leiden zusammen 28 AUN in GW1 11, 151. 29 Die Schrift ber den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel von 1847 ist abgedruckt in ZKA in GW1 16, 117. 30 T 2, 230 / NB4:159 in SKS 20, 363.
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mit der Seligkeit.“31 Es muss also, um nicht erneut ästhetische Verwirrung ins Spiel zu bringen, zwischen richtiger und falscher Unmittelbarkeit, zwischen scheinhaftem Glück und dem möglichen Glück auf der Basis der Verzweiflung und nach der Reflexion unterschieden werden. Der Glaube, um den es dann geht, ist situationsgebunden, konkret, könnte man auch sagen, im Dasein verankert – so konkret wie es Kierkegaard selbst an sich exemplarisch werden ließ in den Schmähungen des Witzblattes Corsar gegen seine Person und seinem politischen Opfergang gegen die Staatskirche.32 Beides spielte sich auf der Straße ab, und der Maßstab solchen Glücks ist der Glaube; oder er liegt in einer Ästhetik oder Ethik, die mit Kierkegaards Stadienstufen dann nicht mehr übereinstimmen.
Das christliche Kriterium des Glcks ist das Unglck der anderen Diese These ist mit und gegen Kierkegaard gewonnen, sie impliziert die Stadienlehre als Aufstieg vom bloß ästhetisch Unmittelbaren weg, und sie bedenkt zugleich die Umkehrung der Blickrichtung von der paradoxen Religiosität zurück auf das Ästhetische. Diese Wendung geschieht allerdings unter dem Vorbehalt, nun dem existentiellen Bannkreis Kierkegaards entronnen zu sein, nicht weil wir es schon besser wüssten, sondern weil wir die Forderungen des lebendigen Lebensvollzugs, wie es Kierkegaard selbst in seinen Pseudonymen regelmäßig tat, einfach einmal 31 NB13:62 (aus dem Jahr 1849) in SKS 22, 311. 32 Zu Kierkegaards Auseinandersetzung mit dem Corsar vgl. die im Bd. Der Corsarenstreit (32. Abtlg.) gesammelten Artikel. Vgl. im übrigen folgende Tagebuchnotizen Kierkegaards zur Einstufung des Glücks: NB35:24 (aus dem Jahr 1854): „Anstelle dessen, wie der Heide es sich dachte und wie es dem gradlinigen Denken entspricht, dass mit Gott zu tun zu haben, sein Günstling zu sein, dass das eitel Glück bedeute, bedeutet es christlich gesehen eitel Leiden […]“, (SKS 26, 388). NB12:101 (aus dem Jahr 1849): „Soll das Christentum in Wahrheit für die Glücklichen verkündigt werden, für die, die sich ihres Lebens freuen und es genießen: so wird das Christentum zu einer Art Grausamkeit“ (SKS 22, 196). T 5, 387: „Aber ,der Glaube’ ist vielleicht niemals vorher dargestellt worden von jemandem, der gerade ebensoviel Dialektik hat wie Unmittelbarkeit. Nur ist er fortwährend darauf aufmerksam, dass die Unmittelbarkeit, von der er spricht, die neue Unmittelbarkeit ist, und eben diese wird gesichert durch das negative Merkmal“ (Pap. X 6 B 78).
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auf Eis legen dürfen. Theorie und Praxis fallen nicht ineinander, und die distanzierte Überlegung rechtfertigt sich mit der Not der Praxis und im Bewusstsein der eigenen Distanz. Dann aber ist zu schließen, dass im Verhältnis zur Wahrheit eine Negativität ins Spiel kommt, mindestens ein ,noch nicht‘; ein so nicht erfüllbarer Vorbehalt, der auf der Unvermittelbarkeit von Reflexion und Unmittelbarkeit beruht. Die Orientierung am Glück des Lebens erhält das negative Kennzeichen seiner Verhinderung in der Verzweiflung des Ästhetischen wie des nicht garantierten Glücks in der ethischen Entscheidung; wie aber verhält es sich im christlichen Glauben, holt er das Glück ein? Kierkegaards Basisbegriff für die menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse war zuletzt umfassend der der Verzweiflung. Die Krankheit zum Tode breitet die Phänomenologie der nicht hintergehbaren Verzweiflung aus, die aus der Definition des Menschen als eines unselbständigen Geistverhältnisses folgt. Glück, ganz im Sinne der Stadienlehre, ist dann nur ein Missverständnis der Verzweiflung: Sogar was da menschlich gesprochen das Schönste und Liebenswürdigste von allem ist, jugendlicher weiblicher Sinn, der eitel Friede, Harmonie und Freude ist: es ist dennoch Verzweiflung. Dergleichen ist nämlich Glück, Glück aber ist keine Bestimmung des Geistes, und tief, tief drinnen, zuallerinnerst in des Glückes heimlichster Verborgenheit, da wohnt auch hier die Angst, welche die Verzweiflung ist; sie möchte so gerne Erlaubnis haben da drinnen zu bleiben, denn da ist der Verzweiflung die liebste, die begehrteste Wohnstatt: zu allerinnerst im Glück. Alle Unmittelbarkeit ist ihrer eingebildeten Sicherheit und Ruhe zum Trotz Angst, und daher durchaus folgerichtig am bängsten vor Nichts […] Es gehört eine ungewöhnliche Reflexion, oder richtiger es gehört ein großer Glaube dazu, um die Reflexion des Nichts, d. h. die unendliche Reflexion aushalten zu können […] Verzweiflung ist nämlich, eben weil sie ganz und gar dialektisch ist, diejenige Krankheit, von der gilt: es ist das größte Unglück sie nie gehabt zu haben […] Es ist darum so weit wie möglich davon, dass die gewöhnliche Betrachtung recht hätte, die annimmt Verzweiflung sei eine Seltenheit, sie ist vielmehr durchaus das Allgemeine.33
Die Allgemeinheit, die Notwendigkeit wie die dialektisch zugleich geforderte Heilung dieser Krankheit zum Tode wird potenziert – vielleicht dadurch auch erst einsichtig –, dass sie christlich qualifiziert als Sünde definiert wird, d. h. Verzweiflung vor ihrem höchst möglichen Maßstab, vor Gott. Dann ist, ebenso potenziert, Unmittelbarkeit Sünde, ,Dichterexistenz Sünde‘ wie es ausdrücklich heißt,34 man kann hinzufügen: 33 KT in GW1 17, 21f. 34 AaO., S. 75.
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Glück in jenem unmittelbaren Sinn ist Sünde. Das ist eine grauenhafte Konsequenz, solange man nicht die Dialektik der Sache im Sinn hält, dass „der Gegensatz zu Sünde nicht Tugend, sondern Glaube“ heißt,35 es geht also gar nicht um Glück oder Unglück, sondern es geht um Verzweiflung und Glaube; Glück wäre im Bereich des Glaubens erst das, was es sonst nicht ist, nicht sein kann. Der Grund dafür liegt nicht allein in der Struktur des Menschen beschlossen, wie Kierkegaard sie dargestellt hat, sondern diese muss als Konsequenz der Lebensbedingungen im ,Bestehenden‘ und der ,Christenheit‘ angesehen werden, die Kierkegaard 1848 dazu zwingen, die menschliche Existenz eben so zu beschreiben – in der Allgemeinheit der Verzweiflung, einer umfassenden Negativität. Kierkegaard hat sich seitdem in die Rolle des Korrektivs hineinpolemisiert und dies auch durchgehalten. Die in der Kategorie Verzweiflung angelegte Wendung zum Glauben – zum Glück einer neuen Unmittelbarkeit – war sicher deren Sinn, für Kierkegaards Lebenssituation bestand aber, wie die Dinge sich entwickelten, keinerlei Anlass, die Fronten zu wechseln. Mögliches Glück, nun verstanden wie der Glaube als Unmittelbarkeit nach der Reflexion und in der Anerkenntnis der Verzweiflung als Sünde, ist deshalb nicht ausgeschlossen, nur ausgesetzt, und seine Entfaltung setzt praktisch andere Lebensverhältnisse voraus, theoretisch die Aufsprengung der Stadienlehre. Th. W. Adorno, schon sein Kierkegaard-Buch, aber erst recht die Negative Dialektik hat hier in dieser Wendung Anschluss bei Kierkegaard gesucht. Und Kierkegaards Protest wie seinem Opfergang geschieht in dieser Wendung, weil sie dialektisch an der Negativität festhält, ein Recht, das Kierkegaard selbst sich noch nicht zugestehen konnte: Die Stellung des Gedankens zum Glück wäre die Negation eines jeglichen falschen. Sie postuliert, schroff wider die allherrschende Anschauung, die Idee von Objektivität des Glücks, wie sie negativ konzipiert war in Kierkegaards Lehre von der objektiven Verzweiflung.36
Unter diesen Vorzeichen wird von Glück als Kriterium des Glaubens die Rede sein können, abgeändert werden dann Kierkegaards scharfe Grenzen für den ästhetischen wie den ethischen Bereich, die er mit Fleiß von paradox-dialektischen Kollisionen freizuhalten suchte, von der absoluten Kollision von Immanenz und Transzendenz. Dies strenge Schema ästhetisch gesehen, trifft heute nur noch Kunstwerke, denen der Markt 35 AaO., S. 81. 36 Th. W. Adorno Negative Dialektik, Frankfurt am Main 21967, S. 345; jetzt Gesammelte Schriften 6 (1973), S. 347.
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das unabänderliche Gerüst und den Typus aufzwingt, der Konflikte, die es wert wären, von vornherein ausspart – von Glück kann da sowieso nur als Täuschung die Rede sein (zu denken ist etwa an die Muster für Kriminalfilme u. ä.). Sowohl eine gegenwärtige Ästhetik wie eine Ethik von Bedeutung müssten sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie die Kollisionen tragen könnten, die Kierkegaard der religiösen Sphäre vorbehalten wollte; wie es längst geschehen ist: Die Kunst gehört auch auf die Straße, ihre Themen sind nicht allein die unglückliche Liebe, und wenn die Ehe beginnt, ist der Dichter unzuständig; nein, dann beginnt es erst, die Alltagswelt, die Not und die Verzweiflung sind von ästhetischem Rang; nicht um sie unernst aus der Wirklichkeit zu heben, sondern um der Wirklichkeit Gewicht zu geben, Sprache zu geben, die sie sonst nicht hat. Zu denken ist als großes Beispiel an Heinrich Böll, der mit Respekt vor Kierkegaard die Verknüpfung von Religion und Ästhetik in allen Romanen vorgeführt hat: Nichts muss langweilig sein, auch Religion nicht: Kierkegaard hat den Beweis erbracht […] dann werden die Kirchen in dem verrückten Stadium sein, Religion in der Literatur ohne Kenntnis der Ästhetik nicht mehr begreifen zu können.37
Die Sympathie für Kierkegaards Position des Korrektivs lässt demnach eine Revision des Stadienschemas zu. Unter anderen Voraussetzungen als denen Kierkegaards, der in biographischem Zwang das Christentum polemisch aussondern wollte, ist dann heute seiner Intention: dem faktischen Unglück Recht werden zu lassen, nachzukommen, indem Ästhetik und Ethik aus ihren Zwangsbegrenzungen befreit werden. Zwischen seinen Stadien, in den ,Confinien‘ von Ironie und Humor, hat Kierkegaard die Lücken gesehen und gelassen, die seinem System der Stadien den unmenschlichen Zug immer bestritten haben – so wie Kierkegaard es sich zeitlebens herausnahm, als Christ, der er sein wollte, den Heiden Sokrates als Ironiker zu bewundern. In Ironie und Humor könnten dann nicht nur jene Übergänge in der Stufenleiter der Stadien gesehen werden, sondern Stellvertretungen des Glaubens in zweiter Unmittelbarkeit, der die Verzweiflung kennt und nicht flieht. Glück bleibt darin versteckt und anwesend, dialektisch. Und wieder ist an Bölls Figuren zu erinnern, den Clown etwa, aber auch an Bölls theoretische Bestimmung des Humors, die auch Kierkegaard akzeptiert haben müsste:
37 H. Böll Frankfurter Vorlesungen, Köln / Berlin 1966, S. 99f.
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es gibt nur eine humane Möglichkeit des Humors: das von der Gesellschaft für Abfall Erklärte, für abfällig Gehaltene in seiner Erhabenheit zu bestimmen.38
Jetzt sind Grenzen überschritten, die Zusammensetzung des Höchsten und Niedrigsten hat christologische Dimension, die weder die absoluten Konflikte noch den Kontext der Alltäglichkeit befürchten muss. Glück meint dann Anderes als Schein, Naivität oder Flucht ins Phantastische, denen doch die Verzweiflung im Nacken sitzt. Kierkegaard hat es angedeutet: Dichterisch ist nämlich die Unmittelbarkeit das, wohin man sich zurückwünscht (man wünscht die Kindheit zurück usw.), aber christlich ist die Unmittelbarkeit verloren, und sie soll nicht zurückgewünscht, sondern soll wiedererlangt werden.39
Dies Wiedererlangen, soll es nicht in abstrakter Transzendenz verschwinden, ist nur vorstellbar, wenn zu Wunsch und Phantasie das gelebte Leben hinzutritt, wenn Glück in zweiter Unmittelbarkeit die Änderung der gegebenen Verhältnisse zustande bringt – wie es theologisch im Wechsel von Sünde und Glaube die Krankheit zum Tode vorlegt. Die Kategorie Glück ist dann nicht mehr ohne ihre konkreten Bedingungen anzuführen. Sie setzt im christologischen Konflikt das Niedrigste und Elendeste mit dem Höchsten und Letzten zusammen, um dies Paradox des Glaubens für andere und unter ihnen wahrhaftig geltend zu machen. Dies alles summarisch auszusagen, versucht die These: Kriterium des Glücks sei christlich gesehen das Unglück der anderen.
38 AaO., S. 107. 39 T 2, 225 / NB4:154 in SKS 20, 358.
,In kraft des Absurden‘. Die Verborgenheit des Glaubens bei Søren Kierkegaard Humor erkennt man sofort bloß an einer solchen Replik credo quia absurdum.1 S. Kierkegaard
I. Muss wider den Verstand geglaubt werden? Das moderne Vorurteil gegenüber Religion, ihr Glaube beginne notgedrungen dort, wo nichts mehr zu wissen sei, sieht sich durch eine solche These allzu leicht bestätigt, und Kierkegaards „credo quia absurdum“ scheint dem aufs Haar zu entsprechen. Doch bringt schon diese Notiz aus den Tagebüchern2 die alte christologische Glaubensbestimmung nach Tertullian3 in durchaus neue Bezüge: Humor als menschliche Sympathie in Lachen und Weinen, Humor, der „das Leiden mit dem Existieren“ zusammenfasst,4 bringt den Glauben wider den Verstand erst ins richtige Licht. Es geht um ein existentielles Sichverhalten, das auf seine Nicht-Berechenbarkeit pocht. Was die Sympathie mit einem Clown fesselt, ist nicht planvolle Rationalität, sondern das Extrem an Konflikt zwischen menschlicher Idee und Realisierung, die sich ständig gegenseitig ein Bein stellen. Das Ergebnis ist absurd, und gerade darin regt sich das Mitfühlen; was den Humor betrifft: ambivalent in Lachen und Weinen.
1 2 3 4
Pap. III B 24. Vgl. zum Forschungsstand meinen Forschungsbericht Kierkegaard. Die Philosophie des religiçsen Schriftstellers, Darmstadt 1985. Vgl. R. Fabian Art. „Absurd“ in HWP 1, 66f. AE in SKS 7, 410 / AUN in GW1 11, 160.
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,In kraft des Absurden‘
Das Absurde [ist] so gestaltet und zusammengesetzt, dass nur eine Macht es bewältigen kann – die Leidenschaft des Glaubens.5 S. Kierkegaard
II. Das Absurde gibt für Kierkegaard den Einstieg in eine Religionsauffassung, die nicht mehr über historische Absicherungen und auch nicht über philosophische (,spekulative‘) Konstruktionen begründet werden kann, sondern die am selbsterfahrenen Leben hängt. Damit reagiert Kierkegaard auf die von Lessing formulierte Trennung von „zufälligen Geschichtswahrheiten“ und „notwendigen Vernunftswahrheiten“6 ebenso wie auf die durch Hegels Idealismus versuchte Integration menschlichen Existierens und Sichverhaltens in die Systematik der Geschichte des Geistes. Kierkegaards Verteidigung der Religion hat demnach zwei Zentren: 1. Ihr existentielles Pathos richtet sich im Namen des unvertretbar einzelnen Menschen gegen die Systemphilosophie und die ihr korrespondierenden kollektiven Tendenzen der modernen Gesellschaft. Auf den polemischen Punkt gebracht ist diese Kritik in einer Fußnote der Frühschrift Furcht und Zittern: „Leidenschaft ist der fortwährende Sprung in das Dasein, der die Bewegung erklärt, während die Mediation eine Chimäre ist, die bei Hegel alles erklären soll und die zugleich das Einzige ist, was er niemals versucht hat zu erklären.“7 Johannes de silentio, der pseudonyme Autor dieser Schrift, hat genau dies Interesse, die Leidenschaft einer religiösen Existenz – Abraham und Isaak auf dem Berg Moria – bis zur Erschütterung vorzudemonstrieren und reflektierend zu sezieren; mit dem Resultat: Abrahams Glaube, Gott zu gehorchen und doch von demselben Gott den Sohn wieder geschenkt zu bekommen, ist nicht zu begreifen, folglich nur zu konstatieren als paradoxer Vorgang, das Absurde. 2. Die selbsterfahrene Unableitbarkeit des eigenen Lebens, wie sie Kierkegaard im Wirklichwerden zeitlichen Existierens beschrieben 5 6
7
Pap. X 6 B 68, S. 75. Vgl. in Lessings Schrift „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ (1777) in Lessings smtliche Schriften, hg. v. K. Lachmann, 3. Aufl. von F. Muncker, Leipzig 1897, Bd. 13, 5. – Vgl. Kierkegaards Motto zu den Philosophischen Brocken und die Wiederaufnahme in der Unwissenschaftlichen Nachschrift, AE in SKS 7, 92 / AUN in GW1 10, 86. FB in SKS 4, 137 / FZ in GW1 3, 42.
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hat: sich auf mögliche Zukunft hin entscheiden zu müssen, in solchem ,Sprung‘, der Bewegung des Daseins, Freiheit, Wirklichkeit und Gott zu gewinnen – dieser existentielle Ernst kann sich christologisch auf Lessing berufen, ihn noch übersteigern. Lessing hatte ja gegen die Orthodoxie sehr geschickt den Bruch zwischen dem historischen Ereigniszusammenhang selbst und dem Bericht ber jenes einmal Geschehene aufgedeckt. Es bleibt eine Differenz zwischen dem Medium und der Sache selbst, und deren Verbindlichkeit für mich ist dadurch prinzipiell eingeschränkt. Was immer historisch für möglich und wirklich gehalten wird (und Lessing ist da gar nicht kleinlich, was die neutestamentlichen Berichte angeht), es hat seine unmittelbare Überzeugungskraft, mein Leben entscheidend zu bestimmen, verloren, bzw. die letzte Entschiedenheit kann dem Ereignis als historischem gar nicht eignen. Das ist der „garstige breite Graben“,8 über den Lessing den orthodoxen Sprung verweigert. Kierkegaard aber nimmt die Metapher, Lessing überholend, für die Sache, um die es allein geht: zu springen macht die existentielle Bewegung, und das allein ist christologisch gewiss, dass die Verborgenheit Gottes im Menschen Jesus nicht zu umgehen ist, durch keinen methodischen Kniff, durch keine zeitliche Annäherung, durch keine historische Detailstudie – „so steht es mit dem Glauben, seine Absurdität verschlingt ganz und gar den Kleinkram.“9 Diesen Sprung, diese Leidenschaft, diese Gleichzeitigkeit bezeichnet Kierkegaard treffend als die „Autopsie des Glaubens“, deren spezifische Kommunikation darin bestehen muss, alles zu tun, „um den anderen daran zu hindern, es unmittelbar hinzunehmen.“10 Die Verborgenheit Gottes in der Zeit verbietet die nahtlose Weitergabe oder bruchlose Übernahme. Gleichzeitigkeit wird gesucht, aber das unmittelbare, natürliche Verhältnis ist negiert. Diese Bruchlinie, historisch und existentiell gesehen, heißt ,absurd‘ – und paradox zudem muss gefolgert werden: davon lebt der Glaube. dass der Inhalt des Glaubens – gesehen von der anderen Seite – das (Negative) Absurde ist.11 S. Kierkegaard 8 9 10 11
Lessing Beweis, S. 7. PS in SKS 4, 301 / PB in GW1 6, 101. PS in SKS 4, 299, 300 / PB in GW1 6, 99, 100. NB17:19 in SKS 23, 176f. / T 4, 142.
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III. Die andere Seite – Kierkegaards Pseudonyme wollen sie stark machen, um dem Missverständnis zu wehren, christlicher Glaube sei etwas ganz Schlichtes, Seichtes, passend für Leute, deren Leben und Intellekt ohne größere Ambitionen bleiben. Die andere Seite – d. h. für Johannes de silentio, Abraham zu betrachten, von außen her, distanziert. Und Abraham, so die Analyse in Furcht und Zittern, hat durchaus nicht die Statur des Helden, des idealen Vorbilds, dem jeder ohne weiteres nacheifern könnte. ,Vater des Glaubens‘ zu werden, erscheint plötzlich als das Exzeptionelle überhaupt, vor dem gerade intellektuelle Leistungen verblassen müssen. Denn Abraham, der Gott gehorcht und zum Mörder seines Sohnes werden soll, verlässt damit alle sinnstiftenden Ordnungszusammenhänge, die Bindungen ethischen Lebens. Diesen Abschied von der Alltäglichkeit nennt Kierkegaard die ,unendliche Resignation‘, es ist die erste ,Bewegung‘, die an Abraham zu studieren ist – keineswegs schon der Glaube! Dieser nämlich, Abrahams zweite ,Bewegung‘, wird sonst vorschnell an der falschen Stelle vermutet, eben an erster Stelle, dem unmittelbaren Verhältnis zu etwas, z. B. als Bewunderung, Verehrung, Glauben an […] Um dies zu vermeiden, macht Kierkegaard in der ,Doppelbewegung‘ die ,unendliche Resignation‘ zur Bedingung des folgenden Schritts. Wer sich nicht einmal von solchem Abschied aus dem Alltäglichen eine Vorstellung machen kann, oder wer davor zurückschreckt, wie sollte der nur ahnen können, was Abrahams Glaube – ,in kraft des Absurden‘ – zu bedeuten hat? 12 Abraham „fürchtet das ethisch Furchtbarste, Mörder seines Sohnes zu sein, und er zittert darum, ein Gottesfürchtiger zu werden. Angst war die Übergangskategorie von der unmittelbaren in die ethisch bewusste Existenz, Furcht und Zittern bilden die Übergangskategorie vom ethischen ins religiöse Dasein.“13 Der Verstand, beteiligt noch in der Resignation als begleitende Stimme: dies alles sei ja unmöglich, hat in der zweiten Bewegung, der des Glaubens, seine Kompetenz eingebüßt. Dort aber liegt gerade die Kraft, die das Ereignis Abraham auszeichnet: aus der Unmöglichkeit die Wirklichkeit neuen Lebens geschenkt zu erhalten. Das ist sein Glaube, und zu dessen Markierung – dass er nicht an der falschen Stelle gesucht oder doch für irgendwie ableitbar gehalten werde! – setzt Kierkegaard das gänzlich Unkalkulierbare: das Absurde. Soweit, zur Absicherung seiner 12 FB in SKS 4, 141 / FZ in GW1 3, 47f.; vgl. NB17:19 in SKS 23, 176f. / T 4, 142. 13 Wolfgang Janke Existenzphilosophie, Berlin / New York 1982, S. 56.
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Eigenart, die Beschreibung des Glaubens von außen. Kierkegaards Pseudonym betont auch pflichtgemäß immer wieder: Er selbst, Johannes de silentio, könne das nicht nachvollziehen. Für den, der in der Doppelbewegung lebt, wäre diese Sperre aber überwunden. Von innen her, in der ,Autopsie‘ des Glaubens gesehen, ist das Kennzeichen des Absurden gewichen, genauer: in der ,glücklichen Leidenschaft‘ aufgefangen, verwandelt, lebbar geworden; aber eben nur dort.14 Die menschliche Vernunft hat Grenzen; da liegen die negativen Begriffe.15 S. Kierkegaard
IV. Kierkegaard hat die Begriffe ,das Absurde‘, ,das Paradox‘ synonym gebraucht, und doch sind sie nicht an allen Stellen austauschbar. Zwar kann von einem ,paradoxen Glauben‘ genauso gesprochen werden wie vom Glauben ,in kraft des Absurden‘, doch Kierkegaards Paradox-Christologie findet inhaltlich keine terminologische Entsprechung in einem mit ,absurd‘ gebildeten Kompositum. Am Beispiel Abrahams konnte das existentielle Phänomen des Religiösen ,in kraft des Absurden‘ analysiert werden, aber der innere Vollzug solchen Geschehens selbst ist nicht einfach absurd, auch wenn von außen gesehen das offenbar so erscheinen muss. Denn Absurdität und ,Nonsens‘ liegen gefährlich nahe beieinander, und eben diese Unterscheidung muss gemacht werden, sonst würde das Absurde sich selbst auflösen.16 Nicht der Inhalt des Glaubens kann generell als absurd hingestellt werden,17 denn ,dialektisch‘ bleiben diese ,negativen Begriffe‘, diese Grenzsetzungen, weil sie keineswegs ,Nonsens‘ konstatieren, sondern auf ihr Gegenteil zielen: den gelebten Glauben; davor aber die Sperre der negativen Kennzeichnung errichten. Die Funktion der Negation ist, „dass man begreift, es könne und solle nicht begriffen werden“.18 Und sofern in 14 PS in SKS 4, 261f. / PB in GW1 6, 56; vgl. Pap. X 6 B 68, S. 75; X 6 B 79 / T 5, 285f. 15 NB15:25 in SKS 23, 23f. / T 4, 83. 16 Vgl. NB15:25 in SKS 23, 23f. / T 4, 82f. 17 Pap. X 6 B 68, S. 75 / T 5, 408 (Anm. 357). 18 NB15:25 in SKS 23, 23f. / T 4, 83.
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dieser Weise die Absperrung des Verstandes gerade zum Festhalten der Absurdität gehört, bleibt das Denken zugleich Kriterium dessen, dass hier nicht mehr gedacht werden kann. Man kann nicht etwa „Nonsens […] gegen den Verstand glauben“, aber man muss den Verstand dafür einsetzen, dass man „durch ihn auf das Unverständliche aufmerksam wird […]“19 Das Absurde, so wird differenziert werden können, demonstriert dieses Außenverhältnis. So bei Abraham, so vor allem auch in christologischer Perspektive, ,Gott, der Ewige‘, sei „in einem bestimmten Zeitmoment als ein einzelner Mensch geworden“.20 Das ,absolute Paradox‘, obwohl es auch synonym zum Absurden das christologische Problem bezeichnet,21 beschreibt aber eher den Innenaspekt (weswegen das Paradox dann im Gesamtwerk auch häufiger vorkommt), den Vorgang des Glaubens selbst, der nicht Nonsens ist, sondern den Widerspruch (den das Absurde von außen her anzuzeigen hatte) aushält in ,Gedankenleidenschaft‘.22 Die gelebte Situation, die Kierkegaard damit beschreiben will, ist die von Ärgernis oder Glaube – dazu dienen die negativen Begriffe! Und während nach den Ableitungen der Philosophischen Brocken der entscheidende Augenblick, die christologische ,Fülle der Zeit‘, selbst als Paradox zu gelten hat – dessen ,unglückliche‘ Zustandsform rgernis, dessen Gelingen Glaube heißen sollen –, steht das Absurde dazu als das von außen gegebene Etikett des Observierenden: „Der Verstand sagt, das Paradox sei das Absurde, doch dies ist nur ein Zerrbild […].“23 Das Absurde ist Kategorie, und zur genauen und begriffsrichtigen Bestimmung des christlich Absurden wird das entwickeltste Denken gehören.24 S. Kierkegaard
19 AE in SKS 7, 516 / AUN in GW1 11, 280. 20 AE in SKS 7, 526 / AUN in GW1 11, 291; vgl. AE in SKS 7, 193f. / AUN in GW1 10, 201f. 21 Vgl. AE in SKS 7, 199 / AUN in GW1 10, 209. 22 AE in SKS 7, 517 / AUN in GW1 11, 281. 23 PS in SKS 4, 235 / PB in GW1 6, 49. 24 Pap. X 6 B 79, S. 8 / T 5, 385.
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V. Absurdität und Paradox sollen also keineswegs die Dunkelheit des Irrationalen propagieren, sondern die Grenze grell beleuchten, an der Rationalität und Lebensentscheidung aufeinander stoßen. Damit ist eine traditionelle Kierkegaard-Interpretation bestritten, die den irrationalen Glaubensakt, eine dezisionistische Grundsituation, zum Kernpunkt aller Existenzanalysen gemacht hatte. In solch einem Punkt wäre alles ununterscheidbar und folglich auch alles möglich, genau diese Beliebigkeit und Willkür aber will Kierkegaard ausschließen. Allerdings sagt die Unwissenschaftliche Nachschrift, die speziell christologische Basis des Christentums, zu glauben und darin Gott in der Zeit zu glauben, sei doppelt dialektisch: Religiositt A wäre demnach die erste Dialektik eines religiösen Glaubens überhaupt, der in einem Verhältnis zu etwas Nicht-Endlichem steht; Religiositt B dann die Potenzierung, zudem noch das Ewige als in der Zeit geworden zu glauben. Dies erst, so differenziert die Nachschrift, ist der christlich entscheidende „Bruch mit allem Denken“.25 Wie kann diese Absage an das Denken von Irrationalität unterschieden werden? Was soll es heißen, das Absurde sei ,Kategorie‘, die das Denken geradezu brauche und herausfordere? 1. Kierkegaards ,negative Begriffe‘ wollen die Souveränität Gottes respektieren. Aus ,guten Gründen‘ sich zum Glauben zu entschließen – das hat mit Religion nichts zu tun, sie wäre dann von menschlichem Einsehen abhängig, allenfalls eine Funktion menschlicher Bedürfnisse und schnell und mit Recht der Illusion verdächtig. Kierkegaard ist in diesem Argument mit Wittgenstein einig,26 geht aber in der Forderung, „zu begreifen: dass man den Glauben nicht begreifen kann“,27 noch einen Schritt weiter. Die paradoxe Grenze bedeutet nicht den Schlusspunkt, sondern eine neue Initiative. Diese aber verdankt sich einer Wendung, zu der Gott „die Bedingung mitgibt“, d. h., für den paradoxen Glauben gibt es keine innerweltliche Ableitbarkeit, er ist weder ein Erkenntnis- noch ein Willensakt.28 Deshalb müsste Kierkegaard sogar gegen Pascals Wette 25 AE in SKS 7, 527 / AUN in GW1 11, 292. Vgl. zur Unterscheidung der Perspektiven von Furcht und Zittern und der Unwissenschaftlichen Nachschrift, Pap. X 6 B 80 / T 5, 387f. 26 Ludwig Wittgenstein Vorlesungen und Gesprche ber sthetik, Psychologie und Religion, hg. v. C. Barret, übers. v. E. Bubser, Göttingen 21971, S. 88ff. 27 Pap. X 6 B 114, S. 146. 28 PS in SKS 4, 264f. / PB in GW1 6, 58 – 59.
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Einwände erheben, sofern dadurch ,gute Gründe‘ und Plausibilität vermittelt werden sollten.29 So paradox der Gegenstand des Glaubens, so paradox der Glaube selbst, aber dass das so sein muss, lässt sich klar einsehen, sobald Gott und Mensch – erkenntnistheoretisch, oder christologisch als Gott in der Zeit – aufeinander treffen.30 2. Kierkegaard nicht als Irrationalisten zu lesen, das verlangt natürlich auch nach Erklärungen, warum unter seinen Bedingungen die Souveränität Gottes nur so verteidigt werden konnte, dass das Absurde zum Kennzeichen des Christentums werden musste. Nach Lessing und Hegel hatte Kierkegaard, wie schon gezeigt, allen Grund, die historische wie die spekulative Begründung des Glaubens zu unterbrechen. Die polemische Absicht seiner ,negativen Begriffe‘ – und damit der Kategorie des Absurden – richtet sich zugleich aber auch gegen die philisterhafte bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.31 Sie sperrt den Einzelnen in das Gefängnis des Allgemeinen (d. h. der Reflexion und Anpassung und Austauschbarkeit), und dagegen behauptet Johannes de silentio mit seinen Modellanalysen die Höherrangigkeit des religiösen Konflikts, der sich folglich vom Allgemeinen als absurder Einzelfall abheben muss. Was sich in gewohnten Sachzwängen als Wirklichkeit darstellt, das konfrontiert Kierkegaard mit der Fülle der Möglichkeiten bei Gott – und beides schlägt sich nieder als emotionaler Zusammenstoß im religiösen Einzelnen, seinem nur paradox auszuzeichnenden Glauben; in der Krankheit zum Tode (1849) dann wie ein Resümee zur Abraham-Darstellung von Furcht und Zittern formuliert: Hoffen und Hilfe geschieht „in kraft des Absurden, dass für Gott alles möglich ist“.32 3. Die Kategorien des Paradox und des Absurden sind folglich dem Denken nicht entzogen, weil sie nur vom Denken selbst, gerade von seiner verallgemeinernden Distanznahme, aufgestellt werden können. Solange der Konflikt und die Konfliktbeschreibung um die Leidenschaft von Denken und Glauben andauern, bleiben die negativen Kategorien die Markierung der Grenze. Sie nicht in rationaler Selbstüberschätzung zu 29 Alastair Hannay Kierkegaard, London / Boston / Melbourne / Henley 1982, S. 119f. 30 Ebd., S. 196ff. 31 Edward F. Mooney „Understanding Abraham: Care, Faith, and the Absurd“ in Kierkegaard’s Fear and Trembling: Critical Appraisals, ed. by R. L. Perkins, University of Alabama Press 1981, S. 100 – 114, hier: S. 102. 32 SD in SKS 11, 185 / KT in GW1 17, 71; vgl. auch Mooney Understanding, S. 109f.
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ignorieren, dazu braucht es das ,Halt‘-Rufen des Absurden. Wo aber der Glaube als glückliche Leidenschaft den Konflikt trägt, ist die Öffnung dorthin gelungen, wo die Allgemeinverbindlichkeiten des Denkens und die Normierungen des Gängigen nicht mehr greifen, wo der Einzelne im Ernst in der Verantwortung seines Lebens steht. Weil diese Situation jedem Menschen so unverfügbar wie doch auch nahe ist, jederzeit möglich und doch nicht einfach alltäglich, grenzt Kierkegaard ihre Verborgenheit vor anmaßenden Übergriffen dadurch aus, dass Rationalität sich kategorial selbst negieren können soll. Das Maß des Denkens ist zwingend und reicht bis zur Konstatierung des paradoxen Glaubens.33 Denn das Absurde – und der Glaube, das ist das Gleich um Gleich, das nötig ist, falls Freundschaft sein soll und falls diese Freundschaft Bestand haben soll zwischen zwei so ungleichen Qualitäten wie Gott und Mensch.34 S. Kierkegaard
VI. Die deutsche protestantische Theologie hat jeweils nach den beiden Weltkriegen von Kierkegaards Theologie geradezu gelebt, jedenfalls in ihren aktuellen Richtungen und in der Zeitgenossenschaft mit den Katastrophen, die zu rationaler Distanznahme wenig Anlass gaben. Dabei legte die Dialektische Theologie (K. Barth, R. Bultmann, H. Diem) das Hauptinteresse auf den von Kierkegaards Pseudonymen aufgestellten ,qualitativen Unterschied‘ zwischen Gott und Mensch – eine Perspektive, die im Gegensatz von Sünde und Glaube, im Gegenüber menschlicher Möglichkeiten und göttlicher Alternative die Zeit der Krisen verstehen half. Gott ließ sich offenbar in die Leistungen des Menschen, und seien es auch seine Moral und Religion, nicht hineinziehen; gerade nicht, denn der Glaube hat nicht den Triumph in Händen, sondern das Leiden. Die Passion beschreibt den Glauben ,in kraft des Absurden‘. Aus Kierkegaards Paradox wurde eine Botschaft, die die weltlichen Einbindungen zeitkritisch kündigte, die im Namen desselben Paradox 33 Vgl. Hannay Kierkegaard, S. 116. 34 Pap. X 6 B 79, S. 86 / T 5, 386.
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aber biblische Autorität in Anspruch nahm. Wie aber war die damit unter der Hand geschehene Rückkehr zu dogmatischen Positionen legitimiert? Begründungsfragen solcher Art schienen sich ,in kraft des Absurden‘ zu erübrigen, religionsphilosophische Denkzusammenhänge, auch das apologetische Interesse von Kierkegaards Pseudonymen standen hinter der neu etablierten Position des Glaubens zurück. Zwar gab es auch und zugleich immer die religiöse, nicht-dialektische Interpretation Kierkegaards, die seine Kultur- und Zeitkritik in der Frömmigkeit des einzelnen Gewissens aufgehen ließ – und sich dabei auf den religiösen Schriftsteller Kierkegaard, den Autor der erbaulichen Reden, berufen konnte (E. Hirsch, H. Gerdes). Doch gelang von solch bewusster Anspruchslosigkeit her ebenso wenig eine ausdrücklich religionsphilosophische Interpretation Kierkegaards, obwohl sein Gesamtwerk in Kirchendistanz und Glaubenspathos gerade solche Begründungszusammenhänge des Christentums – literarisch, philosophisch, theologisch – neu auf den Weg gebracht hat. So ist z. B. die Prämisse der Philosophischen Brocken, der Augenblick müsse entscheidende Bedeutung haben, zugleich verantwortlich für ein religionsphilosophisches Projekt (die Ablösung des sokratischen Denkens, die Kritik der traditionellen Gottesbeweise, die Entdeckung der existentiellen Gleichzeitigkeit) wie für die neuartige und geradezu spielerische Herleitung theologischer Grunddaten (Sünde, Glaube, Erlösung). Dass beides sich bedingt, dass beides sogar notwendig literarisch (ästhetisch, dichterisch) vorgetragen werden musste,35 das wirklich zusammenzudenken wird einen noch einmal faszinierenden, durch die bisherigen (deutschen) theologischen Schulinteressen nicht mehr vorzensierten Kierkegaard entdecken lassen. Geben wir die Prämisse des entscheidenden Augenblicks zu, worin die Gegenwart nicht von der Ewigkeit als Anamnesis und nicht von historischer Näherung her determiniert ist, so lässt sich geradezu ein Gottesbeweis führen.36 Denn dieser Augenblick muss sich von allen vergleichbaren derart radikal unterscheiden, dass solche ,Fülle der Zeit‘ und ,Neuschöpfung‘ innerweltlich nicht mehr ableitbar sind; also – wie Johannes Climacus in den Philosophischen Brocken seiner pseudonymen Rolle gemäß formuliert: 35 Vgl. den Motto-Text auf dem Buchtitel von Louis Mackey Kierkegaard: A kind of Poet, Philadelphia 21972: „Whatever philosophy or theology there is in Kierkegaard is sacramentally transmitted ,in, with, and under poetry‘.“ 36 Hubertus G. Hubbeling Einfhrung in die Religionsphilosophie (UTB, 1152), Göttingen 1981, S. 193f. („Logische Rekonstruktion von Kierkegaards Argumentation im ersten Kapitel der Philosophischen Brocken“).
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„Wie sollen wir nun solch einen Lehrer nennen, der […] die Bedingung wieder gibt und mit ihr die Wahrheit? Lasst uns ihn einen Heiland nennen […] einen Erlöser […] / […] Solch ein Augenblick muss doch einen besonderen Namen erhalten, lass uns ihn nennen: die Fülle der Zeit.“37 Paradox und Rationalität können keine Kompromisse machen, sich gegenseitig nicht aufheben – aber respektieren. Insofern ist die Alternative rational / irrational als verfehlte Fragestellung an Kierkegaard einzustufen, ebenso die Alternative des dialektischen und des religiösen Kierkegaard. Er versuchte schließlich, genau diese Seiten beieinander zu halten, schloss damit allerdings die schon immer gewusste Religiosität und die undialektische illusionäre Frömmigkeit als Fehlformen aus. Gott und Mensch zusammenzudenken, das ist kein Rechenexempel, keine Sachinformation, sondern die Entdeckung des Verborgenen und damit ein Lebensentwurf. Dass dieser Wendepunkt nicht verschütt gehe, dazu hat Kierkegaard ihn zum Anstoß des Absurden erhoben.38 Das Absurde ist […], dass ich, ein Vernunft-Wesen, in dem Falle handeln soll, wo mein Verstand, meine Reflexion mir sagt: Du kannst ebensogut das eine wie das andere tun, das heißt, wo mein Verstand und meine Reflexion mir sagen: Du kannst nicht handeln – dass ich da dennoch handeln soll.39 S. Kierkegaard
VII. Wo ist der Ort einer Bewegung ,in kraft des Absurden‘, wie Kierkegaard sie an Abraham entdeckt und im christlichen Glauben geradezu gegenständlich im Gott in der Zeit gefordert sieht? Die religiösen Kategorien, die Kierkegaard mit extrem negativem Akzent herausgearbeitet hat, haben ihren Ort weder im Denken noch im Handeln selbst, sondern sozusagen dazwischen: Im bergang zwischen Denken und Handeln, 37 PS in SKS 4, 226f. / PB in GW1 6, 15f. 38 Vgl. O. K. Bouwsma „Notes 1“ in Essays on Kierkegaard & Wittgenstein. On Understanding the Self, ed. by R. H. Bell and R. E. Hustwit, The College of Wooster, Ohio 1978, S. 32 – 42; hier: S. 38f. („The Paradox“). 39 NB9:66 in SKS 21, 239 – 241 / T 3, 174.
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Handeln und Denken; im Sichverhalten zu sich wie zu anderen und wie zur Welt geschehen die Bewegungen der Resignation, des Entschlusses, des Gewinns und der Entdeckung. Dort sind die schlüssige Vermittelbarkeit des Denkens und die Greifbarkeit von Handlungen noch nicht wirklich, sondern allein mçglich. In dieser Spannung erlebt Kierkegaard den Konflikt, dessen Öffnung und Befreiung zum Handeln er nur christologisch als Versöhnungsvorgang auffassen kann, worin der Sünder zu neuem Leben findet. Der Widerspruch, der darin umgeht – es ist der von ,altem‘ und ,neuem‘ Menschen im Sinne Luthers – darf konsequent nicht verschwiegen und verdrängt werden. Wissen ist so wenig schon Religion wie bestimmtes Handeln nicht unzweideutig Glauben bezeugt. Trotzdem sind weder Denken noch Handeln willkürlich, und ihr Kriterium liegt nicht jeweils in ihnen selbst, sondern in jenem Zusammenstoß, aus dem dann existentielle Wirklichkeit von etwas her auf etwas hin sich ereignen kann. Dieser Übergang ist als Sprung, Augenblick, paradoxer Glaube in seiner Eigentümlichkeit erfasst: als Zwischenraum und Zwischenzeit das bedenkenlose Durchlaufen aufzuhalten, zu unterbrechen, die Chance der Freiheit des Handelns überhaupt erst einzuräumen. Im Entscheidenden, vor Gott, gilt nicht Handeln aus guten Gründen (so unbestreitbar dies im Allgemeinen sonst der Fall sein muss), sondern aus Glauben, d. h. ,in kraft des Absurden‘, weil jetzt so gehandelt werden muss, ohne sich dispensieren zu können. Dass vor Gott die Person eben diese Würde hat, macht die Schwere solcher Entscheidungen, und auch diese Bestimmungen bleiben existenzdialektisch, konfliktmäßig eingebunden, stehen nicht schon fertig bereit. Anders als noch bei Kierkegaard ist heute darauf zu achten, dass der Glaube ,in kraft des Absurden‘ nicht der Beliebigkeit aller möglichen Existentialismen ausgeliefert wird, sondern seine christologisch begründete Einmaligkeit im Gott in der Zeit festhält. Nur darin hat der Übergang der religiösen Kategorien das Recht, sich dem Allgemeinen gegenüber zu besondern: in der Menschlichkeit Gottes. Um ihretwillen findet Abrahams Glaube aus der unendlichen Resignation zurück in die Zeit; aus der Verborgenheit des Glaubens ,in kraft des Absurden‘ in die Freiheit, die er nicht von sich selbst herleiten kann. In diesem Übergang aber ist über Religion entschieden worden, in der Leidenschaft des Denkens und des Glaubens.
Einbung im Christentum: Kritische Anmerkungen zu Kierkegaards Theologie Es ist eine der großen Leistungen des Psychologen und Philosophen William James, dass er die schlagende Differenz zwischen zwei religiösen Grundtypen unwiderruflich und markant hat herausarbeiten können. In seinen Vorlesungen „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“ (1901 – 02) unterscheidet er aufgrund ausgebreiteten dokumentarischen Materials zwischen der „Religion der robusten Geistesart“ und der „Religion der kranken Seele“, also einer optimistischen und einer melancholisch-pessimistischen Lebenseinstellung, den „einmal geborenen“ und den „zweimal geborenen“ Charakteren; amerikanisch kürzer gesagt: „once born“ und „twice born“.1 Dass Kierkegaard zur zweiten Gruppe gehört, bedarf keiner weiteren Begründung; dass James diese Gruppe für die eigentlich interessante hält, dass hier über Funktion, Realität und Wahrheit der Religion entschieden werden muss, das wirft allerdings ein Licht auf Kierkegaards eigene Stellung, seine Verteidigung des Christentums und seinen erbitterten Angriff auf die Christenheit des 19. Jahrhunderts. Es ist die typisch protestantische Sündendialektik, die James damit analysiert,2 „der religiöse Ton im Norden“,3 wie er auch sagen kann, als hätte er selbst Kierkegaard schon mit gemeint; all die panischen Ängste und Verzweiflungen der vereinzelten und vereinsamten Individualitäten, an denen dies 19. Jahrhundert so überreich war und zu denen James selbst noch gerechnet werden muss. „Religion der kranken Seele“, d. h. mit James’ Worten: Es gibt einen Gipfel des Unglücks, so groß, daß die Güter der Natur gänzlich vergessen werden können und alles Empfinden für ihre Existenz aus dem Bewußtseinsfeld verschwindet. Um dieses Extrem des Pessimismus zu erreichen, ist etwas mehr erforderlich als Beobachtung des Lebens und Besinnung auf den Tod. Der einzelne persönlich muß Opfer einer patholo1 2 3
Vgl. W. James Die Vielfalt religiçser Erfahrung. Eine Studie ber die menschliche Natur, übers. und hg. v. E. Herms, Zürich 1982, bes. Vorl. IV-VII. Vgl. aaO., S. 169ff. AaO., S. 136.
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gischen Melancholie werden. Wie der robust gesonnene Enthusiast mit Erfolg überhaupt die Existenz des Übels ignoriert, so ist das Subjekt der Melancholie ohne Rücksicht auf sich selbst gezwungen, die Existenz irgendeines Guten überhaupt zu ignorieren: nicht die geringste Realität darf es für ihn mehr haben.4
Kierkegaard entspricht diesem Modell in einer Weise, die diffiziler, variantenreicher, intellektueller und zugleich leidenschaftlicher kaum gedacht werden kann – aber er entspricht ihm! Die lebenslang festgehaltenen und weitergesponnenen Kollisionen mit der religiös-autoritären Welt seines Vaters, mit der sehnsüchtig gesuchten und zerbrochenen Liebesbeziehung, mit der politisch konservativ wie revolutionär attackierten Außenwelt – alle diese Kollisionen haben den sich selbst opfernden, melancholischen Grundton; und dass Kierkegaard trotzdem als literarischer Ästhet, Apologet der bürgerlichen Ehe und Verteidiger der Monarchie und Staatsraison aufgetreten ist, das alles hat nach seinem eigenen Zeugnis seinen Sinn nur in der Strategie, auf die christlich-religiöse Krisis-Situation um so zwingender zuzulaufen – und diese Situation ist mit der Einbung im Christentum (1850) gegeben. Zunächst noch mit dem Vorbehalt des Pseudonyms Anti-Climacus eine gewisse Zeit hinausgeschoben, bedeutet dann der öffentliche Widerruf dieser Pseudonymsetzung (1855) Kierkegaards äußerste Stellung im Augenblick des Selbstopfers: gezwungen und dadurch gerettet zu sein, es jetzt auf eigene Verantwortung gesagt zu haben, dass nämlich eine „Grundveränderung […] mit der triumphierenden Kirche und der bestehenden Christenheit“ eingetreten ist, „dass Christus in der Regel höchstens noch Bewunderer bekommt, keine die ihm nachfolgen“.5 Diese Anti-Climacus-Schrift Einbung im Christentum ist also alles andere als eine freundlich-populäre Einführung, was denn Christentum sei oder wie man ein Christ werden könne. Solche Fragen – aber auch diese nicht gerade populär gefasst – hatte das Pseudonym Johannes Climacus in den Philosophischen Brocken und der Unwissenschaftlichen Nachschrift ins Gespräch gebracht, während Kierkegaard selbst – unter eigenem Namen – in seinen ,erbaulichen Reden‘ versuchte, die intellektuellen und polemischen Zugänge ganz zu vermeiden, um sozusagen aus der schlicht und einfach jedem Menschen gegenwärtigen Lebenssituation heraus zu sprechen: einfühlsam und so, wie jeder sich selbst erfahren kann. Die ,Einübung‘ dagegen ist eine späte Form, die die früheren li4 5
AaO., S. 145. IC in SKS 12, 231 / EC in GW1 18, 228.
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terarischen Linien zusammenzieht. Sie redet wie in den erbaulichen Reden – nur härter, zwingender und direkter im Ton, ,zur Erweckung‘, wie es zur Nr. I heißt; sie analysiert wie in den pseudonymen Frühschriften – nur konsequenter und fordernder auf die für Kierkegaards Christentumsauffassung stehenden Entscheidungsbegriffe fixiert, „eine biblische Darlegung und Begriffsbestimmung“, wie es zur Nr. II heißt; sie will bekennen und zum Evangelium des Leidens rufen, wie es in dieser Direktheit Kierkegaard (und 1850 eben noch Anti-Climacus!) zuvor nie gewagt hatte: „Christliche Erörterungen“ heißt es deshalb zur Nr. III, und wer dies Attribut ,christlich‘ für sich in Anspruch nimmt, muss in Kierkegaards Sicht ein in Leiden und Melancholie Erfahrener sein, mehr noch: Die ,Religion der kranken Seele‘ ist für den späten Kierkegaard krank in Relation zur umgebenden Geschichte und Gesellschaft, krank im Bezug auf die ,bestehende Christenheit‘, wie er seine Umwelt des bürgerlichen Staatskirchenregiments genannt hat. Unter diesen Bedingungen ,Christ zu werden‘,6 wie auch Anti-Climacus formulieren kann, muss um alles in der Welt vor der konfliktscheuen Biederkeit des moralisierenden Bürgersinns geschützt werden, und dies betreibt Kierkegaard mit einer radikalen Christologie der Nachfolge und des Gekreuzigten. Dies allein ist Thema der drei Teile der ,Einübung‘, darin gehören ihre Zentralbegriffe zusammen, das ist die eine These in Kierkegaards Kirchenangriff: „Das Christentum ist in der Christenheit ganz buchstäblich vom Thron gestoßen“.7 Diese soziologische oder ideologiekritische These hat ihre christologische Problemfassung wie folgt: Du wirst wohl leicht sehen, wohl auch leicht meine Meinung verstehen, dass sein, des Vorbildes (sc. Christi!) Leben auf zweierlei Art gezeichnet werden kann: im einen Falle ist Geringheit und Erniedrigung das eigentliche Bild, und weit in der Ferne, allein angedeutet als Gegenstand des Glaubens, zeigt sich die Hoheit; das andre Bild ist die Hoheit, und weit weit dahinten, einer nahezu vergessenen Erinnerung gleich, liegt die Geringheit und Erniedrigung.8
Ich möchte diese Einbung im Christentum erläutern, indem aus jedem ihrer drei Teile sein zentrales Motiv herausgestellt (zu Nr. I: Gleichzeitigkeit; zu Nr. II: Ärgernis; zu Nr. III: Christusbild) und dann abschließend im Zusammenhang von Kierkegaards Christentumsauffassung kritisch bewertet wird. 6 7 8
IC in SKS 12, 184 / EC in GW1 18, 174. IC in SKS 12, 222 / EC in GW1 18, 218. IC in SKS 12, 184 / EC in GW1 18, 175.
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I. Gleichzeitigkeit Was Kierkegaard in die Theologie eingeführt hat, ist die Lösung des sogenannten hermeneutischen Problems: Wie trotz und wegen der seit der Neuzeit etablierten historisch-kritischen Distanz zur Bibel von einem lebendigen Glauben an Jesus Christus gesprochen werden kann. Denn wenn die historische Forschung oder der historische Abstand (für uns sind es jetzt 1900 Jahre, Kierkegaard operiert in dieser Sache noch mit der Zahl 1800) das Medium abgeben sollen, in dem der christliche Glaube zu bestimmen ist, dann bleibt nichts als Relativismus, historische Erinnerung, bloße Annäherungsübungen an das Ereignis selbst. ,Wissen‘9 wäre dann das immer nur relativ vollständige und weiterlaufende Medium in der Übereinkunft mit Christus – und genau das will Kierkegaard in diesem Punkt abschaffen. So wie Johannes Climacus bereits gegen die historische Forschung polemisierte, so und noch entschiedener und in der theologischen Konsequenz sehr viel härter auch Anti-Climacus. Historisches Wissen ist im Verhältnis zu Christus „keinen sauren Hering wert“,10 denn worauf es allein ankommt, ist die Situation der Gleichzeitigkeit, in der man glaubt oder sich ärgert. Entscheidend für diesen Begriff der Gleichzeitigkeit ist nun aber, dass damit keine irgendwie zustande gebrachte Unmittelbarkeit oder problemlos sich hineinfühlende Gegenwärtigkeit gemeint ist, sondern dass diese spezifische Situation eben die christologisch gefasste – und allein diese – Widersprüchlichkeit ist: Der uns einladende Christus11 ist ja nicht einfach der erhöhte Herr, wie ihn die triumphierende Kirche sich gerne zugute hält,12 sondern er ist eben der erniedrigte, leidende, gequälte Mann am Kreuz. So gesehen kann überhaupt keine Rede davon sein, Kierkegaard wolle mit seinem Konzept der Gleichzeitigkeit die Geschichte, den ,historischen Jesus‘, wie wir sagen würden, einfach überspringen. Im Gegenteil: Das Insistieren auf der Gleichzeitigkeit holt all sein Pathos aus der geschichtlichen Situation, nur soll diese nicht durch die 1900 Jahre Abstand neutralisiert, als einfach vergangen und bekannt abgehakt werden. Eben diese Situation, dass Gott, das ,Unbedingte‘,13 so niedrig ist und so nahe kommt, ist der 9 IC in SKS 12, 40 / EC in GW1 18, 23. 10 IC in SKS 12, 54 / EC in GW1 18, 39. 11 „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe geben“. – IC in SKS 12, 21, 37 / EC in GW1 18, 7, 20. 12 IC in SKS 12, 198ff. / EC in GW1 18, 191ff. 13 IC in SKS 12, 75 / EC in GW1 18, 62.
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eigentliche Skandal. In diesem Zusammenhang steht dann auch der berühmt gewordene Satz: „zwischen Gott und Mensch“ sei „ein unendlich klaffender Unterschied“.14 Das ist kein dogmatisches oder metaphysisches Prinzip, sondern die Bezeichnung der Spannung, in der die Situation der Gleichzeitigkeit auszuhalten und somit definiert ist: „Das Vergangene ist nicht Wirklichkeit: für mich; nur das Gleichzeitige ist Wirklichkeit für mich“,15 oder: „diese Gleichzeitigkeit ist Bedingung des Glaubens, und näher bestimmt ist sie der Glaube“! 16 Der Glaube also hält das aus, was ansonsten nicht nur nicht ausgehalten, sondern nicht einmal wirklich zugegeben, geschweige denn verstanden werden kann: dass der Unterschied zwischen Oben und Unten, zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Erhöhung und Erniedrigung eben ein „unendlich klaffender Unterschied“ ist – um den allein es aber geht! Gleichzeitigkeit meint die Vergegenwärtigung des äußersten Widerspruchs, dass Gott in der Gestalt des Erniedrigten, des leidenden Gottesknechts mir nahe kommt. Weil Kierkegaard in dieser christlichen Situationsbestimmung die Wirklichkeit und die Wahrheit der menschlichen Verhältnisse gefasst sieht – dogmatisch gesprochen geht es dabei um Sünde und Glaube, Gesetz und Evangelium, Nachfolge und Gnade –, muss er in der Historifizierung des Christusgeschehens durch die historische Forschung und moderne Lebensauffassung seiner Zeit den eigentlichen Gegner sehen. Deshalb ist Gleichzeitigkeit, so wie es im ersten Teil der ,Einübung‘ mit harten Worten herauspräpariert wird, zugleich ein theologisch-hermeneutischer Begriff, der die Zugänglichkeit der Christusbotschaft im Bezug auf Bibel, Predigt und Gegenwart reflektiert, und ein ideologiekritischer Begriff, der das falsche Bewusstsein der Christenheit aufdecken soll, die sich über die historische Distanz vor dem Schrecken dieser Botschaft in Sicherheit gebracht hat. Lesen wir noch einmal in der Einbung im Christentum – dort, wo die neutestamentliche „Einladung und der Einladende“ („Kommt her zu mir alle […]“) in ihrer christologischen Radikalität aufgefasst werden: Sich ganz buchstblich mit dem Allerelendesten in eins setzen (und dies, nur dies ist gçttliches Mitleiden), das ist für die Menschen jenes „Zu-viel“, über das man gerührt schluchzt in einer stillen Sonntagsstunde, und über das man unwillkürlich in Lachen ausbricht, wenn man es in der Wirklichkeit sieht. Die Sache ist, es ist zu erhaben, als dass man es ertragen könnte, es im alltäglichen 14 IC in SKS 12, 75 / EC in GW1 18, 62. 15 IC in SKS 12, 76 / EC in GW1 18, 63. 16 IC in SKS 12, 17 / EC in GW1 18, 5.
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Gebrauch zu sehn; um es ertragen zu können, muss man es auf Abstand haben.17
In theologischer Konsequenz – und wir dürfen dabei wieder an die ,Religion der kranken Seele‘ bei W. James denken, die ihre sensibler gefasste Realität allein über den erlittenen Widerspruch von Vernichtung und Gnade erfährt –, in theologischer Konsequenz lautet Kierkegaards Ergebnis dann so: „Aber wenn das Christliche etwas so Erschreckendes und Grauenvolles ist, wie in aller Welt kann denn ein Mensch darauf verfallen, das Christentum anzunehmen?“ Ganz einfach, und wenn du das auch noch wünschst, ganz lutherisch: allein das Bewusstsein der Sünde kann, wenn ich so sagen darf, den Menschen in dies Grauen hineinzwingen (von der andern Seite her ist die Gnade das Zwingende). Und im gleichen Augenblick verwandelt sich das Christliche und ist eitel Milde, Gnade, Liebe, Barmherzigkeit.18
II. rgernis Der Begriff Ärgernis wird in allen drei Teilen der ,Einübung‘ benutzt, und es ist deshalb nicht übertrieben zu sagen, dies sei das zentrale Thema des ganzen Buches. Denn so wie die Gleichzeitigkeit hermeneutisch in die Situation des christologischen Widerspruchs zwingen will, so liegt diesem schon zugrunde die begriffslogische Bestimmung, die „Zusammensetzung von Gott und Mensch“, der „Gott-Mensch“ sei das „Paradox, unbedingt das Paradox“.19 Kierkegaard macht hier mit einer Anmerkung darauf aufmerksam, dass mit dieser Begrifflichkeit die Anstrengung seines bisherigen philosophisch-theologischen Werkes eigentlich vorausgesetzt werden muss,20 nämlich gegen den Zeitgeist der modernen (neuzeitlichen) Philosophie die existentielle Bedeutung der christlichen Grundbegriffe nachgewiesen zu haben. So wie es hermeneutisch gesehen keine Brücke vom Wissen zum Glauben geben kann, sondern nur die Situation der Gleichzeitigkeit,21 so kann es erkenntniskritisch gesehen keine Brücke vom theoretischen Zweifel zum Glauben geben22 und schon gar nicht – logisch oder ontologisch gesehen – einen 17 18 19 20 21 22
IC in SKS 12, 71 / EC in GW1 18, 59. IC in SKS 12, 79f. / EC in GW1 18, 67f. IC in SKS 12, 92, 93 / EC in GW1 18, 76, 78. IC in SKS 12, 91 Anm. / EC in GW1 18, 76 Anm. Vgl. IC in SKS 12, 47 / EC in GW1 18, 32. IC in SKS 12, 91f. / EC in GW1 18, 76f.
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Beweis Gottes oder der Gottheit Christi.23 Das hatte Johannes Climacus in den Philosophischen Brocken festgesetzt, dass zwischen dem ideell aufweisbaren „Vernünftig-Wirklichen“24 und dem Faktisch-Wirklichen, das wir jeweils leben und zu leben haben, eben keine theoretische, vom Denken her machbare, vom Wissen her zu stabilisierende Überbrückungsplausibilität herrscht. Gott zu denken ist zwar theoretisch möglich und keineswegs ausgeschlossen, es muss aber ebenso leer und problematisch bleiben, wie wenn man Mensch nur (theoretisch) denken wollte und darüber ignorierte, selbst ein Mensch zu sein. Um diesen Widerspruch aufzudecken, fordert Kierkegaard das Eingeständnis, der menschliche Verstand stoße hier auf ein theoretisch unvermittelbares Paradox, dessen Wert gerade darin bestehe, den Übergang und Wechsel vom Denken zum Existieren so scharfkantig wie möglich ins Bild zu setzen. Wenn an dieser Stelle nicht mehr bloß weitergedacht, sondern weitergelebt – und zwar anders weitergelebt werden muss, dann zeigt sich dies begrifflich am besten darin, dass es hier ebenso wenig ein Ausweichen gibt, wie das bereits im Begriff der Gleichzeitigkeit der Fall war (der man allenfalls durch ignorante Historisierung entgeht). Wenn das Paradox nicht in aller Gemütsruhe zur Kenntnis genommen werden kann – und das dürfte bei der Gefahr von Widerspruch, Absurdität und Unsinn auch kaum der Fall sein –, dann muss sichergestellt werden, dass dem Paradox nicht zu entfliehen ist. Kierkegaard erreicht das, indem er bereits in den Philosophischen Brocken an die Leidenschaft des Denkens appelliert, die gerade hier, wo es um die Grenze des Denkens geht, nicht locker lassen kann; und gelingt hier ein ,Verständnis‘,25 so kommt es zum Glauben, gelingt es nicht, kommt es zum rgernis. In der ,Einübung‘ nun macht Kierkegaard das Ärgernis geradezu zur Bedingung, dass überhaupt verstanden werden kann, worum es im Glauben geht. Er unterscheidet jetzt die „Möglichkeit des Ärgernisses“,26 die im Blick auf die Christologie des Paradox akzeptiert werden muss, von der darauf folgenden Alternative: „sich ärgern oder glauben“.27 Damit ist die Schlinge gelegt, in der sich jeder wird fangen müssen, der sich auf das Neue Testament einlässt. Denn Christus tritt uns weder 23 IC in SKS 12, 40f. / EC in GW1 18, 23f. 24 IC in SKS 12, 41 / EC in GW1 18, 23; vgl. PS in SKS 4, 246f. / PB in GW1 6, 39f. 25 PS in SKS 4, 253 / PB in GW1 6, 46. 26 IC in SKS 12, 91 / EC in GW1 18, 76. 27 IC in SKS 12, 91 Anm. / EC in GW1 18, 76 Anm.
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einfach und direkt als Gott, noch einfach und direkt als (historischer) Mensch entgegen, sondern in der paradoxen, d. h. unvermittelbaren, unbegreifbaren Doppelung des Gott-Menschen. Psychologisch noch genauer gesagt muss diese Doppelung sogar in Christus selbst verlegt werden, sofern Er, der zum Glauben ruft, nicht anders auftreten kann als in der Gestalt des Erniedrigten: Der Möglichkeit des Ärgernisses kann man sich nicht entziehen, du musst durch sie hindurch, du kannst allein auf eine Weise ihrer ledig werden: damit, dass du glaubst. Darum spricht Christus: Selig, der sich nicht an mir ärgert […] […] O, das Leidensgeheimnis, Zeichen des Ärgernisses sein zu müssen, um des Glaubens Gegenstand sein zu können! 28
Einerseits verlegt Kierkegaard also das Problem, ein Ärgernis sein zu mssen, in die Person Christi selbst – und darauf werden wir unter dem Stichwort ,Christusbild‘ im III. Abschnitt zurückkommen; andererseits versucht er aber auch eine „[g]edankliche Bestimmung des Ärgernisses“,29 woraus sich die christologischen Folgerungen ergeben, die Kierkegaards Christentumsauffassung im Ganzen entsprechen – und dies hat ihn schließlich zum Kirchenangriff und zur Rücknahme des Pseudonyms gezwungen. Es sind wesentlich zwei Begriffsbestimmungen, die sich aus dem Denkansatz von Paradox und Ärgernis für die Christologie hier ergeben: das Inkognito und die Notwendigkeit der „indirekten Kommunikation“.30 Wenn im Sinne der Paradox-Christologie gesagt werden muss, zwischen Gott und Mensch bestehe ein „unendlich qualitativer Abstand“,31 dann bedeutet das für das Auftreten Christi, dass er direkt als Gott-Mensch gar nicht erkannt werden kann. Neutestamentlich ist das am klarsten mit den Schweigegeboten und dem sogenannten Messiasgeheimnis zu illustrieren, auch mit dem Jüngerunverständnis und all den Zügen im Auftreten Jesu, die bis in die Passion unverstanden bleiben und bleiben müssen. Kierkegaard folgert daraus, dass Christus äußerlich gesehen, direkt (d. h. als Mensch) wahrgenommen eben gerade unkenntlich
28 IC in SKS 12, 106, 107 / EC in GW1 18, 92, 93. 29 IC in SKS 12, 128 / EC in GW1 18, 117. 30 Zum Begriff vgl. H. Deuser Kierkegaard. Die Philosophie des religiçsen Schriftstellers, Darmstadt 1985, Kap. III, S. 3. 31 IC in SKS 12, 132 / EC in GW1 18, 122.
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bleiben muss, das Erkenntnismedium in der Situation der Gleichzeitigkeit (damals und jetzt!) ist demnach sein Inkognito.32 Das heißt nun aber keineswegs, Christus wolle sich verstecken oder unerkannt bleiben. Die Spannung, die Kierkegaard christologisch erzeugen möchte, ist die, dass der Ruf zum Glauben den indirekten Weg der Unkenntlichkeit gehen muss, weil die Menschen auf direktem Wege sich selbst (und Christus) nur missverstehen können. Der ,unmittelbare‘ Zugriff 33 ist christologisch verstellt durch das Paradox des Gott-Menschen, anthropologisch verstellt durch die Realität der Sünde; d. h. die rein menschliche, natürliche Sicht der Dinge muss durchbrochen werden, um im Erniedrigten den Erhöhten, um durch die Sünde den erlösten Menschen, um durch das Leiden die Glückseligkeit erfahren zu können. Damit folgt aus der christologischen ,Unkenntlichkeit‘, dass es im Christentum keine direkte Weitergabe des Glaubens geben kann, dass also kein Wissen, kein theoretisches Nachvollziehen, kein unmittelbares Übernehmen an die Stelle des jeweils einzelnen, lebensgeschichtlich und situativ verankerten Christwerdens treten kann – denn sonst würde die existentielle Dialektik von Sünde und Gnade, von Ärgernis und Glaube, von Gott und Mensch neutralisiert, historisiert oder sonst irgendwie verklärt, aber jedenfalls nicht faktisch und im eigenen Leben wirksam. „Die meisten Menschen“, sagt Kierkegaard, „existieren in tieferem Sinne überhaupt nicht, sie haben sich nie existentiell damit vertraut gemacht, d. h. nie tathaft es mit dem Gedanken versucht, inkognito sein zu wollen“.34 Beides, das Inkognito und den Zwang zur indirekten Vermittlung der christlichen Wahrheit, kann Kierkegaard zusammenfassen mit dem lukanischen Ausdruck „Zeichen des Widerspruchs“.35 Das Paradox zwingt zur Indirektheit des Zugangs, Christus folglich ist ein ,Zeichen‘ dafür, bezeichnet etwas, und gemäß dieser Zeichenlehre36 ist er nicht unmittelbar zu nehmen, sondern in der Distanz von Zeichen und Bezeichnetem, d. h. indirekt zu verstehen. Damit bestätigt sich, dass Kierkegaards Begriff der Gleichzeitigkeit ebenso wenig ,unmittelbar‘ vergegenwärtigt 32 IC in SKS 12, 132 / EC in GW1 18, 122. 33 IC in SKS 12, 137ff. / EC in GW1 18, 127ff. 34 IC in SKS 12, 133 / EC in GW1 18, 123. E. Hirschs Übersetzung von ,existentiell‘ mit ,existential‘ entspricht nicht dem dänischen Text. 35 Lk 2,34; vgl. IC in SKS 12, 129 / EC in GW1 18, 119. 36 Vgl. zu IC in SKS 12, 129ff. / EC in GW1 18, 118ff. bei A. Hügli Die Erkenntnis der Subjektivitt und die Objektivitt des Erkennens bei Sçren Kierkegaard, Zürich 1973, S. 80.
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werden kann wie die Christusgestalt. Dazwischen steht das Ärgernis bzw. der Glaube, und beides ist nach Kierkegaard als ein existentieller Akt eigenen Gewichts herauszustellen, der sich nicht einfach von selbst ergibt, in den man sich nicht einfach hineindenken kann, sondern der eine persönliche, lebensgeschichtlich konkrete Verankerung verlangt, auf die die christliche Botschaft immer nur hinweisen kann. Dieses Hinweisen nennt Kierkegaard indirekte Mitteilung, sie ist gebunden an das christologische Paradox bzw. das Inkognito des Gott-Menschen, dem das menschliche Inkognito: noch nicht zu wissen, wer ich selbst eigentlich bin, entspricht. Dass an diesem Punkt das Evangelium nicht zu glatt, nicht zu billig verkauft wird, das ist Kierkegaards Intention, wenn er den Glauben über das Ärgernis definiert und damit so abstoßend und so schwierig wie nur möglich macht. Hören wir ihn selbst: Es gibt kein unmittelbares Mitteilen und kein unmittelbares Empfangen: es gibt eine Wahl. Es geht nicht so zu wie bei der unmittelbaren Mitteilung, dass gelockt wird und gedroht wird und vermahnt wird – und dann, dann, ganz unmerklich geschieht dann der Übergang so klein bei klein, der Übergang dazu, solchermaßen es anzunehmen, sich überzeugt davon zu halten, der Meinung zu sein usf. Nein, es wird eine ganz bestimmte Weise des Empfangens gefordert: Die des Glaubens. Und der Glaube ist selbst eine dialektische Bestimmung. Glaube ist eine Wahl, keineswegs das unmittelbare Empfangen – und der Empfangende ist der, welcher offenbar wird, ob er glauben will oder sich ärgern“.37
III. Christusbild Der dritte Teil der ,Einübung‘ hat keinen eigentlichen Hauptbegriff mehr, sondern liest sich wie eine Zusammenfassung, wie eine abschließende Mischung der verschiedenen Sprach- und Schreibformen, die Kierkegaard virtuos zu wechseln verstand, wie ein gewaltiges Ausrufe37 IC in SKS 12, 143f. / EC in GW1 18, 135f. Vgl. die zusammenfassende Formulierung zum ,Zeichen des Widerspruchs‘ in Pap. X 6 B 145, S. 205 (in der deutschen Tagebuchausgabe nicht enthalten); vgl. das Zitat in H. Deuser Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Sptwerk Kierkegaards, München / Mainz 1980, S. 180. Zum Problem der Freiwilligkeit (IC in SKS 12, 117 / EC in GW1 18, 104), das mit dem Motiv der Wahl und des Ärgernisses gesetzt ist, vgl. ebd. S. 158ff. u. ö.; zum Vergleich mit Luther in dieser Sache siehe die Hinweise bei H. Gerdes S. Kierkegaards „Einbung im Christentum“. Einfhrung und Erluterung, Darmstadt 1982, S. 33ff.
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zeichen am Schluss, wie ein Ultimatum! Gemeinsam ist den sieben Abschnitten die Auslegung der Johannes-Stelle: „Von der Hoheit her will er sie alle zu sich ziehen“.38 Kierkegaard beginnt mit einer Abendmahlspredigt, die im Stil seiner erbaulichen Reden einfühlsam, innerlich und begrifflich zurückhaltend geschrieben ist, setzt dann aber, immer polemischer gegen die Christenheit argumentierend, seine Leidens- und Kreuzestheologie fort, gipfelnd im Begriff der Nachfolge, die wie ein Sprengsatz der eigenen Zeit und Umwelt entgegengeschleudert wird. Es ist zu spüren, dass es Kierkegaard hier bereits um die letzte Auseinandersetzung geht. Die Aufrufe und Traktate fünf Jahre später sagen nichts anderes, sie werden nur noch polemischer, noch rücksichtsloser. Ich möchte diese biographischen und werkgeschichtlichen Fragen aber jetzt nicht weiter verfolgen, auch den damit noch verbundenen theologischen Wendungen und Problemstellungen nicht weiter nachgehen, sondern diesen dritten Teil der ,Einübung‘ auf das konzentrieren, worin für Kierkegaard alle Linien zusammenlaufen, womit er sich ganz und gar identifizierte und woran er seine Kirche und Gesellschaft gemessen hat: das Christusbild. Es ist die radikale Dialektik der Gleichzeitigkeit und des Ärgernisses, die als Maß des lebendigen Widerspruchs im Christusbild geballt auftritt; und wo dies geleugnet, weggeschoben, historisiert, vernünftig erklärt und kulturell neutralisiert wird, da musste Kierkegaard dann zurückschlagen, besser gesagt: Er sah sich gezwungen, der Wahrheit zu folgen und Christus wenigstens einmal in einem demonstrativen Akt als ,Zeichen des Widerspruchs‘ vollkommene Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es gibt nun eine längere Passage im dritten Abschnitt dieses letzten Teils der ,Einübung‘, worin diese einzigartige Stellung des Christusbildes überragend deutlich wird; sichtbar wird dadurch auch, wie Kierkegaard dem historischen Problem der modernen Christologie entkommen möchte und damit zugleich die narrativen Züge des christlichen Glaubens zum unentbehrlichen Medium der religiösen Kommunikation erhebt. Ich zitiere diesen Text39 in einer sehr verkürzten Fassung aus dem Tagebuch von 1848: Nimm ein Kind, das man nicht verdorben hat durch Geschwätz und dadurch, dass man es hat auswendig lernen lassen, dass Christus gekreuzigt ward; nimm ein solches Kind, leg ihm dann verschiedene Bilderbogen vor, einen Mann zu Pferde mit einem dreispitzigen Hut usw.; Alexander, Na38 Joh 12,32. 39 IC in SKS 12, 176 – 179 / EC in GW1 18, 167 – 169.
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poleon und derengleichen; mische dann unter diese Bilder den Gekreuzigten. Das Kind wird nun bei diesem Bild wie bei jedem übrigen fragen: Wer ist das? Sage dann zu dem Kinde: das war der liebevollste Mensch, der jemals gelebt hat – dann wird das Kind fragen: Aber wer hat ihn denn getötet, und weshalb hat man ihn getötet? O, selbst wenn man älter geworden ist, aber doch ein wenig Kindlichkeit bewahrt hat: Wie kann es einen ergreifen, wenn man bei einem Krämer vorbeigeht, in dessen Fenster Nürnberger Bilder hängen, dann dieses Bild zwischen den anderen zu sehen“.40
Dieses eine Bild – zwischen den anderen – ist doch ein ganz und gar anderes! Seine Kraft und Einmaligkeit liegt darin, dass es alle menschlichen Maßstäbe, und seien es die höchsten und besten, wie sie für Kierkegaards Bildungstradition in Alexander und Napoleon anschaulich werden, umkehrt, auf den Kopf stellt. Denn dass der liebevollste Mensch, dass gerade der so endet – und zwar durch die Hände derselben Menschen, die er rückhaltlos liebte –, das ist der äußerste Widersinn in diesem Bild und damit in jedem Betrachter angerührt: Ich selbst bin mitbetroffen, wenn ich dies eine, ganz andere Bild zwischen all den anderen unvoreingenommen sehe und wirken lasse. Kierkegaards Zeichenlehre, die er zum Aufweis des christologischen Inkognito entworfen hatte,41 trifft hier offenbar nicht mehr in derselben Weise zu. Zwar bleibt natürlich gerade hier das Christusbild ,Zeichen des Widerspruchs‘, der durch die Welt und durch jeden Menschen geht, aber es bleibt als solches Zeichen zugleich selbst ein Bild, dessen Kraft und Wirkung ganz und gar in ihm selbst liegt – und damit und deshalb im Betrachter! Biblisch-exegetisch gesprochen ist hieran zu erkennen, wie Kierkegaard wegen dieser Bildkraft die historische Exegese relativieren kann, sie kann allenfalls Einzelzüge beisteuern, nichts Qualitatives beibringen. Aber es bleibt ihre Gefahr, dass sie anstelle der qualitativen Bildwirkung quantitative Zugänge setzt; und wiederum: um dies zu vermeiden, muss Kierkegaard die Wege der indirekten Kommunikation, der literarischen Vermittlungen, der bildhaften Wirkungen gehen. Die Kraft des Bildes kann nur narrativ weitergegeben und erschlossen werden. Exakt hat Kierkegaard dies in der ,Einübung‘ dann auch formuliert: Erzähle es dem Kinde recht lebendig, so als hättest du selbst zuvor es nie gehört, zuvor es keinem erzählt; erzähle es, als hättest du selbst das Ganze erdacht, jedoch vergiss keinen Zug, der überliefert ist, nur magst du beim Erzählen gut und gern es vergessen, dass es überliefert ist.42 40 NB8:20 in SKS 21, 154 / T 3, 107. 41 Vgl. IC in SKS 12, 129f. / EC in GW1 18, 118f. 42 IC in SKS 12, 178 / EC in GW1 18, 169.
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Besser kann es nicht gefasst werden: Exegetische Treue – so als wäre sie nicht! Es ist aber noch etwas anderes, das in diesem Christusbild den Unterschied zu allen anderen Bildern begründet, und darauf hatte Kierkegaard bei der Analyse des Ärgernisses auch schon verwiesen: Der Widerspruch zwischen Glaube und Ärgernis ist für Kierkegaard zurückverlegt und eigentlich grundgelegt in Christus selbst, der darum weiß, dass er um der Liebe willen Ärgernis erregen muss. Die grauenhafte Verspottung und Erniedrigung und körperliche Qual ist eine Sache, dies ist – und bis heute ist es entsetzlich, dies einfach so zu konstatieren – eben gerade das Menschliche; Christus aber, so stellt es Kierkegaard dar,43 leidet noch einmal, nämlich „dass sein Leiden zum Ärgernis wird“, dass der Weg zum Glauben über diese Erniedrigung führt, dass seine „Hoheit“ in der Situation der Gleichzeitigkeit Leiden und Nachfolge bedeutet.44 Christus ist der Inbegriff derart potenzierten Leidens, und das Christusbild bedeutet: Ergriffenheit45 durch eben dieses Bild. Dass seine Zeit und Gesellschaft, seine Kirche (die ,triumphierende‘, die der ,bestehenden Christenheit‘, wie Kierkegaards Sprachregelung lautet),46 diesem Christusbild nicht Raum gab, nicht Raum geben konnte – erst dies macht den Autor der Einbung im Christentum zum QuasiMärtyrer und Revolutionär auf eigene Rechnung. Denn das Christusbild, das Inkognito (in Gleichzeitigkeit und Ärgernis), muss zur Geltung gebracht werden: Es ist die Wahrheit der Welt.
IV. Christentum in Geschichte und Gesellschaft Kierkegaards Einbung im Christentum – und d. h.: seine Theologie – ist gefährlich. Sie ist zwingend und radikal, lässt man sich einmal auf sie ein; sie bleibt faszinierend aber auch für den distanzierten Beobachter, denn es handelt sich um dies 19. Jahrhundert, in dem Bekehrungsfrömmigkeit und Atheismus, wissenschaftliche und politische Revolutionen, Individualismus und Kollektivismus als noch unbegriffene Radikalisierungen den Ton angaben. Zu behaupten, diese Zeit sei vorbei, ist 43 IC in SKS 12, 141f. / EC in GW1 18, 133. Vgl. H. Deuser Sçren Kierkegaard. Die paradoxe Dialektik des politischen Christen, München / Mainz 1974, S. 50. 44 IC in SKS 12, 173f. / EC in GW1 18, 163f. 45 IC in SKS 12, 176 / EC in GW1 18, 166. 46 Vgl. IC in SKS 12, 198 – 226 / EC in GW1 18, 191 – 224.
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sicher eine zu generelle These, als dass sie jetzt bewiesen werden könnte; aber an Kierkegaard als einem Modell – und es ist für diese exemplarische Stellung radikal genug! – soll diese kritische Verhältnisbestimmung, abschließend und genau den drei bisher herausgestellten Grundbegriffen nachgehend, wenigstens illustriert werden. 1. Gleichzeitigkeit und Geschichte 47 Kierkegaards hermeneutische Bedingung der Gleichzeitigkeit wird konstruiert durch einen Gegensatz: den von Natur und Geschichte – und dieser ist zugleich der Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaft, von Fakten und Bedeutung, Erklären und Verstehen, äußerlich und innerlich etc. Kierkegaard hat in dieser Weise entscheidenden Anteil an der Rettung der religiös-hermeneutischen Innenwelt, die sich dadurch gegenüber der vergegenständlichten Natur ihren eigenen Rang sichern konnte. Aber: Der Preis für diese Rettung war der Verlust der Kontaktbeziehungen zur Außenwelt, zu den Fakten, über die nun andere Instanzen bestimmten. Was damit ganz umfassend für die neuen Perspektiven von Wissenschaft, Weltverantwortung und Religion angedeutet ist, kann bei Kierkegaard auf das Verhältnis zur historisch-kritischen Exegese konzentriert werden. Er will sie ausschließen, um die innere Begegnung mit Christus nicht zu nivellieren; und er kann das nur, indem er die literarische, bildkräftige, narrative Seite verabsolutiert, während sich die historische Überlieferung auf einen bloßen Anlass reduziert: das „weltgeschichtliche N. B.“, wie es in den Philosophischen Brocken heißt.48 Dass diese Konstruktion, bei bleibender Gültigkeit der hermeneutischen und existentiellen Entdeckungen, die Kierkegaard dadurch zu leisten imstande war, doch auch problematisch bleibt, das hat nun Kierkegaard selbst bezeugt, indem er von geschichtlicher Wirkung nicht Abstand nehmen wollte und konnte. Zwar bleibt im exegetischen Feld sein entschiedener Gegensatz zu jedem historischen Zugang, zu jedem kritischen Umgang mit den Texten (was theologisch heute inakzeptabel ist), aber Kierkegaards Pathos im Aufrechnen der Fehlformen der ,bestehenden Christenheit‘ bedient sich selbst der historischen Kategorie der ,1800 Jahre‘, gewinnt sich also immer nur als Distanzierung, um 47 Vgl. hier und im Folgenden die einzelnen Belege aus Kierkegaards Spätwerk in Deuser Dialektische Theologie (s. o. Anm. 37), bes. III. Abschnitt. 48 PS in SKS 4, 300 / PB in GW1 6, 101.
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schließlich in der ,Einübung‘ diese fehlende Gleichzeitigkeit der eigenen geschichtlichen Gegenwart vorzuhalten. Das heißt Gegenwart und Geschichte sind in keiner Weise zu vergleichgültigen, und wenn das für den von Kierkegaard etablierten Gegensatz von Christentum und Christenheit gilt, dann gilt es bereits im Neuen Testament und in der Wirkungsgeschichte des Christentums generell. Die Ausschaltung der historischen Perspektive ist bei Kierkegaard als polemische Notmaßnahme einzustufen, die hinter seinem Rücken sich immer wieder und seinen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz als realistische Außenbeziehung und kritische Vergleichsrelation doch durchsetzt. Dass Kierkegaards Gleichzeitigkeit nicht auf religiöse Unmittelbarkeit bauen will, sondern den christologischen Widerspruch von Gott und Mensch in Szene setzen muss, beweist eben die gesuchte und aufrecht zu erhaltende Spannung von Glaube und Geschichte, geschichtlicher Vermittlung und Gegenwart. 2. rgernis und Gesellschaft Dieselbe Öffnung auf die zuvor programmatisch ausgeschlossene Umwelt praktiziert Kierkegaard indirekt – und die kritische Interpretation muss das aufdecken – in Verhältnis zu Politik und Gesellschaft. Soll der Glaube derart nach innen gebogen werden, wie Kierkegaards Gesamtwerk das vorträgt, so hat das seinen Grund im extremen Gegensatz nach außen: dem modernen Zeitgeist, den Kierkegaard als Nivellierung und Wegreflektieren menschlichen Lebensernstes diagnostiziert hat. Die leidenschaftliche Denkfigur des Paradox, der als existentielle Entsprechung das rgernis zugehört, lässt ja keine nicht-entschiedene Alternative: Entweder / Oder – entweder Ärgernis, oder Glaube; aber keine Neutralität! Dies will Kierkegaard sichern, indem er vor allem Äußeren warnt und sich von ihm abhebt, dies aber, um mit der ,Einübung‘ und deren gesellschaftsund kirchenkritischen Folgerungen umso entschiedener auf diese Außenwelt zurückzukommen. Bei dieser Kierkegaard-Interpretation wird also der Versuch gemacht, seinen Forderungen zu entsprechen, ohne sich ihrem existentiellen Zwangscharakter zu beugen. W. James wiederum hat das an einer Stelle sehr schön ausgedrückt, und es ist dies eine Analyse, die Kierkegaards psychologischen Beobachtungen zu Angst und Verzweiflung ganz entspricht, die aber nun auch auf ihn selbst angewandt werden muss: „Solange die egoistische Sorge der kranken Seele die Tür bewacht, kann das
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expansive Vertrauen der gläubigen Seele nicht gegenwärtig werden“.49 – Kierkegaard hat in seiner Gesellschaft, im privaten wie im öffentlichen Bereich, letztlich solches Vertrauen gesucht, oder besser noch: Verhältnisse gesucht, die solches Vertrauen hätten leben lassen anstatt es zu neutralisieren, zu vermarkten, zu knicken. So gesehen ist Kierkegaards radikale Haltung, seine Strenge und zuletzt sein Selbstopfer wie ein Lehrstück des einzelnen Menschen in der modernen Gesellschaft, vor der er flieht, um ihre unmenschlichen Gesetze aufdecken zu können. Darin war Kierkegaard stur und kompromisslos wie ein Prophet. Dass er sich in dieser Rolle des ,Korrektivs‘, wie er sich selbst dann bezeichnete, nicht zum Vorbild hat aufspielen wollen, zeigt, wie sehr er selbst damit rechnete, es könnte diese Selbstqual doch immer noch der Egoismus der ,kranken Seele‘ sein, die ihn in ihrem Bann hielt. Der Christ Kierkegaard hat sich in dieser Rolle als Werkzeug Gottes verstanden. 3. Christusbild und Erfahrungsinstanz Auch und gerade im Christusbild ist diese Ambivalenz zu finden, dass Trost und Rettung, Milde und Gnade in immer schärferen Ausmalungen des Leidens, der Nachfolge und des Grauens unterzugehen drohen. Kierkegaard hat die Dialektik nicht aufgegeben, er hat sie aber nach der negativen Seite hin immer stärker gewichtet – um nicht vorschnell angepasst oder missverstanden zu werden. Theologische Kritik hat dieser Christologie immer schon Gesetzlichkeit, Einseitigkeit, pietistische Verengungen, antikirchliche Affekte etc. vorhalten können, und solche Kritik ist nicht einmal ganz falsch. Aber ihr Einsatzpunkt ist zu beachten: Was wollte Kierkegaard denn, warum musste er sich dermaßen quer stellen? Wie haben sich denn im 19. Jahrhundert die Ausgangs- und Realitätsbedingungen des Christentums verändert, dass es nicht mehr so unmittelbar vorausgesetzt werden kann, dass es – nach Kierkegaards Eindruck – gegen die Christenheit verteidigt werden musste? Die Unkenntlichkeit, das Inkognito des Gott-Menschen ist die moderne Christusgestalt, die Kierkegaard damit noch vor den Künstlern des 20. Jahrhunderts zur Darstellung bringt. Sie zu entdecken, hat er sich selbst Gewalt antun müssen, eine Radikalität durchgehalten, die letztlich als Zwang und Selbstzwang auftrat, um nur der ungeheuchelten Liebe und dem wahren Mitleiden gerecht zu werden.
49 W. James, aaO., S. 206.
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An dieser Stelle sollten wir den Zwangsring brechen, den Kierkegaard um das Christusbild gelegt hat. Wir können seine Gleichzeitigkeit weitergeben, ohne die befreienden Momente historischer Kritik verbannen zu müssen; wir können seine Entscheidungsforderung: rgernis oder Glaube, gelten lassen, ohne unserem eigenen sozialen Kontext angstvoll den Rücken zu kehren; wir können das Bild des leidenden Christus in all seiner Aktualität und Unersetzbarkeit erfahren, ohne eine einseitige Leidenstheologie vorzuschieben. Denn die Befreiung von unseren Zwängen ist das Thema des Christentums; und wie utopisch auch immer diese Botschaft sich ausnehmen mag, sie kann nicht leben ohne ihre integrative und soziale Kraft, d. h. die letzte Instanz sind die konfliktreichen Erfahrungen (von Zwängen und Befreiungen), die wir machen. Christentum will keine Fluchtbewegungen initiieren, sondern auf den Weg bringen, wirklich ein Selbst und in Wahrheit ein Christ zu werden.
Kierkegaards Verteidigung der Kontingenz: „Dass etwas Inkommensurables in einem Menschenleben ist“ I. Subjektivitt Es mag heute schon nicht mehr ganz so befremdlich wirken – wenn es auch gegenüber dem geltenden Sachverstand nur ein exotisches Interesse auf sich ziehen wird –, dass Kierkegaard die Subjektivität als die Wahrheit bestimmt hat.1 Denn wo allgemein nach Wahrheit zu fragen als ein überflüssiger Luxus erscheint, da ist Kierkegaards Subjektivitätsthese immerhin von einer privaten Plausibilität. Ihr wird man sich auch gar nicht entziehen wollen, weil in der von Sach- und Machtentscheidungen geprägten Welt doch Reservate bleiben müssen, in die der lange Arm unserer geschäftlichen Operationalität nicht hineinreicht. Kierkegaards Subjektivitätsbegriff hatte die idealistische Philosophie vor Augen, in der er bei aller Zentrierung auf die res cogitans, die transzendentale Apperzeption und die Einswerdung von Substanz und Subjekt doch die lebendige, menschliche, in einem existentiellen Sinne konkrete Subjektivität vermisste, ja methodisch ignoriert sah. Soweit Kierkegaard selbst konstruktiv an diesem Punkt arbeitet, spricht er deshalb auch gar nicht von Subjektivität, sondern von Innerlichkeit, Leidenschaft, Aneignung, Werden etc. – und vor allem vom menschlichen Selbst, worauf wir im zweiten Teil unsere Überlegungen auch bauen werden. Subjektivität ist demgegenüber der feindliche Begriff, den es in seinem Rang und in seiner ontologischen Stellung zu widerlegen gilt. Wird nämlich die Subjektivität als die Wahrheit bestimmt, so ist das nicht nur polemisch zu verstehen im Blick auf die christlich motivierte Umkehrung, dass die sündige Subjektivität eben gerade die Unwahrheit sein muss,2 sondern zunächst wird mit dem Eintragen der leidenschaftlichen Subjektivität der Wahrheitsbegriff selbst zum Thema einer Neubestimmung. Denn so, wie Kierkegaard den idealistischen Wahrheitsbegriff 1 2
AE in SKS 7, 173ff. / AUN in GW1 10, 179ff. So bereits im ,Denkprojekt’ der PS in SKS 4, 222ff. / PB in GW1 6, 11ff.
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referiert und wie er vor allem die eigene Gesellschafts- und Kulturkritik ansetzt, ist die objektive Wahrheit der adäquatio (empirisch oder idealistisch gefasst) 3 tautologisch, weil sie den Gegenstand nicht auf seiner gegenständlichen Ebene, sondern nur auf der des Denkens wieder erreichen kann, auf einer Abstraktionsebene folglich wiederholt, anstatt ihm gemäß zu werden. Die Perspektive dieser Verdoppelung ist die Gottes, sie kann aber niemals die eines Menschen sein, der „existierend im Werden ist“.4 Ontologisch gesehen setzt Kierkegaard damit die Unterscheidung fest, die dem alltäglichen Sinn von abstrakt / konkret entspricht und Hegels spekulative Umkehrung dieser Begriffe wieder rückgängig macht: Abstrakt ist das bloß Gedachte, es ist in einem ideellen oder analytischen Sinn ,wirklich‘, aber eben nicht in einem existierenden, lebendigen Sinn; konkret dagegen ist allein das von Kierkegaard so bezeichnete „faktische Sein“,5 und dies ist uns mehr als bekannt in der eigenen geschichtlichen Existenz.6 Vom Wahrheitsbegriff her wird also ein eigenständiger Zugang zu dem verlangt, was Kierkegaard gegen die Abstraktionen des neuzeitlichen Idealismus Subjektivitt nennt, und ich will versuchen, diese Eigenständigkeit mit einer Begrifflichkeit herauszuheben, die so nicht von Kierkegaard verwendet wird, die dadurch aber seine Entdeckungen um so besser erkennbar machen kann: Zum einen mit der Differenz der Innen- / Außenperspektive, zum anderen mit dem Modalbegriff der Kontingenz. 1. Innen- / Außenperspektive Unter einer Außenperspektive ist die Einstellung des Denkens zu verstehen, die die rationale Distanz zum Prinzip der Erkenntnisanstrengung macht. Aussagen werden als wahr oder falsch überprüfbar, die Sprache wird zum definierenden Verständigungsmittel, und möglichst genau angebbare Strukturbedingungen (des Denkens, der Sprachzeichen, der Kommunikationsverhältnisse) sind das jeweils vorgegebene Koordinatensystem, worin die Erkenntnisbemühung ihren Gegenstand einordnet. In diesem Sinne der Außenperspektive kann Kierkegaard in der Nach3 4 5 6
Vgl. AE in SKS 7, 173 / AUN in GW1 10, 179. AE in SKS 7, 175 / AUN in GW1 10, 181. PS in SKS 4, 247 / PB in GW1 6, 40 Anm. Wobei hier vom Problem der Natur und damit von kosmologischen Fragestellungen abgesehen wird.
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schrift formulieren: „ein logisches System kann es geben“,7 d. h. es können durchaus in einem logischen und erkenntnistheoretischen Sinn notwendige, systematische, analytische, apriorische Zusammenhänge gedacht werden, und dagegen ist so lange nichts einzuwenden, wie hier keine Verwechslungen mit der Innenperspektive zustande kommen; und um diese Mischungen zu vermeiden, formuliert Kierkegaard an derselben Stelle: „ein System des Daseins kann es nicht geben“. Wo folglich Wahrheit mit Notwendigkeit in Zusammenhang gebracht wird, da muss Klarheit darüber herrschen, dass jetzt nicht mehr vom lebendigen Dasein (eines existierenden Menschen) aus dessen eigener Perspektive heraus die Rede sein kann, sondern dieses Dasein (seine Verhältnisse und seine Geschichte) in einer Außenperspektive betrachtet wird. Diese kann zugemutet und muss zur Information und kritischen Aufklärung durchaus auch verarbeitet werden, sie ist aber gerade nicht identisch mit der Sache selbst, denn diese erschließt sich nicht ohne die Innenperspektive des lebendigen Daseins. Um seinetwillen will Johannes Climacus die Sphäre des ,Notwendigen‘ von der Wahrheit der ,Subjektivität‘ ferngehalten wissen, die Innenperspektive hat ihr eigenes Sein, fordert ihre eigene Erkenntnistheorie und bewegt sich genuin in den Modalitäten von Möglichkeit und Wirklichkeit.8 Dabei denkt Kierkegaard im Anknüpfen an die Bewegungslehre des Aristoteles an Übergänge, Brüche, Sprünge, Entscheidungen, die qualitative Differenz von Sein und Nicht-Sein – immer um den abstrakten, tautologischen, für sich autarken Denkbestimmungen die Wirklichkeit eines gelebten Lebens entgegenzustellen. Leidenschaft, das ,Pathetische‘,9 ist das eigentliche Element der Innenperspektive, am besten ins Bild gesetzt durch die Abraham-Analyse von Furcht und Zittern: Sich dermaßen aus allem Normalen herauskatapultiert vorzufinden, sich den allgemeinen Maßstäben nicht mehr fügen zu können – wie im Falle Abrahams und Isaaks –, das ist ein Lehrstück dafür, dass diese allgemeinen Maßstäbe keineswegs aufgehoben oder für ungültig erklärt werden (die Außenperspektive bleibt selbstverständlich in Geltung), dass gerade deshalb aber die Innenperspektive sich im Kontrast erst herausschälen kann. Ihre Eigentümlichkeit zu bestimmen, ist 7 8
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AE in SKS 7, 105 / AUN in GW1 10, 101. AE in SKS 7, 313 / AUN in GW1 11, 46f. Zur Differenzierung zwischen der Modalitätenlehre in den PB und in der KT (im Anschluss an P. Lübcke) vgl. in H. Deuser Kierkegaard – Die Philosophie des religiçsen Schriftstellers, Darmstadt 1985, S. 114ff. Vgl. AE in SKS 7, 352ff. / AUN in GW1 11, 92ff.
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Kierkegaards Anstrengung in allen seinen Texten, beispielhaft in Furcht und Zittern in der Fassung der Doppelbewegung der ,Unendlichkeit‘ und der ,Endlichkeit‘, die in der ,Leidenschaft‘ des existentiellen Selbstverhältnisses geschieht;10 beispielhaft ebenso in der ,Wiederholung‘, die das Wiederkommen des Erwarteten so thematisiert, dass Wiederholen gerade nicht als das Gewöhnliche, sondern als das ,Transzendente‘, ,Neue‘, überraschend sich Einstellende, als das auch befremdlich Kommende und doch darin auch Erwartete gefasst werden muss.11 An dieser Stelle von Metaphysik zu sprechen heißt, der neuzeitlichen Metaphysik zu kündigen und eine andere zu beginnen, die die Innenperspektive des lebendigen Selbstverhältnisses nicht zu ignorieren braucht, sondern dessen Zugang zu sich selbst, zur Welt und zu den Anderen als Orientierungsbasis für Erkennen, Wirklichkeit und Lebensaufgabe akzeptiert. Dabei darf die Innenperspektive allerdings nicht im Gegensatz von privat und öffentlich gedacht werden, so als gäbe es jetzt eine von der Rationalität unbetroffene Zone, eine Art Privatreservat, eine Art Privatsprache oder bloße Innenwelt. ,Innen‘ bezeichnet demgegenüber zuerst einen Perspektivenwechsel und sodann und damit die Existenzdialektik des Innen-Außen-Verhältnisses, das immer nur als solches vorkommt. Genau dies haben uns Kierkegaards pseudonyme Autoren in ihren ausgefeilten literarischen Techniken vorgeführt. Ohne Außenperspektive keine Rationalität, ohne Innenperspektive keine Humanität – und dass zu letzterer ein Gottesverhältnis gehören muss, ist Kierkegaards permanente Unterstellung und christologische Intention (und deshalb vielleicht über Kierkegaards eigene Absichten hinaus auch ein durchaus rationales Programm). 2. Kontingenz Der Begriff der Kontingenz12 markiert heute eine Sonderstellung zwischen den traditionellen Modalitäten, er enthält Wirkliches (es ist etwas da), er enthält Mçgliches (es könnte anders sein), und er enthält Notwendiges (es ist, wie es ist). Das heißt mit der Herausstellung der Kontingenz verlieren die einzelnen Modalitäten ihren Vorrang. Selbst- und Weltverhältnis des Menschen sind nicht mehr allein am Wirklichen oder Verwirklichten zu orientieren, wie das – grob gesagt – für die griechische 10 FB in SKS 4, 132, 137 Anm. / FZ in GW1 3, 36, 42 Anm. 11 G in SKS 4, 25, 57 / W in GW1 4, 22, 59. 12 Vgl. zur Begriffsgeschichte meinen Artikel „Kontingenz II. theologisch“ in TRE 19 (1990) S. 551 – 559.
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Antike und die hebräische Religion gegolten haben wird; sie sind aber auch nicht mehr allein am Notwendigen, einem höchsten, mit aller Realität ausgestatteten und darin notwendig zu denkenden Sein, nämlich Gottes, zu orientieren, wie das für die christliche Philosophie der Scholastik verbindlich war; und sie sind schließlich auch nicht mehr allein am Möglichen, dem Inbegriff logischer Nicht-Widersprüchlichkeit zu orientieren, wie er aus scholastischem Denken in die Neuzeit überging. Kontingenz wahrt eine Zwischenstellung und partizipiert an den Modalitäten, weil sie derart dem menschlichen Dasein verhaftet ist, dass sie dessen ,faktisches Sein‘ (mit Kierkegaard gesprochen) nicht verlässt, aber ebenso wenig dessen Alternativmöglichkeiten, dessen Reflexionsfähigkeit und unumgängliche Einfügung in Bedingungsstrukturen verspielt. Leben vollzieht sich in den modalen Hinsichten, ist von ihnen her analysierbar, mit keiner von ihnen aber deckungsgleich oder in einem höchsten Sinn zu idealisieren, so als wäre wahres Leben letztlich notwendig, höchste Wirklichkeit oder pure Möglichkeit. Kierkegaards Existenzanalysen beschreiben genau das Überschneidungsfeld der modalen Hinsichten, beispielhaft im ,Zwischenspiel‘ der Philosophischen Brocken, in der Einleitung zum Begriff Angst und im ersten Teil der Krankheit zum Tode. Kierkegaards Entdeckung ist das existentielle ,Werden‘13 als ein Akt, ein Übergehen, ein Realisieren, das von seinen Möglichkeiten herkommend gedacht, das im Akt des Sich-Realisierens von diesen her aber niemals ausreichend bestimmt, d. h. nicht determiniert werden kann. Werden impliziert folglich Freiheit und schließt damit (geschichtliche) Notwendigkeit aus. Kontingenz bedeutet dann, dass sowohl bezüglich der Vergangenheit wie bezüglich der Zukunft derselbe Freiheitsvorbehalt gilt: Es ist geworden / es kann werden (kommen), ohne dass eine Notwendigkeit vorweg oder nachträglich zu bestimmen wäre. Zwar gelten Bedingungen, und diese sind im Sinne der Außenperspektive auch anzugeben und von einem gewissen prognostischen und erklärenden Wert, aber letztlich ist dabei über Ursachenverkettungen nicht hinauszukommen. Kontingenz heißt, es htte auch anders sein kçnnen, wobei Wirklichkeit und bedingende Notwendigkeit ebenso impliziert sind wie die alternativen Möglichkeiten. Diese schwingen immer mit, daher der Irrealis am Gegebenen, dessen ,faktisches Sein‘ nie pures Faktum, sondern immer in der leidenschaftlichen (existentiellen) Gespanntheit des Werdens ist. 13 Vgl. im Folgenden PS in SKS 4, 273ff. / PB in GW1 6, 69ff.
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Logische Notwendigkeit, damit beginnt die Einleitung im Begriff Angst,14 ist folglich etwas ganz Anderes, das seine eigene Berechtigung hat, aber nicht mit der als gelebt erfahrenen Wirklichkeit vermischt werden darf. Der Einwand gegen die Notwendigkeit ist die Kontingenz, die ,Zufälligkeit‘, die ein unaufgebbares Element unserer Wirklichkeit ausmacht und durch keine Prognose aufgehoben werden kann.15 Es muss also etwas kalkuliert werden, dessen Kennzeichen jenes ,Es-hätte-auchanders-sein / werden-können‘ ist, und wird dieses Kalkulieren nicht nur in der Außenperspektive von statistischen Wahrscheinlichkeiten vor Augen gebracht, sondern in die sich ihrer selbst bewusste Existenz des Menschen hineingenommen, so ist die Kontingenz die Anzeige von Gewordensein, Selbstwerden und Selbstentwurf. Diese binden sich an keine vorgegebene Notwendigkeit, an kein fixiertes Wirkliches und auch nicht an die Fülle der Possibilitäten, sondern nur an die Kontingenz selbst. Wie diese nun genauer zu bestimmen ist, das zeigen vor allem die Phänomenanalysen im Begriff Angst und in der Krankheit zum Tode. Kontingenz – im Selbst- und Weltverhältnis des Menschen, d. h. aus der Innenperspektive gedacht – ist aus der Modalitätsstruktur zu beschreiben, so dass aus der drohenden Möglichkeit der Möglichkeiten die Angst, aus dem tief empfundenen Missverhältnis in den gegebenen Strukturbedingungen die Verzweiflung resultieren. Kontingent bleibt der Selbst- und Weltenwurf in jeder Richtung,16 weil er riskant und ungewiss gehalten ist und keine Ruhe finden kann, solange er für den Drohcharakter der Kontingenz des Kontingenten kein Gegengift hat finden können. Dass Kierkegaard im christlichen Glauben, jener „glücklichen Leidenschaft“,17 die Macht der drohenden Kontingenz gebrochen sieht, setzt ihn instand, sie zunächst einmal aufzudecken bzw. Scheinlösungen – und zwar gerade solche, die sich des Christentums versicherten – abzuwehren. Rein philosophisch gesehen bleibt deshalb etwas Schwebendes an Kierkegaards Kritikinstanz der Kontingenz: Sie wird gegen alles ins Feld geführt, ohne die Sicherheit mitzuliefern, dann auch mit ihr fertig werden zu können. Denn zwischen der theoretischen Analyse und der Lebensbewältigung gibt es konsequent gedacht ebenfalls keine notwendige Vermittlung, keinen glatten Übergang. Immerhin, wo im Ableben der neuzeitlichen 14 Vgl. im Folgenden BA in SKS 4, 317ff. / BA in GW1 7, 6ff. 15 BA in SKS 4, 318 / BA in GW1 7, 7. 16 Vgl. zur Bedeutung der Zukunft in der Analyse der Mçglichkeit in Deuser Kierkegaard, aaO., S. 116f. 17 PS in SKS 4, 261 / PB in GW1 6, 56.
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Metaphysik die alten Stützen versagten, ist Kierkegaards Programm, im Kontingenten selbst nach dessen Heilung zu suchen, ein Trost vor allen gewaltigen und zu viel versprechenden Außenperspektiven. Das meint gebündelt Kierkegaards Bemerkung gegen Hegels Allgemeinbegriff des Ethischen, über den Abrahams Glaube hinausgreift: „wofern nichts Inkommensurables in einem Menschenleben ist, vielmehr das Inkommensurable, das da ist, es nur durch einen Zufall ist, aus dem, soweit das Dasein unter der Idee betrachtet wird, nichts folgt, hat Hegel recht“.18 – Im Namen des Kontingenten aber hat Hegel eben nicht recht!
II. Selbst Der Begriff Subjektivitt (und verwandte Bildungen) kommt in der Krankheit zum Tode nicht vor. Das lässt sich leicht mit dem neuen Pseudonym Anti-Climacus erklären, aber dies ist ja nur Ausdruck dafür, dass Kierkegaard von der immanent-kritischen Analyse zu konstruktiv christlicher Begriffsentfaltung übergeht. Während die frühen Pseudonyme – und besonders Johannes Climacus – die Kritik der Subjektivitätsphilosophie auf ihrem eigenen Diskussionsfeld zu betreiben hatten, kann seit 1848 dieser Streit als geführt gelten und zugunsten der für Kierkegaard selbst nun eigentümlichen Existenzkategorien zurücktreten. Was Kierkegaard in seiner christlichen Existenzlehre dabei vorträgt, muss folglich drei Ansprüchen genügen: 1) Die konkret gefühlte Lebendigkeit des einzelnen Menschen, wofür Climacus die These aufgestellt hatte, die Subjektivität sei die Wahrheit, muss sich in dieser Philosophie und Theologie aufgenommen finden; 2) die Widersprüchlichkeit der erfahrenen Lebenssituation, wie sie Climacus in den Philosophischen Brocken durch die Herausarbeitung des ,Werdens‘ zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit exponiert hatte, bleibt das Kriterium der Ernsthaftigkeit dieses Denkens; 3) wie sich die gefühlte Lebendigkeit des eigenen Lebens zur Widersprüchlichkeit der Existenz im Werden verhält, wie beides zusammenzuhalten und auszuhalten sein kann, das schließlich ist die höchste Aufgabenstellung für die philosophische und theologische Kommunikation über den Glauben, der Gottes Werden in der Zeit zum Thema hat.
18 FB in SKS 4, 161 / FZ in GW1 3, 75.
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1. Unmittelbarkeit So sehr Kierkegaard in den Erbaulichen Reden versucht hat, eine ungebrochene Lebensnähe und die Stimmung einer in gutem Sinne naiven Basisfrömmigkeit zu verteidigen und aufzurichten – die pseudonymen Texte gleichen ihrer Zeit viel ehrlicher darin, dass sie die Gebrochenheit durch Reflexionsprobleme in den Vordergrund rücken. Dabei gilt Kierkegaards polemischer Eifer dem Aufdecken eines fundamentalen Fehlers, den er Hegels Philosophie übel anrechnet, dass sie nämlich den Glauben zu etwas Unmittelbarem erklärt habe, über den folglich die philosophische Reflexion ,hinausgehen‘ könne und müsse.19 Kierkegaard bestreitet das aus prinzipiellen religiösen und christlichen Gründen: Religiçs definiert er den Glauben als paradoxe Leidenschaft (am Beispiel Abrahams), die folglich mit naiver Unmittelbarkeit und Unschuld gerade nichts zu tun hat; christlich geht es um den Glauben, der den Widerspruch Gottes unter den Bedingungen der Zeit ernst nehmen muss, was wiederum alles andere als unmittelbar eingängig ist. Das heißt Kierkegaard versteht Unmittelbarkeit als Ungebrochenheit und Unaufgeklärtheit gegenüber den wirklichen Spannungen, Konflikten, Enttäuschungen in einem Leben, das an sich selbst und seiner Welt, den eigenen Hoffnungen und möglichen Realisierungen scheitern und verzweifeln kann. Seine Bestimmung des Glaubens als Furcht und Zittern gibt diesem den Ernst der Lebensbewältigung zurück, distanziert ihn von kindlicher Naivität und zeigt ihn als allen bloß gedachten Problembeschreibungen (der spekulativen Philosophie) haushoch überlegen. Anders gesagt: Die kontingente Situationsbestimmung des Werdens ist gekennzeichnet durch ,Unsicherheit‘: Sie hat „keine Unmittelbarkeit mehr für sich, aber auch keine Notwendigkeit des Werdens, sondern allein das So-sein des Werdens“.20 Das kontingente ,So-sein des Werdens‘ ist in Kierkegaards Sicht nicht etwa geringer zu bewerten als die Rationalität des Allgemeinbegriffs, sondern dieser vorzuordnen, weil auf der Basis derselben Rationalität gezeigt werden kann, dass sie zur vollständigen Erfassung von Personalität nicht genügt. Kierkegaard hat das in Furcht und Zittern im Modellfall Abrahams geradezu durchgerechnet, dass in seiner Person etwas zum Zuge kommt, das vom Allgemeinen her (hier speziell im Sinne des Allgemein-Ethischen gedacht) nicht mehr verarbeitet werden und also darin auch nicht mehr allein seine Beurteilungsinstanz finden kann. Die 19 Vgl. z. B. das „Vorwort“ von FB in SKS 4, 128 / FZ in GW1 3, 30. 20 PS in SKS 4, 284 / PB in GW1 6, 82.
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,Innerlichkeit‘ eines Menschen – wir könnten dafür auch von seiner Individualität, seiner Personwürde oder seinem je eigentümlichen Selbstverhältnis sprechen – ist nicht abgegolten durch ihre Bezugnahme auf das ,Allgemeine‘, d. h. durch ihre Realisierung im gesellschaftlichen Ganzen, sondern liegt in einem entscheidenden Sinn diesem voraus bzw. ist oberhalb von diesem anzusetzen: Das Paradox des Glaubens ist dies, dass es eine Innerlichkeit gibt, die inkommensurabel für das Äußere ist, eine Innerlichkeit, die, wohl zu merken, nicht eins und das gleiche ist mit jener ersten, sondern eine neue Innerlichkeit.21
Kierkegaard will also eine erste Unmittelbarkeit (sie wäre nach seiner Stadienlehre als sthetisch zu bezeichnen) keineswegs ausschließen, sie aber keinesfalls mit dem christlichen Glauben identifizieren. Denn die erste Unmittelbarkeit ist in dem Augenblick, da sie um sich weiß, da sie als Einzelfall auf ein reflexionsmäßig höheres Allgemeines bezogen und damit eingeordnet werden kann, ,aufgehoben‘ im hegelschen Sinne, d. h. bewahrt und relativiert und in ihrem Eigenwert zurückzunehmen. Um dieser Relativierung zu entgehen, hebt Kierkegaard die Individualität über das Allgemeine hinaus und bestreitet im Bezug auf das Gottesverhältnis die Zuständigkeit des gedachten Allgemeinen. Umgekehrt steht dann natürlich mit dem Gottesverhältnis die Begründbarkeit menschlicher Würde als Person in einem unbedingten Sinn überhaupt auf dem Spiel. Denn wo diese absolute Bezugnahme entfallen sollte, bliebe nur die Relativierung und Funktionalisierung des Menschen auf eine jeweilige Rahmensystematik, die als das jeweils ebenso bedingte Allgemeine zu fungieren hätte – und so haben sich das Zeitbewusstsein und die Selbstinterpretation des Menschen nach Hegel weitgehend auch dargestellt ( jedenfalls im europäischen Kultur- und Zivilisationseinfluss). Dies alles steht mit Kierkegaards ,neuer Innerlichkeit‘ zur Diskussion, und die Eigenheiten dieses Programms sind unter dem Aspekt der Unmittelbarkeit am besten im Vergleich mit Schleiermacher zu kennzeichnen. ,Frömmigkeit‘, so definiert Schleiermacher in der Einleitung der ,Glaubenslehre‘, sei „weder ein Wissen noch ein Thun, sondern eine Neigung und Bestimmtheit des Gefühls“, und das wird erläutert dadurch, dass Gefühl als „Gefühl der Überzeugung“ zu verstehen sei, das als solches alles Wissen und Handeln begleitet, indem es dabei jeweils „das Ganze“, 21 FB in SKS 4, 161 / FZ in GW1 3, 75.
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die „höchste Einheit“, die „Allheit“ grundierend mit gegenwärtig hält.22 Damit sind Religion und christlicher Glaube ausdrücklich in einer Gefühls-Unmittelbarkeit begründet – ein durchaus modernes Konzept, denken wir nur an die erkenntnistheoretische Bedeutung, die heute der gefühlsmäßigen Überzeugung eines ,belief‘ zukommt. Schleiermacher hat dies bereits zur Begründung von Religion und Glaube – die dann wissenschaftlichen Rang beanspruchen, ohne dass sie selbst auf Wissen oder Handeln reduziert werden können – eingesetzt.23 Kierkegaard allerdings musste diese direkte Bezugnahme auf die primäre Gefühlszuständlichkeit vermeiden, weil er Hegels Spekulationsaufhebung des Christlichen fürchtete. Trotzdem verzichtet Kierkegaard nicht auf die Subjektivität, gerade nicht, sie bleibt in einem gewissen Sinn die Begründungsinstanz der Religiosität und des christlichen Glaubens, aber so, dass sie in sich selbst bereits als dialektisch zu gelten hat. Das heißt, Subjektivität ist keine Denkleistung und kein Handlungsimplikat allein, sondern sie gewinnt sich erst aus ihrer Widerspruchsstruktur, auf die hin sie angelegt ist. Das drückt Kierkegaard damit aus, dass er den idealistischen Subjektbegriff dann ebenso meidet wie die romantische Gefühlsunmittelbarkeit und an deren Stelle eine Analytik des menschlichen Selbst vornimmt. Diese ist existenzdialektisch in dem Sinne, dass an der kontingenten Gefühlszuständlichkeit bereits der Widerspruch von Innen und Außen, Möglichkeit und Wirklichkeit, Sein und Werden, Unschuld und Schuld etc. angesetzt wird. Hegels ,Aufhebung‘ ist dann keine nachträgliche Reflexionsleistung, die auf die Unmittelbarkeit (im religiösen, christlichen Sinn) erst folgen würde, sondern die reflektive Brechung ist der Unmittelbarkeit des Glaubens bereits immanent, macht seine Problemstruktur aus und ist insofern der Grund für die Rede von einer ,neuen Innerlichkeit‘.24 2. Existenzdialektik Die Gleichung Unmittelbarkeit = Gefühl = Glaube bestreitet Kierkegaard also wegen der direkt auf sie folgenden Gleichung Vermittlung = Wissen = Philosophie. Seine Problemlösung will beiden Schemata 22 F. D. E. Schleiermacher Der christliche Glaube 1821 – 1822. Studienausgabe, Bd. 1, Berlin / New York 1984, § 8 und § 8/3, S. 26, 29f. 23 Vgl. meinen Hinweis auf Ch. S. Peirce’ Kategorienlehre im Vergleich zu Schleiermacher in H. Deuser „Gottes Handeln – Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung“, im vorliegenden Band Kap. B.2. 24 FB in SKS 4, 161 / FZ in GW1 3, 75.
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entgehen, theologisch lässt sich das mit der Formel der Einbung im Christentum ausdrücken: Der Glaube ist – wie der „Gott-Mensch“ – „Zeichen des Widerspruchs“;25 philosophisch gesagt geht es um die Struktur der menschlichen Existenz, nämlich das Selbst, das nicht einfach bei sich selbst unproblematisch vorgefunden, sondern nur dann sachgemäß beschrieben wird, wenn im Blick auf seine Innenperspektive das Spannungsfeld des Werdens durchlaufen ist. Dies ist nicht nur eine psychologische Aufgabe (das sicher auch, und Kierkegaards Analysen der Angst und Verzweiflung zeigen darin ihre Größe),26 sondern zugleich ein erkenntnistheoretisches und ontologisches Unternehmen, weil es im Namen der Innenperspektive und der Kontingenz den neuzeitlichen Idealismus und dessen Sicht von Wahrheit und Wirklichkeit bestreiten muss. Was Kierkegaard damit vorlegt, soll Existenzdialektik heißen und seine Lehre des Selbst und des Paradox umfassen. Auf den Begriff gebracht ist diese Existenzdialektik zu Beginn der Krankheit zum Tode in der Definition des ,Selbst‘ als eines ,Dritten‘, das sich zu seiner eigenen Verhältnisbestimmung noch einmal zu verhalten hat.27 Die Bestimmung des Geistes, die Kierkegaard damit vornimmt, ist nicht mehr idealistisch (weil sie auch die Spuren des Substanzdenkens vermeidet), sie ist auch nicht materialistisch (weil Kierkegaard das Naturverhältnis gegenüber der menschlichen Freiheit nachordnet), sondern eben existenzdialektisch, weil am ,faktischen Sein‘, wie es in den Philosophischen Brocken hieß, dessen unumgängliche Geistigkeit, Bindungsstrukturen und Freiheitsauftrag gezeigt werden kann. Das Selbst ,ist‘ nicht einfach da, sondern es wird, und zwar immer im Zusammenspiel von kategorialen Dimensionen, die sich bevorzugt modal, temporal und ethisch ausdrücken lassen. Sich zu sich zu verhalten ist geradezu eine Notwendigkeit für das Selbst im Selbstverhältnis, und genau darin liegt die Mçglichkeit, den richtigen Verhältnisausgleich zu verfehlen, was wiederum nur bezüglich der Wirklichkeit der Existenz eines Menschen zu einem Spannungskonflikt werden kann. Diesen nennt Kierkegaard ,Verzweiflung‘. Temporal gesehen (und diese Analyse gibt das 3. Kap. im Begriff Angst) besteht das Spannungsfeld darin, dass zwischen ewiger Gegenwart und zeitlichem Verlauf, zwei für sich genommen abstrakten Vorstellungen, in der Mitte das geistige Selbst des Menschen sich in der ,Zeitlichkeit‘ 25 IC in SKS 12, 130 / EC in GW1 18, 119. 26 Vgl. K. Nordentoft Kierkegaard’s Psychology, trans. by Bruce H. Kirmmse, Pittsburgh 1978. 27 SD in SKS 11, 129 / KT in GW1 17, 8f.
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vorfindet,28 d. h. in einer Gegenwärtigkeit, die als Selbstverhältnis bestimmbar ist und folglich mehr ist als nur ein Sich-Verlaufen des Kontingenten in der Zeit. Die temporale Dimension des Selbstverhältnisses nennt Kierkegaard ,Augenblick‘, sein Misslingen ,Angst‘.29 Angst und Verzweiflung sind strukturbedingt, existenzdialektisch prinzipiell angelegt, nicht aber schicksalhaft unvermeidlich. Wäre das Kontingente nichts als das Kontingente, so hätten Angst und Verzweiflung das letzte Wort. Dass mit beidem so umgegangen werden kann, dass sie ihre destruktive Kraft im Selbst nicht ausspielen können, dass ein Heilmittel gefunden werden kann, das zwar die Krankheit nicht auslöscht (denn das wäre nur um den Preis des Selbstverhältnisses und somit der Personalität möglich) – diese große Alternative ist für Kierkegaard ebenso existenzdialektisch angelegt und muss aus dem Selbst heraus erkennbar sein. Die Krankheit zum Tode gibt diese andere Perspektive gleich dadurch mit, dass aus der Sicht des Anti-Climacus das Selbstverhältnis ein „abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist“.30 Die eigentlich neutral anstehende Alternative: „Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muss entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Andres gesetzt sein“31 – wird von Anti-Climacus ohne weitere Diskussion als schon entschieden betrachtet. Dann ist natürlich das Gottesverhältnis sofort mit eingeführt, und die Verzweiflung kann schließlich als Sünde zum Glauben ins Verhältnis gebracht werden.32 Kann demgegenüber eingewandt werden, dass dies nur eine theologische Standpunktentscheidung ist? Oder ergibt sich das Gesetztsein des Verhältnisses schon aus dessen Strukturanlage heraus? Vigilius Haufniensis macht im Begriff Angst nicht einfach die christliche Voraussetzung des Gottesverhältnisses, sondern er entwickelt aus der anthropologischen Strukturgegebenheit der Möglichkeit der Angst (bzw. der Angst als einer immer gegebenen Möglichkeit) die existenzdialektische Kategorie des „qualitativen Sprungs“,33 womit der fragliche Übergang des Werdens vom Möglichen zum Wirklichen bezeichnet sein soll. Wo in Furcht und Zittern von der „Leidenschaft“ als dem „fort-
BA in SKS 4, 390f. / BA in GW1 7, 89. BA in SKS 4, 394 / BA in GW1 7, 93. SD in SKS 11, 130 / KT in GW1 17, KT, 9. SD in SKS 11, 130 / KT in GW1 17, KT, 9. Vgl. dazu den „Zweiten Abschnitt“ der SD in SKS 11, 191 / KT in GW1 17, 75ff. 33 BA in SKS 4, 413 / BA in GW1 7, 114. 28 29 30 31 32
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währenden Sprung in das Dasein“34 die Rede war, da spricht der Begriff Angst von der „Wirklichkeit“ als dem „qualitativen Sprung“, der damit die Möglichkeitsangst bewältigen kann.35 Aber auch diese Konkretion ist nicht vor Verfehlung des Richtigen gesichert, der Sprung bleibt eine Kategorie der existenzdialektischen Freiheit, die nicht die beliebige Wahlmöglichkeit des liberum arbitrium meint,36 sondern die bevorstehende Entscheidung zum Guten, das wiederum nicht einfach mit Notwendigkeit klar wird oder aufgrund eindeutiger Prognosen folgt, sondern sich eben dem richtigen kontingenten Freiheitsakt verdankt. Diese ethische Verankerung der Existenzdialektik, dass Freiheit zum Guten sich abhebt vom Bösen, dass die Verschlossenheit des Bösen37 als „Zustand“ gilt, der selbst keiner befreienden „Bewegung“ mehr fähig ist, dass folglich „allein das Gute“ die „Einheit von Zustand und Bewegung“38 erreichen kann – diese Orientierung der Freiheit impliziert schon drei Bedingungen: 1) Dass aufgrund der modalen Verhältnisse der qualitative Sprung (existenzdialektisch) Wirklichkeit gewinnt; 2) dass aufgrund der temporalen Verhältnisse das Werden ungesichert bleibt bezogen auf Vergangenheit und Zukunft39 und dass 3) der Bezug auf das ,Gute‘ gegenüber dem ,Bösen‘ überhaupt einen Sinn macht, der sowohl für das Selbst, aber auch für sein darin mitbetroffenes Weltverhältnis unterscheidbar bleibt. Hier spielt also in die Freiheitsentscheidung eine Vorgabe mit hinein, deren Notwendigkeit von der Freiheit selbst her, wird sie existenzdialektisch gedacht, erfahren werden kann: Die Chance der Freiheit – sich zum Guten entscheiden zu können, unter den Strukturbedingungen der Existenz (in Angst und Verzweiflung) richtig zu wählen, Befreiung zu ermöglichen, Dasein in der Zeit zu gewinnen – besteht nur dann, wenn das Selbst im Entscheidungsakt einen Außenbezug hat, also nicht nur sich selbst zum Ziel hat und auch nicht nur von sich selbst herkommt, mit anderen Worten: ein ,gesetztes Verhältnis‘ ist (wie es in der Krankheit zum Tode heißt), das, „indem es sich zu sich selbst verhält, zu einem Anderen
34 FB in SKS 4, 137 Anm. / FZ in GW1 3, 42 Anm. (E. Hirsch übersetzt hier ,fortwährend’ mit ,ewig’). 35 Die Besprechung der Kategorie ,qualitativer Sprung’ geschieht hier nur im Blick auf BA, 4. Kap., und setzt die vorhergehenden Kap. eigentlich voraus. 36 BA in SKS 4, 414 / BA in GW1 7, 115. 37 Des ,Dämonischen’, BA in SKS 4, 435f. / BA in GW1 7, 140. 38 BA in SKS 4, 415, 435f. / BA in GW1 7, 116, 140. 39 BA in SKS 4, 413 / BA in GW1 7, 114.
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sich verhält“.40 Das Spannungsfeld der menschlichen Existenz ist deshalb dialektisch zu nennen, weil es ein Selbst- und Weltverhltnis ist, das sich Anderem gegenüber gewinnt. Nur in dieser Relation finden der Phänomenbereich und die Strukturbeschreibung von Angst und Verzweiflung ihren zureichenden Grund – und umgekehrt verweisen Angst und Verzweiflung und die darin beschlossene Freiheit, Zeitlichkeit und die im qualitativen Sprung erschlossene Wirklichkeit des menschlichen Lebens auf ihr Gegenüber im Gottesverhältnis. 3. Glaube Mit diesem dritten Schritt ist die Frage gestellt, wie Unmittelbarkeit und Existenzdialektik zusammen bestehen können, anders gesagt: in welchem Medium damit umzugehen ist, dass die ,Innerlichkeit‘ immer als vielfältig gebrochene auftritt und sich in Verhältnisbestimmungen vorfindet, die sie selbst stabilisieren muss und zugleich damit als gesetzt empfängt. Im 4. Kap. des Begriffs Angst gibt Kierkegaard eine Reihe von Anwendungsbeispielen für dieses problematische Selbst- und Weltverhältnis und zeigt damit noch einmal, wie der idealistische Subjektivitätsbegriff zu ersetzen ist: Die Gewissheit und die Innerlichkeit ist also freilich die Subjektivität, jedoch nicht in ganz und gar abstraktem Sinne […] / […] Der konkreteste Inhalt, den das Bewusstsein haben kann, ist das Bewusstsein seiner selbst, seiner selbst als Individuum, nicht das reine Selbstbewusstsein, sondern das Selbstbewusstsein, das so konkret ist, dass kein Schriftsteller, auch nicht der wortreichste, nicht der darstellungsgewaltigste, je vermocht hat, einen einzigen Solchen zu beschreiben, indessen jeder Mensch ein solcher ist.41
Es bestünde sonst nämlich die Gefahr, die Innerlichkeit gegenüber dem existenzdialektischen Konfliktfeld dadurch freizuhalten und zu salvieren, dass sie als reine Form (des Gefühls oder der Subjektivität) von ihren Verhältnisbestimmungen abgesondert gedacht wird. Genau das unterstellt Kierkegaard der idealistischen Philosophie und nennt sie aus diesem Grunde ,abstrakt‘, während es darauf ankommt, das Selbst immer als 40 SD in SKS 11, 130 / KT in GW1 17, 9. Ich möchte vermuten, dass es sich bei diesem ,Außenbezug’ des Selbst um nichts anderes handelt als das, was H. Putnam mit der Außenweltreferenz gegenüber nominalistischen Wirklichkeitserfassungen sicherstellen möchte, nur dass hier auch metaphysisch und theologisch gedacht werden muss. Vgl. H. Putnam Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt am Main 1982. 41 BA in SKS 4, 441f., 442f. / BA in GW1 7, 147, 148f.
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Selbst in Verhältnissen ,konkret‘ nicht nur zu denken, sondern zu leben und im Hinweis darauf dann auch zu beschreiben und zu denken. ,Gewissheit‘ und ,Innerlichkeit‘ sind dafür zunächst Kierkegaards Terminologie, aber es ist jetzt daran zu erinnern, dass die Innerlichkeit nicht mit Unmittelbarkeit in eins gesetzt werden darf. Gegen dieses Missverständnis steht in verschiedenen Hinsichten die Kategorie des Paradox: Anthropologisch durch die Sündenbestimmung (vgl. vor allem im 2. Abschnitt der Krankheit zum Tode), christologisch durch das Paradox des Gottes in der Zeit (wie es vor allem Johannes Climacus herausarbeitet) und auch erkenntnistheoretisch in der prinzipiellen Stellung des Paradox gegen die Gottesbeweismöglichkeit (wie in den Philosophischen Brocken und in anderer Weise in Furcht und Zittern vorgestellt). Das Paradox setzt eine Sperre, um den Übergang zwischen Denken und Sein, abstrakt und konkret, Notwendigkeit und Möglichkeit / Wirklichkeit schwer zu machen und überhaupt ins Bewusstsein zu heben. Denn erst durch diese Sperre kann die gesuchte Innerlichkeit ihr richtiges Gewicht erhalten, sie wird nicht zu einfach genommen und wird eben zu der Aufgabenstellung, wie denn Innerlichkeit und Existenzdialektik zusammenkommen können. Fest steht, dass weder der Glaube noch das ihm korrespondierende Gegenüber der Sünde für sich als unmittelbar gelten können, beide repräsentieren die spezifische Brechung durch das Paradox, und bereits in Furcht und Zittern ist das ausdrücklich gesagt: Glaube und Sünde sind „nicht die erste Unmittelbarkeit, sondern eine spätere“.42 Dies ist die abschließende Frage: Wie und in welchem Medium ist diese zweite Unmittelbarkeit zu denken, wie unterscheidet sie sich von der ersten? Kierkegaard bleibt so weit im dialektischen Denken, dass er Unmittelbarkeit, Existenzwiderspruch und wiederhergestellte Unmittelbarkeit als Abfolge denkt, nicht allerdings als geistiges oder weltgeschichtliches Prinzip, dass mit Notwendigkeit sich abspielte und von daher Substanzialität und Subjektivität zugleich denken ließe, sondern in der spezifischen Brechung, dass es mit dem Denken dieser Abfolge gerade nicht getan ist. Der Kontingenz muss entsprochen werden, und deshalb verlagert Kierkegaard die Dialektik aus dem Denken in die Innerlichkeit des Selbstverhältnisses, das vor sich und seiner Welt in einer Weise konkret ist, die sich aller vorauswissenden und absolut angesetzten Denkungsart entzieht – trotzdem aber nicht der Beliebigkeit atomisierter Kontingenzen anheim fällt. Dies gelingt nur, wenn der Mechanismus der 42 FB in SKS 4, 172 / FZ in GW1 3, 92, 111f.
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Aufhebung durch Reflexion unterbrochen wird, wenn also die erste Unmittelbarkeit ihre Erneuerung und Bestätigung nicht dadurch erhält, dass sie sich als naive Unschuld und Kinderglaube auflöst, sondern dadurch, dass sie sich aus der Erfahrungsfülle der Wirklichkeit (in Angst, Verzweiflung, qualitativem Sprung) erneuern lässt. Dass dies kein Reflexionsakt zustande bringt, ist Kierkegaards lebenslanges Monitum gegen die Philosophie. Und wenn er darin recht hat, ist damit zugleich der Ort und das Medium angegeben, wo und worin sich eine solche Erfahrungsbewältigung halten kann, die in ihren Kontingenzen nicht zugrunde geht: in der Religion, genauer: im christlichen Glauben, weil dieser (und nur dieser) das Gottesverhältnis und die Kontingenz wirklich zusammenhält. Glaube ist folglich eine Bestimmung an dritter Stelle, nach Unmittelbarkeit und Existenzdialektik, die beide zusammenfasst und darin dem Gesetztsein des Selbst- und Weltverhältnisses ebenso gerecht wird wie den Strukturkonflikten des Verhältnisses als solchen. Kierkegaard hat das in Furcht und Zittern erstmals an der leidenschaftlichen Religiosität modellhaft gezeigt, dass der Glaube so zu definieren ist, dass er das in einem Leben irrational erscheinende umfassen können muss, dass es, mit anderen Worten, eine „rechtmäßige Inkommensurabilität“ gibt.43 Begriff Angst und Krankheit zum Tode arbeiten diese Position an den Strukturverhältnissen des menschlichen Selbst genauer heraus, indem sie den Glauben als das einzige Gegengift bestimmen, das den Krankheitskeimen von Angst und Verzweiflung gewachsen ist. Der Glaube rechnet mit der Fülle der Möglichkeiten Gottes und besiegt deshalb die Möglichkeitsangst;44 der Glaube kann die Verzweiflung nicht nur als Strukturanlage, sondern als akute Wirklichkeit zugeben und Snde nennen, weil er im Gesetztsein des Verhältnisses die befreiende Orientierung als Außenbezug nicht mehr verliert und verdrängen muss.45 Kierkegaards Konzept der neuen Innerlichkeit ersetzt abstrakte Subjektivität zugunsten der Glaubens- und Freiheitsbestimmung. Der Mensch findet sich vor als ein Selbst in Verhltnissen; dass er diese unter Kontrolle brächte, braucht er sich dann nicht vorzumachen, wenn er seine Orientierung an der Gesetztheit und dem Außenbezug gerade des Selbstverhältnisses nicht verleugnet. Das ,Inkommensurable‘ in einem Menschen ist die Spur zu dieser Wahrheit. 43 FB in SKS 4, 456 / FZ in GW1 3, 91. 44 BA in SKS 4, 456 / BA in GW1 7, 163. 45 SD in SKS 11, 196 / KT in GW1 17, 81.
Die Taten der Liebe: Kierkegaards wirkliche Ethik* I. Handelt es sich bei Kierkegaards Ethik um Pflichten-, Güter-, Tugend-, Gewissens- oder Verantwortungsethik? Sind seine Texte zur Ethik normativ, deskriptiv oder metatheoretisch angelegt? Dem Leser von Kierkegaards Gesamtwerk wird die Beantwortung dieser Alternativfragen ausgesprochen schwerfallen, schließlich gehen Kierkegaards Schriften genau kalkuliert und literarisch verschlungen ihre eigenen Wege – und hinter allem steht der Lebenseinsatz ihres eigentlichen Autors, dessen Biographie nicht Fiktion, sondern die innere und zuletzt auch äußere Konsequenz des religiösen Schriftstellers sein sollte. – Trotzdem sind die vorgegebenen Schemata ethischen Denkens von sich aus nicht einfach falsch, sondern lehrreich gerade auch da, wo sie nicht zu passen scheinen. So gesehen wird man sagen müssen, Kierkegaards Ethik sei der besondere Fall einer (deontologischen) Pflichtenlehre aufgrund eines idealen und bewussten Sollens verbunden mit dem Insistieren auf spezifischen Handlungssituationen, worin es erst zur wirklichen ethischen Bewährung oder wahren Verantwortlichkeit kommen kann.1 In anderer Perspektive lässt sich die Besonderheit von Kierkegaards Ethik auch so darstellen, dass er unter der Voraussetzung der Verbindlichkeit von Normen und der Unerlässlichkeit von realen Wahlakten die Ethik allein konzentriert auf die Entscheidungssituation als solche, d. h. auf die Wechselwirkungen mit der Personalität der wählenden bzw. sich entscheidenden Person.2 * 1
2
Beitrag zur Forschungskonferenz „Den sene Kierkegaard“ der Norwegischen Wissenschaftsakademie, Oslo, 22.–25. Oktober 1992. Vgl. zu dem hier im Hintergrund stehenden Raster ethischer Positionsbestimmungen Politikens Filosofi Leksikon, hg. v. P. Lübcke, Kopenhagen 1983, S. 120f. (dt.: Philosophielexikon, hg. v. A. Hügli und P. Lübcke, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 174); und zur Anwendung auf Kierkegaard vgl. Deuser in Ethik in der europischen Geschichte II, hg. v. St. H. Pfürtner, Stuttgart 1988, S. 94. Vgl. hierzu W. Härles Erläuterungen metaethischer Grundbegriffe in W. Härle und E. Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverstndnis des christlichen Glaubens, Göttingen 1979 (UTB 1016), S. 141 – 161; bes. S. 147: „Personaler Selektionsakt ist die Handlung also insofern, als sie ein sinnhafter, intentionaler Selektionsakt ist,
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Doch welche ,Ethik‘ ist es denn, die damit bei Kierkegaard identifiziert wird? Zweifellos die im Rahmen der Stadienlehre des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen, d. h. die von Kierkegaards Pseudonymen vorgetragene Konstruktionsethik eines Zwischenstadiums,3 wie sie für die bürgerliche Ordnungs- und Eheauffassung des Gerichtsrates Wilhelm, des Autors der „Papiere des B“ in Entweder/Oder II und des 2. Teilstückes in den Stadien auf des Lebens Weg, typisch ist, oder wie sie der auf Abgrenzung (von ,Religiosität A und B‘) zielenden Systematik des Johannes Climacus in der Unwissenschaftlichen Nachschrift entspricht. – Wie aber steht es mit dem ,ethisch-religiösen‘ Pathos von Kierkegaards Gesamtwerk, wie es als einheitliche Initiative in der Gesellschafts- und Kirchenkritik seines Spätwerks alle Fäden der pseudonymen Literatur zusammenführt? Hier müsste Kierkegaards wirkliche Ethikauffassung zu finden sein, und diese müsste sich dementsprechend von den Stadienkonstruktionen unterscheiden, bzw. die Frage an die Stadienabfolge wäre die, worin die Unabdingbarkeit und Verbindlichkeit der Ethik denn festzuhalten und zu erkennen ist, wenn einerseits die Ästhetik nicht nur eine verlassene Vorstufe und andererseits die Religiosität nicht nur die endlich erreichte Erfüllung nach dem Zwischenspiel der bürgerlichen Ethik sein soll.4 Die damit vorgetragene Kritik an Kierkegaards Stadienschema ist so alt wie die Begeisterung für seine ästhetischen Schriften und die intensive
3
4
der deswegen, weil sich in der Intention die Person selbst präsentiert, eine zurechenbare Beziehung (Verantwortlichkeit) zwischen der Person und ihren Handlungen (samt deren Konsequenzen) konstituiert.“ Als Standardeinführungen in die Stadienabgrenzung von Ästhetik und Ethik, vgl. H. Fahrenbach Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt am Main 1968; W. Greve Kierkegaards maieutische Ethik. Von Entweder/Oder II zu den Stadien, Frankfurt am Main 1990; auch die kurze Übersicht von W. Greve „Künstler versus Bürger. Kierkegaards Schrift Entweder/Oder“ in Entweder/Oder. Herausgefordert durch Kierkegaard, hg. v. J. Splett / H. Frohnhofen, Frankfurt am Main 1988, S. 38 – 62; zur Herkunft und Problematik der Stadienlehre vgl. im vorliegenden Band Kap. A.3. Erst diese Frage führt zu einem für Kierkegaard wirklich adäquaten EthikKonzept. Die Stadienabfolge ist demgegenüber vordergründig und gehört in der Schärfe ihrer Stufungen und Abgrenzungen vor allem zur Taktik des religiösen Schriftstellers – der es dann allerdings zu verantworten hat, dass seine Konzeptionen solange nur unfertige Gerüste darstellen, wie sie nicht mit der Leidenschaft eines gelebten Lebens konfrontiert werden. Letzteres ist Aufgabe der Pseudonyme gewesen; die Systematik einer Philosophie bzw. Theologiegeschichtsschreibung kann solchen Vorbehalten und Sperren verständlicherweise nicht ohne weiteres folgen, vgl. J. Rohls Geschichte der Ethik, Tübingen 1991, S. 371ff.
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Wirksamkeit seiner existentiellen Neuinterpretation des Christentums. Die Ethik blieb dabei entweder am Rande des Interesses, ein bloßes Schulbeispiel oder eben eine Vermittlungs- oder Durchgangsstufe auf dem Weg der Existenzanalyse. Gibt es dann überhaupt eine wirkliche Ethik Kierkegaards?
II. Wie bei allen Begriffen, mit denen Kierkegaard umgeht – seien es solche der philosophisch-theologischen Tradition oder solche, die er selbst prägt –, es ist immer die Differenz zwischen der literarischen, der wissenschaftlichen und der existentiellen Intention mit in Betracht zu ziehen. Literarisch meint die Form der Darstellung, die sich aus den von Kierkegaard durchgehend aufrechterhaltenen Gründen der ,indirekten Kommunikation‘ als pseudonyme Intellektualität, erbauliche Rede und zuletzt als Tagebuch im Kontext der Biographie präsentiert;5 wissenschaftlich meint die Allgemeinheit, Kritikfähigkeit und Konsistenz der Argumentation, die Kierkegaard als solche nicht bestreitet, allerdings an der Grenzbestimmung des Existentiellen relativiert: Wissenschaftliche Rationalität verliert ihre Verbindlichkeit bzw. wird komisch bezüglich der Selbstinterpretation und Handlungsinitiative humaner Existenz; existentiell schließlich meint die Intention des Schriftstellers bezüglich der eigentlichen Instanz alles dessen, was literarisch und wissenschaftlich präsentiert wird: den jeweiligen Leser in der Verantwortung seines Lebens. – Das Zusammenspiel, d. h. die gegenseitige Abgrenzung und Bezogenheit dieser drei Aspekte, macht die eigentliche Schwierigkeit der Kierkegaard-Interpretation. Sie gehört genau in dieser Weise aber zur Sache und kann nicht weggelassen werden; und das Thema der wirklichen Ethik Kierkegaards ist hierfür selbstverständlich ein klassischer Problemfall. Das kommt besonders dadurch zum Zuge, dass Kierkegaard mit seinem Spätwerk die eben genannten Aspekte immer enger aufeinander bezieht, ohne ihre Differenzierung aufzugeben. Ethik ist daher eine literarische Funktion in Erinnerung an die pseudonymen Schriften (z. B. in den beibehaltenen Kategorien der Wahl und der Entscheidung), aber auch eine wissenschaftliche Frage bezüglich der begrifflichen Ableitung 5
Vgl. Deuser Kierkegaard. Die Philosophie des religiçsen Schriftstellers, Darmstadt 1985, Kap. III u. VI.
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dessen, was existentiell gesehen als verantwortliche Lebensform eines Christen zur Debatte steht. Denn von dieser Konsequenz kann sich der Autor Kierkegaard seit 1846, d. h. im Zusammenhang der von Kierkegaard selbst inszenierten Corsar-Ereignisse, nicht mehr dispensieren: Die Darstellungsform, die Wissenschaftlichkeit und die existentielle Verbindlichkeit der Ethik laufen aufeinander zu, und genau das geschieht zum ersten Mal in den folglich bewusst so bezeichneten „etlichen christlichen Erwägungen in Form von Reden“, die Kierkegaard unter eigener definitiver Verantwortung 1847 veröffentlicht. Die Taten der Liebe stehen damit an einer Nahtstelle nach dem Abschluss des Frühwerks bzw. nach dem Hauptwerk der Unwissenschaftlichen Nachschrift, aber noch vor der zunehmenden Radikalisierung des literarisch geforderten Nachfolgechristentums in den Schriften des Spätwerks seit 1848.6 Kierkegaard versucht etwas, das er zuvor in dieser demonstrativen Präsentation von Redenform und Wissenschaft im unmittelbar christlichen Begründungskontext so nicht gewagt hatte und das er in der hier noch überwiegend auf argumentierende Überzeugungsbildung und Integration des Lesers bedachten Entspanntheit sich dann nach 1848 geradezu verboten hat. Daher das Recht, die Taten der Liebe als Kierkegaards wirkliche Ethik zu bezeichnen: Sie unterliegt in ihrer Intention nicht mehr ausschließlich der taktischen Konstruktion der Stadien, und sie ist noch nicht überlagert von der Angriffstendenz und Polemik des Nachfolgechristentums im Spätwerk. Anders gesagt: Wenn es eine wirkliche Ethik Kierkegaards gibt, so ist es die von 1847 unter dem Titel Die Taten der Liebe.7
III. Die Charakterisierung wirkliche Ethik wird demnach in mehrfachem Sinne gebraucht: 1. In einem vorläufigen und vorbereitenden Sinn zur Bezeichnung der Wirklichkeit als Stadienstufe des Ethischen, wie sie gemäß den pseudonymen Schriften erst durch die ethische Wahl des Subjektes zustande kommt, das genau dadurch von der im Grunde verzweifelten Lebensform 6 7
Vgl. zur werkgeschichtlichen Analyse im Blick auf die Wendungen um 1848: Deuser Dialektische Theologie, München / Mainz 1980, S. 33 – 89. Zitiert wird nach der dt. Ausgabe der GW1, 19. Abt., übers. v. H. Gerdes, Düsseldorf / Köln 1966 (aber nicht unter dem in dieser Übers. gewählten Titel Der Liebe Tun).
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des (augenblicksverhafteten) Ästhetischen zum Ernst des verantwortlichen und geordneten Daseins in menschlicher Gemeinschaft findet. 2. Zur Bezeichnung des Verhltnisses zwischen Autor und Text, wie es sich in exponierter und von Kierkegaard selbst so auch reflektierter Form zwischen 1846 und 1848 herausgebildet hat,8 bzw. aufgrund biographischer Konstellationen herausbilden musste. 3. Jenseits der Stadienproblematik und der biographischen Bindungen bezeichnet „die Situation der ,Wirklichkeit‘“9 die der Ethik eigentmliche Modalitt. Ihre wissenschaftliche Reflexion für sich genommen ist dabei ebenso wenig ,wirklich‘ wie weltabgewandtes Phantasieren oder religiöse Illusionen jenseits der Realität. Das gelebte Leben allein – in seinen Situationen, Handlungen und darauf bezogenen Reflexionen – wäre wirklich; aber wie ist es dann? Es ist diese letzte Frage, in deren Horizont die Taten der Liebe verstanden werden müssen, und um dem zu entsprechen, soll Kierkegaards Stadienraster in überarbeiteter Form noch einmal herangezogen werden. Dabei wird an der orientierenden Dreigliederung ebenso festgehalten wie an deren phänomenologischer Bestimmung als Unmittelbarkeit (1), (allgemein erfassbarer) Gegenständlichkeit (2) und (geistiger) Vermittlungsleistung (3); allerdings ohne die gegenseitige Ausschließung der Stadien zu akzeptieren, wie es Kierkegaards Schema zuletzt entsprach. Denn die Selbständigkeit der jeweiligen Denk- und Lebensformen schließt deren Integration im entwicklungsfähigen Lebenszusammenhang gerade nicht aus. Kierkegaards Schema wird damit im weiteren Rahmen einer phänomenologischen Kategorialität des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen interpretiert und ontologisch verallgemeinert.10 Demnach ergibt sich für jede Ethik – vorausgesetzt nur, dass der Sinn von Ethik auf die wirklichen Handlungen von Menschen in
8 Beleg dafür sind vor allem die Entwürfe zu einer Theorie verschiedener Mitteilungsformen (1847) während der Entstehungszeit des Manuskriptes zu den Taten der Liebe, vgl. „Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung“ in Pap. VIII 2 B 79ff. / T 2, Abschnitt 4, 111ff.; und NB2:1ff. in SKS 20, 133ff. / T 2, Abschnitt 5, 129ff. 9 Vgl. Pap. VIII 2 B 85,16 / T 2, S. 114. 10 Das geschieht auf der Grundlage von Ch. S. Peirce’ Kategorienlehre, vgl. zur Kierkegaard-Interpretation in diesem Zusammenhang Deuser (1985), S. 142f.; ders. „Das Selbst als Inkarnation von Selbstanwendung“ in Dimensionen des Selbst, hg. v. B. Kienzle und H. Pape, Frankfurt am Main 1991, S. 443 – 450; ders. „Gotteserfahrung und Existenzkategorie“, im vorliegenden Band Kap. B.6.
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ihrem Lebenszusammenhang bezogen wird – die folgende Differenzierung: (1) Ursprünglich ist jeweils eine ethische Situation, die (in individueller oder sozialer Hinsicht) als Aufforderung empfunden wird: sich zu ihr zu verhalten, sich zu entscheiden, handeln zu müssen. (2) Davon zu unterscheiden ist die (in personaler oder sozialer Konkretion) wahrgenommene Handlungsalternative, die aufgrund von Vergleichen allgemeiner Art oder willentlichen Bevorzugungen Entscheidungsspielräume kennt und innerhalb ihrer zu Realisierungen findet. (3) Davon noch einmal zu unterscheiden ist die im Alltagswissen oder methodisch betriebene ethische Reflexion, sie stellt sich individuell im Selbstverhältnis der Freiheit dar, sozial gesehen in der Theorie von Institutionen und Gesellschaften. Diese Unterscheidungen sind ganz offensichtlich Kierkegaards Stadienbildungen des Ästhetischen Ethischen und Religiösen sehr nahe, und doch zeigt ein genauerer Vergleich die Diskrepanzen. Der schon erhobene Einwand gegenüber der Exklusivität der Stadien wird dann noch verstärkt durch die Frage nach der wirklichen Ethik – im systematischen Sinne des Begriffs, aber auch im Sinne von Kierkegaards Gesamtwerk. Die folgende Vergleichstabelle bringt das zum Ausdruck: ALLG. ETHIK (1) ethische Situation
STADIEN Religiös
(2) bestimmte Handlung
Ethisch
(3) ethische Reflexion
Ästhetisch
WIRKLICHE ETHIK Die Taten der Liebe in der eigtl. ethisch-relig. Situation die bloß äußerliche Handlung vor den Missverständnissen der Welt bloße Dichtung im Medium der Phantasie und in Vermeidung existentieller Wirklichkeit
Die Übersicht zeigt, wie Kierkegaards Stadienabfolge zur Religiosität hinführen musste und sollte; und sofern ,Ästhetisch‘ hier auch die Lebensform des Reflexionswissens umfasst und damit als unethisch qualifiziert ist, folgt daraus die Umkehrung der Reihenfolge im Vergleich zu den Stufen ,Allg. Ethik‘; und die wirkliche Ethik steht dann einerseits an religiöser Stelle (und dem entspricht die Redenform und die gesamte Thematik der Taten der Liebe), andererseits aber eben nicht an der Stelle des ,Ethischen‘ im Sinne der Stadien und auch nicht an der Stelle der wissenschaftlichen Reflexion – sondern an der der ethischen Situation. Genau diese Spannung ist äußerst charakteristisch für Kierkegaards Versuch,
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wirklich von Ethik zu sprechen, während ihre direkte Wissensmitteilung ausgeschlossen sein muss. Denn Wirklichkeit nur zu denken, wäre fern der ethischen Situation; diese aber – im Ernst genommen – ist für Kierkegaard zugleich das Gottesverhältnis. Darauf lief bereits die Konstruktion der Stadien hinaus, und dies Resultat ist die Botschaft der Taten der Liebe: „Etliche christliche Erwägungen in Form von Reden“!
IV. Die Bewertung dieses ethischen Hauptwerkes ist nicht leicht, Interpretationen sind selten. O. P. Monrad, der sonst Kierkegaard auf unangenehme Weise nordisch heroisiert, schreibt 1909, die Taten der Liebe seien ein „tragisch rührendes Buch“! 11 – In Th. W. Adornos Kierkegaard-Kritik sind die Reden über die Liebe der schlagende Beweis dafür, wie sehr es mit dem Christentum und aller Subjektivität seit dem 19. Jahrhundert zu Ende gegangen ist, wenn das wahre mitmenschliche Verhältnis nur noch das zu einem Toten sein kann (was die Taten der Liebe allerdings vertreten!).12 – Ist Kierkegaards Radikalität in dieser Hinsicht nicht geradezu unwirklich, demonstriert diese Ethik nicht letztlich ein Misslingen, noch weniger also als „minima moralia“? Bevor diese Fragen weiter diskutiert werden können, sollen Inhalt und Struktur der Schrift präzisiert werden.13 Dass Kierkegaard tatsächlich eine christliche Ethik beabsichtigt, geht u. a. aus Tagebuchnotizen hervor. Korrespondierend zur bisherigen Betonung der Kategorie des Einzelnen haben die Taten der Liebe ,die Sozialität‘ vor Augen,14 und sollte das ganze Buch ein thematisches Motto verdienen, so ist es einer der Sätze aus der 1. Rede des I. Teils: „aber was ist, kann nicht besungen, es muss geglaubt und 11 O. P. Monrad Sçren Kierkegaard. Sein Leben und seine Werke, Jena 1909, S. 75. 12 Vgl. Th. W. Adorno Kierkegaard. Konstruktion des sthetischen, Frankfurt am Main 1966 (1. Beilage), S. 267 – 291. 13 Einen inhaltlichen Aufriß geben G. Malantschuk Dialektik og Eksistens hos Søren Kierkegaard, Kopenhagen 1968, S. 306 – 309 (engl. Ausg. Kierkegaard’s Thought, trans. by H. V. and E. H. Hong, Princeton 1971, S. 323 – 325); A. Hannay Kierkegaard (1982), London / New York 1991, chap. VII; B. Müller Objektlose Nchstenliebe. Kierkegaards Verstndnis der Nchstenliebe in Der Liebe Tun, Diss. Marburg 1985, bes. die Teile B-E; B. H. Kirmmse Kierkegaard in Golden Age Denmark, Bloomington & Indianapolis 1990, S. 306 – 328. 14 Vgl. NB:118 in SKS 20, 86 (,Socialiteten’); vgl. dt. in Taten der Liebe (s. o. Anm. 7), S. 439.
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muss gelebt werden“.15 Dies also ist das ethische, man könnte auch sagen: das ontologische Programm. Kierkegaard hat die Schrift so angelegt, dass im I. Teil in fünf einzelnen Reden (I:i-v), die teilweise noch einmal sachlich untergliedert sind (I:ii A, B, C; I:iii A, B), eher Grundsatzfragen dieser Ethik erörtert werden: die Verborgenheit der Liebe, die Pflicht, der Nächste, Gesetz, Gewissen etc.; man könnte im Sinne unserer Ausgangsfrage nach einer allgemeinen Charakterisierung von Kierkegaards Ethik hier von metaethischen Prinzipienfragen sprechen. Nur ist diese Unterscheidung nicht so strikt, als fänden sich derartige Überlegungen (zum Beispiel zum Zeitproblem, zur Kategorie Möglichkeit u. a.) im II. Teil nicht mehr. Aber es ist doch richtig, dass der II. Teil eher Fragen der materialen Ethik behandelt; genau so lesen sich die jeweiligen Redenüberschriften (II:i-x): Sie sagen, was ,die Liebe‘ im einzelnen tut, sie explizieren die Handlungen der Liebe. Überhaupt ist diese Personifizierung in der Bezeichnung der Liebe zugleich ein rhetorischer Zug der Redenform und in der Sache selbst verankert: Dass von der Liebe ethisch gesehen genau so gesprochen werden muss, ist eben Gegenstand vor allem der Metaethik des I. Teils, dem die materialethischen Reden des II. Teils offenbar entsprechen. Es macht folglich Sinn, gemäß dieser Sachstruktur eine Übersicht zu versuchen, die die Verflechtung der einzelnen Fragen und Antworten beider Teile ins Bild setzen kann. Dabei werden aus den Reden des I. Teils zehn markante und für diese Ethik exemplarische Positionsformulierungen benannt, denen sich dann aus dem II. Teil jeweils eine Redenthematik zuordnen lässt. TEIL I:i-v: (1) Innerlichkeit Die Liebe ist innerlich, verborgen vor der Welt (I:i), deshalb „Sache des Gewissens“ (I:iii B). – „Aber die Innerlichkeit der christlichen Liebe ist bereit, zum Lohn für ihre Liebe von dem Geliebten (dem Gegenstand) gehasst zu werden. Das erweist, dass diese Innerlichkeit ein reines Gottesverhältnis ist“ (I:iii A).16
TEIL II:i-x: (1) Hermeneutische Bedeutung Konkret gesprochen bedeutet zu lieben: „Liebe voraussetzen; Liebe haben heißt, bei anderen Liebe voraussetzen, liebevoll sein heißt voraussetzen, dass andere liebevoll sind“ (II:i);17 d. h. die Innerlichkeit der Liebe ist ein hermeneutischpraktisches Prinzip: es produziert nicht, sondern setzt voraus.
15 KG in SKS 9, 16 / LT in GW1 14, 10. 16 KG in SKS 9, 133 / LT in GW1 14, 145 17 KG in SKS 9, 225 / LT in GW1 14, 247.
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(2) sthetik ist Unmittelbarkeit Die Liebe ist nichts Gedachtes und nichts Gedichtetes (I:ii A); das Christentum hat deshalb die natürliche Liebe „entthront“ (I:ii B);18 der „Dichter und das Christentum erklären genau das Entgegengesetzte“.19
(2) Gegen-sthetik Konkret gesprochen heißt „wesentlich denken“ nicht dem Äußeren Aufmerksamkeit schenken, sondern dass man „sich dessen bewusst ist, was während des Denkens in einem selbst geschieht“ (II:x).20 Das erstere ist (im weitesten Sinne) ästhetisch, das letztere ethisch: „die Richtung nach innen hin auf Selbstvertiefung“.21 Deshalb ist es im ethisch-religiösen Sinne „erbaulich“, wenn ein Künstler ein „Meisterstück […] aus Liebe zu einem Menschen in Stücke schlüge“ (II:i),22 deshalb kann kein Künstler „Barmherzigkeit darstellen“ (II:vii),23 denn zuletzt geht es darum, „dass man den nichtliebenswerten Gegenstand liebenswert findet“ (II:x).24
(3) Pflicht Du „sollst lieben“ (I:ii A): „Diese Liebe kann niemals im unwahren Sinne abhängig werden, denn das einzige, wovon sie abhängig ist, ist die Pflicht, und die Pflicht ist das einzig Freimachende“.25
(3) Funktion der Pflicht Konkret gesprochen ist das „Gottesverhältnis“26 das Dritte zwischen Menschen (II:vii), nur unter dieser Bedingung gibt es einen Ausgleich zwischen Verschiedenem, die Integration des Feindlichen.
18 19 20 21 22 23 24 25 26
KG in SKS 9, 51 / LT in GW1 14, 51. KG in SKS 9, 59 / LT in GW1 14, 58. KG in SKS 9, 355 / LT in GW1 14, 395. KG in SKS 9, 355 / LT in GW1 14, 395. KG in SKS 9, 217 / LT in GW1 14, 239. KG in SKS 9, 321 / LT in GW1 14, 357. KG in SKS 9, 367 / LT in GW1 14, 409. KG in SKS 9, 45 / LT in GW1 14, 45. KG in SKS 9, 334 / LT in GW1 14, 372.
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(4) Konflikt Die Liebe steht im Konflikt zwischen Sinnlichkeit und Selbstverleugnung (I:ii B), daraus folgt die „Doppelgefahr“: „zuerst im Innern des Menschen, wo er mit sich selbst streiten soll, und dann, wenn er in diesem Streit Erfolg hat, außerhalb des Menschen mit der Welt“ (I:v).27
(4) Im Extrem Die Sinnlichkeit und Natürlichkeit der Nächstenliebe ist dann ganz und gar verlassen, wenn der Tod alle weltlichmenschlichen Differenzen unwesentlich gemacht hat (II:ix): „Wofern du deshalb dich selbst prüfen willst, ob du uneigennützig liebest, so achte einmal darauf, wie du dich zu einem Verstorbenen verhältst“.28
(5) Ewigkeit Die Liebe ist ewig, d. h. Pflicht, Nächstenliebe, Gewissen etc. sind nicht zeitlich orientiert (I:ii C; I:v); die Liebe ist in diesem Sinne blind bis zur Komik: „schließ das Auge und denk an das Gebot, dass du lieben sollst, dann liebst du – deinen Feind, nein, dann liebst du den Nächsten, denn dass er dein Feind ist, siehst du ja nicht“.29
(5) In der Zeit Konkret gesprochen stellt sich die Ewigkeit im Hoffen dar (II:iii), dem spezifischen Zeitverhältnis der Möglichkeit: „in der Zeit ist das Ewige das Mögliche, das Zukünftige“.30 – „Selbst wenn der Liebende nicht das geringste andere für andere zu tun vermöchte, überhaupt keine andere Gabe zu bringen vermöchte: er bringt dennoch die beste Gabe, er bringt die Hoffnung“.31 (6) Weltwissen Konkret gesprochen ist Weltlichkeit „Missbrauch des Wissens“ (II:ii),34 d. h. Wissensansammlung ist letztlich auf „Misstrauen“ aufgebaut, das eine Entscheidung, ein Basis-Vertrauen, kurz: den „Glauben“ zu vermeiden sucht.35 – Mit der Entscheidung im Akt des Glaubens beginnt alles, mit Geld und Wissen gewinnt man nur „die
(6) Gegen die Welt Die Gegenperspektive zur Liebe ist die Welt (I:iii A), das Veränderliche, Zeitliche, bloß Augenblickshafte. „Geschäftig sein heißt, geteilt und zerstreut […] sich mit all dem Mannigfaltigen beschäftigen“;32 umgekehrt, von der Ewigkeit her gesehen, kommt es aber auf jeden Augenblick an (I:v)! 33
27 KG in SKS 9, 191f. / LT in GW1 14, 212. 28 KG in SKS 9, 344 / LT in GW1 14, 384. 29 KG in SKS 9, 74 / LT in GW1 14, 77; vgl. KG in SKS 9, 72f., 180 / LT in GW1 14, 74f., 199. 30 KG in SKS 9, 249 / LT in GW1 14, 275. 31 KG in SKS 9, 258 / LT in GW1 14, 285. 32 KG in SKS 9, 103 / LT in GW1 14, 110. 33 KG in SKS 9, 183 / LT in GW1 14, 202. 34 KG in SKS 9, 229 / LT in GW1 14, 252. 35 KG in SKS 9, 230 / LT in GW1 14, 253f.
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unendliche Kunst der Zweideutigkeit […] entgegengesetzte Möglichkeiten ins Gleichgewicht zu setzen“.36 (7) Handlungsethik Christentum bedeutet Handeln, nicht Theoretisieren (I:iii A); deshalb ist die Liebe größer als der Verstand, der Glaube größer als das Gesetz;37 „aber das Christentum, das sich nicht zu einem Erkennen, sondern zu einem Handeln verhält, hat die Eigentümlichkeit, dass es antwortet und mit der Antwort einen jeden für die Aufgabe gefangen nimmt“.38
(7) Taten der Liebe Konkret gesprochen ist die Liebe nicht abhängig davon, was der eine oder andere tut (II:vi), denn „die Taten der Liebe“39 bestehen beständig zwischen zwei Menschen: „Der dritte ist, wie gesagt, ,die Liebe‘ selbst, an die der im Bruch unschuldig Leidende sich dann halten kann, dann hat der Bruch keine Macht über ihn“.40
(8) Weltverhltnis Inbegriff materialer Ethik ist ein ,Haben als hätte man nicht‘: Das Christliche „will äußerlich überhaupt keine Veränderung im Äußeren hervorbringen, es will dieses ergreifen, reinigen und heiligen, und dergestalt alles neu machen, während doch alles beim alten bleibt“ (I:iii B).41
(8) Barmherzigkeit Während die Welt im Maßstab des Geldes besteht, versteht sich „Christus nur auf Barmherzigkeit“ (II:vii):42 „Hat aber die Macht des Geldes völlig gesiegt, so ist auch die Barmherzigkeit völlig abgeschafft“.43 Deshalb hat die Barmherzigkeit (umgekehrt) keinen äußeren Maßstab, keinen Geldwert, sie ist sozusagen alles und „nichts“! 44
36 37 38 39 40 41 42 43 44
KG in SKS 9, 232 / LT in GW1 14, 256. KG in SKS 9, 109 / LT in GW1 14, 117. KG in SKS 9, 101 / LT in GW1 14, 107. KG in SKS 9, 299 / LT in GW1 14, 332. KG in SKS 9, 302 / LT in GW1 14, 336. KG in SKS 9, 146 / LT in GW1 14, 160. KG in SKS 9, 315 / LT in GW1 14, 350. KG in SKS 9, 319 / LT in GW1 14, 356. KG in SKS 9, 323 / LT in GW1 14, 361.
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(9) Gottes Nhe Die wahre Wirklichkeit ist die Nähe, die die Distanzierung der Klugheit ausschließt (I:iv), dann ist die Unsichtbarkeit Gottes gerade der Garant der Nähe zu den Menschen:45 „Die christliche Liebe soll sich nicht zum Himmel emporschwingen, denn sie kommt vom Himmel und mit dem Himmel“.46
(9) Gott ist Liebe Konkret gesprochen ist der Gegenstand der Liebe sie selbst, „d. h. Gott, der doch deshalb im tieferen Sinne kein Gegenstand ist, da er die Liebe selbst ist“ (II:iv).47
(10) Verdoppelung Zwar gilt (zwischenmenschlich gesehen) in allem Gott, das Ewige, als Zwischenbestimmung und radikaler Perspektivenwechsel; aber als formale These gilt, dass in seiner Wirkung das Unendliche sich nicht relativierend vergleichen oder distanzieren lässt.48 Es kommt also zur einer „Verdoppelung“ (I:v),49 d. h. zur existentiellen Verbindlichkeit und Handlungssituation getragen vom Unendlichen (der Liebe) im Endlichen (der Welt): „so bleibt die Liebe, mit Hilfe der Pflicht, christlich, beim Handeln, im Schwung des Handelns“;50 „die Liebe gerät in ein Verhältnis zur christlichen Vorstellung oder in christlichem Sinne zur Gottesvorstellung“.51
(10) Vergebung (II:v) 52 liegt darin, dass die Liebe nicht nur nichts produziert, sondern das, was sie sieht, schon selbst hat; oder das, was sie ausschließt (die Sünde), macht sie nicht künstlich zum Gegenstand des Interesses, sondern integriert ihn in der Souveränität des Vergebens: „Sage nun, ob es nicht wahr ist, dass der Liebende, indem er die Fehler des Nächsten verschweigt, die Mannigfaltigkeit der Sünden deckt, wenn du bedenkst, wie man sie durch Erzählen vergrößert“.53
45 46 47 48 49 50 51 52 53
KG in SKS 9, 161 / LT in GW1 14, 177. KG in SKS 9, 173 / LT in GW1 14, 191. KG in SKS 9, 264 / LT in GW1 14, 293. KG in SKS 9, 176f., 180 / LT in GW1 14, 195, 199. KG in SKS 9, 182 / LT in GW1 14, 201. KG in SKS 9, 187 / LT in GW1 14, 206. KG in SKS 9, 189 / LT in GW1 14, 209. KG in SKS 9, 278 / LT in GW1 14, 309. KG in SKS 9, 289 / LT in GW1 14, 321.
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V. Von welcher Wirklichkeit spricht diese Ethik? Ihre Konkretionen entstehen nicht durch fachspezifische Informationen über gesellschaftliche oder psychosoziale Konfliktfelder, ,material‘ ist diese Ethik in einem ganz anderen Sinn: Ihr Material ist die menschliche Seele, ihre Konkretionen sind Vertiefungen in die Gründe und Abgründe, wie Menschen sich im Bezug auf ihr Handeln zu sich selbst verhalten. – Und Kierkegaards These lautet: Ein solches – im ethischen und d. h. hier: im äußersten Sinne ernsthaftes Selbstverhältnis ist als solches ein Gottesverhältnis (1),54 genauer: das christliche Gottesverhältnis (10), das im Leiden die Umkehrungen der Liebe Gottes zu seiner Welt und den Menschen zum Ausdruck gebracht hat (6) und in jeder solchen menschlichen Liebe wiederum zum Ausdruck bringt und bringen wird (7). Die Universalitt dieser Ethik liegt in dieser Konsequenz: dass das Gottesverhältnis als Umkehrung der Unendlichkeit oder Ewigkeit in den menschlichen und weltlichen Verhältnissen anwesend ist (5). Es ist dies ein Grundzug lutherischer Theologie, das Göttliche ,sub contrario‘ gerade in dieser Weise seiner Umkehrung absolut in Geltung zu sehen – und doch am Pathos der Handlung der Liebe festzuhalten (7). Bedeutet dies nicht, eine Konkretion zu behaupten, die eigentlich keine ist? – Kierkegaards Äußerungen in den Taten der Liebe sind keineswegs unbedacht, aber sie sind geradezu rücksichtslos radikal. Sie treiben die menschliche Handlungseinstellung ins Extrem der Vernichtung aller positiven äußeren Korrelationen (8), überspitzen insofern die Pflicht- und Gewissensethik geradezu in einem Niemandsland von Selbstverhältnissen ohne konkrete Partner (4), entrümpeln die Schatzkammer menschlicher Entschuldigungen und Ausreden zugunsten der puren Situation von Ausgesetztheit und Leidensdruck (5), füllen dagegen aber das ethische Haus mit dialektischen Beispielen einer Welt, worin alles erst in seiner Umkehrung richtig wäre (10). Erst recht dieser harte Zug ideologiekritischer Umkehrungsbilder (8) hat aber nicht eigentlich den Ton von Weltflucht und Askese (auch wenn Kierkegaards religiöser Eifer diese Anklänge durchaus nicht vermeidet), sondern er sucht die Nähe zu den Dingen in den Konkretionen dieser Welt (9), die wir sonst – in verkehrter Weise – geneigt sind, für das eigentlich Wirkliche zu halten. 54 Die Ziffern in Klammern beziehen sich im Folgenden auf die 10 Punkte der Sachgliederung der Taten der Liebe, wie sie in der Tabellenübersicht im vorigen Abschnitt gegeben wurde.
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Weil Kierkegaard die allbekannte Wirklichkeit für Verlogenheit, Betrug und Selbstbetrug hält, liegt die Wahrheit in ihrer Umkehrung: Die ursprüngliche Nähe zu den Dingen leuchtet erst auf, wenn alles menschliche, weltliche Konkretisieren verschwunden ist. Der Ursprung muss erst wieder freigelegt werden, das ist offensichtlich die leidenschaftliche Intention des Autors Kierkegaard in dieser Handlungsethik (7), die sich die Bestimmung von Handlungen wegen ihrer absoluten Fundierung in der Ewigkeit Gottes (5), des Gewissens und der Pflicht (3) zugleich immer wieder versagen muss. Ein enormer Spannungsbogen ist das Ergebnis und bestimmt den Gesamteindruck der Schrift. – Dass sie missverstanden, einseitig interpretiert und von den Folgen in Kierkegaards Biographie her theologisch und philosophisch kritisiert werden kann und muss, ist keine Frage. Es hat aber diese enorme sprachliche und gedankliche Anstrengung Kierkegaards doch vor allem etwas Ungeheuerliches – wie lässt es sich verstehen? 1. Eine erste Interpretationsmöglichkeit ist die werkimmanente. Malantschuks Arbeiten sind dafür typisch und richtig insofern, als die charakteristische Zwischenstellung dieser christlichen Ethik auf dem Weg zur Proklamierung des strengen Nachfolgechristentums in Kierkegaards Spätwerk nachgezeichnet werden kann. Die Taten der Liebe sind offensichtlich Kierkegaards Versuch, die von Joh. Climacus so bezeichnete Religiositt A und B, d. h. die allgemein ethisch-religiöse (A) und die konsequent christliche Auffassung (B), zugleich – nämlich als Ethik der Liebe – dazustellen;55 und das verlangt einerseits die Betonung der Idealität der ethischen Forderung (die Pflicht, das ,Du sollst‘ (3)) und andererseits die Aktualisierung der existenzdialektisch vorausgesetzten Nähe des fernen Gottes in seiner Liebe (9). Beides in einem realisieren zu können, ist die spezifische Aufgabenstellung der hier praktizierten Redenform, vorgetragen als doch auch theoretische ,Erwägungen‘. Davon wird Kierkegaard nach 1848 mehr und mehr Abstand nehmen, bzw. das neue Pseudonym Anti-Climacus ist noch einmal ein retardierendes Moment vor der polemischen Über-Deutlichkeit der Schriften des ,Augenblicks‘. 2. Eine weitere – und jetzt umfassendere – Interpretationsmöglichkeit ist die geschichtsphilosophische, wie sie erstmals von Adorno durchdekliniert wurde: Die beispiellosen Überspitzungen in Kierkegaards Ethik und Religiosität eines modernen Nachfolgechristentums müssen nicht 55 Vgl. Malantschuk (s. o. Anm. 13), engl. Ausg. (1971), S. 325.
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ignoriert, entschuldigt oder biographisch weginterpretiert werden, sie können als Beleg für eine Gesellschaftsentwicklung gelten, in der sich die humanen Ursprungsverhältnisse durch die kapitalistischen Vermarktungsmechanismen von allem und jedem aufzulösen beginnen. Kierkegaards zersetzende Zynismen, seine extreme Distanz zum Menschlichen um des Menschlichen willen, lassen sich dann als sensible Abwehrreaktion eines Künstlers verstehen, der in extremis noch mit einem Aufschrei retten möchte, was rettungslos verlorenzugehen scheint.56 Der eindeutige Vorzug dieser Interpretationsrichtung ist ihr weiter Rahmen, worin Kierkegaards Gesamtwerk gerechtermaßen weder um seine zweischneidige Ästhetik (2), noch um seine nicht minder zweischneidige Gesellschafts- und Kulturkritik (8) gekürzt werden muss. Andererseits hängt die hier gemeinte Geschichtsphilosophie an Prämissen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Wendezeit von metaphysischem Rang unterstellen und die Befreiung der Menschheit von Entfremdung (verursacht und zu beheben durch sich selbst) seither für eine reale historische Möglichkeit halten; eine These, für die Kierkegaards Radikalität in den Taten der Liebe ein Symptom und Beleg sein kann, nach der ihm eigenen theologischen Orientierung aber keineswegs einfach ist. Die hiermit gestellte Interpretationsfrage ist zuletzt eine theologische bzw. metaphysische, ob und wie die Entwicklungsgesetze der Menschheit, zumal unter ethischer Perspektive, anders denkbar sind als unter dem Vorbehalt der Verborgenheit wahrer Freiheit – und zwar gerade auch da, wo Freiheit gedacht, in Anspruch genommen und realisiert werden soll. Kierkegaards ideologiekritischer Pessimismus in den Taten der Liebe ist ein Ergebnis seiner Gesellschaftsauffassung, seine ungebrochene Hoffnung (5) und der Mut zu leben sind Resultat seines Gottesverhältnisses (10), d. h. seiner Theologie. 3. Die zuletzt eröffnete Interpretation hat einen quasi neutralen Aspekt, wird sie einfach als politisch-historische vorgetragen und von allen aktivistischen Schwerfälligkeiten entlastet. B. Kirmmse hat Kierkegaards Taten der Liebe in dieser Weise gelesen und ihre Schärfen als strategische Aktionen auf dem Weg der Entideologisierung der Verhältnisse zwischen Religiosität und Politik, Kirche und Staat plausibel machen können. 56 Vgl. zu Adornos Kierkegaard-Interpretation vor allem deren metakritisches Resümee bei K.-M. Kodalle Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des Wunschdenkens und der Zweckrationalitt im Anschluß an Kierkegaard, Paderborn 1988, bes. 5. Teil, Kap. I.
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Politische Befreiung57 im Revolutionszeitalter darf sich nicht mit Kategorien der Ewigkeit verwechseln (9), diese nämlich stehen gegen alle weltlichen und menschlichen Verhältnisse gleichermaßen und haben gerade darin ihre unaufgebbare Autorität. Das gilt – wiederum extrem gesagt – auch dann, wenn Kierkegaard in einer Tagebuchnotiz seine Rede über Barmherzigkeit (II:vii) als Beispielstück gegen den Kommunismus anführt.58 Wohltätigkeit ist ein politisches Machtmittel (aller beteiligten Interessengruppen), Barmherzigkeit dagegen ist unbedacht und frei gegenüber der Unterscheidung von arm und reich (8). – Kierkegaard geht in allen Punkten bis an diese Grenze, wo Zynismus gegen die Armen und Abhängigen (weltlich gesprochen) und ewige Gerechtigkeit (von der absoluten Stellung und hermeneutischen Prämisse der Liebe her gedacht) sich die Waage zu halten scheinen. Die politischhistorische Interpretation kann diese Grenzgänge verstehen lehren, ohne die Einseitigkeiten einseitig zu kritisieren. Worin Kierkegaard biographisch dann tatsächlich im Meinungsstreit der Interessengruppen Partei ergreift, hat dann sein Spätwerk bzw. der Kirchenangriff gezeigt. 4. Die bisher angeführten Interpretationen können insofern noch nicht genügen, als sie die von Kierkegaard präsentierte Ethik zwar jeweils in bestimmter Hinsicht angemessen einstufen, in dem dafür gewählten Rahmen aber immer auch eine Relativierung der im Werk selbst vorgetragenen Argumentationen vornehmen. Die systematische Interpretation dagegen diskutiert die von Kierkegaard markierten Positionen als solche; sie erst kommt auf die Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis im ontologischen Sinne zurück, das Kierkegaard in dem Satz komprimiert hatte: „aber was ist, kann nicht besungen werden, es muss geglaubt und muss gelebt werden“ (I:i).59 A. Hannay hat dazu im Vergleich mit der praktischen Philosophie Kants gezeigt, wie Kierkegaard entscheidende Motive und Problemstellungen charakteristisch anders einsetzt: Gilt für Kant die scharfe 57 Vgl. Kirmmse (s. o. Anm. 13), S. 326: „At another point SK makes it even clearer that his relationship to politics is not one of content but of priorities. Referring approvingly to the beginning of the recent movement of political liberation, in which the peasant reforms of recent decades have seen the end of the ,disgusting period of serfdom‘, SK remarks that now, however, this movement has transgressed its proper bounds […]. In confusing political liberation with liberation from God, we are committing a corruption of categories […]“. 58 Vgl. NB2:180 in SKS 20, 213 / LT in GW1 14, 443, und die entsprechende Interpretation bei Kirmmse, aaO., S. 327f. 59 KG in SKS 9, 16 / LT in GW1 14, 10.
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Differenz zwischen dem moralisch allein relevanten guten Willen – gerade weil er empirisch nicht gebunden ist – und der natürlich menschlichen Liebe, die als solche gar nicht Gegenstand der Moralphilosophie sein kann,60 so ist dies nur auf den ersten Blick eine Analogie zu Kierkegaards Idealität der Forderung (3). Denn bezeichnenderweise versteht Kierkegaard die Liebe zugleich als ideale Transzendenz und gerade deshalb als praktisch (affektiv) wirksam.61 Das heißt, er verbindet zwei bei Kant ausdrücklich sich ausschließende Motive, und die dadurch geleistete Handlungskonkretion ist in sich auf neue Weise weder eng gegenständlich (empirisch) festzulegen, noch auf Abstraktionen wie die Menschheit oder die Gesellschaft gerichtet, sondern offenbar auf ein durch diese besondere Motivkombination erst eröffnetes Feld: das ursprünglich Humane als die in jedem Menschen verborgen wirksame Freiheit und Gottesliebe.62 5. Die ethische Wirklichkeit der Taten der Liebe ist damit zumindest insofern erreicht, als nachgewiesen ist, wie Menschen unter idealer und realer Bedingung zugleich existieren; anders gesagt, Kierkegaard denkt und bespricht (mit dem Leser und sich selbst in der Form der Reden, d. h. in ethisch indirekter Kommunikation) die ethische Situation63 in einer Komplexität, die weder durch Reflexionswissen noch durch bestimmte Handlungen als solche angemessen oder erschöpfend darzustellen ist. Die Idealität und Realität der ethischen Situation bilden, wenn diese Beobachtung Kierkegaards richtig ist, folglich eine Wirklichkeit eigenen 60 Vgl. Hannay (s. o. Anm. 13), S. 254f. 61 Vgl. Hannay, aaO., S. 257f., 270ff. 62 Vgl. Hannay, aaO., S. 258ff.; zum Vergleich mit Kant bezüglich des Freiheitsbegriffs Deuser (1985), 136ff. – Die Verbindung von allgemeiner (idealer) Zielrichtung in konkreter Eröffnung menschlicher Lebensmöglichkeit, wie sie Kierkegaard vor allem in den Reden II:v und II:viii herausarbeitet (vgl. (3) u. (10)), hat Hannay treffend in Abhebung von Kant kommentiert: „Kierkegaard’s position nevertheless appears to give dutiful love a better chance than Kant’s. If openmindedness is a way of conquering initial aversions, then in recognizing in another person the possibility of the fulfilment of the ethical ideal of individuality-in-peculiarity are we not actually attributing the required value to the other? In freely attributing such a possibility to a person are we not already demonstrating openness towards that person – perhaps even demonstrating a form of love? […] The object is grasped as essentially lovable. But since the lovable characteristic is neither presented nor discriminatory, the love is not what Kant would call ‘pathological’. It rests on a decision upon how we should look upon humanity, and not upon how such an end naturally commends itself to us“, Hannay, S. 262. 63 Vgl. die Übersicht oben in Abschnitt III.
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Charakters: Sie ist ethisch, weil es um menschliche Handlungen und Handlungszusammenhänge geht; sie ist religiçs, weil es in einem nicht mehr distanzierbaren Sinn von Ernsthaftigkeit um ein Selbstverhältnis geht, worin Menschen vor dem Grund und Abgrund ihrer selbst, d. h. für Kierkegaard: vor Gott stehen. Diese ethisch-religiöse Identität ist allein in der Liebe vollständig repräsentierbar, sie hat die metaphysische Stellung eines umfassend Gültigen und in allem Einzelnen doch Allgemeinen und immer Vorausgesetzten, das sich durch die personalisierte Rede in seiner hermeneutischen Unhintergehbarkeit in Szene setzt (9).64 Was Kierkegaard damit leistet, ist einerseits die Anwendung von theologischen Kategorien der lutherischen Tradition (der Rechtfertigungslehre), nämlich das Zugleich von iustus et peccator vor Gott zum Ausdruck zu bringen; allerdings so, dass er sich dabei der inzwischen geprägten Denkformen der idealistischen Philosophie (vor allem Kants) bedient und die menschliche Situation als psychologisch und theologisch erarbeitete Existenzdialektik der Freiheit präsentiert. Die orthodoxe Dogmatik ist für Kierkegaard eine Vorgabe, nicht das Ziel seiner Textarbeit. Andererseits ist es die (nicht-empirische) Pflichtauffassung der praktischen Philosophie Kants, die nun theologisch so verändert wird, dass die menschliche Existenz erst im problematischen Selbstwerden der Freiheit ihre Identität findet – worin die idealen und realen Motive zugleich zum Zuge kommen bzw. immer neu kommen werden. Damit eröffnet sich die Dimension jeweils und grundsätzlich möglichen Handelns als der unvermeidliche und geforderte Lebens- und Verstehenszusammenhang überhaupt. In dieser Perspektive ist die menschliche Existenz also keineswegs in einem abstrakten Sinne frei, sondern immer
64 Vgl. I:iii A: „Die weltliche Weisheit meint, Liebe sei ein Verhältnis zwischen Mensch und Mensch; das Christentum lehrt, Liebe sei ein Verhältnis zwischen Mensch-Gott-Mensch, das heißt Gott sei die Zwischenbestimmung […] Denn Gott lieben, das heißt in Wahrheit sich selbst lieben; einem andern Menschen zur Gottesliebe helfen, das heißt einen andern Menschen lieben; mit eines andern Menschen Hilfe zur Gottesliebe gebracht werden, das heißt geliebt werden.“ KG in SKS 9, 110f. / LT in GW1 14, 119 – Vgl. I:iii B: „Zu wem hat nun ein Mensch sein innerlichstes Verhältnis, zu wem kann ein Mensch das innerlichste Verhältnis haben, doch wohl nur zu Gott! Also bleibt aber alle Vertraulichkeit zwischen Mensch und Mensch zuletzt nur Vertraulichkeit über die Vertraulichkeit. Nur Gott ist Vertraulichkeit, so wie er Liebe ist.“ KG in SKS 9, 153 / LT in GW1 14, 168.
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so konkret frei, wie die Liebe (als Gottesliebe) Voraussetzung und akuter Handlungsspielraum ist. Damit dürfte die (ontologische) Intention der Taten der Liebe erreicht sein, nämlich zu verstehen, was es heißt, „was ist, kann nicht besungen werden, es muss geglaubt und muss gelebt werden“ (I:i).65 Kierkegaard zielt damit auf eine spezifische Wirklichkeit, die sich – ähnlich wie in der Stadienabfolge, aber eben auch charakteristisch von ihr unterschieden66 – nur darstellen lassen kann, wenn a) die von Kierkegaard sog. ästhetische Unmittelbarkeit eines problemlosen mit sich identischen Selbstverhältnisses (das als solches noch keines ist) ausgeschlossen bleibt; wenn b) Ethik nicht dadurch schon ausreichend verstanden ist, dass sie als durch Willen und Entscheidung bruchlos realisierte Ordnungsgestalt bürgerlichen Lebens die Einordnung des Einzelnen in die gesellschaftliche Allgemeinheit vollzieht; und wenn c) die gesuchte Wirklichkeit des ethischreligiösen Ernstes der Gottesliebe als spannungsvolle Integrationsaufgabe von Selbstverhältnis und Handlung in Liebe erscheint – eine Wirklichkeit, die unter empirischen Bedingungen nicht abbildbar ist. Es ist diese Wirklichkeit der Gewissheit des Selbstverhältnisses im Bezug auf seine situativ verankerten und ihm zeitlich und räumlich zukommenden Handlungen, worin die Ethik der Taten der Liebe fundiert ist. Kierkegaard denkt dabei nicht an ein religiöses Grundgefühl, das entspräche eher einer ästhetischen Unmittelbarkeit oder der traditionellen Metaphysik einer anthropologisch-religiösen Vergegenständlichung, sozusagen einem bestimmbaren Etwas im Menschen als ,religiös‘. – Die Abstufungen der wirklichen Ethik, wie sie Kierkegaard analog den Stadien vornimmt, zeigen die Charakteristika von Schlussformeln bezglich Handlungen; und an einer Stelle der Taten der Liebe kommt dies auch prägnant zum Ausdruck: Auf den ersten Blick werden traditionell Glauben und Wissen gegeneinandergestellt (II:ii,67 vgl. (6)), doch geschieht das hier so, dass von einem ,Missbrauch‘ des Wissens die Rede ist, der darin besteht, nicht zu realisieren, dass Wissen immer mit ,Misstrauen‘ verbunden bleibt. Die Verlässlichkeit des Wissens ist sozusagen induktiv, d. h. auf weitere Zweifel bzw. weitere Bestätigungen notwendig angewiesen. Dem entgegen stellt Kierkegaard – wiederum ganz in lutherischer Tradition – die Gewissheit des Glaubens, jetzt aber bewusst und betont abgeleitet als die Vertrauensform bezüglich Wissen und damit als ver65 KG in SKS 9, 16 / LT in GW1 14, 10. 66 Vgl. wiederum die Tabellenübersicht oben in Abschnitt III. 67 KG in SKS 9, 229f. / LT in GW1 14, 252f.
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heißungsvollere menschliche Wirklichkeit der Liebe, um im Handlungsund Lebenszusammenhang mit Wissen umzugehen: Liebe ist genau das Gegenteil des Misstrauens, und doch ist sie in das gleiche Wissen eingeweiht; im Wissen sind die beiden, wenn man so will, nicht voneinander zu unterscheiden (das Wissen ist ja eben das im unendlichen Sinne Gleichgültige); nur in der Schlussfolgerung und der Entscheidung, im Glauben (alles glauben, und nichts glauben) sind sie einander genau entgegengesetzt […] die Liebe ist gleichwohl wissend, sie weiß von allem, was das Misstrauen weiß, doch ohne misstrauisch zu sein; sie weiß, was die Erfahrung weiß, weiß aber zugleich, dass die sogenannte Erfahrung eigentlich jene Mischung von Misstrauen und Liebe ist.68
Glaube und Liebe (ethisch gesprochen) sind ein Wissen, ohne am bloßen Wissen hängen zu bleiben; sie sind Wissen im Vertrauen, in Gewissheit, kurz: in der Liebe. – Dies nun präsentiert Kierkegaard als eine Schlussform („Slutningen“), und während, wie gesagt, die Ethikauffassung der Stadienabfolge wie ein induktives Wissen charakterisiert werden muss, könnte die Stadienstufe des Ästhetischen als die tautologisch-deduktive Selbstidentität verstanden werden. – Die ,ethische Situation‘ der wirklichen Ethik der Taten der Liebe aber entspräche genau der von Peirce sog. Abduktion, dem eigentlich erweiternden Schluss, der Neues erbringt und dies im Charakter der Gewissheit: ein Wissen, woran das Entscheidende ist, das ihm vertraut werden kann. Dieser Schluss ist als Basisüberzeugung zu verstehen. Kierkegaard verteidigt ihn hier als religiöse Ethik des Gottesverhältnisses, und dessen Wirklichkeit ist eben eine, deren Modus Glaube und Leben sind, nicht eine irgendwie geartete Distanz oder Vergegenständlichung (im ästhetischen, wissenschaftlichen oder bürgerlichen Sinn). Dieser (mit Peirce argumentiert) 69 pragmatistische und agapistische Sinn von Kierkegaards Ethik gibt ihr das Recht, zugleich von Schlussform, Glaube, Liebe – und eben Wirklichkeit zu sprechen, denn Überzeugungsbildung und unbedingte Gewissheit des Vertrauens sind eine Wirklichkeit, ohne die für Menschen – seit Evolutionsgedenken – empirische und geistige Verwirklichungen gar nicht denkbar wären. So gesehen ist Kierkegaards wirkliche Ethik allerdings eine wirkliche Entdeckung in der Philosophie und Theologie des 19. Jahrhunderts. Kritisch muss aber angemerkt werden, dass es Kierkegaard demgegenüber versäumt, in gleicher Klarheit das Recht einer materialen Ethik auf diesem Diskussionsniveau zuzugestehen. Die Ordnungsethik des 68 Vgl. II:ii. KG in SKS 9, 230 / LT in GW1 14, 253 – 254. 69 Vgl. oben Anm. 10 und Deuser (1988), oben Anm. 1.
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Gerichtsrats Wilhelm ist dafür kein Ersatz, Kierkegaards implizite Äußerungen zu Staat, Gesellschaft, Obrigkeit, Ehe und Familie bleiben erst recht dann zweideutig (vgl. (8)), wenn er die Tarnkappe des konservativen Monarchisten (aus der Frühzeit und den pseudonymen Schriften) abwirft und in Situation und Handlung des sog. Kirchenangriffs 1854 – 55 agiert. Kierkegaards Dilemma im Spätwerk – und die Taten der Liebe kündigen dies in Stil und Inhalt bereits an – besteht darin, dass er wegen der Bewahrung der Integrität seiner wirklichen Ethik im Sinne von Glaube, Liebe und Gewissheit, als den Basisleistungen von Humanität überhaupt, sich strikt weigert, in anderen, abgeleiteten Wirklichkeits- und Handlungsbereichen ethische Argumentationen zuzulassen. Die Realität der materialethischen Problemfelder verdünnt sich dabei zum bloßen Anlass und Abstoßungseffekt für die kategorial höherrangige wirkliche Ethik, bzw. diese wird zum permanenten Vorbehalt allem anderen gegenüber. Dieser Vorbehalt bleibt letztlich für Kierkegaard selbst bindend, ist bis in die Schriften des Kirchenangriffs ein ästhetisches Mittel, und in der Rolle des Dichters nur kann Kierkegaard biographisch und radikal an das heranreichen, was er so brillant als Wirklichkeit der Liebe hat denken und preisen können. Die Verkrampfungen des Spätwerk stammen aus dem allzu großen Spannungsbogen dieser gesuchten wirklichen Ethik; „in jedem Augenblick allezeit alles zu hoffen“ (II:iii),70 das hat Kierkegaard für andere in seinen Texten realisieren können – für sich selbst freilich nur sehr schwer.
70 KG in SKS 9, 249 / LT in GW1 14, 275.
Religious Dialectics and Christology Translated by Dennis Beach It is frequently said that if Christ came to the world now he would once again be crucified. This is not entirely true. The world has changed, it is now immersed in “understanding.” Therefore Christ would be ridiculed, treated as a mad man, but a mad man at whom one laughs […] I now understand better and better the original and profound relationship I have with the comic, and this will be useful to me in illuminating Christianity.1 S. Kierkegaard
I. Historical Situation At the beginning of the nineteenth century, lived religiousness and piety were no longer a matter of course in the intellectual circles of Europe. Schleiermacher’s early work On Religion: Speeches to Its Cultured Despisers, signals this shift, as does the religion that is at once criticized and philosophically defended in Hegel’s concept of Absolute Spirit.2 The opposition of rational enlightenment to nonconceptual (religious) revelation such as Kant and Lessing had carried out with exemplary success at the end of the eighteenth century lay like a long shadow over every effort of the subsequent period to present faith in God and religion – or even the core of Christianity, reconciliation – at all argumentatively. Kierkegaard’s own epoch, the middle of the nineteenth century, escalates the problem yet again, this time in opposition to the stamp that 1 2
NB10:109 in SKS 21, 312f. F. D. E. Schleiermacher On Religion (1799); G. W. F. Hegel Encyclopedia [1830], §§384, 573.
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Romanticism and Idealism had given to apologetics. Feuerbach and Marx made explicit an implicit and inevitably atheistic separation from traditional, orthodox Christian dogma and applied it to the practical realm, rendering the critique of (Christian) religion politically and socially effective. But the signature of the spirit of the age that distinguishes Kierkegaard’s epoch from all preceding ones is its impulse to probe assiduously in the present the post-Romantic and post-Idealist crisis, and to carry out this inquiry not only in academic fields and intellectual conceptions. This characteristic allows Kierkegaard’s epoch to be a model not only for modernity but also for the postmodern situation that persists today. Consciousness of the crisis in religion was refined and dispersed by various fluctuations in the intellectual and social frameworks; it was sometimes exacerbated and sometimes inhibited by the force of epochal developments, but confrontation with it was unavoidable. In any case, these processes made the conscious motives and implications of human thought increasingly explicit in the spheres of both practical and theoretical knowledge. The incisive dilemma of the crisis, however, remained the question of how this knowledge could be harmonized with the circumstances in which people sought to live responsibly, and, again, how all of this could be integrated with the conceptual and experiential capabilities of these same people. The impetus and focus – both for modernity and afterward – lay in the critical coordination of science, morality, and religion. From this point on, however, religion had to be understood in two ways. On the one hand, it is the historical and communal expression of the worldview and orientation of a given time (and thus a concept valid for all religions with such a tradition and function). On the other hand, starting with Kierkegaard, it is more importantly the always personal (existential) appropriation and obligation of the human condition in humankind’s self-relation, which, as the destiny of this relation, presupposes relation to God in principle. This latter meaning is more exactly expressed by the term ‘religiousness.’
II. Religiousness Kierkegaard did not develop his conception of religiousness with a historical, theological, or dogmatic intention. However, he always places this dimension of the problem foremost in the presuppositions of thinking that characterize his age when he wants to highlight with fullest fi-
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delity the urgency of the existential appropriation and obligation of personal religiousness. This sought-after fidelity quickly becomes dialectical in the process of appropriation. On the one hand, a merely personal event stands opposed to its universalized presentation, just as the systematically elusive concretion of individual life stands opposed to the abstraction of propositions about human life in general. On the other hand, this universalization in thought and language can in no way be avoided – else the existential personality would be wholly impossible to understand and cut off from all communication. Kierkegaard is compelled by this necessity to use the indirect means of access afforded by the literary disguise of the ‘religious author,’ an artifice that is intentionally misleading on the surface but at the same time conducive to true understanding.3 The (existential) concretization of religion that always emanates from the biographical details of Kierkegaard’s life and toward which his entire work ultimately aims is the Christian piety drawn from Lutheran theology and Pietism: the paradoxical experience – at once tormenting and liberating – of sin and forgiveness in the image of the crucified Christ. In order to shield this basic configuration from all the misunderstandings of his age – from romantic, idealist, atheistic, political, ecclesiastical, missionary, and so on – Kierkegaard erected above this foundation the divergent and thus complementary complex of the pseudonymous polemical texts addressed to intellectuals and Upbuilding Discourses appealing directly to human proximity. Johannes Climacus’s famous distinction in Concluding Unscientific Postscript4 between Religiousness A and B, that is, between the universal religious dialectic of a person’s relationship to his or her eternal destiny (A) and the specifically Christian (paradoxical) dialectic based on the connection of this relational destiny with the historical contingency of the New Testament Jesus (B), is a consequence of Kierkegaard’s strategy as a religious author of both safeguarding Christianity and providing an exacting delineation of what it means to be Christian. Talk about Christianity in the strict sense must first focus on the extremity of the impassioned struggle for genuine, ineluctable self-examination in one’s relation to life and to God. This struggle is especially characterized as paradoxical because of the polemical separation of Christology (of God in 3 4
SFV in SV1 XIII, 524 – 528 / PV in KW XXII, 33 – 37, Part One, B. Cf. AE in SKS 7, 505ff. / CUP1 in KW XII,1, 555ff.
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history) 5 from literally all other approaches: from the religious and societal (civic) approaches of contemporary ‘Christendom,’ as well as from the intellectual trends of historical or speculative academic theology. Moreover, despite Religiousness A’s marked differentiation from Religiousness B, it is nevertheless the necessary presupposition of the latter! This condition does not contravene the just-mentioned rupture with all other avenues of approach, for Kierkegaard does not maintain that there is a smooth transition between them, but only wants to note consistently a necessary condition of every existential understanding: impassioned self-relation without any external constraint. It is Upbuilding Discourses that explicitly tread the path of Religiousness, and in so doing, at first consciously avoid Christological categories – omitting even to speak the name of Christ. At their center stands the eloquent endeavor to focus sympathetically, with full cognizance of human nature, on that which can be said to count generally as the phenomenological realm of Religiousness A (and therefore also as its definition): That what we seek most of all in life, what we seek with all passion of feeling, thought and action, can in no way be either brought under the control or placed at the disposal of any human being. A perfect example of Religiousness A is the 1845 discourse, “On the Occasion of a Confession.”6 1. The discourse invites one to confession, and the proper situational mood of confession is that of ‘stillness,’ in which the external world with all its distinctions and intentions disappears, so that the differences between the human and the world are canceled sub specie aeternitatis: “Whoever says that this stillness does not exist is merely making noise.”7 “Seek God,” the theme of the discourse,8 becomes identical with unreserved self-surrender to this stillness. An argument or desire to excuse oneself from this situation must perforce appear as a suppression of its inexorable power, drowning out its stillness with doubt. This circularity in the perspective of God does not offer itself explicitly as an argument for the reality of God; yet ultimately, in the pathos of the discourse, the insistent defense of this structure of the confessional experience amounts to this: There is a perspective (that of God), and a situation coupled with it (that of confession), in which rich and poor, guilty 5 6 7 8
Cf. PS in SKS 4, 285f., 305f. / PF in KW VII, 86ff., 109f. Three Discourses on Imagined Occasions in SKS 5, 385ff. / KW X, 1ff. TTL in SKS 5, 393 / TD in KW X, 11. TTL in SKS 5, 396f. / TD in KW X, 15f.
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and innocent, fortunate and unfortunate, and so on, are relativized and neutralized to the point of a reciprocal inversion: “[T]he injured party possesses the most” of something – namely, ‘forgiveness’ – that “someone else needs.”9 The ‘emptiness’ that here appears to the worldly, human perspective, “the infinite nothing”10 marks the very turning point that was sought: Standing before God in stillness and purity is “becoming a sinner.”11 In this way the decisive reversal takes place – in the situation of stillness and the perspective of God: The person who seeks God is the one who is transformed, “so that he himself can become the place where God in truth is.”12 The Lutheran doctrine of justification – simul iustus et peccator – is renewed in the existential situational mood and its eloquent insistence of precisely this ‘moment.’13 The simultaneity of ‘fearing’ and ‘finding’ God in this moment becomes the condition of the only acceptable experience of God, an experience here illustrated. This grounding of the basic situation of religion echoes Luther’s oft-repeated guiding question for the interpretation of the Ten Commandments in the Small Catechism of 1529: “We should fear and love God!” Only here, under the conditions of the nineteenth century, God and ‘nothingness’ have a situationally intensive correspondence: the ‘nothingness’ of self-feeling becomes a ‘sign’ of the proximity of God.14 In contrast, all universal, objective, philosophical, or ecclesiastical frameworks, which in Kierkegaard’s time could no longer safeguard either the divine or religiousness, retreat completely into the background. 2. The experiential situation sub specie aeternitatis sought in this manner has to become at the same time a human-religious basis, a point of departure – although it is hardly possible, in keeping with its nature, to conceive of this as such with full precision. Kierkegaard specifies a triple step: first, adoration as ‘sighing without words,’ unclear and ambiguous; second, the increasing awareness of God in adventitious ‘thought’; and third, the thought that “[finds] the words.”15 But Kierkegaard’s discourse in no way thus endorses the preeminence of words, the preeminence of rationality and concepts in opposition to the emotionally 9 10 11 12 13 14 15
TTL TTL TTL TTL TTL TTL TTL
in in in in in in in
SKS SKS SKS SKS SKS SKS SKS
5, 5, 5, 5, 5, 5, 5,
394 / TD in KW X, 13. 295 / TD in KW X, 14. 396 / TD in KW X, 15. 404 / TD in KW X, 23. 404 / TD in KW X, 24. 408f. / TD in KW X, 29. 397 / TD in KW X, 16.
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stronger imprecision of ‘sights.’ The invoked absurdity of the Zeitgeist consists precisely in this: That without deliberation, it sought to draw forth rational communication – as the ‘highest’ communication – from the ‘stillness.’16 This stillness begins, however, with the conceptually ambiguous and elusive ‘sighs of adoration’! Hegel’s critique of the ‘beautiful soul’17 testifies to the philosophical disparagement of ‘religion of feeling’ and its objectless and conceptless ‘yearning.’ Kierkegaard’s discourses, however, seek human proximity also prior to its conceptual and systematic evaluation, namely, in “a sigh […], if the thought of God is only to shed a twilight glow over existence.”18 It is precisely here that the discourse unfolds its own aesthetic and religious power. 3. If the next level of understanding is to make explicit where human seeking – under the conditions of stillness – ultimately finds its object, it is clear that the ‘highest’ goods among conceivable goods is not determinate and is thus not something to be aimed at. Instead, fully in accord with the mode of seeking and desiring, it is “the unknown – and this good is God.”19 The response to this unknown is fulfilled then not with any being or having, but rather in the mode of “wonder, and wonder is immediacy’s sense of God and […] the beginning of all deeper understanding.”20 The discourse intends to sketch in due course how such ‘deeper understanding’ can be effected and how it is structured, so that here such conceptual labor remains better hidden for the sake of presenting the value of the universal human experience with greater imaginative power. The human-religious universality of this experiential value is in a sense presupposed; it can be verified only in the individual experience of a concretely lived life. This is the crux of the whole discourse; its address to the individual ‘listener’ who, before God, becomes an individual “alone in the whole world”21 demonstrates the hermeneutic turn of the religious dialectic. The presupposition of God is not controlled by humankind, but shines forth in the conditions of the experience of confession, in its stillness, individualization, and ‘wonder’ in the face of the authentically ‘unknown.’ 16 TTL in SKS 5, 399ff. / TD in KW X, 18ff.. 17 Phenomenology of Spirit, trans by A. V. Miller, Oxford: Oxford University Press 1977, pp. 406ff. 18 TTL in SKS 5, 397 / TD in KW X, 16. 19 TTL in SKS 5, 399 / TD in KW X, 18. 20 TTL in SKS 5, 399 / TD in KW X, 18. 21 TTL in SKS 5, 405 / TD in KW X, 25.
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In referring to the ‘object’ of impassioned seeking, the discourse consciously avoids the concept that the pseudonymous author of Philosophical Fragments, Johannes Climacus, had employed: the absolute paradox.22 The discourse is not concerned with concept and object as such, but only with the human relation to the unknown summum bonum: whether a person “is getting closer […] or further away” from this unknown good.23 How is such a relation to be more closely determined? Kierkegaard gives two answers: first a basic description of religious wonder itself, and then its development in the three stages of the dialectic. 3.1. The basic description of an indeterminate immediacy can be undertaken in two directions. First, in the direction of deepening its immediacy, that is, in taking advantage of its independence from precise knowledge and fixed practical goals in the sense that it is a unitary, qualitative state, a feeling. Schleiermacher’s definition of piety fits with this approach, insofar as he generally highlights the legitimacy of ‘feeling’ in opposition to metaphysics (‘knowing’) end ethics (‘acting’).24 Furthermore, he understands the specific ‘determination’ of religious feeling – “simply being subject to […] awareness of God”25 – in no way as an object-related consciousness, but rather as a ‘pure dependence,’26 that is, as a qualitative emotional state. Kierkegaard’s theology, by contrast, consciously avoids the concept of feeling, and thus strikes out in the other direction appropriate to a fundamental description of religiousness. It does not seek to deepen the originary circumstance of religion, but to grasp its relationality immediately in its ambivalence: “Wonder is an ambivalent state of mind containing both fear and blessedness.”27 This means that Kierkegaard agrees with Schleiermacher in the strict differentiation between religious wonder and ‘knowing’;28 however, in opposition to Schleiermacher, he does not want to begin with the unity of a basic (religious) feeling, but with the ambivalence of “blessedness in fear and trembling”29 that stems from Lutheran piety. Two ques22 Cf. PS in SKS 4, 242ff. / PF in KW VII, 37ff. 23 TTL in SKS 5, 399 / TD in KW X, 18. 24 F. Schleiermacher The Christian Faith, trans. by H. R. Mackintosh and J. S. Stewart, New York: Harper and Row 1963, §3. 25 Ibid., §4. 26 Ibid., §4/4. 27 TTL in SKS 5, 399; cf. 404 / TD in KW X, 18; cf. 24. 28 Cf. TTL in SKS 5, 401 – 403 / TD in KW X, 20 – 22. 29 TTL in SKS 5, 399 / TD in KW X, 18; cf. Phil. 2:12.
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tions will return later: Why cannot this starting point (again in contrast to Schleiermacher), for its purity’s sake, be conceived primarily as a community feeling? Why is another relation to ‘action’30 implied in the existential situation of such individuation? 3.2. The developmental forms of religious immediacy or wonder proceed in three stages. The first of these stages will be described as a pagan-religious nature relation,31 in that the zeal for the unknown becomes confused with the unknown itself without being able to see through this confusion. Religion and poetry are two sides of the same appearance: “Idolatry purified is the poetic.” In other words, the emotional world of wonder itself becomes, in the medium of feeling, quasiobjective – as polytheism in the history of religion, and as poetry in the epoch of Enlightenment. For both, a definition of God as “the inexplicable all of existence”32 would suffice. In the second stage the subjective and the objective sides of wonder separate from one another, exactly as in Hegel’s phenomenological dialectic. The impassioned relationship is like a striving toward the ever-retreating unknown;33 the freedom of this striving is directed toward the infinite, which, however, does not allow of comprehension and withdraws as ‘fate.’34 The analyses of the pseudonymous author Vigilius Haufniensis35 bring to greater precision than the discourse does the idea that the anxiety-producing obscurity of the concept of fate can only be surmounted if the categories of guilt and sin, which are related to individual persons, intervene. In the face of God, striving by itself can never secure a return; it can neither reach God nor founder on him. The third stage escalates the ambivalence of the possibility of insight into religious wonder to confuse the subjective and objective sides on still higher levels. Since the goal of wonder would be attained when “what is sought” is found, when “the enchantment is gone,”36 the passion of relation to the unknown would also vanish. Because the relation as such, in the sense of the human-religious foundation, cannot diminish to nothing, its appearance as ‘nothing’37 must be either a misunderstand30 31 32 33 34 35 36 37
Cf. TTL in SKS 5, 416 / TD in KW X, 38. TTL in SKS 5, 399f. / TD in KW X, 18f. TTL in SKS 5, 400 / TD in KW X, 19. TTL in SKS 5, 401 / TD in KW X, 20. TTL in SKS 5, 401 / TD in KW X, 20. Cf. BA / CA, III § 2, in SKS 4, 299 – 405 / KW VIII, 96 – 103. TTL in SKS 5, 401 / TD in KW X, 21. TTL in SKS 5, 401 / TD in KW X, 21.
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ing or an expression of despair. This appearance is misunderstanding if the knower erroneously supplants the relation to the unknown with quantitative definitions of ‘knowledge’:38 The unambiguous world of one who thinks all is known already or can be known leaves no room for either wonder or the unknown. In the second case – and in the design of the discourse, this is, no matter how hidden, the unique enlightenment sub specie aeternitatis – the appearance that the relation diminishes to nothing is an expression of despair if, in being ‘deceived’ by knowledge, the actual human process of appropriation falls apart. The confusion arises from classification of the unknown as alien when the individual nevertheless “has what is sought” in the sense that he is in danger of “losing” it and thus in his “despair” suffers from this loss.39 In turn, this suffering is the best sign of the renewed wonder at wonder itself.40 The dialectic of destiny and loss, the “ambivalent state of mind” of “fear and blessedness”41 is thus taken up into the third stage describing the basis of human religion. One reaches again the religious dialectic, in which, from the perspective of God, “the seeker himself is changed.”42 The reversal of recognition from fraudulent ‘knowledge’ to existential transformation in ‘fear and blessedness’ is the sign of relation to God: the sinner before God.43 Here it ought to be simply acknowledged, not considered an objection, that ‘understanding’ meets its limit insofar as it cannot comprehend the abiding wonder and the ongoing action of appropriation.44 Only thus will the path be cleared for heightened wonder. 3.3. If in its renunciation of knowledge this religious dialectic remains close to Schleiermacher’s definition of piety, the clear difference lies nevertheless in what Kierkegaard always sees as the fundamental ambivalence of possible forms for renunciation, misunderstanding, anxiety, and doubt. Kierkegaard emphasizes the unconditionality of the irreplaceable individual expressly to protect this fundamental situation of ‘fear and blessedness’ that is founded upon ‘fear and trembling.’45 It is not simply that the religious situation concerns the ‘individual human 38 39 40 41 42 43 44 45
TTL in SKS 5, 401f. / TD in KW X, 21f. TTL in SKS 5, 403 / TD in KW X, 23. TTL in SKS 5, 401 – 403 / TD in KW X, 22 – 24. Cf. TTL in SKS 5, 399 / TD in KW X, 18. TTL in SKS 5, 403 / TD in KW X, 23. TTL in SKS 5, 408 / TD in KW X, 28. TTL in SKS 5, 405f. / TD in KW X, 26. TTL in SKS 5, 399, 406f. / TD in KW X, 18, 27f.
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being’ in contrast to ‘humanity in general’;46 rather, Kierkegaard, in his perception of the sociocultural and political crisis of his time, is able to regard and reject social forms decisively as mere externals. They are seen as a ‘crowd,’ the homogenized “common harmony of equals,” the anonymous “course of world-history,”47 and the “diversions of others.”48 In other words, social forms are to be avoided as purely quantitative, unhelpful reproductions that dissipate the existential gravity of the individual’s primordial experience of relation to God in stillness. The theological rationale for this restriction of human social forms to mass phenomena is again that Kierkegaard does not start (as does Schleiermacher) with the fundamental human-religious phenomenon of ‘wonder’ as the unitary ground or transcendental condition of possibility for all further differentiations and determinations, but with it as an intensification of experience situated directly in the conflict between the human and the world. On the other hand, the fundamental experience of ‘fear and blessedness’ must be freed from its worldly perspective (poor and rich, happy and unfortunate, young and old, etc.) so that it can discover at the same time, in the same experience, the perspective of God. Because both positions are to be valid – the conscious proximity to everyday experience as well as the perspectival distantiation from this – the relevant religiousness must be concentrated on the impassioned self-experience of the individual, and only on this. For Kierkegaard, everything else would signify an inappropriate slackening of the existential situation. Upbuilding Discourses before 1846 – 47 address this strategic duality of external world and existential seriousness with evenhandedness and stylistic charm, while the early pseudonymous texts and especially the later Christian Discourses and the writings of Anti-Climacus shift to open and harsh polemic. For this reason it is fitting – and here is the further point of differentiation from Schleiermacher – that the immediate ambivalence of the existential situation evoked by the discourse is always pursued with a view to the decisiveness and the seriousness of a practical situation in which the basic religious feeling of ‘wonder’ before the ‘unknown’ is not only encountered but has to guarantee its own significance. Not to define abstractly the relation between God and self means for Kierkegaard that he must conceive of it solely as a practical 46 TTL in SKS 5, 409 / TD in KW X, 29. 47 TTL in SKS 5, 410 / TD in KW X, 31. 48 TTL in SKS 5, 415 / TD in KW X, 37.
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situation of decision. This is what human religiousness enjoins in the dialectic it exhibits: “[I]n regard to what is essential to be able essentially means to be able to do it.”49 Appropriation thus means that one “essentially appropriates the essential only by doing it.”50 The significance of knowledge and intellectual decisions is thereby neutralized, and the significance of ethics is taken up into the self-relation as the defining perspective for action.
III. Christology Kierkegaard’s particular conception of Religiousness B in Concluding Unscientific Postscript responds in a new way to both basic problems of modern Christology: 1) How, with the patristic and scholastic (Aristotelian-Thomistic) ontology of substances no longer at our disposal, can we still speak in any meaningful way of one divine-human person with two natures? 51 2) How, presupposing historical investigation, at least as it was developed as standard by Protestant theology, can the authority of biblical texts, from, for example, the miracle stories to the resurrection of Jesus, be in any way still effectively represented? 52 Kierkegaard does not provide a direct scholarly discussion of these two questions, but his entire work should be read as a beacon lighting the way to a response. If Religiousness A must be conceived solely as an impassioned relationship and not as somehow ‘objective,’ this is even more true for the paradoxical Religiousness B, and not only in regard to the crucial dogmatic question of the doctrine of reconciliation, but even in regard to the historical aspect of the New Testament. Kierkegaard solves this problem by undermining its legitimation: There is no ‘objective’ means of access, in the sense of modern historical ‘objectivity,’ to an adequate understanding of Jesus Christ, not even of his crucifixion. Johannes Climacus expresses it thus: “[O]ne wants to consider objectively – that the God was crucified – an event that, when it occurred, did not permit even the temple to be objective, for its curtain tore, did not even permit the dead to remain objective, for they rose up 49 TTL in SKS 5, 416 / TD in KW X, 37. 50 TTL in SKS 5, 416 / TD in KW X, 38. 51 Cf. W. Härle Dogmatik, Berlin / New York: W. de Gruyter 1995, chap. 9.4.1; R. C. Neville A Theology Primer, Albany: State University of New York Press 1991, chap. 12/II. 52 Cf. Härle Dogmatik, chap. 9.2; Neville A Theology Primer, chaps. 11/III, 12/IV.
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from their graves.”53 Both the difficulty and the interest of this argument derive from the fact that historical objectivity is immediately obstructed by the dogmatic presupposition of the ‘God-man,’ yet this presupposition itself is not advanced as quasi-objective but by referring back to the narrative of the New Testament: “And the curtain of the temple was torn in two from top to bottom.”54 While Kierkegaard balked at the historical research of his time, he anticipated and made use of one of its twentieth-century conclusions: the testimony of the gospels is to be understood as a literary form, and therein lies its power. The meaning of the ‘God-man’ can therefore only be reached and rediscovered in this way, namely, in opposition to historicizing and objectivizing misunderstandings. It is to this task of a reconceptualized Christology that the programmatic concerns of Johannes Climacus are dedicated, as well as the ever more explicitly Christologically elaborated discourses. Upbuilding Discourses in Various Spirits (1847) contain in their third part “The Gospel of Sufferings,” characterized as a “Christian Discourse.” Here Kierkegaard for the first time in a discourse goes beyond the foundational human-religious experience and invokes the authority of the New Testament.55 What does this shift to the sharper ‘pathos’ of Religiousness B56 signify? This shift to the Christian paradox of reconciliation in Christ as a category invested with authority? 57 The fourth of the Christian Discourses offers an exemplary response to the Christological questions.58 1. That religious passion becomes ‘care’ is a motif already contained in the discourse on confession of 1845.59 For in the moment when the individual before God is transformed, the person, without changing place, shifts position: From the one who seeks, wondering in the face of the unknown, the person is transformed into the one who is found – who is, before God, estranged, guilty, a sinner – and thus attains Cf. AE in SKS 7, 254 / CUP1 in KW XII,1, 279. Mk 15:38. Cf. NB:120 in SKS 20, 87 / JP 1:638. Cf. AE in SKS 7, 505ff. / CUP1 in KW XII,1, 555ff. NB:125 in SKS 20, 88f. / JP 3:3089. Upbuilding Discourses in Various Spirits, “Part Three: The Gospel of Sufferings. Christian Discourses,” no. IV: “The Joy of It That in Relation to God a Person Always Suffers as Guilty,” OTA in SKS 8, 361 – 383 / UD in KW 15, 264 – 288. 59 TTL in SKS 5, 406 / TD in KW X, 26.
53 54 55 56 57 58
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the heightened level of wonder.60 However, Christian Discourses do not speak of concern and care, but turn without hesitation to ‘suffering.’ In other words, the condition of suffering is consistently inscribed into the religious dialectic. And here first do we find direct reference to Christ: The sharpening of scandal, the authority of God, and the exemplary suffering of Christ mark the passage to Religiousness B. In this, Kierkegaard is careful to employ theological thematics and terminology as traditionally as possible, not wanting to promote anything at all new, original, or purportedly modern. But why then introduce this manifestly deliberate and innovative difference between two basic forms of religiousness? The dialectic sub specie aeternitatis developed in Religiousness A has a decisive weakness: Its experience of contingency is always only on one side, the human. The divine perspective makes the human side dialectic, rendering it incapable of controlling the unknown that it seeks. Instead, the human side finds itself always facing the divine in ever-intensified wonder. In Religiousness B, by contrast, the divine side is itself exposed to the contingency of the human side. It is subject to time, to the historical moment, to the most extreme human suffering, and precisely here are found the title and tidings of reconciliation. Kierkegaard’s own response to the historical investigations of the New Testament and dogmatic Christology’s loss of authority is to use the literary form of the discourses to sharpen and intensify the scandal of the crucified God-man. Kierkegaard radically transforms the medium: For the philosophical-historical argumentation employed by the current theology, he substitutes the poetically imaginative power of discourses; for conceptual-dogmatic propositions, he substitutes analysis of the existential situation of guilt and suffering, with the (Christian) paradox as the limit-concept. These two transformations are inspired by one and the same reaction to the powerful experience of contingency, an experience sharpened both historically and dogmatically in the nineteenth century. And this reaction is obligatory if God is to be perceived not merely sub specie aeternitatis but also sub specie crucis. 2. In this discourse on “The Joy of It That in Relation to God a Person Always Suffers as Guilty,” themes and biblical texts are introduced both narratively and by means of a progressive argument: If one must place trust in the words of King Salomon by virtue of his royal position and experience, how much more ultimate is the authority 60 TTL in SKS 5, 402, 405 – 407, 410f. / TD in KW X, 22, 26 – 28, 30f.
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to be attributed to the words of a thief on the cross, words spoken in the face of death: “We are receiving what our deeds have deserved, but this one has done nothing wrong.”61 The conversion of king to thief and the shift from life to death endow the scene, the word, and the theme with the impression that here every merely historical reference would fail. In the next stage, first the human-religious passion (following Religiousness A) must be traced through the situation familiar from the discourse on confession with regard for ‘concern about oneself,’62 the pain of ‘unhappy love,’63 and finally the love of God,64 so that doubt as to whether or not God is really love can be seen to rest upon an unexamined and ultimately despairing misunderstanding, namely, that one has lost impassioned love altogether.65 Or, alternatively, so that the ‘becoming guilty’ of impassioned (human) love must be understood in the context of ‘God’s love,’ which always surpasses it and is its vindication. Doubt is conquered only when the roles are assigned as follows: on the human side, guilt; on God’s side, true love. Such an arrangement integrates the experience of shipwreck into the conception of one’s relation to God, and this is ‘the joy’ beyond all worldly limitations.66 However, the transition to Religiousness B is only fully effected when the discourse lets the situation of being before God appear contradictory from God’s side as well as from the human side. In other words, the contingency must be duplicated theologically. Kierkegaard acknowledges two conditions in regard to Religiousness A that still permit one to doubt God’s love. 1) If a person were wholly free from guilt,67 the whole dialectic of ‘joy’ would be fruitless; God could hardly function as the vindication of ‘becoming guilty.’ Such a scenario can here be disregarded insofar as it always takes place in the misunderstanding and the evaporation of passion mentioned above.68 2) If one should enter
61 62 63 64 65 66 67 68
Lk 23:41; cf. OTA in SKS 8, 362 / UD in KW 15, 265. OTA in SKS 8, 363 / UD in KW 15, 265. OTA in SKS 8, 363f. / UD in KW 15, 266f. OTA in SKS 8, 364f. / UD in KW 15, 267f. OTA in SKS 8, 364f. / UD in KW 15, 267f. OTA in SKS 8, 365f. / UD in KW 15, 268f. OTA in SKS 8, 366f. / UD in KW 15, 269f. In two places the discourse itself makes slight reference to this first condition: it is an ‘impossibility’ (OTA in SKS 8, 370f. / UD in KW 15, 274f.) and therefore destructive of relationship to God, from which follows in turn the fact of ‘hopelessness’ (OTA in SKS 8, 373 / UD in KW 15, 277).
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into “the depth of this horror,”69 which stands in radical contradiction to “the idea that God is love,”70 the situation would no longer admit of a human solution. The latter is, however, precisely the crux of Christology: The only one who was without sin before God is he who must suffer this death for sinfulness. The God-forsakenness of the crucified Christ71 is thus the most extreme conception of human contingency possible – embracing subjection to worldly and historical conditions, corporeality, the assumption of guilt, and the struggle with death – for it inscribes this human condition into the very idea of God. Kierkegaard does not expound this train of thought as such, but rather uses a double criterion to guard it from invalid expropriation: Contingency in God cannot be ‘grasped’ but only ‘believed.’72 3. This opposition of ‘conceive’ and ‘believe,’ coupled with the fact that the remainder of the discourse is wholly motivated by the Christological question concerning ‘doubt’73 as to whether ‘God is love,’ makes it clear that this is a discourse against theoretical doubt. What Upbuilding Discourses achieved by the delimitation of knowledge can here succeed only by laying bare the existential devastation that would ensue were the theoretical doubt at all indulged. The project of asking what grounds there are that God should actually be love is flawed from its inception; it is ‘presumptuousness’74 because it wants to ‘demonstrate’ that which is inherently contradictory.75 Whoever undertakes such a project is already finished with God.76 For, since it begins with an artificial abstraction that endlessly perpetuates itself, the existential situation falls apart, and thus neither logically nor existentially can the ‘conclusion’ that is actually sought be found.77 It is clear, however, that the concerns of dogmatic theology completely displace such vain processes as are necessarily produced in the sphere of knowledge, thought, and doubt. Although the discourse does not state this in so many words, it nevertheless expresses it quite clearly. To be inherently ‘guilty’ before God – this alone effec69 70 71 72 73 74 75 76 77
OTA in SKS 8, 367 / UD in KW 15, 270. OTA in SKS 8, 367 / UD in KW 15, 270. OTA in SKS 8, 367f. / UD in KW 15, 270f. OTA in SKS 8, 369f. / UD in KW 15, 274. Cf. OTA in SKS 8, 369f., 370, 375, 378f., 380f., 381f., 382f. / UD in KW 15, 273, 273f., 279f., 282f., 285f., 286f., 287f. OTA in SKS 8, 370, 376 / UD in KW 15, 273, 280. OTA in SKS 8, 373 / UD in KW 15, 279. OTA in SKS 8, 378ff. / UD in KW 15, 282ff. OTA in SKS 8, 382f. / UD in KW 15, 287f.
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tively destroys doubt,78 and only the destruction of doubt casts the suffering individual without illusions back on him- or herself, but now as one in relation to God. This cannot be completely grasped, known, or theorized in terms of proof, but faith ‘grasps’” it.79 Still, how is this mode of understanding to be understood? 4. What faith ‘grasps’ is manifestly something double: 1) If the human being is always guilty – not just guilty here and there and in this or that respect – then the question of guilt is decided once and for all, and it cannot and must not be as if this question were yet to be decided by reference to God. 2) What is ‘joyful,’80 what faith understands, lies in the living possibilities that open up, lies in the fact that, in the light of one’s own guilt, “there must always be something to do.” In place of hopelessness and anxiety for the future appear hope and activity.81 The ethical theme for the discourse on confession is resumed and amplified: the ethical is to be taken up into one’s self-relation not only as the defining perspective for action but also as the ‘joyful’ perspective. And, seen from within the religious dialectic of relation to God, it makes for joy precisely on the basis of inherent guilt before God. There is therefore no situation that cannot be overcome, for failure and guilt do not need to be repressed and God’s love is no longer in question. 5. Moreover, a decisive intensification of the impassioned selfrelation now becomes apparent because the repression of guilt or doubt concerning one’s own situation82 is no longer a concern. Now an appropriate situational analogue is available: the humanly incomprehensible comparison with the ‘superhuman’ suffering of the innocent crucified one.83 Thus does Christianity ground its ‘clarity’ on this question: Although it may not be able to understand extreme and unfathomable suffering, nevertheless, in the image of the crucified one it can stand thoughtfully in the presence of such suffering. For one thing, there is certainly an ‘everyawning gap’ between the (innocent) crucified one forsaken by God and all other (guilty) human suffering, even though it cannot be made transparent to human intelligence. At the same 78 79 80 81 82 83
Cf. OTA in SKS 8, 370f., 381f. / UD in KW 15, 274, 286f. OTA in SKS 8, 370 / UD in KW 15, 274. OTA in SKS 8, 370f. / UD in KW 15, 274. OTA in SKS 8, 371ff., 375 / UD in KW 15, 275ff., 279. Cf. OTA in SKS 8, 374f. / UD in KW 15, 278f. OTA in SKS 8, 377 / UD in KW 15, 281.
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time, it must be acknowledged that Christ’s suffering is at once ‘human’ and ‘superhuman.’ In this existential differentiation and correlation at the limits of comparability, Kierkegaard repeats and substantiates the Christological doctrine of Jesus’ double nature and its soteriological function: Sub specie crucis there is an image of God-forsakenness that cannot and must not remain a human model. If God himself takes up the God-forsakenness that only the crucified one experienced, all doubts and questioning beyond this come to an end, so long as it is clear that the human side stands in guilt – and God is love. This thought – that God is love – “contains all the blessed persuasion of eternity.”84 6. The final conceptual differentiations offered by Kierkegaard in this discourse – God and human, and ‘being in the wrong’ and ‘being guilty’ – indicate once again the heightened Christology of the relation to God addressed here. 1) From the human perspective guilty signifies guilty before humankind as well as guilty before God. 2) From the human perspective innocent suffering must be judged ambivalently: Humanly speaking, ‘injustice’ before God remains warranted, but to assert guilt from this external perspective would be cynical. The example from Job85 shows that although it is really inadmissible to label him guilty, 3) everyone is sub specie crucis, that is, in one’s basic relationship, guilty before God.86 Furthermore, this has been revealed Christologically in God himself as what is ‘joyful’: There is simply no longer any quarreling or grounds for doubt with God; whoever persists in this direction attacks only himself! 87 What this means is that here, under the rhetorical conditions of the discourse, Kierkegaard views the opposition of God’s love and guilt as a complete disjunction that is similarly divided in the unequal relation between God and the human. Either God is love, in which case guilt falls to the human side (and this is for Christians precisely the conclusion that is ‘joyful’), or God is potentially (in terms of doubt, knowledge, proof) not love, in which case not only would God himself be quasi-guilty, but on the human side there would loom the horror of the loss of self. The passion of relation with God would be rendered a vain illusion about either oneself or God.
84 OTA in SKS 8, 378 / UD in KW 15, 282. 85 OTA in SKS 8, 379f. / UD in KW 15, 283f.; cf. NB10:117 in SKS 21, 317 / JP 1:1386. 86 OTA in SKS 8, 381f. / UD in KW 15, 286f. 87 OTA in SKS 8, 381f. / UD in KW 15, 286f.
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This train of thought is persuasive only because it starts from the impassioned human seeking of Religiousness A, then sharpens this Christologically by means of the double contingency of Religiousness B in order to make the God’s love-guilt alternative inescapable. Every conclusion other than the joyful one must disqualify itself, lest one opt for a solution that would be either passionless or horrific. But such would only improperly reiterate and misconstrue the existential problem of guilt in self-relation, as it would reopen the question of theological doubting of God’s love. Neither the passionless nor the horrific solution need be entertained, because ‘there is one’ that has introduced the horror of innocent suffering to God himself, so that the loss of God is worked out within the relation to God itself: Religiousness B.
IV. Critique In the years after 1848, Kierkegaard elaborated the Christological dialectic even more essentially by giving an increasingly polemical shape to the narrative form of the discourse88 and by allowing both aspects to be fused with the theological and conceptual literary expression of the late pseudonym, Anti-Climacus, above all in Practice in Christianity (1850). The critical highpoint of this literary form, which integrated the religious author’s preceding approaches, is presented in the sarcastic tract The Moment (1854 – 55). These late presentations of the paradoxical Religiousness B, while strongly New-Testamental in many of the specific ways they conceptualize the dogmatic tradition, are always and essentially presented as narrative, persuasion and exhortation. By way of conclusion, they will here be summarily presented and employed for critical evaluation by focusing on three key themes. 1. Historical knowledge about Christ, writes Anti-Climacus in the first part of Practice in Christianity, “is not worth a pickled herring.”89 For, from the religious point of view or under the presupposition of Religiousness A and in Anti-Climacus’s perspective of Religiousness B, there is only a ‘contemporaneous,’ passionate relationship to Christ, which immediately excludes a distant relationship to something in the past. As the God-man who suffers both humanly and superhumanly, Christ is “an extremely unhistorical person” in the “situation of con88 Cf. Christian Discourses (1848). 89 Practice in Christianity, IC in SKS 12, 54 / PC in KW XX, 40.
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temporaneity.”90 Kierkegaard does not therefore argue with historical investigation and scholarship as such and in general, nor does he ever endorse an irrationality inherently devoid of concepts. But, in matters of religiousness, the historical and scientific approach cannot serve as the path to personal belief. The Christian doctrine of the God-man and reconciliation is not accessible by means of knowledge, but rather solely in the existential seriousness of belief. In this way, Kierkegaard shifts the compelling power of Christianity into the textual narrative’s ability to ‘make present,’ or, more precisely, into the existential proximity of all content of the Christian tradition. To effect this proximity is Kierkegaard’s task as a religious author. Kierkegaard also sees that his contemporaries, stamped as they are by the cultural and social situation of the midnineteenth century, are hardly in a position to make this turn in the understanding of Christianity with him. But he refuses to accede to either scientific apologetics or the simple traditional acceptance of Christianity as the state religion. It were best, in direct attack upon Christianity, to come to a kind of contemporaneity with its message – namely, ‘offence’ – the dark side of belief.91 Here too there occurs a Christological escalation of his thought insofar as Christ himself was obliged to become this offense in his suffering for others.92 In this tension inherent to Christian contemporaneity, Kierkegaard sees more than ever that his age and his society are far removed from any religious insight. Compelled to view passionless detachment as religion’s fundamental affliction and most catastrophic misunderstanding, he polemically attacked the state religion of Christianity by directing his characterization of Christian religiousness outward: The banality of the Zeitgeist misunderstood Christianity’s synthesis of the most sublime and the most lowly – the suffering of the God-man – as either barren sentimentality or pointless comedy.93 The disappearance of impassioned seriousness, obligation, and resolution, which reduces Christ to a merely traditional or comic figure, is the chief target of Kierkegaard’s late writings. The one-sidedness of the literary battles Kierkegaard undertook in his last years is not a reason to reject them, for such ventures in learned exaggeration represent one of the stylistic genres he consciously brought 90 91 92 93
IC in SKS 12, 75f. / PC in KW XX, 63f. Cf. Part II of Practice in Christianity. Cf. IC in SKS 12, 106f. / PC in KW XX, 97f. IC in SKS 12 71 / PC in KW XX, 58f.
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to bear in his work. The self-appointed role of the corrective94 is to be taken seriously. But this does not mean that the polemicism of Kierkegaard’s distinction between historical knowledge and narrative-existential appropriation must be obligatory for the twentieth and twenty-first centuries as well. Historical mediations and contemporary appropriation are not identical, but neither must they reciprocally fear one another. What Kierkegaard pointed out with regard to the medium of contemporary understanding in the conflict over the application of the historical-critical method to Christology was that the desire to understand oneself as somehow distanced would be a manifest misunderstanding. 2. The image of Christ and the aesthetic work of the religious author become the preeminent and decisive argument of the discourses of Kierkegaard, and they do so paradoxically because he desires to separate the poetical strictly from the Christian (since, by definition, the poetical is not existentially serious).95 For the allusion to what is no longer assimilable in purely human terms, to the crucified one, requires the utmost effort and application of aesthetic resources if it is to be effective. This occurs paradigmatically in the representation of the suffering of the God-man, in the ‘gripping sight’ of the image of Christ.96 The power of this representation, carried out through several pages, is heard in the innocent response of a child viewing a gallery of children’s pictures among which has been surreptitiously placed a picture of the crucified Christ: “But why were they so mean to him, why?”97 Ought innocence, God’s love for humankind, be so tortured? The power of reconciliation arises from the image of suffering, which discloses human guilt and sympathy, and brings the passion of the religious to its highest pitch, to belief in the God-man, belief embodied in the relationship of sin and guilt. Kierkegaard wishes to put Christology in play only through the disclosure and appropriation aroused by literary and aesthetic experience, and decidedly not by dogmatic or historical warrant. This does not mean that Kierkegaard had grown indifferent to the Lutheran dogma of his religious origins, nor that he ignored or wanted to abjure it. The meaning of the corrective 94 Cf. NB12:97 in SKS 22, 194f. / JP 6:6467. 95 Cf. Anti-Climacus in The Sickness unto Death (1849): “Christianly understood, every poet-existence (esthetics notwithstanding) is sin,” SD in SKS 11, 191 / SUD in KW XIX, 77. 96 Cf. IC in SKS 12, 176 / PC in KW XX, 173 / also NB8:20 in SKS 21, 154 / JP 1:270. 97 IC in SKS 12, 178 / PC in KW XX, 176.
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signifies here too. The premises of the tradition are to be brought critically to bear in such a way that only their appropriation is emphasized, since tradition as such is virtually irrelevant to this appropriation: The present ‘telling’ of the story of the crucified Christ must be made so aesthetically independent that its tradition can and should be ‘forgotten’ in the actual telling! 98 Metacritically, one must also keep in mind here that this primacy of appropriation can only bear the burden it is charged with so long as its correlate, the textual and conceptual tradition, remains culturally viable. An appropriation sundered from its religious tradition would dissolve itself. In this precise respect Kierkegaard’s initiatives presuppose very specifically the circumstances of his age, while the twentieth and twentyfirst centuries find themselves increasingly in circumstances that must be defined as reversed: In the interests of appropriation, they must first make the genuine objects, concepts, and texts again accessible. 3. From Kierkegaard’s posture as a corrective there proceeds, with regard to politics and cultural critique, a Christian critique of ideology, which he, on the basis of his radical demands for a contemporaneous and impassioned Christianity, directed against the emerging mass and mass-communication society. Under the complex conditions described for Religiousness B, the Christian truth cannot be safeguarded by institutions. Kierkegaard relied upon Reformation theology and developed it further in his critique of church and society: Truth can only lie in striving for truth, in becoming Christian: “A Church triumphant in this world is an illusion”.99 In this respect Kierkegaard had counted subsisting Christendom the worst enemy of Christianity and also strictly rejected church participation in the civil political reforms. Conservative and revolutionary agendas are mixed here; and here, too, the role of the corrective is not to be overlooked. Kierkegaard’s concentration on the impassioned appropriation of Christianity does not in any way exclude reforms, social development, participation in politics, a Christian social ethic, and so on, and the anarchist demand for destruction of all social forms is nowhere to be found. Instead, Kierkegaard fought against the – on his view – false value placed on the social. Reforms, societies, political participation – without individuals capable of making judgments – quickly deteriorate into mere power games played for group interests, into a caricature of the community as a whole. As its fundamen98 IC in SKS 12, 178 / PC in KW XX, 176. 99 IC in SKS 12, 205 / PC in KW XX, 209.
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tal criterion, a Christian social ethic requires individual persons and relations of personal trust. Kierkegaard has not only been justified in harboring the suspicion that the collectivity would always be favored over the individual, but this suspicion has proved a prophetic analysis at the onset of the industrial society of the nineteenth century. In the twentieth and twenty-first centuries, however, those ethically responsible for the direction of these industrial societies must not renounce the questions of social organization if they are to take charge of or effect changes for the better. Kierkegaard’s entire work – and ultimately his own self as religious author – was an outcry: a fervent protest against the disappearance of human and religious individuality, against the leveling of the Christian doctrine of reconciliation. Stated positively, Kierkegaard proclaimed the existential truth that, in the figure of the crucified Christ, salvation has become visible, believable, and ethically binding. That Kierkegaard, in order to sharpen the edge of this existential religiousness, undertook a massive critique of all the social structures of his age does not in any way mean that it is not our task at the beginning of the twenty-first century, and in the name of Religiousness A and B, to work to make these social structures succeed.
Die Inkommensurabilität des Kontingenten Zwei Reden Kierkegaards: Über Besorgnis und Ewigkeit* Abstract The article deals with the traditional problem of modal categories and sets out to explain contingency through two conceptual frameworks: through S. Kierkegaard’s theory of becoming which is “incommensurable” with any deductive systematics, and through C. S. Peirce’s theory of categories. A matrix is established to correlate modal, categorial, and existential perspectives in order to make clear that different kinds of contingency, namely ontological, ontic, and metaphysical contingency, are dependent on each other. In a specific way Kierkegaard’s early Edifying Discourses are the religious and narrative realization of the very problem of contingency. This is shown by the analysis of five different layers of two of the early discourses: the discourses on care (bekymring) and on salvation (evig salighed). In both cases the experience of life in its tendency towards care and suffering provides (biblical) narrative examples and invites the reader to interpret contingency against the background of its dialectical opposition: the saving God being present in situations of care which are experienced in earnest, i. e. the incommensurable aspect of contingency. Es ist eine komische Sache. Ein merkwürdiger Unterschied: Der zurechnungsfähige Mensch kann immer auch anders, der unzurechnungsfähige nie! Robert Musil 1 *
1
Überarbeitete und auf zwei Reden Kierkegaards erweiterte Fassung eines Vortrags, der unter dem Titel „Die Kontingenz des Inkommensurablen“ zuerst im Rahmen der Forschungskonferenz zum Thema Kontingenz der Theologischen Fakultät der Universität Zürich im Juni 1999 gehalten wurde. – Ich verdanke dem Gespräch mit Michael Theunissen während des Forschungsseminars in Kopenhagen (August 1999) wichtige Anregungen für die Überarbeitung des Textes. Dass der hier entworfene Kontingenzbegriff auch kritisch zu Kierkegaard steht und nicht einfach mit allen Tendenzen in seinen Schriften übereinstimmt, sei ausdrücklich festgehalten. R. Musil Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, Bd. 1, hg. v. A. Frisé, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 265.
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I. Modalitt Dass die Dinge auch anders sein können, als sie jeweils sind, waren oder sein werden, ist inzwischen eine modallogische Schulweisheit. Sie läuft auf eine Trivialisierung des Problems hinaus, wenn nicht hinzugefügt wird, dass die entscheidende Bedeutung solcher Kontingenz im Glück, im Erschrecken oder in der kontrafaktischen Hoffnung derer liegt, die in das Andersseinkönnen der Dinge und Ereignisse tatsächlich verwickelt sind. Das sind aber, genau genommen, alle Menschen; und für die, die dies auch bemerkt haben, wächst das Kontingenzbewusstsein, d. h. das Bewusstsein von Glück, Erschrecken oder Hoffnung. Dass damit nicht nur eine subjektive Stimmungslage beschrieben wird, sondern dass diese Hand in Hand geht mit Wissenschaftsentwicklungen und Weltanschauungsveränderungen objektiver Art, zeigt das naturwissenschaftlich und kosmologisch geprägte Stichwort von der „Zunahme des Kontingenten“.2 Mit anderen Worten: Wir haben uns daran gewöhnt, mehr dem Zufall als den gesetzlichen Notwendigkeiten zuzuschreiben. Was aber bedeutet dies für uns selbst? Und worin genau besteht dann das Kontingente? 1. Gemäß den gängigen modallogischen Perspektiven auf Kontingenz lassen sich vereinfacht drei Gruppen unterscheiden:3 - Ontische Kontingenz liegt dann vor, wenn die Bezugnahme auf Gegenstände – ,de re‘, ,de dicto‘ oder ,epistemisch‘ – deren NichtNotwendigkeit feststellt (Ka Ma { Ma Na). - Ontologische Kontingenz liegt dann vor, wenn über das Was und Wie von Ereigniszusammenhängen (z. B. geschichtlicher Kontingenz) befunden wird. - Metaphysische Kontingenz liegt dann vor, wenn die Wirklichkeit im Ganzen oder der Weltbegriff Gegenstand der Beurteilung sind (z. B. im Problem des Determinismus bzw. des absoluten Zufalls). In allen drei Fällen wird Kontingenz von jeweils vorgegebenen Begriffen des Möglichen, des Wirklichen und des Notwendigen her bestimmt: Was sich kontingent ereignet, muss mindestens mçglich sein (sonst könnte es 2 3
Diese Begriffsbildung geht auf E. Scheibe zurück, vgl. die Belege in H. Poser und H. Deuser: „Kontingenz I./ II.“ in Theologische Realenzyklopdie 19, 1990, S. 544 – 559; hier: S. 553,32f. Auf der Basis der Übersicht von H. Poser, aaO., S. 544f. Die von Poser unterschiedenen ,Bereiche’ der ,Sachverhalte’, der ,Aussage’ und der ,Erkenntnis’ werden unter dem Begriff der ,ontischen Kontingenz’ zusammengefasst.
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gar nicht sein), es muss wirklich sein oder gewesen sein oder sein können, und es kann nicht zugleich notwendig sein (denn logische Notwendigkeit und Andersseinkönnen schließen sich gegenseitig aus). Doch dabei fällt auf, dass die drei modalen Hinsichten nicht gleichmäßig herangezogen werden: Die Möglichkeit ist (logisch gesehen) eine notwendige Bedingung, die Wirklichkeit das Erfahrungsmedium aller Bezugnahmen, die Notwendigkeit soll (logisch wie ontologisch gesehen) ausgeschlossen bleiben – weswegen das Kontingente auch als Negation des Notwendigen formal am knappsten gefasst werden kann. Das bedeutet offensichtlich, dass Kontingenz nicht einfach ein Element oder ein Sonderfall der Modalitäten darstellt, sondern ihnen gegenüber etwas Eigenständiges. Was die modallogischen Bestimmungen herausarbeiten lassen, ist eine eigenartige Zustandsform, die erst über Verhältnisbildungen genauer abgrenzbar wird. Weil es um Andersseinkönnen geht, ist das Kontingente nicht einfach fixierbar, und die modalen Zuordnungen machen das Phänomen selbst, um das es geht, noch nicht wirklich zugänglich. Was als kontingent eingestuft werden muss, geht weder im Möglichsein noch im Wirklichsein auf, und wenn am Kontingenten überhaupt nichts Notwendiges (im Sinne von: Regelhaftes, Verhaltensbestimmendes, Gesetzliches) wäre, sondern der Zufall absolut, würden wir uns kaum darüber verständigen können. Kurz, es macht Sinn, mit S. Kierkegaard von der Erfahrung des Inkommensurablen 4 zu sprechen, dessen, was sein Maß nicht mitbringt und doch seine Einordnung immer wieder verlangt. 2. Das Problem des Inkommensurablen liegt nun nicht nur darin, dass es etwas gibt, das modallogisch schwer zu bestimmen ist. Daran allein wäre nichts Glückhaftes, Erschreckendes oder Hoffnungsvolles. Das Inkommensurable macht darauf aufmerksam, dass in den modalen Hinsichten die Schwierigkeit von Veränderungen in der Zeit versteckt ist bzw. geklärt werden muss. Andersseinkönnen bedeutet, nach dem Werden zu fragen; und so beginnt der §1 des berühmten Kapitels Zwischenspiel in Kierkegaards Philosophischen Brocken mit dem Satz: „Wie verändert sich das, was wird; oder worin besteht die Veränderung des Werdens (jimgsir)?“5 Nun hat die gelehrte Forschung6 inzwischen ge4
5
Das geschieht in markanter Weise in der Kritik am philosophischen Begriff des Allgemeinen im Namen der ästhetisch und religiös gelebten Existenz einzelner Menschen, vgl. in der Schrift Furcht und Zittern (1843), SKS 4, 134,21; 161,1 u.19; 172,17f.; auch in Entweder/Oder, 2 (1843), vgl. SKS 3, 135,32. – Vgl. im vorliegenden Band Kap. A.6. SKS 4, 273,16f.
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zeigt, wie im einzelnen Kierkegaards Terminologie an dieser Stelle in komplizierter Abhängigkeit von Sekundärquellen zu Aristoteles steht, und dass der Gebrauch des Begriffs Bewegung hier zwar traditionelle Anknüpfungen sucht, aber etwas durchaus Eigenes auf diesem Wege zum Ausdruck bringen will. Kierkegaard denkt die menschliche Handlungsfreiheit (im Anschluss an Leibniz’ Theodizee)7 als Verursachung, die nicht mit Gottes Vorsehung in Konflikt steht, sondern analog zu dieser aus dem logisch Möglichen Wirkliches werden lässt. Darin besteht die hier fragliche Bewegung des Werdens. Was möglich war, wird wirklich, hätte aber nicht wirklich werden müssen. Das Andersseinkönnen führt folglich in das Problem des ,Überganges‘ – und damit zu Kierkegaards modallogischer Formulierung der Kontingenz: Aber ein solches Sein, das doch Nicht-Sein ist, das ist ja die Möglichkeit; und ein Sein, das Sein ist, das ist ja das wirkliche Sein oder die Wirklichkeit; und die Veränderung des Werdens ist der Übergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit. […] Alles, was da wird, beweist gerade durch sein Werden, dass es nicht notwendig ist; denn das Einzige, das nicht werden kann, ist das Notwendige, denn das Notwendige ist. 8
Für die Frage nach der Bedeutung des Kontingenten folgt aus dieser Stelle zunächst der scharfe Schnitt zwischen Wesens-Notwendigkeit, die mit dem Werden nichts zu tun haben soll, und dem lebendigen Übergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit als dem eigentlichen Modalproblem von Sein als Dasein. Das Besondere am wirklichen Dasein ist demnach seine Inkommensurabilität, das Nicht-greifbar-Sein des Werdens. 9 3. Bevor weiter nach der Auffassung dieses Werdens, seinen Erfahrungs- und Darstellungsformen gefragt werden muss, ist hier zunächst noch der Begriff einzuführen, der kosmologisch als Wechselwort für Kontingenz dienen kann: der Zufall. Kierkegaard nutzt ihn mit all seiner Sprengwirkung sozusagen als modallogisches Übergangsphänomen. Was uns zu-fllt hat keine Notwendigkeit, aber als Anlass für bestimmte Le6
7 8 9
Vgl. die Problemübersicht bei H. Schulz Eschatologische Identitt. Eine Untersuchung ber das Verhltnis von Vorsehung, Schicksal und Zufall bei Sçren Kierkegaard, Berlin / New York 1994, S. 470ff.; und die Textrekonstruktion von A. Waaler „Aristotle, Leibniz and the Modal Categories in the Interlude of the Fragments“ in Kierkegaard Studies: Yearbook 1998, ed. by N. J. Cappelørn und H. Deuser, Walter de Gruyter, Berlin / New York 1998, S. 276 – 291. Vgl. A. Waaler, aaO., S. 281f. SKS 4, 274,3 – 6 u. 14 – 16. Vgl. zur Stellung dieses Begriffs im ,Zwischenspiel’ der Philosophischen Brocken H. Schulz, aaO., S. 203f. S. Anm. 1 und S. 218.
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benssituationen wird das Zufällige ausschlaggebend, angeeignet und handlungswirksam. Der ästhetisch-interessante Anlass, die situationsbedingte ethische Entscheidung und das religiöse Verhältnis zum zufällig Gewordenen beschreiben lebensnah menschliches Dasein. In diesen Relationen spielt der Zufall faktisch eine Rolle, während ein theoretisches System der Notwendigkeit den Zufall „nicht assimilieren kann“, wie es in der Einleitung zum Begriff Angst heißt.10 Der Zufall, weil inkommensurabel, verweist auf die Wirklichkeit; und diese, nun wieder mit dem Zwischenspiel der Philosophischen Brocken gesagt, geht weder rational aus „Gründen“ hervor noch im ganzen aus Kausalnotwendigkeiten, sondern „freiwirkende Ursachen“ liegen zugrunde. Deshalb gilt: „Alles Werden geschieht durch Freiheit“.11 Was aber ist diese Freiheit? Wie die Kontingenz so muss auch die Freiheit gerade durch ihre Inkommensurabilität ausgezeichnet sein, sonst würden wir dem Phänomen des Werdens nicht gerecht. Summarisch gesagt, mit einer Notiz aus dem Journal Philosophica (1842 – 43): „Jedes individuelle Leben ist inkommensurabel für den Begriff; das höchste kann es deshalb nicht sein, als Philosoph zu leben – Worin geht diese Inkommensurabilität auf ? – in Handlung – Das, worin alle Menschen eins sind, ist Leidenschaft.“12 4. Leidenschaft und Werden können offenbar mit Notwendigkeit nur unsachgemäß zusammengedacht werden, ihr Element ist demgegenüber das faktische Dasein, sofern es in Freiheit aufgrund von Möglichkeiten wirklich wird. Kierkegaard zeigt zudem, dass Gewissheit bzw. Ungewissheit dabei nicht auf der Seite des theoretischen Wissens und der Notwendigkeit zu stehen kommen, sondern eben auf die existentielle Seite des faktischen Daseins und seiner Kontingenz gehören.13 Erst jetzt ist die Frage nach dem Kontingenten auf eine entscheidend neue Ebene geführt, nämlich die, Kontingenz auf sich selbst anwenden zu müssen; anders gesagt: in die Alternative von Gewissheit / Ungewissheit, Vertrauen / Misstrauen, Glaube / Zweifel gestoßen zu werden. Zur Diskussion steht dann nicht nur die ontische Kontingenz, ob dieses oder jenes als kontingent einzustufen sei, sondern die ontologische Kontingenz des Werdens in der Leidenschaft des Übergangs vom Möglichen zum Wirklichen; und diese wiederum ist noch grundsätzlicher Thema der metaphysischen Kontingenz 10 SKS 4, 318,5f. – Vgl. die Übersicht zum Zufallsbegriffs bei H. Schulz, aaO., S. 203 – 244; hier: S. 219. 11 SKS 4, 275,12 und 14. 12 Pap. IV C 96. – Vgl. H. Schulz, aaO., S. 230. 13 Vgl. A. Waaler, aaO., S. 284f.
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in der Selbstanwendung des Zufälligen auf das faktische Dasein meiner selbst. Zweifellos kann diese neue Grundlegung des Kontingenzproblems durch Kierkegaard als Subjektivierung des Zufallsbegriffs14 bezeichnet werden; und weil sich rational und mit Notwendigkeit über die freiwirkende Ursache, die allem letztlich zugrunde liegt, nichts Bestimmtes wissen lässt, kann gelten: Der Mensch als Individuum „ist da als ein Nichts, das der inkommensurablen Ursprünglichkeit der ästhetischen, ethischen oder religiösen Existenz entspringt.“ In dieser Dimension des Sich-zu-sich-Verhaltens erst macht es Sinn, von Kontingenz zu sprechen, die mehr bedeutet als ein modallogischer Befund. Soll diese Subjektivierung aber nicht subjektivistisch missverstanden werden, ist ein kategorialer Bezug notwendig, um die hier gesuchte Theorie des Selbst in ihrem kosmologischen Zusammenhang verstehen zu können.
II. Kategorialitt Kierkegaards Erbauliche Reden antworten in besonders intimer Weise auf die unvermeidliche Selbstanwendung des Kontingenzproblems, auf die Praxissituation des Inkommensurablen. Worin genau bestehen die Schwierigkeiten des Satzes: „Ich selbst bin kontingent“? 1) Der Satz kann wie ein Urteil gelesen werden, das einen einzelnen Gegenstand einer allgemeinen Klasse einordnet. So wie mit dem Satz „Ich bin ein Deutscher“ eine Person sich einer Nation einordnet, so dann auch im Falle der Selbstanwendung der Kontingenz. Der Sinn eines solchen Urteils wäre dann im Rahmen dessen zu verstehen, was ontische Kontingenz genannt wurde. 2) Der Satz kann nicht gelesen werden als Erfahrungsurteil, so wie Sätze nach dem Muster ,Ich bin endlich/ begrenzt/ irrtumsfähig‘ auf bestimmte Erfahrungen zurückgehen und diese summarisch formulieren. Denn kontingent zu sein ist in dieser Weise nicht erfahrbar (wie Modalitäten als solche nicht erfahrbar sind). 3) Es ist offenbar eine Erfahrung zweiter Ordnung, die die Einstufung des Zufälligen oder Notwendigen möglich macht: Logische Schlussformeln haben ihre innere Notwendigkeit, die Reflexion auf Alternativen zeigt die Mçglichkeit des Andersseinkönnens und bringt bezüglich der Wirklichkeit den Zufall als Entscheidungsagenten ins Spiel. Hier gibt es im Rahmen von Natur und Geschichte dann zugleich notwendige und 14 H. Schulz, aaO., S. 205; das folgende Zitat aaO., S. 244.
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zufällige Bedingungen, die wirksam sind, wenn faktisches Dasein sich selbst einstuft und in dieser zweiten Ordnung erfhrt. Diese Erfahrung von Geschichtlichkeit entspricht dem, was bereits als ontologische Kontingenz bezeichnet wurde. 4) Wenn demnach ontologische Kontingenz über faktisches Dasein entscheidet, ist klar, dass diese Erfahrung zweiter Ordnung zwar als Reflexion und bewusste Vergewisserung an zweiter Stelle steht, in der Genese der Ereignisse aber ursprünglicher ist. Wenn zudem der Zufall – trotz aller Unbestimmtheit – für wirkliche Ereignisse konstitutiv ist, und dafür sprechen heute nicht nur die existentiellen Erfahrungen, sondern parallel dazu auch die kosmologischen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts, dann ist die Welt im ganzen und mit ihr ihre menschliche Erfahrbarkeit von solcher Zufälligkeit gezeichnet, und in diesem Sinne ist von metaphysischer Kontingenz zu sprechen. 5) Damit aber wird der Satz „Ich selbst bin kontingent“ mehrdeutig. Nicht nur, dass er im genannten ontischen, ontologischen, metaphysischen Sinn verstanden werden kann, sondern jetzt wird auch die Instanz problematisch, die solches von sich auszusagen vermag. Beispielsweise könnte im Rahmen einer transzendentalen Subjektphilosophie gefragt werden, ob hier nicht ein Widersinn vorliege, weil das transzendentale Ich mit dem empirischen Ich vermischt werde. Oder im Rahmen einer theologischen Kosmologie könnte gefragt werden: Wenn die Welt als ganze kontingent ist, wie könnte eine menschliche Instanz dies überhaupt einstufen? 6) Geradezu widersprüchlich erscheint der Satz, wenn – mit Kierkegaard – das leidenschaftliche Lebensinteresse als anthropologisches Fundament gilt, das dann seine Unbedingtheit nicht im selben Akt aufheben kann. Wer im Ernst glücklich, erfolgreich, konsequent, erfüllt etc. leben will, kann er oder sie wirklich zugleich die Zufälligkeit des Andersseinkönnens auf derselben Ebene konstatieren? 7) Unter der Voraussetzung, dass Kierkegaards Einstufung des Zufälligen als ebenso konstitutiv wie inkommensurabel das Richtige trifft, ist der Satz „Ich selbst bin kontingent“ in höchstem Maße irreführend. Denn er neutralisiert das Selbstinteresse und scheint sich damit selbst zu hintergehen. Zu fragen ist folglich nach den Bedingungen, unter denen dieser Satz humaner Selbsteinstufung nicht nur ein wahrer, sondern ein wirklich verantworteter Satz wäre. 1. Um dies zu erreichen, ist es zunächst unumgänglich, die Gliederungsstruktur der Modalität zu erweitern. Nicht, dass es noch weitere Modalitäten gäbe, sondern deren Sinn ist kategorial näher zu bestimmen.
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Ich wähle dazu die drei Kategorien der Peirceschen Phänomenologie,15 weil ihre Einsatzfähigkeit so allgemein konzipiert ist, dass sie Ästhetik, Ethik und Logik vorausliegt und also existentielle Erfahrungen ebenso wie Urteilsstrukturen zum Ausdruck bringen kann. Grundlegend sind dann die drei Bausteine jeder Relationenbildung, formalisiert gesprochen: ein Erstes, das ganz aus sich selbst heraus und unmittelbar auftritt, ein Zweites, das in wirklicher Bezugnahme zu einem Ersten steht, und ein Drittes, das den Regel- und Interpretationszusammenhang der vorliegenden Relation zum Ausdruck bringt. Diese dreifach strukturierte Perspektive auf Erfahrung lässt sich dann verallgemeinert ausdrücken in den drei Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit. Bezogen auf die eingangs für das Empfinden von Kontingenz genannten Stichworte Glck, Erschrecken, Hoffnung und vermittelt mit den drei diskutierten Modalbegriffen ergibt sich dann die folgende Matrix: Erstheit M
Ontologische Kontingenz
W
empirischer Zufall
N
Regelausnahme (Tychismus)
Zweitheit
Drittheit
Gegenstandswahrnehmung
Reale Möglichkeit
Glck
Naturgesetzliches Verhalten
Erschrecken
Ontische Kontingenz Ereignisfolgen (Kontinuum)
Metaphysische Kontingenz
Hoffnung
Zunächst ist in den diagonalen Feldern, in denen sich die modalen und kategorialen Hinsichten duplizieren (Möglichkeit und Erstheit, Wirklichkeit und Zweitheit, Notwendigkeit und Drittheit) Raum gegeben, die unterschiedlichen Bezugnahmen auf Kontingenz entsprechend anzuordnen: Dass Dinge und Ereignisse (in ihrem spontanen Auftreten) einfach da sind und dass dies jeweils vor jeder Ableitung oder Einordnung als Selbstpräsentation vorausgesetzt werden muss, ist ein Erstes aller Erfahrung und war im Blick auf Kierkegaards Begriff des Werdens als on15 Vgl. zur Begründung H. Deuser „Charles Sanders Peirce. Kategoriale Semiotik und Pragmatismus“ in Philosophen des 19. Jahrhunderts. Eine Einfhrung, hg. v. M. Fleischer und J. Hennigfeld, Darmstadt 1998, S. 220 – 240 (in: H. Deuser Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004 (Religion in Philosophy and Theology 12), Kap. I.1); und auch H. Deuser Kleine Einfhrung in die Systematische Theologie, Stuttgart 1999, § 3.3.
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tologische Kontingenz an dieser fundierenden Stelle präzisiert worden. In der faktischen Relation zwischen Etwas und Etwas Anderem (Zweitheit) tritt die festgestellte Unableitbarkeit des Andersseinkönnens gebunden auf: ontische Kontingenz; und im Rahmen von regelhaften Zusammenhängen geht es schließlich um die Frage, wie das Bestehen solcher Gesamtorientierungen doch als nicht-notwendig gelten kann: metaphysische Kontingenz. Im übrigen zeigen die anderen Felder der Matrix, wie sich das Zufallsproblem spezifischer anordnen lässt: In der ersten Spalte (Erstheit) liegt das spontane Auftreten von etwas an erster Stelle, davon ist aber der Zufall unter empirischen Bedingungen (an zweiter Stelle) zu unterscheiden (z. B. beim Zusammentreffen zweier bis dahin unabhängiger Kausalketten, was zu einem dann doch völlig überraschenden und insofern unableitbaren Ereignis führt). An dritter Stelle (unter dem modallogischen Aspekt der Notwendigkeit) geht es schließlich um die in der Evolution inzwischen unumstrittenen Zufallsagenturen, die produktiv Neues für wiederum weitere regelhaft verknüpfte Zusammenhänge bewirken. Peirce hat in seiner evolutionären Metaphysik diese – für Wachstum und Entwicklung unabdingbaren – Phänomene in der Lehre des Tychismus zusammengefasst. In der zweiten Spalte (Zweitheit) steht an erster Stelle die Gegenständlichkeit, ermöglicht über den Wahrnehmungsvorgang; an zweiter Stelle, wie beschrieben, die ontische Kontingenz; an dritter Stelle das tatsächliche Kontinuum von Ereignisfolgen. Dabei steht hier weder der Aspekt der darin auch enthaltenen Diskontinuitäten im Vordergrund noch die Kontinuität oder der Prozess als solcher. In der dritten Spalte (Drittheit) ist diese Prozessualität aufgebaut über reale Möglichkeiten (Potentialität), das naturgesetzlich bestimmte Verhalten und schließlich das Kontinuum selbst als Thema der metaphysischen Kontingenz. Peirce’ Lehre des Synechsimus steht an derselben Funktionsstelle. 2. Die phänomenologischen Kategorien ermöglichen zudem auch die Zuordnung der drei existentiellen Reaktionsformen von Kontingenz, ohne dass eine in jeder Hinsicht präzise Festlegung erreicht werden könnte. Glck ist jedenfalls dem ersten Auftreten von etwas verwandt, Spontaneität und Unmittelbarkeit sind seine Lebensform auch dann, wenn immer wieder nachträglich Rahmenbedingungen erkannt werden und selbstverständlich auch wirksam waren. Aber der Gefühlszustand selbst bleibt unableitbar. Kierkegaard platziert ihn deshalb in die ästhetische Existenzsphäre; die evolutionäre Metaphysik sieht ihn in der
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Produktivität des Neuen, der Chancen, der Entwicklungssprünge. So gesehen ist mit Glck der Zufall als Glcksfall entdeckt. Er steht vor moralischen Bewertungen, ist eher ein Wert in sich selbst – und in seiner naturalistischen Seite menschlich gesehen nicht verzweckbar. Gegen Glück in diesem Sinne können Menschen sich nicht wehren, es setzt seine Rezeptionsbedingungen selbst, sein Auftreten ist bereits es selbst. Die Nähe zur religiösen Sphäre in Begriffen wie Gnade oder Offenbarung ist unmittelbar deutlich.16 Glück, Schönheit, Gnade werden empfangen, nicht bewertet, jedenfalls nicht in ihrem ersten Auftreten – und darin liegt die ontologische Kontingenz. Menschen können nicht anders, als so (immanent wertend) zu empfinden, und dieser Vorgang steht immer an erster Stelle der produktiven Ermöglichung, ist als Wahrnehmungsinstanz prägend für alles Folgende. In diesem Kontext ist Freiheit als Spontaneität grundgelegt. Erschrecken markiert Spontaneität im Konflikt, im Gegensatz, im Verlust. Die Freiheit wird sich deutlicher dadurch, dass sie da ist im Bezug auf Entscheidungen und deren Zwangssituation. Die ontische Kontingenz macht aus dem Freiheitsgefühl den Respekt vor der Freiheit, vor dem Andersseinkönnen unter konkreten Bedingungen. Vom empirisch platzierten Zufall bis zur Wirksamkeit der Naturgesetze verbinden sich jetzt Zusammenhänge und ihre Unterbrechung. Das Leiden an dieser Welt kann sich deshalb an den Zufälligkeiten entzünden, nimmt an ihnen Anstoß, nimmt sie zum Anlass, menschlichen Lebenswillen dagegen zu aktivieren. Freiheit wird dann leidend als Unbestimmtheit erfahren, und in einem Zeitgeist, für den Kontingenz zunimmt und für alles verantwortlich gemacht werden kann, wird sie zum Menetekel. „Notwendigkeit der Kontingenz“, „Taumel der Kontingenz“ und Schrecken der Freiheit sind Reaktionsweisen auf die Unbestimmtheit des Zufälligen, der wir nicht entkommen und die wir immer realistischer und verallgemeinerter einzuschätzen vermögen.17 Hoffnung kontrafaktisch zu fundieren ist deshalb nötig, weil sie auf das Erschrecken bezogen und nicht wie die Spontaneität des Glücks als ursprüngliche Ermöglichung einfach da ist. Deshalb entwirft die Hoffnung 16 Vgl. zum ursprünglichen Zusammenhang von Schönheit und religiöser Imagination bei R. C. Neville Reconstruction of Thinking, Albany 1981, S. 172. 17 Vgl. diese Stichworte bei J.-F. Lyotard „Memorandum über die Legitimität“ in Postmoderne und Dekonstruktion. Texte franzçsischer Philosophen der Gegenwart, hg. v. P. Engelmann, Stuttgart 1997, S. 57, 60, 72; und dazu auch den Motto-Text von R. Musil, s. o. Anm. 1!
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einen Freiheitsraum, eröffnet die kreativ angelegten Freiheitsmöglichkeiten in Konflikten. Die Kontingenzerfahrung reicht dann von der tychistischen Regelausnahme über das diskontinuierliche Kontinuum der Ereignisse bis zur Weltorientierung. Im Blick auf den kreativen Grund ist die Hoffnung selbstverständlich nicht grundlos, hier liegt die Kraft der Schöpfungstheologie und jeder Metaphysik, die sich trotz empiristischer Objektivierungen den phänomenologischen Zusammenhang nicht haben ausreden lassen. Aber die Hoffnung muss ebenso den Diskontinuitäten wie dem Erschrecken standhalten können. Das ist nur möglich, wenn die Kontingenz nicht das letzte Wort hat, wenn Zufall nicht einfach Zufall, sondern wie das unableitbare Heraustreten aus Hintergründen aufzufassen ist. Das Inkommensurable bezeichnet die Unbestimmtheit als den Produktivfaktor des Bestimmbaren. Das Thema der metaphysischen Kontingenz ist daher bevorzugt ihr Hintergrund, auf dem sie als solche überhaupt erst gefasst werden kann. Keine Welt also ohne Kontingenz – aber Kontingenz auch nicht ohne Welt.
III. Besorgnis und Ewigkeit Modalitäten und Kategorien haben gezeigt, in welcher Weise das Werden sich auffächern lässt, um dem Phänomen des Andersseinkönnens als bergang immer anstehender Verwirklichungen überhaupt gerecht werden zu können. Die theoretische Anordnung über Strukturen ist aber nur ein Weg der Verständigung. Die lebendige Vielfalt der Erfahrungen des Kontingenten ist damit immer nur mit Hinweisen und stellvertretenden Abstraktionen präsent zu halten. Im Bewusstsein dieser Differenz hat Kierkegaard – als Schriftsteller handelnd – auch den zweiten Weg der Verständigung sich selbst und den von ihm gesuchten Leserinnen und Lesern vor Augen geführt, auf dem die Theorie der Kontingenz hinter der Form ihrer lebensweltlichen Präsentation zurücktritt. Gemeinsam mit dem Autor sind die Rezipienten seiner Texte im Werden ihres Daseins befangen, in der Problematik des Satzes „Ich selbst bin kontingent“! Die beiden literarischen Wege, die Kierkegaard dazu eigenständig entwickelt, sind bekanntlich die der pseudonymen Texte vor allem des Frühwerks und der parallel dazu gestellten Erbaulichen Reden.18 Die ers18 Vgl. zur Übersicht H. Deuser Kierkegaard. Die Philosophie des religiçsen Schriftstellers, Darmstadt 1985, Kap. VI; E. Harbsmeier „Das Erbauliche als Kunst des Gesprächs“ in Kierkegaard Studies: Yearbook 1996, ed. by N. J. Cappelørn and H.
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teren präsentieren Theorieprobleme im Blick auf Kontingenz, z. B. im genannten Zwischenspiel der Philosophischen Brocken, und sie liefern damit Abstoßeffekte, Anlässe zur Selbstbesinnung, Kritik abwegiger Theoriebildungen und Modelle zur Selbstverständigung im Werden des eigenen Daseins. Die Erbaulichen Reden demgegenüber versuchen in eigener Gattungsbildung die Kommunikation eines Menschen mit sich selbst zu praktizieren; insofern sind sie nicht primär begrifflich strukturiert, sondern lebensnah praktisch, situationsbezogen, alltäglich, der Kontingenz selbst auf der Spur: dem Inkommensurablen gerade so, wie es sich auswirkt. Wie aber kann das Andersseinkönnen in seiner Unbestimmtheit überhaupt als lebendige Vollzugsform erscheinen? Eben dieser Aufgabe stellen sich die Erbaulichen Reden, und eine der ersten aus dem Jahre 1843 (die dritte Rede der zweiten Sammlung aus diesem Jahr) 19 ist hier zunächst ausgewählt, um die ansonsten nur theoretisch abgehandelte Situation im ,Übergang’ des ,Werdens‘, wie die pseudonymen Texte sagen, unter ihren lebendigen Bedingungen erscheinen zu lassen.20
Deuser, Walter de Gruyter, Berlin / New York 1996, S. 293 – 313; S. K. Bruun „The Concept of ,The Edifying’ in Søren Kierkegaard’s Authorship“ in Kierkegaard Studies: Yearbook 1997, ed. by N. J. Cappelørn and H. Deuser, Walter de Gruyter, Berlin / New York 1996, S. 228 – 252. – Vgl. auch A. Grøn „Angst“ bei Søren Kierkegaard. Eine Einfhrung in sein Denken, übers. v. U. Lincoln, Stuttgart 1999, S. 153 (über ,Sprache’ und ,Kommunikation’ im Kontext von Der Begriff Angst): „die Kommunikation ist Ausdruck für die ‘Kontinuität’, die nicht bloß die Kontinuität des Einzelnen mit sich selbst meint, sondern auch ‘Kontinuität mit dem übrigen Menschenleben’“. 19 SKS 5, 87 – 106: Bekræftelsen i det indvortes Menneske (dt.: Die Strkung im inwendigen Menschen); vgl. SKS K5, 106 – 119. – Vgl. auch die (äußerst problematische) dt. Übers. von E. Hirsch in S. Kierkegaard Die Wiederholung / Drei erbauliche Reden 1843, Düsseldorf / Köln 1967, S. 126 – 148. 20 Dass diese Rede in ihrer Struktur, Thematik und Argumentation exemplarisch für die Reden 1843 – 44 stehen kann, zeigt der Vergleich zu den verschiedenen Reden über Erwartung und Geduld, vgl. dazu die Analysen von N. Nymann Eriksen Kierkegaard’s Category of Repetition. A Reconstruction, Part 1, Chap. 2: „Anna: Patience in Expectancy“, Kierkegaard Studies: Monograph Series 5, Walter de Gruyter, Berlin / New York 2000, S. 39 – 43. Vor allem aber die Rede aus dem Jahr 1844 „Die Erwartung einer ewigen Seligkeit“ (SKS 5, 250 – 268: „Forventningen af en evig Salighed“) führt in vielen Punkten der Sache und Form nach das Thema ,Besorgnis’ weiter und macht deren metaphysischen Horizont noch deutlicher sichtbar (s.u. III.2).
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1. Zur Interpretation der Rede Die Stärkung im inwendigen Menschen (1843) Struktur und Sachgliederung: Die Strkung im inwendigen Menschen (SKS 5, 87 – 106) Gebet (87) EINLEITUNG (87,15 – 91,16) HAUPTTEIL (91,17 – 104,2) I. Exposition (91,17 – 94,28) II. Typologie (94,29 – 104,2) A. Dann soll Gelingen einem solchen Menschen zur inneren Strkung helfen (94,29 – 99,34). 1. Der glckliche Mensch (95,22) 2. Der begnstigte Mensch (97,9) 3. Der mit Widrigkeiten vertraute Mensch (98,17) 4. Der unglckliche Mensch (99,13) B. Dann soll Misslingen einem solchen Menschen zur inneren Strkung helfen (99,35 – 104,2) 5. Der besorgte Mensch (100,8) 6. Der benachteiligte Mensch (101,24) 7. Der versuchte Mensch (103,2) SCHLUSS Koda (104,3 – 106,8) Hymnische Schlusspassage (106,10 – 23)
Eine eigentümliche, narrativ belehrende Schreibgattung ist die Erbauliche Rede schon in ihrer geistes- wie kirchengeschichtlichen Platzierung. Es ist die (lutherisch) pietistische Tradition, die Kultur des sich mit dem eigenen Leben vor Gott auch beobachtenden, reflektierenden, selbstkritischen, sinnsuchenden, religiös gebildeten, literarischen und darin selbst darstellenden Geistes, die zu Kierkegaards Zeit noch in Blüte steht und von ihm auch philosophisch bewusst gegen den politisierend-spekulativen (hegelianischen) Zeitgeist profiliert wird. Dass Erbauliches, wie wir heute gewohnt sind zu verstehen, allein in der trüben Frömmelei des (protestantischen) religiös-unglücklichen Bewusstseins zu Hause sei, das das Licht der aufgeklärten literarischen Welt scheuen müsse – diese Aburteilung hat Kierkegaard erbost wieder umkehren wollen: Die Nähe zum eigenen Selbst ist das Eine, was wirklich not tut. Hier sind Menschen wirklich bei sich selbst, in ihrem Welt- und Gottesverhältnis ausgelegt, und die zugehörige Stimmung, Sprache und Anredeform ist eben nicht die des analysierenden Verstandes, sondern des menschlich nahegehenden,
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sympathetischen Aufbauens. Dass Kierkegaard diese Reden nicht nur auf dem Hintergrund seiner Existenzdialektik der pseudonymen Texte schreibt, sondern umgekehrt deren Begrifflichkeit durch die Reden auch vorbereitet, erfüllt und begleitet sieht, wird der aufmerksamen Lektüre sofort deutlich werden. Die Kontingenzsituation – ohne sie theoretisch eigens zu diskutieren – wird dabei ständig vorausgesetzt und ausgelegt. Um diesem Programm zu entsprechen, braucht es einen besonderen Aufbau des Verstehens, wozu besondere Sprachformen, Szenen, Typen und durchaus auch Begriffe gehören, die wir lesend oder hörend, jedenfalls aufbauend – und in diesem Wortsinn erbaulich – mitgehen können. 1) Die erste Ebene der Rede ist die ihrer religiösen Form. Wo dies heute ungewohnt erscheint, müssen biblische Sprache und Anredeformen historisch gelesen – und entsprechend auch entschlüsselt werden. Die Rahmenbedingungen setzen das Gebet zu Beginn und der hymnische Schluss. Auf dieser liturgisch geübten, biblisch21 tradierten Selbstverständigungsebene von Religiosität wird alles Weitere aufgebaut. Dass dazu heute nicht mehr ohne weiteres ein unmittelbares Leseverhältnis unterstellt werden kann, ist ebenso klar wie die Forderung, dass die verstehen wollende Interpretation dies kalkulieren und ausgleichen muss. Erzählt werden kann nur unter der Voraussetzung von bestimmten kontextuellen wie kommunikativen Selbstverständlichkeiten, und diese inszeniert die Rede ganz bewusst: Biblische Sprache wird literarisch genutzt und als Kontext aufgebaut – und damit die Bedingung für die Auslegung von Lebenssituationen. Titel und Thema dieser Rede gehen demgemäß auf eine bestimmte liturgische Textlesung zurück,22 Kierkegaard greift daraus aber völlig frei Eph 3,16 heraus, und Vers 16b lautet (im 1954 revidierten LutherDeutsch): „stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen“; oder (in der Einheitsübersetzung der Neuen Jerusalemer Bibel): „daß ihr in eurem Innern durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt“. Weil Kierkegaard sich nach der damaligen dänischen Bibel richtet, sind – entsprechend auch im Deutschen – die Worte „Stärkung“ und ,inwendig‘ zu benutzen, obwohl sonst heute der Titel der Rede z. B. 21 Die Textkommentare (vgl. SKS K5, 106ff. bzw. zur Rede von 1844 SKS K5, 254ff.) bestehen dementsprechend ganz überwiegend aus biblischen Zeugnissen, auf die im Text der Rede mehr oder weniger direkt angespielt wird. Dies heute lebendig zu halten, bedarf der historischen Kommentierung! 22 Vgl. die Nachweise zu Eph 3, in SKS K5, 106.
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auch mit „Die Bestätigung im inneren Menschen“ übersetzt werden könnte. Bleiben wir aber beim historischen biblischen Text auch für die deutsche Übersetzung, so ist „Die Stärkung im inwendigen Menschen“ der angemessene deutsche Titel. Damit ist die Ausgangsdualität der Rede gegeben, mit der – nun selbst historisierend – ihr Einleitungsteil23 einsetzt: Die Hauptstadt der alten Welt, Rom, wird zum Inbegriff weltlicher Äußerlichkeiten von Ruhm, gesuchter Ehre und Oberflächlichkeit – und diesem Treiben steht die göttliche Wahrheit24 gegenüber, repräsentiert in dem gefangenen Apostel Paulus. In der Gegenwelt des (weltlich gesehen) bedeutungslosen Gefangenen liegt die Wahrheit beschlossen, die die ganze Welt überwindet.25 Paulus denkt in seinen Briefen durchaus in dieser Dialektik von Offenbarheit und Leiden,26 und Kierkegaard gibt zu verstehen, diese christologische Situation des Unterliegens der Wahrheit, woran der, der dazu Anlass gibt, zusätzlich (weil darum wissend) leiden muss, sei der tiefere Sinn dieses Reden-Themas: ,Besorgnis‘ und ,Anfechtung‘27 – Kernbegriffe im nachfolgenden Hauptteil der Rede – stellen sich deshalb ein, weil Paulus jedes weltlich gesehen positive Zeugnis für die Wahrheit seiner Lehre vermissen lässt, denn er sitzt gefangen.28 Die Maßstäbe kehren sich um, der Apostel hat nichts, und doch besitzt er alles.29 Diese Umkehrung entspricht der gegensätzlichen Wertung von innen und außen: Der weltlich übliche Maßstab beurteilt nach dem äußeren Schein, Gottes Geist bewirkt Stärke im Inneren.30 2) Selbst in theologisch informierten und kirchlich geprägten Kreisen wird man diese Dualität heute kaum noch ohne Kritik einfach übernehmen wollen. Christlicher Quietismus und Ignoranz gegenüber einer sich wandelnden Welt scheinen zu drohen, eine subtile, lebensnahe Analyse scheint schon versperrt, setzte man so ein! 31 Halten wir auch hier 23 24 25 26 27 28 29 30 31
SKS 5, 87,16 – 91,16. SKS 5, 88,7. SKS 5, 88,34. Zur Situation des Paulus im Spiegel der ntl. Texte und heutiger historischer Kritik vgl. SKS K5, 107. SKS 5, 90,21f. SKS 5, 90,14. SKS 5, 89,21. SKS 5, 91,5f. Vgl. zu diesem Muster eines gerade in der Theologie verbreiteten Missverständnisses gänzlich ,unproduktiver Rezeption’ den Hinweis auf E. Troeltsch bei H. Schulz „Die theologische Rezeption Kierkegaards in Deutschland und Dä-
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wiederum (für die historische Interpretation) fest, dass Kierkegaard bewusst auf diese Ebene der christlich-religiösen Selbstverständlichkeit zurückgeht. Worin er sich von ihr kreativ und folgewirksam unterscheidet, soll in der Rede anders markiert werden als einfach im Mitspielen sogenannter moderner Ansichten. Oberflächlichkeiten der Weltanschauung ist am schnellsten mit scharfen Unterscheidungen beizukommen, und je christlich-traditioneller, desto wirksamer – so etwa dürfte Kierkegaards Strategie hier zu beschreiben sein. Und das gilt auch noch für den nun folgenden Schritt, ich möchte dafür von der zweiten, tieferen Ebene sprechen, auf der die Rede operiert: Kierkegaard setzt gegen das (bisher mit dem antiken Rom bebilderte) Getriebe der Welt die nüchterne Plausibilität der Schçpfungsordnung: Dass nicht gesetzloser Zufall herrscht, sondern dass es einen „Zusammenhang in Allem“ gibt32 – und deswegen ist der Zustand der Welt Anlass, „um sich selbst besorgt zu sein“.33 Dass bis in die Formulierungen hinein diese Ordnungsprämisse auf ein damaliges Schullehrbuch34 zurückgeht, von allen folglich geteilt, weil als bekannt vorausgesetzt werden kann, ist neben der biblischen Sprachebene ebenfalls als die zweite Ebene religiöser Selbstverständlichkeit gegenüber Modernismen zu registrieren. Das Wort ,besorgt sein‘ tritt hier zum zweiten Mal auf, wirkt noch unspezifisch, aber genau auf diese Besorgnis läuft nun die Rede zu. Das wird motiviert über die zunehmende Vertiefung des Gegensatzes zwischen dem bloß äußerlichen, weltlichen, ängstigenden ,Augenblick‘35 und der gesuchten ,tieferen Erklärung‘36 des Gottesverhältnisses37 der Schöpfung. 3) Der thematisch-begriffliche Höhepunkt der Rede ist dann erreicht, wenn der seit der Einleitung eröffnete Gegensatz von Weltlichem und Göttlichem produktiv aufgefangen werden kann. Das geschieht explizit im Verhältnisbegriff der Besorgnis, und die kontextbezogene Begründung und Auslegung ist die folgende: Durch jede tiefere Besinnung, die ihn lter macht als den Augenblick und ihn das Ewige ergreifen lässt, vergewissert sich der Mensch dessen, dass er ein wirkliches Verhältnis zu einer Welt hat und dass dieses Verhältnis also kein
32 33 34 35 36 37
nemark. Notizen zu einer historischen Typologie“ in Kierkegaard Studies:Yearbook 1999, S. 235 – 259; S. 239. SKS 5, 91,32. SKS 5, 91,20 u. vgl. den ganzen Absatz SKS 5, 91,18 – 34. Vgl. die Nachweise in SKS K5, 111 (zu SKS 5, 91,23). SKS 5, 92,5. SKS 5, 92,27. SKS 5, 92,35f.
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bloßes Wissen um diese Welt und um sich selbst als einen Teil von ihr sein kann, denn ein solches Wissen ist kein Verhältnis, eben weil er selbst in diesem Wissen gleichgültig gegenüber dieser Welt und diese Welt gleichgültig gegenüber seinem Wissen um sie ist. Erst in dem Augenblick, wenn die Besorgnis in seiner Seele erwacht, was die Welt für ihn und er für die Welt zu bedeuten hat, was all das in ihm, womit er selbst zur Welt gehört, für ihn zu bedeuten hat und er damit für die Welt, erst dann kündigt sich der inwendige Mensch in dieser Besorgnis an. Diese Besorgnis kommt nicht zur Ruhe durch genaueres oder umfassenderes Wissen, sie verlangt eine andere Art von Wissen, ein Wissen, das keinen Augenblick dabei bleibt, Wissen zu sein, sondern sich im Augenblick des Besitzens in eine Handlung verwandelt; denn anders kann man es nicht besitzen.38
Hier von der dritten Ebene der Rede zu sprechen, liegt schon dadurch nahe, dass die beiden Sprachebenen der biblischen wie der religiöskulturellen Selbstverständlichkeiten jetzt gedanklich eingeholt und neu formuliert werden. Das Kontingenzproblem steckt offensichtlich in der Frage des bergangs bzw. des Werdens (wie aus dem Zwischenspiel der Philosophischen Brocken bekannt): Nicht die Vielheit einzelner Ereignispunkte stellt das menschliche Dasein vor die Schwierigkeiten, sich selbst zu verstehen, sondern erst die Verhältnisbestimmung zwischen diesen. Was im Zwischenspiel als modales Übergangsproblem von Möglichkeit zu Wirklichkeit markiert wird, erscheint in der Rede als der zeitliche Übergang zwischen Augenblicken: ,lter‘ zu werden als ein einzelner Augenblick bedeutet, die Zeitlichkeit des Andersseinkönnens verstanden zu haben; und dies wiederum versteht Kierkegaard – ohne hier weiter darauf einzugehen – als das Nicht-Zeitliche, also das Ewige. 39 Die Besorgnis entdeckt auf dem Hintergrund des Ewigen das Zeitliche des Werdens, und sie ist damit lter als der Augenblick. Analog zu dieser zeitlichen Erläuterung der Besorgnis steht die im Feld des Wissens ausgedrückte Gegensatzstellung: Besorgnis ist eine Verhältnisbestimmung, und in ihrem Begriff ist die Selbstbeteiligung impliziert. Die Neutralität eines Wissens ohne diese Selbstbeteiligung ist keine solche Verhältnisbestimmung, die die Kontingenz sachgemäß wahrnehmen könnte. Das gelingt erst der Umformung von Wissen in Handeln – und hier liegt der gesuchte Übergang des Werdens von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, worin das Andersseinkönnen verstanden und doch nicht vermieden werden muss. 38 SKS 5, 93,1 – 14. 39 Mit diesem Gedanken wird dann die Rede über „Die Erwartung einer ewigen Seligkeit“ einsetzen (s.u. III.2), und zwar so, dass im Verständigungsmedium der Besorgnis der (nicht-dualistische) Gegensatz von weltlicher Zeitlichkeit und göttlicher Ewigkeit aufgebaut werden kann.
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Der schon getestete Satz „Ich selbst bin kontingent“, soweit hat die Rede uns belehrt, taugt also nicht, solange er im Medium unbeteiligten Wissens gesprochen wird; im Medium der Besorgnis und des Handelns allerdings trifft er das richtige: So kann im Ernst nur sprechen, wer lter geworden ist als der Augenblick. Dass solche Übergangserfahrungen des Werdens und ihre immer versuchsweise begrifflichen Markierungen zahllos sein können, liegt an der Fülle der Lebenszeugnisse, die bei genauerem Hinsehen zur Verfügung stehen. Diesen stellt sich die Rede, nicht einer festen Systematik. Unsystematisch ist die Rede deshalb keineswegs, sie verfolgt aber nicht jeden ihrer Begriffe – so wie an der eben zitierten gedanklichen Zentralstelle das Ewige und die Handlung zwar genannt, aber im Kontext dieser Rede nicht mehr eigens aufgenommen werden,40 ihr Einsatz aber war deutlich und schwingt nach, wenn nun – noch im Bereich der Exposition des Hauptteils – das Gottesverhältnis näher gefasst werden soll. So wie die Schöpfung Ordnungszusammenhänge vorgibt, so bleibt die Besorgnis beständig gegenüber den wechselnden Augenblicken.41 Die Gegensatzstellung von Gott und Welt, Ewigem und Augenblick, Handlungsernst und bloßem Wissen wird damit überführt in Zustandsbeschreibungen dritter Art. Zwar bleibt bloßes Wissen ,zweideutig‘ und ,trostlos‘42 – und Gottes Geist demgegenüber allein wirksam im „inwendigen Menschen“,43 aber die Besorgnis steht doch im Zwischenfeld, wo das Weltund Gottesverhältnis sich gegenseitig bedingen und als dritte Lebensform Platz greifen müssen: Die Welt ist es, die besorgt macht, aber das wird nur wirksam aus der Perspektive von Schöpfung und Ewigkeit; das Gottesverhältnis umgekehrt macht die weltlichen Verhältnisse nicht eindeutig, denn Gottes Gnade und Zorn44 gilt es in den faktischen weltlichen Verhältnissen auszulegen. Das Feld dieser Auslegungsarbeit aber ist der innere Mensch, und seine Strkung – nach Thema und Titel der Rede – bedeutet, 40 Wie notwendig und sinnvoll handlungstheoretische Interpretationen Kierkegaards sind, hat U. Lincoln in seiner Arbeit über die Taten der Liebe (1847) gezeigt. Die Stelle hier aus der Rede von 1843 nimmt die spätere Konzentration auf die Ethik der Liebe im Begriff der handelnden Besorgnis vorweg! Vgl. U. Lincoln ußerung. Studien zum Handlungsbegriff in Søren Kierkegaards „Die Taten der Liebe“, Kierkegaard Studies: Monograph Series 4, Walter de Gruyter, Berlin / New York 2000. 41 SKS 5, 94,19f. 42 SKS 5, 94,7f. 43 SKS 5, 94,26f. 44 SKS 5, 93,26ff.
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mit dem ängstigenden Andersseinkönnen, dem Inkommensurablen angemessen umzugehen. 4) Die Rede verfolgt hier nur einen Grundgedanken weiter, den der Besorgnis, und nach der Exposition des Hauptteils beginnt dessen Durchführung in einer siebenfachen Sequenz von menschlichen Erfahrungstypen, die nun das innere Leben der Besorgnis weiter erkunden wollen. Das geschieht wiederum an der Oberfläche in einer Gliederung durch zwei gegensätzliche Hinsichten, nach Gelingen und Misslingen. Deutlich ist dabei, dass die typologische Durchführung nun eine vierte Ebene der Rede erreicht, die die Plausibilität der Verhältnisstruktur der Besorgnis bewähren muss (Hauptteil, II. Typologie: A und B). Die Besorgnis ist vielfältig, doch aber auf den ersten Blick ganz anders, ob sie sich gelingendem oder misslingendem Leben zu stellen hat. Auf den zweiten Blick aber wird klar, dass im gesuchten und strategisch vorausgehenden Gottesverhältnis die Besorgnis sich nur immer tiefer in sich als Gottesverhältnis hineindreht, je härter ihre Spannungsverhältnisse werden. Dies Verfahren erinnert an die Stufen der Angst und der Verzweiflung, wie sie Kierkegaard 1844 und 1849 dann herausarbeiten wird. Glckliche Menschen: der Zustand der Unmittelbarkeit wird – wie immer bei Kierkegaard – außerhalb der begrenzten ästhetischen Sphäre nicht zugelassen. Glück ist kein Verhältnis zu sich selbst, weil es nicht um sich weiß.45 Es kann sich nicht erklären, und das widerstreitet der Aktivität der Besorgnis.46 Begnstigte Menschen dagegen haben, sofern sie nach dem Woher und Wozu ihrer Lage fragen, die besser ist als die anderer, die Besorgnis schon in sich.47 Der innere Mensch will dann Verantwortung, Rechenschaft, kurz: das Gottesverhältnis, worin allein die aufgetretene Spannung zur Ruhe, oder besser: zum angemessenen Austrag kommen kann.48 Mit Widrigkeiten vertraute Menschen, darin liegt die Dialektik der Besorgnis, können ihr gerade dann nicht mehr entsprechen, wenn es ihnen nach durchgestandenen Leiden wieder gut geht. Die in schlechten Zeiten gelernte Besorgnis geht verloren, weil das Erreichte auf das eigene Konto von Mut und Durchhaltekonsequenz gebucht wird.49 Die Spannung des Andersseinkönnens, so darf im Anschluss an diesen dritten 45 46 47 48 49
SKS 5, 95,29f. SKS 5, 96,11ff. SKS 5, 97,31ff. SKS 5, 98,1ff. SKS 5, 98,29ff.
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Typus schon gesagt werden, soll in der Kraft eines lutherischen iustus et peccator, eben als Gottesverhältnis durch Besorgnis, aufrechterhalten werden. Unglckliche Menschen könnten auf den ersten Blick am ehesten die Stärkung des Gelingens verstehen, doch seine Bedingung ist ja die Besorgnis;50 und dass diese nicht auf äußerliche Verhältnisse, sondern bleibend auf sich selbst51 gerichtet ist, macht hier erst das wirkliche Gelingen aus: Mit dem Andersseinkönnen, ohne Schaden an sich selbst zu nehmen, fertig zu werden. Besorgte Menschen, dem Misslingen ausgesetzt, haben es noch schwerer, die von innen her stärkende Besorgnis nicht entgleiten zu lassen. Denn Besorgnis erscheint jetzt doppelt: in negativer Wirkung als Selbstqual,52 in positiver Wirkung als wirkliche Hoffnung, die auf die Besorgnis zurückgeht, weil diese fundierend den äußeren Sorgen vorausliegt.53 Benachteiligte Menschen können die negative (äußerliche) Besorgnis so weit treiben, dass sich der gesamte Schöpfungszusammenhang auflöst. Gott verschwindet,54 die Menschen tun nur Böses, es bleiben nur Angst55 und Verzweiflung.56 Die Dialektik der Besorgnis vertieft sich dadurch, dass ihre alles andere fundierende Kraft durch äußere Angriffe letztlich nur weiter verstärkt werden kann. Denn das Gottesverhältnis ist eben aus den äußeren Bedingung nicht hergeleitet, diesen gegenüber immer überlegen.57 Die Besorgnis wird „innerlicher und innerlicher“.58 Versuchte, d. h. in religiösem Sinne angefochtene Menschen schließlich leben in einer Angst, die gar nicht mehr äußerlich verursacht ist, sondern aus ihnen selbst kommt. Weil dort im inneren Menschen ja die Stärkung des Gottesverhältnisses gesucht wird, ist mit diesem Typus die höchste Form von Besorgnis erreicht, die nämlich, dass die innere Stimme keine Antwort mehr zu geben vermag oder dass ,Schweigen und Demut‘ an die SKS 5, 99,31ff. SKS 5, 99,34. SKS 5, 100,31ff. SKS 5, 100,36 – 101,1ff. SKS 5, 101,36f. Vgl. die entsprechend gefährliche wie produktive Funktion der Angst in SKS 5, 255,36 – 256,2: „denn je tiefer der Ernst die Angst vor Trennung erfasst […], desto wahrer ist die Erwartung.“ 56 SKS 5, 102,1 – 5. 57 SKS 5, 102,21ff. 58 SKS 5, 102,28.
50 51 52 53 54 55
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Stelle von klarer Stärkung treten müssen.59 Erst hier steht dem bedrohenden Andersseinkönnen, dem im Ernst gesprochenen Satz „Ich selbst bin kontingent“ die äußerste Antwort zu Gebote: „Gott zu glauben wider den Verstand“.60 Das heißt nichts anderes, als dass nur so das Werden unverfälscht ausgehalten werden kann, ohne dass falsche, übereilte, ungedeckte Antworten gegeben würden. Dass es dabei nicht um Irrationalitäten irgendwelcher Art gehen kann, ist ohnedies klar, weil Wissen mit Besorgnis in Handlungssituationen konfrontiert, allein deren Gewissheit also gesucht war. Solche nicht mehr ableitbare Gewissheit aber nennt Kierkegaard Glaube – im Rahmen eines sich in Besorgnis zeigenden Gottesverhältnisses –, nicht etwa Glck.61 5) Die Rede endet mit einer Koda62 und einer zum Eingangsgebet symmetrischen hymnischen Schlusspassage.63 Die Koda nimmt die Motive und Menschentypen der Besorgnis auf, verwandelt sie aber aus der Perspektive des Gottesverhältnisses: Dieses baut sich nicht etwa aus der Besorgnis her auf, sondern letztere stammt von Gott wie die Gabe von ihrem Geber,64 und dieser Geber gibt dabei „sich selbst mit“.65 Beide Wendungen, dass Gott selbst die Bedingungen zum Verständnis des Gottesverhältnisses mitgibt und dass er selbst dabei Gegenstand wird, erinnern deutlich an die entsprechenden Thesen der Philosophischen Brocken.66 Hier aber geht es nicht um deren ,Denkprojekt‘, sondern um 59 SKS 5, 103,30f. 60 SKS 5, 103,33f. Vgl. entsprechend im Schlussgebet der Ewigkeitsrede, SKS 5, 267,31f. 61 Das ,Gelingen’ des Glaubens wäre also dem (für Kierkegaard) im Ästhetischen liegenden Gegensatz von ,Glück’ und ,Unglück’ weit überlegen. Insofern hat der Glaube (christologisch bzw. soteriologisch motiviert) auch für Kierkegaard im ,Gelingen’ eine schöpfungstheologische Dimension, die nicht vergessen gehen darf. – Zum Gespräch mit M. Theunissen in dieser Sache vgl. in Kierkegaard Studies:Yearbook 1996, S.124f. 62 SKS 5, 104,3 – 106,8. Dass damit der Hauptteil nicht mehr fortgesetzt wird, ist auch deutlich durch die Rückkehr zum apostolischen Beispiel (SKS 5, 104,6), womit die Rede begann. 63 SKS 5, 106,10 – 23. 64 SKS 5, 104,4ff. 65 SKS 5, 104,32. 66 Dass diese erst 1844 erschienen sind, ist kein Einwand. Denn die Rede zeigt an zahlreichen Stellen Motivstränge, die in der Vielfalt und Schnelligkeit von Kierkegaards Texten nicht immer chronologisch sortiert werden müssen und verschiedentlich wieder auftauchen und thematisch werden. Vgl. dann in der Rede von 1844 (s.u. III.2) den entsprechenden Gedanken und seinen Nachweis im Kommentar SKS K5, 267 (zu SKS 5, 263,31).
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das der Rede gemäße Gottesverhältnis im Bild des väterlichen Gottes. Dass dies zuletzt sozusagen von Gott her angesprochen, der Leser nun zweimal als ,mein Zuhörer‘ ausdrücklich angeredet wird,67 unterstreicht auch atmosphärisch die ganz ungezwungene Dramatik zum Ende hin, und es ist deshalb angebracht, hier noch einmal von einer Steigerung bzw. der fnften, tieferen Ebene der Rede zu sprechen. Gott wie ein menschlicher Vater – das hat zunächst die Ausgangserfahrung für sich, wie Kinder das Verlassen und Heimkehren kennen, und doch ist da die Differenz zwischen dem irdischen eigenen Vater und dem himmlischen Schöpfergott.68 Deshalb – am Ende der dazwischenliegenden Sequenz von drei Stufen der Bildauslegung – die explizite Wendung, dass mit Gott die irdischen Väter ihre Bedeutung gewinnen, nicht umgekehrt;69 und die drei Stufen dazwischen zeigen die Dringlichkeit dieser bis dahin immer schon impliziten Voraussetzung: Mit seinem menschlichen Vater zusammen glücklich zu sein bleibt doch auch problematisch, weil Bedenken für die Zukunft und über wirkliches Glück nie auszuschließen sind – genau das, was aus Gottes Sicht nicht der Fall sein kann;70 mit seinem menschlichen Vater zusammen zu weinen geschieht aus der gegenseitigen Unmittelbarkeit, Nähe und Sympathie, die Sache, um die geweint wird aber, tritt dahinter zurück – genau das, was aus Gottes Sicht nicht der Fall sein kann;71 den menschlichen Vater (nun wieder in höchster Potenzierung des Spannungsverhältnisses) selbst schwach und leidend zu finden, so dass der eigene Schmerz noch gesteigert würde, Trost also ausgeschlossen erscheint72 – damit bricht die Vergleichbarkeit um in den Vorrang des Gottesverhältnisses, wie ihn die schon genannten Rahmenpositionen der drei Stufungen einnehmen. Die Rede begründet durch Beispiele, durch nachzuempfindende Lebendigkeit. Das Inkommensurable findet Ruhe nicht, indem es ausgeschaltet oder wegdisputiert oder neutral gewusst wird, sondern nur im Gottesverhältnis der Besorgnis, wobei der Sache nach jenes dieser vorausliegt. Um dies zu zeigen, ist die Rede den umgekehrten Weg gegangen: Über ,Glück‘,
67 68 69 70 71 72
SKS 5, 105,1; 105,29. SKS 5, 105,1 – 7. SKS 5, 105,33. SKS 5, 105,7 – 16. SKS 5, 105,16 – 24. SKS 5, 105,24 – 29.
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,Begünstigung‘, ,Besorgnis‘, ,Kränkung‘, ,Anfechtung‘, ,Gegenwärtiges‘, ,Zukünftiges‘73 zu der gesuchten inneren Stärkung im Gottesverhältnis. 2. Zur Interpretation der Rede Die Erwartung einer ewigen Seligkeit (1844) Struktur und Sachgliederung: Die Erwartung einer ewigen Seligkeit 74 (SKS 5, 250 – 268) EINLEITUNG (250,3 – 256,8) 1. Vom Wünschen zur Besorgnis (250,3 – 256,8) 2. Besorgnisformen gegenüber menschlicher und göttlicher Güte (253,11 – 254,34) 3. Der Ernst der Seligkeit in Erwartung (254,35 – 256,8) HAUPTTEIL A. Sich selbst in der Zeitlichkeit verstehen (256,11 – 260,30) 1. Zeitlichkeit braucht einen externen Maßstab (256,11 – 257,18) 2. Paulus biographisch nahebringen (257,19 – 259,33) 3. Biblische Beispiele zur Trostfunktion ewiger Seligkeit (259,34 – 260,30) B. Versçhnte Einheit der Menschen im Verstndnis des Wesentlichen (260,31 – 267,17) 1. Einheit der Menschen im Leiden (260,31 – 262,21) 2. Gegen rationale Erklärungen: Besorgnis (262,21 – 265,22) 3. Besorgnis ist absolut, Korrektur von Lessings Wahlszene (265,23 – 267,17) SCHLUSS: Gebet Glaube ohne zu verstehen bzw. wider den Verstand (267,18 – 268,2)
Die fünf Ebenen in der inneren Aufbaustruktur, wie sie für die Rede von 1843 gezeigt wurden, lassen sich entsprechend auch in der Rede von 1844 rekonstruieren: 1) Die religiöse Form in Gestalt der durchgängig kontextuell-biblischen Sprache; 2) die Common-Sense-Selbstverständlichkeiten in der Auffassung der Welt sind hier vertreten über die
73 SKS 5, 106,6f. Diese summarische Nennung von sieben Begriffen am Schluss entspricht zum Teil der Siebenersequenz der Typologie im Hauptteil, verkürzt diese aber zugleich und geht mit ,Gegenwärtigkeit’ und ,Zukünftigkeit’ – wiederum Paulus zitierend (vgl. SKS K5, 118; zu 106,7) – über sie hinaus. 74 „Forventningen af en evig Salighed“, s. o. Anm. 20; vgl. auch die Kommentierung in SKS K5, 254 – 271, und die dt. Übers. v. E. Hirsch in Erbauliche Reden 1843/44, Düsseldorf / Köln 1956, S. 163 – 184.
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gebildete Lesekultur zur Phänomenologie des Wünschens;75 3) auf die Kontingenzproblematik antwortet die Thematisierung der Zeitlichkeit (Hauptteil A); 4) die ewige Seligkeit korrespondiert Erfahrungswerten der Besorgnis und antwortet damit auf die Dramatik menschlichen Leidens (Hauptteil B); 5) die Gnade Gottes als Bedingung ewiger Seligkeit bezeichnet die theologische Wendung des Gedankengangs in das religiöse Geheimnis, von dem her die Lebenserfahrungen sich erst erschließen lassen (Hauptteil B und Schluss). Der Sache nach knüpft diese Rede an die Überzeugungskraft der Besorgnis an, diesmal aber mit weitergreifender Intention:76 Die Erfahrungen der Zeitlichkeit (Kontingenz) stehen im Horizont der Ewigkeit, und was dies bedeutet ist auf der Spur von Wünschen, Erwartung und Besorgnis zu entdecken, nicht rational abzuleiten. Insofern ist diese Rede sehr viel stärker als die von 1843 an einem einheitlichen Gedankengang interessiert, dem Nachweis seiner Unersetzbarkeit und seiner Überzeugungskraft. Die folgenden fünf Interpretationsstufen setzen die entsprechenden Ebenen der redentypischen Aufbaustruktur voraus und konzentrieren sich hier auf die Nachzeichnung des tragenden Arguments bezüglich der Erwartung einer ewigen Seligkeit: 1) Zwischen dem Wünschen und seinem höchsten Inhalt, der ewigen Seligkeit, steht der Verdacht ihrer Unbestimmtheit oder Inhaltsleere. In der Gegenstellung von weltlicher „Klugheit“77 in „bürgerlichen Verhältnissen“78 und dem biblischen „Schatz im Himmel“79 steht die Erwartung der Zukunft, die Lebensform der „Besorgnis“.80 Sie allein – als Zustandsbeschreibung oder Platzhalter dessen, was erwartet wird – ist kompetent, über die Erwartung des Kommenden angemessen zu befinden. Die Haltung des Erwartens, beschrieben als Besorgnis, ist das Kriterium für den Inhalt des Erwarteten – wie z. B. die ,Sehnsucht‘, die die/den Geliebte/n über den Tod hinaus nicht fallen lässt.81 Ewigkeit ist nicht zu haben, sondern ihre Präsenz ist geradezu die Besorgnis.82 Darin ist sie aber allem anderen überlegen, so dass im Gegenbild zur üblichen 75 E. Young, Brüder Grimm, G.E. Lessing, vgl. die Nachweise in SKS K5, 254f. und 269f. 76 S.o. Anm. 39. 77 SKS 5, 252,20. 78 SKS 5, 252,1. 79 SKS 5, 252,36f. 80 SKS 5, 252,33. 81 SKS 5, 253,4f. 82 SKS 5, 254.
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Ansicht (das weltlich Bekannte sei sicher, das Jenseitige unsicher) die ,Ewigkeit‘ als ,Erwartung‘ den eigentlichen ,Ernst‘ des Lebens und der Zeitlichkeit ausmacht.83 Wird dieser Horizont fallen gelassen, bleiben Angst oder Selbsttäuschung mit sich allein. Die Einleitung der Rede exponiert ihre These als erste Stufe des Arguments: Die ewige Seligkeit ist da im Modus von Erwartung und Besorgnis. Lebensschicksale und biblische Erfahrungen belegen dies vielfältig. 2) Der Horizont des Ewigen als Erwartung ist, in der Begrifflichkeit der Kontingenzerfahrung ausgedrückt, der notwendige „Maßstab“84 der „Zeitlichkeit“.85 Bevor das temporale Argument als solches fortgesetzt wird, kann seine Überzeugungskraft im apostolische Vorbild gesteigert werden: Die zum Thema der Rede gehörenden Verse aus 2 Kor 4,17f.86 werden hier erinnert und – zunächst v. 17 – zitiert,87 und die biblische Narrativität der Rede tut alles, um die hinter diesen Worten stehende Existenzspannung des Paulus gleichzeitig erscheinen zu lassen. Dann bedeutet Gleichzeitigkeit: aus der Perspektive des Ewigen das Zeitliche auffangen zu können. Der Erfahrungsbegriff verdoppelt sich: Einerseits reicht die weltliche Erfahrung nur zu begrenzten Trostversuchen,88 andererseits ist gerade auch diese Begrenztheit Teil von menschlicher Erfahrung, die ihr Maß eben nicht aus sich selbst bezieht.89 Die zweite Stufe des Arguments (Hauptteil A, 1 u. 2.) bedeutet folglich eine Ausdehnung der Plausibilitätsbasis: Je widerständiger die Lebenserfahrungen sind, desto stärker der Umkehrungseffekt in der Erwartung des Ewigen. 3) In der Dialektik der Erfahrung liegt der Grund für die Größe der Erwartung, sie hat ihre Stärke dort, wo die Erfahrung im weltlichen Sinne scheitert90 und im selben Akt die göttliche Erfahrung sich zur Geltung bringt.91 Das Argument auf dritter Stufe verdichtet sich zur präsentischen Eschatologie: Nach dem himmlischen ,Jenseits‘ zu fragen92 erübrigt sich – 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92
SKS 5, 255. SKS 5, 257,2. SKS 5, 256,12ff. SKS 5, 250,2. SKS 5, 257,19f. 2 Kor 4, 17 (nach der Einheitsübersetzung der Jerusalemer Bibel): „Denn die kleine Last unserer gegenwärtigen Not schafft uns in maßlosem Übermaß ein ewiges Gewicht an Herrlichkeit“. SKS 5, 259,15f. SKS 5, 259,21 – 26. SKS 5, 259,34ff. SKS 5, 260,19ff. SKS 5, 260,25f.
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oder ist eine falsch gestellte Frage – angesichts des gegenwärtigen Trostes, worin Gott die Besorgnis der menschlichen ,Seele‘ mit Vertrauen gewinnender „Innerlichkeit der Freude“ segnend zusammenfügt.93 4) Der zweite Vers der für die Rede zum Thema gehörenden Korintherbriefstelle94 folgt in der deutlich markierten zweiten Hälfte des Hauptteils.95 Die Präsenz des Ewigen im Modus der Erwartung begründet sich demnach in der überlegenen Verschiedenheit des Ewigen gegenüber dem Zeitlichen: Das Ewige ist unsichtbar, das Zeitliche vielfältig, vergänglich, wechselhaft. Das „Verständnis des Wesentlichen“ in der Einheit aller Menschen aber ist gerade das mit dem zeitlichen Wechsel gegebene Leiden, die „gemeinsame Gefahr“,96 kurz: die Kontingenzerfahrung. Ihr gegenüber kann natürlich nichts standhalten, das ihr selbst, also dem Wechselhaften, ausgesetzt bleibt. Das Andere gegenüber dem sichtbar Zeitlichen aber ist das Ewige, und seine Andersartigkeit ist doppelt motiviert: Es unterliegt als Unsichtbares nicht dem Sichtbar-Wechselhaften,97 und es ist einheitlich, weil es dem ,Wesentlichen‘ in der Einheit aller Menschen korrespondiert: dem Leiden an und in der Zeitlichkeit. Die Perspektive des Ewigen in dieser doppelten Weise wirksam werden zu lassen bedeutet – unter der Bedingung der Besorgnis – die versçhnte Einheit jedes Menschen mit sich und allen anderen.98 Was daran gewusst oder beschrieben werden kann, ist aber definitionsgemäß nicht das Unsichtbare als solches, sondern immer nur das menschliche, aus Kontingenzerfahrung motivierte Verhltnis zum Ewigen: die Besorgnis. Sie ist die exklusive Zugangs- oder Wirksamkeitsbedingung für das angemessene Verhältnis zur ewigen Seligkeit.99 93 SKS 5, 260,27 – 30. Vgl. zum schöpfungstheologischen und agendarischen Bezug (Trauung) der hier sprachlich mit-gegenwärtigen biblischen Texte in SKS K5, 265. 94 2 Kor 4, 18. 95 Hauptteil B beginnt durch die in Kursivdruck abgesetzte zweite These (SKS 5, 260,31f.), 2 Kor 4,18 folgt zu Beginn des nächsten Absatzes (nach der Einheitsübersetzung der Jerusalemer Bibel): „uns, die wir nicht auf das Sichtbare starren, sondern nach dem Unsichtbaren ausblicken; denn das Sichtbare ist vergänglich, das Unsichtbare ist ewig.“ Kierkegaard schreibt nach dem dänischen NT (wie auch die Luther-Übersetzung) statt ,vergänglich’ zeitlich, womit das Gegensatzpaar Zeitlichkeit / Ewigkeit auch vom Bibeltext her präsent bleibt. 96 SKS 5, 261,11. 97 SKS 5, 261,2. 98 SKS 5, 262,18 – 21. 99 SKS 5, 263,23ff.
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Damit aber scheint eine Exklusivität von Bedingungen aufgebaut, die der Allgemeinheit dieser menschlich wesentlichen Versöhnung widerspräche. Die Rede nimmt dieses – genuin protestantisch-theologische – Grundproblem im folgenden detailliert auf (Hauptteil B, 2 u. 3): Dem Unsichtbaren, Ewigen gegenüber wäre es verfehlt, Bedingungen in der Weise aufzubauen, die erfüllt werden müssten – denn damit würde die Aufmerksamkeit gerade fälschlich auf die Zeitlichkeit zurückgelenkt, und das Verhltnis zum Ewigen in falscher Auslegung der Besorgnis untergraben.100 Die Argumentation der Rede wird hier – an den Grenzen dessen, was ihr Charakter der lebensweltlich-kommunikativen und sonst immer deutlich narrativen Situationsbestimmtheit zulässt – explizit theologisch: Dass Gott die Bedingung für das Verhältnis zum Ewigen gibt101 ist eine notwendige Implikation der konsequenten Verhältnisbestimmung zwischen Ewigem und Zeitlichem, zwischen Gott und Mensch. Denn wäre die Gnade Gottes nicht absolut und Bedingungen setzend, wäre sie von menschlichen Eintrittsbedingungen abhängig und relativiert.102 Die genannte Exklusivität gilt allein aus göttlicher Perspektive, sie korrespondiert einer menschlichen Inklusivität, die ihresgleichen nicht hat – der Besorgnis als Zeichen der Gnade.103 Exklusive Bedingung Gottes und inklusive Bedingung menschlicher Kontingenz treffen sich im Medium der Besorgnis; doch nicht um dieser selbst willen, sondern um der Ewigkeit willen, die sich als Gottesverhltnis in der Gewissheit des Ewigen bzw. der Ungewissheit der Besorgnis zeigt.104 Die Rede illustriert sofort diesen erreichten Stand des theologischen Arguments in einer kurzen Typologie menschlicher Konfliktverhältnisse, die in der Perspektive des Ewigen neutralisiert erscheinen: Nach erlittenen Bösartigkeiten trotzdem die ewige Seligkeit des Gegners akzeptieren zu können; Ungleichheiten im Lebensverhältnis nicht auf das Gottesverhältnis zu übertragen; Vergebung und Gnade Gottes nicht aufgrund menschlicher Bedingungen zu bestreiten; intellektuelle Differenzen vor Tod und Ewigkeit nicht mehr gelten zu lassen; selbst religiöse Sensibilität nicht mehr als Differenzgefühl zuzulassen.105 Was damit argumentativ erreicht ist, die Ewigkeit als Verhltnisbestimmung nachzu100 SKS 5, 263,32f. 101 Zum kommentierenden Hinweis auf die Philosophischen Brocken (zu SKS 4, 263,31) s. o. Anm. 66. 102 SKS 5, 264,3ff. 103 SKS 5, 264,6ff.; vgl. 266,5ff. 104 SKS 5, 264,25f.; vgl. die Bildauslegung SKS 5, 264,27 – 265,22. 105 SKS 5, 266,9 – 267,9; vgl. zum biblischen Kontext SKS K5, 268f.
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weisen, sie nicht in sich selbst (theoretisch) zu begründen, sondern sie so zu präsentieren, wie sie im Verhältnis wirkt, nämlich als Besorgnis – das alles bündelt sich in der treffsicheren und die Aufklärungsepoche überzeugend korrigierenden Neufassung von Lessings ebenso berühmter wie gegen die Theologie ironisch eingesetzter Gleichnisszene:106 Der aufgeklärte, religionskritische Theoretiker Lessing wählt – von Gott dazu instand gesetzt und gefragt – nicht die ,Wahrheit‘ in der Rechten Gottes (sie bleibt in aller Bescheidenheit und Irrtumsfähigkeit moderner Wissenschaft für Gott allein reserviert!), sondern das Wahrheitsstreben in seiner Linken. Kierkegaards Rede schreibt das Gleichnis um: Gott hält in seiner Rechten ,die Seligkeit‘ und in seiner Linken ,die Besorgnis‘, und im Geist der Rede ist – soweit wieder analog zu Lessing – die Linke zu wählen; doch deren Inhalt und Wirkung ist ja Inhalt und Wirkung der Rechten gleich! Das ist nun eine Wendung, die Lessing gegenüber der theologischen Orthodoxie sich doch nicht zutraute, die Wahl als eine um das Gleiche auszugeben! Die Rede hat demgegenüber den Gedankengang so weit vorangetrieben, dass der notwendige Horizont des Ewigen für das Zeitliche im Kontingenten als dessen Versöhnung präsent ist: im Gottesverhältnis der Besorgnis. 5) Die theologische Wendung in das Gottesverhältnis wird zum Schluss repräsentiert im Gebet: Aus dem Gottesverhältnis wird dessen deduktive Nichtableitbarkeit, getragen von biblischer und hymnischer Sprache der Gebetsform, selbstevident. Der Satz aus der Rede von 1843, „Gott zu glauben wider den Verstand“,107 kann wiederholt und präzisiert werden: Die ,ewige Seligkeit‘ im Verhältnis der Besorgnis kann sich nicht menschlichen Bedingungen, bestimmten ,Taten‘108 verdanken, auch nicht dem ,Grübeln‘ und ergründen wollen109 dessen, wozu eben Gott die Bedingung des Verstehens geben muss. Deshalb verlangt die Verhältnisbestimmung des Ewigen den Glauben „ohne zu verstehen“110 bzw. den Glauben ,wider den Verstand‘.111 Beides will dasselbe sagen und zeigt damit die zugrunde liegende Intention: „Besorgnis und Vertrauen und Freimut“112 ergeben sich weder aufgrund von menschlichen Tätigkeiten noch aufgrund von deduktiven (theoretischen) Demonstrationen, son106 107 108 109 110 111 112
Vgl. den Textnachweis in SKS K5, 269f. (zu 267,9ff.). S.o. Anm. 60. SKS 5, 267,23. SKS 5, 267,28. SKS 5, 267,31. SKS 5, 267,32. SKS 5, 267,36f.
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dern haben ihr Eigenrecht, das allein im Gottesverhältnis präsent werden und zur Wirkung kommen kann. Dies ‘weiß‘ jedes Kind in einem Glauben, der noch vor den Sperren des Verstandes lebt, das entdecken Erwachsene in einem Glauben, der den Sperren des Verstandes ihr Recht und ihre Kompetenz in dieser Sache bestreitet. Grundlegend ist die Kontingenzerfahrung als Besorgnis. In ihr hält sich – entgegen aller zeitlichen Diversifikation – die wesentliche Einheit aller Menschen eben in ihrem kontingent sein. Dies wiederum einzustufen verlangt einen Maßstab außerhalb, der sich allerdings im Modus der Besorgnis schon zeigt: Besorgt zu sein wäre weder notwendig noch denkbar, bliebe die kontingente Vielfalt einfach immer nur das, was sie eben ist. Die damit gesetzte Verhältnisbestimmung aber verdankt sich dann einem Horizont, der nicht in gleicher Weise bestimmt, sondern das ,unsichtbare‘ Ewige des Gottesverhältnisses nur sein kann, das die Zeitlichkeit trägt. Die Tragfähigkeit des Gedankengangs hängt am lesenden oder hörenden Nachvollzug der Narrativität der Rede, damit aber auch am Mitvollziehen ihrer Begründungen, die im Entscheidenden auf ein Lebenselement, nämlich die Besorgnis, angewiesen sind. Insofern gilt: Glaube ohne / wider den Verstand – doch dies ist nicht zu verstehen als Rede ohne Denken oder Theologie oder Gottesargumente. Das Verhältnis zum Ewigen ergibt sich keineswegs aus verkrampfter ‘Wider-den-Verstand-Attitüde‘, sondern aus dem aufrichtigen Charakter der Rede bzw. ihrer Lektüre, sofern es dabei mit menschlichen Bedingungen zugeht, die in Besorgnis ihr Angewiesensein auf das Gottesverhältnis als Versöhnung der Kontingenzerfahrung brauchen und dies auch zeigen können. Diese Verhältnisbestimmung nicht verfügbar machen zu können heißt, die Inkommensurabilität des Kontingenten zu achten. Dann ist die Ewigkeit als göttliche Bedingung und im Horizont metaphysischer Kontingenz – ohne dass menschliche Bedingungen auf derselben Ebene angeführt werden könnten – Kreativität ex nihilo,113 und dies lässt Kontingenzerfahrung und Inkommensurabilität produktiv und zukunftswirksam zusammen bestehen.
113 Vgl. R.C. Neville Eternity and Time’s Flow, Albany 1993, S. 153 – 158, und s. o. II.1.
„Philosophie und Christentum lassen sich doch niemals vereinen“ Kierkegaards theologische Ambivalenzen im Journal AA / BB (1835 – 37)* Abstract The article sets out to investigate Kierkegaard’s early papers (1835 – 37) in order to understand his concept of science and theology. Focusing on Kierkegaard’s notes about Philosophy and Christianity, this article shows that his denial of any non-existential relationship is not based on a refutation of science or rational theology as such. On the contrary. Kierkegaard inquires into possible relations between philosophical understanding and that true existential self-interest that human beings cannot avoid. As a criterion Kierkegaard uses Schleiermacher’s concept of redemption (forløsning) to prove that any scientific understanding of ‘philosophy’ will never be suitable for fully taking into account what the moment of redemption really means in Christianity. On the other hand, Kierkegaard is critical of dogmatic or apologetic forms of theology establishing a false kind of self-confidence. In these early papers, existential theology is practiced by trying to use Romantic literature, the despair of Faust or the difference of negative results in philosophy in contradiction to the very feeling of redemption, the latter being the only trustworthy basis for any philosophical or theological endeavor whatsoever.
Die Texte in Kierkegaards dritter Schreibform – also das, was weder dem pseudonymen Werk noch den Erbaulichen Reden zuzurechnen ist und auch nicht zur Veröffentlichung im Rahmen des vom Autor selbst verantworteten Gesamtwerkes gedacht war –, die sogenannten Tagebcher, heute besser: seine Journale und Aufzeichnungen, haben in ihrer Nachwirkung noch verstärkt das Schicksal großer und zu ihrer Lebenszeit umstrittener Autoren erfahren müssen: Auf anfängliche Ignoranz folgt begeisterte Identifikation, und danach erst ist Zeit für Sachgenauigkeit in ebenso respektvoller wie kritischer Lektüre. H. P. Barfods Umgang mit den Texten war die des Sekretärs, der auf seine Weise genau sein will, aber allzu nüchtern mit den anvertrauten *
Der Text erscheint in veränderter Fassung auch in der Festschrift für KlausMichael Kodalle Die Ausnahme denken, 2003.
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Manuskripten verfährt. Er ist noch so nahe am Geschehen selbst, dass er Editionsentscheidungen mit Zensur verbindet, die verloren gehen lässt, was von anderen nicht mehr gelesen zu werden braucht. Seine Bearbeitung der Journale und Aufzeichnungen geschieht Ende des 19. Jahrhunderts als Verwaltung ohne Gefühl für wirkliche Bewahrung und hat gerade nicht das Ziel, zur begeisterten Lektüre zu inspirieren.1 Für die zweite Rezeptionsphase, die der Identifikation, sind exemplarisch die frühen deutschen Auswahlübersetzungen von Theodor Haecker (1923) und Elisabeth Feuersenger (1947) anzuführen. Haecker präsentiert seine Edition der Tagebcher ohne weitere Umstände als ,Autobiographie‘ Kierkegaards selbst.2 Denn die für Kierkegaard typische Subjektivierung aller Gegenstände lasse eine fremd geschriebene, Distanz voraussetzende, gar wissenschaftliche Biographie überhaupt nicht zu! Gerade die Tagebuchaufzeichnungen werden damit zu heiligen Texten, für die gilt: „Alles, was ein anderer mit Sinn hier tun kann, beschränkt sich schließlich darauf – Zeittafeln zu geben.“ Die Identifikation geht so weit, dass die eigene Arbeit nur das Gerüst sein darf, auf dem das Denkmal zu stehen kommt; und diese Haltung bewährt sich noch einmal im Deutschland der Zeit unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg. Feuersengers Textauswahl von 1947 will ebenfalls keinerlei Eigenbeitrag leisten, sondern die existentielle Authentizität Kierkegaards soll gerade durch „zwanglos[es] aneinanderreihen“ der Texte zur Wirkungen kommen; und wer sich auf dieses Lebenszeugnis Kierkegaards einlässt, „findet den ganzen Sinn seines [sc. des je eigenen] Lebens und Strebens darin.“3 Für die dritte Rezeptionsphase stehen alle bewusst historisch-kritischen Textausgaben, allen voran Søren Kierkegaards Skrifter. ,Heilig‘ ist der Text jetzt in ganz anderem Sinn: Er soll präsentiert und kommentiert werden, wie er ursprünglich einmal war, so dass tendenziell keine In1
2 3
Vgl. J. Garff SAK. Søren Aabye Kierkegaard. En biografi, Kopenhagen 2000, S. 89f.; J. Kondrup und J. Knudsen „Textkritische Richtlinien für Søren Kierkegaards Skrifter (SKS), unter besonderer Berücksichtigung der Journale und Aufzeichnungen“ in Kierkegaard Studies:Yearbook 1997, ed. by N. J. Cappelørn und H. Deuser, Walter de Gruyter, Berlin / New York 1997, S. 336 – 370; hier: 350ff. (vgl. SKS 17, 330ff.); S. Bruun und J. Knudsen „Critical Account of the Journal AA“ in Kierkegaard Studies: Yearbook 2001, ed. by N. J. Cappelørn und H. Deuser, Walter de Gruyter, Berlin / New York 2001, S. 433 – 442; hier: S. 433 – 436. Vgl. hier und im Folgenden Th. Haeckers „Vorwort“ in Kierkegaard. Die Tagebcher. In zwei Bänden. Erster Band 1834 – 1848, Innsbruck 1923, S. VIf. E. Feuersenger „Zum Geleit“ in Sçren Kierkegaard: Tagebcher. Eine Auswahl, hg. v. E. Feuersenger, Wiesbaden 1947, S. 5 – 18; hier: S. 5, 18.
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formation zur Textgestalt fehlt und kein Nichtwissen über die historischen Umstände das nun allerdings neue Verständnis alter Texte stören kann. Eine derart perfekte Edition ist eine Provokation – aber sie gibt uns nicht vor, in welcher Weise neue Leserinnen und Leser sich provozieren lassen müssen. Die drei genannten Stufen oder Typen im Rezeptionsverhältnis sind selbstverständlich jeweils zeitbedingt: Die Präsentation, Bewahrung, Übersetzung, Kommentierung und Interpretation der Texte will sich selbst im Umgang mit Kierkegaards Auffassungen ins Spiel springen, und erst der wachsende Zeitabstand erleichtert Bewertung und angemessene Kritik – ohne die Zeitbedingtheit damit aufheben zu wollen. Doch so wie Barfod mit den Blättern, die er pflichtbewusst tradierte, gerade nicht identifiziert werden kann; so wie die deutschen Übersetzungen der jeweiligen Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts mit ihrem Gegenstand unbedingt identisch sein wollten – gerade so müssen wir uns heute nicht mehr verhalten. Das bedeutet auch, dass ein ästhetisch-biographischer Zugang nicht mehr von einem existentiell-theologischen und dieser nicht mehr von einem kritisch-philosophischen scharf getrennt werden muss. Die Vielfalt des Werkes kann in eigenständigen Perspektiven zugänglich werden, ohne die Werkeinheit leugnen zu müssen. Die jeweils perspektivischen Aneignungen sind kontrollierbar, sofern sie werkgetreu bleiben wollen, und selbst die existentielle Aneignung der Textgehalte schließt geschichtliche Distanzierungen nicht aus. Unter diesen Bedingungen will ich im Folgenden an einem biographisch wie sachlich berühmten Textstück und in seinem historischen wie werkgeschichtlichen Kontext beispielhaft die Frage nach Kierkegaards Verhältnisbestimmung von Philosophie und Christentum so stellen, dass unsere Gegenwart aufgrund seiner Texte wie im Unterschied zu diesen lehrreich zur Geltung kommen kann.
I. Der Kontext der Aufzeichnung ber „Philosophie und Christentum“ In der Mitte seiner Studienzeit, in Spannungen mit der traditionellen Theologie und seinem Elternhaus, dem bevorstehenden Examen ebenso ausgesetzt wie allerhand neuen wissenschaftlichen, literarischen, theologisch-philosophischen Ideen – kurz: in äußerst unsicherer Orientierung um sich selbst erlaubt sich der junge Student aus Kopenhagen eine Reise aufs Land. Im Sommer 1835 besucht er allein Nordseeland, übernachtet in Gasthäusern, raucht Zigarren, will für sein Examen lernen,
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lässt sich im Pferdegespann durchs Land fahren, wandert einsam in der Natur, beschreibt im romantischen Ton geheimnisvoller Suche Landschaft, Volk und Geschichte – und bei allem immer gespiegelt sich selbst.4 Im aller ersten Büchlein mit Kierkegaards Aufzeichnungen aus dieser Zeit finden sich neben diesen literarischen Übungsstücken und Reiseerinnerungen drei größere Texteinheiten: Ein an den Schwager und Naturforscher P.W. Lund in Brasilien adressierter Briefentwurf, der sich zu einer selbständigen Diskussion von Kierkegaards eigenem Verhältnis zu Naturwissenschaft und Theologie auswächst;5 gefolgt von einem darauf sachlich bezogenen Resümee über Selbsterkenntnis, Selbstbestimmung und existentielle Selbstfindung;6 und darauf wiederum folgen thematisch zusammenhängende Textstücke über das kritische Verhältnis von Philosophie und Christentum.7 Herausragend sind die beiden folgenden Sätze: „es gilt, eine Wahrheit zu finden, welche Wahrheit fr mich ist, die Idee zu finden, fr die ich leben und sterben will“. 8 – „Philosophie und Christentum lassen sich doch niemals vereinen“.9 Es geht hier um eine äußerst subjektive Aneignungssituation des Theologiestudenten und werdenden Schriftstellers im harten, kritischen und immer faszinierten Umgang mit dem Christentum; und es geht damit zugleich um eine objektive, wissenschaftliche Bestandsaufnahme und Neuorientierung im Verhältnis von Christentum und Wissenschaft – eine ebenso dringende wie kritische Frage im Anschluss an den deutschen Idealismus, die Theologie Schleiermachers, die europäische Romantik, den politischen Aufbruch in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die analogen und nicht weniger fundamentalen Fragen bestehen für Theologie, Philosophie und Christentum bis heute. Kierkegaards Situationsbeschreibung bleibt deshalb verallgemeinerungsfähig, und dass es sich hier zugleich um sehr persönliche Aufzeichnungen handelt verstärkt nur diese 4 5 6 7 8 9
Zur biographischen Übersicht vgl. J. Garff (s. Anm. 1), S. 45 – 53; N. J. Cappelørn und H. Deuser: „Kierkegaard“ in RGG4 4 (2001), S. 954 – 958. AA:12 in SKS 17, 18 – 23 / DSKE 1, 16 – 23. AA:12 in SKS 17, 23 – 30 / DSKE 1, 23 – 31. AA:13 – 18 in SKS 17, 30 – 36 / DSKE 1, 31 – 39. AA:12 in SKS 17, 24,14ff. / DSKE 1, 24,3ff. AA:13 in SKS 17, 30,28 / DSKE 1, 30,28. Zu den Aufzeichnungen im Journal AA vgl. die Beschreibung von S. Bruun und J. Knudsen, in Kierkegaard Studies:Yearbook 2001, hier: S. 436 – 442; bzw. in: DSKE 1, 311 – 322; zu P.W. Lund vgl. DSKE 1, 337, Sp. 1. – Zum Journal BB, das zu den genannten Texten aus AA ergänzend herangezogen wird, vgl. die Beschreibung in DSKE 1, 383 – 389.
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allgemeine wissenschaftstheoretische Konfliktbeschreibung: Sie insistiert nämlich darauf, dass die ganz und gar eigene Lebensgestaltung und Handlungsorientierung eines Menschen mit der theoretischen Verfassung von Wissen – in demselben Menschen wie in seinem Zeitalter – in einer zu klärenden Zuordnung stehen müssen. Welche Möglichkeiten dieser Zuordnung gibt es? Bevor diese anhand der Aufzeichnung über Philosophie und Christentum durchgespielt werden sollen, zunächst ein genauerer Blick auf Kierkegaards Denkvoraussetzungen im Kontext dieser Stelle. 1. Naturbegriff und Naturwissenschaften Kierkegaards Briefkonzept an den Paläontologen Lund10 nimmt die Stellung des Naturbegriffs zum Anlass wissenschaftstheoretischer Kritik und existentieller Konzentration – und darüber gehen Briefform wie Adressat sehr schnell vergessen. Der fiktive Brief im persönlichen Respekt vor bekannten dänischen Naturforschern11 dient der Diskussion des Problemfeldes Natur, Philosophie und Theologie – und damit der Identifikation des Studenten Kierkegaard mit der Figur des Faust. Die dringliche Handlungsfrage, die Suche nach der Idee, „fr die ich leben und sterben will“, 12 ist zugleich die für das Leben ebenso sympathische wie destruktive Situation Fausts: „Fausts Ertrag an Wissen war ein Nichts, weil es überhaupt nicht diese Frage war, die er beantwortet haben wollte, sondern die Frage danach: was er selbst tun sollte“.13 Der „Zweifel“14 liefert hier das gemeinsame Motiv, zeitgemäß fundiert in einem doppelten Sinn von Natur, den Kierkegaard vor Augen hat: Da ist einerseits der positivistische Sinn der naturwissenschaftlichen Forschungsarbeit, die sich durch „ungeheueren Sammlerfleiß“ und eine „Menge von Einzelheiten“ auszeichnet, deren einheitliche Bedeutung aber damit noch nicht aus10 AA:12 in SKS 17, 18,16ff. / DSKE 1, 16,32ff. 11 Neben P.W. Lund sind dies der Physiker Ørsted und die Botaniker Schouw und Horneman, vgl. AA:12 in SKS 17, 21,5 – 15 / DSKE 1, 20,5 – 16; und DSKE 1, 338, Sp. 2f. zur Stelle. 12 AA:12 in SKS 17, 24,14f. / DSKE 1, 24,3f. – Die Stelle lautet im Zusammenhang (AA:12 in SKS 17, 24,9 – 15 / DSKE 1, 23,33 – 24,5): „Das, was mir eigentlich fehlt, ist, mit mir selbst darüber ins Reine zu kommen, was ich tun soll, nicht darüber, was ich erkennen soll, außer sofern ein Erkennen jedem Handeln vorausgehen muss. Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, dass ich tun soll; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit fr mich ist, die Idee zu finden, fr die ich leben und sterben will.“ 13 BB:49 in SKS 17, 139,27 – 30 / DSKE 1, 151,22 – 25. 14 AA:12 in SKS 17, 19,29 / DSKE 1, 18,17.
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gemacht ist;15 im Gegenteil, es ist die Persönlichkeit der einzelnen Forscher, woran der zweite Sinn des Naturbegriffs erst aufscheint: In der Natur steckt das „Rätsel des Lebens“, dies zu klären wäre die eigentliche Aufgabe, für die Kierkegaard selbst votiert, „das Leben kraft Vernunft und Freiheit“.16 Über diesen zweiten, den naturwissenschaftlich-romantischen Zugang verliert die exakte, positivistische Forschungspraxis ihren Reiz; mehr noch, Kierkegaard wendet Jesu Beispielgeschichte vom reichen Bauern17 auf das Verhältnis von Sammeln und Naturbegriff an; wobei bemerkenswert ist, dass nicht etwa ein christlich-theologischer Sinnbegriff gegen die Forschungspraxis geltend gemacht wird, sondern die ,Wissenschaft‘ selbst es ist, die zu den Forschern und Sammlern sagt: „’Morgen werde ich dein Leben fordern’; sofern sie es ist, die darüber entscheidet, welche Bedeutung jedes einzelne Resultat im Ganzen haben soll“.18 Wir wissen aus Kierkegaards späterem Werk, wie energisch er den positivistischen Naturbegriff im (natur-)wissenschaftlichen Zeitgeist beklagt. Climacus’ Abwehr des objektiven Verhältnisses zu den Dingen als bloßer „Approximation“19 gehört ebenso hierher wie der polemische Satz im Journal von 1846: „Alles Verderben wird schließlich von den Naturwissenschaften kommen.“20 Doch zugleich ist hier Vorsicht geboten, denn im literarischen Werk, in der Sprache und ihren Bildern bleibt der andere Sinn von Natur durchgängig in Kraft, so wie er im frühen Journal noch unverkrampft präsent gehalten ist. Ein ganz und gar ursprüngliches Naturverhältnis der „Ruhe, Harmonie und Freude“,21 wie es Kierkegaard im Charakter der Naturforscher selbst bewundert, findet seine authentische Übertragung im Bild der Pflanze, die die unbewusst gebrochene Unmittelbarkeit in der Existenz des Pagen (im Figaro) nachfühlen lässt: „deswegen haucht es [sc. das Leben], so wie die an 15 16 17 18 19 20 21
AA:12 in SKS 17, 20,25 – 37 / DSKE 1, 19,22 – 36. AA:12 in SKS 17, 21,15ff. / DSKE 1, 20,16ff. Lk 12, 16 – 21. AA:12 in SKS 17, 20,31ff. / DSKE 1, 19,29ff. Vgl. Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift (AUN), I. Teil, Kap. 1. NB:73 in SKS 20, 63 (vgl. LA in GW1 12, 130). AA:12 in SKS 17, 21,3f. / DSKE 1, 20,3f. N. Thulstrup verweist in seiner dänischen Brief-Edition des Textes auf die analoge Stelle in Pap. I A 31, vgl. B&A, Bd. II, S. 25 (zu Bd. I, S. 35,5). – Vgl. zu Kierkegaards eigenen botanischen Aktivitäten AA:8f. in SKS 17, 16f. / DSKE 1, 15f.; zu seiner allegorischen Naturanwendung z. B. AA:12 in SKS 17, 21,20 – 26; S. 25,23f. / DSKE 1, 20,23 – 30; 25,21f.
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einen Punkt gefangene Pflanze, seine Sehnsucht aus, strömt den Duft seines Begehrens aus; aber die Sehnsucht und das Begehren sind nicht so bestimmt, dass es ihn [sc. den Pagen] von der Erde hochreißt um das Gesuchte zu finden“.22 Hier herrscht keine Naturmechanik, sondern das menschliche Dasein erkennt und erahnt sich in der Natur. Exemplarisch für diese Naturpräsenz ist im späteren Werk dann die Allegorie menschlicher Freiheit an einer Stelle der Wiederholung:23 Freiheit erfahrbar im einheitlichen und zugleich von harten Brechungen gezeichneten Brausen des Bergwindes zwischen den Felsklüften; oder die Naturbeschreibung in der Abenddämmerung zur Einleitung des Gesprächs zwischen dem alten Mann und dem Kind am Grab seines Vaters, die die Nachschrift als objektive Erfahrung subjektiver Wahrheit literarisch vergegenwärtigt.24 Fest steht, Kierkegaard braucht das Naturverhältnis im doppelten Sinn: Zum Abstoß gegenüber falscher Objektivierung, aber auch zur bildkräftigen Intensivierung der ursprünglichen Lebensverhältnisse; und der moderne Faust, den die frühen Journale porträtieren, ist wiederum der Inbegriff der gesuchten ,Intuition‘, die auf die ,unendlichen‘ Verfeinerungen der mikro- wie makrokosmischen Maßstäbe in den exakten Wissenschaften und die damit verbundene „Verzweiflung über die Relativität von Allem“ zu antworten imstande ist.25 Bereits im Journal von 1837 ist klar, dass sowohl rein spekulatives wie rein historisches Wissen nur dem abstrakten Sammeln der objektivierenden Wissenschaften entsprechen und der existentiellen Drohung der Relativitt nicht standhalten werden.26 Das Christentum aber ist es, von dem in aller Distanziertheit hier schon gesagt werden kann: Seine ,Idealität‘ ist derart 22 BB:24 in SKS 17, 114,23 – 26 / DSKE 1, 122,35 – 39. 23 SKS 4, 31,5 – 12; D. Glöckner hat in sprachphilosophischem Zusammenhang auf diese Passage aufmerksam gemacht, vgl. in Kierkegaard Studies: Yearbook 2002, ed. by N. J. Cappelørn und H. Deuser, Walter de Gruyter, Berlin / New York 2002, S. 38 (dt. Übers. von H. Rochol): „der Wind, der […] sich verirrt, kopflos zwischen die Felswände in den Klüften stürzte, hinunter in die Berghöhlen, jetzt einen gellenden Schrei hervorbrachte, bei dem er fast selber stutzte, jetzt ein hohles Gebrüll, vor dem er selber floh, jetzt einen Klageton, von dem er selbst nicht wußte, woher er kam, jetzt einen Seufzer aus der Angst des Abgrundes, so tief, daß der Wind selbst bange wurde und er einen Augenblick zweifelte, ob er sich in diesen Gegenden zu wohnen traute […].“ 24 AE in SKS 7, 214f. / AUN in GW1 10, 227. – Vgl. H. Deuser Sçren Kierkegaard, München 1974, S. 106f. 25 BB:49 in SKS 17, 140,1 – 9 / DSKE 1, 151,38 – 152,8. 26 BB:49 in SKS 17, 140,24 – 31 / DSKE 1, 152,27 – 35.
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gesteigert, dass sie auch den „höchsten Grad von Relativität“ noch relativiert, weil sie ihn umfasst.27 Es ist nicht nur eine Verpflichtung gegenüber der christlichen Schöpfungslehre, sondern Treue gegenüber den frühen Aufzeichnungen Kierkegaards, hier festzuhalten, dass er als Schriftsteller jenen anderen, qualitativen, allegorischen Naturbegriff von Beginn an braucht und einsetzt, um einen Ort jenseits des Zweifels und der Verzweiflung überhaupt anzielen zu können. Auch wenn es im späteren Werk an der Oberfläche und aus taktischen Gründen so zu sein scheint – Kierkegaard denkt nicht dualistisch, sondern (mit J. Climacus’ De omnibus dubitandum est gesagt) „trichotomisch, was auch die Sprache zeigt […]. Bewusstsein ist Geist, und das ist das Merkwürdige, dass wenn in der Welt des Geistes Eines geteilt wird, es zu 3 wird, niemals zu 2.“28 Schon für die frühen Aufzeichnungen gilt, dass das Naturverhältnis nicht aus der ,Welt des Geistes‘ entlassen werden darf, auch wenn Kierkegaard die Folgen dieser These für den (naturwissenschaftlichen) Naturbegriff dann nicht mehr eigens diskutieren wird. 2. Theologiebegriff und Christentum Kierkegaard konzipiert seinen Theologiebegriff ganz analog zur Problematik des Naturverhältnisses: Die Inhaltsobjektivität weder der dogmatischen Orthodoxie noch des modernen (aufgeklärten) Rationalismus29 können befriedigen, denn es geht ihm wesentlich um „den Menschen in seinem tiefsten und innerlichsten Verhältnis zu Gott“.30 Hier ist bemerkenswert, dass Kierkegaard eine durchaus subtile Kritik der Aufklärungstheologie vornimmt: Nicht dass sie das Gottesverhältnis (gegenüber der Orthodoxie) neu zu bestimmen suchte wird kritisiert, sondern dass in der rationalistischen Perspektive die spezifische Differenz des Christlichen selbst verschwindet, weil es mit den allgemeinen philosophischen Erklärungspotentialen auf derselben Ebene begründbar erscheint, das ist abzulehnen.31 Kurz: Die wissenschaftstheoretischen 27 BB:50 in SKS 17, 141 / DSKE 1, 153. 28 Pap. IV B 1, S. 147f.; vgl. H. Deuser Kierkegaard. Die Philosophie des religiçsen Schriftstellers, Darmstadt 1985, 143. – Vgl. auch bereits in BB:45 die drittheitliche Struktur, gezeigt am Phänomen der Liebe (SKS 17, 136 / DSKE 1, 148). 29 Zu Orthodoxie und Rationalismus in der dänischen Tradition vgl. DSKE 1, 339, Sp.2 – 340, Sp.1. 30 AA:12 in SKS 17, 22,6 / DSKE 1, 21,13f. 31 AA:12 in SKS 17, 22,10 – 25 / DSKE 1, 21,18 – 36. Vgl. dann auch in AA:16: ,die Rationalisten’ als die ,unehelichen Kinder’ des Christentums (SKS 17, 34 / DSKE 1, 36).
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Ausgangspunkte des Studenten Kierkegaard sind weder eine pauschale Abwehr der Naturwissenschaften (im Gegenteil, er sucht ein begründetes Naturverhältnis) noch eine pauschale Abwehr rationaler Theologie (im Gegenteil, er sucht theologisch haltbare Begründungen), sondern allein entscheidend ist sein Bestehen auf einem markanten, für die persönliche Lebensorientierung ausschlaggebenden Differenzpunkt zwischen wissenschaftlicher Erklärung und unbedingter Nähe zum jeweils eigenen Leben. Genau diese Differenz bestätigt die folgende Selbstbeschreibung: „Das war es, was mir fehlte, um ein vollkommen menschliches Leben zu führen und nicht bloß eines der Erkenntnis“;32 und der weitere Zusammenhang sowie die Randnotizen belegen bereits hier, dass Kierkegaard damit einen fälschlich als ,objektiv‘ eingestuften Erkenntniszugang von dessen eigentlich ,subjektiver‘ Fundierung unterscheidet.33 Aufgrund dieser unüberspringbaren Subjektivität meint Kierkegaard, dass den geltenden Denk-Schemata der Wissenschaften, seien es die Naturwissenschaften oder die Theologie, im Entscheidenden nicht zu trauen ist. Deshalb und exklusiv in diesem Punkt greift er auf das Christentum zurück – und nennt als sein Spezifikum die Erlçsung. 34 Dass es gerade dieser Begriff ist, hat seinen historischen Grund in der dominierenden Stellung Schleiermachers für die theologische Diskussion in Kierkegaards Studentenzeit. Es ist die Erneuerung des Rechtes humaner Religiosität einerseits und damit der spezifisch christlichen Erlösungsfrömmigkeit andererseits, womit Schleiermachers Glaubenslehre (2. Aufl. 1830) gegenüber der Philosophie wie gegenüber theologischer Orthodoxie und theologischem Rationalismus eine kulturgeschichtlich begründete Verteidigung der christlichen Religion auf den Weg gebracht hatte. Kierkegaard hat Schleiermachers hier einschlägige Definition des Christentums aus § 11 der Glaubenslehre (1830) genau gekannt,35 und bezeichnend ist nicht nur die Übernahme dieses Stichwortes ,Erlösung‘ stellvertretend für die christliche Lehre, sondern mehr noch die ebenfalls mit Schlei32 AA:12 in SKS 17, 25,17ff. / DSKE 1, 25,13ff. 33 Vgl. AA:12 in SKS 17, 25,31ff. / DSKE 1, 25,29ff. (im Verweis auf J. G. Fichte); SKS 17, 26,1ff. / DSKE 1, 26,1ff. 34 AA:13 in SKS 17, 30,30 / DSKE 1, 31,30. 35 F. Schleiermacher Der christliche Glaube (Berlin 1830), hg. v. M. Redecker, Berlin 1960, Bd. 1, S. 74 (§11): „Das Christentum ist eine der teleologischen Richtung der Frömmigkeit angehörige monotheistische Glaubensweise, und unterscheidet sich von andern solchen wesentlich dadurch, daß alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung.“ – Zu Kierkegaards Exzerpten aus der Glaubenslehre vgl. DSKE 1, 348 Sp.1f.
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ermacher vertretene nach-rationalistische Verteidigung des kontingenten Faktums der Erlösungsgewissheit: Wenn das religiöse Gefühl, die Frömmigkeit und geschichtliche Formen von Religion kulturgeschichtlich als Basis auch des Christentums gelten, dann kann und muss für das christliche Spezifikum der Erlösung kein Beweis geführt werden, es genügt die ,geschichtliche Betrachtung‘.36 Die Überzeugungskraft dieser Lehre kann dann, so Schleiermacher, im Rahmen dieser Religionsgemeinschaft vorausgesetzt werden. Was bei Schleiermacher als ein Argument der geschichtlichen Deskriptivität erscheint, wird von Kierkegaard zum prinzipiellen Gegenzug gegen alle wissenschaftliche Objektivität aufgebaut; und sogar die Selbstanwendung auf die eigene Existenzfrage, was die „Wahrheit fr mich ist“,37 hat ihre Vorlage bei Schleiermacher, der schreibt: Was über christliche Erlösung gesagt werden könne, werde für einen anderen (nicht-christlichen) Menschen durchaus einsichtig sein, soweit damit das ,Wesen des Christentums‘ beschrieben werde, ,ohne daß dieses selbst dadurch für ihn Wahrheit bekäme‘! Genau in diesem ,für ihn Wahrheit bekäme‘, in der Frage der ,Gewißheit‘ verankert Kierkegaard von da an alles, was er über Christentum und Theologie kritisch oder konstruktiv zu sagen haben wird; und er übertreibt dabei – im Kontext seiner Faust-Analyse – allerdings Schleiermachers Verweis auf die subjektive, nicht demonstrierbare Gewissheit bis in die äußersten Winkel von Zweifel und Verzweiflung.
II. Philosophie und Christentum Der Erlösung korrespondiert der Begriff der Sünde; allgemein gesagt die Tatsache, dass Menschen auf der Basis ihrer natürlichen Gegebenheiten gerade (noch) nicht so sind, wie sie sein sollten oder könnten. Gilt diese Voraussetzung – und bis heute spricht vieles dafür, dass dieser Befund jedenfalls aufgrund allgemeiner Erfahrung wie bei jedem Menschen selbst bestätigt werden kann38 –, dann ließe sich mit Kierkegaards Gegenüberstellung von Philosophie und Christentum durchaus arbeiten. Ganz allgemein gefasst und neutral gegenüber Kierkegaards Texten wird hier unter Philosophie (in der europäischen Tradition des Begriffs) verstanden: das durchgängige Bemühen um rationale Begründungen für Erkennen, 36 Vgl. hier und im Folgenden Schleiermacher Glaubenslehre § 11.5. 37 AA:12 in SKS 17, 24,14 / DSKE 1, 24,3f. 38 Vgl. H. Deuser Kleine Einfhrung in die Systematische Theologie, Stuttgart 1999, § 6.
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Wissen und Handeln; demgegenüber unter Christentum (summarischer Begriff zugleich für christliche Religiosität und Theologie) die ausdrückliche und notwendige Bezugnahme auch auf diejenigen Voraussetzungen zur Lebens- und Handlungsorientierung, die durch rationale Begründungen nicht abzuleiten sind (rationale Begründungszusammenhänge deshalb aber nicht ausschließen müssen): Gefühl, Wille und Glaube. Die Extensionen beider Begriffe führen selbstverständlich zu einer unbegrenzbaren Fülle von Unterscheidungen und Überschneidungen; in der Intension beider Begriffe aber ist eine Reduktion auf drei formal abgrenzbare Zuordnungsmöglichkeiten gegeben, die zur Klärung des Verhältnisses hilfreich sind: Philosophie und Christentum schließen sich entweder prinzipiell gegenseitig aus; oder beide sind in bestimmter Weise miteinander identisch; oder beide überschneiden sich in bestimmten Bereichen, in anderen sind sie zu trennen. Weil der zweite Fall, die Identität beider, unter geschichtlichen Bedingungen so ausfallen kann, dass jeweils die eine der beiden Seiten über die andere bestimmt, können vier mögliche Zuordnungen diskutiert werden39 – und es sind genau diese vier, die Kierkegaard sich in seiner Aufzeichnung über die Unvereinbarkeit von Philosophie und Christentum vornimmt. 1. Philosophie und Christentum schließen sich gegenseitig aus Kierkegaards Absicht scheint auf den ersten Blick diesem ausschließenden Verhältnis zu entsprechen, so dass entweder die Philosophie allein wahr wäre oder das Christentum.40 Das ist dann naheliegend, wenn im Sinne I. 39 Diese scholastisch anmutende Konstruktion ist als solche durchaus in Kierkegaards Fragestellung mitgedacht, vgl. AA:13 in SKS 17, 30,36f. / DSKE 1, 31,35f.: „den scholastischen Satz: ,dass etwas in der Philosophie wahr sein kann, was in der Theologie falsch ist.’“ Vgl. dazu DSKE 1, 347, Sp.2 – 348, Sp.1. – Diese systematische Auseinandersetzung mit der Sachfrage „Philosophie und Christentum“ vermeidet dann bewusst, dass jeweils moderne philosophische Richtungen auf der Basis von Klatschnachrichten benutzt werden, vgl. AA:40 in SKS 17, 50 / DSKE 1, 53; zum historischen Hintergrund, d. h. zum Besuchsprogramm dänischer ( jüngerer) Wissenschaftler in Deutschland als Informationsbasis für Kopenhagen im 19. Jahrhundert vgl. die Rekonstruktionen bei T. Aa. Olesen „Kierkegaards Schelling. Eine historische Einführung“ in Kierkegaard und Schelling, hg. v. J. Hennigfeld und J. Stewart, Kierkegaard Studies: Monograph Series 8, 2002, S. 1 – 102. 40 Die Aufzeichnung AA:13 in SKS 17, 30,28 – 33 / DSKE 1, 31,28 – 33 wird mit den folgenden Sätzen eröffnet: „Philosophie und Christentum lassen sich doch niemals
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Kants (und des durch ihn geprägten deutschen Idealismus) Philosophie als kritisches Denkvermögen innerhalb klarer Grenzen des Vernunftgebrauchs gefasst wird. Eine prinzipielle Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, d. h. die Voraussetzung eines allgemein ontologischen Sündenbegriffs, ist damit unvereinbar, weil so auch das theoretische Vermögen der Menschen betroffen wäre: Nicht einmal die Grenzen der Vernunft wären kritisch von dieser selbst bestimmbar. Dass Kierkegaard diesen Begriff von Philosophie vor Augen hat, zeigt das folgende Argument, das auf einen denkbaren Kompromissvorschlag reagiert: Die Erlösungsbedürftigkeit nur auf die ,moralischen Fähigkeiten‘ (also nicht auf die ,Erkenntnis‘) des Menschen zu beziehen, würde umgekehrt der Geltung christlicher Grundbegriffe für ,den ganzen Menschen‘ widersprechen,41 dieser Ausweg also ist blockiert. Der damit aufgestellte Gegensatz geht im Ton und in den angeführten Beispielen dieser frühen Aufzeichnungen keineswegs einfach zugunsten des Christentums aus, sondern hat einen ausgesprochen christentumskritischen Akzent: Konsequentes Christentum (protestantisch bzw. mit Augustin und gegen Pelagius) 42 wirkt wie eine fixe Idee,43 nämlich die Erlösungsbedürftigkeit als Weltabwendung und Weltüberwindung immer schon im Voraus realisiert zu haben, Einwände und ,Zweifel‘44 demgegenüber auf eine teuflische Instanz zurückführen zu können. Diese Art von Religiosität macht gegenüber erkenntniskritischer Philosophie keine gute Figur, Christentum wirkt wie entmannt,45 wie „eine Radikalkur“, ein „verzweifelnder Sprung“;46 ja, diese Sorte Christentum zu wählen scheint begründet in einer Selbstimmunisierung, durch die die umfassendere geistige Welt und ihre möglichen Zweifel ausgeschlossen sind: Wie eine „chinesische Ratsversammlung“, die sich durch „jene hohe unüberwindliche Mauer“ vor allen Außeneinflüssen der „Barbaren“ geschützt und abgeschottet wissen kann.47 Die Unvereinbarkeits-
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vereinen, denn wenn ich etwas vom Essentiellsten im Christentum festhalten will, nämlich die Erlösung, so muss sie sich, sofern sie wirklich etwas sein soll, natürlich auf den ganzen Menschen erstrecken. Oder sollte ich mir seine moralischen Fähigkeiten mangelhaft und seine Erkenntnis dagegen unbeschädigt vorstellen?“ AA:13 in SKS 17, 30,31ff. / DSKE 1, 31,32ff. AA:14 in SKS 17, 32,35ff.; 33,29 – 40 / DSKE 1, 34,24ff.; 34,27 – 40. AA:14 in SKS 17, 32,5; 33,22 / DSKE 1, 33,17f.; 35,18f. AA:14 in SKS 17, 33,2ff. / DSKE 1, 34,16ff. AA:15 in SKS 17, 34 / DSKE 1, 35. AA:18 in SKS 17, 35,20 – 24 / DSKE 1, 37,15 – 21. AA:18 in SKS 17, 36,24ff. / DSKE 1, 38,28ff.
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these bleibt im Kontext solcher Beschreibungen jedenfalls sehr unbefriedigend und unproduktiv: Das Christentum erscheint zwar respektabel, aber doch einseitig und deshalb problematisch; die philosophische Rationalität zwar argumentationskräftig, aber auch farblos. 2. Das Christentum bestimmt ber die Philosophie Wenn das existentiell akzentuierte „Rätsel des Lebens“48 aber eine theoretisch-philosophische ,Lösung‘ prinzipiell nicht finden kann, dann scheint es so zu sein, dass eine religiöse Lebenseinstellung (hier: die christliche) als Basis für die Bedeutung der philosophischen Arbeit angenommen werden muss. Eine Philosophie in den Grenzen des Christentums wäre die Konsequenz; zugleich aber würde dies für den bisher unterstellten Begriff von Philosophie „ihren totalen Untergang einschließen“49 – und zwar im Blick auf ihre ontologischen oder metaphysischen Leistungen, „als ein Sich-Rechenschaft-Geben über das Verhältnis zwischen Gott und Welt“.50 Dann könnte die Philosophie genau genommen nicht einmal als ein ,Übergang zum Christentum‘ in Anspruch genommen werden, sondern der Vorrang des religiösen Lebenszugangs müsste ontologisch und erkenntnistheoretisch eigenständig ausgewiesen werden. Kierkegaard steht hier schon sachgenau in der Diskussion, wie sie durch Schleiermachers Auszeichnung des Gefhls, aber auch durch Schellings Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie geprägt worden ist:51 „die Philosophie […] müsste not48 AA:13 in SKS 17, 31,5 / DSKE 1, 32,7. 49 AA:13 in SKS 17, 31,8f. / DSKE 1, 32,12. 50 AA:13 in SKS 17, 31,5 / DSKE 1, 32,8f.. Die Textstelle lautet im Zusammenhang: „dass die Philosophie vor oder im Christentum zu dem Resultat kommen sollte, dass man das Rätsel des Lebens nicht lösen könne; denn hier negierte die Philosophie, als ein Sich-Rechenschaft-Geben über das Verhältnis zwischen Gott und Welt, sich selbst […]; dann würde die Philosophie in ihrer höchsten Vollendung ihren totalen Untergang einschließen, […] würde nicht einmal von diesem Standpunkt her gesehen für einen Übergang zum Christentum taugen, denn sie müsste notwendig bei diesem negativen Resultat stehen bleiben, und die ganze Vorstellung vom Erlösungsbedürfnis müsste notwendigerweise von einer ganz anderen Seite in den Menschen kommen, nämlich zuerst gefühlt und dann erkannt werden.“ (AA:13 in SKS 17, 31,3 – 15 / DSKE 1, 32,6 – 20.) 51 In Schleiermachers Glaubenslehre (s. Anm. 35) findet sich diese epochale Entscheidung im § 3: „Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbe-
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wendig bei diesem negativen Resultat stehen bleiben, und die ganze Vorstellung vom Erlösungsbedürfnis müsste notwendigerweise von einer ganz anderen Seite in den Menschen kommen, nämlich zuerst gefühlt und dann erkannt werden“.52 Im Kontext der frühen Aufzeichnungen trägt diese Alternative zur transzendentalphilosophischen Rationalität auch den Titel das Romantische.53 Kierkegaard analysiert damit (im Umfeld romantischer, mythologischer Literatur und Theoriebildungen) eine gefühlsmäßige, ahnende Erstheit von Eindrücken im Welt- und Gottesverhältnis, die anders als so gar nicht abgeleitet werden können. Die Ahnung54 als Kategorie bleibt mit Fleiß ungenau, unkontrollierbar, ist keine ,Konklusion aus gegebenen Prämissen‘; deshalb aber keineswegs als „etwas Krankhaftes und Ungesundes“ auszumustern, sondern im Gegenteil Ausweis für die Notwendigkeit „subjektiver Empfänglichkeit“, die für die menschliche Erfahrung konstitutiv ist.55 In diesem Sinne ist die romantische Ahnung Element des ersten Stadiums menschlicher Existenz – in der Menschheits- wie in der Individualgeschichte –, und die reflektierte, moderne Form des Romantischen, die Kierkegaard in seiner Sicht der Dinge herausarbeitet,56 spricht nicht mehr für einen Sieg der Philosophie über das Christentum, sondern für christlich-religiöse Kategorien, die die Empfänglichkeit für das ,Unendliche‘ nicht ausgrenzen, wie die Philosophie es tut,57 sondern über die Ahnung wiederentdecken und respektieren.
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wußtseins.“ – Zur Schelling-Diskussion (gerade auch im historischen Zusammenhang mit Kierkegaard) vgl. T. Aa. Olesen (s. o. Anm. 39). AA:13 in SKS 17, 31,10 – 15 / DSKE 1, 32,14 – 20. Z. B. in BB:25 in SKS 17, 118 / DSKE 1, 127. Vgl. in AA:23 in SKS 17, 43f. / DSKE 1, 45f. im Anschluss an Des Knaben Wunderhorn (C. Brentano und A. v. Arnim) und eine Novellensammlung von H. Steffens (s. DSKE 1, 365, Sp.1 – 368, Sp.2), vgl. auch BB:1 in SKS 17, 60,28f. / DSKE 1, 64,39f. (im Referat von Molbech): „Man hat deshalb das Romantische die Poesie der Ahnung genannt.“ AA:23 in SKS 17, 43,37 – 44,7 / DSKE 1, 46,3 – 13. BB:25 in SKS 17, 118, 28 / DSKE 1, 127,26. Vgl. in AA:35 kritisch gegen Kant: „Die Philosophen geben gerne mit der einen Hand und nehmen mit der anderen, so z. B. Kant, der uns wohl etwas über die Annäherung der Kategorien an das eigentl. Wahre (mooulema) gelehrt hat, aber indem er sie unendlich machte, nahm er damit alles zurück. Überhaupt spielt der Gebrauch des Wortes unendlich in der Philosophie eine große Rolle. –“ (SKS 17, 48 / DSKE 1, 51.) Oder das nüchterne Fazit in AA:47: „Die Philosophie ist die Trockenamme des Lebens, sie kann uns umsorgen – aber nicht stillen. –“ (SKS 17, 51 / DSKE 1, 55).
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3. Die Philosophie bestimmt ber das Christentum Umgekehrt muss zumindest auch damit gerechnet werden, dass die Philosophie in der Lage wäre, genau das zu begründen, was das Eigentümliche des Christentums ist: das Sünden- bzw. das Erlösungsbewusstsein. Ein Christentum in den Grenzen einer bestimmten Religionsphilosophie wäre die Konsequenz, wenn letztere dieses Grenzproblem sieht und sich zu eigen zu machen suchte: sich „qua Mensch Rechenschaft zu geben über das Verhältnis von Gott und Welt“.58 In diesem Punkt ist Kierkegaard kritisch gegenüber den von ihm als ,rationalistisch‘ eingestuften Vermittlungsversuchen oder Funktionsbestimmungen einer Philosophie oder Theologie, die die christliche Position erklären könnten. Dann kommt es notwendig zur ,Sprachverwirrung‘,59 es würde in der einen Sprache etwas gesagt, was in der anderen etwas ganz Anderes bedeutete und umgekehrt;60 und der Ausdruck „vernünftiges Christentum“ klingt wie ein Widerspruch in sich selbst.61 Trotzdem macht Kierkegaard den Versuch, eine souveräne Zugangsmöglichkeit der Philosophie zum Christentum anzunehmen: Und wenn nun auch die Philosophie auf eine große Menge Menschen aufmerksam würde, die sich von ihrem Bedürfnis nach Erlösung, nach wirklicher Erlösung, für lebhaft überzeugt hielte, so würde sie sich wohl hierauf stürzen können – (obgleich es ihr vielleicht auch schwer fallen würde, weil nämlich das Christentum vor seiner Prüfung ein Sich-darin-Einleben fordert, aber ebenso wohl auch ein Erlösungsbewusstsein, und hielte er es im Moment der Betrachtung fest, würde er seine Philosophie aufgeben, und würde er sich an Letzteres binden, so fehlte ihm das Substrat für seine Reflexion und er könnte dann höchstens auf sie zurückblicken wie auf etwas Vorbeigegangenes, dessen wahre Realität er dann gerade in diesem Augenblick bestreiten müsste, nämlich als Philosoph) – und versuchen die Überzeugung dieser Menschen zu verstehen.62
Der die Philosophie als religiös kompetent ins Spiel bringende Gedanke wird von einer nicht enden wollenden Klammerbemerkung unterbrochen, die in vier Punkten die existentielle Sonderforderung des Christentums als quasi unerfüllbar (aus derselben philosophischen Sicht) wieder 58 AA:13 in SKS 17, 31,31 / DSKE 1, 33,2f. 59 AA:16f. in SKS 17, 34 / DSKE 1, 36. 60 Vgl. entsprechend AA:12 in SKS 17, 22,2 – 25 / DSKE 1, 21,10 – 36 (s. o. Anm. 29 und 31). 61 AA:17 in SKS 17, 34,27 / DSKE 1, 36,22. 62 AA:13 in SKS 17, 31,15 – 27 / DSKE 1, 32,20 – 34.
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dazwischenschiebt:63 Wirkliche Religiosität (hier: das Christentum) verlangt 1) nicht nur eine theoretische Prüfung, sondern ein ,Sich-darinEinleben‘, d. h. den Vollzug der jeweiligen Lebenshaltung von innen her, mit dem Herzen, nicht nur mit dem Verstand. Das aber bedeutet, 2) dass Erlösung nicht nur als Beschreibungskategorie des Christentums fungieren kann, sondern als erlebtes ,Erlösungsbewusstsein‘ erfahren worden sein muss. Wird dies vorausgesetzt kommt es 3) zu einem inneren Widerspruch dieser Haltung insofern, als das Erlösungsbewusstsein in seinem existentiellen Vollzug, im ,Moment der Betrachtung‘, seine philosophische Distanz aufgegeben hätte; bliebe es aber bei dieser Distanz, so verlöre die philosophische Reflexion sofort ihren Gegenstand in seiner genuinen, augenblicksgebundenen Kraft: Das notwendige ,Substrat‘ ihrer ,Reflexion‘, nämlich das Erlösungsbewusstsein, bliebe unerreichbar, etwas nur ,Vorbeigegangenes‘. In der Perspektive der Philosophie zerfällt die ,Realität‘ dessen, was sachgemäß gedacht werden sollte: Erlösung. Schließlich belehrt noch eine Fußnote darüber, 4) dass dieser innere Widerspruch der philosophischen Haltung im Gegenüber zu genuiner religiöser Erfahrung selbst als lebenspraktischer Konflikt gesehen werden muss: „Der Philosoph muss entweder den Optimismus annehmen – oder verzweifeln“.64 Mit anderen Worten: Die (rationale) philosophische Lebenshaltung kann das Erlösungsbewusstsein, d. h. den inneren Sinn der christlichen Religiosität, aus Gründen der Reflexionsdistanz nicht mit vollziehen; dann aber bleibt in der Sache nur die hilfreiche Unterstellung, dass Menschen im ontologischen Sinn nicht Sünder, also nicht erlösungsbedürftig sind – somit ein optimistisches Weltbild; andernfalls (bei einem vorauszusetzenden Faktum der Sünde bzw. der Notwendigkeit von Erlösung) müsste die philosophische Lebenshaltung an ihrer Unfähigkeit, jene Erlösung philosophisch wirklich zu erreichen, verzweifeln. Die Aussichten für einen bestimmenden Vorrang der Philosophie gegenüber dem Christentum sind unter diesem Verständnis von Philosophie also ausgesprochen schlecht. Bei aller spürbaren Distanz zu gängigen theologischen (nicht-philosophischen) Problemlösungen, Kierkegaards Aufzeichnung über Philosophie und Christentum gibt auch keine Apologie der philosophischen Rationalität, sondern verdächtigt diese eines inneren, unaufhebbaren Selbstwiderspruchs im Verhältnis zur Konkretion des humanen Selbstverhältnisses, wie es extrem und exem63 AA:13 in SKS 17, 31,18 – 26 / DSKE 1, 32,24 – 32. 64 AA:13 in SKS 17, 31,40 / DSKE 1, 32,38f.
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plarisch am christlichen Erlösungsbewusstsein durchgespielt werden kann. 4. Philosophie ist eigentlich christliche Philosophie, bzw. es gibt ein philosophisches Christentum ,Christliche Philosophie‘ versteht Kierkegaard selbst zunächst als historische Realisierung von Philosophie auf der Basis des Christentums, sozusagen ,nach‘ dem Christentum, d. h. als ,christliche Erkenntnis‘,65 in der es zu einem ausschließenden Gegensatz zwischen Rationalität und Erlösungsbewusstsein gar nicht kommen kann. Anders sieht die Überschneidung dann aus, wenn sich die Philosophie von sich aus der „Notwendigkeit der Erlösung“66 so zu stellen versuchte, dass sie zumindest „die Erkenntnis des Menschen aufgrund der Sünde als mangelhaft“ einstuft67 und damit den Menschen als „eingeschränktes Wesen“.68 An dieser Nahtstelle in der Gedankenführung der gesamten Aufzeichnung spricht Kierkegaard sehr bezeichnend von einem „alles verschlingende[n] Abgrund“.69 Liegt dies daran, dass entgegen der Ausgangsthese nun doch eine Übereinkunft zwischen Philosophie und Christentum möglich zu sein scheint? Kierkegaards autobiographische Leitfrage, die eigene Lebens- und Handlungsorientierung an eine Wahrheit zu binden, „welche Wahrheit fr mich ist“,70 d. h. das, was „mit der tiefsten Wurzel meiner Existenz AA:13 in SKS 17, 30,34 – 31,2 / DSKE 1, 31,34 – 32,4. AA:13 in SKS 17, 31,27f. / DSKE 1, 32,34f. AA:13 in SKS 17, 31,29f. / DSKE 1, 32,36f. AA:13 in SKS 17, 31,33 / DSKE 1, 33,4f. AA:13 in SKS 17, 31,28 / DSKE 1, 32,35f. Die Stelle lautet im Zusammenhang (AA:13 in SKS 17, 31,28 – 39 / DSKE 1, 32,35 – 33,12).: „Überhaupt, hier liegt der alles verschlingende Abgrund: das Christentum statuiert die Erkenntnis des Menschen aufgrund der Sünde als mangelhaft, was im Christentum richtiggestellt wird; der Philosoph hingegen versucht sich qua Mensch Rechenschaft zu geben über das Verhältnis von Gott und der Welt; das Resultat mag deshalb durchaus als eingeschränkt bestätigt werden, insofern der Mensch ein eingeschränktes Wesen ist, aber gleichzeitig ist es das Größtmögliche für den Menschen qua Mensch. Der Philosoph kann in der Tat zur Vorstellung von der Sünde der Menschen kommen, aber daraus folgt nicht, dass er erkennt, dass es den Menschen nach Erlösung drängt, am allerwenigsten nach einer Erlösung, die – korrespondierend mit der allgemeinen Sündigkeit der Schöpfung – auf Gott übertragen werden muss, wohl aber nach einer relativen Erlösung“. 70 AA:12 in SKS 17, 24,14 / DSKE 1, 24,3f.
65 66 67 68 69
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zusammenhängt“,71 kommt hier offenbar zu keiner eindeutigen Antwort. Bis zuletzt wird ein doppelter Zugang versucht, philosophisch und christlich, sogar soweit, dass das Überschneidungsfeld beider Orientierungen immer größer, ihr gegenseitiger Kontakt immer enger wird. Jedenfalls wäre eine philosophische Einstufung des Menschen in Erkennen und Handeln als „eingeschränktes Wesen“ einer christlichen Philosophie sehr nahe – und das nicht nur aus geistesgeschichtlichen, sondern aus rein systematischen Gründen des zugrundeliegenden Philosophie- wie Theologiebegriffs. Doch auch diese Annäherung bleibt ambivalent, weil jetzt noch einmal das Denken der „Notwendigkeit der Erlösung“72 – denn diese hat ja augustinisch-reformatorisch konsequent Gottes Handeln zur Voraussetzung – von einer human-wissenschaftlich möglichen „Vorstellung von der Sünde der Menschen“73 unterschieden wird; und letztere könnte in menschlicher Perspektive allenfalls als „relativ[e] Erlösung“ konzipiert werden und wäre damit nichts Anderes als Selbsterlösung.74 Bedeutet dies aber einen Unterschied ums Ganze, eine notwendige Trennung zwischen Philosophie und Christentum, wie der eröffnende Satz dieser Aufzeichnung zu behaupten schien? Was zuvor schon als existentieller Augenblick des Erlösungsbewusstseins von der immer nachträglichen Reflexionsdistanz unterschieden wurde, wird zum Schluss der Aufzeichnung modifiziert in der Unterscheidung von Sünde und Erlösung: nur letztere ist so unmittelbar erlebt, dass hier jede rationale Begründung destruktiv, unsachlich, inkompetent wirken müsste. Gleichzeitig bleibt aber genau diese Abgrenzung eine rational erkennbare Grenzziehung; die Philosophie wird gerade an diesem Punkt nicht verboten, der doppelte Zugang zum selben Phänomen wird ja in der gesamten Aufzeichnung durchgängig praktiziert – ist diese Ambivalenz eben der „alles verschlingende Abgrund“? 75
71 72 73 74 75
AA:12 in SKS 17, 26,3 / DSKE 1, 26,2f. AA:13 in SKS 17, 31,27f. / DSKE 1, 32,34. AA:13 in SKS 17, 31,35 / DSKE 1, 33,7. AA:13 in SKS 17, 31,38f. / DSKE 1, 33,12. AA:13 in SKS 17, 31,28 / DSKE 1, 32,35f.
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III. Konklusion Lsst sich Erlçsung denken? – so könnten alle vier Möglichkeiten der Zuordnung von Philosophie und Christentum überschrieben werden, die Kierkegaard erprobt hat. Dass er im Kontext dieser Überlegungen das Christentum durchaus nicht einfach in Schutz nimmt und ihm bekannte dogmatische Antworten verdächtig vorkommen, lässt sich am Text leicht nachweisen. Der Wechsel von der philosophischen Rationalität zum Christentum erscheint in dieser christentumskritischen Perspektive eben als „verzweifelnder Sprung“, keineswegs als Triumph des Glaubens, denn „im Christentum“ kommt uns eine „seltsam stickige Luft“ entgegen.76 Doch dieser Distanz zum Christentum steht ebenfalls kein Triumph philosophischer Rationalität, sondern der fundamentale Verdacht gegenüber, die Philosophie müsse den Kern des Selbstverhältnisses eines Menschen verfehlen. So sehr Kierkegaard die Philosophien prüft, er traut ihnen nicht; epigrammatisch gesagt: „Die Philosophie streift bei jedem Schritt, den sie tut, eine Haut von sich ab und da kriechen die törichteren Anhänger hinein“.77 Während also die Lebensorientierung des überlieferten Christentums vorsichtig auf Distanz gehalten wird, dominiert im Hintergrund doch immer eine christliche Basisverständigung, die sich dann allerdings jenseits der schwierigen und nicht gelingen wollenden Zuordnung von Philosophie und Christentum neu begründen müsste. Dass schon das Journal BB zwei ernsthafte und theologisch gründlich konzipierte Predigtentwürfe enthält, die wesentliche Motive des späteren Werkes vorwegnehmen,78 spricht ebenfalls dafür, dass eine wirkliche Absage an das Christentum für Kierkegaard nicht zur Debatte stand. Konsequentes Christentum überragt selbst die gefährlichen Ideen des modernen, romantischen Faust.79 Was Kierkegaard jenseits der Unvereinbarkeit von Philosophie und Christentum sucht ist eine Lebenshaltung, die seiner existentiellen Ra76 AA:18 in SKS 17, 35,24 – 26 / DSKE 1, 37,21f. 77 BB:36 in SKS 17, 122 / DSKE 1, 132. 78 Vgl. BB:26 in SKS 17, 119 / DSKE 1, 128f. und BB:38 in SKS 17, 133 / DSKE 1, 143; auch das sehr persönlich gefasste Gebet in AA:53 in SKS 17, 53 / DSKE 1, 57! – Vor allem BB:26 zeigt bereits die hermeneutische Differenz zwischen historischem Textzugang und der theologisch allein ausschlaggebenden Gleichzeitigkeit des Glaubens, wie sie dann in den Philosophischen Brocken ausgearbeitet werden wird. 79 BB:50 in SKS 17, 141 / DSKE 1, 153. S.o. Abschnitt I.1.
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dikalität entspräche, so wie er sie in den literarischen Modellen von Faust und Don Juan experimentiert sieht. Wären diese Lebenshaltungen auch zu denken, so gälte dies auch für das im Christentum vorausgesetzte Erlösungsbewusstsein. Diese gesuchte Philosophie, die dem Christentum dann entsprechen könnte, wäre aber eine, die Denken strukturell so auf Erfahrung beziehen müsste, dass letztere dadurch nicht verkannt oder deformiert werden würde. Ambivalent bleiben die frühen Aufzeichnungen genau in dieser Frage, ob dies überhaupt möglich sein könnte: so zu leben, wie auch gedacht werden müsste; oder so zu denken, wie auch gelebt werden müsste. Dass auch dieses Problem als solches zu denken ist und formuliert werden kann, zeigt zuletzt noch einmal den „alles verschlingende[n] Abgrund“: Denn wenn Erlösung sich nicht denken lässt, dieses Problem aber als solches gedacht wird, so ist die aufgestellte Differenz von Leben und Denken entweder eine Rätselfigur ad infinitum, oder die Differenz müsste so gefasst werden können, dass sie wohl als perspektivische Unterscheidung, nicht aber als unheilbarer Gegensatz erschiene. Anders gesagt: Kierkegaards theologische Ambivalenzen in den frühen Aufzeichnungen geben strukturelle Problemanzeigen des Gesamtwerks, zumal diese, ob Kierkegaard im Namen der Existenzerfahrung des einzelnen Menschen eine nominalistische Wissenschaftsauffassung verfolgt, oder ob er im Rahmen einer zumindest denkbaren christlichen Philosophie den Gottesgedanken und damit die menschliche Existenz realistisch konzipiert.80 Letztere Auffassung rechnet mit der universalen Gegebenheit und Verallgemeinerungsfähigkeit auch der Erfahrungen, die als strikt innermenschliche Einzelerfahrungen auftreten. Kierkegaards frühe Antwort auf diese Frage steckt in dem rätselhaftschönen Satz: „Gott ist die Wirklichkeit des Möglichen“! 81 Eine vorläufige Auslegung dieses Satzes – im Blick auf die theologischen Ambivalenzen der Frage: Lsst sich Erlçsung denken? – könnte lauten: Philosophisch gesehen denkt Kierkegaard nominalistisch, d. h. er sieht zuletzt keine adäquate Möglichkeit des rationalen Zugangs zur existentiellen, d. h. religiös spezifischen Einzelerfahrung; theologisch gesehen denkt Kierkegaard jedenfalls tendenziell realistisch, d. h. Gott ist nicht nur bloß 80 Zum Problem des Gegensatzes von Nominalismus und Realismus vgl. H. Deuser „Variationen über Nominalismus“ in Leben und Kirche. FS W. Härle, hg. v. U. Andrée u. a., Marburg 2001, S. 139 – 153 (in: H. Deuser Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004 (Religion in Philosophy and Theology 12), Kap. I.3). 81 AA:22 in SKS 17, 41,21 / DSKE 1, 43,24.
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möglich, sondern die Möglichkeiten Gottes sind wirklich – im Sinne von real. Doch zurück zum Studenten Kierkegaard in den Jahren 1835 – 37. Er kann sich bei aller Qual der Selbstprüfung und allem Ernst der Theorieprobleme in das ironische Epigramm zurücknehmen: „Es kommt mir vor, als hätte ich vom Becher der Weisheit nicht getrunken, sondern wäre in ihn hineingefallen“.82
82 AA:12 in SKS 17, 26,27 – 27,1 / DSKE 1, 27,5 – 7.
Kierkegaard and Luther: Kierkegaard’s One Thesis Translated by Gesche Linde
Perspectives O Luther! And yet in one sense a fortunate situation – at that time there were ninety-five theses and a controversy over doctrine – now there is but one thesis: that Christianity does not exist at all.1
This polemic exclamation was uttered by Kierkegaard in 1853, two years before his death, when he was occupied with outlining a radical critique of established Christendom.2 Kierkegaard published his critique, timed well and attacking church as well as culture, in various newspaper articles and treatises. Luther was cited by him for several reasons: 1. Denmark had been Lutheran for centuries, to an extent that to be born Danish meant to be born Lutheran. Especially in his later years,3 Kierkegaard took offence at this quasi-causal connection, because in his eyes the individual’s relationship to God, which is entirely subjective, is not to be made dependent on geopolitical circumstances, the latter being objective facts. So Luther’s authority was invoked by Kierkegaard against the Lutheran state church (Folkekirken) and against the historical development of Danish protestantism. 2. Although Kierkegaard never studied Luther in detail, he in later years showed a growing interest in Luther’s theology. As late as Decem-
1 2
3
Pap. X 6 B 232, p. 377 / JP 6:6842, p. 481. Cf. Kierkegaard’s newspaper article “A Thesis – Just One Single One,” dated January 26, 1855, published March 28, 1855, in SKS 14, 169 / KW XXIII, 39f.: “O Luther, you had 95 theses – terrible! And yet, in a deeper sense, the more theses, the less terrible. The matter is far more terrible – there is only one thesis.” Kierkegaard’s late writings are dealt with at length in my Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Sptwerk Kierkegaards, München 1980, esp. pp. 129 – 231.
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ber 1847 he even started reading Luther’s sermons continuously:4 and for the sake of theological controversy. For by then Kierkegaard sharply distinguished his own idea of a Christianity of religious and ethical seriousness, based on existential appropriation and on the imitation of Christ, from Luther’s concept of grace, a concept he considered more and more a bourgeois deformity and even a means of deception in the hands of established Christendom. So Kierkegaard vehemently attacked the article of justification by faith alone, as well as its subsequent interpretations under the conditions of modernity. 3. Kierkegaard’s critique of culture did not lack a wistful undertone – as he was well aware that the huge theological battles of the sixteenth century had become obsolete. The dogmatic systems of Protestant tradition stood unquestioned then and were considered true and valid. However, Kierkegaard sensed that the real conflicts of his time were of an ethical or political nature, because what he observed was that a still predominantly Christian society was making individual spirituality more and more dispensable. These tendencies of degeneration he kept emphasizing in order to support his ‘one thesis’ (as opposed to Luther’s ninety-five), saying that in the industrial era Christianity had ceased to exist, and what was left was a pure struggle for power. This was the religious and ethical problem Kierkegaard drew attention to in his writings and also by his conduct toward the end of his life. 4. If Kierkegaard’s ‘one thesis’ applied, we would have to assume that there was no truly Christian church in the nineteenth century or later on, and the then-existing forms of Christianity would have to be judged fallacies or, at best, mere museums of bygone artefacts. Kierkegaard’s harsh criticism, though, must be viewed as a reaction to the deep crisis into which historical criticism had thrown contemporary theology. His concept of simultaneity (samtidighed), modelled after Luther’s idea of faith in justification by God, includes the concepts of personal decision, of existential intensity, and of the demands of present situation without 4
Kierkegaard’s knowledge and reading of Luther’s works (sermons, edifying discourses, editions) is explained in detail by Niels Jørgen Cappelørn, Gert Posselt, and Bent Rohde in Tekstspejle. Om Søren Kierkegaard som bogtilrettelægger, boggiver og bogsamler, Esbjerg 2002, pp. 133 – 138. See in addition Henning Schröer “Kierkegaard and Luther” in Kerygma und Dogma 30 (1984), pp. 227 – 248; and for a systematic comparison cf. Deuser Dialektische Theologie, pp. 245 – 195. – Kierkegaard’s criticism of Luther’s theology is found almost entirely in his Journals and Papers, cf. N. J. Cappelørn’s Index to the Danish edition of Søren Kierkegaards Papirer vol. XV, Copenhagen 1976, pp. 203 – 211.
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having built in any mediating elements. It thereby contrasts the quasiobjectiveness and self-distance to which modern theology is committed. So Kierkegaard leads us to the question of how to develop a concept of church that allows for the institutional character church in fact undoubtedly has but also admits the immediacy required by faith. These are the four perspectives on the relation between Kierkegaard and Luther I deal with here. Essentially, not only critical comments are to be found in Kierkegaard, but also respectful, approving, and even enthusiastic ones on the man Luther and his theology. The fact that in his later years Kierkegaard’s negative remarks tend to prevail is not a sign of an anti-Lutheran position. Kierkegaard was seeking for his own point of view, and indeed this point of view presupposed Lutheran traditions of theology and spirituality, although Kierkegaard modified them heavily because the philosophical, political, and social conditions of modernity had shaken contemporary theology to the core. So Kierkegaard’s one thesis may help to analyze the alterations fundamental theological problems have undergone from Reformation to modernity, but itself must also be made subject to criticism.
Christendom versus Christianity, Culture versus Existential Relation to God The distance of time between Luther and Kierkegaard is evident even when Kierkegaard directly made selections from Luther’s theology. For example, Johannes Climacus (Kierkegaard’s pseudonymous author of the Concluding Unscientific Postscript, 1846), to back up his argument against infant Baptism, fell back on Luther’s concept of the sacraments in which Luther made faith the crucial element for the transmission of sacramental grace. In Kierkegaard’s language, existential appropriation and inwardness stand against false objectivity. Here Kierkegaard added the term ‘objective’ to the original quotation from The Babylonian Captivity of the Church, which only talks about “virtutibus ipsis sacramentorum” (the virtues of the sacraments).5 Kierkegaard did so because he intended to take into account the distinction between an objective world of things that can be scientifically described and the subjective reflection upon that world, with faith belonging to the latter sphere. An5
Cf. AE in SKS 7, 333 / CUP1 in KW XII,1, 366; cf. Luther De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium in WA, 6: 571.
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alogically, and in a truly modern way, Kierkegaard distinguished between a relationship to God based on an externalization of God’s grace – the outcome of which he calls ‘Christendom’ – and a relationship to God consisting of a special relationship to one’s very own self – ‘Christianity.’ So, according to Johannes Climacus, it is easier to become a Christian when one is not a Christian than it is when one is already born into Christendom. The latter case applies to sociohistorical developments especially in Europe, the former to the process of individual appropriation, which has to happen always anew, since nobody is born a Christian even if one is born a member of Christian society.6 Kierkegaard’s accusation was that the automatic connection between birth and Baptism as practiced by the state church in Denmark prevented any real confrontation with the paradox of God-within-time. In attacking the church, Kierkegaard used the distinction between Christendom and Christianity for his ‘one thesis’ that within Christendom Christianity has vanished, so that at that time the expansion of Christendom could no longer be wished for. Only by strengthening the category of the single individual could this unfortunate situation be corrected.7 Without a doubt Kierkegaard’s critique of an anonymous collective in favor of the single individual and his or her responsibility has kept its significance until today. Personality develops through individual learning processes and through the formation of sociality. This has to be remembered, especially as the categories of individuality and personality are more and more retreating as late modernity goes on. Kierkegaard not only anticipated these developments but also fought against them through his very own conduct of life. However, because the Christian culture he battled was a firm fact to him, he failed to reflect on the conditions of Christian culture’s continuing existence. Whereas the Reformation intentionally transformed culture, Kierkegaard merely tried to utter warnings, regarding himself not as a Reformer but as a Christian Socrates undercover, a historical ‘detective talent.’8 Considering this, we need not construe an artificial contradiction between Protestant Christianity and Kierkegaard’s critique of culture. On the contrary, unlike Kierkegaard we today have to emphasize the existential relationship 6 7 8
See AE in SKS 7, 334 / CUP1 in KW XII,1, 367, with explicit reference to PS in SKS 4, 292f. / PF in KW VII, 95f. See Kierkegaard’s newspaper article “Salt,” dated February 1855, published March 30, 1855, in SKS 14, 173 / KW XXIII, 42 (esp. n.). “A Thesis – Just One Single One” in SKS 14, 169 / KW XXIII, 40.
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to God as culturally significant, maybe even as a condition of culture.9 Personal faith is not identical with the social functions of Christianity and cannot be reduced to them, just as the single individual is to be distinguished from the collective. Keeping up this difference is prerequisite for maintaining the idea of responsible individuality and for securing its social influence.
Justification, Faith, and Works Like Lutheran tradition, Kierkegaard subscribed to the doctrines of sin, of justification, of scripture, and of Christ being man and God. If Kierkegaard criticized the person Luther as well as Luther’s concept of sola gratia, he did so because he wanted to see the process of becoming a Christian more emphasized than the status of being one. His anthropological analysis of anxiety and his phenomenology of despair do not deal with sin and faith in terms of abstract dogmatics but in terms of existential conflicts that have to be lived through. Kierkegaard never proclaimed a break with Luther’s thesis of the enslaved will;10 on the contrary, his dialectic of a freedom that becomes concrete only through anxiety and despair presupposes the Protestant belief in the sinner’s justification by God, which cannot be chosen but is given. Still, Kierkegaard transformed Luther’s doctrine of grace by two arguments that were a reaction to nineteenth-century’s postidealism. First, he categorically distinguishes religious faith from the integration of faith into systematic reflection (against idealistic philosophy). Second, he locates the indissoluble connection between faith and works in the very core of human existence and its self-interpretation through conflict (against Schleiermacher’s foundation of religion on feeling). Turning to Luther and his famous preface11 to the first volume of his Latin writings of 1545, in which he describes his discovery of God’s justice through faith according to Romans 1:17, we find that what Luther 9 Volker Gerhardt “Die Religion der Individualität” in Philosophisches Jahrbuch 109 (2002), pp. 1 – 16. 10 Cf. Deuser Dialektische Theologie, pp. 254ff.; Walter Dietz “Servum arbitrium. Zur Konzeption der Willensfreiheit bei Luther, Schopenhauer und Kierkegaard” in NZSTh 42 (2000), pp. 181 – 194. 11 See Luther WA 54: 179 – 187; cf. Wilfried Härle “Luthers reformatorische Entdeckung – damals und heute” in ZThK 99 (2002), pp. 278 – 295.
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calls iustitia passiva (passive justice) 12 has a twofold meaning: God does not define himself by actively implementing his justice against human beings. God thus becomes the gracious God. At the same time, human beings gain God’s justice passively by faith alone and without performing acts in advance. Luther puts this kind of relationship between God and humankind in opposition to justification by works and thus deals with it in a soteriological context. Due to the situation of modernity, however, Kierkegaard was not primarily interested in soteriological controversies. Rather, he suspected Christianity of having insidiously obtained, due to the romantic-esthetic or the idealistic-philosophical zeitgeist, either a wrong immediacy or a quasi-objectivity, both being contradictory to the very essence of Christian faith. Faith, according to Kierkegaard, necessarily includes works. Only a faith separated from works can be made a problem of reflection or be reduced to a mere state of feeling. But Christian faith is a paradoxical faith, and as a relationship to God-within-time it is neither immediate feeling nor can it claim epistemological objectivity. Faith is never safe, always simultaneous with the paradoxical experience of God-within-time, always interwoven with conflict, always dependent on being released from wrong decisions. This is why Kierkegaard emphasizes the element of action, of existential situations, and this is why he comments that Luther’s life was “better than his preaching.”13 Despite his sarcastic criticisms of Luther and his demand for imitation of Christ and martyrdom, we will have to conclude that Kierkegaard’s philosophy is a nineteenth-century descendant of Lutheran theology, interpreting the polarity of law and gospel in ethical terms. Kierkegaard’s talk of ‘grace in the first place’ and ‘grace in the second place’ is no denial of justification solely by God, but an action-oriented refor-
12 See Härle, ibid., pp. 284 – 287; cf. Hermann Deuser Kleine Einfhrung in die Systematische Theologie, Stuttgart 1999, pp. 127ff. 13 See NB14:88 in SKS 22, 396 / JP 3:2509, p. 78: “Luther acted rightly, but his preaching is not always clear or in agreement with his life – a rare occurrence – his life is better than his preaching!” – Cf. ibid., p. 395 / p. 77: “Was it not of his own free will that he exposed himself to certain danger by opposing the Pope? It certainly was not the Pope who attacked Luther; it was Luther who attacked the Pope.” See Deuser Dialektische Theologie, pp. 258 – 267, for more references in this respect.
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mulation of the Lutheran faith.14 Whereas the concept of prevenient grace, ‘grace in the first place,’ can be misused as an excuse for idleness or quietism, ‘grace in the second place’ encourages action, and this latter kind of grace has nothing to do with justification by works but means an ‘inward deepening’ of true Christianity.15
Christianity and the Ethics of Modernity Kierkegaard intended his dogmatic critique to contradict the traditional concept of grace, which had become anachronistic because at his time the priority of grace over works was no longer understood as what it had originally been – a polemic denial of justification by works. Indeed, Kierkegaard made ethical decision-forming the entrance to Christian life. His Either/Or resists romantic-esthetic immediacy as well as speculative dialectics, both of which dissolved Christian faith rather than saving it. While speculative dialectics does not relate to concrete self-experience, aesthetic immediacy denies the ultimate seriousness of existential situations. Kierkegaard’s ethics, on the other hand, summons to deal responsibly with conflict, whether successfully or not, for conflict situations ultimately reveal human being’s relationship to God. The concept of modernity which I introduced here to characterize Kierkegaard’s position within history of philosophy, becomes clearer when brought within the scope of Kierkegaard’s ethics. As soon as Kant replaced faith in God by the autonomous insight into moral law through practical reason, faith lost its philosophical dignity, because it could no longer claim ultimate theoretical justification. This became the mark of European modernity. Kierkegaard, however, presupposing modernity already, suspended faith from any such dependence on ultimate justifications altogether. This is the reason why Jürgen Habermas calls Kierkegaard “the first modern ethicist.”16 Kierkegaard, as an author of late modernity17 – or, as Habermas puts it, as a postmetaphysical18 au14 Cf. NB25:22 in SKS 24, 451f. / JP 3:2559; for further discussion of Kierkegaard’s late treatment of the Lutheran doctrine of law and grace see Deuser Dialektische Theologie, pp. 267ff. 15 Cf. Pap. X 6, B 261, p. 433; Deuser Dialektische Theologie, p. 208. 16 Jürgen Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2001, p. 107 (n. 65) and pp. 17ff. 17 For a more detailed exploration of this concept see Robert C. Neville Religion in Late Modernity, Albany 2002, pp. 144 – 150.
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thor – elaborates on the unconditionedness of the ethical situation and on the pressure to form decisions without any ontological securities.19 We should keep this concept of late modernity in mind when considering whether Kierkegaard’s description of existential challenge seems plausible or not, and whether his theology establishes a metaphysical relation between thinking and existing. Indeed, Kierkegaard brings metaphysics in by his concept of repetition, which results from the transformation of the concept of recollection under the conditions of late modernity by existential philosophy.20 He uses Repetition as well as the ethical concept of Either/Or to describe his own experience as an instrument for criticism of church and society.21 Repetition makes continuities possible. They are essential for the process of becoming one’s self, or becoming a Christian, even if situations and therefore concrete ethics vary. In this sense, Christianity and modern ethics are mutually related. Kierkegaard transfers Luther’s doctrine of justification by faith into this very context22 by appealing to the human can as to an ought. Can and ought are realized through works of love;23 they need processes of learning; they open up freedom though may also lead to enslavement; but always they are interpretations of the individual’s relationship to God.24 This is the basic fact the ethics of our late modernity today seems to rediscover. In human experience, success is joined to failure, hubris to self-accusation, autonomy to dependence; and ultimately 18 Cf. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur, pp. 17f. 19 Cf. ibid., p. 26. 20 See Kierkegaard’s early unpublished fragment “Johannes Climacus or De omnibus dubitandum est” in Pap. IV B 1, pp. 149f. / JC in KW 7, 171, and Repetition in SKS 4, 25 / KW VI, 149; cf. on both texts Dorothea Glöckner Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheitsverstndnis in Kierkegaard Studies: Monograph Series 3, Berlin / New York 1998, chap. 3. 21 Cf. Pap. X 6 B 236. 22 This is of main importance for Luther’s understanding of the First Commandment; see Hermann Deuser Die Zehn Gebote. Kleine Einfhrung in die theologische Ethik, Stuttgart 2002. 23 See Kierkegaard’s Works of Love (in SKS 9 / KW XVI), and cf. for recent interpretations Ulrich Lincoln ußerung. Studien zum Handlungsbegriff in Søren Kierkegaards Die Taten der Liebe, Berlin / New York 2000; Ethik der Liebe. Studien zu Kierkegaards Taten der Liebe, ed. by Ingolf U. Dalferth, Tübingen 2002. 24 Cf. Dalferth Ethik der Liebe, pp. 43f.; Lincoln ußerung, pp. 118f. Luther’s theology of the cross might be the key of understanding human experience and suffering even in modernity, cf. Ingolf U. Dalferth Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997, p. 60 (n. 7).
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these ambivalences are religious ones. So the ethics of our late modernity has transformed Reformation’s great insight into ethics, and for this process Kierkegaard was instrumental.
Church, Christian Sociality, and Institution Kierkegaard’s view of the church as an institution is paralleled by his views of public and state. This means that his criticism of the growing influence of economy and politics on all areas of life also affected his position on church.25 However, despite his undeniable detachment from church, he remained a Christian – and a Protestant Christian – even though he, by proclaiming society’s loss of Christianity, had to stick to his Socratic role and therefore could not even claim to be a Christian himself. His model for the true representative of Christianity is the socially despised individual bearing witness to truth to his contemporaries. This is why he accused Luther of seeking the world as ally and even of being negligent of the paradoxical relationship of Jesus to God, due to Luther’s overemphasis on the letters of the apostle Paul. Kierkegaard meant that Paul, to find personal acknowledgment as well as to help the young church grow, lessened the importance of temptation, which Kierkegaard thought was not compatible with radical simultaneity with the crucified Christ. And while Kierkegaard told us so, he at the same time added a footnote saying that he himself is not a Christian.26 The ambivalence of this position leaps to the eye: The alleged nonChristian set out to show Christians what true Christianity is. Towards the end of his life, Kierkegaard’s ‘one thesis,’ intended as a corrective, became more and more dominant in his writings as well as biographically – and unfortunately so. It wiped away his richness of thought, his poetic language, his philanthropic attitude, his Socratic empathy. It wiped them away but did not destroy them for good. This is why we today are still allowed to turn to Kierkegaard for a better and critical understanding of the cultural conditions of the Christian church. Of course, his concepts of ethics and religion need mediation, as church and state have undergone multiple changes. But in his work, Kierke25 Cf. Deuser Dialektische Theologie, pp. 195ff. 26 See “My Task” in The Moment no. 10 in SKS 13, 405 / KW XXIII, 341 (n.) in connection with “A Genius / a Christian” in The Moment no. 5 in SKS 13, 231f. / KW XXIII, 181f.
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gaard outlines true Christian sociality in opposition to the politically well-established Christendom of his day; and while he attacked the institutionalized church, he at the same time pictured the community of Christians. Indeed, the church so badly missed by him in the real world was reconstituted by him through his literary activity as a deliberately chosen form of existence as a Religious Author. The church is and always will be dependent on the individual Christian’s appropriation of the article of justification, and this appropriation is just what the Christian writer Kierkegaard exercised. Unlike Kierkegaard, however, we today will have to take into account the churches’ growing loss of political, social and cultural influence and the various problems caused by these developments. If our task is to connect church and Christianity, Christendom and religions, theology and science anew, then Luther’s emphasis on individual faith and Kierkegaard’s existential dialectics will prove to be two all-important guidelines – and this is more than just one thesis.
Existenz-Mitteilung – nicht unmittelbares Selbstbewusstsein: Kierkegaards Kritik transzendentaler Religionsbegründung Abstract In their objections to Kant, the critics of transcendental philosophy – including Schleiermacher – claimed early on that knowledge is dependent upon the representational and mediating capacities of language. But the question of whether the language-bound character of knowledge must nonetheless assume the highest position in a reflected immediacy – and above all, in its grounding function for a philosophy of religion – was vehemently rejected by Kierkegaard. He made this claim the object of irony and, ultimately, replaced it by giving existence-experience a privileged position. In its becoming, this appears to itself and others as a mediated relationship which presupposes a specific communicational and representational form and which requires specific ways of instantiation. Kierkegaard has (re)discovered the epistemological meaning of religious discourse and provided a grounding structure for religion and Christianity which is no longer dependent upon transcendental philosophy’s theories of the subject.
I. Erkennen braucht Sprache – diese Einsicht, heute für Ästhetik, Ethik und Logik eher ein philosophischer Allgemeinplatz, musste doch für die europäische Wissenschaftseinstellung erst wieder zurückerobert werden. Klassisch ist Platons Resümee im Kratylos, es würde „einem vernünftigen Menschen gar nicht wohl anstehen, sich selbst und seine Seele lediglich den Wörtern in Pflege hinzugeben und im Vertrauen auf sie und die, welche sie eingeführt haben, dann seiner Sache so sicher zu sein, als wisse er etwas […].“1 Erst die Krise des wissenschaftlichen Systemdenkens im
1
Platon Kratylos, 440 c, Werke in acht Bnden, griech. u. dt., Bd. III, hg. v. G. Eigler, dt. Übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt 1974, S. 573; vgl. zur Stelle, zum Kontext und zur These im Rahmen der antiken Philosophie T. Borsche
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Nachidealismus des 19. Jahrhunderts hat es unwiderruflich gemacht, dass die Vermittlungsleistung der Sprache vom dem, was sie vermittelt, nur um den Preis des Verlustes an Einsicht abgetrennt werden kann. Dabei konnte auf die Kritiker Kants in dieser Sache, vor allem J.G. Hamann und J.G. Herder, zurückgegangen werden, die bereits Ende des 18. Jahrhunderts den Vorrang der Sprache vor der Vernunft behauptet hatten.2 Kant dagegen sieht in der Sprache nur die Funktion der „Gedankenbezeichnung“ und das „Mittel“ zur Verständigung,3 von dessen tendenziell begrifflicher Klarheit er unbedingt einen Symbolgebrauch, der hinter den „vorliegenden Welterscheinungen“ eine „verborgene[n] intelligibele[n] Welt“ zu erschließen vorgibt, als swedenborgianische „Schwärmerei“ ausschließen muss.4 Doch wie kann sich die Behauptung des Erkenntnisvorrangs der Sprache gegenüber dem Vorwurf der Irrationalität schützen? Worin bestehen die nachvollziehbaren Motive und Begründungen dafür, dass alleingelassenes Denken an seinem eigenen Erkenntnisanspruch gegenüber der Fülle der Lebenserfahrungen scheitern muss?
II. Kierkegaard setzt wie Schleiermacher ganz selbstverständlich Kants Transzendentalphilosophie voraus, d. h. in deren religionsphilosophischem Effekt: die theoretische Widerlegung der Gottesbeweise und die Verteidigung der christlichen Religion auf der Basis einer deontologischen Moralphilosophie; und Kierkegaard setzt die Verteidigung der Selbstständigkeit der Religiosität voraus, wie sie Schleiermacher von Beginn an gegen Kants theoretische und praktische Philosophie, d. h. gegen die Abhängigkeit des Religionsbegriffs von Wissen und Tun nicht ohne Wirkung durchgeführt hatte. Das „Wesen“ der Religiosität ist
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„Sprache I“ in Historisches Wçrterbuch der Philosophie 9 (1995), S. 1437 – 1453; hier: S. 1441. Vgl. S. Majetschak „Sprache III“ in Historisches Wçrterbuch der Philosophie 9 (1995), S. 1468 – 1495; hier bes. III.5 „Die Entstehung der Sprachphilosophie“, S. 1779ff. I. Kant „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798), A 109, in Werke in zehn Bnden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1970, S. 500; vgl. S. Majetschak, aaO., S. 1483. Kant Anthropologie, A 107f., aaO., S. 498.
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„weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“5 Wie immer diese Gefühlssituation dann zu verstehen und auszulegen sein wird, sie zielt auf einen unableitbaren Grund, an dem deduktive Schlussformen so wenig greifen wie Handlungsaufforderungen. Es ist die Sprache, die hier allein Zugang hat; und wenn Schleiermacher in seinen Hermeneutik-Texten lakonisch festhalten kann: „Wir können nicht denken ohne die Sprache“,6 so wird damit der lebensweltlich-geschichtliche Zusammenhang als Bedingungsfeld für die theoretische Arbeit des Denkens in den Vordergrund gerückt. Ohne gewachsene Sprachtraditionen, ohne die instinktiven Erschließungen und Nuancengenauigkeiten der Muttersprache wäre auch die imaginative Spontaneität des Denkens überhaupt nicht zu verstehen. Es sind diese authentischen Prämissen für das bewusste Leben, an denen sich der Realitätssinn des Wissens zu bewähren hat. Kant hatte dagegen verstoßen, weil der religiöse Begriff der Glckseligkeit, den auch sein System den Menschen konzedieren muss, nur äußerlich mit der Pflichtethik verkoppelt wird, um die Gottesidee wenigsten postulieren zu können.7 Dem primären menschlichen Verhältnis zur (eigenen) Natur und Sprache kann nicht mehr Genüge getan werden, wenn es zuvor durch die Prinzipienentscheidungen der Transzendentalphilosophie, Dingwelt und Denkwelt so weit wie möglich auseinander zu ziehen, beschädigt wurde. Wie aber ist denn in Wahrheit unser menschliches Verhältnis zu uns selbst? Gibt es einen ursprünglichen Erfahrungszugang – und ebnet diesen die Sprache? Jede Beantwortung dieser Fragen muss sich der Dialektik der Begriffe Unmittelbarkeit, Gefhl und Selbstbewusstsein stellen, mit denen 5
6 7
F. Schleiermacher ber die Religion (1799), hg. v. G. Meckenstock, Berlin / New York 1999, S. 79 („Zweite Rede“); vgl. F. Schleiermacher Der christliche Glaube (1830 – 31), hg. v. M. Redecker, Berlin 1960, Bd. 1, § 3; Der christliche Glaube 1821/22, Studienausgabe, hg. v. H. Peiter, Berlin / New York 1984, Bd. 1, § 8. F. Schleiermacher Hermeneutik und Kritik, hg. v. M. Frank, Frankfurt am Main 1977, S. 235. Vgl. Schleiermachers frühe und klare Kant-Kritik in den „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehren (1803)“ in Kritische Gesamtausgabe, Bd. 4: Schriften aus der Stolper Zeit (1802 – 1804), hg. v. E. Herms, G. Meckenstock und M. Pietsch, Berlin / New York 2002, S. 50 – 53. – Vgl. auch U. Frost Einigung des geistigen Lebens. Zur Theorie religiçser und allgemeiner Bildung bei Friedrich Schleiermacher, Paderborn 1991, S. 120f.; und zu Schleiermachers Wissenschaftssystematik E. Herms „Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins“ in Schleiermachers Dialektik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie, hg. v. C. Helmer, C. Kranich und B. Rehme-Iffert, Tübingen 2003, S. 23 – 52; hier: S. 24ff.
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Schleiermacher seine Kritik der idealistischen Systemphilosophien markiert hat. Es geht ihm, genau wie Kierkegaard, nicht um eine Apologie der Irrationalität, sondern um begründetes menschliches Wissen und seine Grenzen; insofern ist die lebensgeschichtliche Ausgangsorientierung ein philosophisches Programm, dass im fraglichen Gottesverhältnis natürlicher Weise sein entscheidendes Prüfstück hat. Wenn menschliches Erkennen Bedingungen unterliegt, die anders als im Modus des Wissens zur Geltung kommen und doch für dessen Vernünftigkeit ausschlaggebend sind, dann hat die Religiosität einen genuinen Platz für den wissenschaftlichen Ehrfahrungsbegriff zurückgewonnen. Wo Schleiermachers Zweite Rede von „Anschauung und Gefühl“ spricht, präzisieren die beiden Auflagen von Der christliche Glaube durch „Neigung und Bestimmtheit des Gefühls“ bzw. durch den Begriff des „unmittelbaren Selbstbewußtseins“.8 Liegen hier die gesuchten Motive, Begründungen und Antworten, die nur die Sprache zugänglich halten kann?
III. Der Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins bleibt schwierig und mehrdeutig, denn er ist ein nachträgliches Reflexionsprodukt: Entweder ist ein situatives Gefühl unmittelbar – und dann kann es nicht zugleich um sich wissen; oder ein situatives Gefühl ist durch Bewusstsein oder Selbstbewusstsein vermittelt – und dann ist es nicht (mehr) unmittelbar. Allerdings: Dass das so ist, das können wir wissen; und insofern enthält dieses Wissen über uns selbst – als im Bewusstsein und Selbstbewusstsein auf Unmittelbarkeit bezogen sein zu müssen – eine besondere Auszeichnung, die dazu geführt hat, dass sie als Absolutheit 9 hat vorgestellt, zumindest als transzendentale Konstitutions- und Begleitinstanz des „Ich denke“ (Kants „reine Apperzeption“) hat angesetzt werden können.10 Im 8 S.o. Anm. 5. 9 Vgl. zur Interpretation von Schleiermachers „Zweiter Rede“ in diesem Kontext bei D. Korsch „’Höherer Realismus’. Schleiermachers Erkenntnistheorie der Religion in der Zweiten Rede“ in 200 Jahre „Reden ber die Religion“, hg. v. U. Barth und C.-D. Osthövener, Berlin / New York 2001, S. 609 – 628. – Zur Begründung des Religionsbegriffs im Sinne einer Theorie des Unbedingten, vgl. U. Barth „Was ist Religion?“ in Zeitschrift fr Theologie und Kirche 93 (1996), S. 538 – 560. 10 I. Kant Kritik der reinen Vernunft, B 131f.; vgl. V. Gerhardt Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 170f. – Hier liegt zugleich die proble-
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Bezug auf Schleiermacher stellt sich deshalb genau diese Frage, inwieweit die nicht zu hintergehende und nicht von anderem abzuleitende Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins transzendentalphilosophisch orientiert bleibt oder nicht. Schleiermacher ist sich dieser Schwierigkeit natürlich bewusst gewesen, und deshalb geht eine mögliche Interpretation (E. Herms) der einschlägigen Texte dahin, die Leistungen des „reflektierten Selbstbewußtseins“ als transzendentalphilosophische Figur so auf das darin mitgesetzte „unmittelbare Selbstbewußtsein“ zu beziehen, dass jenes als aktive und unvermeidliche Denkleistung im Rahmen des Gegenstandsbewusstseins, dieses dagegen als passive, gerade nicht reflexiv bestimmte, Selbstgegenwart allem Anderen zugrunde liegend aufgefasst werden soll.11 Die kritische Ausgangsfrage wiederholt sich dann auf höherer Komplikationsebene insofern, als der Modus dieser unmittelbaren (passiven) Selbstgegebenheit ja wiederum quasi-transzendental, als subjektive Konstitutionsleistung verstanden werden könnte. Das „Fühlendsein“ (E. Herms) 12 als ontologische Vorgegebenheit menschlicher Selbstgegenwart müsste keineswegs als transzendentale Bedingung aller Erfahrung gelten, sondern es könnte als auszulegende Vorgabe eines immer weiter zu präzisierenden Erfahrungsbegriffs dienen, der gerade nicht in der Subjektivität des „Ich denke“ sein Muster hätte; wird dagegen die Selbstgegenwart als „Gefhlsgefhl“13 adressiert, so ist wiederum eine Selbstbewusstseins-, eine Reflexionsbedingung, nämlich die Vermittlung von Gefühl als Gefühl, auf den Weg gebracht, die dann nur das Dilemma einer nicht-unmittelbaren Unmittelbarkeit wiederholen müsste. Die konkurrierenden Möglichkeiten der Schleiermacher-Interpretation will ich bewusst offen und im Folgenden im Hintergrund lassen, wenn es darum geht, Kierkegaards Metakritik der Transzendentalphilosophie, die Schleiermachers Kritik schon voraussetzt, als profilierte Absage an diese, aus dem Idealismus stammende Problemlage vorzustellen. Vereinfacht gesagt sieht damit die Fragestellung so aus: Dass Sprache und Erkenntnis in einem notwendigen Wechselverhältnis stehen, verlangt eine mittlere Bestimmung, um die es in diesem Verhältnis matische Voraussetzung der modernen Subjektivitätsphilosophie, vgl. I. U. Dalferth Die Wirklichkeit des Mçglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, Kap. C. 5. 11 E. Herms, aaO., S. 29 – 40; anstelle von ,Selbstgegenwart’ spricht Herms von ,Selbsthabe’, vgl. S. 35ff. 12 AaO., S. 37. 13 AaO., S. 38.
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jeweils geht. Worauf sich Erkenntnis und Sprache gemeinsam nur beziehen können, das ist für Schleiermacher im Kern aller Bemühungen das Gefhl als unmittelbares Selbstbewusstsein: in Sprache und Wissen stellt dieses sich dar.14 Für Kierkegaard müssen die transzendentalen, idealistischen, subjekt-konstitutiven Bedingungen bestritten werden (auch dann, wenn er deren Vokabular noch benutzt), und die mittlere Bestimmung, der die Wechselseitigkeit von Sprache und Erkenntnis dient, ist hier die der menschlichen Existenz, allgemeiner gesagt: die Existenzerfahrung des menschlichen Selbst.
IV. Kierkegaards Begriff der Existenz, genauer: des Menschen, insofern er ein „subjektiv existierender Denker“ ist (wie Johannes Climacus sagt),15 impliziert in jedem Fall die folgenden Bestimmungen: 1. Der Nachdruck des ,Existierens‘ sucht die Konkretion eines bestimmten, geschichtlichen, leib-seelischen Menschen unter gegebenen Bedingungen. 2. ,Subjektiv‘ ist diese Existenz eines Menschen, weil sie ein ursprüngliches Verhältnis zu sich selbst hat, ein primäres ,Interesse‘ in der aktiven Lebenssituation, die nicht vorweg entschieden und verallgemeinert (,objektiv‘) gedacht werden kann, weil sie jeweils erst im ,Werden‘ ist. 3. Den Ort des Interesses an sich selbst, d. h. am eigenen Existieren, nennt Kierkegaard die ,Innerlichkeit‘: die nicht-abstrakte Nähe zu sich selbst, die für äußere Erklärungen, distanzierte Objektivität und Allgemeinheit gerade nicht zugänglich ist. 4. Weil das objektive Denken aber keineswegs geleugnet wird, steht die Innerlichkeit immer schon im Konflikt, auf sich selbst – und gegen die Vermittlung der Abstraktion – jeweils konkret zurückkommen zu 14 Vgl. J. M. Dittmer Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive. Triadizitt im Werden, Berlin / New York 2001, S. 562f. 15 AE in SKS 7, 73, vgl. AUN in GW1 10, 65. (Wenn die dt. Übers. mit ,vgl.’ genannt wird, wurde nach dem dän. Text in eigener oder veränderter Übers. zitiert.) – Vgl. zu Kierkegaards Positionsbestimmung des konkreten Denkens: J. Hennigfeld „Sören Kierkegaard. Der subjektive Denker“ in Philosophen des 19. Jahrhunderts, hg. v. M. Fleischer und J. Hennigfeld, Darmstadt 1998, S. 88 – 102.
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müssen. Diesen Konflikt nennt Kierkegaard die „Doppel-Reflexion“,16 und sie ist als solche sprachlich gebunden, weil sie ein Mitteilungsproblem zum Austrag bringen muss. 5. Hier ist die Sprache nicht spontan, ursprünglich und direkt gesucht, sondern sie muss ,künstlerisch‘ aktiviert werden, um diese Konfliktsituation des ,subjektiv existierenden Denkers‘ ausdrucksfähig zu halten. Denn die Innerlichkeit kann das gerade nicht objektiv garantieren und direkt zum Ausdruck bringen, was sie am meisten beschäftigt: das eigene leidenschaftliche Selbstinteresse. Wie immer, die erotische Liebe und das Gottesverhältnis stehen analog und sind Pate für den summierenden Satz: „Die direkte Mitteilung fordert den Nachweis [dän. Visheden; auch: Gewissheit], der Nachweis aber ist unmöglich für den Werdenden, und ist gerade der Betrug.“17 Mit dieser Übersicht ist bereits klar, dass Sprache und Erkenntnis in einem wiederum komplizierten Verhältnis zueinander stehen. Die darin liegende kritische Differenz zu Schleiermacher soll im Folgenden in drei Schritten, d. h. an drei unterschiedlichen Textbereichen erarbeitet werden: An ausgewählten frühen Journalaufzeichnungen, die eine direkte Reaktion auf Schleiermacher zeigen können (V.); an Kierkegaards Descartes-Kritik und damit der Kritik der philosophischen Moderne (VI.), und schließlich an einer ,erbaulichen Rede‘ von 1844 (VII.). Getreu der geforderten Existenz-Mitteilung sucht Kierkegaard in allen drei Schritten gerade die Unmittelbarkeit des jeweils eigenen (innerlichen) Existierens, indem er sie im Modus der Möglichkeit, d. h. kraft sprachlicher Mittel („Die Form des subjektiven Denkers, die Form seiner Mitteilung, ist sein Stil.“),18 dann aber gerade indirekt zu realisieren suchen muss: „Eine Darstellung in der Form der Möglichkeit legt es dem Empfänger so nahe, wie es zwischen Mensch und Mensch möglich ist, darin zu existieren.“19 16 AE in SKS 7, 73f., vgl. AUN in GW1 10, 65. 17 AE in SKS 7, 75 Anm., vgl. AUN in GW1 10, 66 Anm. – Zum Begriff ,Forvisning’ für ,Gewissheit’ s.u. Anm. 45. 18 AE in SKS 7, 326,4, vgl. AUN in GW1 11, 61. 19 AE in SKS 7, 327,6ff., vgl. AUN in GW1 11, 62f. – Der Begriff der ,ExistenzMitteilung’ (ibid.) wird im weiteren Verlauf der Unwissenschaftlichen Nachschrift immer mehr zur entscheidenden und exklusiven christlichen Kategorie, eine Zwischenstellung zwischen allgemeiner Hermeneutik der Innerlichkeit und Christentum nimmt die folgende Stelle ein: „Im Verhältnis zur Lehre ist zu verstehen das Maximum und Anhänger zu werden eine hinterlistige Weise, auf welche Leute, die nichts verstehen, so tun als hätten sie verstanden; im Verhältnis zu einer Existenz-Mitteilung ist darin zu existieren das Maximum, und verstehen
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V. Kierkegaard hat der idealistischen Systemphilosophie mit dem zunächst sehr einfachen Gegensatz von abstrakt und konkret widersprochen, das gilt für Descartes (als Vater der Moderne) ebenso wie für Hegel, den Repräsentanten des Zeitgeistes in Kierkegaards 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Genau genommen ist es jeweils die zeitgenössische, innerdänische Debattenlage (wie J. Stewart gezeigt hat) auf die Kierkegaard reagiert und der gegenüber er sein Denken der Existenz-Mitteilung polemisch entwickelt; eine wirkliche Kenntnis der philosophisch-theologischen Systeme aus erster Hand liegt am ehesten noch bei Schleiermacher nahe, aber auch hier lehrmäßig vermittelt über H.L. Martensens Privatvorlesung 1834.20 Es sind zwei Notizen, beide aus den Jahren 1836/37, die Kierkegaards Abwehrhaltung gegenüber religiöser Unmittelbarkeit beleuchten, weil diese – wider ihren Anschein – doch nur eine neue Abstraktion liefert: Das, was Schleiermacher „Religion“ nennt, die Hegelschen Dogmatiker „Glauben“ ist im Grunde nichts Anderes als das erste unmitt.[elbare], die Bedingung für alles – das vitale Fluidum – die Atmosphäre, die wir im geistigen Sinne einatmen – und was sich deshalb nicht zu Recht mit diesen Wörtern bezeichnen lässt.21 Chr.[istentum] ist eigent.[lich] das Bewusstsein von dem Mittel.[baren] Verhältnis, in das der Men.[sch] immer zu dem Göttl.[ichen] treten muss, deshalb z. B. Beten im Namen Chr[isti].22 zu wollen eine hinterlistige Ausflucht, die sich vor der Aufgabe drücken will.“ (SKS 7, 338 Anm., vgl. AUN in GW1 11, 76 Anm.) 20 Vgl. J. Stewart Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, Cambridge 2003, S. 59; ders. in Kierkegaard and His Contemporaries. The Culture of Golden Age Denmark, ed. by J. Stewart, Berlin / New York 2003 (Kierkegaard Studies: Monograph Series 10), S. 117; und Kierkegaards Schleiermacher-Exzerpte in Pap. I C S. 20 – 24. 21 Pap. I A 273, vgl. T 1, 50. (Diese Notiz ist in den bisherigen Bänden der Neuedition von SKS noch nicht enthalten.) – Analog hierzu steht ein Textstück aus Kierkegaards Entwürfen von 1836 in CC:12, in SKS 17, 201 / DSKE 1, 161: „Den Begriffen Glaube, Inkarnation, Tradition, Inspiration, die im christlichen Bereich auf ein bestimmtes historisches Faktum zurückzuführen sind, wurde nach dem Gutdünken der Philosophen eine ganz andere gewöhnliche Bedeutung gegeben, wobei Glaube zum unmittelbaren Bewusstsein wird, was im Grunde nichts anderes ist als das vitale Fluidum des geistigen Lebens, dessen Atmosphäre“. 22 Pap. I A 172, vgl. T 1, 49 (und s. o. Anm. 21). – H. Gerdes biographische Anm. zu dieser wie der vorigen Stelle bleiben außer Betracht.
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1. Unmittelbarkeit als ein Allererstes ist tatsächlich differenzlos, und ein Selbstverhältnis, das sich allein darin fundiert, hat Kierkegaard entgegen dem Geist seiner Zeit nicht als christlich, sondern als ästhetisch betrachten wollen. Das Gefühl des unmittelbaren Selbstbewusstseins wird also durchaus nicht ignoriert oder bestritten, aber es wird von der christlichen Konflikterfahrung mit sich selbst, dem Gegensatz von Sünde (Angst und Verzweiflung) und Glaube, mit Bedacht ausgeschlossen. Erst über ethische Entscheidungen und ethisch-religiöse Erfahrung der Rettung wird das Leben konkret, ernst – vertröstet sich nicht mit dem Schein von Unmittelbarkeiten. 2. Diesen Schein unterstellt Kierkegaard Schleiermacher ebenso wie Hegel. Doch es würden sich alle Begriffe verwirren, wenn Kierkegaards Kritik nun als Verabschiedung aller Unmittelbarkeit gelesen würde. Die Existenz-Mitteilung ist zwar notwendigerweise sprachlich, also vermittelt; sie sucht aber über die Sprache beim anderen Menschen gerade das erst zu erreichen, was die zeitgenössischen Religionstheorien bereits zum Ausgangspunkt nehmen: Unmittelbarkeit im religiösen Glauben. Diese vorauszusetzen deutet Kierkegaard als Schleiermachers ,Pantheismus‘, als „Verschmelzungsmoment des Universellen und des Endlichen“,23 weil der konkrete Konflikt des Existierens dabei ausgeschaltet erscheint. 3. Ein Zwischenstadium der Orientierung ist folglich das betonte „Mittelbare Verhältnis“ im Christentum: Gott ist nicht direkt, sondern indirekt anzusprechen; auch hier wäre es die Sprache mit allen ihren Darstellungsmöglichkeiten, die die Zwischenbestimmungen liefert, um ein Verhältnis eben als solches zum Ausdruck zu bringen. Ein bloßes „Fluidum“ macht Bestimmungen unmöglich, alles wäre irgendwie vom religiösen Glauben beeinflusst, und gerade diese Ununterscheidbarkeit ist Kierkegaards zentrale Kritik seines Zeitalters, Motiv seines literarischen Werkes. 4. Aber wiederum: Das bloße Insistieren auf Vermitteltheit bliebe selbst undialektisch, lebensfremd. Das Gefühl der Ruhe braucht die dazu gegensätzliche Konfliktspannung – und umgekehrt. Kierkegaards Stadienlehre (des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen) wird darauf antworten, dann aber so, dass es sich nicht um Theoriefiguren oder Kunstlehren, sondern um Lebensformen handelt, in denen existiert werden kann und muss. Menschliche Selbsterfahrungen und Selbstdeutungen können ästhetisch-unmittelbar, ethisch-entschieden und religiösparadox-geborgen sein, insofern sind sie konkret und eine mitlaufende 23 DD:9 in SKS 17, 219 / DSKE 1, 182.
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Unmittelbarkeit (des Glaubens), die im Gottesverhältnis ihr Ziel fände, kann nicht bestritten werden. Diese aber darf keine Allgemeinheit in dem Sinne besitzen, dass sie sich lehrhaft (objektiv) vermitteln ließe, dagegen läuft Kierkegaards Existenz-Mitteilung in Theorie und Praxis Sturm. Die Theorie des Existierens muss die Konflikte im Selbst des Menschen aufdecken; die Praxis der religiösen Rede aber ist indirekt, eine religiöse Kunstform, um der wirklichen und immer gesuchten Unmittelbarkeit willen, die ein Mensch konkret nur zu sich selbst, d. h. vor Gott, erlebt. Anders gesagt: Es geht Kierkegaard um die Unbedingtheit des Gottesverhältnisses, die aber um dieses ihres Charakters willen auf keinen Fall in einer abstrakten, allgemeinen, objektiven Zugänglichkeit präsentiert werden darf. Beides, die indirekte Unbedingtheit und ihre direkte Verweigerung lässt sich in der – poetischen, ethischen, religiösen – Sprache der Existenz-Mitteilung realisieren; theoretische Erkenntnis allein bleibt demgegenüber immer missverständlich.
VI. Kierkegaard hat in zwei zu seiner Zeit unpublizierten Texten eine ebenso literarisch-ironische wie philosophisch-kulturkritische Polemik gegen den Signalsatz der Moderne geliefert: De omnibus dubitandum est! Im ersten Fall handelt es sich um den Entwurf einer Theatersatire: „Der Streit zwischen dem alten und dem neuen Seifenkeller“ (1837), im zweiten Fall um den Programmaufsatz „Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est. Eine Erzählung“ (1842 – 43).24 Während es der Zitierung nach um Descartes und Hegel zu tun ist,25 geht es dem Anlass nach um eine modernistische, sich philosophisch gebende Weltanschauung des dänischen Hegelianismus,26 die vom Zweifelsprinzip her auch das Christentum neu zu begründen versucht. Auch wenn Kierkegaard hier 24 Vgl. den Seifenkeller-Text in DD:208 in SKS 17, 279 – 297 / DSKE 1, 251 – 272; zur Zitierung Descartes’, aaO., S. 288 – 291 / 261 – 265; vgl. zur Einordnung in den zeitgeschichtlichen Kontext J. Stewart Kierkegaard’s Relations to Hegel (2003), S. 105ff., S. 111 – 114; S. 246, S. 277. – Die Johannes Climacus-Erzählung findet sich in Pap. IV B 1; dt. in GW1 6: zu Kierkegaards Diskussionskontext J. Stewart, aaO., chap. 5. 25 Vgl. Ganz entsprechend auch in CC:12. in SKS 17, 199 / DSKE 1, 159. 26 Noch genauer: Es geht um und gegen Kierkegaards früheren Lehrer H. L. Martensen und seinen Kreis, vgl. J. Stewarts Nachweise und Textinterpretationen in Kierkegaard’s Relations to Hegel.
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wiederum nicht direkt mit den zu widerlegenden Texten arbeitet, seine Kritik trifft den Nerv einer Theorieposition der Moderne, der er die Existenz-Mitteilung entgegenstellt. Ich hebe aus dem Johannes ClimacusText vier entscheidende Punkte heraus und benenne Konsequenzen für eine Kritik der Moderne: 1. Kierkegaards Verdacht, die Proklamation des prinzipiellen Zweifels als Beginn aller Philosophie sei widersinnig, wird am Ende seines Fragments durch eine konstruktive Kritik präzisiert.27 Wenn ein wirklicher Mensch zweifeln können soll, so muss er sich auf etwas beziehen können, das in Zweifel stehen kann; was also dem Zweifel vorausgeht, ist eine Bewusstseinsform, die noch nicht zweifelt, die Unmittelbarkeit, über die es heißt: Die Unmittelbarkeit ist eben die Unbestimmtheit […] Unmittelbar ist daher alles wahr, aber diese Wahrheit ist im nächsten Augenblick Unwahrheit […] Kann das Bewusstsein in der Unmittelbarkeit bleiben, so ist die Frage nach der Wahrheit aufgehoben.28
Unmittelbarkeit ist keineswegs ausgeschlossen, aber sie ist als solche, in sich selbst, unbestimmbar. Um diese Unbestimmbarkeit zu sichern, kann und darf nicht so getan werden, als unterliege sie der (bestimmenden) Betrachtung oder als sei im Blick auf das menschliche Selbstbewusstsein hier eine besondere Ausgangslage für Selbstbetrachtung möglich. Dass zugleich die Wahrheitsfrage nicht greift, ist eben die herausragende Originalität der Unmittelbarkeit; wo diese auftritt, da ist sie vorausgegangen, aber auf sie zu bauen im Sinne einer intellektuellen Innenansicht der menschlichen Subjektivität ist ausgeschlossen. Anders gesagt: Es gibt keine Introspektion, 29 und insofern ist eben auch der Zweifel in diesem Punkt halt- und funktionslos: Es kann gar nicht an allem gezweifelt werden. 2. Wenn wirkliche Voraussetzungen gemacht werden müssen stellt sich die Frage nach der dann geltenden Verhältnisbestimmung diesen gegenüber. Kierkegaard antwortet: 27 „Erstes Kapitel“ des „Zweiten Teils“, § 1: „Wie die Existenz beschaffen sein muss, damit das Zweifeln möglich werde?“, Pap. IV B 1, S. 144 – 150 / JC in GW1 6, 153 – 159 (mit diesen Seiten endet das Fragment). 28 Pap. IV B 1, S. 145f. / JC in GW1 6, 154. 29 Hier zeigt sich eine deutliche Parallele zu C. S. Peirce’ Kritik des Cartesianismus in „Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen“ (1868) in ders. Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. K.-O. Apel, Frankfurt am Main 1991, S. 42f. – Vgl. H. Deuser Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004, Kap. I.1.
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Was ist dann die Unmittelbarkeit? Es ist die Realität. Was ist die Mittelbarkeit? Es ist das Wort […] was ausgesprochen wird, ist stets vorausgesetzt. Die Unmittelbarkeit ist die Realität, die Sprache ist die Idealität, das Bewusstsein ist der Widerspruch.30
Jetzt lässt sich präzisieren, was Existenzwirklichkeit und Existenz-Mitteilung für Kierkegaard bedeuten müssen: Zu Existieren nimmt vorausliegende Wirklichkeit auf, ohne diese begründen zu können; aber in der hinzukommenden Verhältnisbildung (durch die Sprache) entsteht ein Gegenüber (der ,Widerspruch‘ im Bewusstsein) von Realität und Idealität. Das lässt sich semiotisch gesehen dadurch sehr gut erklären,31 dass mit der Sprache und dem Wort konventionelle Zeichen ins Spiel kommen, die geistige Relationen repräsentieren, zur menschlichen Kommunikation notwendig sind und nicht mehr direkt auf die wahrgenommene Realität zurück gewendet werden können. Sprache bringt Realität zur Darstellung, indem sie von derselben Realität zugleich distanziert. 3. Deshalb ist Kierkegaards Konsequenz berechtigt, von jetzt an und aufgrund des ,Widerspruchs‘ von Realität und Idealität von der Mçglichkeit zu sprechen, die andere und neue, jedenfalls bestimmbare Wirklichkeit erwarten und denken lässt: die Reflexion ist die Mçglichkeit des Verhltnisses, das Bewusstsein ist das Verhltnis, dessen erste Form der Widerspruch ist. 32
Die Reflexion ermöglicht den Gegensatz, die Zweiseitigkeit, den Vergleich und somit den Zweifel; oder auch umgekehrt, von der Realität her betrachtet: Gegensätze, Zweiseitigkeiten33 führen zur Reflexion und damit zum Zweifel. Dieser aber ist eben nicht und niemals voraussetzungslos (sonst würde es sich um Verzweiflung handeln, die sich aus der Bodenlosigkeit der gestörten Selbsterfahrung ergeben kann), sondern folgt auf Unmittelbarkeit und hat schließlich im Bewusstsein als gewusste Verhältnisbestimmung seinen Ort. 4. Dass der Ort des Bewusstseins eine weitere Auszeichnung besitzt und nicht einfach aus einer polaren Reflexionsgegensätzlichkeit besteht, hat Kierkegaard ebenfalls sehr scharfsinnig beobachtet:
30 Pap. IV B 1, S. 146 / JC in GW1 6, 155. 31 Vgl. hierzu Peirce’ These: „Wir haben kein Vermögen, ohne Zeichen zu denken“, aaO. (1991), S. 42. 32 Pap. IV B 1, S. 147 / JC in GW1 6, 156. 33 Hier liegt ein Hinweis auf Peirce’ Kategorie der Zweitheit nahe, s. o. Anm. 29.
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In der Reflexion berühren sie [sc. Realität und Idealität, Seele und Leib etc.] einander in der Weise, dass ein Verhältnis möglich wird. Die Bestimmungen des Bewusstseins hingegen sind trichotomisch, was auch die Sprache beweist; denn wenn ich sage: ich werde mir dieses Sinneneindrucks bewusst, so sage ich eine Dreiheit. Bewusstsein ist Geist, und das ist das Merkwürdige, dass wenn in der Welt des Geistes Eins geteilt wird es 3 wird niemals 2.34
Diese Dreigliedrigkeit ist dem deutschen Idealismus abgelauscht, ihre Struktur für jede Reflexionsdialektik, die sich als Relation begreift, ganz unvermeidbar und notwendig; und doch steht sie für Kierkegaard im Kontext seiner fundamentalen Kritik einer Systemdialektik, die sich neutral gibt und doch das ganze Leben bestimmen möchte. Im Widerspruch gegen den theoretischen Zweifel bedeutet die Dreigliedrigkeit des Geistes für Kierkegaard, dass im Bewusstsein das Interesse an sich selbst den Ton angibt. Ohne Interesse hätten wir nur Gegensätze, deren Kampf oder Ausgleich uninteressant bliebe; erst das interessierte, existentiell akzentuierte Bewusstsein bringt Leben – und möglichen Zweifel – in die Verhältnisse.35 Insofern liegt der Selbstbezug bereits in der menschlichen, d. h. geistigen Bewusstseinssituation vor, er gehört sozusagen schon immer in den Erfahrungszusammenhang, der sich, wie gezeigt, dreigliedrig strukturieren lässt,36 und der keineswegs einer noch einmal aus dem Erfahrungszusammenhang herausragenden (transzendentalen) Möglichkeitsbedingung bedarf; sie stünde wieder nur abstrakt außerhalb des Interesses wie des existentiellen Zweifels. Diese Situationsbeschreibung bedeutet zugleich, dass es eben die Sprache sein muss, die sich hier kompetent erweist, weil sie die Dreigliedrigkeit vollständig abbildet: auf Unmittelbarkeit reagiert, Gegensätze bezeichnet und selbst ein geistiger Vorgang ist. So vielgestaltig und doch strukturiert muss Existenz-Mitteilung sein.
VII. Worin die Kunstform der Existenz-Mitteilung, der Stil des subjektiv existierenden Denkers 37 besteht, ist am entschiedensten in Kierkegaards Reden zu verfolgen. Die erste Rede der Sammlung von Vier erbaulichen Reden 1844 hat das Gottesverhältnis im Selbstverhältnis des Menschen 34 35 36 37
Pap. IV B 1, S. 147f., vgl. JC in GW1 6, 156. Pap. IV B 1, S. 148ff. / JC in GW1 6, 157ff. Hier liegt es nahe, an Peirce’ Kategorie der Drittheit zu erinnern, s. o. Anm. 29. S.o. Anm. 15 u. 18.
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zum Thema: „Gott nötig zu haben ist die höchste Vollkommenheit des Menschen“.38 Auf den ersten Blick stehen anstelle von religiöser Gefühlsunmittelbarkeit hier ganze Serien von dialektischen Figuren,39 doch deren hintergründiges Ziel, die Aneignung des Inhalts durch Lektüre zu erreichen, kann ja nicht selbst wieder nur in Brechungen von Unmittelbarkeit bestehen. Aus dieser Spannung lebt die Existenz-Mitteilung der Rede. 1. Die Kunstform der Rede exponiert sich selbst im Vorwort: Was sie ist, das ist sie allein ,für‘ und ,durch‘ ihre Rezeption, Leser und Leserin sind ihr Ziel, ohne dass es eine Umkehrung dieser Richtung gäbe.40 Und es sind immer wiederkehrende Anredeformen, die diesen Aneignungssinn niemals in Vergessenheit geraten lassen: „Halt nun einen Augenblick ein […]“, oder: „Doch die Rede will Dich nicht überrumpeln, m.[ein] Z.[uhörer]“.41 Solche Stilelemente im Redenaufbau bleiben nötig, denn was gesagt wird ist höchst überraschend zugleich das Alleralltäglichste und die Umkehrung des Gewohnten: Sehen wir vom wechselnden Auf und Ab des Lebens einmal ab, dann ist es nur wenig, was das menschliche Leben auffällig macht, wir Menschen stehen schnell vor der eigenen ,Nichtigkeit‘.42 Dieses Bild aber kehrt sich um, weil die Nichtigkeit Gott gegenüber gerade seiner ,Vollkommenheit‘ korrespondiert. Nicht dass Gottes Vollkommenheit sozusagen von der menschlichen Einsicht in die eigene Unvollkommenheit abhängig wäre, nein: Die Asymmetrie ist derart dialektisch, dass Gottes Größe, Allgegenwärtigkeit, Allmacht ihn gerade auf den ersten Blick ,unsichtbar‘ machen.43 Dieser Gegensatz, diese Gegenläufigkeit zeichnet das wahre Selbstverhältnis als Gottesverhältnis aus: Sich selbst – in sich selbst – Gott gegenüber zunichte 38 Die Rede wird in eigener Übers. zitiert nach der dänischen Ausgabe in SKS 5, 287 – 316; vgl. auch die Manuskriptbeschreibung (N.J. Cappelørn und J. Knudsen) und die Kommentierung (N. J. Cappelørn) in SKS K5, 285 – 334. – Die dt. Übers. von E. Hirsch in GW1 5, ist leider eine Verzerrung von Kierkegaards Sprache, Stil und Ton. 39 Im Folgenden werden die ersten drei der zur literarischen Analyse von Kierkegaards Reden (1847 – 48) ausgezeichneten Figuren auch für die Interpretation dieser früheren Rede benutzt, vgl. H. Deuser Sçren Kierkegaard, München / Mainz 1974, S. 200 – 216 („Dialektische Figuren“, „Responsions- und Überredungsformen“, „Verfremdung und Bildwendung“). 40 2T44 in SKS 5, 289,16ff. 41 2T44 in SKS 5, 294,3; 295,22. 42 2T44 in SKS 5, 300,9; vgl. zuvor die Entwicklung dieses Gedankens ab 291ff. 43 2T44 in SKS 5, 302,30 – 35.
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machen: „Dies ist die Vernichtung eines Menschen, und die Vernichtung ist seine Wahrheit.“44 Zum Verständnis will ich hier einfügen, dass die Begriffe Nichtigkeit / Vernichtung und Vollkommenheit so aufzufassen sind, dass es um deren lebenspraktische Funktion zu tun ist. Nichtigkeit und Vernichtung stehen für die Selbstauflösung (des menschlichen Selbst) bis zur Grenze des Unvorstellbaren; Vollkommenheit steht für die Selbststeigerung (des menschlichen Selbst vor Gott) bis zur Grenze des Unvorstellbaren. Deshalb sind diese beiden Grundorientierungen der Rede zugleich extrem voneinander entfernt und bleiben sich im (menschlich) Unvorstellbaren doch nahe und verwandt; so werden sie zwar auch als Begriffe, aber vor allem in ihrer existentiellen Selbstverständlichkeit ausgelegt.45 2. Nun ist ein solcher Gegensatz ein wahrhaft schwieriger ,Trost‘,46 denn er setzt ja die Einräumung der eigenen Nichtigkeit voraus, die Distanzierung von allen weltlichen Vermittlungen und Intentionen. Das zueinander ,Passen‘47 von Gott und Mensch resultiert folglich in einem inneren Gegensatz des menschlichen Selbst, dessen Schwierigkeit gerade die Rettung, jedenfalls Selbsterkenntnis herbeiführt.48 Was bliebe denn sonst in der Welt der Unsicherheiten, der Kontingenzen? Was wäre es für ein erschreckender Zustand, wenn diese innere Schwierigkeit gar nicht empfunden würde! Also muss um der Nichtigkeit des Menschen, die seine Vollkommenheit im Gottesverhältnis hervortreibt, dieser innere Konflikt wirklich gesucht werden. Besser gesagt, der Konflikt ist immer schon da, und er lässt sich in drei Stufen49 entfalten: Zunächst ist auf erster Stufe der innere Gegensatz zwischen dem ,tieferen Selbst‘ im Menschen und seinem ,ersten‘, dem gewöhnlichen 44 2T44 in SKS 5, 302,5f. – Die dt. Übers. in GW1 17, von ,Tilintetgjørelse’ mit ,Vernichtigung’ ist abwegig; denkbar wäre ,Zunichtemachung’, um dem dän. Wort möglichst nahe zu kommen. Zuvor wurde (s. o. Anm. 42) ,Intethed’ mit ,Nichtigkeit’ übersetzt. 45 So heißt es bei der ersten expliziten Einführung der Gottesperspektive (SKS 5, 294,11ff.): „Gottes Gnade ist ja das Herrlichste von Allem, darüber sollten wir doch wohl nicht streiten; denn dieses ist im Grunde die innerste und seligste Gewissheit [dän. ,Forvisning’; von ,forvisse’ / vergewissern] eines jeden Menschen.“ (Zum Begriff ,Gewissheit’ s. o. Anm. 17.) 46 2T44 in SKS 5, 299,35. 47 2T44 in SKS 5, 302f. 48 Vgl. 2T44 in SKS 5, 304f. 49 Der Text unterteilt seinen Gedankengang an entscheidender Stelle in zwei Stufen („nicht wie zuvor“, SKS 5, 310,13), die dritte lässt sich dann entsprechend abgrenzen.
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,Selbst‘ festzustellen.50 Während sich das erste Selbst zur Welt und damit zu sich selbst unmittelbar (wünschend, handelnd etc.) zu verhalten sucht, um so ein ,glückliches Selbst‘ zu sein, entsteht durch das tiefere Selbst eine Brechung im Selbstverhältnis, die aber in ihm selbst und unvermeidlich geschieht.51 Wäre es anders, bliebe nur die distanzlose Auslieferung an eine Unmittelbarkeit, die unter endlichen Lebensbedingungen keine Überlebenschancen haben kann. Glck, der ästhetische Zustand der Unmittelbarkeit, wie ihn Kierkegaard seit Entweder – Oder mit ebenso großer Sympathie wie Antipathie analysiert hat, ist dem geistigen Selbstverhältnis, das aus gebrochener Unmittelbarkeit resultiert und um sie weiß, unterlegen. Glück kennt bloß noch nicht sein Unglück, vor dem es sich zu retten sucht. Damit ist aber schon die zweite Stufe erreicht, die im Bewusstsein des ,Streites‘ die gegenseitige Übereinstimmung des tieferen und des ersten Selbst zum Ausdruck bringt. Zwischen beiden steht ein ihnen gemeinsames ,Geheimnis‘52 genau dann, wenn das tiefere Selbst zu dominieren beginnt und das erste Selbst seine Nichtigkeit einzuräumen lernt, d. h. die Kontingenz von allem und seiner selbst erkannt hat. Dies ist nichts Anderes als das Gottesverhältnis, das im Sinne der Thematik der Rede darin besteht, „Gott nötig zu haben“. Die darin liegende ,Vollkommenheit‘ aber ist auf dieser Stufe natürlich ebenso wenig eine Produkt direkter Verständigung mit dem Leben, etwa im Sinne nun doch gelingender Unmittelbarkeit, sondern ,Vollkommenheit‘ bleibt dialektisch gebunden an Einsicht in den Verlust, an die eigene Nichtigkeit – und dieser ,Streit‘ nun geschieht nicht mehr im Weltverhältnis des Menschen, sondern in seinem ,Innern‘.53 Im Innenverhältnis des Selbst, das sich der eigen Ohnmacht, der darin liegenden Selbsterkenntnis und Vollkommenheit im Gottesverhältnis stellt, wird folglich die Brechung der Unmittelbarkeit ausgetragen. Die dritte Stufe ist dann erreicht, wenn Kierkegaard nun doch versucht – bei aller Betonung der Brechung von Unmittelbarkeit und der gesteigerten Schwierigkeiten,54 die das Leben damit annimmt –, den Zustand der ,Vollkommenheit‘, d. h. der gelingenden Gottes- und 50 51 52 53 54
2T44 in SKS 5, 306,8ff. 2T44 in SKS 5, 307. 2T44 in SKS 5, 308f. 2T44 in SKS 5, 310,7 – 17. Zum Motiv der gesteigerten Schwierigkeit vgl. 2T44 in SKS 5, 304,23; 312,28 (mit diesem Abschnitt beginnt die dritte Stufe bzw. der Schlussteil der Rede); SKS 5, 315,17.
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Selbsterkenntnis zu beschreiben. Das ist deshalb so problematisch, weil der Versuch der Rede, nicht abstrakt, nicht objektiv, nicht scheinsystematisch das Leben zu betrügen, sondern konkret der Konfliktlage im Selbst eines jeden einzelnen Menschen so nahe wie möglich zu kommen, auch hier nicht durchkreuzt werden darf. Der freundliche Ton der Anrede war bisher ausbalanciert mit harten Konfliktanforderungen und gegen die Alltäglichkeit gerichteten Einräumungen eigener Nichtigkeit – so nur kann Existenz-Mitteilung möglicherweise verstanden werden, und die Sprache hält die Balance, ohne die Abgründe tarnen zu müssen. Was aber jetzt? Gottes Nähe ist Nichtigkeit des Menschen, an dieser Widerstrebung, Umkehrung, kritischen Verhältnisbestimmung muss Kierkegaard festhalten – sonst wäre alles zu einfach, zu banal, in der Gefahr bloßer Unmittelbarkeit: Religiöser Glaube wäre ästhetisch aufgefasst ein Missverständnis. Damit dies nicht eintritt, trotzdem aber wenigstens der Versuch gemacht werden kann, konstruktiv das gelingende Gottesverhältnis zu skizzieren, intensiviert die Rede die erzählende Nähe – und in ihr die Spannkraft zwischen Vollkommenheit und Nichtigkeit, die beide schließlich keine Selbstverständlichkeiten sind, obwohl sie nach der analytischen Tendenz der Rede in jedem menschlichen Selbst so natürlich sind wie Essen und Trinken: Der dagegen, der sich selbst in der besprochenen Weise kennt, weiß wohl, dass Gott nicht in Tempeln wohnt, sondern er weiß zugleich, dass Gott bei ihm ist in der Nacht, wenn der Schlaf erquickt und wenn er in angstvollen Träumen erwacht, am Tag der Not, wenn er vergebens nach Trost Ausschau hält, im Lärm der Gedanken, wenn er vergebens nach einem Wort der Rettung lauscht, in Lebensgefahr, wenn die Welt nicht hilft, in Angst, wenn er sich selbst fürchtet, im Augenblick der Verzweiflung, wenn er sich mit Furcht und Zittern um die Seligkeit seiner Seele müht; dass er bei ihm ist in dem Augenblick, wenn die Angst schnell wie der Blitz sich auf ihn stürzen will, wenn es schon so ist, als wäre es zu spät, und keine Zeit mehr bleibt hinauf in das Haus des Herren zu gehen, da ist er bei ihm, schneller als das Licht, das die Dunkelheit durchdringt, schneller als der Gedanke, der die Nebel zerstreut, gegenwärtig – ach ja, so schnell gegenwärtig wie nur Der es sein kann, der je schon gegenwärtig war.55
In der drohenden Vernichtung des Selbstverhältnisses durch Angst ist – in der Umkehrung – die Nähe Gottes. Nur so, durch den Gegensatz hindurch, wird die Konkretion der Existenz-Mitteilung sicher gestellt, sie kann so nicht zu leicht genommen werden. Und wenn die Überlegung 55 2T44 in SKS 5, 313,29 – 314,6.
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folgt, warum nicht auch ,Freude‘ Gottes- und Selbsterkenntnis bedeuten könnten, so ist die Antwort keineswegs negativ, aber warnend: In der Situation der Freude geht schneller vergessen, dass es ja die Nichtigkeit des eigenen Selbst war, die der Vollkommenheit korrespondiert.56 3. Es ist und bleibt die Distanzierung ästhetischer oder schwärmerischer Unmittelbarkeit,57 die die unaufhebbar dialektische Situation von Selbst- und Gottesverhältnis fordert; und doch, wie versteckt folgt am Ende der Rede eine einzige Bestimmung Gottes, die für sich bestehend die dialektischen Wendungen hinter sich lässt: „Wo Gott in Wahrheit ist, da ist er immer schöpferisch.“58 Dieses Bewegungsmotiv geht über den Bewusstseinsgegensatz und das Umkehrungsverhältnis von Gott und Selbst hinaus, die Spannung zwischen Nichtigkeit und Vollkommenheit wird zu einem produktiven Verhältnis im schöpferischen Leben. Hier wäre zuletzt die Gelungenheit eines Selbstverhältnisses erreicht, das aufgrund von vorausgehender Unmittelbarkeit, bestimmbarer Gegensätzlichkeit und dem bewussten Verhältnis als einem Dritten – in dieser immer auch problematischen Struktur des Selbst nicht aufgerieben werden muss. Hier erst löst sich der Sinn der Rede, wenn er in der Konkretion einer bestimmten menschlichen Existenz einmal angeeignet, verstanden und vollzogen wird. 4. Kann ein solches Selbst im Gottesverhältnis – in seiner ,Durchsichtigkeit‘, wie die Krankheit zum Tode dann sagen wird – nicht doch den Charakter von Unmittelbarkeit gewinnen? Das hängt davon ab, wie diese Unmittelbarkeit an dritter Stelle aufgefasst werden kann. - Ein transzendentalphilosophischer oder -theologischer Einheitspunkt des konstituierenden Wissens oberhalb und außerhalb der Existenzerfahrung kommt nicht mehr in Frage. Wirklicher Zweifel, wie Johannes Climacus gezeigt hat, und erst recht das Interesse am eigenen Selbst im konkreten Selbstverhältnis lassen sich so überhaupt nicht verständlich machen. - Eine sthetische Unmittelbarkeit, die (nach Kierkegaards Stadieneinteilung) noch vor den wirklichen Konflikten des Lebens stünde bzw. gebraucht wird, um diese sich vom Leib zuhalten, kommt aus ethischreligiösen Gründen nicht in Frage. Existenzerfahrung hat einen unaufhebbaren ästhetischen Aspekt, der aber für sich allein nicht bestehen und das Gottes- und Selbstverhältnis nicht tragen kann. 56 Vgl. 2T44 in SKS 5, 314,10 – 17. 57 Vgl. 2T44 in SKS 5, 316,3ff. 58 2T44 in SKS 5, 316,8f.
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Kierkegaard hat Schleiermachers ,unmittelbares Selbstbewusstsein‘ von diesem ästhetischen Verständnis nicht klar genug unterschieden gesehen. - Die in der Rede von 1844 gezeigte Asymmetrie, Umkehrfunktion und Gegenseitigkeit von Gottes- und Selbstverhältnis in Nichtigkeit und Vollkommenheit setzen als Existenz-Mitteilung vielfältige Lebenserfahrung schon voraus, analysieren in ihr die in den Spannungen des Selbstverhältnisses liegende Wirksamkeit des Gottesverhältnisses sub contrario und wollen auf ein gelingendes Selbst- im Gottesverhältnis hinwirken. Unmittelbar wäre ein solches – neues, schöpferisches – Selbst genau dann, wenn seine Gegenwrtigkeit 59 zeitlich und nicht-zeitlich zugleich verstanden werden könnte. Denn dass erlebte Unmittelbarkeit nicht direkt bestimmbar ist, liegt ja daran, dass sie als immer vorausliegende vorüber ist, wenn sie sich (vermittelt) darstellt; trotzdem aber ist der Gedanke nicht abwegig, die genau so strukturierte Präsenz des Selbstverhältnisses sozusagen augenblickshaft festzuhalten, so wie sie dann sich selbst gegenwärtig erscheint.60 Sie ist als sich unmittelbares Selbst niemals zeitübergreifend vollständig, aber wie eine kreativer Moment in der Zeit, ,schöpferisch‘ und ,gegenwärtig‘. Die Existenz-Mitteilung reagiert darauf sachgemäß mit einem analysierenden Stil, der die Aneignung offen hält und nahe legt. Kierkegaards Ontologie der Subjektivitt, 61 wenn wir es so ausdrücken wollen, ist deshalb nicht systematisch, sondern erfahrungsorientiert epigrammatisch. 62 Für den schöpferischen Prozess der Selbstwerdung, ausgelegt in der Dialektik von Nichtigkeit und Vollkommenheit, d. h. im Gottesverhältnis, wäre das unmittelbare Selbstbewusstsein wie ein Epigramm für das, was die Existenz-Mitteilung im religiösen Geheimnis bewahrt und allein mit ihrer Aneignung teilt. Sprache vermittelt diese Erkenntnis, und Erkenntnis – jedenfalls in dieser Sache – gelingt nicht ohne den Erfahrungszusammenhang der Sprache. Epigrammatisch von Kierkegaard im frühen Journal mit und 59 2T44 in SKS 5, 314,4ff.; s. o. Anm. 55. 60 Vgl. C.S. Peirce Naturordnung und Zeichenprozeß, hg. v. H. Pape, Frankfurt am Main 1991, 206: „in jedem infinitesimalen Zeitintervall gegenwärtig und lebendig, […] in einem Augenblick wahrgenommen […] ist die Persönlichkeit unmittelbares Selbstbewußtsein“ (Das Gesetz des Geistes / The Law of Mind [1892]). – Zum entsprechenden Begriff der symbolischen Personalitt, vgl. H. Deuser (s. o. Anm. 29), aaO., Kap. II. 5. 61 Vgl. W. Anz Kierkegaard und der deutsche Idealismus, Tübingen 1956, S. 61. 62 Vgl. zum Begriff und zu Kierkegaards Gebrauch W. Anz, aaO., S. 6ff.
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gegen Schleiermacher gesagt: „Gott ist die Wirklichkeit des Möglichen.“63
63 AA:22 in SKS 17, 41,21 / DSKE 1, 43,24; vgl. die ausführliche Kommentierung in DSKE 1, 359 – 362, und erste Hinweise zur Auslegung in: H. Deuser „,Philosophie und Christentum lassen sich doch niemals vereinen‘. Kierkegaards theologische Ambivalenzen im Journal AA und BB (1835 – 1837)“, im vorliegenden Band Kap. A.6.
Søren Kierkegaard als Religionsphilosoph der Moderne Die aktuelle Diskussion über den Menschen zeigt deutlich naturalistische (szientistische, reduktionistische, materialistische) Tendenzen: Bewundernswerte naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse (z. B. aus Humangenetik oder Hirnphysiologie) werden ohne weitere Umstände so ausgelegt, als sei mit diesen Funktionsbeschreibungen das, was in der philosophischen Tradition zur Domäne der Seele, des Gemts oder der Vernunftpostulate (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) gehörte, in seiner Bedeutung schon abgegolten und also erledigt. Provozierender als in jenem Zeitungsartikel des Frankfurter Hirnforschers Wolf Singer (vom Januar 2004) kann diese naturalistische These nicht formuliert werden: „Keiner kann anders, als er ist. Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden“! 1 Dass diese These nicht nur zu weit geht, sondern auch methodisch (wissenschafts- oder begriffstheoretisch) gesehen nicht als begründet angesehen werden kann, ist hier nicht unser Thema; sie hat trotz allem etwas Verlockendes, denn sie scheint bisher Unerklärbares zu erklären, zumindest zu lokalisieren und damit besser handhabbar machen zu können. Symptomatisch für die öffentliche Diskussion über den Menschen und ihrer Suche nach stichhaltigen Begründungen ist zudem, dass eine zeitgenössische Philosophie, die gegenüber drohenden gentechnischen Manipulationen auf Kierkegaards Beschreibung des Selbstseinkçnnens als religiös-metaphysische Orientierung zurückkommen möchte (Kierkegaard gilt in J. Habermas’ Sicht als der „erste moderne Ethiker“),2 sich zugleich gezwungen sieht, das gesuchte ,Unverfügbare‘ oder „die Unbedingtheit von Wahrheit und Freiheit“ sowohl postmetaphysisch wie postreligiçs zu interpretieren. Als Rechtfertigung für diesen Vorbehalt wird angeführt, dass jene Unbedingtheit „jenseits der Konstituentien ,unserer‘
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W. Singer in F.A.Z., Nr. 6, 8. 1. 2004, S. 33. J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 42002, S. 107; vgl. 17ff.
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Lebensform […] jeder ontologischen Gewähr“ entbehre.3 Die ethische Intensität der individuellen Lebensformen und die ontologischen Verbindlichkeiten der religiös-metaphysischen Tradition scheinen unüberbrückbar auseinander zu liegen. – Doch sind beide Seiten hier überhaupt richtig bestimmt worden? Ist die Unbedingtheit des menschlichen Selbstseinkçnnens schon dadurch relativiert, dass es – in externer Perspektive – immer auch anders gestaltetes und begründetes Selbstseinkçnnen gibt? Und ist der Begriff des Nachmetaphysischen schon dadurch gerechtfertigt, dass eine substanziell gedachte Ewigkeit, Freiheit oder Wahrheit unter den Folgebedingungen neuzeitlicher Wissenschaften schwer nachvollziehbar erscheint? Wird hier nicht eine bestimmte Metaphysikauffassung für das letzte und einzige Modell genommen, um es damit für überholt zu erklären? Im Folgenden möchte ich auf diese Diskussionslage antworten, indem ich an Kierkegaards Phänomenologie der Angst und damit an seinen Begriffen der Existenz und der Freiheit zeige, dass und wie ein partieller Naturalismus durchaus angemessen ist; dass aber zugleich die Eigenständigkeit der geistigen Selbsterfahrung der Menschen respektiert werden muss – was für Kierkegaard identisch war mit dem Thema des Christ-Werdens bzw. einer christlich begründeten Religionsphilosophie. Das soll in drei Schritten entwickelt werden: Zunächst in einer geistesgeschichtlichen Übersicht im Blick auf die spezifische Problemstellung von Kierkegaards Religionsphilosophie; dann in einer Auslegungsskizze zur Phänomenologie der Angst; und zuletzt in der Auszeichnung des Freiheitsbegriffs zur anthropologischen Begründung der Religiosität.
1. Zu Kierkegaards geistesgeschichtlicher Stellung Kierkegaards Gesamtwerk gehört seit 150 Jahren zu den einflussreichsten Impulsen für die europäische Geistesgeschichte. Allein die beiden kleineren Schriften Der Begriff Angst (1844) und Die Krankheit zum Tode (1849) zählen zur Weltliteratur, denn sie haben tatsächlich zum ersten Mal eine an der menschlichen Selbsterfahrung konsequent orientierte psychosomatische Anthropologie vorgelegt, die ihresgleichen bis dahin nicht hatte. Das ist historisch gesehen nicht verwunderlich, weil erst die 3
AaO., S. 25 – 27. – Eine analoge Situation im distanziert gesuchten Anhalt an der religiös-metaphysischen Tradition zeigt die Friedenspreisrede, vgl. J. Habermas Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001.
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Aufklärungsepoche und die Philosophie des deutschen Idealismus einen methodisch bewussten Erfahrungs- und Theoriebegriff geliefert haben, der die Welt als geschichtliche Entwicklung zu denken lehrte, Vernünftigkeit als Kriterium dieses Prozesses forderte und damit die Wissenschaften zur Instanz auch für die praktischen Lebensgestaltungen qualifizierte. Kierkegaard ist ganz und gar von dieser Moderne geprägt, aber er widerspricht ihr auch mit demselben Eifer umfassender Welterklärung, den er von ihr gelernt hat: Auf der wirklichen Erfahrung der Menschen zu bestehen nennt er deshalb – in der neuen Verwendung eines alten Begriffes – Existenz. Das schließt geradezu empirisch das leib-seelische Selbstverhältnis ein, will darüber hinaus aber die unvertretbare geistige Dimension dieser spezifischen Relation zu sich selbst ein für alle Mal hervorheben. Sie hat etwas Unplanbares, sie steht für Neues, geschichtliches Werden, Selbsterfahrung und Leiden am Leben; kurz: für das schwierige Phänomen der Freiheit. Die folgenden Stichworte bezeichnen Entwicklungsschritte christlich-abendländischer Anthropologie,4 und sie versuchen einen kurzen Begriff davon zu geben, wie Kierkegaards Initiativen in dieser Sache geistesgeschichtlich lokalisiert sind; nur so ist seine enorme Wirkung bis heute zu erklären: 1.1. Die antike Philosophie, exemplarisch in Platons Dialogen, hat die fundamentale Spannung aller Wissenschaft, die sich zugleich um Lebensorientierung bemüht, darin exponiert, dass aus purer (empirischer) Erfahrung kein theoretischer Begriff gefolgert werden kann. Begriffliche Klarheit gelingt nur dann, wenn eine selbständige geistige Realität bereits vorausgesetzt wird. Dass diese Ausgangsfrage aller Wissenschaften von größter Aktualität ist, zeigen die genannten Debatten über einen neuen Naturalismus, in denen die Neigung besteht, die Wirklichkeit des Menschen auf seine – wie komplex auch immer angesetzte – empirische Gegenständlichkeit zu reduzieren. Das hätte zur Folge, dass es z. B. Freiheit nur als Illusion gäbe, geistige Realitäten dieser Art ohne theoretisch begründbaren Status blieben. (In der umgekehrten Gefahr einer Reduktion aller Wirklichkeit auf den geistigen Pol dieses Spannungsverhältnisses steht die heutige Wissenschaftsauffassung in der Regel nicht.) 1.2. Für die christliche Philosophie und Theologie des europischen Mittelalters wird eine Dreigliedrigkeit (spiritus – anima/ratio – sensus/caro) 4
Vgl. H. Deuser „Sören Kierkegaard. Die Dialektik menschlichen Existierens“ in Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, hg. v. F. Decher und J. Hennigfeld, Würzburg 1992, S. 139 – 151; S. 141.
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einflussreich, die in der menschlichen Seele und Vernünftigkeit die faktische Vermittlung – oder den Zusammenstoß – der höchsten Realität mit der Sinnlichkeit sehen lehrt. Es sind diese beiden Relationen, in denen sich die menschliche Seele darstellt und eine Psychologie sich als entwicklungsfähig abzeichnet. Allerdings dominiert hier in eindeutiger Hierarchie das Geistige über das Sinnliche. 1.3. Mit Luthers Anthropologie kommt es zur entschiedenen Abwendung vom dreistufigen Menschenbild zugunsten einer Personalität, die immer – im Guten wie im Bösen – in der Relationalitt ihrer aktuellen wie prinzipiellen Bezugnahmen aufgefasst werden muss. Es ist der Glaube (oder Unglaube) im Menschen, in dem sich die kreative Gottrelation (oder destruktive Abgott-Relation) darstellt und auswirkt. Nur so sind Menschen als Personen anzusprechen, darin besteht ihre geistige Realität – und nicht in einer schein-empirischen Substantialität, wie sie das christliche Mittelalter noch voraussetzen musste. 1.4. Die Neuzeit gewinnt ihr Selbstbewusstsein zugleich aus der Kritik an den scholastischen Vorgaben und den methodisch überzeugenderen Entdeckungen empirischer Forschung in Geschichte und Natur. An die Stelle der Hierarchie geistiger Realitäten tritt die problematische Zuordnung einer Denkwelt der Theoriebildung gegenüber einer Dingwelt der empirischen Gegenstände. Das spannungsvolle Verhältnis der platonischen Philosophie wiederholt sich sozusagen in der Horizontale, und das Vermittlungsproblem zwischen Denken und Empirie bleibt dem Wissenschaftsbegriff bis heute eingeschrieben. 1.5. Die Leistung Kierkegaards besteht zunächst einmal schematisch gesehen darin, dass er auf der Basis der Sachproblematik der Epochen Nr. 3 (Reformation) und 4 (Neuzeit) auf die Konstellationen der vorausgehenden Epochen Nr. 1 und 2 zurückweist. Er scheut deren Begrifflichkeiten nicht und präsentiert Sokrates als frühen Inbegriff eines Denkens, das auf die Existenz des jeweils denkenden und nach Orientierung suchenden Menschen aufmerksam ist. Es ist diese existentielle Konzentration, die sich Kierkegaard durch keine noch so modische Theoriebildung ausreden lassen will. Vor allem aber gelingt ihm damit die Verbindung der wissenschaftsmethodischen Problemlage, wie er sie dem deutschen Idealismus entnehmen konnte, mit dem durch Luther herausgestellten Personsein des Menschen in Relationen. Das Selbst eines Menschen – und dieser Begriff des Selbst hat seine Prägung ebenso wie der Begriff der Existenz vor allem und zuerst durch Kierkegaard erhalten! – ist als eine in sich wie nach außen mehrfach gestufte, fragile, fordernde, unvermeidbare, voraussetzungsreiche, notwendige, immer neu mögliche
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und zuletzt wirkliche Relation aufzufassen; sie zu analysieren ist eine komplexe Aufgabe wissenschaftlicher Theoriebildung, weil diese sich immer an der jeweils eigenen Erfahrung und Existenz stößt: Was neu beschrieben werden kann und soll ist in gewissem Sinne immer schon da. Das gilt für die geschichtlichen Menschheitserfahrungen (nach Einsicht des 19. Jahrhunderts) ebenso wie für die experimentelle Naturwissenschaft (nach Einsicht des 20. Jahrhunderts). Wir Menschen stehen keineswegs einer neutralen Außenwelt gegenüber, an der wir nicht schon beteiligt wären: im Wahrnehmen, im Zugriff auf die empirischen Gegenstände und im schlussfolgernden Denken. In Kierkegaards Sprache gesagt: Der existentielle Zusammenhang ist unvermeidlich, darin besteht gerade die Auszeichnung des Menschen. Diese conditio humana einzuräumen verlangt aber, die Voraussetzung von Geist und Freiheit anzuerkennen, wie sie in der Relationalität des Selbstsein zum Austrag kommt.
2. Die Entdeckung der Freiheit als Grund der Angst 2.1. Das Phnomen der Angst in der menschlichen Existenz Die Unschuld ist Unwissenheit. In der Unschuld ist der Mensch nicht als Geist, sondern seelisch bestimmt in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit. Der Geist ist träumend im Menschen. […] In diesem Zustand gibt es Frieden und Ruhe, doch gleichzeitig noch etwas anderes, was nicht Unfriede und Streit ist, denn es gibt ja nichts, womit sich streiten ließe. Was ist es dann? Nichts. Doch welche Wirkung hat Nichts? Es gebiert Angst.5
Mit dieser Beschreibung hat Kierkegaard im Begriff Angst 6 eine neue Epoche der Angst-Analyse eingeleitet. Die folgenden Bestimmungsstücke können hervorgehoben werden: 2.1.1. Die Unmittelbarkeit des Selbstverhältnisses eines Menschen zu sich, noch ohne sich dessen im Sinne von aktiver Selbstreflexion bewusst zu sein – so wie wir es uns am besten im kindlichen Selbstverhältnis vorstellen können und wie es uns allen einmal eigen war – , wird hier subtil beschreibbar: Ein unmittelbares Selbstempfinden, das in sich eine fundierende Spannung enthält, aus der die folgende Entwicklung, das Sozialisationsgeschehen im Blick auf das kommende Selbstbewusstsein, sich überhaupt erst erklären lässt: der „Geist ist träumend“! – Geist ist zu 5 6
BA in SKS 4, 347 / S. Kierkegaard Der Begriff Angst [BA-GP], übers. v. G. Perlet, Stuttgart 1992, S. 50. Kap. I, § 5.
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verstehen als Relation zu sich selbst,7 die aktive Bildung eines Verhältnisses, einer Interpretation, eines Verstehens, wie sie sich nicht aus empirischen Befunden als solchen ergeben kann. Das, was später als Selbstbewusstsein eine Selbstverständlichkeit sein wird, ist in seinen Vorstufen noch nicht da, wohl aber angelegt. 2.1.2. Die Übergänge zwischen den Vorstufen lassen sich durchaus exemplarisch angeben (Individuation, Erziehungseinflüsse, Geschlechtsbewusstsein), und Kierkegaard hat eine Fülle von Beobachtungen geliefert, die diese Entwicklungsperspektive stützen,8 doch erklärt sich daraus allein nicht der Umschwung; oder anders: Der Umschwung vom ,träumenden Geist‘ zum wissenden Selbstbewusstsein ergibt sich nicht als glatter Übergang, sondern so, wie Unschuld und Schuld aufeinander folgen: in der Plötzlichkeit des Sprunges.9 2.1.3. Um diesen besonderen Übergang nun doch näherungsweise zu erklären (für Kierkegaard geht es dabei, was hier ganz unberücksichtigt bleibt, um die Frage des Sündenbegriffs, also eine Auslegung der biblischen Erzählung vom Sündenfall und die exemplarische Bedeutung von Adam und Eva), hilft sich Kierkegaard mit der psychologischen Beschreibung jenes fundierenden Spannungszustandes in der unwissenden Unmittelbarkeit: Ihre gegenstandslose Spannung entdeckt er als die Daseinsangst, die Menschen prinzipiell und zu allen Zeiten, wenn auch biographisch und historisch in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen, kennzeichnet. Angst haben ist menschlich, Angst haben ist psycho-somatisch bedingt und zu erklären, denn der Mensch, so Kierkegaards Definition, ist „eine Synthese aus Seelischem und Körperlichem. Doch eine Synthese ist undenkbar, wenn sich die beiden Teile nicht in einem Dritten vereinen. Dieses Dritte ist der Geist“.10 2.1.4. Der ,träumende Geist‘ also ist als das geistige Verhältnis, das ,Dritte‘, durchaus präsent, aber nicht offenbar, nicht gewusst, nicht selbstkontrollierend tätig, sondern implizit sich selbst ahnend in der Spannung zwischen Seele und Körper – und dort sitzt die Angst. Weil hier kein Gegenstandsbewusstsein vorliegt, kann die Angst so furchtbar sein: Sie erklärt sich nicht, tritt einfach auf; und die hier aus Erfahrung 7 Die expliziten Analysen zum Selbst als ,Verhältnis’, wie Kierkegaard sie in der Krankheit zum Tode (1849) vorgelegt hat, bleiben hier außer Betracht, vgl. im vorliegenden Band Kap. B.11. 8 Z. B. in der Frage, ob Kinder von Natur aus gut bzw. böse sind und wie dies angemessen beurteilt werden kann (vgl. BA in SKS 4, 379 / BA-GP, 89f.). 9 BA in SKS 4, 338f. / BA-GP, 38f. 10 BA in SKS 4, 349 / BA-GP, 52.
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bekannte Plötzlichkeit bezeichnet Kierkegaards als den „qualitativen Sprung“11 vom einen Zustand in den anderen – musterbildend für den Wechsel von Unschuld zu Schuld, vom Träumen zur Wirklichkeit. 2.1.5. Psychologisch gesehen charakterisiert der Sprung die entscheidende Krise, in der es zur Wendung von der Unmittelbarkeit zum Bewusstsein dieser Situation kommt. Von da an gibt es kein Zurück mehr, Unmittelbarkeit bleibt Erinnerung unter den Bedingungen des (Selbst-)Bewusstseins – worin es aber nun nicht einfach zum Verschwinden der Angst kommt. Bevor diese neue Situation erklärt werden kann, müssen zunächst die unterschiedlichen Formen und Definitionen der Angst betrachtet werden, die Kierkegaard vorgeschlagen hat. 2.2. Die Phnomenologie von Angst und Existenz 2.2.1. Angst ist eine sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie.12 In Erinnerung an das zuerst gegebene Zitat über die Angst, wie sie im ,träumenden Geist‘ dem Nichts gegenüber lokalisiert wird, kann vor allem und grundsätzlich gesagt werden: Angst ist Zweideutigkeit. Kierkegaard wiederholt dies auf allen Stufen der Beschreibung, und er definiert zudem die Psychologie in dieser Funktion: das Zweideutige darstellen zu können und zu müssen. Der beste Ausdruck für Zweideutigkeit ist das ungeklärte Angezogen- wie Abgestoßensein der Angst gegenüber, Antipathie und Sympathie wechseln oder liegen ineinander, und als Belege für diese Erfahrungen führt Kierkegaard die Alltagssprache an: Wir sprechen von „süße[r] Angst“, „verschämte[r] Angst“ etc.13 Entsprechend ist dieselbe Zweideutigkeit in den Vorstufen des Wissens und des Schuldigwerdens, ja in allen Dimensionen ursprünglicher Selbsterfahrung (Unmittelbarkeit) anzusetzen: Es gibt immer eine Attraktion und ein Abgestoßenwerden, dies eben ist das Dilemma der Synthesebedingungen von Körper und Seele, die sich im Geist, ihrem Dritten noch nicht gefunden, noch nicht zum Ausdruck gebracht haben. In diesem Vorbereich gilt deshalb: Zur Zweideutigkeit verhält sich ein Mensch „als Angst“, denn er kann sich als Geist nicht loswerden, auch nicht „ins Vegetative sinken“; und „die Angst fliehen kann er nicht, denn er liebt sie; eigentlich lieben kann er sie nicht, denn er flieht sie“.14 Das ist die Situation des impliziten Geistes, der 11 12 13 14
BA in SKS 4, 349 / BA-GP, 52. BA in SKS 4, 348 / BA-GP, 51. BA in SKS 4, 348 / BA-GP, 51. BA in SKS 4, 349 / BA-GP, 53.
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als Angst zum Ausdruck kommt, und die Psychologie ist es, die die zugehörige Zweideutigkeit in Beschreibungen umzusetzen vermag. 2.2.2. Angst ist weder eine Bestimmung der Notwendigkeit noch der Freiheit, sie ist eine befangene Freiheit, wo die Freiheit also nicht frei in sich selbst, sondern befangen ist, nicht in der Notwendigkeit, sondern in sich selbst.15 Die Angst würde den Charakter der Zweideutigkeit verlieren, wäre sie – gemäß den drei Modalitäten des Notwendigen, Wirklichen (Zufälligen, Willkürlichen, Freien), Möglichen – entweder ein Resultat von Notwendigkeit oder von Freiheit: Wäre die Angst Resultat einer logischen oder naturgesetzlichen Notwendigkeit, so gäbe es immer Angst, die Angst wäre eine wesentliche Eigenschaft von Menschen, so wie der Stoffwechsel ununterscheidbar zum Menschen gehört; wäre die Angst Resultat menschlicher Freiheit, d. h. aufgrund menschlicher Spontaneität und Willkür zu erklären, so wäre sie ungefährlich, unzweideutig, wählbar bzw. vermeidbar. Trifft beides nicht zu – und Kierkegaard ist der Auffassung, dass das, was wir Angst nennen und als solche ebenso fasziniert wie abgestoßen erleiden müssen, weder als Notwendigkeit noch als Freiheitsakt angemessen beschrieben werden kann –, dann bleibt nur, der Freiheit die Modalität der Möglichkeit zuzuweisen, wie wir gleich sehen werden. Das interessante Ergebnis dieser zweiten Bestimmung der Angst ist aber, dass die Zweideutigkeit der Angst jedenfalls eher aus dem Pol der Freiheit resultiert, denn die „befangene Freiheit“16 ist ja eine Freiheit, aber eine solche, die blockiert ist, nicht um sich weiß und insofern nicht realisiert wird – und gerade deshalb kommt es zur Angst! Auch diese zweideutige Befangenheit der Freiheit ist kein Produkt der Notwendigkeit, d. h. nicht zu erklären wie eine Virusinfektion mit notwendigen Bedingungen und notwendigem Verlauf, sondern eben ein indirektes, nicht explizites Freiheitszeugnis aufgrund der Synthesebildung von Körper und Seele im Menschen.
15 BA in SKS 4, 354 / BA-GP, 59. 16 Im dänischen Original steht „hildet Frihed“ – gefangene, befangene Freiheit; anders in der Übers. von E. Hirsch in BA in GW1 7, 48: „gefesselte Freiheit“. – Vgl. SKS 4, 354,35; dazu der Kommentar in SKS K4, 417 (zur Stelle).
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2.2.3. Demgemäß ist die Angst jener Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will und die Freiheit nun hinunter in ihre eigene Möglichkeit schaut und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten.17 Kierkegaard behauptet nirgends, mit Sätzen wie diesen eine Definition der Angst vorzulegen, das wäre bei einem zweideutigen Phänomen auch kaum zu verantworten. Trotzdem aber trägt er immer genauere Beobachtungen zusammen, die als Bestimmungsstücke eine gewisse Steigerung in der Abgrenzung des Phänomens ergeben. Hier nun im Blick auf die Freiheit: Indem es zur Synthese (von Körper und Seele) im menschlichen Geist kommt, indem ein Schritt zur Bewusstwerdung bevorsteht – erkennt, besser: ahnt die Freiheit sich im Modus der Möglichkeit; und wie beim Blick in eine große Tiefe oder Höhe, so auch hier der Effekt des somatischen Schwindelgefühls; psycho-somatisch ausgedrückt: „Schwindel der Freiheit“! Mit der Möglichkeit kommt eine erste Selbstbegegnung der Freiheit zum Ausdruck, nämlich ihre bevorstehende Verwirklichung, d. h. als Freiheit handeln zu können und zu müssen, und das erzeugt Angst. Wie beim körperlichen Schwindel wird auch hier ein Haltepunkt gesucht, und auf der Basis der Synthesebedingungen kann dieser Halt nur vom anderen Pol der Synthese kommen (denn von der Freiheit stammt ja die Möglichkeitsangst vor der Verwirklichung): von der körperlichen Seite, der ,Endlichkeit‘, wie Kierkegaard sagt. Fasziniert und abgestoßen zugleich will die Angst die wirkliche Freiheit im Selbstbewusstsein noch verhindern, und das wird versucht, indem Naturgegebenheiten als Festpunkte vorgeschoben werden (z. B. ,ich kann das nicht, weil mir von Natur aus die Begabung fehlt […]‘ etc.). Dem ,Schwindel der Freiheit‘ steht nicht mehr einfach das Nichts vor Augen, sondern die Nichtigkeit von Gegenständen taucht jetzt auf im Gewand der Möglichkeit ,zu können‘.18 Das geistige Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinen eigenen Möglichkeiten, zum wirklichen Handeln aufgrund von Freiheit, nimmt insofern Schritt für Schritt Gestalt an – zunächst aber immer über Formbestimmungen der Angst.
17 BA in SKS 4, 365 / BA-GP, 72. 18 So bereits in Kap. I, § 5 (BA in SKS 4, 350 / BA-GP, 53): „wiederum ein Nichts, eine ängstigende Möglichkeit zu kçnnen.“
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2.2.4. Das Mögliche entspricht vollkommen dem Zukünftigen. Das Mögliche ist für die Freiheit das Zukünftige, und das Zukünftige ist für die Zeit das Mögliche. Beidem entspricht im individuellen Leben Angst.19 Mit dem III. Kap. im Begriff Angst erfährt die anthropologische Konstellation eine neue Wendung, weil die bisherige Synthesebestimmung (Seele und Körper) durch die zeitlichen Dimensionen Zeitliches und Ewiges zum Ausdruck gebracht werden können.20 Im Augenblick des aus der Synthesebildung des Geistes erklärbaren Auftretens der Angst, so ist Kierkegaards These, kommen beide Synthesebestimmungen zusammen: Es ist wiederum die Modalvorstellung der Möglichkeit, an der die andere Seite alles Bedingten (Freiheit gegenüber dem Körper; Ewiges gegenüber der Zeit) orientiert werden kann: Logische Möglichkeiten sind unendlich, außerhalb der Zeit; der Gottesbegriff ist traditionell so gefasst, dass Ewigkeit und Unendlichkeit zu seinen Wesenseigenschaften zu zählen sind; d. h. mit der Synthesebildung des Geistes im Menschen ist eine – wenn auch immer indirekte – Nähe zu den Grundbegriffen der Metaphysik (Ontologie) gegeben. Hier vor allem so, dass jetzt mit dem Möglichkeitsbegriff die Zeitdimension des Zukünftigen verbunden werden kann. Der (noch) nicht-empirische, weil zukünftige Bestand der Welt- wie Personentwicklung hat diese Unendlichkeitsdimension und zumindest immer partielle Unbestimmtheit, die sich wiederum als Können der Freiheit in der Angst geltend macht. Kierkegaard formuliert dementsprechend: „Wenn sich nun die Möglichkeit der Freiheit vor der Freiheit zeigt […]“21 – dann kommt es wiederum zu der bekannten impliziten Wirkung der Freiheit als Angst; jetzt aber so, dass der menschliche Geist nicht nur sich als Synthese von Körper und Geist ahnt, sondern als zeitlich, d. h. so von der Zeit bestimmt, dass ihre Dimension des Ewigen (Unbedingten) in das menschliche Zeitverhältnis eingeht, ja eingehen muss. Es war Kierkegaard, der zuerst den Begriff der Zeitlichkeit in genau diesem Sinne der anthropologischen Synthesebildung entdeckt hat,22 und wesentliche Impulse für M. Heideggers frühes Hauptwerk Sein und Zeit verdanken sich dieser Entdeckung.23 Für 19 20 21 22 23
BA in SKS 4, 394 / BA-GP, 107f. BA in SKS 4, 384, 388 / BA-GP, 96, 99f. BA in SKS 4, 394 / BA-GP, 107. BA in SKS 4, 392 / BA-GP, 105. Zum generellen Wirkungsverhältnis Kierkegaard-Heidegger vgl. M. Theunissen „Das Erbauliche im Gedanken an den Tod“ in Kierkegaard Studies: Yearbook 2000, hg. v. N. J. Cappelørn, H. Deuser und J. Stewart, S. 40 – 73.
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Kierkegaard bedeuten Möglichkeit wie Zukünftigkeit die geistigen Aspekte, die in der Synthese – der endlichen Wirklichkeit gegenüber – Angst erzeugen: Denn es gibt ein Können, eine Freiheitsverwirklichung, die als bevorstehend geahnte zurückschrecken lässt, obwohl sie fasziniert. 2.2.5. Der qualitative Sprung ist doch die Wirklichkeit, und insofern wären ja die Möglichkeit und die Angst aufgehoben. […] Die Angst kommt dann wieder ins Verhältnis zum Gesetzten und zum Zukünftigen. Doch der Gegenstand der Angst ist jetzt ein Bestimmtes, ihr Nichts ist wirklich Etwas, weil der Unterschied zwischen Gut und Böse in concreto gesetzt ist […].24 In der Gesamtanlage des Begriffs Angst ist ein wichtiger Unterschied zu machen zwischen der Angst sozusagen vor dem Auftreten des Selbstbewusstseins, das seine Freiheit kennt, und nach diesem Einschnitt. Entwicklungspsychologisch gesehen wird jetzt erkennbar, dass und wie die Krisenentwicklung vor dem Bewusstsein des Selbst – dieses zurückdatiert als Synthese mit indirekter Freiheitspräsenz entworfen hat. Ihre Verwirklichung tritt als Zusatzproblem dann ein, wenn Menschen sich als wirkliche Synthesenaufgabe, als ein Selbst entdeckt haben, d. h. in der jeweils eigenen Wirklichkeit angekommen sind (im Konzept des Begriffs Angst ist es der Sündenbegriff, der diese Wende erst wirklich zum Ausdruck bringt). Auf dieser Basis ist die jetzt zu stellende Frage verständlich, warum es denn in dieser Wirklichkeitserfahrung überhaupt noch Angst geben könne, die ja wesentlich durch die Modalität der Möglichkeit (des Nichts, des Könnens, des gespiegelten Bevorstehens etc.) begründet worden war. Kierkegaards Antwort ist doppelt: a) Die Angst bleibt durch Mçglichkeit charakterisiert, weil im wirklichen Handeln jeweils Bestimmtes wiederum gegenüber seinem Möglichkeitshorizont abgehoben werden muss. Entsprechendes gilt für den Zukunftshorizont, der bei keiner Verwirklichung zum Verschwinden gebracht werden kann. Insofern bleibt die Angst als Ausdruck der Synthesebildung virulent. b) Daraus folgt aber doch ein gravierender Unterschied zur Angst vor der Wendung zur Wirklichkeit des Selbst, weil jetzt von einem gegenstandslosen Nichts eigentlich nicht mehr gesprochen werden kann, sondern von etwas ,Bestimmtem‘, wie Kierkegaard sagt. Doch dieses Bestimmte ist nicht irgendein Gegenstand, sondern die Konkretion der Unterscheidungsfreiheit zwischen ,Gut und Böse‘! Diese ist zwar das 24 BA in SKS 4, 413 / BA-GP, 130.
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konkrete Kçnnen der Freiheit, aber doch so, dass eine Alternative dominiert, in der es eben, wie gesagt (a) im Blick auf eine bestimmte Verwirklichung und zukünftige Möglichkeiten wiederum zum faszinierten Zurückschrecken der Angst kommen kann. Kap. IV im Begriff Angst differenziert die daraus sich ergebenden immer sehr konkret fassbaren Formen der Angst. Die psycho-somatische und pneumatische Seite der Angst bleiben unterscheidbar, in allem aber setzt sich die Zweideutigkeit der Angst – sozusagen auf höherer Ebene konkreter Alternativen – fort. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Kierkegaard mit der reformatorischen Theologie festhalten – und auf seine Weise erklären – kann, warum für einen Menschen nicht von einem ,freien Willen‘ (liberum arbitrium) 25 gesprochen werden darf. Gerade auf der Ebene der Angst in konkreten Verwirklichungen ist ja die Freiheit durch die Angst gebunden, die Freiheit kann nicht einfach so, wie sie will, sondern im Guten wie im Bösen zeigt sich eine spezifische Verängstigung, die an dem festhalten (Angst vor dem Bösen), vor dem zurückschrecken (Angst vor dem Guten) lässt, was eigentlich vor der Freiheit als die richtige Entscheidung längst eingesehen wurde. Kierkegaards Begriff des Dmonischen als „das Verschlossene und das unfreiwillig Offenbare“,26 aber auch als das „Plçtzliche“27 und das „Inhaltslose, das Langweilige“28 zeigen, wie die Zweideutigkeit der Angst fortwirkt. Hier ist der psycho-somatische Aspekt (und damit auch der medizinische: „mit Pulver und mit Pillen“!) 29 längst nicht mehr hinreichend. J. P. Sartre hat nicht zuletzt in seinen Theaterstücken diese negativen Freiheitszeugnisse eindrücklich vorgeführt;30 P. Tillich hat den Begriff des Dämonischen eingesetzt im Blick auf die Entwertung und Verdrehung des Göttlichen, d. h. als eine Fehlform von Religion.31 So umfassend also die Formen der Angst auch sind, so beständig ist das Gegengift, denn es gehört zum Selbstverhältnis des Menschen: Wer durch die Angst gebildet wird, der wird durch die Möglichkeit gebildet, und erst wer durch die Möglichkeit gebildet wird, wird nach seiner Unendlichkeit gebildet.32 25 26 27 28 29 30 31 32
BA in SKS 4, 414 / BA-GP, 131. BA in SKS 4, 424 / BA-GP, 144. BA in SKS 4, 430 / BA-GP, 152. BA in SKS 4, 433 / BA-GP, 155. BA in SKS 4, 423 / BA-GP, 142. Vgl. W. Janke Existenzphilosophie, Berlin / New York 1982, Kap. IV. Vgl. P. Tillich Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart 1966, S. 124ff. BA in SKS 4, 455 / BA-GP, 182.
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Deshalb kann gesagt werden: Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit, und nur diese Angst ist durch den Glauben absolut bildend, indem sie alle Endlichkeiten verzehrt und deren sämtliche Täuschungen aufdeckt.33
3. Religiositt: Freiheit und Glaube In Kierkegaards Hauptwerk von 1846 Die unwissenschaftliche Nachschrift wird unter der Leitfrage nach dem Christ-Werden eine Doppelthese vertreten, deren wissenschaftstheoretische Bedeutung gerade heute wiederentdeckt zu werden verdient: Also: a) ein logisches System kann es geben; b) aber ein System des Daseins kann es nicht geben.34 Nur wenn die Reflexion zum Stehen gebracht wird, kann der Anfang vollzogen werden, und die Reflexion kann nur angehalten werden durch etwas anderes, und dieses andere ist etwas ganz anderes als das Logische, da es ein Entschluss ist.35
3.1. Der hier vorausgesetzte Systembegriff impliziert Dreierlei: Abgeschlossenheit, die Abstraktion der reinen Theorieebene (Notwendigkeit) und Objektivitt (empirisch oder spekulativ). Alle drei Bedingungen gehören zur Idee eines ,logischen Systems‘, aber auch zu empirischen Theoriebildungen, sofern sie einen klar begrenzten Gegenstandsbereich tendenziell vollständig darzustellen versuchen. Die Geometrie Euklids beruht auf einer begrenzten Zahl von Axiomen,36 von denen ausgehend alle anderen Sätze gefolgert werden können, und I. Newtons Grundsätze der physikalischen Mechanik können (zu seiner Zeit!) genügen, um die mechanischen Phänomene zu erklären. Abgeschlossenheit kommt in diesen Beispielen allerdings immer nur durch bewusste Gegenstandsbegrenzungen zustande. Mathematische, logische, empirisch-theoretische Systeme wollen nicht alles, sondern immer etwas Bestimmtes oder einen bestimmten Bereich möglichst abschließend erklären. Anders liegen die Dinge in metaphysischen Systemen, sowohl der Tradition wie des deutschen Idealismus. Der Wissenschaftsbegriff ist dann als solcher um33 34 35 36
BA in SKS 4, 454 / BA-GP, 181. AE in SKS 7, 105,33f. / AUN in GW1 10, 101. AE in SKS 7, 110,8ff. / AUN in GW1 10, 106 Vgl. Á. Szabó „Axiom I“, Art. in Historisches Wçrterbuch der Philosophie 1 (1971), S. 737 – 741.
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fassend gedacht, durch dessen endgültige Verfasstheit alles – das Sein, das Denken, die Welt, die Freiheit, Gott etc. – prinzipiell vollständig erkannt werden kann. Wird diese Systemauffassung dann, wie es bei Hegel, Fichte und Schelling konzipiert wird, einschließlich ihrer Verwirklichungsbedingungen in Geschichte, Subjektivität und Weltbegriff auf eine sozusagen eschatologische Ganzheit hin ausgelegt, so ist die Art von Abgeschlossenheit erreicht, gegen die sich Kierkegaards Polemik richtet. Aus der Sicht des existierenden Denkers ist dieser Systemanspruch ganz einfach komisch, denn Komik entsteht durch das ,Missverhältnis‘ zwischen dem ,Unendlichen und dem Endlichen‘, dem ,Ewigen und dem Werdenden‘, wenn der Konflikt aus der Perspektive ,der Idee‘ gesehen wird: So wie ein Theoretiker und großer Systemdenker an den Unbilden des Alltäglichen scheitert: eine komische Figur! 37 Abstraktionen haben im wissenschaftlichen Denken selbstverständlich ihre Berechtigung, sie sind geradezu die Bedingung für das Systemdenken, das damit auf den Modalbegriff der Notwendigkeit festgelegt wird. Im Zwischenspiel der Philosophischen Brocken hatte Kierkegaard bereits diese strikte Unterscheidung festgestellt, dass es im Bereich des geschichtlichen Werdens eben deshalb keine Notwendigkeit geben könne. Die ,Notwendigkeit eines historischen Phänomens‘ zu begreifen, so wird es in der Nachschrift im ausdrücklichen Rückgriff auf die Brocken38 wiederholt, ist ein Widerspruch in sich: Auf der Ebene des geschichtlichen Werdens geht es um Möglichkeit und Wirklichkeit (bezogen auf bestimmte Ereignisse), während allein auf der Ebene des Logisch-Systematischen von Notwendigkeit die Rede sein kann. Die Abstraktion macht eben die Unterscheidung zwischen geschichtlichem Werden (der Konkretion) und dem gedachten Systematischen geltend; letzteres ist wissenschaftlich gesehen unumgänglich, erreicht aber nicht die wirkliche Entscheidungssituation eines existierenden Menschen. Die wissenschaftliche Verführungskraft der Moderne liegt einfach darin, im Triumph objektiver Methoden eine systematische Sicherheit (empirisch gesehen) oder Ganzheit (philosophisch gesehen) zu unterstellen, die nach Kierkegaards Einspruch gerade niemals und auf keine Weise erreicht werden kann. Ein Mensch zu sein bedeutet, objektiv ungesichert zu leben – und gerade dies verlangt die Wachheit des Denkens im Blick auf die Existenz. 3.2. Kierkegaard geht es also nicht um einen einfachen Gegensatz, sondern um die fundamentale Vorordnung der menschlichen Existenz. 37 AE in SKS 7, 88f. / AUN in GW1 10, 81f. 38 Vgl. AE in SKS 7, 58,2ff. AUN in GW1 10, 50.
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Sie ist selbst kein gegenständliches Etwas, sondern ihr widersprüchlicher Selbstvollzug. Er ist dadurch am besten akzentuiert, dass ihre ,Wahrheit‘ gerade in ihrer ,Unwahrheit‘ bestehen soll! 39 Die Paradoxie dieser These ist nicht aufgelöst, aber erklärbar dadurch, dass es die „Spannung der Innerlichkeit“40 ist, die die Existenz in Wahrheit charakterisiert. Innerlichkeit signalisiert das leidenschaftliche Verhältnis zu sich selbst, in dem der ,Entschluss‘, wie es zuvor hieß,41 seinen dramatischen Ort hat. Die objektive Seite der Sache (die geltenden Sachargumente, Sachbedingungen, materialen Daten im Umfeld einer Entscheidungssituation), sind ja keineswegs verschwunden, sondern in ihrer ,Ungewissheit‘42 präsent; dass solche Sachargumente als solche aber nicht ausreichen und niemals ausreichend sein werden, um zu einer klaren Entschlusslage zu kommen, das ist das Problem der Innerlichkeit. Die ,Wahrheit‘, also die definitive Sachgemäßheit dieser Situation, steigert sich geradezu mit wachsender Ungewissheit, die wiederum die leidenschaftliche Innerlichkeit steigert. So wie sich aus dem Gegensatz von Unendlichkeit (subjektiver Leidenschaft) und endlicher Existenz das Problem der Innerlichkeit überhaupt erst ergibt, so ist dieselbe Situation als Problem der Zusammensetzung in der Synthese von Seele und Körper bzw. Zeitlichem und Ewigem im Begriff Angst entscheidend: Existenz und Freiheit kommen nur dann konstruktiv zusammen, wenn der Möglichkeitsangst in der überlegenen Leidenschaft des Glaubens Paroli geboten werden kann – ,Glauben‘ dann verstanden als „die innere Gewissheit, welche die Unendlichkeit vorwegnimmt“.43 Nur so kann die Angst vor dem (unendlichen) Kçnnen der Freiheit in ihrer destruktiven Kraft aufgefangen werden. 3.3. Kierkegaards Freiheitsbegriff hat einen empirisch-funktionalen Zug, weil Freiheit nicht in begrifflicher Abstraktheit behauptet, sondern indirekt – psycho-somatisch – analysiert wird. Die Psychologie der Angst war Kierkegaards Entdeckung, und in seiner weit ausgreifenden Phänomenologie der Angstformen sind die empirischen Situationsbeschreibungen nicht das Ziel, sondern der Weg um zu zeigen, dass und wie in der furchtbaren Blockade des Angstzustandes etwas ganz Anderes zum Ausdruck kommt: nicht frei werden zu können. Was sich an der Angst beobachten lässt – und darin liegt ihre Funktion – signalisiert ein geistiges 39 40 41 42 43
AE in SKS 7, 189 / AUN in GW1 10, 198. AE in SKS 7, 186 / AUN in GW1 10, 194. S.o. Anm. 35. AE in SKS 7, 186 / AUN in GW1 10, 194. BA in SKS 4, 456 / BA-GP, 183.
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Verhältnis des Menschen zu sich selbst: Es liegt, wie versteckt und blockiert auch immer, für jeden Menschen längst schon vor. So nur lassen sich die ,Unschuld‘ des ,träumenden Geistes‘ im Menschen, die ,gebundene Freiheit‘, der somatische ,Schwindel der Freiheit‘ angemessen verstehen: Es handelt sich um Gefühle ohne wirklichen Gegenstand, die als Intensität des Kçnnens, die Fülle der Mçglichkeiten, kurz: als Freiheit empfunden werden, die sich vor sich selbst spiegelt. Die Angst ist das Medium, worin sich dies alles vollzieht, und umgekehrt kann deshalb gesagt werden: „Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit“.44 Kierkegaards Freiheitsbegriff ist gesellschaftspolitisch konstruktiv, weil er nicht eine bestimmte historische Realisierung favorisiert, sondern die innere, geistige Relationalität vor Augen bringt, in der sich Freiheit ereignet – auch dann, wenn sie sich selbst blockiert. Dass Freiheit praktische Wirkungen hat, Handlungen freisetzt oder verhindert, ist dabei selbstverständlich. Der Beurteilungskern im Bezug auf Freiheit aber ist ihr innerer Aspekt. Denn Freiheit kann nicht so praktiziert werden, als stehe sie einfach zur Verfügung. Der gesellschaftlich-objektive Schrecken über entstelltes und misslingendes Lebens gehört zu ihr ebenso wie der sich selbst missverstehende Wille der Menschen, die das Gute eigentlich wollen, aber nicht tun. Kierkegaard hat diese Angstformen der Freiheit als Geistlosigkeit, Schicksals- und Schuldverhltnisse markiert,45 und die Weltgeschichte liefert dafür nach wie vor die furchtbarsten Belege. Paul Tillich hat dem entsprechend den Angstanalysen Kierkegaards für das 20. Jahrhundert eine zeitgemäße Gestalt gegeben (The Courage to Be46 [1952]). – Menschen ringen um ihre Freiheit, deshalb kennen sie die Angst und neigen dazu, sich selbst falsch zu verstehen. Diese fundamentale Gefahr einer Freiheit, die unwirklich wird und aus der Angst vor ihrer eigenen Möglichkeit besteht, muss gesellschaftspolitisch benannt und bearbeitet werden; ihr Gegenteil ist das Tun des Guten, die Gewissheit der Handlung in der bewussten Verantwortung des einzelnen Menschen. Politische und religiöse Kultur bestehen darin, dieses lernen und zum Maßstab machen zu wollen. Kierkegaards Freiheitsbegriff ist existentiell verallgemeinerungsfhig, weil seine ethisch-religiöse Fundierung als Strukturbildung des menschlichen Selbstseinkçnnens47 konzipiert wird. Die leib-seelischen Bedingungen 44 45 46 47
BA in SKS 4, 454 / BA-GP, 181. Vgl. BA in SKS 4, Caput III / BA-GP, Caput III. Vgl. die dt. Ausgabe Der Mut zum Sein (1953), Berlin / New York 1991. Vgl. J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 17: „Kierkegaard war der Erste, der die ethische Grundfrage nach dem Gelingen und Misslingen des ei-
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können nicht übersprungen werden, im Verhältnis zu diesen aber bildet sich das geistige Selbst des Menschen. Es schwebt nicht (im Sinne schlechter Metaphysik) in einer anderen Welt, sondern ist der Bedeutungsausdruck genau dieser Welt und der Erfahrungen mit ihr. Unter den gegebenen Bedingungen des eigenen Lebens handeln, entscheiden und wollen – zu kçnnen, darin besteht die Freiheit des Menschen. Woher diese Freiheit kommt, ist keineswegs als müßige Frage zu vernachlässigen, denn das Selbstseinkçnnen erfährt sich ja als abkünftig, hat nicht letzte Macht über sich selbst, ist immer nur im abgeleiteten Sinne kreativ, bezieht sich auf Vorgaben und notwendige Bedingungen. Die Gelungenheit des Selbstverhältnisses hängt geradezu davon ab, dass in ihm die Relation zu seinem Grund nicht verbaut, sondern sichtbar werden kann. Darin liegt das religiöse Grundverhältnis, ohne das die ethische Forderung schnell ihren Ernst und ihre Verbindlichkeit verliert. Sicherlich hat der Theologe Kierkegaard die in der christlichen Gottesauffassung zum Ausdruck gebrachte Frömmigkeit reformatorischer Tradition als höchsten Ausdruck dieses Verhältnisses angesehen, aber er hat ganz bewusst als Schriftsteller des Religiösen das Christliche mit Fleiß vom normalen Weltanschauungsbestand seiner Zeit unterschieden wissen wollen. Darin liegt seine Modernität, dass er einen religionstheoretischen Zugang zum Phänomen des Religiösen, zu dieser unabdingbaren Dimension des menschlichen Geistes, sucht und propagiert. Diese Dimension gehört, in Kritik und immer neuer Bearbeitung, zum menschlichen Selbstseinkçnnen. Im Christentum zumal der Moderne lässt sich die Geschichte solcher Religionskritik studieren, und Kierkegaards Schriften haben auch in dieser Perspektive einen respektablen Platz.48 Im Christentum sichert die existentielle Nähe des gekreuzigten Christus die wahre Vermittlung des Gottesgedankens; anthropologisch und strukturell gesehen zeigt sich dies in der unter der Angst verborgenen Möglichkeit der Freiheit, um deren Verwirklichung es zu tun ist. Nur in der dialektischen Zuspitzung von Verborgenheit und Verwirklichung erfährt sich das Freiheitsproblem, und ohne den religiösen Glauben wird es nicht zu bewältigen sein. In der Antizipation des Glaubens liegt die Kraft des Selbstseinkçnnens und damit die Freiheit. Das gilt generell und ist doch allein existentiell zu realisieren. genen Lebens mit einem nachmetaphysischen Begriff des ,Selbstseinkönnens’ beantwortet hat.“ 48 Vgl. H. Deuser „Religionsphilosophie“, Art. in RGG4, Bd. 7, Tübingen 2004, S. 355 – 371; bes. Kap. V. 2.
Christologische Motive in den Christlichen Reden (dritte und vierte Abteilung) Abstract Referring to Three Godly Discourses, Kierkegaard speaks of “the poetry of eternity” in a journal entry from 1848. Yet there is still a fundamental conflict between “poetry and Christianity,” which gives rise to the question: Why does he need religious or Christian discourses at all? As a “religious author,” Kierkegaard is eager to make clear that Christianity is never an issue for direct communication, but rather an issue for an individual hearer’s or reader’s intimate existential understanding. The recipient of the discourse is the focal point in every sentence and for literary figure. In a detailed analysis of two of the Christian Discourses from 1848 – section III of the third part and section IV of the fourth part – this article tries to show how Kierkegaard successfully modifies classical Christian doctrine by allowing the relation of inversion of the God-Man to work as the motivating emotional image of Christ in the real presence of the Eucharist.
I. Warum braucht Kierkegaard religiçse Reden? Die Darstellungsform der Rede bringt besondere Anforderungen mit sich: Sprache und Gedankenführung sind nicht einfach nur diskursiv und explikativ, sondern vor allem anredend und damit rezeptionsbewusst. Das gegenseitige Wissen um die redende und die angeredete Instanz kann sich bis zur Intimität des Mitwissens steigern, d. h. dem, was J. Climacus in der Nachschrift als leidenschaftliche Existenzinnerlichkeit einer ,existierenden Subjektivität‘ entwickelt, lässt sich in der Redenform umstandsloser annähern. Es wird sozusagen das realisiert, was als humane Daseinsbedingung sonst eher theoretisch analysiert und als Erfahrungsmaßstab gefordert wird, was selbst und als solches aber weder erzwungen noch je vollständig zum Gegenstand der literarischen Vermittlung gemacht werden kann. Die Form der Rede ist dem gemäß ein entscheidendes Prüfstück der These, das existentielle Selbst-Verhältnis sei letztlich allein der Entscheidungsort der Wahrheit im philosophischen wie im theologischen Sinn dieses Begriffs, d. h. der Wahrheit, die sich um das Humanum
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nicht herumdrückt und insofern dem wirklichen Dasein von Menschen und ihrem Interesse an sich selbst gerecht zu werden versucht. Bei dieser Erklärung der Darstellungsform der religiçsen Reden muss zusätzlich beachtet werden, dass Kierkegaard in der für ihn typischen Widerspruchssituation bleibt, sthetisch – in der literarischen Form von Reden – das nahe bringen zu müssen, was christlich ist und insofern gerade nicht unmittelbar, nicht Glücksgefühl, nicht naturgegebenes Humanum. Deshalb bleiben auch für die Reden Dichtung (im Sinne imaginativer, fiktionaler Existenzmöglichkeiten sonst unmittelbarer Existenzverhältnisse) und Christentum programmatische Gegensätze, während zugleich schon diese These immer wieder unter ästhetischen Darstellungsbedingungen steht und stehen muss. Das gesuchte und als christlich auszuzeichnende Selbstverhältnis eines Menschen ist also weder unmittelbar (im Sinne von Kierkegaards polemischer Auffassung des Ästhetischen), noch darf es direkt und gegenständlich vorgestellt werden, sondern es kann nur in vermittelnden, nämlich dichterischen Darstellungsformen auf es hingewiesen werden; letzteres aber so intensiv wie nur möglich! – Diesen schwierigen Vermittlungsbedingungen zum Trotz erfolgt der permanente Hinweis auf das Christliche als das wahre Existenzverhältnis mit unübersehbarem Ernst und unter der Voraussetzung, dass das Gesuchte auch der existentiellen Realisierung fähig ist. Genau diese Unterstellung macht Kierkegaards Gesamtwerk ständig und ausdrücklich; und es ist zunächst und allgemein dieser Sinn des Begriffs Religiositt der hier für die Reden zur Anwendung kommen kann, so wie Kierkegaard in ber meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1851) beteuert: Die Entwicklungszüge im Gesamtwerk, das sthetische, Philosophische und Christliche müssten gleichwohl in einer ,Ganzheit‘ verstanden werden, und diese sei ,uno tenore‘ religiçs ,vom Anfang bis zum Ende‘.1 Unter diesen Voraussetzungen von religiçser Rede zu sprechen heißt dann auch, dass die variierenden, immer neu zugespitzten und mit mehr oder weniger ausdrücklichen Reserven gegenüber der eigentlichen Predigt vorgelegten Attribute der jeweiligen Redenformen wie „erbaulich“, „christlich“, „zum Abendmahl am Freitag“, „zur Erweckung“ u. ä. zunächst einmal in der einheitlichen Perspektive des Religiçsen als des
1
FV in SKS 13, 12f. / WS in GW1 23, 4f.
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tendenziell Christlichen zusammen gesehen werden können, so wie Kierkegaard sich selbst als religiçsen Schriftsteller bezeichnen kann.2 Diese Einstufung ist allerdings dadurch abzusichern, dass sie als inhaltlicher Befund auf der Basis der Texte Kierkegaards, seiner korrelierenden Schreibformen also, erhoben und nicht einfach als Übernahme der deklaratorischen Versicherungen des Autors Kierkegaard genommen wird. Die Pseudonymfunktion der philosophisch diskursiven Schriften ebenso wie die Autor-Hörer-Nähe der Reden implizieren in gleicher Weise die Thematisierung der Existenz, d. h. des Daseinsverhältnisses eines bestimmten einzelnen Menschen – nur auf unterschiedliche Weise. Es ist also diese Angewiesenheit auf den Ort, die Zeit, die Gestimmtheit, die Lebenssituation des hörenden, lesenden, sich selbst darin thematisierenden einzelnen Menschen, die das Sachthema von Kierkegaards Texten ausmacht – das als ein solches Thema immer auch Rückwirkungen auf die analoge Situationsbeschreibung des Autors hat, der darauf in der Pseudonymität bzw. in der Redenform entsprechend reagiert und sich dadurch selbst indirekt mitthematisiert. Wie ließe sich nun dieses Daseinsverhältnis und seine Thematisierung bezeichnen? Mit der ersten und letzten Erklrung am Ende der Nachschrift am besten als die Suche nach der „Urschrift der individuellen, humanen Existenzverhältnisse“.3 Diese Bezeichnung bedeutet selbstverständlich nicht, über die Existenzverhltnisse damit zu verfügen, sondern zu dieser Bezeichnung gehört, dass sie allein „in der Ferne der Doppelreflexion“4 überhaupt verantwortet werden kann, d. h. in der mitlaufenden Problematisierung des Wie im Verhältnis des hörenden, lesenden und sich selbst verstehenden einzelnen Menschen.5 Das summarisch angegebene Humane wäre dann in der Tendenz des Gesamtwerks zugleich das Christliche, aber so, dass die (literarische) Darstellungsform in ihrem Hinweischarakter nicht nur faktisch immer bestehen bleiben, sondern diese Situation immer auch mitreflektiert bzw. in jeweils unterschiedlichen Formen unabdingbar mit zur Darstellung kommen muss. Wie dies vor sich geht, lässt sich an zahlreichen Beispielen der mit Fleiß virtuos gemischten Schreibformen innerhalb der Nachschrift zeigen; 2 3 4 5
Vgl. den Abschluss des Textes ber meine Wirksamkeit als Schriftsteller in SKS 13, 18f. / GW1 23, 10; und dann vor allem die postume Schrift Der Gesichtspunkt fr meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1859) in GW1 23, 19ff. (passim). AE in SKS 7, 573 / AUN in GW1 11, 344. Ibid. Vgl. AE in SKS 7, 185,23 / AUN in GW1 10, 193.
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z. B. dort wo Climacus nach skurril-ablenkender Einführung und mitten in den oft umständlich vorgetragenen Analysen und Beispielen für die „subjektive Wahrheit, die Innerlichkeit“,6 dann doch urplötzlich die Stimmungslage wechselt und eine Begebenheit zu erzählen beginnt: „Es ist ungefähr vier Jahre her, es war ein Sonntag […]“! 7 Was dann folgt ist einerseits ein eindringliches, romantisch-existentielles Naturbild, andererseits eine Szenenbeobachtung des existentiellen Ernstes, wie er Kierkegaard eben als das zugleich Human-Christliche vorschwebt: 1. Und der Abschied des Abends vom Tage und von dem, der den Tag erlebte, ist eine rätselhafte Sprache; seine Mahnung ist wie die Ermahnung der sorglichen Mutter an das Kind, zur rechten Zeit nach Hause zu gehen; seine Einladung aber […] ein unerklärliches Winken […] überredet vom Wind der Nacht, wenn er eintönig sich selbst wiederholt, wenn er Wald und Wiese durchsucht und seufzt, als suche er etwas […], überredet von der erhabenen Ruhe des Himmels, als sei es gefunden […].8 2. wurde nun Zeuge einer Situation […]: ein Greis mit schlohweißen Haaren und ein Kind, ein Knabe von ungefähr zehn Jahren. Sie waren beide in Trauerkleidung […]. Der Greis sprach mit dem Kinde davon, dass es nun keinen Vater mehr habe, niemand, an den es sich halten könne, außer einem alten Manne, der doch für ein Kind zu alt sei und sich selbst von der Welt fortsehne; dass aber ein Gott im Himmel sei […] und dass es einen Namen gebe, in dem das Heil sei, den Namen Jesu Christi […].9
Beide Textteile nutzen Darstellungsformen der Rede: Naturbild und Intimität der Gesprächssituation, und sie fügen sich zusammen, indem das Innerliche dem Natrlichen der Stimmung nach einwohnt.10 – Und doch heißt es dann später bei Climacus, gedanklich konsequent und die Trennungslinien um der Klarheit willen schärfer ziehend, „für die Unmittelbarkeit ist die Poesie die Erklärung des Lebens, aber für die Religiosität ist die Poesie ein schöner und liebenswürdiger Scherz, dessen Trost die Religiosität jedoch verschmäht, weil das Religiöse gerade im 6 Zweiter Teil, Zweiter Abschnitt, Kapitel 2, in AE in SKS 7, 173 – 228 / AUN in GW1 10, 179 – 243. 7 AE in SKS 7, 213,36f. / AUN in GW1 10, 226. 8 AE in SKS 7, 214 / AUN in GW1 10, 227. 9 AE in SKS 7, 215f. / AUN in GW1 10, 229. 10 E. Bloch Das Prinzip Hoffnung in drei Bnden, Frankfurt am Main 1967, S. 1580, kommentiert diese Doppelszene Kierkegaards u. a. so: „Anima mea, diese Geburt und Zuflucht des seiner bewußten Existierens, lebt auch am Herd des Objekts; auch dort ist ihr Unendliches mit dem Endlichen zusammen.“
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Leiden atmend lebt.“11 Der religiçse Vortrag, wie Kierkegaard an gleicher Stelle sagt, muss zwar nicht dauernd vom Leiden reden, darf aber auch nicht so tun, als wäre das Leben mit bloß dichterischer ,Begeisterung‘ zu bewältigen. – Auf genau dieser unendlich differenzierbaren Gradeinteilung zwischen den Polen bloßer Begeisterung (das sthetische) und dem Religiçsen versuchen sich die Reden Kierkegaards in ständigen Variationen des Schöpferischen, Existentiellen, Menschlichen, Natürlichen, Grenz-Natürlichen, Göttlichen, Christlichen, Extrem-Menschlichen, Leidenden, Verzweifelten, Beängstigten, Besorgten usw. Nur in diesem Sinne darf der Hinweischarakter der Reden auf das Human-Christliche in diesem Doppelbegriff stehen bleiben, wenn damit gesagt ist: Hier gibt es zwar einschneidende Unterschiede, diese können aber selbst nur literarisch, z. B. mit den Mitteln der religiçsen Rede sichtbar, dringlich, aufdringlich, überzeugend, annehmbar gemacht werden; gerade auch dann, wenn schließlich das Erbauliche als das Erschreckende definiert wird.12 Die Reden unterliegen bzw. stellen sich diesem inneren Druck des Gesamtwerks, der Sache und dem Ton nach das Motiv des Leidens immer stärker zum Zuge bringen zu müssen. Die Abfolge der Reden im Gesamtwerk zeigt deshalb Steigerungen ins Unfreundliche – um der Freundlichkeit willen. Diese ambivalente Stimmungs- und Sachlage des Christentums wie seiner Darstellungsbedingungen, d. h. den unabdingbaren Hinweis auf die ästhetisch uneinholbare Daseinssituation, hat Kierkegaard immer wieder und dichterisch am eindrücklichsten in der virtuosen Auslegung des Motivs der Bergpredigt von den Lilien auf dem Felde und den Vçgeln unter dem Himmel umzusetzen versucht.13 Mitten in der Steigerung der existentiellen Nähe des Humanen zu seinem Leidensbewusstsein, d. h. im Jahr der ersten Anti-Climacus-Schrift (1849), bleiben die Reden ber die Lilie und den Vogel von 1849 bei den ganz menschlichen Motiven der 11 AE in SKS 7, 396f. / AUN in GW1 11, 143f. 12 CT in SKS 10, 108 / CR in GW1 15, 100. 13 Mt 6, 24 – 34. Vgl. Erbauliche Reden in verschiedenem Geist (1847), Zweite Abtlg.; Christliche Reden (1848), Erste Abtlg.; Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel. Drei fromme Reden (1849). Der Untertitel der letztgenannten Schrift in der dt. Übersetzung von GW1 16. (Kleine Schriften 1848/49) ist irreführend. Das Adjektiv ,gudelige’ meint nicht Frömmigkeit, sondern die Gottesbeziehung, die in den Reden zum Ausdruck kommen soll. Da aber nicht mit „Drei göttliche Reden“ übersetzt werden kann, geht vielleicht „Drei gottesfürchtige Reden“. – Vgl. R. Purkarthofer Kierkegaard, Leipzig 2005 (Grundwissen Philosophie), S. 90 – 101 („Die Aufgabe des Menschen“).
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Stille, des (natürlich-christlichen) Gehorsams und der Freude! 14 In einer Journalnotiz hat Kierkegaard diese Ambivalenz des Religiösen explizit gemacht und ihr zugleich eine systematische Absicht zugeordnet: Dichterisch ist nämlich die Unmittelbarkeit das, wohin man sich zurückwünscht (man wünscht die Kindheit zurück usw.), aber christlich ist die Unmittelbarkeit verloren, und sie soll nicht zurückgewnscht, sondern soll wiedererlangt werden […]. Wie das Christentum in gewissem Sinne im Vergleich mit der Poesie […] Prosa ist – und doch gerade die Poesie der Ewigkeit.15
Die Stelle zeigt, wie das Human-Christliche im Konflikt doch ausdrücklich zusammen vorgelegt werden kann und soll, und das eben geschieht im Namen einer ursprünglich menschlichen Situation, die als solche erst wieder aufgedeckt werden muss. Noch einmal begrifflich und bildlich zugleich aus Anlass der Frage nach der lyrischen, träumenden ,Individualität‘ gesagt: Wie wenn eine Blume (eine Lilie z. B.) sprechen könnte; sie würde dann derart sprechen, dass man nicht mit Bestimmtheit wüsste, welche Lilie es wäre, die spräche, aber doch als Lilie. Und ebenso bei der Lyrik des Mittelalters: es ist gleichsam unbestimmt, welches Ich dort spricht oder welcher Mensch es ist, der spricht – aber desto bestimmter, dass es ein Mensch ist. Ach, in unserer Zeit ist es oft umgekehrt; es ist ganz sicher, dass es dieser Mensch ist, der spricht, und doch ist es kein Mensch, der spricht.16
Das gesuchte Menschliche, so entwickelt es Kierkegaards Zeit- und Kulturkritik das Gesamtwerk hindurch, ist aufgrund der verzerrenden Macht des Zeitgeistes kaum mehr erkennbar: Die menschliche Nähe verschwindet in Reflexionen über die Menschheit und in den neuen Mechanismen der Massenkultur. Bevor und wenn von Christentum überhaupt die Rede sein kann, und damit das Christliche nicht ästhetisch (als unmittelbares Gefühl der Begeisterung) missverstanden wird, müssen die Existenzverhältnisse als solche erst wieder klar gelegt werden. In ihnen ist Leiden zwar ein human-christlicher Horizont, der niemals ausgeblendet werden darf, aber nur deshalb, weil das Human-Christliche selbst – bei aller internen Differenzbildung – auf die Daseinsfreude zielt: Was Lilie und Vogel als Naturgeschenk unmittelbar haben, ihre „erste Ursprünglich14 Vgl. die Themenstellungen der drei Reden in LF in SKS 11, 16, 29, 40 / GW1 16, 36, 51, 64; zur Entstehungszeit weist Kierkegaard selbst in NB12:42 (in SKS 22, 165) darauf hin, dass die Krankheit zum Tode bereits 1848 geschrieben wurde. 15 NB4:154 in SKS 20, 358 / T 2, 225f. unter der Überschrift: „Neue Reden von den Lilien und dem Vogel.“ 16 NB4:84 in SKS 20, 329 / T 2, 214.
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keit“, das gewinnen sie in übertragener Rede als Lehrer und Vermittler – und mit ihnen die, die von ihnen lernen – erneut als zweite, als „erworbene Ursprünglichkeit“: Die Freude des gelebten Augenblicks.17 Leiden also wird nicht um des Leidens willen herbeigeredet, sondern um der wahren Menschlichkeit willen Zug um Zug in das Erbauliche der Reden eingearbeitet – die deshalb das Leiden nicht mehr überspielen müssen und insofern human-christlich bleiben. Das Lilienexempel wird damit zum Inbegriff der ambivalenten Vermittlung des Unvermittelbaren: Gottes Präsenz im Leiden zugunsten einer Daseinsfreude, die nichts an realer Existenzerfahrung ausblenden muss und die deshalb diese – in theologischer Terminologie gesprochen: eschatologische – Freude zu ihrem wahren Ausdruck zu bringen versteht. Im Sinne des Gesamtwerks und im Blick auf die besondere Funktion der religiçsen Reden könnte die in ihnen thematische und praktizierte Zuordnung des Humanen und des Christlichen deshalb wie folgt formuliert werden: 1. Das Erbauliche ist das Menschliche, so wie bei allem Lebensernst das ,Lächeln‘, wie wir es von der Lilie und dem Vogel lernen können,18 nicht und niemals vergessen werden darf. Es ist dieses humane Selbstverhältnis, das für Kierkegaard nicht nur eine formale Relationsbestimmung darstellt, sondern das als solches die Möglichkeitsbedingung wirklicher Humanität in sich trägt und deren Praxis leitet. Gegenbild solcher Humanität ist die Verwechslung von Mitteln mit Zielen, wodurch das bewusste und leitende Selbstverhältnis bis zur Verzerrung überlagert wird – und der Mensch „anstatt freier zu sein als der Vogel, gottverlassen schlimmer schuftet als das Vieh“.19 Dieses nicht überlagerte Selbst im 17 LF in SKS 11, 42f. / GW1 16, 66f.; vgl. R. Purkarthofer, aaO., S. 100f. 18 Vgl. CT in SKS 10, 24 / CR in GW1 15, 10 (hier und im Folgenden werden alle dt. Übersetzungen auf der Basis des dän. Originals neu bearbeitet): „So kämpft denn der erbauliche Vortrag auf mancherlei Weise dafür, dass das Ewige im Menschen siegen möge, aber er vergisst es auch nicht, am rechten Ort mit Hilfe der Lilie und des Vogels milde zu stimmen bis zum Lächeln. O, der du im Streit liegst, lass dich milde stimmen! Man kann vergessen zu lachen, aber Gott behüte einen Menschen davor, jemals das Lächeln zu vergessen!“ 19 Vgl. CT in SKS 10, 33 / CR in GW1 15, 20 (Erste Abtlg., I. Rede): „Denn welches ist ,die Versuchung’, die doch an sich vielfältig ist? Sie ist freilich nicht die der Schlemmerei, zu leben um zu essen, nein, sie ist (o, welch ein Aufruhr wider die göttliche Ordnung!), dass man lebt, um zu schuften; die Versuchung ist die, dass man sich selbst verliert, seine Seele verliert, dass man aufhört Mensch zu sein und als Mensch zu leben, dass man anstatt freier zu sein als der Vogel, gottverlassen schlimmer schuftet als das Vieh. Anstatt für das tägliche Brot zu arbeiten, was
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freien Verhältnis zu sich zu suchen, zu finden und aufzurufen ist die Aufgabe der religiçsen Rede. 2. Das Erbauliche ist das Christliche, sofern sich die Beobachtung, Analyse und Therapie des Selbstverhältnisses dem unvermeidlichen Leiden, der Schuld und dem Sündenbewusstsein öffnet. Dann wird das Erschreckende zum Heilmittel, und das Ausmaß seines „Erschreckens in der Innerlichkeit“ entspricht der „Größe der Erbauung“.20 Diese Seite der Sache, das Erschreckende als das Erbauliche auffassen zu können, verlangt vom Humanen, dass es sich primär im Modus des Glaubens und nicht des zweifelnden, theoretischen Wissens zu bewegen gelernt hat. Deshalb gilt in genau dieser Perspektive, dass Glauben zu lernen schwerer ist als wissendes Verstehen. 21 3. Kierkegaards Programmatik der religiçsen Rede verdient die integrative Bezeichnung human-christlich, sofern im Selbstverhältnis eines jeden Menschen eben diese Spannung aufgebaut ist: in der unverstellten Selbstfindung das Leiden am eigenen Leben einbeziehen zu müssen. Dass das gelinge, dazu will die jeweilige Rede unter den von ihr selbst gesetzten Bedingungen alles tun, obwohl sie weiß und sagt, dass sie dazu letztlich nichts tun kann: Das human-christliche Selbstverhältnis wird der hörenden und lesenden Rezeption zugespielt; und ihr gegenüber erscheint jedem Menschen geboten ist, vielmehr um es zu schuften – und doch nicht von ihm satt zu werden“. 20 Vgl. CT in SKS 10, 108 / CR in GW1 15, 100 (Zweite Abtlg., I. Rede): „Was nämlich ist das Erbauliche? Die erste Antwort darauf ist, was das Erbauliche zuerst ist: es ist das Erschreckende. Das Erbauliche ist nicht für den Gesunden sondern für den Kranken, nicht für den Starken sondern für den Schwachen; dem vermeintlich Gesunden und Starken muss es sich daher erst als das Erschreckende zeigen. Der Kranke versteht leicht, dass er in ärztlicher Behandlung ist; für einen Gesunden wäre es jedoch erschreckend, entdecken zu müssen, dass er in die Hände eines Arztes gefallen sei, der ihn ohne weiteres als Kranken behandele. So also mit dem Erbaulichen, welches zuerst das Erschreckende ist: für den Nichtzerknirschten ist es zuerst das Zerknirschende. Wo gar kein Erschreckendes ist und gar kein Erschrecken, da ist auch schlechthin nichts Erbauliches und schlechthin keine Erbauung. Da ist Vergebung der Sünden, das ist erbaulich, das Erschreckende ist, dass da Sünde ist; und der Größe des Erschreckens in der Innerlichkeit des Schuldbewusstseins entspricht die Größe der Erbauung.“ 21 Vgl. CT in SKS 10, 155 / CR in GW1 15, 155 (II. Abtlg., VI. Rede): „O, es ist mit dem Christlichen so sonderbar, in gewissem Sinne ist es so unbeschreiblich leicht zu verstehen; demgegenüber wird es eigentlich erst dann schwierig, wenn es das ist, das man glauben soll. Ich weiß sehr wohl: eine tiefsinnig-verkehrte weltliche Weisheit hat das Verhältnis umgedreht: Es ist so leicht zu glauben, so schwierig zu verstehen.“
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die Rede selbst in der dienenden Position, sie kommt „nicht von der Stelle, sie sagt lediglich Eines und das Gleiche“! 22
II. Christliche Reden (dritte Abteilung) 1. Umkehrungsmotive Das Eine und Gleiche aber wird in ständigen Variationen gesagt, und jede Variation liefert eine weitere Perspektivierung. Das gilt bereits für die Zuordnung der vier Abteilungen: Nach der Vorbildperspektive von Lilie und Vogel (erste Abtlg.) und gesteigerten Leidensthematik (zweite Abtlg.) folgt mit der dritten Abtlg. noch einmal eine Verschärfung der Tonart, die dann in der vierten Abtlg., den Abendmahlsreden, wieder aufgefangen werden soll. Kierkegaard hat das in Journalnotizen genau so kommentiert,23 und auch die mehrfach überlegten Attribute des Erschreckend-Erbaulichen (ein ,Gedankenüberfall‘, ,hinterrücks verwunden‘) zur Titelgebung dieser Abteilung24 zeugen von dem entschiedenen Willen, das
22 Vgl. CT in SKS 10, 155f. / CR in GW1 15, 156 (II. Abtlg., VI. Rede): „Dass es, wenn du alles gewinnst, unmöglich ist, auch nur das Geringste zu verlieren, o, nichts ist gewisser als dies – glaube du nur, dass du alles gewinnst! Es ist ja, ich räume es ein, es ist eine ungleichmäßige Verteilung, dass die Rede allein die Aufgabe hat, das Gleiche zu sagen […], und dass dagegen du die Aufgabe hast, den Glauben zu ergreifen […], dafür hat die Rede auch deine Freude nicht! Die arme Rede; in gewissem Sinne kommt sie nicht von der Stelle, sie sagt lediglich Eines und das Gleiche […]. Deshalb bedarf der Gläubige der Rede nicht, weit eher erbarmt der Gläubige sich der Rede.“ 23 Vgl. die in SKS K10, 169f. genannten Stellen: NB4:78 in SKS 20, 325: „Ohne die 3te Abteilung sind die christlichen Reden viel zu milde […]“; NB4:105 in SKS 20, 336: „Der Gegensatz zw. der 3ten und der 4ten Abteilung in den christlichen Reden ist so stark und so innerlich wie möglich: Zuerst ein Fest der Tempelreinigung – und dann der stille und innerlichste von allen Gottesdiensten: ein Abendmahl am Freitag.“ – Vgl. zur Interpretation der Christlichen Reden und besonders der Abendmahlsreden M. Olesen „Christelige Taler“ in Den Udødelige. Kierkegaard læst værk for værk, hg. v. T. Aa. Olesen und P. Søltoft, Kopenhagen 2005, S. 271 – 285; N. J. Cappelørn „,Ypperstepræsten’ – ,Tolderen’ – ,Synderinden’ & ,To Taler ved Altergangen om Fredagen’“ in Den Udødelige, S. 331 – 350; N. J. Cappelørn „,Taler ved Altergang om Fredagen’ – fjerde afdeling af Christelige Taler“, Ms. (zu den Reden I.-III.) Kopenhagen 2006. 24 Vgl. NB4:5 in SKS 20, 288f. und die entsprechenden Hinweise in SKS K10, 170; ebenso zur Textentstehung, speziell zum Titelblatt (SKS K10, 61), hier finden sich „christliche Reden“ ebenso wie „christliche Entwicklungen“,
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gesuchte trostgebende Gottesverhältnis so hart und unzugänglich wie möglich erscheinen zu lassen – damit es in der Umkehrung der menschlich-natürlichen Perspektive nur um so leuchtender hervortritt. Entsprechendes gilt für den Programmtext auf der Rückseite des Titelblattes: Christentum bedarf keiner ,Verteidigung‘, sondern verlangt Angriff, und unter den geltenden Bedingungen der Selbstmissverständnisse der bestehenden Christenheit muss dieser Angriff ,hinterrücks‘ erfolgen.25 In dieser Strategie der Reden wird an das wahre Christliche immer so appelliert, dass es unter gegenläufigen Bedingungen versteckt erst wieder freigelegt werden muss. Schematisiert kommt diese Gegensatzstellung dadurch ins Bild, dass das einfache, gläubige Verhältnis blockiert ist durch den permanent und professionell zweifelnden Verstand („erforschend, ergrübelnd und ergründend“),26 der nicht bemerkt, dass er dadurch mit den christlichen auch die humanen Bedingungen verliert. Und dieser Gegensatz wird von der Rede jeweils als Umkehrung wirksam gemacht,27 wie es in der I. Rede der dritten Abtlg. heißt: „ach, der natürliche Mensch versteht die Sache gerade umgekehrt, er glaubt, das Ewige sei das Leere.“28 – In Wahrheit verhält es sich aber so, dass das Konkrete erst aufgedeckt werden muss: Nämlich als die Verstricktheit des eigenen Lebens in die Snde, diese selbstbetreffende und selbstanklagende Umkehrung, die in der Abstraktion des grübelnden Verstandes nicht mehr gefühlt, nicht mehr wirklich verstanden und angeeignet werden kann. Um trotzdem Wirkung zu zeigen, muss die Rede sozusagen Gewalt anwenden, und sie tut dies hier (im Kontext der I. Rede der dritten Abtlg.) so, dass sie den Selbstbetrug der frommen Empfindung enttarnt und im Christusbild die Grausamkeit der menschlichen Erfahrungswelt dagegenstellt: „Nimm dich in Acht, dass du nicht – von dir betrogen, weil du dich selbst nicht verstehst – so dreist wirst, Gott zu betrügen, als trügest du die frommen Empfindungen im Herzen, wo sie doch über dich nicht die
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„christliche Angriffe“ – zuletzt dann der Titel: „Gedanken die hinterrücks verwunden – zur Erbauung. Christliche Vorträge“. CT in SKS 10, 172 / CR in GW1 15, 172; vgl. SKS K10, 170 (zur Stelle im Verweis auf NB3:75 in SKS 20, 279 / T 2, 192 zur „theol. Waffenlehre“ und „doppelten Dialektik“). Vgl. dieses Motiv noch einmal wie in einer Zusammenfassung am Ende der letzen Rede der dritten Abtlg., CT in SKS 10, 252,17 / CR in GW1 15, 266 (dän. „granskende, grublende og grundende“). Vgl. ebd. „Das Umgekehrte“! CT inSKS 10, 183,27f. / CR in GW1 15, 183.
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Macht haben, dein Leben zu ändern, dein Leben zu einem Ausdruck dieser Empfindungen werden zu lassen.“29 „Hier in Gottes Haus ist wesentlich die Rede von einer Gefahr, die der Welt unbekannt ist […]: der Gefahr der Sünde. Und hier, in Gottes Haus, ist wesentlich die Rede von einer Grauenstat, die sonst nie geschehen ist, weder zuvor noch hernach, der gegenüber das Grausigste, das dem Unglücklichsten unter allen Menschen widerfahren kann, etwas Geringfügiges ist: von der Grauenstat, dass das Menschengeschlecht Gott gekreuzigt hat.“30 Was hier in einer doppelten Umkehrung inszeniert wird, ist Folgendes: 1. Die natürlichen ,frommen Empfindungen im Herzen‘ werden durch die aggressive Rückfrage nach ihrer Konsequenzlosigkeit in potentielle Anklagen umgekehrt: Dass ,in Gottes Haus‘ zunächst die Konfrontation mit dem eigenen Ungenügen droht, dass also etwas aufgedeckt werden muss, was Menschen sonst eher bedeckt zu halten versuchen. Die natürliche Selbstempfindung wird christlich zur selbstkritischen Empfindung und Selbstverdoppelung: Ein problematisches Selbst wird von einem gelingenden Selbst, das aussteht, unterschieden. 2. Die christologische Umkehrung an zweiter Stelle lag der ersten bereits zugrunde, wird aber danach erst expliziert. Die Sünde ist nicht eigentlich als Handlungsdefizit zu bestimmen, sondern als schuldhaftes Vergehen fundamentaler Art, das in seinem Grauen als analogielos hingestellt werden kann: „dass das Menschengeschlecht Gott gekreuzigt hat.“ Diese Umkehrung vom Leben zum Tod und vom Tod zum Leben ist es, in der – als alles andere existentiell und menschheitsgeschichtlich himmelhoch und höllentief überragendem Bild – die Sündenanklage sich spiegeln, sich wiederfinden und dadurch sich selbst als ins Leben zurckgekehrt erfassen kann.31 Um diese doppelte Umkehrung zwingend zu machen, geht Kierkegaard sozusagen zu weit, wenn der das Bild des Gekreuzigten dogmatisch unvorsichtig, ohne Erklärung und wie nebenbei als ,Gott gekreuzigt‘ zur Sprache bringt. Die lutherische Christologie, die 29 CT in SKS 10, 179 / CR in GW1 15, 178. 30 CT in SKS 10, 184 / CR in GW1 15, 183. – Vgl. die Beobachtung bei M. Olesen, aaO., S. 279ff., dass sowohl die Sündenanklage der Reden der III. Abteilung wie dann die Abendmahlsreden der IV. Abteilung ,in der Kirche’ spielen. 31 Es sind die Abendmahlsreden, die dann diese Wendung zurck ins Leben ausdrücklich zum Thema machen, vgl. M. Olesen, aaO., S. 283.
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Kierkegaard voraussetzt, lässt eine solche Grenzformulierung zur Not zu – wie in CA II (De filio Dei) die kirchliche Zweinaturenlehre knapp resümiert wird: Dass Christus, „wahr Gott und wahr Mensch“ als eine Person gilt, „wahrhaftig geboren, gelitten, gekreuzigt, gestorben und begraben“.32 Doch ist es hier eben der Sohn Gottes, für den dies gesagt wird, und die späteren christologischen Unterscheidungen haben selbstverständlich darauf geachtet, dass trotz Festhaltens an der Personeinheit der zwei Naturen (nicht so „als wann einer zwei Bretter zusammenleimet, do keines dem andern etwas gibet oder von dem andern nimbt“) 33 nicht einfach gesagt werden kann, die göttliche Natur oder gar Gott sei gekreuzigt worden. Sondern es muss heißen: Es hat „wahrhaftig der Sohn Gottes vor uns gelitten, doch nach Eigenschaft der menschlichen Natur“! 34 Warum übergeht Kierkegaard dies alles? Natürlich hat die religiçse Rede schon als Gattung, in ihrer Stilform und Absicht keinerlei Interesse an dogmatischen Feinheiten. Doch dies kann hier kaum als Begründung gelten, schließlich handelt es sich um das Zentrum von Kierkegaards Christologie,35das Christusbild, und eine nicht missverständliche Formulierung wäre ohne Aufwand möglich gewesen. Es muss also umgekehrt gerade in der Absicht der Rede liegen zu übertreiben, um hier wie auch sonst die Bildkraft des Leidens, der Anklage, des Grauens, des unschuldigen Sterbens etc. so hart wie möglich zu zeichnen. Dann hat natürlich nicht die Lehre, sondern das Leben, nicht die reflektierte Theologie, sondern die Überzeugungskraft der Rede den Vorrang: Das Bild des Gekreuzigten muss schockieren, weil es sich in ihm um Gott handelt, sonst greifen die gesuchten Umkehrungen nicht. 2. Die III. Rede der dritten Abteilung Um Kierkegaards Absicht und Verfahren noch genauer vor Augen zu führen wird als Beispiel die III. Rede der dritten Abteilung ausgewählt. Sie hat, nach Aufbau und Argumentation, die folgende Struktur:
32 33 34 35
Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK), S. 54. BSLK, 806 (Konkordienformel, Epitome VIII: Von der Person Christi). BSLK, 807. Vgl. im vorliegenden Band Kap. A.8.
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Aufbau und Argumentation der Rede Nr. III in der dritten Abteilung der Christlichen Reden 6fache Wiederholung des Themensatzes: „Alle Ting maae tjene os til Gode – naar vi elske Gud“ „Alle Dinge müssen uns zum Besten dienen – wenn wir Gott lieben“ Selbstbezüglichkeit der Bedingung: „wenn“
Radikale Abwehr des theoretischen Zweifels = Aufgabenstellung der Rede
1.
Gottesliebe ohne Beweise (SKS 10, 198 – 200)
2.
Selbstbedingung Beweis ist nichts, des Glaubens in der Glaube ist alles Asymmetrie des Gottesverhltnisses (SKS 10, 200 – 201)
Kein abwägendes, relatives „aber“, sondern das absolute „wenn“ – im Verhältnis zum Guten gilt: Gegenstand = Gegenstandsbeziehung
3.
Statt (theoretischem) Zweifel selbstbezgliche Buße: Ernst, Strenge, im Herzen, in absoluter Perspektive (SKS 10, 201 – 204)
Glückliche Unmittelbarkeit bleibt ambivalent
Aufgabe der Rede: Nähe von „mein“ und „dein“ – nicht im Wissen, sondern in der Bewusstheit des Selbst im Glauben (Gewissheit in der Perspektive der Ewigkeit)
4.
Selbstanwendung im Innern (SKS 10, 204 – 207)
Das unglückliche Leben (Gegenbild zu 3.) steht in gleicher Weise in der Perspektive des Absoluten
Das „innerste“ Wort kommt niemals zum Schweigen – keine Sozialbotschaft, sondern unbedingte Gewissheit gegen Verzweiflung
5.
Intellektualitt verliert gegen die existentielle Handlungssituation (SKS 10, 207 – 208)
Zusammenstoß des theoretischen Systems mit dem Ernst, der Schuld, der Besorgnis im wirklichen Leben
Im lebenspraktischen Glauben liegt die eigentliche, allein humane Handlungsbedingung
Christologische Motive in den Christlichen Reden
6.
Auch einen Glaubensbeweis kann es nicht geben (SKS 10, 208 – 210)
Epilog Zur Theorie der Rede (SKS 10, 210)
259
Liebe und Leben fallen nur dann zusammen, wenn es um das höchste Gut geht
Das „Alles“ an Verlust und Gewinn im Weltlichen ist nichts im Vergleich zum „Alles“ der Liebe Gottes, die nicht verloren werden kann
Die Beweisinstanz der Rede ist der jeweilige Vollzug des Selbstverstehens
Gegenstand und Intention der Rede ist niemals sie selbst, sondern der „Zuhörer“
1. Die erste Umkehrung gegenüber der natürlichen (religiösen) Einstellung gleich zu Beginn besteht darin, den Gottesgedanken aus der schwärmerischen Verehrung für das Höchste und Heiligste herauszunehmen und auf eine Bedingung zu beziehen, die gerade auf dem Wege bewundernder Einsicht nicht erreicht werden kann: Die humane Bedingung des Gottesverhältnisses besteht darin, „Gott nötig zu haben“, seiner zu „bedürfen“, wie Kierkegaard sagt („at trænge til Gud“,36 „man trænger til ham“).37 Dann handelt es sich also nicht um eine theoretisch begründbare Verhältnisbestimmung, und der theoretische Zweifel – die Rückseite des neuzeitlichen Gottesbeweises – ist aus Prinzip hier auf dem Holzweg. Demgegenüber vertritt die Rede nun nicht einfach eine unbegründbare (letztbegründete) Gewissheit, sondern sie dreht mit der insistierenden Wenn-Frage das Gottesverhältnis auf eine andere Ebene: die der existentiellen Selbstbezüglichkeit, im Ernst selbst gefragt zu sein.38 Dann stehen sich existentieller Zweifel als tendenzielle Verzweiflung und der ausgeschlossene, weil unsachgemäße theoretische Zweifel gegenüber; und genau diesen Gegensatz hervorzutreiben, darin besteht die Aufgabe 36 So bereits der Titel einer der Vier erbaulichen Reden 1844, vgl. 4T44 in SKS 5, 291 / 4R44 in GW1 8, 5; zur Interpretation dieser Rede vgl. im vorliegenden Band Kap. A.12. Der Sache nach vertritt auch J. Climacus dieses Umkehrmotiv (das Gottespostulat als existentielle ,Notwehr’ und ,Notwendigkeit’) in der Nachschrift, vgl. AE in SKS 7, 183,27 – 34 / AUN in GW1 10, 191 (Anm.); vgl. dann das entsprechende Motiv in der III. Abendmahlsrede, CT in SKS 10, 288,18ff. / CR in GW1 15, 289 – und dazu N. J. Cappelørn, 2006 (s. o. Anm. 23), S. 43: „Trang, især indre trang, er ikke alene udtryk for, at man trænger til noget, men også for, at man har trang efter noget, som man føler sig fuldstændig afhængig af“; vgl. im Kontext der I. Rede, aaO., S. 15f. 37 CT in SKS 10, 198,13 / CR in GW1 15, 202. 38 CT in SKS 10, 199,35f. / CR in GW1 15, 204.
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der Rede. – Allerdings, Kierkegaard übertreibt auch hier: Es scheint so, als fordere er schweigenden Gehorsam gegenüber einer Letztbegründung („halt den Mund!“; das „Allergewisseste“),39 was unpassend wäre und auch den Ton der Rede störte. Es kann nur darum gehen, den Zusammenhang von Gott und Gottes Güte zur Voraussetzung zu machen, was theoretisch zu bezweifeln allerdings in Theorieprobleme führte, die hier fehl am Platze wären. Auf der neuen Ebene der „Springfeder der Persönlichkeit“40 aber liegt die Umkehrung in der Sicht der Dinge, und das ist aufgrund der beständigen Problematisierung des existentiellen Wenn gerade keine fixe Begründungsleistung, die erzwungen werden könnte. 2. Auf der existentiellen Ebene findet sich, noch genauer gesagt, nur insofern eine Verstehensbedingung, als die Asymmetrie des Gottesverhältnisses eben die Bedingung der Bedingung ausmacht. Hier gibt es anstelle von Theorieleistungen wiederum nur das Konstatieren dessen, in diesem Verhältnis sich schon zu befinden. Anstelle relativierender Abwägungen steht deshalb die Einsicht: Der Gegenstand Gott bzw. des Guten ist vom Gottesverhltnis bzw. vom Verhältnis zum Guten nicht unterscheidbar – und genau diese Erkenntnis nennt Kierkegaard mit der reformatorischen Tradition Glaube. 3. Der Glaube avanciert dadurch zu einem absoluten Verhältnis, als dessen Ausdrucksmedium nicht der theoretische Zweifel am Platz ist, sondern allein die Lebensnähe, die innere Relation des Herzens zu sich selbst. Hier hat das bohrende Wenn der Rede seinen berechtigten Ort, es lehrt zu verstehen, dass „Gott nötig zu haben“,41 wie es schon zu Beginn hieß, die absolute Bedingung ist, Gott und damit das Gute zu lieben. Glck als Unmittelbarkeit wird doppeldeutig, ob es nämlich vor oder nach dieser Einsicht als Glck empfunden wird: Vorher ist es ein Missverständnis, nachher nicht Produkt von Wissen, sondern von ,Bewusstheit‘42 gegenüber dem eigenen Wissen, d. h. es geht um ein Selbst-Verhältnis, und allein dieses kann als absolut, gewiss, ewig; kurz: als Glaube des Herzens bezeichnet werden. 4. Im Gegenbild zum Glck erscheint das Unglck als Testfall für die absolute Perspektive, die mit dem Selbst-Verhältnis eingenommen werden soll. Kierkegaard bleibt in diesem Punkt – bei aller Tendenz zur Radikalität, die ihn seit 1846/48 doch auszeichnet – sozialethisch gesehen 39 40 41 42
CT in SKS 10, 200,10 u. 200,19f. / CR in GW1 15, 204. CT in SKS 10, 200,16f. / CR in GW1 15, 204. CT in SKS 10, 203,27f. / CR in GW1 15, 208. CT in SKS 10, 204,5f. / CR in GW1 15, 209.
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neutral:43 die Perspektive des Absoluten macht keinen Unterschied gegenüber der sozialen Stellung, gegenüber Glück und Unglück coram mundo, denn die Gottesliebe wirkt im Innern44 des Menschen. Aber immerhin: In diesem Abschnitt ist mehrfach und ausdrücklich von ,Verzweiflung‘ die Rede, und ihr gegenüber hilft nur eine Kraft, die der ,Gewissheit‘45 der Gottesliebe ohne wenn und aber! Kierkegaard kann das verantworten und in gewissem Sinne begründen, weil das absolute Verhältnis nicht von äußeren Bedingungen abhängig sein kann; und seine Formel für diese absolute, d. h. die innere Kraft („inderst inde i ethvert menneske“ / „inderst inde i Dig“) 46 erinnert an Augustins trinitarisches Konzept des verbum intimum47 und ist insofern auch als christologisches Umkehrmotiv zu bewerten. 5. Als weiterer Testfall erscheint die auf den ersten Blick überragende Intellektualität eines Menschen, der sich nicht mit Zweifelsfragen quält, sondern über wissenschaftliche Antworten verfügt. Das Gegenargument ist hier, anders als zu Beginn der Rede, nicht einfach die autoritäre Geste gegenüber theoretischem Zweifel, sondern die praktische Handlungssituation: Handlungsentscheidungen kehren alles um,48 d. h. selbst dann, wenn ein in kritischer, lebensentscheidender Situation handelnder Mensch bereits ein Buch über Handlungstheorien geschrieben hat, ist und bleibt er in derselben Lage wie alle anderen auch. Es ist also umgekehrt: Das wahrhaft Humane ist der Ernst der Handlungssituation,49 inhuman ist deren (scheinbare) Ersetzung durch Reflexionen über das Handeln. 6. Als letzten Testfall spielt die Rede die Frage der Selbstanwendung ihrer eigenen These durch: Wenn es denn richtig ist, dass der Glaube als absolutes Selbst-Verhältnis aufgefasst werden muss, dann könnte es ja diese These sein, die bewiesen werden müsste! Die Antwortet lautet auch hier: Der Lebensvollzug des Glaubens schließt den Theorievollzug des Beweisens von sich aus – und umgekehrt. Das ist deshalb so, weil die Richtung im einen Fall handlungsorientiert nach innen, im andern Fall gegenstandsausgrenzend nach außen geht; vor allem aber deshalb, weil das CT in SKS 10, 206,24f. / CR in GW1 15, 212. CT in SKS 10, 205,26 / CR in GW1 15, 211. CT in SKS 10, 207,3 / CR in GW1 15, 212. CT in SKS 10, 205,26 u. 205,35 / CR in GW1 15, 211. Vgl. H. Deuser Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004, Kap. II. 5. B. 48 SKS 10, 208,15 / CR in GW1 15, 214. 49 SKS 10, 208,20f. / CR in GW1 15, 214.
43 44 45 46 47
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absolute Verhältnis der Gottesliebe die Differenz coram mundo und coram Deo voraussetzt, in deren Konsequenz weltlich auch bei höchster Leidenschaft (hier im Beispiel der Liebe) 50 immer nur weltlich bleibt, während allein Gott gegenüber die Gegenstandsbeziehung nicht von ihrem Gegenstand differenzierbar ist. Daher und nur in diesem Fall gilt: „Gott lieben heißt leben“,51 und wer möchte kann dann in sympathetischer Ironie gerne noch hinzufügen: „quod erat demonstrandum!“52 In der Summe ist mit diesen sechs Abschnitten nichts Anderes gezeigt, als dass die Kraft der Umkehrung allein im Hinweischarakter der Rede vorläufig zum Ausdruck kommen kann, denn der wirkliche Beweis liegt im Handlungsvollzug und Selbst-Verhältnis der die Rede hörenden und lesenden Instanz: „in der Rede sich selbst verstehen“,53 das ist es, was Inhalt und Form, These und Vermittlung, Gegenstand und Gegenstandsverhältnis der Rede in ihrem unvermeidlichen Verweischarakter und den dazu notwendigen Umkehrungsmotiven ausmacht. Die jeweils entworfene Widerspruchssituation, wie sie in den Umkehrungen – zuletzt im Christusbild – aufgebaut wird, zieht die Rezeptionsinstanz sozusagen in die Rede hinein. Der Ort der Rede ist dann und nur dann das verbum intimum: „inderst inde i Dig“!
III. Christliche Reden (vierte Abteilung): Christologische Motive in den Abendmahlsreden Christologische Motive sind Argumentationsschemata aus der kirchlichen Lehrtradition und aus Kierkegaards verändernder Aufnahme dieser Topoi, wie sie seit den Frühschriften bereits intensiv zur Anwendung kamen. Die Zahl solcher Motive ist im Detail kaum zu begrenzen, trotzdem können bestimmte Hauptzüge benannt werden, in denen sich Kierkegaards Christologie konzentrieren lässt. Beispielsweise wird in den ersten Textabschnitten der I. Abendmahlsrede sofort eine Reihe solcher Motive identifizierbar, weil sie auf das kirchlich-dogmatische Vorwis-
50 51 52 53
SKS 10, 209 / CR in GW1 15, 215. SKS 10, 209,17 / CR in GW1 15, 215. SKS 10, 209,26f. / CR in GW1 15, 216. SKS 10, 210,16 / CR in GW1 15, 216.
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sen54 der hörenden und lesenden Instanz reflektieren und daran anknüpfen müssen: 1. Vorausgesetzt wird die Inkarnation des Gottessohnes (im Modell der Zweinaturenlehre):55 Christus „weiß es voraus“,56 dass es sich um sein letztes gemeinsames Essen mit den Jüngern handelt. Die Person des Gottmenschen ist es, die die Szene betritt. 2. Vorausgesetzt wird Christi Stellvertretung für Sünde und Tod, aber so, dass diese traditionelle Denkfigur durch ganz menschliche Situationsbeschreibungen speziell dieses Vorauswissens sympathetisch intensiviert wird.57 3. Person und Werk Christi, wie die reformatorische Tradition sagt, erscheinen im narrativen Ton der Rede als einheitliches Christusbild: Was „historisch“ überliefert ist, wird „innerlich und vorbildlich“,58 d. h. das „Verlangen“ des gemeinsamen Abendmahls überträgt sich aus der beschriebenen Situation in die Gegenwart der Lektüre: Beteiligung wird nahegelegt, Gleichzeitigkeit mit Christus hat J. Climacus diese Akzentuierung moderner Christologie nach dem Aufkommen und auf der Basis der historisch-kritischen Forschung genannt. 4. Im Rahmen der Christlichen Reden kann Kierkegaard darüber hinaus auch voraussetzen, dass nach der stellenweise harten Rede im Sinne der Umkehrungsmotive jetzt eine weitere Steigerung empfunden wird. Der Hinweischarakter der Reden – dass das, worüber sie eigentlich sprechen, erst im existentiellen Vollzug eines bestimmten Lebens- und Handlungszusammenhanges geschieht – scheint sich zu relativieren, weil im Abendmahl die Präsenz Christi, seine Gleichzeitigkeit, nicht nur als Problem behandelt wird, sondern als Ereignis selbst zur beteiligten Beschreibung kommt. Wiederum ist dieser Beteiligungsmodus aber der Machbarkeit entzogen, er geschieht einfach: Wie der „Wind weht, wo er will“,59 so wirkt das ,Verlangen‘ nach der Gegenwärtigkeit Christi im Abendmahl, es muss und soll einfach nur ,gebraucht‘ werden.60
54 Vgl. dazu die Kommentierungen in SKS K10, 219ff. zu den Kontexten aus Bibel, Kirchenlehre, Agende und Erbauungsschrifttum zu Kierkegaards Zeit. 55 S.o. Anm. 32 – 34. 56 CT in SKS 10, 266,7f. / CR in GW1 15, 270. 57 CT in SKS 10, 266,11 – 19 / CR in GW1 15, 270. 58 CT in SKS 10, 266,21f. / CR in GW1 15, 270. 59 Joh 3, 8. CT in SKS 10, 267,6 / CR in GW1 15, 271. – Dieses Zitat ist nicht nur biblisch, sondern auch Grundlage des Verständnisses von der Wirkung des Hl. Geistes bzw. der Predigtamtes, vgl. Confessio Augustana V, in BSLK, 58.
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Die Fragestellung gegenüber den Abendmahlsreden ist demnach nicht nur christologisch im Sinne des Auffindens einschlägiger Motive, sondern auch christologisch im Sinne der spezifischen Realisierungsbedingungen, die die Rede erzeugen muss, um die Gegenwärtigkeit dessen, worüber sie spricht, zu verstärken. Die lutherische Lehre hat dafür von der Realprsenz gesprochen,61 Kierkegaards Abendmahlsreden können als aktive Auslegung dieser Tradition betrachtet werden. Wie das geschieht, soll im Folgenden an Aufbau und Argumentation der IV. Abendmahlsrede verfolgt werden. Aufbau und Argumentation der IV. Abendmahlsrede in der vierten Abteilung der Christlichen Reden 6 christologische Variationen zu 1. Kor 11, 23: „der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward“62 1. Erinnerung (im Gebet) an die Nacht des Verrats (SKS 10, 295 – 296)
Umkehrung des Bedingungsverhältnisses: die Erinnerung kommt aus dem Christusbild
Du-Anrede (zum Herrn, Retter, Erlöser) und WirBezug im Mahnen an Leiden und Tod
2. Christusbild im Widerspruch von Erniedrigung und Missverstehen (SKS 10, 296 – 297)
Umkehrung von allem, was der natürlichen, menschlichen Erwartung entspräche
Er-Satzreihen in beschwörender Eindringlichkeit der Christus-Paradoxie
3. Die Nacht des Verrats ist Schuld des ganzen Menschengeschlechtes (SKS 10, 297 – 298)
Historische Distanz wird in Gegenwärtigkeit verwandelt: „wir sind Mitschuldige“
Gesuchte Geborgenheit mit Ihm nur über die Gebrochenheit des Mitschuldigseins
60 CT in SKS 10, 267,10f. / CR in GW1 15, 271. – Vgl. zur genaueren Interpretation dieser Stelle N. J. Cappelørn, 2006 (s. o. Anm. 23), S. 3f. 61 Vgl. Konkordienformel, Epitome VII, in BSLK, 797 („Leib und Blut Christi wahrhaftig und wesentlich gegenwärtig sei“); Epitome VIII, in BSLK, 804 („ob die göttliche und menschliche Natur umb der persönlichen Voreinigung willen realiter, das ist, mit Tat und Wahrheit, in der Person Christi […] Gemeinschaft haben“); vgl. zur gegenwärtigen Diskussionslage M. Welker Was geht vor beim Abendmahl?, Stuttgart 1999, Kap. 5. 62 Wortlaut nach M. Luthers Kleinem Katechismus, vgl. BSLK, 520.
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4. Verrat ist der grçßte Schmerz fr die Liebe (SKS 10, 298 – 299)
Die Verlassenheit Christi spiegelt die Untreue der Menschen
Dass Er die Liebe und die Wahrheit ist erscheint in der Umkehrung der Verhältnisse
5. Kreuzigung des Erlçsers ist das eigentlich Entsetzliche (SKS 10, 299 – 300)
Umkehrungsempfindung: Das Entsetzen über das Unmenschliche bindet an das Menschliche des Erlösers
Die Angst der Antipathie ist zugleich Grund der Sympathie mit dem Gekreuzigten – im Herzen
6. Aus Liebe wird in der Nacht des Verrats das Mahl der Aussçhnung gestiftet (SKS 10, 300)
Die Kreuzigung als Opfer der Versçhnung
Wie alle Mitschuldige sind, so sind alle jetzt zur Aussçhnung eingeladen
1. Es sind Gedchtnis und Erinnerung, mit deren Hilfe das Abendmahl aus dem historischen in den gegenwärtigen Horizont eintritt. Gedchtnis (dän. ,ihukomme‘, ,Ihukommelse‘) steht dabei für die Einsetzungsworte des Abendmahls,63 Erinnerung wird über das zitierte Kirchenlied, das Christusbild und das Umkehrungsmotiv aktualisiert: Der Gekreuzigte erinnert an sich64 – dadurch dass er im menschlichen Erinnern einen Sympathieprozess auslöst, den die Rede im Folgenden entfalten wird. Er setzt die traditionelle Christologie in den Hoheitstiteln Jesu (Herr, Retter, Erlçser) voraus, macht sie präsent in der Gebetsanrede (Du), der die 1. Person (wir) der Gottesdienstgemeinde korrespondiert, und exponiert damit das Umkehrungsmotiv des leidenden Gottmenschen in der Unmittelbarkeit des kirchlichen Rituals. 2. Das Ritual aber gewinnt seine Bedeutung allein aus dem Christusbild, dem durch nichts zu übertreffenden Widerspruch der Erniedrigung des göttlichen Menschen. In einer großen Anaphernreihe (Er) wird diese Widerspruchsfigur dogmatisch und narrativ zugleich durchkonstruiert,65 der historische Jesus und der dogmatische Christus werden 63 Vgl. BSLK (Kleiner Katechismus), 520; zum dän. Text vgl. SKS K10, 242 (zu SKS 10, 295,13). 64 CT in SKS 10, 295,17f. u. 295,24f. / CR in GW1 15, 296f. 65 CT in SKS 10, 296,15 – 297,25! Vgl. zu den biblischen Belegen SKS K10, 244 – 248 (zur Stelle). – Zu diesen bei Kierkegaard immer wiederkehrenden Stilfiguren und ihrem Zentrum, dem Christusbild, vgl. H. Deuser Sçren Kierkegaard, München / Mainz 1974 (dritter Teil, Kap. II).
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gleichzeitig: Es geschieht immer das ,Umgekehrte‘ zu dem, „was der menschliche Sinn von Natur denkt und begehrt“. J. Climacus hatte dafür vom Paradox gesprochen. 3. Die Exklusivität dieser Umkehrung ist aber zugleich tief verankert in Geschichte und Gegenwart des Menschengeschlechts. Auch auf dieser Ebene der christologischen Eindringlichkeit des Leidens muss das Ineinander des Human-Christlichen vor Augen bleiben – denn darin besteht gerade die sympathetische Wirkung des Christusbildes: In ihm allein ist gegenwärtig anzuschauen, was Menschen sich selbst und dem Höchsten antun. Das ,Vergangene‘ (die ,achtzehnhundert Jahre‘) sind eben zugleich vergangen und nicht vergangen, Kierkegaard bildet dafür sogar das Kunstwort „nicht etwas Vollkommenvorbeigegangenes“! 66 Denn das Vergangene ist Gegenwart im Mitschuldigsein.67 Was zuerst als Negation erscheint: mitschuldig am grauenhaftesten Verbrechen überhaupt – das enthält in sich die Umkehrung in die Sympathie und Nähe mit dem in dieser Nacht verratenen Christus: „angstvoll aber innig“ schließt sich die Gemeinde „um Ihn“! 68 Die Wendung liegt in der Widerspruchsstruktur des Christusbildes selbst. 4. Die letzte Nacht des Abendmahls ist die Situation des Verrats. Der höchste aller menschlich denkbaren Widersprüche liegt genau darin, dass Christus als die personifizierte Liebe und Wahrheit aus Treulosigkeit verraten wird, weitere Steigerungen sind nicht mehr möglich. Doch ist es gerade dieses innere, ,seelische‘ Leiden der Liebe am Verrat, das schwerer wiegt als alles körperlich denkbare Leiden;69 und jenes innere Leiden in seiner Absolutheit enthält in sich und zieht auf sich das Potential der Umkehrung. Kierkegaard entwickelt hier keine Theorie des Unbedingten oder Absoluten, er setzt christologisch aber immer die Zusammensetzung des Göttlichen mit dem Menschlichen voraus, nur so ist das Leiden im Christusbild das allerhöchste und Inbegriff menschlicher Sympathie im Äußersten. 5. Die beiden letzten Variationen dieser Christologie machen die human-christliche Wendung in der Perspektive des Unbedingten nun auch als solche thematisch: Der ,natürliche Mensch‘ steht vor dem leidenden ,Erlöser‘,70 das ist eine Geschichte über den Menschen überhaupt 66 67 68 69 70
CT in SKS 10, 297,36 / CR in GW1 15, 299. CT in SKS 10, 298,2 – 10 / CR in GW1 15, 299. CT in SKS 10, 298,20f. / CR in GW1 15, 300. CT in SKS 10, 299,11ff. / CR in GW1 15, 300f. CT in SKS 10, 299,15 u. 299,25f. / CR in GW1 15, 301.
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und jeden Einzelnen, sie bedeutet das Scheitern menschlicher Ideale, das Bewusstsein und Einräumen dieses Scheiterns im Angesicht der Unmenschlichkeit, wie sie im Christusbild stellvertretend und an höchster Stelle buchstäblich zu sehen ist. Diese Selbsteinstufung und die Empfindung, „Gott nötig zu haben“,71 d. h. das „Bedürfnis nach einem Erlöser“ (dän. „Trang til en Forløser“) 72 sind gleichen Ursprungs, sie liegen im Christusbild. Anthropologie und Christologie konvergieren in diesem Punkt: Die ,Angst‘ jedes Menschen vor sich selbst und vor solchem Verrat ist es, die bei Ihm ,Zuflucht‘ suchen lässt, die Bindung an Ihn provoziert.73 Im Begriff Angst hatte Kierkegaard von der ,antipathetischen‘ / ,sympathetischen‘ Ambivalenz der Angst gesprochen, das war eine Vorübung für die anthropologisch-christologische Figur der Wendung im Christusbild selbst. Schuld und Erlçsung liegen auf dieselbe Weise ineinander, und die Umkehrungsbewegung, um die sich hier alles dreht, hat ihren Ort im ,Herzen‘.74 6. Kierkegaard unterscheidet begrifflich zwischen Versçhnung (dän. Forsoning), Erlçsung (dän. Forløsning) und Aussçhnung (dän. Forligelse).75 Dabei steht Versçhnung im begrifflichen Kontext von Opfer und Sünde,76 Erlçsung im Kontext von Sühne77 und Aussçhnung im Kontext des Mittleramtes78 bzw. der Folgen der Versöhnung.79 Kierkegaard setzt wie immer all dies voraus und akzentuiert deutlich auf Aussçhnung, d. h. das Abendmahl ist die Situation der realen Präsenz der Aussöhnung der Schuldigen mit dem Versöhner selbst. Der Ort dieser Wendung ist das Christusbild, seine Gegenwart ist das „Mahl der Aussöhnung“.80 Kierkegaard also macht Voraussetzungen: traditionelle (lutherische) Dogmatik, Gottesdiensterfahrung, biblische Narrativität; er erfasst zugleich aber alles neu und verändert die eigenen Voraussetzungen, weil er 71 72 73 74 75 76 77 78 79
80
S.o. Anm. 36. CT in SKS 10, 299,26 / CR in GW1 15, 301. CT in SKS 10, 299,30 – 35 / CR in GW1 15, 301. CT in SKS 10, 300,6 – 10 / CR in GW1 15, 302. Vgl. zu Versöhnung und Aussöhnung in CT in SKS 10, 300; die dt. Übersetzung in CR in GW1 15, 302 macht diese Differenz nicht. 2. Kor 5, 18f. Röm 3, 24ff. 1. Tim 2, 5. 2. Kor 5, 18. In der Durchführung dieser Begrifflichkeit liegt offenbar ein Unterschied zwischen der dän. und der dt. dogmatischen Tradition. Ich verdanke diese Hinweise Niels Jørgen Cappelørn; vgl. auch N. J. Cappelørn, 2006 (s. o. Anm. 23), S. 40f., 59ff. CT in SKS 10, 300,22 – 26 / CR in GW1 15, 302.
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sie in ein Medium integriert, das weder nur objektive Lehre und Institution noch nur historische Texterinnerung darstellt, sondern mit aller Entschiedenheit Gegenwart – die Präsenz der Rede. Deshalb sind Kierkegaards Abendmahlsreden der Versuch, Realprsenz zu vollziehen (und nicht zu zitieren, zu fordern, zu beweisen etc.). Im Blick auf die klassische Christologie ebenso wie im Blick auf das Problem der historischen Jesusforschung, wie sie Kierkegaard in der ,Lessingfrage‘ der Philosophischen Brocken und der Nachschrift bereits zum Gegenstand einer kritischen Neufassung der Christologie gemacht hatte, lässt sich darüber hinaus fragen, ob nicht Paradoxchristologie und Zweinaturenlehre gleichermaßen durch die Christologie der Reden in neuem Licht erscheinen. Es ist richtig, dass J. Climacus darauf aus ist, den Gegensatz des Göttlichen zum Menschlichen so sehr zu steigern,81 dass objektive wie spekulative Wissenschaftlichkeit zugleich den Boden unter den Füßen verlieren und im ,absoluten Paradox‘ dem Christentum sozusagen eine eigene Wirklichkeitserschließung zuwachsen soll, die die alten Denkformen nicht dementiert, faktisch aber in der Leidenschaft der existentiellen Selbsterfahrung neu interpretiert. Damit ist faktisch aber auch – und ohne dass Kierkegaard dies sagt oder interessiert hätte – die metaphysische Basis der Zweinaturenlehre hinfällig geworden: Eine wirkliche Person besteht nicht aus zwei Naturen. Entweder kommt es hier zum Paradox, oder das Medium und die Aneignungsform des Zusammenseins von Göttlichem und Menschlichem muss neu und genauer bestimmt werden. Das aber zu tun ist Kierkegaards eigentliche Absicht, ohne dass er dies in der Form von dogmatischer Theologie vorlegen würde; er tut es im Medium der religiçsen Rede.82 Die jeweilige Rede aber baut mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, vor allem durch Umkehrungsmotive und im Hinweischarakter (auf den Rezeptionsvollzug) eine eigene religiöse Gegenwärtigkeit auf, die eine human-christliche Realität eigenen Rechts behauptet. Jetzt geht es nicht mehr um die quasi objektive ,Beschrei81 Zu dieser Kritik an Kierkegaards Paradoxbegriff auf der Basis einer Kritik der Zweinaturenlehre vgl. I. U. Dalferth „ ,Die Sache ist viel entsetzlicher’: Religiosität bei Kierkegaard und Schleiermacher“ in Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivitt und Wahrheit (s. Anm. 37), S. 217 – 264; hier: S. 252 – 256. 82 Entsprechendes gilt für das Gegensatzpaar Innerlichkeit / ußerlichkeit bzw. (bei J. Climacus) Subjektivitt / Objektivitt, vgl. I. U. Dalferth, aaO., S. 257f. Anm. – Der oben skizzierte human-christliche Denkhorizont der Reden, der Schöpfungstheologie einschließt, ist faktisch die praktizierte Lösung des bloßen Gegensatzverhältnisses (das als solches, um es zu lösen, zum Paradox geführt werden muss).
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bung‘83 des Gottmenschen, sondern um seine Präsenz im Glauben bzw. im Abendmahl. Der dogmatische Begriff der Realprsenz erhält damit den neuen Sinn einer Vergegenwärtigung, Erschließung und Aneignung dessen, was als Gott in Jesus Christus da ist – in immer mehrfach geschichteten (semiotischen) Vermittlungen, situationsbedingt und lebensverändernd.84 Verzichtet wird dadurch auf die reduktionistischen Gegensatzbildungen zweier (ontologischer) Naturen (göttlich und menschlich) bzw. in der Moderne zweier Wirklichkeiten (historisch-empirisch einerseits und bloß fiktional andererseits). Was da ist bestimmt sich immer einschließlich seiner Erfassung und in der Personalität dieses Geschehens, und diese Wendung der Sichtweise hat Kierkegaard in den Reden human-christlich und anthropologisch-christologisch auf ganz eigenständige Weise in immer neuen Anläufen herauszuarbeiten versucht. Summarisch gesagt geschieht also etwas Neues durch die religiçsen Reden im Allgemeinen und die Abendmahlsreden im Besonderen: Erstens eröffnet Kierkegaard durch Inhalt und Form, durch Umkehrungsmotive und Hinweischarakter der Reden eine eigene religiçse Kommunikation. Sie ist etabliert im christlichen Kontext, ihre religiöse Bedeutung, aber impliziert zugleich, dass lebensdienlich die Vermittlung des (religiös) Unbedingten möglich und realisierbar ist85 – ohne in die Fallen der neuzeitlichen Reduktionismen des Wirklichkeitsbegriffs zu gehen. Religiosität bezeichnet und empfindet den konstitutiven, gleichwohl nicht-empirischen, uneinholbaren Kreativaspekt des Daseins und prä83 Vgl. I. U. Dalferths Kritik der klassischen Zweinaturenlehre, sie darf nicht als ,Beschreibung’, sondern muss als ,Bekenntnis’ genommen werden, aaO., S. 263; und ders. „Gott für uns. Die Bedeutung des christologischen Dogmas für die christliche Theologie“ in Denkwrdiges Geheimnis. Beitrge zur Gotteslehre. FS E. Jüngel, Tübingen 2004, S. 51 – 75; hier: S. 63f., 72ff.; 73f.: Man müsste „wie Kierkegaard vorgehen, also gar kein ,Wesen’ des Menschen konstruieren, sondern Gottes Gegenwart denken.“ 84 Vgl. M. Welker in M. Welker und J. Polkinghorne Faith in the Living God, Minneapolis 2001, S. 56: „In the communion the whole Christ is present: the Pre-Easter Jesus whom we remember, the crucified One whom we proclaim, the risen One to whom we bear witness, and the human One whom we expect and await. In the celebration of the Supper, the gathered community is permeated and surrounded by Christ, by the entire richness of his life.“ 85 Vgl. H. Deuser „Religionsphilosophie“, Art. in RGG4 7 (2004), S. 355 – 371; hier: S. 358f., 368f. – Inwiefern Kierkegaards Bestimmungen der Stadien und der Religiositt A/B bereits mit diesem Konzept realer religiöser Kommunikation übereinstimmen, muss gesondert überprüft werden.
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sentiert ihn in dieser seiner realen Wirkung. Die Abendmahlsreden dienen diesem Verständnis von Realpräsenz. Zweitens eröffnet Kierkegaard implizit eine Christologie, die in der Wirkungskraft des Christusbildes die traditionelle Lehre von Person und Werk neu zu fassen empfiehlt. Auch hier können Reduktionismen und Dualismen aller Art endlich vermieden werden, wenn zwischen Gott und Mensch kein substantielles Ist im empirischen Sinne der Moderne mehr gesucht wird, sondern in Jesus Christus die Reprsentation Gottes vor Augen tritt.86 Damit ist auch gesagt, dass diese Repräsentation ein personales Geschehen ist. Ganz so wie Kierkegaards Abendmahlsreden es durchführen sind lebens-, handlungs- und situationsbezogene Verständigungen auf Aneignungsprozesse angewiesen, die ohne personale Struktur nicht zu denken sind. Der Begriff der Realpräsenz ist dann genau in diesem Sinne zu verstehen.87 Drittens eröffnet Kierkegaard mit der Theorie des menschlichen Selbst, wie es die Krankheit zum Tode (1849) entwickelt, eine dreistellige Ontologie des geistigen Lebens, für die Religiosität ebenso wie das Human-Christliche integrative Bestandteile darstellen. Dass Kierkegaard diese Schrift im Untertitel als „zur Erbauung und Erweckung“ charakterisiert zeigt, dass die Errungenschaften von Personalität und Vergegenwärtigung, wie sie die Abendmahlsreden entdeckt und durchgeführt haben, hier ebenfalls zur Anwendung kommen und zugleich einer weitergreifenden Theoriebildung unterzogen werden können. Das Selbst als personale Relation zu denken schließt dann immer mit ein, dass seine kreative Unmittelbarkeit, die weder der empirischen noch der theoretischen Verfügung unterliegt, in Explikation und (Selbst-)Interpretation darstellbar ist.88 Die Durchsichtigkeit dieses Verhältnisses aber ist für Kierkegaard an das Christusbild gebunden, wie es die Abendmahlsreden immer wieder zu realisieren versuchen: „da ist Er selbst persönlich gegenwärtig, Er ist es, der spricht – wenn nicht, so bist Du nicht am Altar. Sinnlich verstanden kann man nämlich auf den Altar zeigen und sagen: ,da ist er‘; geistig verstanden aber ist er doch eigentlich nur da, wenn Du da Seine Stimme hörst.“89 86 Vgl. H. Deuser Gottesinstinkt (s. Anm. 47), Kap. II. 8, und Kleine Einfhrung in die Systematische Theologie, Stuttgart 1999, § 7. 87 D. h. Realpräsenz braucht dann nicht durch ,Personalpräsenz’ ersetzt zu werden, vgl. zu dieser Diskussion J. Polkinghorne und M. Welker (s. Anm. 84), S. 56, 58; W. Härle Dogmatik, Berlin / New York 1995, S. 560. 88 Vgl. im vorliegenden Band Kap. B.11. 89 CT in SKS 10, 290,15 – 19 / CR in GW1 15, 292 (III. Abendmahlsrede).
“…and moreover, lo, here is a ram” Genesis 22 in Religious-Philosophical Metacriticism: Comments on S. Kierkegaard’s Fear and Trembling and J. Derrida’s Donner la mort Translated by Echol Nix, Jr. and Adrian Lukas1 Abstract The article explores S. Kierkegaard’s interpretation of Abraham’s paradoxical obedience.2 It does so on the basis of five scenic narrations told by Kierkegaard in Fear and Trembling, and in his late Journals. J. Derrida is found to focus on similar points in his Gift of Death: especially on the suspension of ethics by religion and on the concepts of offering as well as of responsibility. Derrida claims that human responsibility is always tied to what he calls universal offering to a radical other. The article argues that both the late Kierkegaard and Derrida exaggerate the inexplicability of the religious situation, each of them in his own way, and that the distinction between religion, ethics, and human responsibility is to be maintained (against Derrida), together with awe of the incommensurability of the single individual.
In the middle of the nineteenth century, with historical research being conducted and critical biblical exegesis underway, S. Kierkegaard, using the pen-name or pseudonym Johannes de Silentio, wrote about a man whose enthusiasm for Abraham, the father of faith in Genesis 22, does not consist in historically proving the text source with the purpose of making it more understandable, but in cautiously approaching it in respect to that which is both human and religious: “That man was not an exegetical scholar. He did not know Hebrew; if he had known Hebrew, he perhaps would easily have understood the story of Abraham.”3 The deficiency in this language skill is meant here, as a pars pro toto for a conscious absence of applying the instruments of scholarly methods, on the one hand, and, on the other hand, for the advantage of simultaneously studying the narrative when the scholarly distance disappears. The 1 2 3
Additionally I am grateful to Gesche Linde and Jon Stewart. Genesis 22. FB in SKS 4, 106 / FT in KW VI, 10.
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opening part of the short book, Fear and Trembling, exceeds in this respect everything that follows and is consequently entitled Mood. 4 This uniqueness brings to mind Abraham, Isaac and Sarah, with the inner relation to the event upon the mount in the land of Moriah. These four fairy-tale-like meditative scenes reveal the dimensions of (religious) Christian faith that made this little book famous: evidently the faith of Abraham is by no means a form of knowing and understanding, but rather a paradoxical event in the carrying out of loss and regaining in the very situations that do not allow this turnaround to be foreseen. Instead of all the following theoretical figures that also Kierkegaard adds to these scenic models, one is to be reminded that ‘mood’ means the place of the (Socratic) dialogue, during which people converse with each other earnestly, a place of dedication, adoption and sermon, and, therefore, also the place of the concept of sin, which, moreover, has no scholarly or scientific foundation, but must always be taken for granted by the one attempting to grasp it comprehensively.5 Exactly this can, also, be applied to Abraham’s faith, which is characterized by a set of problems that can be entirely examined theoretically and determined dialectically – as was thoroughly done by Kierkegaard in three attempts under the title “Problemata”6 – but they cannot, nevertheless, be removed from its original mood. Therefore, we will proceed, respectively, from one central idea of the scenic models, with the original four from Fear and Trembling being expanded by an extra one from the Kierkegaard’s later writings.7 Following Kierkegaard himself, our point of departure must be the referential text from Genesis 22,1ff.: “And God tempted Abraham and said to him, take Isaac, your only son, whom you love, and go to the land of Moriah and offer him there as a burnt offering on a mountain that I shall show you.”8 4 5 6
7 8
FT in KW 6, 9, has “Exordium” for the Danish word “Stemning” (Mood), cf. SKS 4, 105. For this existential, dialectical conceptualization that is pivotal, see Kierkegaard’s “Introduction” to The Concept of Anxiety; cf. SKS 4, 322 / KW VIII, 14 (footnote). Problema I: “Is there a Teleological Suspension of the Ethical?”; Problemata II: “Is there an Absolute Duty to God?”; Problema III: “Was it Ethically Defensible for Abraham to Conceal his Undertaking from Sarah, from Eliezer, and from Isaac?” NB28:41 in SKS 25, 248f./ FT in KW VI (Supplement), 270f., cf. JP 2:2223, pp. 508f. FB in SKS 4, 107 / FT in KW VI, 10 /. – Please see the following in reference to historical-exegetical and literary interpretations of the Old Testament: O.
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I. Self-Sacrifice: A Role Play of the Repelling One Abraham climbed Mount Moriah, but Isaac did not understand him. Then Abraham turned away from him for a moment, but when Isaac saw Abraham’s face again, it had changed: […] Then Isaac trembled and cried out in his anguish: “God in heaven, have mercy on me, God of Abraham, have mercy on me; if I have no father on earth, then you be my father!” But Abraham said softly to himself, “Lord God in heaven, I thank you; it is better that he believes me a monster than that he should lose faith in you.”9
There is something touching about the scene: the demanded sacrifice turns into a self-sacrifice for the sake of the son, of the partner, and of the one who is dependent. But even this is by no means to be condemned, but has a rather ethical meaning that presupposes that the whole conception of the story – having to kill the promised son on God’s command – can even be understood constructively; and it was this premise, based on church authority, that had to be flatly denied during the Enlightenment. Thomas Aquinas, for whom God’s authority is ultimate in matters of life and death, also makes Abraham’s situation in Genesis 22 pardonable,10 remarking after all that “taken apart,” the event in Genesis 22 “contravenes the righteous behavior according to human understanding”;11 and it is Kant’s moral philosophy in its profound theoretical distinction from the presupposition of divine authority that raises this objection of human reason to a modern standard. The reasonably comprehensible moral law is evidently also a last criterion Kaiser Zwischen Athen und Jerusalem, Berlin / New York 2003 (BZAW, 320), pp. 199 – 224; cf. 208f.: “It’s rather impossible to tell a story in a more undemanding but also more impressive way”; one experiences “a masterpiece of artful Hebrew prose,” but at the same time a “theologically constructed story that has the form of a report.” 9 FB in SKS 4, 107ff. / FT in KW VI, 10f. The mentioning of Sara, contextually, is an addendum owed to Kierkegaard’s romanticizing fiction, see the reference to Judith ( JJ:1 in SKS 18, 145) in SKS K4, 107. 10 See Summa theologiae 2 – 2, q. 64, a. 6, ad 1; q. 104, a. 4, ad 2. 11 STh 2 – 2, q. 154, a. 2, ad 2: “quamvis hoc, secundum se consideratum, sit communiter contra rectitudinem rationis humanae.” – For the problem of the theological and metaphysical ratio of a moral legitimization on behalf of God’s command (Genesis 22), see N. Kretzmann “Abraham, Isaac, and Eutyphro: God and the Basis of Morality” in Philosophy of Religion: The Big Questions, ed. by E. Stump and M. J. Murray, Oxford 1999, pp. 417 – 427; H. Schulz “Der grausame Gott. Kierkegaards Furcht und Zittern und das Dilemma der Divine Command-Ethics” in Essener Unikate: Berichte aus Forschung und Lehre 21, Universität Duisburg-Essen 2003, pp. 72 – 81.
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for majestic epiphanies as in Genesis 22. Still before one considers all the cynical, witty, and humorous ways of applying this criticism up until now, one must first understand the well-known footnote from Kant’s Der Streit der Fakultten, dealing with this subject: We can use, as an example, the myth of the sacrifice that Abraham was going to make by butchering and burning his only son on God’s demand (the poor child, without knowing it, even brought the wood for the fire). Abraham should have replied to this supposedly divine voice: “That I ought not to kill my good son is quite certain. But that you, this apparition, are God – of that I am not certain, and never can be, not even if this voice rings down to me from (visible) heaven.”12
So what else can be added here when the Polish philosopher Leszek Kolakowski turns this scene into a satire of command and submission, which ends with God patting Abraham on his shoulder with a benevolent smile while we all are “laughing […] about a splendid joke of God.”13 Or when Woody Allen ironically withdraws the dangerous divine authority by making Abraham give the following reply to Isaac’s critical reproaches: “I’m standing there at two A.M. in my underwear with the Creator of the Universe. Should I argue?” And after all it is 12 I. Kant “The conflict of the faculties” in Religion and Rational Theology, The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant, Cambridge University Press 2001, p. 283 (footnote); cf. (as to the critique of miracles): Religion within the boundaries of mere reason, Part two, op.cit., pp. 124f. – For the acknowledgment of this critical commentary in contemporary research (e. g. in Fichte, Hegel, Schelling), see H. Rosenau “Die Erzählung von Abrahams Opfer (Gen 22) und ihre Deutung bei Kant, Kierkegaard und Schelling” in NZSTh 27 (1985), pp. 251 – 261; W. Dietz Sçren Kierkegaard: Existenz und Freiheit, Frankfurt am Main 1993, pp. 240ff.; T. Beyrich Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard, Berlin / New York 2001 (Kierkegaard Studies: Monograph Series 6), pp. 147ff.; M. Nientied Kierkegaard und Wittgenstein, Berlin / New York 2002 (Kierkegaard Studies: Monograph Series 7), pp. 318ff.; H. Schulz “Du sollst, denn Du kannst. Zur Selbstunterscheidung der christlichen Ethik bei Sören Kierkegaard” in Ethik der Liebe: Studien zu Kierkegaard’s “Taten der Liebe”, ed. by I. U. Dalferth, Tübingen 2002, pp. 47 – 70; R. M. Green “Fear and Trembling: A Jewish Apprecation” in Kierkegaard Studies: Yearbook 2002, ed. by N. J. Cappelørn, Hermann Deuser, and Jon Stewart together with Christian Fink Tolstrup, Berlin / New York: Walter de Gruyter 2002, pp. 137 – 149; U. Knappe “Kant’s and Kierkegaard’s Conception of Ethics” in Kierkegaard Studies: Yearbook 2002, pp. 188 – 202; D. Glöckner “Literaturbericht” in Kierkegaard Studies: Yearbook 2002, pp. 330 – 352. 13 L. Kolakowski Der Himmelsschlssel. Erbauliche Geschichten (1965), quoted by Gerhard von Rad Das Opfer des Abraham, München 1971, pp. 81 – 85; here: 84f.
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‘the Lord’ himself who is accusing Abraham of not being able to understand jokes, and who consequently is carrying on the enlightened religious criticism democratically. “Never mind what I said […]. Doth thou listen to every crazy idea that comes the way? […] It proves that some men will follow any order no matter how asinine as long as it comes from a resonant, well modulated voice.”14 Kierkegaard provides a theoretical deduction neither for divine authority nor for the problem of certitude, but rather he turns these counter-questions back into an utterly human event: the father-son conflict to the extreme with a third authority being irrevocably decisive. The above-mentioned satirical and ironic ways of treating Genesis 22 enhance this empathy of the victim, because one can sympathize with the intense emotional conflict in every possible variant of the narrative. Also when Johannes de Silentio emphasizes Abraham’s faith beyond normal human understanding, there is at the same time the intention of bringing as close as possible the inner tension of the story and its varying scenes. Hence, when the divine command to sacrifice the son cannot be applied in a general way, and therefore Kant’s moral philosophy is proven correct, it still does not change anything that, in a sympathetic moment out of paternal love, Abraham wants to protect Isaac until the very moment of death and to keep his faith intact by increasing the inner horror of the paternal heart. Abraham is not only determined to carry out the commanded sacrifice, but he is also ready for a self-sacrifice, appearing to the son as a person full of hatred towards the son and so turning away from himself and maintaining the fatherhood of God. This is a personal experience of self-sacrifice, revealed in the closest human relation as possible and radically intensified, especially, by the fact that the one who is helping is denied a common ground of understanding with the helped one. The repulsion turns into an inevitable role-play, that must be endured as a self-sacrifice against one’s own self. Commenting on this, Johannes de Silentio says Abraham is “great by the love that is hatred to oneself.”15 Is there no way to accept such a self-contradicting and basically incomprehensible situation without viewing it from a background of 14 Woody Allen Without Feathers, New York 1975, pp. 26f. 15 FB in SKS 4, 113 / FT in KW VI, 17. – Kierkegaard applies Abraham’s relationship to himself on the special condition of the request for the sacrifice: God demands an “innocent sacrifice,” cf. N. Luhmann Die Religion der Gesellschaft, ed. by A. Kieserling, Frankfurt am Main 2000, p. 121.
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human experience? In a prescriptive sense, it cannot be considered to be understood generally: one cannot determine ethics for everyone on passionate experiences themselves; however, such experiences may happen to anyone, and it is exactly their ethical status – and be it in an exceptional situation – one cannot deny them. For now, we need to state no more than this: There is a universality of ethics (in the sense of the second tablet of the ten commandments), which Kierkegaard doesn’t object to at all, but a universality that does have exceptions, and, viewed from a religious viewpoint, these exceptions may prove crucial. Ethics and religion, readiness for reasonable generalization and religious faith come into a new and differently conditioned relationship of dependency after and against Kant.
II. Being Sacrificed: Resignation They rode along the road in silence, and Abraham stared continuously and fixedly at the ground […] Silently he arranged the firewood and bound Isaac; silently he drew the knife – then he saw the ram that God had selected. This he sacrificed and went home. – From that day henceforth, Abraham was old; he could not forget that God had ordered him to do this.16
In this second scene, the understanding or not understanding of Abraham comes much closer to a relationship to God. Here, too, it’s Abraham himself, who retroactively is subject to becoming a sacrifice. After what happened on the mountain of the sacrifice, Abraham’s relation to God and the world is crushed. It is same as with one of the basic concepts in Fear and Trembling, the indefinite resignation Abraham surrenders to in the second scene. His failure means a decisive act of turning back to himself alone, “turned inward”17 as Johannes de Silentio calls this first “movement.” It belongs to the same double-movement that only describes Abraham from Genesis 22 in his entirety.18 “Passion”19 being a premise for one’s own existence and resignation becomes an essential preliminary stage of (passionate) faith, which is accomplished no sooner than one succeeds in “grasping existence”20 in the course of a second movement. That is exactly what finally will happen between 16 17 18 19 20
FB FB FB FB FB
in in in in in
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4, 4, 4, 4, 4,
109 138 131 137 140
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KW KW KW KW KW
VI, VI, VI, VI, VI,
12. 44. 36. (footnote). 46.
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Abraham and Isaac; however, both movements are not to be deduced from theoretically comprehensible conditions, they are equally incomprehensible. Kierkegaard polemically places the concepts of ‘paradox’ and ‘absurdity’ in opposition to the ethics grounded on the theoretical capacity for generalization in order to show what religion is deprived of within the boundaries of mere reason. On the other hand, the passionate miracle of faith as such is generally human: “for that which unites all human life is passion, and faith is a passion.”21 Also, resignation is a moment of that double movement that is characteristic of religious faith. Evidently one becomes aware of it when this element appears, when the inner experience, so to speak, is frightened by the outer experience, resurrecting it for the first time and, therewith, gaining more than just a description of an unhappy individuality. The distinction in religious history between magical reality and mythical religion, between the straight execution of the sacrifice and taking a distance in the memory of the justified termination of the sacrifice, constitutes a break that can be acknowledged regarding the position of the philosophy of religion when the truth of the (European) concept of religion is established exactly in this distinction.22 J. Derrida begins his interpretation of Fear and Trembling with these considerations, namely that the old, incomprehensible ‘demonic mystery’ is replaced by the ‘interiority’ of a ‘mysterium tremendum.’ The religious awareness of the latter re-enters the history as personal ‘responsibility,’23 admittedly so, that the origin of the sacrifice, the victory of life over death, will always go on giving an echo. This interpretation appears to be risky considering the endeavors for the rational ethics of modernity. However, Derrida’s interpretation is be approved as long as, using religious terms, he manages to give the notions of ‘responsibility’ and ‘individual’ such an orientation that their connection to the realm of pre-rationality appears to possess not only historical but also systematic relevance. What Kierkegaard has described 21 FB in SKS 4, 159 / FT in KW VI, 67. For the concepts of ‘paradox’ and ‘the absurd,’ cf. in Preliminary Expectoration, FB in SKS 4, 123 – 147 / FT in KW VI, 27 – 53. 22 See a short draft of these correlations in H. Deuser “Zeichenkonzeptionen in der Religion vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart” (in the present volume chap. B.8). – Cf. J. Derrida The Gift of Death, transl. by D. Wills, Chicago and London: The University of Chicago Press 1996. Derrida’s has developed this religious as well as historical thesis together with J. Patocˇka, see op.cit., pp. 1 – 7. 23 J. Derrida, op.cit., pp. 5 – 7.
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as resignation, is a first essential step towards spiritual detachment and reflection, which, in unlimited potentiality is re-discovering within itself what had to be sacrificed of one’s realizations. The unlimited resignation reflects itself, and even this side of being sacrificed alone turns a human into a singular one, one which is no longer able to declare himself to others. Kierkegaard’s Problema I (Is there a Teleological Suspension of the Ethical?) aims, therefore, at the question of how Abraham is to be understood at all after resigning and regaining Isaac, when he himself could no longer understand it. A new category is sought for that doesn’t need the general as a means for expression, – because even the language itself is ‘the universal’24 – but it needs the individual. However, this intention being self-contradictory (no expression without appeal to universals!), Kierkegaard consequently sets forth the paradox, which consists in the described inexplicability of placing oneself as “the single individual […] in an absolute relation to the absolute” without mediating instances of universal ethics.25 At the same time, this is the teleological suspension of the ethical: ethics is not suspended as a postulation of generalization, but rather becomes unsuitable facing the exceptional moment in an absolute situation of fate and decision. It is the single individual’s inability to be replaced that precisely is the moment of sacrifice and, respectively, of death. Derrida’s interpretation depends on this identification: “Just as no one can die in my place, no one can make a decision, what we call ‘a decision,’ in my place.”26 Abraham’s attitude shows this relation to the religious mystery, that itself must adhere to the paradox of inexplicability. Therein is the dreadful priority of religiosity, which, being beyond universal ethics, does not generally cancel them but rather limits them in their validity and range of interpretation. For Kant’s ethics, personal, existential conditions were in this regard always subjected to the universality of the obligation towards universal values and insight into this condition. “Erroneous conscience,” says Kant, is an “absurd thing,” because the conscience is nothing but a moral judgment relating to reasonable universal values while deeply knowing that it is in the process of judging.27 But Abraham’s reaction to universal values is with resignation, and this turns him into someone
24 25 26 27
FB in SKS 4, 153 / FT in KW VI, 60. FB in SKS 4, 155 / FT in KW VI, 62. Derrida, op.cit., p. 386. I. Kant Die Metaphysik der Sitten (1797), A38 (own translation).
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who is irreplaceable in the moment of the decision – the special character of the relationship to the divine reveals itself here.
III. Consequence after the Sacrifice: Repentance Abraham “often rode his lonesome road, but he found no peace. He could not comprehend that it was a sin that he had been willing to sacrifice to God the best that he had, the possession for which he himself would have gladly died many times; and if it was a sin, if he had not loved Isaac in this manner, he could not understand that it could be forgiven, for what more terrible sin was there?”28
The central experience of the third scene takes place after the event: all has happened as it is narrated, but precisely as a result of this what happened becomes incomprehensible and therefore a burden. In this approach to understanding and not understanding of Abraham’s faith, it is the element of repentance where rejection and sympathy are to be found close to each other. Neither the divine demand appears to be explainable (so Abraham has acted wrongly), nor can one understand how Isaac is regained after the evil deed. The repentance lies in such surrendering to the past event and its consequences. It has retroactive effect, but it is always present. In Problema II: “Is there an Absolute Duty to God?” repentance consequently means an expression of a belated being handed over to what’s generally valid for everyone. Together with repentance the individual is ‘returning’ to the ethical, that he cannot choose but to fail.29 On the other hand, the exceptional position of faith, again, is thrown into a bright light. Speaking in negative terms, faith evades the ethic and the repentance by being utterly isolated and detached in the inevitability and passion of a paradoxical moment – quite cast off. In positive terms, the accent is placed upon the incommensurable individuality of personal responsibility; it is incommensurable for the philosophical concept,30 i. e., what man is principally is determined only secondarily through rational generalizations, but primarily through his relation to God. However, this is absolute, directly connected to 28 FB in SKS 4, 110 / FT in KW VI, 13. 29 FB in SKS 4, 169 / FT in KW VI, 78 (the single individual here is in Kierkegaard’s model discussion the ‘knight of faith’ that is in opposition to the ‘tragic hero’). 30 FB in SKS 4, 161 / FT in KW VI, 69. Cf. in the present volume chap. A.9.
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death and life, and has from an abstract viewpoint – a mysterious character, and consequently maintains the authenticity of the individual. The fact that Abraham loves Isaac above all, by complying with the divine command demonstrates how the obligation and the absolute collide. Abraham is not a murderer like Cain,31 but nevertheless considering his absolute relationship to God, he seems to have neglected his duty – here lies his peculiar (paradoxical, believing) “interiority,”32 the “insolence of the paradox” (Derrida).33 When Kierkegaard wants to maintain this pattern full of conflicts, saying that love must appear outwardly as hate, whereas love cannot appropriately explain itself, then one can follow the consequence that Kierkegaard turns away from the (aesthetically misunderstood) immediacy of religious faith. Being direct, feeling is initially possessed by every human being which is what philosophy teaches when suggesting the means of mediation. However, the broken immediacy, the one that cannot transmit itself in general terms, is possessed by a few humans since they cannot all be Christians.34 Absolute duty is legitimate only when meant as duty towards God,35 and universal ethics maintain a relative validity, otherwise, there would be no more distinction between the (faithful, paradoxical) ‘absolute isolation’ and the sectarianism.36 The latter indirectly strives for success but is an unacknowledged (religious) return to the universal (to the approval of other like-minded persons). Other than repentance, it does not have an inwardly, disruptive relationship. But is this a constellation of personal authenticity – that is, one which cannot be replaced by someone else – thanks to an inner and absolute relationship to God, and if so, may it be subject to generalization? Kierkegaard himself tries to put an end to this problem by acting as if it would be Johannes de Silentio who explains Gen 22, always by claiming to be exactly incapable of understanding Abraham’s faith. By contrast, in agreeing with Kierkegaard’s thesis’ Derrida shows the tendency to generalize Abraham’s absolute isolation: “But isn’t this also the most common thing? What the most cursory examination of the concept of re31 32 33 34 35 36
FB in SKS 4, 165 / FT in KW VI, 74. FB in SKS 4, 161 / FT in KW VI, 69. Derrida, op.cit., p. 61. Cf. FB in SKS 4, 165f. / FT in KW VI, 73f. FB in SKS 4, 171 / FT in KW VI, 81. FB in SKS 4, 170 / FT in KW VI, 79.
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sponsibility cannot fail to affirm? […], a general and universal responsibility.”37 The crisis in Abraham’s exceptional situation will become the normal condition, and this interpretation is supported by Derrida’s examples. It is true that with the thesis of incommensurability Kierkegaard wanted to express something fundamental, but how is this to be generalized? In any case not in the way that every perception of responsibility were to be interpreted as an offering yet only because it would have to negate other simultaneous responsibilities. If all humans were constantly “in this land of Moriah”38 then, the unavoidable generalization of ethics would constantly be imagined as to be under the influence of the exceptional situation of the sacrifice; this would constitute too hazardous a conception of philosophy. But, as long as incommensurability in a special condition remains intact, as it is in Kierkegaard’s opinion, then rationality and generalization, on one hand, and a pre-rational absolute relationship to God, on the other hand, could be differentiated.39 Kierkegaard’s interpretation remains modest in this sense: it admonishes Abraham not to forget repentance, the painful form of ethical generalization.
IV. Execution: Consequences of the Horrible While Abraham “turned away and drew the knife, Isaac saw that Abraham’s left hand was clenched in despair, that a shudder went through his whole body – but Abraham drew the knife. Then they returned home again, and Sarah hurried to meet them, but Isaac had lost the faith. Not a word is ever said of this in the world, and Isaac never talked to anyone about what he had seen, and Abraham did not suspect that anyone had seen it.”40
This scenic text deals with one of the consequences of what happened, but this time from the submissive partner’s view: Isaac is actively observing Abraham’s despair, and passively and inwardly reacting to the horrible thing he saw. Here also is an attempt to get closer to Abraham’s faith, connected with a warning: there is no guarantee of the result, it is not the common case in Gen 22, 16f. (“Because you have done this, and have not withheld your son, your only son, I will indeed bless 37 Derrida, op.cit., pp. 67f. 38 Derrida, op.cit., p. 69. 39 J. Habermas Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001, pp. 27f., shows this difference and argues with Derrida. 40 FB in SKS 4, 111 / FT in KW VI, 14.
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you […]”). It may happen as described in the text, that there will be a dramatic misunderstanding from one side, one that seems to be interchangeable with the relation to God but one that is worlds apart from the double movement of resignation and faith:41 the demonic – an existence that is exceptional for its inner reservation or reluctance for selfexpression and removed paradoxically from universal ethics. Viewed from the universal, it seems incomprehensible, but it cannot gain its way in a contrary movement back to reality, openness and liberty into a new vital relationship.42 Keeping an (awe-inspiring) secret for oneself alone is not enough yet to prove one’s paradoxical faith. Kierkegaard discusses the differentiations needed here in Problema III by asking: “Was it Ethically Defensible for Abraham to Conceal His Undertaking from Sarah, from Eliezer, and from Isaac?” No one can answer ‘yes’ or ‘no’ because it is more complex: compared to the prescriptions of ethical universality, Abraham did not do right and did not act responsibly, because he neither justified himself nor did he give an answer by communicating with the others involved. His answer to Isaac in Gen 22, 8 (“God himself will provide the lamb for a burnt offering, my son.”) is anything but a sufficient answer, because it does not say anything; more exactly, it is witness to the attitude of insightful ignorance which Kierkegaard, together with Socrates, rightfully labels irony. 43 Abraham is ignorant regarding the merely negative resignation, the possibility of repentance and the demonic, but he is knowledgeable about faith, the gaining back of reality – but he is unable to communicate this to Isaac. The kept secret cannot be determined aesthetically, because then (according to Kierkegaard’s attitude towards romantic aesthetics) the reality of existential decision and responsibility would not be achieved; the secret also may not be determined due to the reasons mentioned as being ethical-universal – so a new, ‘later’ immediacy is needed (as 41 FB in SKS 4, 203 / FT in KW VI, 115. 42 See analogy and difference of ‘demonic paradox’ and ‘divine paradox’ in FB in SKS 4, 194 / FT in KW VI, 106. – This category of the demonic shows up along with several literary examples, among which Agnes and the merman is the most famous of Kierkegaard’s interpretations of a fairy tale. Please see FB in SKS 4, 183ff. / FT in KW VI, 94ff. For a detailed interpretation, see M. Nientied, op.cit., pp. 318ff. 43 FB in SKS 4, 206 / FT in KW VI, 118f.; Derrida also discusses this point. See op.cit., pp. 76f.
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compared to the aesthetical or ‘first’ one).44 There is to be found a relationship to God in the double-movement of passion; in a secret demanding silence because the contradictory is inaccessible to generalization. God today is no longer culturally self-evident, as was the case for Kierkegaard in spite of and because of contemporary criticism, and so here at this point of the absolute and decisive secret, the foundation for an access to God must be established. Derrida’s interpretation of Fear and Trembling is typical, and the already mentioned problematic of a post-Kierkegaardian generalization of the philosophical (paradoxical) result, totally depends on whether this goal can be achieved. ‘Absolute duty’ is referred to the ‘absolute other’ and both conceptions explain each other reciprocally.45 However, this reciprocity is not meant as such with Kierkegaard; by generalizing, he secures distinctions. For instance, he makes distinctions between aesthetics, ethics, and religion. On the other hand, he indirectly allows an explanation of God, one that is suggested through the absolute otherness of the exceptional situation reflected in Abraham’s double movement. Now this proof of God remains within the dogmatic categories of sin and faith, as long as Abraham’s paradox of faith highlights the problematic nearness and distance of the christological paradox. In reference to Abraham’s faith, the contemporaneity of Christ has to be tied to “the anxiety, the distress, the paradox.”46 It is really this barrier that reveals an access to religious faith. It does not seem that Kierkegaard’s text could explain, praise or even mediate it completely, and it is all decidedly problematic and difficult here. But this is the actual strength and authentic experience inside this very text, when the radical clashes of Gen 22 are not hidden but clearly exposed. Is there a way of showing that all once again in terms of religious philosophy and from a superior viewpoint? Kierkegaard clearly has reservations, and surely also Johannes de Silentio would refrain, because a secret stays a secret as long as one does not talk about it. But did he not break this rule himself when he informed us about Isaac’s terrible secret that followed the horrible things that happened on Mount Moriah?
44 FB in SKS 4, 172 / FT in KW VI, 82. 45 Derrida, op.cit., pp. 71f. – As to Derrida’s formula “tout autre est tout autre” (op.cit., p. 68) and his reference to E. Levinas, cf. T. Beyrich, op.cit., pp. 165ff. 46 FB in SKS 4, 158 / FT in KW VI, 66.
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V. Truth of Sacrifice: Immanence and Transcendence And he drew the knife – and he thrust it into Isaac. At that moment Jehova in visible form stood beside Abraham and said: Old man, old man, what have you done? Did you not hear what I said; did you not hear my cry out: Abraham, Abraham, stop! But Abraham replied […] in my joy over being in accord with him I did not hear your voice at all, but obediently, as I thought, I thrust the knife into the obedient sacrifice. Then Jehova brought Isaac back to life […] and he had mercy upon Abraham and as always restored everything, infinitely better than if the mistake had not occurred. […] he said to Abraham […] Had you heard my voice and stopped short – you would have gotten Isaac back for this life, but that which concerns eternity would not have become clear to you. You went too far, you ruined everything – yet I am making it even better than if you had not gone too far – there is an eternity.47
This scenic model is no longer part of the four texts of the opening chapter Moods in Fear and Trembling. It is the last variant in a row of further variations that are designed in definitely another way and written down only at the beginning of the 1850 s.48 Belonging to his late writings and contemporary to his attack against the church of his day, another attempt at an explanation of Gen 22 has the title “New ‘Fear and Trembling.’” It shows that Kierkegaard tried hard and honestly to apply the problems of seduction, sacrifice, faith and Issac’s regaining of life, respectively, to his own thought, and the last note standing far apart from the literary conditions under which Fear and Trembling was written, that there is considerable temptation to discuss once more the question of a superior conception of the paradoxical faith that does not allow an ethical generalization. Moreover, the scenic model repeated here strikes one as odd because it describes the act of the sacrifice as perfected. At the same time, this is done by the constant intensification of fairy-tale-like features: God himself appears personally as an interlocutor and makes sud47 NB28:41 (cf. footnote 7). 48 See NB24:39 (1851) in SKS 24, 374f.; NB24:108 (1851) in SKS 24, 387; NB25:34 (1852) in SKS 24, 458f. / FT in KW VI, 267 – 271; and NB26:25 (1852) in SKS 25, 32 – 34 / JP 2:2222, pp. 506 – 508. – The two first texts seem to belong to the context of Fear and Trembling and refer to Abraham’s faith, while from 1852 onward one can observe a critical approach to the Old Testament – in favor of another, more complex version of the conflict from a distinctive Christian viewpoint; cf. the commentaries of T. Beyrich, op.cit., pp. 172 – 177; as to the conditions of Kierkegaard’s late writings cf. H. Deuser Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Sptwerk Kierkegaards, München / Mainz 1980.
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den miracles happen. Abraham and Isaac act like puppets in a puppet show with the background designed by no one other than God himself. – This is how Kierkegaard creates ironic turns of style, similarly demonstrated by L. Kolakowski and W. Allen. With an increasingly serious critique against a contemporary Christianity in an unacceptable condition, whose church is secular, unchristian, lying, politically adjusted, also the paradox of faith is instrumentalized, removed from the literary context of Fear and Trembling and applied to performances or actions in everyday life. Abraham’s decisive situation, made visible until now against a background of understanding and not understanding, and his respectfully stated double movement are removed from the focus of interest. There appears a theological misunderstanding instead, during which Abraham’s over-zealous actions make him guilty and whose elements introduce a new turn: 1) Abraham and Isaac consent to each other, i. e. Abraham could diminish the indefinite resignation and the actual absurdity of the divine order. 2) God’s compensating intervention disallows that the original double movement will be established any longer and Abraham is deprived of the initiative. 3) Abraham’s mistake is that he did not understand God correctly and did not listen closely enough. So the actual solution of the story is corrupted, namely to get back the real Isaac, not the one surrendered to eternity. 4) From a divine outer relationship, so to speak, a concept of eternity is introduced instead, which compensates this life after death. Although Abraham definitely did wrong, the true eternity is revealed. Kierkegaard clearly shifts the inexplicability of the double movement that is the actual passion in Abraham’s faith to a second level: God’s eternity, immanently inaccessible, and effective only transcendentally. The fact that Kierkegaard wants to make this turn understood as the difference between ‘Judaism and Christianity’ makes sense in a theological context; it is used to indicate the paradox of Christology in all its strength against a nineteenth-century official state Christianity that was beginning to establish itself historically. However, it also means that the narrative of Abraham and the Old Testament is in general to be understood as secular immanence, while true transcendence is to be found exclusively in Christianity. He writes: “This is the relationship between Judaism and Christianity. In the Christian view, Isaac actually is sacrificed – but then eternity. In Judaism, it is only an ordeal, and Abraham
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keeps Isaac, but then the whole episode still remains essentially within this life.”49 Remarkable in this comparison of religions is the closeness to a Jewish interpretation (although Kierkegaard did not know of this): the death of Isaac belongs to it together with his return to life, thanks to God.50 Of considerably greater weight regarding philosophy of religion is the relation between immanence and transcendence, as used by Kierkegaard, which is to say, an additional repelling effect inside the story and concerning the Christian understanding of God’s grace. It needs much ‘madness’51 indeed to act like a Christian then. Kierkegaard’s postulations for action in the late writings seem to have the intention of drawing direct ethical and religious consequences from the paradoxical legitimization of faith, and this for securing the identity of a modern authentic Christianity that is simultaneous to the New Testament. The obscurity of the transcendence designating Abraham’s situation is not withdrawn here, rather intensified; but the dialectical relationship between transcendence and immanence is in danger of being lost. It is an integral part of Abraham’s passionate faith that immanence and transcendence are not spread among this world and a world beyond. Indefinite resignation, repentance, and religious secrets lay at the border where immanence and transcendence meet and where they can become indistinguishable in the crucial moment. The late modern exegesis of Gen 22 can insist with good reason on these ‘boundary conditions’ or ‘borderline’ dimensions of experience52 which are common and nothing else to Abraham, Isaac and Sarah in different degrees of reaction. There is a difference whether one tries to imagine the special position of paradoxical faith in religious philosophy (presupposing the particular and in dialectical relation of transcendence and immanence) or whether the problematic by integrating the relationship of religion and ethics is to be rather dissolved. This is what Kierkegaard exclusively calls attention to in Fear and Trembling, while Kierkegaard’s late works sometimes show 49 NB28:41 in SKS 25, 248f. / FT in KW VI (Supplement), 271. – Cf. NB26:25 (1852) in SKS 25, 32 – 34 / JP 2:2222, pp. 506 – 508 (as to the distinction between the adult religion of Christianity as opposed to the childhood religion of Judaism). 50 Cf. T. Beyrich, op.cit., p. 171 and pp. 176f.; also R. M. Green, op.cit., pp. 139 – 143. 51 NB25:34 in SKS 24, 458f. / FT in KW VI, 269 says at the beginning, the ‘mood’ should ‘border on madness.’ 52 R. C. Neville The Truth of Broken Symbols, Albany 1996, pp. xviii and 11.
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tendencies of distortion. The literary and christological meaning of the interpretations in Fear and Trembling keeps all of this in suspense still, and the passionate situation of faith is deliberately held at a distance for not blocking the truly authentic discoveries and genuine experiences of every single individual. On the other hand, Derrida’s interpretation shows this new and obstinate tendency for generalization, which creates much ado about the mountain in the land Moriah and tries to bring it into the headlines of religious theories.53 In addition to how Kierkegaard always makes an indirect presentation of the paradox, Abraham is to be a token for ‘the moral of morality,’ that uses God’s foreign otherness as a background for a secret which spells the demise of all ethics.54 Can a moral theory of superior insight be generalized without any condition? This, however, is impossible when the conception of morality is made evident as a paradox in its inaccessibility. It contradicts itself, if its paradoxical feature is to be applied in general. But this is what Derrida claims when he describes Abraham’s secret as “to be read by all.”55 Here, everything depends on how this readability should be understood. Does it mean an experience of sacrificial death at ‘each instant,’ so that Mount Moriah, is, so to speak, occurring everywhere and comparisons should continue among the religions (Christianity, Judaism, and Islam), their texts, and traditions? 56 Thus – through the generalization of an exceptional situation – the system of rights, political justice and injustice start to slip when actually applied;57 and this all happens because the paradox must be generalized instead of being preserved in the mystery of the paradox of faith. Therefore, the following sentence of Derrida must be principally contradicted (but also in the name of Kierkegaard): “Absolute duty demands that one behave in an irresponsible manner (by means of treachery or betrayal), while still recognizing, conforming, and reaffirming the very thing one sacrifices, namely, the order of human ethics and responsibility.”58 There are the following reasons 53 J. Derrida “Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ‘Religion’ an den Grenzen der bloßen Vernunft” in Die Religion, ed. by J. Derrida and G. Vattimo, Frankfurt am Main 2001, p. 106: “Perhaps this is what I wanted to say about a certain Mount Moriah […]” (own translation). 54 J. Derrida Gift of Death, op.cit., pp . 67f. 55 Derrida, op.cit., p. 79. 56 Cf. Derrida, op.cit., p. 79. 57 Compare the series of examples ibid., pp. 85f. 58 Ibid., pp. 66f.
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for arguing against this implication: 1) If the concept of God is introduced exclusively through the generalized otherness as it is done by Derrida,59 the contingency of the exceptional situation would be yet abandoned, and the special nature of the religious attitude would be secretly dismissed for the sake of ethics. However, this conforms neither to the narration in Gen 22 nor to its dramatic representation in Kierkegaard’s Fear and Trembling. 2) If this way is not chosen, then, on the other hand, it is clear that universal ethics must not be negated nor the whole of philosophy ‘from Plato to Hegel’ accused of being incompetent. On the contrary, one cannot imagine either ethics or a philosophy that would not have to indicate its share in religious mystery, however hidden it may be. 3) When Kierkegaard confers upon faith the ‘highest passion’ that can be generally displayed as non deducible and – only to that extent – as existential,60 it is not a hyper-critical conception of philosophy (which demolishes the borders between ethics and religiosity), but rather a calling attention to a categorical condition of human experience, that exclusively occupies its special place in religions and, consequently, within personal religiosity. 4) The sentence: Every human is like Abraham (Isaac and Sarah), is right, when preserving the peculiarity as an expression of religious experience; but when a universalized paradoxical nature of experience is claimed, ubiquitously exercising a destructive effect in every human behavior and manner – as if (according to Derrida’s interpretation) everyday obligations and perceptions must always exclude the others as it (paradoxically) is in the moment of sacrifice.61 This (objectionable) exaggeration follows only when
59 Cf. ibid., pp. 67f.; here one might have to distinguish between ‘ethics of deconstruction’ (with respect to E. Levinas) and a conception of God on the basis of the notion of secret; for both interpretations, see T. Beyrich, op.cit., pp. 197ff. and pp. 235ff. 60 Cf. FB in SKS 4, 208 / FT in KW VI, 121. – Luther’s exegesis of Genesis shows quite well this existential generalization focusing on retention. For instance “We have now said enough about this story, a story that has a spiritual meaning, and therefore is not fully grasped by me, as by somebody who lives in the flesh, and belongs to the fools who have not been walking on the mountain and cannot understand it completely.” (Transl. from the edition by J. G. Walch, reprint of the 2nd revised edition, Saint Louis, Missouri 1880 – 1910, vol. 1, Groß Oesingen 1986, column 1522, by G. v. Rad (footnote 11), 56; see also WA 43, 223,26ff.). 61 Cf. Derrida’s series of examples, op.cit., pp. 69f. – Derrida’s concept of the formation of difference is problematic from a semiotic point of view. N. Luhmann
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the logical-cosmological connection of identity and difference is ignored, and, correspondingly, again understood as a paradox. Therefore, the objectionable representation of the inconceivable can be successful only when its content is not generalized but rather when its structure is preserved. Ways of explicating the peculiarity must be sought, as Kierkegaard did with his method of indirect communication – for example through the pseudonym of Johannes de Silentio. Borderline experiences nowadays are established and acknowledged in the domains of mathematics and natural sciences as well as in these of philosophy of language, social theory and ethics. From this follows an evaluation and rediscovery of religious experiences in which the peculiar situation of an ungrounded experience of loss or gain is told in a way that an ontology of special and therefore real possibilities could learn from there. Thus the passion of faith in the first place62 is to be differentiated from universal ethics in a second place; and the continuous possibility of coming to an agreement about this differentiation occupies a third place as a spiritual connection. What does this mean for the interpretation of Gen 22? The situation of sacrifice, paradoxical faith, and the borderline experience of immanence and transcendence are envisioned in the course of the narration and defined in the terms of religious philosophy. In connection with a purely historical applied research, this requires a scientifically conscious, reflexive re-mythologization that needs not to deny the violence and the sacrifice, whereas the termination of the inevitable sacrifice is a ongoing reminder and continuing theme. This demand for a multiplicity of levels that identifies scientific reflection and yet nevertheless can narrate it was brilliantly achieved by Thomas Mann, when he made Jacob recollect Abraham’s temptation in a way that Joseph as an interpreter can humorously co-represent the divine awareness of the sense and end of the story: “then spake the Lord, ‘Am I Melech the Bull king? No, for I am the God of Abraham, whose face is not like the ploughed field when the sun breaks it up, but rather like the face of the moon, and that which I commanded I did not command that you mightest fulfil, but that you mightest learn that thou shouldst not do draws attention to this point, especially with respect to religion, see Luhmann, op.cit., p. 35. 62 This first place is to be understood cosmologically concerning primordial potentiality; not in an esthetical sense, from which Kierkegaard wants to get away, meaning the immediacy of faith, cf. in the present volume chapt. A.9.
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it because it is an abnomination in My sight, and moreover, lo, here is a ram.’ “63
63 T. Mann Joseph and his brothers, transl. by H. T. Lowe-Porter, New York: Knopf 1934, p. 67 (first main part, “The Testing”). – For Mann’s concept of myth cf. in the present volume chap. B.3.
B. Die Inspiration des Pragmatismus
Glaubenserfahrung und Anthropologie Röm 7, 14 – 25 und Luthers These: totum genus humanum carnem esse* I. Zur Problematik einer theologischen Anthropologie Die systematisch-theologische Disziplin der Anthropologie hat – wie eigentlich alle traditionellen Lehrstücke – eine Umgewichtung erfahren. Zwar gibt es diese Anthropologie noch als integriertes Stück in der lehrbuchmäßigen Dogmatik, worin die Gottebenbildlichkeit des Menschen, seine Definition als Sünder und vor allem das Verhältnis beider Bestimmungen zueinander abgehandelt werden, doch zeigen die aktuellen Einzelarbeiten, dass auch die Anthropologie längst aus dieser geschützten Einordnung herausgebrochen ist. Denn wer über den Menschen verbindliche Aussagen machen will, sieht sich konfrontiert mit der Flut von Aspekten, Experimenten, Definitionen, Detailforschungen fast sämtlicher Einzelwissenschaften. Deren Geschichte, Ergebnisse und streitende Positionen sind hier nicht das Thema; dass es dies alles aber gibt und dass dieser medizinische, biologische, soziologische, psychologische, ökonomische, pädagogische usw. Mensch der unumgängliche Deutungsraum auch für den Theologen ist, muss hier vorausgesetzt werden. Dann geraten die sog. theologischen Anthropologien in eine Auseinandersetzung, in der sie ihre Sicht des Menschen argumentierend erst einmal als notwendiges Argument in Geltung bringen müssen; kurz, sie können sich nicht auf dogmatischen Voraussetzungen fußend nun auch mit dem Menschen befassen, sondern der Sinn der christlichen Theologie überhaupt scheint dann zugleich mit auf dem Spiel zu stehen, wenn von Anthropologie die Rede ist. Gegenwärtige Entwürfe zur theologischen Anthropologie sind daher konsequent und wie sie selbst zum Ausdruck bringen zugleich Bücher über Gott, sie haben einen apologetischen Zug.1 In dieser Situation kann * 1
Tübinger Habilitationsvortrag vom Oktober 1978. Vgl. J. Moltmann Mensch. Christliche Anthropologie in den Konflikten der Gegenwart, Stuttgart 19773, S. 9. Vgl. ebenso W. Pannenberg Was ist der Mensch? Die An-
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die Frage nach dem Menschen, der paradoxerweise zum Rätselbegriff der nachaufklärerischen Wissenschaften geworden ist – zum „homo absconditus“, wie es Ernst Bloch noch mit einem theologisch leuchtenden Begriff zum Ausdruck brachte2 –, in dieser Situation3 kann die theologische Argumentation an jedem Punkt der Debatte anknüpfen, am Mängelwesen Mensch, am Natur- oder Kulturverhältnis, an Sozialbindung, Triebbestimmtheit, Fest, Freude, Angst, Verzweiflung, Aggression oder wo sonst immer. In allem aber ist sie, sollen die schon vorhandenen Beschreibungen nicht bloß reproduziert werden, angewiesen auf die beiden genuin theologischen Bestimmungen, die mit den Stichworten von Schöpfung und Sünde bezeichnet sind; hieran müssen sich der Kontakt mit den konkurrierenden Anthropologien wie das theologische Spezifikum herausarbeiten lassen. Beide Bestimmungen aber, Schöpfung und Sünde, – und das macht die veränderte Situation aus – sind eben nicht mehr autoritativ in Geltung, sondern erst wieder verständlich zu machen; auch dann, wenn die Behauptung treffen soll, Schöpfung und Sünde seien eigentlich jedem Menschen schon in gewisser Weise längst nicht fremd! Anders gesagt und von den betroffenen Menschen her gefragt: Was ist an diesem theologischen Zirkel – jeder Mensch sei Geschöpf und Sünder, auch wenn er es nicht wisse –, was ist an dieser Totalaussage erfahrbar und was nicht; und ist das, was an dieser Umfassung prinzipiell als nicht einfach erfahrbar und
2 3
thropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 19765, S. 11 (Gottesdefinition im 1. Kapitel des Buches!). Vgl. auch bei E. Jüngel „Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie“ in Neue Anthropologie, hg. v. Gadamer und Vogler, Bd. 6, Philosophische Anthropologie, 1. Teil, Stuttgart 1975, S. 342f. (Vorbemerkungen). Dass in diesen Entwürfen zur theologischen Anthropologie gerade der genannte „apologetische Zug“ einen sehr unterschiedlichen Stellenwert hat, soll natürlich nicht geleugnet werden! Vgl. zur offenen Diskussion um die Anthropologie auch die Übersicht von G. Altner und G. Sauter „Anthropologie im interdisziplinären Gespräch“ in VuF Nr. 2, 1972, S. 3 – 36; und H. Fischers Einführung zu dem Bd. Anthropologie als Thema der Theologie, hg. v. H. Fischer, Göttingen 1978. E. Bloch Das Prinzip der Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt am Main 1967, S. 1515 – 1524 (das Stichwort fällt S. 1518). Vgl. Jüngel „Der Gott entsprechende Mensch“, S. 348: „Die anthropologische Detailforschung hat den ,totus homo’ zu einem unbekannten Wesen gemacht.“
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demonstrierbar gelten soll, dennoch in seiner Entzogenheit am Erfahren zu lokalisieren? 4 Dieser Problemkonstellation eines offenbar notwendig widersprüchlichen, zumindest aber doppelten Erfahrungsbegriffs soll im Folgenden nachgespürt werden. Aus dem Themenkatalog einer theologischen Anthropologie wird dazu der Sündenbegriff als Diskussionsinstanz ausgewählt und als Interpretationsgrundlage der Problemknoten um die Auslegung des Textes Röm 7, 14 – 25. Ob hier vom sog. natürlichen Menschen die Rede ist oder – wie es Luthers Deutung fordert – gerade hier vom Christen nur gesprochen werde, der sich demnach in einer geradezu empirisch zu demonstrierenden Widersprüchlichkeit befindet und erlebt, das ist als fragliche Erfahrung im Schnittpunkt allgemeiner und theologischer Anthropologie zu entdecken; darin hat Röm 7 als klassische Belegstelle für die Aporien christlicher Anthropologie seit Jahrhunderten seine Funktion. Fest steht die bleibende Aktualität des Textes. Zumal Vers 15 dieses Kapitels – „Denn ich tue nicht, was ich eigentlich tun will; sondern was ich hasse, das tue ich.“ – ist eine Bibelstelle, die uns heute als Erfahrungsaussage so nahe gehen kann wie offenbar schon damals für Paulus im Römerbrief. Als moderne Belege dafür will ich nur nennen die Interpretation des Filmwerks von Buñuels durch den Dominikaner Martin Drouzy, der an zentraler Stelle im Verweis auf Röm 7, 15 vom „unerklärlichen Paradox“ spricht, dem Buñuels Figuren unterliegen; und den Aufsatz des Psychoanalytikers Th. Auchter, der Röm 7, 15 als Beispiel für die biblische Kenntnis „unbewußter Motive und Phantasien“ zitiert.5 In Röm 7 also liegt ausgesprochene Erfahrung vor, 4
5
Vgl. Jüngel „Der Gott entsprechende Mensch“, S. 343: „Die Rede vom eschatologisch neuen, Gott entsprechenden Menschen geht hermeneutisch über das hinaus, was der Mensch durch Analyse seines Daseins über sich selbst in Erfahrung zu bringen vermag.“ Vgl. bei Moltmann Mensch, S. 33ff., die unableitbare Konzentration auf das Ecce homo! Vgl. auch O. Weber Grundlagen der Dogmatik, 1. Bd., NeukirchenVluyn 19724, S. 602: „Die christliche Erfahrung ist in sich selber widersprüchlich. Wir glauben nicht auf Grund unserer Erfahrung, sondern trotz unserer Erfahrung – nur freilich so, dass auch dieses ,trotz’ innerhalb von ,Erfahrung’ in Sicht genommen wird.“ Vgl. auch den Ausdruck „unanschauliche Wirklichkeit der Rechtfertigungslehre“, wie ihn U. Wilkens gebraucht („Christologie und Anthropologie im Zusammenhang der paulinischen Rechtfertigungslehre“ in ZNW 67, 1976, S. 66). Vgl. M. Drouzy Kaetteren Bunuel, Kopenhagen 1970 (Film / Rhodos), S. 162f.; T. Auchter „Zum Schuldverständnis in der Psychoanalyse im Alten und Neuen Testament“ in WzM 30, 1978 (H. 5/6), S. 220.
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und zwar für den Christen eine sehr widerspenstige, – und darauf kam es Luther an, von dem in dieser Sache nicht nur der Satz überliefert ist, Erfahrung mache den Theologen,6 sondern dessen Berufung auf Erfahrung auch den Widerspruch nicht scheute, sofern der christliche Glaube nicht außerhalb praktischer Lebenserfahrung ist, wie er zugleich dieser widerspricht. Wie es Hans Michael Müller in seiner Luther-Interpretation von 1929 ausdrückt: „Die Erfahrung von Glaube und heiligem Geist ist nicht ,nach‘ den Erfahrungen, die wider den Glauben sind, sondern in, mit, unter und gegen diese Erfahrungen selbst.“7 Diese leitende Fragestellung lässt sich auch in unserer modernen wissenschaftlichen Situation noch genauer abgrenzen, wenn man formuliert, dass die theologisch interessante Erfahrung weder aufgeht in dem, was man objektive oder ,externe‘ Wirklichkeit nennen könnte, wofür traditionell die naturwissenschaftlichen Disziplinen, aber auch alle deskriptiv verfahrenden Human- und Sozialwissenschaften zuständig sind, noch einfach identisch ist mit dem, was als personale oder existentiale Erfahrung bezeichnet werden kann.8 In beiden Erfahrungsbereichen, aus denen sich herauszuheben Illusion wäre, arbeiten die modernen Anthropologien; was mit Glaubenserfahrung gemeint ist, muss zudem noch ein drittes sein, das sich dem ,Generellen‘ entzieht, dem organisierten Zugriff der Vernunft so wenig konform ist wie der natürlichen Person, so wie sie ist;9 eine „Unverrechenbarkeit des Selbstseins“,10 des „totus homo“, wie Luther es entwickelt, der in dieser Ganzheit nicht einfach vorfindlich ist, weder als Sünder noch als neuer Mensch, obwohl es in beiden Relationen Erfahrungen zu machen gibt. Wie es Luther in der Latomusschrift bei der 6 Vgl. WA TR 1, 16, 13 „sola autem experentia facit theologum“; vgl. bei H. M. Müller Erfahrung und Glaube bei Luther, Leipzig 1929, S. 47 – 48. 7 Müller Erfahrung und Glaube bei Luther, S. 146. 8 Vgl. zum Begriff der „externen Wirklichkeit“ bei G. Ebeling „Schrift und Erfahrung als Quelle theologischer Aussagen“ in ZThK 75, 1978, S. 112; vgl. auch G. Ebeling „Die Klage über das Erfahrungsdefizit in der Theologie […]“ in Wort und Glaube III, Tübingen 1975, S. 4f. Vgl. die entsprechenden Ableitungen des Erfahrungsbegriffs bei H.-G. Gadamer Wahrheit und Methode, Tübingen 19652, S. 329ff.; bei F. Courth „Erfahrung – ein theologischer Begriff ?“ in Theologie der Gegenwart 20, 1977, S. 211 – 218; und bei W. Mostert „Erfahrung als Kriterium der Theologie“ in ZThK 72, 1975, hier bes. S. 427 – 432, 432ff. 9 Vgl. bei Mostert „Erfahrung als Kriterium der Theologie“, S. 440; vgl. auch seinen Verweis auf Röm 7, aaO., S. 451! 10 Vgl. bei Mostert „Erfahrung als Kriterium der Theologie“, S. 444.
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Auslegung von Röm 7 sagt: „Denn wen Gott in Gnaden annimmt, den nimmt er als Ganzen an, […] wem er zürnt, dem zürnt er ganz.“11 Drei Fragerichtungen also sind anzugehen und aufeinander zu beziehen: Zunächst Luthers These vom „totus homo“ bezüglich seiner Auslegung von Röm 7; dann das Interpretationsproblem von Röm 7 selbst, wie es sich exegetisch heute stellt; schließlich aus beidem der widersprüchliche Erfahrungsbegriff, der im Stichwort der Glaubenserfahrung für die theologische Anthropologie zum Orientierungspunkt werden kann.
II. Beobachtungen zu Luthers These Luther hat den ,ganzen Menschen‘ polemisch abgegrenzt gegenüber den antik-mittelalterlichen zwei- und dreigliedrigen Anthropologien, die in diesen Aufteilungen Göttliches und Menschliches zu vermitteln suchten. Zugespitzt sieht Luther die Ganzheit des Menschen nicht in begrifflicher Allgemeinheit, sondern in der Aktualisierung des Willens, an dem sich diese Ganzheit austrägt. Daher kann sein Kampf gegen das scholastische liberum arbitrium – das Einfallstor von doch partiell Göttlichem in der Totalität des Menschlichen – zum Entscheidungspunkt in dieser Sache werden, wie sie Luther dann in extremer Konsequenz in der Schrift De servo arbitrio durchgeführt hat. Dass kein freier Wille sei, konvergiert mit 11 „Quem enim Deus in gratiam recipit, totum recipit, et cui favet, in totum favet. Rursus, cui irascitur, in totum irascitur.“ WA 8, 107,2f. = Münchener Ausgabe (MA), Erg. Bd. 6, S. 105. Vgl. zu Luthers Anthropologie des totus homo gegenüber seiner anthropologischen Tradition bei G. Ebeling „Das Leben – Fragment und Vollendung. Luthers Auffassung vom Menschen im Verhältnis zu Scholastik und Renaissance“ in ZThK 72, 1975, S. 324ff. Vgl. auch bei W. Joest Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, S. 197ff. Gegenteilig argumentiert H. J. McSorley im ,ökumenischen’ Interesse seiner Arbeit, die das ,Neue’ Luthers zugunsten des katholischen Traditionshintergrundes zurückhält. Was McSorley Luther als undifferenzierten, ,univoken’ Wortgebrauch der Sünde gern vorhält, was er Luther an Unverständnis gegenüber den so geschickten scholastischen Begriffsdifferenzierungen ankreidet (durchgängiges Beispiel: necessitas), ist umgekehrt gerade der Durchbruch einer leidenschaftlichen Existenzwahrheit, der Sicht eines totus homo bei Luther! Vgl. bei McSorley Luthers Lehre vom unfreien Willen nach seiner Hauptschrift De Servo Arbitrio […] (Beitrge zur çkumenischen Theologie, Bd. 1), München 1967, S. 72, 81; bes. zum necessitas-Motiv, S. 85, 147, 218 u. ö.
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der Entscheidung über Röm 7 als Erfahrung des Christen – und beides im Motiv des totus homo.12 Die Haupttexte für diese These Luthers sind die Römerbriefvorlesung, die Latomusschrift und De servo arbitrio, und während sich in der Frage des freien Willens hier durchaus eine Entwicklung hin zur äußersten Konsequenz in der Schrift gegen Erasmus zeigen lässt, wie es z. B. H. J. McSorley im Interesse der Entdeckung des katholischen Luther nachgezeichnet hat, so ist doch Luthers Position zu Röm 7 immer gleich geblieben. Geist und Fleisch sollen nicht wie die ein Ganzes erst konstituierenden Bestimmungsstücke des Menschen zueinanderstehen, das zeichnet sich schon in der Römerbriefvorlesung ab, sondern sie markieren alternative Relationen, die zugleich als Konflikt aktuell da sind.13 Deshalb kann es zu Röm 7, 20 heißen: „Also ist beides wahr: daß er selber handelt und doch nicht selber.“ („Utrunque ergo verum, Quod ipse et non ipse operatur.“); und zu Röm 7, 17: „Doch daraus folgt der merkwürdige Zustand, daß wir schuldig sind und nicht schuldig.“ („Ex quo tamen mirabile sequitur, Quod rei sumus et non rei.“) 14 Dass die menschliche Sehnsucht nach Ganzheit („ganz rein, ganz frei und ganz fröhlich“ zu sein) 15 mit dem ,Fleisch‘-sein desselben Menschen 12 Vgl. zu Luthers Anthropologie im Vergleich mit der Scholastik (und Renaissance) bei G. Ebeling in ZThK 72, 1975; vor allem bei W. Joest Ontologie der Person bei Luther, S. 138ff. (§ 5), S. 163ff. (§ 6) und S. 233ff. (§ 7). Zum Begriff der „voluntas“ bei Luther, vgl. Joest, S. 213, 215; zur Anwendung der anthropologischen Bestimmungen auf Röm 7,14ff. vgl. S. 197f. Joest analysiert zuerst die überwiegend dreigliedrigen anthropologischen Konstitutionen (§ 6), dann die soteriologische Linie (§ 7) über Fleisch und Geist; unter letzterem Aspekt erst kommt es für Luther zum totus homo, worin die dreigliedrigen Konstitutionen aufgehoben sind. Deshalb ist die These von E. Schott abzulehnen, es könne von einem irgendwie ,neutralen Begriff’ des totus homo gesprochen werden (Fleisch und Geist nach Luthers Lehre unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs „totus homo“, Darmstadt 19692 (Nachdruck der 1. Aufl. 1928), S. 50ff., 97ff.). Zu Luthers Abwehr der Affektenlehre des Origenes vgl. in De servo arbitrio, WA 18, 774f. = MA Erg. Bd. 1, S. 230. 13 Vgl. in der Römerbriefvorlesung WA 56, 342f. = MA Erg. Bd. 2, S. 238 („Quia eadem persona est spiritus et caro; ideo quod facit carne, totus facere dicitur.“); WA 56, 350,22f. = MA Erg. Bd. 2, S. 250 („Est autem Notandum, Quod Apostolus non velit intellegi spiritum et carnem esse quedam velut duo, Sed unum omnino […]“). 14 Vgl. WA 56, 342,2 = MA Erg. Bd. 2, S. 238; WA 56, 351,13 = MA Erg. Bd. 2, S. 250. 15 Vgl. WA 56, 341,30 – 33 = MA Erg. Bd. 2, S. 237 („Vult enim purissime, liberrime et letissime, sine molestiis repugnantis carnis agere, quod non potest“).
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kollidiert, ist die Erfahrung jedes Menschen; erst recht aber des Christen, wie es zu Röm 7, 17 heißt: „Die Sünde bleibt also in geistlichen Menschen zurück, ihn in der Gnade zu üben […]“16 Allgemeine und christliche Erfahrung liegen hier durchaus ineinander, und zur Ganzheit des Menschen gehört dieser Widerspruch, wie ihn Luther in Röm 7 belegt findet. Allerdings darf es an derselben Stelle keine Mischungen, keine glatten Übergänge zwischen allgemeiner Erfahrung und der ,geistlichen‘ geben; deshalb wohl wird sie von Luther als totale verdoppelt und in zwei alternativen Relationen gefasst. In der Schrift gegen Latomus wird diese Position dann mit größtem Selbstbewusstsein wiederum an Röm 7 diskutiert, womit Luther seine These über die Sünde auch nach der Taufe nochmals bekräftigt.17 Die Gegner, die diese Totalität aufbrechen wollen, „zollen der Natur, was doch Sache der Gnade Gottes ist“, schreibt Luther gegen Latomus. Für Luther muss es deshalb mit Röm 7 und wegen der Ganzheit des Menschen – nicht innerhalb der Ganzheit! – zu Einheit und Widerspruch kommen: „Wir müssen die gänzlich ablehnen und verwerfen, die behaupten, Paulus spreche hier vom Menschen unter dem Gesetz […] / […] Es ist der eine Mensch Paulus, der beides von sich bekennt, jeweils in verschiedener Beziehung: unter der Gnade ist er geistlich, aber unter dem Gesetz fleischlich, und doch beidemal eben derselbe Paulus.“18 16 Vgl. WA 56, 350,5f. = MA Erg. Bd. 2, S. 249 („Igitur peccatum est in spirituali homine relictum ad exercitium gratie […]“). Dass Luther in der Römerbriefvorlesung noch nicht die totale Gebundenheit des Willens lehrte, zeigen die Stellen WA 56, 237,7 = MA, Erg. Bd. 2, S. 109 („quin reliqua sit nobis portio, que ad bonum sit affecta“) und WA 56, 275,21 = MA, Erg. Bd. 2, S. 153 („Et huius parvulum motum in Deum (quem naturaliter potest) […]“); vgl. den Hinweis bei P. Althaus Paulus und Luther ber den Menschen, Gütersloh 19583, S. 59. 17 Dahinter steht die These 13 der Heidelberger Disputation, die den freien Willen so total als Sünde bezeichnet, dass auch nach der Taufe für gute Werke eines freien Willens nichts mehr bleibt. Diese These war im Wortlaut in der Bannandrohungsbulle von 1520 als häretisch zitiert worden, sie lautet: „Liberum arbitrium post peccatum res est de solo titulo, et dum facit quod in se est, peccat mortaliter.“ (WA 1, 359 = MA Bd. 1, S. 130). Vgl. dazu die Darstellung bei McSorley Luthers Lehre vom unfreien Willen, S. 230f., 237. Luther hatte bereits vor der Schrift gegen Latomus seine Thesen gegen die Bannandrohungsbulle schon mehrfach verteidigt, vor allem in der „Assertio“ vom Dezember 1520 und in deren deutscher Fassung „Grund und Ursach aller Artikel“ (März 1521). Vgl. dazu bei McSorley Luthers Lehre vom unfreien Willen, S. 237f. u. 239ff. 18 WA 8, 112,19f. = MA Erg. Bd. 6, S. 114 („Nam ipsi naturae tribuunt, quod gratiae dei est […]“). – WA 8, 112,37f. = MA Erg. Bd. 6, S. 114 („Negandi et
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Diese These zu Röm 7 hat Luther dann in der Schrift gegen Erasmus direkt gar nicht mehr ausgeführt. Röm 7 wird am Ende als einer der letzten, nicht zu parierenden Hiebe gegen Erasmus nur noch als Stichwort genannt.19 Für Luthers leitendes Motiv des totus homo sind auch seine Einzelanalysen in der Interpretation von Röm 7 gar nicht so entscheidend – und im exegetischen Kontext auch gleich mit ganz anderen Gründen noch zu relativieren; wie seine Argumentation aber strukturiert ist, das lässt sich an De servo arbitrio beobachten, der Schrift, in der Luther den Römerbrief wie eine Disputation des Paulus gegen den freien Willen zum Zuge bringen wollte.20 1. Luthers These in De servo arbitrio, der ganze Mensch sei Sünder und habe daher bezüglich des Guten und Gottes gar keinen freien Willen, hat eine anthropologische Argumentationsbasis: Der Mensch ist Fleisch, nicht nur unter anderem oder in irgendeiner Zusammensetzung mit etwas Anderem, sondern eben ganz: „videmus et experimur, totum genus humanum ex carne natum esse. Ideo cogimur credere quod non videmus, scilicet, totum genus humanum carnem esse, docente Christo.“21 reprobandi prorsus sunt, qui Paulum hic de homine sub lege loqui affirmant […]“). – WA 8, 119,14ff. = MA Erg. Bd. 6, S. 124 („Unus est homo Paulus, qui utrunque de se confiteur, alio et alio respectu, sub gratia est spiritualis, sed sub lege carnalis, idem idem Paulus utrobique.“) Vgl. auch die Stelle aus dem Kl. Galaterkommentar WA 2, 586,16f.: „Sunt duo toti homines et unus totus homo“. 19 Vgl. den ausdrücklichen Verweis auf Röm 7 in WA 18, 783,5 = MA Erg. Bd. 1, S. 242. Vgl. als Beispiel für Kurzhinweise bei Luther auf Röm 7 außerhalb der drei Haupttexte (Römerbriefvorlesung, Schrift gegen Latomus und De servo arbitrio): In der Schrift Von den guten Werken (WA 6,268 = MA Bd. 2, S. 72) wird dass 6. Gebot als täglicher Kampf um Keuschheit im Hinweis auf Röm 7,18 ausgelegt; in der Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen wird die Unterscheidung von ,innerem’ und ,äußerem’ Menschen natürlich im Hinweis auch auf Röm 7, 22 durchgeführt (WA 7, 30 = MA Bd. 2, S. 279); in der deutschen Fassung der Verteidigungsschrift gegen die Bannandrohungsbulle Grund und Ursach aller Artikel argumentiert Luther mit Röm 7, 18 und 7, 22 zur Begründung seiner These von der Sünde nach der Taufe (WA 7, 329ff. = MA Bd. 2, S. 313ff.). 20 „Paulus ad Romanos scribens, sic ingreditur disputationem adversus liberum arbitrium pro gratia Dei […]“ (WA 18, 757 = MA Erg. Bd. 1, S. 204). Vgl. zu dieser Stelle bei McSorley Luthers Lehre vom unfreien Willen, S. 20; hier auch Argumente und Material über die hervorragende Bedeutung dieser Schrift in Luthers Gesamtwerk, aaO., S. 17ff. 21 WA 18, 742,12ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 184 (Wir „sehen und erfahren, daß das ganze Menschengeschlecht vom Fleisch geboren ist. Deshalb werden wir gezwungen, zu glauben, was wir nicht sehen, nämlich wie Christus lehrt, daß das ganze Menschengeschlecht Fleisch ist.“ Vgl. die analoge Position Luthers im
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Die These wird an dieser Stelle – es handelt sich um den vorletzten Teil von Luthers Schrift, worin er die biblischen Belege zur Anthropologie des freien / unfreien Willens mit Erasmus kontrovers diskutiert –, die These wird hier doppelt eingesetzt. Der erste Satz geht auf die Instanz der Erfahrung zurück, dass, wie wir alle sehen und erfahren können, die Menschheit fleischlicher Natur ist, geboren wird, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Der zweite Satz geht über dieses generelle Faktum hinaus und sagt „carnem esse“ mit ontologischem Anspruch, der Mensch sei seinem Wesen nach Fleisch. Daran ist also etwas zu erfahren und etwas zu glauben, etwas ist allgemein zugänglich, etwas beruht auf der christologischen Vorgegebenheit22 des Glaubens („cogimur credere quod non videmus […] docente Christo“). 2. Unter dem Aspekt der Anthropologie gesehen geht es Luther um die Ganzheit des Menschen, das macht den biblischen Begründungszusammenhang aller seiner Ableitungen. Auch „das Vortrefflichste in der Natur des Menschen“ ist „nichts anderes als Fleisch“! 23 Das muss man eine materialistische These nennen;24 worauf es ihr ankommt, ist aber nicht ihre Selbstgenügsamkeit, sondern der Zusammenstoß, der leidenschaftliche Wechsel, von dem alles verdünnend, entspannend und rationaliRömerbriefkommentar 1515 – 16, WA 56, 343,8ff. = MA Erg. Bd. 2, S. 239; und in der Schrift gegen Latomus, WA 8, 57 u. 99ff. u. 112ff. u. 126ff. = MA Erg. Bd. 6, S. 35 u. 94ff. u. 113ff. u. 134ff. Vgl. zu Luthers These auch bei E. Jüngel Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift, München 1978, S. 82. 22 Das „docente Christo“ bezieht sich im Zitat formal zurück auf die Stelle Joh 3, 6 (WA 18, 741); hinter Luthers These steht aber ebenso der Zusammenhang von Christologie und Anthropologie, das Modell der communicatio idiomatum (vgl. dazu bei K. O. Nilsson Simul. Das Miteinander von Gçttlichem und Menschlichem in Luthers Theologie, Göttingen 1966, S. 213ff.) – deshalb hier der Ausdruck: christologische Vorgegebenheit! 23 „[…] id quod in hominibus natura est praestantissimum, nihil alius quam carnem […]“ – WA 18, 740,33f. = MA Erg. Bd. 1, S. 182. 24 Vgl. Ebelings Auslegung der Disputation „De homine“ in ZThK 72, 1975, S. 325: „Der Mensch kommt nach Luther theologisch nicht als ein compositum aus materia und forma in den Blick. Er ist vielmehr als ganzer pure Materia.“ Vgl. ebenso Ebeling. Disputatio De Homine I, (Lutherstudien, Bd. II), Tübingen 1977, S. 23 (These 35: Quare homo huius vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam. – So ist denn der Mensch dieses Lebens Gottes bloßer Stoff zu dem Leben seiner künftigen Gestalt.). Hier ist zu beachten, dass Luther – anders als in De servo arbitrio – in dieser Disputation die scholastische Unterscheidung von materia und forma benutzt, sie eschatologisch umdeutet, worin sich erst recht die ,materialistische These’ bestätigt.
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sierend wegführt, was sich bei Erasmus als Bemühung nach wissenschaftlicher Differenzierung darstellt. „Alles ist Fleisch“25 – die materialistische These lässt nichts aus, weil sie auf die Ganzheit des Menschen nicht verzichten kann, denn diese ist in die Kollision zu treiben; es gibt keinen Mittelweg: „da es kein mittleres Reich zwischen dem Reich Gottes und dem Reich Satans, welche wechselseitig und beständig miteinander im Kampf liegen, gibt. Das ist es, was beweist, dass die höchsten Tugenden bei den Heiden, das Beste bei den Philosophen, das Vortrefflichste in den Menschen vor der Welt zwar ehrenwert und gut geheißen wird und erscheint, aber vor Gott in der Tat Fleisch ist und dem Reiche Satans dienstbar, d. h. gottlos und verrucht und in jeder Hinsicht böse.“26 Gäbe es einen Mittelweg, gäbe es wirklich einen neutralen Willen, der sich in der Sache Gottes so oder so entscheiden könnte, so wäre damit nicht nur Luthers biblische Anthropologie widerlegt, die diese Neutralität als Scheinvoraussetzung der Vernunft enttarnt und die – wie Luther es im Bild des Reittiers illustriert – immer schon in Aktion stehende Willentlichkeit des Menschen Gott gegenüber voraussetzt;27 sondern über 25 „Omnia sunt caro“ – WA 18, 742,19 = MA Erg. Bd. 1, S. 184; vgl. ebenso WA 18, 764 = MA Erg. Bd. 1, S. 214. Vgl. zu dieser ,materialistischen’ Auslegung auch die Interpretation von H. J. Iwand in seinen Erläuterungen zur dtsch. Ausgabe, aaO., S. 304 (im Hinweis auf Röm 7)! 26 „cum non sit medium regnum inter Dei et regnum Satanas, mutuo sibi et perpetuo pugnantia. Haec sunt, quae demonstrant, summas virtutes in gentibus, optima in Philosophis, praestantissima in hominibus, coram mundo quidem dici et apparere honesta et bona, sed coram Deo vere sunt caro et Satanae regno servientia, id est, impia et sacrilega omnibusque nominibus mala.“ – WA 18, 743 – 744 = MA Erg. Bd. 1, S. 186. Vgl. entsprechend WA 18, 762 = MA Erg. Bd. 1, S. 211. 27 Zur Tradition und Luthers Neufassung des Bildes vom Reittier vgl. bei McSorley, S. 309ff. Vgl. zur Abwehr des neutralen Willens WA 18, 670,1f. = MA Erg. Bd. 1, S. 86 (quod in homine sit medium et purum velle […]“); WA 18, 635,17ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 46 (Bild vom Reittier; ähnlich WA 18, 750,13f. = MA Erg. Bd. 1, S. 194f.); „Neque enim apud Deum relinquitur medium inter iustitiam et peccatum, quod velut neutrum sit […]“ – WA 18, 768,17f. = MA Erg. Bd. 1, S. 220f. („Denn bei Gott bleibt nichts Indifferentes zwischen Gerechtigkeit und Sünde […]“; WA 18, 772,19f. = MA Erg. Bd. 1, S. 227; WA 18, 779,15 = MA Erg. Bd. 1, S. 237; zur Abwehr der Vernunftargumentation vgl. WA 18, 673 u. 674 = MA Erg. Bd. 1, S. 90 und 94. Der Wille im menschlichen Bereich ist immer schon in Aktion: „Scimus liberum arbitrium natura aliquid facere, ut comedere, bibere, gignere, regere […]“ – WA 18, 752,7f. = MA Erg. Bd. 1, S. 197; vgl. ebenso die Unterscheidung von Handlungsfreiheit, dem
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diesen Streit konkurrierender Anthropologien hinausgehend zählt für Luther als gravierendes Argument vor allem die Christologie: Die Kollision, auf die die Lehre vom unfreien Willen zutreibt, die an der Ganzheit des Menschen hängt, ist notwendig, weil sonst das Erlösungs- und Gnadenwerk der geschenkten Befreiung in Christus auch nur zur Bruchstücksarbeit herabgestuft würde, je nach dem wie hoch man das eigene Verdienst des Menschen aus freien Stücken veranschlagt. Hier will sich Luther auf keine Kompromisse einlassen. Denn wäre der Mensch, die Menschheit nicht als ganze Fleisch und damit Sünde, so wäre Christus nur „für die gröberen und niederen Affekte“ zuständig, also für den wie immer abgegrenzten Bereich, den man dem freien und guten menschlichen Leistungsvermögen gegenüber als Bezirk des Fleisches ausgrenzte.28 Kurz: die Ganzheit des Menschen ist in Luthers Argumentation, dass sie die Ganzheit der Sünde und des Fleisches sei, zugleich ein anthropologisches wie ein christologisches Prinzip: „extra fidem Christi nihil nisi peccatum et damnatio“.29 3. Luther hat zur Abrundung seiner These die harte theologische Konsequenz nicht gescheut, diese Ganzheit auch in Gott ohne weitere Kompromisse gegründet zu sehen. Das zeigt sich schon gleich zu Anfang, wo Luther sich noch mit der Vorrede des Erasmus befasst, und ist dann im Hauptteil in der ausgeführten Lehre von der Präscienz und Prädestination menschlichen Verantwortungsbereich, und Willensfreiheit Gott gegenüber, WA 18, 672 = MA Erg. Bd. 1, S. 89; kurz: wie der freie Wille immer schon in Aktion ist, also ein geknechteter Wille (Gott und Satan ausgeliefert), so nimmt Luther zugleich im menschlichen Aktionsbereich die Aktivität desselben Willens an: „Nam nullus homo non habet liberum arbitrium.“ – WA 18, 780,1 = MA Erg. Bd. 1, S. 238. 28 WA 18, 744,6ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 186 („Si enim praestantissimum in homine non est impium neque perditum aut damnatum, sed solum caro, id est, crassiories et inferiores affectus, qualem rogo faciemus Christum redemptorem?“). Vgl. WA 18, 744,6ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 186; daher ist die scholastische Konstruktion eines doppelten meritum (de condigno und de congruo) hinfällig, vgl. WA 18, 777 – 778 = MA Erg. Bd. 1, S. 235. Das christologische Argument hat in diesem Zusammenhang deshalb ausschlaggebende Bedeutung, weil – wie H. A. Obermann gezeigt hat – gerade im Zusammenfallen von iustitia Christi mit der iustitia Dei die genuine Leistung Luthers gegenüber der gesamten scholastischen Tradition gegeben ist, d. h. das Erlösungswerk Christi wird nicht mehr funktional im Blick auf Gottes Gerechtigkeit vermittelnd eingesetzt, sondern hat selbst Totalität! Vgl. bei Obermann „Iustitia Christi“ und „Iustitia Dei“ […] in Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, hg. v. B. Lohse (Wege der Forschung, Bd. CXXIII), Darmstadt 1968, S. 435f. 29 WA 18, 774,12 = MA Erg. Bd. 1, S. 229.
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Gottes enthalten. Hier nur kurz zur Argumentation am Anfang: Luther macht die Voraussetzung des qualitativen Unterschiedes zwischen Gott und Mensch; in seiner Sprache: „Oportet igitur certissimam distinctionem habere inter virtutem Dei et nostrum, inter opus Dei et nostrum […]“30 Gesteht man dies einmal zu, so ist es nur noch eine Frage der Konsequenz einzusehen, dass von der göttlichen Barmherzigkeit nicht durch den menschlichen freien Willen irgendein Anteil abgerechnet werden kann, sondern dass diese Unterscheidung ihren Wert und ihre Wendung zur Barmherzigkeit in ihrer ausschließenden Ausschließlichkeit hat – „sonst würde nämlich Gott nicht das Ganze zugeschrieben“.31 Zusätzlich bedeutet diese Verhältnisbestimmung des ausgeschlossenen freien Willens aber, dass jedes – für menschliches Urteil – geschehende Unrecht, Tod, Böses usw. auf Gott zurückgeführt werden muss. Das ist das „andere Stück der christlichen Summe“: Es geschieht nichts zufällig, Gottes Präscienz lässt alles notwendig geschehen.32 Hilfestellungen durch die scholastischen Differenzierungen im Begriff der göttlichen necessitas hat Luther ausgeschlagen;33 trotzdem will seine Position 30 WA 18, 614,15f. = MA Erg. Bd. 1, S. 22 („es ist aber nötig, eine ganz bestimmte Unterscheidung zwischen Gottes und unserer Kraft, zwischen Gottes und unserem Werk festzuhalten […]“ 31 WA 18, 614,24 = MA Erg. Bd. 1, S. 22 („alioqui non totum Deo tribuetur“). McSorley, der zeigen will, dass Luthers These vom servum arbitrium eigentlich ein ursprünglich katholisches Anliegen ist (Augustin / Thomas), während nur Luthers Zusatzargument der totalen Präscienz („Luthers necessitaristisches Argument“ – McSorley Luthers Lehre vom unfreien Willen, S. 286) dem Unternehmen einen falschen und ganz unnötigen Akzent gebe, übersieht, dass für Luther – gebunden an das Motiv der Ganzheit! – beides konstitutiv ist und damit den scholastischen Differenzierungen absagt und entkommt. Dadurch erst kommt es wahrhaft zu ,Paradox’ und ,Dialektik‘, wovon McSorley immer nur nominell für das Aporetische spricht (vgl. S. 158 u. ö.), und damit beginnt Neues gegenüber der Scholastik, nicht nur ,Abweichen‘ von den alten Begriffen durch Luthers mangelnde Präzision (vgl. S. 217); z. B. die Paradoxie einer ,Verantwortung‘ in der Unfreiheit – ein Problem, das McSorley nicht denken kann (vgl. S. 313). 32 „Altera pars summae Christianae est […]“ (WA 18, 614 = MA Erg. Bd. 1, S. 23); vgl. den ganzen Zusammenhang WA 18, 614f. = MA Erg. Bd. 1, S. 23f.; vgl. auch WA 18, 717,25ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 151 („Difficilem quidem esse quastionem fateor imo impossibilem, si simul utrumque voles statuere et praescientiam Dei et libertatem hominis.“). 33 Vgl. vor allem WA 18, 616 = MA Erg. Bd. 1, S. 25. Dies als Luthers Fehler nachzuweisen, ist die durchgehende Absicht von McSorleys Luther-Interpretation; vgl. bei ihm zur scholastischen Differenzierung im necessitas-Begriff, die Luther bewusst ignoriert, Luthers Lehre vom unfreien Willen, S. 85 (Anm. 74), 147, 208f., 216f., 244, 290, 294 u. ö.
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sicher keinen Determinismus, sondern im Interesse des totus homo kommt es zu dieser äußersten Kollision mit der unausdenkbaren Notwendigkeit; auch sie hat anthropologische Funktion: „Die Notwendigkeit erregt uns Furcht vor Gott, damit wir nicht vermessen werden und sicher sind. Ungewissheit aber erzeugt Zuversicht, damit wir nicht verzweifeln.“34 4. Schließlich noch eine Beobachtung, wie Luther es anstellt, die Dinge eben so auf ihre Kollision hin, auf die Radikalität des geradezu Widernatürlichen hin zusammenzusetzen. Im Hauptteil der Schrift resümiert Luther, bevor er seine Position biblisch entwickeln wird, die Fehldeutungen des Erasmus in einer überraschenden Parallelisierung mit der eigenen These. Luthers Position: „Der Mensch vermag nichts außer durch die helfende Gnade Gottes, also sind keine Werke des Menschen gut“; des Erasmus Position: „Der Mensch vermag alles mit Hilfe der Gnade Gottes, also können alle Werke des Menschen gut sein“.35 Hätte Luther nicht auch diesen zweiten Satz sagen können? Unter dem Vorzeichen der cooperatio wäre das möglich, aber unter zwei Bedingungen: Zum einen muss vor der positiven Wendung der Einschnitt der Neuschöpfung gewahrt sein,36 denn der bestrittene freie Wille provoziert geradezu die „neugewordene Kreatur!“ („renovata creatura“);37 zum andern möchte Luther auch dann nicht von einem eigenproduktiven Willen sprechen, sondern vom Wirken des Geistes, der freilich „nicht ohne uns“ wirkt.38 Was aber motiviert die Betonung dieses Einschnitts, das Festhalten der geschehenden Umkehrung, die strikte Vermeidung jedes Kompromisses? Die Antwort, die sich aus dieser Schrift Luthers herauslesen lässt, hängt mit dem zusammen, was 34 WA 18, 747,5ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 190 („Necessitas nobis timorem Dei incutit, ne praesumamus et securi simus. Incertitudo vero fiduciam parit, ne desperemus.“) Zur Orientierung von Luthers Theologie an der menschlichen Verzweiflung, sie ist sozusagen die Rückseite der Gnade, vgl. WA 18, 632, 29f. = MA Erg. Bd. 1, S. 43; WA 18, 684,6f. = MA Erg. Bd. 1, S. 106; WA 18, 719,9ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 153; die Nähe zu S. Kierkegaard wird überdeutlich, wenn Luther von der Krankheit der Sünde (morbus peccati) spricht! – WA 18, 766,28 = MA Erg. Bd. 1, S. 218. 35 WA 18, 754,22ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 200 („Homo nihil potest nisi auxiliante Dei gratia, igitur nulla sunt opera hominis bona […] Homo nihil non potest auxiliante Dei gratia, igitur omnia opera hominis possunt esse bona.“). 36 Vgl. WA 18, 754,8ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 200. 37 Vgl. WA 18, 752,25 = MA Erg. Bd. 1, S. 227. 38 WA 18, 754,14 = MA Erg. Bd. 1, S. 200 („non operatur sine nobis“).
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er gegen das wissenschaftliche Deskriptionsverfahren und die Distanziertheit des Erasmus als „assertio“ herausstellt;39 methodischer gefasst ist es sein Hang zur Radikalität: „Deswegen muß man bis zum Äußersten gehen, damit der ganze freie Wille verneint und alles auf Gott zurückgeführt wird.“40 Die Extreme und der ,leidenschaftliche‘ Umgang mit dem Gegenstand41 verhindern die Kompromisse! Deshalb kann es kein „medium“ und kein „neutrum“ des Willens geben, keine ,Indifferenz‘,42 und der treffende Situationsbegriff dafür ist der der „contentio“; ich würde übersetzen: des leidenschaftlichen Widerspruchs. „Nam nisi per contentionem dicerentur omnia, quae de Christo et gratia dicuntur, ut opponatur contrariis, scilicet, quod extra Christum non sit nisi Satan […] quid, rogo, efficerent universi sermones Apostolorum et tota scriptura?“43
III. Das Interpretationsproblem von Rçm 7, 14 – 25 Die kontroversen Interpretationen dieser Stelle, an der Paulus wie sonst nie44 den Zwiespalt zwischen Fleisch und Geist, Wollen und Tun, die Metaphorik von Leben und Tod, vernunftbegabtem inneren Menschen 39 Vgl. vor allem WA 18, 603ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 10ff. 40 WA 18, 755,35ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 202 („Ideo ad extrema eundum est, ut totum negetur liberum arbitrium et omnia ad Deum referantur“). 41 WA 18, 756,9 = MA Erg. Bd. 1, S. 203 („Quod autem vehementius egerim […]“). 42 WA 18, 768,17f. = MA Erg. Bd. 1, S. 220f. (vgl. oben Anm. 30). 43 WA 18, 779,17ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 237 („Denn wenn nicht alles, was von Christus und der Gnade ausgesagt wird, antithetisch ausgesagt würde, so daß es dem Gegenteil entgegengesetzt wäre, nämlich, daß außerhalb Christi nur der Satan […] ist, was bitte, könnten dann sämtliche Worte des Apostels und die ganz Heilige Schrift zuwege bringen?“) Die dtsch. Übersetzung bringt für ,contentio’ meist das Wort ,antithetisch’; vgl. WA 18, 782,21f. = MA Erg. Bd. 1, S. 241 („per contentionem et antithesin […]“ = „vermittels vergleichender Zusammenstellung und antithetisch“); WA 18, 782,12 = MA Erg. Bd. 1, S. 241 (hier wird contentio mit ,Streit’ übersetzt); Luthers Sprachgebrauch ist aber wohl hier nicht beliebig, sofern es ihm auf diesen Widerspruch ankommt! Was hier versucht wurde, am Begriff der ,contentio’ zu zeigen, scheint sich mit dem zu treffen, was Joest als ,Kampfmotiv’ zur Erläuterung für Luthers ,Simul’ anführt, vgl. Joest „Paulus und das Lutherische Simul“ in KuD 1, 1955, 313ff. 44 Auch Gal 5, 16 – 18 ist keine eigentliche Parallele, vgl. die Argumente bei W. G. Kümmel Rçmer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament. Zwei Studien (Neuausgabe) (Theol. Bcherei, Bd. 53), München 1974, S. 105f.; vgl. ebenso bei W. Joest „Paulus und das Lutherische Simul“, S. 289 (Anm. 65); auch S. 291.
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und Gesetz der Glieder des sündenversklavten Menschen in Szene setzt, reichen bekanntlich bis in die Alte Kirche zurück. Ganz schematisch gesagt wird auf der einen Seite seit Irenäus bis in die neuesten historischexegetischen Kommentare die These vertreten, diese Stelle könne wegen des unauflöslichen Widerspruchs, den sie bis zum Verzweiflungsruf in 7, 24 entfalte, natürlich nicht im Namen eines Christen gesprochen sein; auf der anderen Seite wird seit Origenes, dem späteren Augustin und dann seit Luther bis zu Asmussens und Nygrens Kommentaren umgekehrt geschlossen, gerade diese rücksichtslose Einsicht in die Sündenverfallenheit könne gar nicht auf der Basis bloß des Gesetzes in Erfahrung gebracht werden, sie sei nur aus der Sicht des Christen möglich und prototypisch für seine Anfechtungserfahrung. 1. Entscheidend ist in dieser Kontroverse zunächst die Einordnung von Rçm 7 in den Zusammenhang der Kap. 6 und 8, ob nämlich die Kapitelabfolge die gleichgeartete Thematik garantiert (wie Nygren meint),45 oder ob Röm 7 eine Sonderstellung einnimmt, als Exkurs über das Gesetz auf anderer Ebene argumentiert als die Rahmenkapitel46 bzw. als ,Unterbrechung‘47 des Zusammenhangs wie ein Kommentar zu Röm 10, 4 (Christus als Ende des Gesetzes) und Fortsetzung von Röm 5 zur Vgl. zu den Problemen um Röm 7 im ganzen den ausgezeichneten Überblick bei O. Kuß Der Rçmerbrief, Regensburg 19632, 2. Lieferung, S. 432 – 484. 45 Vgl. A. Nygren Der Rçmerbrief, Göttingen 1951, S. 211, 216f.; entsprechend auch H. Asmussen Der Rçmerbrief, Stuttgart 1952, S. 157. Die hier im Hintergrund stehende Bindung an die reformatorische Auslegung von Röm 7 versucht ebenfalls J. D. G. Dunn noch einmal exegetisch zu verteidigen. Bezeichnend daran ist das Interpretationsinteresse der ,Erfahrung’ des Christen, um die es eben in Röm 7 gehe! Vgl. Dunn „Röm 7, 14 – 25 in the Theology of Paul“ in Theol. Zeitschrift 31, 1975, S. 257 – 273. (Den Hinweis auf diesen Artikel verdanke ich Herrn Prof. Dr. K. Haacker, Wuppertal.) 46 ,Exkurs’ ist dann nicht im Sinne einer ,Abschweifung’ gemeint (vgl. E. Käsemann An die Rçmer (HNT 8a), Tübingen 19743, S. 184), sondern als Gedankenfortgang, der aber nicht auf derselben Ebene wie Kap. 6 und 8 liegt. Das Thema in Röm 7 ist jedenfalls das Gesetz, nicht primär die Sünde, vgl. K. Stendahl, Art. „Sünde und Schuld“, IV im NT, RGG3 VI, S. 486. 47 E. Brunner Der Rçmerbrief, Stuttgart 1948 – 55. K. Barth spricht ganz ähnlich von ,kleingedruckten Anmerkungen’, um die es sich bei der Abhandlung des Gesetzes, von dem die Christen gerade befreit seien, in Röm 7 drehe; vgl. Barth Kurze Erklrung des Rçmerbriefes, München 1956, S. 90. Das darf aber nicht darüber täuschen, dass Barth im ganzen Röm 7 durchaus in der reformatorischen Tradition, d. h. auf den Christen und auf Paulus hin ausgelegt hat (vgl. bes. S. 106; auch KD IV, 1, S. 656!), allerdings ohne auf die exegetische Diskussion einzugehen!
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Funktion des Gesetzes im Blick auf die Sünde anzusehen ist (wie Eichholz vorschlägt).48 Nimmt man die einzelnen Aussagen des Paulus beim Wort, so bleibt auch zunächst nichts, als die Unvermitteltheit jedenfalls des dritten Teilstücks in Röm 7 zu konstatieren: Röm 7, 14 – 25 lässt sich mit seinem Rahmen auf keinen glatten Nenner bringen. In 6, 14 heißt es: „Denn die Sünde soll nicht (mehr) über euch herrschen. Steht ihr doch nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.“ – und in 8, 2: „Denn das mit dem Geist gegebene Gesetz des Lebens in Christus Jesus hat dich vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit.“49 7, 14 dagegen problematisiert den Basissatz: „Ich bin […] unter die Sündenmacht verkauft.“ – und in 7, 24 folgt der Ausruf: „Ich armseliger Mensch! Wer wird mich diesem Todesleib entreißen?“ Selbst wenn man das lutherische Zugleich von Gerecht und Sünder gerade in Röm 7, 14 – 25 belegt sehen will, wird das heute nicht mehr möglich sein, ohne das Faktum dieses Einschnitts gemessen an den Rahmenaussagen zuzugestehen. An dieser Stelle kann sich der Umgang mit den Texten versachlichen, und ein Konsens müsste darin erreichbar sein, dass Röm 7, 14ff. und sein Rahmen nicht auf derselben Ebene argumentieren.50 2. Die klassische Frage, die seit den Kirchenvätern bis in die exegetischen Diskussionen unseres Jahrhunderts reicht, galt dem ,Ich‘, das hier in Röm 7 redet. Dabei kann heute die Fragestellung insoweit vereinfacht werden, als die Hypothese, die das Ich in Röm 7 mit der Biographie des Paulus, seiner Zeit als Pharisäer, der Zeit vor seiner Bekehrung zusammenbringen will, dass dieser gesamte Deutungskomplex als irreführend beiseite gelassen werden kann. Das ist seit Kümmels Arbeit zu diesem Thema zu konstatieren,51 und es ist exegetisch unausweichlich, aus den vorliegenden Interpretationsalternativen zumindest die festzulegen, das ,Ich‘ sei hier ein ,generelles‘, kein individuelles und schon gar nicht ein 48 Vgl. G. Eichholz Die Theologie des Paulus im Umriß, Neukirchen 19772, S. 115, 178. Vgl. als Anknüpfungen in Röm 5 vor allem die Verse 13 u. 20! 49 Textübersetzung nach E. Käsemann, aaO. (HNT). 50 Vgl. hierzu vor allem Kümmel Rçmer 7 und das Bild des Menschen, S. 11, 97f. Vgl. auch bei H. Conzelmann Grundriß der Theologie des Neuen Testaments (Kaiser Studienausgabe), München 1976, S. 253; extrem formuliert bei Käsemann, aaO. (HNT), S. 192: „Was hier ausgesagt wird, ist nach c. 6 und 8 für den Christen überholt […]“; vgl. auch G. Eichholz Die Theologie des Paulus im Umriß, S. 253: Der Text ,springt’ von 7, 6 zu 8, 2! 51 Vgl. Kümmel Rçmer 7 und das Bild des Menschen, bes. S. 74ff.
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biographisches.52 Offen bleibt dann allerdings, ob es sich bei diesem generellen oder rhetorischen Ich um den ,gläubigen‘ oder ,vorgläubigen‘ Zustand handeln soll;53 und der Grund für das beharrliche Festhalten an der Biographie des Paulus zur Auslegung von Röm 7 ist wohl darin zu sehen, dass man von der Aktualität dieser Stelle für das Christenleben nicht lassen wollte. Das versuchte der exegetische Verweis auf den Christen Paulus zu sichern, woraus die Gegner dieser Auslegung dann mit ebenso gewichtigen Argumenten auf den Paulus vor der Bekehrung ausweichen konnten.54 Hinter der biographischen Deutung stand daher ein anderes Interesse, und wenn Luther gegen Erasmus am Ende triumphierend auf Röm 7 verweist, das für die „Heiligen und Frommen“ gelte,55 so ist hier dieses Erfahrungsinteresse zu packen in der von Luther verteidigten Ganzheit des Menschen im Widerspruch; sogar in der ,tröstlichen‘ Funktion, wie es in Luthers Römerbriefvorlesung heißt, dass auch der „große Apostel“ eben von „demselben Seufzen und Jammer angefochten ist, von dem auch wir heimgesucht werden“. So legt Luther gerade 7, 24 aus! 56 Und wenn die neuere Exegese schlicht davon ausgehen muss, auch dieser Ruf in 7, 24 sei auf einen vorchristlichen Zustand hin auszulegen, so sollte doch der Abgrund, der dann zu Luther aufbricht, 52 Vgl. zu diesen Alternativen die Übersicht bei Conzelmann Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, S. 253, (Anm. 2). Eine Übersicht zur exegetischen Diskussion der Gegenwart gibt auch K. Kertelge „Exegetische Überlegungen zum Verständnis der paulinischen Anthropologie nach Römer 7“ in ZNW 62, 1971, S. 105 – 114. Ebenso – und ausführlicher auch mit Bezug auf die altkirchlichen und reformatorischen Traditionen – bei E. Ellwein „Das Rätsel von Römer VII“ in KuD 1, 1955, S. 247 – 268. 53 Vgl. Conzelmann Grundriß der Theologie des Neuen Testaments. 54 So schon in den altkirchlichen Auslegungen: Beim späteren Augustin (Paulus spricht über sich selbst); Tertullian (Paulus selbst vor der Bekehrung); Origenes (das Ich ist rhetorisch zu verstehen) – vgl. die Referate bei Kümmel Rçmer 7 und das Bild des Menschen, S. 90f., 109, 119; auch bei N. Bonwetsch „Römer 7,14ff. in der alten Kirche und in Luthers Vorlesung über den Römerbrief“ in NKZ 1919, S. 135 – 156. In der exegetischen Diskussion spielen dann natürlich Vergleichstexte eine wichtige Rolle, etwa Röm 1, 18 – 3,20 zur Situation des natürlichen Menschen – ist das eine Parallele zu 7, 14ff.? Oder Phil 3, 6 zur Biographie des Paulus („untadelig im Gesetz“), was dann gerade Röm 7, 14ff., liest man es biographisch, zuwiderliefe usw. 55 WA 18, 783,4f. = MA Erg. Bd. 1, S. 242; vgl. in der Schrift gegen Latomus WA 8, 112 – 113 = MA Erg. Bd. 6, S. 114f. 56 „Immo Consolatorium est tantum Apostolum audire eis adhuc gemitibus et miseriis involutum, quibus et nos Involuimur […]“ (WA 56, 346,31ff. = MA Erg. Bd. 2, 245); ganz ähnlich übrigens K. Barth, vgl. KD IV, 1, S. 655f.
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zögern lassen. Hier hat Nygren sicher richtig beobachtet und gespürt, dass 7, 24 dann zu einem bloß ,theatralischen Ausruf‘ wird.57 Die Kompromissformel, die Bultmann geprägt hat, 7, 14ff. sei zwar als der vorchristliche Zustand anzusehen, dieser sei aber nur vom Christen aus so überhaupt zu deuten58 – dieser Kompromiss hilft zunächst weiter. Dann bleibt die Überzeugungskraft und Aktualität des Textes gewahrt, seine Erfahrung wird nicht einfach ausgegrenzt; schließlich darf es nicht zu dem Selbstbetrug kommen, wie Luther gegen Erasmus schreibt, dass Satan dem Menschen das „Elend der Blindheit hinzufügt, daß er glaubt, er sei frei, glücklich, erlöst, mächtig, gesund, lebendig“ – während es darauf ankommt, das eigene Elend zu erkennen, damit Gott sich erbarmen kann.59 Wie ist beides sicherzustellen, Luthers theologische Intention und die exegetisch notwendige Einstufung des Textes? Bultmann hat auch hier ein salomonisches Urteil gestiftet: „Luthers Auffassung von Röm 7, 15ff. ist zwar exegetisch falsch, aber sachlich nicht unpaulinisch.“60 3. Die Entscheidungen in der Wertung des Kontextes und des ,Ich‘ von Röm 7, 15ff. sollen schließlich an einigen Einzelauslegungen konkreter gefasst werden. Dabei liegt die Kontroverse bereits in Vers 14 vor, denn die Aussage von 14c: pepÂal´mor rp¹ tµm "laÂt¸am – der ,Obersatz‘ des ganzen Abschnitts, wie Käsemann sagt; die ,Bilanz‘, wie Eichholz sagt61 – gibt einerseits Anlass, den Abschnitt als außerhalb des Christlichen 57 Nygren Der Rçmerbrief, S. 210; ähnlich K. Barth KD IV, 1, S. 657: „Welche Rhetorik mutet man Paulus zu, wenn man annimmt, dass er nur eben in der Erinnerung an damals so geklagt habe?“ 58 R. Bultmann „Römer 7 und die Anthropologie des Paulus“ in Exegetica. Aufstze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, S. 198 – 209. – „die Situation des unter dem Gesetz stehenden Menschen überhaupt wird hier charakterisiert, und zwar so, wie sie für das Auge des vom Gesetz durch Christus Befreiten sichtbar geworden ist.“ (S. 198). Vgl. auch Bultmann Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 19655, S. 267. 59 „Sed qui addit, operante Satana. principe suo, hanc miseriam caecitatis miseriis suis, ut se liberum, beatum, solutum, potentem, sanum, vivum, esse credat.“ (WA 18, 679,444ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 100). 60 R. Bultmann „Christus des Gesetzes Ende“ in Glauben und Verstehen in Ges. Aufstze, 2. Bd. Tübingen 19613, S. 47. Zur bleibenden Überzeugungskraft von Röm 7 – entgegen den sich aufdrängenden Deutungen auf Rhetorik, Verallgemeinerung, Mensch unter dem Gesetz – usw. – äußert selbst Kümmel Rçmer 7 und das Bild des Menschen, S. 89: „Es scheint allerdings der Stil des Beschriebenen und die Lebendigkeit des zweiten Teiles gegen eine derartige Auslegung zu sprechen“ (hier bezogen auf 7, 7 – 13). 61 Käsemann, aaO. (HNT), S. 193; Eichholz Die Theologie des Paulus, S. 259.
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zu verstehen,62 wird aber von Luther gerade umgekehrt eingesetzt! „Denn das ist das Merkmal eines geistlichen und weisen Menschen“, schreibt Luther in seiner Römerbriefauslegung, „er weiß, daß er fleischlich ist“.63 In dieser Umkehrung liegt das durchgängige Motiv, mit dem Luther die Deutung auf den Nichtchristen oder den natürlichen Menschen abwehrt. Es ist seine dialektische These, die mit der Ganzheit des Menschen im Widerspruch und mit der Totalität Gottes, wie an der Erasmusschrift gezeigt, in Kraft ist: die Erkenntnis der totalen Sündenverfallenheit – die umgekehrt die Erkenntnis des gnädigen Gottes in Christus und seine Erfahrung ist – kann menschlich autonom gerade nicht zugänglich sein. Deshalb gibt es an dieser Stelle auch keinen freien Willen, und deshalb stellt Luther, von der modernen Exegese unseres Textes aus beurteilt, hier alles auf den Kopf. So in den korrespondierenden Versen 16b („[…] gestehe ich dem Gesetz zu, daß es gut ist.“) und 22 („Ich habe Freude an dem Gesetz Gottes […]“). Dieses s¼lvgli und sum¶dolai kann nach Luther, und so hatte schon Augustin argumentiert, ausgeschlossen vom Menschen unter diesem Gesetz gesprochen sein.64 Nimmt man aber gegen Luther diesen Abschnitt doch aus der dem Christen fortbestehenden Sündendialektik heraus,65 so ist es unvermeidlich, dann dem Gesetz außerhalb des Geistes eine positive Funktion zugestehen zu müssen. Röm 7, 14ff. trägt auch in dieser Deutung eine große Beweislast; hier lag das Interesse von Paul Althaus, der in seinem Vergleich der nicht identischen Theologie von Luther und Paulus an dieser Stelle lieber mit Paulus eine geschöpfliche Anthropologie vor dem Leben im Geist vertreten wollte.66 62 So z. B. Käsemann z. St. 63 „Quia spiritualis et sapientis hominis est scire se esse carnalem […]“ (WA 56, 340,25f. = MA Erg. Bd. 2, S. 235, zu Röm 7,14). 64 Vgl. zu Augustin bei Kümmel Rçmer 7 und das Bild des Menschen, S. 92. Die sachlich gleichlautenden Stellen bei Luther vgl. WA 56, 340 = MA Erg. Bd. 2, S. 235; WA 56, 345 – 346 = MA Erg. Bd. 2, S. 243 – 244 (zu Röm 7, 21 u. 22); WA 56, 346 = MA Erg. Bd. 2, S. 245 (zu Röm 7,24). 65 Vgl. WA 56, 350,5f. = MA Erg. Bd. 2, S. 249 (zu Röm 7, 17): „Igitur peccatum est in spirituali homine relictum ad exercitium gratis, ad humilitatem superbie, ad repressionem presumptionis“. 66 P. Althaus Paulus und Luther ber den Menschen. Ein Vergleich (Studien der LutherAkademie H. 14), Gütersloh 19583, S. 56ff., 95. Anders als Althaus wird man diese Deutung nicht gleich für eine Lehre von der Ur-Offenbarung verbuchen müssen (vgl. P. Althaus Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Gütersloh 19667, S. 344, 345f.), aber Althaus hat herausgestellt, dass der leitende Gesichtspunkt der
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Dieselbe Problematik kehrt wieder in den Auslegungen der Verse 15, 16, 18 u. 19. Wie sind hier die Worte Wollen, Vollbringen, Tun, Wirken zu verstehen? (h´keim, poie?m, pÂ\sseim, jateÂc\feshai) Hier haben es die neueren Auslegungen, die den Abschnitt auf den Menschen unter dem Gesetz beziehen, einfach; sie brauchen keine mühsamen Differenzierungen, denn es geht eindeutig um den Zwiespalt zwischen Wollen und Vollbringen, Intention und Resultat.67 Anders in der Interpretation auf den Christen. Seit Augustin werden dann Feinheiten unterschieden. Er deutete Tun und Vollbringen auf die concupiscentia, das Nicht-Vollbringen dann auf ein nicht mögliches Freisein von der concupiscentia.68 So versucht es auch Luther, indem er „tun“, „handeln“ und „vollbringen“ auf ihre Motivation hin verstehen will: „die Antriebe und Süchte, die zum Handeln treiben“.69 Deutlich ist hieran der Systemzwang abzulesen, bei Augustin wie bei Luther, dass die einzelnen Worte des Textes neu verstanden werden müssen, weil ein schlechthin ergebnisloses Handeln vom Christen und von Paulus auch wieder nicht gelten kann. Auch hier läuft die Kontroverse um Röm 7 in eine Aporie, und es wird Interpretation, wie er sich ausdrücke: die „Wirklichkeit unseres Menschseins“ sein muss (Althaus Paulus und Luther, S. 56, ähnlich S. 95). 67 Vgl. Käsemann, aaO. (HNT), S. 194: „Die Variation der Verben […] ist zweifellos rhetorisch […]“ 68 Vgl. dazu bei Kümmel Rçmer 7 und das Bild des Menschen, S. 92 (im Text der Vulgata stand zu Röm 7,18 ,perficere’ für jateÂc\feshai). Zur Diskussion zwischen Althaus und Bultmann über die ,transsubjektive’ Auslegung vgl. die Übersicht bei O. Kuß Der Rçmerbrief, S. 470f. H. Jonas hat in seiner Studie Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Eine philosophische Studie zum pelagianischen Streit, Göttingen 19652 – sehr klar gezeigt, wie der spätere Augustin bedingt durch seine antipelagianische Position Röm 7 umdeuten muss (Pelagius hatte selbst Röm 7 auf den homo sub lege bezogen, vgl. bei Jonas, S. 53f.); wenn dann Röm 7 den homo sub gratia meinen soll, muss Sünde als concupiscentia verstanden werden; Augustin belastet die ganze Diskussion noch mit dem Problem des meritum (S. 55f.), und: die „echte Dialektik von Wollen und Nichtkönnen ist verlegt“ (S. 57). Fazit bei H. Jonas: „Erwägt man diese weitgehende Abschwächung des Sinnes, die bei der Übertragung auf den homo sub gratia als notwendig erachtet wurde, so wird man nicht umhin können, das primäre Motiv zu der Übertragung weniger in dem Bestreben zu sehen, dem Gnadenstand seine ihm eigene Not zu sichern, als in dem, dem Gesetzesstand nicht zu viel eigene Möglichkeit an echtem In-Not-geraten-Können zu lassen“ (S. 59). 69 WA 56, 71,12ff. = MA Erg. Bd. 2, S. 242 („Et totus error hunc locum de carnali homine exponentium est, Quod ,agere’ seu ,facere’ et ,perficere’ non aduertunt per Apostolum aperte distingui, ut ,facere’ ,agere’ ,operari’ significet non opera. Sed motus et desideria ad opera producere seu conari facere […]“).
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auch bei einer Interpretation, die Luthers theologische Absichten aufnehmen will, nicht mehr möglich sein, in gleicher Weise exegetisch zu argumentieren. Deshalb kann auch der Tempuswechsel vom Präteritum in 7, 7 – 13 zum Präsens ab Vers 14 nichts beweisen, wie es Kohlbrügge, Nygren und K. Barth noch versuchen. Ob auch der Tempuswechsel rhetorisch ist oder die Gegenwart des Christen understreicht, kann so oder so nicht entschieden werden.70 4. Die exegetischen Belegmöglichkeiten für die differenten theologischen Deutungen sind also nur begrenzt zwingend. Bultmanns Statement zu Luthers Interpretation: exegetisch falsch, aber nicht unpaulinisch, ist treffend! Dann liegt aber zwischen Paulus und Luther ein Bruch,71 und insofern schiebt sich hier eine kritische Verfahrensfrage dazwischen, wer denn das Recht gibt, diesen oder den anderen Text als autoritativ vorzuziehen. Sowohl Kümmel wie Althaus haben je verschieden in ihren ausführlichen Besprechungen von Röm 7 auf die Zeitdistanzen aufmerksam gemacht. Zwischen Paulus und Luther und zwischen beiden und uns besteht eben gar keine Gleichzeitigkeit.72 So durften auch die Exegeten, 70 Vgl. H. F. Kohlbrügges „Predigt über Röm 7,14“ in Drei Gastpredigten […] gehalten 1833, Elberfeld 18554, S. 12. Vgl. auch H. F. Kohlbrügge Das siebte Kapitel des Rçmerbriefs in ausfhrlicher Umschreibung (Nachdruck 1978 der Ausg. v. 1960), hg. v. O. Weber (Biblische Studie), S. 43ff. Vgl. bei Nygren Der Rçmerbrief, S. 209, 211 (christliche Gegenwart wird durch das Präsens angezeigt!), ähnlich auch Barth, vgl. KD IV, 1, 650. Dagegen aber Käsemann, aaO. (HNT), S. 191. 71 Vgl. dazu bei Althaus Paulus und Luther, S. 55ff., 80ff.; W. Joest „Paulus und das lutherische Simul […]“ in KuD 1, 1955, S. 271ff.; vgl. Eichholz Die Theologie des Paulus, S. 244; zusammengefasst bei K. Stendahl Art. „Sünde und Schuld“, S. 486. 72 Vgl. bei Althaus Paulus und Luther, S. 80ff.; bei Kümmel Rçmer 7 und das Bild des Menschen, S. 108: „Und es ist doch wohl in der Tat so, daß unser Christentum von dem eschatologisch bestimmten Christentum der paulinischen Gemeinden recht verschieden ist.“ – Soweit ist Kümmel in der Konstatierung der hermeneutischen Differenz ganz zuzustimmen. Seine Konsequenz daraus aber muss theologisch noch einmal problematisiert werden und kann nicht einfach so autoritativ gelten, wie es Kümmel dann formuliert hat: „Diese Einsicht kann also nur dazu führen, unsere Lage und Lebensanschauung am Text zu prüfen, nicht aber den Text unserer Lage anzupassen“ (ebd.). Zur Differenz zwischen Paulus und Luther und der Gegenwart sehr extrem bei P. Wernle Der Christ und die Snde bei Paulus, Freiburg im Breisgau / Leipzig 1897, VIII: „der einfachen Überlegung, daß ein Missionar im Heidenland, der vor 1800 Jahren den Weltuntergang erwartete, eine total andere Theologie haben mußte, als die ganze spätere Zeit, begegnet man selten in Theologischen Büchern.“
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die der lutherischen Interpretation nicht mehr folgen konnten, hier selbständige Kompromisse suchen, die doch in Luthers Auslegungsrichtung gehen. Beispielhaft sind dafür Eichholz und Käsemann. Sie lehnen beide die christliche Gegenwartsdeutung von Röm 7, 14ff. ab,73 kommen interpretierend dann aber doch auf die Gegenwartserfahrung zurück, die sich exegetisch zunächst nicht halten ließ. Ich zitiere als Beispiel ein Stück aus den Schlusspassagen von Käsemanns Kommentar zu Röm 7: „Wo der Mensch an seinem Ende angelangt ist, kann creatio ex nihilo erfolgen […] Die Angst der Kreatur, in welcher sich ihre Hilfsbedürftigkeit äußert, erlaubt eine christliche Deutung der vorchristlichen Existenz […] / […] Der Christ begreift sie als Ausdruck des Seufzens aller Kreatur, als die Wahrheit des wirklichen Menschen, auf welche der wahre Gott antwortet, indem er Freiheit der Unfreien, Rettung aus dem Zwang der kosmischen Gewalten, Rechtfertigung der Gottlosen wirkt.“74 Und noch deutlicher heißt es in Käsemanns Aufsatz „Zur paulinischen Anthropologie“: „Der Apostel vernimmt deshalb aus allem natürlichen Leben den qualvollen Schrei von Röm 7, 24 […] Es ist der gleiche Schrei, den nach Röm 8, 19ff. die übrige Kreatur wie im Echo aufnimmt […]; sogar die Christen stimmen in ihn noch ein, sofern sie, der irdischen Anfechtung nicht entronnen, nach der Vollendung Ausschau halten, also noch in Hoffnung warten müssen.“75 So ausgelegt haben Röm 7 und die lutherische Deutung einen neuen Zusammenhang gefunden: in der widersprüchlichen Erfahrung der objektiven Verzweiflung, wie Käsemann in Weiterführung Bultmanns formuliert.76 73 Eichholz Die Theologie des Paulus, S. 253f.; Käsemann, aaO. (HNT), S. 192f. 74 Käsemann, aaO. (HNT), S. 202f.. 75 Käsemann „Zur paulinischen Anthropologie“ in Paulinische Perspektiven, Tübingen 19722, S. 34. Vgl. die analoge Interpretation bei Eichholz, der, nachdem er vom ,Wahrheitsmoment’ der reformatorischen Deutung gesprochen hat (aaO., S. 254), schreibt: „Ich bin vielmehr immer dabei. Immer geht es um die Definition meines Ich als des der Sünde verfallenen Ich […] Ich kann mich hier selbst nicht befreien, und insofern gilt der Verhängnischarakter der Sünde […] Paulus hat den Ich-Stil nicht verlassen, mit dem er in Röm 7, 7 begann. Redet Paulus hier nicht biographisch, so redet er doch höchst beteiligt, als einer, der sich selbst einschließt“ (S. 259). 76 Vgl. Käsemann, aaO. (HNT), S. 202: „daß dieser Mensch notwendig und objektiv gesehen der Verzweifelte ist […]“. Vgl. Bultmann Theologie des NT, S. 267: „nicht so, daß der mºlor den Menschen in die subjektive Verzweiflung hineinführt, sondern so, daß er ihn in eine objektiv verzweifelte Situation bringt […] das Bild der objektiven Situation des Menschen unter dem Gesetz, wie es vom Glauben aus erst sichtbar geworden ist.“ Bultmann hat allerdings, darin ganz
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Aus dieser Realität ist der Christ nicht herausgesprungen, und der Wechsel von alt zu neu, wie er in 7, 6 proklamiert wird (1m jaimºtgti pme¼lator ja· oq pakaiºtgti cÂ\llator), ist als solch ein Sprung überhaupt nicht vorzustellen. Die neue Relation des befreienden Geistes bleibt konfrontiert mit den vergangen gegenwärtigen Realitäten des Todes, wie es in Röm 8, 1 – 11 festgehalten ist. Die Lösung des exegetischen Interpretationsproblems von Röm 7, 14ff. lässt sich daher in der anders als Käsemann, diese Objektivität auf den existenztheologischen Begriff der ,Eigentlichkeit’ hin verstanden, vgl. Bultmann „Röm 7 und die Anthropologie“ in Exegetica, S. 198ff., bes. S. 208. Diese Deutung setzt sich fort bei E. Fuchs „Existentiale Interpretation von Römer 7, 7 – 12 und 21 – 23“ in Glaube und Erfahrung. Zum christologischen Problem im Neuen Testament, Tübingen 1965, S. 364 – 401. Die Eigentlichkeit erscheint hier – als objektiver Zusammenhang von Röm 7 und seiner christlichen Deutung – als ein Geschehen der Sprache; so heißt es zum Schluss: „Paulus redet in Römer 7 nicht terminologisch vom Glauben, weil er den Glauben selbst herbringen will. Paulus redet deshalb vom Ich und bringt mich zur Sprache: dich geht es an, zu dir kommt der Glaube! So spart er das Ich des Sünders für den Glauben auf“ (S. 401). Dieselbe Auslegungslinie setzt sich fort bei G. Schunack Das hermeneutische Problem des Todes. Im Horizont von Rçmer 5 untersucht (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 7), Tübingen 1967. Auch hier wird das Subjekt von Röm 7 nicht subjektiv im herkömmlichen Sinn verstanden, sondern als ,Sprachgeschick’ (S. 121). –„Das ,ego’ ist so etwas wie der Typos des Glaubenden. Es ist nicht einfach identisch mit dem Glaubenden, denn es ist durch das Gesetz zur Sprache gekommen. Gerade so ist es aber verwahrt auf den Glaubenden hin, denn es kommt in ihm die Wahrheit des Gesetzes zur Sprache. Es spricht der Glaubende, aber nicht von sich als dem in Christus Lebenden, sondern von sich als dem durch Christus Vergangenen, nämlich im Gesetz und vor dem Gesetz Toten“ (S. 140 – 141). So schön und gelungen diese Deutung ist – gerade im Blick auf eine Integration der leidigen Alternativen der Paulus-Interpretation dieser Stelle –, was hier als Objektivität und Eigentlichkeit gilt, ist eine sprachphilosophisch begründete Abhebung und somit erneute Deutung über der realen Situation, die zuvor als transsubjektiv exegetisch ermittelt wurde. Gegen diese kurz gefasst als hermeneutisch-ontologisch zu charakterisierende Paulus-Interpretation hat Käsemann mit Recht protestiert und gegen die Allmacht der Ontologie die Mächte der Kreatürlichkeit und ontischen Welthaftigkeit wieder zur Geltung bringen wollen. Vgl. Käsemann „Zur paulinischen Anthropologie“, S. 41ff.; ebenso Käsemann, aaO. (HNT), S. 199: „Es gibt menschliche Realität nur im Bereich der Leiblichkeit, also der welthaften Kommunikation. Der Streit um die Weltherrschaft konkretisiert sich notwendig als Streit um Existenz in ihrer Weltbezogenheit, also nicht bloß um Individuen und ihre ,Eigentlichkeit’.“ Die Deutung Bultmanns – im philosophischen Kontext entwickelt – vollzieht auch H. Jonas, vgl. seinen Aufsatz „Philosophische Meditation über Paulus, Römerbrief, Kapitel 7“ in Zeit und Geschichte. Dankesgabe an Rudolf Bultmann, hg. v. E. Dinker, Tübingen 1964, S. 557 – 570.
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Zuordnung zum Widereinander von s\Ân und pmeOla in Röm 8 geben. Im Anschluss an E. Brandenburger stellt sich diese Zuordnung dann so dar, dass Röm 7, 14ff. den menschlichen Grundkonflikt innerhalb des Bereiches der s\Ân ins Bild setzt, der dann in Röm 8 im höher liegenden Gegensatz von s\Ân und pmeOla aufgehoben wird.77 Der für die theologische Anthropologie entscheidende Drehpunkt liegt also sozusagen zwischen Röm 7 und Röm 8, weshalb mit Recht vom christlichen Glauben gelten muss, dass auch die Sünde zu glauben ist, wie es in Luthers Römerbriefvorlesung im Collarium zu Röm 3, 5 heißt („sola fide credendum est nos esse peccatores“).78 Umgekehrt heißt das aber nicht, außerhalb dieses Glaubens sei der Text in Röm 7, 14ff. unverständlich und entbehre aller Erfahrungswerte. Dass der Mensch Fleisch ist, wie Luther sagt, ist so intensiv zu erfahren, wie es in Röm 7 nacherlebt wird; dass aber der ganze Mensch, auch in seinem Besten, Sünder ist, macht diesen Drehpunkt aus, der die Anthropologie und die Erfahrung umkehren kann. Das geschieht an einem ,Ich‘, das immer schon in Hoffnungen und Zwängen steht, an denen Tod und Leben, ,Befreiung‘ zu erfahren ist – weil darinnen „zugleich paradoxerweise die Möglichkeit des Umschwungs“ steckt (Käsemann).79 Dieser ist nicht gepachtet, nicht automatisch; er ist in Kraft an seinem Gegenteil, und das ist der unaufgebbare Wert von Röm 7, 14ff.80 77 Vgl. den Hinweis bei E. Brandenburger Fleisch und Geist. Paulus und die dualistische Weisheit (WMANT 29), Neukirchen 1968, S. 48. 78 Vgl. WA 56, 231,9f. = MA Erg. Bd. 2, S. 101. Vgl. den Hinweis auf diese Stelle bei Eichholz Die Theologie des Paulus, S. 64. Auch P. v. der Osten-Sacken vertritt die These, Röm 8 sei ,die Antwort’ auf Röm 7 („Das paulinische Verständnis des Gesetzes im Spannungsfeld von Eschatologie und Geschichte“ in EvTh 37, 1977, S. 572), allerdings mit einem Akzent, der Röm 7 eigene Erfahrung meint bestreiten zu müssen. Dass Röm 7 „nur für den schon Befreiten“ verständlich sein soll, ist kaum nachzuvollziehen (vgl. S. 566). 79 Vgl. Käsemann, aaO. (HNT), S. 201. 80 Anzumerken bleibt noch, dass nun die Selbständigkeit des Abschnittes 7,14ff. nicht dogmatisch in der Gegenrichtung zu Luther dahin überzeichnet werden muss, dass doch ein Mensch mit Freude am Gesetz und Willen und Gewissen zum Guten das Resultat ist. (So Althaus Paulus und Luther, bes. S. 46f.; dagegen knapp Käsemann, aaO. (HNT), S. 200, der von Vers 14c aus diese Wendung bestreitet: „Man darf diese Verfallenheit nicht derart paralysieren, daß man ihr im guten Willen ein Gegengewicht zuordnet.“) Allerdings ist zuzugeben, dass solche Züge, wie sie Althaus besonders herausstreicht, an der Stelle von Paulus durchaus vorgetragen werden. Das gilt besonders für die Rolle eines positiven Willens, den inneren Menschen und den moOr (in 7, 21ff.). Doch machen die antiken Parallelen aus jüdischer und hellenistischer Tradition klar, dass Paulus hier nicht selbständig
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IV. Zum Erfahrungsbegriff der Theologie Erfahrung ist hier kein Begriff, den man einfach definieren, operationalisieren könnte. Erfahrungen muss man machen, so wie man Experimente machen muss, eine praktische Aufgabe also; aber doch ganz anders als das distanzierte Experiment sind die Erfahrungen, die der theologischen Anthropologie eingeschrieben sind: nicht bruchlos zu objektivieren, nicht einfach zu wiederholen, nicht eindeutig auszuwerten. theologisch argumentiert – jedenfalls nicht in diese Richtung –, sondern eher zitiert. Vgl. dazu die Übersicht bei Käsemann, aaO. (HNT), S. 192ff.; bes. das bekannte Ovid-Zitat: „video meliora proboque, deteriora sequor.“ Vgl. vor allem zu den hellenistischen Parallelen die Arbeit von H. Hommel „Das 7. Kapitel des Römerbriefs im Licht antiker Überlieferung“ in Theologia Viatorum 8, 1961 – 62, S. 90 – 116; vgl. auch bei W. Gutbrod Die paulinische Anthropologie, Stuttgart / Berlin 1934, S. 85ff. (zum Begriff des ,inneren Menschen’ in hellenistischer Tradition). Zu möglichen Parallelen aus der Qumran-Literatur vgl. bei H. Braun „Römer 7, 7 – 25 und das Selbstverständnis des Qumran-Frommen“ in Ges. Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen 19713, S. 100 – 119. Für die gesamte Diskussion um die Einstufung von Röm 7, 14ff. wäre es ein enormer Gewinn, wenn sich zeigen ließe, dass Paulus hier bekanntes Material zitiert und für seinen Argumentationsgang, der eben auf Röm 8 zuläuft, benutzt. Damit wäre der Erfahrungswert von Röm 7, gerade wegen des Einsatzes geprägter Formulierungen, gesichert, und es müsste dies Material nicht überbewertet werden. Für solch ein vorgeprägtes Stück spricht die dreifache Wiederholung derselben Satzteile (einprägend, zitierend, steigernd): 15. oq c±Â d h´ky toOto pÂ\ssy – !kk’ d lis_ toOto poi_ 19. oq c±Â d h´ky poi_ !cahºm – !kk± d oq h´ky jaj¹m toOto pÂ\ssy 16. s¼lvgli t` mºl\ fti jakºr 22. sum¶dolai c±Â t` mºl\ toO heoO jat± t¹m 5sy %mhÂypom 17. !kk± B 1moijoOsa 1m 1lo· "laÂt¸a 20. !kk± B oQjoOsa 1m 1lo· "laÂt¸a Weitere Hinweise für ein vorgeprägtes Stück finden sich bei O. Michel Der Brief an die Rçmer, Göttingen 19664, wo von einem ,Ich-Bekenntnis’ die Rede ist, S. 181, 183, 178, Anm. 1. E. Brandenburger findet die Motive, mit denen Paulus in Röm 7 – 8 argumentiert, belegt im Sprachgebrauch der ,dualistischen Weisheit’ (bei Philo v. Alexandrien): „Wiewohl Paulus in der Sache etwas anderes meint, schildert er doch den Unheilszustand des Menschen zu einem guten Teil in der Sprache jener dualistischen Weisheit“ (aaO., S. 172). Beispiele für eine liturgische Form antiker ,Klage’ (,lament’) stellt E. W. Smith zusammen, um damit Belege für die These zu geben, Röm 7 sei nach diesem Muster zu interpretieren; dafür spräche dann besonders die überraschende Wendung in 7, 25a! Vgl. Smith „The form and religious background of Romans VII 24 – 25a“ in Nov Test 13, 1971, S. 127 – 135. (Auch den Hinweis auf diesen Artikel verdanke ich Herrn Prof. Dr. K. Haacker, Wuppertal).
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Erfahrung ist eher ein synthetischer Begriff, der nachträglich etwas zusammensetzt, der zudem bestimmte Deutungen schon gemachter Erfahrungen impliziert und insofern auch einen theoretischen Bezugsrahmen hat, der wiederum im Blick auf neues Handeln und Erfahren riskiert werden muss. Subjektiv wie objektiv geht Erfahrung also voraus, bevor sie als solche gedeutet und gemacht wird. Das heißt gerade nicht, Erfahrung sei bloß jeweils ihre Deutung, im Gegenteil – doch wie soll dann formuliert werden, was Erfahrung selbst ist? Erfahrung wird gemacht und widerfährt. Erfahrung der Sünde ist zwingend, zerstörend und deshalb eher zweideutig als eindeutig, wie von Paulus in Röm 7 zur Sprache gebracht; Erfahrung weist auf die Sünde hin, wie Luther beständig auf alltägliche, sprichwörtliche Erfahrungsinstanzen verweisen konnte,81 und ist doch als Ganzheit von Gnade oder Zorn Gottes noch einmal etwas Ganz Anderes. So lehrt das ganze Leben die unaufgebbare Bindung und Unfreiheit, und doch gehört zu ebendieser Erfahrung auch, wie Luther betont, dass das am Tage liegende Faktum nicht zugegeben wird.82 Hier ist eine Wendung nötig,83 die sich nicht einfach von selbst ergibt, die deshalb gedeutet, erzählt, riskiert und als Erfahrung erst wieder gemacht werden muss und aussteht. Soweit liegen eine allgemeine Anthropologie und die nicht ohne weiteres deduzierbare Glaubenserfahrung wiederum ineinander. C. F. v. Weizsäcker hat in seiner Anthropologie dafür eine treffende Formulierung gefunden: „die erlösende Erfahrung der Sünde beginnt, wo wir uns mit unserem Handeln identifizieren lernen, obwohl die sub81 WA 18, 618f. = MA Erg. Bd. 1, S. 26 („experientia probat […]“); WA 18, 758,37 = MA Erg. Bd. 1, S. 206 („Consentit cum hac conclusione res ipsa et experientia.“); WA 18, 760,26f. = MA Erg. Bd. 1, S. 209 („probat per experientiam […]“). Vgl. als Übersicht zum mehrdeutigen Einsatz der Erfahrung in Luthers Theologie bei H. M. Müller Erfahrung und Glaube bei Luther, Leipzig 1929. Eine erste Stellenübersicht findet sich 3ff. Vgl. die Hinweise zur neueren Lutherforschung in diesem Punkt bei Ebeling in Wort und Glaube III, S. 7 u. Anm. 5; 12 u. Anm. 18. Zum Einsatz von Sprichwörtern vgl. WA 18, 782f. = MA Erg. Bd. 1, S. 242 („Haec, inquam, vulgus novit et tum proverbiis, precibus, studiis totaque vita satis confitetur.“) Vgl. dazu wiederum bei H. M. Müller, aaO., S. 11. 82 Vgl. WA 18, 779,1ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 236 („Nihilominus contra hanc ipsam confessionem et experientiam propriam insanimus et inanibus verbis disputamus […]“) 83 Vgl. Joest Ontologie der Person, S. 107 u. ö. zum ,Umkehrungsmotiv’ bei Luther (bezüglich aktiv – passiv, Subjekt – Objekt).
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jektive Intention nicht böse war“.84 Paulus hat diesen Identifikationsvorgang in Röm 7 noch dualistisch anmutend zum Ausdruck gebracht:85 wie sich die Welten und Mächte innerhalb der s\Ân und dann in Röm 8 als s\Ân und pmeOla bekämpfen. Luther hat diese Konstruktion neu verstanden: Anthropologisch in der kompromisslosen Einheit des totus homo, worin er, wie E. Erikson meint, ,unbarmherzig psychologisch‘ wird und in seiner materialistischen These die ,biologisch-psychologische Sicht‘ des Menschen bei Freud vorausnimmt.86 Den scholastischen Einwänden, das liberum arbitrium könne nicht in dieser Ganzheit des Menschen untergehen, hat Luther nicht nachgegeben. Dadurch wird der Konflikt zwischen guten und bösen Werken, zwischen Geist und Fleisch aus der binnendifferenzierenden scholastischen Anthropologie ebenso herausgenommen wie aus den dualistischen Modellen, die Paulus verwendet. Geistlich und fleischlich zu sein, wie es Luther in der Latomusschrift an Röm 7 interpretiert, geschieht nicht als lebensimmanente Mischung, sondern: „alio et alio respectu“,87 d. h. in einer doppelten Totalität des Christen. Unterhalb dieser Linie hat Luther freilich auch Differenzierungen anbringen müssen, etwa die zwischen Gnade und Gabe in der Latomusschrift, in demselben Kapitel zu Röm 7! Doch diese Unterscheidungen dienen der kompromisslosen Doppelbestimmung im Großen. Aus dem Ineinander der geistlichen und fleischlichen Elemente, wie es die paulinischen Züge der Anthropologie in Röm 7 und die scholastische Gnadenlehre repräsentieren, macht Luthers neue Interpretation ein christologisch motiviertes Auseinander. Es psychologisiert nicht am teilbaren und zusammengesetzten Ich, sondern respektiert neuzeitlich das materiale Selbst als ganzes; und die Diagnose der objektiven Verzweiflung geschieht um der Befreiung willen, die „alio respectu“ nicht aus der humanen Autonomie heraus produziert werden muss. Die Frage, ob denn das paulinische Ineinander und das lutherische Auseinander nun zur Wahl stehen, bzw. wem denn die größere Autorität 84 C. F. v. Weizsäcker Der Garten des Menschlichen. Beitrge zur geschichtlichen Anthropologie, München 19772, S. 442. 85 Zum Begriff Dualismus vgl. nur bei Käsemann „Zur paulinischen Anthropologie“, S. 34 u. Anm. 23; dass Paulus modellhaft ,dualistische’ Motive einsetzt, die zugleich aber christologisch gebrochen werden, zeigt E. Brandenburger, S. 234f. 86 Vgl. E. H. Erikson Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt am Main 1975, S. 178f.. 87 Vgl. WA 8, 119,15 = MA Erg. Bd. 6, S. 124 (s. o. Anm. 18).
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nun zuzusprechen sei, zeigt insofern ein Missverstehen der ganzen Situation, weil weder Luther noch Paulus sich auf diese Weise aus der eigenen Erfahrung herausreflektiert haben, dass es zu solch einer Modellentscheidung hätte kommen können. Erfahrung besteht auf der Situation, der keine Theorie genügt; Glaubenserfahrung, die in der Umkehrung vorhandener Realitäten und Zwänge und gemachter Erfahrungen erst widerfährt, die ihren theoretischen Ort ,zwischen‘ Röm 7 und Röm 8 hat, liegt in dem unaufgebbaren Deutungsraum, in der unwiderrufbaren Lebenszeit, worin der totus homo riskiert wird. Nicht in abstrahierenden Augenblicken, sondern gebunden an die geschichtlichen Bedingungen, die auch dem totus homo den zeitlichen Bestand, Objektivität aufgeben – wie es die anthropologischen Wissenschaften so exakt wie möglich registrieren und auf einen Begriff bringen wollen. Zwischen der paulinischen und der lutherischen Deutung der Glaubenserfahrung ist also nicht von außen her zu wählen, sondern ihre jeweilige zeitliche Nichtkonformität ist zur Erkenntnis zu bringen und als solche weiterzutragen. Dann steht Glaubenserfahrung wiederum quer zu jeder anderen Erfahrung, zugleich aber in dieser verhakt. Gegen Ende seiner Schrift gegen Erasmus hat Luther ein Bild gebraucht, das dieses Verhältnis von Ineinander und Auseinander vielleicht deuten hilft. Dort heißt es: „Danach ist der Unglaube nicht ein grober Affekt, sondern jener in der Burg des Willens und der Vernunft als Oberster Sitzender und Regierender, sowie dessen Gegenteil, nämlich der Glaube.“88 Meint Luther in diesem Bild zwei Burgen oder eine? Liegen zwei Burgen, die des Glaubens und die des Unglaubens, miteinander im Kampf, oder handelt es sich um eine Rebellion gegen den jeweiligen Burgherrn in einer Burg? Paulus, so muss wohl das Fazit gezogen werden, hätte hier von einer Burg sprechen müssen, in der die Antipoden den Platz gewechselt haben. Luther sieht zwei Burgen, zwei Relationen des ganzen Menschen; und doch ist es faktisch – und hier endet das Bild – nur der eine Mensch. Darin geht die Konstruktion in Erfahrung über, die als theoretisch auseinandergelegte doch wieder als ganze erfahren wird; darin auch kommt es zu ihrer Umkehrung, die dann nicht aus unserem liberum arbitrium resultiert. 88 WA 18, 780,18ff. = MA Erg. Bd. 1, S. 238 – 239 („Deinde incredulitas non est crassus affectus, sed summus ille in voluntatis et rationis arce sedens et regnans, sicut eius contrarius, nempe, fides.“)
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Paulus kannte diesen totus homo der doppelten Relation nicht. Zur Alternative von streitenden Mächten kommt es bei Paulus im paränetischen Bezug, im Verhältnis von Indikativ und Imperativ, wie Joest es entwickelt hat.89 Die stabilen Machtsphären der paulinischen Anthropologie, die am Menschen ineinander liegen, gehen in Luthers freisetzender Interpretation über in das christologische Auseinander der alternativen Relationen. Diese am Menschen als Widerspruch zu denken, seine materiale Ganzheit aufs Spiel zu setzen und doch als verheißene Glaubenserfahrung nicht zu lassen, dürfte heute unsere Aufgabe einer theologischen Anthropologie sein.
89 Vgl. W. Joests „Darstellung“ in KuD 1, 1955, S. 293 (das lutherische Simul findet sich bei Paulus nicht), S. 292 (man könnte höchstens von einem „’praktischen’ simul“ bei Paulus sprechen), S. 288ff. (im Verhältnis von Indikativ und Imperativ vollzieht sich ein Zugleich bei Paulus).
Gottes Handeln – Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung Frage und Antwort Der Raw sprach einen seiner Schüler, der eben bei ihm eintrat, so an: „Mosche, was ist das, ,Gott‘?“ Der Schüler schwieg, Der Raw fragte zum zweiten- und zum drittenmal. „Warum schweigst du?“ „Weil ich es nicht weiß.“ „Weiß ich’s denn?“ sprach der Raw. „Aber ich muß sagen; denn so ist es, daß ich es sagen muß: Er ist deutlich da, und außer ihm ist nichts deutlich da, und das ist er.“1 M. Buber
Nach ,Gottes Handeln‘ überhaupt zu fragen bringt die theologische Reflexion in Verlegenheit. Denn was uns traditionell, liturgisch, predigtsprachlich wie selbstverständlich ist, genau das fällt äußerst schwer, wenn es argumentativ eingeholt werden soll. Das AT bezeugt, dass Gott spricht und in und an seinem Volk handelt, und das gesamte atl.-theologische Denken setzt dies offenbar problemlos voraus (und mit ihm die historisierende Exegese). Das NT bezeugt, dass Gott in Jesus Christus gehandelt hat: zu unserer Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung, und die Theologie hat den Sinn dieser Aussagen – nur gestört durch Philologie, Philosophie und Literatur seit Neuzeit, Aufklärung und Religionskritik –meist ebenso problemlos unterstellt (und tut das historisierend noch immer). Zum Problem geworden ist uns aber beides: erstens die Prämisse ,Gott‘ (ob oder dass oder wie es ihn ,gibt‘; das wäre die fundamentaltheologische Frage, die hier nicht behandelt werden soll, obwohl sie naturgemäß in alle anderen theologischen Argumentationsversuche mit 1
M. Buber Die Erzhlungen der Chassidim, Zürich 1984, S. 417.
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eindringen wird) und zweitens der Sinn des Ausdrucks ,Handeln‘ für das, was wir von Gott zu erfahren und zu erkennen behaupten. Letzteres ist für die christliche Theologie der Themenbereich der Soteriologie: was Gott in Jesus Christus für uns getan hat. – Und nun aufmerksam gemacht durch die störende Zwischenfrage nach ,Gottes Handeln‘ fällt auf, dass die Soteriologie offensichtlich steht und fällt mit dem Nachweis, es mache Sinn und sei vertretbar, überhaupt von Gottes Handeln zu sprechen! Andernfalls meinen wir bloß ein Orakel, und dessen Spruchweisheiten sind uns bekanntlich auch bloß historisch gewiss, und ich würde meine ewige Seligkeit darauf nicht gründen. Die soteriologischen Begriffe Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung sind weder im NT noch dogmen- und theologiegeschichtlich eindeutig voneinander abgegrenzt, sie überschneiden sich, sind teilweise auch austauschbar. Ich will im folgenden einen Vorschlag zur Unterscheidung machen und dazu in den Mittelpunkt den Begriff Versöhnung stellen, d. h. Soteriologie ist dann mit Versçhnungslehre gleichbedeutend, und dieser zugeordnet sind – entsprechend dem folgenden Modell – Rechtfertigung und Erlösung bestimmbar: Versöhnungslehre Rechtfertigung
Versöhnung
Erlösung
Christusbotschaft Glaube Anthropologie (Mensch)
Christusgegenwart Liebe Kosmologie (Welt)
Christuszukunft Hoffnung Eschatologie (neues Leben)
Nun verdankt sich dieser Vorschlag zur Begriffsklärung innerhalb der Soteriologie nicht nur Beobachtungen exegetischer und theologiegeschichtlich-dogmatischer Art; das auch, und er ist daran auch zu prüfen. Hinzu kommt aber strukturierend ein Theorieelement, das diese Dreigliedrigkeit mit veranlasst hat und ebenfalls zu ihrer Tragfähigkeit und Überprüfbarkeit beiträgt. Ich möchte es den semiotisch-realistischen Denkzusammenhang nennen, und dieser geht auf Ch. S. Peirce’ Kategorienlehre zurück. Entsprechend dem zugleich formalen und universalen Charakter der Semiotik 2 sind ihre dreistelligen Perspektiven an2
Vgl. die Einleitung von H. Pape zu dem Band Ch. S. Peirce. Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. v. Chr. Kloesel und H. Pape, Frankfurt am Main 1986, S. 11f.: „1. Peircesches Prinzip: Ob eine Entität ein Zeichen im Sinne der semiotischen
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wendbar, und dazu gehören: qualitative Ursprünglichkeit (Ikon), relationaler Existenzbezug (Index) und Interpretationszusammenhang (Symbol). Demgemäß ist im Folgenden die Soteriologie strukturiert, weshalb Rechtfertigung als existentielle Unmittelbarkeit, Versöhnung im Existenzbezug von Liebe und Welt, Erlösung als Interpretationsleistung der Eschatologie verstanden werden können. Deshalb dürfen auch die fundamentaltheologischen Perspektiven zum Gottesgedanken und zur Kosmologie nicht einfach der Soteriologie eingereiht werden, weil sie selbst jeweils eigene dreistellige Entfaltungen finden müssen, wie sie Peirce in seinem „A Neglected Argument for the Reality of God“ und in seiner evolutionären Metaphysik3 in einer Vielzahl von Ansätzen und Anregungen zu formulieren versucht hat. Als realistisch muss zudem diese Zeichen- und Kategorienlehre gelten, sofern jedes Zeichen als Zeichen von etwas zu verstehen ist und aus der unumgänglichen Zeichenvermittlung eben kein Nominalismus gefolgert werden darf. Der Objektbezug ist semiotisch zu unterstellen4 und ontologisch zu überprüfen.5 Peirce’ semiotischer Realismus stützt sich damit auf die Plausibilität des common sense ebenso wie auf die pragmatische Überprüfung von Begriffsbildungen im Handlungszusammenhang bzw. im Lebenszusammenhang der Wahrheitsfindung. D. h. die Frage nach der Sachhaltigkeit dieser Position ist immer auf unsere Erfahrungen verwiesen, ohne diese von einem vorgefassten System her zu reduzieren oder gegenüber Spontaneität und Neuem abzusperren. Diese Freiheit hat Peirce gerade vom Christentum erwartet, und wir wollen sehen, wie ,Gottes Handeln‘ – unter dem Stichwort Soteriologie thematisiert – als solch ein erfahrungsgeleiteter Begriff verstanden werden kann.
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Theorie ist, hängt niemals von den Eigenschaften ab, die auf diese Entität als Element einer bestimmten Klasse zutreffen […], sondern allein von den formalen Bestimmungen, die sie zu einem Zeichen […] machen. Das heißt, jede Entität kann formal z. B. als Ikon, Index oder Symbol bestimmt werden.“ – „2. Peircesches Prinzip: Alle intellektuelle und sinnliche Erfahrung – gleich welcher vorsprachlichen oder vorbewußten Stufe – kann so verallgemeinert werden, daß sie in einer universalen Darstellung interpretierbar wird.“ Vgl. Hermann Deuser Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilosophie, Berlin/New York 1993. Vgl. Pape, aaO., S. 14. Auch für Peirce gilt der Satz: „Reale Gegenstände zeichnen sich damit genau dadurch aus, daß es möglich ist, daß es sie gibt, uns aber nicht gibt“ – vgl. I. U. Dalferth Existenz Gottes und christlicher Glaube, München 1984, S. 74.
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I. Rechtfertigung It does not answer the purpose to say there is diversity because God made it so, for we cannot tell what God would do, nor penetrate his counsels. We see what He does do, and nothing more. For the same reason one cannot logically infer the existence of God; one can only know Him by direct perception.6 C. S. Peirce
Die für den Protestantismus herkömmliche Rechtfertigungslehre soll zunächst kurz und knapp an Luthers Positionsbestimmung in Erinnerung gebracht werden, und zwar nach den ersten siebzehn Punkten (das entspricht dem ersten Teil) der Schrift Von den guten Werken (1520). Am dogmatisch kontroversen Begriff der iustitia aliena ist dann die spezifische Schwierigkeit dieser Lehre bzw. dieser Art von Glaubenserfahrung zu erkennen, und dies wiederum gibt den ersten Anlass, die Frage nach Gottes Handeln anzupacken. 1. Der Rechtfertigungsglaube 1. Der Rechtfertigungsartikel, so hatte es Luther 1537 in den Schmalkaldischen Artikeln eingeschärft, kann nie und nimmer zur Disposition gestellt werden, denn „auf diesem Artikel stehet alles, was wir wider den Bapst, Teufel und Welt lehren und leben“.7 Wie es zu dieser unbedingten Vorrangstellung der Rechtfertigung allein aus Glauben hat kommen können, das ergibt sich konsequent aus Luthers neuer Verhältnisbestimmung von Glauben und Werken. 2. ,Gut‘ im strengsten Sinn können Menschen überhaupt nur dann genannt werden, wenn sie tun, was Gott geboten hat; außerhalb dieses Maßstabes gibt es zwar vielerlei Werke, aber eben keine guten. Die säkulare Fassung dieser Bestimmung des Guten im Abstand zu konkreten Werken gibt dann Kant zu Beginn der Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785): 6 7
Ch. S. Peirce wird zitiert nach der Ausgabe der Collected Papers, 8 Bde., Cambridge: Harward University Press, 1931 – 58 (mit Band- und Abschnittszahl); hier: CP 6.613, S. 431. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 19829, S. 416.
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Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut […].8
3. Dieser absolute und einzige Maßstab hat zur Folge, dass zwischen den verschiedenen Werken kein Rangunterschied mehr bestehen kann. Denn jedes Werk ist entweder gut oder schlecht, je nachdem ob es im Glauben geschieht oder nicht. Alles, schlechterdings alles hängt dann von diesem Glauben ab; er sagt alles, die Werke sagen (für sich genommen) nichts. Insofern kann Luther vom Glauben als dem einen und einzigen guten ,Werk‘ sprechen, obwohl und weil sich der Sinn des Wortes damit eigentlich aufhebt.9 4. Glaube ist dabei in eine erhabene und zugleich schwerwiegend mit allem belastete Vorrangstellung gerückt, denn sein unbedingtes Gottvertrauen ist ja durchzuhalten auch und gerade im Misslingen des Lebens (Verborgenheit Gottes) und in Sünde und Verzweiflung (Situation der Anfechtung). D. h. im menschlich gesehen unabänderlich existentiellen Sinn von Selbstgewinn und Selbstverlust, im Konflikt von Können und Scheitern, Verlorenheit und Geborgenheit, Leben und Tod – dort genau hat der Glaube seinen Platz: das ist szo vil / vnter dem leidenn / die vns gleich von ym scheyden wollen / wie eine wand / ia eine maurenn / steht er vorborgen / vnnd sicht doch auff mich / vnd lesset mich nit. Dan er steht / vnd ist bereit / zuhelffen in gnaden / vnnd durch die fenster des tunckeln glaubens / lesset er sich sehen.10
5. Rechtfertigung ist insofern im Gottvertrauen (für Luther zusammengefasst im 1. Gebot) verankert, und alles andere wird demgegenüber zweitrangig.11 Gerechtsprechung geschieht folglich allein aus Gnade, und wirkungsgeschichtlich taucht dieser Gedanke wiederum bei Kant auf (Religionsschrift, 1793),12 wo das Schuldigbleiben des Menschen nur durch die letztlich unverdienbare Vorgabe Gottes: im „Urteilsspruch aus Gnade“ prinzipiell aufgefangen sein kann (A 95). Das alles aber hängt an der „Voraussetzung der gänzlichen Herzensänderung“ (A 96), d. h. an der Person und am Gewissen, wo keine äußerlich machbaren Vermittlungen dazwischentreten können. 8 I. Kant Werke in zehn Bdn., hg. v. W. Weischedel, Bd. 6, Darmstadt 1986, S. 19 (A 3). 9 Vgl. M. Luther Studienausgabe, Bd. 2, hg. v. H.-U. Delius, Berlin 1982, S. 28f. 10 StA 2, 22. 11 Vgl. zu Rm 1, 17, StA 2, 24f. 12 Kant Werke, Bd. 7, S. 730ff.
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6. Dies versteht Luther unter der mächtig dominierenden Stellung des 1. Gebots: Am Gottvertrauen entscheidet sich alles andere. Rechtfertigung ist genau da in Kraft, wo in fester Zuversicht auf Gott,13 der Gerechtigkeit schenkt, alle Werke erfüllt sind. Das aber wiederum hängt an Christus, dem wirksamen Inbegriff von Gottes Barmherzigkeit: „alszo mustu Christum in dich bilden“.14 2. Das Problem der iustitia aliena 1. In seinem Lebensrückblick von 154515 hat Luther sein Hassen und Lieben der Stelle Rm 1,17 als Kulminationspunkt im Gewinnen des neuen evangelischen Verständnisses der Schrift erzählt. Dass Gottes iustitia nicht aktiv verurteilend den Menschen zu entsprechenden Aktivitäten (Verdiensten) zwingt, sondern dass Gottes iustitia als passiva verstanden werden muss, d. h. als Barmherzigkeit, die Gott propter Christum im Glauben schenkt, – das zeichnet den existentiell durchlittenen Neubeginn und damit den Vorgang der iustificatio aus. Was dabei vor sich geht, hat Luther dann polemisch gegen die scholastische Substanzmetaphysik (und deren Frage nach Sein, Natur, Qualität Gottes bzw. des Menschen) aufgefasst und ausgeführt: Gerechtigkeit kann in diesem Akt der Barmherzigkeit nicht dem Menschen (dem Sünder!) irgendwie zu eigen werden, sondern die Gerechtigkeit bleibt als geschenkte in der Gerechtsprechung des Menschen Gottes, dem Menschen also fremde Gerechtigkeit – iustitia aliena.16 2. Wer Gott ist und was Gott tut, zeigt sich also gerade in diesem Handeln seiner Barmherzigkeit, dem auf der Seite des betroffenen Menschen eben nur diese Betroffenheit entsprechen kann: ein Geschehenlassen und Schenkenlassen. Wie dieser Vorgang aber wiederum zu denken ist, darin unterscheidet sich Luthers Position gravierend von der katholischen Schuldogmatik: iustificatio – verstanden als Wirksamwerden der iustitia aliena – kann nicht qualitativ oder habituell heiligmachend und dem Menschen darin aneignend gedacht werden (gratia habitualis / sanctificans der kathol. Tradition), sondern iustificatio gilt Luther als forensischer (gerichtlicher, rechtlicher) Akt der Zuerkennung: imputatio – 13 StA 2, 19f. 14 StA 2, 30. 15 Vorrede zum 1. Bd. der lateinischen Schriften, vgl. Münchener Ausg., Bd. 1, 3 1963, bes. S. 26f. 16 Vgl. WA 40, I, 41 und den dt. Text der großen Galaterbrief-Vorlesung von 1531, hg. v. H. Kleinknecht, Studienausgabe, Göttingen 1980, S. 21.
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und genau dies verwirft das Tridentinum (1547) in sessio VI, can. 11. Es stehen sich also gegenüber die Auffassungen der Rechtfertigung als barmherzige Zuerkennung (iustitia aliena) und als objektiv gedachter Übereignungsvorgang (gratia habitualis). 3. Nun zeigt aber eine von den historischen Konfessionsspaltungen nicht normierte Interpretation, dass Thomas v. Aquin keineswegs eine verdienstliche Rechtfertigung lehrte und dass Luthers Glaubensgewissheit bei Thomas nicht notwendig ausgeschlossen sein muss. In STh I-II, q. 113 a. 1 wird iustificatio als Vergebung der Sünden abgeleitet, ohne sich auf eine irgendwie eingreifende Gnadenqualität überhaupt beziehen zu müssen.17 Die als gegensätzlich bekannten Lehrstücke haben – gemäß dieser Interpretation – jeweils einen anderen Stellenwert, und das theologische ,Anliegen‘18 ist nicht unvereinbar. Die thomanische gratiaqualitas meint keine menschliche Verfügung oder Mitverfügung über die Gnade Gottes, sondern das schöpfungsanalog gedachte Wirken und Ankommen der Gnade beim Menschen; so wie Luther durchaus vom ,Fühlen und Erfahren‘ der Gnade sprechen kann, z. B. so: Es ist gar eyn groß, starck, mechtig und thettig ding umb gottis gnade, sie ligt nit, wie die trawmprediger fabuliern, ynn der seelen und schlefft odder lessit sich tragen, wie eyn gemallt brett seyne farbe tregt. Neyn, nit alßo, sie tregt, sie furet, sie treybett, sie tzeucht, sie wandellt, die wirckt allis ym menschen und lessit sich wol fulen und erfaren.“19
Wenn also ausgeschlossen werden kann, dass ein gnadenhaft-synergistisches Motiv zwischen dem Sünder und Gott zu vermitteln in der Lage ist, wenn die gratia-qualitas die Wirksamkeit Gottes zur neuen Lebendigkeit bedeutet,20 dann liegt die Differenz nicht mehr in der Lehrsatz-Kontroverse, sondern in einer gänzlich anderen Denkweise: der ,sapientialen‘ Theologie bei Thomas und der ,existentiellen‘ Theologie bei Luther.21 4. Sapiential – damit soll der oft von protestantischer Seite gebrauchte Terminus einer ,objektivierten‘ Theologie des Thomas ersetzt werden, und Pesch zeigt zu Recht, dass es sich bei Thomas – und schon gar nicht in einem neuzeitlichen Sinn – nicht um eine neutral-philosophische Sicht 17 Vgl. dazu O. H. Pesch Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, Mainz 1967, S. 670ff. 18 Pesch Theologie der Rechtfertigung, S. 699. 19 WA 10, I, 1, 114f., vgl. Pesch Theologie der Rechtfertigung, S. 699f., Anm. 164. 20 Pesch Theologie der Rechtfertigung, S. 707. 21 Pesch Theologie der Rechtfertigung, S. 747ff., 935ff.; vgl. dazu auch A. Peters Rechtfertigung (HST 12), Gütersloh 1984, S. 208.
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der göttlichen Dinge handelt, sondern um eine christliche Weisheit, die allerdings vom Denken her und insofern kontemplativ22 derart gefesselt ist, dass ihr die existentielle Rede, wie sie Luthers Predigten, Streitschriften und wissenschaftliche Arbeiten auszeichnet, fremd bleiben musste. Das sola fide Luthers, die unbedingte existentielle Heilsgewissheit, wie sie sich dem angefochtenen Glauben verdankt, ist deshalb bei Thomas in der Form ausgeschlossen.23 Denn von Thomas’ Ansatz her bedeutete absolute Glaubensgewissheit ja ein unberechtigtes Durchschauenwollen von Gottes Gnade. Luther andererseits würde im Prinzip der Abwehr dieses Durchschauenwollens Gottes unbedingt zustimmen, aber eben an anderer Stelle! Im Christus-Bild24 geht es nur und allein um Gewissheit und Vertrauen; im Bezug auf Gottes Majestät – und wie diese überhaupt zu denken wäre – nicht. Damit stellt sich heute die Frage der Zuordnung von ,existentiell‘ und ,sapiental‘ aktueller als Frage nach der Verbindlichkeit philosophischen bzw. religionsphilosophischen Argumentierens in der Theologie – die zugleich als Theologie von lebendigen Theologen nicht anders sein kann, als existentiell aus dem Glauben oder auf den Glauben hin (und das meint das eigene Leben) zu denken und zu sprechen. 3. Gottes Handeln verstehen: „what He does do“ Im Zusammenhang seiner Überprüfung der Argumente für ein deterministisches oder evolutionäres Weltbild zeigt Peirce, dass keine wissenschaftliche Erklärung das einzelne, spontane, lebendige Ereignis aus einem allgemeinen Gesetz ableiten kann, dass es andererseits aber auch nicht legitim ist, sich mit der absoluten Unerklärbarkeit abzufinden, weil diese selbst eine ganz willkürliche Setzung bedeuten würde.25 Insofern kann Peirce folgern, die Wahrnehmung (perception) von Lebendigkeit sei eine zwar logisch gesehen dunkle, geheimnisvolle, doch aber eine „direkte Wahrnehmung Gottes“.26 Was dies bedeutet, wird dann wie folgt zusammengefasst. Es hilft nichts zu sagen, es gibt Mannigfaltigkeit, weil Gott es so gemacht hat, denn wir können nichts darüber sagen, was Gott tun würde, auch nicht in seine Vorhaben eindringen, Wir sehen, was Er faktisch tut [does do] und 22 23 24 25 26
Pesch Theologie der Rechtfertigung, S. 946. Pesch Theologie der Rechtfertigung, S. 748f. S.o. I. 1. 6. Peirce, CP 6.613, S. 430f. CP 6.613, S. 430.
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weiter nichts. Aus demselben Grund kann man logisch nicht auf die Existenz Gottes schließen; man kann Ihn nur durch direkte Wahrnehmung kennen.27
Dieser kurze Abschnitt enthält einige theologische Brisanz, ist durchaus interpretationsbedürftig, und auch wenn er von sich aus die Fragen der Rechtfertigungslehre gar nicht thematisiert, so hilft doch die hier vorgetragene Differenzierung von Denkmöglichkeiten zur Aufklärung des Problems, wie Gottes Handeln wahrgenommen und gedacht werden kann. Denn das war das zuletzt offene und kontroverse Konstruktionsproblem der Rechtfertigungslehre, wie denn das, was Gott dem Menschen zugute tut, aufzufassen sei. 1. „Wir kçnnen nichts darber sagen, was Gott tun wrde“ – d. h. wir haben als Menschen und als Christen keinen Standpunkt außerhalb der Welt, so dass wir ihr Grundprinzip so weit durchschauen könnten, um schlüssige Prognosen aufzustellen. Denn dies setzte voraus, dass die Vielfalt von Einzelereignissen begrifflich und gesetzmäßig lückenlos abgeleitet werden könnte. Das ist aber weder naturwissenschaftlich noch anthropologisch oder geschichtlich der Fall. Allein das Phänomen der offenen Zukunft genügt hier als gewichtiger Hinweis auf die Unmöglichkeit einer Determination aufgrund von erkannten Gesetzen. Gott dabei ins Spiel zu bringen kann also nicht den Sinn haben, nun eine letzte Erklärung zu etablieren, denn es gibt hier gar keine Hierarchie von Erklärungen, sondern prinzipiell eben keinen allgemeinen Satz, aus dem alle Einzelereignisse folgen würden; und das gilt dann für den Bereich Schöpfung / Naturwissenschaft ebenso wie für Rechtfertigung / Anthropologie. Sätze wie: „Es gibt Mannigfaltigkeit, weil Gott es so gemacht hat“, oder: „Den Menschen ist geholfen, weil Gott ihre Sünde – durch Christi Versöhnung – ihnen nicht anrechnet“ – solche Sätze hängen sozusagen in der Luft. Sie behaupten nämlich ein Handeln Gottes, über das wir gar nichts wissen können, d. h. auf dieser Ebene des Wissens lassen sich theologische Sätze (theologisch hier im strengen Sinn als Reden von Gott) nicht halten; allenfalls historisch (und hier liegt deshalb seit langem das Refugium der wissenschaftlichen Theologie) kann man formulieren: „In der Lehre von N. N. wird gesagt, dass Gott […]“ (und nun folgt solch ein allgemeiner Satz über sein Handeln). Zweifellos ist die appellative Wirkung von Sätzen im Bereich der Rechtfertigungslehre viel größer als im Bereich der Schöpfungslehre ( jedenfalls bis vor kurzem, vor der ökologischen Wende), aber das liegt 27 CP 6.613, S. 431 – ein Text aus dem Jahr 1893.
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wohl nur an unserer Gewöhnung, weil wir mit der Neuzeit verlernt haben, die Relevanz des christlichen Glaubens außerhalb des personalen Bedeutungskontextes überhaupt noch wahrzunehmen. Die prinzipielle Schwierigkeit der Bildung von allgemeinen Sätzen über Gottes Handeln aber ist in Schöpfung und Rechtfertigung dieselbe. 2. Bei Thomas nun wird deshalb ausdrücklich eine Erkenntnis dessen, dass Gott mir gnädig ist, abgelehnt – genau das, was Luther umgekehrt mit seiner These: „allein aus Glauben“ (und damit war ja unbedingte Gewissheit gemeint!), behauptet hat. In STh I-II q. 112 a. 5 stützt Thomas28 seine Position zunächst mit Pred. 9, 1, wo es heißt: „[…] Die Gesetzestreuen und Gebildeten mit ihrem Tun stehen unter Gottes Verfügung. Der Mensch erkennt nicht, ob er geliebt ist oder ob er verschmäht ist. So liegt auch bei ihnen beides offen vor ihnen“ (bei Thomas nur zitiert als: „Nemo scit utrum sit dignus odio vel amore“). Darauf unterscheidet er drei Weisen, etwas zu erkennen. Die erste ist die, aufgrund von spezieller Offenbarung mit Sicherheit die Gnade wissen zu können, wie Paulus 2. Kor 12, 9 sagen kann, ihm sei vom Herrn beschieden worden: „Es genügt dir meine Gnade!“ Die dritte – als „cognitio imperfecta“ bezeichnete Weise zu erkennen – ist die, etwas aufgrund von Hinweisen zu erschließen; so könnten z. B. die tatsächliche Freude an Gott oder auch die tatsächlich geübte Weltverachtung als Zeichen für eine Erkenntnis der Gnade gewertet werden, und Thomas nennt diesen Fall „coniecturaliter per aliqua signa“. Beide Formen (eins und drei) kommen im Ernst nicht in Frage, sie sind Sonderfälle, kein zwingender Erkenntnisgrund im allgemeinen, und damit bleibt als zentrales Argument nur die zweite Weise zu erkennen, nämlich als Mensch und durch sich selbst (per se ipsum). Hier aber kann Erkenntnis nur gewonnen werden durch offensichtliche Schlüsse (conclusionibus demonstrativis), die auf den allgemeinen Denkprinzipien beruhen (universalia principia). Im Falle der Gnade Gottes steht uns dies allgemeine Prinzip, weil Gott über die menschlichen Fähigkeiten hinausragt, aber gerade nicht zur Verfügung, also: „nullus potest scire se habere gratiam“! Dieser Schluss entspricht nun ganz dem Gedanken bei Peirce: „Wir können nichts darüber sagen, was Gott tun würde, auch nicht in seine Vorhaben eindringen“, und es ist offensichtlich, wie bei Thomas diese allgemeine Einsicht auch auf die ganz persönliche Gnadenerkenntnis angewandt wird – und genau dagegen hat Luther protestiert. 28 Vgl. den Hinweis und par. Stellen bei Pesch Theologie der Rechtfertigung, S. 748.
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3. „Wir sehen, was Er faktisch tut und weiter nichts.“ – Mit der allgemeinen Erkenntnisproblematisierung ist allerdings nicht alles schon erledigt. Peirce war ja ausgegangen vom Faktum der Einzelereignisse, die dem Denken und seinen notwendigerweise allgemeinen Prinzipien gerade nicht in der Weise unterliegen, dass sie nur das Eintreten des immer schon Gewussten darstellten. So gesehen gibt es einen Vorrang des einzelnen Ereignisses, und an dessen spontanes Auftreten und unmittelbares Erfahren („living spontaneity“) bindet Peirce die Überzeugungskraft der Hypothese ,Gott‘, so dass er sagen kann: „Eine Tageswanderung in die Natur sollte uns das klarmachen!“29 Lebendige, unableitbare Spontaneität ist natürlich keine deduktiv klare Erkenntnisexplikation, aber als deren ursprünglicher Anlass in unserer Wahrnehmung (die deshalb und von daher beurteilt selbst ,dunkel‘ und vage bleibt) ist diese direkte Erfahrung geradezu unabdingbar. Denn ohne sie hätten wir nur abstrakte Allgemeinheiten, Schemata, und die wären in all ihrer überlegenen Generalisierung tot. Erfahrung des Lebendigen ist an das Einzelne gebunden, und das haben wir so nahe an uns selbst, dass es schwerfällt, Distanz zu gewinnen; bzw. umgekehrt fällt es durchaus leicht, es einfach zu übersehen und damit dann zu leugnen. Dass wir uns aber lebendig erfahren und ebenso Lebendiges erfahren, ist eine Wahrheit des common sense, die zu problematisieren einen künstlichen philosophischen Ausstieg aus dem Lebenskontext voraussetzt. So nun ist Gott zu verstehen; auf ihn logisch zu schließen ist widersinnig, weil das nur bei allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ein möglicher Weg ist, der hier eben nicht eingeschlagen werden kann, bzw. es müsste Gott bereits vorausgesetzt werden, um ihn zu beweisen. Andererseits kann daraus aber nicht folgen, mit der Unmöglichkeit des theoretischen Beweises sei der Gottesgedanke hinfällig geworden. Er verdankt sich eben ,direkter Wahrnehmung‘, und die ist aufs erste für sich selbst überzeugend. Das macht wohl die Eigenständigkeit religiçser Erfahrung aus, dass sie diese spontane Überzeugungskraft hat. Es ist eben das Faktische, was überzeugt, an dem wir hängen – und das sind gerade nicht bloße ,Fakten‘ in einem Sinn des Wortes, der dann das Entscheidende noch anderswoher erwartet. 4. Das bedeutet nun für die Frage nach Gottes Handeln, dass dieser Ausdruck gebunden ist an solche direkte Erfahrung und Wahrnehmung: 29 „A day’s ramble in the country ought to bring that home to us.“ – Als Erläuterung für „living spontaneity“, vgl. CP 6.553, worauf in CP 6.613, S. 430 von den Herausgebern hingewiesen wird.
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„Was Er faktisch tut und weiter nichts!“ Hier liegt dann natürlich gar keine Erkenntnis in einem allgemeinen Sinn vor, allenfalls deren Ansatz und Ausgangspunkt. Und mir scheint, dass Luthers existentielle Theologie genau diesen Aspekt ins Zentrum gestellt und gegen die scholastische Erkenntnisunsicherheit in dieser Sache ausgespielt hat. Das Handeln Gottes ist uns als Vorgang, den wir sozusagen von innen her verstehen könnten, entzogen; darin sind sich Luther und Thomas einig. Luther zieht nun daraus aber die Konsequenz, dass Gottes Versöhnung in Christus als iustitia aliena uns demgemäß auch fremd zu bleiben hat (auf der Ebene des menschlichen Wissens und Erkennens und Mitdenkens – und für Luther zeitkritisch und biographisch vor allem auch: des Mitmachens und Verdienens gesprochen!), während umgekehrt gesehen die iustitia Dei passiva beim Menschen selbst aber so direkt ankommend gedacht und erfahren werden muss, dass keinerlei Zweifelslücken mehr bleiben.30 Luthers unbedingte Zuversicht – ohne Zweifelslücken – fällt dann ganz unter das Motto: „Wir sehen, was Er faktisch tut und weiter nichts.“ Der Kern dieser Nuss liegt im Existentiellen, wo jeder Mensch auch ganz bei sich selbst und unvertretbar durch andere Menschen bleibt; und nichts anderes zeigt Peirce’ ,unmittelbare Wahrnehmung‘ an. Handeln Gottes bleibt von daher ein abgeleiteter Ausdruck, eine anthropomorphe Metapher für das, was in solch unmittelbarer Wahrnehmung bzw. im existentiellen Betroffensein ,passiv‘ und ,fremd‘ erfahren wird. Wo das eintritt, muss Gott ,gehandelt‘ haben. Seine Wege aber bleiben auf der Ebene des Wissens unausrechenbar, insofern hat Thomas mit dem Erkenntnisproblem der Gnade das Richtige gesehen. Dass diese Gnade aber ankommt und dann keinem Zweifel unterliegen kann ( jedenfalls nicht im unmittelbaren Ankommen, wohl in der folgenden Reflexion, Versprachlichung etc.), das thematisiert Luthers existentielle Theologie des sola fide – und Thomas auf andere Weise schöpfungsanalog mit der Lehre von der gratia-qualitas (wie Pesch sie interpretiert): als das am Menschen, wo solche unmittelbare Wahrnehmung Gottes sozusagen ihren Ort haben muss. Dann ist aber (im Sinne von Peschs Interpretation) der Satz: „Wir sehen, was Er faktisch tut und weiter nichts“ – von Thomas wie Luther zu unterschreiben.
30 S.o. I. 2. 3.
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II. Versçhnung Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat […] Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen! 31 Paulus
Werden Rechtfertigung und Glaube zusammengefasst als Beschreibung und Beantwortung der Frage, wie Gott am Menschen handelt, so geben Versöhnung und Liebe Antwort auf die Frage, was alledem zugrunde liegt. Dass der Glaube Christus in sich ,hineinbilden‘ kann,32 das propter Christum der iustificatio, hat ja seinen vorausliegenden Grund in einem neu ermöglichten Gottes- und Weltverhältnis – und eben dies thematisiert Versçhnung. Das deutsche Wort Versöhnung ist allerdings doppelsinnig. Es meint Versöhnung als Ausgleich von Gegensätzen (biblisch etwa als Annehmen des Verlorenen, als Rückkehr zum Vater wie in Lk 15), aber es trägt auch in sich den Wortsinn von Versühnung, der Zorn, Strafe, Sündenschuld, Ausgleichsleistung etc. mit anklingen lässt (sühnen = ntl. Rk\sÁes¢ai = engl. to expiate; versöhnen = ntl. Áatakk\sseim = eng. to reconcile). Dogmengeschichtlich typisiert werden kann die Versühnungsvorstellung durch Anselms Satisfaktionslehre, die Versöhnungsvorstellung durch Hegels Religionsphilosophie der Versöhnung der Gegensätze durch Negation der Negation – als Philosophie des Geistes, der in Kreuz und Auferstehung Christi seine höchste religiöse Vorstellungsform hat. Zu fragen ist demnach, worin denn nun Gottes Handeln eigentlich besteht und in welchem Sinn dann von Versöhnung gesprochen werden kann. Die Frage orientiert sich zunächst kurz an K. Barths Eingliederung der Rechtfertigung in die Versöhnungslehre, dann an der Versöhnungsterminologie bei Paulus und in Kol 1, um schließlich auf deren neu zu entdeckenden kosmologischen Sinn für das Verstehen von Gottes Handeln aufmerksam zu machen.
31 2. Kor 5, 19a und 20b. 32 S.o. I. 1. 6.
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1. Rechtfertigung innerhalb der Versçhnung 33 1. Mit Barths Versöhnungslehre muss das „Gott mit uns“ als unbegründbares „Ereignis“ vorausgesetzt werden,34 aber es betrifft (in dialektischer Gegenbewegung) zugleich den verlorenen Menschen, dringt vor bis an seinen Platz,35 und eben dies Versöhnungsgeschehen ist zusammengefasst im „Namen Jesus Christus“.36 Mit 2. Kor. 5, 19 gesagt: Versöhnung bedeutet von Gott her „Umkehrung der Welt“.37 2. Rechtfertigung38 besteht in dem ,Übergang‘39 von Gericht zu Freispruch, von alt zu neu, von Vergangenheit zu Zukunft. Dieser Übergriff der Versöhnung (wie im Typus Hegels) enthält also zugleich Versühnungsnotwendigkeit (wie im Typus Anselms), die allein in Jesus Christus abgedeckt und erfüllt sein kann. Der Grund der Rechtfertigung, dass sie wahr ist,40 besteht allein ,von ihm‘ her und bezieht sich erst so auf den ,gerechtfertigten Menschen‘.41 Barth relativiert auf diese Weise die Rechtfertigungslehre, indem er eine Umgewichtung vornimmt: Gedacht wird nicht mehr im Ort des rechtfertigenden Geschehens (dem angefochtenen Glauben), sondern vom Bedingungsrahmen her, und dieser besteht in der christologischen Prämisse: „Der articulus stantis et cadentis ecclesiae ist nicht die Rechtfertigungslehre als solche, sondern ihr Grund und ihre Spitze: das Bekenntnis zu Jesus Christus“.42 3. Diese Gewichtsverlagerung ist richtig, soweit damit das propter Christum – und damit die Versöhnungslehre – als Begründung des christlichen Glaubens in den Mittelpunkt gerückt wird. Die reformatorische Auszeichnung der Rechtfertigungslehre und ihr ,Totalitätsanspruch‘43 erscheint dann als eine ,Übertreibung‘.44 Allerdings gehört zu Barths Gewichtsverlagerung eine sich unbefangen gebende, abgehobene Etablierung der Souveränität des Handelns Gottes. Der Rechtfertigungsvorgang ist ein Gottesgeschehen: „Gott bejaht in dieser Aktion allererst 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
K. Barth KD IV, 1, §§ 57, 61. KD IV, 1, 4. KD IV, 1, 12. KD IV, 1, 16. KD IV, 1, 79f. KD IV, 1, § 61. KD IV, 1, 576, 580. KD IV, 1, 577. KD IV, 1, 703. KD IV, 1, 588. KD IV, 1, 589. KD IV, 1, 584.
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sich selbst“! 45 Das alles, um auszuschließen, es könne hier die menschliche „Religiosität“ irgendwie mit ins Spiel kommen.46 Aus reiner Souveränität ist Gott gnädig und gerecht, selbstgerecht, majestätisch und autokratisch – als wäre Gott sich wirklich selbst genug. Andererseits aber geschieht das alles, damit das „Unrecht des Menschen“47 diesen Gott nicht betreffen kann, so dass dem Menschen wirklich eine ganz andere Alternative gegenübersteht. Deshalb ist der Mensch letztlich nicht verloren, was immer er auch tut. Dieser ungeheuere Trost verdankt sich eben Gottes gewaltiger Größe und des Menschen Hilflosigkeit; sieht der Mensch das anders, sieht er es falsch. 4. „Was ist in Jesus Christus geschehen?“48 fragt Barth, und er gibt zur Antwort: Weil der Mensch an seiner und gegen seine Sünde nichts machen kann (hier wäre wieder an Anselm zu erinnern), tritt Gott selbst an ,seine Stelle‘, ist insofern Mensch und Gott zugleich. Dies nun (wie immer) nennt Barth ,Ereignis‘,49 dies ist die eigentliche ,Situation‘, Stellvertretung darin das klassische Deutungsmotiv, und eben dies und dies allein gilt Barth als ,wahr und wirklich‘,50 ,faktisch Ereignis‘.51 Zwar wird zum Ende des Paragraphen dies ,Ereignis‘ noch mit eschatologischer Bedeutung angereichert, als Verheißung des neuen Menschen52 und in der Zustandsform der Hoffnung53 angesprochen, doch wie kann dies dasselbe wie ein Faktum und Perfektum sein? Und warum muss dann alles wieder in Gottes ,Selbstbeweis‘54 gipfeln? Nur um der ,Scheusäligkeit‘55 des Menschen vorzubeugen? Barths Rede vom christologischen Faktum der Versçhnung bleibt auf ungeklärte Weise (aber mit Fleiß) doppeldeutig: es wird ein orthodox wirkendes Faktum von Gottes Handeln vorgegeben, das so in keiner Weise mehr nachvollziehbar ist (es sei denn historisch, und gerade das will Barth mit dogmatischem Offenbarungspathos ja umgehen), weil wir Wirklichkeit – auch da, wo sie nicht empiristisch verengt wird – nur in 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55
KD IV, 1, 593. KD IV, 1, 594. KD IV, 1, 595. KD IV, 1, 614. KD IV, 1, 615. KD IV, 1, 615. KD IV, 1, 616. KD IV, 1, 667. KD IV, 1, 670f. KD IV, 1, 682ff. KD IV, 1, 680.
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unserer Situation von Verzweiflung und Hoffnung, Niederlage und Verheißung, Leben und Tod erfahren können. Gerade diesen Konflikt an der wirklichen Erfahrung herauszustellen versäumt Barth, wenn er die dogmatische Prämisse eines höheren Faktums zur Bedingung aller Theologie macht. Was wir faktisch als Versöhnung erfahren ist ihre Nähe (in der Liebe) und ihr bedrängendes Ausstehen (in der Hoffnung). An diesen Ort des Widerspruchs gehört die Mitte des Christentums: Versöhnung. 2. Zur Exegese von 2. Kor 5, 17 – 21 und Kol 1, 15 – 20 1. Aus den ntl. Stellen, an denen das Stichwort – Áatakkac¶ bzw. (!po)Áatakk\sseim fällt, sind als gewichtigste 2. Kor 556 und Kol 1 (als Vorlage für Eph 2) ausgewählt. 2. Traditionsgeschichtlich sind hymnische Vorprägungen zu erkennen (besonders deutlich in den zwei Strophen in Kol 1), die Versöhnung mit kosmischer Bedeutung verknüpfen und begründen. 3. Im Kontext ist die Versöhnung jeweils als Auslegung und Explikation der Liebe Gottes (in Christus zu verstehen.57 Versöhnung bedeutet dann: Nhe der Liebe in Konsequenz; soteriologisch und im Duktus der Argumentation des Paulus gesagt: „Pro-Existenz des Apostels aufgrund der Pro-Existenz Christi“ – und das anstelle von Egozentrismus.58 D. h. Vershnung, Opfer, stellvertretender Tod sind bei Pls. zwar erinnert, aber keineswegs das eigentliche Ziel seiner Botschaft, seiner Selbstbegründung oder Christuserfahrung. Sondern von solchen Motiven (Opfer etc.) herkommend wird die Nähe der Liebe proklamiert: solidarisch mit dem Leben und Sterben für das Leben; und dies kann nur gelingen als Leben-für, Pro-Existenz. 4. Während in Kol 1 All-Versöhnung und kosmische Christologie zwar pln. interpretiert werden,59 trotzdem aber Begründungshorizont bleiben, erscheinen in 2. Kor 5 die kosmologischen Ausdrücke Áºslor, Át¸sir, t± p,mta anthropologisch angewandt.
56 Vor Rm 5 u. Rm 11. 57 2. Kor 2, 14; Kol 1, 13. 58 Vgl. dazu H.-J. Findeis Versçhnung – Apostolat – Kirche. Eine exegetisch-theologische und rezeptionsgeschichtliche Studie zu den Versçhnungsaussagen des Neuen Testaments (2. Kor, Rçm, Kol, Eph), Würzburg 1983, S. 130, 134. 59 V. 18a; v. 20b.
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5. Neu-Schçpfung60 behält aber in den Texten durchaus kosmischchristologischen Klang,61 und es muss als neuzeitliche, naturwissenschaftlich furchtsame Zurückhaltung und Reduktion erscheinen, ,kosmologisch‘ immer nur als Gegensatz zu ,anthropologisch‘ zu behandeln, was die Texte offenbar nicht tun.62 Was ,kosmisch‘ zu heißen verdient ist im NT eben durch die pln. Kreuzestheologie (d. h. die entsprechenden pln. Eintragungen des Kreuzesmotivs in die kosmische All-Versöhnung) mitbestimmt, und die Nähe der Liebe Gottes liegt im Seufzen der Schöpfung ebenso wie im Seufzen des menschlichen Geistes,63 und das muss zur Grundlage einer christlichen Kosmologie gemacht werden. Was damit gemeint sein kann, lehrt uns das Kirchenlied ,O Heiland, reiß die Himmel auf‘,64 darin mit Anklang an Jes. 45, 8 und Jes. 11, 1 besonders die 3. Strophe: O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd, daß Berg und Tal grün alles werd. O Erd, herfür dies Blümlein bring, O Heiland, aus der Erden spring.
Eine Neuaufnahme dieses Liedes durch Chr. Heuser und P. Janssens nutzt diese Strophe als Refrain für den Text: Als ich die arme Erde sah, zerteilt und verkauft die Wege Asphalt, die Flüsse Schaum die Wälder Gerippe auf fahlem Holz da schrie ich: Erd schlag aus […]
6. Es bleibt die Frage, wie weit Vershnung (Strafe, Zorn Gottes etc.) doch wesentlich bleiben muss für die Botschaft der Versçhnung. Findeis betont, dass in 2. Kor 5 Versöhnung weder „als Umstimmung des zürnenden Gottes“ noch als „Umstimmung des feindlich gegen Gott gesinnten Menschen“ gedacht werden kann,65 dass es also weder im Bezug auf Gott selbst noch im Bezug des Menschen auf Gott um eine Versöhnungs60 2. Kor 5, 17. 61 Vgl. vor allem auch Rm 8, 18 – 23. 62 Vgl. die typisch protestantischen Einwände E. Käsemanns gegen kosmischen ,Enthusiasmus’ in dem Aufsatz „Erwägungen zum Stichwort ,Versöhnungslehre im Neuen Testament’“ in Zeit und Geschichte. Dankesgabe an R. Bultmann zum 80. Geburtstag, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1964, S. 4749; und dazu die Gegenkritik von Findeis Versçhnung – Apostolat – Kirche, S. 18f. 63 Rm 8, 22f. 64 EKG, 5 von Friedrich v. Spee, 1623. 65 Findeis Versçhnung – Apostolat – Kirche, S. 176.
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leistung gehen kann, sondern allein um Gottes übergreifende Versöhnung der „Menschheit mit sich“.66 Was damit geschieht nennt Findeis die „Umwandlung des Verhältnisses“ des Menschen zu Gott, die Konstituierung „neuer Gemeinschaft“,67 und dieser Vorgang sei in „doppelter Theozentrik“ ausgedrückt:68 dass Gott versöhnend handelt und damit das Gottesverhältnis verändert. Zwar kommt es in Kol 1 demgegenüber zu einer Verschiebung, insofern in Kol. 1, 20 Christus zur Versöhnungsinstanz erhoben und in 1, 18 die Kirche als Ort dieses Geschehens genannt wird (vermutlich in theologischer Redaktion des ,Hymnus‘), doch an der Frage nach dem eigentlichen Handeln Gottes ändert sich dadurch nichts. Versöhnung ist zu verstehen als „Beseitigung der Feindschaft“,69 als Aufhebung der ,Entfremdung‘,70 und deutlich wird in dieser Interpretation der Hegelsche Typus der übergreifenden Versöhnung der Anselmschen Versöhnungsvorstellung vorgezogen. Worauf aber gründet denn diese Interpretation, worin besteht denn der theozentrische Akt, der die christologische und ekklesiologische Weiterbildung erst ermöglicht? Kann 2. Kor 5, 21 ("laÂt¸am 1po¸gsem) einfach als ,Solidarität‘ verstanden werden?71 H. Windisch hat die düstere Frage nach dem Handeln Gottes hier wirklich unumwunden ausgesprochen: 2. Kor 5, 21 „gehört zu dem Schauerlichsten und Mißverständlichsten, was P. über den irdischen Jesus zu sagen gewagt hat“ – „Der Finalsatz […] gibt die Erklärung für den grausigen Handel, den Gott mit Christus getrieben hat.“72
EXKURS: Ist Gott grausam? Gen 22 bei S. Kierkegaard und Th. Mann Als „Gottesvergiftung“ hat T. Moser (1977) seine christliche Erziehung analysiert und damit den grausamen Kern des christlichen Gottesbildes zu treffen gemeint: das zwanghafte Opfer des Liebsten, das SchlachtenMüssen des Sohnes. Nun ist weder Gen 22 noch die Passionsgeschichte im NT ein ausgedachtes Räsonnement (und ebenso wenig Mosers Gottesklage), sondern der Wert solcher Gottesgeschichten liegt im 66 67 68 69 70 71 72
Findeis Versçhnung – Apostolat – Kirche, S. 175. Findeis Versçhnung – Apostolat – Kirche, S. 176. Findeis Versçhnung – Apostolat – Kirche, S. 177. Findeis Versçhnung – Apostolat – Kirche, S. 427. Kol 1, 21. Findeis Versçhnung – Apostolat – Kirche, S. 215. H. Windisch Der zweite Korintherbrief (1924), hg. v. G. Strecker, Göttingen 1970, S. 197f.
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Ausdruckgeben von Lebenserfahrung.73 Dann aber gehen eben diese Erfahrungen in die Gottesaussagen hinein, und das bedeutet zumindest neuzeitlich und nach-neuzeitlich (wenn nicht schon immer), dass die Reflexion auf die überlieferten Geschichten zusammen mit den erlebten Geschichten mit konstitutiv sein müssen für das, was wir dann zum Ausdruck bringen, wenn wir davon erzählen, „was Gott getan hat“. Wiederum ist so die übertragene Redeweise verständlich und unvermeidlich gemacht,74 damit zugleich aber keineswegs die einfache Wiederholung oder Repristinierung alter Texte, sondern gerade deren Neuerzählen, Neuverstehen, worin sich das „theologische Potential“75 wirkungsgeschichtlich erst erschließen lässt. Dies nun haben S. Kierkegaard und Th. Mann mit ihren Varianten im Nacherzählen von Gen 22 gründlich getan und damit genauestens auf ihre Zeit und Erfahrungen reagiert. Kierkegaard – und gemeint sind hier nur die ersten Seiten der Schrift Furcht und Zittern von Johannes de silentio, die unter der Überschrift „Stimmung“ vierfach Abraham und Isaak rückhaltlos vergegenwärtigen –, Kierkegaard will gerade die Situation von Gen 22 in die allerpersönlichste Nähe heranholen, aus der distanzierenden Historisierung befreien, um nachempfinden zu lassen, was wohl in Abraham und Isaak wechselseitig und emotional vorgegangen sein muss, als der Vater dem Befehl Gottes hatte nachkommen wollen. Dabei besteht für Kierkegaard das Wunder dieser Geschichte, wie er nachher in der „Lobrede auf Abraham“ sagt, gar nicht in Abrahams Gehorsam (denn wo wäre es so außerordentlich, dass einer stur oder genial oder zielsicher seiner Bestimmung nachgeht?), sondern im Festhalten des Zeitlichen, d. h. hier im Wiedergewinnen des Sohnes – trotz dieses Befehls. Zweifel – als intellektuelles Reflexionswissen – sind selbstredend das gerade Gegenteil von allem, was dann von Abraham zu erzählen ist; jedenfalls solch theoretischer Zweifel; während es um Lebenserfahrung geht, worin solch grauenhafter Zweifel an sich, an anderen, an Gott zur aufdringlichen Nähe und Ausgeliefertheit des Lebens allerdings hinzugehört. Dies steuert Kierkegaard zum Verständnis von Gen 22 bei, dass hier nachempfunden werden muss, mitgelitten werden
73 Vgl. O. H. Steck „Ist Gott grausam? – Über Isaaks Opferung aus der Sicht des Alten Testaments“ in Ist Gott grausam?, hg. v. W. Böhme, Stuttgart 1977, S. 75 – 95. 74 S.o. I. 3. 4. 75 Findeis Versçhnung – Apostolat – Kirche, S. 19.
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muss, um dieser Gotteserfahrung: die Verheißung wiederzugewinnen – standzuhalten. Noch souveräner und nach-neuzeitlich deutlicher fällt die Wiederund Neuerzählung von Gen 22 bei Th. Mann aus. Denn Joseph – das ist ein Gesamtschicksal der Menschheit, das sich zugleich der alten Religion der Väter entringt, doch aber ohne Religiositt nicht auskommen kann und will. Insofern ist das kurze Erzählstück „Die Prüfung“ (im ersten Hauptstück des ersten Buches: Die Geschichten Jaakobs) mehrschichtig angelegt, wie es der Gesamtplan des Romans verlangt, wie es zugleich aber auch die theologische Anlage erfordert: Da ist die (biographische) Geschichte Josephs, des Gotteskindes, das aus erwähltem Hochmut vor den Fall und die Realisierung der eigenen Menschlichkeit geführt werden wird und hier zu Anfang dies alles in bedeutenden, aber bruchstückhaften Ansätzen und sprühenden Kostproben nur zu erkennen geben darf; da ist hier vor allem Die Geschichten Jaakobs, in dem sich die Wege der alten und der erneuerten Religion kreuzen, der sich ein wenig darin stilisiert zur religiösen Ekstase, doch aber weiß, dass er ihr nicht mehr vollständig und ganz unmittelbar gehört; und da ist drittens die alte Geschichte selbst, eben die ,Prüfung‘ Abrahams, das Urzeitliche des Jahwe-Glaubens, wie er auf diesen Vater des Glaubens zurückgeführt werden muss, von ihm her nun aber, im Weitererzählen an Joseph, doch auch ganz neu verstanden werden muss. Diese Übergänge integriert Th. Mann in ein Erzählmosaik. Religion muss Menschlichkeit nicht verleugnen und die moderne Reflexion und historische Kritik nicht scheuen oder verdrängen wollen. Wissen braucht Glauben und umgekehrt:76 1. Jakob in seiner religiösen Ekstase und Imagination erzählt seine Abraham-Geschichte – und er versagt in ihr! Wissendes, humanes Pathos geht gegen Gott und erscheint vor sich selbst als Scheitern: Siehe, da versagte ich vor dem Herrn, und es fiel mir der Arm von der Schulter, und das Messer fiel, und ich stürzte zu Boden hin auf mein Angesicht und biß in die Erde und in das Gras der Erde und schlug sie mit Füßen und Fäusten und schrie: „Schlachte ihn, schlachte ihn Du, o Herr und Würger, denn er ist mein ein und alles, und ich bin nicht Abraham […]“.77
2. Joseph, der hierin überlegen kluge Deuter, hilft nun Jakob auf die Sprünge, die er längst gemacht hat, aber verleugnen möchte: dass er als Späterer den Ausgang kennt und insofern nicht mehr unmittelbar im 76 Vgl. Th. Mann Joseph und seine Brder I: Die Geschichten Jaakobs, Frankfurter Ausgabe 1983, S. 104. 77 Die Geschichten Jaakobs, S. 104.
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Ereignis steckt, sondern sich erst selbst hineinversetzt hat. Dies ist die psychologisch-hermeneutische (und auch historische und dogmatische) Wahrheit, die Kierkegaards Ansatz in Furcht und Zittern mit der literarischen Variationsreihe über Gen 22 bereits unter Beweis gestellt hat. Nur dass Kierkegaard eben dieses Wissen zurückdrehen und auf die Erfahrung selbst zurückstoßen will. Josephs Rat nämlich ist in dieser Gefahr des Wissenden, der nichts mehr original erfährt: „Das ist aber der Vorteil der späten Tage, dass wir die Kreisläufe schon kennen, in denen die Welt abrollt […].“78 Dies Wissen – so wird Joseph durch seine Lebensgeschichte belehrt werden –, dies Wissen allein genügt nicht, denn es verführt zur arroganten Schwebe des „bunten Rocks“, die in der Grube landen wird. Aber, immerhin, Joseph weiß zu interpretieren: „dem blöden Kinde scheint“, so deutet Joseph dem Jaakob dessen AbrahamGeschichte, „daß, wenn du dich selber prüftest, du weder Abraham noch Jaakob warst, sondern – es ist ängstlich zu sagen – du warst der Herr, der Jaakob prüfte mit der Prüfung Abrahams […]“.79
3. Und schließlich liegt allem zugrunde die Abraham-Geschichte selbst, und die Frage nach Gottes Grausamkeit kann und muss heute wohl so in Erinnerung gebracht werden, dass sie aufgehoben ist in der Geschichte ihrer berechtigten Vernachlässigung. Im Wiedererzählen der Geschichte wird die Liebe ins Recht gesetzt und das Opfer zurück: welche Prüfung er dem Jaakob aufzuerlegen gesonnen war, nämlich die, welche den Abraham zu Ende bestehen zu lassen er nicht gesonnen gewesen ist. Denn er sprach zu ihm: „Ich bin Melech, der Baale Stierkönig. Bringe mir deine Erstgeburt!“ Als aber Abraham sich anschickte, sie zu bringen, da sprach der Herr: „Unterstehe dich! Bin ich Melech, der Baale Stierkönig? Nein, sondern ich bin Abrahams Gott, des Angesicht ist nicht zu sehen […] und was ich befahl, habe ich nicht befohlen, auf daß du es tuest, sondern auf daß du erfahrest, daß du es nicht tun sollst, weil es schlechthin ein Greuel ist vor meinem Angesicht, und hier hast du übrigens einen Widder.“80
Die letzte Replik zieht historische Details, religionsgeschichtliche Rückfragen und rituelle Kasuistik gleichermaßen in den Humor theologischer Aufklärung, die Handeln Gottes versteht und reflektiert und doch und deshalb weiter von seinem Handeln erzählen möchte.
78 Die Geschichten Jaakobs, S. 104. 79 Die Geschichten Jaakobs, S. 105. 80 Ebd.
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3. Gottes Handeln verstehen: praktische Bedingung und Kosmologie 1. Die intensive Rückfrage nach dem mit 2. Kor 5, 21 gemeinten Vorgang (Gottes Handeln in der offenbar unumgänglichen Grausamkeit, den Sohn zu opfern), besteht auf einer Klärung dessen, was Findeis den „Realgrund“ der Versöhnung nennt.81 Von der gegenwärtigen exegetischen Arbeit her ist dazu zu resümieren, dass in der Regel historisch-kritisch zwischen den je nach Herkunft variierenden und variablen bildhaften Ausdrucksformen der Versöhnungsintention (Stellvertretung, Hingabe, Loskauf, Sühne etc.) und dem eigentlichen Ereignis, der unterstellten ,Sache‘ der Versöhnung unterschieden wird. Diese ,Sache‘ aber ist das gesuchte Handeln Gottes, und wenn wir mit Recht die divergierenden und zeitbedingten Versöhnungsbilder entmythologisieren – also die Texte auf Distanz halten, z. B. um die Grausamkeit ihrer Bildtraditionen von der Versöhnungsintention abheben zu können82 –, dann wird als Gotteshandeln erkennbar die Ineinssetzung von Gott und Mensch in Jesus, d. h. seine Solidarität, Liebe und Pro-Existenz,83 seine personale, liebende Selbsthingabe.84 Gottes Versçhnung – das ist dann kein mythologisches Drama mehr, kein Gewaltakt, in dem ein Gott ein Opfer sucht, kein Rechtshandel, worin Verdienste abgerechnet werden, keine Stellvertretung, wo der Henker den einen für den anderen nimmt und gefragt werden muss, warum (vor Gott!) solche Qual überhaupt zur Wahl stehen soll. Gottes Versöhnung, sein Handeln, bezeichnet ein Geschehen, das auf den Menschen zukommt, das Handeln der Liebe, wie in Jesus zu sehen und zu erzählen und zu erinnern und zu erwarten, das als Letztes und Unbedingtes die Solidarität im Äußersten nicht scheut. Dadurch haben sich Perspektiven eröffnet, die die Menschen sonst nicht wahrhaben könnten, und deshalb darf (wieder im übertragenen Sinn von der erfahrenen Liebe her) gesagt werden: Handeln Gottes, Versöhnung, eröffnet Leben – durch die Gegensätze (den Tod) hindurch. Die Nähe der Liebe in Konsequenz, das ist Versöhnung. Und wo sie auftritt, geglaubt wird (Rechtfertigung), gelebt wird (Versçhnung), erhofft wird (Erlçsung), da drückt sich die religiöse Sprache so aus, dass sie unsere sonst unvermeidlichen Subjekt-Objekt / 81 Die Geschichten Jaakobs, S. 214. 82 Vgl. G. Bornkamm „Ist Gott grausam? – Über den Sühnetod Christi“ in Ist Gott grausam?, S. 55 – 74. 83 Findeis Versçhnung – Apostolat – Kirche, S. 231, 246. 84 Bornkamm „Ist Gott grausam?“, S. 69.
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aktiv-passiv-Relationen auflöst, um vom Handeln Gottes in Jesus Christus zu sprechen, in das wir hineingenommen sind. 2. ,Gottes Handeln‘ meint also keine Spekulation über Gott,85 sondern die personalisierte Ausdruckgabe von dem, was wir erfahren. Das sind nicht die platten Fakten, die wir für wirklich oft bloß halten, sondern die Differenzerfahrungen vor allem, die uns die Wirklichkeit aufzwingt und in denen die religiöse Leidenschaft der menschlichen Existenz wirksam ist. Von daher kann den traditionellen Zwängen der objektivierten Gottesvorstellung der Abschied gegeben werden, noch einmal mit 2. Kor 5 gesagt: Das Áatakkac¶te in v. 20b sollte nicht mehr einfach als Bitte zum Epiphänomen von Versöhnungsprämissen gemacht werden,86 sondern die menschlich gesuchte und erfahrene Situation unserer Wirklichkeit macht eine praktische Bedingung für das Verständnis von Versöhnung: „Laßt euch mit Gott versöhnen“ – lasst gelten, wirken, versöhnen, was an allem Existieren mitzuerfahren ist, dass Gottes Wirklichkeit (das Höchste, Gerechte, Wahre, Letzte, Unbedingte, Schaffende, Tröstende, Richtende etc.) zu sehen und repräsentiert ist im Leiden und Glück der Menschen, im Leiden des Menschen, dem eQÁ¾m der Fülle Gottes,87 und daher im Tod des Todes, in der utopischen Differenz des wahren Lebens. In Christus ist diese grundlegende Veränderung, die Versöhnungsperspektive, präsentiert. Das meinen Paulus und die Deutr. pln. mit der Aufnahme des hymnisch-kosmischen Gedankengutes. Aber Paulus hat dazu in 2. Kor 5, 20b eben auch diese realistische praktische Bedingung, die sein Apostolat ebenso auszeichnet wie die Situation der Gemeinde, nicht aus den Augen verloren: Präsentisch ist Versöhnung als Impuls der Liebe, Solidarität und Pro-Existenz in der erfahrenen Situation – Versöhnung Versöhnung sein zu lassen. 3. Die Aufnahme und Anwendung von Entmythologisierung gilt nicht für die bei R. Bultmann immer mitgemeinte und ausschließend verstandene Alternative von Kosmologie und Anthropologie,88 im Gegenteil: Áatakkac¶ meint die Vernderung der Welt.89 Dies heute auch 85 86 87 88
S.o. I. 3. Vgl. dazu bei Findeis, S. 209ff. Kol 1, 15. Vgl. R. Bultmann Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkndigung (1941), 2. Aufl., hg. v. E. Jüngel, München 1985. 89 Vgl. C. H. Ratschow Jesus Christus (HST 5), Gütersloh 1982, S. 263, 272f.
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wieder kosmologisch zu verstehen,90 nimmt die praktische Bedingung von 2. Kor 5,20b aus jedem Missverständnis von Werkgerechtigkeit heraus und hinein in den evolutiv-kosmologischen Denkzusammenhang, wie er in 2. Kor 5 anklingt, in Kol 1 ausgeführt vorliegt und in den theologischen Kosmologien von Ch. S. Peirce, A. N. Whitehead und Teilhard de Chardin erneuert wurde. Dass Versöhnung und Kosmologie zusammengehören, erscheint wieder denkbar und erfahrbar, wenn das Christentum seine „stationären Credos“ aufgibt,91 die Wissenschaften zugestehen, „daß in der Natur der Dinge eine Weisheit liegt, aus der unsere praktische Ausrichtung und unsere Möglichkeiten der theoretischen Analyse von Tatsachen hervorgehen“,92 und das Weltverhältnis der Menschen demgemäß Denken, Empfinden und Handeln in Sympathie zu integrieren lernt – im evolutiven Versöhnungsimperativ: „Opfere deine eigene Vollkommenheit zur Vervollkommnung deines Nächsten.“93 Teilhards Christus-Resultante zwischen traditionellem Supranaturalismus und modernem Szientismus,94 Peirce’ evolutionäres Prinzip des Agapismus und Whiteheads kosmologische Suche nach dem „galiläischen Ursprung des Christentums“ und damit nach „den zarten Elementen der Welt, die langsam und in aller Stille durch Liebe wirken“,95 zeigen zumindest Versuche, Gott und Welt im Prozess kosmischer (d. h. evolutionärer) Versöhnung zusammenzuhalten, und darin ist unser menschliches Verhalten und Handeln mitbetroffen. Zum Handeln Gottes in Liebe gehört die praktische Bedingung, die Versöhnung wirksam werden zu lassen.
90 S.o. II. 2.5. 91 P. Teilhard de Chardin „Der Kern des Problems“ (1949) in ders. Die Zukunft des Menschen, Olten / Freiburg im Breisgau 1963, S. 343 – 353; hier S. 343. 92 A. N. Whitehead Wie entsteht Religion?, Frankfurt am Main 1985, S. 107. 93 Peirce CP 6.288. 94 Vgl. Teilhard „Der Kern des Problems“, S. 355. 95 A. N. Whitehead Prozeß und Realitt, Frankfurt am Main 21984, S. 614f.
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III. Erlçsung Hingegen, wo alles im Werden ist, wo nur so viel von der Ewigkeit zur Stelle ist, daß sie in der leidenschaftlichen Entscheidung gegenhalten kann, dort, wo die Ewigkeit sich als das Kommende zum Werdenden verhält, dort ist die absolute Disjunktion zu Hause. Wenn ich nämlich Ewigkeit und Werden zusammensetze, bekomme ich nicht Ruhe, sondern das Kommende.96 S. Kierkegaard
,Erlösung‘ weist ntl. zurück auf Loskauf / Lösegeld-Vorstellungen,97 zeigt aber zugleich in eschatologischer Anwendung98 ein Freiwerden von diesem Hintergrund zugunsten einer Erwartung, die in Differenz zur Gegenwart des Leidens eine Zukunft als Befreiung kennt.99 Handeln Gottes als Erlösung meint folglich die „Tatsache der Befreiung“,100 und zur begrifflichen Unterscheidung von Rechtfertigung und Versöhnung soll hier der Akzent darauf gelegt werden, dass Erlösung die Relation eschatologisch angesagter und ausstehender Befreiung thematisiert.101 Dazu zuerst ein kurzer Hinweis auf den ganz anders orientierten Sprachgebrauch bei Schleiermacher, dann in Kontrast dazu der philosophische Versuch der Kritischen Theorie, Erlösung in der Geste des Verlorenen doch zu bewahren, um aus beidem dann Folgerungen für die Vorstellung von Gottes eschatologischem / erlösendem Handeln zu ziehen.
96 S. Kierkegaard Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift in GW1, 11, 8 / SKS 7, 280. 97 Mk 10, 45; Eph 1, 7. 98 Lk 21, 28; Eph 4, 30. 99 Rm 8, 23. 100 F. Büchsel ThWNT IV, S. 357. 101 Vgl. zu diesem Sprachgebrauch K. Barth KD I, 1, 430; J. Moltmann Mensch, Stuttgart 21973, S. 167.
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1. „Krftigkeit des wiederhergestellten Gottesbewußtseins“ (Schleiermachers Erlçsungslehre) 1. Schleiermachers Glaubenslehre interpretiert Christologie und Soteriologie als Erlösung / Erlöser und versteht dabei – gemessen am ,frommen Selbstbewußtsein‘ – die Person Christi ,geschichtlich‘ und ,urbildlich‘ zugleich erfasst im ,Wunderbaren‘, sein Werk (,Geschäft‘) aus den Extremen ,empirischer‘ und ,magischer‘ Vorstellung zugleich erfasst im ,Mystischen‘. Damit schließt Schleiermacher kritisch die rein ethischhistorischen und die supranaturalistisch-magischen Christusdeutungen der dogmatisch-philosophischen Tradition aus und versteht Erlçsung als ein wunderbar eintretendes Sich-Realisieren der Gemeinschaftsidee, die die Sünde aufhebt und Schuld- und Strafanrechnung überflüssig macht. Letzteres spricht er als Versçhnung an. 2. Insgesamt bedeutet Schleiermachers Erlösungslehre eine Vollendung von Gottes Schçpfungshandeln, weil Gott – müsste er seine Schöpfung durch Erlösung erst wieder radikal erneuern102 – zu sich selbst in Widerspruch stünde. Genau diese Aufhebung des radikalen Widerspruchs der Sünde war ein Einwand K. Barths103 gegen Schleiermachers Christologie. 3. A. Ritschl104 hat bereits – von Kants Reich-Gottes-Ethik her – die fehlende Eschatologie bei Schleiermacher kritisiert und Schleiermachers Sprachgebrauch für eine Verkehrung gehalten: Was Schleiermachers Erlösungsbegriff umfassend abdecken soll, müsse als wiederhergestelltes Gottesverhältnis eigentlich Versöhnung heißen, und die Aufhebung der Schuld- und Strafanrechnung trete dann als Erlösung hinzu. Dass Schleiermacher Versöhnung auf einen Zusatz zur Erlösungslehre reduziert, spricht für die völlige Zurücksetzung der Vershnungsthematik; damit entspricht Schleiermacher dem Hegelschen Typus der Versöhnung,105 nach Ritschls Schema dem Typus Abaelards. 4. Schleiermachers Grundkriterium aller Glaubenslehre: die Unmittelbarkeit des ,frommen Selbstbewußtseins‘ ist offenbar – modern gesprochen – als Verbindlichkeit der primären Überzeugung zu verstehen, die zunächst und als solche gar keiner Kritik und Zerlegung und Ableitung bedarf, deshalb geht es um Religion, Glaube (faith) in einer ge102 GL1, § 110. 103 KD I, 2, 147f. 104 A. Ritschl Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versçhnung, Bd. I, Bonn 3 1889, S. 511. 105 S.o. Kap. II.
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radezu instinktiven Schicht (Peirce) unserer primären Selbsterfahrung. Schleiermachers Rückbindung an die Subjektivität zeigt also vielfach moderne Fassungen der theologischen Problemstellungen, zu denen aber die eschatologische Öffnung auf die Veränderung der Welt (im Sinne der Reich-Gottes-Erwartung) kritisch noch hinzutreten müsste. 2. Der messianische „Standpunkt der Erlçsung“ Im letzten Aphorismus von Th. W. Adornos Sammlung der Minima Moralia fällt das Stichwort der ,Erlösung‘, indem diese als unumgänglich notwendig und doch zugleich auch als unmöglich ausgewiesen wird: Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen Wird […] Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist […].106
,Philosophie‘, wie es Adorno hier versteht, ist Metaphysik in einem emphatischen Sinn, die alle neuzeitlichen Einbrüche (Kritik der Gottesbeweise, Evolutionslehre, Marxismus und Psychoanalyse) registriert hat, deren deterministischen (Adorno würde bevorzugt sagen: positivistischen) Tendenzen aber widersprechen will, um geistige Erfahrung der Menschen gegen alle Rationalisierung zu retten. Dieses widersetzliche Moment definiert für Adorno Philosophie – nicht zuletzt aufgrund der politischen und kulturindustriellen Vernichtungserfahrungen des 20. Jahrhunderts, worin die menschenverachtende Folge moderner Rationalisierung wie eine Fratze der Aufklärung zu bewundern ist. Emphatische Metaphysik: gerade gegen die Fakten und den Augenschein sich nicht vertrösten und den kritischen Gedanken nicht stillstellen lassen. Aus den frühen Arbeiten W. Benjamins übernimmt Adorno dazu die dialektische Bedeutungskraft des Messianischen, denn sein Element ist die 106 Th. W. Adorno Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 1980; vgl. zur Interpretation E. Thaidigsmann „Der Blick der Erlösung. Zu Adornos letztem Aphorismus in den ,Minima Moralia’“ in ZThK 81, 1984, S. 491 – 513.
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konsequente Aufdeckung des Leidens („Risse und Schründe offenbart“) verbunden mit der prinzipiellen Alternative, und diese ist in demselben Blick verborgen anwesend, nämlich darin, dass eine solche ,Perspektive‘ überhaupt möglich ist. Der späte Benjamin hat in den Thesen ber den Begriff der Geschichte (1940) diese Perspektive als geschichtliche Hermeneutik gefasst: Es schwingt […] in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zur ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einem heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird […]. Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.107
Was Benjamin wie Adorno zu vermeiden suchen: die explizite, traditionelle theologische Terminologie, das muss zur Entdeckung der christologischen und eschatologischen Dimension dieser Texte nun doch herangezogen werden. Erlçsung, diese ganz andere Perspektive, ist geschichtlich ,mitgegeben‘, verborgen in enttäuschten Glückserfahrungen und glücklichen Augenblicken, wie sie den Leidensweg der Geschichte pflastern. Christliche Theologie spricht genau an dieser Stelle von Kreuz und Auferstehung in geschichtlicher Erinnerung und dogmatisch gefasst von Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung. Dass es sich dabei nicht um die ,Haben‘-Seite einer Bilanz handeln kann, ist den wirklichen Christen immer bewusst geblieben, auch wenn die triumphalistische Kirche es verleugnet und mit Füßen getreten hat. Das theologisch als ,Noch-nicht‘ bekannte Moment, der eschatologische Vorbehalt gegenüber aller menschlichen Verwaltung, ist dann unter den Stichworten der Messianität und Erlösung namhaft zu machen: die Sicht vom Ende her, die endgültige ,Perspektive‘. Und diesen ,Standpunkt‘ können wir nicht einfach einnehmen wollen (die theologische Tradition spricht hier von Sünde), aber ohne dessen ,Licht‘ würde nicht einmal die Wahrheit unserer Verhältnisse klar werden (die theologische Tradition spricht hier von Gnade; lutherisch und kurz gesagt von „simul iustus et peccator“). Benjamins geschichtlich-messianische Erinnerung trägt nur als ein Weitergeben der Erlösungshoffnung; Adornos „Spiegelschrift ihres Gegenteils“, worin die „Negativität“ und das „ganz Unmögliche“ zu107 W. Benjamin Gesammelte Schriften, I, 2, Frankfurt am Main 1974 – 1980, S. 639f.
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sammenkommen und umschlagen sollen, ist die eschatologische Prinzipialität derselben Erlösung. 3. Gottes Handeln verstehen: utopische Differenzerfahrung 1. Gottes Handeln, das zeigen zuletzt Eschatologie und Erlösung, ist nicht als übernatürliches Eingreifen einer wie immer vorgestellten höheren Macht zu denken, sondern als verborgen anwesend in unserer Existenzerfahrung, in der religiösen Subjektivität des Nachempfindens108 ebenso wie in den Differenzerfahrungen unserer Existenz.109 Letztere zu bezeichnen soll der Ausdruck utopische Differenz helfen, worin die Gegenwart der Erlösung als kritisches Potential zur Wirkung kommt – in der Leidenschaft der Hoffnung. 2. Das messianische Licht110 sucht die Dunkelzonen, grenzt sie nicht aufklärerisch nur aus, hat deshalb eigentlich noch keinen Ort. Diese utopische Funktion ist realistisch, weil sie mit dem rechnet, was in all unserer Erfahrung als deren Rettung impliziert ist, obwohl wir es nicht greifen können. Das eben macht die ,letzte‘ Wirklichkeit aus. 3. Dass solches ,Letzte‘ erfahren werden kann, davon lebt Religion, das versucht Philosophie zu denken, das zeigt sich in der Kunst; etwa in Pina Bauschs Tanztheater111 in der Durchdringung der vorfindlichen Wirklichkeit durch intentionslose, assoziative, collagenhaft kombinierende Darstellungsverfahren, in denen Alltäglichstes in penetranter Wiederholung durchleuchtet und durchsichtig wird. Auch hier: „Risse und Schründe“, nicht einfach naturalistisch, sondern ein Stück Wirklichkeit, aus Szenerien zusammengestückelt, diese darin aufdeckend, indem übersteigert, vergrößert, verkleinert, geschrieen, geflüstert und geschwiegen wird. Es muss gerade das versucht werden, was Fotografie nicht erreicht: die Tiefenschicht der Wirklichkeit abzubilden. 4. Erlösung und Eschatologie vertreten die „Leidenschaft für das Mögliche“;112 nicht einfach Optimismus, sondern wie Benjamins ,Thesen‘ lehren, Hoffnung auf den Abbruch des Fortschritts zum Schlechten.
108 109 110 111
Schleiermacher, s. o. III. 1. 4. S.o. II. 3. 2. S.o. III. 2. Vgl. Pina Bausch Tanztheatergeschichten von Raimund Hoghe (Fotos Ulli Weiss), Frankfurt am Main 1986.
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Kierkegaards Zusammensetzung des Göttlichen (Ewigen) mit dem Zeitlichen (Werdenden) trifft die Situation der utopischen Differenz sehr genau: wo alles im Werden ist, wo nur so viel von der Ewigkeit zur Stelle ist, daß sie in der leidenschaftlichen Entscheidung gegenhalten kann, dort, wo die Ewigkeit sich als das Kommende zum Werdenden verhält, dort ist die Absolute Disjunktion zu Hause.113
Das Kommende wird am Existieren erfahren, dort ,handelt‘ Gott, sofern Hoffnung sich dem Zukünftigen stellt und also ein Recht besteht, Erlösung als utopische Differenz, die erfahren wird, personal übertragen als Gottes Handeln auszusprechen. Dann wird „jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten“ kann.114
112 Kierkegaard, zit. bei J. Moltmann Theologie der Hoffnung, München 31965, S. 15. 113 S.o. Anm. 96. 114 Benjamin GS I, 2, 704.
Mythos und Kritik Theologische Aufklärung in Thomas Manns Josephsroman I. Das Missverstndnis Literaturwissenschaft und Theologie hatten lange Jahre etwas Gemeinsames darin, dass sie Th. Manns Josephsroman missverstehen mussten; und das nun gerade in der positionell gegensätzlichen, im Effekt aber ganz analogen Bewertung des „Mythischen“ – diesem groß angelegten Kunstgriff Th. Manns, durch den er die literarisch wie theologisch übervolle Romantetralogie erst ermöglichte und zusammenzuhalten vermochte. Spricht der Literaturhistoriker zur Charakterisierung des Josephsromans von „Mythenparodie“,1 so hat das schnell den Zungenschlag von geschickt kaschiertem Atheismus, so als mache sich da einer – zum Genuss des spätbürgerlichen Lesers – über den längst als Aberglauben und Illusion enttarnten Mythos nun auch noch episch und ästhetisierend lustig. Spricht der Theologe – hier der vom Fach primär betroffene Alttestamentler C. Westermann – von einem „synkretistischen, mythisch-magisch-mystischen Denkraum“, in den Th. Mann den Joseph des Buches Genesis „verpflanzt“ habe,2 so klingt das schnell nach Abwehrhaltung und Zensurierung durch eine Lehrinstanz, die den biblischen Offenbarungsglauben nach alter Sitte vom „Mythischen“ (und ebenso vom Synkretistischen, Magischen, Mystischen) dogmatisch zu trennen verlangt. Keine Frage andererseits, dass Th. Mann solche Beurteilungen geradezu provozieren musste, wenn er selbst sein Werk als „Wahrheitsspaß“, „Mammut-Spaß“ und schließlich als die „schöne Geschichte und Gotteserfindung von Joseph und seinen Brüdern“ hat hinstellen können.3 1 2 3
Vgl. Lexikon der Weltliteratur, hg. v. G. von Wilpert, Stuttgart 1963, 2. Aufl. 1975, S. 863. C. Westermann Genesis 27 – 50 (BK 1/3), Neukirchen / Viuyn 1982, S. 289. Vgl. im Briefwechsel: Thomas Mann – Karl Kernyi. Gesprch in Briefen, Frankfurt am Main 1960, S. 74 (Brief vom 7. X. 36) und S. 81 (Brief vom 9. IX. 38); und den letzten Satz am Ende der Romantetralogie Joseph und seine Brder IV: Joseph, der Ernhrer, Frankfurt am Main 1983, S. 551. – Th. Mann wird im folgenden
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Auch ist überhaupt nicht in Zweifel zu ziehen, dass es sich bei dieser Neuerzählung der Josephsgeschichte um bewusst eingesetzten Mythos und ebenso auch um Parodie, Ironie und Humor handelt,4 all dies Schalkhafte, das Th. Mann trotz und wegen penibler Wissenschaftlichkeit, Ernsthaftigkeit und Weltverantwortung mit souveräner Virtuosität zu bieten hat. Dass diese Dimensionen des Josephsromans aber wie eine Travestie des „Mythos“ überhaupt aufzufassen seien bzw. dass der biblische Stoff in einen pejorativ verstandenen „Mythos“ sozusagen zurückentwickelt werde, das ist allerdings nach beiden Seiten zu bestreiten. Die Frage geht also dahin, die von Th. Mann gespürten, erarbeiteten und bewusst angezielten Überschneidungen von Theologischem und Literarischem aufzudecken, wie er sie für seine Zeit zu markieren sich gezwungen sah. Dass in der Epoche der Entstehung (1926 – 42) und unmittelbaren Wirkung der Joseph-Tetralogie zwischen Literaturkritikern und Theologen diese Schlüsselfrage kaum sachgemäß hat aufgegriffen werden können, muss nachträglich konstatiert werden. Die Gründe dafür sind in der Fixierung auf die sogenannte „christliche Dichtung“ im Rahmenwerk von Konfessionalität ebenso zu suchen wie im Autonomiestreben neuzeitlicher Kunstauffassung, die gerade gegenüber Kirche und Theologie ihre Emanzipation zu beweisen und festzuhalten hatte.5 So gesehen ist Th. Manns Zurückhaltung, seine „Vorsicht“ in religiösen Dingen6 nur allzu verständlich; doch um so bewundernswerter und
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zitiert nach dieser Neuausgabe der Gesammelten Werke in Einzelbnden, der Frankfurter Ausgabe 1980 – 1986, hg. v. P. de Mendelssohn (abgekürzt: FA). – Die Josephsromane ( Joseph und seine Brder I: Die Geschichten Jaakobs; II: Der junge Joseph; III: Joseph in gypten; IV: Joseph, der Ernhrer) sind in dieser Ausgabe 1983 in vier Einzelbänden erschienen und werden zitiert mit den Bandnummern I-IV. Vgl. Th. Mann im Brief an K. Kerényi (vom 7. X. 36), aaO., S. 74: „Die Idee hat einen stark humoristischen Einschlag, wie die ganze Theologie des ,Joseph’, und mit dem Humoristischen steht es eigentümlich: ganz unernst ist es zwar nicht, will aber auch nicht streng beim Worte genommen sein […]“ Vgl. zur Problemübersicht meine Beiträge in Kap. 3 „Literatur und Religion“ des Sammelbandes Es mssen nicht Engel mit Flgeln sein. Religion und Christentum in der Kinder- und Jugendliteratur, hg. v. A. Werner, München / Mainz 1982. Vgl. Th. Mann im Brief an K. Kerényi (vom 7. X. 36), aaO., S. 75: „Auf einmal bin ich legitimiert, mich einen religiösen Menschen zu nennen – eine Selbsteinschätzung, deren ich mich, eben aus ,Vorsicht’, sonst kaum getraute“; vgl. dazu D. Mieth Epik und Ethik. Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephromane Thomas Manns, Tübingen 1976, S. 50. – Es ist für die neuere Diskussion der Thematik ,Literatur und Theologie’ selbstverständlich und muss doch ausdrücklich gesagt werden, dass ich dieser Arbeit von D. Mieth den Einstieg in die nähere Beschäftigung mit Th. Mann verdanke und folglich mehr Anregungen, als
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prophetischer ist sein theologisch-literarischer Zugriff, der eben diesen Stoff zu dieser Zeit zu einem nicht mehr zu ignorierenden Modell biblisch-ästhetischer Maßarbeit realisierte. Zum Beispiel so muss heute erzählt werden; und das können wir inzwischen, nach dem selbstkritisch neu bestimmten Verhältnis von Theologie und Literatur (stellvertretend seien die Arbeiten von D. Sölle, K.-J. Kuschel und D. Mieth genannt) 7 sehr viel freier und damit auch sachkundiger beurteilen. Th. Mann selbst registrierte sehr genau die Reserviertheit sowohl der marxistischen Literaturkritik (G. Lukács) wie der katholischen Kirche gegenüber seinem ,Joseph‘, und beides hatte wiederum ebendenselben Grund, wenn auch aus gänzlich anderer weltanschaulicher Herkunft: Das Theologische im Mythischen wirkte anstößig! Umgekehrt nun flüchtete Th. Mann vor den Dogmatikern zur „Humanistengemeinde“, wie er es in derselben Aufzeichnung zur eigenen Standortbestimmung formuliert hat.8 Diesen Humanismus aber
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die gelegentlichen Anmerkungen werden belegen können. – Als Ausnahme gegenüber den theologischen / christlichen Abwehrgebärden zu Th. Mann ist früh jedenfalls der Beitrag von E. Steinbach zu nennen: „Gottes armer Mensch. Die religiöse Frage im dichterischen Werk von Thomas Mann“ in ZThK 50 (1957), S. 207 – 242; zum Thema Mythos, aaO., S. 216; weitere Literatur in dieser Hinsicht vgl. bei W. Kantzenbach „Theologische Denkstrukturen bei Thomas Mann“ in NZSTh 9 (1967), S. 201 – 217. Vgl. D. Sölle Realisation. Studien zum Verhltnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklrung, Darmstadt / Neuwied 1973. – K.-J. Kuschel Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Zürich / Köln / Gütersloh 1978. – D. Mieth Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begrndung einer narrativen Ethik mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, Mainz 1976, 1. Teil „Das Erkenntnisinteresse der theologischen Ethik an der Dichtung“; hinzuweisen ist für diesen Diskussionszusammenhang auch auf die frühe Arbeit von H.-E. Bahr Poiesis. Theologische Untersuchung der Kunst, München / Hamburg 1965; ebenso auf K. Marti Grenzverkehr. Ein Christ im Umgang mit Kultur, Literatur und Kunst, Neukirchen / Vluyn 1976; und vor allem auf P. Tillichs Kulturtheologie, die als seltenes Vorbild des Dialogs die Neubestimmung des Verhältnisses TheologieLiteratur hat inspirieren können, vgl. z. B. bei D. Mieth Dichtung, Glaube und Moral, aaO., S. 31 – 40. – Was speziell zur Th.-Mann-Interpretation aus dieser Perspektive aufzuarbeiten ist, zeigt Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 206ff., 215ff. Vgl. die Stelle aus Die Entstehung des Doktor Faustus (1949), worin Th. Mann aus Anlass des Lukács-Aufsatzes (der zu Th. Manns 70. Geburtstag erschienen war) wie folgt auf den Josephsroman Bezug nimmt: „sonderbar nur, daß in noch so wohlwollenden Würdigungen dieser kritischen Linie und Sphäre das JosephWerk konsequent ausgelassen, umgangen wird. Es ist das eine Sache der Observanz und totalitären Rücksicht: der ,Joseph’ ist ,Mythos’, also Ausflucht und Gegenrevolution. Schade. Und vielleicht nicht ganz richtig. Da aber auch die
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von Religion und Christentum abzutrennen, das macht den Kern des Missverständnisses, dem sich in gewisser Weise auch Th. Mann selbst, wie unter Rollenzwang, fügte – obwohl seine Texte anderes im Josephsroman längst gewagt hatten. Dieses Missverständnis kenntlich und überflüssig zu machen, verlangt wache und für ihre Zeit und Sprachmöglichkeiten feinfühlige Theologie. Th. Mann hätte sie nicht gescheut.
II. Das Mythische 1. Th. Mann, der intellektualistische Autor bürgerlicher Spätzeit, schreibt 1926 – 42 einen mythisch-theologisch-humanistisch angelegten Roman voller Humor, Weltbezug und durchsichtiger ethischer Programmatik. Dass und wie das möglich wurde, hat die gelehrte Th.-Mann-Forschung längst mustergültig an den Quellen, die Th. Mann ebenso mustergültig gesammelt, exzerpiert und überliefert hat, nachkonstruieren können: Schopenhauers Willensmetaphysik, Nietzsches Psychologie und die in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts unbändige Mythenentdeckung geben die Voraussetzungen, literarisch in eine andere Welt zu bertragen, was von dieser Welt zu sagen ist.9
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katholische Kirche das Werk nicht mag, weil es das Christentum relativiert, so bleibt ihm nur eine Humanistengemeinde, welche sich die Sympathie mit dem Menschlichen frei gefallen läßt, von der es in Heiterkeit lebt –“ (Th. Mann „Rede und Antwort“ in FA 1984, S. 226). – Dass D. Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 16f., Anm. 21 und S. 196, dieses Zitat unterschiedlich bewertet, wirft ein Licht auf die bleibenden Probleme einer theologischen Rezeption: Während Mieth einerseits Th. Manns theologische Position durchaus respektiert und sogar würdigt – vgl. S. 74: „Könnte man sich eine theologische Dogmatik vorstellen, der Skepsis und Zweifel sowie innerkritische Relativierung möglich wären, so wäre sie hier angedeutet“; ähnlich S. 81, 208 –, zieht er andererseits doch eine Trennungslinie zwischen Th. Manns ,Humanismus’ und der eigenen christlichen Position (S. 196ff.). Das lässt sich nicht wegerklären mit der Tatsache von Th. Manns nur beschränkter Sicht der theologischen Dogmatik (S. 189, 193, 202), sondern Mieth muss schließlich zwischen der „Intention des Autors“ und seinen als „theologisch offener“ eingestuften Texten unterscheiden (S. 198), anders gesagt: zwischen explizitem und implizitem Verständnis des Christentums (S. 218) oder der „Erzählhaltung“ und der „Haltung des Erzählten“ (S. 217). Ob das Th. Manns Abraham-Interpretation im Josephsroman gerecht werden kann, ist eine Frage, die sich schon durch Mieths eigene Darstellung zur Sache aufdrängt (vgl. bes. S. 62 – 82 bei Mieth und dazu unten Kap. III: Die Gottesentdeckung). Vgl. hier exemplarisch die Verteidigung der Humanität Schopenhauers trotz seiner Trieblehre und „Melancholie“ im großen Schopenhauer-Aufsatz von
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Dass dieses Programm zugleich kritisch und damit vernünftig und human vorgenommen wird, verdankt Th. Mann darüber hinaus der Rezeption der Psychoanalyse10 wie der sich immer deutlicher herauskristallisierenden und schließlich durch die Emigration auch politisch zwingenden Abwehr gegenüber den dumpfen, inhumanen Mythenberufungen in Deutschland. Th. Mann konnte also und musste zunehmend aggressiver seinen biblischen Roman, den „Judenroman“, von dem „faschistischen Pöbel-Mythos“11 absetzen. Mythos ist Aufklrung – auf diese Formel möchte ich Th. Manns Gegenhalten in der Programmatik des Josephsromans bringen. Gegen den Absturz in politischen Wahn wie gegen fanatisch-orthodoxe Glaubenspositionen erarbeitet er sich in Erzählhaltung, Stoff- und Sprachbehandlung einen eigenen Begründungszusammenhang für diese Formel.
1938 in Th. Mann Leiden und Grçße der Meister in FA 1982, S. 714f.; die Rühmung der Integration von Psychologie und Mythos bei Richard Wagner, die mit Nietzsches Entlarvungspsychologie und seinem Kult des Instinktiven Heldenmenschen zusammentrifft, vgl. im Wagner-Aufsatz von 1933 in Leiden und Grçße der Meister, aaO., S. 721f., und im Nietzsche-Vortrag von 1947, aaO., S. 854ff. – Zu Th. Manns Quellenstudien und ihrer Verarbeitung vgl. als Übersicht H. Kurzke Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, München 1985; detaillierte Quellenanalysen geben H. Lehnert Thomas Mann –Fiktion, Mythos, Religion, Stuttgart 1965; ders. „Th. Manns Vorstudien zur Josephstetralogie“ in Jb. d. dt. Schillergesellschaft 7 (1963), S. 458 – 520; ders. „Th. Manns Josephstudien 1927 – 1939“ in ebd., 10 (1966), S. 378 – 406; W. R. Berger Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brder“, Köln / Wien 1971; M. Dierks Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann (Thomas-Mann-Studien, Bd. II), Bern / München 1972; zur integrierenden Verarbeitung der metaphysischen, mythologischen und psychologischen Systeme vgl. Mieth Epik und Ethik, aaO., Kap. II. 10 Vgl. hierzu vor allem den Vortrag über S. Freud von 1929, worin bereits die Übernahme der romantisch-progressiven Mythologie-Entdeckung des 19. Jahrhunderts für die Kennzeichnung der politisierenden Gegenwart zu Beginn des 20. Jahrhunderts rundweg bestritten wird in Leiden und Grçße der Meister in FA 1982, S. 886f. Der Vortrag gipfelt in der These: „Man kann sie (sc. die Psychoanalyse) antirational nennen, da ihr Forschungsinteresse der Nacht, dem Traum, dem Triebe, dem Vorvernünftigen gilt und an ihrem Anfange der Begriff des Unbewußten steht; aber sie ist weit entfernt, sich durch dies Interesse zur Dichterin des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes machen zu lassen. Sie ist diejenige Erscheinungsform des modernen Irrationalismus, die jedem reaktionren Mißbrauch unzweideutig widersteht“ (aaO., S. 903). 11 Vgl. Th. Manns Vortrag von 1942 „Joseph und seine Brüder“ in Rede und Antwort in FA 1984, S. 111.
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Was dabei auf dem Spiel stand hat 1913 – um nur ein Dokument für diese Epoche anzuzeigen – E. Troeltsch in einem Aufsatz über „Logos und Mythos“ als das unabwendbare Wiederauftauchen des Mythos in der Stimmung des „religiösen Antiintellektualismus“ diagnostiziert.12 Zur Therapie dieser Krankheit blieb Troeltsch nur die Mahnung, sich vor neuen „Literaten-Offenbarungen“ ebenso zu hüten wie vor der Abtrennung des Mythos vom Logos der Theologie.13 Th. Mann hat im Josephsroman diese Situationsbestimmung in die ästhetische und – was die angezielte Rezeption betrifft – in gewissem Sinne auch in eine ethisch-gesellschaftspolitische Praxis umzusetzen versucht. Nachträglich hat er diese Zielsetzung wie folgt formuliert und verteidigt: „Das mythische Romanwerk“ ist „nichts weniger als ein abseitiges, ausweichendes, zeitabgewandtes Produkt, sondern eingegeben von einem über das Menschlich-Individuelle hinausgehenden Interesse am Menschheitlichen […] Der Mythos wurde in diesem Buch dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert“.14 2. Mythos ist Aufklrung – Th. Mann bestätigt damit auch die Analysen von Horkheimer / Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947), allerdings mit der entscheidenden Umkehrung der Akzentsetzung, dass nicht an der neuzeitlichen Aufklärung ihr immer schon angesagter Rückfall ins Mythische entdeckt, sondern dass an der Moderne ihr dringender Bedarf an Mythischem nachgewiesen wird – um der Humanität willen. Genau dies macht Th. Manns Definition des Mythischen aus, womit er zugleich eine eigene Entwicklungsstufe seiner Erzählhinsichten bezeichnen will: „das Typische, Immer-Menschliche, ImmerWiederkehrende, Zeitlose, kurz: das Mythische. Denn das Typische ist ja das Mythische schon, insofern es Ur-Norm und Ur-Form des Lebens ist, zeitloses Schema und von je gegebene Formel“.15 Anders gesagt: Das
12 E. Troeltsch „Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie“ in ders. Ges. Schriften, Bd. II: Zur religiçsen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Aalen 1962 (Neudruck der 2. Aufl. 1922), S. 805 – 836; hier S. 816. 13 AaO., S. 817. 14 „Joseph und seine Brüder“ (1942) in Rede und Antwort in FA 1984, S. 106. 15 AaO., S. 104; vgl. Th. Manns Definition des Klassischen zu Beginn der LessingRede von 1929 als „ein erzväterlich geprägter Urtypus, in dem späteres Leben sich wiedererkennen, in dessen Fußstapfen es wandeln wird – ein Mythus also, denn der Typus ist mythisch, und das Wesen des Mythus ist Wiederkehr, Zeitlosigkeit, Immer-Gegenwart“ (in Leiden und Grçße der Meister in FA 1982,
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Mythische rettet vor Vereinzelung, vor dem Rückzug aufs bloß Individuelle; es widersetzt sich dem neuzeitlichen Nominalismus und kann die Realität des Menschheitlichen ganz unproblematisch voraussetzen. Nun bestand – nach den Analysen der „Dialektik der Aufklärung“ – die gefährliche Zweischneidigkeit des Mythos aber darin, dass seine Kraft: ganz unvoreingenommen und unverzerrt das Menschlich-Konkrete wahrnehmen und erzählen zu können, doch durch das mythische Schema: die „Immergleichheit“, wieder zum Erstarren gebracht wurde.16 Das Menschliche als solches wäre dann so unmöglich zu gewinnen wie der Mythos unter den Bedingungen aufgeklärter Vernunft unmöglich zu wiederholen wäre. Th. Mann reagiert auf diese Aporie mit der Gegenkraft von Ironie und Humor, indem er durch deren sympathetische Distanzwirkung die dunkle Gewalt des Mythos bricht, sie funktionalisiert und den Mythos spielerisch damit wieder ins Recht setzt: von der Menschheit ursprnglich zu erzhlen. Dass dazu die wissenschaftlichen Zugänge zum Mythos nicht ausgeschlossen werden, ist neuzeitlich (historisch-kritisch) selbstverständlich, aber die wissenschaftliche Akribie darf ihren Gegenstand nicht in den Zangen historischer Kausalität verkümmern lassen; ebenso wenig darf die Mythos-Interpretation auf eine bestimmte Vororientierung (etwa J. J. Bachofen, E. Dacqué, D. Mereschkowski, A. Jeremias) 17 einseitig festgelegt werden. Zwischen Forschung und literarischer Lebendigkeit zu unterscheiden und beide sich gegenseitig begrenzen und inspirieren zu lassen – das macht die neue mythische Kraft des Erzählens aus. Th. Mann gewinnt diese originelle Kombination und diesen doppelbödigen Stil mit einfach sympathischer Leichtigkeit: „daß man auf humoristische Weise S. 7). – Auch in der Freud-Rede von 1936 kommt Th. Mann in dieser Weise auf den Josephsroman zurück, vgl. aaO., S. 918 – 924. 16 Vgl. Th. W. Adornos Essay „Über epische Naivetät“ (1943) in ders. Noten zur Literatur (Ges. Schriften, Bd. 11), Frankfurt am Main 1974, S. 34 – 35: „weil jedoch der Erzähler der Welt des Mythos als seinem Stoff zugewandt ist, war sein Beginnen, heute mit Unmöglichkeit geschlagen, stets schon widerspruchsvoll. Denn der Mythos, dem die rationale und kommunikative Rede des Erzählers samt ihrer subsummierenden Logik, welche alles Berichtete gleichmacht, als dem Konkreten nachhängt, dem, was von der nivellierenden Ordnung des Begriffssystems noch verschieden wäre – solcher Mythos ist gerade selber doch von der Wesensart der Immergleichheit, die in der ratio zum Bewußtsein ihrer selbst erwachte.“ 17 Vgl. zu diesen Autoren vor allem die Analysen von M. Dierks Studien in FA 1984, bes. Kap. II-V, IX u. X.
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mythisch sein kann“;18 und das ohne unsere „blitzblanke Neuzeitlichkeit“ – wie es schon im „Vorspiele“ zu Den Geschichten Jaakobs heißt19 – vergessen machen zu wollen. 3. Eine weitere spezifische Umkehrung von Mythos und Aufklärung ist im Vergleich von biblischer Josephsgeschichte in Gen 37 – 50 und Th. Manns Roman auffällig. Während sich in alttestamentlicher Sicht die Josephsgeschichte gerade durch ihre souveräne Zurückhaltung gegenüber allzu direkten göttlichen Eingriffen auszeichnet – denn Gottes planvolles Handeln geht die indirekten Wege geschichtlicher Gesamtabläufe, und eine Theophanie wie in Gen 46, 1 – 5a, in der es heißen kann: „Da redete Gott zu Israel im Nachgesicht“20 muss folglich als Einschub beurteilt werden, der in die Vätergeschichten und nicht in die Josephsgeschichte gehört;21 während die Bibel in Gen 37 – 50 also betont nichtmythische Züge trägt, muss im Kontrast der Josephsroman wie eine Remythologisierung erscheinen.22 Th. Manns moderner Wiederaneignungsvorgang wirkt deshalb auf den ersten Blick wie eine Rückversetzung in mythische Vorzeit, während die biblische Erzählung am plausibelsten (seit G. von Rad) der Weisheitsliteratur zugerechnet und damit von der Massivität mythischer Göttergeschichten ganz entschieden abgerückt wird.23 Th. Manns mythischer Kunstgriff wäre dann vom bi18 Vgl. Th. Manns Notiz „Über den Joseph-Roman“ von 1928 in Rede und Antwort in FA 1984, S. 98. 19 I: Die Geschichten Jaakobs, S. 23. 20 Gen 46, 2a. 21 Vgl. C. Westermann BK I/3, aaO., S. 169ff. – Ich darf hier anmerken, dass ich die gewonnene Übersicht zur alttestamentlichen Diskussion dem Hauptseminar zur Josephsgeschichte (im SS 1987) von Herrn Kollegen H. J. Boecker, Kirchliche Hochschule Wuppertal, verdanke. Vom Text der Bibel auszugehen, ist die allseits bekannte Forderung, die doch jeweils neu realisiert werden muss, und dazu braucht es die einladende Zusammenarbeit mit dem Exegeten; in diesem Falle kam es dazu. 22 Vgl. G. von Rad „Biblische Josephserzählung und Josephsroman“ (1965) in ders. Gottes Wirken in Israel. Vortrge zum Alten Testament, hg. von O. H. Steck, Neukirchen / Vluyn 1974, S. 285 – 304, hier S. 298ff.; und eben diese Beobachtung von literarischer Seite gefasst bei D. Sölle Realisation, aaO., S. 62: „Gemessen an diesem Stoff verfährt nun Thomas Mann erstaunlich: er remythologisiert die ursprünglich eher weltliche Erzählung und verknüpft sie mit der gesamten biblischen und orientalischen Religionsgeschichte.“ 23 Vgl. vor allem G. von Rad „Die Josephsgeschichte“ (1954) in Gottes Wirken in Israel, aaO., S. 22 – 41; vgl. als schöne Problemübersicht der literarkritischen Fragen H. Donner Die literarische Gestalt der alttestamentlichen Josephsgeschichte, Heidelberg 1976; und zum jüngsten Forschungsstand L. Schmidt Literarische
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blischen Stoff her weder erforderlich noch legitimiert. Oder doch? – Ganz selbstverständlich redet die biblische Josephsgeschichte von Gott, vor allem in den berühmten Deuteworten Gen 45, 5ff. und Gen 50, 19ff., aber nicht nur dort.24 Wie soll der moderne Roman damit umgehen? Kann er ohne weiteres diese biblische Voraussetzung übernehmen? Oder soll er den Plan Gottes mit Israel einfach wegsäkularisieren? Th. Mann entschied sich für eine geniale Integration: den humorvollen Mythos, der wissenschaftlich, ästhetisch und theologisch zugleich standhalten soll. Denn zumindest dies hat die moderne Sicht mit der biblischen Geschichte gemeinsam: Erkannt zu haben, dass wir von den Vätern und ihren Gottesgeschichten,25 der „Patriarchenluft“, wie es H. Donner genannt hat,26 im Abstand leben und dass sich mit Joseph „ein grundlegender Wandel in dem, was wir Religion nennen“, ereignet.27 Dann aber besteht ein Recht, diesen Wandel auch entsprechend ins Bild zu setzen, geradezu die Pflicht, Rechenschaft zu geben, wie wir Gottes Wirken verstehen können. Th. Mann hat dies getan, und der Mythos ist ihm dabei – humorvoll angeeignet – unentbehrlich geworden. Dass literarische Begeisterungsfähigkeit hinzugehört, gerade für diesen Stoff, dessen anrührend karge biblische Erzählkunst heute nach psychologischer und damit individueller wie allgemein-menschlicher Ausarbeitung verlangt, das nicht zuletzt hat Th. Mann gereizt, und er hat diese ästhetische Seite seiner biblischen Realisation sehr bezeichnend mit dem Goethe-Wort aus „Dichtung und Wahrheit“ belegen können: „Höchst liebenswürdig ist
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Studien zur Josephsgeschichte, Berlin / New York 1986. – Ganz anders als bei von Rad wird das Verhältnis von Mythos und Geschichte diskutiert von J. van Seters Der Jahwist als Historiker, hg. von H. H. Schmid (Theol. Studien 134), Zürich 1987, darin: „Mythos und Geschichte“, S. 65 – 95, mit der These der Historisierung des Mythos und der Mythologisierung der historischen Tradition auch im AT (den Hinweis auf die Arbeiten von J. van Seters verdanke ich Gesprächen mit Fred Cryer, Ruhr-Universität Bochum); diese Sicht wiederum entspricht W. Pannenbergs Interesse, Mythos in seiner Funktion als „Gründende Urzeit“ auch im AT und NT in besonderer Verarbeitung nachzuweisen, vgl. W. Pannenberg Christentum und Mythos. Spthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher berlieferung, Gütersloh 1972, bes. IV-IX; hier S. 33. Vgl. C. Westermann BK 1/3, aaO., S. 285ff. Gen 12 – 36. H. Donner Die literarische Gestalt, aaO., S. 12. C. Westermann BK 1/3, aaO., S. 287, 288; vgl. ebd. Westermanns Korrektur der allzu „aufgeklärten“ Interpretation durch G. von Rad.
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diese natürliche Geschichte: nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich versucht, sie in allen Einzelheiten auszuführen“.28 4. „Mythos“ also bleibt ein vieldeutiger Begriff,29 und es mag der besseren Übersicht dienen, die bisher angesprochenen Bedeutungsrichtungen noch einmal ausdrücklich hervorzuheben: a. Rein stofflich gesehen kann Mythos gefasst werden als überlieferte Gçtter- und Heldenerzhlung,30 und für die Literaturwissenschaft sind 28 Das Goethe-Zitat aus „Dichtung und Wahrheit“ findet sich bei Th. Mann zu Beginn des Vortrags „Joseph und seine Brüder“ (1942) in Rede und Antwort in FA 1984, S. 102. Damit ist gegen von Rads Kritik dieser Goethe-Sentenz, vgl. von Rad Gottes Wirken in Israel, aaO., S. 292, doch die Erzählbedürftigkeit von Gen 37 – 50 behauptet. Zwar zeigt die biblische Geschichte ihre durchaus eigenständige „Kunst des Erzählens“ (Westermann BK 1/3, aaO., S. 279), an die angeknüpft (z. B. in der Leitmotivkonstruktion, vgl. Westermann, aaO., S. 280), aber über die auch hinausgegangen werden kann (z. B. wird dann die „Reflexion“ des modernen Erzählers nicht zum Schweigen zu bringen sein, vgl. Westermann, aaO., S. 282). Th. Mann hat hier alle Chancen extensiv genutzt. Auch H. Donner Die literarische Gestalt, aaO., S. 9f., bezieht sich auf die GoetheStelle, aber nur, um den Kontrast zwischen Dichtung und Bibel zu beleuchten. Immerhin hat schon H. Gunkel Genesis, 6. Aufl., Göttingen 1964, S. LIII, die „epische Breite“ und die „besondere Erzählungskunst“ der Josephsgeschichte hervorgehoben! – Zur Goethe-Anknüpfung Th. Manns vgl. auch die Hinweise auf den „West-östlichen Divan“ bei H. Mayer Thomas Mann, Frankfurt am Main 1984, S. 192ff. – Es ist schade, dass H. Mayer das eigene und auch bei Th. Mann nachwirkende Gewicht der biblischen Motive, die gegen die mythisch-ironischen „Wiederholungen“ stehen, nicht für die Interpretation auswertet. 29 Vgl. hier nur die Übersicht von J. Sløk Art. „Mythos und Mythologie I“ in RGG3, (1960), Bd. IV, Sp. 1263 – 1268; und die Alternativen in der Diskussion um Mythos und Wissenschaft in H. Posers Einleitung zu dem Band Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, hg. von H. Poser, Berlin / New York 1979, bes. S. VII-X. 30 Vgl. die präzis knappe Definition von H. Gunkel Genesis, aaO., S. XIV: „’Mythen’ – man erschrecke nicht vor diesem Worte – sind Gçttergeschichten“. Dies ist eine traditionell „inhaltliche“ Definition des Mythos, neben der „formale“ und „funktionale“ noch zu unterscheiden wären; vgl. I. U. Dalferth „Mythos, Ritual, Dogmatik. Strukturen der religiösen Text-Welt“ in EvTh 47 (1987), S. 272 – 291, hier S. 174; die oben gegebene Fassung als „Götter- und Heldenerzählung“ ist bewusst weiter als bei Gunkel und entspricht damit der berechtigten Kritik W. Pannenbergs an der zu „engen“ Mythosbestimmung der religionsgeschichtlichen Schule, vgl. Pannenberg Christentum und Mythos, aaO., S. 27. – Zur Bedeutung der rein stofflichen Merkmalsangaben von Religion – für die Zuordnung von Theologie / Religion / Literatur – vgl. meine Abgrenzungsvorschläge in Es mssen nicht Engel mit Flgeln sein, hg. v. A. Werner, (s. Anm. 5), S. 96f., 124.
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solche Stoffe dann religionskritisch und historisch zu erklären, im übrigen aber als mögliche literarische Verarbeitungsformen, d. h. als Fiktionsebenen, einzustufen und zu akzeptieren. b. Die christliche Theologie neigt überwiegend dazu, im Mythos fremdreligiöse Ausdrucksformen natürlicher (polytheistischer) Frömmigkeit zu sehen, die in der Bibel der monotheistischen Tendenz nach als abgeschafft zu gelten haben. Entmythologisierung ergibt sich daraus als konsequentes theologisches Programm, und von daher erklären sich die Vorbehalte z. B. G. von Rads gegenüber Th. Manns Roman.31 c. Geistesgeschichtlich gesehen zeigen das 19. und 20. Jahrhundert gegenüber der neuzeitlichen Aufklärung in antirationalistischen Schüben Rückfalle in den Mythos und seine wieder zugelassenen und gesuchten Wirklichkeitsdeutungen. Sie reichen von mittelalterlichen Romantisierungen über Weltpessimismus, Urzeittheorien und Schicksalsmythen bis zu Rassenwahnvorstellungen.32 d. Th. Mann setzt nun gegen den politisierenden Katastrophenmythos Aufklärung und Kritik, aber nicht einfach die rationalistisch-destruktive, sondern die humane, die das Mythische als Sprachform und Weltorientierung ernst nimmt und braucht, um überhaupt wieder (literarisch) von Gott erzählen zu können – ohne sich dabei dem Mythos als dunkler Macht- und Sonderwelt auszuliefern. Mythos und Aufklärung greifen dabei ineinander, zeigen selbstkritisch Überlieferungsprozesse (wie es die Wissenschaften vorgeführt haben), deren Wert im Erzählen und Klären von Erfahrungen im Lebenszusammenhang liegt. Logos und Mythos sind demnach am geschicktesten im Epos zu vermitteln, denn der moderne Erzähler bringt sich selbst ins Spiel und damit den Logos nicht zum Schweigen, und die mythische Vergegenwärtigung und Wiederholung bleibt trotzdem das Element der Erzählung. Genau dies proklamiert das „Vorspiel“ zur Romantetralogie in seinem letzten Abschnitt: „So spricht der Mythus, der nur das Kleid des Geheimnisses ist; aber des Geheimnisses
31 G. von Rad Biblische Josephserzhlung und Josephsroman, aaO., bes. S. 298ff. – Vgl. dagegen die in dieser Hinsicht überzeugende Kritik an R. Bultmanns Programm der „Entmythologisierung“, die Weltbild meint, aber fälschlich Mythos sagt, bei W. Pannenberg Christentum und Mythos, aaO., S. 13 – 19, 64f. 32 Vgl. zur Übersicht HWP 6, S. 281 – 318, bes. S. 288ff.; und zu Th. Manns Stellung H. Kurzke Thomas Mann, aaO., S. 246ff.
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Feierkleid ist das Fest […] Fest der Erzählung, du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid“.33 5. Im hier für die Interpretation von Th. Manns Josephsroman gebrauchten Sinn bedeutet Mythos folglich, zu erzhlen, was immer wieder (und deshalb immer schon) vorkommt. Nicht dass wir dabei, wie in den Naturwissenschaften, die exakten Regeln wüssten, sondern die mythischen Wiederholungen sind dem Kontingenten abgerungen und verarbeiten dessen Mühsal. Deshalb ist der Mythos immer zugleich aufklärend, aufdeckend; entdeckend und erklärend will er sein – und das ist es, was er zu erzählen hat. Drei Bestandteile, die Th. Mann genau beachtet und deren Vorkommen auch demonstrativ herausstreicht, machen diesen Umgang mit dem Mythos aus: erstens der Vorgang lebendigen Erzählens selbst, wie es „sich wirklich zugetragen“ hat.34 Zweitens ist diese Wirklichkeit aber fiktiv, gemessen an wissenschaftlicher „Exaktheit“.35 Da letztere die lebendige Wirklichkeit menschlicher Erfahrungen niemals ersetzen kann, kommt Wissenschaft im Roman nur unter Vorbehalt zum Zuge, der Erzähler braucht sie, und er spielt mit ihr; „humoristische Bibelkritik“ und „essayistische Elemente“ werden konsequent zum Formcharakteristikum des Romans.36 Um es wiederum mit dem essayistischen „Vorspiel“ des Romans zu sagen: „denn mit unserer Forscherangelegentlichkeit treibt das Unerforschliche eine Art von foppendem Spiel“.37 Drittens ist damit die ewige Wiederkehr, das „Typische“ des Mythos konfrontiert mit seinem Vorkommen in der Zeit. Der moderne Erzähler reflektiert das Historischwerden aber nicht nur akademisch-distanziert, sondern realistisch bezogen auf die Menschenwelt, der er selbst angehört: So ereignet es sich jetzt! Dieses Jetzt aber hat die eigenartige Unmittelbarkeit, dass zu ihr hin Umwege gegangen werden müssen, mythische Umwege sozusagen; denn nur dann kann das, was sich wirklich ereignet, bestimmbar werden, wenn wir unsere schematisierenden Vorgriffe, unsere wissens33 I, Die Geschichten Jaakobs, S. 52. 34 Th. Mann „Ein Wort zuvor: Mein ,Joseph und seine Brüder’“ (1928) in Rede und Antwort in FA 1984, S. 103: „Ich weiß noch, wie es mich erheiterte und wie sehr ich es als Kompliment empfand, als meine Münchener Abschreiberin, eine einfache Frau, mir das Maschinen-Manuskript des ersten Romans […] ablieferte mit den Worten: ,Nun weiß man doch, wie sich das alles in Wirklichkeit zugetragen hat!’ Das war rührend; denn es hat sich ja gar nicht zugetragen.“ 35 Ebd., S. 99. 36 Ebd. 37 I: Die Geschichten Jaakobs, S. 7.
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systematischen Vorurteile unterlassen können. Theologisch gesagt: Wenn wir den Vorrang Gottes vor unserer Erfahrung und in ihr und gegen sie geschehen lassen und dessen auch gewahr werden können. Dieser erzkritische Gedanke, gemessen an purer Neuzeitlichkeit, hat Th. Mann um der Menschheit willen beschäftigt – und zu seiner Realisierung braucht er den Mythos. In dessen vorsintflutlicher Abwegigkeit nämlich kann eine andere Form von Vernunft zum Zuge gebracht werden: nicht die deduktiv-analytische, nicht die induktiv-empirische, sondern die, die, aus Spontaneität erzählend, Wahrheit entdecken lässt. So kommen Logos und Mythos im Erzählen zusammen,38 und dies Erzählen scheut nicht den göttlichen, anthropomorphen Humor: „Gott aber hatte seine Fingerspitzen geküßt und zum heimlichen Ärger der Engel gerufen: ,Es ist unglaublich, wie weitgehend dieser Erdenkloß mich erkennt!‘“.39
III. Die Gottesentdeckung Das theologisch mit Abstand aufregendste Kapitel der Joseph-Tetralogie ist das 2. Hauptstück des zweiten Romans (Der junge Joseph) mit der Titelüberschrift „Abraham“; und darin der zentrale Abschnitt: „Wie Abraham Gott entdeckte“.40 Die „fides creatix divinitatis“41 hat hier eine mutige Neuaufnahme erfahren, die die moderne Sachproblematik mit aller Redlichkeit aufzeichnet und sich sprachlich mit größter Intensität in die schwierige Dialektik der Angewiesenheit von Gott und Mensch hineinversenkt. Solche Prägung trägt nun keineswegs nur dieses eine Kapitel, sondern die biblische Gottesentdeckung: dass Abraham Gott „hervorgedacht“ hat,42 stellt durchgängig die theologische Leitfigur vom 38 Vgl. sehr treffend bei Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 35: „Die ,mythische’ Entdeckung des Erzählers Thomas Mann ist, dass er sich im ,Medium’ des Erzählten begreift“. – Vgl. die Mythosbestimmung (von der Menschheitsentwicklung her gedacht) bei H. Blumenberg Arbeit am Mythos, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1984, S. 12: „Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat.“ S. 18: „Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos.“ 39 II: Der junge Joseph, S. 50. 40 II: Der junge Joseph, S. 40 – 50. 41 WA 40 I, 360,5; vgl. A. Peters Rechtfertigung (HST 12), Gütersloh 1984, S. 49 u. Anm. 81. 42 II: Der junge Joseph, S. 41, 43.
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„Vorspiel“ des ersten Romans bis zu den Pharao-Szenen im vierten Roman („Joseph, der Ernährer“). Dieser theologischen Spur sollen die folgenden Beobachtungen und Interpretationen nachgehen. 1. Abraham ist für den Josephsroman der biblische Typus des Gottesglaubens, wie er aus der Tiefe der Zeit heraustritt, um ein in der Zeit Neues festzuhalten. Mythisch ist daran, dass das „Geheimnis“43 um Gott und Mensch wissenschaftlich nicht fixierbar, vergegenwärtigend als Abrahamsgeschichte erzählt werden muss: wie „vor längeren Zeiten – Joseph war sich nicht immer ganz im klaren darüber, wie weit es zurücklag“,44 Einmaliges sich in der Figur des Urvaters ereignet, „daß ihm sein Gott, der Gott, an dessen Wesensbild sein Geist arbeitete, der Höchste unter den anderen, dem ganz allein zu dienen er aus Stolz und Liebe entschlossen war“.45 Historisch ist daran, dass Th. Mann diese Figur zugleich wissenschaftlich absichern will. Die Züge des Wanderers und „Mondmannes“ übernimmt er dazu bis in feinste Details von A. Jeremias,46 und Th. Mann erweist sich darin, wie W. Jens es genannt hat, wahrhaft als „Meister der höheren Abschreibekunst“.47 Denn sosehr ihm gerade diese Vorlage (wegen des Zusammenspiels von Mythologie, kritischer Wissenschaft und biblischer Orientierung) nahestand, so beI: Die Geschichten Jaakobs, S. 7. I: Die Geschichten Jaakobs, S. 9. I: Die Geschichten Jaakobs, S. 11. Th. Mann benutzte die 3. Aufl. von A. Jeremias Das Alte Testament im Lichte des Alten Orient, Leipzig 1916. Vgl. zur Einstufung von A. Jeremias in der Schule der „Panbabylonisten“ H.-J. Kraus Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart, Neukirchen / Vluyn 1956, S. 274f., 281; und vor allem M. Dierks Studien, aaO., S. 245f. – Zwei Beispiele für direkte Übernahmen im Abraham-Text des ,Vorspiels’: „Ur Kaschdim“ und der „Sin-Gott“ (I: Die Geschichten Jaakobs, S. 9) – vgl. bei Jeremias, aaO., S. 259, 261, 266; Abraham als Wanderer, als „Mahdi“, und als „Mondmann“ (I: Die Geschichten Jaakobs, S. 10) – vgl. bei Jeremias, aaO., S. 268ff. Zu dieser und den anderen Quellen für die Abrahamsdarstellung vgl. die Angaben bei Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 72f. Anm. 12. Man kann es bedauern, dass Th. Mann gerade diese und nicht andere Autoren für seine atl. Studien herangezogen hat (vgl. G. von Rad Gottes Wirken in Israel, aaO., S. 304, Anm. 25), entscheidend ist festzustellen: „Thomas Mann hat sich hervorragend in diese biblische Sehweise einzufühlen verstanden“ (Mieth, aaO., S. 74). 47 W. Jens „Der Rhetor Thomas Mann“ in ders. Von deutscher Rede, München 1969, S. 129 – 150, hier S. 132f. – Was „höhere Abschreibekunst“ bezüglich historischer Räume, Gestalten, Kunstgegenstände bedeuten kann, das belegt ausführlich der Band Bild und Text bei Thomas Mann, hg. v. H. Wysling, Bern / München 1975, zum Josephsroman hier allein S. 186 – 319. 43 44 45 46
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liebig erscheint sie doch, gemessen an dem, was nun wirklich alttestamentlich, mythisch (im Sinne Th. Manns) und literarisch daraus erwächst: Abrahams allererstem „Auszug“ eignet eine „Sinnbetonung von Widerspruch und Auflehnung“,48 ein religions- und ideologiekritischer Widerspruch zur Umwelt also; es ist „geistliche Unruhe“, „Gottesnot“, die ihn zwingt auszuwandern – und darin liegt das Neue dieser „Gotteserfahrung“.49 Diese nahezubringen – das bewerkstelligt der Erzähler über einen Mittelsmann, die mythisch angelegte Figur des Eliezer. Historisch gesehen ist Eliezer eine gänzlich datenlose Erscheinung (der namentlich nur in Gen 15, 2 genannte Erbe Abrahams wird gern mit dem Großknecht in Gen 24, 2 in Verbindung gebracht, dem Brautwerber Isaaks), woraus Th. Mann die Urform des Überlieferers, des Weisen, des ältesten Knechtes, des Hauslehrers für Joseph zu bilden versteht, der die Zeiten und „Sphären“ überspannt: „es hatte ihn immer gegeben an den Höfen von Abrahams geistlichem Familienstamm“.50 Und eben dieser Eliezer ist der vermittelnde Erzähler, in dem der historische Abstand schon für Joseph – und damit für uns Leser der Geschichten – zum Verschwinden gebracht werden kann. Solche gemischte, teils abgesicherte, teils bewusst aufgekündigte Geschichtsverfügung hält sich allein im Ton der Erzählung. Der Gott genauer suchende Abraham ist vom Zweifel getrieben, „und da mit zweifelnder Seele nicht gut stillsitzen ist, so hatte er sich eben in Bewegung gesetzt“.51 2. Ironie und Humor ermöglichen Distanznahme und Sympathie zugleich;52 beides kann nie böse ausgelegt werden, und die integrierende Kraft zwischen Glauben und Wissen, Geschichte und Gegenwart ist um so größer. Mythisch ist Th. Mann dabei der Zugang zu Sprachfeldern, die sonst verschlossen blieben: göttlichem Humor, der rückhaltlos anthropomorph eingespielt wird. Gottes Pläne haben, humorvoll gesungen, 48 49 50 51 52
I: Die Geschichten Jaakobs, S. 9. I: Die Geschichten Jaakobs, S. 12. II: Der junge Joseph, S. 36f. I: Die Geschichten Jaakobs, S. 10. Die Begriffe Ironie und Humor müssen hier nicht weitergehend differenziert werden, vgl. zur Th.-Mann-Interpretation die Hinweise bei Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 50ff., 127f. Bezeichnend ist nur, dass mit dem Übergehen von Ironie zu Humor sich eine immer stärkere Einlassung auf das Menschliche und damit das Religiöse erkennen lässt, und diese Begriffsbestimmung von Ironie und Humor steht nicht zufällig der in S. Kierkegaards Stadienlehre sehr nahe (worin bekanntlich die Ironie als Confinium zwischen Ästhetik und Ethik, der Humor als Confinum zwischen Ethik und Religion figurieren).
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Jakob „nasgeführt“; Gott „schaberneckt“,53 und er ist deshalb als Partner des Menschen hineinverwickelt ins Allermenschlichste, dessen gewaltiges Gegenüber er doch bleibt. An diesem Widerspruch und Wechselverhältnis arbeitet Abrahams Gottesentdeckung. Einerseits ist da Gott der freundliche Mitspieler, der sich „vor Freude seine Finger geküßt“,54 weil endlich ein Mensch, „dieser Erdenkloß“, ihm, Gott selbst, in angemessener Verehrung auf die Schliche Gekommen ist55 und nicht mehr „irgendeinem Elchen oder Ab- und Untergott“ dient.56 Andererseits wird es todernst, denn sich auf den „Letzthöchsten“ einzulassen heißt doch, „das Gute und Böse, das Plötzliche und Grauenhafte sowohl wie das segenvoll Regelmäßige“ in dieser einen „Macht“ zu „versammeln“; 57es heißt (wie nach Th. Mann „Lot selbst […] bleichen Angesichts“ Abraham gegenüber einwendet): „Wenn aber dein Gott dich verläßt, so bist du ja ganz verlassen!“58 Diesen äußersten Sinn hat Abrahams Gottesentdeckung, und deshalb ist es keineswegs leichtfertig oder gar sophistisch,59 sondern nur sachgemäß, hier die gefährliche Schwebe des „Hervordenkens“ nicht zu unterdrücken. Denn die Gottesentdeckung hat unabwendbar die zwei Seiten einer Relation: Gott wird entdeckt als „etwas furchtbar Sachliches“ außerhalb und dem Abraham gegenüberstehend, und doch ist es seine (Abrahams) „Seelengröße“,60 die mit dieser Entdeckung des „Letzthöchsten“ nicht nur korrespondiert, also wächst,61 sondern die in gewissem Sinne auch mitverantwortlich bleibt fr eben diese „Größe“ Gottes. Der Feuerbachsche Projektionsvorwurf ist hier aufgefangen: Abraham – und d. h. ja der Mensch in seiner Menschwerdung im Ge53 IV: Joseph, der Ernhrer, S. 439, 444. Vgl. zu diesen Stellen Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 187. 54 Vgl. zum orientalischen Hintergrund dieses Gottesbildes (das im übrigen aber auch an Gen 8,21 erinnert) bei Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 77. 55 II: Der junge Joseph, S. 40, 50. 56 II: Der junge Joseph, S. 40. 57 II: Der junge Joseph, S. 42. 58 II: Der junge Joseph, S. 43. 59 Vgl. Mieths Abwehr des Vorwurfs „sophistischer Theologie“ (M. Dierks) Epik und Ethik, aaO., S. 73, Anm. 12. – Immerhin hat Th. Mann selbst seine Abraham-Interpretation als „ziemlich kecke und geistlich wohl einigermaßen anstößige Definition des ,Bundes’“ einstufen können, vgl. im Brief an K. Kerényi (vom 7. X. 36) in Gesprch in Briefen, aaO., S. 74. 60 II: Der junge Joseph, S. 43. 61 II: Der junge Joseph, S. 42.
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genüber zu Gott und seiner Gottwerdung62 – ist keineswegs „Erzeuger“ dessen, was er „hervordenkt“, aber doch wäre das Hervorgedachte nicht ohne ihn, der es „erkannte, […] lehrte und denkend verwirklichte.63 3. Diese Relation von Menschwerdung und Gottwerdung ist treffend erfasst als „der Ursprung des Bundes“.64 In ihm sind die Bundespartner gegenseitig ansprechbar, ihre Verpflichtungen sind einklagbar, und psychologisch genau leitet Th. Mann hier die Emotionalität des atl. Gottesverhältnisses ab: Aus dem rechtlichen Eingebundensein folgt „die verfluchte Möglichkeit des Bundesbruches, des Abfalls von Gott“,65 und damit verbunden „Schuldgefühl“ und „Gottesfurcht“.66 Das sind die menschlichen, seelischen Konsequenzen, die mit Abraham neu in die Welt eintreten dadurch, dass mit der monotheistischen Erhöhung Gottes zugleich ein menschliches Ich wächst; überspitzt gesagt: „Ich, Abram, und in mir der Mensch, darf ausschließlich dem Höchsten dienen“.67 Wieder vom anderen Ende der Relation her gesehen, bedeutet diese Emotionalität des Bundes für Gott, „eifersüchtig“68 auf dessen Einhaltung 62 63 64 65 66 67
Vgl. Mieth, aaO., S. 72: „Parallelität von Gottwerdung und Menschwerdung“. II: Der junge Joseph, S. 43. II: Der junge Joseph, S. 43. II: Der junge Joseph, S. 47. II: Der junge Joseph, S. 46. II: Der junge Joseph, S. 40. Hinweise zur Interpretation dieser Texte im Zusammenhang der Geschichte Josephs, die Th. Mann ja erzählen will, müssen weitgehend ausgeblendet werden. Es ist in den Geschichten Jaakobs immer zugleich Josephs Vorgeschichte mitzulesen, die darin aus ihrer religiösen Urperspektive heraus beleuchtet wird und in der der unfromm-selbstbewusste und darin doch erwählte junge Joseph alles mit einseitiger Akzentverschiebung verstehen muss – was Th. Mann mit Fleiß und Vorbedeutung anmerkt: „(Dem Joseph gefielt es)“ (II: Der junge Joseph, S. 40); „Joseph, so jung er war […]“ (II: Der junge Joseph, S. 42); vgl. dazu die Erläuterungen bei Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 65. – Seine Erwählung anders als egozentrisch zu deuten, das muss Joseph in folgender Lebenserfahrung erst lernen! Zu beachten ist für die Interpretation also jeweils die Entwicklungsschicht, innerhalb deren jeweils das Erzählarrangement seine Perspektive gewinnt: 1. Ursprüngliche (mythisch vergegenwärtigte) Abrahamsreligion, 2. Jakobs Zwischenstellung im Übergang von den Vätern zu den Israel-Söhnen, 3. Joseph als die moderne Figur in Übermut und reflektierter Distanz – gerade auch rückblickend auf die Religion der Väter; von ihm her sind Ironie und Humor erst legitimiert. – Vgl. diese Erzählschichtung am Beispiel von Isaaks Opferung (Gen 22), von Th. Mann in I: Die Geschichten Jaakobs, S. 101ff. („Die Prüfung“) erzählt, in meinem Beitrag „Gottes Handeln – Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung“ (im vorliegenden Band Kap. B.2). 68 II: Der junge Joseph, S. 46.
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bestehen zu müssen. Th. Mann hat diesem Gottesaffekt noch eigens eine schöne Erklärung dafür abgelauscht, warum in der Jakobsgeschichte69 nach Gottes Anordnung Rahel, die Jakob liebte, unfruchtbar, Lea, die Jakob zurücksetzte, aber fruchtbar bleiben sollten. Th. Mann sieht darin zunächst, von der Anlage seiner Jakob-Charakterisierung her motiviert, eine Strafe für Jakobs „Gefühlsherrlichkeit“.70 Aber dazu gehört auch die theologische Erfassung dieser Reaktion Gottes, denn sie begründet sich aus dem Gottesbund mit Abraham,71 aus der „Wechselseitigkeit der Bezüge“ zwischen Gott und Mensch, worin Gottes „Eifersucht“ mit der „Gefühlsüppigkeit“ Jakobs in Konkurrenz tritt.72 Damit taucht das für den Bundesgedanken nun essentielle Motiv des Sichentwickelns auf, denn Eifersucht ist sozusagen ein früher Entwicklungsstand im wechselseitigen Gottwerden und Menschwerden, der hier gegen Jakob noch einmal ins Feld geführt wird; ein „Wüstenrest“, der allerdings auf die Emotionalität des Bundesverhältnisses im ganzen verweist: „Leidenschaft […], dass gerade erst in der Leidenschaft das tosende Wort vom ,lebendigen Gott‘ sich recht erfüllt und bewährt“.73 Schlägt in der Gotteseifersucht eine Gottesklage kritisch gegen Jakob durch, so hat umgekehrt Th. Mann in Jakobs Trauer über den Verlust Josephs74 eine urmenschliche Gottesklage gegen Gott erstehen lassen. In einer ungeheuerlichen Szenerie wird darin Jakob zu Hiob, der mit Gott um die Entwicklung des Bundes rechtet. Während Eliezer jetzt die Rolle des Bewahrers hergebrachter Theologie und angemessener, die Würde und das rituell Zulässige nicht überschreitender Trauergebärde spielt, steigert sich Jakob in Bundesklage, die von Gott Humanität einfordert: „Sprich nicht von außen Eliezer, sondern von innen! Was denkt sich Gott, daß er mir auflegt, wovon sich mir die Augen verdrehen und ich von Sinnen komme, weil’s nichts für mich ist?“.75 – „Nein, ich bin ohne Besinnung, mein Hausvogt. Gott hat sie mir entrissen, nun höre meine Worte! […] Aber was ist mit ihm, und wo wäre er ohne uns, die Väter und mich? Ist er kurz von Gedächtnis? Hat er vergessen des Menschen Qual und Mühsal um seinetwillen, und wie Abraham ihn entdeckt und hervorgedacht […] Hat er des Bundes vergessen, daß er mit seinen 69 70 71 72 73 74 75
Gen 29, 31. I: Die Geschichten Jaakobs, S. 317. I: Die Geschichten Jaakobs, S. 317f. I: Die Geschichten Jaakobs, S. 318. I: Die Geschichten Jaakobs, S. 319. Gen 37, 33 – 35. II: Der junge Joseph, S. 255.
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Zähnen auf mich knirscht und sich gebärdet, als wäre ich sein Feind? Wo ist meine Übertretung und Missetat? […] Spottet er des Menschengeistes, daß er im Übermut umbringt die Frommen und Bösen? Aber wo wäre denn er auch wieder ohne den Menschengeist? Eliezer, der Bund ist gebrochen […] Gott hat nicht Schritt gehalten – verstehst du mich wohl? Gott und Mensch haben einander gewählt und den Bund geschlossen, auf daß sie recht würden einer im anderen, was sie sind, und heilig würden einer im anderen“.76 4. Jakobs Hiobrede zeigt dann am Ende Kapitels („Jaakob trägt Leid um Joseph“), dass die Kraft des Bundes gerade darin besteht, das erfahrene Leid, das Opfer des Sohnes (hier, wie durchgängig im Josephsroman mit christologischem Anklang und in ntl. Sprache),77 wiederum in die Gottesrelation hineinzubeugen.78 Das Wechselverhältnis des Bundes trägt und erträgt die Gottesklage, versteht Gott also zugleich als majestätisches 76 II: Der junge Joseph, S. 258f. 77 Vgl. II: Der junge Joseph, S. 61: „Hat Gott seinen einigen Sohn dahingeben müssen […]“ – Zu den christologischen Bezügen vgl. die Materialsammlung von T. Schramm „Joseph-Christus-Typologie in Thomas Manns Josephsroman“ in Antike und Abendland 14 (1968), S. 142 – 171. – Für Th. Manns mythische Gesamtsicht ist sehr sprechend die Stelle im Wagner-Aufsatz von 1933 in Leiden und Grçße der Meister, aaO., S. 725, 726: „Die Perspektive reißt auf bis ins Erste und Früheste menschlichen Bildträumens. Tammuz, Adonis, die der Eber schlug, Osiris, Dionysos, die Zerrissenen, die wiederkehren sollen als der Gekreuzigte, dem ein römischer Speer die Seitenwunde reißen muß, auf daß man ihn erkenne, – alles, was war und immer ist, die ganze Welt der geopferten, von Wintergrimm gemordeten Schönheit umfaßt dieser mythische Blick.“ Genannt sei in diesem Zusammenhang auch die Lutherstelle, auf die T. Schramm, aaO., S. 142, hingewiesen hat: „Joseph in Egypten, wie Gen. am 41. geschriben stehet, ist auch gewesen eine figur Christi. Denn Joseph wird von seinen eigenen bruedern vorkaufft, dornach durch die Hure, des Putiphars, des Hoffmeisters Weib, als er ihr nicht folgen wil, so belogen das er ins gefengnis geworffen wirdt. Dornach als Joseph lang im gefengnis gelegen, kompt gott und bringet ihn zw solchen ehren, das er mus Herr und fuerst werden ueber gantz Egyptenlandt“ (Predigten 1526, WA 20, 362, 36 – 41). 78 Damit kehrt Jakob die Gottesverteidigung Eliezers als Vorwurf gegen Eliezers Gottesverständnis, weil er, Jakob, Verteidigung und Tröstung nötig habe, niemals Gott! Denn Gott ist „noch über Gott […] ewig noch über sich selbst!“ (II: Der junge Joseph, S. 262). Klingt diese letzte Wendung durchaus nach mystischer Gotteslehre, so ist doch Th. Manns Theologie nicht mystisch geprägt, sie sucht nicht Einheit oder Identität, sondern Weltgestaltung – und dazu dient der Bundesgedanke. – Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 77f.; 193, erinnert in anderem Zusammenhang an Meister Eckhart, um eine mögliche geistesgeschichtliche Wurzel für Th. Manns Gotteslehre zu erhellen.
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Gegenüber wie als sich in der Menschwerdung des Menschen mitentwickelnden und zu beanspruchenden Partner. Th. Mann hat diese – darin implizit angelegte – Doppelung und Dynamisierung seines Gottesgedankens nicht weiter analysiert, wohl aber hat er ihr anthropologisch stärksten Ausdruck gegeben in Passagen, die an lutherische Theologie erinnern.79 Gottesentdeckung im Bund mit dem Höchsten bedeutet „Gottesfurcht“,80 aber zugleich „Vertraulichkeit und Freundschaft“,81 kurz: ein „simul“ von Fürchten und Lieben Gottes; in der mythischhumorigen Sprache des Josephsromans lautet das dann so: „und tatsächlich hatte Urvater zuweilen eine Art gehabt, mit Gott umzugehen, die das Erstaunen von Himmel und Erde hätte erregen müssen, ohne die Berücksichtigung der verschränkten Besonderheit dieses Verhältnisses. Wie er zum Exempel den Herrn freundschaftlich angelassen hatte beim Untergange von Sodom und Amorra, das war in Anbetracht von Gottes furchtbarer Macht und Größe vom Anstößigen nicht weit entfernt gewesen. Aber freilich, wo sollte es anstoßen, wenn nicht bei Gott, – der es gut aufnahm?“.82 Wieder im Ernst gesprochen, organisiert sich in Abrahams Gottesentdeckung eine Fassung des Theodizeeproblems, die das Gewicht der Frage nach dem Bösen aufheben kann in eine strukturell theologische Lösung. Die Korrespondenz der „Seelengröße“ Abrahams mit dem „Außensein Gottes“83 muss ja doch alles auf den „Letzthöchsten“ zurückführen, wie es Jakobs Gottesklage schon unter Beweis gestellt hat. So holt Th. Mann die Schöpfungsmacht des einen Gottes in die Gottesentdeckung,84 und aus der Sicht Abrahams lässt sich das lakonisch in dem Satz formulieren: „Er (sc. Gott) war nicht das Gute, sondern das Ganze“.85 Gesteigert aber wird diese theologische Lösung schließlich noch in der wirksam offenen, menschlich nachzuerfahrenden Wortbildung von Gottes „Außennhe“.86 Zu diesem prägnant gelungenen Kompositum arbeitet sich die Sprache der Erzählung hindurch über Bildungen wie: 79 Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 139, verweist in anderem Zusammenhang auf Th. Manns Stellung zu Luther; vgl. zu „Thomas Manns Lutherbild“ bei H. Lehnert Thomas Mann, aaO., 1965 (s. Anm. 9), S. 140 – 223. 80 II: Der junge Joseph, S. 43. 81 II: Der junge Joseph, S. 44. 82 II: Der junge Joseph, S. 44. 83 II: Der junge Joseph, S. 44. 84 II: Der junge Joseph, S. 44f. 85 II: Der junge Joseph, S. 45. 86 II: Der junge Joseph, S. 46.
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„Gottes Größe […] außer ihm“,87 Gottes „Außensein“88 und „Außengröße“;89 auch wirkt hier wiederum die „höhere Abschreibekunst“ mit, denn Th. Manns zweiter atl. Ratgeber, Joh. Hempel, hatte den Glauben Israels mit der „Formel Abstandsgefühl: Verbundenheitsgefühl“ bezeichnet.90 Der Roman nutzt diese wissenschaftliche Information und vertieft sie – über die mythische Gottesentdeckung des Urvaters – durch ein literarisch realisiertes, menschheitsgeschichtlich aufgeklärt angelegtes Gottesbild. Die aufgeklärte Perspektive geschieht im Namen Josephs,91 des selbstbewussten, herkunftskritischen, Verantwortung lernenden und zivilisationsgeprägten Spätlings, der sich in der Gottesentdeckung Abrahams seiner unaufgebbaren Vorgeschichte versichert. Aus der Perspektive Abrahams gesagt: Mit Gott „verbunden […] durch die Erkenntnis und geheiligt durch Gottes erhabenes Du- und Da-Sein“.92 Beides: Gottes Gegenüber und seine unbedingte Menschlichkeit bindet der harte und schöne Ausdruck von Gottes „Außennähe“ zusammen. 5. Selbst in dieser Gottesbenennung beruhigt sich die Entdeckung Abrahams nicht. Das „Hervordenken“ nämlich gerät – atl. konsequent – in eine selbstbezügliche Brechung, was den Vorgang der mythisch angelegten Erzählung betrifft. Denn der biblischen Entmythologisierungstendenz93 nun doch Respekt verschaffend, muss konstatiert werden:
II: Der junge Joseph, S. 43. II: Der junge Joseph, S. 44. II: Der junge Joseph, S. 46. Joh. Hempel Gott und Mensch im Alten Testament. Studie zur Geschichte der Frçmmigkeit, Stuttgart 1926, S. 3, 173ff.; vgl. zu dieser Anknüpfung bei Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 76f. und Anm. 16. 91 Hierzu ist noch einmal auf die Erzählschichten hinzuweisen, wie sie exemplarisch auch für die humanisierende und aufklärende Intention in der Erzählung „Die Prüfung“ (I: Die Geschichten Jaakobs, S. 101ff.) voneinander abzuheben sind (s. Anm. 67). Jakob schon, der sich noch mit Abraham religiös und direkt identifizieren möchte, „versagt“ (I: Die Geschichten Jaakobs, S. 104) vor dem geforderten Opfer im Namen Gottes, Joseph humanisiert diese Gottesgeschichte endgültig, sie ist ein „Greuel“ (I: Die Geschichten Jaakobs, S. 105) und gehört als solches Exempel erzählt und interpretiert. Vgl. dazu auch Th. Manns Selbstinterpretation im Vortrag von 1942 in Rede und Antwort in FA 1984, aaO., S. 115: „Aus dem Ursprünglichen und Einfach-Vorbildlichen, dem Kanonischen führte es ja ins Komplizierte, Verwickelte, Späte […]“; vgl. ebd., S. 116 zu „Gottesgreuel“ und „Gottesdummheit“. 92 II: Der junge Joseph, S. 46. 93 Zur Weiterführung des Entmythologisierungsaspekts in der Unterscheidung Joseph – Pharao vgl. bei Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 93; prinzipiell zu 87 88 89 90
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„Es gab von Gott keine Geschichten!“ Der Mythos der Religionen und Götter ist unterbrochen durch die „Geschichtenlosigkeit“ von Abrahams Gott.94 Aber, wo Mythos und monotheistische Aufklärung aufeinandertreffen, da tritt nicht Schweigen ein, sondern ein anderer Modus des Erzählens, der einem entscheidend Neuen gerecht werden muss: Gottes Geschichte betrifft die „Zukunft“.95 Mit dieser eschatologischen Wendung wird Th. Mann der atl. Theologie wahrhaft gerecht – auch wenn sich dies nur als eine Überwältigung des vom Autor beabsichtigten mythischen Programms durch die biblischen Quellen begreiflich machen lassen sollte96 –, und der Roman grundiert von hier aus alle seine theologischen Bezüge mit dem geschichtsoffenen Gottesgedanken. Jetzt erst bekommt die Formel: „Mythos ist Aufklärung“97 ihre entschieden theologisch-kritische Seite. Was Th. Mann bewusst durch die Psychologisierung98 der Charaktere, über den biblischen Stoff hinausgehend und aufklärend gegenüber der eigenen Mythisierung der Räume und Zeiten, leistet, das geschieht theologisch, indem die gerade nicht menschenver-
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Aufklärung und Mythos ebd., S. 40; zur Bedeutung der Träume – wiederum in der Differenz Joseph – Pharao ebd., S. 111f. II: Der junge Joseph, S. 47. Auch die theologischen Informationen zur Eschatologie können von Joh. Hempel bezogen sein, vgl. Hempel Gott und Mensch, aaO., S. 184f. Anm.; vgl. aber vor allem Th. Manns Notiz, die sich im Zusammenhang seiner Mereschkowski-Exzerpte findet und die von H. Lehnert Vorstudien, aaO., (s. Anm. 9), 1963, S. 502, mitgeteilt wird: „Das Neue, das Israel bringt, ist der Gedanke der Zukunft. Osiris war, Tammuz war, aber Messias wird sein“. – H. Blumenberg Arbeit am Mythos, aaO., (s. Anm. 38), S. 158, Anm. 33, ist der Hinweis von H. Lehnert wichtig, Th. Mann habe von Max Weber den Gedanken aufgenommen, dass der Monotheismus Israels notwendig eine Theogonie ausschließe (vgl. dazu H. Lehnert Vorstudien, aaO., 1963, S. 512f. (Blumenberg gibt hier fälschlich den Jg. 1966 an). – Es ist jedenfalls deutlich, dass Th. Mann hier der atl. Entmythologisierung ohne Abschwächung gerecht wird, und dies veranlasst auch G. von Rad in Gottes Wirken in Israel, aaO., S. 302, Anm. 22, seine theologische Kritik unter Vorbehalt zu stellen – was aber nur den Wert einer Fußnote und keine Rückwirkungen auf seine Gesamtinterpretation hat. Nach Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 198, geht Th. Mann in seinen Texten über die eigene theologische Intention hinaus. Die Gesamtinterpretation des Josephsromans, die dadurch bei Mieth einen charakteristischen Bruch erfährt (s. Anm. 8), sollte vielleicht umgekehrt von diesem atl.-theologischen Überschuss ausgehen und ihn in die Intentionen des Autors hineinzunehmen wagen. – Auch G. von Rad Gottes Wirken in Israel, aaO., S. 302, muss natürlich zu der Lösung neigen, dass „der alte Stoff den Dichter gewissermaßen übermocht“ habe! S. o. Kap. II, 1 u. 2. Sehr schön zusammengefasst von Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 32f.
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achtende Zukunft Gottes den mythischen Kreislauf von Typisierung und Wiederholung entkräftigt. Genau dies trifft Th. Manns proklamiertes „humanes interesse“, das das „Religions- und Mythengeschichtliche“ durchdringen soll,99 mit anderen Worten: kritisch aufklärt, und dafür ist die atl. Eschatologie der theologische Impuls in der Gottesentdeckung Abrahams. Aber auch diese Dimension erfährt noch eine weitere Profilierung dadurch, dass Th. Mann die theologischen Konsequenzen nun doch auch des Gottesgedankens nicht auf sich beruhen lässt. Wenn von Gott zu erzählen heißt, seine Zukunft ins Spiel zu bringen, dann gehört zu der damit offenen Verwirklichung die Erfahrung utopischer Differenz: ein „Zug von Erwartung und unerfüllter Verheißung“, ein „Leidenszug“.100 Der „harrende Gott der Zukunft“101 ist folglich unabgeschlossen kommend, und diese Spannung, diesen „Zug des Noch-Nicht“ fasst das Abraham-Kapitel kurzerhand in den Satz: „Gott litt“.102 Nehmen wir hinzu, dass bereits im Schlussabschnitt des „Vorspiels“ vom Gott der Zukunft die Rede geht, dessen „Dinge im Werden waren“,103 und dass Th. Mann, den Josephsroman interpretierend, sogar explizit sagen kann: „auch Gott unterliegt der Entwicklung, auch er verändert sich“,104 so darf diese Gotteslehre, weitergehend als Th. Mann selbst es hat sehen können, mit der Religionsphilosophie in ergänzenden Vergleich gebracht werden, die zur selben Zeit sich gezwungen sah, den Gottesbegriff derart zweifach zu fassen: in Gottes ewiger Ursprünglichkeit und in Gottes mitleidender Entwicklungsfähigkeit – ich meine A. N. Whiteheads Ableitungen von Gottes Ur- und Folgenatur in „Prozeß und Realität“ (1929).105 Rückgreifend auf die zuvor als anthropologisch herausgestellten Implikationen der Gottesentdeckung, lesen sich jetzt Stellen über „das Plötzliche und Grauenhafte“ wie das „segenvoll Regelmäßige“ Gottes,106 99 Vgl. Th. Manns „Fragment über das Religiöse“ (1931) in ber mich selbst in FA 1983, S. 375. 100 II: Der junge Joseph, S. 48. 101 II: Der junge Joseph, S. 50. 102 II: Der junge Joseph, S. 49. Vgl. die Darstellung dieser Textzusammenhänge bei Mieth Epik und Ethik, S. 79ff. 103 I: Die Geschichten Jaakobs, S. 50. 104 „Joseph und seine Brüder“ (1942) in Rede und Antwort in FA 1984, S. 115. 105 A. N. Whitehead Prozeß und Realitt. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1984, bes. 5. Teil. 106 II: Der junge Joseph, S. 42.
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über „Gottesfurcht“107 und „Vertraulichkeit“,108 schließlich über „Seine Außennähe“109 noch einmal in anderem und genauerem Licht. Dass, von Th. Mann her gesehen dazu und den religiösen Sprachraum vorbereitend und aufbauend, die mythischen Hintergrundwelten in Fülle adaptiert werden mussten, ist als Wagnis und rücksichtslose Erfahrungsöffnung zu werten, die sich nichts verstellen und vormachen lassen will. Um auch dies mit Whiteheads Religionsphilosophie zu parallelisieren, hierzu dessen Sentenz: „Die Philosophie darf nicht die Mannigfaltigkeit der Welt vernachlässigen – die Feen tanzen, und Christus wird ans Kreuz geschlagen“.110 Gottesentdeckung – das ist Menschwerdung und Gottwerdung im Wechselverhältnis des Bundes,111 in Nichtidentität und Zusammenhang. Die respektvolle und wachsame Beachtung dieser Weiterentwicklung macht geradezu Th. Manns religiöses Bekenntnis aus, zu dem er sich – nicht zuletzt durch die Arbeiten am mythischen Roman! – doch durchringen und bereit finden konnte: Religiosität „ist Aufmerksamkeit und Gehorsam; Aufmerksamkeit auf innere Veränderungen der Welt, auf den Wechsel im Bilde der Wahrheit und des Rechten; Gehorsam, der nicht säumt, Leben und Wirklichkeit diesen Veränderungen, diesem Wechsel anzupassen und so dem Geiste gerecht zu werden“.112
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II: Der junge Joseph, S. 46. II: Der junge Joseph, S. 44. II: Der junge Joseph, S. 46. Prozeß und Realitt, aaO., S. 604. Vgl. Mieth Epik und Ethik, S. 94f. Rede und Antwort, in FA 1984, S. 115; dazu parallel, wenn auch noch nicht so präzise formuliert, ist die Stelle im Brief an K. Kerényi (vom 7. X. 36), Gesprch in Briefen, aaO., S. 75: „Religion als Gegenteil der Nachlässigkeit und Vernachlässigung, als acht geben, beachten, bedenken Gewissenhaftigkeit, als ein behutsames Verhalten, ja als metus und schließlich als sorgend achtsame Empfindlichkeit gegenüber den Regungen des Weltgeistes“. Dass diese Definition des Religiösen ihre Schwächen hat, dass sie sozusagen zu großflächig angelegt ist gemessen am einzelnen Leben, soll hier nur am Rande vermerkt werden. Eine Szene des Josephsromans, an der diese Grenze vielleicht sichtbar werden kann, ist die ästhetisierende Rolle Josephs zu „Mont-kaws bescheidenem Sterben“ (III: Joseph in gypten, S. 313ff.). Ästhetik ist nicht Moral (vgl. Mieth Epik und Ethik, S. 166 Anm.), vor allem aber längst nicht selbsterfahrene Wirklichkeit, sondern ein – hier humoristisch gesuchter – Zugang zu dieser.
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IV. Das kritische Verhltnis Abrahams Gottesentdeckung bleibt für den Josephsroman bodenständig und dient so der religiösen Fundierung und Identifikation der aufgeklärtintellektuellen Position Josephs. Traumdeutung und Staatsklugheit verdanken sich in Josephs Karriere nicht dunkeln Geheimmächten, sondern der besseren Übersicht, und taktisch geschickt und beharrlich spielt er das noch gegen Pharaos Reformreligion aus. Th. Mann hat – hierin einmal ganz unhistorisch bewusst einen religiösen Grundsatzdisput (in erhabenem, königlichem Stil) zwischen Joseph, dem geistlichen Erben Abrahams, und Echnaton,113 dem Kulturerben Ägyptens, in der „Kretischen Laube“ arrangiert.114 Die Szene wird beherrscht von Josephs humorvoll plaudernder und in jedem Schritt überlegener Gesprächsführung, die sich in ihrem theologischen Kern auf Abrahams Ichwerdung und Gottesentdeckung beruft, die Entdeckung des „Letzthöchsten“115 – und dies wird jetzt souverän von allem orakelhaft Dunkelen abgehoben.116 Gerade die Abrahamsreligion soll als „Gottesverstand“ und „Gottesvernunft“ ins Licht kommen, verbunden mit geistiger Freiheit, in der sie wuchs: „daß sich das Bindend-Musterhafte des Grundes mit der Gottesfreiheit des Ich erfülle“.117 Theologische Aufklärung kommt zustande, weil aus den mythisch-räumlichen Sphären des Oben und Unten, der Abrahamsreligion und Ägyptens, eine zukunfts- und verwirklichungsoffene Vermittlungsfigur aufscheint im „Geheimnis“ der „Vereinigung“ von Geist und Natur: „zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre“.118 Deshalb kann Joseph der letztlich verfehlten Reformtheokratie Echna113 Amenophis, IV: Joseph, der Ernhrer. 114 Drittes Hauptstück des vierten Romans (IV: Joseph, der Ernhrer, S. 133ff.). Vgl. zur historischen Konstruktion H. Mayer Thomas Mann, aaO., S. 210ff. Während die Josephszeit mit der Zeit der Hyksos in Ägypten (um und nach 1700 v. Chr.) verbunden werden muss, und das entspricht der 15.–16. Dynastie, vgl. J. H. Breasted Geschichte gyptens, Wien 1936, S. 326f., ist Echnaton (Amenophis, IV: Joseph, der Ernhrer) auf 1370 – 52 (18. Dynastie) zu datieren (Th. Mann hat das Werk von Breasted benutzt, vgl. H. Lehnert, 1966, aaO., (s. o. Anm. 9), S. 400). Was H. Mayer offenbar nicht einbezieht ist die Tatsache, dass auch diese Geschichtskonstruktion auf A. Jeremias zurückweist, der diese Verbindung nahelegt, vgl. Jeremias Das Alte Testament, aaO., S. 351f.; darauf wiederum hat M. Dierks Studien, aaO., S. 246 hingewiesen. 115 IV: Joseph, der Ernhrer, S. 191ff. 116 IV: Joseph, der Ernhrer, S. 149ff. 117 IV: Joseph, der Ernhrer, S. 151. Vgl. dazu auch Mieth Epik und Ethik, S. 86ff. 118 I: Die Geschichten Jaakobs, S. 47.
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tons mit Abrahams Gottesbund entgegentreten, denn dieser verlangt Weltgestaltung in der gegenseitig verpflichtenden Heiligung.119 Ins mythisch-religiöse Gespräch vertieft, setzt Joseph aufklärend den biblischen Akzent der Außennhe Gottes: „Der ihr (sc. der Sonne) aber die Wege wies, ist ferner als fern und doch nah in demselben Maß – näher als nah“.120 Aus den mythischen Mustern und Vätergeschichten ist die Lehre der Menschwerdung und Gottesvernunft zu ziehen, dazu dienen jene, und dazu werden sie durch Ironie und Humor im Vorgang des Erzählens. Das „Fest der Erzählung“ – und Joseph bereitet es hier vor Pharao! 121 – ist im Gange und eben der Roman selbst: des „Lebensgeheimnisses Feierkleid“.122 In dieser mythischen Wiederholung und theologischen Belehrung kann daher am Ende die Übernahme von Gen 50, 19f. („[…] Ihr habt Böses gegen mich im Sinn gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn[…]“) auch den Josephsroman dominieren: Joseph ist keineswegs wie Gott,123 der nämlich hat Regie geführt, und die Brüder hatten darin die schlechteren Rollen. Ziel aber kann nur die Zukunft der Menschen, nicht die tyrannische Gebärde eines Mächtigen sein:124 „Denn ein Mann, der die Macht braucht, nur weil er sie hat, gegen Recht und Verstand, der ist zum Lachen. Ist er’s aber heute noch nicht, so soll er’s in Zukunft sein, und wir halten’s mit dieser“.125 Aus dem erzählten Mythischen heraus bildet sich der Kontrast von „Gottesdummheit“ und „Gottesklugheit“,126 überholter Vorzeiterfahrung und wacher Gegenwartsgestaltung. Damit ist der Mythos nicht rationalistisch ausgerottet, sondern, wie Adornos „Ästhetik“ – auch im
119 IV: Joseph, der Ernhrer, S. 180ff. 120 IV: Joseph, der Ernhrer, S. 197. 121 Vor allem glänzend im Gesprächseinstieg mit der Erzählung von Jakob und Esau (IV: Joseph, der Ernhrer, S. 159ff.)! 122 I: Die Geschichten Jaakobs, S. 52. 123 IV: Joseph, der Ernhrer, S. 550. 124 Vgl. dazu Th. Manns politische Bezugnahmen und die Friedensutopie im Vortrag zum Josephsroman von 1942 in Rede und Antwort in FA 1984, S. 117: „[…] daß wir ,den Frieden gewinnen’ werden. Das Wort ,Friede’ hat immer religiösen Klang, und was es meint, ist ein Geschenk der Gottesklugheit.“ 125 IV: Joseph, der Ernhrer, S. 550f. 126 Rede und Antwort in FA 1984, S. 116; vgl. dazu Mieth Epik und Ethik, aaO., S. 88f. 103ff., 109, und die vielfältigen Belege in Josephs Auftreten vor Pharao; vgl. auch oben in Anm. 67 u. 90 zur mehrschichtigen Interpretation von Gen 22.
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Blick auf Th. Mann – formuliert hat, „besänftigt“;127 oder anders: „Das Epos ahmt den Bann des Mythos nach, um ihn zu erweichen“.128 Mythos und Kritik – das ist folglich eine Sache auf Gegenseitigkeit, und es könnte die Proportion aufgestellt werden, dass sich kritische Aufklärung zum Mythos verhält wie Literatur zur Theologie. Die Sachund Sprachkundigkeit des einen gilt damit als unentbehrlich für die hergebrachten – und darin ebenso unentbehrlichen – Weltorientierungen des anderen. Doch kann es bei dieser kompromisshaften Verhältnisbestimmung nicht sein Bewenden haben. Denn sie zeigt zwar die Kompliziertheit unseres gebrochenen Traditionszuganges (dem sich Th. Mann mit allem Ernst gestellt hat), nennt aber noch kein Kriterium für eine kritische Bewertung oder Entscheidung im umstrittenen Fall. Ich versuche dazu drei Thesen zum Abschluss: 1. Die vorgeführte literarisch-theologische Bearbeitung des Mythischen zeigt dieses als Ingredienz von Religion, sofern versucht wird, die Abständigkeit des mythischen Welterfahrens wieder anzunähern, um ein Stück Religiosität als menschlich wesentliche Haltung und Verantwortlichkeit wieder ins Recht zu setzen. Es ist evident, dass für Th. Mann dabei nicht theoretisch erst die Rationalität des Mythos nachgewiesen werden muss,129 sondern danach gefragt wird, was Macht über die Menschen hat und wie damit umzugehen sei. Das entspricht eher einer geschichtsphilosophischen als einer theoretischen Einstellung. 2. Das bedeutet für den Mythos: Er kann nicht mehr unbesehen zur Wirkung kommen oder einfach als solcher übernommen werden, sondern er bedarf eines kritisch bewussten Rahmenwerkes, das sich umgekehrt seiner selbst versichert, indem es die mythischen Sprachmöglichkeiten bearbeitend umzusetzen versucht. Das tut Th. Mann, indem er einerseits über das Mythische Sprachzusammenhänge und Weltorientierungen neu erschließt, und indem er andererseits und zugleich damit in theologischer Aufklärung die „Fleischwerdung des Mythos“130 betreibt. 127 Th. W. Adorno sthetische Theorie. Ges. Schriften 7, Frankfurt am Main 1970, S. 277. 128 Adorno Noten zur Literatur, aaO., (s. o. Anm. 16), S. 35. 129 Vgl. das gegenteilige Unternehmen von K. Hübner Die Wahrheit des Mythos, München 1985, hierzu vor allem die Bezüge zu den Arbeiten von E. Cassirer und zum französischen Strukturalismus, bei Hübner, aaO., S. 61ff., 66ff. Ergebnis kann hier immer nur eine mehr oder weniger plausibel nachgewiesene Strukturanalogie von Mythos und Wissenschaft sein. 130 Th. Mann „Über den Joseph-Roman“ (1928) in Rede und Antwort in FA 1984, S. 98.
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3. Die eigentliche Problemstellung lautet dann: Theologie und Religion, wovon Mythos und Kritik, Literatur und Mythos Teilbereiche abdecken; diese aber könnten modellhaft sein für die Humanisierung131 der religiösen Tradition und unsere Aufklärung durch deren Wiederaneignung.
131 Vgl. als Hauptbeleg bei Th. Mann im Vortrag von 1942 in Rede und Antwort in FA 1984, S. 106.
Religion, Kontingenz und christlicher Glaube Zu Niklas Luhmanns Funktion der Religion Allerdings ist durchgesetzte Kritik noch keine systematische Theologie. Die Radikalität des Strukturwandels zur modernen Gesellschaft hin hat in der theologischen Selbststeuerung des Religionssystems noch keine Entsprechung gefunden. Soziologische Analysen können hier nicht einspringen. Ihre ohnehin minimale prognostische Fähigkeit versagt vollends im Bereich kultureller Innovationen.1 N. Luhmann
Religion Das religionslose Zeitalter ist nicht angebrochen, und die säkularistischen Ankündigungen christlicher (protestantischer) Theologie haben sich als falsch herausgestellt. Oder hatten diese etwas ganz anderes gemeint? Hatten sie nicht einfach und ehrlich darauf reagiert, dass die europäischen, christlich-religiösen Traditionen, die ehemals im weltbildlichen Rahmen als Selbstverständlichkeiten abgesichert waren und die noch im 19. Jahrhundert mit Eifer bekämpft und also bewusst negiert werden konnten, nun einfach sanft und kommentarlos verschwanden? In diesem Sinne weltlich gegen religiçs auszuspielen trifft bis heute das Richtige: Den Bruch aufzudecken, der zwischen den religiösen Rahmenselbstverständlichkeiten unserer christlichen Herkunft und den massiven Unsicherheiten unserer kirchlichen Gegenwart klafft. Das reicht bis in die verdächtigen, gettohaft frommen Sprachformen, für deren angemessenes Verständnis heute historische Erläuterungen mitgeliefert werden müssen. Unsicher ist darüber hinaus, wer oder was denn für diese Situation verantwortlich gemacht werden kann und mit welcher Therapie hier zu reagieren wäre. 1
N. Luhmann Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1977, S. 223.
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Dietrich Bonhoeffer jedenfalls hat eine plausible Lagebeschreibung gegeben mit seiner Notiz, die das benennt, was eben heute gerade nicht so ist: „Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf“.2 Niklas Luhmanns religionssoziologische (und sozialphilosophische) Studien3 geben eine überraschend detaillierte und sich dabei intensiv auf Theologie einlassende Diagnose eben dieser Entwicklung zur Moderne, in der die Kirche nicht mehr ,mitten im Dorf‘, sondern eher in den Randzonen der Ballungszentren öffentlicher Meinung zu finden ist. Dort spielen Kirche und Theologie eine wohl gelittene, historisch interessante, aber nicht allzu vital agierende oder gar das Ganze repräsentierende Rolle. Dass mit dieser Einschätzung nicht mehr die alten Fronten und Spielformen von (atheistischer) Wissenschaft contra (konfessions-dogmatische) Theologie verbunden sein müssen, sagt Luhmann ausdrücklich,4 und er erreicht diesen neuen Diskussionsstand durch sein eigenwillig alles in sich saugendes Modell einer funktionalistischen System-Umwelt-Theorie. Diese handelt wie von Politik, Wissenschaft und Ökonomie so auch von Religion, und Luhmann erhebt den Anspruch, damit zugleich die vorfindlichen Wirksamkeiten von Kirche, Theologie und Christentum mit zu erfassen und folglich in ihren Veränderungen erklären zu können. Um die Leistungsfähigkeit dieser Religionstheorie vorzustellen, sollen zunächst drei Grundbegriffe in ihrer interpretativen und diagnostischen Verwendung beobachtet werden: 1. System-Umwelt, 2. Sinn, 3. Teilsystem.
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D. Bonhoeffer Widerstand und Ergebung, hg. v. E. Bethge, München / Hamburg 1964, S. 135 (Brief vom 30. 4. 1944). N. Luhmann Funktion der Religion, aaO., (= FR). Vgl. auch die Thesenreihe und die erste Fassung der Studie zur ,religiösen Dogmatik‘ in K. W. Dahm, N. Luhmann und D. Stoodt Religion – System und Sozialisation, Darmstadt / Neuwied 1972, S. 11ff. FR, 71: „in jedem Falle gehören Pauschalkonfrontationen von Religion und Wissenschaft zu den Überbleibseln einer Entwicklungsphase der Gesellschaft, in der um die Differenzierung von Religionssystem und Wissenschaftssystem noch gekämpft werden mußte […] Der Eindruck trifft zu, daß die funktionalistische Soziologie die Phase einer bloßen Kritik der Religion von Gegenpositionen aus überwurden hat mit Hilfe von Konzeptionen […] die ihrerseits verhindern, daß die Wissenschaft jemals die Funktion der Religion erfüllen kann“.
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1. Religion im System-Umwelt-Modell Systeme – zu denken ist nicht an den idealistischen oder rationalistischen Systembegriff der Philosophie, sondern an den kybernetisch-evolutionistischen – sind dadurch definiert, dass sie aus ,Elementen‘ bestehen, die eine ,Struktur‘ bilden und sich dadurch von ihrer Umwelt abheben.5 System / Umwelt bezeichnet also ein Ordnungsmodell – zu denken wäre an die Modellvorstellungen der Thermodynamik oder der Chaosforschung –, worin die Systemordnung sich aus der größeren Umweltordnung herausgeschält hat. Luhmanns Terminologie zufolge muss statt von Ordnung / Unordnung von Komplexitt, 6 für die Differenz im Grad der Ordnung / Unordnung zwischen System und Umwelt von Komplexittsgeflle 7 und für die herausgehobene Ordnungsleistung des Systems (gegenüber seiner Umwelt) von Reduktion der Komplexitt 8 gesprochen werden. Was in solchen Reduktionen geschieht, ist nichts anderes als eine Auswahl, eine Vereinfachung, evolutionistisch gesprochen ein Akt der Selektion,9 durch den sich ein System am Leben hält und dynamisch verändert. Man kann sagen, solche Auswahlentscheidungen sind unabdingbar notwendig, damit überhaupt etwas ist, d. h. sie gelten universal für Natur, Psyche und Geist, denn eine absolute Komplexität (eine Elementenvielheit ohne jede Strukturentscheidung) ist unvorstellbar.10 Trotzdem aber scheint diese Unvorstellbarkeit in jedem Auswahlakt noch mitzuschwingen. So wie ein Licht sich aus einem dunkel verbleibenden Hintergrund ausgrenzt, hängt an jeder Auswahlentscheidung diese ambivalente Herkunft. Es ist ein neuer Horizont entworfen, aber auf Kosten von Ausmusterungen anderer Möglichkeiten, die zudem auch nur aus dem Dunkel der Unvorstellbarkeit herausragten. Luhmann beschreibt diese Ambivalenz so: „Eine für ein System fungierende Umwelt ist deshalb notwendig eine zweiteilige Rekonstruktion der Umwelt selbst, 5 FR, 13. 6 Vgl. zur allgemeinen Definition von Komplexität N. Luhmann Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987 (=SoSyst.), S. 46: Als „komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann“. 7 FR, 14. 8 FR, 15. 9 FR, 14. 10 Vgl. SoSyst., 48ff.
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ist Horizont und Transzendenz, Erwartung und Enttäuschung, Selektion und Risiko, Ordnung und Zufall“.11 „Unerwartetes, Überraschendes, Enttäuschendes ist nur momenthaft unfassbar wie der Knall hinter dem Rücken; es wird alsbald (nämlich in dem Maße, als Operationen des Systems anlaufen) über Reduktionen, Typisierungen und Normalisierungsstrategien zur Realität“.12 Und genau aus dieser unumgänglichen System-Umwelt-Ambivalenz folgt das „Bezugsproblem aller Religionsbildung“,13 das Luhmann damit in seiner Unüberholbarkeit zugleich bestätigt, aufdeckt und erklärt: „Das, was Religion als Übernatürliches zu erfassen sucht, gehört zur Umwelt des jeweiligen Systems“.14 – Dieser Satz hält das für Luhmann typische systemtheoretische Mittelmaß zwischen Religionskritik und funktionalistischer Apologie der Religion. Denn einerseits muss diese Diagnose ernüchternd wirken: Was der Religion als ,übernatürlich‘ gilt, wird durch kritische Wissenschaft aus dieser Sonderwelt zurückgeholt und darüber aufgeklärt, dass es sich dabei nicht um supranaturale Eigenrechte der Religion, sondern nur um einen Anwendungsfall der System-Umwelt-Theorie handelt. Andererseits aber ist dieser Anwendungsfall Religion so prinzipiell in der System-Umwelt-Strukturbildung verankert, dass ihn die wissenschaftliche Erklärung nicht einfach beseitigen kann. „Das Problem ist unlösbar. Eben darauf beruht seine unabnutzbare Dauer“.15 2. Sinn, Welt und Religion Luhmanns Spezialgebiet ist nun nicht der szientistische (kybernetische) Systembegriff, sondern das Interesse des Sozialphilosophen und Soziologen richtet sich auf „sinnkonstituierende, psychische und soziale Systeme“.16 Diese haben darin ihre Besonderheit, dass menschliches Bewusstsein genauso wie gesellschaftliche Kommunikationsprozesse immer schon Zusammenhnge voraussetzen. Hier gibt es keinen Nullpunkt, kein neutrales Außerhalb, von wo aus ,Sinn‘ definiert werden könnte. Luhmann fasst Sinn also nicht kulturkritisch, nicht weltanschaulich und nicht existenzphilosophisch (wie es mit Ausdrücken wie ,Sinnkrise‘, ,Sinnlo11 12 13 14 15 16
FR, 16. FR, 17. FR, 19. FR, 19. FR, 20. FR, 20. Vgl. ebd., 92f.
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sigkeit‘, ,Sinnsuche‘ etc. zu charakterisieren wäre), sondern funktionalistisch als den immer schon sich selbst implizierenden Zusammenhang, der ,unnegierbar‘ ist und von dem folglich gesagt werden kann: „Auch Unsinn kann nur als Sinn erzeugt werden“,17 oder noch pointierter: „Alles hat Sinn“.18 Dass trotz dieses Zirkels – der sich so und nicht anders durch sich selbst stabilisiert – überhaupt noch etwas erklärt werden kann, will Luhmann in phänomennahen Interpretationen sicherstellen, die den sinnhaften Zusammenhang ,enttautologisieren‘.19 Weil in ,selbstreferentiellen‘ Systemen20 ihr Sinnzusammenhang nicht vergegenständlicht oder neutralisiert werden kann (was die Theologie wohl weiß und auf ihre Weise schon immer zum Ausdruck gebracht hat!), besteht nur die Analysemöglichkeit der Funktionsbestimmung. Ihr einziges Maß ist ihr Erfolg, ob auf dem gegebenen Entwicklungsstand von Individualität und Gesellschaft etwa Erhellendes zu Selbstverständnis, Schwierigkeiten und Arbeitsabläufen der gelebten und gedachten Religion beigetragen werden kann. Angewendet auf das „Bezugsproblem der Religion“21 kommt es dadurch zum zweiten Schritt der Religionsanalyse, indem die StrukturUmwelt-Ambivalenz jetzt modalbegrifflich und mit Anleihen aus der Terminologie Edmund Husserls22 neugefaßt und verfeinert werden kann: Der Hintergrund, aus dem die Auswahlentscheidungen bei Systembildungen sich herausheben (,Reduktion von Komplexität‘), bleibt in einer Weise gegenwärtig, die Luhmann mit der modalen Differenz von Mçglichkeit und Wirklichkeit benennt. Es kommt zu „Verweisungsüberschüssen,“23 die sich diesem Hintergrund verdanken. Was daraus hervorgeht (über Auswahlentscheidungen, ,Selektionen‘) heißt Sinn, und umgekehrt verweisen diese Leistungen auf ihr „Woraus“ – nämlich die Welt als ihren hintergründigen „Gesamthorizont“.24 Die System-Umwelt-Struktur ist damit in den weiteren Umfang einer in der Differenz FR, 21. SoSyst., 110. SoSyst., 112. FR, 23. FR, 25; vgl. 19. Vgl. zum Terminus ,Appräsentation‘ bei E. Husserl Phnomenologie der Lebenswelt. Ausg. Texte II, hg. v. K. Held, Stuttgart 1986 (Reclam 8085), bes. S. 186ff. („Die fremderfahrende Appräsentation“); vgl. auch K. Held Art. „Appräsentation“ in HWP 1 (1971), S. 458f. 23 FR, 21. 24 FR, 22.
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von Wirklichkeit / Möglichkeit wirksamen Welt eingezeichnet, und was darin geschieht, konstituiert sich als Sinn. Die Ambivalenz der Religion nun kommt dadurch zum Zuge, dass die Hintergründigkeit der Welt zweifach anwesend gedacht werden soll: In direkter Thematisierung (,Repräsentation‘) und in indirekter, mitlaufender Abwesenheit (,Appräsentation‘). Dass beides gegenwärtig gehalten werden kann – das garantiert und leistet die Religion.25 Denn der direkte Zugriff von Gegenstandsbenennung, Diskussion und Realisierung des Gemeinten ist so gar nicht in der Lage, etwas zu bezeichnen, was eigentlich nicht zu bezeichnen ist, dessen Ausgeschlossensein trotzdem aber mitschwingt und insofern wirksam bleibt. Genau das fangen die Religionen (,Weltanschauungen‘, ,Ideologien‘) auf, sie ermöglichen Kommunikationen dort, wo die gängigen (repräsentativen!) Zeichen keine Kraft haben, wo der Welthorizont in seiner Hintergründigkeit aber eine Bearbeitung verlangt; mit anderen Worten: Aus der Appräsentation kann in den Chiffren der Religion eine Repräsentation gemacht werden;26 aus dem andrängend Ungeheuerlichen spricht der Gott des Wetters, aus der ekstatischen Glückserfahrung ein Dionysos! Religion lebt von der paradoxen Situation, etwas sagen zu müssen, was sich nicht sagen lässt: „Die über Appräsentation im Prozessieren von Sinn ständig implizierte, ständig in Bezug genommene Welt bleibt unformulierbar, und genau darauf beziehen sich die Formulierungsprobleme der Religion“.27 Auch hier bleibt es bei der Mittelstellung zwischen Religionskritik und Apologie der Religion, denn die Orts- und Funktionsanweisung für religiöse „Chiffrierung“ steht in einem „Leerhorizont“,28 und beides meint die problematische Sonderstellung der Religion. Sie hat zwar eine gesellschaftstheoretisch angebbare Funktionsstelle, nimmt diese notwendigerweise aber so wahr, dass sie „kompensiert“,29 was die Gesellschaftsentwicklung in der Rationalität ihrer Repräsentationen, die als Zeichen immer auf ,etwas‘ verweisen, auslassen muss. Religion operiert folglich außerhalb dieser gesellschaftlichen Rationalität, das Thematisieren der Appräsentationen in Chiffren bedeutet, dass es sich dabei nicht um echte Zeichen handeln soll,30 sondern um den Vorgang von „Sakra25 26 27 28 29 30
FR, 22ff. FR, 25f. FR, 25. FR, 26, 33. FR, 25. FR, 33.
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lisierung“,31 also einer nicht-rationalen Verarbeitungsform, die – religionsgeschichtlich und religionssoziologisch gesehen32 – in ,Dualen‘ auftritt. Zu denken wäre beispielsweise an gute / böse Geister, worin die horizonthafte Appräsentation in sakraler Dualisierung aufgefangen und bearbeitbar gemacht würde. Luhmann nennt diese spezifische Leistung der Religion „Repräsentation und Gegenrepräsentation“,33 und dadurch stoppt die Religion offenbar den Regress in immer weitere Appräsentationen, der durch je neue Repräsentationen sonst unvermeidlich in Gang kommen muss. Die Religion steht im „Leerhorizont“, also in einem aufgelösten Hintergrundzusammenhang, der dann keine Weiterungen mehr zulässt. Die Leistung der Religion ist zugleich ihre Begrenztheit, ihre Chiffren verweisen konsequent eigentlich auf ,nichts‘, sonst käme es ja zum erneuten Appräsentationsproblem. Der Welthorizont ist damit keineswegs negiert, er ist in einem bestimmten Sinn entthematisiert, weil Religion sich dann außerhalb zusätzlicher Verweisungen befindet; sie besetzt den Horizont, so dass er ,leer‘ erscheinen, also auf nichts Weiteres mehr verweisen kann. Chiffren geben folglich – so will es Luhmann – gar keine ,Relation‘ mehr an,
31 FR, 26. 32 Luhmann bindet seine Auslegung der religiösen Duale hier an V. Turners Theorie des religiçsen Rituals, vgl. FR, 25, Anm. 31. 33 FR, 26. Luhmanns Terminologie ist an diesen entscheidenden Stellen nicht ganz durchsichtig, zumal kurz vorher auch von ,Nachrepräsentieren‘ (FR, 25) die Rede war. Überhaupt sind diese Abschnitte äußerst gedrängt geschrieben und nur im Vergleich von FR, 24 – 26 mit FR, 33 zu verstehen. Mein Vorschlag geht dahin, die religiöse Leistung von Repräsentation / Gegenrepräsentation nicht einfach analog zu der von Repräsentation / Appräsentation zu sehen, sondern als eine Unterdifferenzierung, d. h. die allgemein zu erwartende Appräsentation wird allein in der Religion durch eine spezifische Repräsentation / Gegenrepräsentation verarbeitet. Diese religiöse Dualisierung könnte als ganze mit dem Stichwort des ,Nachrepräsentierens‘ gemeint sein; außerdem hat diese Interpretation den Vorteil, dass die ,professionelle Dualisierung‘ dann in Kap. 3 FR direkt im Anschluss an die religiöse Repräsentation / Gegenrepräsentation verstanden werden kann. Luhmann selbst klärt diese Verbindungen nicht auf. Dem Gespräch mit Detlef Pollack (Leipzig) verdanke ich die Problematisierung meiner Interpretation; es könnte nämlich auch so gedacht werden, dass Repräsentation / Appräsentation und Repräsentation / Gegenrepräsentation sich entsprechen sollen, was allerdings beim Verständnis der religiösen Dualisierungen dann Schwierigkeiten bereitet.
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sondern einfach sich selbst.34 Dies also ist die Funktion der Religion im Sinnsystem, von Luhmann ist „das Heilige mit unheiligen Mitteln“ analysiert35 und damit auf einen Begriff gebracht: „Religion ist demnach […] für das Gesellschaftssystem die Funktion, die unbestimmbare, weil nach außen (Umwelt) und nach innen (System) hin unabschließbare Welt in eine bestimmbare zu transformieren“.36 3. Religion als Teilsystem Die beschriebene Transformierungskraft der Religion ist nun geschichtlich gesehen und in verschiedenen Gesellschaften betrachtet ganz unterschiedlich ausgefallen, und es ist eine der Stärken von Luhmanns Diagnosen, dass er Religion immer in diesen Verschiedenheiten, d. h. immer zugleich auch religionsgeschichtlich zu analysieren versucht. Sinnsysteme sind evolutionäre Errungenschaften37 und folglich in schwierigen Verschiebungen und Ungleichzeitigkeiten in die gesellschaftliche Entwicklung einbezogen. Darin bleiben sie wirksam, auch wenn die gesellschaftlichen Bedingungen sich verändern. Wie das gegenseitige Wechselverhältnis ausbalanciert wird, ist dann gerade ein Thema systemtheoretischer Art, das aber schon voraussetzt, dass die Gesellschaft als Gesamtsystem anzusetzen ist, das sich in Teilsysteme zerlegt, für die sich dadurch komplizierte Umweltbeziehungen untereinander und zum Gesamtsystem ergeben.38 Trotz dieser recht unübersichtlichen Lage versucht Luhmann auch hier erhellende Bestandsaufnahmen, die mehr oder weniger grob aus34 FR, 33. Auf die erstaunliche Parallele dieser Fassung der religiösen Chiffrierung zur Religionsphilosophie von K. Jaspers sei nur hingewiesen, vgl. z. B. K. Jaspers Kleine Schule des philosophischen Denkens, München 1965, S. 132: „Die Bedeutungen, die nicht aufgelöst werden können durch Aufzeigen dessen, was sie bedeuten, nennen wir Chiffren. Sie bedeuten, aber bedeuten nicht Etwas. Das Was ist nur in der Chiffre, nicht ohne sie“. 35 FR, 33. 36 FR, 26. 37 Vgl. SoSyst., 92. 38 Vgl. Luhmanns These in Kurzfassung in Dahm, Luhmann und Stoodt Religion – System und Sozialisation, aaO., S. 11 (These 3): „[…] Im Laufe der gesellschaftlichen Evolution werden Religionssysteme im Gesellschaftssystem ausdifferenziert als Teilsysteme mit besonderen Funktionen neben Politik, Wirtschaft, Familie, Wissenschaft. Die Stärke und die Ebenen der Ausdifferenzierung sowie der Grad an Teilsystemautonomie in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Funktionen sind evolutionär variabel und erreichen heute ein Ausmaß ohne historische Parallelen“.
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fallen und vor allem historisch und religionsgeschichtlich im Einzelnen überprüft werden müssten. Der illustrativen und diagnostischen Tendenz nach ist aber ein Erkenntnisgewinn deshalb unbestreitbar, weil es Luhmann gelingt, die moderne Gesellschaftsveränderung auf die „Krise der Religion“39 abzubilden. Die sich oft spielerisch und wie nebenbei ergebende Beispielfülle hat es jedenfalls in sich, Mitbetroffene der „Krise der Religion“ werden hier tatsächlich „soziologische Aufklärung“ finden und – bei aller notwendigen Kritik des Funktionalismus – doch häufig die Phänomenanalyse mit einem „genau so ist es!“ nur bestätigen können. Das wichtigste Orientierungsmodell in historischer Sicht stellt die Dreistufigkeit von ,segmentr‘ gegliedertem, ,stratifiziertem‘ und schließlich ,funktional differenziertem‘ Gesellschaftssystem dar.40 Der Zeit der Stammesreligionen und gelebten Mythen entspräche die noch ungeschichtete, einfach sich zerlegende „Gesellschaftsformation“,41 den Hochreligionen entsprächen die gesellschaftlichen Hierarchien, den zweitausend Jahren Christentum dann die offenbar rasant zunehmende Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme, die gegenseitig Ansprüche stellen und mit eigener Anpassung und Sensibilität auf diese Veränderungen des Ganzen reagieren müssen. Religion verschwindet dadurch nicht, aber sie wird zwangsläufig ,reflexiv‘,42 d. h. sie muss sich nach außen (Umwelt: gegenüber Politik, Wissenschaft, Wirtschaft etc., womit sie keineswegs identisch ist!) verteidigen, einen eigenen Funktionsteil besetzen, und sie muss nach innen (System) diesen Ansprüchen genügen können und dazu eine ,religiöse Dogmatik‘ ausbilden, wissenschaftliche Theologie, Akademien, Volksbildung, geeignete Verständigungsformen etc. fördern. Das Christentum und die Kirchen haben seither diese Herausforderungen nicht nur angenommen, sondern im Prozess der Säkularisierung auch mit betrieben43 – bis in die gegenwärtig schwer bestimmbare Krisensituation hinein, ob denn die christliche Religion mit den Höchstleistungen ihrer reflektierten Dogmatik und den angepassten kirchlichen Formen nicht an eine Grenze gekommen ist, die dadurch entsteht, dass die anderen Teilsysteme und erst recht das Gesamtsystem Gesellschaft die 39 FR, 17. 40 Vgl. in unterschiedlichen Belegkontexten FR, 37f., 40, 55, 89, 93, Anm. 51, 102. 41 FR, 37. 42 FR, 41. 43 Vgl. dazu FR, Kap. 4, und die Darstellung bei F. Wagner Was ist Religion?, Gütersloh 1986, S. 234 – 241.
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religiösen Angebote nur noch wie Dienstleistungen entgegennehmen, den eigentlichen Anspruch aus dem gesellschaftlichen Bezugsproblem der Religion aber nicht mehr nachvollziehen können. Das könnte rein gesellschaftsanalytisch durch den Zwang zur Ausdifferenzierung von immer eigengesetzlicheren und eigensprachlicheren Teilsystemen in der Moderne und bis in die Gegenwart erklärt werden, könnte aber auch seinen tieferen Grund in einer Unfähigkeit der Theologie bzw. der Kirchen haben, sich auf die neue Situation wirklich einzustellen. Auch hier bewahrt Luhmann seine Mittelstellung, ohne Entscheidungen treffen zu wollen. Religion muss eigentlich weiterhin als unersetzbar gelten, denn nur sie ist ja in der Lage, die „Simultaneität von Unbestimmbarkeit und Bestimmtheit (oder: Transzendenz und Immanenz)“ angemessen zu verarbeiten,44 und gemäß dem Sinnbegriff ist Religion „selbstsubstitutiv“,45 d. h. Religion kann immer nur durch Religion ersetzt werden, „funktionale Äquivalente“ sind also daran zu prüfen. Luhmanns Bemerkungen in dieser Sache könnten durchaus ein überzeugendes Instrumentarium zur Unterscheidung von Religion und Trivialreligion46 abgeben. Denn wenn die Bedingung für funktionale Äquivalenz durch die Gleichzeitigkeit von Transzendenz und Immanenz definiert ist und wenn ,Drogen‘ eine Vereinseitigung des einen und politische ,Idolatrie‘ (Luhmanns Beispiel: Marxismus) eine Vereinseitigung des anderen darstellen, dann gilt die Konklusion: „Man müßte, um die Funktionsstelle der Religion zu erreichen, Marxismus und Rauschsucht kombinieren können, aber Versuche dieser Art sind bisher nicht sehr überzeugend ausgefallen“.47 Was nun das moderne Religionssystem selbst angeht, so gibt Luhmann für die europäischen Verhältnisse eine diagnostisch interessante Aufgliederung, die wiederum den Beziehungsstrukturen der Systemtheorie genau entspricht: Die „Beziehung“ zwischen Teilsystem und Gesamtsystem heißt „Funktion“ – und dieser entspricht im Falle der christlichen Religion die Kirche;48 die „Beziehungen“ zu den „anderen 44 FR, 46. 45 FR, 46, 49. 46 Vgl. meinen Vorschlag zur Abgrenzung von Trivialreligion in Es mssen nicht Engel mit Flgeln sein. Religion und Christentum in der Kinder- und Jugendliteratur, hg. v. A. Werner, München / Mainz 1982, Kap. 3. 47 FR, 47. 48 FR, 54 – 56. Luhmann registriert durchaus, dass Kirche und Organisation nicht einfach gleichzusetzen sind. Kirche ist kein Verein (FR, 152f.), also eher ein Subsystem im Teilsystem Religion. Vgl. dazu vor allem FR, Kap. 5.
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gesellschaftlichen Systemen“ in der „systeminternen Umwelt“ heißen „Leistung“ – und dieser entspricht im Falle des Christentums die Diakonie;49 die Beziehung des Teilsystems auf sich selbst ist schließlich „Sache der Reflexion“ – und dieser entspricht im Religionssystem die Theologie.50 Mit dieser funktionalen Aufgliederung ist Luhmann all den Schwierigkeiten auf der Spur, die wir als Theologen, in kirchlichen Funktionen, als Gemeindemitglieder, sozial engagierte Bürger, Studenten etc. nur zu gut kennen und für die keine glatten Lösungen erwartet werden können, eben weil der Auffächerungs- und Absonderungsprozess in Teil- und Subsysteme anhält und sich ständig noch perfektioniert. So sieht Luhmann die Kirchen beispielsweise als „,Auffangvorrichtungen‘ für unorganisierbar hohe gesellschaftliche Komplexität“ (welch eine untheologische und doch irgendwie treffende Formulierung!), die diese ihre Funktion nur bewältigen können, wenn sie sich selbst weiter differenzieren (wie wir es wiederum allzugut kennen: vom Umweltpfarramt bis zum Motorradgottesdienst), so dass sich dann die eigentlich „geistliche Kommunikation“ der Kirche gegenüber ihren Handlungsfeldern (Gemeindearbeit, Krankenhäuser, Kindergärten) verselbständigt und isoliert.51 Die Folge ist, dass „heute zunehmend eine kirchenpolitisch unabhängige, eigenständige Dogmendiskussion“ aufkommt,52 die die Selbständigkeit der Theologie gegenüber der Kirche bzw. auch die 49 FR, 55 – 58. In FR, 112 spricht Luhmann auch von ,karitativen Aufgaben‘. Der Begriff ,Diakonie‘, neben dem noch ,Seelsorge‘ rangiert (FR, 58), bleibt schwer abzugrenzen, das zeigt auch FR, 58, Anm. 85. Dennoch: Die ,Leistungen‘ des Religionssystems werden heute überwiegend in diesem persönlichen und sozialen Feld wahrgenommen, und das will Luhmann gerne mit einem zusammenfassenden (kirchlich-theologischen) Terminus aufspießen. 50 FR, 55f., 59. 51 Vgl. dafür jetzt exemplarisch die Gegenposition einer soziologisch belehrten, kirchenleitenden Studienarbeit der EKD: Christsein gestalten. Eine Studie zum Weg der Kirche, 4. Aufl., Gütersloh 1987 – und die gemeindeorientierte theologische Antwort, die – metakritisch zu Luhmann – die Differenzierungsängste und funktionalistischen Reaktionen gerade verhindern will, von M. Welker Kirche ohne Kurs? Aus Anlaß der EKD-Studie Christsein gestalten, Neukirchen / Vluyn 1987. Welkers Kritik an Luhmann gilt eigentlich weniger der Situationsanalyse, sondern richtet sich vor allem gegen Luhmanns Verbesserungsvorschläge, vgl. M. Welker „Die neue ,Aufhebung der Religion‘ in Luhmanns Systemtheorie“ in Theologie und funktionale Systemtheorie, hg. v. M. Welker Luhmanns Religionssoziologie in theologischer Diskussion, Frankfurt am Main 1985, S. 103. 52 FR, 153.
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Unkontrollierbarkeit solcher Dogmatik durch übergreifende Instanzen des Religionssystems manifest werden lässt. Religion als Teilsystem – das ist eine Antwort auf die gesellschaftliche Entwicklung in der Moderne, aber rückwirkend auch ein Konflikt innerhalb des Teilsystems selbst. Luhmann versteht es, die Konfliktfelder gebündelt beim Namen zu nennen: „Wie kann die Funktion des Religionssystems erfüllt werden, obwohl die Theologie reflektiert. Oder: Wie kann die Theologie die Identität des Religionssystems reflektieren, obwohl sie durch Diakonie, Seelsorge, Moralkasuistik ständig kompromittiert wird. Oder: Wie kann diakonische Arbeit sinnvoll durchgeführt werden, wenn sie in ihren formalen Zielen an die Kirche gebunden bleibt“.53 Hinter allem aber steht die Entscheidungsfrage (die Luhmann letztlich nicht entscheiden will und kann), ob es auf Grund der modernen Entwicklung überhaupt noch durchzuhalten ist, dass das Religionssystem auf seine Weise das Ganze repräsentiert, Welt interpretiert, nicht nur die eigene Innenwelt für die Mitglieder des Subsystems reproduziert. Dann nämlich würde die ,gesellschaftliche Funktion‘ des Religionssystems aufgegeben,54 Kirche und Theologie hätten sich dann selbst auf einen Verein reduziert, dessen Weltinterpretation durch das Mitgliedschaftskriterium des richtigen ,Stallgeruchs‘ dementiert würde.
Kontingenz und Christologie Mit dem 3. Kapitel55 von Funktion der Religion geht Luhmann am weitesten in die Theologie hinein – bis in christologische Kritikvorschläge für eine künftige, vielleicht doch nicht ausgeschlossene Bewältigung der Krisen und Problemdiffusionen, die die nachneuzeitliche Moderne für Religion, Kirche und Theologie mit sich gebracht hat. Luhmanns Kernbegriff an dieser Stelle ist ein zugleich uralter und radikal moderner: Kontingenz. Seit Aristoteles philosophisch geprägt, im Mittelalter in diffizilen Modalanalysen weitergetragen und in der Gegenwart fast zu einem Sammelwort für höchste theoretische Ansprüche, aber auch für ein Zeitgefühl und seine neue Art von Selbsterkundung geworden – ist Kontingenz (oft synonym gedacht mit Geschichte, Zeitlichkeit, Zufall, Dasein, Existenz) zugleich von verführerischer 53 FR, 62. 54 FR, 113f. 55 „Transformation der Kontingenz im Sozialsystem der Religion“ (FR, 182 – 224).
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Unklarheit und von logischer Präzisionsarbeit gezeichnet. Luhmann nimmt beides auf, und das nicht zu Unrecht, denn er setzt den Kontingenzbegriff in die Mitte seiner systemtheoretischen Diagnosen und will damit gerade die Leistung von Religion treffen und abdecken, die nicht in ausgegrenzter Begriffsgenauigkeit ihr Wesen hat. Bestimmbarkeitstransformation56 – so war bisher die Funktion des Religionssystems bezeichnet, und was dies praktisch bedeutet, soll durch den Kontingenzbegriff ermittelt werden. Was in einem bestimmten gesellschaftlichen Sektor als Appellationsinstanz in Kraft steht, Vielheiten übergreift und sich ganz generell zur Verfügung hält, ist wie ein Stichwort, wie eine Schlagzeile zu fassen, worin alles schon enthalten sein muss, was dann im Einzelfall informierend, kommentierend und eine Sache erschließend zum Zuge gebracht werden kann. Solche Stichworte, die in Teilsystemen der Gesellschaft (wie Politik, Wirtschaft, Recht, Religion) regieren, nennt Luhmann Kontingenzformeln.57 Beispiele dafür sind: ,Gemeinwohl‘ oder ,Freiheit‘ (Politik), ,Knappheit‘ (Wirtschaft), ,Gerechtigkeit‘ (Recht) – und Gott! 58 Definiert wird Kontingenz ganz knapp durch Bildungen wie „auchanders-möglich-sein-können“,59 d. h. in der Kontingenz wird die bewusstgewordene Modalisierung unserer Lebenserfahrungen erfasst. Was kontingent ist, ist weder notwendig noch unmöglich,60 in seinem Auftreten steckt aber die Gleichzeitigkeit von Wirklichem und Möglichem,61 also wiederum die Ambivalenz, die zur Bestimmung von Religion geführt hatte. Insofern Kontingenz aber auch die selektiven, sinnkonstituierenden Akte (zugespitzt auf die Praxis eines Teilsystems) bezeichnet,62 spielt auch Notwendigkeit hier mit hinein, denn dass Auswahlentscheidungen (,Reduktion von Komplexität‘) unumgänglich sind, gehört zu den Prämissen der Systemtheorie. 56 Luhmann gebraucht ,transformieren‘ (FR, 26) und ,Transformation‘ (FR, 78, 182) offenbar ohne Bedeutungsunterschied. 57 FR, 82. 58 Vgl. FR, 82, 90, 126 u. ö. 59 Vgl. in verschiedenen Versionen FR, 82, 154, 177, 187 und SoSyst, 152. Zur modallogischen Stellung der Kontingenz vgl. den Art. „Möglichkeit“ von K. Jacobi in Handbuch phil. Grundbegriffe. Studienausgabe, Bd. 4, S. 930 – 947; S. 932: „Kontingenz als Möglichkeit zu sein und nicht zu sein […] ein unbestimmter Modus“. 60 FR, 187. 61 FR, 186 „Simultanrepräsentation einer Ebenendifferenz“. 62 Vgl. SoSyst., S. 47.
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Während Kontingenz alternative Möglichkeiten gerade nicht ausschließt, also immer potentielle Negationen des Wirklichen offenhält, ist die Selektion zwangsläufig mit entschiedenen Negationen, die so gesehen auch unvermeidlich sind, verbunden. Genau diese Zusatzproblematik steckt mit in der nun umfassenderen Definition von Kontingenz: „Als Kontingenzformeln wollen wir Symbole oder Symbolgruppen bezeichnen, die dazu dienen, die unbestimmte Kontingenz eines besonderen Funktionsbereichs in bestimmbare Kontingenz zu überführen. Über Kontingenzformeln arrangiert sich ein Funktionssystem mit jeder Art von Negierbarkeit, nämlich mit der in der Sinnkonstitution festgelegten Tatsache, dass die Möglichkeit zu negieren als solche nicht negiert werden kann. Modaltheoretisch gesehen handelt es sich mithin darum, jenes Element von Notwendigkeit zu lokalisieren und zu interpretieren, das in der Negierbarkeit aller Modalformen impliziert ist, und es als instruktive Prämisse einer selektiven Praxis auszunutzen“.63 1. Doppelte Kontingenz Angewandt auf Sinnsysteme (psychische und soziale Systeme) ist der Kontingenzbegriff noch einmal daraufhin zu problematisieren, dass Interaktionsphänomene zu erfassen sind, deren Partner auch je für sich im Blick auf Erwartungen reagieren: die „doppelte Kontingenz aller Sozialität“.64 So gesehen ist Kontingenz aus dem komplizierten Verhältnis von Ego und Alter(-Ego) herzuleiten.65 Das sich dabei zuerst einstellende Bild von zwei Partnern, die z. B. miteinander Ball spielen, ist deshalb ungenügend, weil sich beide in diesem Fall nicht mitverändern, sondern feste Partner für etwas bleiben. Beschreibungen wie „Wechselwirkung“ oder „Spiegelung“66 sind folglich unpassend, denn, wie Luhmann treffend sagt, im immer mitgedachten Verhalten des Gegenübers wird letztlich die „Beziehung […] selbst zur Reduktion von Komplexität“.67 Das ist vielleicht so zu veranschaulichen, dass in einem komplizierten Spiel (nicht mehr Ballwerfen, sondern Schach spielen!) die Miterwartung 63 FR, 201. 64 FR, 81. Diese Begriffsbildung spielt im Übrigen in Funktion der Religion keine entscheidende Rolle mehr. Ich beziehe mich im Folgenden auf Kap. 3: „Doppelte Kontingenz“ von Soziale Systeme und möchte diese Begriffsbestimmung dann für die Interpretation von Kap. 3 Funktion der Religion heranziehen. 65 Ausgehend von T. Parsons. Vgl. SoSyst., S. 148ff. 66 SoSyst., 153. 67 SoSyst., 154.
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und kalkulierte Reaktion des Gegenübers, das selbst wiederum genauso vorgeht, irgendwann an der Denkkapazität scheitert oder einfach abgebrochen werden muss (man muss zu einem bestimmten Zeitpunkt ,ziehen‘), oder das Spiel wird als solches zum Problem, und man schreibt ein Buch über Schach! In einem existentiellen Beispiel ließe sich sagen, dass eine menschliche Beziehung so komplex werden kann, dass einer irgendwann sagen muss: Du bist mein Freund! Und diese Art von Komplexitätsreduktion ist durch ihre „Unberechenbarkeit“ ausgezeichnet, die – in Luhmanns Sprache gesagt: „mit Freiheitskonzessionen aufgefangen“ wird.68 Freiheit, Auswahl (Selektion) und Entscheidung (Reduktion von Komplexität bzw. Kontingenz) sind nun Begriffe, die in der Existenzphilosophie und Existenztheologie das besondere existentielle Selbstverhältnis bezeichnen. Entscheidungen gehen nämlich nicht mit deduktiver oder analytischer Notwendigkeit vor sich, sondern sie sind kontingent in dem Sinne, dass sie unberechenbar – auf Grund von Freiheit, wenn auch keineswegs beliebig – auftreten. Entscheidungen stehen also immer in einem Zusammenhang vorgegebener Wirklichkeit, worin andere Mçglichkeiten mitgehen und worin sich mit gewisser Notwendigkeit die Neufassung des gesamten Beziehungsgeflechts aufdrängt. Dies eben macht die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins aus, seine Existenz; mit Luhmann formuliert: „Der Begriff (sc. Kontingenz) bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist“.69 2. Soteriologische Dualisierung Luhmann leitet nun in Funktion der Religion (Kap. 3) seine spezielle religionstheoretische These wiederum dadurch ein, dass er eine weitere soziologische Mustervorstellung ins Spiel bringt: „professionell bedingte Dualisierungen“.70 Diese schließen sich offenbar71 der Struktur nach an die religiöse Repräsentation / Gegenrepräsentation an. Was dort als re68 69 70 71
SoSyst., 156. SoSyst., 152. FR, 194. Luhmann selbst stellt diesen Zusammenhang zur 1. Studie nicht her. Vgl. Fußn. 33.
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ligiöse Qualität der Chiffrierung ausgemacht wurde, erscheint jetzt als die „Neigung, Ganzheiten als Dualität eines Gegensatzes auszudrücken“.72 Dies wird in Teilsystemen praktiziert, die professionell auf diese Weise Kontingenz transformieren, in bestimmten Berufen, Rollen, Sparten, wie z. B. Ärzte bezüglich des Duals ,krank / gesund‘.73 Angewandt auf das Religionssystem ergibt sich, dass das grundreligiöse Gegensatzpaar sakral / profan fortentwickelt gedacht werden muss in eine verdoppelte Dualität von Leid / Heil und Snde / Gnade.74 Besonders interessant ist dabei nun die modaltheoretische Verteilung, die nämlich nicht eindeutig als notwendig / kontingent innerhalb der beiden Duale vorgenommen werden soll sondern als ,Mischung‘ jeweils auftritt: Negierbar und insofern kontingent bleiben Leiden und Sünde, aber in der menschlichen Relation zu Gott auch Heil und Gnade; obwohl doch auch Leiden und Sünde ihre Unumgänglichkeit haben, so wie Heil und Gnade von Gott her gesehen gerade nicht negierbar und nicht beliebig erscheinen. Und genau in diesen schwierigen Übergängen vermittelt die Professionalität des Priesters75 – jedenfalls in der traditionellen Teilsystemfunktion der Hochreligionen für die Gesamtgesellschaft.76 Gerät aber die neuzeitliche Theodizee-Frage in den Blick (was sich offenbar in der hebräisch-christlichen Religionsentwicklung anbahnt), so tritt die Dualisierung selbst in den Bereich theologischer Thematisierungen. Die Negationsfrage: Es könnte auch anders sein! wird umkehrbar und auf Gott selbst angewandt: „Angesichts der Welt kann man an Gott zweifeln“.77 Das bedeutet, dass die soteriologischen Duale nicht mehr
72 FR, 190. 73 FR, 191. 74 FR, 194. Als Begründung dafür führt Luhmann nur an, dass mit erweiterter Kontingenzerfahrung auch der Erfahrungsgegensatz von aktiv / passiv hier mit hineingezogen würde, so dass sich (so versuche ich zu verstehen) im Dual Leid / Heil eher eine aktive und profane, im Dual Sünde / Gnade eher eine passive und sakrale Erfahrungsrealität ausprägt. Das religionsgeschichtliche Material wäre hierzu genauer zu überprüfen und zu interpretieren. 75 FR, 194f. 76 Luhmann versucht, religionsgeschichtlich eine Sonderstellung der Religionsentwicklung der Hebräer und Griechen in der Ausbildung und Freisetzung des Religionssystems zu zeigen (FR, 197), so wie er später dann darüber hinaus eine Sonderstellung des hebräischen Glaubens gegenüber Sokrates herausstellt (FR, 213f.). 77 FR, 197.
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einfach ,magisch‘78 von oben nach unten transformiert werden können, weil die (Kontingenz-)Rückfrage von unten nach oben mit zu kalkulieren ist. Hier kommt es nun zum religiösen Zirkelargument, das sich am besten so darstellen lässt, dass der Gott, der Heil und Gnade will, dennoch auch für Leid und Sünde irgendwie mitverantwortlich gemacht werden muss, und die Rückbindung von Fraglichkeit und Erklärbarkeit des Leidens bzw. der Sünde gelangt nicht mehr zu einer klaren UrsacheWirkung-Beantwortung, sondern, wie Luhmann sehr einsichtig das Quia-absurdum-Argument hier aufnimmt, in einen Zirkel: „trotzdem zu glauben, auch wenn man nicht versteht, weil genau dies dem Gott gemäß ist“! 79 Funktionalistisch gesehen muss Luhmann nun diese Zirkularität aber keineswegs – wie es der klassischen (soziologischen) Religionskritik ähnlich sähe – als Destruktion von Religion überhaupt ins Feld führen, sondern er kann, wie sein Sinn-Begriff ganz generell angesetzt war,80 im logischen Zirkel eine Spiegelung des Sinn-Problems sehen, das wie das Welt-Problem unnegierbar und selbstsubstitutiv eingeführt war und also hier im Religionssystem als dessen spezifische „Selbstreferenz“ auftaucht.81 Wo im religiösen Kontext von Leid und Sünde gesprochen wird, ist deren Sinnzusammenhang immer schon mitgegeben, d. h. die Kontingenzfrage gerät in den Zusammenhang oder stellt sich schon im Zusammenhang der Gnade.82
78 FR, 198. Schleiermachers Kritik an der ,magischen‘ Vorstellung, an ,Zauberei‘ und ,magischer Superstition‘ in der Soteriologie, ist hierzu unbedingt zu vergleichen (Der christliche Glaube 1821 – 1822, Studienausgabe, Bd. 2, Berlin / New York 1984, §§ 121 – 122)! 79 FR, 199. 80 Vgl. Kap. 2 („Sinn, Welt und Religion“) dieses Aufsatzes. 81 FR, 199. 82 Diese selbstreferentielle Erklärung hat ihre Parallele in Kierkegaards Fassung des Erbsündenproblems im Begriff Angst. So wie die Angst sich immer, wo sie auftritt, selbst schon voraussetzt und ihr Gegenstand folglich das ,Nichts‘ ist, so geht sich die Sünde, wo sie erkannt und zugestanden werden kann, selbst voraus – im Ermöglichungsrahmen des Glaubens. Was Kierkegaard dabei den ,qualitativen Sprung‘ zur (existentiellen) Wirklichkeit des bis dahin ja nur theoretisch Erfassten nennt, taucht in Luhmanns Vokabular verschlüsselt und methodisch zurückgenommen als ,Enttautologisierung‘ (SoSyst., 112) bzw. als ,Ausdifferenzierung‘ neuer Kontingenzen (FR, 199) auf.
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3. Golgatha und die Situation Gethsemane Mit seiner Thematisierung der Christologie verlässt Luhmann abrupt die vorgegebenen soziologischen und religionsgeschichtlichen Muster und sucht die zwingende Anwendung auf die Gegenwart einer Teilsystemgesellschaft, in der die Kontingenzfrage zum alleinigen Verständigungsmedium geworden ist. Alles kann rückwirkend negiert, d. h. auf sein „Anders-sein-Können“ hin in eine problematische Schwebe gebracht werden. Die christliche Theologie jedenfalls hat ihren Gottesbegriff eigentlich immer schon mit dieser radikalen Tendenz vorgetragen, und sie ist darin nicht mehr zu übertreffen, dass Leiden – verbunden mit der Rückfrage und Negationsrichtung auf Gott selbst – in Gott selbst verlagert wurde: „Gott selbst hat für uns gelitten“! 83 Die Kontingenz des „Auch-anders-sein-Könnens“ hat ihre äußerste Kollision von Wirklichkeit und Möglichkeit im Kreuzesschrei Jesu,84 und Luhmann interpretiert diese Textstelle85 auf eigene Rechnung und in eigener Konsequenz: Jesus fordert damit nicht – wie die christliche Tradition im Anschluss an den Klagepsalm hier wohl gedacht haben muss – die ,Schuldigkeit‘ des Bundesgottes ein, womit der Stachel dieser Passion bereits umgebrochen wäre, sondern die „Geschichte […] sagt am Ende nur: Es war nicht notwendig!“86 Hier wie bezüglich der Auferstehung will Luhmann die christliche Vertröstungskultur attackieren, die das Entsetzen des Gottesleidens „zu früh“, d. h. bevor die Geschichte wirklich zu Ende ist,87 in Gnade und Vertröstung umbiegt, die Golgatha nicht „das letzte Wort“ lassen kann und die Passion mit dem „Zusatzmythos der Auferstehung“ überzuckert, ein ,happy end‘ anfügt, wo es doch längst nicht hingehört.88 Luhmann teilt diese Christentumskritik mit ,atheistischer‘ Theologie, nicht allerdings, weil nicht von Gott gesprochen werden könnte, sondern weil Kontingenz zum Inbegriff religiöser Ehrlichkeit geworden ist und also nicht überspielt werden darf. Christologisch ist diese Kritik, weil damit eine bestimmte Versöhnungslehre angegriffen wird, die in der Auferstehung eine Vorwegverklärung allen Leidens, in der Kirche die Stellvertretung des triumphierenden Christus, im Leiden des Gekreuzigten 83 84 85 86 87 88
FR, 199. Mk 15, 34 bzw. Ps 22, 2. FR, 218. FR, 218. FR, 218. FR, 199.
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dessen „vorbildliche Durchhaltefähigkeit“89 bewundert. In dieser Richtung ist Luhmanns Kritik Recht zu geben, hier sind längst theologische Korrekturen fällig und ja auch seit langem in der Diskussion.90 Luhmann geht es um das heutige „Problem der Religion“,91 und diesem kann eine solche Vorwegversöhnung – wegen der verschärften Kontingenzerfahrungen – nicht mehr angemessen sein. Andererseits ist aber hier auch der Ort, um erneut die Frage nach der mitwirkenden Notwendigkeit zu stellen, so wie das in den soteriologischen Dualen schon der Fall war und so wie das Neue Testament92 vom göttlichen deT spricht. Muss das als ,happy end‘ diskreditiert werden? Hat nicht die christliche Theologie (ihrem Anspruch nach) immer schon in der Formel der Zwei-Naturen-Lehre: vere Deus / vere homo das tradiert, was Luhmann heute von ihr fordert: „noch in Jesus ihren Gott zu erkennen“,93 ohne ekklesiologisch-triumphalistisch (so versteht Luhmann – und auch das sicher nicht ohne Grund – Eucharistie und den Kirchenbegriff) „zu früh“ abzuzweigen?94 Auf der menschlichen Seite hat Luhmann die „Mischung aus Notwendigkeit und Kontingenz“ bereits gezeigt.95 Kann unter den Bedingungen doppelter Kontingenz die göttliche Seite darauf festgelegt werden, in einer Art jesulogischer Theologie allein die Kontingenz aller Kontingenz zum Ausdruck zu bringen? Eine andere Reflexionslinie, in der der Kontingenzformel nachgegangen wird,96 entdeckt im christlichen Gottesbegriff die Anlage, die akuten und unumgänglichen Kontingenzentscheidungen auch in dieser Weise transformieren zu helfen, dass zugleich deren Notwendigkeit und deren Geschichtlichkeit integriert werden können: „Das geschieht durch die zweite Person“,97 also wiederum durch die Christologie. Während in der Tradition der Gottesbeweise das Ens necessarium „jenes Element von Notwendigkeit“98 an höchster Stelle repräsentierte,99 muss gegenwärtige 89 FR, 199. 90 Beispielsweise die Frage (im Anschluss an T. Mosers Gottesvergiftung) „Ist Gott grausam“?, die zu Gen 22 ebenso wie zu 2 Kor 5,21 heute gestellt werden muss. Vgl. dazu im vorliegenden Band Kap. B.2. Vgl. auch D. Sölle Leiden, Stuttgart 1973, Kap. I. 5. 91 FR, 199. 92 Lk 24, 7. 93 FR, 199. 94 FR, 218. 95 FR, 194f. 96 FR, 202ff. 97 FR, 206. 98 Vgl. FR, 201.
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Theologie darüber hinausdrängen und den Gottesgedanken von den Fesseln der alten Modallogik zu befreien versuchen. Luhmann selbst spricht von einer solchen „supramodalen Notwendigkeit“,100 aber es fällt schwer, deren Unklarheit nun mit den Mitteln der doppelten Kontingenz zu präzisieren. Kontingenz und Geschichtlichkeit der Passion müssten nämlich als Inbegriff dessen auszumachen sein, was letztendlich geschehen musste, und diese Notwendigkeit kann nicht mehr gegenüber ihrer geschichtlichen Gestalt verselbständigt werden. Die neutestamentlichen Gleichnisse des Himmelreichs, die Bergpredigt, die paulinischen Begriffe von Rechtfertigung, Liebe und Versöhnung sind genau diese Instanzen, die von der Person Jesu nicht abzulösen sind und die doch auf jene Notwendigkeit zurückgehen, jenes deT der Passion, dessen andere Seite die Auferweckung des Gekreuzigten ist. Historisch-exegetisch gesehen ist das leicht darzustellen, wie aber kann diese göttliche Notwendigkeit verstanden werden? Luhmann verwirft mit guten Gründen eine exklusiv christologische Offenbarungslösung, die immer anstelle des „Rationalitäts- und Begründungsproblems“ die Glaubensprämisse vorschieben muss – und das macht alles „nur umso prekärer“.101 Trotzdem bricht Luhmann seine christologischen Versuche nicht ab, sondern er startet von variierenden Themen her Zugänge zur christlichen Kontingenzformel, die sich in der Situation Gethsemane zusammenzieht. In Jesus können alle Rückfragen des Dank- und Schuldverhältnisses, die sich jedem Leben aufdrängen, gestellt werden; Schöpfung, Freiheit und Vorherbestimmung102 werden in der Situation Gethsemane reflexiv und existentiell aufgefangen, weil jetzt Schuld und geschenktes Leben nichts mehr mit Moral,103 sondern mit einer über Versöhnung gegebenen Gabe zu tun haben, die in Freiheit angenommen und damit übernommen werden kann.104 Luhmann erreicht in dieser christologischen Situationsbeschreibung die doppelte 99 Vgl. explizit zu den Gottesbeweisen dann FR, 219ff. 100 FR, 205. Vgl. zur Begriffsherkunft bei H. Deku „Possible Logicum“ in Phil. Jb. d. Gçrres-Ges. 64 (1956) S. 1 – 21, 4f.; bei Luhmann in FR, 130, 206. Dass zeitgenössische theologische Denkbemühungen in diese Richtung gehen, zeigen E. Jüngel Gott als Geheimnis der Welt, 2. Aufl., Tübingen 1977, S. 30: „Gott ist mehr als notwendig“; J. Moltmann Der gekreuzigte Gott, München 1972, S. 255: „Christus ist mehr als notwendig“. 101 FR, 208f. Anm. 51. 102 FR, 209ff. 103 FR, 210. 104 FR, 211f.
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Kontingenz (die ein reflexives Entscheidungsverhältnis denken und leben lässt) zugleich mit der darin implizierten Notwendigkeit,105 dass es eben so sein muss. Denn in Gethsemane geschieht das Opfer aus Freiheit. Es hätte anders kommen können. Jesus selbst stellt ja diese Frage, und doch ist Jesu Gebet vor der Passion gerade die „Vergewisserung des Nicht-andersKönnens“! Freiheit ist christologisch eben kein liberum arbitrium, dies muss „die Theologie hier sagen“,106 sondern Freiheit zum Guten, zum Leben, zur Versöhnung, zur Liebe – ohne dabei die Opfer und Leiden zu umgehen oder verdrängen zu müssen. So sehr ist der christliche Glaube in die Erfahrungskontingenz dieses Lebens eingelassen, dass er das Niedrigste und Geringste ernst nimmt, aber nicht, um es dadurch auch noch in sich selbst zu fixieren: „Der in Gethsemane angenommene Tod hat seinen Sinn als Gabe des gegebenen Lebens – nicht als Hinnahme eines vorbestimmten Leides wie Kinderlosigkeit, Mißernten, Krankheit“.107 So geht es nicht mehr um ewige Notwendigkeiten, die oberhalb des Geschichtlichen ablaufen oder diesem verhängt erscheinen, sondern die Situation Gethsemane zeigt: Es war allerdings nicht notwendig108 in dem Sinne, dass es auch anders hätte sein können, dass es geschichtlich ist, dass es menschlich ist, dass es nicht göttergleich auf himmlischer Ebene spielt, dass Rückfragen am Platze sind, dass Zweifel und Verzweiflung gerade hier ihren Ort haben. Um dies alles aber in diesem Ort und zu dieser Zeit auszudrücken, darzustellen, in unserer Erfahrung verankern zu können, war es – so wie es geschah – notwendig. Will die neutestamentliche Christusbotschaft denn etwas anderes sagen, als dass Gott und Mensch an dieser Stelle stehen, wo Kontingenz und Notwendigkeit (in doppelter Kontingenz gedacht) zueinanderkommen, damit die Notwendigkeit nicht für sich abstrakt bleibt und die Kontingenz nicht in sich zusammenfällt? Dass dies ,Zueinander‘ noch nicht vergegenständlicht vorweggenommen werden kann, so als wäre die Geschichte schon zu Ende,109 so als säßen wir in einem Film mit ,happy end‘,110 sollte eigentlich klar sein. Wo nicht, ist es gut, dass Luhmann 105 Ohne dass Luhmann selbst an dieser Stelle christologisch auf das Notwendigkeitsproblem des Kontingenten zurückkäme, vgl. aber die Problembeschreibung FR, 201! 106 FR, 212. 107 FR, 213. 108 FR, 218. 109 FR, 218 110 FR, 199.
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dagegen noch einmal so schroff opponiert hat. Die Erfahrung aber, die wir in allem Kontingenten doch auch gegen dieses selbst machen und machen müssen, wollen wir als utopische Differenz111 zu benennen versuchen.
Offene Perfektion und die Frage nach dem berleben der Theologie Die These der utopischen Differenz, die mit und gegen Luhmann gewonnen wurde, muss sich zuletzt bestätigen lassen in den fundamentaltheologischen Fragen, die Luhmann über die Christologie hinaus anschneidet.112 Mit dem Gedanken der Perfektion sind nämlich die metaphysischen Begriffsbildungen eines „ens perfectissimum“ bzw. eines „ens quod maius cogitari nequit“113 eingespielt, verbunden mit der Frage, ob eine „nicht mehr negierbare Notwendigkeit“,114 d. h. eine Durchbrechung des Kontingenzprinzips der immer möglichen Negierbarkeit,115 überhaupt noch ein sinnvoller Gedanke sein kann. Selbstverständlich liegen auch diese Vollkommenheits- und Steigerbarkeitsvorstellungen im Erfassungsbereich der gesellschaftstheoretischen Systemanalyse,116 wobei die kritische Phase wiederum durch die neuzeitliche Wissenschaftlichkeit eingeläutet wird, die den metaphysischen Gedanken der Perfektion evolutionistisch ersetzen kann durch in der Zeit beschreibbare Verlaufsreihen und Wahrscheinlichkeiten.117 Der damit gegebene moderne ,Begriffszerfall‘ ist parallel zu sehen zur „funktional differenzierten Gesellschaft“,118 die ihre eigene Ganzheit, Perfektion, ihren Anfang und ihr Ende, ihre Eschatologie und Schöpfung einfach offenlassen kann, vielleicht offenlassen muss. Anders gesagt: Das Teilsystem Religion repräsentiert mit seiner Kontingenzformel nicht 111 Vgl. zum Begriff den in Fußn. 90 genannten Aufsatz. 112 Zu Beginn von Kap. 3 (FR, 189) hatte Luhmann von zwei Thesen gesprochen, dies es unter dem Stichwort der Kontingenz zu bearbeiten gelte: Die erste ist über die ,Duale‘ in der Christologie behandelt, die zweite steht mit dem Abschnitt VIII von Kap. 3 noch aus: Einheits- und Abschlussprobleme. 113 FR, 220. 114 FR, 219f. 115 Vgl. FR, 201. 116 Luhmann will das hier im Vergleich des griechischen t]wmg-Begriffs mit der christlichen Eschatologie belegen (FR, 219f.). 117 FR, 221; vgl. bereits die polemisch gefasste Gegenstellung von althergebrachter theologischer Argumentation und moderner Wissenschaft in FR, 12. 118 FR, 222.
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mehr die wirkliche Bewusstseinslage der Gesamtgesellschaft und droht damit irrelevant zu werden, und dies ist für den christlichen Glauben und die ihm zugeordnete Theologie natürlich die alles entscheidende Frage. Luhmann jedenfalls konstatiert wie nebenbei, die „Selbststeuerung des Religionssystems“ habe „noch keine Entsprechung“ zur radikal neuen Lage des gesellschaftlichen „Strukturwandels“ gefunden.119 Mit dem Konzept der utopischen Differenz behaupte ich das Gegenteil – allerdings als theologische Selbstinterpretation des christlichen Glaubens, die mit der kirchlichen ,Selbststeuerung‘ und der gesellschaftlichen Situation des Teilsystems Religion natürlich nicht einfach gleichzusetzen ist. Die Diskussion ist hier zunächst einmal theologisch zu führen (womit die diagnostische Überzeugungskraft der systemtheoretischen Religionskritik gerade nicht bestritten werden soll). 1. Luhmann hatte die traditionell religiçse Dogmatik im Zusammenhang der Religionsfunktion (Transformationsleistung, Leerhorizont, Chiffrierung) zwar nicht pauschal als unwissenschaftlich abgelehnt, wohl aber als rational reduziert eingeschätzt. Denn darin ist die religiöse Dogmatik die genaue Widerspiegelung der ambivalenten religiösen Elemente,120 die sie systematisiert: „Dogmatik […] arbeitet […] mit funktional unanalysierten Abstraktionen und in dieser Hinsicht unreflektiert“, ihre Leistung „liegt demnach nicht in der Reflexion ihrer eigenen Kontingenz“.121 – „Sie (sc. die Kontingenzformel) selbst wird der Kontingenz entzogen und wird Katalysator einer Dogmatik, die nicht mehr bereit ist, von jedem ihrer Punkte aus alles in Frage zu stellen“.122 Ich würde antworten, genau dies ist das gegenwärtige fundamentaltheologische Programm,123 dass trotz und wegen der Tatsache, dass der Glaube sich keiner Theorie und auch nicht guten Gründen verdankt, an allen Stellen der Dogmatik Selbstkritik und Reflexion aufbrechen. Wer das nicht zugibt, treibt historische Dogmatik (was einen innertheologischen Sinn hat) und geht (mit Absicht oder Unwissen) an der eigenen Gegenwart vorbei. In anderer Formulierung kommt Luhmann dieser fundamentaltheologischen Aufgabenstellung sehr nahe, wenn er schreibt, Theologie geschehe „im Bereich derjenigen Bemühungen, die sicher119 120 121 122 123
FR, 223. Vgl. Kap. 2 („Sinn, Welt und Religion“) dieses Aufsatzes. FR, 87. FR, 206. Statt Fundamentaltheologie kann auch von ,theologischer Prinzipienlehre‘ gesprochen werden. Vgl. K. Stock „Das Denken des Glaubens. Anmerkungen zur Lage der Systematischen Theologie“ in Ev. Komm. 21 (1988), II. 2, S. 76 – 79.
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zustellen suchen, dass man wissen kann, wie andere denken, wenn sie glauben“124 – wenn damit nicht ausgeschlossen sein soll, auch zu wissen, wie man selbst denkt, wenn man glaubt! 2. Auf einer Ebene von Funktion der Religion erscheint die religiöse Dogmatik wie die Fortsetzung dunkler Kulthandlungen für den intellektuellen Bedarf: „Nachfolgeeinrichtungen für Rituale auf höherer Ebene“;125 auf einer anderen Ebene wird ihr die Reflexion der Kontingenz zugemutet, zumindest nahegelegt – obwohl Luhmann sich das nicht recht vorstellen kann, dass auch die Theologie dann – gemäß neuem Selbstverständnis – „stets nur negierbare Theorien formulieren“ würde.126 Auch hier ist zu antworten: Genau so ist es. Theologie ist sich ihrer eigenen Relativität bewusst, kann also, was Luhmann eher zurückhaltend andeutet, sich selbst „Komplexitätsreduktionen“ zumuten,127 d. h. Aporien ihrer dogmatischen Tradition überwinden und ihr Weltverständnis neu bestimmen. Wie sollte es anders sein, wenn der christliche Glaube als „denkender Glaube“128 definiert ist? „Das würde eine theologische Dogmatik erfordern, die ihre Dogmatizität reflektiert mit Hilfe einer Begrifflichkeit, die konsequent auf ,intrinsic persuaders‘ und Begründungssuggestionen verzichtet. Dabei müsste auch der Einsatz der Negationsverbote als systemspezifische Leistung transparent werden. Denn, heute zumindest, können nicht die Begriffe den Überzeugungserfolg tragen, sondern nur die Systematisierungsleistungen im Erfahrungsbereich der religiösen Funktion“.129 3. Dass für diese religiöse Funktion das Überleben gesichert ist, kann soziologisch nicht vorausgesagt werden. Luhmann bleibt an diesem Punkt sehr unentschieden und methodisch bewusst auf Distanz. Die Soziologie kann diese Frage stellen130 aber keine Prognose wagen,131 die Theologie gerade nicht ersetzen wollen.132 Bemerkenswert bleibt zudem, dass an der neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit gemessen die religiöse Dogmatik immerhin einen Platz freigehalten hat für das, was sich der analytischen Rationalisierung nicht fügt, „daß gerade der Unlösbarkeit von Proble124 125 126 127 128 129 130 131 132
FR, 216. FR, 86. FR, 200. FR, 174. C. H. Ratschow Die Religionen, Gütersloh 1979 (HST 16), S. 121. FR, 223. FR, 180f. FR, 175, 181, 223. FR, 200, 71.
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men die wichtige Funktion der Katalyse struktureller Entwicklungen zufällt“.133 Das ist die Frage, ob mit dem Dauerproblem Religiosität etwas „Unverbrauchbares“134 freigestellt, eine letzte „Reserve“135 gegenüber dem genannten „Begriffszerfall“ in der modernen Gesellschaftsdifferenzierung136 eben noch in Erinnerung gehalten ist. Dann allerdings wären Religion und Theologie progressiv, weil sie (neuzeitlich gesehen), konservativ blieben – eine zwiespältige Rollenzuweisung, die zudem mit der zuvor geforderten Reflexion statt Offenbarung137 auch wieder nicht zusammenpasst. Oder doch? Es gibt nur den Ausweg, die Theologie in diese dialektische Situation hineinzuziehen, dass sie sich die Konflikte zwischen der Unmittelbarkeit (der religiösen Qualitäten) und der Reflexion (im Denken des Glaubens) nicht erspart; und umgekehrt trifft dies erst wirklich Kontingenzerfahrung, wenn die in ihr sich mitereignende Widerständigkeit gegen das tote Faktum des bloß Kontingenten nicht mehr ignoriert werden muss. Kontingenz ist, aber sie könnte auch anders sein. Das sagt zusammen die Situation von Ostern und Gethsemane, Kreuz und Auferstehung. Letztere bezeichnet dann keine mirakulöse Sonderwelt, verlangt kein Negationsverbot und keine Kontingenzaufweichung, sondern sie gibt als utopische Differenz, die noch keinen festgesetzten Ort hat, die Kraft, mit der Kontingenz all unserer Menschlichkeiten und Weltlichkeiten umzugehen und also leben zu können. Ob Luhmann mit seinem Verweis auf Glaubenserfahrung138 – zumal in der Widmung des Buches Funktion der Religion – nicht doch gerade dies gemeint haben muss? 4. Luhmann gibt nur indirekt eine Religionsdefinition, indem er zeigt, wo im System-Umwelt-Modell ihr Bezugsproblem und damit ihre Leistungsfähigkeit zu lokalisieren ist. Worin liegt eigentlich der Grund für den Verdacht, damit werde zu wenig gesagt, damit sei die Kraft der Religion vielleicht gerade unterminiert und nicht etwa gestärkt? Wird dann, wenn die Funktion eines Systems erklärt werden konnte, dieses selbst überflüssig? Bei technischen Systemen (denken wir an ein Auto, das einem Menschen erklärt wird, der noch nicht fahren kann), ist das sicher gerade umgekehrt: Die Erklärung ist die Bedingung für die Benutzung. 133 134 135 136 137 138
FR, 207. FR, 207. FR, 208. FR, 222. FR, 180. Vgl. FR, 92, 223.
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Religionskritisch aber scheint die vollständige Erklärung (von Tabus, religiösen Riten etc.) das Ende der jeweiligen Religion zu bedeuten; sie wird dann nicht mehr gebraucht. Trifft das für Luhmanns Religionssoziologie zu, ist sie, mit Michael Welkers These gesagt, eine „Aufhebung der Religion“,139 die ihren Partner solange umarmt, bis er erdrückt ist? Um das zu überprüfen, muss ein anderes Beispiel gewählt werden. Denn es kann ja gar nicht darum gehen, Religion (wie eine Maschine) je nach Bedarfslage richtig und optimal zu nutzen.140 Vergleichbar ist folglich nur ein Sinnsystem-Beispiel, etwa eine Schulklasse, auf die ein neuer Schüler dadurch vorbereitet werden soll, dass ihm möglichst umfassend alles zuvor erklärt wird, was er über einzelne Schüler, Lehrer, die Situation der Schule, Spannungen innerhalb der Lerngruppe etc. wissen muss, um einen reibungslosen Einstieg zu ermöglichen. Hier wird 139 Vgl. M. Welker Theologie und funktionale Systemtheorie, aaO., S. 93ff. 140 Obwohl natürlich Luhmanns Diagnosen auch in dieser Richtung (praktischtheologisch und für ein verbessertes Selbstbewusstsein des Religionssystems) angewendet werden können. Die Interpretationen und Rezeptionen von K.-W. Dahm, T. Rendtorff und in gewissem Sinne auch F. Wagner (von seinem Vorbehalt der ,absoluten‘ Theorie-Theologie hier einmal abgesehen), lassen sich so verstehen, vgl. Dahm „Religiöse Kommunikation und kirchliche Institution“ in Dahm, Luhmann und Stoodt Religion – System und Sozialisation, aaO., S. 133 – 188; ders. „Gesellschaftliche Bestimmung von Unbestimmtheit“ in Dahm, Drehsen und Kehrer Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozeß sozialwissenschaftlicher Kritik, München 1975, S. 269 – 279; T. Rendtorff Gesellschaft ohne Religion? Theologische Aspekte einer sozialtheoretischen Kontroverse (Luhmann und Habermas), München 1975; F. Wagner „Systemtheorie und Subjektivität. Ein Beitrag zur interdisziplinären theologischen Forschung“ in Int. Jb. f. Wissens- und Religionssoziologie 10 (1976), s. 151 – 177. Dagegen erhebt sich natürlich der Einwand, hier werde Religion schnell auf ein gesellschaftliches Bedürfnis, auf eine ,neutralisierte‘ Form reduziert (vgl. im Anschluss an die Kritische Theorie bei Stoodt in Dahm, Luhmann und Stoodt, aaO., S. 189 – 2327, bes. S. 220ff.) bzw. hier drohe die Verflachung der sog. ,Zivilreligion‘, vgl. dazu Welker Theologie und funktionale Systemtheorie, aaO., S. 104f. Welker verweist dazu auf Luhmanns Aufsatz „Grundwerte als Zivilreligion: Zur wissenschaftlichen Karriere eines Themas“ in N. Luhmann Soziologische Aufklrung 3, Opladen 1981, S. 293 – 308. (Wobei ich nicht den Eindruck habe, dass Luhmann diese Zivilreligion empfiehlt, eher sich er Rendtorffs Religionstheorie an dieser Stelle platziert, vgl. Luhmann, aaO., S. 302f.). Zur Kritik Luhmanns von einem nichtfunktionalistischen und gerade nicht gesellschafts- und bedürfnisorientierten Standpunkt aus wäre K.-M. Kodalles Habermas-Kritik analog zu verwenden, vgl. Kodalle „Versprachlichung des Sakralen? Zur religionsphilosophischen Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas’ ,Theorie des kommunikativen Handelns‘“ in Allg. Zeitschr. f. Phil. 12 (1987), S. 39 – 66; vgl. auch in Kodalle Die Eroberung des Nutzlosen, Paderborn 1988.
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schlagartig klar, dass dem Kind durch derartige Erklärungen das Geheimnis des Systems gerade nicht erspart werden kann. Weder ist das System Schulklasse nun einfach zu benutzen (weil optimal erklärt), noch ist sein Geheimnis durch Enttabuisierung ,aufgehoben‘. Das soziale System behält seinen Geheimnischarakter, weil dieser wegen der doppelten Kontingenz141 vorweg niemals abgegolten werden kann, im Gegenteil: Erklärungen steigern vermutlich die Einstiegsschwierigkeiten. Diese sind nicht durch Antizipation zu neutralisieren, die neue Beziehung muss sich (doppelt kontingent) als Beziehung selbst herausbilden; dies bleibt das Geheimnis und ist seine jeweilige lebendige Bewältigung und Bearbeitung zugleich. So auch für die Religion, obwohl hier durchaus in kritischer Absicht und durch Erklärungen falsche Geheimnisse abgebaut werden können, nämlich dort, wo Transzendenz und Immanenz142 in verzerrter oder einseitiger Weise repräsentiert wurden. Religionskritik also wird durch den Geheimnischarakter nicht überflüssig, ebenso wenig wird der Reflexionscharakter der Dogmatik negiert. Solange dieser aber beschränkt sein soll auf die religiösen Chiffrierungen im Leerhorizont, ohne dass sich die Dogmatik fundamentaltheologisch selbst zum Thema werden dürfte,143 bleibt die Zwickmühle in Kraft, entweder zu viel oder zu wenig Rationalität zu repräsentieren. An dieser Stelle ist gegen Luhmanns Bestimmungen nur voranzukommen, indem an seinem Kernbegriff für religiöse Qualität, der Chiffrierung, gezeigt werden muss, dass es sich dabei eben doch um Zeichen und nicht um irgendwas (irrationales) Anderes handelt. Luhmann wollte hier einen religiösen Sonderstatus absichern,144 gerät dadurch aber in unauflösliche Schwierigkeiten, wenn er einer modernen Theologie zugleich Rationalität und Selbstreflexion der eigenen Funktionen empfiehlt. Dieser Forderung zuzustimmen und zugleich Luhmanns Religionsbeschreibung (auf der Grundlage der Chiffrierung) zu akzeptieren ist aber nur möglich, wenn die religiösen Zeichen eben auch Zeichen sind, die auf „etwas“ verweisen.145 Nur ist das „Etwas“ in diesem 141 142 143 144 145
Vgl. Kap. I („Doppelte Kontingenz“) dieses Aufsatzes. FR, 46. Vgl. Kap. 3 („Religion als Teilsystem“) dieses Aufsatzes. FR, 170, 173f. Vgl. zu FR, 26, 33 Kap. 2 („Sinn, Welt und Religion“) dieses Aufsatzes. Ich denke dabei an Ch. S. Peirce’s Zeichen und Kategorienlehre und hier speziell an Zeichen im Sinne von ,Erstheit‘, die das Sosein bezeichnen; vgl. die Einleitung von H. Pape zu dem Band Ch. S. Peirce Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. v. Chr. Kloesel und H. Pape, Frankfurt am Main 1986; zum religionsphilosophischen
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Fall der Selbst- und Weltbezug einer „primären Selbstbeschreibung“, einer primären „Vertrautheit“ (Dieter Henrich),146 eine Selbstbeziehung also, die sicher ihre eigenen Darstellungsschwierigkeiten für die Wissenschaften bringt (weswegen von Metaphysik gesprochen werden muss), die deshalb aber nicht einer Irrationalität anheimfällt. Der Begriff der Chiffre wird überflüssig. 5. Damit ist gegenüber der Systemtheorie das Recht erworben, im Selbst- und Weltbezug immer eine Unterscheidung von Innen- und Außenaspekt einzuführen, so wie wir die Gegenstandswahrnehmung vom mitlaufenden Gefühlszustand abheben können, auch wenn das nicht unserer alltäglichen Einstellung entspricht. Irrational ist dann weder der beschriebene Zustand (,primärer Vertrautheit‘) noch das Instrumentarium der Beschreibung, so dass kein Anlass besteht, diese Problemlage systemtheoretisch zu relativieren. Gerade der Innenaspekt spielt umgekehrt überall dort, wo es sich um Sinnsysteme handelt, die entscheidende Rolle, weil er den Ort angibt, wo Sinn stattfindet, erlebt, weitergegeben, erlitten, gestaltet wird; während der Außenaspekt anzeigt, dass Gegenständlichkeit behandelt wird (und sei es im Kompliziertheitsgrad der doppelten Kontingenz).147 Innen- und Außenaspekt zu unterscheiden heißt nichts anderes, als dass die Systemtheorie mit der Frage konfrontiert wird, warum überhaupt Sinn ist. Dass Luhmann diese Frage nicht stellt, ist nur zum Teil dadurch zu legitimieren, dass er eben die Selbstreferenz von Sinn (und Welt) funktionalistisch und in sachgemäßem Zirkel unauflösbar halten muss. Die metaphysische Frage wandert dann nämlich aus dem systemtheoretischen Beobachtungsfeld aus und stellt sich erneut eben für diesen Gegenstandsbezug im ganzen, worin Sinn nicht nur vorkommt, sondern erlebt wird. Eilert Herms hat diese Unvermeidlichkeit der metaphysischen Fragestellung gegenüber Luhmanns Sinntheorie bereits aufgedeckt,148 und zuzustimmen ist dieser Luhmann-Interpretation, soweit damit die bewusste Wiedereinführung und Neufassung der Themen Zusammenhang vgl. Hermann Deuser Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilosophie, Berlin/New York 1993. 146 D. Henrich „Was ist Metaphysik – was Moderne?“ in ders. Konzepte, Frankfurt am Main 1987, S. 17. 147 Luhmann selbst macht die Differenz von ,wissenschaftlicher Analyse‘ und ,Gegenstand selbst‘ (FR, 68). 148 E. Herms „Das Problem von ,Sinn als Grundbegriff der Soziologie‘ bei Niklas Luhmann“ in Herms Theorie fr die Praxis – Beitrge zur Theologie, München 1982, S. 189 – 213.
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Metaphysik und Kosmologie gefordert wird149 – was Luhmann versäumt und worin seine schwächste Stelle liegt, gerade weil er Sinn überhaupt und Evolution in ihrer gründenden Funktion produktiv verstehen will. Überzeugend ist dieser Einwand gegen Luhmann vor allem deshalb, weil er nicht im Namen einer (traditionell metaphysischen) Substanzontologie vorgetragen, sondern auf Luhmanns eigenem Feld des „funktionalen Konstituiertwerdens“ ausgearbeitet wird:150 Wo keine Substanz, kein Sein vorgegeben gedacht, sondern erst im Entstehen begriffen werden soll, da kommt es auf die Wiederholung als neues metaphysisches Problem an. So hatte es bereits Sören Kierkegaard gefasst, indem er in einer existentiellen Projektstudie die lebensmäßig gedachte Wiederholung als das „Interesse der Metaphysik“ herausstellte.151 Bei Herms wird die konstitutive Leistung der Wiederholung formalisiert und gezeigt, dass „Wiederholbarkeit“ von Intentionsakten (was Luhmanns Sinnbegriff bereits unterstellen muss) unterschieden werden kann danach, ob die sachbezogenen Intentionen sich numerisch reihen oder ob sie sich auch selbstbezüglich wiederholen, d. h. so, dass die Intention als Intention mitgeht. Dies letztere nun fehlt in Luhmanns Sinnkonstitutionen, nämlich die „konkret-selbsterfassende Wiederholung“,152 und diesen Einwand verstehe ich analog zur Unterscheidung von Innen- und Außenaspekt bzw. zum Insistieren auf der primären „Vertrautheit“ in jedem Selbst- und Weltbezug.153 Denn das Mitlaufen der Intentionen als Wiederholung ist nicht nur eine Frage der Reihung, sondern der „primären Vertrautheit“, der Gefühlszuständlichkeit in existentieller Situation, also einer Selbsterfahrung ohne Reduktion auf den szientistischen Außenaspekt. Gerade religionstheoretisch versucht Luhmann, diesen Fehler zu vermeiden, und seine christologischen Zugaben in der analysierenden Vergegenwärtigung der Situation Gethsemane zeigen, wie weit er gehen kann. Zuletzt aber bleiben die theologischen Entscheidungsfragen offen. Dem christlichen Glauben jedenfalls kann es nicht genügen, auf Grund von Luhmanns Diagnosen nun einfach für eine verbesserte „Selbst149 Theorie fr die Praxis, aaO., S. 195. Ob, wie Herms es vorschwebt, metaphysisch (d. h. religionstheoretisch-transzendental) allein im Blick auf ,Evidenz‘ und ,passives Konstituiertsein‘ (aaO., S. 204f.) gedacht werden kann, soll hier offenbleiben. 150 Theorie fr die Praxis, aaO., S. 201. 151 S. Kierkegaard Die Wiederholung in SKS 4, 25f. / GW1 4, 22. 152 Herms Theorie fr die Praxis, aaO., S. 202 – 203, Anm. 67. 153 Vgl. Henrich „Was ist Metaphysik – was Moderne?“, aaO.
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steuerung des Religionssystems“154 zu votieren, sondern es geht ihm um die Überzeugungskraft des Glaubens selbst, also der Glaubenserfahrung. Damit ist die absolute Stellung der funktionalistischen Theorie bestritten155 (nicht ihre Beiträge zur gesellschaftlichen Situationsbestimmung der christlichen Religion). Denn die Systemtheorie muss zuletzt an ihren eigenen Prämissen (,Sinn und Evolution‘) begründungslos bleiben. Aufgabe des Denkens aber ist das konkrete Leben, das Geheimnis des Kontingenten in seiner utopischen Differenz: Der Stachel der Situation Gethsemane ist wider Erwarten die Hoffnung des christlichen Glaubens.
154 FR, 223. 155 Die teilweise hierzu parallel laufende und ebenso das metaphysische Defizit bei Luhmann betreffende Kritik von F. Wagner Systemtheorie und Subjektivitt, hat doch eine andere Denkrichtung, weil sie mit und gegen Luhmann eine (idealistische) Theorie des Absoluten erneuern und für die Theologie anbieten möchte. Dass solche Korrekturen gegenüber Luhmann nun doch darauf hinauslaufen ,Gott als weltübergreifendes System‘ wieder einzusetzen und damit Luhmann gerade wieder die Angriffsflächen für seine funktionalistische Kritik zu liefern, hat G. Schneider-Flume gegenüber F. Wagner, E. Herms und W. Pannenberg schnell entdeckt, vgl. „Theologie als Kritik von Sinnsystem und Sinnkonstruktion. Zur Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann“ in NZSTh 26 (1984), S. 274 – 288, bes. S. 278 (aber nur dies ist an dieser Luhmann-Deutung verständlich!). Vgl. zur Diskussion zwischen Pannenberg und Luhmann in Ev. Komm. 11 (1978) S. 99 – 103, S. 350 – 357, und dazu die kritischen Bemerkungen von W. Kasprzik in Theologie und funktionale Systemtheorie, hg. v. Welker, aaO., S. 92, Anm. 39.
Christliche Religion – Zeichen unter Zeichen? The exile from Eden is, semiotically, the banishment of the self-conscious self from its own world of signs. Walker Percy
1. Die theologische Rckseite des Nominalismus William von Baskerville, der „Zeichendeuter und Spurensucher“, ist ein passionierter Nominalist. Als seinem frommen Schüler und Gefährten Adson von Melk eines Nachts Kurioses träumte („Bisher hatte ich stets geglaubt, Träume seien entweder göttliche Botschaften oder sinnlose Stammeleien des schlafenden Geistes […]“),1 ahnt auch er die Abgründigkeit der puren Zeichensysteme: „Nun ging mir auf, daß man auch Bücher träumen kann. Also kann man vielleicht auch Träume träumen […]“;2 worauf William schließlich ebenso tiefsinnig respondiert: „Träume sind Schriften, und viele Schriften sind nichts als Träume“.3 Sinn dieses Romans – und seines Titels – ist die fiktive und darin lebendige Veranschaulichung der Grundthese des Nominalismus, wie sie sich kompakt formuliert erst im allerletzten Satz des Textes findet: „Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus“.4 Solche Namen sind Zeichen,5 genauer: Zeichen von Zeichen von Dingen;6 wobei hier der Zugang zu den Dingen selbst als erkenntnistheoretisches Problem ebenso offen bleibt,7 wie die kriminalistische Suche nach dem planvollen Mörder letztlich ins Leere, d. h. in den puren Zufall führt.8 Darauf lässt sich of1 2 3 4 5 6 7 8
Umberto Eco Der Name der Rose, München / Wien 1982, S. 557. Der Name der Rose, aaO., S. 557. Der Name der Rose, aaO., S. 558. Der Name der Rose, aaO., S. 635. Vgl. Ecos eigene Erklärung zur Herkunft des Satzes aus dem 12. Jh. bzw. seinen Hinweis auf Abaelard in Umberto Eco Nachschrift zum „Namen der Rose“, München / Wien 1984, S. 9. Umberto Eco Der Name der Rose, aaO., S. 625. Der Name der Rose, aaO., S. 506. Der Name der Rose, aaO., S. 406. Der Name der Rose, aaO., S. 625.
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fensichtlich keine Ordnung der Welt und ihrer Ursache-Wirkungsketten mehr gründen, und es ist dieses kosmologische Resultat des siebenten Tages, das unmittelbar Konsequenzen für den Gottesbegriff nach sich zieht. Die selbstverständliche erste Ursache aller Ordnung wird plötzlich selbst zum offenen Problem: „Wie kann ein notwendiges Wesen existieren, das ganz aus Möglichkeiten besteht?“9 Die Nicht-Existenz Gottes und damit die kosmologische und rationale Ungesichertheit aller Wirklichkeit erscheint als problematische Errungenschaft der neuen Vorstellungsräume, zu denen das planvolle Wissen-Wollen der Wahrheit als Wissenschaft von den Zeichen die Türen aufgestoßen hat. Damit tritt ein zweiter thematischer Strang des Romans in den Vordergrund, und zwar offenbar als die praktische Wendung des theoretischen Problems: in der rationalen Unableitbarkeit der Dinge nun gerade die moralische Verantwortung für die Einrichtung der menschlichen Lebensverhältnisse bewusst und vorbehaltlos übernehmen zu können und zu müssen. Gegenbild dieser neu zu erwerbenden Verantwortlichkeit und Humanität ist die geheimnisumwitterte und zum Labyrinth des Bösen stilisierte Klosterbibliothek, und in ihr der teuflische, widermenschliche und widernatürliche (apokalyptische) Versuch, das Wissen zu unterdrücken. Weil der Sündenfall des Wissens sich nicht mehr wiederholen soll und in der kirchlich verwalteten Offenbarung alles in diesem Sinne einmalig geordnet und gesagt ist,10 nimmt sich der religiöse Fanatiker ( Jorge von Burgos – der blinde Seher!) das Recht zum Terror. Ideologiekritisch11 und mit immer gegenwärtiger Ironie, die bis in die drastischen Züge von Travestie und Sarkasmus reicht, zeigt Eco, dass gerade solcher Wahrheitsfanatismus im eigentlichen Sinne teuflisch ist: Was einem ,göttlichen Plan‘ zugeschrieben wird, muss in Wahrheit Mord genannt werden.12 Dagegen steht das nominalistische Wissenschaftspathos der Aufklärung durch Wissen und Forschung;13 methodisch geleitete Hypothesenbildung14 steht gegen Autorität aus bloßer Tradition;15 und 9 Der Name der Rose, aaO., S. 626. 10 Der Name der Rose, aaO., S. 601ff. 11 Vgl. als Beispiele nur die Enttarnung der kirchlichen Machtstrukturen (Umberto Eco Der Name der Rose, aaO., S. 574f.) oder Williams Verteidigung der Volkssouveränität (Der Name der Rose, aaO., S. 452f.). 12 Umberto Eco Der Name der Rose, aaO., S. 599. 13 Der Name der Rose, aaO., S. 505. 14 So ist die Gattung des Kriminalromans die genaue Illustration für ,das Wagnis der Aufstellung von Hypothesen’, eben eine ,Konjektur-Geschichte’, vgl. Umberto Eco Nachschrift, aaO., S. 63. – Beide Begriffe, Hypothese wie Konjektur, sind
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innerhalb des Romangeschehens steht deshalb die Verteidigung des Lachens, die Humanität der Narretei, gegen den tödlichen Wahrheitsbesitz, der sich nur im Fanatismus der Heiligen und Häretiker auszudrücken vermag.16 Nominalistische Theorie und humanistisches Pathos haben ihren Berührungspunkt dort, wo Angst und Freiheit in einem existentiellen Sinn kollidieren. Der hintergründige Mordgeselle, Heilige und Antichrist bringt das auf die Formel: „Das Gesetz verschafft sich Geltung mit Hilfe der Angst, deren wahrer Name Gottesfurcht ist“.17 Wird die „gefesselte Freiheit“ (Kierkegaard) 18 derart religiös-ideologisch betoniert, muss jede Angstüberwindung als schlechthin „destruktiv“19 erscheinen. Freiheitsspielräume sind eng zu begrenzen und zu überwachen,20 und die reaktionäre Utopie des Gewaltstaates gründet sich auf die kirchlich-religiöse Ideologie der institutionellen Gewissenskontrolle, die Angst erzeugt und durch Autoritätszwänge auch aufrechterhält. Wird dem widersprochen – und aufgeklärte Wissenschaft tut dies seit Jahrhunderten, und das nicht mehr nur gestützt auf Aristoteles! – scheint allerdings die Alternative auf den ersten Blick tatsächlich von destabilisierender Wirkung zu sein: Die nominalistische Wahrheits- und Wissensutopie stützt sich allein auf fallibilistisches Argumentieren. Mit hintersinnigem Humor belehrt uns darüber der folgende Dialog zwischen altgläubigem Schüler und nominalistischem Lehrer: „Demnach habt Ihr nicht eine einzige Antwort auf alle Fragen?“ „Lieber Adson, wenn ich eine hätte, würde ich in Paris Theologie lehren.“ „Und in Paris haben sie immer die richtige Antwort?“ „Nie“, sagte er fröhlich, „aber sie glauben sehr fest an ihre Irrtümer.“ „Und Ihr“, bohrte ich weiter mit kindischer Impertinenz, „Ihr begeht nie
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bekanntlich Wechselbegriffe für Peirces Logik des abduktiven Schlusses; und Peirce war es auch, der die moderne Wissenschaftsauffassung u. a. der ,Methode der Autorität’ gegenübergestellt hat, vgl. seine Schrift aus dem Jahr 1877: „The Fixation of Belief“ in Writings of Ch. S. Peirce, vol. 3, Bloomington 1986, S. 242 – 257; hier bes. S. 250ff. (dt. „Die Festlegung einer Überzeugung“ in Ch. S. Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt am Main 1976, S. 149 – 172; bes. S. 161f.) Umberto Eco Der Name der Rose, aaO., (Anm. 1), S. 571. Ebd., S. 606ff., 624. Ebd., S. 604. Vgl. Sören Kierkegaard Der Begriff Angst. Ges. Werke, 11./12. Abtlg., Düsseldorf / Köln 1965, S. 48. Umberto Eco Der Name der Rose, aaO., S. 604. Der Name der Rose, aaO., S. 605.
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Irrtümer?“ „Oft“, strahlte er mich an, „aber statt immer nur ein und denselben zu konzipieren, stelle ich mir lieber viele vor und werde so der Sklave von keinem“.21
Die Konsequenz daraus scheint sein zu müssen, dass dieser Weg ins induktiv Zufällige und bloß Mögliche zugleich ins Gottlose führt; jedenfalls dann, wenn Gott mit der Ordnungstheologie der traditionellen Metaphysik als ens necessarium gedacht werden soll. Diese theologische Rückseite des Nominalismus macht den Willen Gottes undurchdringlich wie ein mystisches Nichts.22 Die „Freiheit Gottes“ ist „unsere Verdammnis“;23 an die Stelle von Offenbarung wird „Erfahrung“ gesetzt,24 deren Zugänglichkeit und Wahrheit der ferne Gott nicht mehr garantiert; und so kommt es zu dem wiederum schülerhaft trefflich formulierten Fazit: Ihr macht etwas „und wißt, warum Ihr es macht; aber Ihr wißt nicht, warum Ihr wißt, was Ihr macht?“25
2. Zeichendimension und Wirklichkeit Was treibt einen Zeichentheoretiker dazu, einen Roman zu schreiben? Abgesehen von allen biographischen Dispositionen des Autors gibt es dafür eine rein sachliche, nämlich eine semiotische Erklärung: Zeichen können sich offenbar unbegrenzt immer wieder aufeinander beziehen. Was dem einen Zeichen sein Objektbezug ist, stellt als solcher wiederum ein Zeichen für etwas anderes dar usw. Aber nicht nur in dieser zweistelligen Verkettung liegen die Zeichen beständig nacheinander, sie liegen – nach Peirces Beobachtung und Einführung des Interpretantenbezugs – sozusagen immer schon dreistellig ineinander verschränkt vor, genauer: menschliches Wahrnehmen, Erkennen und Denken ist selbst dergestalt strukturiert, nimmt anderes und sich selbst in dieser Weise wahr, so dass offenbar auch die wahrgenommenen Abläufe als solche und in ihrer Prozessualität in derselben Struktur vorgestellt werden müssen. Dies einmal vorausgesetzt, ist eine sthetische Folgerung unmittelbar einleuchtend: Zeichenzusammenhänge sind wie ein Spiel, in dem alles mit 21 22 23 24 25
Der Name der Rose, aaO., S. 391f. Der Name der Rose, aaO., S. 634. Der Name der Rose, aaO., S. 626. Der Name der Rose, aaO., S. 404. Der Name der Rose, aaO., S. 264.
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allem kombiniert und also frei gestaltet werden kann. Sicherlich ergeben sich dann ebenso unmittelbar ganz bestimmte Regeln und Abhängigkeiten, doch diese sind dem Kunstwerk, seinem Material, seiner Gattung usw. immanent, tangieren gerade nicht die Autonomie des prinzipiell freien Spiels möglicher Verknüpfungen. Das also hat den Zeichentheoretiker und Autor von „Stat rosa pristina nomine“ gereizt: die Realität der Möglichkeiten von Zeichenverweisungen einmal wie in Wirklichkeit durchzuspielen; und eine passende Definition des Zeichenbegriffs liefert dafür selbstverständlich Peirce, etwa diese: Ein Zeichen ist: Alles, was etwas anderes (seinen Interpretanten) bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird, und so weiter ad infinitum. 26
Wäre dies alles, was über Zeichen zu sagen wäre, bliebe die Ästhetik nicht nur für sich gesehen autonom, sondern die Wirklichkeit selbst wäre sthetisch und darin gänzlich autark, d. h. ein freies Spiel von Möglichkeiten, neben dem es nichts anderes gäbe. Dass dem nicht so ist, muss nicht bewiesen werden; und nur Ästheten, denen Ästhetik nicht eine Kunstlehre, sondern eine – und die alleinige – Lebensform ist, werden hier Zweifel anmelden. Peirce gehört jedenfalls nicht zu ihnen; auch nicht Kierkegaard, obwohl er als Autor eines Pseudonyms, das wiederum die „Papiere von A“ gefunden und ediert hat, zeitweilig so tut, als gäbe es nur diese Ästhetik, in der man zu leben verstehen muss. 27 Doch wie steht es mit Eco? Was garantiert die Realität der Dinge – einmal nicht-ästhetisch betrachtet –, wenn wir immer nur Zeichen von Zeichen von Dingen haben, die letztlich auf Zufallskonstellationen zurückgehen? Von der Wirklichkeit Gottes kann romanintern im Ernst nicht mehr gesprochen werden. Wo nur die Hypothesen der zeichendeutenden Menschen Realität haben, ist neben allem anderen auch die Religion – und in aufklärerisch-humanistischem Pathos gerade diese – nur ein Zeichensystem unter diesen anderen; reformbedürftig nicht nur, sondern mög26 Peirce hat diese Definition 1901 – 02 in Baldwin’s Dictionary of Psychology and Philosophy gegeben, vgl. dt. in Ch. S. Peirce. Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. v. Chr. Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt am Main 1986, S. 375. 27 Vgl. Sören Kierkegaard Entweder / Oder. Ein Lebensfragment, hg. v. Viktor Eremita. I. Teil, enthaltend die Papiere von A. (Kopenhagen 1843) in SKS 2 / GW1 1. – Vgl. im Namen der Rose das Vorwort des Autors / Herausgebers, das schon ironisch auf solch literarisches Versteckspiel Bezug nimmt: „Natürlich, eine alte Handschrift“!
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licherweise entbehrlich, ersetzbar, bloß relativ. – Und dies ist nicht nur gegenüber christlicher, sondern gegenüber jeder Religion ein gravierender Einwand: Sie wäre dann für denkende Menschen nur noch ein Objekt sozialpsychologisch-historischer Beobachtung, repräsentierte von der gesellschaftlich oder kosmologisch konstituierten Wirklichkeit her gesehen nur eine abgeleitete, eben relative und austauschbare Funktion – und gleiches muss dann selbstverständlich für jede Art von Verbindlichkeiten bzw. Realitätsauffassungen (die Religion ist dafür nur das hochrangigste Beispiel) gelten: Begründungen, Normen, Wertorientierungen verflüchtigen sich in ihren eigenen Zeichendimensionen. Kurz: Der ästhetische Vorzug von Zeichensystemen ad infinitum ist lebensweltlich gesehen ein Nachteil. So leben wir nicht; und was im Namen der Rose als moralische Verantwortung proklamiert wird, braucht offenbar noch einen anderen Modus, um das zu sein, was die fiktive Ebene des Romans immer nur vorgeben, nur vorspielen kann.
3. Zeichenprozess und dynamisches Objekt Woran liegt es, dass die Theorie der Zeichen nicht dasselbe sein kann wie die Praxis einer wirklichen Semiose? 28 Der Grund ist nicht nur der Zeichenbenutzer, der ja selbst der Produzent der Zeichentheorie ist, sondern noch allgemeiner gesagt die Tatsache, dass im dreistelligen Zeichenmodell der Akt – oder prozesshaft gedacht: der Vorgang – einer Semiose immer nur eine Bestimmtheit sein kann, die Ausgangs-, Orientierungs- und Zielpunkte kennt. Zwar lässt sich von jedem konkreten Geschehen dieser Art die Zeichenstruktur abstrahieren, dann aber ist sie eben abstrakt gegenüber dem wirklichen Fall ihres Vorkommens. Peirce hat diese Konkretion der Zeichenrelationen in doppelter Weise sichergestellt: Einmal dadurch, dass es sich in der Objekt-Relation nicht nur um das vom Zeichen her sozusagen angezielte und zeichen28 Semiosis wird mit Peirce definiert als „an action, or influence, which is, or involves, a cooperation of three subjects, such as a sign, its object, and its interpretant, this tri-relative influence not being in any way resolvable into action between pairs.“ – Vgl. Collected Papers of Ch. S. Peirce, hg. v. Charles Hartshorne und Paul Weiss, vol. I-VI, Cambridge: Harvard 1931 – 35, vol. V, S. 332 (in der üblichen Dezimalnotierung von Bd.– und Abschnittsziffer: CP 5.484) in dem Text: „A Survey of Pragmaticism“ aus dem Jahr 1907 (MS 318 nach der Manuskriptzählung von R. S. Robin Annotated Catalogue of the Papers of Ch. S. Peirce, Amherst 1967).
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interne Objekt handelt, das Peirce das ,unmittelbare‘ nennt, sondern immer auch um das im Prozess der Wahrheitsfindung entscheidende ,dynamische Objekt‘ der Gegenstandswelt, auf die verwiesen wird bzw. von der das Zeichen überhaupt herkommt.29 Zum andern dadurch, dass in der Interpretanten-Relation zwischen dem ,unmittelbaren‘, ,dynamischen‘ und ,finalen Interpretanten‘ unterschieden wird,30 worin sich die pragmatizistische Pointe von Peirces Semiotik erst richtig zur Geltung bringen lässt. Die Wirkung des Zeichen-Objekts im Interpretanten ist also nicht allein wiederum zeichen- und objektbezogen (und das ad infinitum), sondern sie ist wesentlich verhaltensbildend und handlungsbezogen. In Wirklichkeit also sind Zeichenrelationen nicht allein freie Möglichkeitsverknüpfungen, sondern sie sind zugleich gegenstandsrelevant und verhaltensprägend. Das zeigt am besten wiederum das Beispiel Religion: Zwar genügt zur Begründung für das Faktum, dass es Religion überhaupt gibt, der in spezifischer Weise notwendige Umgang mit ursprünglicher Möglichkeit als solcher – jetzt nicht gedacht als ästhetisch produziertes Spiel, sondern als Aufnehmen und charakteristisch eigenes und angemessenes Umgehen mit den kreatürlichen und immer vorgegebenen Ermöglichungen,31 wie sie die religiöse Sprache im Rahmen von Schöpfungsvorstellungen, den Ritualen und Liturgien des Dankes, der Verehrung usw. zum Ausdruck bringt. Hinzu tritt dann mit geschichtlicher Notwendigkeit die existentielle und gegenständliche Darstellung der jeweils so bestimmten Religion, deren geschichtlicher Bezug für sie konstitutiv und nicht beliebig ist, und dessen Vergegenwärtigung erst die Lebendigkeit des jeweiligen religiösen Selbstverständnisses und Lebenszusammenhanges ausmacht. Im Falle der christlichen Religion handelt es sich unter diesen beiden Aspekten um die christologische Verankerung des trinitarischen Got29 Vgl. dazu z. B. die Darstellung von Helmut Pape Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozeß. Ch. S. Peirces Entwurf einer Spekulativen Grammatik des Seins, Frankfurt am Main 1989, Kap. 7. 30 Vgl. aaO., Kap. 8. 31 So gesehen (und dann anders als im Roman selbst verstanden) sind Williams und Adsons Bemerkungen zur Gottesvorstellung am Ende des Namens der Rose weder nominalistisch noch destruktiv gegenüber einer Onto-Theologie, sofern diese nicht mehr den Denkzwängen der antik-mittelalterlichen Substanzmetaphysik unterliegt. – Zum Anschluss von Peirces Gottesargument an die Neuzeitliche Problemgeschichte der sogenannten Gottesbeweise vgl. Hermann Deuser Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilosophie, Berlin/New York 1993.
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tesglaubens in der Geschichte und den Geschichten des Mannes aus Nazareth, die wiederum in der Gegenwart des Geistes verhaltens- und handlungsorientierend wirksam werden. Semiotisch und mit Peirces Terminologie ausgedrückt: im „dynamischem Objekt“ artikuliert sich die unaufgebbare geschichtliche Existenzbeziehung und im „finalen Interpretanten“ die pragmatizistische Wendung und lebensweltliche Konkretisierung auf jeweils mein Leben in seinem Gegenwartskontext von Verhalten und Handeln.32
4. Christliche Religion und der offene Kreis der Semiose Für die christliche Religion ist diese Zeichentheorie geradezu mustergültig im Gespräch zwischen Jesus und Nikodemos33 abgebildet und angewandt.34 Die göttlichen „Zeichen“ Jesu35 verweisen letztlich auf ihn selbst als den „Menschensohn“,36 was aber den fundamental religiösen Interpretationszusammenhang voraussetzt, sich selbst von Gott her verstehen zu können, und dies wiederum ist Wirkung des neuen „Geistes“, der weht, wo er will.37 Diese Geisterfahrung bleibt unableitbar, sie setzt sich in ihrem Auftreten immer selbst voraus, ist ein Erstes;38 dessen 32 Das ist in Ecos späterer Peirce-Rezeption, wie er sie im 2. Kap. des Bandes Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzhlenden Texten, München 1987, vorstellt, sehr schön zum Ausdruck gebracht: „Somit hat Peirce durch seinen eigenen Pragmatizismus mit dem ihm ebenfalls eigenen scotistischen Realismus abgerechnet: die Handlung, die Aktion ist der Ort, wo die Haecceitas dem Spiel der Semiose ein Ende setzt“ (aaO., S. 55), wobei ,scotistischer Realismus’ von Eco an dieser Stelle offenbar als eine Form von ,Idealismus’ (aaO., S. 54) verstanden wird. – Zur Entwicklung und kritischen Lektüre von Ecos PeirceRezeption vgl. V. M. Colapietro Peirce’s Approach to the Self. A Semiotic Perspective on Human Subjectivity, New York 1989, S. 28 – 38. 33 Joh 3. 34 Zur semiotisch-exegetischen Analyse und Interpretation des Johannes-Evangeliums vgl. die Arbeit von Trond Skard Dokka gjenkjenne den ukjente. Om menneskers mulighet for kjenne Gud – en studie basert p Johannes-evangeliets tegnstoff, Diss. Teol. Universität Oslo 1989; dazu Hermann Deuser „Følelsen af førsthed“ in Norsk Teologisk Tidsskrift 91 (1990), S. 141 – 147. 35 Joh 3, 2. 36 Joh 3, 13. 37 Joh 3, 7f. 38 Peirce schreibt 1909 kommentierend zu seinem Gottesargument (aus dem Jahr 1908, vgl. CP 6.452 – 6.485): „Der Beweis für das Sein Gottes, der die meiste Kraft besitzt, ist der folgende: Wer ernsthaft danach fragt (und wer dies tut, muß
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spezifische Gegenständlichkeit und Aneignungsform können dann in einem zweiten und dritten Schritt aber durchaus angegeben werden: „Wasser und Geist“ als Zeichen für die Taufe39 sind sozusagen die objektiven Gegebenheiten, unter denen sich das vollzieht, was im christlichen Interpretanten „Sohn Gottes“ heißt,40 und dieser Zusammenhang lässt sich wie folgt erläutern: Das ursprüngliche und unableitbare Wirksamwerden des Geistes hat seine Existenzbeziehung in Jesus als dem Sohn Gottes, und diese charakteristische christologische Doppelung von Mensch und Gott ist in dieser Hinsicht konsequent und führt notwendig in die auf dieser Ebene offen gehaltene Frage41 nach der Einheit des Verschiedenen, nach dem Modus des „Zusammen“ von historischer Menschlichkeit und nicht historisch zu begrenzender Göttlichkeit in einer Person. Dieser Konflikt bzw. die in dieser Hinsicht der personalen Existenz unauflösbare Paradoxie von Himmelsaufstieg und Erniedrigung,42 von Liebe und Opfer43 löst sich erst an dritter Stelle, wenn der Glaube44 als Modus des „Zusammen“ eingeführt ist. In ihm trifft sich in glücklicher Weise, was die ursprüngliche Geisterfahrung ermöglichte und die geschichtliche, christologische Vergegenständlichung bis in die äußersten Konsequenzen von Tod und Leben darstellte – und bis heute erzählen lässt; was folglich in der Symbolik von „Licht“ und „Finsternis“45 nicht einfach gleichgewichtig gegeneinandersteht, sondern in christlicher Geist- und Lebenserfahrung die spezifische Differenz von
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zuerst vom Nominalismus befreit worden sein, damit nicht länger die Geltendmachung von Gottes Realität mit der Existenzaussage, daß Gott existiert, verwechselt wird; denn dies – weil es sich um einen Widerspruch in terminis handelt – wird niemanden, der bei klarem Verstand ist, auch nur für fünf Minuten zum Nachdenken veranlassen), wer also wirklich über Gottes Realität nachdenkt und sie als reine Hypothese betrachtet – und wer dies nicht getan hat, ist nicht geeignet, sein Urteil abzugeben –, der wird tatsächlich an sich entdecken, daß er gänzlich unfähig geworden ist, die Hypothese in Zweifel zu ziehen; und das ist für ihn mehr als ein Beweis – das ist Rationaler Zwang.“ (Übersetzt aus MS 641, S. 19f. H.D.) Joh 3, 5. Joh 3, 16ff. Joh 3, 9. Joh 3, 13. Joh 3, 16. Joh 3, 18. Joh 3, 19ff.
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„Reich Gottes“46 und Welt ausmacht: Die herrschende Finsternis bestimmt nicht über die Wahrheit, sondern in jener und gegen sie das Licht. Können solche Zeichenzusammenhänge beliebig ausgetauscht oder ersetzt werden? Das unableitbare Zeichen Gottes 1), d. h. die ursprüngliche Ermöglichung der Geisterfahrung, verhält sich zu ihrer (christologischen) Gegenständlichkeit 2) und tut dies wiederum im Interpretantenbezug des Glaubens 3). Auf der Diskussionsebene des Religionsvergleichs, wiederum einer Abstraktionsebene also, ist die Formalisierung dieses Zusammenhanges bis zu einem gewissen Grade nicht nur möglich, sondern sogar nötig. Diese Operationen geschehen aber nicht auf der Ebene des jeweils gelebten Lebens, wo bestimmte Verhaltens- und Handlungsbezüge (im historischen Kontext) bereits entschieden oder zu entscheiden sind. Insofern müssen in dieser Hinsicht und quer zu allen anderen linguistisch motivierten Zeichensystematisierungen offensichtlich zwei Dinge auseinandergehalten werden – und Ecos Peirce-Interpretation hat das inzwischen auch getan und damit die rein ästhetische Zeichenauffassung jedenfalls relativiert: In einer solchen Betrachtungsweise schließt sich der Kreis der Semiose in jedem Augenblick und schließt sich dennoch nie. Das System der semiotischen Systeme, das als ein – auf idealisierte Weise von der Realität abgetrenntes – kulturelles Universum erscheinen könnte, führt in Wirklichkeit dazu, in der Welt zu handeln und sie zu verändern; doch verwandelt sich jede dieser verändernden Aktionen ihrerseits in ein Zeichen und eröffnet damit einen neuen Prozeß der Semiose.47
5. Religion zwischen Fallibilismus und Realismus Es bleibt hier natürlich noch unklar, worin die Kontinuität zwischen „jedem Augenblick“ des praktischen Lebens und der prinzipiellen theoretischen Offenheit von Zeichensystemen als Systemen bestehen soll. So sehr dies Resultat in Ecos Peirce-Interpretation der pragmatischen Handlungssituation als Ort der Semiose gerecht zu werden sucht, der allgemeine „Prozeß der Semiose“ scheint doch immer auch über den Konkretionen zu schweben. Peirces Selbstinterpretationen seiner Philosophie in den Jahren nach 1900, verbunden mit den Stichworten: Pragmatizismus, Synechismus und Kontinuum, gelten genau dieser 46 Joh 3, 3. 47 Umberto Eco Lector in fabula, aaO., S. 56.
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Fragestellung: Worin ist die Zuordnung zu denken zwischen der praktisch auf Objekte bezogenen und auf bestimmbares Verstehen und Handeln angewiesenen Lebenssituation einerseits und der gerade auch dadurch nicht für abgeschlossen zu erklärenden semiotischen Prozessualität andererseits? Ließe sich diese Frage nicht beantworten, müssten also diese beiden Hinsichten der Lebenspraxis und der semiotischen Theoriesysteme unverbunden für sich bestehen bleiben, würde sich – jetzt nur auf höherer Ebene – der Nominalismus-Einwand wiederholen. Nicht das ästhetische Spiel der Zeichen mit Zeichen wäre jetzt einzuwenden, sondern der Unernst der nur vorgeblich verbindlichen (ethischen) Lebensentscheidungen, weil sie ja doch dem Kreislauf oder der unendlichen Reihe der ewigen Wiederkehr von Zeichen für Zeichen unterlägen. Die semiotischen Systeme würden zum Schein in bestimmten Situationen ernst genommen, auf bestimmte Objekte bezogen und auf bestimmte Handlungen und erkannte Regeln angewendet, bei genauerem Hinsehen erstünde aber doch das Bild, Konkretes verschwinde letztlich immer wieder im Saugeffekt semiotischer Transpositionen und Steigerungen durch weitergehende Interpretanten für Zeichen von Objekten, wobei dann vor allem letztere und ihre Interpreten sozusagen auf der Stelle mit verschwänden. Wiederum ist die Religion und die Religiosität einzelner Menschen bestes Beispiel, was diese Zeichenlehre bedeuten müsste. Denn Geisterfahrung, die christologische Bindung an bestimmte Geschichtszusammenhänge und die Gegenwärtigkeit des darin sich ereignenden Glaubens und Handelns wären dann zwar semiotisch wohl zu analysieren und in begrenztem Rahmen auch zu begründen, sie wären gegenüber dem angewandten semiotischen Theorie-Instrumentarium zugleich aber ein prinzipiell unterlegenes Anwendungsmodell, so wie das Leben überhaupt (und alle seine denkbaren Verbindlichkeiten) zum bloßen Material für Illustrationen herabgewürdigt würden. Glauben, Leben und Handeln als illustre Widerspiegelungen ihrer selbst? Peirce hat an dieser Stelle die unumgänglichen kosmologischen und ontologischen Konsequenzen gezogen, die sich aus dem beschriebenen Patt ergeben, dass praktische Lebenssituation und semiotische Theorie zum Schaden beider isoliert zueinander stehen. a. Sollen Zeichenmodell und die pragmatische Situationsbestimmtheit des Interpretanten zugleich gelten (ohne dass sie gegeneinander strukturalistisch oder existentialistisch ausgespielt werden), so muss die Wirklichkeit selbst als Prozess der Wahrheitsbildung – evolutionistisch –
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gedacht werden;48 und in diesem Prozess sind menschliches Denken und Handeln mit beteiligt; aber eben nur ein Teil, nicht und an keiner Stelle das Ganze. Die hier nötige Perspektive sub specie aeternitatis kommt Menschen gerade nicht zu, zugleich wird aber deutlich, welchen Rang sie einnimmt: Weil die Ganzheit eines Prozesses sich aus prinzipiellen Gründen nicht denken und erfahren lassen kann, wird eben dies als Problem klar und drängt sich auf. b. Der Ort, an dem in diesem Sinne weitergedacht und spezifischen Erfahrungen dieser Art nachgegangen wird, ist die Religion. Auf den Prozess als Prozess einzugehen, ist der Religion deshalb möglich, weil sie – in ihrer genuinen Leistung betrachtet – gar nicht objektivistisch verfahren und sich an existierenden Fakten messen kann, sondern, von der Unbestimmtheit des Gefühls und ursprünglicher Geisterfahrung herkommend, diese mit dann geschichtlich bestimmbaren Symbolen und ihnen angemessenen Verhaltensweisen und Handlungsimpulsen weiter ausarbeitet und tradiert. So gesehen hat die Religion etwas Verwandtes mit der Kunst, nur dass die religiösen Symbole nicht künstlerisch und materialbezogen ,gemacht‘ sind (also nicht eine Re-Produktion dessen sind, was eigentlich ursprünglich ist), sondern – im originalen Fall – immer der Versuch, das kreativ Ursprüngliche selbst zum Ausdruck zu bringen.49 48 Diese Wendung kommt im folgenden Zitat aus Peirces Aufsatz von 1905 „Kernfragen des Pragmatizismus“ sehr schön zum Ausdruck: „Es erscheint seltsam, wenn man einmal darüber nachdenkt, daß es ein Zeichen dem Interpreten überlassen sollte, ihm einen Teil seiner Bedeutung zu geben. Doch die Erklärung des Phänomens liegt in der Tatsache, daß das gesamte Universum – nicht bloß das Teil-Universum des Existenten, sondern das ganze weitere Universum, das das Universum des Existenten als einen Teil umfaßt, das Universum nämlich, auf das wir uns alle üblicherweise als ,die Wahrheit’ beziehen – daß dieses ganze Universum von Zeichen durchzogen [perfused] ist, wenn nicht sogar ausschließlich aus Zeichen besteht.“ – Vgl. CP 5.448, aaO., (Anm. 28), S. 302; hier zit. nach Helmut Pape „Einleitung“ zu Semiotische Schriften, Bd. 1, aaO., S. 63; die Stelle findet sich ebenfalls in Peirce Schriften zum Pragmatismus […], hg. v. Karl-Otto Apel, aaO., S. 482. 49 Peirces Definition der Religion lautet dementsprechend: „Sie ist eine Art Gefühlsregung in jedem einzelnen Menschen, oder auch: eine verborgene Wahrnehmung, eine Tiefe Erkenntnis von etwas im uns umgebenden All; und wenn wir versuchen, diesem Gefühl Ausdruck zu geben, so wird es sich in mehr oder weniger extravaganten Formen verkleiden und mehr oder weniger zufällig erscheinen, immer aber wird es sich bekennen zu einem Ersten und Letzten, dem A und Y, und in derselben Weise bezogen sein auf dies Absolute, dem das individuelle Selbst eines Menschen als relatives Sein gegenübersteht.“ – Übersetzt aus
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c. Die Frage ist nun erst recht, wie die so bestimmte Religion bzw. der so semiotisch, ontologisch und kosmologisch verstandene Prozess der Evolution den Gedanken und die Wirklichkeit der Kontinuitt festhalten kann. Dabei geht es um den realen und konkreten Zusammenhang zwischen ursprünglicher Fülle der Möglichkeiten, existenter Gegenständlichkeit und den Gesetzmäßigkeiten, in denen sich Natur und Geist geschichtlich darstellen. Peirces Synechismus vertritt die Lehre, dass Kontinuität in Zeit und Raum real sind und menschliches Bewusstsein daran partizipiert.50 Zugleich ist damit eine faktisch unausschöpfbare Unendlichkeit mitzudenken, die dazu berechtigt, erste vage, hypothetische Bestimmungsversuche als ebenso real zuzulassen, wie dies bezüglich Existenzbestimmungen und Gesetzesaussagen gilt. Die Hypothese Gott hat damit ihren legitimen Ort auch von der Logik des Erkennens her, die Gefühl und ursprüngliche Geisterfahrung aus ganz prinzipiellen Erwägungen der kosmologischen Evolution nicht ausschließen kann – will sie nicht einen Fehler begehen; und die Symbolleistungen der Religion sind nichts als der Ausdruck für die so erfasste Realität des Universums. d. Diese Verabschiedung des Nominalismus bedeutet also keineswegs den Rückfall in supranaturale Gegenständlichkeiten, auf deren unbegründbare Behauptung Metaphysik und christliche Religion rückständigerweise angewiesen wären, sondern die synechistische Realitätsauffassung beruht auf der wissenschaftlichen Einstellung, Hypothesen zu prüfen und Gesetze zu formulieren. Peirces Semiotik ist also zugleich realistisch und fallibilistisch, ohne dadurch beliebig zu werden oder zwischen praktischer Semiose in der Lebenssituation und theoretisch unendlichen (und abstrakten) Zeichensystemen nicht mehr vermitteln zu können. Wenn die Lehre des Fallibilismus für alle moderne Wissenschaft gilt,51 so scheint dadurch traditioneller Moralität und Religion, soweit sie überhaupt mit Wissenschaft in Verbindung bleiben wollen, der Boden entzogen zu werden. Demgegenüber hilft es wenig, für den Standpunkt CP 6.429, d. h. aus Peirces Artikel „Die Vermählung von Religion und Wissenschaft“, 1893 für die Zeitschrift The Open Court. Journal for Religion and Science geschrieben. 50 Vgl. zu einer ersten Übersicht zu Peirces Philosophie des Kontinuums den Artikel von M. G. Murphey in The Encyclopedia of Philosophy, 1972, vol. 6, S. 70 – 78; bes. S. 76ff. 51 Peirce schreibt 1892 im MS 955 (in CP 1.141 – 1.175 mit Auslassungen übernommen): „Alles in allem heißt das, wir können auf keine Weise Gewißheit oder Exaktheit erreichen. Wir haben niemals ein Recht, absolut sicher zu sein oder einen Satz für vollkommen richtig zu halten“ (aaO., S. 8).
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der Kirchen einen Sonderfall von Infallibilität geltend zu machen; und solchen ,dogmatischen‘ Behauptungen gegenüber ist der nominalistische Einwand – semiotisch ausgedrückt: die bloß offene Reihe von Zeichenverweisungen – zunächst immer im Recht. Die Vereinbarkeit von Fallibilismus (als der wissenschaftlich unumgänglichen Wahrheitsauffassung aufgrund probabilistischer Induktion) und Realismus (der die Vagheit religiöser Hypothesen und die anthropomorphe Symbolik der religiösen Sprache ebenso einschließt wie die zur kritischen Überprüfung anstehenden Existenzaussagen) liegt für Peirce gerade darin, dass in „Wahrheit real ist […], was uns früher oder später dazu zwingt, es anzuerkennen.“52 Daraus folgt Zweierlei: Erstens die Maxime, den weiteren Fortgang der Forschung und Wahrheitsfindung nicht zu blockieren (also beispielsweise tolerant zu sein!),53 und zweitens die Anerkennung von Erfahrung als nicht hintergehbares Ausgangsfeld all unseres Wahrnehmens, Wissens und Denkens. Diese zweite Folgerung bewahrt den Fallibilismus vor lebensfremder Skepsis ebenso wie vor der dogmatistischen Konstatierung angeblich unerkennbarer Faktizitäten. ,Erfahrung‘ ist demgegenüber „der geistige Vorgang in seiner Gesamtheit“,54 weshalb Gott nicht Produkt eines theoretischen Schlusses auf etwas sein kann, sondern gerade integraler Bestandteil dieses Begriffes von Erfahrung: „Was Gott betrifft, öffne Deine Augen – und dein Herz, das ebenso ein Organ der Wahrnehmung ist –, und Du siehst ihn.“55 e. In Peirces Philosophie des Synechismus kommen also Theorieund Lebensformen in einer Weise zusammen, die für unsere Fragestellung vielleicht am besten als kategoriale Semiotik zu bezeichnen ist. Die drei universalen Kategorien der Erfahrung stellen dabei die ontologische Fassung der semiotischen Struktur dar, jener Dreigliedrigkeit, die theologisch in der trinitarischen Rede von Gott als Selbstausdruck dieser Erfahrung wiederkehrt.56 Insofern ist die christliche Religion wohl Zeichen unter Zeichen, dies aber in ausgesprochen prinzipieller und unentbehr52 53 54 55 56
So formuliert in MS 860, S. 6, aus dem Jahr 1894. Vgl. MS 860, S. 10ff. MS 860, S. 15. MS 860, S. 16. Dieser Textteil ist abgedruckt in CP 6.493. Vgl. dazu Hermann Deuser Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilosophie, Berlin/New York 1993. – Die sachlich zwingende Verknüpfung zwischen Kategorienlehre, Forschungslogik, Semiotik und Religionsphilosophie findet sich präzise dargestellt bei L. Schulz „Die Religionsphilosophie von Ch. S. Peirce“ in Testimonianza religiosa e forme espressive, vol. II, Perugia 1990, S. 273 – 334.
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licher Weise – eine Sicht der Dinge, der sich auch Adson von Melk letztlich nicht verschließen würde, lebte sein Lehrer und Meister im 19.–20. Jahrhundert.
Gotteserfahrung und Existenzkategorie I. Es ist das charakteristische Merkmal aller Kategorien, dass sie in bestimmter Weise zwischen Denken und Sein ihren Platz haben. Denn wäre die Strukturierungsleistung der Kategorien im strengen Sinne nur Gedachtes, würden sie allenfalls per Zufall zur wirklichen Welt irgendwie passen. Umgekehrt können sie auch nicht aus der Wirklichkeit wie sie ist einfach aufgelesen werden, denn entweder ist an dieser dann gar nichts zu erkennen, oder die Arbeit des Denkens ist bereits ein Teil oder Aspekt von ihr – und die Behauptung von Kategorien wäre notwendig tautologisch oder zirkulär. Doch nicht nur das. Die Geschichte der Kategorienlehren ist mit der Frage zu belasten, ob die ,Präzisierung‘ kategorialer Hinsichten nicht dadurch erreicht wurde, dass unzulässig aus der Wirklichkeit menschlichen Lebens abstrahiert wurde.1 Unzulssig in dem Sinne, dass die abstrahierte Wahrheit der Kategorien (gewonnen an der Struktur des Satzes oder Urteils) sich vom erlebten Leben der Menschen so weit entfernt, dass von einer hilfreichen, das Leben zwischen Geburt und Tod verstehenden und deshalb orientierenden kategorialen Zwischenstellung nicht mehr die Rede sein kann. Denn auch hier gilt: Dieses Leben ist weder nur Denkleistung noch sich selbst nur gegenständlich, auch wenn die neuzeitlichen Wissenschaften mit einigem Erfolg die Denk- und Körpersubstanz als solche herauspräpariert haben. Wozu unser Leben zwischen den Grenzwerten von Sein und Nichtsein eigentlich sei, woher es kommt und wohin es denn geht – in diesen ebenso vitalen wie metaphysischen Fragen ist das immer vorausliegende Welt- und Selbstverhältnis der
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Auf diesen kritischen Aspekt des Wortes ,Präzisierung’ zielen W. Jankes Analysen der klassischen Ontologien und ihrer Kategorienlehren, vgl. „Existenziale Ontologie. Ein Problemaufriß“ in Perspektiven der Philosophie, Neues Jb., Bd. 18 (1987), S. 111 – 134; „In-der-Zeit-sein. Beispiele für eine postmetaphysische Kategorienlehre“ in Krisis der Metaphysik. FS W. Mller-Lauter, hg. v. G. Abel und J. Salaquarda, Berlin / New York 1989, S. 389 – 416.
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Menschen verborgen;2 und zugänglich wird beides offenbar nicht im direkten Zugriff, sondern erst über sein drittes, das Gottesverhältnis. – Diese Fragen sind offensichtlich nicht stillgestellt, wenn die Philosophie sie nicht mehr behandeln will oder kann; im Gegenteil, sie regieren weiter, nur dass sie sich dann nicht mehr kritisch formulieren lassen und kein ihnen wirklich nahes Denken mehr Orientierungsimpulse für wahres Leben wagt.
II. Es war Kierkegaards Projekt, andere als die metaphysischen Kategorien ins Spiel zu bringen. Das Stichwort ,Metaphysik‘ steht hier synonym vor allem für die neuzeitlichen Denksysteme, denen Kierkegaard eine systeminterne Wahrheit des Denkens nicht bestreitet, wohl aber die Zuständigkeit für das alles entscheidende: die menschliche Existenz.3 Die ,Existenz‘ als Kategorie einzuführen kommt dabei einer Provokation gleich, denn zu existieren ist ein Faktum, kein Denkprodukt; und die polemische Spitze wird erst recht darin zum Ausdruck gebracht, dass Kierkegaard sogar vom ,Paradox‘ als einer ,Kategorie‘ und ,ontologischen Bestimmung‘ sprechen kann.4 Allerdings geschieht dies nicht, um eine exklusiv irrationale Kennzeichnung des menschlichen Daseins zu befürworten, sondern um die entscheidende Zwischenstellung der Existenzkategorie zu markieren, die nach Kierkegaards Auffassung die allein humane sein kann: dass sie nämlich „das Verhältnis zwischen einem existierenden, erkennenden Geist und der ewigen Wahrheit ausdrückt.“ Mit dieser Ortsbestimmung wird allerdings vorausgesetzt, dass das menschliche Dasein ebenso wie die Existenz der Welt nicht ausreichend aus sich selbst erklärt werden können, dass also die Immanenz der Faktizität von sich selbst her auf einen Zusammenhang angelegt ist: Das
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„Kategorien sind sonach die leitenden Hinsichten menschlicher Rede in der Urgestalt der Frage“ (W. Janke „In-der-Zeit-sein“, aaO., 390). Zu Kierkegaards Begriff der Existenz vgl. W. Janke Existenzphilosophie, Berlin / New York 1982 (Kap. I). S. Kierkegaard Journale NB:125 in SKS 20, 88f. / T 2, 80. Es handelt sich um eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1847 zu Kants Lehre vom „radikal Bösen“. Vgl. zur Kierkegaard-Interpretation und zur genaueren Bestimmung der Kategorien im Rahmen von Kierkegaards Gesamtwerk H. Deuser Kierkegaard. Die Philosophie des Religiçsen Schriftstellers, Darmstadt 1985 (bes. Kap. V).
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Faktische muss gerade dann umgriffen sein, wenn es als Faktisches wahrgenommen, erkannt und erfahren wird. Im Falle Kierkegaards kommt es an dieser Stelle, dem Begründungszusammenhang der Existenzkategorie, zu einer gewissen Zweideutigkeit dadurch, dass in seinen pseudonymen (philosophischen und theologischen) Schriften einerseits die ,ewige Wahrheit‘ ganz traditionell als Welt der Ideen und Denkformen, der ethischen Idealität und der Inhalte der (lutherischen) christlichen Dogmatik vorausgesetzt wird, während er sich andererseits in keiner Weise mehr um eine Begründung auf dieser metaphysischen Ebene bemüht. Die Absicht seines Gesamtwerkes ist folglich die, aus der Kollision der metaphysischen Vorgaben mit dem Pathos gelebten und zu lebenden Lebens (,Existenz‘) eine neue Sicht der Dinge und eine alternative Konzeption von Philosophie und Theologie auf den Weg zu bringen; und dieser Neuansatz wäre dem längst seiner selbst bewussten historischen und wissenschaftlichen Zeitalter weder durch obsolete Formen von Metaphysik noch durch hilflose Anpassung an den positivistischen Zeitgeist ausgeliefert. Kierkegaards Existenzkategorie ist dieser Versuch, ohne Metaphysik5 auszukommen, weil die lebensentscheidenden Strukturbestimmungen des Denkens eben in dem Zwischenraum zu finden sind, wo Gedachtes (Phantasien, reale Möglichkeiten, notwendige Bestimmungen) in Wirkliches (Entscheidungen, Lebensformen, konkrete Bedingungsannahmen) bergeht. Hierfür steht seine zentrale Kategorie des ,qualitativen Sprunges‘, die sich als solche konsequent der wissenschaftlichen Erklärung entzieht, die aber gerade durch ihren Übergangscharakter vom Denken zum Existieren kategoriale Bedeutung hat: Es muss so gedacht werden, dass dieser Vorbehalt, den Verwirklichungsvorgang nicht deduzieren zu können, zu seinem Recht kommt; das ist eine genuine Forderung der Freiheit, die wiederum als Verwirklichungsvorbehalt die anthropologische Bestim-
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Auch dies ist nicht eindeutig, denn die Einleitung zu Kierkegaards früher Schrift Die Wiederholung spricht an berühmter Stelle von einem ,Interesse der Metaphysik’, woran diese allerdings scheitere, nämlich der ,Wiederholung’ (vgl. G in SKS 4, 25f. / W in GW1 4, 22); und eine Tagebuchnotiz noch aus dem Jahr 1853 spricht ausdrücklich von der „Wiederholung als der Kategorie, um die es sich noch einmal drehen wird“ (Pap. X 6 B 236, S. 396). Was Kierkegaard vor allem im Begriff Angst als ,neue Wissenschaft’, als ,secunda philosophia’ unter bewußtem Rückgriff auf die Kategorie der Wiederholung vorschwebt (vgl. Der Begriff Angst in SKS 4, 325f. u. 328f. / GW1 7, 15 u. 19), ist offenbar eine alternative, nicht mehr abstrakte Konzeption von Metaphysik.
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mung des Menschen als Geist in einem Gefüge von Relationen ausmacht.6
III. Das Gottesverhltnis ist insofern für Kierkegaards Denken einerseits eine Selbstverständlichkeit, andererseits von der Existenzkategorie her gesehen gerade die bewusst und künstlich offengehaltene Fragerichtung, um die sich alles dreht. Denn die Transzendenz gilt erst dann wirklich, wenn sie existentiell bezogen ist und also im Blick auf die Kategorie der Existenz konsequent bearbeitet werden kann. Das geschieht erstens in den Konfliktfeldern menschlichen Lebens, im Bestimmen und Auslegen seiner selbst, also in den Phänomenen, die seit Kierkegaard die Existenzphilosophie und Existenztheologie differenziert und überzeugend beschreiben haben: Angst, Sorge, Verzweiflung, Langeweile, Schuld, Reue, Augenblick, Zeitlichkeit etc. Dabei kommt es zweitens in methodischer Hinsicht zum Verfahren der ,indirekten Kommunikation‘: Weil die Existenzkategorie auf ihrer Stellung zwischen Denken und Sein beharrt und gerade keiner ,Mediation‘ im Sinne von Hegels Philosophie des Geistes zustimmen will, können die existentiellen Erfahrungen nur literarisch verstellt – mit den Mitteln von Ironie und Humor, Appell und Angriff, der Erzeugung von Stimmungen, Identifikationen und bewussten Identifikationsbrüchen – umkreist und also nur indirekt und unter dem Vorbehalt der Aneignung durch einen einzelnen Menschen erreicht werden. Doch das unterstreicht nur um so mehr die sachliche Zweideutigkeit, ob die Zwischenstellung der Existenzkategorie notwendig auf metaphysische Voraussetzungen bezogen bleiben bzw. eine Ontologie unter veränderten Bedingungen und in neuer Weise erarbeiten will und muss, oder ob die Existenzkategorie ihre Herkunft aus der Kollision von Metaphysik und Faktizität einseitig bereinigt und sich dann frei von metaphysischen (und theologischen) Allgemeinheiten bewegen will; sozusagen als eigene Sparte säkularer, neuzeitlicher Philosophie unter dem Namen ,Existenzwissenschaft‘. Während es für Kierkegaard selbst keinen Zweifel gab, dass seine Entdeckung der Existenzkategorie immer im Dienst der Verteidigung und Ermöglichung von Gotteserfahrung stand, ist dies für das kategoriale 6
Diese Zusammenhänge sind in Kierkegaards Schriften Der Begriff Angst und Die Krankheit zum Tode entfaltet.
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Existenzdenken im 20. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich. Demgegenüber ist daran festzuhalten, dass es sich bei dieser Zuordnungsfrage nicht um ein beliebiges weltanschauliches oder bloß biographisches Akzidenz handelt, sondern eben um den Begründungszusammenhang der Existenzkategorie: Das ,Zwischen‘ der Existenz in der ihr eigenen Erfahrung zwingt zur kategorialen Bestimmung der Existenz im bergang, dessen Wozu, Woher und Wohin sich aber nicht wiederum zirkulär bloß als Prinzip des Übergehens beruhigen lassen kann. Das Insistieren der Existenz auf ihrer puren Faktizität widerspricht unseren Erfahrungen im Übergehen von bestimmten Zuständen zu qualitativ anderen – bei durchgehaltener Identität eines geistigen Selbst in diesen Relationen. Die in diesen Akten aufweisbare Freiheit lebt in akuten Denk- und Erfahrungszusammenhängen, von denen her sie motiviert ist und auf die hin sie sich handelnd entwirft. Die Deskriptionen von Einzelzuständen decken diesen wirksamen Gesamtzusammenhang gerade nicht ab, d. h. er muss als solcher auch gedacht werden, weil er real so gelebt wird. Blendet die Existenzkategorie diesen Realitätszusammenhang nicht aus – was sie eigentlich aus prinzipiellen Gründen auch gar nicht tun kann, was aber faktisch aufgrund bestimmter historischer, philosophiegeschichtlicher und religionspolitischer Bedingungen doch geschah –, so sind Gotteserfahrung und Existenzkategorie tendenziell immer zwei Seiten derselben Sache. Die Entschiedenheit der Existenz zu sich selbst ist nur sinnvoll in den realen Relationen, die nicht nur aus dem Faktum der Existenz bestehen und die als solche Relationen notwendig das Thema der Metaphysik bleiben.
IV. Wegen der angesprochenen Zweideutigkeit der metaphysischen Vorgaben der Existenzkategorie soll ein Neuansatz skizziert werden, der aufgrund der Geschichte des Existenzdenkens den folgenden Problemstand berücksichtigen muss: 1. ,Existenz‘ wird verstanden im ,Zwischen‘ der Selbsterfahrung menschlichen Daseins, Idealität auf die eigene Faktizität beziehen zu müssen.7’ 7
Klassischer Ausdruck dieses Prinzips der Existenzkategorie ist Kierkegaards sog. Spinoza-Anmerkung in den Philosophischen Brocken in SKS 4, 246f. / GW1 6, 39f.
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2. Kategorien sind dadurch ausgezeichnet, dass sie die charakteristische Zwischenstellung einnehmen, aus der sich das Verhältnis von Denken und Sein strukturieren lässt. 3. Die ,Przisierung‘ der Kategorien darf nicht so vorgenommen werden, dass der Lebenszusammenhang abgeschnitten wird, aus dem die Kategorienfrage doch stammt und dem sie dienen soll. 4. Die metaphysische Verallgemeinerung dessen, was erfahren wird, bedeutet keine supranaturale Zusatzannahme oder Hinterwelt, sondern ergibt sich notwendig aus dem realen Lebenszusammenhang selbst. 5. Gotteserfahrung – als hypothetische Möglichkeit, religiöse Wirklichkeit und (in gewissem Sinne) existentielle Notwendigkeit – ist dementsprechend eine Implikation des Kategoriensystems, das nicht reduktionistisch angelegt ist und also prinzipiell keinerlei Erfahrungsvorgänge ausschließen will. Im folgenden soll die These vertreten werden, dass die von Charles S. Peirce8 entworfene Kategorienlehre diesen fünf Aspekten genügen kann. Ohne den bisherigen Diskussionskontext aus den Augen zu verlieren soll versucht werden, dieser These in der Reihenfolge der genannten Punkte Überzeugungskraft zu verleihen.
V. 1. ,Existenz‘ als Kategorie meint seit Kierkegaard das Relationengefüge, in dem Menschen sich zu sich selbst verhalten, also ein Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis, das durchweg von gegenpoligen Spannungen geprägt ist. Existenzdialektik nennt Kierkegaard diese Widerspruchstruktur, die formal gesprochen durch Duale wie Ich und Nicht-Ich, Wille und das dem Willen Entgegenstehende, Kraft und Gegenkraft etc. beschrieben werden kann. Was die Existenzkategorie allerdings schwer abgrenzbar macht, ist die Tatsache, dass Kierkegaard – und die Existenzanalysen 8
Damit ist hier keine Darstellung von Peirce’ Philosophie geplant, sondern allein die Fortsetzung der systematischen Argumentation im Blick auf die Kategorienlehre. – Über die amerikanischen und dt. Editionen von Peirce’ Schriften und Fragen der jüngsten Peirce-Interpretation vor allem im Blick auf Semiotik, Kategorienlehre und Religionsphilosophie informieren H. Pape Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozeß. Ch. S. Peirces Entwurf einer Spekulativen Grammatik des Seins, Frankfurt am Main 1989; L. Schulz „Die Religionsphilosophie von Ch. S. Peirce. Eine Skizze“ in Testimonianza Religiosa E Forme Espressive, Vol. II, Perugia 1990, S. 273 – 334; H. Deuser Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilosophie, Berlin/New York 1993.
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seither – konsequent in zwei weiteren Erfahrungsdimensionen Phänomene erschlossen haben, die nicht als Dualitäten analysiert werden können: Da ist zunächst das vor allem für ästhetische Erfahrungen typische Feld von Unmittelbarkeiten, Qualitäten puren Einsseins, wie sie in Kierkegaards Stadienabfolge (des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen) exemplarisch eben der Ästhetik als erster Stufe zugeschrieben werden, und wie sie offenbar in den Dualen der als ,existentiell‘ qualifizierten Erfahrungen dann schon vorausgesetzt sind; und da ist zweitens die Synthese-Relation des doppelten Selbstverhältnisses, das als Geist und Selbst des Menschen immer dreistellig gedacht werden muss. Der erste Vorschlag zur Klärung geht folglich dahin, das mit der Existenzkategorie gemeinte besser im Zusammenhang von drei Kategorien auszudrücken, die (nach Peirce’ Terminologie) so neutral wie möglich bezeichnet werden, aber im jeweiligen Phänomenbereich keinerlei Einschränkung unterliegen sollen: Erstheit, Zweitheit, Drittheit.9 Diese Kategorien sind so umfassend konzipiert, dass sie formal wie material buchstäblich allem in seiner Phänomenalität, Erkennbarkeit und Wirksamkeit immanent gedacht werden können. Für das Verständnis der Existenzkategorie bedeutet dies eine Zunahme an Bestimmbarkeit im Blick auf 1) die Ursprnglichkeit der unmittelbaren Selbstgewissheit (vor allem Auftreten von Dualitäten), 2) die Gegenstndlichkeit der Konflikterfahrungen in der dualen Selbst- und Weltrelation und 3) die Gegenwrtigkeit des Geistes oder der Freiheit als sich durchhaltendes Selbstverhältnis in seinen Relationen. 2. Die Zwischenstellung der Kategorien, weder nur Denkprodukt noch bloße Struktur des Wirklichen zu sein, lässt sich rein existenzdialektisch schwer begründen. Zwar sind die Phänomene des Übergangs, des qualitativen Sprunges (von Möglichkeit zu Wirklichkeit, von Unschuld zu Schuld etc.) plausibel zu machen, doch folgt daraus noch nicht, wie an dieser Stelle und um dieses Überganges willen zu denken ist. Es folgt nur, 9
Im Falle Kierkegaards lässt sich zeigen, dass sich die Vielzahl seiner Kategorien entsprechend ordnen lässt: Möglichkeit, Wirklichkeit in der Zeit und Freiheit geben eine vollständige Systematik seiner Existenzlehre, vgl. H. Deuser Kierkegaard, aaO., Kap. V (hier müsste nur anstelle von ,Zeitlichkeit’, die als solche bereits ein Phänomen der Drittheit darstellt, an zweiter Stelle eben von ,Wirklichkeit in der Zeit’ gesprochen werden), bes. S. 142f.; analog lässt sich auch Kierkegaards Definition des ,Selbst’ semiotisch darstellen, vgl. H. Deuser „Das Selbst als Inkarnation von Selbstanwendung“ in Dimensionen des Selbst. Selbstbewußtsein, Reflexivitt und die Bedingungen von Kommunikation, hg. v. B. Kienzle und H. Pape, Frankfurt am Main 1991, S. 443 – 450, bes. 446ff.
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dass bloß ideal Gedachtes die Existenz noch nicht in dem betrifft, was in existentiellen Akten der Verwirklichung entscheidend ist. – Aus diesem Defizit ergibt sich als Forderung an die Kategorien der Existenz, dass nicht nur der Zusammenhang der Ontologie mit den Lebensformen des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen zu bedenken ist, sondern auch der von Ontologie mit Logik und Erkenntnistheorie. Erst wenn die formalwissenschaftliche Seite und die materialen Erfahrungsfelder in ihrer Konstitution und Strukturbildung übereinstimmen, sind die Kategorien in einem wirklich umfassenden Sinn auch begründet. Die wichtige Neuerung in Peirce’ Kategorienlehre ist deshalb ihre semiotische Grundkonstruktion10 der auch formal ableitbaren dreistelligen Struktur: Dass im Zeichen selbst sich die Wirkung eines Objekts auf einen geistigen Zusammenhang, den Interpretanten, geltend macht; und dass diese Trichotomie nicht nur ein logisches und erkenntnistheoretisches Instrument zur Verfügung stellt, sondern zugleich als Struktur der Evolution der Wirklichkeit selbst angesehen werden muss. Diese wird gerade nicht als ein im schlechten Sinne abstraktes Außerhalb angenommen, sondern sie ist selbstverständlich allein über die menschlichen Prozesse von Wahrnehmen, Erkennen und Denken erreichbar. Dieser wiederum dreistellige Vermittlungsvorgang beweist umgekehrt keineswegs die Abhängigkeit einer sog. Außenwelt von den vorausliegenden konstitutiven Leistungen des Subjekts, sondern die Zeichen selbst (erste Kategorie) ebenso wie der Bezug auf Objekte (zweite Kategorie) sichert in jedem Zeichenprozess den Wirklichkeitsbezug und die tendenziell fallibilistische Wahrheitsfindung. Die drei Kategorien sind also ebenso wenig aufeinander reduzierbar wie die drei Dimensionen des Zeichenprozesses (Zeichen, Objekt, Interpretant). Wirklichkeit und Erfahrung der Wirklichkeit haben so die gleiche Struktur, die sich allerdings in unterschiedlichen Perspektiven entwickelt und entfalten lässt. Das betrifft alle Wissenschaften genauso wie alle Lebensformen und ihre Zusammenhänge. Konsequent hat Peirce in seinen späten Schriften zur Logik an erster Stelle, d. h. für den Verstehenszugang bezüglich seiner Philosophie, mäeutische Verfahren11 indi10 Vgl. K. Oehler „Einleitung“ zu Aristoteles, Kategorien, Berlin 1984, bes. S. 52ff.; H. Pape „Einleitung“ zu Ch. S. Peirce Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. v. Chr. Kloesel und H. Pape, Frankfurt am Main 1986, bes. S. 14 – 26. 11 So z. B. im Entwurf einer Vorlesungsreihe von 1905 (MS 1334); der ,mäeutische’ Beginn des Textes ist publiziert in der von K. L. Ketner editierten Abtlg. „Ch. S. Peirce“ in Classical American Philosophy. Essential Readings and Interpretative Essays, hg. v. J. J. Stuhr, New York / Oxford 1987, S. 38.
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rekter Kommunikation – um mit Kierkegaard zu sprechen – eingesetzt. An jedem Beginn steht eine kreative Ursprünglichkeit, die, weil sie durch bestimmte Gewohnheiten und Festlegungen meist schon verschüttet ist, erst wieder freigelegt werden muss. Das ist für die Gotteserfahrung ebenso richtig wie für eine Einführung in die Logik oder die Kategorienlehre. Die Grundstruktur selbst ist einfach und uralt, würden wir nur am Anfang beginnen können! 3. Peirce war ein Meister der ,Präzisierung‘.12 Seine frühe Kategorienlehre entsteht durch Differenzierungen im Wahrnehmungsakt,13 aber nicht mit dem Ziel der zunehmend abstrakteren Intellektualisierung der Kategorien, sondern um die schon in der Wahrnehmung in verschiedener Weise jeweils mitspielenden ,universal elementaren‘ Begriffe aufzudecken. Die damit entstehende Liste der drei Kategorien ist einerseits so formal wie nötig – und dem dient die Aufmerksamkeit auf die Abstraktions- oder Präzisionsformen –, andererseits so universal wie möglich, so dass die dreistellige Grundstruktur eben auch in der Welt der Phänomene aufgewiesen werden kann. Diese Konsequenzen formuliert ausdrücklich erst die späte Kategorienlehre.14 Phnomenologie oder Phaneroskopie15 ist dementsprechend (nach der Mathematik) die philosophische Grunddisziplin, die notwendig vor der Logik / Semiotik und vor der Metaphysik rangiert, weshalb den phänomenologisch explizierten Kategorien auch eine alltägliche Plausibilität zukommt, die nicht auf den Nachweis algebraischer Logik angewiesen ist.
12 Peirce hat im Anschluss an den mittelalterlichen Sprachgebrauch für diesen Abstraktionsvorgang (,praecisio’) das Wort ,to precide’ gebildet. Er gibt darüber Rechenschaft in dem Artikel „Issues of Pragmaticism“ (1905), vgl. dt. in Ch. S. Peirce Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. K.-O. Apel, Frankfurt am Main 1976, S. 463ff.; in verschiedenen Lexikondefinitionen in The Century Dictionary and Encyclopedia (1899) und im Dictionary of Philosophy and Psychology (1902), vgl. die Stellenangaben in K. L. Ketner A Comprehensive Bibliography of the Published Works of Ch. S. Peirce, Bowling Green Ohio 1986 (P 00373, S. 72; P 00872 u. P 00873). 13 Vgl. „On a New List of Categories“ (1867) in Writings of Ch. S. Peirce. A Chronological Edition, vol. 2, Bloomington, IN, 1984, S. 49 – 59, bes. S. 50f.: dt. Übersetzung in Semiotische Schriften, Bd. 1, aaO., S. 147 – 159, bes. S. 148f. 14 Vgl. z. B. in den „Pragmatismus-Vorlesungen“ von 1903 in Semiotische Schriften, Bd. 1, aaO., S. 431ff. 15 Vgl. zur Terminologie und zur Klassifikation der Wissenschaften bei H. Pape „Einleitung“ zu Semiotische Schriften, Bd. 1, aaO., S. 71; H. Deuser Art. „Phaneroskopie, Phaneron“ in HWP 7, Sp. 4460f.
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In der Erfahrung enthaltene Phänomene unbedingter Ursprünglichkeit, außer Diskussion stehender Gewissheit, der Gefühlsintensität, die keinerlei Zweifel kennt – dies wären Beispiele der ersten (monadischen) Kategorie; und es sind selbstverständlich ästhetische und religiöse Erfahrungen, die in unterschiedlicher Weise solche primären Unmittelbarkeiten kennen; aber auch ethische Grundüberzeugungen haben gleichen Rang, was sich beispielsweise an Sätzen nach dem Muster: „Ich glaube […]“ nachweisen lässt.16 Die in der Existenzkategorie Kierkegaards immer mitschwingende Unmittelbarkeit des Selbstverhältnisses, die er aus Gründen der Sündenlehre und der Christologie für den Fall des christlich-paradoxen Glaubens ausdrücklich negieren muss, bleibt deshalb eine quasi-ästhetische Implikation des religiösen Glaubens, der darin eben seine ihm geschenkte Ursprünglichkeit vor, in und nach aller Konfliktfähigkeit hat. Die existenzdialektischen Philosophien und Theologien beanspruchen und versprechen diese Erstheitsphänomene, indem sie sie im Konflikt der Selbst-, Welt- und Gotteserfahrung auslegen. Es bleibt natürlich problematisch, von einem Ersten zu sprechen, wenn eben diese Sprache oder Rede immer schon symbolische Vermittlungen (der dritten Kategorie) bezüglich Gegenstandsaussagen (der zweiten Kategorie) voraussetzen muss. Daraus folgt aber keineswegs, dass es ein Erstes nicht gäbe, sondern nur, dass seine Explikation ein Problem ganz eigener Art darstellt. Kunstwerke, ursprüngliche ethische Betroffenheit und religiöser Glaube sind zu verstehen als die virtuosen Formen von Kommunikation, die in jeweils spezifischer Weise Erstheit – auf der sie beruhen – wachrufen. Das Wie solcher Formen mag dann in gewissem Sinne mit dem umkreisten Was identisch werden. Kritisches Denken und Handlungszusammenhänge, die sich tendenziell kontrollieren und korrigieren wollen, werden bei Erstheiten als solchen aber nicht stehen bleiben können. Ohne dass die beschriebenen Phänomene von Unmittelbarkeit dadurch ,vermittelt‘ oder ,aufgehoben‘ würden, treten sie in der zweiten Kategorie in Korrelatbeziehungen. Die Gotteserfahrung wird konkret in Schuld und Anfechtung, Sünde und Glaube, Kreuz und Auferstehung – den (dyadischen) Konfliktfeldern der Existenzkategorie im eigentlichen Sinn. Getragen aber sind diese Spannungsbeziehungen 16 Vgl. die berühmten Stellen in L. Wittgenstein Philosophische Untersuchungen, Teil II, Abschnitt X; vgl. auch B. Williams „Kann man sich dazu entscheiden, etwas zu glauben“ in B. Williams Probleme des Selbst. Philosophische Aufstze 1956 – 1972, Stuttgart 1978, S. 217 – 241.
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jeweils von (semiotisch gesehen triadischen) Selbstrelationen, die im Verhältnis zu sich regelhafte Zusammenhänge und Handlungsperspektiven, kurz: reale Kontinuität repräsentieren. Peirce hat diese reale Wirksamkeit, die als solche nicht empirisch gegenständlich sein kann, als Symbol bezeichnet, so dass sowohl das Universum wie auch Gott und die Personalität des Menschen als Symbole anzusehen sind. 4. Dieser semiotische und kategoriale Symbolbegriff verdankt sich nicht der Unterscheidung einer vordergründigen, sichtbaren und einer hintergründigen, unsichtbaren (supranaturalen) eigentlichen Wirklichkeit, sondern einer prozesshaft gedachten Erfahrungswelt, die ihre Möglichkeiten mit den gegenwärtigen Wirklichkeiten und zukünftigen Handlungs- und Realisierungsperspektiven zusammenschließt und als solche als real anerkennt. Es ist der auf Duns Scotus zurückgehende Realitätsbegriff,17 den Peirce damit aufnimmt und unter den Interpretationsbedingungen moderner Naturwissenschaft und pragmatistischer Begriffsbildung anwendet. Gotteserfahrung muss dann nicht mehr unter existenziellen Realisierungsbedingungen eingeengt vorgestellt werden, so als sei die Wirklichkeit Gottes auf die Verifikation in Einzelerfahrungen hin (Entscheidung, Wahl, Begegnung, Ruf, Ereignis etc.) zu punktualisieren, sondern die schöpferische Möglichkeit gehört neben der existentiellen Augenblickserfahrung ebenso zur Realität Gottes wie die in der Zeit und auf Zukunft hin geltenden Handlungs- und Lebenszusammenhänge. Im Symbol GOTT ist demnach die kategoriale Dreigliedrigkeit von ursprünglicher Ermöglichung, gegenwärtiger Existenz und zeitlicher Kontinuität zusammengehalten, und dieser dreifach gestaltete Prozess als ganzer ist real. Es ist deutlich, wie hier eine trinitarische Struktur am Werk ist, zu der der schöpferische Beginn ebenso notwendig ist wie die veränderte Endgestalt eines Universums, das sich entwickelt. Die mit dem Stichwort der ,Existenzkategorie‘ meist verbundene Anthropologisierung aller Lebensperspektiven ist damit relativiert. Was ,Existenz‘ heißt wird erst bestimmbar im Zusammenhang, und dieser ist ausgespannt zwischen 17 Dabei handelt es sich vor allem um die von Duns Scotus erarbeitete Unterscheidung zwischen der Existenz von Einzeldingen und der Realität von Universalien als unbestimmte, aber denk- und sachnotwendige Allgemeinbegriffe, die unabhängig davon, ob sie aktuell (subjektiv) auch gebildet werden, real sind. Vgl. die knappe Scotus-Darstellung in Peirce’ Berkeley-Rezension von 1871 in Writings of Ch. S. Peirce, vol. 2, aaO., 472f.; und die Erläuterungen zum Begriff der ,natura communis’ bzw. ,distinctio formalis’ in Johannes Duns Scotus: Abhandlung ber das erste Prinzip, hg. v. W. Kluxen, Darmstadt 1974, S. 164f.
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Ursprung und Ziel; und weil Denken und Leben als Erfahrungen (im dreifachen Sinne der Kategorien) an diesem Gesamt, wenn auch noch so partiell und rudimentär, partizipieren, ist die Einzelerfahrung, was sie ist, im kategorial strukturierten Gesamtprozess. 5. Dass auch Gotteserfahrung ,real‘ genannt werden kann, hängt nun davon ab, ob sie sich im Spektrum der Kategorien verständlich machen lässt, mehr noch: ob sie ein essentieller Bestandteil von ihnen ist. – Das ist deshalb der Fall, weil Peirce’ Kategorien nicht nur logische Strukturmerkmale abgeben, sondern gerade auch für den Prozess der Wirklichkeit im ganzen wie für ihre Erforschung sachhaltig sind: Die Entdeckung eines Ursprungs ist ein Problem der Erstheit, die Gestalten eines ablaufenden Prozesses ein Problem der Zweitheit und das Gesetz, nach dem der Prozess eben ein solcher ist, ein Problem der Drittheit. Peirce hat in diesem Sinne die Kategorien kosmologisch angewandt und zu bewähren versucht; und werden die Ursprungsfrage und die nach dem Prozess als solchen nicht unterdrückt, so treten notwendigerweise Reflexionen auf Erfahrungen ins Zentrum, die direkt empirisch nicht zu verifizieren sind. Denn die Ursprünglichkeit als solche ist eine Möglichkeit und damit wesentlich unbestimmt, und der gesetzhaft und damit geistig strukturierte Prozess, in dem Menschen Teil des Universums sind und aktiv / passiv an ihm teilnehmen, eine Hypothese, die sich uns als Entdeckung aufzwingt, zur Korrektur und Wahrheitsfindung ansteht, aber eben in ihrer hypothetischen Unbestimmtheit gedacht und auch gelebt werden muss. Peirce hat gesehen, dass es die Religion bzw. die Religiositt der Menschen ist, die am tiefsten und konsequentesten solche hypothetischen Unbestimmtheiten entdecken und tragfähig erleben lässt. Die Lehre vom Common Sense und Instinkt im Auffinden von vertrauenswürdigen Hypothesen gehört zur Wissenschaft wie zum Alltagsleben, und der Vorrang solchen Findens und Orientierens hat seine Heimat in der Religiosität, die deshalb in ihrer Symbolik von Schçpfung, Liebe und Gegenwart des Geistes das Grundmodell der Kategorien abgibt.18 Jedes Leben und Denken setzt wesentlich mehr voraus, als es selbst weiß, und der Zugang zu eben diesem Fundus – in den drei ,Universen der Erfahrung‘, wie Peirce die Kategorien dann auch bezeichnen kann –geschieht in ausgezeichneter Weise über die Religiosität. 18 Vgl. hierzu vor allem die Verknüpfung von Religionsphilosophie und evolutionistischer Kosmologie in der Schrift „Evolutionäre Liebe“ von 1893 in Ch. S. Peirce Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften ber Semiotik und Naturphilosophie, hg. v. H. Pape, Aachen 1988, S. 235 – 263.
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Die Realitt Gottes ist deshalb eine Hypothese von enormer Überzeugungskraft, weil sie sich im Rahmen von Erstheit einstellt und aufdrängt in allem, was unzensiert ursprünglich und also in seiner Ermöglichung wie am ersten Tag erfahren wird. Diesem meditativen Einstieg korrespondiert als Zweitheit die evolutionre Liebe, jetzt wahrhaft die Existenzkategorie einer empirischen Bewährung, deren Prinzip nicht die egoistische Selbsterhaltung, sondern die Förderung des Anderen und damit der Gemeinschaft ist. Insofern kann dann unter der Perspektive der Drittheit das „Universum“ als „großes Symbol für Gottes Absicht“ bezeichnet werden.19 Es ist dieser Zusammenhang, der in legitimer Weise von Gottes Realität im Prozess sprechen lässt,20 worin Religiosität konstitutiv ist für die hypothetisch-instinktiven Gewinne an Einsicht in eine Schöpfung, in der die Existenz des Menschen nicht nur faktisch, sondern notwendig Gotteserfahrungen macht. So entspricht die Existenzkategorie in Wahrheit Gottes Intention: „Denn wer ohne Gott in der Welt ist, er wird wohl bald seiner selbst leid, und drückt dies vornehm dadurch aus daß er des ganzen Lebens leid ist; wer aber in der Gesellschaft Gottes lebt, er lebt ja mit dem zusammen, dessen Gegenwart selbst dem Unbedeutendsten unendliche Bedeutung verleiht.“21
19 Vgl. diese Stelle am Ende der „4. Pragmatismus-Vorlesung“ in Ch. S. Peirce Lectures on Pragmatism / Vorlesungen ber Pragmatismus, hg. v. E. Walther, Hamburg 1973, S. 152 – 153; dazu H. Deuser Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilosophie, Berlin/New York 1993. 20 Der für die neuzeitliche Wissenschaft typische Irrtum, sie müsse an der Realität Gottes zweifeln, besteht eben darin, eine kategorial unzulässige ,Präzisierung’(vgl. oben Anm. 12!) durchzuführen. Peirce schreibt 1905 (in MS 845; vgl. die Stelle in der Ausgabe der Collected Papers of Ch. S. Peirce, Harvard University Press 1935, unter CP 6.496): „The reason they fall into this extraordinary error about their own belief is that they precide (or render precise) the conception, and, in doing so, inevitably change it“. 21 S. Kierkegaard Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845, in GW1 8, 180 / SKS 6, 448.
Glaube und Werke. Zur Begründung theologischer Ethik I. Die theologische Fragestellung Konzepte und Bearbeitungen der Ethik gehören seit der klassischen Antike und erst recht seit der europäischen Neuzeit offensichtlich in die Verantwortung der Philosophie. Die jeweilige Nähe und Distanz zur Religion ist dabei unbestreitbar, aber doch nicht so, dass die Ethik sich als sekundäre Disziplin verstanden hätte, die nur die Konsequenzen aus dem formulierte, was das Religionssystem (theoretisch-wissenschaftlich bzw. praktisch-gesellschaftlich) zuvor verbindlich gemacht hat. Das kritische und auf Autonomie drängende Selbstbewusstsein der Ethik wird in der Neuzeit natürlich auch innertheologisch wirksam und bestimmt zunehmend das Verhältnis von Dogmatik und theologischer Ethik. Denn ein Begriff von Moraltheologie, der ihre autoritative Nachordnung gegenüber der kirchlichen Dogmatik fixieren will, muss spätestens dann als obsolet gelten, wenn Kirchen und Konfessionen in der Öffentlichkeit nur noch als konkurrierende Machtverbände und Interessengruppen empfunden werden, während eine wissenschaftlich verantwortete Ethik ihre Universalität nicht dadurch definieren kann, dass sie nur für bestimmte Gruppen oder Anhänger einer partikularen Lehre gilt. Andererseits aber ist ebenso richtig, dass die Forderung nach Universalisierbarkeit der theologischen Ethik keineswegs fremd ist. Denn die verbindliche Orientierung am Gottesglauben geschieht ja nicht, um die universale Geltung – etwa der 10 Gebote oder der Bergpredigt – zu relativieren; im Gegenteil: Der kosmologische Zusammenhang der christlichen Religion: Schöpfung, Evolution und Weltverhältnis im ganzen umfassend, und die anthropologische Fundierung des christlichen Glaubens: Sünde und Erlösung aller Menschen im eschatologischen Maß betreffend, ziehen wesentlich weitere Kreise als die Norm-, Moral- und Verhaltensdeskriptionen vieler zeitgenössischer Ethikkonzepte. Unter dieser Voraussetzung müsste sich in der theologischen Ethik ihr universaler Anspruch nicht nur behaupten, sondern auch in verständlicher
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Weise zeigen lassen; und umgekehrt wäre es ein Fehler, wenn philosophische Ethiken von diesem Horizont einfach absähen oder ihn bloß als denkbare, aber keineswegs notwendige religiöse ,Vertiefung‘ am Rande erwähnten.1 Diese letztere Seite der Problemstellung soll im folgenden nicht weiter behandelt werden; auch nicht die unterschiedlichen Ethiken und ihre Arbeitsweisen;2 obwohl deutlich ist, dass gerade in der detaillierten Auseinandersetzung mit diesen Ethiken sich das Recht einer theologisch und ethisch zugleich behaupteten Universalität erst nachweisen lässt. Die Einwände neuzeitlicher (philosophischer) Ethik gegen religiöse Lehrund Lebensformen, die ethischen Kriterien gerade nicht genügen konnten, gehören jedenfalls zur Geschichte moderner Theologie,3 und die theologische Fragestellung, wie sie hier verfolgt werden soll, ist von dieser Neuzeit-Tradition selbstverständlich beeinflusst. Innertheologisch zeigt sich dies zumal an der üblich gewordenen Alternative protestantischer Ethik-Begründungen,4 entweder auf die Universalität einer lex naturae, oder auf das geschichtlich besondere Ereignis von Gottes Gebot (im Glauben der Kirche) zurückgehen zu müssen – und genau diese Alternativbildung ist keine Lösung des Problems. Denn die in der Be1 2
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Vgl. z. B. bei A. Pieper Ethik und Moral. Eine Einfhrung in die praktische Philosophie, München 1985, S. 72 (Neuaufl. 1991 als Einfhrung in die Ethik, UTB 1637). Dazu bietet der Band von A. Pieper Ethik und Moral, aaO., eine gute – und systematisch angelegte – Übersicht. Eher historisch orientiert sind die ebenfalls lehrbuchhaft konzipierten Darstellungen hg. v. St. H. Pfürtner Ethik in der europischen Geschichte, Bd. I u. II, Stuttgart 1988; und J. Rohls Geschichte der Ethik, Tübingen 1991. „Von einem tungusischen Schaman, bis zu dem Kirche und Staat zugleich regierenden europäischen Prlaten, oder (wollen wir statt der Häupter und Anführer nur auf die Glaubensanhänger nach ihrer eignen Vorstellungsart sehen) zwischen dem ganz sinnlichen Wogulitzen, der die Tatze von einem Bärenfell sich des Morgens auf sein Haupt legt, mit dem kurzen Gebet: ,Schlag mich nicht tot!’ bis zum sublimierten Puritaner und Independenten in Connecticut ist zwar ein mächtiger Abstand in der Manier, aber nicht im Prinzip zu glauben; denn, was dieses betrifft, so gehören sie insgesamt zu einer und derselben Klasse, derer nämlich, die in dem, was an sich keinen bessern Menschen ausmacht (im Glauben gewisser statutarischer Sätze, oder Begehen gewisser willkürlicher Observanzen) ihren Gottesdienst setzen.“ Vgl. I. Kant Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), Viertes Stück: „Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder von Religion und Pfaffentum“, A 254. Vgl. deren Kurzfassung bei M. Honecker Einfhrung in die theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe, Berlin / New York 1990 (§ 2. 3).
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sonderheit der Glaubenserfahrung oder des Wortes Gottes fundierte Ethik bedarf einer begründeten Allgemeingültigkeit; und umgekehrt braucht die auf allgemeine Regeln, Einsichten oder Autonomie fundierte Ethik immer auch die Besonderheit der menschlichen Lebensvollzüge, d. h. die Instanz der (gewollten, fehlenden, scheiternden) Realisierung des allgemein Gültigen. Erst wenn beide Seiten nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden müssen, bietet sich die Chance der legitimen Begründung theologischer Ethik. In einem derart abgesteckten Rahmen ergeben sich zunächst zwei Fragerichtungen: Die erste kann als die Berücksichtigung von Erfahrungswerten bezeichnet werden (II), so wie sie sich auch für jede philosophische Ethik einstellen; die zweite verdankt sich der protestantischen Theologiegeschichte, und zwar bestimmt durch die seit Luther theoretisch unüberholte und praktisch enorm wirkungsvolle Interpretation dieser Erfahrungswerte in Gestalt der reformatorischen Rechtfertigungslehre (III).
II. Erfahrungswerte 1. Dieweil denn menschlich Wesen und Natur keinen Augenblick kann sein ohne Tun und Lassen, Leiden oder Fliehen (denn das Leben ruhet nimmer, wie wir sehen), wohlan, so hebe an, wer da will fromm sein und voll guter Werke werden und übe sich selbst in allem Leben und Werken, zu allen Zeiten an diesem Glauben.5
Keine Ethik ist denkbar, die auskäme, ohne zu beobachten und zu konstatieren, dass immer schon gehandelt wird; und zwar so, dass Menschen das, was sie faktisch tun, mit impliziten oder expliziten Meinungen begleiten, von denen sie überzeugt sind. Diese berzeugungsformen gehören unabdingbar zu allen Handlungen – wenn auch so, dass bestimmte Überzeugungen nicht zwingend und von vornherein auf bestimmte Handlungen fixiert sind (und umgekehrt), sondern so, dass Überzeugungen und Handlungen miteinander variabel verknüpft sein können. Dies erst macht die ethische Frage sinnvoll und nötig; denn sonst würden sich Handlungen immer nur unbefragbar aus denselben Überzeugungen erklären (und umgekehrt). Zwei Grundformen von Überzeugung müssen dabei (mit den englischen Worten für Glaube) unterschieden werden: Belief steht für die 5
M. Luther Von den guten Werken (1520) in Ausgew. Werke, Bd. 2, München, 3. Aufl. 1962, S. 13 (WA 6, 212).
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(erkenntnistheoretisch und semantisch begründete) 6 Standard-Relation von Überzeugtsein und Handeln, so dass jedem belief bestimmte mögliche Handlungen zugehören und jeder Handlung zumindest ein belief. D. h. die Relation von Überzeugungsbildung (belief) und Handlung ist zwar wechselseitig, aber bezüglich ihrer Modalität nicht symmetrisch: Der Spielraum von Überzeugungen ist insofern frei, weil ihm mçgliche Handlungen (für den Fall der Realisierung) korrespondieren; die vollzogene Handlung dagegen setzt wirkliche Überzeugung(en) als gegeben voraus. – Faith (der religiöse Glaube) steht für die kosmologisch und anthropologisch universal7 erfahrene Kreativität (Symbol: Schöpfung) und Gebrochenheit (Symbol: Sünde), die somit in allen belief-Handlungs-Zusammenhängen mitwirken, auch dann, wenn sie dazu nicht eigens thematisiert oder in Anspruch genommen werden. 2. Denn ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse […]; das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen.8
An zweiter Stelle ist zu beobachten und zu konstatieren, dass der bergang zwischen Glauben und Handeln immer auch problematisch bleibt; dass etwas dazwischensteht – als produktiver Impuls einerseits, und als kriti6
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Als die hierfür klassischen Basistexte des amerikanischen Pragmatismus sind die beiden Aufsätze von Ch. S. Peirce aus den Jahren 1877 – 78 zu nennen: „The Fixation of Belief“ und „How to Make Our Ideas Clear“ vgl. in The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, vol. 1 (1867 – 1893), ed. by N. Houser and Chr. Kloesel, Bloomington, IN, 1992 (Nr. 7 u. 8); dt. in Ch. S. Peirce Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. K.-O. Apel, Frankfurt am Main 1976 (1991) (Nr. 6 u. 7). Recht und Begründung dieses (ontologischen) Bezugs auf ,universale Erfahrung’ leiten sich her aus Ch. S. Peirce’ Religionsphilosophie, die wiederum durch eine moderne Relationenlogik einerseits und eine kategoriale Phänomenologie andererseits fundiert ist. Dass letzteres – die Berufung auf Erfahrung im allgemeinsten Sinne des Wortes – der Fall ist, macht die Grundoperationen dieses Ansatzes nachvollziehbar, auch ohne technische Einzelschritte vorher einzuüben. Peirce’ Relationenlogik dürfte zudem die erste fachspezifische Ausarbeitung dessen sein, was seit Luther dem protestantischen Denken in logischer Hinsicht immer gefehlt hat: die Gott-, Welt-, Menschen-Relation nicht nur theologischexistentiell und narrativ, sondern auch philosophisch adäquat ausdrücken zu können. Hinzu kommt, dass der amerikanische Pragmatismus (in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) in seiner Entstehung und Durchführung wesentlich eine Philosophie protestantischer Prägung gewesen ist. Vgl. H. Deuser Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilosophie, Berlin / New York 1993. Röm 7, 15. 18b.
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sche Rückfrage an die Realisierung von Handlungen und das mit ihnen eigentlich Gemeinte andererseits: der Wille. In diesem Übergangsphänomen liegen die ethischen Konflikte, und zwar derart, dass es nicht genügt, nur theoretisch zwischen Gut und Böse (diskursiv und rational) zu unterscheiden. Denn in den praktischen und existentiellen Lebensverhältnissen wird das eine vor dem anderen – zumeist das Gute durch das Böse – verborgen oder willentlich verstellt; umgekehrt kann aber auch das Böse vom Guten begrenzt, aufgedeckt und aufgehoben werden.9 Wesentlich an der dabei immer aktiven Funktion des Willens ist hier, dass zwischen Glauben und Handeln etwas seinen Bestand hat, das im folgenden als Verhalten namhaft gemacht werden soll: Ein Sich-zu-sichselbst-Verhalten, dass hier nicht im Blick auf die damit auch etablierte Reflexivität, sondern als praktische Leistung der Selbstbeziehungen in ihren schon vorhandenen und zu gestaltenden Verhltnissen zur Geltung kommt. Lässt die Ethik die (in II.1) genannten kosmologischen und anthropologischen Bestimmungen (Schöpfung und Sünde) nicht einfach aus, so müssen die Verhltnisse der willentlichen Selbst- und Umweltbeziehungen, eben das Verhalten, dreifach angegeben werden: zu Menschen, zur Welt und zu Gott. 3. The only desirable object which is quite satisfactory in itself without any ulterior reason for desiring it, is the reasonable itself. I do not mean to put this forward as a demonstration; because, like all demonstrations about such matters, it would be a mere quibble, a sheaf of fallacies. I maintain simply that it is an experiential truth.10
An dritter Stelle ist zu beobachten und zu konstatieren, dass trotz und wegen der unter den ersten beiden Punkten genannten Phänomene des Ethischen bewusste und selbstkontrollierte Entscheidungen möglich und wirksam sind. Sie stehen natürlich unter den Bedingungen von belief / faith einerseits und der Konfliktsituation des Willens andererseits; sie partizipieren aber zugleich an der vernünftigen Strukturbildung des Universums, sofern dieses als (evolutionistischer) Prozess seines Werdens aufgefasst wird. Die den Menschen bekannten und von ihnen erfolgreich 9 Die gegenseitige Verstellung ist also keine gleichgewichtige Wechselbeziehung, das haben Kierkegaards Analysen der ,Angst vor dem Bösen’ bzw. der ,Angst vor dem Guten (das Dämonische)’ im Detail analysiert, vgl. Der Begriff Angst (in SKS 4 / GW1 7), IV. Kap.; aber natürlich auch Kants Ableitung des Begriffs der ,bösen Maxime’ bzw. des ,radikal Bösen’, vgl. Kant Die Religion […], aaO., Erstes Stück: „Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem Guten […]“, bes. A 30 ff. 10 Ch. S. Peirce Collected Papers, vol. 8, Cambridge, MA, 1958: CP 8.140 (aus der Pearson-Rezension von 1901).
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praktizierten geistigen Fähigkeiten, Regel- und Gesetzmäßigkeiten sind offenbar Teile dieses Prozesses, und genau darin besteht die von Peirce angesprochene Wahrheit (experiential truth). Sie kann deshalb, traditionelle Metaphysik aufnehmend und verändernd, so zum Ausdruck gebracht werden, dass das summum bonum für einen Menschen darin besteht, seine von der Schöpfung her mitgegebene Aufgabe ganz einfach zu tun. 11 Das summum bonum ist dabei nicht als ein ,etwas‘ am Ende einer linearen Entwicklungsreihe oder als punktuelle Illusion innerhalb ihres Verlaufs vorzustellen, sondern als ein beständiges und darin notwendiges Implikat im komplexen Real- und Verweisungszusammenhang evolutionären Wachstums; Wertung und Ziel dessen, was als gültig und gut gesucht und im willentlich mit bestem Wissen und Gewissen jeweils festgestellten Resultat sich gar nicht anders einstufen lassen kann, als auf dem Weg des Gültigen und Guten weiterzugehen. Die Logik dieses Weges zur Wahrheit verlangt die (personale und soziale) ethische Normativität: das summum bonum nicht aufgeben zu dürfen. Was sich damit in der Begriffsbestimmung des Vernnftigen (reasonable) bzw. der Schçpfung verändert hat, ist darin zu erkennen, dass anstelle der Wahrheitsbedingungen aufgrund einer substanziell (mittelalterlich) oder subjekttheoretisch (neuzeitlich) gedachten Metaphysik jetzt die Wahrheit im Prozess ihrer Herausbildung in Anspruch genommen und gesucht wird, so dass Menschen in vernünftiger Weise daran teilnehmen – auch wenn sie dies immer nur bedingt und partiell vollziehen können. Damit ist zugleich die prinzipielle Irrtumsfähigkeit, die Fallibilität menschlichen Denkens und Handelns, ebenso erklärt wie die Unmöglichkeit einer deduktiven Wahrheitsdemonstration in Fragen universaler Erfahrungswerte (wie Glaube, Wille, Vernunft, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit). Nur in empirisch reduzierten Experimenten und entsprechend operationalisierten Theoriemodellen lassen sich Demonstrationen als Beweise vorlegen. Die Vernünftigkeit aber wird ebenso beansprucht – und nicht bewiesen – wie die Freiheit: aufgrund von Erfahrung. Wesentlich ist hier zu betonen, dass damit kein Riss zwischen 11 Peirce im Brief an Francis C. Russell (1905): „Your summum bonum, ,life,’ is probably at bottom about the same as mine, though I view it more concretely. I look upon creation as going on and I believe that such vague idea as we can have of the power of creation is best identified with the idea of theism. So then the ideal would be to be fulfilling our appropriate offices in the work of creation. Or to come down to the practical, every man sees some task cut out for him. Let him do it and feel that he is doing what God made him in order that he should do“ (CP 8, 138, note 4).
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Empirik und Metaphysik, kein Graben zwischen Sein und Sollen aufgerissen wird. Die Vermittlungsfigur besteht gerade in der legitimen Symbolbildung, worin Kreativitäts- und menschliche Gebrochenheitserfahrung sich in Glaube, Verhalten und Handeln auszudrücken verstehen. Alle diese Vorgänge sind zugleich durchaus vernünftig wie in fundierter Weise religiös. Dann braucht die Ethik die Theologie nicht zu fürchten – und umgekehrt.
III. Rechtfertigungslehre 12 1. Mit dem Begriff Rechtfertigung wird in der theologischen Dogmatik das Geschehen zwischen Gott und Mensch bezeichnet, worin dem in der Sünde verlorenen Menschen durch seinen in Christus gnädigen Gott neues Leben im Geist der Liebe, der Wahrheit und der Freiheit geschenkt wird. Rechtfertigungslehre meint dementsprechend die systematisch-theologische Reflexion auf diesen Vorgang, der als solcher sicher nicht das Ergebnis theoretischer Einsicht sein kann, der aber andererseits für das religionstheoretische und theologische Nachdenken gerade durch diese Vorrangstellung eine besondere Herausforderung darstellt. Nach Auffassung reformatorischer Theologie ergreift im Geschehen der Rechtfertigung die Menschen das unverdiente Vertrauen, die feste berzeugung und unbedingte Zuversicht, dass Gott ihr und der Welt Schöpfer, Versöhner und Ziel aller Dinge ist. Diese Begriffsbestimmung ist speziell und generell zugleich: Generell, sofern sie menschliches Grundvertrauen, menschliche Gewissheitsbildung und menschlich zuversichtliches Handeln in notwendiger Korrespondenz mit der christlichen Trinität Gottes des Schöpfers, Versöhners und Geistes zum Ausdruck bringt; sie ist speziell, sofern sie in der Lebenserfahrung der einzelnen Menschen verankert ist, und gerade diese zweite Korrespondenz macht die produktive Spannkraft zwischen systematisch notwendiger Verallgemeinerung und dem jeweils besonderen Lebensvollzug. Denn dieser erfährt sich selbst nur dann als nicht sinnlos, nicht unwahr und nicht unfrei, wenn diese dreifache Bedrohung aufgefangen 12 Die hier folgenden Abschnitte III u. IV geben eine neue Bearbeitung meines Gastvortrages vom 16. 1. 1992 an der Ev.-Theol. Fakultät der Ruhr-Universität Bochum; eine auf Lexikonformat komprimierte Fassung des Textes findet sich unter dem Stichwort ,Rechtfertigung, Rechtfertigungslehre: 2. Systematischtheologisch’ in EKL 3 (1992), Sp. 1459 – 1466.
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und verwandelt ist durch Grundvertrauen, Gewissheit der Überzeugung und Handlungszuversicht. Die Theologie der Rechtfertigung besteht darin, diesen Vorgang der Gotteserfahrung zu beschreiben, abgekürzt gesagt: Gotteserfahrung, die sich im Glauben (Grundvertrauen), bestimmtem Verhalten (Gewissheit der Überzeugung) und entsprechendem Handeln realisiert.13 2. Die folgende theologiegeschichtliche Übersicht geschieht methodisch gesehen nach einer einheitlichen Grundstruktur, so dass die jeweilige Epoche an den einander zugeordneten Schlüsselbegriffen Freiheit, Snde, Glaube (als christlicher Lebensform) und Kirche profiliert werden kann. In der Sache soll zugleich die Universalität der (theologischen und ethischen) Fragestellung, wie sie mit der Begriffsbestimmung von Glaube, Verhalten und Handeln14 bereits vorliegt, beibehalten und weitergeführt werden. Dadurch lassen sich Aporien vermeiden, die immer dann entstehen, wenn unterschiedliche Perspektiven miteinander konfrontiert werden. So z. B. in klassisch-konfessioneller Form, wenn mit der These der Gerechtsprechung sola fide unmittelbar die Gegenfrage (im Blick auf die Liebe bzw. die guten Werke) verbunden wird, was denn dabei am Menschen geschehe – worauf sich bei Konzentration auf das sola fide natürlich schwer antworten lässt, sofern hier außer der Gnade nichts anderes wirksam und ursprünglich sein kann.15 – Glaube als Grundvertrauen (,fiducia‘), Verhalten als Gewissheit der Überzeugung und Handeln in guten Werken der Liebe sollen als (kategorial zu verstehende) Perspektivierung eine Problementzerrung erreichen, so dass falsche Fronten von vornherein vermieden werden können. 3. Die Entwicklung und Ausarbeitung der Rechtfertigungslehre in der christlichen Theologie ist gekennzeichnet durch das zunehmend konsequentere Durchdenken und Erfassen der Gottesoffenbarung in Jesus Christus.16 Wie sich Gottes Gerechtigkeit zur Rettung des Menschen 13 Vgl. Luther Von den guten Werken, aaO., S. 7 (WA 6, 206 f.): „In diesem Glauben werden alle Werke gleich und ist eins wie das andere, fallet ab aller Unterschied der Werke, sie seien groß, klein, kurz, lang, viel oder wenig. Denn nicht die Werke von ihretwegen, sondern von des Glaubens wegen angenehm sind, welcher einig und ohn’ Unterschied in allen und jeglichen Werken ist, wirkt und lebet, wie viele und verschieden sie immer sind.“ 14 S.o. II.1 – 3 u. III.1. 15 Vgl. dazu exemplarisch U. Kühn und O. H. Pesch Rechtfertigung im Disput. Eine freundliche Antwort […], Tübingen 1991, S. 24 – 29. 16 Röm 3, 21 – 26.
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verhält:17 „Herr ich suche Zuflucht bei dir. Laß mich doch niemals scheitern; rette mich in deiner Gerechtigkeit!“, wird durch das Evangelium in qualitativ neuer Weise aufgefasst: Die berechtigten Forderungen Gottes sind durch Christus erfüllt,18 in ihm ist neues Leben trotz aller Todesverfallenheit da,19 und das alleinige Medium der Aneignung dieses neuen Lebens ist der Glaube.20 In Fortsetzung dieser ntl. Botschaft bis in die Theologie der Gegenwart sind es offensichtlich drei epochale Interpretationsleistungen, die sich historisch unterscheiden lassen: das christliche Mittelalter seit Augustin, reformatorische Theologie seit Luther und die Universalisierung der Rechtfertigungslehre in der protestantischen Theologie seit Schleiermacher und Kierkegaard. 3.1. Für Augustin musste sich nach seiner Bekehrung zum Christentum die Frage stellen, wie die aus antik-philosophischer Tradition angenommene Entscheidungsfreiheit des Willens (zum Guten oder zum Bösen) mit der Alleinwirksamkeit der göttlichen Gnade zu verbinden sei. Denn wie durch Adam alle Menschen von Sünde und Tod gezeichnet sind, so sind sie durch Christus zu Leben und Gerechtigkeit erlöst.21 Wird dieser Gegensatz noch aufgrund des Gott und dem Guten gegenüber geltenden freien Willens (,liberum arbitrium‘) gedacht, so bleibt der christlichen Predigt nur der Aufruf zur strengen Askese und zur Entscheidung für das Gute, um der Christusgerechtigkeit wirklich den Weg zu bahnen. Diese Position vertritt der Mönch Pelagius, und Augustin hat im Gegensatz dazu in seinen antipelagianischen Schriften (nach 412) die für das westliche Christentum seither im Prinzip verbindliche Fassung der Gnadenlehre formuliert. Sie lässt sich durch die folgenden vier Hinsichten bestimmen: 1) Nach dem Sündenfall hat der Mensch die Freiheit, nicht zu sündigen, verloren (,non posse non peccare‘), d. h. von einem in Wahrheit freien Willen kann Gottes Gerechtigkeit gegenüber keine Rede mehr sein. 2) Daraus folgt, dass die Snde sich nicht aus Einzelfällen oder Fehlern zusammensetzt, sondern als eine bestehende Macht aufzufassen ist, die seit Adams Sünde auf alle Menschen übergreift (,peccatum originale‘).
17 18 19 20 21
Ps 31, 2. Röm 3, 24 f. 2 Kor 5, 17. Röm 1, 16 f. Röm 5, 12 – 21.
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3) Die göttliche Gnade in Christus bewirkt demgemäß die Willensveränderung, die das Tun des Guten nach dem Sündenfall überhaupt erst wieder ermöglicht, und dies geschieht im Glauben, über dessen Zustandekommen wiederum konsequent Gott selbst entscheidet (Prädestination). 4) Der mit der Taufe begonnene Prozess neuen Lebens schließt folglich die Christen in der wahren Kirche zusammen, die sich damit aus der verlorenen Menschheit Adams (,der massa peccati‘) heraushebt. Diese Konstellation der Begriffe Freiheit, Sünde, Glaube und Kirche prägte in einer Vielfalt von Variationen die westlichen Theologien seit Augustin, wobei zuerst auffällt, dass die Rechtfertigungslehre in das Gesamtmodell der Gnadenlehre eingeordnet bleibt und dort mit unterschiedlichen Akzenten markiert werden kann: Die Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes muss nicht so verstanden werden, als schließe sie jede Mitwirkung der menschlichen Freiheit radikal aus. Im Gegenteil, die scholastischen Gnadenlehren konzipieren dann – und das durchaus in Anknüpfung an Augustin – einen in sich gegliederten Prozess, worin Gottes helfende und zuvorkommende Gnade (,gratia praeveniens‘) den Menschen vorgängig dazu in die Lage versetzt, auf das Angebot der Sündenvergebung durch Anerkennung des eigenen Zustandes einzugehen; dem schließt sich die Einwirkung der Gnade (,gratia gratum faciens‘) in der Weise an, dass die im Sündenfall verlorene Fähigkeit, Gutes zu tun, zurückgewonnen wird, so dass aufgrund dieser im Menschen sich auswirkenden Gnade (,gratia habitualis‘) ein Gott entsprechendes Leben ermöglicht wird. Hatte Thomas von Aquin dabei ausdrücklich eine notwendige und aktive Mitarbeit des Menschen zur Vorbereitung auf die Gnade ausgeschlossen,22 so verschieben sich die Akzente in den Gnadenlehren der Franziskaner (Alexander von Hales, Bonaventura) und der nominalistischen Theologen (Wilhelm von Ockham, Gabriel Biel) doch erheblich: Gottes Gnade – in ihren verschiedenen Stufen – und menschliches Tun (,facere quod in se est‘) greifen so ineinander, dass sie sich gegenseitig bedingen können. So ergibt sich um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in den genannten vier Hinsichten der Gnadenlehre die folgende (vorreformatorische) Ausgangslage: 1) Die Freiheit des Menschen ist in den Vorgang der Rechtfertigung durch Gott aktiv-passiv miteinbezogen. 2) Die Snde ist folglich nicht zwingend der fundamentale Defekt in der menschlichen Natur, sondern nur ein defizitärer Zustand in Ab22 STh I-II, q. 112, a. 3.
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hängigkeit von den willentlichen Aktivitäten des Menschen, auf die die göttliche Gnade Einfluss nimmt. 3) Der Glaube gleicht dann einem erreichten Verständnis oder einer gewonnenen Einstellung zwischen göttlicher Gnade und den eigentlichen Tugenden des christlichen Lebens (,fides caritate formata‘). 4) Der gesamte Prozess ist entscheidend abhängig von der sakramentalen Vermittlungsstellung der Kirche, die als Leib Christi – und als Institution vor allem repräsentiert im Priester- und Lehramt – faktisch zur Bedingung der Gnadenvermittlung geworden ist. 3.2. Für Luther wird im Rückgriff zunächst auf Paulus (Römerbriefvorlesung 1515 – 16; Galaterbriefvorlesung 1516 – 17) und dann auf Augustin die epochale Neubestimmung von Gottes Gerechtigkeit23 dadurch zwingend, dass die radikale Alternative zwischen Gottes Handeln und dem Handeln des Menschen als der existentiell allein entscheidende Punkt des Rechtfertigungsgeschehens aufgefasst wird: Heißt vor Gott gerecht werden, sich einem Standard von Gerechtigkeit anzupassen, der menschlich gesehen niemals zu erreichen ist und also nur ins Unglück von Selbstanklage und Verzweiflung führen kann? In dieser Frage gibt es insofern keine Kompromisse, als auch die geringste Mitarbeit des Menschen Gott gegenüber, wie gering und sekundär sie auch veranschlagt wäre, doch nichts als versteckte Überforderung – bzw. umgekehrt eine Relativierung der göttlichen Gnade – bedeuten müsste. D. h. der Begriff der ,iustitia Dei‘ markiert genau die Linie zwischen der Gnade Gottes in Christus und den willentlichen Fähigkeiten und Unfähigkeiten der Menschen, ihr zu entsprechen. Wo die scholastischen Gnadenlehren integrative Kooperationsmodelle entwarfen, die faktisch in der spätmittelalterlichen Gesellschaft (religiös wie politisch) durch das Ablassunwesen zur Ausbeutung der Menschen durch die Kirche führen konnten, da legt Luther einen Schnitt aufgrund der erneuerten Entscheidungsfrage nach der Alleinwirksamkeit der Gnade. So heißt es in Luthers Hebräerbriefvorlesung (1517 – 18): „fides iam est gratia iustificans“.24 Damit ist die reformatorische These formuliert: Wo der Glaube ist, da ist Gerechtigkeit, und diese ist in Christus ganz geschenkt und nicht durch stufenweise (ethische) Verdienste vermittelt. Für die vier Grundbegriffe der Rechtfertigungslehre ergibt sich dann: 1) Die menschliche Freiheit im Geschehen der Rechtfertigung muss nun konsequent bestritten werden (,liberum arbitrium‘ wird zum ,servum 23 Röm 1, 16 f. 24 Vgl. WA 57, 191,24.
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arbitrium‘). Der Geschenkcharakter, die Befreiung und der Trost der Rechtfertigung bestehen gerade darin, dass Menschen hierzu nichts an Eigenqualitäten oder Eigenleistungen beisteuern müssen. Weil diese Aktivität der Freiheit ausgeschlossen ist, kann die Rechtfertigungslehre unter dem Stichwort der passiven Gerechtigkeit (,iustitia Dei passiva‘) bzw. der fremden Gerechtigkeit (,iustitia aliena‘) stehen, d. h. in beiden Formulierungen wird die Nichtbeteiligung im Sinne einer ausgeschlossenen Mitproduktivität (der menschlichen Freiheit) theologisch auf den Begriff gebracht. 2) Dem entspricht das umfassend angesetzte Verständnis der Snde, deren Gipfel gerade darin besteht, an der falschen Stelle, d. h. Gott gegenüber, mit sog. ,guten Werken‘ bzw. Verdiensten die Rechtfertigung erwirken zu wollen. Luthers Sündenbegriff ist deshalb kompromisslos und total, weil denkbare Mischungen von partiellen sündigen Neigungen mit einer doch wirksamen Freiheit nur die menschliche Illusion eigener Gerechtigkeit (gerade auch dann, wenn dies zunächst nicht bemerkt oder bewusst wird) fördern und damit die drohende göttliche Strafe, d. h. eine strafende Gerechtigkeit Gottes ohne Christus, nur potenzieren müssten. Es hängt demnach alles an der Klarheit der Alternative: Sünde des Menschen und Gerechtigkeit Gottes stehen (aus menschlicher Sicht) unvermittelt und in eindeutigem Profil sich ausschließend gegeneinander, und allein im Christusglauben liegt (von Gott her) die Gerechtigkeit, die Menschen sich schenken lassen, nicht verdienen müssen. Allein in Christus kommt es zum ,fröhlichen Wechsel‘, worin durch ihn die Sünde zugunsten der Gerechtigkeit des Sünders übernommen wird.25 3) Andererseits ist der gerechtfertigte Sünder selbstverständlich im Geschehen der Rechtfertigung aufs höchste beteiligt, unter diesem Aspekt aber geht es allein um den Glauben (,iustificatio sola fide‘). Luthers Theologie hat hierin ihre Verankerung und Modernität zugleich, denn anstelle der Gnadeneinwirkungen (gemäß den scholastischen Lehren) denkt sie den Menschen in Gottes- bzw. Weltrelationen und entdeckt den unersetzbaren Rang menschlicher Personalität und des Gewissens eben als Beziehungsgefüge.26 Der Glaube ist dabei die unverdiente Zutrauensbasis des Menschen, die als solche wiederum nicht selbst produ25 Vgl. vor allem Luther Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) in Ausgew. Werke, aaO., 269 – 287 (WA 7, 20 – 38). 26 Vgl. vor allem W. Joest Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967 (bes. §§ 8, 9, 10 zum ,exzentrischen’, ,responsorischen’ und ,eschatologischen Charakter des Person-Seins’), und s. o. Anm. 7!
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ziert sein kann und gerade deshalb allem anderen zugrunde liegt. Die Rechtfertigung verdankt sich allein diesem Christusglauben, und die menschliche Freiheit erhält aufgrund dieses Glaubens, der als Grundvertrauen, feste Überzeugung und unbedingte Zuversicht in Kraft ist, erst ihren wirklichen Freiraum, das Gute zu tun.27 4) Geschieht die Rechtfertigung vom Menschen aus gesehen unvermittelbar, passiv und von außen kommend (,extra nos‘), so führt dieses von Gott her und in Christus geschehende Vergeben der Sünden zum Verständnis eines richterlichen Aktes (forensisch) der Zurechnung (,imputatio‘) von fremder Gerechtigkeit, der eine heilsbedingende Vermittlungsinstanz der Kirche nicht mehr zulässt. Die Heiligkeit der Kirche besteht dann nicht mehr in einer ihr gesondert zukommenden Eigenschaft, mit der sie sich von anderen Menschen institutionell-qualitativ unterschiede, sondern Kirche als ,christlich, heilig Volk‘ ist dort, wo das Wort des Evangeliums (Symbol-Verstehen) und die Sakramente (Symbol-Handlungen) öffentlich erkennbar zu finden sind. Weil dies im Namen Gottes geschieht und das Geschehen der Rechtfertigung sich allein auf dies Wort verlässt, sind die Gemeinschaft der Christen und der Ort dieses Geschehens heilig.28
Kleiner literarisch-theologischer Exkurs Der Sprung von der Reformationszeit ins 19. und 20. Jahrhundert ist geistes- und theologiegeschichtlich gesehen natürlich problematisch, denn die Veränderungen des Protestantismus sind während der sog. Orthodoxie, während Pietismus und Aufklärung kaum weniger gravierend als in der Gegenwart. Damit die übersprungene Zeit aber nicht ganz zum Schweigen verurteilt bleibt, sollen wenigstens zwei literarische Figuren zu Wort kommen – zitiert aus Friedrich Nicolais Roman Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, in den Jahren 1773 – 76 erschienen, worin der durch Aufklärungstheologie ge27 Vgl. Luther Von den guten Werken, aaO., S. 8 (WA 6, 207): „Also ein Christenmensch, der in dieser Zuversicht gegen Gott lebt, weiß alle Dinge, vermag alle Dinge, vermisset sich aller Dinge, was zu tun ist, und tut alles fröhlich und frei, nicht um gute Verdienste und Werke zu sammeln, sondern daß es ihm eine Lust ist, Gott also wohl zu gefallen, dienet Gott lauterlich umsonst, daran begnüget, daß es Gott gefället.“ 28 Vgl. Luther Von den Konziliis und Kirchen (1539) in Ausgew. Werke, Erg.bd. 7, München 1963, bes. S. 109 ff. (WA 50, 624 ff.).
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prägte Romanheld Sebaldus auf einen Pietisten trifft und sich folgender Wortwechsel ergibt: [Pietist] „Ach wir armen Menschen! wie könnten wir uns unterstützen, wenn uns die Gnade nicht unterstützte, wie könnten wir etwas gutes wirken, wenn es die alleinwirkende Gnade nicht wirkte!“ [Sebaldus] „Freylich! wir haben alles durch die göttliche Gnade. Aber die Gnade wirkt nicht wie der Keil auf den Klotz. Gott hat die Kräfte zum Guten in uns selbst gelegt. Er hat uns Verstand und Willen, Neigungen und Leidenschaften gegeben. Er will, daß wir thätig sein sollen, so viel gutes zu thun, als uns möglich ist. Er hat Würde und Güte in die menschliche Natur gelegt.“ „O welch ein Selbstbetrug, mein lieber Bruder! rief der Fremde mit einem tiefen Seufzer aus: Wenn wir Gott wohlgefällig werden wollen, so müssen wir nichts als lauter Elend und Unwürdigkeit an uns sehen […] / […] Wenn Tugenden nicht aus der Gnade entspringen; so sind sie geschminkte Laster zu nennen […] / […] Ach lieber! laß dich von der alleinwirkenden Gnade ergreifen! Laß dich von der Kraft des Bundesblutes anfassen. Bete herzlich um die Wiedergeburt. Bete daß du bald zum Durchbruch kommen mögest. Bete, bete, ich will mit dir beten, lieber Bruder!“ Sebaldus sagte sehr kalt: „Ich pflege das Vater unser zu beten, darinn steht nichts vom Durchbruch, nichts vom Bundesblute, nichts von Wiedergeburt und von der alleinwirkenden Gnade.“29
3.3. Bis in die Moral- und Religionsphilosophie Kants ist die genuin protestantische Denkfigur der Rechtfertigungslehre zu verfolgen, dass allein die Zurechnung fremder Gerechtigkeit der realen Situation des Menschen gegenüber der Gesetzesforderung zur Entsprechung verhelfen kann, und das geschieht „unter der Voraussetzung der gänzlichen Herzensänderung“.30 29 Friedrich Nicolai Sebaldus Nothanker. Kritische Ausg., hg. v. B. Witte, Stuttgart 1991 (Reclam 8694), S. 162, 163, 164. 30 I. Kant Die Religion […], aaO., Zweites Stück: „Von dem Kampf des guten Prinzips, mit dem bösen, um die Herrschaft über den Menschen“, A 96; vgl. auch A 93 f. Anm.: „Auch die reinste moralische Gesinnung bringt dem Menschen, als Weltwesen, doch nichts mehr, als ein kontinuierliches Werden eines Gott wohlgefälligen Subjekts der Tat nach (die in der Sinnenwelt angetroffen wird) hervor. Der Qualität nach (da sie, als übersinnlich gegründet, gedacht werden muß) soll und kann sie zwar heilig und der seines Urbildes gemäß sein; dem Grade nach – wie sie sich in Handlungen offenbart – bleibt sie immer mangelhaft, und von der ersteren unendlich weit abstehend. Demungeachtet vertritt diese Gesinnung, weil sie den Grund des kontinuierlichen Fortschritts im Ergänzen dieser Mangelhaftigkeit enthält, als intellektuelle Einheit des Ganzen, die Stelle der Tat in ihrer Vollendung […] Was ihm in jener Qualität (der des alten Menschen) als Strafe gebühren würde (und das sind alle Leiden und Übel des
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Mit dem Übergang ins 19. Jahrhundert verschieben sich dann allerdings die geistigen Fronten insofern, als jetzt nicht mehr im Rahmen der allgemeingültigen christlichen Religion spezifisch theologische und konfessionelle Differenzen zur Diskussion stehen, sondern mit der sich auch gesellschaftlich etablierenden Säkularisierung, der modernen Wissenschaftsauffassung der Naturwissenschaften und den sie begleitenden Philosophien wird die Rechtfertigungslehre im öffentlichen Bewusstsein an den Rand gedrängt zugunsten der sehr viel allgemeiner erscheinenden Frage nach der Berechtigung und Begründbarkeit von Gottesglauben, Religion und Ethik überhaupt. Es sind vor allem die theologischen und philosophischen Arbeiten Schleiermachers und Kierkegaards, die hierauf reagieren und schon die wissenschaftliche Grundform ihres Denkens nach dem Modell der reformatorischen Rechtfertigungslehre entwerfen. Damit ist der dritte epochale Schritt in der Entwicklung der Rechtfertigungslehre getan. So wird in Schleiermachers Glaubenslehre bereits in ihrer religionstheoretischen Grundlegung die unbedingte ,Gewissheit‘ und ihr ,Gefühl der Überzeugung‘ als Basisgeschehen im Verbund mit ,Wissen und Thun‘ exponiert.31 Die Glaubenslehre präsentiert Gottes Schöpfung und Erlösung in der Weise, dass das Geschehen der Rechtfertigung (d. h. der Wechsel vom Schuldgefühl zum ,positiven Gefühl‘ der Kinder Gottes),32 eben die Widerspruchsstruktur darstellt, die es im Leben der Christen zu überwinden gilt und der konsequent die Anlage der Glaubenslehre im ganzen entspricht; schließlich ist die in allem wirksame und alles andere überragende Eigenschaft Gottes seine Liebe, die als seine ,Mittheilung‘ die Erlösungsbedürftigkeit und Erlösung von Menschen und Welt umfasst.33 Lebens überhaupt), das nimmt er in der Qualität des neuen Menschen freudig, bloß um des Guten willen, über sich […] im Bewußtsein seines Fortschritts im Guten (der mit der Verlassung des Bösen ein Actus ist) […]“ 31 Der christliche Glaube (1821 – 22), § 8.3; (1830 – 31), § 3. – Zur Grunddifferenz zwischen Schleiermacher und Kant in der Bestimmung des Ethischen vgl. H. Deuser „Glauben und Handeln. Evangelische Theologie in den Konsequenzen der Neuzeit“ in Auf der Suche nach dem verborgenen Gott. Zur theologischen Relevanz neuzeitlichen Denkens, hg. v. A. Halder und K. Kienzler und J. Möller, Düsseldorf 1987, S. 322 – 348; hier bes. S. 323 – 328. 32 Der christliche Glaube (1821 – 22), § 129.1. 33 Vgl. Glaubenslehre (1821 – 22), §§ 181 ff.; (1830 – 31), §§ 166 f.; d. h. bezüglich der Frage von Glaube und Werken: „Denn in dem Maaß als uns die Erlösungsbedürftigkeit afficirt, und diesem Gefühl ein Bewußtsein unserer Zulänglichkeit etwas zu ihrer Befriedigung beizutragen entspricht, wird auch die Thätigkeit hervortreten. Dieses Gebiet nun bildet eines jeden Beruf, und so ist die
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Noch weitergehend hat das philosophisch-theologische Programm Kierkegaards den Vorrang, dass Gott – dem Menschen in der Unwahrheit der Sünde – nicht nur die Wahrheit, sondern auch die ,Bedingung‘ zu ihrem Verstehen schenkt,34 als existenzdialektische Struktur aller Erfahrung und Erkenntnis ausgearbeitet. Kierkegaards Schrift Die Krankheit zum Tode (1849) analysiert die Relationalität des menschlichen Selbst zwischen Gott und Welt in den Zuordnungen von Freiheit, Sünde und Glaube: Gesetz und Evangelium stellen sich dar in einer Phänomenologie der Verzweiflung, deren allgemeine Struktur so angelegt ist, dass Menschen allein in der Selbst-Relation vor Gott, d. h. in der Sündenerkenntnis durch das Bild Christi, zur eschatologischen ,Durchsichtigkeit‘ des Selbstverhältnisses und damit zur Befreiung des Glaubens finden können; und dies ist als die Bedingung der Möglichkeit dafür anzusehen, dass in einem konsequent christlichen Sinn überhaupt von Taten der Liebe gesprochen werden kann.35
IV. Glaube und Werke 1. Was für das mittelalterliche, reformatorische und neuzeitliche Christentum weitgehend selbstverständliche Denk- und Erfahrungsvoraussetzungen waren: die rechtlich geprägte Sprache (Gerechtigkeit, Gnade, Vergebung etc.), das biblische Weltbild (Wunderglaube, Schriftverständnis), die Realität der Sünde und die Angewiesenheit auf Vergebung durch Kreuz und Auferweckung Christi; und dem noch vorausliegend: die Prämisse eines Schöpfergottes, der Welt und Geschichte lenkt, verbunden mit seiner alltäglichen Wirksamkeit in der Praxis christlicher Frömmigkeit – all diese Verstehensbedingungen sind heute nicht mehr fraglos gegeben. Sie alle ließen sich summieren in der Frage: ob ,Glaube‘ überhaupt als Geschenk einer Lebensform (im Gegensatz zur ,Werkgerechtigkeit‘ und zugunsten von ,Taten der Liebe‘) verstanden wird, wenn theologisch oder im christlichen Zeugnis vom Wort der Gnade in Christus ,sola fide‘ die Rede ist. Gabe den Beruf im allgemeinen richtig zu finden und im einzelnen vollständig durchzuführen der Inbegriff aller guten Werke“ (1821 – 22, § 132.3). 34 Vgl. S. Kierkegaard Philosophische Brocken in SKS 4 / GW1 6), Kap. I. 35 So der Titel von Kierkegaards theologischer Ethik, vgl. die dt. Ausg. in der Übers. v. E. Hirsch Der Liebe Tun. Etliche christliche Erwgungen in Form von Reden in GW1 14.
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Dass damit andererseits keine absolut fremdartige oder alles bisherige umstürzende Situation – gemessen an der jahrhundertelangen Diskussion um die richtige Auslegung von Gnade und Rechtfertigung – präsentiert wird, lässt sich wiederum im Rückgriff auf die Grundelemente der Rechtfertigungslehre zeigen: 1) Die christliche Freiheit macht aufmerksam auf die Verstelltheit und Verborgenheit des Menschen vor sich selbst. Was ein ,gutes Werk‘ ist, ergibt sich deshalb nicht automatisch. Frei und gut zu handeln muss offenbar über einen Erfahrungsprozess gelernt werden, zu dem wesentlich die Aspekte des Unverdienten, Leistungsfreien, Schöpferischen gehören. Ohne Bezug zum (christlichen) Gottesglauben wird sich dieser dialektische Freiheitsbegriff weder erfahren noch denken lassen. 2) Die Snde benennt in genau diesem Zusammenhang eine personale und welthafte Gegebenheit, die als solche aber nur indirekt zu erschließen ist: Ihre Wirklichkeit zeigt sich in Phänomenen der Angst und Verzweiflung (Kierkegaard), im menschlichen Zustand des ,Eingekrümmtseins‘ (Luther: ,homo incurvatus in se ipse‘), der als solcher geradezu nach seiner Befreiung schreit. Die Erfahrung der Rechtfertigung, wie sie die christliche Tradition in der Rechtfertigungslehre bearbeitet, korrespondiert gerade diesen Situationsbeschreibungen der Moderne. 3) Der Glaube ist demgemäß die Lebensform, die der Sündenvergebung entspricht und die Relationen des Selbst- und Weltverhältnisses als von Gott her durchsichtig trägt. Dies Verständnis von Glaube ist im 20. Jahrhundert noch keine Selbstverständlichkeit, sondern es muss erklärt werden: z. B. als ,Durchbruch‘ der Gewissheit gegenüber dem Zweifel36 und damit als universale Figur des ,protestantischen Prinzips‘ (P. Tillich). Dabei geht es hier nicht in erster Linie um eine Theorie, sondern um ein Grundvertrauen (Luther: ,fiducia‘), das bestimmtes Verhalten zu den Menschen, der Welt und zu Gott ebenso schon in sich angelegt findet wie die Bezogenheit auf (mögliches) Handeln. Der Glaube der Rechtfertigung, das zweifelsfreie Gefühl der Entlastung, meint dies Verhalten eines befreiten Selbst-, Welt- und Gottesverhältnisses, das die Sünde wohl kennt, aber an ihrer Macht nicht mehr verzweifeln muss (Luthers Beschreibung des Christen: ,simul iustus et peccator‘), und deshalb mit Freimut und zum Guten zu handeln in der Lage ist. 4) Die christliche Kirche bietet demgemäß genau den Lebensraum der Solidarität der sündigen und von der Sünde befreiten Menschen, die die 36
Vgl. P. Tillich „Rechtfertigung und Zweifel“ (1924) in Hauptwerke, Bd. 6: Theol. Schriften, Berlin / New York 1992, S. 83 – 97.
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Realität des Lebens dieser Welt nicht mehr verdrängen müssen und im Geist Jesu Christi für ihre Lebenswelt (Schöpfung und Neu-Schöpfung) zu glauben, sich zu verhalten und zu handeln lernen. 2. Die Thematik Glaube und Werke hat zudem eine erneute Aktualität durch die interkonfessionellen Gesprche und Kommissionsarbeiten erhalten, wie sie innerprotestantisch seit den 60er Jahren und zwischen den ev. und römisch-kath. Partnern seit Beginn der 70er Jahre zunehmend intensiver geführt wurden.37 Während zwischen den reformierten und lutherischen Kirchen mit der Leuenberger Konkordie von 1973 eine tragfähige Einigung vorliegt, die in der ,Rechtfertigungsbotschaft‘ die Grundlage des gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums sieht (Art. 6 – 12), kann von einem entsprechend unumstrittenen Arbeitsergebnis der Gemeinsamen kumenischen Kommission zwischen ev. und kath. Theologen und dem durch ihren Arbeitskreis formulierten Text Lehrverurteilungen – kirchentrennend? noch nicht die Rede sein. Die seit der Reformation und auch nach dem Zeitalter der Konfessionalität noch immer uneinheitliche Bestimmung von Inhalt und Geltung der Rechtfertigungslehre (hier sind auf kath. Seite vor allem die Texte des Konzils von Trient und des II. Vatikanischen Konzils heranzuziehen) 38 kann aufgrund der Kontroversen um den Einigungsvorschlag von Lehrverurteilungen – kirchentrenennend? noch einmal in den vier Schlüsselbegriffen der Rechtfertigungslehre strukturiert werden: 1) Unter dem Aspekt der Stellung des Christentums in den modernen Gesellschaften ist es zuerst der Freiheitsbegriff, woran Tradition und Wirkung der Rechtfertigungslehre abgelesen werden können. Die reformatorische Ablehnung des ,liberum arbitrium‘ ist ein Phänomen der 37 Vgl. zur Übersicht die Dokumentensammlung Rechtfertigung im çkumenischen Dialog, Dokumente und Einfhrung, hg. v. H. Meyer und G. Gaßmann, Frankfurt am Main 1987; und für die noch vorhergehenden Dokumente im internationalen Rahmen aller Kirchen Dokumente wachsender bereinstimmung. Smtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gesprche auf Weltebene 1931 – 1982, hg. v. H. Meyer, H. J. Urban und L. Vischer, Paderborn / Frankfurt am Main 1983. (Das früheste Dokument im Luther. / Röm.-kathol. Dialog ist der „Malta-Bericht“ von 1972.) 38 Vgl. hierzu vor allem auch die historische „Aufarbeitung und Stellungnahme in dem Dokument Lutherisch / Römisch-katholischer Dialog in den USA“ in Meyer und Gaßmann Rechtfertigung im çkumenischen Dialog, aaO.; § 73 u. Anm. 133 stellen den Bezug zum II. Vaticanum her; vgl. die Dogmat. Konstitution über die göttl. Offenb. „Dei Verbum“, Art. 5 in Kleines Konzilskompendium, hg. v. K. Rahner und H. Vorgrimler, Freiburg im Breisgau 1986, 369; lat. / dt. in Denzinger / Hünermann (1991), Nr. 4205.
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Dialektik der Alleinwirksamkeit der Gnade, die sich in der Freiheit vom religiösen Gesetz (,Verdienstlichkeit‘) und damit in der Freisetzung wirklich guter Werke darstellt.39 Wenn nun Lehrverurteilungen – kirchentrennend? erklärt, die Verdienstlichkeit gegenüber der Gnade sei (aus heutiger Sicht) im wesentlichen ein Missverständnis,40 so gehen in diese Beurteilung moderne Ergebnisse von historischer Exegese und Dogmengeschichte, historische Distanz und eine zunehmende Orientierung – auch in der katholischen Theologie – am Autonomiebegriff der Neuzeit ein. Doch bleibt ungeklärt, ob nicht doch das Freiheitsgeschehen im Ganzen unterschiedlich gesehen wird: Ist Freiheit die existentielle Erfahrung von Gebundenheit und Freisetzung? – Oder eine doch (sakramental-kirchlich) vermittelte Beauftragung,41 die letztlich zu erfüllen ist? 2) Unter dem Aspekt des geistesgeschichtlichen Vergleichs der Bekenntnisse ist zweifellos der Sndenbegriff von größter wirkungsgeschichtlicher Bedeutung seit den Entscheidungen Augustins und Luthers bzw. seit Kierkegaards Neuinterpretation im 19. Jahrhundert gewesen. Die bleibende Differenz zwischen der reformatorischen und der katholischen Tradition hängt offenbar mit der Einschätzung der unvertretbaren Personalität und – deswegen und an dieser Stelle – mit der kompromisslosen Totalität der Sünde des totus homo zusammen.42 Unter der Voraussetzung, dass der Sünde im Geschehen der Rechtfertigung ein ontologischer Sinn und eine religiöse Erfahrung zukommt, wäre die christliche Theologie zuallererst gefordert, diesen (aufgrund ihrer jeweiligen Tradition) allgemein zu formulieren und auf seine Tragfähigkeit hin zu erproben. Dieser Sinn, lässt er sich heute argumentativ darstellen, wird auf die Dialektik der Freiheit zurückführen und damit auf die Bedingung 39 Vgl. CA XVIII u. XX; vgl. Calvin Inst. III, 16, 1 ff.; und zu den reformierten Bekenntnissen bei J. Rohls Theologie reformierter Bekenntnisschriften. Von Zrich bis Barmen, Göttingen (UTB 1453) 1987, Kap. 12. 40 Vgl. Lehrverurteilungen – kirchentrennend? I: Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, hg. v. K. Lehmann und W. Pannenberg, Freiburg in Breisgau / Göttingen 1986, 72 ff. (abgek. LV); vgl. dagegen berholte Verurteilungen? Die Gegenstze in der Lehre von Rechtfertigung, Abendmahl und Amt zwischen dem Konzil von Trient und der Reformation – damals und heute, hg. v. D. Lange, Göttingen 1991, 49 ff. [abgek. V]. 41 In einem ,gegliederten Prozeß’, vgl. Kühn und Pesch Rechtfertigung im Disput, aaO., S. 53 f.; bzw. im stufenweisen Halten der Gebote aufgrund der ,fides caritate formata’, ebd. S. 81. 42 Vgl. CA, II; und diesbezüglich LV, 48 ff. und V, 38 ff.
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guter Werke allein aus Glauben, Gewissheit der Überzeugung und Handlungszuversicht. 3) Unter dem Aspekt der Dogmengeschichte sind die Forschungsergebnisse bezüglich des Glaubensbegriffs am auffallendsten. Hier waren die Auseinandersetzungen und Missverständnisse seit der Reformation am härtesten.43 Die reformatorische ,fides iustificans‘ 44 ist vor allem in lutherischer Tradition als personale Gewissheit (,certitudo‘) des Glaubens (,fiducia‘) aufzufassen, und es ist diese historisch inzwischen sehr gut zu rekonstruierende Differenz in der Konzentration auf personale Erfahrung, worin sich – vor allen auch zeitbedingten Auseinandersetzungen der Reformationszeit – der theologische Ansatz von Thomas v. Aquin und Luther prinzipiell unterscheidet.45 So wenig die unbedingte Glaubens- und Heilsgewissheit der Rechtfertigung ersetzt oder zerteilt oder auf institutionelle Abhängigkeiten, verordnete Verhaltensweisen oder Handlungsstrategien hin aufgelöst werden kann, so wenig ist sie gleichgültig gegenüber ihrer argumentativen Selbstdarstellung und genuin ethischen Konsequenzen. Denn es ist gerade die unersetzbare Personalität des glaubenden Grundvertrauens, die nicht ohne ihr Verhalten und darauf bereits bezogenes mçgliches Handeln auskommen kann. D.h. die von der katholischen Theologie im Protestantismus gesuchte Ermöglichung christlicher Ethik ist von der Rechtfertigungslehre gerade nicht ausgeschlossen, sondern nur entscheidend anders begründet und konzipiert. 4) Unter dem Aspekt des Kirchenverstndnisses zeigt sich daher die eigentliche Konfrontation. Was hier entschieden werden muss, lässt sich nicht durch gesellschaftliche, geistesgeschichtliche oder dogmengeschichtliche Analysen ersetzen, so sehr das Bewusstsein der Konfessionalität nicht mehr allein regiert und geschwunden sein mag. Gegen die reformatorische Rechtfertigungslehre und die aus ihr folgende Auffassung der Ethik und der Kirche46 steht auf katholischer Seite letztlich die dogmatisch definierte Lehre von der Kirche und ihrem (unfehlbaren) Lehramt als Instanz christlicher Wahrheitsübermittlung und Garant ihrer Einheit. Demgegenüber besteht die reformatorische Tradition darin, dass sich Gottes Handeln allein durch das Wirken des Geistes, der gewiss und 43 Vgl. LV, 53 – 63; dagegen V, 41 – 48. 44 CA IV. 45 Das hat O. H. Pesch immer wieder betont, vgl. vor allem Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Mainz 1967 (1985), S. 747 ff., 935 ff. 46 CA V, VII, XX.
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lebendig macht, in der auch kirchlich unverfügbaren Personalität von Glaube, Sünde und Freiheit bindet.47 Die sozialen wie institutionellen Lebensstrukturen der Kirche erhalten von diesem Vorrang der Verheißung und des Geschehens der Rechtfertigung ihre Bedeutung (,allgemeines Priestertum‘), kirchliche Strukturen haben nicht als solche einen Vorrang oder Sonderstatus zwischen Gott und Menschen. Das Geschehen der Rechtfertigung ist – was die wahre Bestimmung von Glaube, Sünde und Freiheit angeht – prinzipiell gesehen deren vollständiger Ausdruck. Die Ekklesiologie ist eine Folge dieser Grundlegung. 3. Schließlich eine letzte Überlegung zur Relation von Glaube und Werken im konfessionellen Vergleich: Die pln. Formel ,Glaube, Hoffnung, Liebe‘48 kann durchaus als Kernbestand im Geschehen der Rechtfertigung identifiziert und analog der Dreigliedrigkeit von Glaube (,fiducia‘), Verhalten (effektiver Gewissheit der Überzeugung) und Handeln (,sanctificatio‘ / Heiligung im Lebenszusammenhang) interpretiert werden. Gerade dann lässt sich aber zugleich die traditionelle Differenz benennen,49 sofern die Reformation nicht mehr die scholastische Auffassung von einer Ganzheit – zusammengesetzt aus drei Teilstücken – übernehmen kann: Der Glaube ist reformatorisch ebenso ein Ganzes wie die Hoffnung und die Liebe, es handelt sich um drei selbständige theologische Kategorien jeweils eigener Art. Und es ist diese Gesamtintention der ev. Auffassung, für die gesagt werden muss: Der Glaube steht als Geschenk für sich allein und als ganzer, eine unbedingte Gewissheit ohne Bedingungen und ohne verdienstlichen Prozess: die eigentliche Rechtfertigung ,sola fide‘. – In anderer Weise kann sich das Verhalten des Glaubens, die Hoffnung, affektiv auf etwas beziehen, das zugleich aussteht und doch in ihr wirksam ist. – Schließlich besteht das Handeln des Glaubens in der Aktivität der Liebe, der guten Werke, die als solche gerade nicht ein konstituierendes Teilstück der (ev. verstandenen) Glaubensgewissheit sein können. Der Zusammenhang von Glaube, Hoffnung und Liebe liegt folglich nicht in einer rückwärtigen (auf den Glauben zielenden) anthropologischen Aufbaumaßnahme aus Teilstücken, sondern die Eigen47 Vgl. E. Herms Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen […], Göttingen, 1984. 48 1 Kor 13, 13. 49 Vgl. LV, 56 f.; V, 45; dazu auch Kühn und Pesch Rechtfertigung im Disput, aaO., S. 67 f., 75; und G. Ebeling Lutherstudien II-3 (Disputatio de homine, 3. Teil), Tübingen 1989, 456 ff. (zur Differenz zwischen Scholastik und Luther in der Auffassung der Liebe); S. 520 ff. (zur Differenz im Verständnis der Hoffnung).
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ständigkeit der drei Perspektiven gilt ebenso wie die fortwirkende Implikation des Glaubens in der Hoffnung und beider in der Liebe – als vorwärts und praktisch ausgerichteter Prozessualität. In diesem Sinne bleibt die paulinische Formel der Inbegriff von Personalität50 und Relationalität51 im Vorgang ihres Wachsens in der Wahrheit.52
V. Theologische Ethik 1. Die Erfahrungswerte der Rechtfertigung wurden als das kreative Gesamtgeschehen interpretiert, worin die schöpferische Ermöglichung von Vertrauen (,fiducia‘ / ,faith‘) an erster und grundlegender Stelle ihre Folgerungen zwar schon mit meint, aber nicht in der Weise programmiert, als gäbe es keine Unterscheidung von Glaube, Verhalten und Handeln. Die Universalität der theologischen Ethik gründet in diesem dreigliedrigen Erfahrungszusammenhang, aber nicht so, dass er vorweg immer schon gewusst oder mit Notwendigkeit deduzierbar wäre. Die Übergänge zwischen Glaube, Verhalten und Handeln bestimmen sich jeweils wieder neu als ein Freiheitsgeschehen, worauf in gewissem Sinne die Unberechenbarkeit und jeweilige Eigenständigkeit der drei Erfahrungsfelder beruht. Deshalb kann durchaus gesagt werden, der Glaube sei sich selbst genug; und dadurch steht er nicht etwa außerhalb der Ethik. Das ist der Sinn von Luthers zunächst befremdlicher Formulierung, der ,Glaube an Christum‘ sei das „erste und höchste, alleredelste gute Werk“;53 sein Bezug ist nämlich das im Glauben erfahrene kreative Grundgeschehen selbst, wie es sich für Luther im 1. Gebot zusammenfasst54 und also zu Dogmatik und Ethik zugleich gehört. 50 51 52 53
S.o. II.1. S.o. II.2. S.o. II.3. Von den guten Werken, aaO., S. 5 (WA 6, 204); insofern ist es auch konsequent zu sagen, der ,Rechtfertigungsglaube’ liege nicht bloß „allem tatsächlich ethischen Handeln zugrunde“, sondern sei selbst als ethischer ,Grundakt’ zu begreifen, vgl. W. Härle in W. Härle und E. Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverstndnis des christlichen Glaubens. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 1979, S. 169. 54 Von den guten Werken, aaO., S. 10 (WA 6, 209): „Siehe, das ist das Werk des ersten Gebotes, da geboten ist: ,Du sollst nicht andere Götter haben’. Das ist so viel gesagt: Dieweil ich allein Gott bin, sollst du zu mir allein deine ganze Zuversicht, Trauen und Glauben setzen und auf niemand anders.“
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Die Relation und Bindungsfähigkeit des Glaubens eröffnet aber immer auch die Klärung dessen, wie und was bzw. woraufhin geglaubt wird. Im jeweiligen Glauben geht es demnach in zweiter Hinsicht um Selbstvergewisserungsakte in der Wirksamkeit von Wille und Freiheit – unter den jeweiligen Bedingungen. Sich so zu verhalten geschieht in den jetzt bewusst thematisierten Relationen auf die Verhältnisse von Menschen, Welt und Gott.55 Eben dies versucht Luther im Übergang von der ersten zur zweiten Tafel der Gebote zu zeigen: Dass es überhaupt außer dem 1. Gebot (des Glaubens) noch weiterer bedarf, liegt an den Verhältnissen, den Lebensrelationen, in denen dieser Glaube sich findet und die als solche klar werden müssen. Entscheidender Zug dieser Verhältnisse ist, dass in ihnen der kreative Grund des Glaubens – der als solcher in sich eindeutig ist: wo er wirklich ist, dort ist er ohne jeden verwirrenden Zweifel! 56 – dann doch auch unscharf, vieldeutig und umstritten begegnet: „Dieweil denn wir nicht alle gleich sind, müssen wir diese Menschen dulden und mit ihnen halten und tragen, was sie halten und tragen und sie nicht verachten“.57 Dies Verhalten aufgrund des Glaubens und des 1. Gebots bestimmt zu mçglichem Handeln. Hier den Möglichkeitsbegriff einzuführen ist deshalb von enormer Bedeutung, weil dadurch erstens (philosophisch gesehen) überhaupt erst die Distanz zur Bestimmung von Normen, Werten, Sitten, Pflichten, Tugenden, Gütern etc. gewährleistet wird. Und so wie sich diese nicht von selbst ergeben, historisch und kulturell ihre Bedingungen haben und deshalb auch kein Zwangsgeschehen, sondern veränderbar und verantwortlich zu gestalten sind, so sind sie umgekehrt durchaus nicht beliebig, nicht willkürlich zu produzieren oder zu verwerfen, sondern eingebunden in eben den Prozess ihres Werdens und Veränderns, der immer nur einschließlich der logisch vorausgehenden Rela-
55 S.o. II.2. 56 Von den guten Werken, aaO., S. 8 (WA 6, 207): „Die einige Zuversicht lehret ihn das alles, und mehr denn not ist. Da ist ihm kein Unterschied in Werken, tut das große, lange, viele so gerne als das kleine, kurze, wenige und wiederum dazu mit fröhlichem, friedlichem, sicherem Herzen und ist ganz ein freier Gesell. Wo aber ein Zweifel da ist, da sucht sich’s, welches am besten sei; da hebet an, Unterschied der Werke auszumalen […]“ 57 Von den guten Werken, aaO., S. 15 (WA 6, 214). – Anfechtungen und die Verborgenheit Gottes sind die dem Glauben internen Erfahrungen solcher Vieldeutigkeit, beides ist auch in dieser Schrift Luthers ausführlich zu belegen.
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tionen von Glaube und Verhalten bestimmbar und wirklich kreativ werden kann. Zweitens ist (theologisch gesehen) damit sichergestellt, dass keine kurzschlüssige Verbindung von Glauben und Handeln Platz greift, so als müsse die Welt des Ethischen (tendenziell) kasuistisch durchgerechnet werden, oder als müsse aus dem (dogmatisch) vorweg bestimmten ,Glauben‘ eben ein akut zwingend bestimmtes Handeln die anders nicht mehr in Frage zu stellende, geradezu nachklappende Folge sein. – Dabei kann die kasuistische Tendenz wohl als Fehlform katholischer Moraltheologie gelten, der kurzschlüssige Glauben-Handeln-Zirkel als Fehlform des Protestantismus. Wird die logische Bedingungsfolge und das jeweils spezifische Eigenrecht von Glauben, Verhalten und Handeln respektiert, eröffnen sich Spielräume für verbesserte theoretische Argumentation und überzeugendere praktische Orientierung. Wiederum: die Übergänge zwischen Glauben, Verhalten und Handeln sind Freiheitsakte, deshalb können sie fehl gehen und deshalb gründen sie zuletzt allein in ihrer kreativen Ermöglichung, die als solche nicht herstellbar gedacht werden kann. In diesem Sinne ist Freiheit natürlich zugleich ein dogmatisches wie ethisches Thema: Hier sehen wir, daß alle Werke und Dinge einem Christen frei sind durch seinen Glauben und er doch, weil die anderen noch nicht glauben, mit ihnen trägt und hält, des er nicht schuldig ist. Und das tut er aber aus Freiheit, denn er gewiß ist, es gefalle Gott also wohl, und er tut es gerne, nimmt’s an wie ein ander frei Werk, das ihm ohne sein Erwählen auf die Hand stößet.58
2. Dass ein guter Baum auch gute Früchte bringe, gilt als Standardweisheit protestantischer Ethik und unterstellt – im Sinne der Rechtfertigungslehre –, dass gute Werke im eigentlichen, also nicht im verdienstlichen Sinn von Werkgerechtigkeit nur als Folgegeschehen des Glaubens in Frage kommen. Daran ist natürlich insofern etwas Richtiges, als tatsächlich unter den Diskussionsbedingungen der Reformationszeit die entscheidende Frage die nach dem Verhältnis von Gnade und Gerechtigkeit Gottes einerseits und dem Handeln des Menschen bezüglich dieser (kirchlich vermittelten) Gnadengaben andererseits gewesen ist. Wird diese Zielrichtung – auf Gott hin mitzuwirken – generell bestritten, was die reformatorische Rechtfertigungslehre in aller Ausführlichkeit getan hat, so emanzipiert sich die ethische Frage nach guten Werken vom 58 Von den guten Werken, aaO., S. 15 f. (WA 6, 214).
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geistlichen und institutionell sanktionierten Sinn besonderer Qualifikationen.59 Andererseits aber – setzt man die Gültigkeit dieser Diskussionslinien als vergangene Frontstellung voraus – erscheint die Auskunft, eine guter Baum bringe gute Früchte, ungenau und mehrdeutig, wird sie nämlich unter der neuzeitlichen Frage nach der Bestimmung des Ethischen rezipiert: Auf den ersten Blick scheint dadurch eine eigenständige ethische Reflexion auf die Ausbildung von Normen, Pflichten, Handlungen etc. überhaupt ausgeschlossen, weil sich entweder alles von selbst ergibt oder weil theologisch – aus Furcht vor verdienstlichen ,Werken‘ – auf diesem Feld gar nichts ausgerichtet werden darf. Wird Luthers Lehre Von den guten Werken so gelesen, so scheint vor allem ihr erster Teil (zur ersten Tafel der Gebote) dieser oberflächlichen Lesart Vorschub zu leisten, etwa in dem Satz: „daß ein Christenmensch in diesem Glauben lebend nicht bedarf eines Lehrers guter Werke, sondern was ihm vorkommt, das tut er.“60 Im zweiten Teil der Schrift (zur Auslegung der Gebote der zweiten Tafel) tut nun Luther aber nichts anderes, als dass er als Lehrer guter Werke auftritt;61 und das war notwendig, um zu zeigen, dass seine Lehre vom Glauben als höchstem Werk im Sinne des 1. Gebots keineswegs Ethik ausschließt oder Anarchismus einschließt; eine Verwechslung, die im Sinne der katholischen Gnadenlehre, sofern sie Liebe und Hoffnung 59 Diese epochemachende Wendung ist wiederum von Luther Von den guten Werken, aaO., S. 5 f. (WA 6, 205), bildkräftig und klar profiliert worden: „Fragst du sie weiter: ob sie das auch für gute Werke achten, wenn sie arbeiten ihr Handwerk, gehen, stehen, essen, trinken, schlafen und allerlei Werke tun zu des Leibes Nahrung oder gemeinem Nutzen, und ob sie glauben, daß Gott ein Wohlgefallen darinnen über sie habe, so wirst du finden, daß sie nein sagen und die guten Werke so eng spannen, daß sie nur beim Kirchenbeten und Fasten und Almosen bleiben – die andern achten sie als vergeblich, daran Gott nichts gelegen sei – und also durch den verdammten Unglauben Gott seinen Dienst, dem alles dienet, was im Glauben geschehen, geredet, gedacht werden mag, verkürzen und verringern.“ 60 Von den guten Werken, aaO., S. 7 (WA 6, 207). 61 Allerdings immer unter der weitergeltenden Grundbedingung der primären Geltung des Glaubens; und diese kann durchweg erklären, warum nicht getan wird – oder nicht gewollt wird –, was eigentlich dem Wissen nach getan werden sollte. So z. B. zum 8. Gebot: „Warum tun sie das? Darum: Sie haben keinen Glauben an Gott, versehen sich nichts Gutes zu ihm. Denn wo diese Zuversicht und dieser Glaube ist, da ist ein mutiges, trotziges, unerschrockenes Herz, das hinan setzt und der Wahrheit beisteht, es gelte Hals oder Mantel […]“ (Von den guten Werken, aaO., S. 78 (WA 6, 275)).
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mit dem Glauben zusammenschließt und nur als Teile eines Ganzen der Gnadenvermittlung verstehen kann, allerdings naheliegt.62 – Doch darin besteht neuzeitlich gar nicht mehr die eigentliche Fragestellung, und deshalb ist es unumgänglich, die Auskunft über den Baum und seine Früchte auch neu zu verstehen. Das wird möglich unter Beachtung der drei Perspektiven von Glaube, Verhalten und Handeln. D. h. kategorial gesehen ist zu unterscheiden, an welcher Stelle und in welcher Hinsicht die Metapher vom Baum und den Früchten gelten kann. Streng genommen nur im Falle der kreativen Ermöglichung des Glaubens als Gewissheit der Überzeugung und unbedingter Zuversicht. Denn daraus folgt tatsächlich alles andere – und es ist gut. – Schon unter der Frage der Menschen-, Welt und Gottesrelationen, werden diese als solche zum Thema, verliert notwendig die Spontaneität ihre Eindeutigkeit und Unbeirrbarkeit. Erst recht sobald nach bestimmtem Handeln unter konkreten Konfliktbedingungen gefragt wird, ist die Auskunft vom Baum und den Früchten entweder keine Auskunft oder eine Ausflucht, wenn dadurch die ethische Reflexion überhaupt umgangen werden soll. Entscheidend also bleibt die kategoriale Differenzierung, und das unter der Bedingung, dass die vollständige ethische Frage immer erst die sein kann, die alle drei Kategorien (hier: Glaube, Verhalten, Handeln) auch zum Zuge bringt. Die Lösung des ethischen Problems der Zuordnung von gutem Baum und guten Früchten wurde für die innerprotestantischen Auseinandersetzungen seit Orthodoxie und Pietismus63 schon dadurch erschwert, dass es sich im Rechtfertigungsgeschehen um eine gänzlich unanschauliche Gewissheit bzw. um deren Bindung an bestimmte äußere Kennzeichen der Heiligung oder Bekehrung handeln sollte. Letztere fallen dann einerseits als verselbständigte Handlungsfolgen unter die ethischen Reflexionen der philosophischen Kritik, andererseits unterliegen sie erneut der typisch protestantischen Rückfrage nach der Differenz zwischen verdienstlichen Werken oder guten Werken als Folge des Glaubens. Wie aber – nach welchen Kriterien – soll und kann hier unterschieden werden? In Kierkegaards theologischer Ethik64 hat diese Fragestellung zuletzt ihren wohl strengsten Ausdruck gefunden. Die ,Taten der Liebe‘ werden radikal so dargestellt, dass sie als Taten ohne eigentliches Objekt erscheinen müssen, wobei die Handlungsgegenständlichkeit keineswegs 62 S.o. IV. 3. 63 Vgl. oben die Beispielszene aus Sebaldus Nothanker! 64 Vgl. oben Anm. 35.
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geleugnet, sondern mit aller Intensität herausgeschält wird – doch mit Fleiß so, dass die christliche Gewissensethik im dadurch potenzierten inneren Zirkel ihrer äußersten Anspannung nur um so mehr gesteigert wird. Im Glauben (sc. im Geschehen der Rechtfertigung) kommt es dann zum Zusammenstoß göttlicher Unendlichkeit mit menschlicher Endlichkeit. Darin besteht das ,Gewissensverhältnis‘,65 und sein unendliches Gewicht ist seine eschatologische Unabdingbarkeit.66 Das geht soweit, dass ethisch und praktisch geurteilt ein Schwebezustand entsteht, in dem es unentschieden scheint, ob – gemessen an lebendigen Realisierungen – eine geradezu zynische Verweigerung oder extreme Sensibilität für die conditio humana intendiert ist; deren letztes Maß, Gott sei Dank, nicht die äußerlichen, weltlichen Geschäfte und Erfolge sein können: denn es gibt gewisse Dinge, und darunter insbesondere die Geheimnisse der Innerlichkeit, welche durch Bekanntmachung verlieren, und welche völlig verloren sind, wenn die Bekanntmachung einem das Wichtigste geworden ist […] Es ist die göttliche Absicht des Christentums, in Vertraulichkeit zu jedem Menschen zu sagen: „Müh dich nicht ab, die Gestalt der Welt oder deine Lebensbedingungen zu verändern, wie wenn du, um bei dem Beispiel zu bleiben, es vielleicht dazu bringen könntest, gnädige Frau genannt zu werden, statt eine arme Bettlerin zu sein, o nein, eigne dir das Christliche an, und dann wird es dir einen Punkt außerhalb der Welt zeigen, mit dessen Hilfe du Himmel und Erde bewegen wirst, ja du wirst das noch Wunderbarere tun, du wirst Himmel und Erde so still, so leicht bewegen, daß niemand es merkt.“67
65 D. h. nach Kant und zugleich im Gegenzug zur idealistischen Philosophie wird von Kierkegaard die Rechtfertigungslehre einerseits im absoluten Pflichtethos des „Du sollst lieben“ proklamiert, vgl. Kierkegaard KG in SKS 9, 25 ff. / LT in GW1 14, 21 ff., andererseits aber zurückgenommen auf die ,Innerlichkeit’ der damit äußersten Anspannung des Gewissens, vgl. SKS 9, 137 / GW1 14, 150 (Titel dieses Abschnitts: „Liebe ist Sache des Gewissens“!). 66 Was damit als ,Unendlichkeit’ oder ,Ewigkeit’ von Kierkegaard in allen anthropologischen Relationen vorausgesetzt und in Anspruch genommen wird, ist zugleich Übernahme der christlich-metaphysischen Tradition und ihre existenzdialektische Veränderung. Letzteres lässt sich sehr gut wie folgt interpretieren: „als das Geforderte und entweder Mißlingende oder Gelingende. Die Ewigkeit ist nur dadurch im Leben da, daß der Einzelne in einem unteilbaren Akt ein Verhältnis zu sich eingeht: Die Vorbehaltlosigkeit, die Radikalität, die Entschlossenheit, mit der er sich handelnd auf sein bisheriges Verhalten bezieht und dessen Unverbindlichkeit, Zerstreutheit, Unentschlossenheit vernichtet, ist das Dasein der Ewigkeit“, vgl. K. Schäfer Hermeneutische Ontologie in den ClimacusSchriften Sçren Kierkegaards, München 1968, S. 190. 67 KG in SKS 9, 138 / LT in GW1 14, 151.
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3. Werden die kategorialen Hinsichten von Glaube, Verhalten und Handeln beachtet, kann der von Kierkegaards theologischer Ethik konstruierte Schwebezustand so interpretiert werden, dass der Geschenkcharakter des Glaubens 1) nicht ausgespielt werden darf gegen 2) eine theologische oder ethische Wahrnehmung der Menschen-, Weltund Gottesrelationen und ebenso wenig 3) gegen bestimmtes und eingreifendes (praktisches) Handeln. Dies ist gemeint, wenn Peirce in seiner Formulierung der pragmatischen Maxime von 1893 die biblische Metapher vom Baum und den Früchten68 in Anspruch nimmt.69 Ethische Handlungszusammenhänge und bestimmte Handlungsergebnisse sind nicht beliebige Nebenprodukte, die zufällig oder beiläufig dem Glauben zufallen, sondern sie gehören in dieser dritten Perspektive zur Realität des Glaubens selbst. Deshalb ist theologische Ethik legitim und begründbar, so wie Luther es im Horizont der zweiten Tafel der 10 Gebote vorgelegt hat. 4. Dann muss aus dogmatischen und ethischen Gründen darauf geachtet werden, dass zu den kategorialen Perspektiven auch ethisch-religiöse Kriterien hinzutreten, an denen die ethischen Fragen, Positionen und Handlungsmuster sich zuordnen und bemessen lassen. Die aus der Rechtfertigungslehre ermittelten Schlüsselbegriffe Freiheit, Snde, Glaube und Kirche können in diesem Sinne die zweite Koordinatenachse bilden, um diese Kriterienreihe mit den kategorialen Perspektiven in eine produktive Zuordnung zu bringen. 1) Die Kraft der geschenkten Freiheit des Glaubens zeigt sich im Selbstverhältnis aufgrund von Freiheit und im Handeln für Befreiung. 2) Die Wirklichkeit der Sünde treibt die Schöpfung zur Realisierung der Neu-Schöpfung, die in jener Wirklichkeit verborgen und verstellt war. 3) Im Glauben – ethisch gesprochen aufgrund der Instanz des Gewissens – kann mit Freimut und zum Guten gehandelt werden. 4) Die Kirche wäre dann der Ort, wo stellvertretend und exemplarisch Leben gelingt, ohne es erzwingen zu können. Die damit aus dogmatischen und (theologisch) ethischen Gründen aufgespannten Zuordnungfelder lassen sich schließlich auch mit den
68 Mt 7, 16a. 17 f. 69 Vgl. Peirce Schriften zum Pragmatismus […], aaO., S. 211, Anm. 19: „eine Anwendung des einzigen Prinzips der Logik, das durch Jesus empfohlen wurde: ,An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen’“.
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Hauptthemen der allgemeinen (philosophischen) Ethik vermitteln – und nicht zuletzt mit deren Inbegriff: dem ,summum bonum‘:70
Kategoriale Perspektivierung Ethisch-relig. Kriterien GLAUBE ALS FIDUCIA
VERHALTEN
FREIHEIT
Geschenk Gottes (,sola fide‘)
Selbstverhältnis in Synthese- Selbstwerdung und Relationen (Sich-zu-sich- Entscheidungsfähigkeit (Befreiung) Verhalten)
SÜNDE
Mögliche Homo incurvatus in se ipse Verstelltheit der Wirklichkeit (böser Wille) Freiheit (Dämonie, der Sünde böse Maxime) (,simul iustus et peccator‘)
GLAUBE ALS Gewissen LEBENSFORM KIRCHE
Selbstverhältnis aufgrund von Durchsichtigkeit und Freimut
Passende und Freiheit eröffnende Handlung (10 Gebote)
Verlässlichkeit Differenz der Relationen des vor Gott und vor der Welt Gottesraumes: (Zweiregimentenlehre) Wort und Sakrament
Exemplarisches Handeln, Muster richtigen Lebens (Bergpredigt)
GÜTER
PFLICHT
TUGEND
(,summum bonum‘ als Glaubensgut / ,faith‘)
(,summum bonum‘ als Normativität und Verallgemeinerungsgültigkeit)
(,summum bonum‘ als Offenbarwerden / Authentizität bzgl. Freiheitsräumen)
Allgemeine Ethik
70 S.o. I u. II.3.
HANDELN
Zeichenkonzeptionen in der Religion vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Religion und Sprache 1.1. Religionswissenschaft Seit dem europäischen 19. Jahrhundert haben sich zugleich die historische und institutionelle Religionskritik, die historisch vergleichende Religionswissenschaft und damit verbunden die zunehmend ins Bewusstsein tretende Erkenntnis der Geschichtlichkeit – bis dahin als verbindlich geltender Traditionen – durchgesetzt. Damit stehen auch die jeweils eigene Religion und deren Ansprüche auf bestimmten Glauben und bestimmtes Verhalten (aufgrund eines festgefügten Menschen-, Welt- und Gottesverständnisses) in radikal neuer Weise zur Diskussion. Was die historisch-hermeneutischen Wissenschaften als Geschichtlichkeit reflektieren, erscheint zugleich in der Volksfrömmigkeit als wachsende Distanz, Mobilität und Relativierung der eigenen religiösen Prägungen; religionssoziologisch als Funktionalisierung der Religion im Sinne ihrer gesellschaftlichen Integrations- und Kompensationsfähigkeit; oder einfach als Säkularisierung, d. h. als Übergangsphänomene von religiösen auf weltlich-gesellschaftliche Begründungsmuster.1 Diese Entwicklungszüge verbreiten sich zusammen mit der Industriegesellschaft, wobei allerdings der zunehmende Verlust an europäisch-kirchlichen Selbstverständlichkeiten durchaus nicht mit einem Bedeutungsverlust des Christentums bzw. von ihm beeinflusster religiöser Weltinterpretationen einfach identisch ist.2 Außerdem ist zu beobachten, dass die überwiegend intellektuell vertretene religionskritische Protesthaltung des 19. Jahr1
2
Religion im Umbruch. Soziologische Beitrge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwrtigen Gesellschaft, hg. v. Jakobus Wössner, Stuttgart 1972; Carl Heinz Ratschow „Die Rede von der Religion. Die Soziologie und die Entwicklungstendenzen der Religion in Europa“ in Chancen der Religion, hg. v. R. Volp, Gütersloh 1975, S. 129 – 156. Martin Greschat Das Zeitalter der industriellen Revolution. Das Christentum vor der Moderne, Stuttgart 1980, S. 234.
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Zeichenkonzeptionen in der Religion
hunderts, die wesentlich den kirchlichen und obrigkeitsstaatlichen Machtstrukturen galt, sich im 20. Jahrhundert popularisiert hat, während es umgekehrt gegenwärtig gerade die wissenschaftliche Reflexion ist, die auf einer erneuerten, selbstkritischen Befragung auch ihrer eigenen Geschichtlichkeit, Kontingenz und Relativität bestehen muss, einer Kritik der Kritik sozusagen. Das geschieht parallel zu den gesellschaftspolitischen Phänomenen von unkontrolliertem bzw. nur massenmedial gesteuertem, synkretistischen Religionsersatz, ohne dass dies soziologisch prognostiziert worden wäre. Alltagsmythen, allerhand Aberglaube und exotische Rituale bevölkern eine Szene, die von den entmythologisierenden Wissenschaften und dem partiellen kirchlichen Funktionsverlust leergeräumt waren. Nachdem auch in der Religion die ihr heiligen Zeichenwelten durchschaut zu sein schienen, kehrt sie zurück aufgrund der Erfahrung und der Erkenntnis, dass dies Durchschauen selbst ein unaufhebbares Problem darstellt. Es bleibt nur dann nicht in einem banalen Sinn ,offen‘ wenn es als religiçse Interpretation von Zeichen gefasst und bearbeitet werden kann:3 „Man darf annehmen, daß ein Bereich des Lebens und der menschlichen Bedürfnisse existiert, der eigentümlich mit den religiösen Symbolen korreliert oder auch intentional auf eine bestimmte Wirklichkeit bezogen ist, die ausschließlich durch diese Gattung von Symbolen zugänglich wird“.4 Wenn der Naturwissenschaftler und Philosoph Ch. S. Peirce im Jahr 1893 programmatisch von „The Marriage of Religion and Science“ spricht,5 so reagiert er damit bereits konstruktiv auf eine Situation, in der die Wissenschaften (moderne Geschichts-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften, Evolutionslehre, erkenntniskritische Philosophie) die Religion zu einem anachronistischen Dokument oder Laborphänomen herabzuwürdigen im Begriffe waren. „A religion of science“6 wäre dagegen weder eine Religion von wissenschaftlichen Gnaden, noch gar eine Wissenschaft von Gnaden einer bestimmten Religion, sondern die Inspiration ursprünglicher, menschlicher Religiosität gerade durch den Geist der Wissenschaften. Zu überwindende Begrenztheiten im bishe3
4 5 6
Religion. Ein Jahrhundert theologischer, philosophischer und psychologischer Interpretationsanstze, hg. v. Christoph Elsas, München 1975; Chancen der Religion, aaO.; Handbuch der Fundamentaltheologie 1 (1985), Traktat Religion, hg. v. W. Kern u. a., Freiburg. Leszek Kolakowski Geist und Ungeist christlicher Tradition, Stuttgart 1971, S. 103. Charles S. Peirce Collected Papers, vol. 6, hg. v. Charles Hartshorne und Paul Weiss, Cambridge, MA, 1935 (= CP), Überschrift zu CP, 6.428ff.) CP, 6.433.
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rigen Verständnis von Religion und Wissenschaft sieht Peirce damit sowohl auf Seiten der institutionellen Religionsgemeinschaften (Kirchen) und ihrer theologischen Dogmatik wie auf Seiten eines reduktionistischen Wissenschaftsverständnisses. Beides betrifft nun bis heute die spezifischen Schwierigkeiten bei der Bestimmung von Gegenstand und Methode der Religionswissenschaft: inwieweit in Sachen Religion die Mitbetroffenheit der sie erforschenden Subjekte nicht als (unverzichtbare oder störende) Bedingung hinzugehört. Das gilt gerade auch dann, wenn die Religionswissenschaft aufgrund ihrer breiten Entdeckungen historischen und ethnographischen Materials, wie das seit dem 19. Jahrhundert der Fall ist, kritische Epochen- und Kulturtheorien entwirft, worin Magie, Mythos und Ritualität einer vergangenen Entwicklungsstufe angehören, die durch das Zeitalter der (tendenziell atheistischen) Wissenschaftseinsichten abgelöst wurde.7 Dabei kann der gegenwärtige Forschungsstand, der von einem möglichst unvoreingenommenen empirischen Interesse geprägt ist, die kulturell und anthropologisch offenbar unersetzbare Funktion, die in religiösen Symbolsystemen wahrgenommen wird, überzeugend belegen. Denn die Geschichtlichkeit als menschliche Selbsterfahrung: Geburt und Tod Entwicklungsphasen, soziale Handlungs- und Konfliktfelder, Weltdeutungen – werden jedenfalls in nicht-neuzeitlichen Kulturen aufbewahrt und verarbeitet in Magie, Mythos und religiösem Ritual; und deren Ausdrucks-, Verständigungs- und Handlungsmedium ist die religiöse Symbolik.8 Nun ist hier nicht der historische Schatz der ,Symbolik der Religionen‘ das Thema,9 sondern die Reflexion auf die Funktion und Bedeutungsvielfalt der religiösen Symbolsysteme. Diese sind elementar in den 1. Ritualen; qualitativ und epochal unterschiedlich zuzuordnen in 2. Magie, 3. Mythos und theologisch-philosophisch reflektierter 4. Religion. 1. Im Ritual, seinem Ablauf und seiner Wiederholbarkeit, verdichten und summieren sich Selbst- und Weltbezüge dadurch, dass sie symbolisch repräsentiert, also sichtbar und ausgeübt werden können: „Symbols are both the resultants and the instigators of this process, and encapsulate its 7 8
9
Vgl. Gladigow u. Kohl in Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. I, hg. v. Hubert Cancik u. a., Stuttgart 1988, S. 26 – 38, 239 – 262; Fritz Stolz Grundzge der Religionswissenschaft, Göttingen 1988, Kap. 1 u. 2. Jacques Waardenburg „The Language of Religion, and the Study of Religions as Signs Systems“ in Science of Religion. Studies in Methodology, hg. v. Lauri Honko, The Hague / Paris / New York 1979, S. 441 – 457, hier S. 445ff.; Fritz Stolz Grundzge der Religionswissenschaft, aaO., S. 101ff. Ferdinand Herrmann (Hg.) Symbolik der Religionen, Stuttgart 1958ff.
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properties“.10 D. h. unter ,Symbol‘ sind hiermit Zeichenhandlungen, Zeichen in sinnlichen Wahrnehmungen und die Produktion von Ausdruckszeichen zu verstehen,11 sofern diese als erlebte Bedeutungsträger Stellvertreterfunktionen übernehmen können. So ist vor allem der menschliche Körper bereits ein ,natürliches Symbol‘,12 dessen Gestik, Bekleidung, Darstellung in den Religionen in vielfältiger ritueller Weise als Bedeutungsträger fungieren kann. In der christlichen Tradition ist der Gottesdienstablauf, verbunden mit den sakramentalen Handlungen (insbesondere von Taufe und Abendmahl), der Ort, wo Alltagserfahrungen im Ritual auf neue Weise kommuniziert werden.13 Der Speiseritus (Abendmahl, Eucharistie, Herrenmahl) enthält uralte rituelle Praktiken in christlich aufgeklärter Modifikation: Die lebendige und leibhafte Vergegenwärtigung der Lebenszusage Gottes – erinnert über die Passionsgeschichte. 2. In der Magie tritt das fragliche Verhältnis von Zeichen und im Symbol Bezeichneten in der Weise auf, dass die Wirkmächtigkeit im Übergehen vom einen auf das andere unterstellt und praktiziert wird. In ,vor- und außergeschichtlichen Kulturen‘ dominiert das ,Lebensgefühl‘ der Einheit mit den Dingen,14 und diese Einheit präsentiert sich selbst, den faktischen Lebenskonflikten zum Trotz, in der magischen Praktik. ,Hin- und hergerissen‘ zwischen der Welt der Bedeutungen und der Welt der Objekte sichert die ,symbolische Funktion‘ im Falle der Magie15 die einheitliche Lebendigkeit des Selbst- und Weltverstehens. Vom Geist der modernen Wissenschaften aus betrachtet geschieht das durch zwei fehlerhafte Vorstellungsassoziationen: Durch das Gesetz der Ähnlichkeit („that like produces like“) in der „imitativen“ („homoeopathic“) Magie und durch das Gesetz der Berührung („that things which have once been 10 Victor Turner The Ritual Process. Structure and Anti-Structure (1969), Ithaca, NY, 1977, S. 53; Evan M. Zuesse Art. „Ritual“ in The Encyclopedia of Religion, hg. v. Mircea Eliade, vol. 12. New York / London 1987, S. 405 – 422, hier S. 405, 410f. 11 Cancik und Mohr in Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. I, aaO., S. 122. 12 Douglas, zit. in Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. I, aaO., S. 137. 13 Vgl. Werner Jetter Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen 1978, Kap. 4. 14 Carl Heinz Ratschow Magie und Religion, Gütersloh 1947, S. 148ff. 15 Claude Lévi-Strauss „Der Zauberer und seine Magie“ (1949) in Magie und Religion. Beitrge zu einer Theorie der Magie, hg. v. Leander Petzoldt, Darmstadt 1978, S. 256 – 278, hier S. 277.
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in contact with each other continue to act on each other“) in der ,kontagiösen‘ Magie.16 Im Mythos der Tukano vom Nordwest-Amazonas17 wird beispielsweise die magische Wirkung eines Rauschtranks erzählt, der aus der Pflanze ,yajé‘ (Banisteriopsis) gewonnen wird. Deren Stiftung wird zurückgeführt auf die erste Frau (,Yajé‘) und ihr von den Männern des Urstammes während einer ersten Rauschfeier zerstückeltes Kind (Sonnenvaters Sohn). Die sakrale Feier stellt seither in der Opfererinnerung und im Getränk die Gottesverbindung her. – Unbestreitbar ist dabei der Realitätsgehalt im Selbstverständnis magischer Kulturen und Zeitalter, aber im (wissenschaftlichen) Bewusstsein symbolischer Funktionen unterliegt deren Wirkmächtigkeit und Lebendigkeit offenbar einer kritischen Kontrolle, und das christlich verstandene Sakrament ist der magischen Auffassung nur noch in der formalen Struktur analog. 3. Im Mythos sind Einheit und Differenz von Zeichen und Bezeichnetem in sublimer Weise gesteigert dadurch, dass die mythische Symbolik, idealistisch ausgedrückt, am Unendlichen und Endlichen zugleich Anteil hat: „Denn bedeutsam und erwecklich wird das Symbol eben durch jene Incongruenz des Wesens mit der Form und durch die Überfülle des Inhalts in Vergleichung mit seinem Ausdrucke. Desto anregender daher, je mehr es zu denken giebt“.18 Die neuere (strukturalistische) Mythosforschung hat solche Beschreibungen formalisieren können: Der Mythos besteht nicht allein in der erzählten, weltgründenden Götter- oder Heldengeschichte, sondern in der mythischen Erzählung realisiert sich eine textlogisch nachzukonstruierende Struktur, die den eigentlichen Mythos ausmacht.19 In dieser Struktur sind folglich die symbolischen Funktionen aufzusuchen und zu bestimmen. Die ,Unendlichkeit‘ der Bedeutungswelt präzisiert sich jeweils unter bestimmten Regeln an der ,Endlichkeit‘ einer Zeichenkonstellation. Beide 16 James G. Frazer The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, part I: The Magic Art and the Evolution of Kings, vol. I, 3. Aufl., London 1911, S. 52; vgl. Alfred Bertholet „Das Wesen der Magie“ (1926 – 27) in Magie und Religion. Beitrge zu einer Theorie der Magie, hg. v. Leander Petzoldt, aaO., S. 109 – 134. 17 G. Reichel-Dolmatoff Beyond the Milky Way. Hallucinatory Imagery of the Tukano Indians, University of California, Los Angeles 1978, S. 3ff., 7ff.; Carl Heinz Ratschow Jesus Christus, Gütersloh 1982, S. 223f. 18 Friedrich Creuzer „Entstehung und Wesen des Symbols“ (1810) in Die Erçffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch, hg. v. Karl Kerényi, Darmstadt 1967, S. 35 – 58, hier S. 36. 19 Vgl. im Anschluss an Lévi-Strauss u. Barthes bei Ingolf U. Dalferth „Mythos, Ritual, Dogmatik. Strukturen der religiösen Text-Welt“ in Evangelische Theologie 47, (1987) S. 272 – 291, hier S. 273ff.
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Seiten aber brauchen einander, und die Realisierung dieser Gegenseitigkeit geschieht im jeweils beanspruchten Symbolsystem. Dies beruht kultur- und geschichtsabhängig auf überlieferten ,Zeichenkomplexen‘, die auf natürliche, artifizielle oder fiktive Zeichenbildungen zurückgreifen können20 und zugleich in der Tiefengrammatik der Sprache und den im gesellschaftlichen Konsens geltenden Kommunikationsbildungen fundiert sein müssen.21 Der genannte Tukano-Mythos zeigt eine solche Struktur in der gegenseitigen Abhängigkeit von Gotteskind, Opfer und Feier, worin sich Gotteserfahrung, Leiden an der Welt und Heilung miteinander vermittelt erzählen und darstellen lassen – so dass daraufhin begründet gelebt werden kann. 4. Unter Religion ist schließlich ein Doppeltes zu verstehen: Einmal ist damit die Fülle der kulturgeschichtlich und empirisch-deskriptiv zu belegenden religiösen (auf Göttliches oder Heiliges bezogenen) Darstellungs- und Lebensformen bezeichnet, zentral erfassbar unter den Ordnungsgesichtspunkten Ritual, Magie, Mythos; zum anderen aber bezeichnet Religion gerade auch die Gegenwartsformen zusammen mit dem neuzeitlich geprägten Selbstverständnis von Religiosität, das sich in europäischer Perspektive durchaus auch in verbindlich überlieferten Ritualen, nicht mehr aber in gleicher Weise wie in der Religionsgeschichte und also nicht mehr unmittelbar in Magie und Mythos auszudrücken vermag. Denn dieser nicht historisch oder empirisch deskriptive, sondern aktuell das eigene Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis betreffende Sinn von Religion ist zugleich der, der sich im Bewusstsein von Wissenschaft selbstkritisch entwickelt hat. Die Absolutheit des je eigenen Symbolsystems ist zurückgetreten zugunsten von Säkularisierung, Individualisierung und gesellschaftlicher Pluralität von religiösen Vermittlungsformen.22 Diese epochale Veränderung ist einerseits (bezüglich Magie / Religion) als Differenz zwischen der noch vorausgesetzten Einheitswirkung von Geist und Natur in der Magie und dem bewusst erfahrenen Zwiespalt allen Lebens in der genau diesen Riss symbolisch bearbeitenden Religion festzustellen;23 andererseits (bezüglich Mythos / Religion) von Paul Tillich – gestützt auf eine ,symbolisch-realistische Theorie‘, die den Mythos nicht mehr ohne das Bewusstsein der Transzendenz des Göttlichen gelten lassen kann – sehr treffend mit dem Stichwort vom ,gebro20 21 22 23
Vgl. Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. I, aaO., S. 143. Vgl. Fritz Stolz Grundzge der Religionswissenschaft, Göttingen 1988, S. 111 – 135. Vgl. Fritz Stolz Grundzge der Religionswissenschaft, aaO., S. 135ff. Carl Heinz Ratschow Magie und Religion, aaO.
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chenen Mythos‘ bezeichnet worden.24 Die entscheidende Frage an die Religion ist dann die nach der Lebendigkeit und Vermittlungskraft ihrer Symbole: In welcher Weise und mit welchem Realitätsgehalt repräsentiert das Zeichen das Bezeichnete? Das Problem zeigt sich beispielhaft in der anhaltenden Diskussion um die Wirksamkeit und das Verständnis der ,Elemente‘ oder ,Zeichen‘ in den Sakramenten (Taufe und Abendmahl), nämlich als religionswissenschaftliche Seite eines theologischen Problems: Werden Zeichen und Bezeichnetes auseinandergedacht, so verliert das Sakrament seinen Sinn.25 Andererseits ist im Christentum bereits seit der Hochscholastik eine ,sensualistische‘ Deutung von Brot und Wein als Leib und Blut – jedenfalls in den theologischen Interpretationen26 – ausgeschlossen worden. Dies aber festzuhalten, ohne in einem unqualifizierten Sinn ,nur‘ noch von Zeichen zu sprechen, braucht einen qualitativen, sakramental brauchbaren Symbolbegriff, der aus der ,schöpferischen Periode‘ der Religionen deren ,Lebenssymbole‘ weiterzugeben vermag.27 Die gleiche Frage hat N. Luhmanns Religionssoziologie so zu lösen versucht, dass er der gesellschaftlichen Funktion der Religion einen eigentümlichen Zeichenbegriff zuordnet: die ,Chiffrierung‘, deren Leistung gerade darin bestehen soll ,keine Realität‘ zu haben. Damit soll gesichert werden, dass der sonst unendliche Progress selektiver Zeichenbildungen (im Bezug auf immer weitergehend vergegenständlichte Realität) einmal als Vorgang selbst sozusagen abgebremst und damit als Welt- und Sinnproblem überhaupt darstellbar und bearbeitbar wird.28 Diese phänomennahe und aufschlussreiche Beschreibung von Religion wird aber mit einem Zeichenbegriff erkauft, der das entbehren soll, was die Definition eines Zeichens ausmacht: Zeichen, Objekt und Interpretanten zusammenzubinden. Anders als in Luhmanns Theorie der ,Chiffren‘ müsste erst genauer bestimmt werden, worin der spezifische Ob-
24 Paul Tillich Main Works / Hauptwerke Bd. 4: Writings in the Philosophy of Religion / Religionsphilosophische Schriften, hg. v. John Clayton, Berlin / New York 1987, S. 229ff. 25 Vgl. Carl Heinz Ratschow Die eine christliche Taufe, Gütersloh 1972, S. 128 – 140. 26 Edward Schillebeeckx Die eucharistische Gegenwart. Zur Diskussion ber die Realprsenz, Düsseldorf 1968, S. 9ff. 27 Susanne K. Langer Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt am Main 1965, S. 164. 28 Niklas Luhmann Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1977, S. 33; vgl. im vorliegenden Band Kap. B.4.
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jektbezug der Zeichenprozesse gelebter Religion – oder anders: worin die Realität des religiösen Symbols besteht. 1.2. Hermeneutik, Sprachlogik, Linguistik 1.2.1. Die Erkenntnis der Geschichtlichkeit der Religion erhält im 19. Jahrhundert einen dreifach geprägten Ausdruck: In Hegels Religionsphilosophie, in Schleiermachers Glaubenslehre und in Kierkegaards Existenzdialektik. – Während Hegel die Mitte des Christentums, die Menschwerdung Gottes, als spekulative Idee aus der Form der religiösen ,Vorstellung‘ in die des Begriffs zu überführen versucht29 – eben weil ,auch jene höchste, göttliche Autorität‘, geschichtlich gesehen, selbst wieder autoritativer Begründungen bedarf: „Denn wir sind nicht dabei gewesen und haben Gott nicht gesehen, als er offenbarte. Es sind immer nur Andere, die es uns erzählen und versichern“;30 während Hegel also das bloß Zufällige, Historische zu vermeiden sucht dadurch, dass er die Geschichte als Selbstwerdung des Geistes zu denken lehrt, bindet Schleiermacher Geist und Religion zurück an das Gemeinsame aller ,Glaubensweisen‘ überhaupt und definiert ,Frömmigkeit‘ als ,eine Neigung und Bestimmtheit des Gefühls‘.31 Damit ist konsequent jede religiöse Vergegenständlichung kontrolliert und auf ihren eigentlichen Wirkungsraum bezogen: nämlich das Sich-zu-sich-Verhalten des frommen Selbstbewusstseins als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott, d. h. auf die höchste Form von Selbstbewusstsein überhaupt. Dieses Gottes- und Selbstverhältnis kann sich folglich nicht mehr ungebrochen in supranaturalen, heilsgeschichtlichen Vergegenständlichungen thematisieren, sondern allein in gefühlsbegleiteten Sinnerfahrungen, und deren Medium sind Sprache und individuelles Verstehen. Die Wirklichkeit des religiösen Gefühls ist sprachvermittelt nur erreichbar, und die seit Schleiermacher die (evangelische) Theologie prägende Hermeneutik32 ist eben diese Sprach- und Verstehenslehre, die den komplexen Aneig29 Dazu s.u. 2.1. 30 G. W. F. Hegel Vorlesungen. Ausgew. Nachschriften und Manuskripte, Bd. 3: Vorlesungen ber die Philosophie der Religion, Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion (1821ff.), hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1983, S. 135 Anm. 31 Friedrich D. E. Schleiermacher Der christliche Glaube (1821 – 22), hg. v. Hermann Peiter (Studienausgabe Bd. 1 – 2). Berlin / New York 1984, §§ 7 – 9. 32 Vgl. Gerhard Ebeling Art. „Hermeneutik“ in RGG3, Bd. III (1959), Sp. 242 – 262; Hans-Georg Gadamer Art. „Hermeneutik“ in Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 3 (1974), Sp. 1061 – 1074. (vgl. Ebeling 1959; Gadamer)
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nungsvorgang des Gottesglaubens als primären Wirklichkeitszugang gegenüber allen traditionellen (dogmatischen) Inhaltsvorgaben anerkennt; und genau diese Hermeneutik ist semiotisch nicht nur zu interpretieren, sondern selbst als Beitrag zum Verständnis zeichenvermittelten Handelns und Sich-zu-sich-Verhaltens aufzufassen.33 Einen weiteren konsequenten Schritt bedeutet Kierkegaards Existenzdialektik und Ausarbeitung einer Theorie der ,Indirekten Kommunikation‘,34 insofern die Frage der Aneignung des Glaubens in doppelter Weise zeichenvermittelt vorgetragen wird: Einmal betrifft der Glaube die Lebensform des Einzelnen derart existentiell verbindlich, dass demgemäß das ,Wie‘ der Vermittlung an die erste Stelle des philosophisch-theologischen Interesses rückt. Es verbieten sich nämlich für den existentiellen ,Ernst‘ des Glaubens jede natürliche intersubjektive (oder gar objektive) Verständigung, jede rational-systematische Überzeugungsbildung, jede emotional direkte Bewunderung, Empfehlung oder Weitergabe – zugunsten von ästhetisch-religiös bewusst gestalteten (also indirekten) Mitteilungsformen; und diese müssen folglich in der Funktion stehen, von sich selbst weg auf die existentielle Lebensrealisierung des betroffenen Lesers oder Hörers hinzuweisen und diese einzufordern. Zum anderen ist der theologische Gegenstand: die Menschwerdung Gottes, d. h. für Kierkegaard das Bild des leidenden Christus, selbst ein ,Zeichen des Widerspruchs‘ in sich selbst, nämlich als Erlöser der Menschen ihnen zuliebe den Weg der abstoßenden Erniedrigung gehen zu müssen. Die christliche (indirekte) Kommunikation achtet auf diesen Zeichencharakter: „denn das Zeichen ist nur für den, der weiß, daß es ein Zeichen ist, und, streng genommen, nur für den, der weiß, was es bedeutet; […] aber daß es etwas bedeuten soll, dies heißt ja etwas anderes sein, als es unmittelbar ist“.35 Die ,Bedeutung‘ aber macht gerade die Kraft des Bildes, des Zeichens, der Geschichte und des Symbols aus, und darin erweist sich die Wirklichkeitserschließung, um die es dem religiösen Glauben geht. E. Munchs ,Golgatha‘ inszeniert diese Symbolik des Christusbildes zugleich als kos-
33 Rainer Volp „Die Semiotik Friedrich Schleiermachers“ in Zeichen. Semiotik in Theologie und Gottesdienst, hg. v. ders., München / Mainz 1982, S. 114 – 145. 34 Hermann Deuser Kierkegaard. Die Philosophie des religiçsen Schriftstellers, (Ertrge der Forschung, Bd. 232), Darmstadt 1985, Kap. III. 3. 35 Søren Kierkegaard Einbung im Christentum (1850) in SKS 12, 129 / GW1 18, 118.
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mische Weltorientierung und Zeichen des Widerspruchs für die Menschen, die zu ihm hinstreben oder von ihm herkommen.36 1.2.2. Was in dieser Weise im 19. Jahrhundert vorbereitet war, thematisieren Religionsauffassung und Theologie des 20. Jahrhunderts einerseits in phänomenologischen, hermeneutischen oder existentiellen Denkstilen;37 andererseits orientiert an den Denktraditionen der Logik,38 der Naturwissenschaften39 und der daran anschließenden analytischen Sprachphilosophie als ,Sprachlogik des Glaubens‘.40 Dabei ist auf Seiten der hermeneutischen Theologie auffallend das Bemühen, mit dem Sprachzugang die lebendige Wirklichkeit der theologischen Themen zu sichern. Sprache und Leben liegen ineinander,41 Theologie kann folglich als ,Sprachlehre des Glaubens‘ definiert werden.42 Diese Wendung lässt sich auch so ausdrücken, dass das neuzeitliche Problem der ,Denkbarkeit Gottes‘ an die Bedingung seiner ,Sagbarkeit‘ gebunden wird,43 d. h. an das ,Erzählen‘ des ,Ereignisses‘ der Menschwerdung Gottes. Um dabei aber nicht das ,Sprachereignis‘ und die darin sich ausdrückende Sache verwechselbar zu machen, muss einerseits der Vorrang des Ereignisses selbst angenommen,44 andererseits eine Analogie gedacht werden, in der das Sprachereignis sich in Entsprechung zu seiner göttlichen Vorgabe realisieren kann.45 Das offene Problem dabei bleibt, wie der Übergang, wie die 36 Vgl. Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde. Religiçse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, hg. v. Wieland Schmied, Stuttgart 1980, S. 273; Jörg Zink DiaBcherei Christliche Kunst. Betrachtung und Deutung, Bd. 8: Spuren des Religiçsen in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, (Bildauswahl u. Text: G. Heidecker), Eschbach 1984, S. 27f. 37 Vgl. zu Bultmanns „existentialer Interpretation“ und deren hermeneutischtheologischen Weiterführungen durch Ebeling und Fuchs die Übersicht bei Claus v. Bormann Art. „Hermeneutik, I. philosophisch-theologisch“ in Theologische Realenzyklopdie, Bd. 15 (1986), S. 108 – 137, hier S. 127 – 130. 38 Joseph M. Bochenski Logik der Religion, Köln 1968. 39 Dazu s.u. 2.1. 40 Sprachlogik des Glaubens. Texte analytischer Religionsphilosophie und Theologie zur religiçsen Sprache, hg. v. Ingolf U. Dalferth, München 1974; Ingolf U. Dalferth „Analytische Religionsphilosophie“ in Alois Halder, Klaus Kienzler und Joseph Möller Religionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie, Düsseldorf, S. 16 – 37. 41 Gerhard Ebeling Einfhrung in die theologische Sprachlehre, Tübingen 1971, S. 191f., 214. 42 Ebeling Einfhrung in die theologische Sprachlehre, aaO., S. 227. 43 Eberhard Jüngel Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1977. 44 Ebeling Einfhrung in die theologische Sprachlehre, aaO., S. 393. 45 Ebeling Einfhrung in die theologische Sprachlehre, aaO., S. 395.
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Wahrheit des Gottesereignisses bestimmt werden soll, wenn ihr Medium allein als „metaphorische Wahrheit“ beschrieben wird, als „die ,Übertragung‘ des Seienden in die Sprache“.46 Deutlich ist hiermit auf sprachontologischem, hermeneutischem Wege dieselbe Frage erreicht, wie sie bereits über die religionswissenschaftlichen Symbolsysteme formuliert wurde: Wie ist eine genauere Begründung des Objektbezuges, der Realität des religiösen Sprachereignisses, d. h. seiner behaupteten Wirklichkeitserschließung zu gewinnen? Unter Sprachlogik des Glaubens wäre ganz allgemein der Versuch zu verstehen, mit den Mitteln der analytischen Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts genau diese Frage zu präzisieren und zu beantworten. Dabei ist von den Ausgangspunkten in den Denksystemen des Logischen Atomismus und des Logischen Empirismus her47 eine Entwicklung festzustellen, in der die logisch nachkonstruierte und dadurch fest limitierte Wirklichkeitsabbildung durch Sprachzeichen zurücktritt zugunsten einer Öffnung gegenüber den unzensierbaren Lebensformen der Alltagssprache. Vor allem durch die Anregungen aus Wittgensteins ,Philosophischen Untersuchungen‘ wird eine neue Diskussion auch der religiösen Sprachformen ermöglicht, wobei nicht mehr deren Abbildungsleistungen nachgemessen, sondern einfach ihr unersetzbares Vorhandensein in praktischen Lebensumständen entdeckt und respektiert wird.48 In diesem Sinne ist bereits religionswissenschaftlich zu zeigen, dass das ,Religiöse‘ einer Sprache letztlich nicht an ihrem Vokabular, sondern allein an ihrem Gebrauch abzulesen ist, und dieser verweist über die benutzten Sprachzeichen und die jeweilige empirische Realität hinaus auf einen eigenartig ,transzendenten‘ und unbedingten Bedeutungsraum, von dem her das übrige menschliche Handeln erst seinen Zusammenhang erhält. Eine solche kultur- und religionswissenschaftliche Beobachtung aber zu begründen bedarf der philosophischen Analyse der Sprache, und 46 Ebeling Einfhrung in die theologische Sprachlehre, aaO., S. 396 Anm. 17. 47 Ingolf U. Dalferth Religiçse Rede von Gott, München 1981, S. 29 – 144. 48 Vgl. Paul L. Holmer „Wittgenstein und die Theologie“ in Sprachanalyse und religiçses Sprechen, hg. v. Dallas M. High, Düsseldorf 1972, S. 23 – 32; Helmut Peukert Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, 1. Aufl., Düsseldorf 1976, S. 145ff.; Joachim Track Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen Reden von Gott, Göttingen 1977, S. 77ff.; Hermann Schrödter Analytische Religionsphilosophie. Hauptstandpunkte und Grundprobleme, Freiburg / München 1979, S. 153ff.; Ulrich Browarzik „Der grundlose Glaube. Wittgenstein über Religion“ in NZSTh 30 (1988), S. 72 – 100.
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diese ist nur unter Einschluss der Struktur- und Regelgenauigkeit der modernen Linguistik im Detail durchzuführen.49 Verallgemeinert und formalisiert heißt das zunächst, dass für eine umfassende (linguistische) Analyse der ,Sprachlogik des Glaubens‘ der ausnahmslose Zeichencharakter aller Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen vorauszusetzen ist,50 aufgrund dessen auch das fragliche Zusammenspiel von Religion und Sprache seine begründete Beschreibung finden kann. Diese lässt sich – die sprachanalytische und linguistische Diskussion der vergangenen Jahrzehnte aufnehmend – in drei Schritten aufbauen: 1) Gesprochene Sprache (,Rede‘) nutzt und prägt Sprachzeichen als ,symbolische Handlungen‘, die ,doppelt‘ bezeichnen,51 sofern sie mit dem, was sie ausdrücken, zugleich ein Mitgemeintes in Szene setzen: Der Segen am Ende des Gottesdienstes ist nicht allein gesprochener Appell, sondern zugleich die naherwartete Realisierung gelingenden Lebens. 2) Kreativ und kompetent wird Sprache im weiteren Zusammenhang ihrer Situationsbestimmungen eingesetzt, und diese finden ihren Ausdruck in „symbolischer Interaktion in Texten“,52 deren lebendiger (religiöser) Kontext folglich konstitutiv für das Textverständnis sein muss: Das im Gottesdienst gemeinsam gesprochene Glaubensbekenntnis ist ,Text‘ unter den Situationsperspektiven der Liturgie, der Gemeinschaft und der mit beidem sich wieder neu realisierenden Lebensbasis des Glaubens. 3) Schließlich hat die kritische Reflexion auf die Wirklichkeit und Wahrheit des Religiösen dessen „kontextgebundene Verstehenseinheit im Rahmen einer interindividuellen Kommunikationssituation“ selbst zum Thema zu machen, ohne dabei die „(semiotischen) Interaktionszusammenhänge“53 zu vergessen oder zu destruieren. Das Bekenntnis: „Ich glaube an Gott, den Vater […]“ – ist folglich eine Aussage, die plausiblerweise nicht restriktiv nach einem empirisch feststellbaren Gegenstandsbezug abgesucht werden kann, sondern deren Redesinn und symbolische Bedeutung sich erst im Zusammenspiel von traditionsbewussten Glaubensüberlieferungen, akuten Lebensentwürfen und damit 49 Dalferth Religiçse Rede von Gott, aaO., S. 308; Manfred Kaempfert „Einige Thesen zu einer vielleicht möglichen allgemeinen Theorie der religiösen Sprache“ in Probleme der religiçsen Sprache, hg. v. ders., 1983. 50 Eilert Herms „Die Einführung des allgemeinen Zeichenbegriffs. Theologische Aspekte der Begründung einer reinen Semiotik durch Ch. W. Morris“ in ders. Theorie fr die Praxis – Beitrge zur Theologie, München 1982, S. 164 – 188. 51 Dalferth Religiçse Rede von Gott, aaO., S. 179. 52 Dalferth Religiçse Rede von Gott, aaO., S. 309. 53 Dalferth Religiçse Rede von Gott, aaO., S. 497.
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verknüpften und eigens begründeten Annahmen über die Welt- und Lebensperspektiven überhaupt erschließen lässt. Die sprachanalytisch und linguistisch arbeitenden Theologien sind mit unterschiedlicher Konsequenz und nach Fachdisziplinen aufgefächert diesen drei Sachgesichtspunkten zuzuordnen: Zu 1) Religiöse Symbolhandlungen sind ihrer Sprachlogik nach (religionsphilosophisch gesehen) ausführlich analysiert worden daraufhin, wie diese doppelte Bedeutung sich vollziehen kann: Religiöse Sätze geben in ihrer entscheidenden ,anderen‘ Bedeutung nicht Gegenstandsbeschreibungen, sondern repräsentieren in einer überraschenden und dadurch verbindlichen Erkenntnis eine ,Erschließungssituation‘ (,disclosure‘), die sich im Anschluss an die linguistisch-philosophische Diskussion der ,performativen‘ oder ,illokutionären‘ Sprechhandlungen genauer spezifizieren lässt;54 religiöse Sätze vertreten eine Welteinstellung, einen ,blik‘,55 der folglich vor der rationalen Satzanalyse steht und vor allem dadurch ausgezeichnet werden kann, dass der Sprecher in seinen Äußerungen in verbindlicher Weise sich selbst riskiert (,self-involvement‘), sich selbst einbezieht.56 Die symbolischen Handlungen der Religion sind deshalb immer zugleich auch Vollzüge, die sich (praktischtheologisch, liturgisch, kunst- und literaturwissenschaftlich gesehen) bildhaft darstellen und in dieser Weise auch praktizieren lassen. So wie Gottfried Keller die kindlich-religiöse Situation des Gott-Symbol-Erfahrens beschreiben kann: Der goldene Wetterhahn auf dem Kirchendach oder der über alles beeindruckende Tiger im Bilderbuch,57 so setzen Auferstehungsbilder stellvertretend oder in künstlerisch-liturgischer Aktion ,Grenzüberschreitung‘ in Szene.58 Religiöse Symbole sind als 54 Vgl. Ian T. Ramsey „Modelle und Qualifikatoren“ in Probleme der religiçsen Sprache, aaO., S. 152 – 183; Wim A. de Pater Theologische Sprachlogik, München 1971. 55 Hare in Sprachlogik des Glaubens, aaO., S. 87ff.; vgl. James A. Martin Philosophische Sprachprfung der Theologie. Eine Einfhrung in den Dialog zwischen der analytischen Philosophie und der Theologie, München 1974, S. 134ff. 56 Vgl. im Anschluss an Evans, zit. bei Ladrière in Jean Ladrière Rede der Wissenschaft – Wort des Glaubens, München 1972, S. 99ff. 57 Vgl. bei Alex Stock „Gott und Umgebung – Zehn Kapitel theologische Grammatik“ in Probleme der Semiotik unter schulischem Aspekt, hg. v. Hans Brög, Ravensburg 1977, S. 185 – 198, hier S. 185f. 58 Alex Stock und Manfred Wichelhaus Ostern in Bildern, Reden, Riten, Geschichten und Gesngen, Zürich / Einsiedeln / Köln 1979, S. 26; vgl. Alex Stock Textentfaltungen. Semiotische Experimente mit einer biblischen Geschichte, Düsseldorf 1978; zur christlichen Ikonographie vgl. Gertrud Schiller Ikonographie der christlichen
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Lern-, Spiel- und Therapieformen wiederentdeckt worden,59 und Gottesdienst ist folglich als Semiose zu analysieren und bewusst zu gestalten.60 Dazu gehören die Versuche, zumal die Feier der Sakramente als Gemeinschaftserfahrungen in der Alltäglichkeit neu zu erleben, so wie die Kirchen und Befreiungstheologien Lateinamerikas,61 Koreas62 oder Afrikas63 die kirchlichen Symbolhandlungen ganz unmittelbar als Lebensstiftung und geschichtliche Verheißung umzusetzen vermögen. Eine neue (im europäischen Kontext bewusste) Naivität verdankt sich solcher Rückbesinnung auf die (materialen) Lebenssymbole des Glaubens – wie sie im Christusbild die Kunst längst wiederentdeckt und nahegelegt hat: Das Kreuz und der Gekreuzigte in der Landschaft, in die Wirklichkeit eingelassen.64 Zu 2) Der Textbezug religiöser Interaktionen ist das natürliche Untersuchungsfeld der (strukturalistischen und linguistischen) Textwissenschaften, theologisch speziell der biblischen Exegese. Die synchron ermittelten Erzählstrukturen ergeben Interpretationshinweise, die nicht nur der Einzelexegese dienen, sondern beispielsweise Gattungsfragen und literarische Formen schärfer herauszustellen vermögen: die Fiktionalität des Gleichnisses im Erzählkontext,65 die ,mythische‘ Struktur der bibli-
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Kunst, Bde. 1 – 4,2 u. Registerbd., Gütersloh 1966 – 80; Edouard Urech Lexikon der christlichen Symbole, Konstanz 1976; Staale Sinding-Larsen Iconography and Ritual. A Study of Analytical Perspectives, Oslo 1984. Vgl. Walter J. Hollenweger Umgang mit Mythen. Interkulturelle Theologie 2. München 1982; Gerhard M. Martin „Bibliodrama – ein Modell wird besichtigt“ in Bibliodrama, Stuttgart 1987, S. 44 – 64; Peter Biehl „Symbole“ in Handbuch religiçser Erziehung, Bd. 2, hg. v. W. Böcker, H.-G. Heimbrock und E. Kerkhoff, Düsseldorf 1987, S. 481 – 494. Günther Schiwy „Die Chance der Religion in semiotischer Sicht“ in Chancen der Religion, aaO., S. 244 – 252; vgl. in Zeichen. Semiotik in Theologie und Gottesdienst, hg. v. Rainer Volp, München / Mainz 1982. Vgl. Leonardo Boff Kleine Sakramentenlehre, 7. Aufl., Düsseldorf 1984. Ahn Byung-Mu „Gerechtigkeit und Frieden“ in Junge Kirche 49 (1988), S. 188 – 192, hier S. 192. Vgl. Heribert Rücker „Afrikanische Theologie“. Darstellung und Dialog, Innsbruck / Wien 1985, S. 176f. Vgl. Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde, aaO., S. 47. Zeichen und Gleichnisse. Evangelientext und semiotische Forschung, hg. v. Jean Delorme, Düsseldorf 1979, S. 169; vgl. zur Gleichnisauslegung auch Wolfgang Harnisch Die Gleichniserzhlungen Jesu. Eine hermeneutische Einfhrung, Göttingen 1985.
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schen Schöpfungsgeschichte66 oder die sich kunstvoll interpretierenden Erzählelemente in der neutestamentlichen Abendmahlsüberlieferung.67 Für die Leistungsfähigkeit solcher Strukturanalysen ist aber nicht allein die literarisch entdeckende Produktivität ausschlaggebend, sondern vor allem der Streit um die in den Texten zum Ausdruck kommende ,Wirklichkeit‘ bzw. die in diesem Sinne sachgemäße Gegenwartsinterpretation. Die linguistisch, strukturalistisch und semiotisch orientierte Bibelexegese korrigiert nämlich in erster Linie den ausschließlichen Interpretationsanspruch der historischen Forschung, und sie tut dies mit dem Nachweis, dass es der Überlieferung gerade nicht angemessen sein kann, ,Wirklichkeit‘ als besonderen Raum hinter den Texten anzuzielen, während diese doch (Handlungs-)Sinn und Wirklichkeit zugleich erst entstehen lassen.68 Damit aber wird die entscheidende Frage akut, wie denn überhaupt über Wirklichkeit entschieden werden soll. Denn das vermag weder die historisch isoliert geleitete Rückfrage noch die Textwelt analytisch für sich genommen, sondern erst eine Religionstheorie, die sich allerdings auf den sprach- und strukturwissenschaftlichen Textbegriff beziehen können muss. Sofern sich gerade an R. Bultmanns Entmythologisierungsprogramm zeigen lässt, wie die Mythen der Texte in der wissenschaftlichen Interpretation wiederkehren,69 folgt daraus, dass der strukturalistisch ermittelte Mythos nicht zu entmythologisieren ist, sondern selbst als Vorgabe von Wirklichkeit zu gelten hat, die immer schon interpretiert auftritt. Das erst bringt die Frage nach der Leistungsfähigkeit religiöser Symbole wieder an die richtige Stelle: Lässt sich an der Sprachlichkeit selbst die Realität des Religiösen nachweisen? Gibt es einen spezifisch religiösen Wortschatz,70 der diese ,andere‘ Wirklichkeit vertritt?
66 Leach in Erzhlende Semiotik nach Berichten der Bibel, hg. v. Claude Chabrol und Louis Marin, München 1973. 67 Louis Marin Semiotik der Passionsgeschichte, München 1976, S. 140ff., 187. 68 Erhardt Güttgemanns „,Text’ und ,Geschichte’ als Grundkategorien der Generativen Poetik. Thesen zur aktuellen Diskussion um die ,Wirklichkeit’ der Auferstehungstexte“ in Linguistica Biblica 11 – 12 (3. Aufl.), 1974, S. 2 – 12; Erhardt Güttgemanns „Sensus historicus und sensus plenior oder Über ,historische’ und ,linguistische“ Methode’ in Linguistica Biblica 43 (1978), S. 75 – 112. 69 Wolfgang Nethöfel Strukturen existentialer Interpretation. Bultmanns Johanneskommentar im Wechsel theologischer Paradigmen, Göttingen 1983. 70 Vgl. Karl-Friedrich Kemper „Ansätze zu einer soziosemantischen Theorie des religiösen Wortschatzes“ in Linguistica Biblica 17 – 18 (2. Aufl. 1974), S. 53 – 68.
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Zu 3) Religiöse Symbolbildungen im Kommunikationszusammenhang des Lebens überhaupt sind nicht nur zu beobachten und zu beschreiben, sondern auch kritisch zu prüfen. Zumindest die christliche Theologie hat sich nie auf das Faktum einfach vorhandener religiöser Glaubens- und Handlungsformen beschränken lassen, sondern diese immer mit dem Anspruch verbunden, ,that certain things are true‘.71 Eine in diesem Sinne ,linguistische Theologie‘ ist nicht auf behaviouristische Kontrolleffekte angewiesen, sondern gründet in einer inneren ,konditionalen Bereitschaft‘ zur Kommunikation, die nach außen wirkt und interaktiv verflochten auftritt, aber davon nicht im Rückschlussverfahren abhängig gesetzt werden kann. Die kognitive Leistung religiöser / theologischer Sprache ließe sich dann so begründen, dass sie aus den niemals vollständig analogisierbaren Begegnungserfahrungen resultiert, wie sie im menschlichen Umgang alltäglich sind, indem diese durch die Rede von Gott prinzipialisiert werden: „If succeeding generations find that statements in these terms have coherent organizing functions and bear the weight of daily experience, they can be considered to convey knowledge, and to have relevance to reality, at least as securely as statements about ,other minds‘“.72 Damit ist gesagt, dass sich ein rationaler Sinn von religiöser Sprache zeigen lässt, nicht aber, dass religiöse Sprache selbst ,rational‘ limitiert werden müsste. Ihre Kennzeichen bleiben durchaus das Ausdrucksmittel der Paradoxie73 oder die Beobachtung ihrer ,Regelwidrigkeiten‘.74 Gerade dieser Befund ermöglicht es aber, zwischen der symbolischen Handlungs- und Sprachpraxis (in deren vielfältig variierenden religiösen Ausdrucksformen) und deren denkend nachvollziehbarer Begründungsfähigkeit unterscheiden zu können; und damit ist die von Dalferth überzeugend vertretene These erreicht, dass Religiosität allein aufgrund von Analysen sprachlicher Eigenschaften nicht nachgewiesen werden kann.75 Religion äußert sich in Sprache und Symbol, aber beides ist so noch keine Begründung ihrer Wahrheit.
71 D. M. MacKay „Language, Meaning and God“ in Philosophy 47, No. 179 (1972), S. 1 – 17, hier S. 1. 72 D. M. MacKay „Language, Meaning and God“ in Philosophy 47, No. 179, aaO., S 10. 73 Ian T. Ramsey „Religiöse Paradoxien“ in Sprachanalyse und religiçses Sprechen, aaO., S. 133 – 158. 74 Crombie in Sprachlogik des Glaubens, aaO., S. 103ff. 75 Ingolf U. Dalferth Religiçse Rede von Gott, aaO., Teil II.
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2. Religionsbegriff und Semiotik 2.1. Geistes- und naturwissenschaftlicher Religionsbegriff Die Frage nach der Bedeutung und Begründung religiöser Symbolbildungen wird unabweisbar dadurch, dass im (religionskritischen) Bewusstsein von Geschichtlichkeit und empirischer Verifikation die Differenz von Wirklichkeit und Illusion, Unwahrheit und Wahrheit des Glaubens bzw. der Religion zur Entscheidung steht. In der geisteswissenschaftlichen Weiterentwicklung dieses Problemfeldes war es vor allem die Ablösung der spekulativen Religionsphilosophie Hegels, wodurch die Auffassung von Religion auf die ,Wirklichkeit‘ als Begründungs- und Bedeutungsinstanz zurückgestoßen wurde. Denn Gott als trinitarischdialektischen und darin zugleich ,absoluten Begriff‘ zu denken, der dann selbstverständlich ,Sein als Bestimmtheit‘ enthalten muss,76 – dieses Konzept musste aus zwei unterschiedlichen Rezeptionsweisen als hybrid und damit unsachgemäß verworfen werden: Einmal war dieser absolute Begriff schon dadurch relativiert, dass er im Falle der Religion als dem ,Vorstellen‘ des Göttlichen noch vom exklusiv philosophischen Begreifen überboten wurde bzw. sich nur aus dessen Perspektive in diesem Rang überhaupt vorfinden konnte:77 Gott schien – trotz allem – entbehrlich zu werden. Zum anderen war eine solche, spekulativ verortete Religion dem Einspruch ausgesetzt, als Teil der bloß gedachten Geistes-Geschichte über den Köpfen der sie aktiv und passiv erlebenden Menschen entworfen zu sein, d. h. die Instanz des spekulativen Religionsbegriffs wurde nicht nur von ihrer Begründung, sondern vor allem von ihrer behaupteten Wirklichkeitserschließung her einem Test unterzogen. In diesem doppelt kritischen Zugriff – aus dem inneren Sinn der Religionsaufhebung im absoluten Geist und dem äußeren Sinn ihrer Gestaltungsfähigkeit – löste sich die Plausibilität dieser Einheit von Sein und Denken auf. Die erfahrene Widerständigkeit bestimmten ,Seins‘ kann nicht immer schon integrationsfähig und als mit dem Absoluten vermittelt vorausgesetzt werden; eher ist dies Programm ein immer ausstehend zu erfüllendes,
76 G. W. F. Hegel Vorlesungen. Ausgew. Nachschriften und Manuskripte, Bd. 3: Vorlesungen ber die Philosophie der Religion, Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion (1821ff.), aaO., S. 325. 77 Vgl. Günter Wohlfart Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel, Berlin / New York 1981, S. 176.
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dann aber sind die Einzelmomente freigegeben und nicht mehr nur Momente eines schon längst entschlüsselt Gedachten. Gleichzeitig unternimmt die naturwissenschaftliche Weiterentwicklung des Problemfeldes durchaus eigenständige Versuche, Religiosität in ihrem geschichtlich-empirischen Vorkommen zumindest einer funktionalen Deskription zugänglich zu machen. Beispiele dafür sind die ganz unterschiedlich arbeitenden Psychologen W. Wundt, W. James und S. Freud, die aber in ihrem naturwissenschaftlichen Denkansatz einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben: Religion ist Sache der Gefühlswelt, und insofern gibt die Religionsgeschichte die ,Tatsachen‘, die ,leitenden Gesichtspunkte‘ aber die Psychologie;78 Hypothesen über die Realität zeigen sich an den individuellen religiösen Schicksalen, aber diese Hypothesen sind am ,Gesamtkontext der Erfahrung‘ zu überprüfen;79 Religion erscheint psychoanalytisch als eine menschheits- wie individualgeschichtlich erklärbare Illusion (Freud),80 doch deren Symbolbildungen haben sich trotz dieser religionskritisch durchgeführten These unentbehrlich gemacht für das, was die ausgezeichnete Aufgabe der Therapie sein muss: Stärkung des Ich im Konfliktzusammenhang seiner Gefühlswelt. Es ist nun für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bezeichnend, dass der Versuch, Religionskritik konstruktiv zu verarbeiten, sich darin präzisieren lässt, dass eine symbolisch vermittelte Wirklichkeitsauffassung zweierlei zu leisten vermag: Sie macht kritisch auf unzulässige Übertragungen von innerem Erleben auf äußere Realität aufmerksam, und sie stellt gleichzeitig ein Kommunikationsmedium zur Verfügung, worin Realität nicht auf Messbares reduziert, sondern als erlebte, erhoffte, immer auch erst entstehende und in diesem Sinne erfahrbare bestimmt werden kann. Realität überhaupt ist demnach zeichenvermittelt, und das gilt geistes- und naturwissenschaftlich gleichermaßen. Sub contrario machen darauf bereits Nietzsches destruktive Bestreitungen ,wirklicher‘ Moral oder ,wirklicher‘ Kausalität aufmerksam: „Diese geistige Welt,
78 Wilhelm Wundt Vçlkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, Bd. 6: Mythus und Religion, 2. Aufl., Leipzig 1915, S. 512. 79 William James Die Vielfalt religiçser Erfahrung. Eine Studie ber die menschliche Natur, übers. u. hg. v. Eilert Herms, Olten / Zürich 1982, S. 396. 80 Vgl. Eckart Nase und Joachim Scharfenberg Psychoanalyse und Religion, Darmstadt 1977.
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diese Zeichen-Welt ist lauter ,Schein und Trug‘“;81 in der Natur gibt es keine Gesetze, diese sind vom Menschen immer nur ,subintelligirt‘; „Subjekt, Objekt […] gesondert: vergessen wir nicht, daß das eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet“.82 Ganz ähnlich – nur in konstruktiver Absicht – bestimmt W. Wundt Religion über ihren Kultus, und dessen Geschehen ist analysierbar in der religionshistorischen Abfolge von unmittelbarer Vorstellung, realer und schließlich idealer Symbolik.83 Diese Sicht wird so konsequent durchgeführt, dass schließlich das ,einzigartige Phänomen‘ zu konstatieren ist, „daß das Gefühl selbst zum Symbol wird, d. h. daß es das einzige übrigbleibende Zeichen ist, das die hinter ihm stehende religiöse Idee im Bewußtsein vertritt“.84 Letzteres garantiert im wissenschaftlichen Zeitgeist die mögliche Ersetzung der Wahrheitsfixierungen des geglaubten Bekenntnisses durch die im Kultus ,repräsentierte Idee‘,85 und damit erklärt sich auch die seitherige Umgewichtung des doppelten Sinnes von ,Symbol‘ als fachtheologischer Terminus. Denn Symbol meint einmal die kirchenrechtliche Festlegung der ,maßgebenden dogmatischen Gedanken‘ im Sinne der traditionellen Bekenntnistexte, meint zum anderen aber auch den Gebrauch religiöser Sinnbilder im Kultus.86 Während der dogmatisch-kirchenrechtliche Sinn von ,Symbol‘ inzwischen nur noch als reiner Fachbegriff auftritt, dominiert heute der zeichentheoretisch zu begründende und damit die Religionskritik integrierende Symbolbegriff. P. Tillich hat in exemplarischer Weise seine Theologie und Religionsphilosophie durch eine ontologische Symbollehre darstellen können, woran die Schwierigkeiten der traditionell geisteswissenschaftlich orientierten Begründungen noch einmal zu studieren sind. In einem programmatischen Text aus dem Jahr 1928 hat Tillich87 in Reaktion auf die naturwissenschaftlich inspirierte Religionskritik (Marxismus und Psychoanalyse), aber auch in Reaktion auf den ,vergegenständlichenden 81 F. Nietzsche Smtliche Werke. Kritische Studienausgade, Bd. 11, hg. v. G. Colli und M. Montinari, München / New York, Bd. 11, S. 464. 82 Nietzsche, Smtliche Werke, Bd. 13, aaO., S. 258. 83 Wilhelm Wundt Vçlkerpsychologie, Bd. 6: Mythus und Religion, aaO., S. 521. 84 Wundt Vçlkerpsychologie, Bd. 6, aaO., S. 524. 85 Wundt Vçlkerpsychologie, Bd. 6, aaO., S. 549. 86 Ferdinand Kattenbusch Art. „Symbole, Symbolik“ in Realencyklopdie fr protestantische Theologie und Kirche, Bd. 19, hg. v. Albert Hauck, 3. Aufl. Leipzig 1907, S. 196 – 207, hier S. 197. 87 Tillich Main Works, Bd. 4, aaO., S. 213 – 228.
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Missbrauch‘ religiöser Inhalte allgemein88 eine Apologie des ,religiösen Symbols‘ vorgelegt, worin das Wesen von Religion überhaupt: die Gottes-Beziehung, sich konzentrieren lässt. Semiotisch rekonstruiert sind die von Tillich angeführten vier Determinanten jedes Symbols auf drei zusammenzuziehen: Seine ,Uneigentlichkeit‘ ist als Objektbezug, seine ,Anschaulichkeit‘ als das Zeichen selbst, seine ,Selbstmächtigkeit‘ und seine ,Anerkanntheit‘ sind als Interpretantenbezug zu identifizieren.89 Entscheidend ist dabei für Tillich die mit der ,Selbstmächtigkeit‘ gesetzte ,Notwendigkeit‘ des Symbols (worin es sich vom Index, nach Tillichs Terminologie: vom bloßen ,Zeichen‘ unterscheidet), denn sie betrifft die Nicht-Beliebigkeit immer schon vorgegebener Symbolverständnisse in Kommunikationsverbindlichkeiten ganz allgemein; und sie ist damit die Voraussetzung auch für den Rang des religiösen Symbols, dessen Objektbezug (,Uneigentlichkeit‘) nicht-gegenständlicher Art ist, in Tillichs Terminologie: das ,Unbedingt‘-, bzw. ,Unanschaubar-Transzendente‘.90 In einer zusätzlich entworfenen Typen-Hierarchie von ,Gegenstandssymbolen‘91 kann Tillich darüberhinaus am religionsgeschichtlichen Material verständlich machen, wie religiöse Symbole einerseits (auf niedrigster Stufe) in bloßem Hinweis- oder Zeichencharakter fungieren können, andererseits (auf höchster Stufe) die Gottes-Symbolik so radikal vertreten, daß sich die Vergegenständlichung Gottes selbst aufhebt, d. h. „dieser […] immanente Atheismus ist die Tiefe des religiösen Aktes“.92 Erst durch diese äußerste Konsequenz kann Tillich den religionskritischen Erklärungen (naturwissenschaftlich geprägter Provenienz) entgegenhalten, sie könnten zwar die (kritisch zu bewertende) Herkunft bestimmter Symbole beleuchten, nicht aber den Grund von religiöser Symbolik überhaupt angeben;93 denn deren Transzendenz-Bezug impliziert ja das ,Sein- und Sinn-Gebende‘ selbst! 94 Diese vorgeschaltete Ontologie ist nun zugleich aufs innigste verbunden mit einer strikt existentiellen Auffassung des Religiösen, die Tillich aus der Existenzphilosophie und -theologie in der Wirkungsgeschichte Kierkegaards ins Spiel bringt,95 wodurch die ontologische Symbollehre in ihrer theolo88 89 90 91 92 93 94 95
Tillich Main Works, Bd. 4, aaO., S. 225. Tillich Main Works, Bd. 4, aaO., S. 213f. Tillich Main Works, Bd. 4, aaO., S. 214. Tillich Main Works, Bd. 4, aaO., S. 221ff. Tillich Main Works, Bd. 4, aaO., S. 222. Tillich Main Works, Bd. 4, aaO., S. 216. Tillich Main Works, Bd. 4, aaO., S. 221. S.o. unter 1.2.1.
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gischen Intention erst wirklich verständlich gemacht werden kann – dass nämlich die These gelten soll: „Die Tatsache, daß die Seele sich da, wo sie sich unmittelbar ausdrückt, religiös ausdrücken muß, kann gar nicht anders erklärt werden als dadurch, daß sie religiös ist, daß die Beziehung zum Unbewußt-Transzendenten für sie konstitutiv ist“.96 Das religiöse Symbol, das nicht als bloßer Index verstanden werden darf, ermöglicht also die Verbindung von unmittelbarem Ausdruck und dem Transzendenten; anders gesagt: Bedingung für den Zugang zur existentiellen Unmittelbarkeit wie zum Unbedingten (Unbewussten, Unanschaubaren) ist die Vermittlungsleistung des Symbols.97 Nun ist an dieser ontologischen Konstruktion die Unstimmigkeit aufgefallen, dass Tillich in wissenschaftlicher Propositionalität die Ungegenständlichkeit der Transzendenz und ihrer unmittelbaren Äußerung vertritt, so dass es zu einem Widerspruch durch Selbstanwendung dieser Symboltheorie auf ihre wissenschaftliche (nicht-symbolische) Darstellung kommen muss.98 Damit ist die Problematik jeder Existenzontologie demonstriert, wie das ,Unbedingte‘ überhaupt unter endlichen Bedingungen (der Sprache und ihres Behauptungscharakters) zum Ausdruck gebracht werden kann. Dass dem Symbol dabei eine Schlüsselfunktion zukommt, liegt daran, dass seine Repräsentationsleistung durchaus und gerade nicht-gegenständlich aufzufassen ist. Das wird besonders deutlich in Denkoperationen, Zukunftsentwürfen, Selbstbezüglichkeiten, Sprachhandlungsmodellen und in allen kommunikativen Verbindlichkeiten historischer und gesellschaftlicher Implikationen. Dies alles klärt aber noch nicht die eigentliche Frage nach der wirklichen und wahren Bedeutungsbeziehung des Symbols ,Gott‘; und erst deren Aufweis wäre die gesuchte Begründung religiöser (und damit auch theologischer) Symbolik. – Es soll im folgenden die These vertreten werden, dass eine auf Ch. S. Peirce zurückgehende Semiotik und Kategorienlehre diese Fragen nach Bedeutung und Begründung besser zu beantworten in der Lage ist, als das in den sonst vorgeschlagenen religionsphilosophischen und theologischen Modellen der Fall sein kann. Der bisher erreichte Diskussionsstand sei dazu in dreifacher Weise als Frage nach der Realität religiöser Erfahrung, religiöser Sprache und theologischen Denkens for96 Tillich Main Works, Bd. 4, aaO., S. 217. 97 Vgl. Tillich in Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde, aaO., S. 59ff. 98 Vgl. Adrian Thatcher The Ontology of Paul Tillich, Oxford 1978, S. 34ff.; Gunther Wenz Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979, S. 161ff.
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muliert, nämlich 1. als (ontologische) Frage nach der Realitätserschließung, 2. als (epistemologische) Frage nach dem Realitätsbezug und 3. als (metaphysische) Frage nach der Realität als solcher. 2.2. Kategorial-semiotische Theologie Es ist deutlich, dass in Tillichs Symbollehre zwar die ontologisch-existentielle Realitätserschließung und die metaphysische Realität des Seinsselbst behauptet, ein Realitätsbezug aber kaum aufgewiesen werden kann, während in den psychologischen Religionsbeschreibungen naturwissenschaftlicher Orientierung offensichtlich ein operationaler Gegenstandsbezug erreicht wird, dessen Zusammenhang mit ursprünglicher Realitätserschließung schwierig, mit Realität als solcher gar nicht mehr herzustellen ist. Diese Einwände besagen, dass ,Realität‘ in gleichgewichtiger Weise dreifach (ontologisch, epistemologisch, metaphysisch) bestimmt werden muss, und dieser Begriff von Realität entspricht der Definition, die Peirce (beispielsweise 1889 im Century Dictionary) gegeben hat: „Real unterscheidet sich von wirklich, weil das, was nur keimhaft oder in posse ist, insofern es das Vermögen hat, sich zu einer bestimmten Wirklichkeit zu entfalten, real ist und unabhängig davon, was wir darüber denken mögen. Reale Objekte sind entweder außerhalb des Geistes, wenn sie nämlich überhaupt von unserem Denken unabhängig sind, oder sie sind innerhalb des Geistes, wenn sie vom Denken, wiewohl nicht vom Denken über sie abhängen“.99 2.2.1. Als Realittserschließung ist der erfahrungsmäßige Grundvorgang zu bezeichnen, worin Menschen sich immer schon vorfinden in der Weise, dass ein qualitatives So-sein keineswegs konstruiert, sondern nur nachgezeichnet werden kann. Diese Vorgabe zum Zuge zu bringen, entwirft Peirce die dreistellige Zeichen- und Kategorienlehre, deren Vorteil gerade darin besteht, ihre formalen Strukturen aus Erfahrungen abzuheben, für deren Ausdruckgabe diese Strukturen dann wiederum kritisch zur Verfügung stehen. Dass darin kein Zirkelschluss versteckt ist, kann dadurch sichergestellt werden, dass immer wieder und zeitlich unterschieden jeweils gemachte Erfahrungen analysiert werden auf das hin, was in ihnen schon strukturell impliziert war, um von daher die angemessene Beschreibung verallgemeinern zu können. Insofern ist bei Peirce 99 Charles S. Peirce Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften ber Semiotik und Naturphilosophie, hg. v. Helmut Pape, übers. v. Bertram Kienzle, Aachen 1988, S. 468.
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von Beginn an die Grundstruktur der semiotischen Beschreibung (Icon, Index, Symbol) kategorial abgeleitet,100 d. h. sie ist phänomenologisch aufgefasst und angewiesen darauf, wie sich die Welt uns zeigt.101 Religionsphilosophisch angewendet bedeutet dies, dass nicht die kategoriale Zergliederung das Ziel sein kann, sondern umgekehrt die vorausgegebene Einheit als Ermöglichung der folgenden Gliederung von Erfahrung miterfahren, und also auch theoretisch mitberücksichtigt werden muss. Dies hat Peirce als ,Neglected Argument for the Reality of God‘ zu formulieren versucht102 und den Grundgedanken als ,humble argument‘ herausgestellt: Dass intentionslos, meditativ und spielerisch, in einer sich selbst zurücknehmenden Gestimmtheit und Spontaneität von ,Musement‘, sich Gott als Schöpfer des kategorial zu differenzierenden Universums unserer Erfahrungen mit unhintergehbarer Gewissheit erschließen wird. Peirce insistiert damit (ähnlich wie W. James und A. N. Whitehead ) auf einer religiösen Grunderfahrung, die in dreifacher Weise interpretiert werden muss: Einmal ist sie offenbar die Voraussetzung und damit die Einheit der Kategorien der Erfahrung, zum anderen ist sie selbst innerhalb der Kategorien als ,Erstheit‘, d. h. als qualitative Erschlossenheit, zu lokalisieren, und zum dritten ist das Gottesargument dann als ganzes in allen drei Kategorien, d. h. nach Qualität, Gegenständlichkeit und geistigem Lebenszusammenhang, auszulegen. Mit dieser mehrfachen Funktion wird deutlich, dass Peirce‘ Gottesargument durchaus nicht als Anwendungsfall einer übergeordneten Theoriebildung anzusehen ist, sondern tatsächlich die Theoriebildung selber mit der Gotteserfahrung problematisiert wird. Wie nun die Realität in Wahrheit und in Wirklichkeit ist, kann methodisch reflektiert nicht direkt erfasst, wohl aber indirekt angegeben werden, wenn die primäre Beeinflussung unserer Erfassungsmöglichkeiten bereits mitkalkuliert wird. Das tut Peirce, wenn er ,Musement‘, Kontemplation, Instinkt und die Sprache des Herzens als die einzigen
100 Vgl. die „New List of Categories“ in Charles S. Peirce Writings. A Chronological Edition, vol. 2, hg. v. M. H. Fish und E. C. Moore, Bloomington 1984, S. 49 – 59; dt. Ch. S. Peirce Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. u. übers. v. Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt am Main 1986, S. 147 – 159. 101 Peirce Semiotische Schriften, Bd. 1, aaO., S. 431ff.; vgl. John J. Fitzgerald Peirce’s Theory of Signs as Foundation for Pragmatism, The Hague / Paris 1966, chap. II. 102 CP, 6.452ff.; vgl. MS 842.
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Zugänge für die Einheit der Erfahrung in der Idee Gottes verteidigt.103 In diesem Sinne kann gesagt werden, dass unter ,Gott‘ der Inbegriff menschlicher Primärerfahrung zu verstehen ist;104 eine Realitätserschließung vor der nun fälligen kategorialen Durchsicht: wie denn diese primäre Eindrücklichkeit zum Ausdruck gelangt. In der kategorialen Semiotik ist es nun der als Erstheit zu verstehende Gegenstandsbezug des Ikons, innerhalb dessen die primäre Realitätserschließung zu beschreiben ist, und es sind damit noch einmal drei unterschiedliche Aspekte zu unterscheiden, in denen die wissenschaftliche Analyse diese Ursprünglichkeit thematisieren kann. Erstens ist der Charakter eines Ikons als Zeichen zu bestimmen, das Abbildfunktion durch Ähnlichkeit hat; zweitens ist unter forschungslogischem Aspekt die Abduktion (retroduction, conjecture, hypothetic inference) als Grundoperation der Gott-Hypothese zu erkennen;105 drittens ist unter kosmologischem Aspekt die Lehre des Tychismus als evolutionäre Konsequenz daraus zu ziehen, dass es Spontaneität, Neues und Freiheit gibt.106 Die damit angeschnittenen Fragen lassen sich bündeln in der Problembeschreibung, wie denn überhaupt das Auftreten von – in striktem Sinne – Neuem gedacht werden kann, ohne es jeweils schon von Bekanntem abzuleiten: das ,Paradox der Spontaneität‘;107 und es ist genau dies die Leistung ikonischer Gegenstandsbeziehung, dass sie in dieser paradoxen Situation keinen dunklen, irrationalen Anfang postuliert, sondern auf Erfahrung setzt, die hier allerdings von einer Direktheit sein muss, dass dem ikonischen Zeichen jedenfalls die Reflexionsdistanz nicht zukommen kann. Es ist genuin bei seiner Sache, von ihr her bestimmt und doch zugleich ein geistiges Element, eben ein Zeichen mit Realitätsabbildung. Diese Doppelleistung ist aufzufangen in Peirce’ Unterscheidung von
103 CP, 6.501; vgl. Donna M. Orange Peirce’s Conception of God. A Developmental Study (Peirce Studies, No. 2), Lubbock 1984, S. 75f.; Michael L. Raposa Peirce’s Philosophy of Religion (Peirce Studies, No. 5), Bloomington, IN, 1989, S. 123ff. 104 Vgl. Alfred N. Whitehead Wie entsteht Religion? (1926), Frankfurt am Main 1985, S. 115: „Gott ist also die eine systematische, vollendete Tatsache, die den vorausgehenden Grund bildet, der jeden schöpferischen Akt bedingt.“ 105 CP, 6.469. 106 Charles S. Peirce Naturordnung und Zeichenprozeß,aaO., I. Teil; vgl. Hermann Deuser Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilosophie, Berlin / New York 1993. 107 Carl R. Hausman „Spontaneity: Its Arationality and Its Reality“ in International Philosophical Quarterly 4 (1964), S. 20 – 47, hier S. 21f.
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,Immediate‘ und ,Dynamical Object‘,108 wobei das ,unmittelbare Objekt‘ als Gegenstandsrelation vom Zeichen her, das ,dynamische Objekt‘ als die Realität aufzufassen ist, die sich im Zeichenprozess abbildet. In diesem Sinne steckt in der ikonischen Gegenstandsbeziehung die ursprüngliche Kreativität der Realität selbst, die forschungslogisch als Abduktion, kosmologisch als Zufallsproduktivität (Tychismus) und zeichentheoretisch als primäre Realitätserschließung erfasst werden kann. Gott als Zeichen in diesem fundamentalen Sinn zu erfahren, das meint ,direct experience‘ – so umfassend, dass die traditionelle philosophische Alternative purer Sinnesdaten einerseits oder purer Verstandesleistungen aufgrund von Anschauung andererseits verlassen werden kann: „as to God, open your eyes – and your heart, which is also a perceptive organ – and you see him“.109 Wird diese qualitative und kreative Erstheit in der ikonischen Zeichenleistung akzeptiert, so lassen sich von daher Aussagen religiöser Erfahrung (wie sie auch bereits von hermeneutischer und linguistischer Theologie herausgearbeitet wurden) 110 ebenso erklären wie die sogenannte religiöse ,Chiffrierung‘.111 Letztere ist eben als spezifische Form kreativer Zeichen in einem primären Sinn aufzufassen, wie sie auch für die Metapher in Anspruch genommen werden kann,112 sofern deren ontologische Erschließung eben als dynamischer Objektbezug des Ikons verstanden wird. Das ist keine theoretische Leistung, keine analoge Erschließung der diskursiven Vernunft, sondern ein Sich-Einlassen auf Vorgaben, die als solche nicht rational zu deduzieren oder zu induzieren, deren abduktives Zustandekommen und ikonische Präsentation sich aber durchaus rational begründen lässt. Was der religiöse Glaube mit aller Gewissheit weiß („a hypothesis of the very highest Plausibility“),113 verdankt sich nicht seiner „Einbildung“ (im heutigen verflachten Sinn 108 Fitzgerald Peirce’s Theory of Signs as Foundation for Pragmatism,aaO., S. 43; Carl R. Hausman „Metaphorical Reference and Peirce’s Dynamical Object“ in Transactions of the Ch. S. Peirce Society 23 (1987), S. 381 – 409, hier S. 386f. 109 CP, 6.493; vgl. auch die einschlägigen Textauszüge in Philosophers Speak of God, hg. v. Charles Hartshorne und William L. Reese, Chicago / London 1976, S. 259 – 268. 110 Vgl. zusammenfassend Joachim Track Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen Reden von Gott, Göttingen 1977, S. 283ff. 111 S.o. unter 1.1. 112 Hausman „Metaphorical Reference and Peirce’s Dynamical Object“ in Transactions of the Ch. S. Peirce Society 23 (1987), S. 381 – 409. 113 CP, 6.480.
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dieses Wortes), sondern der (göttlichen) Ein-bildung der Realität selbst (wie Luther es sprachlich und sachlich verstanden hat). Auch das religiöse Sprachdenken der jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig lässt sich in diesem Sinne semiotisch interpretieren,114 und das zeigt, wie universal der Symbolgebrauch in den Religionen vergleichbar ist. Alternativ zu diesem erfahrungskategorial-existentiellen Konzept im Anschluss an Peirce stehen Theologien, die zwar wissenschaftstheoretisch die umfassende Rolle der Zeichentheorie mitvertreten, sie aber als Frage nach der Bedingung der Möglichkeit eines Grundes von Wirklichkeit anwenden; das kann transzendental-substantiell115 oder transzendentalevidentiell116 geschehen. Einigkeit besteht aber zwischen diesen transzendentalen, den linguistisch-sprachlogischen Konzepten (zumindest den rational argumentierenden),117 und einer von Peirce’ Religionsphilosophie inspirierten Theologie darin, dass zeichentheoretisch auch für Religion und Theologie „ein öffentlich bewährbarer metaphysischer Explikationsrahmen“ zur Verfügung steht.118 Darin lässt sich Realität an (kategorial) erster Stelle als (ikonisch vermittelte) schöpferische Lebendigkeit Gottes erschließen. 2.2.2. Unter Realittsbezug ist die Indexfunktion als Bezeichnung bestimmter Wirklichkeit (durch natürliche oder Sprachzeichen) zu verstehen.119 Mit dieser Instanz der zweiten Kategorie stellt sich für Peirce die Bedeutungsfrage von Zeichen bezüglich des konkret Bezeichneten. Existenz, Reaktion, Verifikation sind Stichworte im Bereich indexika114 Peter Ochs „A Rabbinic Pragmatism“ in FS George Lindbeck, Univ. of Notre Dame Press 1990; vgl. zur Beschreibung jüdischer Riten und Symbole S. Ph. de Vries Jdische Riten und Symbole, 4. Aufl., Wiesbaden 1986. 115 Wilfried Härle „Welchen Sinn hat es, heute noch von Gott zu reden?“ in Marburger Jahrbuch Theologie II, hg. v. Wilfried Härle und Rainer Preul, (Marburger Theologische Studien 24, 1988), S. 43 – 68. 116 Eilert Herms „Gottes Wirklichkeit“ in Marburger Jahrbuch Theologie I, hg. v. Wilfried Härle und Rainer Preul (Marburger Theologische Studien 22, 1987), S. 82 – 101. 117 Vgl. Ingolf U. Dalferth „Perspektivität und Reflexion als Grundprobleme theologischer Rationalität“ in Theologie en Rationaliteit, hg. v. H. J. Adriaanse und H. A. Krop, Kampen 1988, S. 199 – 235. 118 Eilert Herms „Metaphysik und Christentumstheorie. Beobachtungen und Erwägungen zu Josiah Royces ,religiöser Philosophie’ und Fundamentaltheologie“ in ZThK 71 (1974), S. 410 – 455, hier S. 453. 119 Vgl. Fitzgerald Peirce’s Theory of Signs as Foundation for Pragmatism, aaO., S. 55 – 61.
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lischer Bedeutung, und es ist gegen Peirce’ Gottesidee hier konsequent der kritische Einwand erhoben worden, warum denn ,Gott‘ im Sinne einer absolut gedachten Zweitheit nicht ,Existenz‘ zukommen solle – was Peirce mit seiner Unterscheidung von Realität und Existenz abgelehnt hat.120 Eine Gegenständlichkeit Gottes wäre auch deswegen problematisch, weil forschungslogisch gesehen dem Index die Deduktion korrespondiert, und diese zweite Form des Schließens wird zwar gegenstandsbezogen angewandt, aber aufgrund von hypothetisch bzw. ideal gesetzten Prämissen.121 D. h. die als Realitätserschließung ikonisch und abduktiv verstandene direkte Gotteserfahrung würde sich dann entweder auf raumzeitliche Objekte einschränken oder nachträglich noch theoretisch deduzieren lassen, was beides Peirce’ religiösen Intentionen zuwiderläuft. Eher ist Peirce’ Rechenschaft im Rahmen seines Gottesarguments so zu lesen, dass er die Deduktion mit ihrer explikativen Aufgabe wie eine natürliche Theologie sehen möchte, die die Vernünftigkeit des geistig sich entwickelnden Forschungsprogesses als Beleginstanz für die von Gott erschaffene Welt auswerten kann.122 Eine weitere Interpretationsmöglichkeit ergibt sich aber dadurch, dass Peirce unter kosmologischem Aspekt (und dies genau an seine Lehre vom Tychismus anschließend) für den Prozess der Evolution und als diesen in Wahrheit erst erklärend ,kreative Liebe‘, das Gesetz der Liebe, Agapismus verantwortlich gemacht hat.123 Damit ist nun mehr als eine bloß theoretische Hypothese ins Spiel gebracht; es ist der Versuch gemacht, das je eigene Leben in die Ansicht der Welt als Wachstums- und Forschungsprozess, worin Menschen Verantwortung tragen, hineinzuziehen. Dies negieren wird nur der weltfremde Theoretiker, „or rather, a papyrobite, a man whose vitality is that of sentences written down or imagined“! 124 Die Konkretion gelebter Liebe als konstruktives ethisches, nicht-egoistisches Weltverhalten125 entspricht aber genau der christolo120 Charles Hartshorne „Charles Peirce’s ,One Contribution to Philosophy’ and his Most Serious Mistake“ in Studies in the Philosophy of Ch. S. Peirce. Second Series, hg. v. Ed. C. Moore und R. S. Robin, Amherst 1964, S. 455 – 474, hier S. 463. 121 CP, 6.471f.; vgl. MS 842, p. 30f. 122 CP, 6.474 – 477. 123 CP, 6.302; Peirce Naturordnung und Zeichenprozeß,aaO., I. Teil, S. 249f.; vgl. Carl R. Hausman „Eros and Agape in Creative Evolution: A Peircean Insight“ in Process Studies 4 (1974), S. 11 – 25; Michael L. Raposa Peirce’s Philosophy of Religion,aaO., S. 72ff. 124 MS 842, p. G82. 125 Vgl. wiederum Whitehead Wie entsteht Religion? aaO., S. 118.
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gischen Bestimmtheit christlicher Theologie. Insofern ist es bezüglich der Indexikalität religiöser Sprache, wenn nach der Bedeutung (im Sinne von Referenz) religiöser Äußerungen gefragt wird, durchaus richtig, nicht mehr Religiosität allgemein, sondern deren konkrete Ausdrucks- und Begegnungsweisen zum Prüfkriterium zu machen, wie es Dalferth für die Wahrheitsfrage religiöser Rede getan hat. Damit kommt – an dieser Stelle! – die von K. Barth zu Beginn des 20. Jahrhundert eingeleitete theologische Wendung zum Zuge, Theologie nicht im Anschluss an einen allgemeinen Religionsbegriff zu betreiben, sondern letzteren in Übereinstimmung mit der Religionskritik relativiert liegen zu lassen, um davon entlastet um so entschiedener mit der eigenen Glaubenserfahrung im Bezug auf Jesus Christus festzulegen, was unter ,religiöser Situation‘ zu verstehen sei: „Eine Situation ist daher christlich, wenn ihre Struktur in einem aufweisbaren strukturellen Zusammenhang mit der Situation und den Situationen des Lebens und Sterbens Jesu von Nazareth steht“.126 In dieser (christologischen) Konkretion von Gottes ,Gegenständlichkeit‘ zu sprechen, dürfte mit der Kategorie der Zweitheit und der Funktion des Index konform gehen. Der überprüfbare Realitätsbezug des christlichen Glaubens ist eben diese Welt – als Welt Gottes gesehen, und deren aktuelle Bestimmtheit sind Personalität und Selbstopfer der kreativen Liebe.127 2.2.3. Von Realitt als solcher sprechen zu müssen, ergibt sich aus der Symbolfunktion, verbunden mit der Kategorie der Drittheit. Das Symbol hält zusammen, was Ikon und Index bezeichnen, genauer: es ist deren Zusammenhang, insofern er als Regelhaftigkeit, Gesetz oder Verhalten (,habit‘) im Zeichengebrauch unterstellt werden muss. Das hat zur Folge, dass sich ein Symbol nicht mehr auf ein gegenständliches Etwas, sondern generalisiert auf einen faktischen Gebrauch im Kontext bezieht – und damit ist zugleich auch zukünftiges Verhalten impliziert.128 Letzteres ist wiederum mit dem forschungslogischen Aspekt der Induktion und kosmologisch mit dem von Peirce geprägten Begriff des Synechismus zu verbinden, d. h. so wie bereits Ikon und Index deutlich von der Realität her – und nicht als bloß gedachtes Netz formaler Verknüpfungen – konzipiert waren, so zeigt sich jetzt explizit die Leistung der Drittheit als vorliegender geistiger Zusammenhang, in dem Gegenstandserfahrung über Zeichen gemacht wird. Damit ist einerseits die pragmatische 126 Dalferth Religiçse Rede von Gott, aaO., S. 362f. 127 CP, 6.287ff.; Peirce Naturordnung und Zeichenprozeß, aaO., I. Teil, S. 236f. 128 Fitzgerald Peirce’s Theory of Signs as Foundation for Pragmatism, aaO., S. 62ff.
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Dimension der Interpretantenrelation des Zeichens erreicht, andererseits durch die Zukunftsdimension der immer akute Lebenskontext mitthematisiert. Dann muss anthropomorph gesprochen und geschlossen werden: Symbole sind lebendig: „The third Universe comprises everything whose being consists in active power to establish connections between different objects […] Such is everything which is essentially a Sign […], so to speak, the Sign’s Soul, which has its Being in its power of serving as intermediary between its Object and a Mind. Such, too, is a living consciousness, and such the life, the power of growth, of a plant. Such is a living constitution – a daily newspaper, a great fortune, a social ,movement‘“.129 Die Kraft des Symbols ist seine Lebendigkeit, und diese hat Peirce nicht nur im Satzkontext, nicht nur im Sozialzusammenhang, nicht nur im Kommunikationsgeflecht, sondern auch kosmologisch und universalistisch gedacht. Wenn es in der Welt, so wie wir sie erfahren, Wachstum und Leben gibt, muss dies in ihren regierenden Zusammenhängen begründet sein; da diese sich wiederum auf alle Zeit erstrecken, muss Realität im ganzen Kontinuität haben – das meint Peirce’ Programm des ,Synechismus‘,130 und seine Gottesauffassung ist damit verflochten. Denn lebendiges Wachstum und Entwicklung des Geistes, die sich nicht positivistisch reduzieren lassen, treiben ,in the Pure Play of Musement‘ zur Idee von Gottes Realität,131 und diese ist kein fertiges Faktum, sondern – wie Person und Welt – ein Symbol, dessen Rationalität darin besteht, sich weiter zu entfalten. Ähnlich wie später Whitehead denkt Peirce damit die Entwicklungsfähigkeit Gottes,132 und er tut dies, um dem rationalen, wissenschaftlichen Prozess der Herausbildung von Wahrheit gerecht werden zu können.133 Realität und Metaphysik brauchen sich gegenseitig, weil die bloßen Fakten der Wissenschaft (science) ihre eigene Entwicklung und Wahrheitsfindung nicht erklären können.134 Die universale, rationale Begriffsbildung aber bleibt für Peirce an die Kontrolle der Wissenschaft zurückgebunden, bzw. die Lebenserfahrungen werden im Rahmen symbolischer Drittheit zur pragmatistischen Instanz der CP, 6.455. Peirce Naturordnung und Zeichenprozeß,aaO., I. Teil, S. 179ff. CP, 6.465. CP, 6.466. Vgl. Victor Lowe „Peirce and Whitehead as Metaphysicians“ in Studies in the Philosophy of Ch. S. Peirce. Second Series, hg. v. Ed. C. Moore und R. S. Robin, Amherst 1964, S. 430 – 454. 134 CP, 6.1ff. 129 130 131 132 133
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wiederum lebendigen Überprüfung. Wegen der Einbindung der symbolischen Zeichenleistung in den Prozess der Wahrheitsfindung überhaupt lässt Peirce an dieser Stelle die (semiotische) Interpretantenrelation übergehen in die experimentierende (pragmatistische) Relation von Glauben (belief) und Verhaltensbildung (habit-forming). Damit ist eine umfassende Rolle der Induktion im menschlichen Verhalten (,conduct of life‘) angezeigt,135 die aber nicht als bloßes Testverhalten, sondern wiederum im Rahmen ebenso umfassender Rationalität gesehen werden muss: Die Ordnungsprinzipien, wie sie (kategorial) angenommen und im Induktionsschluss unterstellt werden, gehören nicht zu den Dingen und ihrem vorliegenden Zusammenhang allein, sondern sind selbst noch einmal zu generalisieren:136 ,Super-order‘ und ,super-habit‘ schlägt Peirce als Bezeichnungen vor, um diese metaphysische, kosmologische, religionsphilosophische Ebene im wissenschaftlichen Kontakt beschreiben zu können. Die Realität Gottes entspricht dann jedenfalls in Problematik und Durchführung des Gedankens genau dieser Realität der Natur, und es ist nur konsequent, dass Peirce sich insofern der Naturphilosophie Schellings nahe fühlt137 und mit der Weltvernunft und dem ,objektiven Idealismus‘ Hegels Gemeinsamkeiten sieht. Doch die Differenz zu Hegel liegt darin, dass die Vermittlungsformen sich nicht zwingen lassen, die ,Logik der Evolution‘ bleibt induktiv und damit hypothetisch.138 Deshalb muss der rational gedachte und sich entwickelnde Gesamtprozess weder Zufall noch Spontaneität und Freiheit an die Seite schieben, sondern gerade in deren Zeichen lebt das, was in Wahrheit Fortschritt heißen kann. Das ,Universum‘ – so hat Peirce 1903 in den PragmatismusVorlesungen zur ,Realität der Drittheit‘ formuliert – „is […] a great symbol of God’s purpose, working out its conclusions in living realities“.139 Die Stärke dieser Symbollehre ist ihr Realismus, der metaphysisch und wissenschaftlich zugleich vorgetragen wird. Genau diesen Anspruch macht Peirce’ Stichwort der ,religion of science‘,140 und damit ist rückblickend sowohl religionswissenschaftlich141 wie religionsphiloso135 136 137 138 139 140 141
CP, 6.481ff. CP, 6.490. CP, 6.102. CP, 6.218. CP, 5.119. CP, 6.433. S.o. unter 1.1.
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phisch142 eine Programmatik entworfen, theologisches Denken nicht durch sich distanzierende Deskription von religiösen Phänomenen ersetzen zu müssen, sondern den Anspruch der Gott-Rede als Symbolleistung, die unserer Realität überhaupt entspricht und an ihrer Bewältigung und Herausbildung mitarbeitet, gelten zu lassen. Die Bedeutung der Gott-Rede zeigt sich im wirklichen Gebrauch des Symbols, und dieser ist nicht ohne die pragmatistischen Relationen von Glauben und Verhaltensbildung, Glauben und Handeln bestimmbar.143 Begründet ist das Symbol letztlich durch die Gesamtauffassung von Realität, zu der der unableitbare Akt des Glaubens144 ebenso gehört wie seine mögliche rationale Darstellung als Erschließungsbedingung für Realitätsverhalten.145 Der menschliche Umgang mit der Realität ist Teil der Realität selbst. Dies Implikationsverhältnis aufzuklären, bedarf es der kategorialen Semiotik, worin die Lebendigkeit der Gott-Rede theoretisch adäquat zum Ausdruck kommt.
142 S.o. unter 2.1. 143 Vgl. MacKay „Language, Meaning and God“ in Philosophy 47, No. 179 (1972), S. 1 – 17, hier S. 10ff. 144 Vgl. zu Wittgensteins Religionsauffassung Ulrich Browarzik „Der grundlose Glaube. Wittgenstein über Religion“ in NZSTh 30 (1988), S. 72 – 100, hier S. 97ff. 145 Vgl. Bernard Williams „Kann man sich dazu entschließen, zu glauben?“ in ders. Probleme des Selbst. Philosophische Aufstze 1956 – 1972, Stuttgart 1978, S. 217 – 241; Alvin Plantinga „Is Belief in God Rational?“ in Rationality and Religious Belief, hg. v. C. F. Delaney, London 1979, S. 7 – 27.
William James: Pragmatism and Religion Die achte Vorlesung über Pragmatismus von 1906 I. Verstehen wir unter Pragmatismus den philosophischen Begriff einer wissenschaftlichen Methode, so ist es aus heutiger Sicht und auf den ersten Blick erstaunlich, dass in W. James’ Vorlesungsreihe über Pragmatismus das Thema Religion nicht etwa ein sozialphilosophisches, -psychologisches oder lebensweltlich-ethisches Grenzproblem darstellt – und in diesem Sinne dann in der letzten Vorlesung seinen angemessenen Platz finden würde. Nein, für W. James ist die Frage nach der wissenschaftlichen Bedeutung des religiösen Glaubens ein durchgängiges Thema von Beginn an. Der Pragmatismus muss nicht nur sein Verhältnis zu Metaphysik und Religion klären (diese Grenzziehung oder Überschneidung teilt er mit allen neuzeitlichen philosophischen Schulbildungen), sondern er will die lebenspraktische Unvermeidlichkeit und aufgrund dessen die wissenschaftliche Notwendigkeit des religiösen Glaubens nachweisen. Dass diese für den Pragmatismus genuine Intention auch der Rezeptionsgeschichte eher fremd ist, macht im Kontext der deutschen Philosophie bereits die frühe Übersetzung von W. Jerusalem (1908) deutlich. Er diagnostiziert in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe Der Pragmatismus erstens den unheilbaren Gegensatz zwischen dieser neuen Philosophie und den deutschen Richtungen der ,Neu-Kantianer‘, ,NeuHegelianer‘ und ,Neu-Scholastiker‘, und zweitens die Nähe des Pragmatismus zu naturphilosophischen Theoretikern wie W. Ostwald und E. Mach, aber auch zu Geisteswissenschaftlern wie G. Simmel und R. Eucken.1 Der religiçse Glaube steht in solchen Theoriewelten keineswegs im Vordergrund des Interesses. W. James aber beginnt die letzte Vorlesung über Pragmatismus und Religion mit einem Rückverweis auf die erste, und diese ist nichts anderes als eine große Exposition der universalen 1
William James Der Pragmatismus. Ein neuer Name fr alte Denkmethoden. Volkstmliche philosophische Vorlesungen. Aus dem Englischen übersetzt von Wilhelm Jerusalem, Leipzig 1908, S. VIf.
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Spannung zwischen dem ,zartfühlenden‘ (,tender-minded‘) und dem ,hartgesottenen‘ (,tough-minded‘) Wissenschaftscharakter;2 mit nordamerikanischem Landschaftskolorit gesagt geht es um den Gegensatz von ,tender-foot Bostonians‘ und ,Rocky Mountain toughs‘,3 der Sache nach um die unausgeglichene Gefühlslage zwischen wissenschaftlicher Dominanz neutral erscheinender Fakten und der tröstlichen Konkretion der Religiosität.4 Dass beides weder einfach in Übereinstimmung zu bringen ist noch die jeweils eine Seite für sich genommen zufriedenstellend sein kann – genau darin besteht das ,Dilemma‘ der gegenwärtigen Philosophie.5 Von dieser Exposition aus gesehen ist es nicht mehr überraschend, dass der Aufriss der philosophischen Gegensatzbildungen nach ,Temperamenten‘ orientiert wird,6 deren Sinn in gegenläufigen Weltorientierungen lebenspraktischen und religiösen Zuschnitts zu suchen ist. Die 2. Vorlesung diskutiert deshalb das Verhältnis von Empirismus und (idealistischem) Gottesglauben;7 die 3. Vorlesung ist gänzlich den Spannungen zwischen Metaphysik und wissenschaftlichem Weltbild gewidmet; die 4. Vorlesung sieht im Einheitsgedanken der Mystik einen unaufgebbaren Aspekt der emotionalen Weltorientierung8 trotz allem wissenschaftlich gebotenen Pluralismus;9 die 5. und 6. Vorlesung öffnen die Relation von Wahrheit und Realität gegenüber dem puren Empirismus durch Eintragung der Common-Sense-Basis menschlichen Erkennens10 und der Prozesshaftigkeit der Wahrheitsfindung in Übereinstimmung mit dem Universum;11 und es ist dieser Begriff des Universums,12 der in der 7. Vorlesung als letztes gegen den ,hartgesottenen‘ 2 William James Pragmatism. The Works of William James, ed. by F.H. Burkhardt et al., Cambridge: Harvard University Press 1975, S. 13. – Hier und im Folgenden in eigener Übersetzung; wo nötig, werden die englischen Begriffe in Klammern hinzugefügt. 3 Pragmatism, aaO., S. 14. 4 Vgl. Pragmatism, aaO., S. 14: „our esteem for facts has not neutralized in us all religiousness. It is itself almost religious.“ – AaO., S. 41 (Zweite Vorlesung): „But so far as it [sc. the Absolute] affords such [sc. religious] comfort, it surely is not sterile […]; it performs a concrete function.“ 5 Pragmatism, aaO., S. 9. 6 Pragmatism, aaO., S. 11, 18, 24. 7 Pragmatism, aaO., S. 39f. 8 Pragmatism, aaO., S. 74f. 9 Pragmatism, aaO., S. 79. 10 Pragmatism, aaO., S. 93f. 11 Pragmatism, aaO., S. 111f. 12 Pragmatism, aaO., S. 124ff.
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Empirismus aufgeboten werden kann.13 Die 8. Vorlesung beginnt genau mit dieser Frage nach dem (unaufgebbaren) Nutzen der religiösen Bedeutung des Universums für die Lebenspraxis und den Wissenschaftsbegriff.14
II. Bestand W. James’ Vorschlag schon von Beginn an darin, im ,Dilemma‘ zwischen unbefriedigender Faktenneutralität auf der einen und idealistischer Absolutheit auf der anderen Seite die Philosophie des Pragmatismus als forschungs- wie lebenspraktische Vermittlung 15 auszuzeichnen, so hat die Empfehlung dieser Vermittlungsfunktion mit der erneuten und jetzt ausdrücklichen Thematisierung der Religion in der achten Vorlesung ihren Höhepunkt erreicht. Der Text gliedert sich wie folgt in eine Einleitung und zehn unterscheidbare Begründungsschritte:16 A1 – 2: A3 – 9: A10 – 15: A16 – 23: A24 – 28: A29 – 33: A34 – 37: A38 – 40: A41 – 42: A43 – 45: A46 – 49:
Einleitung im Rückgriff besonders auf die erste und die zweite Vorlesung Doppelte Auslegung der kosmischen Emotionalität Die religionskritische Bedeutung des Pluralismus Die pragmatische Interpretation der Möglichkeit Die Lehre des Meliorismus Die existentielle Wendung im Handlungsbegriff Wachstum des Universums und mit-schöpferische Handlung Die religiös alternativen Einstellungen Zur Typologie des Religiösen Die eigene Entscheidung: Mut zum (pluralistischen) Glauben Die pragmatistische Gott-Hypothese
13 Pragmatism, aaO., S. 127. 14 Pragmatism, aaO., S. 131. 15 Vgl. den ersten Satz der achten Vorlesung (Pragmatism, aaO., S. 131): „At the close of the last lecture I reminded you of the first one, in which I had opposed tough-mindedness to tender-mindedness and recommended pragmatism as their mediator.“ 16 Gezählt wird im folgenden nach den 49 Absätzen (A1 – 49) der 8. Vorlesung, d. h. von der ersten Textzeile an wird jede Zeileneinrückung als neuer Absatz gerechnet, ausgenommen die beiden eingerückten Zitate des Gedichts (nach Absatz 4) und des Epigramms (Absatz 44).
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III. 1. Einleitung im Rckgriff besonders auf die erste und die zweite Vorlesung (A1 – 2) Es sind zwei Voraussetzungen, die der expliziten Thematisierung der Religion voranstehen und mit ihr erneut zur Diskussion gestellt sind: a) Dass gemäß den beiden im Streit liegenden philosophischen Einstellungen (,zartfühlend‘, d. h. tendenziell idealistisch und religiös orientiert; und ,hartgesotten‘, d. h. tendenziell empiristisch und areligiös orientiert) dem Pragmatismus eine Vermittlungsleistung zukommt (vgl. die 1. Vorlesung). b) Dass diese Vermittlung sich generell und also auch im Falle der Religion auf den lebenspraktischen Nutzen gründet, der gemäß der pragmatistischen Bedeutungstheorie auch den Grundbegriffen des religiösen Glaubens korrespondiert. Allerdings steht dieser Nutzen im Kontext der Wahrheitsüberprüfung, wie sie sich im Konzert aller Erfahrungsdimensionen und Wissenschaftszweige ergibt.17 Der Religion kommt insofern keine Sonderstellung jenseits wissenschaftlicher Überprüfung zu, doch aber die besondere Aufgabe, die Verbindung von ,endlicher Erfahrung‘ und Ewigkeit, Einheit und Absolutheit des ,Universums‘ in einem entscheidenden Sinn zur Diskussion zu stellen (vgl. A1). Warum es sich dabei um einen entscheidenden Test handelt, liegt einfach in der unaufgebbaren Lebensbedeutung, dem persönlichen – wir können hier schon sagen: dem existentiellen Ausschlag, der mit dem religiösen Glauben als fundamentaler Einstellung zu sich selbst verbunden ist. Durch dieses Nadelöhr müssen alle Beurteilungen von Erfahrungen hindurch, weil sie schließlich unsere Erfahrungen sind. Bereits am Ende der 2. Vorlesung war diese Sonderstellung des Religiösen sehr deutlich 17 A2: „And the meaning will be true if the use squares well with life’s other uses“ (Pragmatism, aaO., S. 131). Diese Forderung ist Teil der differenzierten Diskussion des Wahrheitsbegriffs aus der 6. und 7. Vorlesung, vgl. auch H. Deuser Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus (Religion in Philosophy and Theology 12) Tübingen 2004, Kap. III.10. In diesem Zusammenhang ist auch R. Rortys Formulierung zutreffend: „Our responsibility to Truth is not, for James, a responsibility to get things right. Rather, it is a responsibility to ourselves to make our beliefs cohere with one another, and to our fellow humans to make them cohere with theirs“; R. Rorty „Religious faith, intellectual responsibility, and romance“ in The Cambridge Companion to William James, hg. v. R. A. Putnam, Cambridge / New York / Melbourne 1997, S. 85.
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markiert worden:18 Die Entlastungs- und Trostfunktion (,moral holiday‘) des religiösen Glaubens an das ,Absolute‘ ist so überwältigend, dass sie selbst dann nicht aufgegeben wird, wenn der Begriff des Absoluten wissenschaftlich offensichtlich aus methodischen Gründen nicht mehr haltbar erscheint. Genau in diesem Konflikt mit (anderen) theoretischen Wahrheitsüberprüfungen bewährt sich der Pragmatismus, denn dieser muss weder dem ,positivistischen Empirismus‘ noch dem ,religiösen Rationalismus‘ in ihren Konsequenzen um der Konsequenz willen folgen. Allein auf die ,praktischen Konsequenzen‘ zu achten bedeutet für den Pragmatismus, die „bescheidensten und allerpersönlichsten Erfahrungen in Betracht zu ziehen“.19 Hier liegt die Kraft der Religiosität und die Offenheit des Pragmatismus ihr gegenüber, und unvoreingenommene Wahrnehmungen dieser Art zeichnen gerade die wahrhaft kritische Wissenschafts- und Lebenseinstellung aus. 2. Doppelte Auslegung der kosmischen Emotionalitt (A3 – 9) Das ,Absolute‘ nun pragmatistisch in die Diskussion zu ziehen ist deshalb möglich, weil sein ,emotionaler‘ Wert von unübersehbarem Rang ist. W. James konstatiert dies lakonisch als Tatbestand der Religionsgeschichte (A3), und sein Beleg für solche Konkretion des Absoluten, wie es in der 7. Vorlesung bereits herausgefiltert wurde,20 ist – pars pro toto – die indische Mystik. Ganz wie in den Gifford Lectures (1901 – 02) ist es die hymnische Einheit von Seele (Selbst), Welt und Gott, worin die ,kosmische Emotion‘ (A6) erlebt wird. Die zu W. James’ Zeit dafür aktuellen Texte entnimmt er den Vedanta, interpretiert durch den Schüler Ramakrishnas (1834 – 86): Swami Vivekananda, der 1893 in Chicago die Einheit von Wissenschaft und Religion proklamiert hatte.21 Kulturell konkreter noch ist das Gedicht To You von Walt Whitman.22 Es lässt sich unmittelbar in Pragmatism, aaO., S. 43f. Pragmatism, aaO., S. 44. Vgl. Pragmatism, aaO., S. 128. Vgl. M. v. Brück Art. „Hinduismus“ in EKL, Bd. 2, 3. Aufl. Göttingen 1989, Sp. 523 – 530. – Zu den von W. James benutzten Quellen und Texten vgl. W. James Die Vielfalt religiçser Erfahrung. Eine Studie ber die menschliche Natur (The Gifford Lectures, Edinburgh 1901 – 02, „The Varieties of Religious Experience“), übers. u. hg. v. E. Herms, Zürich 1982, S. 373f. u. Anm. 21f., S. 569; S. 468 u. Anm. 28, S. 592f.; vgl. in den Pragmatismus Vorlesungen die 4. Vorlesung, Pragmatism, aaO., S. 74ff. 22 Das Gedicht erschien zuerst 1856 unter dem Titel Poem of You, Whoever You Are; 1860 To You, Whoever You Are; 1867 als No. 4 in der Sammlung Leaves of Grass; 18 19 20 21
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der von W. James gesuchten Ambivalenz des Religiösen auslegen:23 direkt ,monistisch‘, d. h. traditionell im direkten Bezug zum Einen oder Absoluten; und pragmatistisch-pluralistisch in der unaufgebbaren religiösen Funktion des Einen für die Entwicklung und das Verständnis des Vielen. Wenn W. James sagt, das Gedicht sei „emotional and spiritual altogether“ (A3), so hat diese Einstufung eine literarisch respektable, aber doch philosophisch gesehen eigentlich negative Bedeutung: Wie die Religionsgeschichte belegt, haben Menschen sich immer wieder in eine solche (mystische) Einheit göttlicher Weltseele versetzt empfunden, in einem absoluten Du erkannt – und daraus Lebens- und Erkenntniskraft gewonnen. Dem klaren praktischen Effekt steht aber die Kritik am wissenschaftlich eigentlich nicht mehr akzeptablen Monismus gegenüber, wie ihn W. James seit der 1. Vorlesung immer wieder hat zum Zuge bringen wollen: Die Differenz zwischen ,spirituellem Opium‘ (A6) und wissenschaftlich vertretbarem Begriff von Einheit müsse erkennbar werden können. Dann bleibt als positive Interpretation des Gedichts allein die ,pluralistische‘ – man könnte auch sagen: die relativistische –, in der die Einheit des Du auf mögliche Perspektiven funktionalisiert, kurz: auf Mçglichkeiten der produktiven Selbstidentifikation bezogen wird (A7). Damit werden die „monistischen“ Implikationen reduziert und die empirisch-szientifischen propagiert, doch ohne dem scharfen Schnitt gegenüber dem Absoluten das Wort zu reden. Die mystisch-religiöse Einheit verdient pragmatistisch größten Respekt, auch dann, wenn sie sich so einfach und ohne Umstände nicht mehr wiederholen lassen will (A9).
seit 1871 unter dem Titel To You; vgl. die Edition Leaves of Grass. Comprehensive Reader’s Edition, ed. by H.W. Blodgett und S. Bradley. The Collected Writings of Walt Whitman, New York University Press 1965, S. 232 – 235. – W. James zitiert nicht die vollständige Fassung von 1891 – 92, sondern eine Edition der Leaves of Grass von 1872 unter Auslassung einzelner Strophen und Zeilen. 23 Dem entsprechen bis heute die literarisch-philosophischen Interpretationsvorschläge, vgl. für die mystisch-monistische Seite V. K. Chari Whitman in the Light of Vedantic Mysticism. An Interpretation, Universitay of Nebraska Press 1964, S. 78ff.; für die kommunikationstheoretisch-pluralistische Seite E. F. Carlisle The uncertain self: Whitman’s drama of identity, Michigan State University Press 1973, S. 28f.; vgl. auch C. S. Milligan „The Pantheistic Motif in American Religious Thought“ in Religion and Philosophy in the United States od America, ed. by P. Freese, Essen 1987, vol. II, S. 583 – 602; hier S. 584ff.
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3. Die religionskritische Bedeutung des Pluralismus (A10 – 15) Über die Frage eines Zuhörers der Vorlesung präzisiert W. James die Differenz zwischen der ,monistischen‘ und der ,pluralistischen‘ ,Interpretation des Weltgedichts‘ (A13): Wissenschaftliche Methoden der Moderne und das ihnen korrespondierende Wahrheitsbewusstsein verlangen beständige Korrekturen und den Einsatz für immer bessere und neue Lösungen, die nicht von vornherein fixiert sein können (A11) – das ist das Credo des Pluralismus. Demgegenüber bleibt aber das existentiell einschneidend empfundene Defizit, die eigene Endlichkeit und Kontingenz durchzuhalten, ohne darin zu verzweifeln (A12). Denn eine solche Konsequenz würde auch die pluralistische Forschungs- und Wahrheitsperspektive zerstören. Deshalb erscheint es in gewissem Sinne notwendig, trotz des Pluralismus an einer ,logischen Einheit‘ (A12) der Welt festzuhalten.W. James versteht diese Rückfrage nun nicht einfach als sympathische Apologie der mystischen Einheit im Sinne des Gedichts von W. Whitman, sondern er greift philosophisch ein und macht folgende Differenz geltend: Es ist ein Unterschied, gegen den wissenschaftlichen Pluralismus sozusagen ,hinter‘ ihm liegend eine ,rationale Einheit der Dinge‘ zu postulieren (A14) – diesen (scholastischen oder idealistischen) Monismus hält W. James für unwiederholbar; oder vorausschauend die ,mögliche empirische Vereinigung‘ zu erwarten. Die damit von W. James in philosophischer Perspektive verlangte Klarheit (A15) läuft folglich darauf hinaus, das angeblich gewusste und feststehende ,notwendige Prinzip‘ der Einheit und ,Perfektion der Welt‘ durch deren ,mögliche‘ Zielbestimmung (A14) aufgrund empirischer, ,pluralistisch-melioristischer‘ (A13) Arbeit zu ersetzen. Ist diese Wendung dem Einwand aber angemessen? Selbst wenn W. James’ Interpretation des ,rückwärts‘ gewandten Einheitsgedankens zutreffen sollte, ausschlaggebend ist eigentlich nicht die Richtung, sondern die unterstellte oder herzustellende Realitt dieses Einheitsbezugs. Zwischen Monismus und Pluralismus steht nicht nur eine Blickrichtung, sondern die (existentielle) Frage nach Gewissheit. W. James unterstellt dem Monismus die unbegründete und unbegründbare Einheitsvoraussetzung sozusagen vor aller Zeit, schließt ihn also vom wissenschaftlich begründeten Fallibilismus – um es mit C.S. Peirce’ Prinzip zum Ausdruck zu bringen24 – von 24 Vgl. zum methodischen Prinzip des ,Fallibilismus’ – der allerdings im Kontext der Philosophie des ,Kontinuums’, des ,Synechismus’ vorgetragen wird – Charles Sanders Peirce: Religionsphilosophische Schriften, hg. v. H. Deuser, Hamburg 1995, Text II. 5.
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vornherein aus. Umgekehrt sieht er im Pluralismus die wissenschaftlich gebotene Offenheit von Möglichkeiten, klärt aber zunächst nicht, ob es sich – um es wiederum mit C.S. Peirce zu sagen25 – um die nominalistische Beliebigkeit von irgendwelchen Ausgängen handeln wird, oder ob mit der von W. James in Aussicht gestellten, zukünftig mçglichen Vereinigung im Sinne der vom Fragesteller gesuchten existentiellen Gewissheit eine reale Erwartung begründet und gemeint sein soll. Wiederum ist es offensichtlich die Religiosität, an der sich diese Frage entscheidet. 4. Die pragmatistische Interpretation der Mçglichkeit (A16 – 23) W. James selbst spielt im folgenden Begründungsschritt auf die scholastische Unterscheidung von Nominalismus und Realismus an, wenn er fragt, ob die religiös gesuchte, vorausgesetzte und erwartete Einheit ein universale ,ante rem‘ oder ,in rebus‘ sei (A16). Wiederum bleibt es bei der dualen Entgegensetzung von Monismus oder Pluralismus, den beiden Perspektiven nach rückwärts oder vorwärts, der Entscheidung zwischen Anfangsprinzip oder Zielorientierung (A16 – 17). Religiös gesprochen wäre das die Alternative zwischen der notwendigen oder der mçglichen Erlösung der Welt (A17). Was aber heißt Mçglichkeit? W. James’ betont ,pragmatische Methode‘ (A18) der Begriffsklärung liefert dazu drei Bestimmungsstücke: a) Die Behauptung der Möglichkeit steht gegen die Modi des Unmöglichen, Wirklichen, Notwendigen (A19), d. h. etwas als möglich zu erklären umschreibt einen ausgesprochen weiten Geltungsbereich. b) Wenn etwas in Wahrheit möglich ist, so ist es jedenfalls nicht real unmöglich, weil keine prinzipiellen Verhinderungsmomente gelten können. Dass dieser Begriff des Möglichen ,abstrakt‘ genannt wird (A20), liegt einfach daran, dass zwischen unmçglich und mçglich zunächst eine logische Differenz alles entscheidend ist, die bezüglich des Wirklichen und Notwendigen als positiv entschieden vorausgesetzt werden muss.26 c) Damit ist der Begriff des real oder konkret Möglichen erreicht, mit dem W. James diese Erörterung plastisch beschließt: „Ein mögliches Huhn bedeutet ein wirkliches Ei“ (A21). Ist damit aber die Frage nach der nominalistischen oder realistischen Bedeutung der Mçglichkeit beantwortet? Im Sinne der realen Möglichkeit des Wachstums (des Huhns aus dem Ei) wäre analog die Möglichkeit der Erlösung (A22) im Zusammenhang der 25 Vgl. Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 187f., 196ff. 26 Zur Diskussion der Modalitäten im Blick auf den Kontingenzbegriff vgl. H. Poser und H. Deuser Art. „Kontingenz“ in Theologische Realenzyklopdie Bd. 19 (1990), S. 544 – 559.
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empirischen – und wissenschaftlich pluralistischen – Entwicklung des Universums als real aufzufassen. Ist die behauptete Möglichkeit aber nicht wahr, so zerfällt die gesuchte Gewissheit bzw. deren Klärung zugunsten ungewisser Ausgänge des allgemein und abstrakt Möglichen. W. James optiert ohne Zweifel für ein universale in rebus – und verwirft als rückwärtsgewandten Monismus das universale ante rem. Ob aber das empirisch klingende in rebus im Sinne des Realismus zu verstehen ist, bleibt noch unklar.27 5. Die Lehre des Meliorismus (A24 – 28) Die existentielle Frage nach Gewissheit war bereits als ,pluralistischmelioristische‘ (A13) Option interpretiert worden,28 d. h. der Möglichkeitsbegriff enthält offensichtlich auch die lebenspraktische Entscheidung für die besseren Entwicklungsmöglichkeiten – und damit gegen die schlechteren. W. James hatte bereits in der 6. Vorlesung dem Wahrheitsbegriff diesen Akzent der Zukunftsoffenheit gegeben: Wenn Wahrheit – wiederum mit Peirce gesprochen – ,in the long run‘29 korrekturfähig und zielorientiert praktisch zum Zuge kommen soll, dann spielt der gegenwärtige Einsatz für die Wahrheit eine entscheidende Rolle, und so versteht W. James das Kierkegaard-Zitat „Vorwärts zu leben, aber rückwärts zu verstehen“.30 Die neuen Möglichkeiten müssen riskiert werden, und in dieser existentiellen Betrachtungsweise findet sich 27 Es ist aufschlussreich und zeigt die Bedeutung dieser Frage, dass J. Dewey später die Begründung von Religiosität allein im Begriff des ethisch Möglichen fundieren wird, vgl. J. Dewey „A Common Faith“ (1934) in The Later Works, 1925 – 1953. Vol. 9: 1933 – 1934, ed. by. J. A. Boydston, Carbondale / Edwardsville: Southern Illinois University Press 1989, S. 1 – 58; hier bes. S. 17, 30, 33f. 28 Vgl. bereits in der 1. Vorlesung (PM, 14): „The evil of the parts is undeniable; but the whole can’t be evil: so practical pessimism may be combined with metaphysical optimism.“ – Vgl. in der 3. Vorlesung (Pragmatism, aaO., S. 60f.) „free will as a melioristic doctrine“ und (Pragmatism, aaO., S. 61): „Surely the only possibility that one can rationally claim is the possibility that things may be better.“ 29 Pragmatism, aaO., S. 106f. 30 Pragmatism, aaO., S. 107. Vgl. dazu Deuser Gottesinstinkt, aaO., (s. o. Anm. 17) – W. James übernimmt das Zitat vermittelt durch H. Høffding „A Philosophic Confession“ in The Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods 2 (1905), S. 85 – 92; hier S. 86, vgl. auch S. 90. – Umgekehrt stellt H. Høffding einem seiner Kapitel der Religionsphilosophie ein Mottozitat aus W. James’ The Will to Believe voran: „There are cases, where faith creates its own verification.“ Vgl. H. Høffding Religionsfilosofi, 3. Aufl. Kopenhagen 1924, S. 216; The Will to Believe. The Works of William James, Cambridge: Harvard University Press 1979, S. 80.
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der Möglichkeitsbegriff in verändertem Kontext, nämlich in der Gegenstellung von pessimistischer oder optimistischer Grundeinstellung (A24f.). Dass für W. James Schopenhauers Empfehlung der tendenziellen Selbstaufgabe im Sinne indischer Religiosität gerade keine passende pragmatistische Lösung bietet, ist auf dem Wege zu einer melioristischaktiven Prozess- und Wahrheitsbestimmung des Universums selbstverständlich (A26).31 Aber auch ,indifferent‘ oder ,neutral‘ kann sich in diesen Fragen kein Mensch, der ernst genommen werden will, verhalten wollen: Es geht um die Grundeinstellung zum ,Universum‘ (A24). Was aber spricht denn für den zu wählenden Meliorismus, dass uns Menschen nämlich die Erlösung der Welt mehr am Herzen liegen sollte als ihre pessimistische Ignoranz oder Verachtung? W. James’ Begründung besteht nicht in einem metaphysischen Realismus (und hier liegt die entscheidende Differenz zu C.S. Peirce’ Pragmatizismus),32 obwohl sich die Fragestellung bisher so zu entwickeln schien, sondern sie besteht im Wechsel von der theoretischen auf die praktische Ebene der Lebensentscheidung. Der Möglichkeitsbegriff wird gefasst als Einsatz für bestimmte Möglichkeiten, die sich – unter gegebenen Umständen – einem Lebensentwurf jeweils darbieten: Handlungsmöglichkeiten (,our act‘), und zwar unter den existentiellen Entscheidungskategorien der ,Fülle der Zeit‘ und der sich im Sprung erschließenden konkreten Realisierungschancen (A28). Die Entsprechungen zur Begrifflichkeit in Kierkegaards
31 Zu Schopenhauers religionstheoretischer Differenzbildung zwischen ,optimistisch oder pessimistisch’ bzw. zur Bevorzugung des Buddhismus aus diesem Grunde vgl. A. Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung II in Smtliche Werke, Bd. II, Darmstadt 1976 (1. Buch, 17. Kap.: „Über das metaphysische Bedürfnis des Menschen“), S. 218ff. – Vgl. auch die deutliche Abwehr gegenüber Nietzsche und Schopenhauer, wie sie W. James bereits in den Gifford Lectures formuliert hat, Die Vielfalt religiçser Erfahrung, aaO., S. 48: „Die Stimmung eines Schopenhauer oder Nietzsche […] ist, obwohl oft eine erhebende Trauer, fast ebenso oft nur Übellaunigkeit, die sich – ihre Beute im Maul – davonmacht. Ein übers andere Mal erinnern einen die beiden deutschen Autoren an das kranke Pfeifen zweier Ratten im Todeskampf. Ihnen fehlt der reinigende Ton, den religiöse Trauer von sich gibt.“ 32 Mit diesem Begriff markiert Peirce seit 1905 die realistischen und metaphysischkosmologischen Kontexte seiner Philosophie und grenzt sie damit energisch gegenüber dem als nominalistisch empfundenen populären Pragmatismus ab, vgl. H. Deuser „Einleitung“ in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. XXVII-XXXV.
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existenzdialektischer Philosophie und Theologie sind nicht zu überhören.33 6. Die existentielle Wendung im Handlungsbegriff (A29 – 33) Wenn es – metaphysisch zugespitzt – um die Frage geht, wie es zum schöpferischen Akt dessen überhaupt kommen kann, was wir die ,Erlösung der Welt‘ nennen können (A29), bzw. was die Welt einheitlich (und damit rational) überhaupt zusammenhält (A32), so antwortet W. James nun folgerichtig nicht mit einer allgemeinen Metaphysik oder monistischen Rationalität, sondern er geht mit dem religiösen Glauben in die lebenspraktische Überzeugungskraft von Einheitsbildungen (A30), fürchtet nicht den Vorwurf der Irrationalitt (A31) und gibt als real wirkende – und erlösende – Einheitskraft die Lebendigkeit selbst an, soweit sie Menschen zukommt: ihren Lebenswillen, der Wunsch, da zu sein (someone wishes it to be here) (A32). Damit hat W. James allerdings einer umfassenden Willens- oder Wunschmetaphysik nur unter Vorbehalt Raum gegeben, sofern es empirisch (,hartgesotten‘) gesehen dabei bleibt, dass das menschliche – und in gewissem Sinne ,absolute‘ – Selbst ein Selbst unter gegebenen Umständen ist: geprägt von jeweils anderen Menschen und ihren Wunschrealisierungen ebenso wie den welthaft vermittelnden Bedingungen (A33). Mit anderen Worten: Die metaphysisch gesuchte Entwicklungsfähigkeit, das Wachstum des Seins geschieht unter endlichen Bedingungen im kompromisshaften 34 Zusammenwirken der kreativen Wunscheinheit menschlicher Handlungen (A29) mit den vorgefundenen Bedingungen (A33). 7. Wachstum des Universums und mit-schçpferische Handlung (A34 – 37) Im folgenden Begründungsschritt wird die Bildkraft eines aufgrund von menschlichem Einsatz wachsenden Universums noch verstärkt. W. James lässt die prä-kreatorische Szene erstehen, in der Gott dem Menschen eine Schöpfung vorschlägt, die das Risiko unabgesicherter Einheitsbildung mit dem Abenteuer menschlicher Co-operatio verbindet. Ein Weltentwurf, der genau nach dem Muster einer ,lebendigen Hypothese‘ 33 Zum eschatologischen Augenblick der ,Fülle der Zeit’ vgl. Gal 4, 4 und S. Kierkegaard Philosophische Brocken (I. Kap. B. b) in SKS 4, 226 / GW1 6, 16; zur Kategorie des Augenblicks und Sprunges S. Kierkegaard Der Begriff Angst (I. Kap., § 2) in SKS 4, 338 / GW1 7, 29, (III. Kap., Einl.), S. 384 – 396 / 82 – 95. 34 Pragmatism, aaO., S. 139: „from compromise to compromise, only gets organized gradually into what may be called secondarily rational shape.“
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eingeführt wird, wie sie W. James 1896 mit dem Vortrag Der Wille zum Glauben zur Diskussion gestellt hatte: „Das Maximum an Lebendigkeit ist einer Hypothese dann eigen, wenn die Willigkeit, unwiderruflich zu handeln, vorhanden ist. Eigentlich spricht man nur in diesem Fall von ,Glauben‘“.35 Entscheidungssituation und Hypothesenlebendigkeit liegen also ineinander: Würde im Ernst ein gesunder Mensch vor einem solchen Universum, dass die eigene Tatkraft zu seinem Werden verlangt, zurückscheuen? Dass dies nicht der Fall ist, macht die dadurch akzentuierte Rationalitt dieses Weltentwurfs aus und entspricht der ,robusten Geistesart‘ (A36), wie W. James hier mit dem religionstypologischen Grundbegriff der Gifford Lectures sagt.36 Wie theologisch bewusst und konsequent diese Hypothese zu verstehen ist, zeigt die ausdrückliche Verbindung des göttlichen Schöpfungsaktes mit dem menschlichen: Wir würden „dem fiat des Schöpfers unser fiat hinzusetzen“ (A37).37 Zögern lässt allein die Einsicht in die Schwachheit und das Scheitern von Menschen, die, wie im Bild des verlorenen Sohnes (A37),38 die schöpferische Kraft zum offenen Risiko nicht aufbringen und zum monistischen oder idealistischen Vater / Gott zurückfliehen müssen. Das aber führte zu einem ,Universum‘ der schwachen Wünsche, entspräche nicht der Prozesskraft ,der Mutter Natur‘ (,old nurse Nature‘) (A36).
35 W. James „Der Wille zum Glauben“ in Texte der Philosophie des Pragmatismus, hg. v. E. Martens, Stuttgart 1975, S. 128 – 160; hier S. 129. Vgl. „The Will To Believe“ and other essays in Popular Philosophy, New York (1897) 1956, 3: „The maximum of liveness in an hypothesis means willingness to act irrevocably. Practically, that means belief“. 36 Vgl. die Überschrift der 4. u. 5. Vorlesung „The Religion of Healthy-Mindedness“ in The Varieties of Religious Experience, ed. by A. D. Nock (1960), Glasgow 1985; dt. Die Vielfalt religiçser Erfahrung, aaO.: „Die Religion der robusten Geistesart“. – Dass ,tough-mindedness’ (in den Pragmatismus Vorlesungen) und ,healthy-mindedness’ (in den Gifford Lectures) voneinander unterschieden werden sollten, wie Perry notiert, ist zumindest im Kontext der 8. Vorlesung nicht zu begründen; vgl. R. B. Perry The Thought and Character of William James, Boston / Toronto 1935, vol. I-II; hier II, S. 324, Anm. 3. 37 Vgl. auch in den Gifford Lectures, am Ende der 20. Vorlesung, The Varieties of Religious Experience, aaO., S. 473: „Wer weiß, ob nicht die Treue, mit der einzelne Menschen hienieden an ihren eigenen armseligen Formen von ÜberGlauben festhalten, wiederum Gott wirklich dabei helfen kann, auf wirksame Weise seinen eigenen größeren Aufgabe die Treue zu halten?“ 38 Vgl. Lk 15, 11 – 32.
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8. Die religiçs alternativen Einstellungen (A38 – 40) Mit der Wendung zur existentiellen Handlungsbestimmung hängt die religiöse Typisierung aufs Engste zusammen. Entsprechend den Gifford Lectures und ihrer Typologie der zwei Menschenklassen: denen der ,robusten Geistesart‘ (,healthy-mindedness‘) und denen der ,kranken Seele‘ (,sick soul‘) – und synonym damit der ,einmal geborenen‘ (,onceborn‘) und den ,zweimal geborenen‘ (,twice-born‘) Charakteren,39 wendet W. James jetzt die alternativen Einstellungen, wie sie die Pragmatismus Vorlesungen von Beginn an vorgetragen hatten, auf die Frage nach der (tröstlichen) Einheit oder (risiko-offenen) Vielheit des Universums an. Die mystische bzw. monistische Tradition der All-Einheit, wie sie erneut mit den asiatischen Religionen illustriert wird (A38), entspräche dann dem religiösen Trostbedürfnis bzw. der menschlichen Schwäche, dem ausgangsoffenen Erfahrungsprozess nicht ins Gesicht sehen zu können. Der ,zartfühlende‘ religiöse Charakter schreckt entsetzt vor der harten Realität des unabgesichert zu lebenden Universums zurück (A39): im pathologischen Affekt der ,kranken Seele‘. Umgekehrt müsste dann die Kraft, sich dem pluralistischen Erfahrungsuniversum zu stellen, der ,robusten Geistesart‘ bzw. hier dem ,hartgesottenen‘ Charakter entsprechen (A40). Die religiöse Einheit wäre nur als Therapie für kranke Seelen empfehlenswert, der mutige Pluralismus aber, so wäre dann zu schließen, brauchte keine Religiosität, es sei denn, in seinen schwachen Stunden. Das Problem mit dieser alternativen Typologie ist allerdings ein doppeltes: Erstens liegt es religionspsychologisch im Sinne der Gifford Lectures gerade umgekehrt so, dass die Spannungskräfte der Religiosität der kranken Seele überhaupt erst die Tiefenstrukturen des menschlichen Daseins und damit seines Bezugs zum Inbegriff aller Erfahrung – ihrer Einheit oder Vielheit – aufdecken hilft, während die Robustheit des gesunden Welt- und Selbstverhältnisses naiv – und für die Analyse eher langweilig – die Dinge eben nimmt, wie sie nun einmal sind. Dann würde W. James durch die Anwendung der analogen Typologie in der 8. Vorlesung über Pragmatismus diese Auszeichnung des komplexen religiösen Charakters gerade verloren geben, wenn für Robustheit und gegen die Schwäche der kranken Seele entschieden würde. Zweitens liegt auch eine interne Schwierigkeit in den Vorlesungen selbst vor, denn warum sollte die ,hartgesottene‘ Einstellung – weil mit dogmatischer Entschie39 Vgl. The Varieties of Religious Experience, aaO., die Vorlesungen, S. IV-V und VIVII.
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denheit vorgehend – nicht dem idealistischen Monismus und die ,zartfühlende‘ Einstellung – weil differenzierter denkend – nicht dem wissenschaftlichen Pluralismus zugeordnet werden? Das ausschlaggebender Kriterium ist hier offenbar nicht die Phänomenologie beider Charaktere, sondern allein der religiös-dogmatische Entscheidungspunkt: Wie wird Offenheit bzw. Geschlossenheit des Universums existentiell verkraftet. Unter diesem – und eigentlich nur unter diesem – Aspekt geurteilt erscheint der Monismus schwach und der Pluralismus stark; unter den Aspekten der religiösen Komplexität, der Aufmerksamkeit, Beobachtungsfähigkeit oder der Sensibilität für die eigene wie die äußere Natur müsste umgekehrt entschieden werden: Zartfühlende Pluralität und hartgesottener Dogmatismus lassen sich hervorragend vereinbaren. W. James spürt selbst das Problematische an dieser Lösung und entdeckt, dass der nun von ihm ausgezeichnete hartgesotten-pluralistische Typus vielleicht gar nichts mehr mit Religiosität zu tun haben könnte, man könnte den Mut zum pluralistischen Forschungsrisiko ebenso gut als moralisch einstufen (A40). Wozu dann noch Religiosität? 9. Zur Typologie des Religiçsen (A41 – 42) Dass W. James aufgrund der vorgenommenen Typologie die Religiosität hier nicht verabschiedet, erscheint auf den ersten Blick inkonsequent; dass er sie weiterhin braucht, hat offenbar zwei Gründe: Erstens lässt sich an den beiden Typen religiöser Welt- und Gottesbeziehung40 das (metaphysische) Grundproblem der modernen Philosophie am schärfsten fassen:41 Gibt es – in unserer (durch die Naturwissenschaften präformierten) Lebens- und Erfahrungswelt – eine Voraussetzung von Einheit oder abgesicherte Orientierung auf Einheit hin, oder muss diese über Auswahlentscheidungen erst hergestellt werden (A41)? Wiederum fällt auf, dass diese existentielle Wendung der Fragestellung nicht eigentlich zwingend erscheinen muss. W. James’ Pragmatismus lässt es zwar nicht zu, die Frage nach Einheit / Vielheit als im scholastischen Sinne metaphysische Quaestio zu diskutieren, trotzdem aber wäre eine naturphilosophische, methodische, erkenntnistheoretische Problemanalyse denkbar. Für W. James ist aber mit dem Pragmatismus die (erfahrungswissenschaftlich motivierte) Entscheidung zugunsten des Methoden40 Hier (A41) wiederum in der Sprachform der Gifford Lectures: ,healthy-minded’ / ,sick-minded’. 41 Vgl. in A41: „the final question of philosophy“ – auch im Rückverweis auf die 4. Vorlesung!
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pluralismus und damit implizit auch einer pluralistischen, jedenfalls nicht mehr vorweg einheitlich bestimmten Welt längst gefallen.42 Andererseits aber bleibt er, wie die 4. Vorlesung im Verweis auf Mystik und Religion43 selbst schon anzeigt, um der menschlichen Lebensführung willen dem Problem der Einheit verpflichtet – und dieses Verpflichtetsein nährt sich allein aus dem unverminderten Erfahrungsschatz der Religiosität. Denn sie ist es, die bedingungslos nach der ,Rettung‘ des Vielen, des Widersprechenden und des Absterbenden fragt (A42). Weiterhin fällt auf, dass die existentielle Wendung gar nicht als ausschließende Alternative konzipiert ist, wie es zunächst zu sein schien (vgl. A40), sondern als Differenz einer radikalen Voraussetzung von Einheit (im veralteten und nicht mehr gerechtfertigten, allenfalls therapeutischen Sinn von Religiosität) – und einer weniger radikal und umfassend gedachten, dafür aber in die Zukunft verlegten Einheit, die dadurch nicht etwa vergessen geht, sondern gerade als Orientierungskraft individueller Entscheidung und aktiver Teilnahme jetzt erst wirklich auftritt. Denn philosophisch genügt nicht die praktische Auskunft, Menschen wie ihre (impliziten) philosophischen Einstellungen seien ohnedies immer Mischformen der hier idealisiert vorgestellten Typisierungen (A42). Es muss also doch zur theoretischen Entscheidung zwischen ,hartgesotten‘ oder ,zartfühlend‘, pluralistischer oder monistischer Orientierung kommen. W. James’ Pragmatismus aber, der von Beginn an auf die Differenz dieser beiden philosophischen ,Temperamente‘ zielte,44 kann jetzt deren plausible und die Pluralismusentscheidung überdauernde Kraft allein über die Religiosität begründen. Negativ wirkt die Vielheit des modernen Erfahrungsund Methodenbewusstseins darin, dass ganz entschieden den immer relativen Optionen und Optimierungen nachgegangen werden muss. Das biblisch geforderte ,Ja, ja‘45 lässt sich nicht mehr durchhalten (A41), ein schneidendes ,Nein‘ durchzieht das Universum (A42); und das nicht zum Schweigen und nicht zur agnostischen Neutralität zu bringende Gefühl für Verlust und Leiden stammt aus derselben Religiosität, die eigentlich schon verabschiedet schien. W. James‘ Festhalten an der religiösen
42 Vgl. die acht Einheitsgesichtspunkte (Pragmatism, aaO., S. 66 – 71) als philosophische Reminiszenz in der 4. Vorlesung und das pluralistische Resultat am Ende (Pragmatism, aaO., S. 79). 43 Pragmatism, aaO., S. 76. 44 Vgl. die 1. Vorlesung und s. o. Anm. 2. 45 Mt 5, 37.
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Funktion verdankt sich der Theodizee-Problematik,46 sie steht hinter seiner metaphysischen Frage nach der drohenden Absolutheit von zerfallender Vielfalt. 10. Die eigene Entscheidung: Mut zum (pluralistischen) Glauben (A43 – 45) Die nächste Steigerung in W. James’ existentieller Beantwortung der metaphysischen Fragestellung besteht konsequent in der Anwendung auf die eigene Person. Sie allein steht für das Festhalten an Religiosität und die Entschiedenheit, dem Pluralismus ins Auge zu sehen. Die Verbindung beider Aspekte, trotz Vielfalt Religiosität gerade nicht verloren gehen zu lassen, bedeutet allerdings, „die Behauptung vollständiger Versöhnung aufzugeben“ (A43). Die Theodizee wird vom objektiv unlösbaren Problem auf den persönlichen Glaubensakt (faith) verlagert. An die Stelle rückwärts gewandter, billiger Vertröstung (A43; vgl. A37) tritt der Mut, sich den ,wirklichen Gefahren und Abenteuern‘ des Universums auszusetzen, und der Gegensatz von Monismus oder Pluralismus, ,hartgesotten‘ oder ,zartfühlend‘, ,robust‘ oder ,kranke Seele‘ wird überführt in ein existentiell entschiedenes – zu lebendes und zu ertragendes – Spannungsfeld, in dem die Einheit sich (möglicherweise) ergeben wird, und allein dies ist Verheißung genug (A43). Dass damit die Religiosität nicht verschwindet, auch dann nicht, wenn die proklamierte persönliche Entschiedenheit eigentlich auch als ,moralisch‘ gelten kann (A43), liegt daran, dass die letzten Motive, zwischen Verlust oder Versöhnung zu entscheiden, in der Person verborgen liegen. Das Pathos puritanischen Selbstopfers47 für die gute Sache Gottes – und gelte es auch das Leben – wird moralisch-religiös in die existentielle Grundentscheidung des Wagnisses für das Gute und gegen das Böse überführt. Weil eine Theodizee des Ganzen der Erlösung nicht mehr denkbar erscheint, liegt die Rettung im mutigen Glaube-Handlungs-Zusammenhang auf ein ret46 Der Begriff Theodizee war in metaphysikkritischer, polemischer Absicht in der 1. Vorlesung (vgl. 18) genannt worden (gegen Leibniz), fällt hier im Kontext der 8. Vorlesung aber nicht. 47 Verbunden mit dem Epigramm des Schiffbrüchigen (A44), in der Übersetzung von W. Jerusalem Der Pragmatismus, aaO., S. 190: „Mein Schiff zerbrach, und ich bin hier begraben, / Nur weiter segle Du! / Die Schiffe auch, die scheitern mich gesehen haben, / Sie fuhren ruhig zu.“ – Der Text ist, laut Auskunft der Hgg. der Works of William James, überliefert von Theodorides of Syracuse, in Selections from the Greek Anthology, ed. by G. R. Thomson (pseud.), trans. by H. Wellesly, London: Walter Scott 1889, S. 275. – Vgl. Anthologia Graeca, Bd. II, VII: Grabepigramme, Epigramm 282, hg. v. H. Beckby, München 1957.
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tendes Universum hin (A44). Dieses Universum trägt seine pluralen Ausfälle ebenso wie die Hoffnung aufs Gelingen. Die vorweg ,unabgesicherten Möglichkeiten‘ verlangen diesen Mut und Willen, um das zu realisieren, was als Ideal selbst vorausgesetzte metaphysische Realität nicht mehr haben kann (A45). Pragmatismus bedeutet also, in eigener Person den Einsatz zu wagen, damit das Universum partiell immer wieder wird, was es in religiöser Erwartung sein könnte: nicht verloren, sondern gerettet. 11. Die pragmatistische Gott-Hypothese (A46 – 49) Der von W. James immer wieder eingesetzte Ziel- und Orientierungsbegriff des Universums ist es, an dem allein das Gegengewicht zur existentiellen Entscheidung hängt. Denn wären Einheit oder Vielheit keine Eigenschaften des Universums selbst, würde ihre Herstellung ganz auf die existentielle Entscheidung zurückfallen. Das Festhalten an der Bedeutung von Religiosität, so war W. James in den letzten Begründungsschritten zu verstehen, zeigte bereits, dass die Alternative von Einheit contra Vielheit auch nicht so verteilt werden kann, als sei das Universum das Viele, die Einheit aber würde nur subjektiv produziert. In diesem Fall würden die religiösen Motive nur vorübergehende therapeutische Funktion habe, keinen realen Wert und also überflüssig werden. Die existentielle Wendung des Absoluten zum als handlungsbestimmenden Letzten hingegen verlegt Vielheit und Einheit in einen sie beide integrierenden Prozesszusammenhang – des Universums, in dem Vielheit auf Einheit hin und damit der ,Wille zum Glauben‘ (und der Mut zum Handeln auf Rettung hin) Sinn machen. Dem so interpretierten Begriff Universum kommen in W. James’ Kontext offensichtlich zumindest drei Bedeutungen zu: a) Im naturwissenschaftlichen Denkzusammenhang geht es um die Forschungsperspektiven und empirischen Daten des evolutionistischen Universums, d. h. Welt im kosmologischen Sinn. b) Dieser kosmologische Aspekt ist in der Tradition des amerikanischen Transzendentalismus aber zugleich über den deutschen Idealismus, die Romantik und die spirituelle Naturphilosophie Swedenborgs mitzuverstehen. R.W. Emersons Essay Nature (1836) bringt einen Zusammenklang dieser Traditionen religiös-kosmologischer Naturverehrung, die aus dem Zusammenstimmen von Selbst und Universum herauswächst.48 c) 48 Vgl. R. W. Emerson Die Natur. Ausgewhlte Essays, hg. v. M. Pütz, Stuttgart 1990, S. 83ff.; vgl. auch die Einleitung des Hg., aaO., S. 54ff., und seine Erläuterungen zum Einfluss E. Swedenborgs, aaO., S. 305f., Anm. 29.
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Schließlich bleibt bei aller naturwissenschaftlichen Kritik am transzendentalistischen Naturbegriff 49 W. James diesem doch verwandt, indem er das emotionale Weltverhältnis als den religiös-existentiellen Zusammenhang von Glauben (faith) und Universum auf neue Weise herausarbeitet.50 Im Universum realisieren sich die religiösen Ideale – und das nicht nur in der Gemeinschaft der Menschen, sondern im Sinne der religiösen Hypothese durchaus als ,superhuman forces‘ (A46). Auch an dieser letzten Begründungsstelle der 8. Vorlesung mag es auf den ersten Blick überraschend erscheinen, dass W. James nun doch eine positive Relation zur ,Theologie‘, zur ,superhuman hypothesis‘ Gottes vorträgt. Doch ist, wie zuvor, beim Festhalten der Bedeutung von Religiosität wiederum zu beachten, dass W. James zwar aus rein wissenschaftstheoretischen Gründen dem Pluralismus pragmatistisch zustimmen muss, dies aber immer unter Bewahrung des emotionalen Einheits-, Lebens- und Rettungsinteresses tut. Der Pragmatismus will methodisch vermitteln, und das kann er an dieser metaphysischen Stelle nur mit Hilfe der Religiosität: Wenn das Universum nichts Anderes wäre als eine Ansammlung von empirischen Daten auf der einen Seite und eines moralischen Einheits- und Gestaltungswillens auf der anderen, so zerfiele die 49 Vgl. E. Herms „William James: Freiheitserfahrung und wissenschaftliche Weltanschauung“ in Grundprobleme der großen Philosophen, hg. v. J. Speck: Philosophie der Neuzeit V, Göttingen 1991, S. 68 – 114; hier S. 87f. – Vgl. ders. Radical Empiricism. Studien zur Psychologie, Metaphysik und Religionstheorie William James’, Gütersloh 1977, hier bes. S. 25ff. (zur ,christlichen Philosophie’ von W. James’ Vater Henry James). – W. James steht damit der Position der „Unendlichkeit als Anschauung und Gefühl“ in Schleiermachers Reden ber die Religion, vgl. vor allem die 2. Rede, nahe, nur dass die von Schleiermacher vorgenommene Differenz zur Moralität (nach dem Muster von Kants praktischer Philosophie) keine entscheidende Rolle mehr spielt und die inzwischen für W. James selbstverständlichen Erfolge der naturwissenschaftlichen Methode ein anderes Gewicht bekommen haben. Vgl. F. D. E. Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe, hg. v. H. Fischer et al., 1. Abt. „Schriften und Entwürfe“, Bd. 12, Berlin / New York 1995. – Zum systematischen Vergleich Schleiermacher – W. James s. auch E. Herms Radical Empiricism. Studien zur Psychologie, Metaphysik und Religionstheorie William James’, Gütersloh 1977, S. 102, 265. 50 Vgl. E. Herms „William James: Freiheitserfahrung und wissenschaftliche Weltanschauung“ in Grundprobleme der großen Philosophen, hg. v. J. Speck, Philosophie der Neuzeit V, Göttingen 1991, S. 71, mit dem Hinweis auf die Synonyme: ,theory of the cosmos’, ,view of the universe’,’philosophy’, ,vision of life’, ,Weltanschauung’; aaO., S. 102: „Die alte, aus der Tradition des transzendentalistisch umgeformten Protestantismus sich ergebende Sicht des Kosmos ,as if he had some life in it’ […] war rehabilitiert.“
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Einheitssehnsucht zur subjektiven Illusion. Hat das Universum selbst aber, weil das menschliche Wissen und Glauben in ihm sich entwickeln, Einheitstendenzen zu bieten, auf die der Wille zum Glauben eingeht, so ist der nominalistische Illusionsverdacht gebannt und die Realität der ,superhuman hypothesis‘ ins Spiel gebracht. In diesem Sinne kann von Gott gesprochen werden; und in diesem Sinne allein ist es keine Banalität und kein Zirkelschluss, wenn W. James zuletzt auf den pragmatistischen Grundsatz zurückkommt: „wenn die Gott-Hypothese im weitesten Sinne des Wortes zufriedenstellend funktioniert, ist sie wahr“ (A47). Wahr ist sie im Zusammenhang menschlicher Erfahrungen, die W. James in den Gifford Lectures ausdrücklich in dieser Hinsicht analysiert und mit der Tendenz der Verteidigung der Gott-Hypothese zusammengefasst hat.51 D. h. zwischen den Vorlesungen von 1901 – 02 und 1906 – 07 ist in dieser Hinsicht ausdrücklich keine Differenz (A47). Der Atheismus würde dagegen fälschlich etwas negativ fixieren, was positiv als religiöses Verhältnis zwischen Selbst und Universum gerade realistisch offengehalten werden muss: die religiösen Erfahrungszeugnisse liegen vor und belegen, dass es ,höhere Mächte gibt‘ (A47). Die ,zartfühlenden‘ Menschen waren ohnedies Anlass genug, an diesem Punkt nicht voreilig für eine empiristische und gefühllose Neutralität des Universums zu votieren (A48). Der Pragmatismus plädiert für ein Bündnis zwischen pluralistisch bestimmter Wissenschaftsauffassung und religiös-moralischer Entschiedenheit, dem Universum das Beste abzugewinnen, weil es diese Möglichkeiten selbst präsentiert und enthält. Dies, so W. James zum Schluss, will er getrost als Theismus im ,pragmatistischen und melioristischen Typus‘ bezeichnen (A49).
IV. Selbst wenn wir W. James’ Begründungsschritte zum notwendigen Zusammenhang von Pragmatismus und Religion mitgehen, bleiben einige interne Fragen: 1) Ist das Verhältnis von Moralitt und Religiositt überzeugend geklärt? 2) Ist das Verhältnis von Nominalismus und Realismus bezüglich des Glaubensaktes befriedigend dargestellt und religionsphilosophisch angemessen projektiert? 3) Ist die Konzeption des ber-
51 Vgl. vor allem die 20. Vorlesung und die „Nachschrift“ der Gifford Lectures, dt. Die Vielfalt religiçser Erfahrung, aaO., S. 448ff., 474ff.
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natrlichen im Kontext des Erfahrungsbegriffs religionsphilosophisch und theologisch zwingend? 1. Dass die emotionale Überzeugungsbildung zur vollständigen Bestimmung dessen gehört, was Menschen als Ergebnis von Erfahrung und Urteil ihr Wissen nennen, ist eine Erkenntnis, die sich im 19. Jahrhundert gegen die Traditionen der theoretischen Aufklärung und gegen die empiristisch reduzierten Wissenschaftsauffassungen wieder durchzusetzen beginnt. Schleiermachers Apologie der Selbständigkeit von Religiosität gegenüber Moralität und Metaphysik erscheinen am Ende des Jahrhunderts im Gewand der Psychologie des Glaubens (belief), W. James fasst den Stand 1896 in den Satz: „Offenbar also beeinflusst unsere nichtintellektuelle Natur unsere Überzeugungen.“52 Damit aber ergibt sich die Rückfrage, wie weitreichend Glaubens-Urteile denn berechtigt sind, ob sie besser vermieden werden sollten, oder ob sie in gewissem Sinne als unvermeidlich oder gar wünschenswert zu betrachten sind. Für W. James sind dies zwar dem Forschungsfeld nach empirische Fragen der Psychologie, ihrer philosophischen Bedeutung nach aber geht es um die Wahrheit moralischer bzw. religiöser Aussagen über die Wirklichkeit. Was für W. James nicht mehr in Frage kommt, ist das fortschrittsoptimistische Vorziehen und pathetische Proklamieren des (bewiesenen) Wissens vor dem Glauben.53 Denn der Nachweis des konstitutiven Zusammenhanges beider ist für ihn erbracht. Charles Taylor hat den Szientismus des viktorianischen Zeitalters ganz im Sinne von W. James als eine moralische Position interpretiert, die sich selbst einem spezifischen Glaubensakt – dem der Wissenschaftlichkeit – verdankt, sich zugleich aber diese eigentliche ,Quelle‘ ihrer Einstellung systematisch verdunkelt hat.54 Zur Aufklärung dieses Irrweges leistet W. James’ Pragmatismus Entscheidendes: Er zeigt, dass sich die Pluralität philosophischer, d. h. wissenschaftlicher Schulen überhaupt pragmatistisch auf Einstellungsund Temperamenttypen zurückbeziehen und entsprechend klären lässt. 52 Der Wille zum Glauben, aaO., S. 137. 53 Vgl. W. James’ Kritik an W. K. Clifford, Der Wille zum Glauben, aaO., S. 134f. 54 C. Taylor Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identitt, Frankfurt am Main 1996, S. 704: „Der Szientismus selbst setzt einen auf nichts als Glauben basierenden Sprung voraus. Was diesem Glauben Kraft verleiht, ist seine eigene moralische Sichtweise. Damit kommen wir einem unverzerrten Bild des großen viktorianischen Atheismusdramas näher. Es handelt sich nicht um die schlichte Verdrängung der Nichtwissenschaft durch Wissenschaft, sondern um eine neue militante moralische Einstellung, die aus der alten hervorgeht und als kämpferische Alternative ihren Platz neben dieser bezieht.“
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Mit anderen Worten, philosophische Aussagen haben notwendig einen bewertenden, d. h. einen moralischen und religiösen Grund. Dieser steht nicht in Widerspruch zum wissenschaftlichen Wissen, sondern gehört in dessen Horizont – nach Herkunft und Zielbestimmung, Einsatz und Realisierung. Moralisch ist diese Entdeckung in einem weiteren Sinn, den ebenfalls C. Taylor ganz im Sinne von W. James hervorhebt: Dass noch die Aufkündigung eines (metaphysischen, idealen) höchsten Gutes ein mutiger Akt der Selbstwerdung darstellt, nämlich dem Universum das wissenschaftlich nicht mehr Garantierte, menschlich aber doch unumgänglich Erwartete jetzt erst Recht abzugewinnen und zu gestalten.55 Der persönliche Mut zum Glauben (faith) ist für W. James eben diese notwendige existentielle Wendung, die den Sinn auch des wissenschaftlichen Lebens erst ermöglicht. Das kann dem autarken Szientismus nicht gelingen. W. James hat zur Auszeichnung dieses Mutes allerdings die Unterscheidung von ,zartfühlend‘ und ,hartgesotten‘ eingeführt. Sie ist, wie gezeigt, religionsphilosophisch nicht unbedingt zwingend, akzeptabel nur insofern, als verständlicherweise dogmatistische Positionen abgesicherter und berufbarer Überwelten vermieden werden sollen. Deshalb muss W. James den religiösen Mut zu einem Universum der Einheit, Zielgebung und Rettung als Grenzgebiet von Moralität und Religiosität ausgeben, weil er den Akt des mutigen Handelns der Religiosität allein nicht mehr zutraut. Dass er trotzdem an der Theologie festhalten will, zeigt andererseits, dass er zwischen Willen und Werthaltungen einerseits und dem religiösen (universalen) Grundvertrauen andererseits eine produktive Differenz sieht.56 Schöpferisches Vertrauen ins Universum setzt Handlungen und damit praktische Realisierungen frei, ist mit diesen aber nicht identisch. Der Überschuss ist gerade die Domäne der Religiosität. W. James sieht bis zuletzt (ohne dass es mit dieser Deutlichkeit gesagt oder gar ausgearbeitet würde) und trotz aller pragmatistischen Zwischenstellungen und Übergänge diese Differenz 55 C. Taylor Quellen des Selbst, aaO., S. 180f.: „Es gibt hier tatsächlich eine konstitutive Realität, nämlich die Menschen als Wesen mit der Fähigkeit zu diesem mutigen Disengagement […] / […], wonach unsere Würde im Mut und in der Verstandesklarheit liegt, mit der wir einer sinnlosen Welt gegenübertreten“. 56 Vgl. auch hier C. Taylor Quellen des Selbst, aaO., S. 777: „die Güte der Welt kann jetzt – zumindest, was die Welt der Menschen betrifft – so gesehen werden, als sei sie nicht ganz unabhängig davon, daß wir sie als gute sehen und darstellen. Der Schlüssel […] kann also darin bestehen, daß wir fähig sind ,zu sehen, daß es gut ist’.“ – Vgl. W. James’ 8. Vorlesung, A37!
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zwischen Moralität und Religiosität. Der Beweis dafür ist die am Ende der Vorlesung festgehaltene Gott-Hypothese. 2. Wird Religiosität damit aufgrund religiöser Erfahrung begründet, weil menschliche Erfahrung nicht davon abgetrennt werden kann, dass sich in ihr ein Zusammenhang, eine Kontinuität nicht nur mit anderen Menschen, sondern mit einer ,über-menschlichen‘ Erfahrungswelt präsentiert, so liegt ein wissenschaftstheoretisches Problem vor, das W. James bezüglich des Zusammenhanges von physischen und psychischen Ausgangsdaten als ,radikaler Empirismus‘ beantwortet hat: Alles, was wissenschaftlich gültig sein soll, muss erfahrbar sein; umgekehrt ist Erfahrbarkeit dann durch keinerlei Außenkriterium mehr einzuschränken.57 Wenn darin nicht nur die naturwissenschaftliche Erkenntnisarbeit, sondern zugleich auch die über emotionale, moralische und religiöse Überzeugungsbildung eingeschlossen sein soll, bleibt die Frage, ob und wie damit auch einheitliche Aussagen über die Realitt getroffen werden – nämlich auch über die religiöse Realität; oder ob nicht doch ein Unterschied zwischen empirischer Realität (vermittelt über die Wissenschaften) und bloß gefühlter oder behaupteter oder nur ,zartfühlend‘ illusionärer (wenn auch therapeutisch nützlicher) ,Realität‘ des ,Glaubens‘ gemacht werden muss. W. James ist in den Pragmatismus Vorlesungen in diesem Punkt – und zwar wegen der Abwertung der ,zartfühlenden‘ Einstellung – nicht klar genug. Denn einerseits muss er pragmatistisch (wegen der praktisch nachgewiesenen Nützlichkeit) eigentlich jede Form von religiöser Erfahrung akzeptieren, doch andererseits schränkt er deren wissenschaftlich brauchbare Bedeutung auf die pluralistisch und moralisch gefilterte Religiosität des ,hartgesottenen‘ Charakters ein. Sofern an diesem Punkt der ,Wille zum Glauben‘ greift, scheint sich damit ein nominalistischer Zug subjektiver Willkür gegenüber der wissenschaftlich vertretenen Realität des allgemeinen – subjektunabhängigen – Erfahrungsbezuges durchzusetzen.58 Dieser Eindruck 57 Vgl. zum Begriff des ,radical empiricism’ E. Herms „William James“, aaO., S. 88ff.; 99ff. – T. L. S. Sprigge James and Bradley. American Truth and British Reality, Chicago / La Salle 1993, S. 109 – 171. 58 E. Herms „William James“, aaO., hat diese Differenz so dargestellt, dass über die existentielle Wendung der Selbst- und Weltgewissheit in die letzte Autorität religiöser Erfahrung die ,allgemeine Geltung’ jener Gewissheit verloren geht: „Damit ist die Stelle erreicht, an der James nicht mehr die alteuropäischchristliche Überzeugung teilt, daß die Handlungsfähigkeit des Menschen ihr Fundament in inhaltlich bestimmter Gewißheit […] habe […] / […] Soweit ,Weltanschauung’ […] ihre traditionelle Begründungsfunktion für die Hand-
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ist nur dann zu korrigieren, wenn die Instanz des persönlichen Glaubens aus dem wissenschaftlich falliblen Wahrheitskontinuum nicht herausfällt, wenn also Glaubens-Entscheidungen in den Wissenschaften und in religiösen Kontexten sich nicht fundamental, sondern nur graduell unterscheiden.59 Das strikt persçnliche Selbsterleben gehörte dann zum Universum aller Erfahrung, und das emotional nicht zu verhindernde und seinen idealen Folgemöglichkeiten nach ausgesprochen kreative religiöse Gefühl und seine Inhalte müssten Teil der Realität selbst sein.60 Diesen umfassenden Realismus aber hat W. James zumindest nicht konsequent genug vorgetragen, und C. Peirce hat aus demselben Grund W. James’ Theismus nicht akzeptieren können.61 3. Weil W. James der religiösen Erfahrung – bei allem Pathos von Einheit, Universalität und ,über-menschlicher‘ Kontinuität – keine metaphysischen Gegenstandsaussagen auf diesem Allgemeinheitsniveau mehr erlaubt sieht, reduziert er die Gottesvorstellung (wenn sie philosophischen Standards genügen will) auf eine zwar ,über-menschliche‘, aber nicht mehr ,unendliche‘ Kraft.62 Diese Zurücknahme des traditio-
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lungsfähigkeit der Menschen behält, tritt sie eben damit aus dem Bereich von Erkenntnis hinaus, fr die allgemeingltige Wahrheitsansprche erhoben werden kçnnen.“ Anstelle wissenschaftlicher Kritikfähigkeit und Wahrheitsfindung träte dann die nur noch individuell gesicherte „Impulsivitt des Lebens“, sozusagen eine „spekulative Biologie der Wissenschaft“ (aaO., S. 110f.). Dafür spricht auch W. James’ Satz (im Zusammenhang der Diskussion um die Wahrheits- und Gottesfrage der 2. bzw. 3. Pragmatismus Vorlesung): „My belief in the Absolute, based on the good it does me, must run the gauntlet of all my other beliefs“, Pragmatism, S. 43. – „The truth of ,God’ has to run the gauntlet of all our other truths“ Pragmatism, S. 56. – Vgl. auch W. J. Gavin „The ,Will to Believe’ in Science and Religion“ in International Journal for Philosophy of Religion 15 (1984), S. 139 – 148, 146; und diese Interpretationen stehen dann in klarem Gegensatz zur Privatisierung der Religiosität, wie R. Rorty sie vorträgt „Religious Faith, Intellectual Responsibility, and Romance“ in American Journal of Theology and Philosophy 17 (1996), S. 121 – 140 (Wiederabdruck in William James: Pragmatismus (Klassiker Auslegen 21), hg. v. K. Oehler, Berlin 2000, Nr. 10). Vgl. auch die Diskussion bei Sprigge James and Bradley, aaO., S. 196f., 229ff.; und G. E. Myers William James. His Life and Thought, New Haven / London 1986, S. 459f. Vgl. die kritischen Briefe aus dem Jahr 1905 in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 284f. – Zur anhaltenden Diskussion um W. James’ Gottesbegriff vgl. D. W. Ferm „William James: Moralism, the Will to Believe, and Theism“ in Religion in Life 41 (1972), S. 349 – 361; W. E. Cooper „James’s God“ in American Journal of Theology and Philosophy 16 (1995), S. 261 – 277. Die Belege dafür finden sich vor allem in der „Nachschrift“ der Gifford Lectures; vgl. auch Sprigge James and Bradley, aaO., S. 232ff., 239ff.
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nellen metaphysischen Anspruchs ist nicht relativistisch gemeint, so als könne jede private Willkür hier die eigenen Wunschillusionen einsetzen,63 sondern W. James muss wegen der mçglichen Einheit der Zielorientierung des Universums gerade an dieser realen Möglichkeit von Entwicklung desselben Universums festhalten. Das spricht am Ende für den Theismus bzw. eine pragmatistisch modifizierte Theologie (A47ff.), auch wenn zuvor der klassische Theismus als ,steriles Prinzip‘64 und unter Protest gegen die klassische Theodizee-Vorstellung65 abgelehnt werden musste. Wie stehen dann die pragmatistisch interpretierte religiöse Erfahrung und ihre im persönlichen Glauben realisierten guten Möglichkeiten des Universums zum theistischen Glauben? John E. Smith hat kritisch gegen W. James’ Konzept einer ,religiösen Erfahrung‘ geltend gemacht,66 dass damit a) die Gefahr bestehe, Gott und die jeweilige (gefühlsbestimmte) Erfahrung zu identifizieren, dass b) analog zum wissenschaftlichen Erfahrungsbegriff dann der Gottesbeweis aus der empirischen Ausgangsbasis folgen müsste und dass c) die Vorstellung von empirischen Einzeldaten dem Erfahrungsakt nicht gemäß sei. Wiederum muss konstatiert werden, dass W. James in allen drei Fällen keine klare Abgrenzung oder Problemlösung vortragen kann, andererseits aber den Einwänden auch nicht einfach unterliegt. Denn mit dem Festhalten an einer Form von Theismus macht auch W. James letztlich eine Differenz zwischen dem religiösen Gefühl und seinem Gegenstand,67 auch wenn es ihm schwerfällt, dafür im realistischen Sinne noch eine die religiösen wie die wissenschaftlichen Standards gleichermaßen befriedigende Denkund Sprachformen zu finden. Dass W. James die Gottesbeweise in der scholastisch-rationalistischen Tradition ablehnen muss,68 heißt umgeGegen R. Rorty, vgl. Religious Faith, aaO., S. 136ff. Pragmatism, aaO., S. 17. Pragmatism, aaO., S. 18ff. J. E. Smith Experience and God, New York 1995, S. 46f. Vgl. Smith Experience and God,aaO., S. 48ff. – In den Gifford Lectures, aaO., (dt. Ausgabe), S. 41, definiert W. James Religion auch ganz entsprechend als „die Gefhle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Einsamkeit, sofern diese sich selber als Personen wahrnehmen, die in Beziehung zu etwas stehen, das sie in irgendeinem Sinne als das Gçttliche betrachten.“ – Vgl. die im Kern analoge Definition bei A. N. Whitehead Wie entsteht Religion?, Frankfurt am Main 1985, übers. v. H. G. Holl, S. 15: „Religion ist das, was das Individuum aus seinem eigenen Solitärsein macht.“ 68 Vgl. zum ,Design-Argument’ in der 3. Vorlesung (Pragmatism, aaO., S. 56ff.); zur scholastischen Tradition in der XVIII. Vorlesung der Gifford Lectures, dt. Die Vielfalt religiçser Erfahrung, aaO., S. 405ff. 63 64 65 66 67
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kehrt aber gerade nicht, dass er einen materialistischen Erfahrungsbegriff gegen bedeutungserschließende, kreative und handlungsleitende Glaubenserfahrung gesetzt hätte. Allerdings sperrt sich seine Alternative von Monismus und Pluralismus gegen eine konstruktive theologische Theoriebildung, weil sie für W. James – jedenfalls in der Oberflächenargumentation – immer dem Verdacht unterliegt, monistische Prämissen zu unterstellen, gegen die er selbst dann die unmittelbare Gefühls- und Überzeugungskraft der religiösen Erfahrung ausspielt.69 Die pragmatistische Vermittlungskraft der Religiositt aber fügt sich diesem Muster im Grunde nicht, denn sie schließt ja nach beiden Seiten monistische wie pluralistische Radikalkonzeptionen aus. Die damit gesuchte interpretative Gott-Hypothese (A47) kann sich aus dieser Funktionsbestimmung aber kaum mehr zu einer begrifflichen Eigenständigkeit emanzipieren: Ihre Erfahrungsnotwendigkeit ist ebenso klar wie die Unmöglichkeit eines dem entsprechenden metaphysischen Begriffs. Denn ein Gottesbegriff scheint für W. James immer wieder nur die monistisch-idealistischen Fehler wiederholen zu können. Deshalb seine doch etwas hilflos wirkende Formulierung in den Gifford Lectures, er müsse wohl „unter die Supernaturalisten des stückweisen oder gröberen Typs gerechnet werden.“70 Wird die Gott-Hypothese dann – anders als bei W. James selbst – doch als letztlich nicht mehr gerechtfertigter, sozusagen übertriebener Schritt ins Supranaturale gebrandmarkt,71 so droht dem Pragmatismus nicht nur der Gottesbegriff, sondern der realistische Sinn von umfassender Erfahrung verloren zu gehen: grenzüberschreitende Erfahrung, die zugleich auf ihre kreative und das menschlich-kosmische Universum nicht verleugnende Tragfähigkeit überprüft werden will. W. James konnte und wollte dieses realistische Programm in der immer und mit aller Leidenschaft gesuchten Zuordnung von Pragmatismus und Religion nicht aufgeben, obwohl er die begrifflichen Mittel zu einer klaren Präsentation nahezu aus der Hand gegeben hatte. Von der Kraft der Gott-Hypothese aber blieb er notwendigerweise überzeugt. 69 Vgl. die kritische Sicht in diesem Sinne bei Smith, Experience and God,aaO., S. 52. 70 Vgl. dt. Die Vielfalt religiçser Erfahrung, aaO., S. 475. – Zur kritischen Diskussion vgl. W. Dean „From Piecemeal Supernaturalism to Piecemeal Jamesism“ in Amercian Journal of Theology and Philosophy 15 (1994), S. 15 – 26. 71 So an wichtiger Stelle im Zusammenhang amerikanischer – und pragmatistischer – Sozialphilosophie John Dewey „A Common Faith“ in The Later Works, 1925 – 1953, vol. 9: 1933 – 1934, ed. by. J. A. Boydston, Carbondale / Edwardsville: Southern Illinois University Press 1989, S. 1 – 58; hier S. 14.
Instinkt und Symbol Semiotische Phänomenologie der Religiosität Die Konzentration der Ahnung vergisst man nie. S. Kierkegaard 1
Das Thema enthält zumindest drei Begriffe, die in ungewöhnlicher Verbindung auftreten: Linguistische oder religionswissenschaftliche Symboltheorien haben in der Regel mit Verhaltensforschung und dem heute biologisch festgelegten Instinktbegriff nichts zu tun; Phnomenologie als Schul- oder Methodenbegriff der Philosophie des 19. / 20. Jahrhunderts kennt die Näherbestimmung durch konsequente Zeichentheorien bisher kaum. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass um einer heute tragfähigen Bestimmung von Religiosität willen Phnomenologie in bestimmter Weise semiotisch konzipiert werden muss. Dann nämlich lässt sich der für die Religionstheorie und christliche Theologie unentbehrliche Grundbegriff des Symbols realistisch bestimmen, und religiöse Symbole können in ihrer unersetzbaren Leistungsfähigkeit für Gefühl, Denken und Handeln wieder entdeckt werden. Auf dieser Basis ist die theoretische und praktische Bedeutung von Religiositt in der akademischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit überzeugend zu vertreten, ohne dass die bekannten religionskritischen Missverständnisse der europäischen Neuzeit kultiviert werden müssen.
I. Phnomenologie Dass menschliches Denken sich seinen Gegenständen rückhaltlos überlassen muss, um sie begrifflich zu erfassen, ist – in dieser extremen Gegenspannung von Denken und Sein, die zugleich in methodischer Absicht vorgebracht wird – ein Programm des 19. / 20. Jahrhunderts. Jenseits der künstlich gezogenen Linien zwischen Moderne und Postmoderne ist Phänomenologie zu verstehen aufgrund der Erfahrung, dass die Wirk1
S. Kierkegaard Die Wiederholung in SKS 4, 23,13f.
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lichkeit und Wahrheit der Dinge sich weder rein substanziell über ihr Wesen noch rein konstruktiv über Verstandesleistungen binden lässt. Die Unterscheidung von Objektwelt und Subjektivität bleibt als vorläufige Orientierung zwar bestehen, kann aber den Verweisungszusammenhang beider gerade nicht angemessen zum Ausdruck bringen. Dass diese Einsicht zugleich für die Theologie gilt, ist über die bekannten Schulen der Religionsphänomenologie2 längst deutlich gewesen, hat die Einstellung der dogmatischen Arbeit aber nicht in gleicher Weise erreicht. Erst die Gegenwart gleicht diesen Rückstand aus, indem Phänomenologie als fundamentaltheologische Disziplin begriffen wird.3 Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Konzepte von Phänomenologie, doch bleiben sie trotz jeweils eigenständiger Prägungen miteinander verwandt. Drei Hauptformen lassen sich, zunächst philosophiegeschichtlich betrachtet, voneinander abheben: 1. Seit Hegels Phnomenologie des Geistes (1807) kann der Begriff der Phänomenologie im prinzipiellen Sinne einer Wissenschaftseinstellung verwandt werden. Die gleichzeitige Bewegung des Gegenstandsbewusstseins am Gegenstand und bei sich selbst gilt als Königsweg der Wahrheitserkenntnis, und ihre Entfaltung und Prozessualität ist eben die Phnomenologie, d. h. die ,Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins‘.4 Wer z. B. ein anderer Mensch für mich ist, hält sich zunächst im glatten Unterschied eines Gegenübers, sagen wir eines chinesischen zu einem deutschen; dieses Gegenüber wird dann, bei genauerer Betrachtung, in die Beziehung integriert gefunden, die den anderen als anderen im eigenen Bewusstsein festhält; um schließlich in der Verhältnisbildung selbst 2
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Vgl. die für die systematische Theologie konstruktive und notwendige Einbeziehung der Religionsphänomenologie bei Robert C. Neville God the Creator. On the Transcendence and Presence of God (1968), Albany 1992 (Part Three), S. 183ff. – Zur Forschungsgeschichte vgl. J. Waardenburg Art. „Religionsphänomenologie“ in TRE 28 (1997), S. 731 – 749. Vgl. Marburger Jahrbuch Theologie (= MJTh) VI: Phnomenologie, hg. v. W. Härle und R. Preul, Marburg 1994; C. Schwöbel Art. „Phänomenologie II. Theologisch“ in TRE 26 (1996), S. 465 – 469; W.-E. Failing und H.-G. Heimbrock Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stuttgart 1998, S. 292ff. Vgl. G. W. F. Hegel Phnomenologie des Geistes, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 577 (Wortlaut des ursprünglichen Buchtitels, hier mitgeteilt im Anhang des Hg.); vgl. in Hegels Einleitung, S. 73: „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.“
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den Begriff der menschlichen Person zu erkennen: dass und wie sie aus solchen Selbstunterscheidungen hervorgeht. 2. Im 20. Jahrhundert wird Phnomenologie konzentriert auf die Konstitutionsleistungen des menschlichen Bewusstseins (Husserl) und des menschlichen Daseins (Heidegger u. a.).5 Die (transzendentalen) Möglichkeitsbedingungen der Zugänglichkeit von Welt- und Subjekterfahrung werden damit zur Basiswissenschaft vor allen anderen wissenschaftlichen Erklärungen und Anwendungen. Mit einer ebenso grundlegenden wie knappen These von E. Herms formuliert: „,Phänomenologie‘ ist die Erkenntnis und sprachliche Darstellung der Erkenntnis von Erscheinendem (Offenbarem) als solchem, d. h. in seinem Erscheinen.“6 Das menschliche Ich (im schon genannten Beispiel) nimmt sich selbst hin, wird sich selbst evident (hier: entweder deutsch oder chinesisch zu sein) und entdeckt – oder der phänomenologische Beobachter entdeckt – in der Auslegung von anderem die konstituierende Rolle des immer vorausgehenden Ich-Ausgangspunktes oder eigenen Daseins. Vermittelt über anderes erscheint das eigene Selbst, das diesem Vorgang wiederum schon zugrunde lag. 3. Von semiotischer Phnomenologie ist dann zu sprechen, wenn im Unterschied zu Nr. 1 nicht mehr die Orientierung an den Gestalten des Bewusstseins dominiert und im Unterschied zu Nr. 2 nicht mehr primär nach Konstitutionsbedingungen gefragt wird, sondern wenn der universale (erkenntnistheoretische) Tatbestand ernst genommen wird, dass Wahrnehmen, Erkennen und Denken in Zeichenprozessen geschieht.7 Substanz und Subjekt, Gegenstand und Bewusstsein sind vorrangig vermittelt über das Auftreten von Phänomenen, deren angemessene 5
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Vgl. die präzisen Darstellungen des (differenten) Ansatzes von E. Husserl und M. Heidegger bei K. Held und H. Hüni Art. „Phänomenologie I. Philosophisch“ in TRE 26 (1996), S. 454 – 461. Von Husserls ,Transzendentalphänomenologie’ und Heideggers ,Ontophänomenologie’ wird dann drittens noch die ,Existentialphänomenologie’ unterschieden, vgl. B. Waldenfels, aaO., S. 461 – 465. E. Herms „ ,Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens’. Über den Sinn und die Tragweite dieses Verständnisses von Theologie“ in MJTh VI, aaO., S. 70. Zur Begründung dieser Zeichentheorie vgl. G. Schönrich Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce, Frankfurt am Main 1990; H. Deuser Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus (Religion in Philosophy and Theology 12) Tübingen 2004, Kap. I.1; H. Pape „Peirce and his followers“ in Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, hg. v. R. Posner u. a., Tlbd. 2, Berlin / New York 1998, S. 2016 – 2040.
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Darstellung in eben diesem Vorgang ihrer Reprsentation geschieht: in Zeichen, und diese bleiben immer bezogen auf die allgemein zugängliche Erfahrungswelt und die Struktur dieser ihrer (semiotischen) Zugänglichkeit. C.S. Peirce nannte diese Erfahrungswelt das Phaneron, die ihm korrespondierende Grundwissenschaft Phaneroskopie.8 Der Begriff der semiotischen Phnomenologie besagt dasselbe. Die zeichentheoretische Anwendung des eingeführten Beispiels lässt sich dann nach Art der auftretenden Zeichen gliedern: in die erste ikonische (qualitative) Gegenstandswahrnehmung (der chinesischen ,Gestalt‘ sozusagen), solange sie noch namen- und bestimmungslos erscheint; in die zweite indexikalische Gegenüberstellung unter den gegebenen empirischen Bedingungen; und in die dritte symbolische, d. h. verhaltensbestimmende Ausdruckgabe derselben Relation (in der Chinesisch- bzw. Deutsch-Sein zuvor als Ikon und Index aufgetreten sind). In einer semiotisch analogen Gliederung lässt sich die dabei gültige Selbsterfahrung darstellen: ikonisch als Ahnung oder Gefühl; indexikalisch als Differenz zwischen Nicht-Ich und Ich; schließlich symbolisch als Selbst oder Person in kontrollierten Verhaltensbildungen, Handlungs-, Modal- und Zeitdimensionen. Im Vergleich der drei Konzepte von Phänomenologie ist eine Ausgangsdifferenz sofort erkennbar: Während die beiden erstgenannten versuchen, Welterfahrung und Wahrheit über Bewusstseinsgestalten (Nr. 1) und Ich- bzw. Daseinskonstitutionen (Nr. 2) herzuleiten, bleibt die semiotische Phänomenologie beim Darstellungsvorgang selbst und seiner Struktur. Wirklichkeit und Wahrheit gehen nicht auf in einem umfassend oder abschließend bestimmbaren geistigen Prozess, gehen auch nicht als konstitutierte bloß zurück auf ein alles andere aufbauendes, allererstes Ich bzw. Selbst, sondern die Auslegung dessen, was auftritt und geschieht, bleibt wesentlich gebunden an das sich kreativ und veränderlich Darstellende selbst. Das Geheimnis solcher Erfahrung auf der Basis von Kreativität liegt im Nachgeben und Nachgehen gegenüber dem, was sich präsentiert: Chinesisch-Sein zum Beispiel! An den Begriffen Instinkt und Symbol ist dann genauer zu bestimmen, wie nicht-konstruierbare Vorgaben und vernünftige Regelwirkungen zusammenstimmen können. Es leuchtet unmittelbar ein, dass eine so gefasste semiotische Phänomenologie für Fragen religiöser Repräsentationen nicht nur offen ist, sondern diese als höchsten Prüffall ihrer Leistungsfähigkeit betrachten muss. Denn die Zugänglichkeit von Kreativität, von Neuem und Unerwartetem betrifft immer den Grenzfall dessen, was sonst unter dem wis8
Vgl. H. Deuser Art. „Phaneroskopie, Phaneron“ in HWP 7 (1989), S. 460f.
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senschaftlichen Sinn von Erfahrung verstanden wird: Wie es universal und evolutionistisch gesprochen denn zu Erfahrungen überhaupt kommen kann. – Poesie, religiöser Glaube und Gott sind die kultur- wie wissenschaftsgeschichtlich bekannten Instanzen, auf diese unabweisbare Thematik angemessen reagieren zu können.9
II. Instinkt Kant hatte festgelegt (und damit die anders gelagerten Traditionen der englischen Common-Sense-Philosophie negiert),10 der ,Instinkt‘ sei bloß eine tierische Naturursache,11 der der Mensch – als ,der Schöpfung Endzweck‘12 – im Moralisch-Praktischen nicht unterliege; umgekehrt ist das Moralisch-Praktische, die Kausalität der Freiheit, gerade durch Naturunabhängigkeit und Beherrschung der Natur definiert: Von dem Menschen nun […], als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf.13 9 Es ist zu beachten, dass dabei nicht vorausgesetzt wird, Religiosität verlange immer den Glauben an einen theistisch (personal) vorgestellten Gott, wie es in bestimmten historischen Religionen der Fall ist – in anderen aber nicht. Bezüglich der semiotisch vorauszusetzenden und notwendigen Vagheit aller Grundbegriffe mit (höchstem) allgemeinen Orientierungswert gilt diese Offenheit für kontextuelle Interpretationen erst recht für die unterschiedlichen Religionen bzw. ihre Theologien. D. h. der Instanz der Gottesfrage im Kontext der christlichen Theologie entspricht z. B. das Tao, das dunkle, formlose Mysterium, im chinesischen Taoismus. Vgl. zu diesem Beispiel für die Vagheit von religiösen Begriffen M. Raposa „The Fuzzy Logic of Religious Discourse“ in The American Journal of Semiotics 10 (1993), S. 101 – 114; bes. S. 107; und zum Vergleich östlicher und westlicher Religionen in diesem Beispielfeld R. C. Neville The Tao and the Daimon. Segments of a Religious Inquiry, Albany 1982, S. 118ff. 10 Vgl. die Übersicht zum Instinktbegriff von G. Funke und K. Rohde in HWP 4 (1976), S. 408 – 417; den im Gegensatz zum (rationalen) freien Willen eingesetzten Begriff des ,instinctus naturalis’ bei Thomas v. Aquin, ST, 1, q. 83, a.1c; und demgegenüber die englische Tradition repräsentierend D. Hume Ein Traktat ber die menschliche Vernunft, Buch I, übers. v. Th. Lipps, hg. v. R. Brandt, Hamburg 1989, s. 240: „In der Tat ist aber, wenn wir die Sache recht betrachten, auch die Vernunft gar nichts als ein wunderbarer und unfaßbarer Instinkt unserer Seele“. 11 I. Kant Kritik der Urteilskraft (= KU), A xiii; H 16. 12 KU, A 394. 13 KU, A 393 – 394.
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Während so der ,Endzweck‘ ein moralisch-praktischer ist, der „aus keinen Datis der Erfahrung zu theoretischer Beurteilung der Natur gefolgert“ werden kann,14 ist umgekehrt von der theoretischen Vernunft her gesehen die Naturteleologie in keiner Weise in der Natur selbst irgendwie festzumachen. Das ist letztlich der Einwand auch gegen die ,Physikotheologie‘ (modern gesprochen: den Zusammenhang von Schöpfung und Evolution): Dass bei aller Sympathie für den Aufweis höherer Ursachen und Zwecke als sie in einer rein mechanistischen Betrachtung der Natur gefunden werden können, dies doch keinen Anlass und Grund abgibt, die Realität eines Gottes für nachweisbar zu halten. Die Sperre liegt wiederum im Fehlen ,empirische(r) Data‘,15 worauf die Leistungsfähigkeit der theoretischen Verstandesbegriffe für Kant nun einmal festgelegt ist. Während die praktische Philosophie sich also an der Natur keine Stütze holen darf, ist die theoretische Philosophie an die Möglichkeit von Erfahrung der physischen Natur gebunden. Beides zusammen verhindert einen eigentlichen Begriff Gottes.16 Für die semiotische Phnomenologie und unter dem Aspekt des Instinkts ergibt sich folgendes Gegenbild: 1. Die evolutionäre Auffassung von Natur und Geist, von Dingwelt und Denkwelt, also auch: von theoretischer und praktischer Philosophie ist gar nicht mehr daran interessiert, Erfahrungsbegriffe zu limitieren und Kausalität (der Natur und der Freiheit) in zwei gegenläufigen Systemen anzuordnen. Phänomenologisch geht es um das Herausarbeiten der unbeschnittenen Implikationen von Erfahrung überhaupt (während es in den Einzelwissenschaften um die Explikation und Überprüfung bestimmter Erfahrungen geht), und dabei steht im Vordergrund der 14 KU, A 427. 15 .KU, A 399. 16 Vgl. KU, A 402 – 403: „Die physische Teleologie treibt uns zwar an, eine Theologie zu suchen; aber kann keine hervorbringen, so weit wir auch der Natur durch Erfahrung nachspüren, und der in ihr entdeckten Zweckverbindung, durch Vernunftideen (die zu physischen Aufgaben theoretisch sein müssen), zu Hülfe kommen mögen. Was hilft‘s, wird man mit Recht klagen: daß wir allen diesen Einrichtungen einen großen, einen für uns unermeßlichen Verstand zum Grunde legen, und ihn diese Welt nach Absichten anordnen lassen? wenn uns die Natur von der Endabsicht nichts sagt, noch jemals sagen kann, ohne welche wir uns doch keinen gemeinschaftlichen Beziehungspunkt aller dieser Naturzwecke, kein hinreichendes teleologisches Prinzip machen können, teils die Zwecke insgesamt in einem System zu erkennen, teils uns von dem obersten Verstande, als Ursache einer solchen Natur, einen Begriff zu machen, der unserer über sie teleologisch reflektierenden Urteilskraft zum Richtmaße dienen könnte.“
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Neugewinn von Erkenntnissen, orientiert am Auftreten und ersten Wahrnehmen von Dingen und Ereignissen. Peirce‘ Entdeckung unter diesem forschungslogischen Aspekt ist die Schlussform der Abduktion, die im Gottesargument dann auch die entscheidende Rolle im Namen religiöser Erfahrung spielt. Während die Deduktion als logische ,Explikation‘, die Induktion als überprüfender Erkenntnisgewinn durch Erfahrung aufzufassen ist,17 sieht Peirce in der Abduktion (auch ,Retroduktion‘ oder ,Hypothese‘) den für die Evolution des Wissens entscheidenden Schritt der Neuentdeckung, der produktiven, überraschenden Erklärung sonst dunkel bleibender Erfahrungen. Die Abduktion ist die Schlussform der Hypothesenbildung, und zwar der Hypothesen, die Vertrauen verdienen und sich als überraschend praktikabel und zutreffend erweisen werden. Jeder Fortschritt in der Geschichte der Menschheit verdankt sich folglich an seiner Basis der Abduktion: den „spontane[n] Konjekturen der instinktiven Vernunft.“18 Der ausschlaggebende Grund für das Ineinander von Natur und Vernunft im Begriff des Instinkts ist damit gerade der wissenschaftliche Fortschritt, der anders gar nicht zu erklären wäre.19 Analog zu den bewundernswerten Instinktleistungen in der Tierwelt hat der Mensch offensichtlich in der Produktivität seiner Ideen, im Auffinden von Hypothesen, in der Rezeptivität für das Auftreten von neuen Erfahrungen und ihrer erklärenden Verarbeitung eine dermaßen glückliche Hand, dass diese Begabung nicht anders als immer schon von der menschlichen Natur her mitgegeben angenommen werden muss: Seinem eigenen Bewußtsein die Divination bezüglich der Phänomengründe absprechen zu wollen, das wäre für den Menschen so töricht wie für einen eben flügge gewordenen Vogel, nicht auf seine Flügel zu vertrauen und sein Nest zu verlassen, weil das arme kleine Ding Babinet gelesen und das Schweben in der Luft aus hydrodynamischen Gründen als unmöglich beurteilt hätte. Ja, wir sind gezwungen zu erklären: Wenn wir wßten, daß unser Impuls, eine Hypothese der anderen vorzuziehen, wirklich zu den Instinkten 17 Vgl. die knappe „Erläuterung der Schlußformen im Zusammenhang des Gottesarguments“ in Charles S. Peirce: Religionsphilosophische Schriften (= RS), hg. v. H. Deuser, Hamburg 1995, S. 346f. (Text III. 6). 18 RS, 347. 19 Vgl. RS, 349: „Es gibt einen vernünftigen Grund, eine Interpretation, eine Logik in der Entwicklung der Wissenschaft, und sie beweist für jeden, der vernünftige und bedeutsame Relationen wahrzunehmen vermag, ganz unbestreitbar, daß der menschliche Geist auf die Wahrheit der Dinge eingestimmt worden ist, um zu entdecken, was er entdeckt hat. Das ist das wirkliche Fundament logischer Wahrheit.“
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von Vögeln und Wespen analog wäre, dann wäre es töricht ihm keinen Spielraum innerhalb der Grenzen der Vernunft einzuräumen.20
In diesem Sinne einer primären Schlussform, die Entdeckungen und Erkenntnisgewinn erst ermöglicht und nicht willentlich hergestellt werden kann, spricht Peirce von Instinkt oder der ,divinatorischen Kraft‘ der Menschen.21 2. Wenn dieser Begründungszusammenhang sogar so weit reicht, dass Peirce die unwiderstehliche Aufdringlichkeit der Gott-Hypothese im meditativen Akt der Versonnenheit22 behauptet, so handelt es sich doch nicht um eine verspätete Variante eines der neuzeitlichen Gottesbeweise. Denn ,die religiöse Meditation‘ geschieht ,spontan‘, aus ,purem Spiel‘ und fügt sich nur dem ,Gesetz der Freiheit‘. Die Besonderheit dieses von Peirce vorgelegten ,bescheidenen Arguments‘23 besteht darin, dass in einem intentionslos-spielerischen, anschauenden Sich-Versenken in die 20 RS, 348; vgl. entsprechend RS, 287 (Text III. 2); RS, 366 (Text III. 7). – Diese für Peirce’ Logik typischen Zusammenhänge zwischen Natürlichem und Geistigem dürften mit den Untersuchungen heutiger Verhaltensforschung (Ethologie) übereinstimmen. Vgl. bereits A. Portmanns Versuche zur Definition des Instinkts, die zuletzt einen ,religiösen Instinkt’ beim Menschen einschließt, Portmann Das Tier als soziales Wesen, Zürich (1953) 1962, S. 138 – 143; G. Tembrock spricht im Anschluss an Tinbergen, Lorenz und v. Uexküll von einem auslçsenden Schema im Organismus, das auf bestimmte Reize ,instinktiv’ zu reagieren vermag, Tembrock Verhaltensforschung. Eine Einfhrung in die Tier-Ethologie, Jena 1961, S. 44; und auch der von H. Mohr gebrauchte Begriff der ,inclusive fitness’, d. h. der Fähigkeiten, die eigene Gattung zu fördern, weist wohl in diese Richtung, Mohr „Evolutionäre Erkenntnistheorie“ in Horizonte der Biologie, hg. v. P. Sitte, Weinheim 1993, S. 147 – 152; 147. (Für entsprechende Literaturhinweise habe ich Frau Cornelia Ullrich, Technische Universität Darmstadt, herzlich zu danken.) – Vgl. auch F. M. Wuketits „Zeichenkonzeptionen in der Biologie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ in Semiotik. Ein Handbuch, aaO., Tlbd. 2, S. 1723 – 1732; S. 1729: „Die Zeichen der Umwelt müssen so gedeutet werden können, daß dem Lebewesen ein Überleben möglich ist.“ 21 RS, 350. 22 RS, 333; vgl. im folgenden den Textzusammenhang RS, 332 – 339, und auch RS, 391 (Text III. 10): „wer wirklich über Gottes Realität nachdenkt […], der wird tatsächlich an sich selbst entdecken, daß er gänzlich unfähig ist, die Hypothese in Zweifel zu ziehen; und das ist für ihn mehr als ein Beweis – es ist ein rationaler Zwang […] Diese Zeugnisse sollten als Nachweis dafür akzeptiert werden, daß der Glaube an Gott ein natürlicher Instinkt ist, vergleichbar mit dem Instinkt, der die verschiedenen Insekten dazu anleitet, ihre Eier dort abzulegen, wo die Larven Futter im Überfluß finden werden, obwohl die Muttertiere mit den Eiern keine experimentellen Erfahrungen gemacht haben […].“ 23 Vgl. RS, 355 u. 360.
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eigentümliche Natur unserer Erfahrungen sich die Gott-Hypothese wie von selbst einstellen wird. Dieses Wie-von-selbst aber ist kein theoretischer Beweis, sondern ein instinktiver Vorgang, in dem die Phänomene selbst zum Sprechen kommen. In einer uneindeutigen Verschränkung von Aktivität und Passivität, von Hinschauen und Wahrnehmen, von Dialog und Monolog, von Wirkenlassen und Entwerfen prägt sich die Idee Gottes als des schöpferischen Grundes und Zusammenhanges der Erfahrungen aus.24 Zwei Dinge sind daran für das Phänomen selbst wie für Peirce’ phänomenologisches Vorgehen hervorzuheben: 1) Die Idee Gottes zeichnet sich aus durch ihre berzeugungskraft, d. h. sie gehört zu den gattungsgeschichtlichen Basis-Überzeugungen (,beliefs‘) der Menschheit, die „weit vertrauenswürdiger [sind] als die am besten gesicherten Ergebnisse der Wissenschaft“.25 Das liegt einfach daran, dass mit zunehmender wissenschaftlicher Präzision zwar die Überprüfbarkeit unter bestimmten Rahmenbedingungen optimiert werden kann, dass damit aber die lebensorientierende allgemeine Überzeugungskraft zurückgeht. Instinkte haben auf der Ebene der BasisÜberzeugungen etwas von ,Irrtumslosigkeit‘ (obwohl ihre Resultate der Überprüfung und Kontrolle unterliegen werden), und deshalb sind sie „die große innere Quelle aller Weisheit und allen Wissens“! 26 Dass hier zunächst zwischen religiösen und wissenschaftlichen Hypothesen nicht unterschieden werden muss, zeigt zudem die Universalität dieser Phänomenologie der instinktiven Hypothesenbildung. Ursprüngliche Überzeugungskraft eignet eben dem unverstellten Erfahrungszugang überhaupt, darin ist menschliche Erfahrung – in ihrem ursprünglichen Zusammenhang von Natur und Geist – einheitlich. 2) Andererseits ist selbstverständlich zwischen wissenschaftlichen und religiösen Hypothesen ein Unterschied zu machen, das zeichnet gerade den gegenwärtigen Entwicklungsstand der menschlichen Kultur und ihres dadurch bestimmten Naturverhältnisses aus. Die religiçse Erfahrung ist von den kurzlebigeren und auf permanente Revision angelegten (natur-) wissenschaftlichen Hypothesen dadurch abzuheben, dass ihr erstens der in einem tiefen Sinne des Wortes sthetische Charakter des imaginativen 24 Vgl. RS, 359 (Text III. 7); vgl. auch die Darstellung des Gottesarguments bei D. R. Anderson Strands of System. The Philosophy of Charles Peirce, West Lafayette, IN, 1995, S. 135 – 184; auch Anderson spricht zur Erläuterung der Versonnenheit (,musement’) von einem ,phenomenological act’, aaO., S. 146. 25 RS, 289 (Text III. 2); vgl. RS, 199. 26 RS, 292f.
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Spiels27 der Versonnenheit anhaftet (wie er den Wissenschaften zwar nicht fremd, aber für ihre Forschungspraxis doch nicht mehr in diesem Ausmaß bestimmend ist) und zweitens ein „tiefes Gefühl der Verehrung“, das die gesamte Lebensorientierung bestimmen wird.28 Semiotisch gesprochen besteht die religiöse Erfahrung aus der natürlichen / geistigen Wirksamkeit ikonischer Qualitäten der Wahrnehmung, deren Ursprünglichkeit und Einheitlichkeit in den evolutionären Zusammenhängen (z. B. Lebendigkeit und Wachstum) wiedererkannt und in religiösen Symbolen zum Ausdruck gebracht wird. Diese Grundlagen religiöser Erfahrung sind phänomenologisch zu erheben, ihre konsequente Ausarbeitung ist Sache der Theosemiotik.29 3. Dass Phänomenologie und Theosemiotik in einer Wissenschaftssystematik Bestand haben, setzt schließlich voraus, dass in der für alle Erfahrungen geltenden Logik die Phänomene des Ursprünglichen und Kreativen überhaupt einen Platz erhalten. Peirce’ Arbeiten zur Logik haben u. a. gerade die Absicht zu zeigen, dass eine zweistellige (wahr / falsch) Logik zugunsten einer dreistelligen überarbeitet werden muss und kann,30 in der der Fall der Ungenauigkeit, d. h. der (noch) nicht treffbaren Entscheidung (über eindeutig wahr oder falsch) nicht ausgeschlossen werden muss. Es ist diese Logik der Vagheit,31 in der die unvermeidliche, aber produktive Unbestimmtheit von Angaben gerade deren Wert ausmacht. Dass dies selbstverständlich auch und gerade für alltägliche Begriffe des Common Sense und ebenso für die Sprachsymbole der Ästhetik, Ethik und Religiosität gilt, schaltet diese Erfahrungen und ihre wissenschaftlichen Darstellungen nicht etwa aus dem Wissenschaftssystem aus, sondern gibt ihnen die phänomenologische Sonderstellung von Begriffen höchster Orientierungs- und instinktiver Überzeugungskraft. Für den Gottesbegriff heißt das: 27 Vgl. M. Raposa „Peirce and Modern Religious Thought“ in Transactions of the Charles Sanders Peirce Society 27 (1991), S. 341 – 369; 355. 28 Vgl. RS, 359f. 29 Diesen Disziplinbegriff hat M. Raposa eingeführt, vgl. „Theology as Theosemiotic“ in Semiotics 1992, S. 104 – 111; bes. S. 105; bzw. ders. Peirce’s Philosophy of Religion, Bloomington, IN, 1989 (chap. VI). 30 Darin liegt zugleich der genuine Zusammenhang von Peirce’ Phänomenologie und Semiotik, vgl. zur Übersicht H. Pape Art. „Peirce I“ in TRE 26 (1996), S. 164 – 170; hier: S. 165ff. 31 Vgl. zur Darstellung und zu Belegen M. Raposa „The Fuzzy Logik of Religious Discourse,“ aaO., S. 101ff. – Vgl. RS, 289: „Kein Begriff, auch kein mathematischer, ist absolut präzise; und manche der allerwichtigsten Begriffe, die wir täglich gebrauchen, sind extrem vage.“
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Damit bleibt der Gott-Hypothese nur ein Weg, wie sie selbst zu verstehen ist, nämlich der, vage und doch genauso wahr zu sein, wieweit sie bestimmt ist und wieweit sie kontinuierlich dazu tendiert, sich selbst immer mehr – und das ohne Grenzen – zu bestimmen.32
So wie ,hier‘ und ,dort‘, ,groß‘ und ,klein‘, ,schön‘ und ,gut‘, ,Liebe‘ und ,Person‘ etc. vage Begriffe darstellen, die als solche in Gebrauch sind, so sind sie selbst zugleich Zeichenprozesse, die ihre eigene Bestimmungsfähigkeit mittragen; und die Wirkung derselben Begriffe vollzieht sich ebenfalls als kreative Zeicheninterpretation.33 Weil diese Zusammenhänge sich immer zugleich als natürliche und geistige darstellen, folgert Peirce, dass die instinktive, anthropomorphe ,Sentimentalität‘ zum Phänomen der Zeichenprozesse selbst gehört: It is the instincts, the sentiments, that make the substance of the soul. Cognition is only its surface, its locus of contact with what is external to it […] If I allow the supremacy of sentiment in human affairs, I do so at the dictation of reason itself; and equally at the dictation of sentiment, in theoretical matters I refuse to allow sentiment any weight whatever.34
III. Symbol In diesem Jahrhundert war für die theologische Diskussion, jedenfalls in der protestantischen Theologie, der von P. Tillich bereits in der ersten Jahrhunderthälfte auf religionsphilosophische Grundlage entwickelte Symbolbegriff maßgeblich geworden – sofern überhaupt auf die Zeichenvermittlung von Religiosität geachtet wurde. Das Denksystem Tillichs bringt allerdings zwei Schwierigkeiten mit sich, die in der semiotischen Diskussion inzwischen auch klar markiert worden sind:35 1. Tillich trennt zwischen ,Zeichen‘ und ,Symbol‘ in der Weise, dass Zeichen auf äußerliche Verweisfunktionen reduziert erscheinen, während allein Symbole in einem ontologischen Sinn an der ,Tiefe‘ des Seins 32 RS, 339. 33 Vgl. M. Raposa „The Fuzzy Logik of Religious Discourse,“ aaO., S.110: „On my view, the powerful feelings sometimes evoked by religious symbols are not, with respect to the process of interpreting such symbols, to be regarded as epiphenomenal. Religious experience is itself semiosis, itself a mode of interpretation, part of the vague meaning of vague religious symbols and utterances.“ 34 C. S. Peirce Reasoning and the Logic of Things, ed. by K.L. Ketner und H. Putnam, Cambridge, MA, 1992, S. 110 – 112. Vgl. RS (Einleitung), S. XXVII. 35 Vgl. im vorliegenden Band Kap. B.8, darin Kap. 2.1.
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partizipieren lassen – und in dieser Funktion unersetzbar sind. 2. Theologisch kommt es dadurch zu der Spannung, dass um der existentiellen Konkretion religiöser Sprache willen alle Gottesaussagen symbolisch sein müssen – bis auf diese ontologische bzw. religionsphilosophische Theoriebildung selbst; sie bestimmt quasi formal, d. h. nicht-symbolisch, über Gott als Grund des Seins überhaupt. Da dieser Seinsgrund menschlich aber immer nur symbolisch zugänglich sein kann, zeigt Tillichs Symbollehre eine spezifische ,Gebrochenheit‘, die er theologisch gesehen als Notwendigkeit der Vermittlung des Unbedingtem im Bedingten auslegt und in der Begriffsbildung vom ,gebrochenen Mythos‘ auch treffend markiert hat.36 Es ist die zeitgenössische Theologie R.C. Nevilles, die semiotisch belehrt und in der Tradition amerikanischer Religionsphilosophie genau an diesem Motiv der Gebrochenheit anknüpft37 und in eigener Konstruktivität eine – in bestimmtem Sinne wiederum phänomenologische – Lehre vom religiösen Symbol entwirft. Deren Grundzüge sollen im Folgenden helfen, die Forderungen und Leistungen einer semiotischen Phänomenologie genauer fassen zu können. 1. Symbolbegriff Neville arbeitet, so das Vorwort des Buches, mit einem ,allgemeinen‘ Symbolbegriff, der alle Arten „religiöser Zeichen des Göttlichen“ umfasst.38 Darin liegt einerseits eine deutliche Differenz zum formal einheitlichen und insofern enger gefassten, strukturuniversalen Symbolbegriff von Peirce,39 andererseits aber konzipiert Neville die Symbolfunktionen ganz analog zur kategorialen Dreistelligkeit der Peirceschen Semiotik:40 Ein Zeichen bedeutet etwas (zugänglich durch ,meaning-analysis‘), indem es sich auf etwas bezieht (,refer to‘), und dieser Vorgang steht im Kontext von Interpretationen. Neben diesen drei Grundmerkmalen des Symbols nennt Neville aber noch drei weitere 36 P. Tillich Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 31956, S. 259. 37 R. C. Neville The Truth of Broken Symbols, Albany 1996; vgl. zur ausdrücklichen Aufnahme Tillichs durch Neville, aaO., S. Xf. 38 Neville The Truth of Broken Symbols, aaO., S. XXII. Damit soll an den Symbolbegriff E. Cassirers angeknüpft werden, ohne dass dies vom theoretischen Konzept her diskutiert würde. Zu Cassirers Ableitung und Fassung des Symbolbegriffs vgl. H. Paetzold „Cassirer und seine Nachfolger“ in Semiotik. Ein Handbuch, aaO.,Tlbd. 2, Berlin / New York 1998, S. 2191 – 2198. 39 So von Neville selbst ausdrücklich hervorgehoben, vgl. The Truth of Broken Symbols, aaO., S. XIXf. (n. 15). 40 Vgl. Neville The Truth of Broken Symbols, aaO., S. XVIII, u. 19.
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Symbolfunktionen, die sich – orientiert am Peirceschen Zeichenbegriff – allerdings allesamt als Spezifizierungen der Interpretantenrelation auffassen ließen:41 Verpflichtung (,engagement‘), Wahrheit und Konsequenzen. Mit diesen drei Funktionen ist Neville wiederum Tillich sehr nahe, der u. a. von der ,Selbstmächtigkeit‘ und ,Anerkanntheit‘ religiöser Symbole gesprochen hatte.42 Auch die notwendige Unterscheidung zwischen wahr und falsch, dass Symbole ideologisch vergötzt oder dämonisch missbraucht werden können, schließt an Tillich an;43 und vor allem der Referenzbezug des religiösen Symbols: dass es auf etwas verweist, wird als ontologisches Problem – ganz ähnlich wie bei Tillich – festgehalten. Anders allerdings ist die Betonung des hier neu und umfassend reflektierten zeichentheoretischen Zugangs, des ,semiotic approach‘.44 Theologische Inhalte sind Reprsentationen – dies semiotisch zu durchdenken und im Ganzen gelten zu lassen, ist das Neue der hier vorgelegten Symboltheorie.45 Wenn die ontologische Frage darin aber bestehen bleiben soll, wenn ausdrücklich abgewiesen wird, religiöse Symbole könnten unabhängig von der Referenzfrage, d. h. bloß funktional (in soziologischer, psychologischer, religionswissenschaftliche Beschreibung) je ausreichend erfasst werden, dann entsteht hier die offenbar alles entscheidende Schnittstelle: Worauf verweisen denn religiöse Zeichen? Diese Frage beschäftigt jedenfalls Religionsphilosophie, Religionskritik und Theologie in der westlichen Tradition,46 und auch wenn Neville bemüht ist, diesen kritischen Punkt sozusagen einzupacken in die Fülle religionsphänomenologischer und religionsgeschichtlicher Vergleichsmaterialien, er suspendiert die Frage der semiotischen Referenz nicht. Religiöse Symbole verweisen auf das Gçttliche (,the divine‘),47 die Repräsentation ,überträgt‘ (,carry over‘) die Wahrheit des Repräsentierten;48 aber – und darin liegt nun die ausschlaggebende Nähe und Differenz zu Tillichs existenz-ontologischem Denken: Religiöse Symbole verweisen auf Grenzzustände des Endlichen / Unendlichen, ,boundary conditions‘,49 41 42 43 44 45 46 47 48 49
The Truth of Broken Symbols, aaO., S. 20f. S.o. Anm. 35. Vgl. P. Tillich Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 31956, S. 20f., 160f. The Truth of Broken Symbols, aaO., S. 28. The Truth of Broken Symbols, aaO., S. 29. Vgl. The Truth of Broken Symbols, aaO., S. 261. The Truth of Broken Symbols, aaO., S. 40. Vgl. The Truth of Broken Symbols, aaO., S. 264ff. Vgl. The Truth of Broken Symbols, aaO., S. XVIII.
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,borderline or worldmaking things‘.50 D.h. das religiöse Objekt ist weder gegenständlich direkt (z. B. der Gott) noch ontologisch allgemein der Verweisungsbezug (z. B. mit Tillich die ontologische Tiefendimension überhaupt),51 sondern das Göttliche ist die Grenzlinie, an der repräsentiert wird, was die Welt zur Welt macht: The logic of the borderline contingency conditions […] is that they mark the boundary between the finite and the infinite […]. The finite condition is disclosively referred to as actual; its infinite contrast is transcendent […] the boundary conditions are imaged as finite / infinite contrasts […]. I propose to use finite / infinite contrast as a technical term for the primary direct or indirect referent of religious symbols. Finite / infinite contrasts are what I mean by the divine. They deserve that meaning […] because they mark what is experienced as a special condition defining worldliness or world construction.52
Die Repräsentation repräsentiert diesen Kontrast, diese Gebrochenheit, sie ist immer eine Vermittlungsleistung, und sie ist darin – in allen Phänomenbereichen – durchgängig semiotisch zu erfassen. Im Unterschied zu Tillich, der durchaus dieselbe Gebrochenheit durch Angewiesenheit auf Vermittlung vor Augen hatte, geht es hier nicht allein und alles andere fundierend um existentielle Unbedingtheit, die durch religiöse Symbole vermittelbar erscheint, sondern um die kosmologische Bedeutung der Religiosität: ,world-construction elements‘53 werden religiös symbolisiert, und diese Unbedingtheit als Grenzbedingung ist durchgängig semiotisch vermittelt und also bestimmbar. 2. Imagination Wenn ontologische Referenz des religiösen Symbols behauptet wird, so muss diese in ein religionsphilosophisches Gesamtkonzept der Wirklichkeit einzubeziehen sein. Denn sobald es um Wirklichkeitskonstitution im Ganzen geht, kann diese nicht nur peripher, psychologischfunktional, religionsgeschichtlich vereinzelt oder als soziologischer Tatbestand, der nun einmal vorkommt, festgehalten werden. Nevilles Religionsphilosophie ruht auf einer Basis, die er als Gesamtentwurf einer ,Axiology of Thinking‘ vorgelegt hat,54 d. h. einer Wertlehre des Denkens 50 51 52 53 54
The Truth of Broken Symbols, aaO., S. 11. Vgl. The Truth of Broken Symbols, aaO., S. 12. The Truth of Broken Symbols, aaO., S. 58. The Truth of Broken Symbols, aaO., S. 54. Vgl. R. C. Neville Reconstruction of Thinking, Albany 1981; Recovery of the Measure, Albany 1989; Normative Cultures, Albany 1995.
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überhaupt, nach der menschliches Verhalten bezüglich Wirklichkeit und Wahrheit immer auf Wertimplikationen beruht: Auswahlen, Bevorzugungen, Normierungen. Und nicht nur das. Die evolutionäre, die natürliche Entwicklung des Kosmos selbst ist – darin schließt sich Neville Peirce ebenso an wie Whitehead – überhaupt nur verständlich, wenn selektive Entscheidungsprozesse unterstellt werden, an denen menschliches Verhalten – in gewissem Sinne dadurch naturalistisch erklärt – schließlich partizipiert. Diese Wertlehre steht selbstverständlich auch hinter der semiotischen Theorie religiöser Symbole, aber nur punktuell wird diese Voraussetzung explizit; so vor allem da, wo der ontologische Rang und Vorrang der Religiosität zum Thema wird: im Begriff der Imagination. Was Nevilles Wertlehre des Denkens von ihrer Strukturanlage her auszeichnet, ist eine immer vierfache Perspektive, die er philosophisch aus Platons Liniengleichnis entwickelt,55 und die durchgehend als kosmologische Hypothese Anwendung findet: 1) Die ursprüngliche Weltzugänglichkeit – gerade einschließlich des uns Menschen Vorbewussten – geschieht über Imagination. – 2) Das so Entdeckte steht in Verstehenskontexten vielfältigster Art, die als Interpretation systematisiert werden. – 3) Die theoretische Kontrolle solcher Interpretationsvorgänge geschieht nach bewussten Modellen und Strukturen, das Aufgabenfeld der Theorie. – 4) Dies alles mündet schließlich in die Praxis von Denken und Verhalten: Verantwortung. In dieser Übersicht ist zunächst sicher nur eine Gesamtgliederung unter vager inhaltlicher Perspektivierung erkennbar. Die zugrunde liegende kosmologische Hypothese aber wird deutlicher dadurch, dass das argumentative Vorgehen in allen Teilen nach dieser Vierteilung ablaufen kann, sofern diese nicht einfach ein bloß theoretisches Muster abgibt, sondern das tatsächliche Klarwerden von Theorie-Praxis-Feldern in Szene zu setzen vermag: 1) Auf entstehende und vorliegende Bilder folgt 2) deren Diskussion im Verständigungszusammenhang; 3) die dafür nötigen Theoriebildungen werden angeschlossen und 4) die durchlaufende Wertproblematik im Feld der Verantwortung krönt den jeweiligen thematischen Durchgang.56 Für die Religionsphilosophie nun im engeren Sinne ist bei diesem Vorgehen natürlich die erste Perspektive der Imagination fundamental. Denn die endlich / unendlich-Grenze entsteht in ihrer ursprünglichen 55 Neville Reconstruction of Thinking, aaO., S. 50ff. 56 Vgl. Neville Reconstruction of Thinking, aaO., S. 31.
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Überzeugungsbildung eben nicht in der Theorie, sondern in der menschlichen Situationsgebundenheit – die dann über Interpretationen, Theorie und Verantwortlichkeiten weitergeführt wird. Nevilles Vorgehen ist insofern typisch für den amerikanischen Pragmatismus, als die Theoriebildung in die immer schon vorliegenden Glaubens- und Handlungsformen eingebettet vorgetragen wird. Mit der Imagination ist die Basis alles dessen ins Bild gerückt, und genau so erscheint in der Ausführung der Theorie religiöser Symbole auch deren stärkster Begründungszusammenhang: Die Referenz-Problematik des religiösen Symbols ist zuerst eine Frage nach der Bedeutung der Imagination. Weil jene mit dieser unmittelbar verknüpft ist, ist Religiosität fundamental: als bildkräftig-emotionaler Einstieg in jeden nur denkbaren Erfahrungszusammenhang. Das Kapitel Symbols Break on the Infinite57 widmet sich dem semiotischen Referenzproblem, beginnt mit einer Aufnahme der dreistelligen Objektbeziehung des Zeichens (nach Peirce) als Ikon, Index und Symbol, und wendet diese dann in den zwei folgenden Abschnitten in die Diskussion der Imagination. Gemäß dem oben beschriebenen Verfahren entspräche hier die Analyse der Zeichenformen an erster Stelle dem 1) bildhaften Einstieg, die ,religiöse Imagination‘ an zweiter Stelle dem 2) Interpretationskontext, die ,Imagination als Verpflichtung‘ dem 3) Theoriekontext und schließlich die erreichte Referenzbestimmung der 4) Verantwortung. Ohne dieser Abfolge hier weiter nachgehen zu wollen, soll im Folgenden allein die Verbindung von Imagination und Religiositt hervorgehoben werden, wie sie sich im wesentlichen im Abschnitt 2: ,Imagination as Religious‘ findet.58 2.1. Die ersten vier Aspekte, die Neville in diesem Zusammenhang nennt, sind allgemein semiotischer Art, und im Rahmen von Nevilles axiologischer Theorie bedeutet das, sie sind deskriptiv und normativ zugleich. Deskriptiv, sofern das Auftreten von Ereignissen im Erfahrungsfeld ,naturalistisch‘59 verstanden wird, d. h. die Frage nach dem, was erfahren wird, geht nicht von der Trennung zwischen Geist und Natur aus, sondern fundiert diese spätere Unterscheidung eben im Phänomen des Auftretens von etwas. Normativ, sofern in diesem Auftreten bereits durch die Bezugnahme, d. h. das Hervortreten aus einem Hintergrund, der nicht in derselben Weise bewertet wird, Wertentscheidungen im57 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 35ff. 58 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 47 – 58. 59 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 52.
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pliziert sind.60 Diese beiden semiotischen Hinsichten erläutert Neville jeweils dreifach: a.a) Imagination ist – in dem hier zur Debatte stehenden prinzipiellen Sinn – nicht Phantasiefähigkeit (obwohl diese anthropologische Seite selbstverständlich auch von Bedeutung ist), sondern Einbildungskraft. In diesem Sinne knüpft Neville an Kants Begriffsbestimmung an, die die ursprüngliche Synthesisleistung der menschlichen ,Vorstellung‘ braucht, um überhaupt Erfahrungserkenntnis plausibel machen zu können.61 Neville meint diese allererste Vorstellung aber weder bloß ,transzendental‘ (im Sinne Kants) noch nur raumzeitlich determiniert, sondern weit umfassend (insofern wiederum: ,naturalistisch‘) in einem phänomenologisch-lebensweltlichen Sinn:62 Erfahrung stellt sich als erstes immer schon wie eine ,Welt‘ ein, in Bildern,63 die raumzeitlich, wertend, intentional, verpflichtend etc. auftreten. Diese ursprüngliche Einheit von Welt und Imagination ist nicht mehr zu hintergehen, jede kritische Bezugnahme muss sich wiederum auf dieselbe Einbildungskraft stützen. Imagination ist in diesem Sinne ein allererstes,64 sie ist – im Blick auf den Objektbezug und mit Peirce’ Klassifikation der Zeichen gesprochen – ikonisch.65 a.b) Das imaginative Heraustreten von etwas hebt sich ursprünglich von anderem ab, im ikonischen Rahmen gedacht aber noch nicht bezogen auf andere Wahrnehmungsgegenstände, sondern vom dann unspezifischen, aber doch stillschweigend mit-präsenten ,Hintergrund‘.66 Damit ist, wie gesagt, Wertung impliziert.
60 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 52. 61 Vgl. I. Kant Kritik der reinen Vernunft, B 152: „so ist die Einbildungskraft so fern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen […] muß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sein“. Vgl. A 99 – 110 zu den drei Synthesis-Formen der ,Apprehension’, der ,Reproduktion’ und der ,Rekognition’. – Vgl. auch ausführlicher Neville Reconstruction of Thinking, aaO., S.139ff. 62 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 49. 63 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 48. 64 Mit Peirce’ Kategorienlehre gesagt: ein bzw. das Phänomen von ,Firstness’; und semiotisch gesehen differenzieren die drei ersten Aspekte Nevilles (a.a bis a.c) innerhalb dieser Stufe gemäß den Zeichenformen des Quali-, Sin- und Legizeichens. 65 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 50. 66 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 51.
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a.c) Was damit erscheint (,appearance‘) ist die Realität,67 d. h. hier greift keine Trennung von Innen- gegen Außenwelt, und das ist der Fußpunkt aller Erfahrung. b.a) Die Bedeutung solcher Imagination liegt nun in ihren Bewertungen, die sie mitbringt. Im Auftreten von etwas selbst liegt dann sein ,intrinsischer Wert‘.68 b.b) Wird auf das Zusammenwirken mit anderem geachtet, z. B. auf kausale Verknüpfungen, so ist entsprechend und an zweiter Stelle vom ,konditionalen Wert‘ zu sprechen.69 b.c) Dass das Auftreten von etwas in bestimmter Perspektive geschieht – und diese die jeweilige Basisrealität ausmacht, ist an dritter Stelle wiederum der entscheidende phänomenologische Befund. Ihm kann nicht entgegengehalten werden, erst menschliche Wahrnehmungsperspektiven projizierten sozusagen die Wertungen in die Phänomene (die ansonsten neutral seien), sondern kosmologisch-naturalistisch geht hier das Auftreten von erster Erfahrung genau diesen Unterscheidungen (wie innen / außen, wertend / neutral) voraus. Auf der hier eingenommenen Ebene der Imagination gilt deshalb: „the world is as it appears to be“.70 Zusammengefasst: Im Rahmen von Imagination lässt sich sagen, dass ,Bilder‘ konstitutiv sind für die ,ikonische Erschließung‘ der Welt.71 Damit sind die eher formal-philosophischen Grundlagen vorgelegt, die im Folgenden zur Klärung der anfänglichen Behauptung führen sollen, dass die ursprüngliche Verfassung menschlicher Erfahrung als solche ,religiös‘ ist.72 Dies ist nun ausdrücklich religionsphilosophisch bzw. theologisch noch zu zeigen. 2.2. Es sind zwei voneinander unabhängige Gründe, die zur Stützung der These angeführt werden, Religion erkläre sich aus Imagination und sei insofern in gleicher Weise ontologisch bzw. kosmologisch fundamental wie diese. a) Jetzt ist die schon im Zusammenhang der Referenz des religiösen Symbols genannte Begründung der „world-construction elements“73 zu wiederholen: Unter den im Rahmen von Imagination auftretenden Bildern sind solche, die sich auf die Weltentstehung überhaupt beziehen, 67 68 69 70 71 72 73
Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of
Thinking, aaO., S. 51f. Thinking, aaO., S. 52. Thinking, aaO., S. 53. Thinking, aaO., S. 53. Thinking, aaO., S. 53. Thinking, aaO., S. 48. Thinking, aaO., S. 54.
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„boundary images defining the dimensions of worldliness itself“.74 Was Religion bzw. Religiosität ausmacht, ist also begründet in der Notwendigkeit von Imagination, zu der die Weltentstehungsbilder ebenso notwendig hinzugehören. Religionsgeschichtlich geht es dabei um Mythen der Weltentstehung, schöpfungstheologisch gesprochen um die Unterscheidung von Gott und Welt im Anfang aller Dinge. In der Moderne macht der Konflikt zwischen Naturwissenschaften und Theologie insofern keine Ausnahme, als die Bilder auf astronomischer und physikalischer Basis nichts anderes versuchen, als das, was in den alten Religionen mit technisch gesehen einfacheren Mitteln und – aus unserer Sicht – vorwissenschaftlich imaginiert wurde. Es handelt sich also so oder so um Grenzbilder, die beständig wechseln, wie es die Religionen ebenso zeigen wie die Wissenschaften. Der Konflikt zwischen Religion – genauer: dem biblisch gebundenen Christentum der Neuzeit – und dem sogenannten naturwissenschaftlichen Weltbild ergab sich nur deshalb, weil die Unterschiede nicht auf derselben Ebene der Imagination, sondern als Gegeneinander von Objektivität und Illusion erscheinen mussten.75 Bei selbstverständlich gültiger Differenz der Weltbilder gemessen an den mathematisch-technischen Bedingungen ist heute aber auch klar, dass bezüglich ihres Erklärungswertes für das Weltsein der Welt zwischen Schöpfungsmythen und Urknall-Hypothese ein fließender Übergang besteht. Der entscheidende Unterschied zwischen Mythologie und wissenschaftlicher Abstraktion liegt nicht in der Imagination der Grenzbedingungen, die zu beschreiben versucht werden, sondern eben in der Abstraktionsfähigkeit. Die Religionen und persönliche Religiosität bis heute sehen in Bildern ihrer kulturellen Tradition „the real world-important elements“.76 Dies lässt sich heute übersetzen in die Ermöglichung von ,Bestimmtheit‘,77 und diese Abstraktion negiert nicht die Bilder, sondern zeigt ihre Funktion an. An dieser Stelle ist auf Nevilles metaphysische bzw. schöpfungstheologische These zu verweisen, wie er sie seit 1968 in God the Creator vertritt: dass für die christliche Theologie der Schöpfungsakt eben die Unterscheidung von Unbestimmtheit des ursprünglich Schöpferischen und Bestimmtheit des Geschaffenen aus-
74 75 76 77
Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of
Thinking, aaO., S. 54. Thinking, aaO., S. 54, n. 25. Thinking, aaO., S. 54. Thinking, aaO., S. 55, n. 27.
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macht.78 Lässt sich dadurch die Spannung zwischen Wissenschaft und Religion in gewissem Sinne aufheben, so wird die These um so klarer, dass Religion genau dort ihre Funktion hat, wo auf der Basis von Imagination ,Bilder‘ bezüglich der ,Grenzbedingungen für die Welt als solche‘ auftreten.79 Die Pflege dieser Grenzbedingungen geschieht in der Religion aber nicht allein in abstrakter Ausformung (das wäre u. a. die Aufgabe der Theologie), sondern in Ritualen und Praxisformen.80 Hier liegt die eigentliche Stärke der Religiosität. Selbst dann, wenn in modernen Kulturen, in denen Wissenschaften, Kunst und Religion getrennt auftreten, Grenzbedingungen gar nicht mehr ausschließlich von der traditionellen Religion formuliert werden, gilt deshalb, dass die religiöse ,Funktion‘ dieser Grenzbedingungen keineswegs verschwunden ist.81 Um diese Funktion wirklich wieder zur Geltung zu bringen muss nur umgekehrt gesehen werden, dass heute die Religionen in engster Verbindung mit ,Wissenschaft, der Kunst und normativen Praxisformen‘ stehen müssen.82 Wo Grenzbedingungen des Weltlichen überhaupt auf der Basis von Imagination auftreten und angemessen gepflegt werden sollen, da ist Religion. b) Auch der zweite Grund für die innere Bindung von Religion und Imagination verweist auf Nevilles Metaphysik in God the Creator, nämlich auf den Begriff der Kontingenz.83 Es ist zunächst sicher einfach ein religionsgeschichtliches, aber heute auch allgemein philosophisches Faktum, dass Symbolisierungen der ,Grenzbedingungen von Welt überhaupt‘ sich um das Kontingenzproblem sammeln, in Nevilles Formulierung: „That […] the world itself is experienced as dependent on those boundary conditions“.84 Mit anderen Worten: Es geht um die Endlichkeitserfahrung, die Nichtnotwendigkeit dessen, was Menschen erfahren, das Andersseinkönnen, und – vor allem auf das konzentriert, was Menschen zufllig zustößt, ohne dass sie es ändern könnten – das, was O. Marquardt 78 Vgl. H. Deuser „Neville’s Theology of Creation, Covenant, and Trinity“ in American Journal of Theology & Philosopy 18 (1997), S. 217 – 229. 79 Neville Reconstruction of Thinking, aaO., S. 55: „Imagination cannot frame its experiential elements in a human way without the orienting importance of certain pervasively or seasonally appearing images that function as boundary conditions for worldliness.“ 80 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 55. 81 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 55. 82 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 55. 83 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 56. 84 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 56.
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das ,Schicksalszufällige‘ genannt hat.85 Neville räsonniert nun nicht über Endlichkeitserfahrung und Schicksal, sondern die den Menschen erfahrbaren und theoretisierbaren kosmologischen ,Bestimmtheiten‘ zeigen sich in ihrer Kontingenz als ,Abhängigkeit‘.86 Dann aber ist, was ist, herkünftig vom schöpferischen Akt Gottes, der als Unbestimmtheit (ex nihilo) dem vorliegenden Bestimmten (dem Geschaffenen) vorausgeht. Neville trägt hier dieses Gottesargument nicht explizit vor, wohl aber die dazu gehörenden Grundkategorien von ,essential features‘, ,conditional features‘ und ,harmony‘,87 ein Dreischritt, der sich wiederum mit Peirce’ kategorialer Semiotik interpretieren ließe (was Neville selbst an dieser Stelle nicht tut). Ich versuche hier eine entsprechende Paraphrase von Nevilles Gedankengang, auf dessen Basis nämlich erst klar wird, warum die Grenzbedingungen, wie sie im religiösen Symbol gefasst sind, gerade als Grenze von Endlichkeit / Unendlichkeit formuliert werden müssen. Das erste Element – so wie alles, was in irgendeiner Weise bestimmt ist, ein wesentliches Merkmal (,essential feature‘) für sich selbst haben muss – ist folglich das der Einheit bzw. der individuellen Einzigartigkeit (,uniqueness‘).88 Gerade diese ist kontingent und insofern religiös symbolisiert; schöpfungstheologisch z. B. im Gedanken der imago Dei oder der Erwhlung. Das zweite Element ist die Relation zu anderem, die ebenfalls jede Bestimmtheit mit sich bringt (,conditional feature‘). Der Zusammenhang der Dinge ist – gegenüber dem Chaos – auf diese Weise zum Ausdruck gebracht; schöpfungstheologisch z. B. in der Anordnung der Werke Gottes am Anfang symbolisiert. Das dritte Element ergibt sich aus dem faktisch ausbalancierten Dasein von Bestimmtheit, die Neville als ,Harmonie‘ bezeichnet: dass etwas überhaupt so bestehen kann, wie es ist. Schöpfung und Erhaltung symbolisieren diese ausbalancierte Harmonie des kontingent Bestehenden. Weil nun Kontingenz, in dieser Dreigliedrigkeit gedacht, als Abhängigkeit vom Unbestimmten (dem Unendlichen) nur erfasst werden kann – deshalb ist metaphysisch gesehen das Unendliche die Bedingung des Endlichen (creatio ex nihilo); kosmologisch lässt sich dies am Endlichen als kontingent verfasst selbst zeigen (,essential‘ bzw. ,conditional features‘ 85 O. Marquardt Apologie des Zuflligen. Philosophische Studien, Stuttgart (1986) 1996, S. 128. 86 Zu Nevilles kosmologischem Argument, gestützt auf Kontingenz als Abhängigkeit, s. o. Anm. 78. 87 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 57. 88 Reconstruction of Thinking, aaO., S. 57.
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und Harmonie), und religiçs symbolisiert tritt diese schöpferische Voraussetzung als Grenzbedingung auf, die dann konsequent nur als ,gebrochene‘ repräsentiert werden kann: an der Linie von endlich / unendlich. Im Kontext der Imagination muss deshalb keine Definition des Unendlichen oder des Göttlichen vorgelegt werden, es soll aber deutlich werden, dass der schöpferische Übergang von Nicht-Welt zu Welt gemeint ist, wenn von Grenzbedingungen des Endlichen / Unendlichen gesprochen wird. Das Endlich-Kontingente ist jedenfalls nicht einfach das Endlich-Kontingente und nichts sonst, sondern es fragt in Gestalt von Imagination nach seinen Bedingungen, wie es zu Kontingentem kommt. Hier liegt die unaufgebbare Bedeutung der religiösen Symbolisierung.89 3. Die Wahrheit des religiçsen Symbols Von religiösen Symbolen – als semiotisch analysierbaren Repräsentationen – wird verlangt, dass sie nicht nichts, sondern etwas repräsentieren. Ihre Objekt-Referenz ist aber als das Göttliche im Sinne der Grenzbedingungen alles Welthaften bestimmt worden, d. h. in einer ,Indirektheit‘90 des Verweisens, die eine Kontrolle bezüglich der wahren oder falschen Repräsentation schwierig macht. Nun liegt auch in diesem Punkt eine allgemeine philosophische Wahrheitstheorie Nevilles vor,91 nach der Wahrheit gefasst wird als „Wertübertragung vom Objekt eines Zeichens auf den Interpretationszusammenhang“.92 Diese Definition verdankt sich einerseits wiederum Peirce’ dreigliedrigem Zeichenbegriff, andererseits nennt Neville ausdrücklich Zusätze im Interpretantenbereich, die die jeweilige Wertübertragung in bestimmte Perspektiven einordnen, so dass es zu einer Verdoppelung auch der Zeichenstruktur kommt: das Zeichenereignis selbst (in seiner Dreistelligkeit von Objekt, Zeichen, Interpretant) wird noch einmal in Perspektiven von bestimmten Kontexten aus, darunter ,semiotische‘, platziert. Dies einmal vorausgesetzt bleibt es aber dabei, dass religiöse Symbole nach diesem Muster von Wahrheit als Wertübertragung zu behandeln sind, und die dazu wesentlichen Zusatzbedingungen 89 90 91 92
Vgl. Reconstruction of Thinking, aaO., S. 58. Reconstruction of Thinking, aaO., S. 56. Reconstruction of Thinking, aaO., S. 240. Vgl. Reconstruction of Thinking, aaO., S. 240 „Truth is the carryover of value from the object into the interpreters’ experience by means of signs, as qualified by biological, cultural, semiotic, and purposive contexts of the interpreters.“ – Vgl. auch Neville Recovery of the Measure, aaO., S. 65ff.
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sind diese: Erstens gilt, wie gezeigt, dass ,religiöse Objekte‘ Endlichkeit als Bestimmtheit ,transzendieren‘,93 also die Grenzbedingungen des Welthaften betreffen; zweitens gilt deswegen, dass als ,wahr‘ nur solche religiösen Symbole infrage kommen, die diese spezifisch ,gebrochene‘ Grenzbedingungsstruktur mitbringen.94 Auf dieser Basis wird es für Neville möglich, eine ganze Reihe von gesellschaftlich, historisch, psychologisch, religionsgeschichtlich etc. Kontexten in Betracht zu ziehen, in deren Rahmenbedeutung die Wahrheitsfrage jeweils eingeordnet werden muss. Man kann dies eine ,pragmatische Interpretation‘95 nennen, religiös spezifischer sind aber die konkreten Formen solcher Pragmatik, nämlich die jeweiligen religiçsen Lebenssituationen, wie sie traditionell geprägt und damit symbolisch in bestimmten Grenzen auch festgelegt sind;96 und die jeweilige Frçmmigkeit (,religious devotion‘),97 in deren traditionellen, kultischen, lebensorientierenden Praxisformen der Symbolgebrauch überhaupt erst richtig verstanden werden kann. Die Richtigkeit dieser Platzierungen und Phänomenbereiche ebenfalls vorausgesetzt stellt sich die Wahrheitsfrage pur eigentlich erst dort, wo Theologien vorliegen, wie sie in westlicher Tradition über philosophische Metaphysik und Erkenntnistheorie, aber auch über die Religionskritik der Neuzeit eigenes theoretisches Profil gewonnen haben.98 Neville möchte ausdrücklich nicht – das zeigt die Anlage des ganzen Buches – diese Ebene allen anderen vorziehen, so als wäre ein theoretischer Gottesbeweis ausreichend, um lebendige Religiosität in der Vielfalt ihrer Formen zu verstehen, sondern er ordnet die theologische Theorie der religiösen Erfahrung pragmatisch zu. Wahrheit hat in diesem Sinne mit Treue (,faithfullness‘) zu tun, deshalb kann die theologische Wahrheitsbestimmung nicht von den praktischen Kontexten der Frömmigkeit99 absehen. Die religiöse Symbolisierung muss weder erst erfunden werden, noch ist sie als subjektiv dann an einer quasi objektiven Hintergrundfolie zu messen. Dieser Prüfansatz geht an der geschichtlichen bzw. pragmatistisch verstandenen Realität vorbei. Ne-
93 94 95 96 97 98 99
Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of
Thinking, aaO., S. 242. Thinking, aaO., S. 243. Thinking, aaO., S. 243. Thinking, aaO., S. 244ff. Thinking, aaO., S. 252ff. Thinking, aaO., S. 259ff. Thinking, aaO., S. 267.
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ville kann sich in diesem Punkt auf Peirce ebenso wie auf Hegel berufen.100 Auch dies nun vorausgesetzt, wie ist die theologische Wahrheit zu bestimmen? 1) Die religiöse Gegenständlichkeit der Grenzbedingungen endlich / unendlich, das ,Göttliche‘ wird interpretativ – kraft religiöser Symbole – ,übertragen‘.101 2) Diese Übertragung geschieht in den genannten Interpretationskontexten, und diese sind nicht allein die Philosophie, sondern etwa Traditionsbildungen und ihre ,grand narratives‘ oder Frömmigkeitsformen und ihre Entwicklungen.102 Z. B. wird die Wahrheitsfrage bezüglich der Jungfrauengeburt nur im Rahmen solcher Traditionen sinnvoll zu platzieren und zu beantworten sein. 3) Eine bestimmte Wahrheitsbehauptung der Theologie ist – wie alle anderen Wahrheitsbehauptungen auch – eine Hypothese,103 die, fallibel im Sinne von Peirce’ Wissenschaftsauffassung, zur Überprüfung ansteht; die also korrekturfähig ist und einer ,theologischen Öffentlichkeit‘ bedarf, die diesen Korrekturprozess trägt.104 4) Für den besonderen Fall der theologischen Wahrheit gilt eine zusätzliche Spezifikation, dass sie das Göttliche, „its religious object […] the appropriate finite / infinite contrasts“,105 nicht nur ,versteht‘, wie die Einzelwissenschaften sonst sich den Zusammenhang von Phänomenen plausibel machen, sondern so, dass das ,religiöse Objekt selbst‘ verstanden,106 d. h. als wahr in aktuelle Interpretationsvollzüge übertragen wird. In diesem Sinne bleibt auch die Wahrheitsbestimmung religiöser Symbole sozusagen in den Phänomenen selbst, obwohl diese sich durchaus in ganz unterschiedlichen Kontexten interpretieren lassen.
100 101 102 103 104 105 106
Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of Reconstruction of
Thinking, aaO., S. 266. Thinking, aaO., S. 264. Thinking, aaO., S. 265. Thinking, aaO., S. 265. Thinking, aaO., S. 265f. Thinking, aaO., S. 266. Thinking, aaO., S. 266, vgl. 565.
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IV. Phnomenologie und Religiositt Was leistet semiotische Phänomenologie zur Begründung, Beschreibung und Bestimmung von Religiosität? Entsprechend den zu Beginn genannten drei Hauptformen von Phnomenologie lässt sich sagen, dass systematisch gesehen und in semiotischer Sicht der Dinge jetzt in neuer Weise dreifach unterschieden werden kann. 1. Begrndende Phnomenologie107 liegt dann vor, wenn im Erscheinen von etwas, im Auftreten und in der Präsenz von Erfahrung nach deren Herkunftsbedingungen gefragt bzw. auf diese geschlossen wird. Ob Peirce’ Denkprinzipien für ein solches ,transzendentales Argument‘ überhaupt noch in Betracht kommen kann, ist eine Frage für sich.108 Wenn Begründungen gesucht werden, so sind sie auf dieser Ebene des Auftretens von Phänomenen instinktiv überzeugend, im Rahmen der Wissenschaftssystematik zugleich fallibel und insofern hypothetisch. Religiöse Überzeugungen entsprechen diesem Status in hervorragender Weise und betonen selbstverständlich in religiösen Symbolen gerade die Gewissheit (,faith‘) des Glaubens, sie schließen aber die Korrekturfähigkeit im geschichtlichen Zusammenhang gerade nicht aus – jedenfalls nicht im Christentum und bezüglich der Gebrochenheit religiöser Symbolisierungen. 2. Beschreibende Phnomenologie liegt dann vor, wenn im Erscheinen von etwas, im Auftreten und in der Präsenz von Erfahrung nach deren existentialen,109 lebensweltlichen, kosmologischen Implikationen gefragt wird. Dieses Verfahren ist weniger begründend als vielmehr entdeckend, und es schließt Wertentscheidungen von vornherein ein. Am Beispiel von Nevilles Beschreibungsformen religiöser Symbole wird darüber hinaus deutlich, dass lebensweltlich orientierte Beschreibungen metaphysische bzw. kosmologische Argumente gerade nicht ausschließen.
107 Philosophiegeschichtlich gesehen im Muster der Konstitutionsanalysen Husserls, s. o. Anm. 5. 108 Entgegen der Tendenz von S. Pihlströms Studie muss wohl Peirce’ Realismus gerade nicht transzendental interpretiert werden, vgl. Pihlström „Peircean Scholastic Realismen and Transcendental Arguments“ in Transactions of the Charles S. Peirce Society 34 (1998), S. 382 – 413. – Vgl. auch Nevilles Kritik an Kant, Husserl und Heidegger in Neville Reconstruction of Thinking, aaO., S. 152ff. 109 Philosophiegeschichtlich gesehen gehört hierzu vor allem Heideggers Analytik des menschlichen Daseins, aber auch alle anderen Formen von ,Existentialphänomenologie’, s. o. Anm. 5.
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3. Semiotische Phnomenologie liegt dann vor, wenn im Erscheinen von etwas, im Auftreten und in der Präsenz von Erfahrung diese so versucht wird (strukturell) zu analysieren, wie sie auftritt, nämlich als Repräsentation, d. h. in Zeichenprozessen. Diese pragmatische Einbindung in die Geschichtlichkeit von Natur und Geist110 schließt kategoriale Theoriebildung und semiotische Strukturwissenschaft nicht aus. Dass gerade Religionsphilosophie und Theologie in dieser Gestalt von Phänomenologie am besten zu Hause sind, liegt einfach an deren umfassendem und offenem Charakter. An keiner Stelle muss aus wissenschaftstheoretischen Gründen Erfahrung reduziert werden, was gerade in der neuzeitlich und europäisch dominierenden Erkenntnistheorie objektivistischer Prägung der Fall war. Nevilles Analysen der religiösen Symbole111 zeigen in der Breite des religionsgeschichtlichen Materials und der religionsphilosophischen Perspektiven, was zeichentheoretisch bezüglich Religiosität im Lebenskontext möglich ist. Begründungen, Beschreibungen und Wahrheitsbestimmungen sind ohne Vorbehalte durchführbar. Religiosität erschließt Wirklichkeit; ein Erfahrungsbegriff, der Religiosität ausdrücklich nicht berücksichtigen würde, wäre fehlerhaft.
110 Insofern steht die zu Beginn genannte erste Hauptform, Hegels Phnomenologie des Geistes (s. o. Anm. 4), Peirce’ kategorialer Semiotik sehr nahe. Zu Peirce’ kritischer Anknüpfung an Hegel vgl. die erste der „Pragmatismus-Vorlesungen“ (1903) in The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, vol. 2 (1893 – 1913), ed. by the Peirce Edition Project, Bloomington, IN, 1998, S. 143f. 111 Sofern Neville aber Peirce’ Semiotik nicht durchgängig (vor allem nicht kosmologisch!) verwendet und ihren strukturuniversalen Anspruch nicht übernimmt, wird nach den hier zuletzt genannten drei Typen von Phänomenologie Nevilles Verfahren wohl zwischen der beschreibenden und der semiotischen am besten zu platzieren sein.
Evolutionäre Metaphysik als Theorie des menschlichen Selbst Beiträge zum Begriff religiöser Erfahrung „Ein solches deriviertes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und im Verhalten zu sich selbst verhält es sich zu einem Anderen.“1 S. Kierkegaard
I. Zur Lage Unsere Vorstellung vom Aufbau der Welt und von der Struktur des menschlichen Selbst sieht anders aus je nachdem, ob wir Gott dabei mitdenken oder nicht, genauer: mitdenken müssen oder nicht; und zumal diese Notwendigkeit wird sich nicht allein nach theoretischen Einsichten entscheiden lassen, sondern immer auch aufgrund von persönlichen Erfahrungen, die zwingend erscheinen. Wenn dafür weitere Beurteilungsmaßstäbe geltend gemacht werden sollen, so müssen diese allerdings über persönliche Gewohnheiten, Meinungen und Erwartungen hinaus gehen und wiederum im Aufbau der Welt und in der Struktur des menschlichen Selbst begründet sein. Eine zweite reflexive und selbstreflexive Stufe des Umgangs wird verlangt, so wie ihn die wissenschaftliche Einstellung seit langem übt und längst auch unserem Verhalten eingeprägt hat. Dieser Geist der Wissenschaften darf allerdings die faktischen Erfahrungszusammenhänge von Welt und Selbst nicht ignorieren wollen; auch dort nicht, wo die Wissenschaft am abstraktesten ist, so dass die gefundenen Prinzipien als gültig für die darunter liegenden Stufen wissenschaftlicher Praxis angesehen werden müssen. Mathematik, Logik (Semiotik) und bestimmte Grundlagenforschungen der Natur- und Geisteswissenschaften haben diesen Rang des Prinzipiellen, sofern es sich um begriffliche Generalisierungen bezüglich realer Wirkungen im 1
S. Kierkegaard Die Krankheit zum Tode (1849), übers. nach SD in SKS 11, 130; vgl. die dt. Ausgabe v. G. Perlet (= KT-P), Stuttgart 1997, S. 14.
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Aufbau der Welt und in der Struktur des Selbst handelt. Auf dieser Basis ist auch heute in einem realistischen Sinn von Metaphysik zu sprechen, wenn Allgemeinbegriffe zum Ausdruck dessen, was als Erfahrungszusammenhang zu gelten hat, notwendig werden. Sich auf Grundwissenschaften und Abstraktionen dieser Art einzulassen ist trotz des erheblichen Aufwandes und Risikos – zumal für fachfremde Zugänge – unvermeidlich. Denn die eigene Wissenschaftspraxis hat über gewohnte Selbstbeschreibungen hinaus auch Begründungspflichten in externer Perspektive. Je deutlicher der öffentliche Rechtfertigungsdruck wird, desto nötiger ist der Bedarf an Plausibilität im Rückgriff auf wissenschaftliche Prinzipien, die für alle verbindlich sein können. Religionswissenschaft, Religionsphilosophie und Theologie kennen diese Situation im akademischen Umfeld seit Generationen und stellen sich dieser Herausforderung mit Erfolg. Sonst bliebe nämlich unklar, ob und wie über die Anwendung von deskriptiven wissenschaftlichen (empirischen, historischen, philologischen) Methoden hinaus dem Gegenstand und Vollzug des religiçsen Glaubens überhaupt Realität zugesprochen werden kann. Symptomatisch für diese Problemlage ist auch, dass eine zeitgenössische Philosophie, die gegenüber drohenden gentechnischen Manipulationen auf Kierkegaards Beschreibung des Selbstseinkçnnens als religiösmetaphysische Orientierung zurückkommen möchte (Kierkegaard gilt in J. Habermas’ Sicht als der ,erste moderne Ethiker‘),2 sich zugleich gezwungen sieht, das gesuchte ,Unverfügbare‘ oder ,die Unbedingtheit von Wahrheit und Freiheit‘ sowohl postmetaphysisch wie postreligiçs zu interpretieren. Als Begründung wird nur angeführt, dass jene Unbedingtheit „jenseits der Konstituentien ,unserer‘ Lebensform […] jeder ontologischen Gewähr“ entbehre.3 Die ethische Intensität der individuellen Lebensformen und die ontologischen Verbindlichkeiten der religiös-metaphysischen Tradition scheinen unüberbrückbar auseinander zu liegen. Doch sind beide Seiten hier überhaupt richtig bestimmt worden? Ist die Unbedingtheit des menschlichen Selbstseinkçnnens schon dadurch relativiert, dass es – in externer Perspektive – immer auch anders gestaltetes und 2 3
J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 42002, S. 107, Anm. 65; vgl. S. 17ff. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur, aaO., S. 25 – 27. – Eine analoge Situation im distanziert gesuchten Anhalt an der religiös-metaphysischen Tradition zeigt die Friedenspreisrede, vgl. J. Habermas Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001.
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begründetes Selbstseinkçnnen gibt? Und ist der Begriff des Nachmetaphysischen schon dadurch gerechtfertigt, dass eine substanziell gedachte Ewigkeit (der Freiheit oder der Wahrheit) unter den Folgebedingungen neuzeitlicher Wissenschaften schwer nachvollziehbar erscheint? Wird hier nicht eine bestimmte (aristotelisch-mittelalterliche) Metaphysikauffassung für das letzte und einzige Modell genommen, um es damit für überholt zu erklären? Es ist an diesem Punkt hilfreich, zunächst eine grobe systematischtypologische Epochenübersicht vorzunehmen, um einstufen zu können, mit welchen wissenschaftlichen Grenzziehungen wir es heute zu tun haben. Drei (kosmologische bzw. wissenschaftliche) Weltbilder sind in dieser Hinsicht zu identifizieren:4 1) Das antik-christliche Weltbild des Mittelalters unterscheidet diese Erde vom Himmel (oben) und von der Hölle (unten); supranaturale Mächte sind in dieses Weltbild integriert, die Transzendenz Gottes wirkt in dem, was als Natur und Kosmos erfasst wird. – Es ist dieses Weltbild, das R. Bultmanns Gegenprogramm der Entmythologisierung vor Augen hatte, um den christlichen Glauben nicht fälschlich von einer ihm nur äußerlichen Kosmologie abhängig zu machen.5 2) Das frhmoderne (neuzeitliche) Weltbild ist das der klassischen Physik, wonach die Natur in festen Maßgrößen, kausal gedachter Mechanik und absoluten Raum- und Zeitkoordinaten ausgelegt wird. Göttliche Eingriffe sind dieser Natur nicht eingeschrieben, sondern als supranaturale der physikalischen Natur fremd. Hier erst kommt es zum Zusammenstoß eines ,wissenschaftlichen‘ mit einem ,religiösen‘ Weltbild. 3) Das heute für Europa und Amerika gültige sptmoderne Weltbild bringt den zuletzt genannten Konflikt zum Ausdruck: Entweder in Vermittlungsversuchen, die sich vor allem auf die nicht-klassische Physik und nicht-deterministische Wissenschaftsmodelle des 20. Jahrhunderts stützen können; oder es kommt im Austausch mit anderen Kulturen nicht-europäischer Prägung (auch in Auflösung der hier unterstellten Typologie) zu eigenen Entwicklungen, die ganz anders verlaufen können als die uns inzwischen bekannte Debattenlage unter dem Stichwort Science and Religion. 4 5
Vgl. dazu R. C. Neville Symbols of Jesus. A Christology of Symbolic Engagement, Cambridge 2001, S. 6 – 10; zum Begriff der Sptmoderne, wie er im Folgenden benutzt wird, R. C. Neville Religion in Late Modernity, Albany 2002, S. 144 – 150. Sehr typisch für diese Sicht ist der Artikel von E. Dinkler „Weltbild III. Im NT“ in RGG3 6 (1962), Sp. 1618 – 1621.
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Im Ganzen wird heute festzustellen sein, dass ein harter (methodischer wie weltanschaulicher) Gegensatz zwischen den sogenannten exakten Wissenschaften und den Geisteswissenschaften (einschließlich Religionsphilosophie und Theologie) spätmodern nicht mehr zwingend erscheint. Deshalb muss auch zur Bestimmung des religiösen Glaubens (und seiner Gegenstände) durchaus nicht verkrampft an einem vorwissenschaftlichen (antiken) Weltbild festgehalten werden. Die Alternative dazu aber bleibt meist noch in der Schwebe, weil die Polarisierungen des frühmodernen Weltbildes – zumindest in öffentlichen und populären Debatten – immer noch stark nachwirken. Dann erscheint eine sich ,modern‘ gebende Abschwächung inhaltlicher Glaubensaussagen ebenso naheliegend wie umgekehrt deren (supranaturale) Beteuerung; und die Stellung der spätmodernen Philosophie sieht sich in dem von J. Habermas markierten Dilemma, Metaphysik als veraltet hinter sich lassen zu wollen, während neue Formen von begründeten und verpflichtenden Generalisierungen mühsam wieder gesucht werden müssen. An dieser Stelle ist vor allem die Frage entscheidend, ob die frühmoderne Tendenz, den Naturbegriff den Naturwissenschaften zu überlassen, während die Philosophie sich von der Substanz weg- und dem Subjekt zuwendet, der einzige und richtige Weg gewesen ist. In Hegels Philosophie des Geistes ist diese Wendung gerade auch religionsphilosophisch und christologisch ausgezeichnet worden. Für das Selbstbewusstsein muss neuzeitlich gesagt werden, dass es „durch seine Aufopferung die Substanz als Subjekt hervorbringt“, darin besteht die „Entußerung der Substanz“, „der Schmerz […], daß Gott gestorben ist“ – zugleich der „Tod der Abstraktion des gçttlichen Wesens, das nicht als Selbst gesetzt ist.“6 Der geistige Akt der Subjektwerdung, der „spekulative Charfreitag“,7 geschieht zwar geschichtlich universal, aber abgehoben von natürlichen Bedingungen. Die neuzeitliche Substantialität des Subjekts wird nicht mehr kosmologisch konzipiert, und dies vereinfacht dann im 19./ 6
7
G. W. F. Hegel Phnomenologie des Geistes, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 522f., 546. – Vgl. entsprechend in Die Vernunft in der Geschichte (Vorlesungen ber die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I), hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 45: „Das Wahre ist ein in sich Allgemeines, Wesenhaftes, Substanzielles; und solches ist allein im und für den Gedanken. Das Geistige aber, das, was wir Gott nennen, ist eben die wahrhaft substanzielle und in sich wesenhafte individuelle subjektive Wahrheit.“ G. W. F. Hegel Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivitt in der Vollstndigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, Hamburg 1962, S. 124.
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20. Jahrhundert die spätmoderne Verabschiedung von Metaphysik und substanzieller Subjektivität zugunsten von relativistischem Subjektivismus.8 Denn zwischen Realität und Fiktion sachhaltig zu unterscheiden war längst die Domäne der Naturwissenschaften, die Subjekte hatten nur noch geisteswissenschaftliche Ersatzfunktionen zu übernehmen und verlieren mehr und mehr auch diese. Greift aber die Relativität von Weltbildkonstruktionen heute auch auf die Naturwissenschaften über, so sind Subjekt und Substanz metaphysisch wie positivistisch aufgehoben, und die Frage der ontologischen Gewissheit stellt sich noch umfassender und fundamentaler als sie ohnedies in der reformatorischen Theologie von Beginn an wirksam war. Weder Substanz noch Subjekt können zukünftig prinzipielle Orientierung versprechen, sondern allein – jene moderne Entwicklung aufgreifend – der Begriff des Selbst, sofern er in seiner Verhältnisbildung von Leib-Seele-Geist kosmologisch darstellbar ist. Die evolutionären Generalisierungen, so wie sie von den im Erfahrungsprozess teilnehmenden Menschen zum Ausdruck gebracht werden, sind gültig für den Aufbau der Welt und die Struktur des Selbst. Wenn im Folgenden als beispielhafte Grundwissenschaft die Mathematik zum Einstieg in eine neu gefasste Problemklärung bemüht wird, so geschieht dies aus drei Gründen: 1) Der zur Begründung des Zusammenhanges von Metaphysik, Kosmologie und Struktur des Selbst beanspruchte Begriff des Kontinuums hat seinen ursprünglichen Ort in der Mathematik – und das vor allem im Blick auf die neuen Möglichkeiten der Bestimmung von Unendlichkeit seit dem 19. Jahrhundert (G. Cantor für die Mathematik, C. S. Peirce für die Philosophie).9 2) Die Mathematik hat zudem mit K. Gödels Unvollstndigkeitsstzen eine epochale Veränderung des Verhältnisses zwischen mathematischem Formalismus und meta-mathematischen Kontexten eröffnet, deren wissenschaftliche wie weltbildliche Bedeutung erst zunehmend erfasst wird. Dabei kommt es entscheidend auf die Stellung der Mathematik in 8 9
Insofern hat auch die Geist-Philosophie Hegels (wider ihre Absichten) zur „Krise der Subjektivität“ beigetragen, vgl. Ingolf U. Dalferth Die Wirklichkeit des Mçglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, S. 353f. Vgl. im Blick auf Peirce die Erläuterung der einschlägigen Grundbegriffe bei Th. Latzel ,Kontinuität’ bzw. ,Kontinuum’ als Eröffnung von Möglichkeit: „Versuch der Annäherung an einen Kernbegriff relationaler Erkenntnistheorie und Ontologie mit Hilfe von C. S. Peirce“ in Im Kontinuum. Annherungen an eine relationale Erkenntnistheorie und Ontologie, hg. v. W. Härle, Marburg 1999, S. 241 – 257.
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Relation zu den anderen Wissenschaften an: Die Mathematik, in ihrer herausragenden Zuständigkeit für formale Relationen, steht mit dieser Abstraktionsleistung an der Spitze aller anderen Wissenschaften, findet in diesen nicht nur mögliche Anwendungen (für Quantifizierungsprobleme), sondern ihre Prinzipien sind zugleich modellhaft für die Strukturierung der Wirklichkeit, ihrer Erkenntnis und Darstellung in den anderen Wissenschaften.10 3) Die geschichtliche Prozessualität des Geistes hatte Hegel zwar gesehen, aber eine Logik, die diskontinuierliche Freiheitsspielräume offen hält und trotzdem (natürliche) Kontinuität denken lässt, war ihm fremd geblieben.11 Noch das 20. Jahrhundert hat – überzeugt, die neue nichtklassische Physik sei weltbildstiftend – die Bedeutung der Mathematik gerade für eine evolutionäre Metaphysik unterschätzt. Die Theologie hat allen Grund, jetzt anders zu verfahren.
10 Dies ist jedenfalls Peirce’ Auffassung von der Spitzenstellung der Mathematik für die ,Klassifikation’ der Wissenschaften, vgl. M. Grünewald „C. S. Peirce’s semiotischer Realismus“ in MJTh VI (1994), S. 101 – 141; hier S. 107 – 111. – Ganz anders liegen die Dinge, wenn die Mathematik konstruktivistisch verstanden wird; und eine vermittelnde Position liegt vor, wenn die Mathematik aufgrund ihrer bloß formalen Überzeugungskraft bestimmten Anwendungen zugeordnet werden muss. Das geschieht z. B., wenn das Verhältnis von Science (empirisch) und Mathematik (nicht-empirisch) analog gesetzt wird dem Verhältnis von Theologie (abhängig von spezifisch menschlicher Erfahrung) und Science (der diese menschliche Erfahrungsseite fehlt), vgl. M. Gerhart und A. M. Russell „Mathematics, empirical science, and religion“ in Religion and Science. History, Method, Dialogue, ed. by W. M. Richardson und W. J. Wildman, New York / London 1996, S. 121 – 129. 11 Vgl. die entsprechende Einstufung in Zustimmung und Kritik durch C. S. Peirce, z. B. in Charles Sanders Peirce: Religionsphilosophische Schriften, hg. v. H. Deuser, Hamburg (1995) 2000, S. 490f., Anm. 23; oder in Evolutionre Liebe (1893) in Naturordnung und Zeichenprozeß, hg. v. H. Pape, Frankfurt am Main 1991, S. 258f.; entsprechend auch die Einstufung von Schleiermacher und Peirce durch J. Dittmer Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive. Triadizitt im Werden, Berlin / New York 2001, S. 454: „daß Prozessualitt und Kontinuitt nur ber dreistellige und nicht ber zweistellige Elementarstrukturen konzipiert gedacht werden kçnnen.“
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II. Mathematische Unendlichkeit und Unvollstndigkeit 1. G. Cantors Mengenlehre Die mathematische Erneuerung des Begriffs der Unendlichkeit ist Ende des 19. Jahrhunderts Georg Cantor (1845 – 1918) gelungen. Sie stand von Beginn an in einem theologisch-kosmologischen Kontext,12 und es ist nicht zuletzt diese meta-mathematische Bedeutung der Mengenlehre Cantors, die sie fachintern als äußerst umstritten erscheinen ließ. Sprichwörtlich ist der Satz von C.F. Gauß (1831), das ,Unendliche‘ sei ,nur eine façon de parler‘,13 und der Berliner Mathematiker L. Kronecker (1823 – 91) bezeichnete seinen Kollegen G. Cantor gar als ,einen Verderber der Jugend‘.14 Worin besteht Cantors Entdeckung? Die Reihe der natrlichen Zahlen (N = 1, 2, 3, …) gilt als ,relativ‘ oder ,potentiell‘ unendlich, weil immer weiter gezählt und dies (so die Auffassung seit Aristoteles) niemals wirklich zu Ende geführt werden kann. Dagegen steht die Vorstellung einer ,absoluten‘ oder ,aktualen‘ Unendlichkeit für den Fall, dass eine unendliche Zahl von Elementen so12 G. Cantors Vater war jüdischer Abstammung aber lutherisch erzogen und hat in dieser Glaubensauffassung seine Familie in St. Petersburg geprägt. – Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf die Darstellungen von Bruce H. Hedman „Cantor’s Concept of Infinity: Implications of Infinity for Contingence“ in Perspectives on Science & Christian Faith 45 (1993), no. 1, S. 8 – 16; U. Kropacˇ Naturwissenschaft und Theologie im Dialog. Umbrche in der naturwissenschaftlichen und logisch-mathematischen Erkenntnis als Herausforderung zu einem Gesprch, Münster 1999; A.W. Moore The Infinite, London / New York 2002; vgl. auch G. J. Chaitin Conversations with a Mathematician. Math, Art, Science and the Limits of Reason. A collection of his most wide-ranging and non-technical lectures and interviews, London 2002; Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Das Unendliche, 1/2001; Spektrum der Wissenschaft, Biographie: Kurt Gçdel, 1/2002; C. S. Peirce: Das Denken und die Logik des Universums. Die Vorlesungen der Cambridge Conferences von 1898, hg. v. K.L. Ketner, Einl. u. Kommentar v. H. Putnam und K.L. Ketner; dt. Übers. v. H. Pape, Frankfurt am Main 2002; W. Achtner Die Chaostheorie. Geschichte, Gestalt, Rezeption, Berlin 1997 (EZW-Texte 135); A. Beutelspacher Pasta all’infinito. Meine italienische Reise in die Mathematik, München 22002; ders. Mathematik fr die Westentasche. Von Abakus bis Zufall, München / Zürich 22001. 13 Vgl. B. H. Hedman „Cantor’s Concept of Infinity“, aaO., S. 10; U. Kropacˇ Naturwissenschaft und Theologie im Dialog, aaO., S. 154. 14 Vgl. in Spektrum 1/2002, S. 25; vgl. A. W. Moore The Infinite, aaO., S. 121. – G. J. Chaitin summiert die Einwände gegen Cantors epochale Entdeckung wie folgt: „Some people said, it’s theology, it’s not real, it’s a fantasy world, it has nothing to do with serious math!“
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zusagen ,simultan‘15 existiert. Diese realistische Interpretation der Unendlichkeit hat Cantor dadurch unterstreichen können, dass er nicht nur immer größere Reihen entwarf (die aktual-unendliche Menge y kann durch neue Reihen wie y, y+1, y+2, … und entsprechende Potenzreihen immer mehr vergrößert gedacht werden), sondern darüber hinaus zweierlei hat beweisen können: 1) Potenzmengen geben die untereinander multiplizierten Teilmengen einer Menge an.16 Dass erstere mchtiger sind als letztere konnte Cantor dadurch zeigen, dass die Abbildbarkeit zweier Mengen in einer Eins-zuEins-Korrespondenz ihrer Elemente für den Fall des Verhältnisses einer Menge S zur Potenzmenge ihrer Teilmengen P(S) nicht aufgeht. Der ,abzählbaren‘ Unendlichkeit von S steht die ,überabzählbare‘ Unendlichkeit von P(S) gegenüber, und diese höheren Mächtigkeiten bezeichnet Cantor mit 4 04 ,14 ,24 ,3, … 2) Die Menge der reellen Zahlen (rationale Zahlen und darüber hinaus Wurzeln, Logarithmen etc.), das konnte Cantor ebenfalls beweisen, ist von höherer Mächtigkeit als die Menge der natrlichen Zahlen. Fazit: „Es gibt also eine Stufenfolge im Bereich des Transfiniten!“17 D. h. mit derartigen Mengen kann mathematisch durchaus umgegangen werden und eine realistische Auslegung liegt nahe; und es ist die überabzählbare Menge der reellen Zahlen R, die Cantor als „perfekt zusammenhängende Menge, also ein Kontinuum“18 auffasst. Aufgrund unendlicher Teilbarkeit ist es hier vorstellbar, dass immer mögliche Diskontinuität mit dem Kontinuum zusammen geht. Von Leibniz über Cantor bis Peirce ist es diese Vorstellung des Universums,19 in der die nicht-deterministische Kreativität Gottes sich als natürliche Hypothese mit großer Überzeugungskraft nahe legt.
15 U. Kropacˇ Naturwissenschaft und Theologie im Dialog, aaO., S. 154. 16 Erläutert nach Kropacˇ Naturwissenschaft und Theologie im Dialog, aaO., S. 157f.: Wenn A = {a,b,c} als Menge mit drei Elementen gilt, dann besteht die Potenzmenge aus P(A) = { {}, {a}, {b}, {c}, {a,b}, {a,c}, {b,c}, {a,b,c} }; vgl. Hedman „Cantor’s Concept of Infinity“, aaO., S. 10. 17 U. Kropacˇ Naturwissenschaft und Theologie im Dialog, aaO., S. 160. 18 W. Achtner Die Chaostheorie, aaO., S. 17; vgl. A. W. Moore The Infinite, aaO., S. 153f. 19 Vgl. Hedman „Cantor’s Concept of Infinity“, aaO., S. 11, 13; K. L. Ketner und H. Putnam in C. S. Peirce: Das Denken und die Logik des Universums, aaO., S. 68f.; A. W. Moore The Infinite, aaO., S. 122.
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2. Widerspruch zu I. Kant Das frühmoderne Weltbild der klassischen Physik ist (gemäß Newtons Mechanik) deterministisch in dem Sinne, dass miteinander reagierende Teilchen kausalen Beschreibungen unterliegen, die tendenziell alles Natürliche vollständig durchsichtig machen können. Vorstellungen des Infiniten kommen dabei zwar in den mathematischen und metaphysischen Rahmenbedingungen vor, für Kant z. B. in der Apriorität20 von Raum und Zeit, aber die Unendlichkeit in der Welt oder der Welt wird für Kant trotzdem zu einem wissenschaftsmethodisch unvollziehbaren Gedanken.21 Seine Unterscheidung zwischen Verstandesbegriffen, die auf empirische Gegenstände bezogen sein müssen und insofern kontrollierbar gewusst werden können, und Vernunftbegriffen, die auf regulative Funktionen beschränkt werden und gerade kein gegenständliches Wissen zur Darstellung bringen, respektiert in gewissem Sinne das Unendliche, indem es in das Reich der Ideen verschoben wird. Die apriorische Verstandestätigkeit aber steht gesetzgebend der sinnlichen Anschauung gegenüber und fügt das begriffsbildend hinzu (z. B. die Geometrie Euklids),22 was die Natur dann vollständig gesetzlich erscheinen lässt. Wie und warum Geist und Natur aber überhaupt übereinstimmen können lässt sich weder empirisch demonstrieren noch aus apriorischen Fähigkeiten als solchen herleiten. In den Bruchstellen von Kants System wird erkennbar, dass hier ein Drittes fehlt und bemüht werden muss, damit Erklärungen und Entwicklungen überhaupt möglich werden. Eine solche Bruchstelle zeigt das Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft, wo Kant einräumen muss: „Dieser Schematismus unseres Verstandes […] ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten“! 23 Kant nennt den Vermittlungsvorgang, dass zu einer Anschauung ihr bestimmter 20 Vgl. I. Kant Kritik der reinen Vernunft, B 47f.: „Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei.“ – Vgl. die Kant-Darstellungen bei A. W. Moore The Infinite, aaO., chap. 6, und Ph. Clayton The Problem of God in Modern Thought, Grand Rapids / Cambridge 2000, S. 318ff. 21 Vgl. zur ersten und zweiten „Antinomie“ bei A. W. Moore The Infinite, aaO., S. 87 – 93. 22 Vgl. Hedman „Cantor’s Concept of Infinity, aaO., S. 11. – Zur Relativierung der Axiome Euklids bereits in der Mathematik des 19. Jahrhunderts vgl. E. Nagel und J. R. Newman Der Gçdelsche Beweis, Wien / München 1964, S. 14ff. 23 Kritik der reinen Vernunft, aaO., A 141.
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Begriff gefunden werden kann, das Schema – das in der abstrakten Struktur dessen besteht, was in einem Bild betrachtet werden kann; d. h. das Schema hat die Funktion, „einem Begriff sein Bild zu verschaffen“.24 Das Schema ist ein Gedankenprodukt (z. B. ein Triangel), es ist erkenntnistheoretisch notwendig und doch auf Bilder angewiesen, die allerdings dem Begriff ,nicht völlig kongruieren‘; d. h. die ,reine Einbildungskraft‘ muss sich auf etwas stützen,25 was ihrer apriorischen Stellung eigentlich zuwider läuft: die natürliche Qualität von Bildern – und diese vermittelt das Schema. Eine realistische Interpretation des Verhältnisses von Geist und Natur hat Kant für die Verstandesbegriffe nicht zulassen wollen. Sie würde darin bestehen, den natürlichen, kosmologischen Bedingungen den Vorrang zu lassen, aus dem der menschliche Geist sich geprägt erkennt („deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten“). Das würde vor allem für die Mathematik bedeuten, dass ihre Musterbildungen nicht bloße Konstruktionen darstellen, die für empirische Begriffsbildungen unvollziehbar erscheinen, sondern auf Vorgaben reagieren, die mit der Evolution gegeben und entwickelt wurden.26 Wie komplex dieser Zusammenhang auch immer angesetzt werden muss, er ist die Voraussetzung dafür, dass Wissen zustande kommen kann. Der Grad an Komplexität des mathematischen Kontinuums (für Cantor definiert als die transfinite Menge der reellen Zahlen) bürgt heute für ein Verstehensmodell an der Front evolutionärer Einsicht in die Generalisierungen der Natur, kurz: für eine evolutionre Metaphysik, in deren Namen ausdrücklich gegen Kants (frühmoderne) Transzendentalphilosophie geltend gemacht werden muss: „Die außergewöhnliche Disposition des menschlichen Geistes, alles unter der schwierigen und fast unverständlichen Form eines Kontinuums zu sehen, kann man nur durch die Annahme erklären, dass jeder von uns in seiner eigenen wirklichen Natur ein Kontinuum ist.“27
24 Kritik der reinen Vernunft, aaO., A 140. 25 Kritik der reinen Vernunft, aaO., A 141f. – Vgl. zu den Interpretationsproblemen des Schematismus-Kapitels G. Seel in Kritik der reinen Vernunft (Klassiker Auslegen 17/18), hg. v. G. Mohr und M. Willascheck, Berlin 1998, Kap. 9, bes. S. 230ff. 26 Vgl. Hedman „Cantor’s Concept of Infinity, aaO., S. 11: „Cantor was explicitly opposed to any Kantian interpretation of science, and maintained passionately that the transfinites were not his mind’s own invention, but were suggested to him through physical considerations.“ 27 C. S. Peirce: Das Denken und die Logik des Universums, aaO., S. 219f.; zum expliziten Bezug auf Kant vgl. aaO., 217ff.
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Eine weitere Bruchstelle im System – und in diesem Falle als selbständiger Teil des Systems ausgebaut – ist Kants Kritik der Urteilskraft, sofern sie versucht, dieses gespürte Dritte, das zwischen Begriff und Erfahrung vermitteln müsste, so zu benennen, dass an der zuvor festgelegten strikten Trennung von Verstand und Vernunft doch nichts zurückgenommen werden muss. Es ist der Begriff der „Zweckmäßigkeit der Natur“, der für Kant nicht mehr (im Sinne der antik-mittelalterlichen Metaphysik) empirisch erkannt und zugleich auf einen „freien Willen“ (Gottes) zurückgeführt werden kann, der aber trotzdem für die einheitliche Begriffsbildung als notwendige (transzendentale) Voraussetzung erscheinen muss.28 Dann kommt es zu der schwierigen – und für die Kritik der Urteilskraft durchgängig typischen – Konstruktion, dass die Natur empirisch betrachtet einer Vielfalt von Gesetzen unterliegt, die ihre Einheitlichkeit aber gar nicht zu erkennen geben; genau diese Einheitlichkeit ist aber für die Erkenntnis der Natur unabdingbar. Die menschliche (transzendental bestimmte) Urteilskraft muss folglich etwas annehmen, wofür sie in der Sache eigentlich gar keinen Grund hat: „daß das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen dennoch eine, für uns zwar nicht zu ergründende aber doch denkbare, gesetzliche Einheit, in der Verbindung ihres Mannigfaltigen zu einer an sich möglichen Erfahrung, enthalte.“29 Das Dritte ist ein Kunstprodukt, in Kants Worten „ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft“, weder ein „Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff“,30 sondern eine Zutat, die das erklären muss, was sich sonst nicht erklären lässt. Dass Natur und Geist zusammen passen ist das Erstaunliche,31 und Kant verzichtet nicht darauf, dieser wunderbaren Passung mit unermüdlicher Konsequenz und bis in die äußersten Belastungsmöglichkeiten seines kritischen Vernunftprogramms nachzuforschen: Es ist die subjektive Allgemeingltigkeit des ästhetischen Urteils über das Schçne und über die Vollkommenheit des Erhabenen,32 die sich der Urteilskraft gewissermaßen aus den Dingen selbst ergibt, ohne doch diese objektive Begründungsseite je als Wissensbegriff zuzulassen. So ist das mathematisch „Unendliche […] schlechthin (nicht bloß komparativ) groß“, und es „als ein Ganzes 28 I. Kant Kritik der Urteilskraft, Einleitung, A XXVIIff.; vgl. dann die „Analytik“ und „Dialektik der teleologischen Urteilskraft“, Kritik der Urteilskraft, aaO., §§ 61 – 78. 29 Kritik der Urteilskraft, aaO., A XXXI. 30 Kritik der Urteilskraft, aaO., A XXXII. 31 Vgl. V. Gerhardt Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 319f. 32 Vgl. z. B. Kritik der Urteilskraft, aaO., § 8 u. § 30.
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auch nur denken zu können, zeigt ein Vermögen des Gemüts an, welches allen Maßstäben der Sinne übertrifft“ – doch das alles ist nur die „Idee eines Noumenons“! 33 Ob die Urteilskraft zur plausiblen Vermittlung von Idee und Erfahrung der Dinge – aus Anlass des Kunst- und Naturschönen wie der Zweckmäßigkeit der Natur – nicht doch mehr tut, als ihr von der Verstand-Vernunft-Systematik eigentlich erlaubt ist, kann hier offen bleiben. Bemerkenswert sind jedenfalls die Neuerungen der Kritik der Urteilskraft: die Einführung des ,sensus communis‘, um die Allgemeinheit und Mitteilbarkeit des Urteils zu sichern;34 des „unmittelbaren Interesses an der Schçnheit der Natur“;35 des Genie-Begriffs und der „ästhetischen Idee“,36 deren Produktivität ihr „unmittelbar von der Hand der Natur erteilt“ worden sein muss.37 – Wenn uns heute mitgeteilt und mit Fotos belegt wird, das Hubble-Teleskop blicke „in die nicht zu ermessende Tiefe des Universums“, in die Zonen („400 bis 700 Millionen Jahre“) nahe dem „Urknall“, d. h. „nahe der Grenze des theoretisch sichtbaren Alls“:38 Sind dies empirische Daten geordnet von Verstandesbegriffen? Oder bloß regulative Ideen zum teleologischen Gebrauch des Unendlichen? Oder subjektive Geschmacksurteile im Blick auf das Naturschöne? Oder Produkte eines Genies aufgrund unmittelbarer Naturbeziehung? Oder bloße „Darstellungen“ (Hypotyposen), die aber im Blick auf Ideen nicht begrifflich-schematisch, sondern bloß symbolisch vorgenommen werden können, so dass eine „sinnliche Anschauung […] untergelegt wird“ – so wie „alle unsere Erkenntnis von Gott bloß symbolisch“ ist? 39
Kritik der Urteilskraft, aaO., § 26, A 91. Kritik der Urteilskraft, § 40; vgl. V. Gerhardt Immanuel Kant, aaO., S. 271 – 277. Kritik der Urteilskraft, aaO., § 42. Kritik der Urteilskraft, aaO., § 49; vgl. zur Auszeichnung der sthetischen Idee D. Teichert Immanuel Kant: ,Kritik der Urteilskraft’. Ein einfhrender Kommentar, Paderborn 1992, S. 93f. 37 Kritik der Urteilskraft, aaO., § 47, A 182f. 38 „Unglaublich dieser Kosmos“ in F.A.Z. Nr. 60, 11. 3. 2004, S. 11. 39 Vgl. zum Darstellungs- und Symbolbegriff KU, § 59 (die beiden Zitate aaO., A 251 u. A 254). – Es ist bezeichnend, dass Kants Versuch, über die Urteilskraft die immerhin denkbare und fühlbare Einheit von Idee und Natur nachzuweisen, die Analogie zur Sittlichkeit bemühen muss: die „Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“ (§ 59), die regulative Kraft der Idee „als ob es ein objektives Prinzip wäre“ (§ 76, A 340), die Einheit des Naturzwecks „im übersinnlichen Substrat der Natur“ (§ 81, A 370), und nur insofern ist es auch „notwendig anzunehmen: nämlich es sei ein Gott“ (§ 87, A 420). 33 34 35 36
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Steht der mathematische Begriff des Unendlichen, wie Kant ihn noch nicht hat wissen können, aber in Korrespondenz mit den evolutionären Ereignisstrukturen der Natur, so ist deren Produktivität gerade im Miteinander von kreativer Unbestimmtheit und Regelhaftigkeit zu erkennen; eine Wechselwirkung an den Grenzen menschlichen Verstehens, das doch selbst entwicklungs- und korrekturfähig und also immer wieder neu eröffnet werden kann. Der Begriff des Kontinuums ist dann auszudehnen auf den Zusammenhang von Geist und Natur; und was in menschlicher Perspektive wahrgenommen, begriffen und verändert werden kann reagiert als geistige Aktivität auf nichts anderes als das, was die Natur selbst ist. Dann gilt, „dass es im Wesen der Dinge etwas gibt, was dem Vernunftprozess entspricht, dass die Welt lebt und sich bewegt und IHR SEIN HAT in einer Logik der Ereignisse.“40 3. K. Gçdels Unvollstndigkeitsstze Dass gerade die Mathematik Ende des 19. Jahrhunderts auf Grenzreflexionen des Unendlichen stieß, war ein überraschendes Ergebnis der Wissenschaftsentwicklung – gemessen an den frühneuzeitlichen Voraussetzungen, die auf vollständige Bestimmbarkeit, Abschließbarkeit, Ausrechenbarkeit zu deuten schienen. Ebenso unerwartet waren die mit den enormen Innovationen der mathematischen Logik zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugleich auftretenden prinzipiellen Schwierigkeiten, in die das Programm einer logischen Idealsprache geraten war.41 Herausragend ist hier Kurt Gödels Nachweis (1931), dass es wahre Aussagen gibt, die nicht beweisbar sind; anders gesagt: Arithmetische Systeme sind prinzipiell unvollständig, weil in ihnen Sätze auftreten, die weder beweisbar noch widerlegbar sind bzw. die nur aufgrund von zusätzlichen Axiomen bewiesen werden können; doch für das damit beanspruchte neue System gilt wiederum die Unvollständigkeit etc. … ad infinitum.42 Während 40 C. S. Peirce: Das Denken und die Logik des Universums, aaO., S. 218; vgl. Hedman „Cantor’s Concept of Infinity“, aaO., S. 11: „In studying continuity Cantor made his epochal discovery of nondenumerability of the real numbers, from which modern set theory has sprung. The counter-intuitive, even paradoxical, properties of the transfinites argue against a Kantian a priori, and suggest that physical reality has impinged upon the mind from outside itself.“ 41 Vgl. den genauen Überblick bei Ingolf U. Dalferth Religiçse Rede von Gott, München 1981, Kap. 2.1 u. 2.3. 42 Vgl. A. Beutelspacher Pasta all’infinito, aaO., S. 46f.; U. Kropacˇ Naturwissenschaft und Theologie im Dialog, aaO., S. 221 – 230; E. Nagel und J. R. Newman Der Gçdelsche Beweis, aaO.; A. W. Moore The Infinite, aaO., S. 172ff. – Ich verdanke
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Cantor die Realitätssicht der Wissenschaften auf Unendlichkeit hin öffnete, zeigte Gödel die Grenzen deduktiver Beweisbarkeit mit ihren eigenen Mitteln – und damit ist die Mathematik der ,Vorbote‘ aller anderen Wissenschaften! 43 Gödels Leistung besteht, noch etwas genauer bestimmt, darin, dass er das Problem der Selbstanwendung durch die Arithmetisierung (GödelZahlen) und mathematische Abbildung meta-mathematischer Sätze handhabbar machen konnte. Zur unlösbaren Selbstanwendung kommt es dann, wenn – am Beispiel des Klassenbegriffs demonstriert44 – nach der Klasse aller Klassen gefragt wird. Ist N die Klasse aller der Klassen, die sich nicht selbst einschließen (z. B. ist die Klasse aller Fische nicht selbst ein Fisch; aber die „Klasse aller denkbaren Dinge ist selbst denkbar“), so kommt es zu folgendem Widerspruch: Weil N alle Klassen enthalten soll, die sich nicht selbst einschließen, fällt N selbst auch unter diese und ist dann umgekehrt eine solche Klasse, die sich selbst einschließt – damit ist N aber zugleich nicht das, was es sein soll, die Klasse der Klassen, die sich selbst nicht einschließen. Gödels neues Verfahren besteht nun darin, logische Zeichen und Ableitungen durch Zahlenzuordnungen zu arithmetisieren und damit abbildbar zu machen. Die widersprüchliche
dem gemeinsamen Seminar mit Wolfgang Achtner (und Albrecht Beutelspacher) im Wintersemester 2001/02 und der von W. Achtner durchgeführten Tagung Gçdel und knstliche Intelligenz in der Ev. Akademie Arnoldshain (April 2003) die dringend notwendigen Hilfen zu dem, was ich mir auf diesem Gebiet fachfremd verständlich machen konnte. Das gilt entsprechend für die kritischen Hinweise von Ulrich Kohlenbach (Aarhus) und die Tagungsbeiträge von Rosemarie Rheinwald und Dirk Evers, vgl. D. Evers Die Gçdelschen Theoreme und die Frage nach der knstlichen Intelligenz in theologischer Sicht, Ms. Arnoldshain 2003; R. Rheinwald „Menschen, Maschinen und Gödels Theorem“ in Erkenntnis 34 (1991), S. 1 – 21. 43 Hedman „Cantor’s Concept of Infinity“, aaO., S. 14: „Cantor would not have been surprised, I think, to learn that any system large enough to include the integers would contain propositions whose truth was undecidable within that system. From a realistic point of view, Gödel vindicated his conviction that mathematics itself is far richer than any formal systemization of it. As mathematics is the model for other scientific disciplines, I believe that this harbingers the incompleteness, and hence contingence, of any scientific theory.“ 44 Vgl. hier und im Folgenden E. Nagel und J. R. Newman Der Gçdelsche Beweis, aaO., S. 29f.; einen anderen Zugang (über das Beispiel von ,Entscheidungsverfahren’ bezüglich der Zuordnung von arithmetischen Ausdrücken mit Zahlenreihen) gibt A. W. Moore The Infinite, aaO., S. 174ff.
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Selbstanwendung wird durch Einsetzungen45 vermieden, weil metamathematische Sätze im Zahlenkalkül darstellbar gemacht werden.46 Im Ergebnis kann Gödel beweisen,47 dass der Satz „Die Formel G ist nicht beweisbar“ und „Die Formel G ist beweisbar“ beide unbeweisbar sind, G also unentscheidbar ist, obwohl es meta-mathematisch gesehen als wahr gelten muss. Damit ist die doppelte Konsequenz des Beweises zu formulieren:48 1) Jedes widerspruchsfreie arithmetische System ist unvollständig (weil in ihm unentscheidbare Sätze vorkommen). 2) Der Beweis für die Widerspruchsfreiheit eines Systems ist nicht mit dessen eigenen Mitteln möglich. Anwendungsbezogen lässt sich das auch so fassen: „Kein formales System der Mathematik (das wenigstens die Theorie der natürlichen Zahlen umfasst) kann sowohl widerspruchsfrei als auch vollständig sein“, d. h.: „Die Mathematik ist mechanisch (oder gleichwertig: mittels effektiver Verfahren oder Algorithmen) unerschöpflich.“49 Oder: Auch ein „Supercomputer […] wird nie alles wissen. Denn der Satz von Gödel sagt, daß es Aussagen gibt, die dieser Computer zwar aufstellen kann, von denen er aber weder die Gültigkeit noch die Ungültigkeit nachweisen kann.“50 45 Es wäre ausgesprochen interessant – und vielleicht auch mathematisch aufschlussreich – eine semiotische Analyse von Gödels Beweis zu versuchen, so wie Nagel und Newman in ihren Erläuterungen nicht auskommen ohne die Unterscheidungen von Sätzen, Namen, Zeichen, Formeln (vgl. Der Gçdelsche Beweis, aaO., S. 35 – 39), „Zahlzeichen“ und „Zahl“, „die Form einer Aussage“ über Zahlen und „die Form eines Namens für Zahlen“ (vgl. S. 82 – 84, Anm. 24). Die entsprechende Problemlage findet sich auch bei A. W. Moore The Infinite, aaO., S. 176f.: Ein komplexer arithmetischer Ausdruck s, der als solcher auf der Basis eines Axiomensystems A nicht bewiesen werden kann, macht sich wie folgt geltend: „It is as if s says, ,I cannot be proved using A.’“ 46 E. Nagel und J. R. Newman Der Gçdelsche Beweis, aaO., S. 77 – 82. 47 E. Nagel und J. R. Newman Der Gçdelsche Beweis, aaO., S. 82 – 95. 48 Vgl. E. Nagel und J. R. Newman Der Gçdelsche Beweis, aaO., S. 60; U. Kropacˇ Naturwissenschaft und Theologie im Dialog, aaO., S. 222ff. 49 Hao Wang, zit. in Spektrum 1/2002, aaO., S. 52. Dort heißt es weiter: „Die Tatsache der algorithmischen Unerschöpflichkeit zeigt, Gödel zufolge, dass entweder der menschliche Geist allen Computern überlegen ist, oder dass die Mathematik nicht vom menschlichen Geist geschaffen ist; oder aber sie zeigt beides zugleich. Es ist daher einleuchtend, dass das Theorem sowohl für die Philosophie des Geistes als auch für die Philosophie der Mathematik von Bedeutung ist.“ 50 A. Beutelspacher Pasta all’infinito, aaO., S. 47.
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Für die philosophische Anwendung der nachgewiesenen Unvollstndigkeit ist allerdings zu beachten, dass Gödel nicht positiv gezeigt hat, es gäbe wahre Sätze, die nicht ,formalisierbar‘, d. h. von Maschinen nicht zu erbringen wären, sondern nur, dass ein bestimmter Satz „nicht in dem betrachteten System formalisiert werden kann.“51 Daraus folgt aber doch eine Anwendung auch auf das menschliche Selbstbewusstsein: Denn die Selbstanwendung des Denkens auf sich selbst verführt zu der Einheitssicht eines vollständigen Systems (z. B. ,die Menge aller Mengen‘), was wiederum (nach Gödel) nur möglich wäre, wenn eine vollständige Beweisbarkeit unterstellt werden könnte. Die Perspektive der Unendlichkeit aber ist Menschen gerade unzugänglich, und das gilt auch für mathematische Probleme.52 Andererseits bedeutet das nicht, dass Wissen und Rechnen von Maschinen oder Menschen auf endliche Problemstellungen zu reduzieren wäre. Die Vielfalt von Anwendungs- und Interpretationsmöglichkeiten ist unendlich,53 das hatte Kants Begriff der Vernunftideen bezüglich der Natur bereits bestätigt; jetzt aber wird klar, dass die zweifelsfrei belegten Verstehens- und Formalisierungsformen (als solche endlich) doch jeweils aus dem Unendlichen der Verstehensmöglichkeiten herkommen54 – und das ist kein Ergebnis subjektiver (reflektierender) Zuschreibungen, sondern ein natürliches Produkt menschlicher Fähigkeiten aufgrund von Erfahrungen mit sich selbst in den natürlichen Bedingungen.
51 R. Rheinwald „Menschen, Maschinen und Gödels Theorem“, S. 9; vgl. A. W. Moore The Infinite, aaO., S. 180f. – In Rheinwalds Diskussion der Frage, ob Gödels Sätze die Grenzen von intelligenten Maschinen gegenüber dem menschlichen Geist nachgewiesen haben (so vertreten von J.R. Lucas u. a.), wird zur Klärung unterschieden zwischen dem mathematisch ,formalen’ Beweis und für Menschen typischen ,informalen’ Evidenzen, die formalisierbar sein können, aber nicht müssen: Es handelt sich um notwendige Interpretationszusammenhänge, die für menschliches Denken entscheidend, für Maschinen aber nicht relevant sind. 52 Moore The Infinite, aaO., S. 181f.; vgl. aaO., S. 172 das Gödel-Zitat: „The human mind is incapable of formulating […] all its mathematical intuitions, i. e., if it has succeeded in formulating some of them, this very fact yields new intuitive knowledge, e. g., the consistency of this formalism. This fact may be called the ,incompletability’ of mathematics.“ 53 Vgl. A. W. Moore The Infinite, aaO., S. 183f. 54 A. W. Moore The Infinite, aaO., S. 185: „We never learn meaning by seeing its full infinite potential playing out. What we see is always a finite portion of that. But the meaning is there“.
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III. Evolutionres Kontinuum und kategoriale Semiotik (C. S. Peirce) Mathematische Unendlichkeit und Unvollständigkeit sprechen, kosmologisch angewandt, für die Unerschöpflichkeit des Kontinuums, das in einer evolutionären Metaphysik zur Darstellung kommt. Das weitere Interesse richtet sich hier nicht auf die Folgen für eine spätmoderne Kosmologie, sondern auf die Theorie des menschlichen Selbst. Für diese gelten aufgrund der beschriebenen wissenschaftlichen Gesamtlage folgende Bedingungen: 1) Das Selbstverhältnis des Menschen, sofern es als geistiges an der Evolution des Universums partizipiert, ist auf einen unerschöpfbaren Grund angewiesen, von dem her alles andere erst unterschieden gehalten werden kann. Was auch immer als Wahrnehmung, Erkenntnis und Erfahrung ausgelegt wird, es kommt von diesem Grund her. Dieser Grund ex nihilo ermöglicht die Bestimmbarkeit des nachfolgend Bestimmten, macht im Selbstverhältnis das sich Vorfinden vor aller explikativen Bewusstheit verständlich und bestätigt so den Vorrang von Kreativität. 2) Das Selbstverhältnis des Menschen bezieht sich auf die eigene Existenz in der Bestimmtheit raumzeitlicher Positionen. Die geistigen Relationen des Selbst sind immer auch bodenständig: naturhaft und geschichtlich gebunden, denn so – in bestimmtem Einzelnen – vollzieht sich die Entwicklung des Universums. Diese Relation zu sich im Sinne der eigenen Existenz kann nicht verlassen werden, wie ideal auch immer die geistigen Verhältnisse konzipiert werden. Die Welt – auch die eigene – bleibt immer auch gegenständlich. 3) Das Selbstverhältnis des Menschen ist – unter der Voraussetzung des schöpferischen Grundes und der Existenzrelation – eine geistige Aktivität im Kontinuum des Universums. Geistiger Zusammenhang wird durch Generalisierungen wirksam, und das menschliche Selbst bringt solche Züge als es selbst zum Ausdruck und wirkt auf das Gesamt des Kontinuums, wie partiell auch immer, zurück. Unerschöpflichkeit, Bestimmtheit und generalisierungsfähiges Kontinuum sind die Auslegungselemente des menschlichen Selbstverhältnisses. Dass C. S. Peirce’ (Religions-)Philosophie des Kontinuums diesen drei Anforderungen optimal Genüge tun kann, liegt in Folgendem begründet: Sein Begriff der Logik der Relationen55 ist mathematisch als eine 55 Zu diesem Punkt wie den folgenden Erläuterungen vgl. die vorzügliche Darstellung der Grundelemente von Peirce’ Systematik bei H. Pape Der dramatische Reichtum der konkreten Welt. Der Ursprung des Pragmatismus im Denken von Charles
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bestimmte Entwicklung der Algebra abgeleitet und hat deshalb wissenschaftssystematisch prinzipiellen Charakter. Die notwendige und unreduzierbare Dreistelligkeit dieses Relationsbegriffs wird zudem durch eine Kategorienlehre bestätigt, nach der für alle Erfahrung genau drei Relationen notwendig und ausreichend sind: Die (unmittelbar-qualitative) Erstheit, die (empirisch-existenzielle) Zweitheit, die (geistig-vermittelnd wirksame) Drittheit. Aufgrund dieser Voraussetzungen lässt sich das Zeichenereignis, die Semiose bzw. Zeichentriade (Zeichen-Objekt-Interpretant), kosmologisch verstehen, weil der mathematische Begriff des Kontinuums so interpretiert werden kann, dass in ihm schöpferischer Grund, Existenzrelation und generalisierender Prozess unterscheidbar bleiben und doch zusammen zu denken sind. Genau dies gelingt in Peirce’ Spätphilosophie,56 und die Anwendung auf die Theorie des menschlichen Selbst lässt sich wie folgt angeben: 1) Die drei zu unterscheidenden ,Universen der Erfahrung‘, wie die Kategorien auch genannt werden können,57 treten im Selbstverhältnis des Menschen wie in einem Anwendungsfall auf, so dass das Selbst als ein Zeichenereignis betrachtet werden kann.58 Wird demnach das Selbst als Symbol bezeichnet,59 so setzt dies als drittheitliche Relation bereits eine
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S. Peirce und William James, Weilerswist 2002, S. 165 – 232; zu den von Peirce selbst wie von seinem Umfeld der American Philosophy immer auch mitgedachten religionsphilosophischen Dimensionen H. Deuser Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004. Kompaktes Beispiel dafür sind die Vorlesungen der Cambridge Conferences (1898), vgl. hier vor allem die 3. Vorlesung (zur Ableitung der Kategorien, der graphischen Logik und des Kontinuums) zusammen mit der Einleitung (K. L. Ketner und H. Putnam) und dem Kommentar (H. Putnam) zur 3. Vorlesung, in C. S. Peirce: Das Denken und die Logik des Universums, aaO. Vgl. die Verknüpfung von Kategorien- und Zeichenlehre im Einleitungsabschnitt des Gottesarguments in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 330f. Peirce hatte schon 1868 den Menschen (so wie das Wort) als „manifestation of mind“, d. h. als Zeichen (hier: Symbol) bezeichnet, vgl. The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, vol. 1, ed. by N. Houser und C. Kloesel, Bloomington, IN, 1992, S. 53f.; vgl. den späteren Rückverweis auf diese Stelle: „that a person is nothing but a symbol involving a general idea“, aaO., 350 (dt. in C. S. Peirce, Naturordnung und Zeichenprozeß, hg. v. H. Pape, Frankfurt am Main 1991, S. 233). – Zur Analyse und Entwicklung von Peirce’ Auffassung des ,Selbst, vgl. hier und im Folgenden V. M. Colapietro Peirce’s Approach to the Self. A Semiotic Perspective on Human Subjectivity, Albany 1989, bes. Kap. 4. Wenn im Folgenden hier nur die Objektrelation des Zeichenereignisses herausgegriffen wird (Ikon, Index, Symbol), so bedeutet das nicht, dass für die Selbstund Außenbetrachtungen des Selbst wie vor allem für seine theoretischen
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Verhältnisbestimmung zur (ikonischen) Erstheit der Gefühlsqualität und zur (indexikalischen) Zweitheit der Existenzgegebenheit voraus. Das Selbst ist nicht das eine oder andere (in vergegenständlichter Vorstellung), sondern es aktualisiert sich aufgrund einer dreistelligen Verhältnisbildung. An erster Stelle – sozusagen das heraushebend, was im aktualisierten Selbst gar nicht für sich genommen auftreten kann – ist dann die immer vorausgehende Gefühlsqualität zu nennen, die in jeder Selbstbeziehung als Mitempfindung gar nicht weggedacht werden kann. Das erste Erfahrungsuniversum des menschlichen Selbst ist seine Wahrnehmungsvoraussetzung, die vor den bestimmenden Zugriffen der Existenzrelation und geistigen Selbstkontrolle liegt. Was semiotisch in dieser Weise plausibel erscheint hat zugleich eine kosmologische und metaphysische Interpretation dadurch, dass in dieser Ersterfahrung die ursprüngliche Ermöglichung von allem mitempfunden wird, das Eintreten von Neuem ebenso wie Entstehen überhaupt. Die metaphysische Generalisierung dieser Einsicht lässt sich mit Peirce’ Begriff des Kontinuums zum Ausdruck bringen: Anders als Cantor gibt Peirce bei überabzählbaren Mengen die Vorstellung von Einzelelementen (etwa einer Punktmannigfaltigkeit) auf zugunsten der Unausschöpflichkeit und der zugleich gegebenen Möglichkeit von Bestimmbarkeit.60 Dadurch wird (an dritter Stelle) dann der Prozess von Schöpfung und Generalisierung im Ganzen zu verstehen sein, doch ist an erster Stelle die Mitempfindung der schöpferischen Möglichkeit eben die Gefühlsqualität, die das In-Gang-Kommen von Prozessen bestimmt und begleitet. Wird Gott (semiotisch) als Person konzipiert, so muss im Selbstverhältnis des Menschen an dieser schöpferisch ersten Stelle eine ,unmittelbare Wahrnehmung‘ (direct percep-
Leistungsfähigkeiten nicht auch alle anderen Zeichenrelationen – zumal die differenzierten Formen des Interpretanten – heranzuziehen wären. Zur Ableitung der 10 Zeichenklassen vgl. die Übersicht bei H. Pape Der dramatische Reichtum der konkreten Welt, aaO., S. 201 – 210; und zur detaillierten Analyse der Zeichenklassen des späten Peirce G. Linde, Zeichen und Gewißheit. Semiotische Entfaltung eines protestantisch-theologischen Begriffs, Tübingen 2010, Kap. IV. 60 Vgl. die Definition des Kontinuums in C. S. Peirce, Collected Papers, vol. 6, Cambridge, MA, 1978 (CP, 6.170): „A true continuum is something whose possibilities of determination no multitude of individuals can exhaust.“ – Entsprechend in der 8. Vorlesung der Cambridge Conferences, in C. S. Peirce: Das Denken und die Logik des Universums, aaO., S. 331ff.; vgl. zum religionsphilosophischen Kontext des Kontinuum-Begriffs M. Raposa Peirce’s Philosophy of Religion, Bloomington, IN, 1989, Kap. II.
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tion) angenommen werden.61 Insofern ist mit diesem schöpferischen Aspekt des Kontinuums zugleich der metaphysische (creatio ex nihilo) 62 wie theologische (,Wahrnehmung‘ Gottes) Zusammenhang gegeben. Das menschliche Selbst hat ein primäres (nicht-gegenständliches und nicht-konventionelles) Verhältnis zu seinem Geschaffensein im Rahmen der Universen der Erfahrung. 2) Das zweite Universum der Erfahrung zeigt sich im (empirischen) Umgang mit den Dingen, die – weil gesetzmäßig bestimmbar – auch Konstanz zeigen.63 Trotz des empirischen Akzents der Existenzrelation kann diese nicht aus dem semiotischen Kontext isoliert werden. Die Philosophie des Kontinuums erlaubt einerseits Diskontinuitäten, sozusagen existentielle Schnittpunkte im Kontinuum, ohne die auch kein Prozess vorstellbar wäre; andererseits aber kann keine Einzelexistenz als unerklärbares Faktum hingestellt werden, das würde der Generalisierungsfähigkeit und tendenziellen Erkennbarkeit (wie begrenzt auch immer) prinzipiell widersprechen und folglich das Kontinuum suspendieren.64 Diese Überlegungen gelten entsprechend für das Zeichenereignis des menschlichen Selbst: Die im (lebendigen) Symbol notwendig miterfahrene Bezugnahme auf die eigene Existenz drückt sich im (indexikalischen) Verhältnis zu sich selbst aus. Das Selbst bezieht sich eben auf sich, ist darin von Anderem und Anderen unterscheidbar, umgekehrt aber immer auch in der Gemeinschaft mit allen und allem Anderen. Schon die Frage, worin genau ein bestimmtes Selbst existentiell besteht, ist ohne den Bezug auf Andere gar nicht zu beantworten. Aber die insofern schon wirksame Idee der Personalitt bleibt immer auch in der eigenen Existenzrelation gebunden. Die Philosophie des Kontinuums 61 So ausdrücklich als Folgerung der Philosophie des Kontinuums ausgesprochen in dem Aufsatz The Law of Mind (1892) in The Essential Peirce, vol. 1, S. 332f.; dt. in C. S. Peirce, Naturordnung und Zeichenprozeß, aaO., S. 209. 62 An dieser Stelle ist es sinnvoll und produktiv, R. C. Nevilles Metaphysik der exnihilo-Kreativität, die zunächst nicht semiotisch konzipiert ist, mit Peirce’ Philosophie des Kontinuums zu verbinden, vgl. Neville Symbols of Jesus., aaO., Kap. 1. 63 Vgl. Peirce: Religionsphilosophische Schriften (2000), S. 167: „Die Existenz von Dingen besteht in ihrem regelmäßigen Verhalten“ (Eine Vermutung ber das Rtsel [der Sphinx], 1887/88); vgl. M. Raposa Peirce’s Philosophy of Religion, aaO., S. 82. 64 Vgl. wiederum in The Law of Mind (1892) in The Essential Peirce, vol. 1, S. 332.; dt. in C. S. Peirce, Naturordnung und Zeichenprozeß, aaO., S. 208; vgl. zum Kontext dieser Diskussion bezüglich des Selbst bei V. M. Colapietro Peirce’s Approach to the Self, aaO., S. 80 – 90.
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lässt sich daher an zweiter Stelle als ,objektiver Idealismus‘ identifizieren.65 Im geistigen Zusammenhang ist das Selbst an die kontinuierlichen Reaktionen der eigenen empirischen Existenzbindungen verwiesen. Zu existieren heißt, sich in diesem durchaus objektiven Sinne auf sich selbst beziehen zu müssen; aber dieses Sich-Beziehen bleibt immer ein Verhältnis, das zur Symbolrelation gehört, in der es sich als solches existentielles Verhältnis ausspricht. 3) Das dritte Universum der Erfahrung ist mit der Selbst-Gegenwart von Personalität erreicht, der aktiven „Verknüpfung von Ideen“, und die Verknüpfung geschieht wiederum als „allgemeine Idee“ und „lebendige Empfindung“.66 Ihre endliche Bindung kommt darin zum Ausdruck, dass sich Ideen nur ,in der Zeit‘ darstellen können, wenn auch in infinitesimalen Zeitintervallen; was wiederum zeigt, wie das Selbst (die Personalität) in unabdingbaren Bezugnahmen auf sich und Anderes – und nur so – bestehen kann. Zieht sich die Selbstwahrnehmung im ,Augenblick‘ zusammen, so „ist die Persönlichkeit unmittelbares Selbst-Bewußtsein“. Diese Beschreibung geschieht nicht außerhalb der Zeichenverhältnisse, denn gerade die Ausbildung von Interpretanten (in den Aktivitäten des Selbst an dritter Stelle) zeigt sich in Verhaltensgewohnheiten (habits), diese richten sich auf zukünftige Ereigniszusammenhänge und insofern eröffnet sich dem Selbst der Raum und die Zeit von Prozessmöglichkeiten in strukturierter Form.67 Wachstum und Entwicklung aber sind evolutionäre Prinzipien, in denen das Selbst wiederum an den Universen der Erfahrung partizipiert. Weil diese nicht mechanistisch verfahren können (das widerspräche dem schöpferisch Neuen ebenso die der Verknüpfung von Ideen) und kosmologische Generalisierungen ebenso real sind wie selbstkontrollierte Entwicklungen aufseiten des menschlichen Selbst, ergibt sich die Möglichkeit, im kosmologischen Symbol des Schöpfergottes das universal zum Ausdruck zu bringen was personal im Modus der Beteiligung in menschlichen Zeichenprozessen geschieht. Personales Sein, das menschliche Selbst, ist im dritten Erfahrungsuniversum als ideenaktive, verhaltensbildende und selbstkontrollierte Kommunikation von intrapersonalem wie interpersonalem Dialog zu bestimmen68 – und eben dies ist ein lebendiger Zeichenprozess. 65 The Essential Peirce, vol. 1, S. 333; dt. (1991), S. 209. 66 Vgl. hier und im Folgenden: The Essential Peirce, vol. 1, S. 330f.; dt. 1991, S. 206. 67 Vgl. hier und im Folgenden: V. M. Colapietro Peirce’s Approach to the Self, aaO., S. 90 – 97. 68 Vgl. V. M. Colapietro Peirce’s Approach to the Self, aaO., S. 91.
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IV. Das Selbst als innere Relation (Augustin) Die von Peirce begründete Relationenlogik,69 Kategorienlehre und Semiotik hat ihre Vorbilder nicht nur in der Mathematik, sondern in der westeuropäischen Christentums- und Philosophiegeschichte. Ein ebenso epochales wie exemplarisches Dokument dafür ist Augustins spätes Hauptwerk De trinitate (399 – 419), und es ist kein Zufall, dass dieser Text kürzlich in einer philosophischen Reihe und aktueller Kommentierung neu ediert wurde.70 Es ist die christliche Trinitätslehre, die für Augustin der Anlass war, den philosophisch schon vorhandenen, bisher aber unterbewerteten Begriff der Relation in das Zentrum einer Philosophie des Geistes zu heben. In ihr soll sich philosophisch zeigen lassen, was der christliche Glaube schon weiß: Dass Einheit als Dreiheit – und umgekehrt – zu denken ist. Während Augustin einerseits an der (neu)platonischen Tradition orientiert bleibt und den Wesensbegriff als einheitlich, unteilbar und ewig festhält (es gibt keine diversitas essentiae),71 belegt doch die gesamte Analyse der geistig-seelischen Fähigkeiten des Menschen deren dreistellige Relationalität (,quae relative dicuntur‘).72 Wenn die menschliche Erkenntnis nicht nur auf äußere Wahrnehmungsgegenstände, sondern auf begriffliche Inhalte bezogen wird (z. B. auf Gerechtigkeit), deren Erkenntnis aber auch dann verständlich gemacht werden muss, wenn der erkennende Mensch nicht das selbst schon ist, was er erkennt, dann sind es nicht äußere Zeichen, die als Kriterien genügen können, sondern ein Bild im menschlichen Geist ist es, das als gegenwärtiges den Begriffsinhalt vertritt – als memoria, in der freilich nicht der äußerliche Silbenklang eines Wortes festgehalten wird, sondern sozusagen die Bildkraft des Wortes; und diese findet sich nicht in der 69 Zum Begriff der (von Peirce vertretenen) intensionalen gegenüber der (analytischformalen) extensionalen Relationalitt vgl. die Erläuterungen und Beispielableitungen bei H. Pape Der dramatische Reichtum der konkreten Welt, aaO., S. 175 – 184; 175, Anm. 15: „,Intensional’ wird hier im Gegensatz zu ,extensional’ gebraucht. Es bezeichnet einen Sinnzusammenhang, der verhindert, daß in ihm singuläre Termini beliebig gegeneinander ersetzt werden können, wenn sie denselben Gegenstand bezeichnen.“ 70 A. Augustinus De trinitate (Bücher VIII-XI, XIV-XV, Anhang: Buch V), hg. v. J. Kreuzer, Hamburg 2001. Vgl. in der Einleitung des Hg. vor allem den Abschnitt „Augustinus’ Innovationen“, aaO., XLII-LI. – Zum Auslegungszusammenhang von Semiotik, Relationsbegriff und ,innerem Wort’ in De trinitate (mit Schwerpunkt auf Buch XV) vgl. Deuser Gottesinstinkt, aaO., Kap. II. 5. 71 Vgl. De trinitate, VIII. 1,10 – 15. 72 De trinitate, VIII. 1,2.
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Außenwelt, sondern im geistigen Selbst des Menschen: ,apud se ipsum‘.73 Die Selbsterkenntnis des Geistes wird dann in einem weiteren Schritt erreicht (,se ipsa mens nosse‘),74 und diese Struktur wird bis in die modernen Auffassungen des Selbstbewusstseins vorbildlich bleiben. Kierkegaards Papiere der ästhetischen Lebensform (die Diapsalmata in Entweder – Oder I) tragen das Motto ,ad se ipsum‘,75 und es ist dieses leidenschaftliche Verhältnis zu sich selbst, dass in Augustins geistigem Selbst bereits bestimmend ist: Die treibende Kraft im Erkennen ist die Liebe (der Wille oder Intentionalität), sie aber liebt nicht nur etwas, sondern darin auch sich selbst. Entsprechend wird Erkennen selbstbezüglich erkannt, und das ist in der Symbolstruktur des Wortes genau zu markieren: Ein Wort (als Zeichen) bezeichnet nicht nur etwas (sein Objekt), sondern damit zugleich sich selbst (Interpretant): ,se aliquid indicare indicet‘.76 In dieser dreistelligen Relation sind zwar Geist (mens), Liebe (amor) und Kenntnis (notitia) zu unterscheiden, als Ereignis aber eines.77 Was die Einheit zur Einheit zusammenhält ist jene innere Bildkraft des Wortes, die den äußeren zeichenvermittelten Bedingungen nicht mehr unterliegt, sondern innerlich spricht und wirkt,78 eine „mit Liebe verbundene Kenntnis“.79 Intentionalität und Selbstbeziehung werden als geistiger Akt aufgrund ihrer Relationalität einheitlich, darin sind die geistigen Erfahrungen der Menschen „gemeinschaftlich verbunden“.80 Sich selbst so zu erkennen verlässt dann auch die Wahrnehmungsbilder und erreicht das Selbst des Menschen als geistige Aktivität. Ihre Suche nach Gewissheit81 stößt auf die Selbsterfahrung, dass Geist nicht wie Köper 73 Vgl. den Gedankengang in De trinitate, VIII. 6. 9, das Zitat zuletzt aaO., S. 98f. 74 De trinitate, X.2.4,29. 75 S. Kierkegaard Entweder/Oder in SKS 2, 25; das Zitat geht zurück auf Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“, vgl. SKS K2 – 3, 88. 76 De trinitate, VIII. 8. 12,23. – J. Kreuzer übersetzt: „daß es anzeigt, etwas anzuzeigen“, und kommentiert (Anm. 8, S. 398): Gegenüber reduktionistischen Sprachtheorien handelt es sich hier um die klare sprachphilosophische „Einsicht, daß wir ein Wort dann verstehen, wenn wir verstehen, daß es sein Anzeigen anzeigt“. 77 De trinitate, IX. 4. 4; 5. 8. 78 De trinitate, IX. 7. 12,5 – 7: „verbum apud nos habemeus et dicendo intus gignimus, nec a nobis nascendo discedit. Cum autem ad alios loquimur, verbo intus manenti ministerium vocis adhibemus“. 79 De trinitate, IX. 10. 15,28; vgl. dazu Anm. 23, S. 400, des Hg. 80 De trinitate, X. 1. 2,82ff. 81 De trinitate, X. 10. 14.
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als Substanz mit Eigenschaften zu denken ist, sondern der Geist „ist in seinen Eigenschaften wirklich“.82 Er ist „er allein selbst“,83 als menschlicher Geist aber in der Relation von einem ursprünglichen Bei-sich-sein göttlich geprägter memoria, die sich als intelligentia gegenüber tritt, während beide intentional als voluntas zueinander gehören.84 Nicht dass die Sinnlichkeit, die Wahrnehmungswelt, das Geschaffene damit abgewertet oder gar verlassen werden könnten, aber die geistige Aktivität ist nicht reduzierbar auf ihre empirischen Anhaltspunkte.85 Was wirklich ist, kann nicht als bloßes dieses und aus diesem seinem vorliegenden Bestand begriffen werden, sondern eben aufgrund jener ,animi intentio‘,86 die in dreistelliger Relation wirksam ist. Am Wahrnehmungsbeispiel gesagt: Kçrper (Objekt), Bild (Zeichen) und Wille des Geistes (Interpretant) gehören zusammen,87 sie sind ein geistiges Ganzes, das insofern „innen ist“88 – und das gilt erst recht für die geistige Selbsterkenntnis:89 Sie ist unergründlich aus der ursprünglich geistigen Kraft der memoria, die bestimmtes Denken (cogitatio) ermöglicht, weil eine intentionale Verbindung (voluntas) hinzugehört.90 Augustin entdeckt hier zugleich, dass für den menschlichen Geist, der zu keiner absoluten Einheitssicht fähig ist, die möglichen Triaden des Erkennens „unzählbar zahlreich“ werden (innumerabiliter numerisissima trinitas),91 gebändigt nur durch Gegenstandsbeziehungen, die ,unzählbar‘, aber ,begrenzt‘ sein müssen. Ein doppelter Begriff des Unendlichen ist nötig geworden wegen der triadischen Selbstbeziehung im Innern des menschlichen Geistes. G. Cantor hatte seine Theorie des Unendlichen auch unter Bezugnahme auf Au82 83 84 85
86 87 88 89 90 91
J. Kreuzer, Anm. 37, S. 402, in Kommentierung von De trinitate, X. 10. 15. De trinitate, X. 10. 16,84. De trinitate, X. 11. 17. Vgl. J. Kreuzer zu De trinitate, X. 10. 14 (aus Anlass naturphilosophischer Erklärungsmodelle), Anm. 35, S. 401: „Der Bezug zu gegenwärtigen Diskussionen liegt auf der Hand, wenn man z. B. die antike Formulierung ,geordnetes Maß des Fleisches’ durch das Wort ,Synapse’ (und die entsprechenden Gegenstände der Philosophy of Mind und KI-Forschung) ersetzt.“ Vgl. auch Anm. 53, S. 404, zu Augustins (neuplatonisch) ambivalenter Haltung gegenüber der Welt des Sinnlichen, die doch als Schöpfung Gottes zu gelten hat. De trinitate, XI. 2. 2,7f.; 31. De trinitate, XI. 2. 5,122ff.. De trinitate, XI. 4. 7,48f.. De trinitate, XI. 7. 12. Vgl. die summarische Stelle in De trinitate, XI. 7. 12,56 – 61. De trinitate, XI. 8. 12.
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gustin für die christliche Philosophie empfehlen können,92 doch muss der Begriff der Absolutheit Gottes (und seiner Unendlichkeit) als nichtmathematischer Begriff heute durch eine kategoriale Semiotik erst philosophisch interpretiert werden, um die Sprachformen religiöser Symbole und theologischer Begrifflichkeiten zu begründen – wie es oben bereits geschehen ist. Der triadischen Relation kommt dabei die Schlüsselstellung zu, das lehrt Augustins Philosophie des menschlichen Selbst als memoria, intellectus und amor / voluntas.
V. Das religiçse Selbstverhltnis: paradox und existentiell zugleich (N. Luhmann) Es bedeutet einen wesentlichen Fortschritt an Beschreibungsgenauigkeit, wenn die Religionssoziologie nicht mehr nur sozialempirisch oder historisch-deskriptiv religiöse Einstellungen, Gruppen oder Epochen analysiert, sondern sich dem mit Religion gestellten Problem der Grenzreflexion von Wissen überhaupt ausliefert. Niklas Luhmanns postum publizierte Religion der Gesellschaft ist einer evolutionären Erkenntnistheorie verpflichtet, praktiziert eine Systemtheorie autopoietischer Strukturen und versucht das Phänomen Religion sozusagen immer zugleich von innen und von außen zu betrachten – so wie es eben funktioniert.93 Dazu werden, als alles Andere fundierend, die Begriffe ,Sinn‘ und ,Kommunikation‘ eingeführt, um die traditionellen Fragestellungen nach dem Wesen oder der Wahrheit von Religion abzulösen. Eine solche Beschreibung ist selbst „nicht religiös“,94 trotzdem aber will sie dem inneren Anspruch – so wie sich die jeweilige Religion selbst versteht, in
92 Vgl. B. A. Hedman „Cantor’s Concept of Infinity“, aaO., S. 10 u. 16, Anm. 15 im Verweis auf De civitate Dei XII. 18. 93 Ich beziehe mich hier exemplarisch auf N. Luhmann Die Religion der Gesellschaft, hg. v. A. Kieserling, Frankfurt am Main 2000. – Zur Entwicklung bzw. Veränderung (seit den 70er Jahren) von Luhmanns Einstufung der Begriffe ,Sinn’, ,Funktion’ und ,Religion’ wie zur religionssoziologischen Diskussionslage der Gegenwart vgl. E. Herms „ ,Sinn’ als theologischer Grundbegriff“ in ders. Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, S. 372 – 407; G. Thomas Implizite Religion. Theoriegeschichtliche und theoretische Untersuchungen zum Problem ihrer Identifikation, Würzburg 2001; V. Krech Gçtterdmmerung. Auf der Suche nach Religion, Bielefeld 2003. 94 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 14.
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ihren „einfachen Glaubenseinstellungen (um die es geht!)“95 – gerecht werden. Die hier wie in jeder Religionstheorie lauernde Aporie, nicht an etwas wirklich glauben zu können, was zugleich in seiner Funktion entschlüsselt werden soll, will Luhmann so lösen, dass er einerseits aus der Not eine Tugend macht und generell für das Phänomen Religion den „in der Tradition“ bereitgestellten Begriff des Paradox einsetzt;96 andererseits soll dieselbe Funktion methodisch dadurch kontrollierbar werden, dass von einer notwendigen „Beobachtung zweiter Ordnung“ gesprochen wird: „als Beobachtung ihrer [sc. der Religion] Selbstbeobachtung“.97 In welchem Medium, auf welcher Ebene wäre dies lebenspraktisch zu realisieren, oder geht es doch nur um die wissenschaftlich-intellektuelle Beobachtungsperspektive in welcher Potenz auch immer? Der für den Protestantismus klassische Ausdruck des Paradox, wie ihn S. Kierkegaard geprägt hat, war gerade dadurch wirksam, dass die Leidenschaft, das Unbekannte (Gott) doch denken zu wollen, als Auszeichnung der menschlichen Existenz auf diese noch einmal paradox zurückgeworfen wurde – um eben auf andere Weise (in der ,glücklichen Leidenschaft‘ des Glaubens) die Nähe des Unbekannten erst aneignen zu können.98 Dem Paradox korrespondiert hier ausdrücklich keine Beobachtung, sondern eine existentielle Situationsbeschreibung, und diese markiert das menschliche Selbst in seinem wirklichen – d. h. religiösen und nicht nur gedachten – Verhältnis zu sich und damit zum paradox Unbekannten (Gott). Auf Luhmanns Religionstheorie angewandt bedeutet dies keineswegs, die wissenschaftliche Beschreibung müsse ,religiös‘ werden in dem Sinne, dass bestimmte metaphysische, ontologische, konfessionelle etc. Prämissen ungeprüft akzeptiert, d. h. ,dogmatisch‘ oder vorwissenschaftlich gefasst, sozialwissenschaftliche Methoden also zensiert werden müssten. Die Fragestellung aber ist präzisiert worden, wie denn eine Theorie aussehen müsste, die zugleich Beobachtungsdistanz und Phänomennähe durchhalten will. Entweder bleibt es bei der Theorieebene – dann muss zumindest das lebendige Außerhalb theoretisch konsequent angegeben werden können (wie es im Falle Kierkegaards mit dem Stichwort der Existenzwissenschaft verbunden ist), oder die Phänomennähe wird so überwältigend empfunden, dass Beobachtungen höherer Ordnung nicht mehr möglich sind (wozu Luhmann nicht neigt). 95 96 97 98
Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 12. Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 17. Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 15. S. Kierkegaard Philosophische Brocken, 3. und 4. Kap., vgl. in SKS 4, 242ff., 261.
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Vom Theoriekonzept her ist zu sagen, dass Luhmann das Beobachtungsparadox konsequent ausbaut: Die für die Religion typischen ,Unterscheidungen‘ bleiben immer extrem, darin verwandeln sich die alten metaphysischen Großbegriffe (z. B. Anfang und Ende) 99 in Funktionalität. Denn wie auch immer die Beobachtungsperspektive gewählt wird, Vollständigkeit und Durchsichtigkeit bleiben unerreichbar, der unkontrollierbare Welthorizont wandert und wächst mit,100 die Welt- und Selbsterfahrung kann immer nur die Gefährlichkeit von Unterscheidungen wiederholen,101 Immanenz muss bleibend bedrohliche Transzendenz auslegungsfähig machen,102 und der ,blinde Fleck‘ bleibt.103 Doch auch die Frage bleibt: Wird damit – und zumal mit dem für religiöse Paradoxie nun eingesetzten Begriff der Chiffrierung,104 der die Horizontdimension deckt, die niemals verstanden werden kann –, wird damit wieder nur aus der Not eine begriffliche Tugend gemacht oder ein Fortschritt in der Sache erreicht? Letzteres scheint dann der Fall zu sein, wenn tatsächlich als „notwendige Bedingung jeder Festlegung“,105 d. h. universal zu gelten hat, dass das damit gestellte und immer offene Problem der Horizontabdeckung (aufgrund von Unterscheidungsmaßnahmen) allein durch die Religion adäquat thematisiert und verarbeitet werden kann. Ein weiterer Klärungsschritt ist dadurch erreicht, dass die religiöse Erarbeitung von Sinn nicht ersetzt werden kann durch eine menschlichsubjektive Fundierung. Substanzverlust kann in der Moderne nicht durch Subjektivitt ersetzt werden,106 die Subjektivität ist „für sich selbst unsichtbar“,107 das folgt aus dem Beobachtungsparadox. Das menschliche Selbst ist für sich selbst „intransparent“,108 begründungsbedürftig und stellt sich faktisch in einer Unordnung und Vielfalt von Subjekten109 dar, die 99 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 24. 100 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 29. 101 Vgl. zur kulturtheoretischen Bedeutung dieser „Anwesenheit des Abwesenden“ M. Moxter „Protestantische Wahrnehmung kultureller Praxis“ in Praktische Theologie und protestantische Kultur, hg. v. W. Gräb und B. Weyel, Gütersloh 2002, S. 52 – 66; hier: S. 61f., Anm. 19. 102 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 77. 103 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 89. 104 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 88. 105 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 36. 106 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 28. 107 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 29. 108 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 110. 109 Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 130f.
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keine einheitliche Begründung garantieren können. Die Religion ist dann, spätmodern richtig gesehen, durchaus nicht als subjektive Sinnstiftung (im populären Sinn dieses Wortes) abzuhandeln, sondern ihre Aufgabe ist sozial-kommunikativer, objektiver Natur: Paradoxie tritt prinzipiell und universal auf; doch nicht eine bestimmte Lösung ist das Ziel, sondern aufgrund der komplexen, in sich unabschließbaren Beobachtungssituation allein das Weitermachenkçnnen.110 Das bedeutet immerhin (an Augustins111 Philosophie des Geistes erinnernd), den Vorrang menschlicher ,Autopoiesis‘ gegenüber neurophysiologischen Erklärungsmustern.112 So sehr damit die universale Bedeutung der Religion ausgezeichnet und subjektiver Beliebigkeit entnommen wird, aufgrund der gesellschaftlichen Differenzierung von Teilsystemen in der Moderne bleibt es dann wieder unklar, wieweit die Paradoxieverarbeitung des Religionssystems notwendig ist oder doch nur ein Randprodukt bleibt: Ist Religion nun „irreduzibel“113 oder genügt sich jedes Teilsystem zuletzt selbst in der Eigenproduktivität von Sinn? 114 In der Externperspektive muss dann wohl aufgrund von Säkularisierung konstatiert werden, dass es „keine nichtreligiösen Gründe mehr gibt, sich zu einer Religion zu bekennen“;115 dann aber wäre auch nur in den Internperspektiven wahr, dass Religion „der exemplarische Vollzug“ von „Paradoxierung / Entparadoxierung“ darstellt! 116 – Diese Widerspruchsstruktur im Theoriekonzept bleibt unaufgelöst, und sie liegt als solche nicht im Bereich des Beobachtungsparadox (wofür Religion gut ist), sondern im methodischen Zugriff, der keine existentielle Auffangbasis für konstatierte (notwendige) Paradoxie vorsehen kann.117 Denn in einem existentiellen Akt sich selbst zu beobachten, ist ja gerade unmöglich. Die Theorie des Beobachtens zweiter Ordnung wiederholt diese Problemlage nur in methodischer Reflexion, weigert sich aber weiterhin, eine religions110 111 112 113 114 115 116 117
Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 34, 72. S.o. Anm. 85. Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 112f. Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 128. Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 125. Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 136. Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 137. Doch auch dies ist nicht eindeutig, das belegen beispielhaft die Reflexionen zum „Wissen vom Tod“ (Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 50ff.), wo es am Ende heißt (S. 52): „so daß der Tod als Fall, an dem Sinn selbst als paradox erfahrbar wird, zurücktritt und aufgenommen wird in eine Welt, die als bekannt und vertraut behandelt werden kann.“
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theoretisch produktive Innensicht selbständig werden zu lassen. Diese müsste darin bestehen, die Theorie des religiösen Selbstverhltnisses so zu entwerfen, dass weder substanzielle noch subjektive Ursprünglichkeiten oder Wesensdefinitionen dogmatisch vorausgesetzt werden müssen (was Luhmann zu Recht ausschließen will), dass aber das Selbstverhältnis als Relationalität des Geistes seine Theoriekonzeption mit der existentiellen Uneinholbarkeit zugleich zum Ausdruck bringen kann. Die binre Codierung, der sich Luhmann verschrieben hat, taugt zur sozialwissenschaftlichen wie kulturgeschichtlichen Diagnose der Religion im Schema Transzendenz / Immanenz, aber nicht zur Darstellung der Vollzugsform des menschlichen Geistes, ein Selbst in dreistelliger Relation zu sein, das sich darin begabt, begrenzt und auf existentielle Erfahrung verwiesen sieht. Dieser Dreiklang ist in actu Einheit,118 als Theoriefigur Dreiheit, und dass beides zusammen bestehen kann verlangt eine Theorie des menschlichen Selbst als „deriviertes, gesetztes Verhältnis“.119
VI. Der Begriff des Selbst unter sptmodernen Denk- und Erfahrungsbedingungen des religiçsen Glaubens (S. Kierkegaard) 1. Religiositt A und B Etwas versteckt zwischen den großen Buchabschnitten „Das Pathetische“ und „Das Dialektische“ findet sich in Kierkegaards Unwissenschaftlicher Nachschrift der gleichwohl berühmte „Zwischensatz zwischen A und B“: Eine beispielhaft ausgeführte, spätmoderne Religionstheorie, die eine allgemeine Religiositt A von der christlichen Religiositt B zu unterscheiden lehrt.120 Die Leistungsfähigkeit dieser Zuordnung ist wie folgt bestimmen: 1) Die Religiosität A „ist nicht die spezifisch christliche“! 121 – Das ist zu Kierkegaards Zeit eine erstaunliche Aussage, denn Europa war von der Absolutheit des Christentums als Religion nach wie vor überzeugt. Die Anerkennung anderer Religionen, etwa in der griechischen und römi118 S.o. Anm. 77. 119 S.o. Anm. 1. 120 S. Kierkegaard Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, übers. v. H. M. Junghans, Düsseldorf / Köln 1958 in SKS 7, 505 – 510, vgl. AUN in GW1 11, 266 – 273. 121 AE in SKS 7, 505,7f.; vgl. AUN in GW1 11, 266.
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schen Antike, bestand in einem historischen Urteil, das der höchsten Religionsentwicklung im Christentum gerade nicht widersprach. 2) Dass Kierkegaard mit dieser Abhebung einer nicht-spezifischchristlichen Religiosität tatsächlich allgemeine Religionstheorie praktiziert, wird an der expliziten Konstruktivität von A deutlich. Es muss nämlich konzediert werden, dass ein leidenschaftliches ,Verhältnis‘ zur eigenen „ewigen Seligkeit (Unsterblichkeit, ewigem Leben) außerhalb des Christentums“ gelebt werden kann. Selbst wenn es dafür keinen empirischen Beleg geben sollte, so genügte die religionstheoretische Konstruktion: „denn über die Religiosität A muss man sagen, dass selbst wenn es sie im Heidentum nicht gegeben hätte, es sie doch hätte geben können, weil sie nur die Menschennatur im Allgemeinen zu ihrer Voraussetzung hat“.122 3) Dieser Konstruktion liegt zugleich die entschiedene Polemik gegenüber einem Christentum zugrunde, das sich mit allgemeiner Religiosität zufrieden gibt, also die hier eingeschärfte Unterscheidung gar nicht mehr vor Augen hat.123 Kierkegaard reagiert damit aber auch auf ein religionskritisches Bewusstsein, das mit der Kritik an Christentum und Kirche kurzschlüssig Religion im Allgemeinen meinte negieren zu können. Die Religionstheorie ist folglich ein Ausweg aus diesem Dilemma, weil eine spezifische Frömmigkeit von ihren allgemeinen Bedingungen her einerseits plausibel gemacht und andererseits strikt unterschieden werden kann. Die Religiosität A schafft eine Ausgangsbasis, von der aus der Religionskritik selbstbewusst entgegen zu treten ist. 4) Religiosität A ist menschlich, weil die Spannung zwischen Unbedingtheit und eigener (kontingenter) Existenz in Phänomenen von Resignation, Leiden und Schuld beschrieben werden kann; und sie ist allgemein, weil der Ort dieses spannungsvollen Pathos’ zur Bestimmung des Menschseins gehört: die Innerlichkeit.124 Hier wird Religiosität so erlebt, dass Alltagsintentionen aufgegeben und zugunsten des Göttlichen, des Unbedingten „vernichtet“125 werden – dies aber geschieht im Indi122 AE in SKS 7, 508, 15 – 19; vgl. AUN in GW1 11, 270. 123 Vgl. z. B. AE in SKS 7, 506,25ff.; AUN in GW1 11, 268: „Die Religiosität A kann es im Heidentum geben, und im Christentum kann sie jedermanns Religiosität sein, der nicht entschieden Christ ist, er sei nun getauft oder nicht.“ 124 Vgl. A. Hannay „Religiousness A and B“ in The Oxford Companion to Philosophy, ed. by T. Honderich, Oxford / New York 1995, S. 768: „the relation to truth is established by self-abnegation and is expressed in categories of inwardness (resignation, suffering, guilt).“ 125 AE in SKS 7, 510,6; vgl. AUN in GW1 11, 272.
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viduum, in der „Immanenz“126 seines Selbstverhältnisses. Diese Theorie der Religiosität ist vom Phänomenbereich her psychologisch begründet; weil diese Psychologie aber erkenntnistheoretisch gebunden ist an die wiederum allgemeine Bedingung des „subjektiv existierenden Denkers“,127 und weil diese Perspektive als Erschließungsbedingung für Wirklichkeit überhaupt betrachtet werden muss, kommt schon der Religiosität A ontologische Bedeutung zu: Die Welt kann nicht abgesehen davon verstanden werden, wie sie dem Selbstverhältnis zugänglich wird. Mit Luhmanns Begrifflichkeit gesagt: Die Religiosität operiert exemplarisch für den paradoxen Zugang zum Weltverstehen mit dem „Schema Immanenz / Transzendenz“,128 nur dass für Kierkegaard dies keine Beschreibungs-, sondern eine Erfahrungskategorie ist. 5) „Die Religiosität A muß erst im Individuum zur Stelle sein, bevor davon die Rede sein kann, auf das Dialektische B aufmerksam zu werden.“129 – Zusammenhang und Differenz der beiden Religionsformen sind so zu fassen, dass die spezifisch-christliche Religiosität durch das geschichtliche Außenverhältnis des christologischen Paradox’ für den Verstehenszugang prinzipiell erschwert wird, während doch die Bindung an die allgemeine Religiosität und ihr leidenschaftliches Existenzverhältnis als notwendige Bedingung gilt. Plausible Übergangsbegründung und paradoxe Exklusivität des Religionsverständnisses demonstrieren, wie eine Theorie des menschlichen Selbst zugleich allgemein und existentiell realisierungsoffen konzipiert werden kann. Die Vergleichbarkeit unter der Bedingung gegenseitiger Anerkennung ist dann für unterschiedliche Religionen (oder Formen existentieller Verpflichtung) ebenso gewährleistet wie die Unbedingtheitserfahrung des eigenen Glaubens. Allgemeines und Besonderes werden zugeordnet wie existentielles „Pathos“ und die „abstoßende“ (weil für den Verstand nicht auflösbare) Funktion des Paradox im Blick auf „neues Pathos“.130 2. Das Selbst als Verhltnis Die Unterscheidung von Religiositt A und B taucht auf höherer Ebene wieder auf, wenn Kierkegaard in der Krankheit zum Tode das Selbstverhältnis des Menschen zunächst allgemein religionsphilosophisch in der 126 127 128 129 130
AE in SKS 7, 509,20; vgl. AUN in GW1 11, 271. AE in SKS 7, 73; vgl. AUN in GW1 10, 65. Vgl. N. Luhmann Die Religion der Gesellschaft, aaO., S. 51; und s. o. Anm. 117. AE in SKS 7, 506,9f.; vgl. AUN in GW1 11, 267. AE in SKS 7, 506,7f.; vgl. AUN in GW1 11, 267.
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Analyse der Verzweiflung – und dann entsprechend im Sündenbewusstsein der christlichen Versöhnungslehre vorträgt.131 Die kluge Anlage des hierin steckenden religionsphilosophischen Grundproblems ist vor allem darin erkennbar, dass im Ersten Abschnitt, in der Geist- und Selbst-Definition des Menschen, das Gottesverhältnis als gelungene, ausbalancierte Durchsichtigkeit des Selbstverhältnisses durchaus schon präsent ist, ohne dass es paradox-christologisch als Sünden- bzw. Versöhnungsbewusstsein expliziert würde, was erst der Zweite Abschnitt der Schrift tut. Die Tendenz zur Auslegung allein jenes ersten Zugangs zum Selbstverhältnis im Begriff der Verzweiflung (ohne Berücksichtigung des Zweiten Abschnitts: „Verzweiflung ist die Sünde“) war existenzphilosophisch 132 allerdings nahe liegend, weil aufgrund der Übernahme religionskritischer Allgemeinplätze im philosophischen Bewusstsein der christliche Kontext des Sündenbegriffs nicht mehr tragbar erscheinen musste. – Auch hier lässt sich sagen: Kierkegaard reagiert bereits selbst auf diese Situation, indem er analog zur Problemlage in der Nachschrift der Religionskritik mit einer religionstheoretischen These entgegen tritt: Es gibt eine allgemeine Darstellung des menschlichen Selbst im inneren Konflikt seiner Verzweiflungsformen, die allein schon eine Begründung für den notwendigen Zusammenhang von Gottes- und Selbstverhältnis verlangt: „die Macht, die es gesetzt hat“ zeigt sich in eben der Relationsbestimmtheit, die den menschlichen Geist als Selbstverhältnis auszeichnet und im besten Fall Durchsichtigkeit ermöglicht.133 Insofern kann zur Interpretation dieses relationalen Selbst an die Einsichten der kategorialen Semiotik 134 angeknüpft werden: Nicht nur ein besseres Verständnis der Strukturmerkmale des Selbst ist zu erwarten, sondern auch eine inhaltlich größere Begründungsbreite für den notwendigen Auslegungszusammenhang religiöser Erfahrung. Dazu kann und muss hier nicht die Detailfülle der Verzweiflungs- bzw. Sündenanalysen Kierkegaards ausgewertet werden, sondern es geht exemplarisch um das Grundproblem der Vermittlung – technisch gesprochen: zwischen den beiden Abschnitten der Krankheit zum Tode: zwischen allgemeiner Analyse 131 Vgl. die Schema-Übersicht bei H. Schulz Eschatologische Identitt. Eine Untersuchung ber das Verhltnis von Vorsehung, Schicksal und Zufall bei Sçren Kierkegaard, Berlin / New York 1994, S. 585. 132 Vgl. die Übersicht von K.-M. Kodalle „Existenzphilosophie“ in RGG4 2 (1999), S. 1814ff. 133 SD in SKS 11, 130, vgl. KT-P, 15. 134 S.o. Anm. 57ff.
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des Selbst als einem Verhältnis und dem expliziten (christlichen) Sündenbzw. Gottesverhältnis. 1) In der jüngsten Forschungsdebatte waren es die gegensätzlichen Interpretationsperspektiven von M. Theunissen und A. Hannay, die Anlass gaben, Kierkegaards Argumentationsgefälle in dieser Frage genauestens zu analysieren.135 Mein Vorschlag zur Beschreibung des Grundproblems war – vereinfacht und formalisiert – der, die Relate der Synthese,136 die einen Menschen notwendigerweise auszeichnen, und das Selbst als Verhältnis dazu wie folgt darzustellen:
Aus dem Verhältnis der Relate (A u. B: Unendlichkeit und Endlichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit) resultieren Spannungen, die sich auf das Dritte, das Verhältnis als solches auswirken; und umgekehrt besteht das Selbst als Verhältnis in diesem Dritten (C). – Im Vergleich zum mathematischen und logischen Gebrauch der Begriffe (Unendlichkeit, Endlichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit) ist für Kierkegaard allerdings deren Anwendung auf das existentielle bzw. geistige Selbst-Verhältnis zu beachten. Auf der Basis wissenschaftstheoretischer Kooperation137 kann aber unterstellt werden, dass diese Begriffe nicht nur jeweils bestimmbar, sondern in den Zuordnungen der Wissenschaften gemeinsam gebraucht und als Ausdruck von Erfahrungen gewertet werden können. 2) Die Durchsichtigkeit des Verhältnisses bzw. die eigentliche Tiefendimension der Verzweiflung im Selbst-Verhältnis kann aber erst dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um ein ,gesetztes‘ Verhältnis handeln soll. Das Selbst ist nicht problemlos autonom, ruht nicht in sich selbst, sondern verhält sich zum Grund seiner selbst. Dementsprechend wäre dafür folgendes Diagramm denkbar: 135 Vgl. die entsprechenden Beiträge in Kierkegaard Studies: Yearbook 1996 und 1997 hg. v. Niels Jørgen Cappelørn und Hermann Deuser, Berlin / New York: Walter de Gruyter 1996 u. 1997. 136 Vgl. SD in SKS 11, 131f., 145, vgl. KT-P, 16, 31; vgl. H. Deuser „Grundstzliches zur Interpretation der Krankheit zum Tode. Zu M. Theunissens ,Korrekturen an Kierkegaard’“ in Kierkegaard Studies: Yearbook 1996, S. 117 – 128; hier S. 118f. 137 S.o. die Abschnitte I-III.
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Dieses Modell ist aber insofern irreführend, weil dem Schein einer rein (existenz-)philosophischen Interpretation nachgegeben wurde, als gäbe es eine Wahlfreiheit, sich sozusagen zwischen einem philosophischen Verhältnis C und einem (zusätzlichen) theologischen Verhältnis C’ entscheiden zu können. Die Herkünftigkeit des menschlichen Selbstverhältnisses, sein Verhältnis zum eigenen Grund, worauf es sich beziehen muss, um ein Selbst in Relation zu sein, ist offensichtlich und unbestreitbar. Die interne Aufbaulogik des Immanenz-Transzendenz-Verhältnisses138 im Geist bzw. Selbst des Menschen muss zum Austrag kommen und kann entsprechend zum Thema gemacht werden. Die Unterscheidung von Selbstverhältnis (C) und dem Grund des Selbstverhältnisses (C’) bleibt aber insofern in Kraft, als das Zusammenspiel beider für die Analyse von Bedeutung ist. Denn die Abweichung „verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen“ reagiert auf die Selbstsetzungsmöglichkeit (C), während die Abweichung „verzweifelt man selbst sein zu wollen“ nur im Bezug auf einen Grund (C’) verständlich ist, zu dem das Selbst ein passives Verhältnis und daher die Möglichkeit des Protestes hat. Wiederum ohne die Fülle der Verzweiflungsformen, die daraus resultieren, auch nur zu nennen, ergibt sich für die allgemeine Orientierung der Problemlage dann (verbessert) folgendes Diagramm: C/C’
A
B
3) Dass von Kierkegaards Text her gesehen die beiden Abschnitte der Krankheit zum Tode gerade nicht voneinander getrennt werden können,
138 S.o. Anm. 128.
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zeigen ihre vielfältigen Verklammerungen: Die Gottesthematik ist in der Verzweiflungsanalyse ebenso präsent wie beim Sündenbegriff; der Glaube als gelungenes Gegründetsein des Selbstverhältnisses im Gottesverhältnis139 ist in der Sündenlehre ebenso explizit wie schon in der „Verzweiflung der Notwendigkeit“, deren Rettung im Glauben an den Gott besteht, bei dem „alles möglich ist“;140 und erst recht die gegenseitig sich beziehenden und steigernden Sünden- bzw. Verzweiflungsformen sind aufeinander angewiesen wie die Religiosität B auf das Pathos der Religiosität A in der Nachschrift. Wie also müsste das Grund-Verhältnis des Selbst dargestellt werden, damit seine Basisfunktion angemessen und die Versöhnungs- und Sündenlehre nicht ins Abseits stellend zum Ausdruck kommen kann? Ich schlage folgendes Modell vor: A
B
C0
Kierkegaard hat dieses Verhältnis zum eigenen Grund (Co ) in der Regel einfach vorausgesetzt (als die ,Macht‘ die das Selbst als Verhältnis ,gesetzt‘ hat), er hat in diesem Sinne schöpfungstheologisch die creatio ex nihilo 141 aus der dogmatischen Tradition übernommen – immer aber so, dass deren Präsenz im leidenschaftlichen Selbstverhältnis des existierenden Menschen als Problem- wie Rettungsbezug zur Anwendung gebracht wurde. Kierkegaards Schöpfungslehre hat insofern nicht den Charakter einer historisch-dogmatischem Behauptung, sondern sie ist angewandte Existenz-Mitteilung. In der Krankheit zum Tode in der Weise, dass Gottes Möglichkeiten in ihrer prinzipiellen und immer vorausliegenden Unerschöpflichkeit142 gerade dem Glauben im gelingenden Selbstverhältnis korrespondieren. In diesen Zusammenhang gehört auch der bemerkenswerte Satz: „Seinen Untergang glauben ist unmöglich.“143 Das Selbstund Gottesverhältnis verdanken sich immer – in gelungener wie in 139 Vgl. SD in SKS 11, 196 / KT-P, 93: „Glaube ist: dass das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, durchsichtig gründet in Gott.“ 140 SD in SKS 11, 154 / KT-P, 43. 141 S.o. Anm. 62. 142 S.o. Anm. 60. 143 SD in SKS 11, 154 / KT-P, 43; vgl. H. Schulz Theorie des Glaubens, Tübingen 2001, S. 130, Anm. 234.
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verzweifelter (d. h. vom Gelingen abweichender) Lebensform – dem kreativen Grund, der sich als solcher der Ableitung und empirischen Bestimmbarkeit entzieht, deshalb aber um so realere Wirkungen in allen durch ihn begründeten Verhältnisbildungen hat. Die (formale) Struktur des Selbst gewinnt aus diesem Grund-Bezug die Qualität der jeweils eigenen Verhältnisbildung. Religiöse Erfahrung bezieht sich an erster Stelle auf diesen Grund und bringt – in der eigenen Existenz und im geistigen Verhältnis zu sich – genau diese Kreativität zum Ausdruck. Das menschliche Selbst ist ein Zeichenereignis, ein Symbol für seinen schöpferischen Grund.144 4) Daraus ergibt sich nun eine Verdoppelung der Verhältnisbildung, die im Fortgang der Phänomenanalysen der Krankheit zum Tode auch immer wieder genutzt wird, je nach dem wie explizit, bewusst oder verdrängt das Verhältnis zum schöpferischen Grund in Betracht gezogen wird oder nicht. Das Modell ist dann so zu erweitern:
Der Vorteil dieser Darstellung im Sinne der möglichen Spiegelung der Synthese (A, B) nach oben und unten liegt darin, dass mit dem offensichtlichen Verhältnis (C, C’) zugleich wie als das rettende Gegenstück die tieferliegende, in Gott gegründete Verhältnisbildung sichtbar gemacht werden kann. Darin kommt auch Kierkegaards Intention zu Zuge, sofern er geplant hatte, den Verzweiflungs- und Sündenanalysen der Krankheit zum Tode eine Textsammlung unter dem Titel Die Heilung im Grunde an die Seite zu stellen.145 Darüber hinaus muss das Modell so gelesen werden, dass zwischen den gelingenden und misslingenden Gestaltungsformen der Synthesen bzw. des Selbst- und Gottesverhältnisses bei aller Differenz im Einzelnen doch auch ein Kontinuum 146 sich auswirken muss; sonst könnte 144 S.o. Anm. 58f. 145 Vgl. N. J. Cappelørn „Am Anfang steht die Verzweiflung des Spießbürgers“ in Kierkegaard Studies: Yearbook 1996, S. 129 – 148; hier S. 132. 146 S.o. Anm. 64.
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es zu einem einheitlichen, andauernden und lebendigen Erfahrungs- und Heilungsprozesse überhaupt nicht kommen. Der obere Teil des Modells ist sozusagen auf den unteren prinzipiell immer angewiesen und spiegelt sich in ihm:
Hieraus wird klar, warum es zu einer „Potenzierung von Verzweiflung“,147 d. h. zum Sündenbewusstsein, im Zweiten Abschnitt der Krankheit zum Tode kommen kann: Durch gesteigerte Bewusstheit des Verhältnisses zum Grund (Co) werden die misslingenden Selbst-Synthesen (CA,B) als immer prekärer und vernichtender empfunden; der Selbstkonflikt ist erst recht dadurch gesteigert, dass seine Lösung im Paradox (Sündenvergebung, Versöhnung) derselben Grund-Relation erscheint. So schwierig die Zugänglichkeit dieser Lösung einerseits erscheinen muss, so schlicht überzeugend ist sie dann, wenn sie sich ereignet – was im Ersten Abschnitt schon vorausgesetzt war und deshalb am Schluss noch einmal wiederholt werden darf: „indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es gesetzt hat. Eine Formel, die wiederum, woran mehrfach erinnert wurde, die Definition für Glaube ist.“148 – Die Endlichkeit (Bedingtheit, Bestimmtheit, Kontingenz) der menschlichen Existenz steht über das Verhältnis zum schöpferischen Grund im Licht der Unendlichkeit von Möglichkeiten, die im Verhältnis zum eigenen Selbst als gelingende oder misslingende Lebensformen erfahren werden. Ihr Kontinuum ist das des Geistes, worin die Darstellbarkeit dieser Erfahrungen sich ereignet und kommuniziert wird. Für diese Theorie des menschlichen Selbst von objektivem Idealismus zu sprechen149 ist dann zutreffend, wenn die eigenen (empirischen) Existenzbedingungen ernst genommen und doch nicht absolut gesetzt werden; denn letzteres ist nur berechtigt im Bezug auf die unendliche Kreativität Gottes, die sich real wirksam in der Synthese des Selbst-Verhältnisses und dem Austausch der Ideen in ihr niederschlägt. 147 SD in SKS 11, 191, vgl. KT-P, 87. 148 SD in SKS 11, 242, vgl. KT-P, 151. 149 S.o. Anm. 65.
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5) Kann demnach mit guten Gründen in einer Theorie des menschlichen Selbst von einem Kontinuum auf mathematisch-metaphysischem Hintergrund150 gesprochen werden? Die Klärung dieser Frage ist nicht allein für den Status von Religionsphilosophie und Theologie entscheidend, sondern bedeutet heute zugleich auch einen Beitrag zur öffentlich gerne forcierten Debatte, ob nicht künstliche Intelligenz- oder Gehirnforschung in Kürze die Kommunikationsprobleme der Menschen sowieso eleganter zu lösen imstande sein werden.151 Wenn ein schöpferisches, evolutionäres und reales Kontinuum vorausgesetzt werden muss, um den Prozess des Selbst-Verstehens (in leib-seelischer Synthese) als immer auch gefährdete Handlungsfreiheit und im Blick auf gelingende Durchsichtigkeit im Grundverhältnis überhaupt angemessen erklären zu können, dann ist eine nur empirische, neurophysiologische Erkenntnislehre oder Ontologie zumindest ungenügend, wenn nicht selbstwidersprüchlich. Denn zum Selbst-Verstehen gehört der kreative Grund, auf den alle Bezugnahmen angewiesen sind, der selbst als solcher aber nicht ableitbar ist und im Sinne einer Verstandesleistung auch nicht gedacht werden kann.152 Soll in diesem Punkt trotzdem weitergedacht werden, so kommt es entweder zu Fehlleistungen, wie sie Kant als Grenzüberschreitungen des Vernunftgebrauchs vorgeführt hat, oder die Zuordnung von Geist und Natur muss unter spätmodernen Bedingungen neu gefasst werden. Kierkegaard hat an dieser Stelle gezielt das Paradox als durchaus produktive Warnung vor Fehlern und Übergriffen aufgestellt. Die existentielle Transformation dieses Paradox aber ist möglich unter Theoriebedingungen (evolutionärer Metaphysik), die in den SyntheseVerhältnissen das Selbst als genuine geistige (dreistellige) Relation erkennen lassen. Diese Relation schließt den naturalistischen Aspekt ihres (empirischen) Existenzbezuges ein, ohne darauf reduziert werden zu können. Ein Mensch muss als Leib und Seele gegeben sein, damit er ein Selbst werden kann. Kierkegaard hat auf die ,Kontinuierlichkeit‘ in der Selbsterfahrung von Sünde und Glaube ausdrücklich hingewiesen. Kontinuierlichkeit
150 S.o. Anm. 55. 151 Der Berliner Humangenetiker Joachim Klose wird in der F.A.Z Nr. 155 (8. 7. 2003), S. 42, mit den Worten zitiert: „So wie die Religion Ordnung in die Mystik und die Philosophie Ordnung in die Religion gebracht hat, wird die Gehirnforschung viele Grundfragen der Philosophie erledigen.“ 152 S.o. Anm. 21 (zur Begrenztheit empirischer Begriffsbildung nach Kant).
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setzt das Gottesverhältnis voraus, die ,Ewigkeit‘ als Kontinuum,153 in dem der Mensch als Geist, d. h. in symbolischer Kommunikation personal ansprechbar gedacht werden muss. Kierkegaards Gedankengang ist der, dass die Sünde als bewusst gehaltenes Missverhältnis zum schöpferischen Grund des Selbst sich zu einer negativen Lebensform auswächst. Zur Dialektik dieser negativen Lebensform gehört es, dass sie nicht einfach als etwas Bestimmtes auftritt (das wäre nur eine oberflächliche Betrachtung), sondern indem sie sich zeigt, bringt sie ihre Voraussetzung: das misslingende Selbst-Verhältnis ans Licht. Es wäre folglich auch keine Lösung, es gäbe diese Erfahrungen nicht, denn ohne Sündenbewusstsein wäre das Selbst zu geistlos, um sich der eigenen Tiefendimension zu stellen. Insofern zeigt sich in der Kontinuierlichkeit der Sünde – die deshalb „eine Position“154 und keine Reihe von einzelnen Negationen darstellt – die Kontinuierlichkeit des Ewigen: Gottes unbegrenzte Möglichkeiten im Sinne des schöpferischen Grundes. In diesem Kontinuum stehen alle Kommunikationen des menschlichen Selbst als Geist, sie müssen sich zu sich selbst im Blick auf ihren Grund verhalten, sind folglich relational genau so aufzufassen wie ein Symbol, das seinen kreativen Grund, seinen Bezeichnungsbezug und seinen jeweiligen geistigen Zusammenhang darstellt. Diese Theorie des menschlichen Selbst baut auf die Bedingungen einer realistischen und semiotisch begründeten Metaphysik und sie sucht zugleich die spezifischen Zugänge religiöser Erfahrung. Der erste Aspekt dient dem Dialog der Religionen und Wissenschaften, der zweite der wissenschaftlichen Integration der christlichen Theologie. Beides hat unsere Gegenwart dringend nötig.
153 SD in SKS 11, 217f., vgl. KT-P, 119f. – Vgl. zum analogen Gedanken des Unendlichen als der Grenzbedingung des Endlichen bei A. Grøn „Religion as a Philosophical Challenge“ in Svensk Teologisk Kvartalskrift 78 (2002), S. 134 – 139. 154 SD in SKS 11, 218, vgl. KT-P, 120.
Trinität: Relationenlogik und Geistesgegenwart Mit dem Sehen [Gottes] geht es wie mit dem Sehen der Sonne, die man nur in ihrem Reflex sehen kann, der, der direkt auf sie starren würde, sähe nichts anderes als schwarze Punkte vor seinen Augen. S. Kierkegaard 1
I. Als Jürgen Moltmann 1972 Der gekreuzigte Gott veröffentlichte, erschien dieser Band im Anschluss an die Theologie der Hoffnung rein fachlich gesehen als ein kreuzestheologisches Weiterdenken der Eschatologie. Der Begriff der ,Trinität‘ steht auch im Buch selbst keineswegs im Vordergrund, und die kritische Rezeption hatte schnell erkannt, dass trinitarisches Denken hier nicht aus der allgemeinen Gotteslehre, sondern aus dem Leiden des Menschen und Gottessohnes geradezu mit Notwendigkeit entwickelt wurde. P. Ricœur stellte fest, in der Passion gelte:2 „Gott ist tot und ist doch nicht tot“; „Monotheismus“ und „Atheismus“ würden zugleich vermieden – zugunsten einer „Geschichte“ in Gott, d. h. es muss ein „innertrinitarisches Geschehen“3 gedacht werden, genauer: erfahren werden können; so wie Jesus im Verhältnis zum Vater „Liebe im Leiden und im Tode“ erfährt, so erfährt der „Glaube“ die „Dreieinigkeit“ als eben dieses „Geschehen“ in der „Geschichte Christi“.4 – Ist damit aber nicht die dogmatische Tradition auf den Kopf gestellt? Zwar wird die
1 2 3 4
S. Kierkegaard „Journal FF:94“ (1837) in SKS 18, 94. P. Ricœur „Der gekreuzigte Gott von Jürgen Moltmann“ in Diskussion ber Jrgen Moltmanns Buch „Der gekreuzigte Gott“, hg. v. M. Welker, München 1979, S. 17 – 25; 23f. J. Moltmann Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 11972, S. 235. Ibid.
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„Trinitätslehre unausweichlich“,5 aber doch so, dass sie aus dem „Leiden“ der „Menschheit“ motiviert wird, nicht aus dem trinitarischen Vorrang der Gottesoffenbarung selbst, wie H.H. Miskotte unter Berufung auf K. Barth eingewandt hat.6 Diese Beobachtungen sind zutreffend. Weder die Kreuzestheologie noch die Trinitätstheologie Moltmanns machen einen besonderen Offenbarungszugang zur Verstehensvoraussetzung, sondern umgekehrt: Was christlicher Glaube bedeutet, soll in seiner überragenden Relevanz für das persönliche Leben wie für die Menschheitsgeschichte an Gottes Leiden in der Passion erkannt werden können. Dass dies gelingen kann, erfordert aber doch eine bestimmte Perspektive auf dieses Geschehen, und diese theologisch notwendige Perspektive gibt die Eschatologie. In der Theologie der Hoffnung heißt es an entscheidender Stelle, nämlich im kritischen Vergleich zu E. Blochs Prinzip Hoffnung: Nicht der „Kern des Existierens“ ist unbetroffen vom Tod,7 sondern christlich gesehen kann der Tod radikal ernst genommen werden, weil die ,Auferstehung‘ auf den Gott hoffen lässt, „der aus dem Tode Leben schafft“, der der „Liebe jene Zukunft“ gibt, „die ,nimmer aufhört‘“ – „Leidenschaft der Hoffnung, die Kierkegaard die ,Leidenschaft für das Mögliche‘ genannt hat.“8 Doch stehen dann nicht Liebe wie Hoffnung, Zukunft wie Auferstehung als eschatologische Instanzen in genau der Funktion, die sonst dem Offenbarungsbegriff zukommt: göttliche Erkenntnis- und Erfahrungsbedingung für das, was anders gar nicht real erfahren werden kann? Moltmann hat tatsächlich die Begriffe des Messianischen und der Antizipation so eingesetzt: als ,Vorwegnahme‘ der „Gegenwart der Zukunft in den Verhältnissen der Geschichte“;9 als die spezifische Zukunft, die nicht bloßes „Futur der Zeit“, nicht „zeitlose Ewigkeit“, sondern „An-kunft Gottes“ ist, kurz: ein „adventlicher Begriff der Zukunft.“10 Dieser antizipative, adventliche, also theologisch durch die Auferstehung qualifizierte Begriff von Geschehen und Geschichte im Zusammenhang der Passion Jesu 5 H. H. Miskotte „Das Leiden ist in Gott. Über Jürgen Moltmanns trinitarische Kreuzestheologie“ in Diskussion ber Jrgen Moltmanns Buch, aaO., S. 74 – 93; S. 78. 6 Diskussion ber Jrgen Moltmanns Buch, aaO., S. 89, 86. 7 J. Moltmann Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begrndung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 71968, S. 327. 8 Moltmann Theologie der Hoffnung, aaO., S. 329. 9 J. Moltmann Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekklesiologie, München 1975, S. 217f. 10 J. Moltmann Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, München 1995, S. 39.
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Christi ist es, aus dem heraus trinitarisches Denken notwendig wird; ein Zusammenspiel von göttlicher Qualifikation mit menschlicher Erfahrung, wie es Moltmann immer wieder in der bewegenden, sympathetischen Relation der Liebe zwischen Vater und Sohn beschrieben hat.11 Ist dann die dogmatische Kritik an dieser Beschreibung, sie verdecke in der Intensität der Leidenssituation die notwendige Voraussetzung des göttlichen Offenbarungshandelns unbegründet oder erledigt? Oder ist dies eine – gerade für die deutsche Theologie des 20. Jahrhunderts – typische Schein-Alternative, nämlich die zwischen Erfahrung und Offenbarung, die gerade in der Trinität, dem innertrinitarischen Geschehen und der Geschichte Christi, als überwunden nachgewiesen werden kann?
II. Trinität ist Relation. Relationen bezeichnen durch Prädikation etwas, das in einer bestimmten Ordnung vorliegt.12 Dieser formale Relationsbegriff ist extensional, d. h. er bezieht sich auf die Klasse der Gegenstände, auf die er zutrifft. xRy bedeutet dann: „x steht in der Relation R zu y“ in dem Sinne, „daß x und y für eines der geordneten Paare der Extension eines entsprechenden dyadischen Prädikators stehen; Beispiel: x ist Vater von y.“13 Für eine dreistellige (oder mehrstellige) Relation kann dann gesagt werden, dass R(x, y, z) verstanden werden muss als die bestimmt vorliegende Verbindung der drei ,Argumente‘ einer Relation: „Beispiel: ,x liegt zwischen y und z‘“;14 oder wenn R „schenkt“ bedeutet, dann betrifft x „die Klasse aller Geber von Geschenken“, y „die Klasse aller Empfänger von Geschenken“ und z „die Klasse aller Geschenke“, d. h. das „Feld dieser Relation umfaßt alle Schenker, Beschenkten und Geschenke.“15 11 Vgl. J. Moltmann In der Geschichte des dreieinigen Gottes. Beitrge zur trinitarischen Theologie, München 1991, S. 17f. 12 A. Menne Einfhrung in die formale Logik, Darmstadt 1985, S. 138 (Nr. 11.1): „So, wie die Klasse die Extension eines monadischen Prädikators ist, stellt eine zweistellige Relation die Extension eines dyadischen Prädikators dar. Eine Relation ist gewissermaßen eine Menge von geordneten Paaren, denn – anders als bei der Zweierklasse – kommt es bei der Relation auf die Reihenfolge der beiden Elemente an.“ 13 Menne Einfhrung in die formale Logik, aaO., Nr. 11.12; vgl. zum hier benutzten Begriff des ,Prädikators’, aaO., S. 90 (Nr. 8.11). 14 Menne Einfhrung in die formale Logik, aaO., S. 148 (Nr. 12.1 – 12.13). 15 Menne Einfhrung in die formale Logik, aaO., Nr. 12.175.
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Diese formale Relationenlogik ist selbstverständlich auch auf die Trinität anwendbar, und das Beispiel Schenken lässt sich theologisch sofort wiedererkennen als der relationale Zusammenhang von Gott als Ursprung des Schenkens (,Schenker‘), dem (Gott-)Menschen als ,Beschenktem‘ und dem Geist als dem ,Geschenk‘. Augustin hatte in diesem Modell bereits notwendige Erläuterungen angebracht, z. B. die, dass zwischen Gottes ewigem Geschenk (donum) und dem zeitlichen Geschenk (donatum) an die Menschen unterschieden werden müsse.16 Solche Interpretationen zeigen die spielerischen Möglichkeiten der formalen Relation, doch ihre präzise und aussagekräftige Anwendbarkeit ist von ihrer extensionalen Bedeutung abhängig, d. h. den wirklichen Größen, Elementen einer Klasse, auf die die relationale Anordnung zutrifft. Sind Vater, Sohn und Geist aber solche Größen? Gehört zum Gottesbegriff nicht konstitutiv die Problematisierung seiner Zugnglichkeit, also das Sich-Ereignen der Erfahrung des Glaubens an Gott im Erkenntnis- und Lebenszusammenhang? Und wie wäre diese Sicht der Dinge relational angemessen zum Ausdruck zu bringen? C.S. Peirce’ intensionale Relationenlogik erscheint generell als Lösung dieser Fragen, weil sie ebenfalls relationenlogisch universal, zugleich aber an der kreativen Prozesshaftigkeit allen Denkens im Bezug auf Wirklichkeit orientiert ist. Die hier ausschlaggebende Relation ist dem gemäß in einem prinzipiellen Sinn ,triadisch‘, denn sie ,betrachtet‘ etwas ,als betrachtet‘, thematisiert also den jeweiligen (wirklichen) Zugang: So wie es in der ,Relation des Gebens‘ darauf ankommt, ob der Geber, die Gabe oder der Adressat die Betrachtungshinsicht darstellen.17 Intensional steht damit für die Sinnstruktur des semiotischen Ereignisses, das in einer (triadischen) Relation zum Ausdruck kommt. Das Ereignis ist noch nicht dadurch ausreichend beschrieben, dass der Relation extensionale Elemente der 16 Vgl. A. Augustinus De trinitate, übers. u. hg. v. J. Kreuzer, Hamburg 2001, S. 390f. (V. 16. 17,3f.): „nam sempiterne spiritus donum, temporaliter autem donatum.“ 17 Vgl. zu dieser Ableitung und Darstellung der intensionalen Relationenlogik H. Pape Der dramatische Reichtum der konkreten Welt. Der Ursprung des Pragmatismus im Denken von Charles S. Peirce und William James, Weilerswist 2002, S. 176 – 184, hier bes. S. 181; vgl. auch H. Pape „Zur Einführung“ in Kreativitt und Logik. Charles S. Peirce und das philosophische Problem des Neuen, hg. v. H. Pape, Frankfurt am Main 1994, S. 43 – 50. – Die im Text zitierten Satzteile gehen auf Peirce’ MS 634 (von 1909) zurück, zit. nach Pape, aaO. (2002), S. 181; (1994), S. 45. – Zum Begriff der ,Zugänglichkeit’ als Charakterisierung von Peirce’ hermeneutischer Einstellung vgl. H. Deuser „Einleitung“ in Charles Sanders Peirce: Religionsphilosophische Schriften, hg. v. H. Deuser, Hamburg (1995) 2000, S. XXXIff.
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durch sie bestimmten Klassen zugeordnet werden, sondern eine darüber hinausgehende Perspektive wird verlangt: „Wir betrachten einen Prozeß von einem Aspekt aus als auf diese Weise betrachtet.“18 In diese Sicht der Dinge gehen folglich die Prozesshaftigkeit des Erkennens ebenso wie der Weltentwicklung selbst ein, und es ist der Begriff des Zeichens, der dieses Zusammenspiel von Erkennen in der Zeit, Bezeichnungsakt, Bezeichnungsbezug und Interpretationsfähigkeit ermöglicht. Die empirische Wirklichkeit der Einzeldinge ist dann ein Teilaspekt von Bezeichnungen, nicht aber deren Bedingung. Zwar ist eine Zeichenrelation immer die Vermittlung zwischen Zeichen, Objekt und Interpretant,19 aber in Interpretationsprozessen ist die Präsenz des einzelnen Gegenstandes nicht zwingend.20 Zeichen verstehen setzt geistige, ideelle Aktivität voraus: Geistesgegenwart und Relationenlogik gehören zusammen.
III. Die Besonderheit der intensionalen Relationenlogik lässt sich formal dadurch ausdrücken, dass die jeweilige Betrachtungshinsicht gesondert ausgezeichnet wird.21 Schenken oder Geben sind immer dreistellig bestimmbar als Relation G(x, y, z). Soll aber nun der jeweilige Zugang zum Zeichenereignis mit notiert werden, so wird das dafür ausschlaggebende Relat als Prfix noch einmal verwendet: x j G(x, y, z). Im Beispiel der Relation Geben (von z durch x an y) bedeutet das vorangestellte x: x ist der Geber von z an y. Entscheidend ist dabei die ,Substantivierung‘ des jeweiligen Relats, die Peirce als ,hypostatische Abstraktion‘ bezeichnet hat. Diese eigentliche Leistung geistiger Prozesse besteht also darin, dass bestimmte Prädikate verallgemeinernd herausgehoben werden, in denen der Gegenstandsbezug des Zeichens zur Wirkung kommt: eben das, was hier spezifisch gedacht wird. Einen Gedanken wie ein Ding zu reprsentieren 18 H. Pape Der dramatische Reichtum der konkreten Welt, aaO., S. 192. 19 Zur Bedeutung der allgemeinen Zeichentheorie vgl. die Art. „Semiotik“ in TRE 31 (2000), und in RGG4 7 (2004). 20 H. Pape Der dramatische Reichtum der konkreten Welt, aaO., S. 193, Anm. 5: „Das Besondere einer Zeichenrelation ist gerade, dass sie dann zustande kommen kann, wenn ihre Relata nicht als Einzeldinge existieren.“ 21 Vgl. zur folgenden Darstellung außer den in Anm. 17 genannten Abschnitten von H. Pape auch die grundlegende Analyse von R.W. Burch „Die logischen Operationen in Peirce’ ,Beschreibung einer Notation für die Logik der Relative’“ in Kreativitt und Logik, aaO., S. 77 – 113, hier bes. S. 80ff.
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macht folglich in einem relationalen Ereigniszusammenhang (verbal ausgedrückt: Geben) eine Substantivierung möglich (x ist Geber), d. h. eine höherstufige Verallgemeinerung der Gegenstandsrepräsentation.22 Peirce hat diese Bedeutungsrelation des Zeichens durch die Unterscheidung von logischer Breite und logischer Tiefe zusätzlich präzisiert:23 Unter Breite (breadth; auch: denotation) ist der extensionale Benennungsbezug eines Zeichens (oder eines Terms, wie Subjekt und Prädikat im Satz) zu verstehen, während die Tiefe (depth; auch: connotation) dadurch zustande kommt, dass aus einem weiteren Term (z. B. aus dem Prädikat für das Subjekt) zusätzliche Bedeutungsbezüge hinzutreten, mit der ersten Bedeutung verbunden und damit verallgemeinert werden: Der situationsbestimmte Akt des Gebens hat seine Tiefe dadurch, dass aus anderen Kontexten bekannt ist, was dies z. B. für das Relat Geber bedeutet, und ein Geber zu sein wird damit verallgemeinerungsfähig anwendbar.24 Was innerhalb der Zeichenrelation (Zeichen, unmittelbares Objekt, Interpretant) gedacht wird, setzt einerseits einen externen Objektbezug stillschweigend voraus (Peirce: dynamisches Objekt), dieser wird aber in der hypostatischen Abstraktion andererseits als solcher Externbezug thematisch auf der Basis einer Verallgemeinerung, eines „Regelwissens“:25 dass eben so mit der Instanz Geber umgegangen werden kann bzw. umzugehen ist. Insofern ist die formalisierte intensionale Relation „x j G(x, y, z)“ ausgesprochen vielgestaltig einsetzbar und auslegungsfähig, immer aber si22 Vgl. Peirce „The Basis of Pragmatism in the Normative Sciences“ (1906) in The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, vol. 2, ed. by the Peirce Edition Project, Bloomington / Indianapolis 1998, S. 394: „whenever we speak of a predicate, we are representing a thought as a thing, as a substantia […] were it not for hypostatic abstraction, there could be no generality of a predicate, since a sign which should make its interpreter its deputy to determine its signification at his pleasure would not signify anything, unless nothing be its significate.“ – Vgl. diese Stelle in der dt. Edition dieses Manuskriptes in C. S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 2, hg. v. C. Kloesel und H. Pape, Frankfurt am Main 1990, S. 348f. 23 Vgl. ibid. – Zur Herkunft und Durchführung dieser Begrifflichkeit bei Peirce vgl. G. Linde Zeichen und Gewißheit. Semiotische Entfaltung eines protestantisch-theologischen Begriffs, Tübingen 2010, Kap. IV. 2. 3. 5 („Der normale Interpretant: Die neunte Trichotomie […] und Peirce’ Propositionstheorie“). 24 Peirce, ibid. „When we speak of the depth, or signification, of a sign, we are resorting to hypostatic abstraction“. 25 G. Linde Zeichen und Gewißheit, aaO.; vgl. die Erläuterungen und Belege zur ,hypostatischen Abstraktion’ bei T. L. Short „Hypostatic Abstraction in SelfConsciousness“ in The Rule of Reason. The Philosophy of Charles Sanders Peirce, ed. by J. Brunning und P. Forster, Toronto 1997, S. 289 – 308; S. 295ff., 302.
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tuationsbezogen und perspektivisch26 – auch dann, wenn diese Perspektive selbst wieder zum Ausdruck gebracht, d. h. zum gedanklichen Objekt gemacht werden kann. Das ist die Konsequenz des zugleich lebensweltlich-hermeneutischen Ansatzes dieser Relationslogik, die nicht konstruktivistisch auf die Wirklichkeit zugreift, sondern sich aus (vortheoretischen) Wahrnehmungsprozessen entwickelt. Gerade und nur unter dieser Voraussetzung kann es zur empirischen Verifikation und logischen Selbstkontrolle von Konklusionen kommen, aber diese leugnen nicht ihre erfahrungsweltliche, phänomenologische Herkunft.27
IV. Die relationenlogische Struktur ist in ihrem intensionalen Verständnis nicht die neutral gehaltene Formalisierung eines ansonsten fremden Ereigniszusammenhanges, der beliebig als Anwendungsbeispiel hinzugezogen werden kann, sondern sie repräsentiert die Art und Weise,28 in der es zum Ereignis (seiner Wahrnehmung, auswertenden Darstellung und seinen Konsequenzen) kommt und prinzipiell gesehen kommen kann. Es sind diese Implikationen der Relationenlogik, die von herausragendem theologischen Interesse sind und daraufhin ausgewertet zu werden verdienen. 1) Erkenntniskritisch und wahrnehmungstheoretisch steht an erster Stelle die Frage, wie eine Ereignisrelationalität überhaupt auftritt: Wie komme ich, wie kommen wir in sie hinein? Die Antwort besteht darin, dass alles, worauf Denken sich überhaupt beziehen kann, „durch das Tor der
26 Vgl. Linde Zeichen und Gewißheit, aaO., zum situativen „Ich-Blickwinkel“ und dessen Öffnung zu einem „intersubjektiv konsensfähige[n]“ „Ich-und-Du“. 27 Linde Zeichen und Gewißheit, aaO.: „Die genuine Genialität des Peirceschen Systems liegt gerade in dem Nachweis dessen, daß unser begriffliches Schlußfolgern und unser nichtbegrifflicher Umgang mit der Welt, unser Sprechen (ungeachtet des jeweiligen Sprachsystems) und unser Wahrnehmen identischen, und zwar logisch-semiotisch bestimmbaren, Strukturen gehorcht und ersteres aus letzterem evolviert.“ 28 Vgl. A. N. Prior „Logic, History of / Peirce“ in The Encyclopedia of Philosophy, ed. by P. Edwards, vol. 3 (1972), S. 546 – 549; S. 547: „Peirce thought it desirable that logical formulas should reflect the structure of the facts or thoughts which they express and so be, in his sense, ,icons’ – that is, signs operating by resemblance to what they signify“.
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Wahrnehmung“ gegangen sein muss.29 Es wird demnach ein Vorher (der unhintergehbaren Wahrnehmung) von einem Nachher unterscheidbar, das sich in Zeichenbezügen darstellt; und auch dieses Zeitverhältnis von Wahrnehmung und Darstellung bleibt eine mitlaufende Bedingung aller Erkenntnis, weil auch die Reflexion auf die Wahrnehmung wiederum als erstes Wahrnehmung – wenn auch in komplexeren Zeichenvermittlungen – voraussetzt. Dieser Vorrang von Wahrnehmung hat einen vortheoretischen Charakter, er ist in seiner Ursprünglichkeit nicht nur unzensiert, sondern unzensierbar. Fremdheit, Überraschung, Neues, plötzliche Evidenz, Wunder, Offenbarung – all dies ist hier nicht auszuschließen, sondern damit ist zu rechnen. Was als Erstes auftritt, durch das „Tor der Wahrnehmung“ eintritt, stimuliert das darstellbare Ereignis. Die Relationenlogik ist in diesem Punkt mit einer Phänomenologie der unlimitierten Präsenz von Ereignissen verbündet. Von einer kreativen Ursprünglichkeit zu sprechen liegt nicht nur nahe, sondern gehört deutlich zu den religionsphilosophischen bzw. theologischen Implikationen der Relationenlogik: Das „erste Kapitel der Logik“ beginnt mit einem Gebet, denn die Zugänglichkeit des Universums der Wahrnehmungen ist ein Allererstes, dem konsequent das Medium religiöser Sensibilität am nächsten steht: „Der Mensch ist so gering und unvollkommen; das Universum dagegen so unermeßlich und überwältigend.“30 2) Hermeneutisch gesehen tritt die Frage nach der Ereignisrelationalität deshalb in verwandelter Form auf: Wie stellt sie sich, wie stellt sie uns dar? Weil die menschliche Denkkapazität keinen Standpunkt außerhalb von Wahrnehmungen – den Prämissen in Schlussfolgerungen – je wird geltend machen können, deshalb steht keine Theoriebildung ausschließlich ihren Gegenständen gegenüber, sondern sie ist von diesen gezeichnet. Anders gesagt: Die Wahrnehmungsprozesse sind es, die sich in uns, in Fühlen, Denken und Handeln ereignen. Durch die Abstraktionsleistungen und Formalisierungen des Denkens aber gibt es in der Hermeneutik der Ereignisse die Möglichkeit von Strukturvergleichen, die – wie sehr auch nachträglich und fallibel – die habitualisierten Abläufe darstellbar und partiell kontrollierbar machen. Die dreistellige Relation G(x, 29 C. S. Peirce Vorlesungen ber Pragmatismus, hg. v. E. Walther, Hamburg 1991, S. 145: „Die Elemente eines jeden Begriffs treten in das logische Denken durch das Tor der Wahrnehmung ein und verlassen es durch das Tor zweckvoller Handlung“; vgl. zur Stelle T. L. Short „Hypostatic Abstraction“, aaO., S. 289. 30 Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 323 – 327. Der Text mit der Überschrift „Das erste Kapitel der Logik“ stammt von 1907, das kurze Gebet steht direkt am Anfang, das Zitat aaO., S. 324.
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y, z) bezeichnet den strukturellen Kern, insofern immer eine Erstes auf eine Zweites durch Vermittlung eines Dritten bezogen sein muss, damit eine Zeichenrelation zustande kommen kann, die aus dem Wahrnehmungsprozess abstrahierbar wird als Zeichen, Objektbezug und Interpretantenrelation. Als Strukturgegebenheit ist diese Dreistelligkeit immer wieder auf sich selbst anwendbar; hermeneutisch gesehen ist sie begrenzt durch Entscheidungen und Handlungen, die den semiotischen Prozessen von der Wahrnehmung an eingeprägt erscheinen: Die Objektbestimmtheit soll als im Zeichen angemessen repräsentiert verstanden werden. So betrachtet liegt in den Zeichenrelationen eine „intensionale Einheit“ im Sinne einer Angemessenheit, Gelungenheit, Richtigkeit – „um eines Zieles willen“.31 Jede dreistellige Relation enthält also auch die Aufforderung der möglichst guten Realisierung ihrer Darstellungsleistung. Das gilt für das Verstehen von objektiven genauso wie von subjektiven Prozessen: Zeichenprozesse stellen uns dar, und nur ein geringer Teil unterliegt unserer Kontrolle. Beide Beobachtungen aber gehören zur sachgemäßen Beschreibung menschlicher Kommunikation, die also ihre Voraussetzungen, die sich niemals vollständig kontrollieren lassen, immer mit in Betracht ziehen muss. Kunst und Religion sind die ausgezeichneten kulturellen Aktivitäten, die diesem Befund gerecht werden können; sie haben deshalb – gerade auch wissenschaftlich gesehen – nicht den Status des Zufälligen oder eigentlich Entbehrlichen, sondern sie sind eigenständig einer lebensweltlichen Hermeneutik verpflichtet, die in Zeichenprozessen deren vorgängige Universalität beachtet und bearbeitungsfähig zu machen versucht. Paul Tillich hat dem ganz entsprechend (auf seine Weise und in seiner Sprache) die Selbständigkeit von „Mythos und Kultus“ verteidigt, die „hinweisen“ auf das, „was uns unbedingt angeht“, und darin die „Tiefendimension“ der Vernunft unersetzbar zum Ausdruck bringen.32 3) Kosmologisch gesehen lässt sich die Relationenlogik so aufnehmen, dass nach der realen Ermöglichung von Prozessen gefragt wird. In der Konsequenz der semiotischen Wahrnehmungstheorie liegt die dreistellige Ordnungsstruktur, der entsprechend die Wahrnehmungsqualität des Zeichens vorausgehen muss, bevor diese auf existierende Gegenständlichkeit in Raum und Zeit beziehbar wird, und der Zusammenhang beider stellt sich als Vermittlung, d. h. in einem Dritten dar. Mit dieser Struktur wird nun wiederum nicht nur ein neuer Anwendungsbereich 31 H. Pape Der dramatische Reichtum der konkreten Welt, aaO., S. 199. 32 P. Tillich Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 31956, S. 97.
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der Relationenlogik eingeführt, sondern diese selbst enthält an ihrer ersten Stelle die Möglichkeitsbedingung zu allem Anderen, an zweiter Stelle der Relation die Gegenstandsbezogenheit der Zeichenqualität, an dritter Stelle die vermittelnde (neue) Einheit eines bestimmten Prozessereignisses.33 In Variation des Beispiels der dreistelligen Relation des Gebens kann jetzt in Aufnahme der unableitbaren Wahrnehmungsqualität des kreativ Neuen (N) gesagt werden: Die primre Kreativitt (x) bedingt das gegenstndlich Geschaffene (y), und beides ist als Schçpfung (z) Ereignis: N(x, y, z). Dass damit nicht nur Muster für Einzelereignisse abgebildet werden zeigt auch hier die hypostatische Abstraktion. Ihr philosophischer (metaphysischer bzw. kosmologischer) Rang ist so zu verstehen, dass die verallgemeinernde Perspektive auf bestimmte Prädikate deren Realitätsstatus verändert aufnimmt: Was kreativ mçglich ist, ist nicht als (schon oder einmal) wirklich festzulegen, aber als reale Möglichkeit eines Wrde-Seins zu verstehen: „alle hypostatischen Abstraktionen“ sind „dahingehend zu interpretieren, was aus ihnen im Konkreten werden wrde oder kçnnte (nicht was sie tatsächlich sein werden).“34 Auf das zuletzt genannte Beispiel angewandt: x j N(x, y, z) besagt dann, dass an erster Stelle die Schöpfungsinstanz als Autor gedacht wird, die Prozessermöglichung selbst. Peirce hat zunächst aus rein logischen Gründen seiner Kosmologie diesen ersten Zustand so konzipieren müssen, dass in ihm (hypothetisch) das alles enthalten sein muss, was „in jedem auch nur möglichen Zustand der Dinge real sein würde[…], das heißt, ein Ens Necessarium.“35 D. h. die kreative Ermöglichung ist kosmologisch gesehen selbst als reale Möglichkeit zu betrachten, die notwendigerweise das enthält, was prozessual sein kçnnte. Ganz in diesem Sinne ließe sich das verstehen, was Jürgen Moltmann in seiner Schöpfungstheologie als ,kosmischen Geist‘ beschrieben hat:36 Kreativität ist ursprünglich, durchgängig und doch jeweils differenziert in ihrem konkreten Auftreten; der realen Möglichkeit nach bestimmt, nicht mit bestimmter Gegenständlichkeit zu identifi33 Vgl. zur genaueren Ableitung der hier beanspruchten Kategorialen Semiotik H. Deuser Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004, Kap. I. 1 und I. 2. 34 Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., 359; vgl. zum Begriff ,Würde-Sein’, aaO., S. 398, 409. 35 Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 530, Anm. 13 (aus Peirce’ „LogikNotizbuch“ von 1908). 36 J. Moltmann Gott in der Schçpfung. kologische Schçpfungslehre, München 1985, Kap. IV, § 5.
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zieren. In diesem Sinne ist die Notwendigkeit der ursprünglichen Ermöglichung mit der Offenheit des Prozesses vereinbar. 4) Semiotisch gesehen ist die Relationenlogik dann keineswegs auf linguistische Anwendungen beschränkt, sondern in den Zeichenprozessen stellt sich die Welt dar – und das nicht im übertragenen Sinne von Texten und Texturen, Fiktionen und Konstrukten, sondern die Welt als Realität, worin existierende Gegenständlichkeit und geistige Vermittlung immer zusammen gehören. Wiederum ist es die hypostatische Abstraktion, an der der Übergang von intensionaler Relationenlogik in Weltprozesse orientiert werden kann: Das Noch-einmal-Denken von „Gedanken-Zeichen“37 hat den Realitätsstatus des Wrde-Seins, und so kommt es zur geregelten Prozessualität, zur Kommunikation, aber auch zu den evolutionären Prozessen der Natur selbst. Was als rational strukturiert erkannt werden kann, bringt diese Strukturen bereits mit. Die Verknüpfung von Zeichen zu (neuen) Interpretanten ist die immer vorauszusetzende geistige Produktivität jedes Prozesses: „Denken ist nicht notwendig mit einem Gehirn verbunden. Es zeigt sich in der Arbeit der Bienen, der Kristalle und überall in der rein physikalischen Welt. Und man kann genausowenig leugnen, daß es real vorhanden ist, wie daß die Farben, Formen usw. der Objekte wirklich vorhanden sind.“38 Von Zeichentheorie und semiotischen Prozessen auf der Basis der intensionalen Relationenlogik zu sprechen hat diesen universalen Sinn, dass Geist und Materie, wie wir noch immer gewohnt sind zu unterscheiden, in einer dreistelligen – semiotischen – Relation nur miteinander verbunden auftreten können. Die einfachste Verbindung von Zeichen kann dann „Quasi-Geist“ genannt werden, und es lässt sich „erklären, daß es keine isolierten Zeichen geben kann“, also ist Denken immer „dialogisch“ – und das ist keine psychologische, sondern eine relationenlogische „Notwendigkeit“.39 Es liegt in der Konsequenz dieser realistischen Zeichenauffassung, dass auch die Bewusstseins- und Selbstbewusstseinsstrukturen dann nicht 37 Vgl. C. S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3, hg. v. C. Kloesel und H. Pape, Frankfurt am Main 1993, S. 161 (aus einem Manuskript von 1906): „Jene wundervolle Operation der hypostatischen Abstraktion, durch welche wir entia rationis zu erschaffen scheinen, die nichtsdestotrotz manchmal real sind, liefert uns das Mittel, Prädikate von Zeichen, die wir denken oder durch die wir denken, in Subjekte zu verwandeln, an die wir denken. Wir denken also an das GedankenZeichen selbst und machen es zum Objekt eines anderen Gedanken-Zeichens.“ 38 C. S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3, aaO., S. 162. 39 C. S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3, aaO., S. 163.
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mehr idealistisch bzw. transzendental und auch nicht mehr nominalistisch bzw. irreal aufgefasst werden können. Geistige Prozesse sind semiotisch aufgebaut, d. h. die Realität des Geistes besteht darin, Ereignisse im Prozess strukturiert darstellen zu können. Das Selbst eines Menschen ist durchzogen von Darstellungen und ist selbst eine solche. Der dialogische Charakter des Denkens macht es zugleich abhängig von Zeichenqualitäten und Gegenstandsbezügen, aber auch selbständig in der immer erneuten (triadisch strukturierten) Verhältnisbildung – und dieser wiederum kann als solche betrachtet werden: Die „hypostatische […] Abstraktion besteht darin, daß jede Prädikation durch das Haben einer Qualität oder das Stehen in einer Relation ersetzt wird.“40 Die neue Qualität oder Relation ist aber allgemeiner als die vorausliegenden, so dass die weitergehende Abstraktion auf die reale Möglichkeit von ,Eigenschaften‘ verweist, ohne dass diese schon an existierende Gegenstände gebunden sein müsste.41 Anders als Kant hat Peirce diese Bindung an Möglichkeit, rationale Struktur und Unbestimmtheit nicht als bloß regulativ, sondern ausdrücklich als konstitutiv bezeichnet,42 d. h. die transzendentalphilosophischen Grenzziehungen zwischen Dingwelt und Denkwelt sind aufgehoben, Realität wird im semiotischen Bedingungsfeld von Möglichkeit, Wirklichkeit und Regularität erfasst, und so erschließt sich das menschliche Selbst in den Universen von Darstellungen. Die Person ist ein solches (lebenspraktisches) Selbst in seinen Darstellungen, worin die innere Welt der Gefühle einbezogen ist; aber nicht so, als gäbe es eine eigene innerer Welt gegenüber der äußeren Welt. Es ist das Kontinuum der Darstellungen, d. h. der semiotischen Ereignisse im Prozess, in dessen Realität das Selbst sich findet und auslegt. Der hermeneutische Zugang zum menschlichen Dasein, das seine Welt hat, verdankt sich der semiotischen Struktur der universalen Erfahrung im Kontinuum.43
40 C. S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 2, aaO., S. 255. 41 Vgl. C. S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 2, aaO., 256f., wo Peirce zeigt, dass dann weder das ,Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten’ noch das ,Widerspruchsprinzip’ voll gültig sind. – Zu Peirce’ modallogischen Erkenntnissen bezüglich des Wahrheitswertes ,unbestimmt’ vgl. Linde Zeichen und Gewißheit, aaO., Kap. IV. 3. 2. 42 C. S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 2, aaO., S. 257. 43 Zum hermeneutischen Aspekt s. o. Abschnitt IV (2); zur semiotischen Erfassung des Selbst vgl. T. L. Short „Hypostatic Abstraction“, aaO., S. 303ff.; zur Rahmentheorie des Kontinuums vgl. im vorliegenden Band Kap.B.11.
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5) Trinitarisch gesehen sind die relationenlogischen und semiotischen Darstellungen insofern unmittelbar einleuchtend, weil die formale Dreistelligkeit, ihre innere Geordnetheit und ihre kosmologische wie lebensweltliche Auslegung sachlich genau dem korrespondieren, was als (ursprüngliche) Schçpfung im Unterschied zum existierend Geschaffenen und in der vermittelnden Präsenz des prozesshaften Zusammenhanges beider in der biblischen Narrativität vor Augen steht und theologisch gedacht zu werden verlangt. Hinzu kommt, dass geistige Prozesse sich nur personal, d. h. in der Relationalität eines Selbst, das ein komplexes Verhältnis zu sich aufzubauen imstande ist, vorstellen lassen. Es geht in dieser Hinsicht nicht um Existenzbeweise oder Substanzphilosophien, wie in der scholastischen und neuzeitlichen Tradition europäischer Theologie, sondern um die semiotische Prozesshaftigkeit des Selbst- und Weltprozesses – und wiederum seine erneute Darstellung aufgrund hypostatischer Abstraktion: Die Welt zeigt kreative Prozesse, also kommt ihr ursprüngliche Kreativität zu; kreative Prozesse zeigen (geistige) Interpretationen von Zeichen- und Existenzrelationen, also kommt ihnen die Struktur von Selbst-Verhältnissen zu.44 Insofern ist die kosmologische Triade (Schöpfer, Geschaffenes, Schöpfung) verbunden mit der personalen Triade: die ursprüngliche Ermöglichung tritt sich gegenüber in der Existenzrelation, und beide gehören in der Relationalität des Geistes zusammen (Vater, Sohn, Geist). Die hypostatische Abstraktion bringt demnach relationenlogisch zum Ausdruck, was schlusslogisch von Peirce als Abduktion ausgezeichnet worden ist: die kreative Entdeckung von realen Möglichkeiten aufgrund von Erfahrungen, die sich in Prädikationen ausdrücken und daraufhin verallgemeinert betrachtet werden können.45 Zwischen Schöpfung, Trinität und Personalität Gottes waltet demnach eine relationenlogische Konsequenz: Die genuin menschliche Erfahrung von Kreativität in Geschichte und Natur lässt sich in der Relation des Gebens bezeichnen als G(x, y, z).46 Wird an jeder Stelle die hypostatische Abstraktion zur Geltung gebracht, so folgt: x j G(x, y, z), d. h. ,x gibt‘ wird zur Ursprnglichkeit im Akt des Gebens; y j G(x, y, z), d. h. ,gibt an y‘ wird zur Empfnglichkeit im Akt des Gebens; z j G(x, y, z), 44 Die beiden Schlussfolgerungen sind nach dem Muster gebildet, das H. Pape in seiner Einleitung zu Semiotische Schriften, Bd. 2, aaO., S. 32, gibt: Aus dem ,konkreten Prädikat’ (z. B. ,Die Rose ist rot’) wird ein ,abstrakter Begriff’ („Der Rose kommt Röte zu“). 45 Vgl. Linde Zeichen und Gewißheit, aaO., Kap. IV. 3. 3. 1: „Die abduction schöpft demnach den Möglichkeitsraum der Zeichen aus.“ 46 S.o. Anm. 21.
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d. h. ,gegeben wird z‘ wird Empfindsamkeit im Akt des Gebens, nämlich in der Vermittlung von x und y. In der Übertragung in den biblischen Sprach- und Sachhorizont ergibt sich für x Vterlichkeit; für y Kindlichkeit (im Sinne von ,Kinder Gottes‘) bzw. das Sohnverhltnis; für z die geistige Präsenz des Verhältnisses von x zu y: Geistesgegenwart. Was im biblischen Horizont als çkonomische Trinität zu bezeichnen ist, wird dann, wenn im Horizont der drei Abstraktionen deren Relation gebildet wird, zur immanenten Trinität. So sehr beides als Erfahrungsausdruck von Kreativität (in Wahrnehmungsprozessen) entwickelt wurde, so notwendig ist für jede relationale Darstellung von Kreativität eben der Vorrang der menschlich gerade nicht herstell- und kontrollierbaren Erstwahrnehmung: „Gotteserfahrung wird darum in, mit und unter jeder alltäglichen Welterfahrung möglich“! 47
V. Die innere Geordnetheit der trinitarischen Relation führt zu drei Zugangsmöglichkeiten mit unterschiedlichem Stellenwert: Der Einsatz bei der Ursprnglichkeit ist kosmologisch gerechtfertigt und führt zu Argumenten für den Gottesbegriff; der Einsatz bei der Empfnglichkeit ist aus der menschlichen Existenzerfahrung gerechtfertigt und führt zu anthropologischen bzw. christologischen Darstellungen; der Einsatz schließlich bei der Empfindsamkeit – und nur dieser soll hier noch verfolgt werden – hat einen doppelten Vorrang: Lebenspraktisch orientiert gehen wir immer von Kontexten, d. h. von geregelten Vermittlungen aus, in denen symbolische Kommunikationen schon wirksam sind; sie sind dreistellig und stellen insofern Prozesse des Geistes dar. Theoretisch orientiert liegen analoge Verhältnisse vor, weil Denken unmittelbare Wahrnehmungen entweder voraussetzen oder als Abstraktionen bilden muss. Trinitarisch-theologisch gesprochen sind beide Orientierungen eben die der Geistesgegenwart, ohne deren Kraft weder gedacht noch gelebt werden könnte. Wir beginnen sozusagen immer in dreistelligen Ereigniszusammenhängen, obwohl der abstrahierbaren Genese nach beurteilt die Ursprnglichkeit darin ebenso vorausgesetzt wird wie die Empfnglichkeit; so wie Vater und Sohn heilsgeschichtlich gesehen der Verheißung des Geistes vorausgehen. Damit wird nicht negiert, dass im 47 J. Moltmann Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, S. 48.
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Sinne der Einheitsbetrachtung diese dreifache Relation (in ihre Gleichursprünglichkeit) als Ereignis der immanenten Trinität gedacht – und angebetet werden kann: „die trinitarische Doxologie“ ist „der ,Sitz im Leben‘ für die Konzeption der immanenten Trinitt.“48 Diese Vorbedingung der Geistesgegenwart ist relationenlogisch und semiotisch konsequent, sie darf aber nicht im Sinne einer ,Aufhebung‘ verstanden werden, so als wären nach idealistisch-hegelscher Dialektik die Aufbauelemente des allein realen Begriffs nur dessen nicht-reale Momente, d. h. Vater und Sohn wären bloße Ableitungen aus dem Ereignis der Geistesgegenwart.49 Die relationalen Unterscheidungen der kategorialen Semiotik50 verhindern diesen idealistischen bzw. subjekttheoretischen Fehler, weil die Wahrnehmungsursprünglichkeit an erster Stelle unverrechenbar selbständig sein muss, sonst gäbe es gar keinen Grund für (neue) Erfahrungen; und diese Beurteilung ist auch dann richtig, wenn natürlich gesagt werden muss, dass die Wahrnehmungsursprünglichkeit eben nicht in dieser ihrer Modalität festgestellt, gemessen, vergegenständlicht etc. werden kann, weil sie eben immer nur in Ereignis-, d. h. Vermittlungsprozessen nachträglich beziehbar – nicht handhabbar – werden kann. Relationenlogik wie Geistesgegenwart bringen genau diesen Vorzugscharakter realer, d. h. kreativer Möglichkeit zum Zuge: Gott Vater ist der Schöpfer, die ursprngliche Ermçglichung. Entsprechendes muss an zweiter Stelle für die in Zeichenprozessen notwendige Selbständigkeit der Objektrelation gesagt werden. So richtig es ist, dass empirische Gegenständlichkeit gar nicht als solche unmittelbar erkannt und begriffen werden kann, so sehr ist die reale Bedingung für das Begreifen die vorausgehende Aktiv- und Reaktivkraft von Gegenständen, die sich in Zeichenereignissen abbilden. Diese existentielle Relation kann in ihrem Bestehen nicht durch Interpretanten manipuliert werden, ein Wort bezieht sich auf (empirische) Gegenstände, stellt sie aber nicht her: Gott Sohn ist wirklicher Mensch, existentielle Empfnglichkeit. Das Geheimnis, die offenbarende Kraft der Geistesgegenwart liegt gerade in der relational vorausgehenden und nicht erst von dritter Stelle abhängigen Ursprnglichkeit und Empfnglichkeit, die in der Empfindsamkeit des geistigen Ereignisses sich gemeinsamen Ausdruck verschaffen. Genau 48 Moltmann Der Geist des Lebens, aaO., S. 316. 49 Vgl. beispielhaft für diese Hegelkritik J. McTaggart Studies in Hegelian Cosmology, 1918, S. 204; zit. bei A. Thatcher The Ontology of Paul Tillich, Oxford 1978, S. 92f. 50 S.o. Anm. 33.
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diese Dreistelligkeit aber macht die Selbsterfahrung und den Begriff von Person aus, sie ist vollständig und irreduzibel nur als geistiger Prozess vorstellbar. Die Pneumatologie macht die Trinitätslehre notwendig, und von Gott als Person zu sprechen, verdankt sich der Geistesgegenwart: der geordneten Dreistelligkeit, die sich in der Einheit eines Ereignisses darstellt: „Das Verstehen der eigenartigen Personalität des Geistes ist darum entscheidend für das Verständnis Gottes überhaupt.“51 Die Trinität führt zum Personbegriff, weil Einheit und Dreiheit biblisch wie relationenlogisch nur miteinander zum Ausdruck gebracht werden können. Trinitarisch zu denken ist theologisch notwendig und semiotisch gut begründet.
51 Moltmann Der Geist des Lebens, aaO., S. 299.
Gottes Poesie oder Anschauung des Unbedingten? Semiotische Religionstheorie bei C. S. Peirce und P. Tillich I. Religion verstehen: Unmittelbarkeit und Zeichenvermittlung Verstehen und treffen wir mit unseren Wçrtern (ta onómata) auch wirklich die Dinge (ta prágmata), wie Kratylos den Sokrates verstanden zu haben glaubt;1 und wenn ja, woran liegt das eigentlich? Haben die Dinge jeweils ihre festen Namen, oder vereinbaren wir diese, um den Dingen so am besten auf die Spur zukommen? Namen und Wörter sind Bezeichnungen, noch allgemeiner gesagt Zeichen, die zwischen sich selbst und dem Bezeichneten einen Unterschied machen. Dieser aber würde wieder aufgehoben, wenn die Dinge jeweils die ihnen eigenen Zeichen schon selbst wären. In der Welt der Religionen liegt eine solche Auffassung der Identität von Zeichen und Bezeichnetem dann nahe, wenn das Göttliche unmittelbar vergegenwärtigt gedacht und erlebt wird: Es ist so wie es sich elementar zeigt, und eine magische Kraft bringt die Unterscheidungsmerkmale zum Verschwinden. Auf unsere Gegenwart und die Diskussionen um den religiösen Fundamentalismus angewandt könnte man sagen: Wird ein solches Verhältnis der Unmittelbarkeit aus seiner jeweiligen Erfahrungsbildung gelöst und zum Argument, zur Forderung an andere und zur Exklusivität eines zwingenden Wahrheitsanspruchs ausgebaut, dann entsteht Fundamentalismus in der (bewussten) Ignoranz gegenüber der Unterscheidung bzw. der Vermittlungsleistung von Zeichen gegenüber dem Bezeichneten.
1
Platon Werke in acht Bnden, Bd. III, hg. v. G. Eigler, Darmstadt 1974, S. 559 (Kratylos, 435d); vgl. zur Fragestellung J. Hennigfeld „Menschliches und göttliches Wort. Zeichenbegriff versus Logosspekulation“ in Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken. FS H. Deuser, hg. v. G. Linde, R. Purkarthofer, H. Schulz und P. Steinacker, Marburg 2006, S. 69 – 77; S. 69f.
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Die hier also notwendige Vermittlung darf seit Aristoteles als Symbol bezeichnet werden,2 religionstheoretisch aufgeklärte Symboltheorien sind dann definitionsgemäß nicht fundamentalistisch: Die religiöse Unmittelbarkeit wird gerade dadurch gewahrt, dass sie nicht magisch fixiert werden kann und darf, die Welt der Symbole ist als Vermittlung nötig, deckt das Vermittelte aber niemals erschöpfend und besitzend ab. P. Tillich hat diese ebenso unaufhebbare wie verletzliche Verhältnisbildung als das Protestantische Prinzip markiert, und dessen religions- und symboltheoretische Fundierung soll im Folgenden genauer untersucht werden. Ein Symbol, so kann zunächst festgehalten werden, ist ein konventionelles Zeichen, und mit dieser allgemeinen Definition greift C.S. Peirce bewusst auf den von Aristoteles in Peri Hermeneias eingeführten Sprachgebrauch zurück.3 Daraus folgt dann auch die weitere definitorische Klärung: Der allgemeinere Begriff des Zeichens steht (mit Peirce gesagt) für das universale Auftreten von Zeichen im Sinne von Zeichenereignissen oder Semiosen, während der Begriff des Symbols als eine bestimmte Zeichenform verstanden wird, eben eine solche, die durch Konventionen geprägt ist.
II. Existenz-Ontologie Tillich schreibt 1955 zur Verteidigung des inneren, notwendigen Zusammenhanges von Religion und Philosophie: The fundamentalist minister who said to me, „Why do we need philosophy when we possess all truth through revelation?“ did not realize that, in using the words „truth“ and „revelation,“ he was determined by a long history of philosophical thought which gave these words the meaning in which he used 2
3
Vgl. Hennigfeld „Menschliches und göttliches Wort“, aaO., S. 70 (unter Bezug auf Aristoteles’ De interpretatione): „Wörter sind Symbole (sy´mbola). Was im gesprochenen Wort gleichsam zusammengeworfen (sym-bállein) wird, sind die artikulierten Laute und unsere Eindrücke, die sich durch vielfältige Erfahrungen unserer Seele eingeprägt haben. Mit dem Symbolcharakter der Sprache ist nichts anderes gemeint, als daß die Wörter Zeichen (semeîa) sind.“ Vgl. zur Bedeutung Aristoteles’ auch S. Meier-Oeser Art. „Symbol I“ in Historisches Wçrterbuch der Philosophie (= HWP) 10 (1998), S. 712f. Aristoteles Peri Hermeneias, hg. v. H. Weidemann (Aristoteles. Werke in dt. bers., Bd. 1, II), Berlin 1994, S. 3 (Kap. 1, 16a 3 – 9); vgl. J. Hennigfeld Geschichte der Sprachphilosophie. Antike und Mittelalter, Berlin 1993, 71ff.; O. R. Scholz Art. „Symbol II“ in HWP 10 (1998), S. 723 – 738; hier S. 732.
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them. We can not avoid philosophy, because the ways we take to avoid it are carved out and paved by philosophy.4
Doch welche Philosophie ist es, die Tillich selbst im Aufbau seines theologischen Systems vertritt und für unentbehrlich hält? Welche Vermittlungsleistungen in der Darstellung des religiös Unbedingten sind notwendig? Wie lassen sich diese Vermittlungen semiotisch (symboltheoretisch) und religionstheoretisch so erfassen, dass der Ultimate Reality, wie Tillich sagt, christlich-religiös ebenso entsprochen werden kann wie im philosophisch-methodisch gerechtfertigten Denken der Wissenschaften? Es ist offensichtlich, dass Tillichs Systematische Theologie in allen Punkten in einer Doppelperspektive entworfen ist: Ihr Thema ist einerseits die Wirklichkeit als solche5 – und darin liegt eindeutig, explizit und ohne Umschweife die philosophisch-theologische Fragestellung der europäischen Tradition, die als Ontologie bzw. Metaphysik zu benennen Tillich auch nicht müde wird; und da ist andererseits immer zugleich die existentielle Wendung der Seinsfrage in die Perspektive der ,radikalsten Frage‘ als „Ausdruck eines Existenzzustandes“,6 dessen leidenschaftliches ,Interesse‘ in der Frage nach sich selbst Tillich – im deutlichen Aufgreifen von Gedankengängen und Formulierungen S. Kierkegaards – in der Formel des ,ultimate concern‘ (,was uns unbedingt angeht‘) bündelt.7 Um diese Doppelperspektive in ihrer immer gesuchten Zuordnung zu erfassen, möchte ich im Folgenden von Tillichs Existenz-Ontologie sprechen, und damit sind mehrere ihrer Merkmale gegenwärtig zu halten: 1) Es handelt sich, wenn auch nicht ungebrochen, um die metaphysische Fragestellung der seit Aristoteles so genannten prima philosophia, nur dass Tillich im Bewusstsein der neuzeitlichen Metaphysik- und Religionskritik den Begriff Metaphysik eher belastet sieht vom Missverständnis einer Über- oder Hinterwelt – die, weil nicht mehr zu denken, dann doch 4
5 6 7
P. Tillich „Biblical Religion and the Search for Ultimate Reality“ (1955) in Main Works (= MW), Bd. 4: Writings in the Philosophy of Religion / Religionsphilosophische Schriften, hg. v. J. Clayton, Berlin / New York 1987, S. 357 – 388; hier S. 361. P. Tillich Systematische Theologie, Bd. I-III (= ST I-III), Stuttgart 31956 / 31958 / 1966; hier ST I, 28. ST I, 194. ST I, 19f.; vgl. ST I, 22: „,Sein‘ bedeutet das Ganze der menschlichen Wirklichkeit, die Struktur, den Sinn und das Ziel der Existenz. […] Das, was den Menschen unbedingt angeht, ist das, was sein ,Sein‘ bedingt, aber selbst ber allen Bedingungen steht.“ Vgl. auch zur ,Tiefendimension‘ der Vernunft, aaO., S. 97.
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wenigstens zu glauben wäre – und deshalb den zu seiner Zeit eher hoffähigen Begriff der Ontologie vorzieht.8 In der Sache ist hier keine Differenz: Tillich sieht Philosophie wie Theologie der Frage nach dem Sein als solchen (ens in quantum ens), wenn auch unter veränderten Bedingungen, als unausweichlich verpflichtet an. 2) Nicht ungebrochen ist die Existenz-Ontologie genau dadurch, dass Tillich an zentraler Stelle seiner Klärung des Gottes- und Symbolbegriffs die ,analogia entis‘ zwar zur Bedingung dafür erhebt, dass überhaupt ein wirksamer Zusammenhang von (ontologischer) ,Unendlichkeit‘ mit ,endlicher Wirklichkeit‘ herstellbar gedacht werden kann;9 dass diese Bedingung aber unter der gleichzeitigen Voraussetzung gilt, dass diese wirksame Zuordnung nur in religiösen Symbolen zum Zuge kommen kann, d. h. in übertragener Rede, in „anthropomorphen Symbolen“,10 in denen sich der ultimate concern des leidenschaftlichen Existenzinteresse Bahn bricht, aber keine „empirischen Behauptungen“ (,physikalisch, psychologisch oder historisch‘) erhoben werden können.11 3) Mit dem Begriff der Existenz-Ontologie ist also die Problemanzeige verbunden, dass hier zwei parallele oder auch gegenläufige Perspektiven auf der Suche nach einer Einheit präsentiert werden, deren dritter Ort nicht leicht zu bestimmen ist. Aus dieser Problemlage resultieren offensichtlich zugleich die große Attraktivität von Tillichs Systematischer Theologie wie auch die Schwierigkeiten ihrer Interpretation: Denn die Traditionselemente aus Metaphysik und Theologie werden ständig innovativ zusammengebracht mit dem religiösen ultimate concern eines aktiven Gegenwartsinteresses, tief vermittelt in den Krisenerfahrungen des 20. Jahrhunderts. Es ist Tillichs Symbollehre, der in diesem Feld die alles entscheidende Bedeutung zukommt. 4) Mit dieser Auszeichnung des Symbolbegriffs für eine konsistente Interpretation der Existenz-Ontologie ist auch verbunden, dass transzendentalphilosophische bzw. subjekttheoretische Lösungen des Interpretationsproblems (auf der Suche nach einem dritten Ort der Perspektiveneinheit) mich aufs Ganze gesehen nicht überzeugt haben. Chr. Danz’ bewundernswerte Gesamtdarstellung von Tillichs System12 muss 8 9 10 11 12
ST I, 28f. 193; vgl. MW 4, 359f. ST I, 278. ST I, 280. ST I, 278. Chr. Danz Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivitt bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000.
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mit Gewichtsverschiebungen arbeiten, in denen die Doppelfrage nach dem existenz-ontologischen Grund, wie sie für Tillich typisch ist, als Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung ausgegeben wird. Ich gebe ein Beispiel: Für Tillichs „transzendentallogisches Verfahren der Reduktion“ (Chr. Danz) wird folgender Beleg aus Tillichs schon genanntem Aufsatz über „Biblical Religion and the Search for Ultimate Reality“ (1955) angeführt:13 let us speak of ontological analysis in order to show that one has to look at things as they are given if one wants to discover the principles, the structures, and the nature of being as it is embodied in everything that is.
Ich möchte festhalten, dass dieser Satz problemlos im Sinne einer Phnomenologie (z. B. der der universalen Kategorien der Phaneroskopie14 von C.S. Peirce) verstanden werden kann, dass er in jedem Fall im Blick auf Tillichs Begriff des Seins, d. h. existenz-ontologisch gelesen werden muss, und dass weder der Satz für sich genommen noch der gesamte Kontext dieser Schrift irgendeinen Anhalt für ein transzendentalphilosophisches Verfahren bei Tillich selbst gibt. 5) Allerdings muss an Danz’ Tillich-Rekonstruktion auch gewürdigt werden, dass die existentielle Perspektive der Ontologie nicht ignoriert, sondern ihr eine ganz bestimmte Rolle zugewiesen wird: Neben der ,apriorischen Struktur‘ ist ein ,Vollzugsmoment‘ individueller Erfahrung zu unterscheiden, das aus jener nicht nur nicht ,ableitbar‘, sondern in ,kategorialer Differenz‘ abzuheben ist.15 Auf die Funktion dieser Unterscheidung und ihre Vermittlung kommt es an, und es ist zunächst genau diese Doppelperspektive der Existenz-Ontologie, die in Tillichs System ernst zu nehmen und in ihrer Suche nach einer Einheit zu verfolgen ist.
13 Das Zitat wird hier englisch gegeben nach MW 4, 360; vgl. bei Danz Religion als Freiheitsbewußtsein, aaO., S. 23 14 Vgl. H. Deuser Art. „Phaneroskopie, Phaneron“ in HWP 7 (1989), S. 460f.; ders. Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004, Kap. I. 1, bes. S. 25f. 15 Danz Religion als Freiheitsbewußtsein, aaO., 24.
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III. Kategorien und Dimensionen Zwischen Denken und Sein vermitteln die Kategorien. Tillich wählt dazu geschickt Zeit, Raum, Kausalitt und Substanz aus,16 d. h. er verbindet die Anschauungsformen aus Kants transzendentaler Ästhetik (Zeit und Raum) mit zwei Subkategorien der Kategorie der Relation aus Kants Kategorientafel (Kausalität und Substanz) zu einem neuen, existenz-ontologischen Verständnis. Jeweils geht es um den Aufweis einer unausweichlichen Ambivalenz, die dadurch entsteht, dass die in den Kategorien ausgedrückte Wirklichkeit (ihr Seinscharakter) zugleich auch begrenzend mit dem leidenschaftlichen Existenzinteresse kollidiert: Zeit vermittelt Neues, aber auch Tod,17 Raum vermittelt Präsenz, aber auch Verlustangst,18 Kausalitt vermittelt Ursprungsmacht, aber auch Abhängigkeit,19 Substanz vermittelt Selbständigkeit, aber auch Veränderungsangst.20 Schon hier ist zweifelsfrei erkennbar, dass der Sinn dieses Kategorienbegriffs keiner Transzendentalphilosophie mehr genügen will,21 und die existenz-ontologisch gesuchte ,Einheit‘, der dritte Ort der doppelten Ontologie, wird als ,Einheit von Sein und Nichtsein‘ ausgezeichnet, d. h. als eine spannungsvolle Situationsbeschreibung, die mit der ,Frage nach Gott‘ identifiziert wird.22 Zu einer existenz-ontologischen Überarbeitung der Kategorien kommt es aber erst recht dann, wenn sie zur Einleitung der Pneumatologie, im 4. Teil („Das Leben und der Geist“) der Systematischen Theologie, wiederum strukturbildend auftreten. Voraus geht hier noch einmal die kritische Ausgrenzung eines falschen Verständnisses von Metaphysik: Mit dem Begriff der Schicht will Tillich die Ordnungsmetaphysik der platonischen Tradition charakterisieren,23 um sich von deren hierarchischem Denken im Sinne einer Schichten-Pyramide – je höher die Abstrakti16 Vgl. ST I, 196, 225 – 232; ST III, 28ff. – Zur Bedeutung der Kategorien (in ST I) für Tillichs ontologische „Strukturtheorie der endlichen Freiheit“ vgl. Danz Religion als Freiheitsbewußtsein, aaO., S. 67 – 73. 17 ST I, 226f.; vgl. bei Danz Religion als Freiheitsbewußtsein, aaO., 71ff., die exemplarische Darstellung der Kategorie Zeit. 18 ST I, 227 – 229. 19 ST I, 229f. 20 ST I, 230 – 232. 21 Auch der Begriff a priori, den Tillich im Rahmen ontologischer Strukturbegriffe ausdrücklich nennt, ist eben nur noch ,relativ a priori‘ (ST I, 196 – 198)! 22 ST I, 232. 23 ST III, 23ff.
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onsebene desto höher auch die (monarchische) Machtstellung und die (ontologische) Realität! – zu unterscheiden. Gegen dieses Modell sprechen in der Moderne das ,protestantische‘ wie das ,demokratische Prinzip‘,24 d. h. mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre gilt das allgemeine Priestertum und mit dem Rechtsstaatsprinzip die Gleichheit aller Menschen. Eine Hierarchie von Realitäten und Mächten als pures Ordnungsprinzip lässt sich in der Moderne nicht mehr begründen. Theologisch noch entscheidender aber ist, dass Tillich damit zwei für das Christentum und die Theologie auch der Moderne ausgesprochen typische Vorstellungselemente zu beseitigen versucht: Das Schicht-Modell beruht letztlich auf einem regierenden Vorrang der ,oberen‘ gegenüber der ,unteren‘ Welt, d. h. auf einem Dualismus, einer Zweiweltentheorie sich ausschließender und bekämpfender Gegensätze. In dieses Bild gehört auch die Gegenüberstellung einer ,naturalen‘ und einer ,supranaturalen‘ Welt, kurz: der theologische Supranaturalismus, der ein Eigenrecht des Göttlichen gerade ohne die erfahrungsmäßig-empirische Welt reklamiert.25 Beides, Dualismus wie Supranaturalismus will Tillichs ExistenzOntologie vermeiden, sie muss also das nicht sichtbare Wesen der Dinge, ihre Essenz, von der endlichen Wirklichkeit der Existenz so unterscheiden, dass sie miteinander vermittelt bleiben, sozusagen in einer tendenziell einheitlichen Erfahrung der Menschen zusammengehalten werden können. Diese Vermittlungsfunktion hat der Begriff der Dimension,26 und die Kategorien von Zeit, Raum, Kausalität und Substanz werden entsprechend einsetzbar, durchdringen sich in bestimmten ,Bereichen‘, und sie sind aufbauend und integrierend darstellbar, ohne dass es zu unangemessenen Gegensatzbildungen kommt. Das Modell der Dimensionen hat einen organischen und evolutionistischen Zug, es will die Vielfalt der Erfahrungswelt nirgends einschränken, doch aber auf deren essentielle Einheitsbeziehung hinaus:
24 ST III, 24. 25 ST III, 25. 26 ST III, 25 – 41. – Zur besonderen Stellung dieses Begriffs in der Entwicklung vom Frühwerk bis zur Pneumatologie des Spätwerks und zur offensichtlichen Nähe zu E. Cassirer vgl. M. Moxter Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000, S. 78 – 82.
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Tillichs Existenz-Ontologie: Kategorien und Dimensionen Kategorien sind „Formen des Sprechens und Formen des Seins“ (ST I, 225) Zeit
Zeit
„Der besondere Charakter einer Dimension […] zeigt sich in der Art, wie unter ihrer Vorherrschaft die Kategorien […] eine besondere Prägung erhalten“ (ST III, 28) 1) Dimension des Anorganischen
Raum Kausalität Substanz Raum
Zeit
2) Dimension des Organischen
Raum Kausalität Substanz Kausalität Zeit
3) Dimension des Geistes / des Lebens
Raum Kausalitt Substanz Substanz
Zeit
4) Dimension des Geistes selbst
Raum Kausalität Substanz
1) Überraschend und prophetisch, gerade auch im Rückblick auf die Situation der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts, erscheint die von Tillich als erste genannte Dimension des Anorganischen. 27 Eine 27 ST III, 28ff. – Danz Religion als Freiheitsbewußtsein, aaO., S. 294, ist auf die Bedeutung des Anorganischen insofern aufmerksam, als er es konsequent im Widerspruch zur Dimension der Geschichte, des Neuen, des Geistes sehen muss, s. u. Anm. 37!
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,Theologie des Anorganischen‘ wird sogar gefordert, wenn auch nicht geliefert. Aber die naturale Ausgangsbasis, die ausdrücklich nicht reduktionistisch verstanden werden darf, ist in Übereinstimmung mit den biblischen Schöpfungsberichten und den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Moderne elementare Voraussetzung für alles andere. Keine Existenz-Ontologie ohne Natur; und die Kategorien von Zeit, Raum, Kausalität und Substanz strukturieren diese wie die folgenden Dimensionen derart, dass Aufbauformen vom Naturalen zum Geistigen als differenzierende Steigerungen des ,Mikro- und des Makrokosmos‘ entwickelt werden können.28 Dass eine empirische Faktenwelt für sich genommen und als alleinige Realität behauptet nur selbstwidersprüchlich zu denken wäre, ist kein Einwand dagegen, dass der Dimension des Anorganischen Vorrang und Selbständigkeit eignet. Evolution ist ein Begriff des Geistes wie der Natur, die erste Dimension des Anorganischen ist dafür eine existenz-ontologisch notwendige Bedingung. 2) Entsprechendes gilt für die zweite Dimension des Organischen:29 Noch entschiedener und ausdrücklicher wird hier die (evolutionäre) Vermittlung von Natürlichem und Geistigem zum Thema, weil organisches Leben offensichtlich anorganische Prozesse voraussetzt und selbst Voraussetzung für Bewusstsein, Selbstbeziehung, ,das Psychische‘ ist. Geist ist Leben auf anorganisch-organischer Basis, und Tillich versucht Evolution existenz-ontologisch als Übergang von Potentialitt zu Aktualitt zu denken: In der Perspektive der (klassischen) Ontologie bietet die jeweilige Dimension den Horizont von Potentialität, in der Perspektive der Existenz sind die Naturwissenschaften für die Beschreibung und die ,Bedingungen‘ der Realisierung zuständig. 3) Es scheint die Kategorie der Kausalität zu sein, die an dritter Stelle zur Erklärung der Dimension des Geistes eine herausgehobene Rolle spielt. Denn aus der Evolution des Anorganisch-Organischen herausgewachsen geht es jetzt um die zugrunde liegende und treibende ,Kraft‘ des Lebens.30 Diese liegt nicht mehr in einem empirischen (anorganischen oder organischen) Substrat vor, sondern sie ist – im übertragenen Sinn – die ,Macht der Beseelung‘, d. h. der Geist-Begriff meint auch rückwirkend eben diese Lebenskraft, ohne die schon die anorganische wie die organische Dimension nicht entwicklungsfähig gedacht werden könnten. 28 ST III, 28, 30. – Das gilt dann auch für die erneute Aufnahme der Kategorien im Rahmen des 5. Teils der Systematischen Theologie, vgl. ST III, 358 – 373. 29 ST III, 31f. 30 ST III, 32ff.
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Geist kann dann nicht mehr als eine eigene, abgetrennte Sphäre aufgefasst werden, sondern nur so, dass er „in allem Leben gegenwärtig ist.“31 Die traditionellen und in der Moderne schwierigen oder sogar abwegigen Begriffe wie Sinn, Seele, Logos können dann neu verstanden werden: Sie zeigen Funktionen des Geistes, eben die Kraft, die das „Lebendige am Leben“ erhält.32 4) Im Sinne der dann dominierenden Kategorie der Substanz kann schließlich viertens nach der Dimension des Geistes selbst gefragt werden.33 Die Antwort lautet: Geist ist der natur-geschichtliche Prozess selbst, insofern er zu sich selbst in ein personales, zentriertes, freiheitliches, transzendierendes, normatives Verhältnis eintritt, das immer mehr ist als eine Prozessbeschreibung aus der Beobachterperspektive. Tillich will diese Sonderstellung dadurch absichern, dass er das Prozess-Modell relativen Werdens zu immer nur relativ Neuem als ungenügend ablehnt und stattdessen in der ,geschichtlichen Dimension‘ den Vorrang des absoluten, schöpferisch Neuen realisiert sieht.34 Die so verstandene Dimension der universalen Lebenskraft ist dann nicht mehr substanz-ontologisch etwa an die ,unsterbliche Seele‘ des Menschen zu binden, wo nach der Auffassung alter Metaphysik der Ort des Unbedingten und Geistigen im Menschen zu finden war,35 sondern Geist in seiner personalen Selbsterfassung hat einen bestimmten, nicht determinierten Ort in der natur-geschichtlichen Evolution und verdankt sich darin zugleich einem ,Sprung‘ (wie Tillich mit Kierkegaard sagt, ohne ihn hier zu nennen) 36 – d. h. der Unableitbarkeit eines Freiheitsaktes unter den Bedingungen der Existenz.37 ST III, 34. ST III, 32. ST III, 35 – 41. ST III, 36f. ST III, 37f. Vgl. den ,Sprung‘ im Kontext der Naturgeschichte, ST III, 37, und den ,Sprung‘ als Freiheitsakt, ST III, 38. – Zur unübersehbaren Nähe Tillichs z. B. zu S. Kierkegaards Der Begriff Angst vgl. Danz Religion als Freiheitsbewußtsein, aaO., S. 196f., Anm. 41. 37 Vgl. ST III, 39: „Freiheit nicht in dem falschen Sinn eines indeterminierten Willküraktes, sondern im Sinne einer Ganzheits-Reaktion eines zentrierten Selbst, das abwägt und entscheidet.“ – Danz Religion als Freiheitsbewußtsein, aaO., s. o. Anm. 27, kann den von ihm konstatierten Widerspruch von Natur und Geschichte (der Freiheit) nur so lösen, dass das Naturverhältnis zugunsten einer rein ,existentiellen‘ Auslegung ignoriert wird. Tillichs Entwurf einer natur-geschichtlich realistischen Lehre der existenz-ontologischen Dimensionen kann dann nicht weiter verfolgt werden.
31 32 33 34 35 36
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Kategorien und Dimensionen haben den Anspruch der Existenz-Ontologie zwar strukturiert, wie aber beantwortet sich die Frage nach der Perspektiveneinheit? Ist diese selbst eine – oder eine weitere – Dimension? Anders gefragt: Wie wird die gesuchte Vermittlungsleistung zwischen Ontologie und Existenz darstellbar? Tillich selbst hat im Blick auf diese Fragen den bislang referierten Wortgebrauch eines ontologischen Strukturbegriffs als den einer beschreibenden ,Metapher‘ eingestuft, der gegenüber Ausdrücke wie ,Dimension der Tiefe‘ oder ,Dimension des Unbedingten‘ auf das ,Sein-Selbst‘ zu beziehen und also als Symbol zu werten seien.38 Was heißt das?
IV. Anschauung des Unbedingten Die Frage nach der Darstellbarkeit ist insofern entscheidend, als dem Symbol das zugetraut wird, was keine andere Beschreibung sonst zu leisten vermag: nämlich die ursprüngliche Einheitsperspektive von Ontologie und Existenz angemessen umsetzen zu können. Ein Schema der existenzontologischen Struktur, wie sie Tillich noch einmal zu Beginn seiner Pneumatologie gibt, mag zur Orientierung helfen:
38 Zu dieser Wendung kommt es im Kapitel über die „Manifestation des göttlichen Geistes im menschlichen Geist“ (ST III, 134ff.), vgl. besonders ST III, 136f. und dazu M. Moxter Kultur als Lebenswelt, aaO., S. 82: „Da mit der Tiefe diejenige Dimension angesprochen sei, ,in der alle Dimensionen wurzeln‘, werde die Metapher zum Symbol. Der Dimensionsgedanke Tillichs eröffnet daher keine Alternative zum [scil. ontologischen] Realismus, sondern setzt diesen voraus.“
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Tillichs existenz-ontologisches Schema (ST III, 21f., 136f.)
Das Schema zeigt, wie in der Doppelperspektive der Existenz-Ontologie die gesuchte und behauptete Vermittlung des Unbedingten im Bedingten nur dann aufrecht erhalten kann, wenn a) eine höhere Einheit vorausgesetzt wird (in Gott bzw. als Sein-Selbst) und wenn
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b) im Symbol eine besondere Darstellungsform in Anspruch genommen werden kann, die als essentielle Bewegung in existentiellen Formen, d. h. als natur-geschichtlich vermittelte Geist-Dimension, auftreten können muss. Wiederum wird klar, dass Tillich hier die metaphysische Tradition (SeinSelbst bzw. ,esse ipsum‘) 39 in asymmetrischer Relation mit der leidenschaftlichen Existenzfrage zusammenbindet, aber doch so, dass die Gottesrelation zugleich auch als gänzlich außerhalb des Verhältnisses behauptet wird, eben als Grund und Abgrund „alles dessen, was ist.“40 In der Tradition des deutschen Idealismus ist diese Problemlage bekannt unter dem Stichwort der intellektuellen Anschauung: Ob und wenn ja, wie nichtsinnliche Gegenstände als vorstell- und darstellbar gedacht – und damit auch quasi anschaulich werden können.41 Tillich weiß nicht nur aus seinen Schelling-Arbeiten um dieses Problem, im Kern ist seine ExistenzOntologie der Versuch, aus existentiellen Erfahrungsgründen die Konkretheit des ontologisch eigentlich Nicht-Darstellbaren eben doch vermittelbar sein zu lassen. Im Sinne der Tradition dieses Problems der Darstellung kann folglich gesagt werden: Die Einheitsperspektive der Existenz-Ontologie ist konstruiert wie die Anschauung des Unbedingten, durchgeführt als Symbollehre in Tillichs Religionsphilosophie und Gotteslehre. Dass mit diesem Befund das Problem aber längst nicht gelöst ist, zeigt Tillichs Genauigkeit und Offenheit, mit der er der Frage der Darstellung nachgeht: Denn während alle religiösen und theologischen Sätze über Gott – in der konkreten Darstellung des Unbedingten – als symbolisch zu gelten haben, und das ist ihrer allerhöchster Rang in der Vermittlung von essentieller Potentialität mit existentieller Realisierung, räumt Tillich in der Mitte seiner Gotteslehre zugleich ein, dass die ontologische Theoriebildung, die zur Begründung dieser Symbollehre dient, dann konsequent selbst nicht symbolisch sein könne: „Der Satz, daß Gott das Sein-Selbst ist, ist ein nichtsymbolischer Satz.“42 – Was zwingt zu dieser Unterscheidung? 39 Vgl. A. Thatcher The Ontology of Paul Tillich, Oxford 1978, S. 29; vgl. ST I, 241. 40 ST I, 241; vgl. ST I, 274. 41 U. Dierse und R. Kuhlen Art. „Anschauung, intellektuelle“ in HWP 1 (1971), S. 349 – 351; vgl. die Hinweise auf diesen Begriff in Tillichs Schelling-Interpretation bei Danz Religion als Freiheitsbewußtsein, aaO., S. 318f., 321. 42 ST I, 277; vgl. ST II, 15f. – Zur Kritik der semiotischen Voraussetzungen dieser These vgl. Deuser Gottesinstinkt, aaO., Kap. II. 5, S. 113 – 117; und im vorliegenden Band Kap. B.8.
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V. Zeichen und Symbol Die von Tillich in der Systematischen Theologie markierte Schwierigkeit, den existenz-ontologischen Symbolbegriff einheitlich zu begründen, muss zunächst als Sachproblem der Anschauung des Unbedingten akzeptiert werden. Zwei unvereinbare Sätze stehen sich gegenüber:43 1) Weil das Unbedingte der ,Grund‘ von allem ist, besteht eine ontologische Relation und diese muss auch unter endlichen Bedingungen darstellbar sein. 2) Weil alle endlichen Bestimmungen aber der existenz-ontologischen Doppelperspektive und Differenzerfahrung (von Wesen und Existenz) unterliegen, kann der außerhalb der Differenz angesetzte Grund und Abgrund nicht adäquat dargestellt werden. Die produktive Lösung und ,Einheit‘ dieses Widerspruchs sieht Tillich dann gegeben, wenn mit dem religiçsen Symbol genau die Darstellung des Nichtdarstellbaren, die Anschauung des Unbedingten, geleistet werden kann, die dem normalen Sprach- und Begriffsgebrauch nicht zugetraut wird; mehr noch: Tillich setzt zur Auszeichnung des existenzontologischen Lösungspotentials einen Schnitt zur nicht-existenzontologischen Verständigung in bloßen ,Zeichen‘, denen die Symbolkraft fehlt. Diese Trennung von Zeichen und Symbol ist einerseits verständlich, weil Tillich den rationalen Erklärungsanspruch seiner Ontologie aufs Spiel setzen würden, wenn übertragene Redeformen nicht nur für die Religion zugelassen, sondern zugleich für die wissenschaftliche Rationalität eingesetzt werden sollten. Anders gesagt: Die Notwendigkeit symbolischer Sätze soll nicht durch wiederum symbolische Sätze erklärt werden, diese Selbstanwendung erschiene zirkulär. Andererseits aber setzt Tillich semiotisch gesehen diesen Schnitt zwischen Zeichen und Symbol nun doch gerade so, das ein Sonderbereich der Religiosität geschaffen wird, in dem andere Regeln gelten als in der normalen bzw. wissenschaftlichen Verständigung – was dem universalen Anspruch der Existenz-Ontologie eigentlich zuwiderläuft. 43 Vgl. wiederum die von Tillich selbst formulierte Widerspruchsstruktur in ST II, 15f.; im Blick auf den Symbolbegriff im Gesamtwerk Danz Religion als Freiheitsbewußtsein, aaO., S. 341 – 352; vgl. auch A. Thatcher The Ontology of Paul Tillich, aaO., S. 36: „Commentators have been quick to point out that the unsymbolic statement we can make about God is no longer that God is beingitself, it is instead the statement that everything we say about God is symbolic.“
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Religionstheoretisch könnte allerdings eingewandt werden – und damit komme ich auf Chr. Danz’ Lösungsvorschlag in der Unterscheidung von Reflexionsproblem des Unbedingten und ,Sinnvollzug‘ zurück44 –, dass die ontologische Einheitsperspektive eben den existentiellen Vorrang des jeweils offen zu haltenden Vollzugs mitzutragen hat, was Einheit und Differenz zugleich bedeutet. Welche Theoriebildung und welcher Zeichen- bzw. Symbolbegriff aber wäre dieser Problembeschreibung gemäß? Müsste sie nicht immer zugleich von der Vollzugsseite her wie von der Reflexionsseite her zu denken – und eben nicht nur zu denken in der Lage sein? Tillich selbst jedenfalls kann das Problem nur so lösen, dass er um der religionstheoretischen Exklusivität willen einen semiotischen Schnitt legt: Religiöse Symbole leisten gerade das, was bloße Zeichen nie und nimmer vermögen. Das hat zur Folge: Die ontologische Begriffsbildung über Religion ist nicht symbolisch, aber der Ort des Vollzugs ist symbolisch – was ist dann ein ,Vollzug‘ selbst?
VI. Kategoriale Semiotik Tillichs Problembeschreibung des religiösen Symbols lässt sich deshalb semiotisch transformieren, weil er es nicht bei den schwierigen Konstellationen der Anschauung des Unbedingten belassen hat, sondern immer auch die praktischen, religionswissenschaftlichen Felder des wirklichen Symbolgebrauchs hat zugänglich machen wollen. Tillichs frühe Differenzierung des Symbolbegriffs von 1928 kann deshalb zur weiteren Diskussion genutzt werden,45 allerdings sollen dazu nun die Bedingungen eines einheitlich konzipierten Zeichenbegriffs, wie er schon zu Beginn in der Definition des Symbols als „konventionelles Zeichen“46 angedeutet wurde, aufgegriffen werden. Unter kategorialer Semiotik ist eine ebenso pragmatisch-erfahrungsorientierte wie phänomenologisch-metaphysisch unvoreingenommene Philosophie zu verstehen, die die folgenden wissenschaftlichen Per44 S.o. Anm. 15; vgl. jetzt Danz Religion als Freiheitsbewußtsein, aaO., S. 343: „Denn der Reflexion zeigt sich die Sinnhaftigkeit nicht als solche, sondern nur in einer vom aktualen Sinnvollzug unterschiedenen Form“ […], es ist „gerade diese Paradoxie […], welche den Gedanken des Absoluten selbst auszeichnet.“ 45 P. Tillich „Das religiöse Symbol“ in MW 4, Nr. 8, S. 213 – 228. 46 S.o. Anm. 3; vgl. hier und im Folgenden die in Anm. 14 und 42 genannte Literatur.
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spektiven im Blick auf Lebenswelt und Realität zu koordinieren versucht: 1) Die phänomenologisch gewonnenen Kategorien des qualitativen Soseins, des Gegenstandsbezugs und der denkenden Vermittlung werden als Erstheit, Zweitheit und Drittheit unterschieden und als vollständige Triade aller Erfahrungszugänge und Theorieleistungen betrachtet. 2) Die dreistellig ausgewiesene Semiose, das Zeichenereignis, stellt sich immer als aktive Relation von Zeichen selbst, Objektbezug und Interpretant dar. 3) Als Theoriebasis gilt die Relationenlogik, dass (monadische) Einstelligkeit, (dyadische) Zweistelligkeit und (triadische) Dreistelligkeit nicht mehr reduzierbar und nicht steigerungsfähig sind. 4) Die Konsequenzen für die Metaphysik zeigen sich darin, dass sie der Relationenlogik nachgeordnet die generellen, regelhaften, universalen Züge der Erfahrung begrifflich darstellt. Einheit und Vielheit, Ursprung und Ziel, Unbedingtheit und Vermittlung, Glauben und Handeln sind Themen einer prinzipiellen Erschließung von Realität, die gleichwohl fallibilistisch auf die evolutionären Prozesse von Natur und Kultur bezogen bleiben. 5) Eine strukturierte Klassifikation47 der Zeichen ermöglicht die Unterscheidung bestimmter Zeichenformen in ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit. 6) Die Religionen können nicht nur Gegenstand kategorialer Semiotik werden, sondern diese ist auch selbst Religionsphilosophie, sofern die Frage nach dem Grund der Universen der Erfahrung ebenso wie die pragmatische Bindung an die wahrnehmungs- und handlungstheoretische Vorrangigkeit des Unbestimmt-Unmittelbaren dem religiösen Glauben einen hohen Rang für die Erschließung der Realität zuerkennen. Diese Gesamtorientierung kategorialer Semiotik soll nun auf Tillichs Fassung und Ausprägung des Symbolbegriffs angewandt werden. Dazu vorab in Stichworten die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale nach dem Aufsatz von 1928:
47 Vgl. zur genauen Ausarbeitung von Peirce’ Klassifikation der ,Trichotomien‘ G. Linde „Hypostatische Abstraktion. Zu einem semiotischen Detailproblem bei Peirce“ in Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken, aaO., S. 33 – 68; hier S. 46 – 49; dies. Zeichen und Gewißheit. Semiotische Entfaltung eines protestantisch-theologischen Begriffs, Tübingen 2010, Kap. IV.
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P. Tillich: Das religiçse Symbol (1928) I.
Symbolstruktur („Merkmale“) 1. Uneigentlichkeit – z. B. Holzkreuz ! Golgatha u. Erlösung 2. Anschaulichkeit – z. B. Transzendenz ! höchstes Wesen 3. Selbstmchtigkeit – z. B. Magie ! Mythos ! Symbol 4. Anerkanntheit – z. B. Symbolik: konfess. Erkennungszeichen Allgemeine Symbole: – „ideelle Bedeutung“ und „unsymbolisch-gegenständliche Existenz“ (MW 4, 214) – z. B. Fahne und Staat – „Existenzform eines Unanschaulichen“ – z. B. wiss. Begriff, Kunstwerke Religiçse Symbole – „Veranschaulichung“ des „Unbedingt-Transzendenten“ (214) – erste Schicht: „gegenständliche Vertretungen des UnbedingtTranszendenten“ – zweite Schicht: „Veranschaulichungen“ von Symbolen aus der ersten Schicht II. Zeichentheoretische bzw. ontologische Grundentscheidung: – (religiöse) Notwendigkeit des Symbols – Nichtnotwendigkeit des Zeichens III. Symbolarten (Typenhierarchie religiçser Symbole) 1. Gegenstandssymbole („fundierende Schicht“, 221) a. nach der „Brechung des Mythos“: Gottes Transzendenz und Aufhebung etc. (221f.) b. gleichnishafte Eigenschaften Gottes, „Wesen und Handlungen Gottes“ (222f.) c. natürliche und historische Objekte“ z. B. Christus oder Buddha, sofern in ihnen das Unanschauliche auch empirisch wird (223) ! Anschauung des „Unbedingt-Transzendenten“ 2. Hinweissymbole („fundierte Schicht“) d. h. „Zeichen- und Ausdruckshandlungen“ (224) a. Ausdruckssymbole des religiösen Handelns„ – z. B. kultische Gebärden b. „Ausdruckssymbole der religiösen Anschauung“ – z. B. bildhafte Symbole wie „Kreuz“. *
*
„Unsymbolisch“ über das Unbedingt-Transzendente zu sprechen wäre das eigentliche religiöse Ziel, es ist aber „eschatologisch und nicht gegenwärtig“, setzt „eine in Gott stehende Wirklichkeit“ voraus (226), d. h. „ohne transzendentes Gegenstandsymbol“ (228 Anm. 17).
In einem Überblicksschema können nun auch die Möglichkeiten der kritischen Bearbeitung von Tillichs doch eher extemporierten Unterscheidungen vor Augen geführt werden, wie sie sich durch die symboltheoretisch sehr viel formalere und religionstheoretisch sehr viel universalere kategoriale Semiotik ergeben:
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Zeichen- und Symbolsystematik bei Peirce und Tillich Peirce Kategorien
Semiose
Relation
Zweitheit
2) Objektbezug
2) religiöser Gegenstand
Erstheit
1) Zeichen selbst
1) ursprüngliche Ermöglichung
Drittheit
3) Interpretant
3) Symbolisierung
›
›
›
Tillich „Symbole“
nicht-religiös
religiös
„Schichten“
1. Uneigentlichkeit
„ideell“
„Veranschaulichung“ Objekte
2. Anschaulichkeit
„unanschaulich“ „Unbedingte“/ „Transzendente“
Transzendenz
3. Selbstmchtigkeit
Gleichnis
4. Anerkanntheit
Hinweis ! Zeichen
Peirce Zeichenformen I. Zeichen selbst
Zeichenformen II. Objektbezug
Zeichenformen III. Interpretant
2) Sin
2) Index
2) Dicent
1) Quali
1) Icon
1) Rhema
3) Legi
3) Symbol
3) Argument
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VII. Gottes Poesie: Protestantisches Prinzip, Symbolbegriff und Metaphysik Peirce hat am Ende der 4. Pragmatismus-Vorlesung von 1903 den überraschenden und doch wissenschaftstheoretisch konsequenten Satz geschrieben: Das Universum ist als ein Argument notwendigerweise ein großes Kunstwerk, ein großes Gedicht„ – und dem war vorausgegangen der Satz: „das Universum [ist] ein ausgedehntes Repräsentamen, ein großes Symbol für Gottes Absicht […], das seine Schlußfolgerungen in lebendigen Realitäten herausarbeitet.48
Wie ist dieser Zusammenhang von Universum, Gedicht, Gott und Symbol semiotisch und religionstheoretisch begründet? Und was spricht dafür, Tillichs Zeichen- und Symbolbegriff durch die kategoriale Semiotik entsprechend kritisch zu überarbeiten? 1) Noch sehr viel weitergehend als Tillichs Pneumatologie des anorganisch-organisch-geistigen Lebens, und in seiner Philosophie-Auffassung persönlich geprägt von der Methode der modernen Naturwissenschaften denkt Peirce das Universum als Prozess – einen Prozess, der zugleich im schlussfolgernden menschlichen Denken abgebildet erscheint und in dem sich dieses Denken wiederum dem Universum verwandt fühlt. Hierfür gelten abduktive Naturalität, notwendige Hypothesenbildung und prinzipieller Fallibilismus zur gleichen Zeit; und genau dies ersetzt die dem substanzontologischen Muster verhaftet bleibende analogia entis, wie sie Tillichs Existenz-Ontologie behaupten muss. Aus der existenz-ontologischen Doppelperspektive, mit der Tillich sensibel und zeitkritisch auf die modernen Wissenschaften reagiert, wird in der kategorialen Semiotik eine geistes- wie naturwissenschaftlich durchführbare Prozessfigur, in der Gefühl und Glaube, Existenz und Wille, Rationalität und Sein ihren neu fundierten Ort finden können. 2) Entsprechend erübrigt sich dann die bei Tillich unvermeidliche Trennung von Zeichen und Symbol. Denn die hier zugrunde liegende „ontologische Unterstellung“49 muss dem Symbol eine exklusive ,Partizipation‘ am ,Sein‘ zuerkennen, die umgekehrt dann allen anderen 48 C. S. Peirce Vorlesungen ber Pragmatismus, hg. v. E. Walther, Hamburg 1991, S. 78f.; vgl. die engl. Fassung in The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, vol. 2, ed. by the Peirce Edition Project, Bloominton and Indianapolis 1998, S. 193f. 49 M. Moxter Kultur als Lebenswelt, aaO., S. 84.
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Zeichenrelationen gerade fehlt. Dieser Schnitt ist weder gut begründet, noch nützt er der Auszeichnung der Symbole – denn im Gegensatz zu Tillichs Absicht werden sie durch ihre problematische Exklusivität entwertet, sie bleiben eben – in externer Perspektive – immer ,nur‘ (religiöse) Symbole, die sich der normalen Kommunikation dann notwendigerweise entziehen müssen. Davon ist schließlich auch die noch einmal exklusiver konzipierte Stellung des Sein-Selbst betroffen, dessen ontologische Rationalität immer zugleich mit seiner existentiellen Abgründigkeit behauptet werden muss; und wiederum: Aus dem engen Zusammenstellen beider Perspektiven soll ein Mehrwert resultieren, der selbst nicht mehr benannt werden kann und deshalb entweder in (isolierte) begriffliche Ontologie (d. h. in nicht-symbolische Propositionen über Sein und Symbole) oder in (isolierten) existentiell-religiösen ultimate concern (d. h. in Symbolsprache) zurückzufallen droht. 3) Von Anschauung des Unbedingten muss bei Tillich deshalb gesprochen werden, weil existenz-ontologisch im Blick auf den Gottesbegriff gar keine andere Möglichkeit besteht als die Doppelperspektive in einem Punkt zu vereinen, der eigentlich nicht gedacht werden kann – und zwar ohne dass wir begründet sagen könnten, ob Anschauung des Unbedingten ein symbolischer oder ein nicht-symbolischer Ausdruck wäre.50 Semiotisch gesehen besteht dieses Problem aber nur insofern, als jeweils in der Anwendung dieses Ausdrucks die bestimmte Zeichenform identifiziert werden müsste.51 Es steht also nicht die Frage zur Entscheidung, ob in vollständiger Alternative entweder ein nicht-existentieller Gebrauch von Zeichen, oder ein das Unbedingte betreffender Gebrauch von Symbolen vorliegt. 4) Der Verlust an ontologischer Tiefe, den Tillich im Zeichenbegriff befürchtete, liegt gerade dann nicht vor, wenn im modernen evolutionistischen Sinne Prozess und Realitt wirklich konsequent zusammen gedacht werden. Dann gehören zur Schlussform (bei Peirce: Abduktion, Deduktion und Induktion) des Prozess-Universums sowohl dessen immer vorausgehende Möglichkeitsbedingungen wie seine existentiellen Realisierungen und allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Unter Möglichkeiten sind hier nicht nur solche im Sinne der Logik möglicher Welten zu 50 Insofern liegt ein doppelter Sinn der Anschauung des Unbedingten vor: Einmal stellt sich diese Konstellation als Frage nach dem ,Unbedingten‘ für Tillichs Ontologie (s. o. Abschnitt IV!), dann als symbolische Form am Ort der religiösen ,Gegenstandsymbole‘ (s. o. Abschnitt VI zu MW 4, 223 u. 228 Anm. 17!). 51 S.o. Anm. 47.
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verstehen, sondern die realistisch gedachten Potentialitäten, wie sie jedem wirklichen Prozessabschnitt vorausliegen. Dieser Gedanke steht Tillichs Existenz-Ontologie ausgesprochen nahe,52 aber semiotisch neu ist Peirce’ Anwendung der Zeichenform Argument auf die Prozessrealität des Universums, in dem deshalb in den Prämissen die Qualität bzw. Potentialität realer Möglichkeiten vorausgesetzt werden müssen. Genau das geschieht im Kunstwerk, im Gedicht oder im Gemälde:53 Gefühlte und immer qualitativ vorausliegende Prämissen suchen ihren realen Ausdruck, und deshalb kann das Symbol als geistiger Ausdruck und eben als diese Zeichenform für ,Gottes Absicht‘ stehen. Die qualitativ-bildhafte Vorgabe muss dann nicht als Paradoxie des Seins gewertet und der propositionalen Begrifflichkeit entgegengesetzt werden, sondern ganz wie in Tillichs Existenz-Ontologie eigentlich gesucht – sind die Unmittelbarkeit des Unbedingten in der Vorgabe aller Prämissen mit deren realer und verallgemeinerungsfähiger Darstellung vermittelbar. Auch das imago-DeiProblem entscheidet sich dann nicht als Abbildungsverhältnis bestimmter Eigenschaften,54 sondern im Horizont von unausschöpflichen, aber realen Möglichkeiten in Gestaltungsprozessen. 5) Religionstheoretisch gesehen verdankt sich der Rekurs auf die Gott-Rede der ebenso ontologisch-allgemeinen wie existentiell-spezifischen Erfahrung abduktiver Versonnenheit, wie sie in Peirce’ Gottesargument vorgelegt wurde.55 Die gefühlte, existentiell erfahrene und gedanklich darstellbare ursprngliche Ermçglichung56 ist und bleibt insofern in allem Darstellbaren wirksam enthalten, hierin liegt die kategoriale und semiotische Begründung dieser Religionstheorie, die insofern Tillichs Anforderungen von zugleich ,Uneigentlichkeit‘ und ,Anschaulichkeit‘ genügen kann. Die Darstellbarkeit des Undarstellbaren verlangt dann aber 52 S.o. das „existenz-ontologische Schema“ in Abschnitt IV! 53 Siehe Peirce’ anschließenden Vergleich (Vorlesungen ber Pragmatismus, aaO., S. 79) mit „einem gemalten Bild […] einer impressionistischen Küstenlandschaft –, dann ist jede Qualität in einer Prämisse eines der elementaren, farbigen Teilchen des Bildes“. 54 Vgl. die genaue Analyse dieses Problems bei M. Moxter „Der Mensch als Darstellung Gottes. Zur Anthropologie der Gottebenbildlichkeit“ in Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken aaO., S. 271 – 284; hier bes. S. 281 – 284. 55 Vgl. Charles Sanders Peirce: Religionsphilosophische Schriften, hg. v. H. Deuser, Hamburg (1995) 2000, Text-Nr. III.6; dazu H. Deuser Gottesinstinkt, aaO., Kap. II. 6. 56 S.o. Abschnitt VI, Zeichen- und Symbolsystematik bei Peirce und Tillich, Peirce’ Relation 1).
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keine exklusive (religiöse) Symbollehre, sondern sie ist, wie Tillichs Existenz-Ontologie es durchgängig verlangt, wissenschaftlich so zugänglich wie alle anderen Zeichenformen auch. D. h. Tillichs Offenheit für die Wissenschaftssystematik der Moderne muss nicht mit einem ontologischen Sonderanspruch der Symbollehre belastet werden, wenn semiotisch wie religionstheoretisch die Vermittlung des Unmittelbaren so darstellbar erscheint, dass das eine nicht auf das andere reduziert wird. Nur dann ist auch sicher gestellt, dass weder Semiotik noch Religionstheorie in einem nur äußerlichen Sinn deskriptiv gebraucht werden, sondern dass sie Erschließungskraft für die Prozessrealität haben, denen Menschen mit ihrem Fühlen, Denken und Handeln zugehören. Auch der existentielle Vollzug57 muss dann nicht mehr als Paradoxie des Absoluten wie eine Bruchlinie durch die Existenz-Ontologie verlaufen, sondern die Diskontinuität von existentiellen Entscheidungssituationen gehört in die Kontinuität des Prozesses, der Gottes „Schlußfolgerungen in lebendigen Realitäten herausarbeitet.“ Diese Lebendigkeit ist nicht blind als ,Vollzug‘, d. h. als bloße Anwendung dessen, was die Reflexionsdialektik schon besser weiß, sondern sehend in derselben Realität, die sich in der Relation von Glauben und Handeln erschließt – ohne dass theoretische Letztbegründungen möglich und nötig wären. 6) Die Einheit des Prozesses in der Realität von Differenzen in Natur, Kultur und Geschichte lässt sich allein semiotisch und religionstheoretisch darstellen, darin stimmen Tillichs Symboltheorie und Peirce’ kategoriale Semiotik überein. Was Tillich aber in seiner Darstellung von Kategorien und Dimensionen58 aller Wirklichkeit nur problematisch mit dem SeinSelbst hat verbinden können, das lässt sich durch die Prozessrealität aufgrund ursprnglicher Ermçglichung, Versonnenheit und Gottesargument auf der Basis kategorialer Semiotik so konzipieren, dass semiotisch wie religionstheoretisch begründet gesagt werden kann, ,das Universum‘ ist „ein großes Symbol für Gottes Absicht“.
57 S.o. Anm. 15 u. 44. 58 S.o. Abschnitt III.
Religion und Evolution I. Schçpfung gegen Evolution? Im September 2006 berichtet der Fernsehsender Arte, an einem staatlichen Gymnasium und einer christlichen Privatschule in Gießen werde im Biologieunterricht als Konkurrenz zur Evolutionstheorie die biblische Schöpfungsgeschichte gelehrt. Dergleichen war bislang als nordamerikanisches Sonderproblem angesehen worden: Unter dem Etikett Kreationismus oder Intelligent Design werden – wahrhaft anachronistisch – biblische Texte wie empirische Theorien der Moderne behandelt, und wie in einem Prozess der Weltanschauungen sollen beide Seiten gegeneinander aussagen. Zur Debatte steht dann, noch einmal und wie im 18./19. Jahrhundert, die auf gegenseitige Isolation hinauslaufende Entwicklung von Naturwissenschaften und Theologie. Wie kann darauf heute vernünftigerweise reagiert werden? 1) Auszuschließen ist die Banalisierung des Problems, als stünden Berichte und Erzählungen der Bibel methodisch, inhaltlich und für die interpretierende Sinnerschließung auf derselben Ebene wie experimentell gebundene Wissenschaftsauffassungen der Moderne. (Preisfrage:1 Wie 1
R. Löbbert „Wie viele Tiere paßten auf die Arche Noah?“ in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 40, 8. 10. 2006, S. 68; vgl. auch Chr. Schwägerl „Polarisiert. Was tun gegen den Zulauf für den Kreationismus?“ in F.A.Z. Nr. 26, 31. 1. 2007, S. 33; ders. „Würmer zu Brüdern. Der Europarat soll den Kreationismus bekämpfen“ in F.A.Z. Nr. 143, 23. 6. 2007, S. 35. – Zur naturwissenschaftlichen Positionsbestimmung vgl. U. Kutschera „Intelligent Design Creationism versus Modern Biology: No Middle Way“ in Scientific Explanation and Religious Belief. Science and Religion in Philosophical and Public Discourse, ed. by M. G. Parker und Th. M. Schmidt, Tübingen 2005, S. 150 – 164; eine nüchterne Einstufung der wissenschaftsfähigen Argumente bzgl. ,Intelligent Design’ (im Unterschied zum naiv-religiös motivierten Kreationismus) versucht M. Rammerstorfer „Intelligent Design – jenseits des Schlagwortes“ in Religion, Staat, Gesellschaft. Zeitschrift fr Glaubensformen und Weltanschauungen, Bd. 7 (2006), S. 249 – 269; vgl. auch unten Anm. 74. – Zur theologischen Diskussion vgl. J. Polkinghorne und M. Welker Faith in the Living God. A Dialogue, Minneapolis 2001, chap. 1 – 2, 7 – 8; und die Textsammlung God and Evolution. A Reader, ed. by M. K. Cunningham, London / New York 2007.
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viele Tiere hätten, angesichts der uns bekannten Artenvielfalt, auf die Arche Noah passen müssen?) – Was sich Kreationismus nennt, sollte Biblizismus heißen: Es sind innerreligiös ungelöste Probleme des Umgangs mit der Bibel und der modernen Theologie, die hier den Ausschlag geben, nicht naturwissenschaftlich relevante Forschungsfragen. Der Biblizismus hat nicht einmal die Unterscheidung (nicht Trennung!) zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, wie sie seit dem 19. Jahrhundert zumal in Deutschland entwickelt wurde, mit vollziehen können; hier ist also schon die Ausgangslage leider nur als verzerrte Kommunikation einzustufen. 2) Als vernünftige Positionsbestimmung kann die längst von beiden Seiten erkannte und im 20. Jahrhunderte durchgesetzte Unterscheidung der Zuständigkeiten gelten:2 Glaube und Wissenschaft sind weder dasselbe noch müssen sie sich bekämpfen. Hier stehen sich allerdings nicht (wie im einschlägigen Cartoon der genannten Internetseite) ein mit Speer bewaffneter Neandertaler und ein mit Aktentasche und Mobiltelefon bestückter moderner Industriemensch gegenüber, sondern die naturwissenschaftlichen, d. h. empirisch und theoretisch zu verantwortenden Entwicklungserklärungen des Universums sind eine Sache, ein personales Gottesverhältnis im Blick auf die Schöpfung, das ,Wozu‘ des Lebens, die ,Bewahrung‘ der Schöpfung eine andere. 3) Diese Abgrenzung der Zuständigkeiten ist aber gerade aufgrund der naturwissenschaftlichen Grundlagenkrisen des 20. Jahrhunderts in Bewegung gekommen, sofern die begrenzte Reichweite kausaler Erklärungen entdeckt wurde; zumal dann, wenn es um den Anfang des Universums, die Einheit physikalischer und biologischer Theorien und die Ausweitung und Vollständigkeit dieser Erklärungsleistungen im Blick auf die menschliche Kultur geht. Hier zeichnet sich schon länger eine dritte Positionsbestimmung ab,3 die darauf zielt, die Gleichberechtigung in der Frage nach dem ,Sinn‘ des Universums für beide Seiten zu begründen: Naturwissenschaftliche Denkmodelle haben über ihren Erklärungswert hinaus durchaus kulturelle Sinnfunktionen, die religionsanalog auftreten können; und ein heute sachgemäßer Religionsunterricht 2 3
In den Gießener Stellungnahmen wird diese Position repräsentiert durch den evangelischen Dekan F.-T. Becher, vgl. das Interview vom 18. Oktober 2006 auf den Internetseiten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN.de). In den Gießener Stellungnahmen stehen dafür die Vermittlungsversuche der Kultusministerin Karin Wolff, vgl. den Bericht in hr-online.de: „Sinn-Fragen im Biologieunterricht“, 5. 12. 2006; dann auch F.A.Z. Nr. 148, 29. 6. 2007, S. 1f.
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setzt in Unterrichtseinheiten zum Thema Schöpfung die naturwissenschaftlichen Kosmologien längst voraus. Meine Behandlung des Themas gilt dieser neuen, produktiven Zuordnung von Religion und Theologie einerseits und naturwissenschaftlichem (evolutionärem) Denken andererseits. Metaphysik wird zudem als philosophischer Brückengriff beansprucht, wie er seit zwei Jahrtausenden europäischer Denkgeschichte Kosmologie und Theologie zu vermitteln imstande war, und dessen Bedeutung gerade nach den Entwicklungsschüben der gegenwärtigen Naturwissenschaften, Theologien und Naturphilosophien neu wieder entdeckt werden sollte. Den Begriff Evolution verstehe ich im Folgenden in einem doppelten Sinn: 1) Evolution im Sinne einer Geschichte der Natur, d. h. verallgemeinert auf die physikalisch, chemisch und biologisch zu beschreibenden und zu erklärenden Entwicklungen des für Menschen zugänglichen und wissenschaftlich bestimmbaren Universums. 2) Evolution im Sinne einer Selbstorganisation der biologischen Natur und im Anschluss daran auch der menschlichen Kultur – verbunden mit der heute in vielen ethischen Grundproblemen und Konflikten virulenten Frage, ob damit eine hinreichende, d. h. naturalistische, Erklärung des Universums wie der Verantwortlichkeit des Menschen gegeben ist oder nicht. Um auch wissenschaftsgeschichtlich die gesamte Problemlage in den Blick nehmen zu können, sollen drei epochale Einschnitte demonstriert, bildhaft illustriert und systematisch diskutiert werden: Das christlicharistotelische im Gegenüber zum kopernikanischen Weltbild (II.), die physikalische Kosmologie (seit Galilei und Newton) in Verbindung mit dem evolutionsbiologischen Weltbild der Moderne (III.) – und schließlich die spätmoderne Frage unserer Gegenwart nach der Einheit des Universums im Zusammenspiel von Naturwissenschaft, Religion bzw. Theologie und Metaphysik (IV.).
II. Schçpfung und Kosmologie 4 Aus Martin Luthers Tischgesprächen (hier aus dem Jahr 1539) wird berichtet, wie abwehrend und geradezu abfällig der Reformator die gerade bekannt gewordene heliozentrische Astronomie des Kopernikus quit4
Vgl. als Vorarbeiten zum Folgenden H. Deuser „Schöpfung und Evolution – Versuch einer theologischen Orientierung“ in Hochschulkolloquium. Bergische
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tierte: Luther wirft dem ,neuen Astrologen‘ vor, er wolle aus purer Originalitätssucht die bisherige Wissenschaft auf den Kopf stellen; wohingegen Luther aus der Bibelstelle Josua 10,12 schließt, dass die jedermann vertraute Kosmologie unangreifbar sei. Dort nämlich ließ Jahwe auf Josuas Anruf hin und zum Zeichen seiner Kriegsmacht Sonne und Mond einen Tag lang still stehen – und Geschichtserzählung und Astronomie in eins setzend kann daraus natürlich logisch gefolgert werden: Wenn die Sonne im Ausnahmefall ruht, muss sie sich sonst bewegen; nicht also die Erde um die Sonne! 5 Luthers Bemerkung bei Tisch hat erst sehr viel später Berühmtheit erlangt, denn anders als Melanchthon war Luther keine Fachautorität, was die christlich-aristotelische Physik und Astronomie anging.6 Symptomatisch aber bleibt seine Äußerung, weil sie den Protest festhält, etwas wider den Augenschein und wider die alltägliche Erfahrung als gültig hinnehmen zu müssen. Das ist bis heute nachzuempfinden, denn Trägheitsgesetz, Gravitation, Relativitäts- und Quantentheorie waren die auf Kopernikus folgenden Zumutungen der Physik für die natürliche Einsicht. Festzuhalten ist aber auch, dass im lutherischen Nürnberg 1543 das Hauptwerk des Kopernikus publiziert werden konnte, wenn auch mit einem moderierenden und anonymen Vorwort von Andreas Osiander, worin dieser, mathematisch fachkundig, den anstehenden revolutionären Weltbildbruch als bloße Hypothese ausgab, damit aber die Wirkung und
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Universität – Gesamthochschule Wuppertal, Wuppertal: Born-Verlag 1987, S. 33 – 45. WA.TR IV, Nr. 4638: „De novo quodam astrologo fiebat mentio, qui probaret terram moveri et non coelum […] ego credo sacrae scripturae, nam Iosua iussit solem stare, non terram.“ – Vgl. auch WA.TR III, Nr. 2919 und WA.TR I, Nr. 855 (hier die 1566 von Aurifaber veröffentlichte Fassung). Vgl. die Darstellungen bei H. Bornkamm „Kopernikus im Urteil der Reformatoren“ in ARG 40 (1943), S. 171 – 183; K. Scholder Ursprnge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehung der historisch-kritischen Theologie, München 1966, S. 57; W. Pannenberg „Gott und die Natur. Zur Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Theologie und Naturwissenschaft“ in ThPh 58 (1983), S. 481 – 500; H. Blumenberg Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main 1981, S. 375f. Zur Stellung Melanchthons und zum Einfluss des Kopernikus auf die naturwissenschaftlich interessierten Zeitgenossen im Umkreis der Reformation (Osiander, Rheticus, Reinhold, Cruciger) vgl. Bornkamm „Kopernikus im Urteil der Reformatoren“, aaO.; Blumenberg Die Genesis der kopernikanischen Welt, aaO., S. 371ff.
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Verbreitung des Buches erst ermöglichte.7 Melanchthon allerdings zögerte schon bei der Förderung dieser Publikation und hat – darin exemplarisch für die christliche Theologie – den Schritt zum neuen Weltbild verweigert.8 Der Weg in eine wachsende naturwissenschaftliche Isolierung war vorgezeichnet. Dass – aus heutiger Sicht – die Theologie überhaupt in der Lage war, die Weltbildbrüche der kopernikanischen Wende und der Neuzeit produktiv zu verarbeiten, ist vor allem dadurch zu erklären, dass das mittelalterliche Bild eines von Ewigkeit her gefügten Kosmos gar nicht das biblische war, sondern eine aristotelische, unhistorische Lesart der biblischen Schöpfungstexte durch die christliche Scholastik. Das Mosaik aus dem Dom von Monreale (Sizilien, 12. Jahrhundert; auffällig das astronomische Detail, dass Sonne und Mond in Größe und Abstand zum Zentrum deutlich unterschieden sind!) 9 illustriert in einem den göttlichen Schöpfer, wie er nach dem Bericht der Genesis am 4. Tag Sonne und Mond zur Unterscheidung von Tag und Nacht ans Firmament setzt, und den unbewegten Beweger der Metaphysik des Aristoteles, der als Garant der ewigen Harmonie der Gestirne diese in ihren idealen Kreisbahnen erkennen lässt – eine ,Philosophie‘, wie C. F. v. Weizsäcker formuliert, „der ewigen Bewegung, denn ihr Ursprung verändert sich nicht, der ewigen Gegenwart, denn keine Zukunft (Möglichkeit) steht dem Gott mehr aus; des ewigen Wissens, denn die Formen sind ewig“.10 Darin lagen zugleich Kraft und Sinnstiftung der mittelalterlichen Kosmologie, dass sie der irdischen Mitte, Werden und Vergehen, Leben und Tod im sublunaren Bereich – von außen her Ordnung und göttliche Stabilität eingeben konnte. Die Himmel hielten die Erde zusammen; und genau dieses Bild beginnt seit Kopernikus zu zerbrechen: Die Himmelsbewegungen werden quantifiziert, die göttlichen Sinnstiftungen sind empirisch nicht erkennbar zu machen, und der Triumph der Berechnungen 7 Osianders Vorwort ist abgedruckt in Nicholas Copernikus on the Revolutions, ed. by J. Dobrzycki, vol. II, London and Basingstoke 1978, S. XVI. 8 Vgl. Bornkamm „Kopernikus im Urteil der Reformatoren“, aaO., S. 182: „Die eigentliche Tragik liegt darin, daß der Reformationszeit nicht neben Luther zugleich eine große Philosophengestalt geschenkt wurde […] So kam es zu der konservativen, aristotelischen Schulphilosophie“; Blumenberg Die Genesis der kopernikanischen Welt, aaO., S. 392. 9 Der Dom von Monreale. Text v. S. Chierichetti, übers. v. Deichmann, VI. Ed., Milano 1983; vgl. J. Zahlten Creatio mundi. Darstellung der sechs Schçpfungstage und naturwissenschaftliches Weltbild im Mittelalter, Stuttgart 1979, S. 179. 10 C. F. v. Weizsäcker Aufbau der Physik, München / Wien 1985, S. 635.
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erscheint schließlich erkauft mit der Einsamkeit des Menschen in einem kalten und überwiegend dunklen Universum,11 das kein Oben und Unten mehr kennt; und es ist das Gespür für den Zusammenhang von Weltbild und Sinnstiftung (und folglich für die Dramatik des Weltbildbruches), das wir den Verteidigern der alten aristotelischen Welt zugute halten wollen. Demgegenüber gründet der 1. Schöpfungsbericht (Genesis 1, 1 – 2, 4a), den man der sog. Priesterschrift aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. zuordnet, gewiss auch auf zeittypischen Naturkenntnissen, wie sie im babylonischen Raum damals vorlagen, und die feingliedrige Anordnung des Urgeschehens und seine wohl bedachte Verteilung auf acht Schöpfungswerke an sechs Tagen deutet auf eine geradezu wissenschaftliche Akribie, mit der auch hier gearbeitet wurde.12 Andererseits ist durch die Forschung längst auch deutlich geworden, dass die biblischen Schöpfungserzhlungen die Ursprungsfrage nicht in einem spekulativen oder kausalistisch-szientistischen Sinn stellen wollen, entsprechende Fragen folglich auch nicht beantworten können. Worauf sie aber auf ihre Weise antworten, das ist die Sorge um das Bestehen der Welt.13 Durchaus vergleichbar mit der Tradition der Göttergenealogien, Mythen und Generationenaufzählungen gibt die biblische Urgeschichte der menschlichen Umwelt eine ökologische Ordnung und endet mit dem göttlichen Segen der guten Schöpfung im Zusammenhang alles Lebendigen. Die Rätselhaftigkeit unseres Lebens wird in den Schöpfungserzählungen allgemein menschlich vergegenwärtigt – als die Kontingenz eines Anfangs: „etwas so Einmaliges wie eine Geburt“! 14 Wenn es also gar nicht um Ursprungsfragen im naturwissenschaftlich-objektiven Sinn geht, sondern um das ganz und gar menschliche Verwickeltsein in universale Lebensbedingungen, dann steht im Zentrum des Interesses 11 J. D. Barrow Das 1x1 des Universums. Neue Erkenntnisse ber die Naturkonstanten, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 138: „Die immense Größe und düstere Finsternis des Universums erscheinen auf den ersten Blick gesehen für Leben höchst feindlich zu sein.“ 12 Vgl. C. Westermann Genesis, Biblischer Kommentar Bd. I, 1: Altes Testament, Neukirchen / Vluyn, 2. Aufl. 1976; W. H. Schmidt Die Schçpfungsgeschichte der Priesterschrift, Neukirchen / Vluyn, 3. Aufl. 1973; Grundinformation Altes Testament. Eine Einfhrung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, hg. v. J. Chr. Gertz, Göttingen 2006, § 7.1; M. Welker in Faith in the Living God, aaO., S. 31ff. („Creation in Just Six Days? The Subtlety of the Biblical Creation Accounts“). 13 Vgl. Westermann, Genesis, aaO., S. 29; im Folgenden aaO., S. 22ff. 14 Westermann Genesis, aaO., S. 60.
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menschliches Verhalten und Handeln in der Schöpfung, deren Geschichte und Natur wir mit beeinflussen. Die biblischen Schöpfungstexte beschreiben also die Welt in erster Linie nicht als protokollierbares Faktum, sondern suchen die Raum- und Zeitverhältnisse der Lebenswelt und ihrer Zukunft. Diesen Verheißungscharakter haben der Segen, der Noah-Bund, die Güte der Schöpfung von Anfang an; und zwar als Zielbestimmung einer Geschichte, in der wir beteiligt und verantwortlich sind – ein „eschatologischer Entwurf“, an dessen Anfang schon der Sabbat, die Fülle und Ruhe Gottes und der Menschen ins Werk gesetzt wurde, „das Fest der Schöpfung“ (Fr. Rosenzweig).15
III. Kosmologie, Evolution und das Weltbild der Moderne Heutige Auslegungen der biblischen Tradition können ihr gebrochenes Verhältnis zum Literalsinn zentraler Texte kaum verleugnen, solange die Selbstverständlichkeit der Einbindung religiösen Verstehens in die wissenschaftlich gültige Kosmologie nicht wieder hergestellt werden kann. Das Bild des Himmelsguckers, dieser (anachronistische) 16 Holzstich aus dem 19. Jahrhundert, fasst unschlagbar die neuzeitlich regierende Perspektive, die staunende Neugier des Beobachtersubjekts in ihr entscheidendes Motiv: Die alte Bindung an Himmel und Erde wird durchbrochen zugunsten des freien Blicks auf die Mechanik des Kosmos. Es gehört zur Ironie der Geschichte dieses Bildes, dass nach der Intention seines Autors (es handelt sich um eine Illustration zu einem Handbuch der Meteorologie) gerade nicht die Moderne, sondern das alte Weltbild zitiert werden soll: die Himmelsräder nach Ezechiel 1, 16 und 10, 9f. als traditionelle kosmische Elemente; während die Wirkungsgeschichte des Bildes bis heute (dabei meist fälschlich auf das 16. Jahrhundert datiert) in diesem Holzstich den emanzipatorischen Durchbruch des Wissens zur Moderne exemplarisch inszeniert sieht. Das Bild steht dann summarisch 15 Fr. Rosenzweig Der Stern der Erlçsung, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1993, S. 345; zit. bei J. Moltmann Gott in der Schçpfung. kologische Schçpfungslehre, München 1985, S. 280. 16 Fundstelle des Bildes in W. Buedeler Geschichte der Raumfahrt, Künzelsau / Thalwil / Straßburg 1979, S. 71. Das Original findet sich bei C. Flammarion L’atmosph re, mtorologie populaire, Paris 1888. – Zur Traditionsgeschichte der Missverständnisse und Fehlinterpretationen dieser ,Pastiche’ vgl. B. Weber „Ubi caelum terrae se coniungit. Ein altertümlicher Aufriß des Weltgebäudes von Camille Flammarion“ in Gutenberg-Jahrbuch 1973, S. 381 – 408.
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für die Gottunbedürftigkeit des naturwissenschaftlichen Weltbildes. Mechanik und Kausalität können als Lösung alter Rätsel auftreten, so wie die kopernikanische Wende durch Ch. Darwins Evolutionstheorie noch ihre Steigerung gefunden hat. Im Zentrum steht nicht mehr der durch sinnstiftende Schöpfungsordnungen getragene Mensch, sondern ein objektivierbares Geschehen, dem von außen her garantierte Sinn-, Zielund Zweckorientierungen vollkommen zu fehlen scheinen. Die neuzeitliche Physik (seit Galilei und Newton) setzt die mathematische Quantifizierung und die Mechanisierung des Naturgeschehens (Newtons Gesetze der Bewegung und Gravitation) 17 an die Stelle des natürlichen Begriffs der zielgerichteten Bewegung. In diesem hatten seit Aristoteles Physik und Metaphysik zusammenstimmen können, weil die Bewegung auf ein Ziel hin und die Bewegung durch ein Ziel18 in einer Natur, Kultur und Religion verbindenden Teleologie des Universums gedacht werden konnten. Im Zentrum dieser Kosmologie stand der dies erkennende Mensch, und als Bedingung dieses alles regierenden Telos war mit wissenschaftlicher Notwendigkeit Gott zu denken. Kurz und prägnant gesagt: Diese Teleologie wird in der Moderne Zug um Zug durch Kausalitt ersetzt. Noch I. Kant, der 1755 in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels im Anschluss an Newton die durchgängige Mechanisierung des Weltalls vertritt,19 hat davon die organische Natur ausdrücklich ausgenommen – gipfelnd in dem Satz: „Ist man im Stande zu sagen: ,Gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Raupe erzeugt werden kçnne?‘“20 Auf diese rhetorische Frage lautet für Kant die Antwort: Nein! Auf die Frage nach Religion und Theologie allerdings, was Newtons Mechanik denn für den Gottesbegriff bedeute, gibt Kant eine subtile und folgenreiche Antwort: Es ist sinnlos geworden, Gott irgendwie noch im Rahmen der naturwissenschaftlich-kausalen 17 Vgl. die kurze Übersicht bei St. Hawking Eine kurze Geschichte der Zeit, Reinbek bei Hamburg 202001, S. 28ff. 18 Vgl. zu dieser Verbindung von Physik und Metaphysik im Kontext der (thomasischen) Gottesbeweise die Erläuterungen von Thomas von Aquin: Die Gottesbeweise in der „Summe gegen die Heiden“ und der „Summe der Theologie“, hg. v. H. Seidel, Hamburg 1996, S. 104 – 115 („Thomas’ Quellen in Aristoteles’ Physik und Metaphysik“). 19 I. Kant „Allgemeine Naturgeschichte“ in Kant Werke in zehn Bnden, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1968, Bd. 1, S. 358 (A 149): „daß die Welt eine mechanische Entwicklung, aus den allgemeinen Naturgesetzen, zum Ursprunge ihrer Verfassung, erkenne; und daß zweitens die Art der mechanischen Erzeugung […] die wahre sei.“ 20 Kant „Allgemeine Naturgeschichte“, aaO., S. 237 (A XXXIVf.).
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Mechanik einordnen zu wollen – ob „in einer Sphäre, mit dem Radius der Milchstraße“, oder eingeschlossen „in eine Kugel“.21 Die ,Unendlichkeit‘ Gottes entzieht sich naturwissenschaftlicher Darstellbarkeit, und eben dies ist die Weltbild-Situation der Moderne. Sie ist für beide Seiten dramatisch: Die Naturwissenschaften fallen zunächst einmal, jedenfalls methodisch gesehen, aus dem Lebenswelt-Zusammenhang heraus, wie ihn die Kulturwissenschaften, Philosophie und Theologie repräsentieren; Religion und Theologie andererseits verlieren ihren bisher selbstverständlichen Anhalt an der Kosmologie, d. h. am gültigen (wissenschaftlichen) Weltbild. Der Schritt, der Mitte des 19. Jahrhunderts dann durch Ch. Darwins Denkmodell der Evolution vollzogen wird, ist in seiner epochalen Bedeutung am besten dadurch einzustufen, dass Kants Vorbehalt gegenüber einer mechanischen Erklärung des organischen, d. h. schließlich des menschlichen Lebens, aufgegeben wird. Die Kausalerklärung ersetzt seither zunehmend auch die lebensweltlichen (teleologischen) Sinnkontexte, das Weltbild der Moderne spitzt sich zu in der Selbstanwendung der wissenschaftlich-objektiven Theorie auf die subjektive Instanz, die jenes Theoriemodell erst geschaffen hat. Droht hier ein logischer Zirkel oder die Selbstaufhebung eben dieser denkenden Instanz durch sich selbst? Doch bevor dieser Frage nachgegangen werden kann, ist nun genauer zu klären, was unter Evolution verstanden werden soll. Zu Beginn wurde bereits ein Doppelbegriff vorgestellt, Evolution als Geschichte der Natur und Evolution als Selbstorganisation. Welche Formen, Richtungen, Dimensionen hat das moderne Weltbild dadurch angenommen? 1) Geschichte der Natur22 – dieser Buchtitel C.F. v. Weizsäckers (1948) bündelt die für das moderne Weltbild (seit Darwins Die Entstehung der Arten (1859)) nicht mehr wegzudenkende Erkenntnis, dass nicht nur die menschliche Geschichte sich entwickelt, d. h. sich verändert im Sinne von Variations- und Wachstumsprozessen, sondern auch die Natur. Darwin erscheint dann zu Recht als „Newton der organischen Natur“,23 mehr noch, Evolution wird zum Inbegriff von Entwicklung des Uni21 Kant „Allgemeine Naturgeschichte“, aaO., S. 329 (A 105). Zu Kants Weiterdenken von Newtons Raumbegriff vgl. Barrow Das 1x1 des Universums, aaO., S. 190ff. 22 C. F. v. Weizsäcker Die Geschichte der Natur (1948), Göttingen 81979. 23 Diese Formulierung geht auf E. Haeckel (1899) bzw. A. R. Wallace (1889) zurück, vgl. Chr. Illies Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter. Zur Konvergenz von Moral und Natur, Frankfurt am Main 2006, S. 63.
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versums überhaupt, so dass eben auch Physik und Chemie sozusagen rückwirkend in dieses Modell eingeordnet werden können: Es gibt einen Unterschied zwischen ursprünglichen Bedingungen und sich entfaltender Entwicklung der Natur; und Deszendenztheorie, Abstammung und Differenzierungsmodelle machen das verständlich, was wir – naturwissenschaftlich trainiert bis in unsere alltäglichen Erfahrungen – sehen können. Evolution bedeutet, kurz gesagt, nichts anderes als ,Wachstum‘ und ,Vielfalt‘.24 Soll beides verständlich gemacht werden hilft dazu die Deszendenztheorie, d. h. die Natur hat ihre Geschichte, und diese Geschichte liegt uns allen vor Augen, so dass konstatiert werden kann: „Evolution ist eine Tatsache.“25 Religiöse Einstellungen und theologische Positionen, die mit dieser Konstatierung heute noch Schwierigkeiten haben, fehlt es in erster Linie nicht an naturwissenschaftlichen Informationen (die man je nach Interessenlage haben kann oder nicht), sondern, wie eingangs gesagt, an hermeneutischer Einsicht in die Geltungsbedingungen der eigenen Religiosität und deren Verhältnis zum – im Falle des Christentums – biblischen Text. Die Haltung geisteswissenschaftlichen wie religiösen Verstehens bedeutet immer und unvermeidlich Interpretation von Texten und Lebenswelten. Dass in deren Rahmen sowohl die kopernikanische Wende wie Darwins Abstammungslehre zunächst schwer zu integrieren waren, liegt an den jeweils nötigen Revisionen des Weltbildes und seiner sinnstiftenden Implikationen: Nach Kopernikus war die „zentrale Stellung des Erdenmenschen“ unter neuen Perspektiven des wachsenden Universums zu revidieren, nach Darwin die Sonderstellung des Menschen gegenüber den „tiefer stehenden organischen Gattungen“.26 Beides aber war durchaus möglich, auch bereits im 19. Jahrhundert, denn der religiöse Glaube und seine Gewissheit beziehen sich zwar auf Welt und Erfahrungswissen, fallen mit zeitbedingten empirischen oder metaphysischen Theorien aber keineswegs zusammen; und umgekehrt bieten empirische Theoriebildungen von sich aus keine Lebensorientierung, sondern sind auf einen jeweils gültigen Zusammenhang angewiesen, wie 24 Ch. S. Peirce (Fallibilismus, Offenbarung, Kontinuität und Evolution) (1892) in Charles Sanders Peirce: Religionsphilosophische Schriften, hg. v. H. Deuser, Hamburg (1995) 2000, S. 170 – 194; S. 190. 25 F. M. Wuketits „Moderne Evolutionstheorien – Ein Überblick“ in Horizonte der Biologie, hg. v. P. Sitte, Weinheim 1993, S. 133 – 138; 133. 26 Vgl. die nüchterne und souveräne Aneignung beider Problemlagen bei H. Siebeck Lehrbuch der Religionsphilosophie, Freiburg im Breisgau / Leipzig 1893, S. 197.
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er nur durch praktische Überzeugungen und die Realitätsimplikation von Allgemeinbegriffen garantiert werden kann. ,Glaube und Wissen‘ schließen sich also nicht aus, müssen auch keineswegs gegenseitig isoliert oder sich bekämpfend verstanden werden, sondern ihr faktisch produktiver Zusammenhang muss im modernen Weltbild nur neu austariert werden. Die Geschichte der Natur gibt allen Anlass, dies weiterhin zu tun. 2) Der zweite Begriff von Evolution ist schwieriger zugänglich und zugleich der, der uns im 21. Jahrhundert am meisten beschäftigen wird: Evolution als Selbstorganisation. Diesem Stichwort geht die Frage voraus, ob und – wenn ja – was durch Evolution im Sinne der Deszendenztheorie eigentlich erklrt wird. Genauer gesagt: Gibt das Modell von Abstammung, Wachstum und Geschichte der Natur mehr als nur eine Beschreibung – nämlich eine strikte, d. h. naturgesetzlich-kausale Erklärung, die Newtons Mechanik (auf anderem Gebiet und zu anderer Zeit) wirklich gleich käme? Anspruch und Wirkung der (biologischen) Evolutionstheorie entsprechen zunächst ganz diesem Erklärungsmuster. Auf die Frage, warum Eisbären – im Unterschied zu anderen Bären – so wunderbar weißes Fell haben, lautet die Antwort nicht: Damit sie durch Kälteschutz und Farbe besser zu ihrer Umwelt passen, um in ihr zu überleben, sondern: Weil eine zufällig-genetische Farbvariation auftrat, die bei begrenzten Überlebenschancen im Eismeer bessere Konkurrenzbedingung für die damit sich durchsetzende eigene Population zur Verfügung stellte, deshalb ist die bessere Umweltanpassung ein zunehmender Effekt, keineswegs ein Ziel. Die Frage nach dem wunderbar weißen Fell verliert also ihren teleologischen (lebensnahen) Sinn und dreht sich in eine objektiv-kausale Erklärung. Entscheidend für diesen Mechanismus sind der (nicht-teleologische) Zufall, der als Bedingung möglicher Variationen vorausgesetzt werden muss, und die Selektion (,natürliche Auslese‘), die unter gegebenen Umweltbedingungen die Überlebenschancen konkurrierender Arten bzw. ihrer Variationen regelt.27 Unsere Frage (nach dem wunderbar weißen Fell des Eisbären) und die gegebene Antwort stehen also in einer deutlichen Spannung,28 deren Auflösung nur im Rahmen einer 27 Vgl. zur detaillierten Beschreibung Chr. Illies Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter, aaO., S. 71 – 76; F. M. Wuketits „Moderne Evolutionstheorien“, aaO., S. 133ff. – Zur Bedeutung des ökonomischen Modells von Th. Malthus für Darwin, vgl. Illies, aaO., S. 71f.; dazu auch Ch. S. Peirce’ kritische Sicht, in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 195. 28 Illies Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter, aaO., Kap. 2. 5 diskutiert das Teleologieproblem im Vergleich zur Selektionserklärung.
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Gesamtauffassung von Wissenschaft, Welt und menschlichem (Selbst-) Verstehen möglich ist. Ein Symptom dieses nach wie vor empfundenen Ungenügens zwischen lebensorientierter Frage und kausal gewendeter Antwort war bislang auch der Hinweis in der Fachliteratur, Darwin habe mit der Publikation seines Hauptwerkes so lange gezögert, weil die überwältigende Präzision der Umweltanpassung der Tiere vielleicht doch noch als „Hinweis auf die Weisheit des Schöpfers“ hätte gelten können.29 Auch wenn dies nicht zutrifft und Darwin einfach abwarten musste, bis er seine Datenbasis überzeugend präsentieren konnte,30 so signalisiert das ihm selbst nachgesagte Zögern ein Sachproblem: Empirische Theoriebildung und lebensorientierende Sinnzusammenhänge sind weder deckungsgleich noch unabhängig voneinander – und darauf ist zurückzukommen. 3) Die gegenwärtig konkurrierenden Evolutionstheorien nehmen einerseits genauere Kenntnisse im Bereich der Genetik, d. h. dem Bedingungsbereich der Zufallsvarianz, zum Anlass für Weiterentwicklungen von Darwins Ansätzen, andererseits geschieht dies vor allem im Verständnis dessen, was Selektion eigentlich zu leisten vermag. Zufall für sich selbst genommen kann gar nichts erklären, er bleibt ,blind‘,31 völlig strukturlos, wird empirisch erst dann wirksam, wenn er auf vorhandene Bedingungen und Entwicklungsvorgänge einwirken kann. Negativ gesehen besteht seine Rolle aber zunächst einmal darin, dass gegenüber der Theologie des 19. Jahrhunderts die Evolutionsbiologie jeder ,lenkenden Absicht‘ widerspricht: Zufall als Agent des Le-
29 G. Altner in Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie, hg. v. G. Altner, Darmstadt 1981, S. 7, 9ff. 30 J. van Wyhe „Mind the Gap: Did Darwin Avoid Publishing his Theory for Many Years?“ in Notes & Records of The Royal Society 61 (2007), S. 177 – 205; vgl. dazu Th. Weber „Das Zögern“ in F.A.Z. Nr. 101, 2.05.07, S. N 3. – Wenn dies zutrifft, dass nach Darwins eigentlicher Entdeckung 1837 – 38 (natrliche Selektion als Erklärung für Artenentstehung und -vielfalt) von einem ,Zögern’ (aus Rücksichtnahme) bis zur Publikation 1859 keine Rede sein kann, ändert das nichts am Evidenzerlebnis selbst, das mit der neuen Theorie offenbar verbunden war, vgl. H. Ritter „Nun hatte ich endlich eine Theorie. Charles Darwins Erleuchtungserlebnis […]“ in F.A.Z. Nr. 142, 23. 6. 1999, S. N 6 (zur Auswertung von Darwins Notebooks und der Lektüre von Th. Malthus’ An Essay on the Principle of Population als Schlüsselerlebnis); zu Malthus s. o. Anm. 27. 31 So im Verweis auf R. Riedl bei Wuketits „Moderne Evolutionstheorien“, aaO., S. 136.
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bendigen scheint göttliche Providenz32 auszuschließen, das scheint auf der Ebene einer empirischen Theoriebildung jedenfalls naheliegend: Entweder hat der Eisbär weißes Fell, weil Gottes Absicht, Vorauswissen und Lenkung es so gewollt haben – oder eine zufällige genetische Disposition hat diesen Überlebensvorteil hervorgebracht und erklärt ihn damit hinreichend. Positiv gesehen trägt der Zufall erst dann etwas zur Erklärung bei, wenn und weil auf der Basis der modernen Physik (Relativitäts- und besonders Quantentheorie) genaue Objektangaben in bestimmten Mikro- und Makrobereichen des Universums entweder gar nicht oder nur statistisch erreichbar sein können.33 Das prinzipiell nicht absolut präzise und nicht vollständige Gegenstandswissen gehört dann offensichtlich zur Methode und Systematik der exakten Naturwissenschaften hinzu, und hier liegt zugleich der Übergang zwischen dem Grundlagenproblem von Physik und Biologie bzw. hier liegt die neue Frage nach der Einheit der Wissenschaften bzw. ihrem einheitlichen Weltbild. Wenn nämlich eine providenziell-göttliche (teleologische) Außensteuerung weder notwendig noch nachweisbar erscheint, dann muss angenommen werden, dass evolutionäre Prozesse sich selbst steuern. Verantwortlich ist dann keine andere Instanz als die Prozesssystematik selbst, ihr spezifisches Zusammenspiel von Zufall und Selektion, Zufall und Notwendigkeit. ,Selbstorganisation‘,34 ,Selbstplanung‘35 oder ,Autopoiesis‘36 müssen dann auch 32 Vgl. H. Deuser Art. „Vorsehung I“ in TRE 35 (2003), S. 302 – 323; hier bes. S. 318f. 33 Vgl. exemplarisch bei J. D. Barrow Das 1x1 des Universums, aaO., S. 49 – 55. 34 Zu M. Eigens Begriff vgl. W. Stegmüller Hauptstrçmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. II, Stuttgart 1975, S. 414ff.; vgl. auch Il. Prigogine und I. Stengers Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München / Zürich 41981, S. 189f. – Es bleibt bemerkenswert, dass sich der Begriff der Selbstorganisation bereits in F. W. J. Schellings Naturphilosophie und Trinittslehre findet, vgl. U. Barth Religion in der Moderne, Tübingen 2003, S. 470 – 481; M. D. Krüger Gçttliche Freiheit. Die Trinittslehre in Schellings Sptphilosophie, Tübingen 2008, S. 206, Anm. 51. 35 Wuketits „Moderne Evolutionstheorien“, aaO., S. 137. 36 Vgl. zur Übernahme dieses Begriffs von dem Biologen H. R. Maturana bei N. Luhmann Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987, S. 57ff. u. Anm. 58; zur Kritik an diesem ,postmodernen’ Systembegriff H.-D. Mutschler Naturphilosophie, Stuttgart 2002, S. 71ff.; vgl. auch H. Joas und W. Knöbl Sozialtheorie. Zwanzig einfhrende Vorlesungen, Frankfurt am Main 2004, S. 380ff.; R. Dahnelt Funktion und Gottesbegriff. Der Einfluss der Religionssoziologie auf die Theologie am Beispiel von Niklas Luhmann und Falk Wagner, Leipzig 2009, S. 50ff.
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die schwierigen Übergänge z. B. von unbelebter zu belebter Natur zu erklären versuchen. Sind hier gleitende Übergänge nachzuweisen oder handelt es sich um Sprünge,37 die dann ebenfalls erklärt werden müssten? Selektion – das ist auf diesem äußerst komplexen Niveau der Fragestellung längst selbstverständlich – kann dann nicht mehr im Sinne einer umstandslos beobachtbaren Mechanik vorgestellt werden. Denn das Verhältnis eines Organismus zu seiner Umwelt regelt sich offensichtlich so, dass Selbst- und Außenbeziehungen aufeinander abgestimmt werden können, und erst diese (autopoietische) Leistung kann garantieren, dass Zufall und Selektion überhaupt produktiv umzusetzen sind.38 Dass es aber zu Wachstum, Variantenbildung und Entwicklungen kommt, können wir sicher beobachten, muss also Autopoiesis einfach vorausgesetzt werden? 4) Mit dieser Frage ist ein weiterer Übergang erreicht, nämlich der zwischen natürlicher und kultureller Evolution. Denn der (funktionale) Systembegriff, der auf die Leistung der Autopoiesis geführt hat, überträgt bereits Erkenntnisse der System-Umwelt-Relation aus der Theorie sozialer Systeme. Identitäts- und Differenzbildung wird dann zum funktionalen Merkmal für ,Sinn‘-Zusammenhänge, die sich letztlich immer nur aus den Systemprozessen selbst erklären müssen. Auf kulturelle SinnSysteme scheint ein naturales Erklärungsmodell Anwendung zu finden, so wie umgekehrt das naturwissenschaftliche Modell dann offenbar der 37 Zur Übersicht der konkurrierenden Theorieschulen, darunter ,Gradualismus’ und ,Saltationismus’ vgl. Wuketits „Moderne Evolutionstheorien“, aaO., – Jüngste Forschungsergebnisse zu schnell wechselnden Proteinvarianten eines Süßwasserpolypen scheinen den Gradualismus zu bestätigen, vgl. F.A.Z. Nr. 44, 21. 2. 2007, S. N 1 („Darwins Zeugen tragen Giftnesseln“). 38 Vgl. bei Wuketits „Moderne Evolutionstheorien“, aaO., S. 136f. („Systemtheorie der Evolution“). – In formaler Beschreibung lassen sich dann ,natürliche Systeme’ so bestimmen (W. Detel Grundkurs Philosophie, Bd. 2: Metaphysik und Naturphilosophie, Stuttgart 2007, S. 109): „Eine Menge M = {a1, … , an} von Partikeln a1, … , an ist ein natrliches System nur dann, wenn gilt: a) Es bestehen naturgesetzliche Beziehungen […] zwischen den a1, … , an. b) M weist (aufgrund höherer Komplexität) gegenüber seiner Umwelt eine Innen-außen-Grenze auf. c) Die a1, … , an interagieren durch die Innen-außen-Grenze von M mit der Umwelt von M. d) M bestimmt sein Verhalten auch durch innere Zustände. e) M hat einen Normalzustand mit gewissen Toleranzgrenzen, jenseits derer M zusammenbricht. f) M enthält einen Ausgleichsmechanismus für Abweichungen vom Normalzustand, d. h., M ist verhaltensplastisch (selbsterhaltend).“ Für ,lebende Systeme’ und deren ,Evolution’ kämen als Bedingungen hinzu, dass sie sich ,kopieren oder reproduzieren’ können (Detel Grundkurs Philosophie, aaO., S. 111).
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Analyse kultureller (sozialer) Differenzierungen und entsprechender Erklärungsversuche abgelauscht wurde. Doch liefert dieser Denkansatz funktionaler Systemtheorien überhaupt noch eine kausalwissenschaftliche Erklärung,39 wie es Darwins Begrifflichkeit von Zufallsvarianz und Selektion eigentlich beabsichtigt hatte? Diese Frage ist natur- wie sozialwissenschaftlich deshalb von größter Bedeutung, weil der traditionelle Gegensatz kausalwissenschaftlichen Erklärens und geisteswissenschaftlichen Verstehens40 verschwände, wenn diese beiden kulturellen Leistungen prinzipiell miteinander verschränkt wären: Kausalerklärungen müssen Ursachen angeben, diese aber führen auf Gründe, die verstanden werden wollen. Evolution erscheint dann als das Paradebeispiel für Weltbild und Wissenschaftsanspruch unserer Gegenwart: Empirisch geleitete Theoriebildungen treffen auf Grenzen ihrer jeweiligen Methoden und Erklärungen, und diese Grenzen müssen den Phänomenen selbst zugerechnet werden, sind also von prinzipiellem Charakter. Diese Prinzipialität des Problems der Wirklichkeitsbestimmung führt aber nicht zum Ausweichen in ganz andere – z. B. im vorkritisch-dogmatischen Sinn supranaturale – Erklärungen, sondern zu immer komplexeren Modellen (z. B. der Evolution als autopoietisches System). Diese Modelle müssen allerdings die Wirklichkeit als ihren Erklärungsversuchen gegenüber vorrangig respektieren (sonst würde es sich nicht mehr um empirische Theoriebildungen handeln); dieselbe Wirklichkeit ist aber – aus prinzipiellen Gründen – nicht mehr trennscharf vom interpretierenden Zugriff 39 Vgl. H. Joas und W. Knöbl Sozialtheorie, aaO., S. 358f. (im Rahmen ihrer Luhmann-Darstellung und -Kritik), 90ff.; entsprechend die Kritik des Grundbegriffs systemtheoretischer ,Differenzierung’ bei H. Joas Die Kreativitt des Handelns, Frankfurt am Main 1996, S. 330f. – Die virtuose Ausweitung der Evolutionstheorie von der Natur (auf der Basis der Gene) auf die Kultur (auf der Basis der Meme) hat D. Dennett zur zwiespältigen (evolutionistisch positiven und zugleich religionskritischen) Erklärung der Religion genutzt (D. C. Dennett Breaking the Spell. Religion as a Natural Phenomenon, London 2006): Denn die Selbstanwendung eines allein evolutionistisch vorgetragenen und begründeten Wahrheitsanspruchs auf diese Religionserklärung selbst muss selbstwidersprüchlich erscheinen, vgl. zur Darstellung und Kritik H. Schulz „Den Bann brechen? Daniel Dennett über Religion“ in Theologie und Philosophie 82 (2007), S. 252 – 261. 40 Vgl. zur Problematik dieser – auf W. Dilthey zurückgehenden – Unterscheidung M. Jung Hermeneutik zur Einfhrung, Hamburg 2001, S. 11; ders. Dilthey zur Einfhrung, Hamburg 1996, S. 133ff., 160f.; E. Gräb-Schmidt „Verstehen über Grenzen hinweg: Universalitätsanspruch rationaler Deutungsmuster zwischen Evolutionstheorie und Hermeneutik“ in MJTh XVIII (2006), S. 115 – 149.
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(objektivierend) zu isolieren. Die besondere Perspektive naturwissenschaftlicher Erkenntnis kann folglich nur als notwendige, nicht ohne weiteres als hinreichende Bedingung im Blick auf die Wirklichkeit – im Ganzen menschlicher Erfahrungen – eingestuft werden. Wenn in Phänomenologie, Metaphysik und Theologie über kausalwissenschaftliche Erklärungen hinausgegangen wird, konkurrieren jene mit diesen nicht auf derselben Ebene empirischer Theoriebildungen, so als ergäbe sich alternatives empirisches Faktenwissen. Nicht-kausalwissenschaftliches Denken entfaltet sich in den Dimensionen der abduktiven Vorgängigkeit der Wirklichkeitserschließung und der Regelhaftigkeit des kontinuierlichen Prozesses der Realität. Der Begriff der Evolution kann auch in diesem erweiterten Sinn gedacht werden, und das gerade unter der Voraussetzung des naturwissenschaftlichen Evolutionsbegriffs, wie er sich seit Darwin entwickelt hat.
IV. Religion und evolutionre Metaphysik Die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus ist darin beispielhaft, dass sie Darwins Erklärungsmodell nicht weltanschaulich bekämpft, sondern wissenschaftlich gewürdigt und auf diesem Niveau kritisch modifiziert hat. Für Ch. S. Peirce beschreibt Darwins Werk einen Epocheneinschnitt der Geistesgeschichte, und es ist vor allem die Rolle des Zufalls, die damit produktiv und unentbehrlich für die probabilistischen Theoriebildungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geworden ist.41 Für W. James sind Darwins Entdeckungen ebenso selbstverständliche Voraussetzungen zeitgemäßer Wissenschaft, und für die neue Situation der Religion, für den Gottesbegriff der Theologie, sieht er durchaus Chancen, die allerdings mit liebgewordenen, einfachen Lösungen brechen müssen: Gottes „Pläne sind so unermesslich geworden, dass sie für uns Menschen nicht mehr zu begreifen sind.“ Die bloße Alternative „Zweck oder Mechanik“ will James nicht gelten lassen, und seine neue Variante fasst er in ein treffliches Bild: „Es ist ja auch nicht das Ziel einer Fußballmannschaft, den Ball einfach nur ins Tor zu bringen – 41 Vgl. den Aufsatz „Entwurf und Zufall“ (1894) in Peirce Naturordnung und Zeichenprozess. Schriften ber Semiotik und Naturphilosophie, hg. v. H. Pape, Frankfurt am Main 1991, S. 113; oder das umfangreiche Manuskript „Eine Vermutung über das Rätsel [der Sphinx]“ (1887/88) in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 154.
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wenn das so wäre, könnten sie ja einfach in einer dunklen Nacht losziehen und ihn dort hinlegen –, sondern dies im Rahmen eines festgelegten Mechanismus von Bedingungen zu schaffen, nämlich unter Beachtung der Spielregeln und im Kampf mit der gegnerischen Mannschaft.“42 Kritik der traditionellen Metaphysik und Religionsauffassung, Parteinahme für die uneingeschränkte empirische Methode43 der Naturwissenschaften und philosophische Kritik an der Leistungsfähigkeit bloß mechanischer Theoriebildung gehen Hand in Hand: Die Evolution und der Kosmos funktionieren weder nach einmal von Ewigkeit her fixierten und theologischem Wissen verfügbaren Entscheidungen eines konfessionell vorgestellten Gottes, noch nach der einfach ausgerechneten Mechanik eines Uhrwerks oder universalen Computers.44 Die Frage ist also, wie Zufall und Ordnung der Natur so zusammengedacht werden können, dass dieses Denken dem zu entsprechen vermag, wie Menschen sich selbst verstehen, was sie wirklich überprüfbar erfahren und worin dieser Prozess im Ganzen seine Realität hat. Wir wollen diese drei Fragen der Reihe nach beantworten. 1) Unser Weltbild heute stellt sich selbst in großartigen KosmosBildern dar, die aus Aufnahmen z. B. des Hubble-Weltraumteleskops hergestellt doch wie ein überwältigendes Gemälde auf uns wirken;45 zu demselben Weltbild gehört aber auch die nicht endende Suche nach unvorstellbar kleinen Materieteilchen, die nur über gigantische Beschleunigermaschinen möglicherweise indirekt sichtbar gemacht uns 42 W. James Pragmatismus. Ein neuer Name fr einige alte Denkweisen, hg. v. Kl. Schubert und A. Spree, Darmstadt 2001, S. 91f. (3. Vorlesung). – Zur allgemeinen und kritischen Rezeption Darwins im frühen Pragmatismus vgl. L. Menand The Metaphysical Club. A Story of Ideas in America, New York 2001, S. 89, 364f. et passim. 43 Vgl. den Aufsatz „Die Ordnung der Natur“ (1878) in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 82f. (über Naturordnung, Religion und die Befreiung der Menschen ,von der Tyrannei der Tradition’). 44 Dieses Fazit stimmt überein mit der Grenze ,künstlicher Intelligenz’ auf der Basis von K. Gödels Unvollstndigkeitsstzen (s.u. Anm. 77), was auf der anderen Seite bedeutet, dass die Theologie ihrerseits kein absolutes ,Wissen’ behaupten kann, vgl. D. Evers „Der Mensch als Turing-Maschine? Die Frage nach der künstlichen Intelligenz in philosophischer und theologischer Perspektive“ in NZSTh 47 (2005), S. 101 – 118; S. 116: „Der theologische Begriff von Gottes ,Wahrheit’ dürfte deshalb wesentlich vom Begriff der ,Wahrhaftigkeit’ Gottes her zu bestimmen sein und nicht von der Vorstellung des Besitzes einer Totalität von Satzwahrheiten.“ 45 Vgl. „Ein überwältigendes Panorama der Geburten“ (Bilder des Corina-Nebels, Hubble-Teleskop) in F.A.Z. Nr. 96, 25. 4. 2007, S. N 1.
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dann doch der Vorstellung vom Urknall näher bringen könnten.46 Beides hat zugleich Züge von exaktester Technikwissenschaft und Schöpfungsmythos, von Mechanik und Zufall, von Berechnung und vager, vielleicht instinktiver Hypothese. Der Zufall ist aus allen diesen Ordnungen nicht mehr wegzudenken, Evolution der Schlüsselbegriff für ein Zusammenspiel, das wir nicht nur gegenständlich zu denken versuchen, sondern dessen Wirkungsfeld wir in unseren natürlichen wie kulturellen Bedingung zugleich immer schon gewesen sind, bevor wir uns auch dieses wieder klar zu machen versuchen können. Wenn der Zufall als Entwicklungsagent also ernst zu nehmen ist, dann muss er als eine ursprüngliche Voraussetzung in allen Prozessen angenommen werden, als die Ermöglichung von später möglichen Konstellationen des Wirklichen. Mit dieser These des ,absoluten Zufalls‘ geht Peirce sogar deutlich über Darwin hinaus,47 und zwar mit dem Ziel der Widerlegung jedes deterministischen Weltbildes in Natur und Kultur: Wenn Zufall eine Rolle spielt, dann sind jeder Berechenbarkeit Grenzen gesetzt, kein Naturgesetz gilt absolut;48 und umgekehrt: Entwicklung, Varianz, Neues ist möglich. Aus dem anti-teleologisch und anti-metaphysisch eingesetzten Zufall wird damit der Modalbegriff der Mçglichkeit von Entwicklungen, und ein kosmologisch-ontologischer Begriff der schöpferischen Ermçglichung überhaupt. Diese vage Ursprünglichkeit gehört als solche zur Realität des Prozessuniversums, ist seine Möglichkeitsbedingung. Darin liegt, hypothetisch, ein erster Aspekt 46 M. Lindinger „Rumms, da ging die Schöpfung los. Das Genfer Forschungszentrum Cern […]“ in F.A.Z. Nr. 55, 6. 3. 2007, S. 40. 47 Vgl. den Aufsatz „Antwort auf die Nezessitaristen. Erwiderung auf Dr. Carus“ (1893) in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 222f.; vgl. M. Hampe Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko, Berlin 2006, S. 141ff.; 192f.: „Ein absoluter Zufall wäre ein Geschehnis, das durch keine Revision der Beschreibungssysteme in einen Kausalzusammenhang einbettbar wäre“. – Wie Zufall und Bild in Darwins eigenen Arbeiten, d. h. in seinen Zeichnungen von Tierarten, Fossilien, Stammbäumen etc., zueinander gehören zeigt J. Voss Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 – 1874, Frankfurt am Main 2007, S. 21, 215 u. ö.; ähnlich H. Bredekamp Darwins Korallen. Die frhen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 22006. 48 Das gilt dann auch für die Naturkonstanten, damit werden Peirce’ Vermutungen heute durch Barrow bestätigt, vgl. Barrow Das 1x1 des Universums, aaO., S. 151 (Die ,Größe’ der Naturkonstanten „wird einen merklichen statistischen Aspekt haben“); S. 242ff. (,Schwankende Konstanten’), S. 177: „Die Quantelung der Materie und der Energie fordert, dass es auf jeden Fall ein bestimmtes kleines Maß an Fluktuationen gegeben haben muss.“
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für die Erklärung der uns sichtbaren Evolution: Wenn sich immer wieder Neues entwickelt, wenn Gesetze als sich abzeichnende Regeln die Ordnung der Natur bestimmen, dann liegt das an einer kreativen Voraussetzung, die als solche noch nicht Ordnung ist und folglich auf dieser Ebene auch nicht eingestuft werden kann. ,Chaos‘, ,Nichts‘ stehen für diese andere und erste Kategorie, subjektiv gesprochen sind Menschen in allen ihren ursprünglichen und qualitativen Wahrnehmungen daran beteiligt, kennen den „Zustand intensivsten Fühlens“,49 der noch keine Ordnung hat, der aber für künftige Ordnungsbildungen ausschlaggebend sein kann. Der naturwissenschaftliche Ausgangspunkt: Darwins Begriff der Evolution und des darin agierenden Zufalls, lässt sich also überführen in eine naturphilosophisch-kosmologische Hypothese des kreativen Zufalls, die als solche ontologisch für die Ausbildung von Realität im Ganzen beansprucht werden kann: Kreativität als ursprüngliche Ermöglichung und damit Teil der Realität – der Teil, von dem wir am wenigsten wissen, am meisten aber fühlen und ahnen können, und den wir in diesem Sinne immer und überall beanspruchen. Es ist überdeutlich, dass Bilder, Geschichten und Symbole der Religionen in früheren Kulturen der Ort des Umgangs mit diesem Teil der Realität waren; und es besteht kein Hinderungsgrund im Sinne der biblischen und christlichen Tradition hierzu von Schöpfung, der Schöpfung Gottes zu sprechen, welche (personale) Symbolik könnte sonst angemessen sein? 50 Salvatore Dalis Bild51 gibt dies alles zu verstehen im Hinweis auf Gen 1, 2 („wüst und leer“) und Gen 1, 24f. („Das Land bringe alle Arten von lebendigen Wesen hervor“). Dieses – sonst unergründliche – Zusammenwirken von chaotisch-unbestimmtem Nichts der Ermöglichung und tatsächlichem Werden von Leben lässt sich nicht anders erklren als dass es als Schöpfung verstanden wird. 2) Evolution als Geschichte der Natur, aber auch lebendige Systeme, organisches Wachstum und Prozesse autopoietischer Steuerung sind empirisch nachweisbar. Doch welches Selbst organisiert sich da? Genügt der Mechanismus der Selektion von Überlebensvorteilen zur Erklärung dessen, was wir in Natur und Kultur beobachten – und damit auch zur Erklärung für die Instanz, die sich selbst beobachtet? Ich komme damit 49 Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 223. 50 Vgl. z. B. Peirce’ Notiz zur Schöpfungstheologie in einem Manuskript von 1898 in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 489f., Anm. 22. 51 S. Dali Bilder zur Bibel, hg. v. A. Läpple, Aschaffenburg 31985, S. 16f.
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zurück auf mein Eisbärbeispiel und den Verdacht, die rein mechanischkausale Erklärung der Selektion sei nicht die vollständige Antwort auf das, wonach in lebendiger Solidarität zwischen Tier und Mensch gefragt worden ist: nach dem sinnhaft funktionierenden Austausch zwischen Leben und Umwelt, Wachstum in Generationen, der Ausbildung sozialer Strukturen. In Peirce’ kritischer Sicht der mechanischen Evolution bleibt der mit Darwin gemeinsame Ausgangspunkt die Wirksamkeit von „Spontaneität und Naturgesetz“.52 Da sich zufällige Spontaneität als solche nicht empirisch erklären, sondern nur probabilistisch53 aufnehmen lässt, trägt die naturgesetzliche Seite der Selektion die ganze Beweislast, Wachstum und Leben erklären zu können. Dass Darwin durch den Ökonomen Th. Malthus die Schlüsselidee der Selektion gewonnen hatte, bedeutet, dass hier außer der Wahrscheinlichkeitsrechnung philosophische ,Überzeugungen‘ mitspielen, die in der empirischen Theoriebildung nicht auftauchen, für diese aber erheblich sind: hier, dass ,Habgier‘ und bloßes ,Eigeninteresse‘ als regierende Triebkräfte der Menschen unterstellt werden.54 Lassen sich dadurch Höherentwicklungen, wachsende Differenzierungen, sinnhaft agierende Organismen etc. wirklich erklären – oder nicht doch nur die Chancen von Populationen und ihrer zahlenmäßigen Durchsetzungskraft nach Regeln der Wahrscheinlichkeit, d. h. im Spiel der Bedingungen von Glück und Unglück? Die Beantwortung dieser Frage geht in zwei Richtungen: Erstens muss die bis heute in der Diskussion virulente Bedeutung zweckhafter (teleologischer) Orientierungen geklärt werden, denn ,Wachstum‘ ist kein reversibler Prozess, fügt sich also nicht der physikalischen Mechanik – mit Peirce’ Worten: „niemand hat je davon gehört, daß ein Tier in ein Ei zurückgewachsen wäre“! 55 Zweitens muss der Zusammenhang mit 52 Vgl. den Aufsatz „[Evolution, Liebe, Synechismus]“ (1892) in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. 194 – 202; S. 196f. 53 Peirce, zusammen mit seinem Vater, dem Mathematiker Benjamin Peirce, war ein Meister dieses Faches, vgl. L. Menand The Metaphysical Club, aaO., chap. 7. – Peirce hat zahlreiche mathematische Beispiele für Populationen und deren Chancen beim Glücksspiel gegeben, die Probe aufs Exempel für Darwins Theorie, z. B. in dem Aufsatz „[Fallibilismus, Offenbarung, Kontinuität und Evolution]“ in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, (s. o. Anm. 24), S. 193f. 54 Peirce: Religionsphilosophische Schriften, S. 195; zu Th. Malthus (s. o. Anm. 27 u. 30). 55 Peirce: Religionsphilosophische Schriften, S. 225 („Antwort auf die Nezessitaristen“, s. o. Anm. 47).
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sozialem, kulturellem, geistigem Verhalten geklärt werden, denn wenn Evolution die Realität des universalen Natur- und Kulturprozesses beschreiben können soll, dann müssen sich höhere und niedere Entwicklungsformen in einem Kontinuum befinden, so dass natürliches und geistiges Verhalten einander nicht inkommensurabel sein können – mit Peirce Worten: es kommt zu einem „Pseudoevolutionismus“, wenn das „mechanische Gesetz über das Wachstumsprinzip“ gesetzt wird.56 Beide Richtungen kommen nun in hervorragender Weise darin zusammen, dass natürliche Zweckhaftigkeit, sinnhafte Verhaltensbildungen bis hin zur Assoziation von Ideen in dem, was eine menschliche ,Persönlichkeit‘57 ausmacht, von Peirce evolutionistisch als Prinzip der Liebe, kurz: Agapismus namhaft gemacht werden. Damit werden die Rolle des Zufalls (der Spontaneität: Tychismus) und des Naturgesetzes (der Notwendigkeit: Anankismus) keineswegs ausgeschaltet, aber entscheidend ergänzt:58 „Opfere deine eigene Vollkommenheit der Vollkommenheit deines Nächsten.“ – Mit dieser Auslegung der Goldenen Regel gibt Peirce sicherlich eine kulturelle Beschreibung für Wachstum unter bestimmten Bedingungen von Individualität und Sozialität, sie ist aber graduell abgestuft durchaus evolutionistisch allgemein zu verstehen. Spontaneität und die Ordnung der Natur funktionieren nur unter Einschluss dieses gefühlsgeleiteten Förderimpulses, und diese Sicht der Dinge hat enorme Folgen für das wissenschaftliche Weltbild der Moderne: - Das Prinzip der Liebe wie die Idee der Person lassen sich zwar denken und durch Argumentationen bestimmen, doch ihr ursprünglicher Ort ist das Gefhl59 in kontinuierlichen Verhaltensgewohnheiten von Natur und Kultur. - Die Entschlüsselung des Prinzips der Liebe kann nur anthropomorph erfolgen, jede ,Wahrheit der Wissenschaft‘ hat Ähnlichkeiten ebenso mit ,der menschlichen Seele‘ wie mit der ,Seele des Universums‘,60 und die Botschaft der Liebe in den johannäischen Schriften der Bibel 56 „Das Gesetz des Geistes“ (1891/92) in Peirce Naturordnung, S. 179 – 209; S. 207. 57 Peirce Naturordnung, aaO., S. 206. 58 Vgl. den Aufsatz „Evolutionäre Liebe“ (1892/93) in Peirce Naturordnung, aaO., S. 235 – 263; S. 237, 249. – Zur ethischen Anwendung der Goldenen Regel vgl. H. Deuser Die Zehn Gebote. Kleine Einfhrung in die theologische Ethik, Stuttgart 2002, Kap. C. 59 Vgl. Peirce „Evolutionäre Liebe“, aaO., S. 240. 60 Peirce Vorlesungen ber Pragmatismus, hg. v. E. Walter, Hamburg 1991, S. 28f. (2. Vorlesung); vgl. H. Deuser Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004, S. 149 u. ö.
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wird dann zur „Formel einer evolutionären Philosophie, die lehrt, daß Wachstum nur von der Liebe herrührt“.61 - Dieses wirksame Kontinuum zwischen Natur und Geist evolutionistisch zu denken bedeutet vor allem: Das Geheimnis besteht nicht darin, wie es von Natur zu Kultur hat kommen können, sondern wie in den materiellen Bedingungen geistige Strukturen zu entdecken sind.62 Ob sich dieser evolutionäre Agapismus empirisch nachweisen lässt, ist inzwischen unter kulturellen Bedingungen eine ebenso naheliegende Forschungsfrage wie für biologisches Leben. Genetik, Verhalten und Moralität deuten auf Zusammenhänge, die für Primaten beobachtet werden wie für menschliches Sozial- und Lernverhalten;63 und aus der Sicht historischer Anthropologie lässt sich festhalten: „ohne den Faktor Liebe bliebe es ein Rätsel, warum Leute überhaupt heirateten!“64 Das Zusammenspiel von Zufallsvarianz, Anpassung und Selektion muss jedenfalls so komplex gefasst werden können, dass Evolution vom Urknall bis in Kulturleistungen der Zukunft plausibel gedacht werden kann. William James wiederum hat dafür ein schlagendes Beispiel geliefert: „Unter biologischem Gesichtspunkt war der hl. Paulus ein Fehlschlag, weil er enthauptet wurde. Aber an die größere Umwelt der Geschichte war er großartig angepaßt“.65 – S. Dalis Bild zur Bibel repräsentiert solche Kontinuität von Ideen, es ist anthropomorph und zugleich belehrt durch Evolution: ein Angesicht mit wachen Augen, ein Faltenwurf wie aus alter Zeit, trotzdem in stürmischer und zielgebender Bewegung; dazu fossile, chaotische, natürliche Umgebung, wie nur die Moderne sich die Schöpfung ausmalen kann.
61 Peirce „Evolutionäre Liebe“, aaO., S. 237. 62 Vgl. Peirce: Religionsphilosophische Schriften, S. 197: „daß Materie als Geist aufgefaßt wird“. 63 Vgl. z. B. J. Gray „Are We Born Moral?“ in The New York Review of Books, vol. LIV, no. 8 (2007), S. 26 – 28 (zu Arbeiten von M. D. Hauser und F. de Waal). – Zur (kritischen) Übersicht soziobiologischer Forschungen und Thesen vgl. Illies Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter, Kap. 4 u. 5; zur Kritik ihres überzogenen Anspruchs auch W. Härle „Die ethische Relevanz der Soziobiologie“ in MJTh XVI (2004), S. 111 – 136; bes. S. 123ff. 64 W. Reinhardt Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2 2006, S. 207. 65 W. James Die Vielfalt religiçser Erfahrung. Eine Studie ber die menschliche Natur, hg. v. E. Herms, Zürich 1982, S. 356 (Kap. XV).
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3) Schließlich sind es die Begriffe der Kontinuitt und Realitt, über deren nun herausgehobene Bestimmung die Fragen nach Prozess und Selbstorganisation der Evolution weitere Klärungen erwarten können. Dann muss zuvor aber eingeräumt werden, dass ähnlich wie im Falle von Spontaneität und ursprünglicher Ermöglichung auch bei Kontinuität und Realität nicht empirische Begriffe zur Debatte stehen, sondern solche, die sich als Verallgemeinerungen und Konklusionen ergeben. In jeder Wissenschaft, so Peirce, sind es die Wahrnehmungsprämissen,66 die direkter Beobachtung zugänglich sind, der Rest besteht aus allgemeinen Sätzen und Begriffen, deren Realitätsstatus zu bestimmen eine eigene Aufgabe darstellt – in der europäischen Wissenschaftstradition die Aufgabe der Metaphysik. Ihr Gegenstand ist, traditionell ausgedrückt, „das ganze Universum des Seienden“:67 - was wirklich ,besteht‘ und ,entsteht‘,68 - was möglich und was notwendig ist,69 - was real und was nicht-real ist.70 Nur wenn Evolution mehr bedeutet als empirische Theoriebildung angesichts naturwissenschaftlicher Beobachtungsdaten, wenn also Prozess und Selbstorganisation als solche und im Ganzen betrachtet, nach ihrem Ursprung und laufend wirksamen notwendigen und hinreichenden Bedingungen befragt werden – einschließlich der Beobachtungsinstanz des Menschen als Teilnehmer an diesen Prozessen – dann ist von evolutionrer Metaphysik die Rede.71 Diese Begriffsbildung setzt neben der nicht-klassischen Physik der Moderne72 auch die Zufallsspontaneität als 66 Vgl. den Aufsatz „Ereignislogik“ (1898) in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, S. 249 – 265; S. 250. 67 Peirce „Ereignislogik“, aaO., S. 255. 68 Vgl. die Ableitung von Metaphysik bei Detel Grundkurs Philosophie, Kap. 4, S. 12. – Entgegen Detels Ausgangspunkt wird hier aber die Frage nach dem Entstehen gerade nicht aus dem Gegenstandsbereich der Metaphysik entfernt, also nicht einfach vom Bestehen der Welt ausgegangen bzw. mit dieser reduzierten Frage auch nicht der Beginn wissenschaftlicher Philosophie gleichgesetzt. Anstelle der mythischen ,Kosmogonie’ (Detel, ebd.) tritt dann allerdings die Kosmologie. 69 Vgl. Detel Grundkurs Philosophie, aaO., S. 13. 70 Vgl. Detel Grundkurs Philosophie, aaO., S. 19ff. 71 Vgl. H. Pape „Einleitung“ in Peirce Naturordnung, aaO., S. 25 – 31; H. Deuser „Einleitung“ in Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., S. XXIX-XXXV. 72 Vgl. Il. Prigogine „Vorwort“ in Peirce Naturordnung, aaO., S. 8: „Peirce wagte es, das Universum der klassischen Mechanik zugunsten eines evolutionären Universums zu einer Zeit zu verwerfen, als keinerlei experimentelle Ergebnisse vorlagen, die diese These hätten stützen können.“
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Prozessimpuls der Natur und die mathematische Theorie des Kontinuums voraus, wie sie Peirce im Anschluss an G. Cantor philosophisch weiterentwickelt hat:73 Die Realitt des evolutionären Prozesses schließt dessen ursprüngliche, unausschöpfbare Möglichkeitsbedingung ebenso ein wie die (notwendige) Ordnung eines (infinitesimal gedachten) Entwicklungskontinuums. Die Vorstellung der Unendlichkeit lässt dabei Kontinuierlichkeit im Ganzen und Diskontinuierlichkeit im Einzelnen zu, so wie eine Linie jeweils in einzelnen Punkten unterbrochen werden kann. Im jeweiligen ,Augenblick‘74 kann beides zum Ausdruck kommen: Die Intensität des Gefühls der Gegenwrtigkeit, die doch auch wieder Teil eines Gesamtprozesses ist und wird. Wiederum sind es die Religionen, die nicht nur vorwissenschaftlich solcher Erfahrungen Ausdruck gegeben haben, sondern es ist die Religiosität, die aus systematischen Gründen bleibend eben das existentiell bearbeitungs- und erfahrungsfähig zu halten vermag, was die evolutionäre Metaphysik nur in Grenzbegriffen, d. h. in wissenschaftlichen Abstraktionen näher zu bringen versucht. Die christliche Theologie spricht in diesem Punkt von der Wirkung des göttlichen Geistes, und damit wird zugleich erkennbar, dass und wie eine evolutionäre Metaphysik die Dreigliedrigkeit der Trinität als schöpferische Möglichkeit, Wirklichkeit der Liebe und Kontinuum bzw. Gegenwärtigkeit des Geistes nachbildet. Was spricht über Peirce’ Anregungen hinaus auch heute für dieses religionstaugliche, metaphysisch denkbare und theologisch produktive Modell der Evolution? Es ist die Konstanz religiöser Lebensorientierungen, die allein aus praktischen Gründen kaum ersetzbar erscheinen und die selbst als evolutionäre Errungenschaften aufgefasst werden können. Die inzwischen verbreiteten Hypothesen und Forschungen zu sog. religiösen Genen, Gehirndispositionen für Religiosität oder zum Selektionsvorteil aufgrund von Religion75 zeigen durchaus eine Neu73 Vgl. im vorliegenden Band Kap. B.11. 74 Vgl. Peirce’ entsprechende Erläuterung der ,Persönlichkeit’, der unendlichen Ideenverknüpfung und des ,unmittelbaren Selbstbewusstseins’ in Naturordnung, aaO., S. 206. 75 Vgl. E. Voland „Gottesglaube aus Instinkten? Die biologische Evolution der Religiosität“ in Notwendige Fundamente – gefhrlicher Fundamentalismus, hg. v. W. Achtner, H. Böckel und D. Kreuzkamp (Gießener Hochschulgesprche & Hochschulpredigten der ESG, Bd. V), Gießen 2004, S. 99 – 118 (zu den Funktionen und Anpassungsleistungen von ,Mystik’, ,Ethik’, ,Mythos’ und ,Ritual’); vgl. dazu E. Gräb-Schmidt „Wie begegnet die Theologie den Herausforderungen durch die Evolutionstheorie? Anmerkungen zu einem problematischen Verhältnis“ in
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orientierung: Dass das Thema Religion nicht mehr einfach mit Unwissenschaftlichkeit gleichgesetzt werden kann und dass Religion zu Recht notwendiger Gegenstand evolutionären Denkens in Natur und Kultur geworden ist.76 Allerdings lasse ich hier ausdrücklich offen, welche Bedeutung und Geltung möglichen biologischen Nachweisen und religionsgeschichtlichen Beschreibungen jeweils zukommen können. Religionskritisch oder die Funktion des religiösen Glaubens bestätigend handelt es sich in dieser Sicht der Evolutionsforschung um empirische Befunde, die über die Wahrheit der unter Religion beanspruchten Wirklichkeitsauffassung nicht allein zu entscheiden vermag.77 Die Sonderstellung der Religion und die Notwendigkeit von Metaphysik zeigen sich aber vor allem darin, dass Menschen als Autoren der Evolutionstheorie nicht einfach problemlos als deren Gegenstand ausgegeben werden können.78 Dieser Zirkel verdient eigens beachtet und ausgelegt zu werden, und es ist die gleiche Komplexität, die mit dem Problem der Autopoiesis kultureller Entwicklungsformen, dem neurowissenschaftlich entdeckten ,Homo symbolicus‘79 und dem physikalisch sog. ,Anthropischen Prinzip‘80 zum Ausdruck gebracht wird: Die phy-
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Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken. FS H. Deuser, hg. v. G. Linde, R. Purkarthofer, H. Schulz und P. Steinacker, Marburg 2006, S. 185 – 198; S. 187ff.; vgl. auch H. Schulz’ Kritik an D. Dennett (s. o. Anm. 39). – Zum eher populärwissenschaftlichen Streit pro und contra Religion, Säkularisierung, Desäkularisierung, Fundamentalismus etc. vgl. den Überblicksartikel von A. Kreye „Wenn nur Erleuchtete reden, verliert die Vernunft“ in Sddeutsche Zeitung, Nr. 122, 30. 5. 2007, S. 13. Vgl. W. Achtner „Elemente einer evolutionären Theorie von Religion.“ Antrittsvorlesung Frankfurt am Main 2007 (in Glauben – Denken – Handeln. 60 Jahre ESG Gießen, Gießener Hochschulgesprche & Hochschulpredigten der ESG, Bd. XII, Gießen 2007, S. 184 – 213). Vgl. zum Wahrheitsbegriff „semantisch geschlossener Systeme“, die durch Maschinen simuliert werden können, und dem „semantisch offener Systeme“ im Falle von Menschen, bei dem prinzipiell Neues und Entscheidungen etc. eine wesentliche Rolle spielen, D. Evers „Der Mensch als Turing-Maschine?“, S. 108. Gödels Beweis der Unvollständigkeit formaler Systeme ist hierfür die entscheidende Begründung; vgl. auch Deuser „Evolutionäre Metaphysik“, S. 56ff. Vgl. E. Gräb-Schmidt „Wie begegnet die Theologie“, aaO., S. 189: „Die Evolution als Theorie ist ein Produkt der menschlichen Vernunft“; aaO., 195f.: die „Eigentümlichkeit des Menschen“ besteht darin, „ein symbolisches, symbolbildendes, also deutendes Wesen zu sein.“ Vgl. T. W. Deacon The Symbolic Species. The Co-Evolution of Language and the Brain, New York / London 1998, S. 345; dazu J. W. van Huyssteen Alone in the World? Human Uniqueness in Science and Theology, Göttingen 2006, S. 234 – 239. Vgl. J.D. Barrow Das 1x1 des Universums, aaO., S. 153ff.; S. 159ff.
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sikalische, biologische und kulturelle Evolution ist offenbar so ausbalanciert, das sie ihre eigenen Beobachter ermöglicht, für die wiederum dieselbe Evolution ihre eigene Wirklichkeit darstellt. Terrence Deacon hat dieses Phänomen als ,evolutionäre Anomalie‘ bezeichnet, dass das, was uns Menschen das Vertrauteste ist, überhaupt auftreten konnte: Dass Menschen sprechen, in Symbolen denken, sich sorgen, die Zukunft und Vergangenheit imaginieren, ihren eigenen Platz im Universum befragen und bestimmen, Erfahrungen mit sich und der Welt machen, bewusst handeln, Wirklichkeit und Wahrheit, Sein und Nichtsein zum Thema zu erheben vermögen.81 Wenn das keine hermeneutische Situation ist, wie sie die Geisteswissenschaften seit langem beschrieben haben; wenn das nicht Anlass gibt, den Vorrang der Erfahrungsuniversen nicht nur empirisch zu analysieren, sondern deren Unbedingtheit zu vertrauen und dieses Vertrauensverhältnis auch als solches, wie die Religionen seit Menschengedenken es gelehrt und gelebt haben, zu bearbeiten und auszulegen – dann weiß ich nicht, was überhaupt der Auftrag menschlicher Kultur sein sollte. Was diesen Auftrag nahe bringt, ist die Struktur von Spontaneität, Naturordnung und Gegenwärtigkeit im Prozesskontinuum – das wir in unseren Innen- und Außenwelten entdecken. Die Schöpfung lebt in der Evolution.
81 Vgl. Deacon The Symbolic Species, aaO., S. 21f.
Unmittelbares Selbstbewusstsein – semiotische und pragmatistische Überlegungen zu einem (fast) unzugänglichen Begriff I. Die erkenntnistheoretischen Debatten der Moderne und die Philosophie des deutschen Idealismus haben Metaphysik, Religionsphilosophie und Wissenschaftstheorie gleichermaßen ein Problem aufgegeben, das sich bis heute in anhaltend umstrittenen Lösungen präsentiert: Ist die unwiderlegliche, erste Evidenz des Wissens um Dinge und sich selbst ein Glaube, ein innerer Effekt der Reflexion oder Teil eines Prozesses, in dem Unmittelbarkeit eben nur vermittelt konzipiert werden kann? Die empiristische Denktradition bestreitet jede gesetzhaft-reale Brückenfunktion zwischen Denken und Sein, Evidenzgefühle sind Sache von Gewohnheit und Glaube (D. Hume), und in metaphysischer Anknüpfung und religionsphilosophischer Anwendung wird daraus die eigene Welt einer Glaubens-Unmittelbarkeit, die dem immer unfertigen und seiner selbst nicht gewissen Wissen entgegengestellt werden kann (F. H. Jacobi).1 Die rationalistische Denktradition (R. Descartes) dagegen optiert für die Selbstgewissheit des Wissens aus sich selbst – belastet mit der Frage, ob dies überhaupt möglich sei und gesteigert in der idealistischen Wendung, das Absolute selbst präsentiere sich derart unmittelbar ( J. G. Fichte).2 Die Prozessualität der weltgeschichtlichen Darstellungsformen (G. W. F. Hegel) 3 bestreitet schließlich die empiristisch-rationalistische Alternative und will doch beiden Seiten Recht geben, allerdings nur in der realen Vermitteltheit des Unmittelbaren. Was aber ist dann verloren gegangen, 1
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Vgl. E. Herms „Selbsterkenntnis und Metaphysik in den philosophischen Hauptschriften Friedrich Heinrich Jacobis“ in Archiv fr Geschichte der Philosophie 58 (1976), S. 121 – 163; S. 158: „,Unmittelbarkeit‘ bezeichnet bei Jacobi nicht wie in der Kantschule die Weise der Erschlossenheit allen Wissens für das Wissen, sondern eine bestimmte Weise von Wissen selber.“ Vgl. R. Barth Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewusstsein, Tübingen 2004, Kap. 5. Vgl. L. Hühn und D. Korsch Art. „Unmittelbarkeit“ in RGG4 8 (2005), S. 793f.
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wenn offensichtlichen Gewissheitslücken des Reflexionswissens nur auf dem Vermittlungswege Gerechtigkeit werden soll?
II. E. Herms hat die Beobachtung gemacht, dass erstaunlicherweise bei I. Kant der Begriff eines ,unmittelbaren‘ Bewusstseins / Selbstbewusstseins, d. h. F.D.E. Schleiermachers Grundbegriff,4 wie nebenbei auftaucht: Wenn es darum geht, die Sittlichkeit in der Kausalität der Freiheit als eigentümliche Aktivität des Selbstbewusstseins verstehen zu müssen, dann können hier ,Verstandeswelt‘ und ,Sinnenwelt‘ nicht nach dem Muster der theoretischen Vernunft (d. h. der Kategorien) miteinander verbunden gedacht werden, sondern nur so, dass das aktive Subjekt sich seiner selbst ,unmittelbar‘ bewusst werden muss.5 Damit ist im Kontext zunächst nur gemeint, dass keine ,Affizierung der Sinne‘ vorliegt, aber immerhin ist die Stelle genau markiert, an der der Unmittelbarkeit eine Funktion zukommt, die durch reflektierte oder empirisch-synthetische Vermittlungsleistungen nicht mehr erreicht wird, sondern von diesen vorausgesetzt werden muss. Unmittelbarkeit ist insofern unabdingbar, wenn auch schwer greifbar; und Schleiermacher hat in den Reden ber die Religion (1799) aus dieser Not die Tugend der Einheit von ,Anschauung‘ und ,Gefühl‘ gemacht, die fundierend alles bewusste und unbewusste Leben begleitet, und er hat – wird jene Einheit als solche, als 4
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Vgl. F. Schleiermacher Der christliche Glaube (1830), hg. v. M. Redeker, Berlin 1960, § 3: „Die Frömmigkeit […] ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins.“ E. Herms Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, S. 289f.; vgl. I. Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (3. Abschn., „Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt“), A 106f.: „nach der Kenntnis, die der Mensch durch innere Empfindung von sich selbst hat, darf er sich nicht anmaßen zu erkennen, wie er an sich selbst sei. […] , indessen er doch notwendiger Weise über diese aus lauter Erscheinungen zusammengesetzte Beschaffenheit seines eigenen Subjekts noch etwas anderes zum Grunde Liegendes, nämlich sein Ich, so wie es an sich selbst beschaffen sein mag, annehmen, und sich also in Absicht auf bloße Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Empfindungen zur Sinnenwelt, in Ansehung dessen aber, was in ihm reine Tätigkeit sein mag (dessen, was gar nicht durch Affizierung der Sinne, sondern unmittelbar zum Bewusstsein gelangt), sich zur intellektuellen Welt zählen muss, die er doch nicht weiter kennt.“
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jener „erste geheimnißvolle Augenblik“ zum Gegenstand der Betrachtung – damit zugleich eine moderne Religionstheorie begründet.6
III. Was unmittelbar war – ist vergangen, wenn es kommuniziert werden soll. Raumzeitlich gesehen ist das Unmittelbare also gar nicht als solches zu bestimmen, es ist sozusagen (räumlich wie zeitlich) vor den Bestimmungen, ohne deren Vermittlung die Kommunikation aber gar nicht anlaufen könnte. Es sind die Phnomene der ,Anschauung‘, die wir als erstes antreffen, so wie und weil sie uns bedrängen. Kant hat für diesen Bereich der phänomenalen Voraussetzungen von ,transzendentaler Ästhetik‘ gesprochen und Raum und Zeit als die Bedingungen genannt, unter denen eine Kommunizierbarkeit von Anschauung überhaupt nur gedacht werden kann. Was vor den raumzeitlichen Anschauungsformen liegt, wäre demnach die gänzlich unanschauliche Voraussetzung aller Sachgegebenheit. – Wird diese Zuordnung von Unbestimmtheit und Bestimmung über ihr erkenntniskritisches Muster hinausgehend auch kosmologisch angewandt, so muss die im Unmittelbaren vorausgesetzte Bestimmungsmöglichkeit (für Kant liegt sie in den geheimen „Grundquellen des Gemüts“!) 7 offenbar selbst als Ursprung (ex nihilo) für die Herausbildung nicht nur raumzeitlicher, sondern aller generalisierenden Bestimmungen angenommen werden: Die Bestimmbarkeit und Regelmäßigkeit der Dinge ist selbst ein Produkt evolutionären Wachstums, wie C.S. Peirce’ Kosmologie gezeigt hat,8 so dass der wahrnehmungs6 7
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Vgl. Herms Menschsein im Werden, aaO., S. 290f.; F. Schleiermacher ber die Religion, hg. v. G. Meckenstock, Berlin / New York 1999 (2. Rede), S. 89. Kritik der reinen Vernunft (erster Satz der „Transzendentalen Logik“), A 50. – Zur schwierigen und vielsagenden Konzeption des ,Gemüts‘ innerhalb der transzendentalen Ästhetik vgl. R. Brandt „Transzendentale Ästhetik“ in I. Kant Kritik der reinen Vernunft (Klassiker Auslegen Bd. 17 – 18), hg. v. G. Mohr und M. Willaschek, Berlin 1998, S. 81 – 105; S. 94f. Vgl. „Eine Vermutung über das Rätsel [der Sphinx] (1887/88)“ in Charles Sanders Peirce: Religionsphilosophische Schriften, hg. v. H. Deuser, Hamburg (1995) 2000, Nr. II. 4, S. 167 – 170; vgl. in The Essential Peirce, vol. 1, ed. by N. Houser und C. Kloesel, Bloomington / Indianapolis 1992, no. 19, p. 277ff.; vgl. „The Logic of Continuity (1898)“ in Charles Sanders Peirce Reasoning and the Logic of Things, ed. by K.L. Ketner, Cambridge 1992, lecture VIII, p. 258 – 268; dt. in Das Denken und die Logik des Universums, hg. v. H. Pape, Frankfurt am Main 2002, 8. Vorlesung, S. 346 – 359.
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theoretisch und erkenntniskritisch vorausgesetzten Unmittelbarkeit zugleich eine konstitutive Rolle in den Prozessabläufen des Universums zugesprochen werden muss. Unmittelbarkeit als Unbestimmtheit ist in Vermittlungen aktiv, steht also in den bedingten Vermittlungen produktiv vorausgehend in der Kraft des Unbedingten. – Mit dieser Feststellung ist klar, dass zwischen Wahrnehmungstheorie, Kosmologie und Religionsphilosophie keine künstliche Brücke gebaut werden muss, sondern dass sie sich in einem genuinen Zusammenhang schon vorfinden.
IV. Für Kants Erkenntniskritik sind ,Gegenstände‘ der ,Anschauung‘ sinnlich ,gegeben‘ – und insofern ,unmittelbar‘;9 und für die transzendentale Logik bedeutet dies, Denken, d. h. das Urteil, bezieht sich „niemals auf den Gegenstand unmittelbar“, sondern ist „mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes“: die „Vorstellung einer Vorstellung desselben.“10 Kant hat diese Einsicht, dass die (verstandesbegrifflich-urteilende) Vorstellung** sich auf eine (gegenstandsbezeichnende) Vorstellung* vom (raumzeitlichanschaulichen) Gegenstand bezieht, nicht dazu genutzt, dieser Struktur gemäß eine einheitliche Phänomenologie oder Semiotik zu entwerfen, sondern er hat durch klare Trennungen Übersicht schaffen wollen: Die Welt der anschaulichen Gegenständlichkeit wird zur empirischen Realitätsbedingung, an diese ist Vorstellung* immer gebunden (transzendentale sthetik), und zwar so dass die Verstandesbegrifflichkeit unter erneuter Distanz zur der Unmittelbarkeit der Anschauung als Vorstellung** die Urteilsvermittlung repräsentiert, die sich allein dem Denken und nicht der Anschauung verdankt (transzendentale Analytik). Wird diese Gesamtanordnung noch einmal zum kritischen Gegenstand dessen gemacht, was die Vernunft, d. h. Denken überhaupt vermag, so ist der Verlust an Unmittelbarkeit – im Sinne der durch Vorstellung* und Vorstellung** 9 Kant Kritik der reinen Vernunft, aaO., A 19; vgl. H. Cohen Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 31920, S. 22: „Gegeben heißt: unmittelbar ,gegeben‘, nicht durch das Mittel des Denkens gedacht […]. Für die Erkenntnis ist der Gegenstand gegeben: nicht etwa ohne sie.“ 10 Kant Kritik der reinen Vernunft, aaO., A 68; vgl. Cohen Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, aaO., S. 46f. – K. Oehler hat am Beispiel der Wissenschaftslehre J. G. Fichtes auf die semiotischen Implikationen der Transzendentalphilosophie hingewiesen, vgl. ders. Sachen und Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt am Main 1995, S. 172 – 180.
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doppelt distanzierten Anschauung – immer schon vollzogen. Eine ,intellektuelle Anschauung‘, d. h. eine Vernunft, die ihre gegenständliche Anschauung objektiv zu produzieren imstande wäre, ist folglich ein nicht mehr vollziehbarer Gedanke – für Kant der Grenzbegriff ,natürlicher Theologie‘,11 die ohne raumzeitliche Anschauung (eine Anschauung* entsprechend einer Vorstellung* ) vorgeben zu können doch die Unmittelbarkeit einer begrifflich (und nicht empirisch) geprägten Anschauung** behaupten wollen muss. Geht die Vernunft derart aufs Ganze, und Kant gesteht ihr das ausdrücklich zu, so muss doch unablässig und grundsätzlich gewarnt werden (transzendentale Dialektik): Das so ermittelte ,Unbedingte‘ ist bloße ,Idee‘ für bestimmte Denkleistungen,12 muss der Anschauung entbehren und ist insofern zur ausschlaggebenden Einstufung von Realität (der empirisch gebundene Verstandesbegriffe nicht fehlen dürfen) keinesfalls heranzuziehen. Die „Antinomien der reinen Vernunft“ kommen eben dadurch zustande, dass Ideen „ein kongruierender Gegenstand“ fälschlich zugeordnet wird. Nur durch diesen Fehler einer unterstellten Anschauung und daran gebundene Gegenständlichkeit würde sich „unbedingte[n] Totalität“ zum Schein erfassen lassen.13 Die Transzendentalphilosophie aber ,entkleidet‘ die Vernunftideen „von allem Empirischen“ und nimmt ihnen damit den – bis dahin durchaus verständlichen – Glanz und „die ganze Pracht der Vernunftbehauptungen“14 des Unbedingten. Weil keine Unmittelbarkeit der Anschauung mehr zugelassen ist, deshalb kann es Unbedingtheit nicht geben, jedenfalls soweit es sich um Realitätseinstufungen im Rahmen der theoretischen Philosophie handelt. Kants Kritik der Gottesbeweise basiert letztlich immer auf dieser Aufteilung der getrennten Welten: Aufgrund der vorausgegebenen Unmittelbarkeit der Anschauung kommt Verstandesbegriffen – und allein diesen – die Autorität der (empirischen) Realitätseinstufung zu; die Unbedingtheit dessen aber, was die Vernunft aufs Ganze gesehen leisten kann, ist bloßer Schein, ,falsche Selbstbefriedigung‘, die aus dem Fehlen solcher (empirischer) Bedingungen, d. h. aus dem Unbegrifflichen auch noch die Tugend der ,Vollendung‘15 des höchsten aller Begriffe herauspressen will. 11 Vgl. Kant Kritik der reinen Vernunft, aaO., B 71f. („Allgemeine Anmerkungen zur Transzendentalen Ästhetik“ IV); auch B 135: „der unsere [sc. Verstand] kann nur denken und muss in den Sinnen die Anschauung suchen.“ 12 Kant Kritik der reinen Vernunft, aaO., A 416f. 13 Kant Kritik der reinen Vernunft, aaO., A 462. 14 Kant Kritik der reinen Vernunft, aaO., A 463. 15 Kant Kritik der reinen Vernunft, aaO., A 610.
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V. Der Fehler in Kants Abtrennung des Unmittelbaren / Unbedingten von der Sachhaltigkeit des Denkens (als Vermittlung) – bei gleichzeitig exklusiver Bindung des Realitätsbegriffs an empirische Anschauung – ist dann behoben, wenn Unmittelbarkeit und Vermittlung nicht mehr als Alternativen aus unterschiedlichen Welten gelten müssen, sondern perspektivisch als miteinander korrespondierend verstanden werden können. Unmittelbarkeit als solche anzuerkennen muss nicht heißen, Vermittlung sei dadurch entwertet; und Vermittlungen in logischen Schlussformen einzusetzen muss nicht heißen, Unmittelbarkeit sei bloßer Schein. Nur auf diesem Wege droht kein Rückfall in vorkantischen Dogmatismus (der theoretischen Behauptung von nicht-sinnlichen Gegenständen) und kein Fehlgriff aufgrund nachkantischer empirischer Verhärtungen der Religionsausfassung (die Religion durch religionswissenschaftlich beschreibbare Funktionalität ersetzt).16 Peirce’ kategoriale Semiotik – wird sie nicht nur formalisiert, sondern im Sinne ihres philosophischen Gesamtanspruchs aufgenommen17 – liefert die gesuchte Perspektivität einer Denk- und Erfahrungsstruktur, in der die Unmittelbarkeit der (Selbst-)Wahrnehmung unverkürzt mit den vermittelnden Denkformen zusammen bestehen kann. Dazu kann ein infinit differenzierbares Kontinuum der Realität vorausgesetzt werden, in dessen Zeichenstruktur die qualitativ auftretende Möglichkeit ebenso konstitutiv ist wie gegenständliche Existenz und gesetzmäßige Zusammenhänge. Dann ist zum „Phänomen der Persönlichkeit“ zu sagen: „Persönlichkeit [personality]“ ist „eine gewisse Art der Koordination oder Verknüpfung von Ideen. […] Wenn wir indessen in Erwägung ziehen, dass dem von uns entworfenen Prinzip zufolge eine Verknüpfung von Ideen selbst eine allgemeine Idee ist und dass eine allgemeine Idee eine lebendige Empfindung [living feeling] ist, dann wird klar, dass wir im Verstehen der Persönlichkeit einen merklichen Schritt vorwärts gemacht haben. Diese Persönlichkeit ist wie eine allgemeine Idee nichts, was in einem Augenblick [instant] wahrzunehmen ist. Sie muss in der Zeit gelebt werden; freilich kann keine endliche Zeit sie in ihrer ganzen Fülle enthalten. Gleichwohl ist sie in jedem infinitesimalen Zeitintervall gegenwärtig und lebendig, wenn auch speziell gefärbt durch die unmittelbaren Empfindungen in diesem Augen16 Vgl. z. B. C. Schüle „Warum glaubt der Mensch? Hilft Religiosität über Vergänglichkeit hinweg? Macht sie gesünder? Und gibt es ein Gottes-Gen?“ in Geo, Heft 1, 2006, S. 16 – 50. 17 S.o. Anm. 8; vgl. K. Oehler C. S. Peirce, München 1993, Kap. II. 4.
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blick [moment]. Insofern sie in einem Augenblick [moment] wahrgenommen wird, ist die Persönlichkeit unmittelbares Selbstbewusstsein.“18
1) Die so beschriebene Unmittelbarkeit ist Selbstgefühl, ohne als Bruch mit der vermittelnden Reflexion aufgefasst werden zu müssen. Denn die Kontinuität der Ideen durchläuft das Selbst eines Menschen semiotisch strukturiert – ob aber unbewusst, bewusst oder selbstbewusst ist eine von diesen Prozessen und ihren jeweiligen Darstellungsformen abhängige Frage, die nicht mehr an erster Stelle steht. 2) Die so beschriebene Unmittelbarkeit ist in der Zeit, wenn sie auch als Zeitpunkt (instant) niemals vollständig erfasst werden kann; sie ist im Augenblick (moment) als Fülle der Zeit, das aber nur so, wie die Zeit ,infinitesimal‘ aus der bloßen Serie von Zeitpunkten ausbricht und als Ereigniszeit aufgefasst werden muss. Hier liegen Gefühlsqualität und Ermöglichung ineinander, das hatte Schleiermacher auf seine Weise als den ersten geheimnisvollen Augenblick19 bezeichnet. 3) Peirce hat an derselben Stelle die evolutionistischen, metaphysischen und religionsphilosophischen Implikationen von Semiotik und Pragmatismus ausdrücklich benannt: „Wachstum und Leben“ sind die universalen Bedingungen für die Ausbildung von Ideen, der Persönlichkeit – und der „Idee eines personalen Schöpfers“.20 Die auf das unmittelbare Selbstbewusstsein gegründete Religionstheorie hat einen neuen systematischen Denkzusammenhang gefunden.21
VI. Gegen diese Auslegung des unmittelbaren Selbstbewusstsein könnte der Einwand erhoben werden, sie verdanke sich einem nicht legitimierten Übergang von einem wahrnehmungstheoretischen und erkenntniskritischen Tatbestand auf ontologische bzw. kosmologische Spekulationen – bestenfalls Hypothesenbildungen: Aus dem Faktum, dass jedes Wahr18 C. S. Peirce „Das Gesetz des Geistes (1892)“ in Naturordnung und Zeichenprozess, hg. v. H. Pape, Frankfurt am Main 1991, S. 206; vgl. in The Essential Peirce, vol. 1, aaO., S. 331 (H. Pape übers. ,Augenblick‘ an der zweiten Stelle mit ,Moment‘). 19 S.o. Anm. 6. 20 Peirce „Das Gesetz des Geistes (1892)“, aaO., S. 207. – Zu Peirce’ Religionsphilosophie vgl. Peirce: Religionsphilosophische Schriften, aaO., bes. Teil III. 21 Zum genauer abgeleiteten religionsphilosophischen Kontext vgl. im vorliegenden Band Kap. B.11.
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nehmungsurteil auf Prämissen unmittelbarer Anschauung zurückgreifen müsse, dass insofern die Vermittlungsleistung im Urteil jeweils vergangene Unmittelbarkeit konstitutiv voraussetze, folge nicht ohne weiteres, dass der hier Unmittelbarkeit genannten Vorgabe auch die reale Potentialität für Ereignisse einschließlich Wahrnehmungsurteile zukomme. – Dass Peirce so nicht kritisiert werden kann, folgt schon daraus, dass er nicht mehr unter transzendentalphilosophischen Voraussetzungen operiert: Die Trennung der empirischen Verstandesbegriffe vom Vernunftbegriff muss vorweg gar nicht vollzogen werden, weil Denken ebenso wie Erkennen und Wahrnehmen immer zeichenvermittelt und gegenstandsbezogen strukturiert sind. Dann wird die Unmittelbarkeit des anschaulich Gegebenen zum konstitutiven Merkmal in allen Zeichenprozessen. Dass in Wahrnehmung und Denken Neues entdeckt und entworfen werden kann, ist allein durch die produktive Instanz zu erklären, die wir in verarbeitenden Zeichenvermittlungen jeweils wirksam voraussetzen – wie sollten sonst Wirklichkeit, Welt, Wahrheit und ihre Prozessualität überhaupt sein können? Zwischen den fachlichen Disziplinunterscheidungen von Wahrnehmungstheorie, Erkenntniskritik, Kosmologie, Ontologie, Metaphysik und Religionsphilosophie waltet also eine Strukturanalogie, in der jeweils Unmittelbarkeit und Vermittlung aufbauend und real wirksam miteinander im Spiel sind. Die Regeln dieses Spiels bestimmt die kategoriale Semiotik: 22 Eine lebensweltliche Phänomenologie der drei Kategorien (Erstheit, Zweitheit, Drittheit) kann wissenschaftlich durch die dreistellige Relationenlogik präzisiert werden, die als Zeichentheorie (Semiotik) universale Anwendung findet. Hinzu kommt, dass der hiermit verbundene Wissenschaftsbegriff nicht im neuzeitlichen Sinne nominalistisch, d. h. nicht auf die Auswertung von Einzeldaten in prognostischen Theorien unklarer Allgemeinbedeutung reduziert wird, sondern aufgrund der Erfahrungsbindung, logischen 22 Vgl. grundlegend K. Oehler „Einleitung“ in Aristoteles: Kategorien, Berlin 1984, S. 37 – 56; zur Ableitung der 10 Zeichentrichotomien des späten Peirce vgl. G. Linde Zeichen und Gewissheit. Semiotische Entfaltung eines protestantisch-theologischen Begriffs, Tübingen 2010, Kap. IV; zur logischen Basis des Relationsbegriffs bei Peirce vgl. A. N. Prior „Logic, History of / Peirce“ in The Encyclopedia of Philosophy, ed. by P. Edwards, vol. 3 (1972), S. 546 – 549; zu aktuellen wissenschaftstheoretischen Konsequenzen einer pragmatistischen Sicht von Wissenschaft und Religion vgl. W. J. Wildman „The Resilience of Religion in Secular Social Environments. A Pragmatic Philosophical Analysis“ in Scientific Explanation and Religious Belief, ed. by M. G. Parker und T. M. Schmidt, Tübingen 2005, S. 48 – 80.
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Kontrolle und Realitätserschließung von Allgemeinbegriffen universal, d. h. realistisch konzipiert wird.23 Metaphysik ist dann keine zu fürchtende antiquarische Disziplin der Philosophie mehr, sondern der Ort von Grundbegriffen im Blick auf Generalisierungen, ohne deren Realitätsstatus die Wirklichkeit gerade auch wissenschaftsmethodisch gar nicht erschließbar wäre. Was wahrnehmungstheoretisch als Unmittelbarkeit in jedem Wahrnehmungsurteil vorausgesetzt werden muss, was erkenntniskritisch gesehen als Unmittelbares selbst und als solches unbestimmbar bleibt, dasselbe ist in dieser Vorgängigkeit nicht nur konstitutiv für jeden sachlichen Gehalt, sondern zugleich auch als produktiv für alle Urteilsund Erkenntnisprozesse einzustufen. Wie könnte sonst überhaupt irgendetwas wahrgenommen oder erkannt werden? – So steht die Unmittelbarkeit zwar (nachträglich betrachtet) immer auch in Bedingungskontexten; für den Akt der Wahrnehmung, der Erkenntnis und des Denkens aber bleibt unter dem nicht zu tilgenden Aspekt der Vorgegebenheit das Unmittelbare ontologisch gesehen das Unbedingte, weil über seine Bedingungen im selben Akt nicht verfügt werden kann. Dieser unauslöschliche Charakter der produktiven Vorgegebenheit berechtigt kosmologisch zu der notwendigen Hypothese kreativer Potentialität (ex nihilo).24
VII. Um mit der phänomenalen Verflechtung von Unmittelbarkeit und Vermittlung noch einmal einzusetzen: Denken wir uns ein Bühnenbild und eine Theatergruppe, die für uns als Zuschauer Szenen eines bestimmtes Stückes spielt, daneben aber – am Rande der Szene oder als Unterbrechungen – zugleich auch Bühnenumbau, Regieelemente, Kostümwechsel etc. bewusst sehen lässt. Das Szenen- und Bühnenbild wird also in seiner Künstlichkeit zugleich dekuvriert und immer wieder neu herbeigeführt, die Unmittelbarkeit des Miterlebens wird durch die Vermittlung des Herstellungsprozesses kontrastiert – aber letztlich nicht zum Verschwinden gebracht. Es wird gespielt, aber im unmittelbaren Miterleben ist es ernst – auch dann, wenn gelacht wird! Die zugleich aufgedeckte Machart, das Wissen um die Fiktion wirkt als Unterbrechung der 23 Zu dieser Kritik am ,Nominalismus‘ vgl. H. Deuser Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004, Kap. I. 3. 24 Das ist der Grundgedanke der Kosmologie von R. C. Neville God the Creator, Albany 1992, chap. 3f.
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Unmittelbarkeit, eröffnet Distanz, doch diese Brechung der Zuschauerperspektive dementiert nicht die Ernsthaftigkeit unmittelbaren Sehens immer dann, wenn es wieder auftritt. So bleibt die Bühne der Schauplatz unmittelbarer Wahrnehmung auch dann, wenn dasselbe Stück wiederholt gezeigt wird, nur die Häufigkeit und jeweilige Konstellation unmittelbarer Wahrnehmung im Wechsel mit distanzierendem Wissen aufgrund von Vergleichsmöglichkeiten variieren. Der Bühnenblick illustriert, dass Wahrnehmungsunmittelbarkeit und Vermittlungsbewusstheit durchaus miteinander bestehen – und das gilt entsprechend für die Selbstwahrnehmung, ihre (unmittelbare) Gefühlsqualität. Das Selbst baut sich in komplexen Strukturen auf, zu denen auch die bewertende Reflexion gehört, die sich auf das Verhältnis zwischen dem unmittelbaren und dem vermittelnden Blick noch einmal beziehen kann. Dann werden die beiden vorausgehenden Blicke verarbeitet, es kommt zu einer Gesamtreaktion und Interpretation des Ereignisses, in das der unmittelbare Blick ebenso eingeht wie das Wissen um seine Vermittlung. Diese dritte Instanz kann im vorliegenden Beispiel auch verallgemeinert als Theorie des Theaters oder Theorie des Selbst(-Bewusstseins) ausgearbeitet werden, und als solche können diese dann der kommenden Erfahrung schon voraus liegen. Trotz dieser Interpretationsvorgabe aber wird weder auf die Wahrnehmungsunmittelbarkeit und Gefühlsqualität noch auf die Vermittlungsbewusstheit Verzicht geleistet werden. Die drei Elemente von Unmittelbarkeit, Vermittlungssituation und Interpretation sind auf allen Stufen unreduzierbar und ergeben zugleich die jeweils einheitliche Perspektive.
VIII. Im Detail wäre diese Analytik vielfach zu verfeinern: im Akt des Sehens, im Ereignis des Betrachtens, in den auswählenden Reflexionsformen, in der Selbstbezüglichkeit, in wechselnden Interpretationskontexten etc. Kategorial gesehen aber bleibt es bei einem jeweilig Ersten (der unmittelbaren Gefühlsqualität), einem jeweilig Zeiten (dem vermittelnden Auftreten einer Relation), einem jeweilig Dritten (dem Zusammenhang einer wirksamen Interpretation). Die in den drei Kategorien vorgestellte Relationalität ist in Zeichenstrukturen und Zeichenformen formulierbar. Denken wir uns ein Landschaftsgemälde eines expressionistischen Malers: Der unmittelbare Blick ist geradezu wehrlos dem ersten Eindruck ausgesetzt, einer Farbgebung, einem Detail, dem Gesamteindruck; und
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dieses erste Zeichenverhältnis hat die Kraft einer qualitativen Bildhaftigkeit. Unmittelbarkeit bedeutet hier: Prägung. – Auf den zweiten Blick mag die Landschaft, die Farbe, die Szenerie an etwas erinnern, wurde schon einmal gesehen; es bildet sich also einen Zusammenhang, der in seinem puren Verweischarakter besteht. Das Bild könnte einen Namen haben, zeigt Bestimmtes auch dann, wenn es nur aus Farben und Formen besteht. – Wird drittens der Gesamteindruck des Bildes nicht mehr allein im Sinne der unmittelbaren Qualität wahrgenommen, sondern diese mit dem Charakter des Verweisens zusammen vorgestellt, so kommt es zur spezifischen Vermittlungsleistung der Symbolisierung: Das Bild wird so verstanden, wie das, was im Bild gezeigt wird, durch das Bild selbst nahe gelegt wird.
IX. Dies alles gilt nun auch für das unmittelbare Selbstbewusstsein: Es ist unreduzierbar dreistellig (,Selbstbewusstsein‘), der Akzent liegt hier aber auf der Gefühlsqualität (,unmittelbar‘), die als solche gar nicht isoliert werden kann, also unzugänglich bleibt – es sei denn im ,infinitesimalen Zeitintervall‘ des spezifischen Augenblicks! 25 Was strukturell und allgemein gilt, hat sein Spezifikum deshalb in der Aufmerksamkeit der Religiosität auf diese Fülle der Zeit, von deren Gefühlsqualität ausgehend sich schöpferisch Welt, Leben und Gott darstellen und auslegen lassen. Die Unzugänglichkeit der Unmittelbarkeit als solcher wird dabei zum Aufbauelement aller Aktivitäten, die in der Unmittelbarkeit wiederum ihre reale Ermöglichungsbedingung voraussetzen – und religiös (in Bildern, Geschichten und Symbolen) so kultivieren, wie es einer schöpferischen Personalität zukommt. Ausgeschlossen ist dann allerdings, theoretisches Wissen für allein und immer vorrangig zu behandeln. Die Philosophie des Pragmatismus hat auf der Basis moderner Forschungspraxis und Wissenschaftseinstellung den rationalistisch und idealistisch begründeten Vorzug des Reflexionswissens korrigieren können. Denken und Handeln sind niemals ohne Gefühlsqualität und unmittelbares Selbstbewusstsein; das nicht einzuräumen führt zu einem Fehler: „es ist hauptsächlich eine Art Reflexion, durch die man sein Objekt gänzlich verliert, und zwar wenn man sich wie der Rabe anstellt, als er sein Objekt (den Käse) wegen der Beredsamkeit des Fuchses verlor. Er ist in dieser Hinsicht ein Bild für die 25 S.o. Anm. 18.
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idealistische Lehre, die als alles verloren war, nur sich selbst zurückbehielt.“26
26 S. Kierkegaard Journal DD:85 (1837) in SKS 17, 249 / DSKE 1, 215.
Abkürzungen Abkrzungen im Dnischen Pap.
Søren Kierkegaards Papirer, bd. I-XI,3, udg. af P. A. Heiberg, V. Kuhr og E. Torsting, Gyldendalske Boghandel, Nordisk Forlag, København 1909 – 48; Anden forøgede Udgave, bd. I-XI,3, ved N. Thulstrup, bd. XII-XIII (suplementsbind), udg. af N. Thulstrup, bd. XIV-XVI Index af N. J. Cappelørn, København: Gyldendal 1968 – 78. B&A Breve og Aktstykker vedrørende Søren Kierkegaard, udg. af Niels Thulstrup, bd. I-II, Munksgaard, København1953 – 54. SV1 Samlede Værker, udg. af A. B. Drachmann, J. L. Heiberg og H. O. Lange, bd. I-XIV, Gyldendalske Boghandels Forlag, København 1901 – 06. SKS Søren Kierkegaards Skrifter, udg. af Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Anne Mette Hansen og Johnny Kondrup, bd. 1 – 55 (bd. 1 – 13 + K1 – 13 og 17 – 26 + K17 – 26, 1997 – 2009), Søren Kierkegaard Forskningscenteret og G.E.C. Gads Forlag, København 1997-. AE BA BI CT DS DSS EE1 EE2 EOT F FB FV G GU
Afsluttende uvidenskabelig Efterskrift, SV1 VII; SKS 7 + K7. Begrebet Angest, SV1 IV; SKS 4 + K4. Om Begrebet Ironi, SV1 XIII; SKS 1 + K1. Christelige Taler, SV1 X; SKS 10 + K10. Dømmer Selv! SV1 XII. Dette skal siges; saa være det da sagt, SV1 XIV; SKS 13 + K13. Enten – Eller, Første Deel, SV1 I; SKS 2 + K2 – 3. Enten – Eller, Anden Deel, SV1 II; SKS 3 + K2 – 3. En opbyggelig Tale, SV1 XII; SKS 12 + K12. Forord, SV1 V; SKS 4 + K4. Frygt og Bæven, SV1 III; SKS 4 + K4. Om min Forfatter-Virksomhed, SV1 XIII; SKS 13 + K13. Gjentagelsen, SV1 III; SKS 4 + K4. Guds Uforanderlighed, SV1 XIV; SKS 13 + K13.
Abkürzungen
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HCD Hvad Christus dømmer om officiel Christendom, SV1 XIV; SKS 13 + K13. IC Indøvelse i Christendom, SV1 XII; SKS 12 + K12. KG Kjerlighedens Gjerninger, SV1 IX; SKS 9 + K9. KK „Krisen og en Krise i en Skuespillerindes Liv“, SV1 X; SKS 14 + K14. LA En literair Anmeldelse, SV1 VIII; SKS 8 + K8. LF Lilien paa Marken og Fuglen under Himlen, SV1 XI; SKS 11 + K11. LP Af en endnu Levendes Papirer, SV1 XIII; SKS 1 + K1. O Øieblikket 1 – 10, SV1 XIV; SKS 13 + K13. OTA Opbyggelige Taler i forskjellig Aand, SV1 VIII; SKS 8 + K8. PS Philosophiske Smuler, SV1 IV; SKS 4 + K4. SD Sygdommen til Døden, SV1 XI; SKS 11 + K11. SFV Synspunktet for min Forfatter-Virksomhed, SV1 XIII. SLV Stadier paa Livets Vei, SV1 VI; SKS 6 + K6. 2T43 To opbyggelige Taler 1843, SV1 III; SKS 5 + K5. 3T43 Tre opbyggelige Taler 1843, SV1 III; SKS 5 + K5. 4T43 Fire opbyggelige Taler 1843, SV1 IV; SKS 5 + K5. 2T44 To opbyggelige Taler 1844, SV1 IV; SKS 5 + K5 3T44 Tre opbyggelige Taler 1844, SV1 IV; SKS 5 + K5. 4T44 Fire opbyggelige Taler 1844, SV1 V; SKS 5 + K5. TAF To Taler ved Altergangen om Fredagen, SV1 XII; SKS 12 + K12. TS Til Selvprøvelse. Samtiden anbefalet, SV1 XII; SKS 13 + K13. TSA Tvende ethisk-religieuse Smaa-Afhandlinger, SV1 XI; SKS 11 + K11. TTL Tre Taler ved tænkte Leiligheder, SV1 V; SKS 5 + K5. YTS „Ypperstepræsten“ – „Tolderen“ – „Synderinden“, SV1 XI; SKS 11 + K11.
Abkrzungen im Deutschen DSKE Journale und Aufzeichnungen in Deutsche Søren Kierkegaard Edition, ed. by Heinrich Anz, Niels Jørgen Cappelørn, Hermann Deuser, Joachim Grage, Heiko Schulz, Walter de Gruyter, Berlin / New York 2005-. T 1 – 5 Die Tagebcher, übers. und hrsg. von Hayo Gerdes, Bd. 1 – 5, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf / Köln 1962 – 74. GW1 Gesammelte Werke, übers. und hrsg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans-Martin Junghans, 36 Abtlg. in 26 Bdn. und
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Abkürzungen
Registerbd., Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf / Köln 1950 – 69. A Der Augenblick, GW1 24. AUN Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, GW1 10 – 11. B Briefe, GW1 25. BA Der Begriff Angst, GW1 7. BI ber den Begriff der Ironie mit stndiger Rcksicht auf Sokrates, GW1 21. BA Das Buch ber Adler, GW1 26. CR Christlichen Reden 1848, GW1 15. CS Der Corsarenstreit, GW1 22. DRG Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845, GW1 8. EC Einbung im Christentum, GW1 18. EER Eine erbauliche Rede 1850, GW1 19. EO1 Entweder/Oder, 1. Teil, GW1 1. EO2 Entweder/Oder, 2. Teil, GW1 2. ERG Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 1847, GW1 13. ES Erstlingsschriften, GW1 20. FZ Furcht und Zittern, GW1 3. GU Gottes Unvernderlichkeit, GW1 24. GWS Der Gesichtspunkt fr meine Wirksamkeit als Schriftsteller, GW1 23. JC Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est, GW1 6. KA Kleine Aufstze 1842 – 51, GW1 22. KK Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin, GW1 16. KT Die Krankheit zum Tode, GW1 17. LA Eine literarische Anzeige, GW1 12. LF Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel, GW1 16. LP Aus eines noch Lebenden Papieren, GW1 20. LT Der Liebe Tun, GW1 14. PB Philosophische Brocken, GW1 6. 2R43 Zwei erbauliche Reden 1843, GW1 2. 3R43 Drei erbauliche Reden 1843, GW1 4. 4R43 Vier erbauliche Reden 1843, GW1 5. 2R44 Zwei erbauliche Reden 1844, GW1 5. 3R44 Drei erbauliche Reden 1844, GW1 5. 4R44 Vier erbauliche Reden 1844, GW1 8. RAF Zwei Reden beim Altargang am Freitag 1851, GW1 19. SLW Stadien auf des Lebens Weg, GW1 9.
Abkürzungen
SS US V W WCC WS ZKA ZS
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Die Schriften ber sich selbst, GW1 23. Urteilt selbst, GW1 19. Vorworte, GW1 7. Die Wiederholung, GW1 4. Wie Christus ber das amtliche Christentum urteilt, GW1 24. ber meine Wirksamkeit als Schriftsteller, GW1 23. Zwo kleine ethisch-religiçse Abhandlungen, GW1 16. Zur Selbstprfung der Gegenwart anbefohlen 1851, GW1 19.
Abkrzungen im Englischen KJN
JP
KW
AN BA C CA CD CI COR CUP1 CUP2 EO1 EO2 EPW
EUD
Søren Kierkegaard’s Journals and Notebooks, ed. by Niels Jørgen Cappelørn, David Kangas, Alastair Hannay, Bruce H. Kirmmse, George Pattison, Joel D. S. Rasmusen, Vanessa Rumble, K. Brian Söderquist, Princeton, NJ: Princeton University Press 2007-. Søren Kierkegaard’s Journals and Papers, ed. and trans. by Howard V. Hong and Edna H. Hong, assisted by Gregor Malantschuk, vol. 1 – 6, vol. 7 Index and Composite Collation, Bloomington and London: Indiana University Press 1967 – 78. Kierkegaard’s Writings, trans. by Howard V. Hong and Edna H. Hong, vol. I-XXVI, Princeton: Princeton University Press 1978 – 98. Armed Neutrality, KW XXII. The Book on Adler, KW XXIV. The Crisis and a Crisis in the Life of an Actress, KW XVII. The Concept of Anxiety, trans. by Reidar Thomte in collaboration with Albert B. Anderson, KW VIII. Christian Discourses, KW XVII. The Concept of Irony, KW II. The Corsair Affair; Articles Related to the Writings, KW XIII. Concluding Unscientific Postscript, KW XII,1. Concluding Unscientific Postscript, KW XII,2. Either/Or, Part I, KW III. Either/Or, Part II, KW IV. Early Polemical Writings: From the Papers of One Still Living; Articles from Student Days; The Battle Between the Old and the New SoapCellars, trans. by Julia Watkin, KW I. Eighteen Upbuilding Discourses, KW V.
668 FSE FT JC JFY LD P PC PF PV R SBL SL SUD TA TD UD WA
WL
Abkürzungen
For Self-Examination, KW XXI. Fear and Trembling, KW VI. Johannes Climacus, or De omnibus dubitandum est, KW VII. Judge for Yourselves, KW XXI. Letters and Documents, trans. by Hendrik Rosenmeier, KW XXV. Prefaces / Writing Sampler, trans. by Todd W. Nichol, KW IX. Practice in Christianity, KW XX. Philosophical Fragments, KW VII. The Point of View including On My Work as an Author and The Point of View for My Work as an Author, KW XXII. Repetition, KW VI. Notes of Schelling’s Berlin Lectures, KW II. Stages on Life’s Way, KW XI. The Sickness unto Death, KW XIX. Two Ages: The Age of Revolution and the Present Age. A Literary Review, KW XIV. Three Discourses on Imagined Occasions, KW X. Upbuilding Discourses in Various Spirits, KW XV. Without Authority including The Lily in the Field and the Bird of the Air, Two Ethical-Religious Essays, Three Discourses at the Communion on Fridays, An Upbuilding Discourse, Two Discourses at the Communion on Fridays, KW XVIII. Works of Love, KW XVI.
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Nachweise der Erstveröffentlichungen
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13. „Gottes Poesie oder Anschauung des Unbedingten? Semiotische Religionstheorie bei C. S. Peirce und P. Tillich“ in Internationales Jahrbuch fr die Tillich-Forschung, Bd. 2 (2006): Das Symbol als Sprache der Religion, hg. v. Chr. Danz, W. Schüßler und E. Sturm, Wien / Berlin 2007, S. 117 – 134. 14. „Religion und Evolution“ in Gegenwart des lebendigen Christus, hg. v. G. Thomas und A. Schüle, Leipzig 2007, S. 271 – 295. 15. „Unmittelbares Selbstbewusstsein – semiotische und pragmatistische Überlegungen zu einem (fast) unzugänglichen Begriff“ in Pragmata. FS fr Klaus Oehler zum 80. Geburtstag, hg. v. K.-M. Hingst und M. Liatsi, Tübingen 2008, S. 121 – 129.
Namensregister Von Marc Zivojinovic Abaelard, P. 347, 410 Abraham 28, 46, 50 f., 53, 62, 64 – 66, 68, 71 f., 92, 96 f., 271 – 289, 340 – 342, 355, 364 – 369, 371 – 374, 376 f. Achtner, W. 555 f., 562, 650 Adler, A.P. 6,9 Adonis 370 Adorno, T.W. 4, 6, 14 – 16, 19, 21, 35 f., 58, 112, 119 f., 348 f., 357 f., 377 f. Adson von Melk 410, 424 Alexander 83 f. Allen, W. 274, 285 Althaus, P. 299, 311 – 313, 316 Altner, G. 294, 637 Anderson, D.R. 531 Anselm von Canterbury 334 – 335, 339 Anti-Climacus 8, 11, 15, 26, 30 f., 54, 74 – 76, 96, 101, 119, 136, 144, 146, 250 Anz, W. 227 Aristoteles 92, 152, 391, 412, 432, 555, 605 f., 630, 633, 659 Arnim, A. von 191 Asmussen, H. 307 Auchter, T. 295 Augustin 189, 261, 304, 307, 309, 311 f., 446 – 448, 456, 570 – 573, 576, 591 Baader, F.X. von 43 Babinet, J. 529 Bachofen, J.J. 358 Bahr, H.-E. 354 Barfod, H.P. 178, 180 Barrow, J.D. 631, 634, 638, 643, 650
Barth, K. 3 f., 28 f., 69, 307, 309 f., 313, 334 – 337, 346 f., 494, 589 Barth, R. 652 Barth, U. 212, 638 Barthes, R. 471 Baudelaire, C. 35 Bausch, P. 350 Becher, F.-T. 627 Benjamin, W. 348 – 351 Berger, W.R. 356 Bertholet, A. 471 Beutelspacher, A. 555, 561 – 563 Beyrich, T. 274, 283 f., 286, 288 Biehl, P. 480 Biel, G. 447 Bloch, E. 38 f., 249, 294, 589 Blumenberg, H. 364, 373, 629 f. Bochenski, J.M. 476 Boecker, H.J. 359 Boff, L. 480 Böll, H. 59 Bonhoeffer, D. 381 Bonwetsch, N. 309 Bormann, C. von 476 Bornkamm, G. 343 Bornkamm, H. 629 f. Borsche, T. 209 Bouwsma, O.K. 71 Brandenburger, E. 316 f., 319 Brandt, R. 654 Braun, H. 317 Breasted, J.H. 376 Bredekamp, H. 643 Brentano, C. 191 Browarzik, U. 477, 497 Brück, M. von 502 Brunner, E. 307 Bruun, S.K. 160, 179, 181 Buber, M. 322, 492
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Namensregister
Büchsel, F. 346 Buedeler, W. 632 Bultmann, R. 69, 310, 312 – 315, 338, 344, 362, 481, 551 Buñuel, L. 395 Burch, R.W. 592 Byung-Mu, A. 480 Calvin, J. 456 Cancik, H. 469 Cantor, G. 553, 555 – 558, 561 f., 567, 572 f., 649 Cappelørn, N.J. 181, 200, 222, 254, 259, 264, 267, 584 Carlisle, E.F. 503 Cassirer, E. 378, 534, 610 Chaitin, G.J. 555 Chari, V.K. 503 Chierichetti, S. 630 Clayton, P. 557 Clifford, W.K. 517 Cohen, H. 655 Colapietro, V.M. 417, 566, 568 f. Conzelmann, H. 308 f. Courth, F. 296 Creuzer, F. 471 Crombie, I.M. 482 Cruciger, K. 629 Cryer, F. 360 Dacqué, E. 358 Dahm, K.-W. 381, 387, 405 Dahnelt, R. 638 Dalferth, I.U. 206, 213, 268 f., 324, 361, 471, 476 – 478, 482, 492, 494, 553, 561 Dali, S. 644, 647 Danz, C. 607 – 609, 613, 616 – 618 f. Darwin, C. 633 – 637, 639 – 645 De Waal, F. 647 Deacon, T.W. 650 f. Dean, W. 522 Deku, H. 399 Dennett, D.C. 640, 650 Derrida, J. 271, 274, 277 f., 280 – 283, 287 f. Descartes, R. 215 f., 218, 652 Detel, W. 639, 648
Dewey, J. 506, 522 Diem, H. 69 Dierks, M. 356, 358, 365, 367, 376 Dierse, U. 616 Dietz, W. 203, 274 Dilthey, W. 640 Dinkler, E. 551 Dionysos 370, 385 Dittmer, J.M. 214, 554 Dokka, T.S. 417 Don Juan 28, 47 f., 197 Donner, H. 359 – 361 Dostojewski, F.M. 3 Douglas, M. 470 Drouzy, M. 295 Dunn, J.D. 307 Ebeling, G. 296 – 298, 301, 318, 458, 474, 476 f. Echnaton 376 Eckhart (Meister Eckhart) 370 Eco, U. 410 – 412, 414, 417, 419 Eichholz, G. 308, 310, 313 f., 316 Eigen, M. 638 Eliezer 272, 282, 366, 369 f. Ellwein, E. 309 Emerson, R.W. 514 Erasmus von Rotterdam 298, 300 – 303, 305 f., 309 – 311, 320 Erikson, E. 319 Eucken, R. 498 Euklid 241, 557 Eutyphro 273 Evers, D. 562, 642, 650 Fabian, R. 61 Fahrenbach, H. 47, 49, 107 Failing, W.E. 524 Faust 46, 178, 182, 184, 187, 196 f. Ferm, D.W. 520 Feuerbach, L. 26, 128, 367 Feuersenger, E. 179 Fichte, J.G. 41, 186, 242, 652, 655 Findeis, H.-J. 337 – 340, 343 f. Fischer, H. 294 Fitzgerald, J.J. 489, 491 f., 494 Flammarion, C. 632 Frater Taciturnus 46
Namensregister
Frazer, J.G. 471 Freud, S. 319, 356, 358, 484 Frost, U. 211 Fuchs, E. 315, 476 Funke, G. 527 Gadamer, H.-G. 296, 474 Galilei, G. 628, 633 Garff, J. 179, 181 Gauß, C.F. 555 Gerdes, H. 54, 70, 82, 109, 216 Gerhardt, V. 203, 212, 559 f. Gerhart, M. 554 Gladigow, B. 469 Glöckner, D. 184, 206, 274 Gödel, K. 553, 561 – 564, 642, 650 Goethe, J.W. von 29, 360 f. Gräb-Schmidt, E. 640, 649 f. Gray, J. 647 Green, R.M. 274, 286 Greschat, M. 467 Greve, W. 107 Grøn, A. 160, 587 Grünewald, M. 554 Gunkel, H. 361 Gutbrod, W. 317 Güttgemann, E. 481 Haacker, K. 307, 317 Habermas, J. 205 f., 229 f., 244, 281, 405, 550, 552 Haeckel, E. 634 Haecker, T. 179 Hales, A. von 447 Hamann, J.G. 43, 51, 210 Hampe, M. 643 Hannay, A. 68 f., 112, 121 f., 578, 581 Harbsmeier, E. 159 Härle, W. 106, 137, 197, 203 f., 270, 459, 492, 647 Harnisch, W. 480 Hartshorne, C. 493 Hauser, M.D. 647 Hausman, C.R. 490 f., 493 Hawking, S. 633 Hedman, B.H. 555 – 558, 561 f., 573 Hegel, G.W.F. 6, 28 f., 40 f., 43 – 46, 62, 68, 91, 96 – 99, 127, 132, 134,
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216 – 218, 242, 288, 334 f., 339, 347, 428, 474, 483, 496, 498, 524, 546, 548, 552 – 554, 602, 652 Heidegger, M. 238, 525, 547 Heimbrock, H.-G. 524 Held, K. 384, 525 Hempel, J. 372 f. Hennigfeld, J. 214, 604 f. Henrich, D. 407 f. Herder, J.G. 210 Herms, E. 106, 211, 213, 407 – 409, 458 f., 478, 492, 515, 519, 525, 573, 652 – 654 Heuser, C. 338 Hilarius Buchbinder 46 Hiob 369 f. Hirsch, E. 48, 70, 81, 102, 160, 171, 222, 236, 453 Høffding, H. 506 Hollenweger, W.J. 480 Holmer, P.L. 477 Hommel, H. 317 Honecker, M. 439 Horneman, J.W. 182 Hubbeling, H.G. 70 Hübner, K. 378 Hügli, A. 44, 49 f., 81 Hühn, L. 652 Hume, D. 527, 652 Hüni, H. 525 Husserl, E. 384, 525, 547 Illies, C. 634, 636, 647 Irenäus 307 Isaak 62, 92, 272 – 286, 288, 340, 366, 368 Iwand, H.J. 302 Jacobi, F.H. 652 Jacobi, K. 392 Jahwe 341, 629 Jakob 289, 341, 367 – 372, 377 James, W. 73, 78, 87 f., 484, 489, 498 – 522, 566, 591, 641 f., 647 Janke, W. 64, 240, 425 f. Janssens, P. 338 Jaspers, K. 387 Jehova 284
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Namensregister
Jens, W. 365 Jeremias, A. 358, 365, 376 Jerusalem, W. 498, 513 Jetter, W. 470 Joas, H. 638, 640 Joest, W. 297 f., 306, 313, 318, 321, 449 Johannes (Evangelist) 25, 83 Johannes Climacus 4, 14, 15, 16, 26, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 38, 46, 54, 55, 70, 74, 76, 79, 92, 96, 104, 107, 119, 129, 133, 137 f., 183, 185, 201 f., 206, 214, 218 f., 226, 246, 249, 259, 263, 266, 268 Johannes de silentio 46, 62, 64 f., 68, 271, 275 f., 280, 283, 289, 340 Jonas, H. 312, 315 Jorge von Burgos 411 Joseph 289, 341 f., 352 – 379 Josua 629 Jüngel, E. 269, 294 f., 301, 399, 476 Kaempfert, M. 478 Kain 280 Kaiser, O. 273 Kant, I. 3, 121 – 123, 127, 189, 191, 205, 209 – 212, 273 – 276, 278, 325 f., 347, 426, 439, 442, 451 f., 462, 498, 515, 527 f., 539, 547, 557 – 561, 564, 586, 599, 609, 633 f., 653 – 657 Kantzenbach, F.W. 354 Käsemann, E. 307 f., 310 – 317, 319, 338 Kasprzik, W. 409 Kattenbusch, F. 485 Kemper, K.F. 481 Kerényi, K. 353, 367, 375, 471 Kertelge, K. 309 Ketner, K.L. 432 f., 533, 555 f., 566 Kierkegaard, S. Sektion A: 3 – 290, Sektion B: 305, 339 – 340, 342, 346, 351, 366, 396, 408, 412, 414, 426 – 431, 433 f., 437, 446, 453, 463 – 465, 475, 506, 508, 523, 549 f., 571, 574, 577 – 584, 586 – 589, 606, 613, 663 Kirmmse, B.H. 100, 112, 120 f.
Klose, J. 586 Knappe, U. 274 Knöbl, W. 638, 640 Knudsen, J. 179, 181, 222 Kodalle, K.-M. 120, 178, 405, 580 Kohl, K.-H. 469 Kohlbrügge, H.F. 313 Kohlenbach, U. 562 Kolakowski, L. 274, 285, 468 Kondrup, J. 179 Kopernikus, N. 628 – 630, 635 Korsch, D. 212, 652 Kratylos 209, 604 Kraus, H.-J. 365 Krech, V. 573 Kretzmann, N. 273 Kreuzer, J. 570 – 572 Kreye, A. 650 Kronecker, L. 555 Kropacˇ, U. 555 f., 561, 563 Krüger, M.D. 638 Kuhlen, R. 616 Kühn, U. 445, 456, 458 Kümmel, W.G. 306, 308 – 313 Kurzke, H. 356, 362 Kuschel, K.J. 354 Kuß, O. 307, 312 Kutschera, U. 626 Ladrière, J. 479 Langer, S.K. 473 Latomus 296, 298 – 301, 309, 319 Latzel, T. 553 Leach, E. 481 Lehnert, H. 356, 371, 373, 376 Leibniz, G.W. 152, 513, 556 Lessing, G.E. 62 f., 68, 127, 171 f., 176, 268, 357 Lévi-Strauss, C. 470 f. Levinas, E. 283, 288 Lincoln, U. 160, 166, 206 Linde, G. 199, 271, 567, 593 f., 599 f., 604, 619, 650, 659 Lindinger, M. 643 Löbbert, R. 626 Lowe, V. 495 Lowe-Porter, H.T. 290 Lübcke, P. 92, 106
Namensregister
Lucas, J.R. 564 Luhmann, N. 275, 288 f., 380 – 384, 386 – 409, 473, 573 – 577, 579, 638, 640 Lukàcs, G. 354 Lund, P.W. 181 f. Luther, M. 22, 27, 72, 82, 131, 162, 174, 199 – 201, 203 f., 206 – 208, 232, 264, 288, 293, 295 – 307, 309 – 314, 316, 318 – 321, 325 – 329, 331, 333, 370 f., 440 f., 445 f., 448 – 450, 454 – 460, 462, 465, 492, 628 – 630 Lyotard, J.-F. 158 Mach, E. 498 MacKay, D.M. 482, 497 Mackey, L. 70 Malantschuk, G. 43 – 45, 112, 119 Malthus, T. 636 f., 645 Mann, T. 289 f., 339 – 341, 352 – 379 Marc Aurel 571 Marin, L. 481 Marquardt, O. 542 f. Martensen, H.L. 20, 216, 218 Marti, K. 354 Martin, G.M. 480 Martin, J.A. 479 Marx, K. 4, 128 Maturana, H.R. 638 Mayer, H. 361, 376 McSorley, H.J. 297 – 300, 302, 304 McTaggart, J. 602 Meier-Oeser, S. 605 Melanchthon, P. 629 f. Menand, L. 642, 645 Menne, A. 590 Mereschkowski, D. 358, 373 Michel, O. 317 Mieth, D. 353 – 356, 364 – 368, 370 – 377 Miller, A.V. 132 Milligan, C.S. 503 Miskotte, H.H. 589 Møller, P.M. 43 Mohr, H. 470, 530 Molbech, C. 29, 191
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Moltmann, J. 38, 293, 295, 346, 351, 399, 588 – 590, 597, 601 – 603, 632 Monrad, O.P. 112 Mooney, E.F. 68 Moore, A.W. 555 – 557, 561 – 564 Moser, T. 339, 398 Mostert, W. 296 Moxter, M. 575, 610, 614, 622, 624 Mozart, W.A. 47 f. Müller, B. 112 Müller, H.M. 296, 318 Munch, E. 475 Münzer, T. 39 Murphey, M.G. 422 Musil, R. 149, 158 Mutschler, H.D. 638 Mynster, J.P. 15, 20, 22, 35 Nagel, E. 557, 561 f., 563 Napoleon 84 Nase, E. 484 Nethöfel, W. 481 Neville, R.C. 137, 158, 177, 205, 286, 524, 527, 534 – 539, 541 – 545, 547 f., 551, 568, 660 Newman, J.R. 557, 561 – 563 Newton, I. 241, 557, 628, 633 f., 636 Nicolai, F. 450 f. Nientied, M. 274, 282 Nietzsche, F. 355 f., 484 f., 507 Nikodemus 25 – 27, 31 Nilsson, K.O. 301 Noah 626 f., 632 Nordentoft, K. 100 Nygren, A. 307, 310, 313 Nymann Eriksen, N. 160 Obermann, H.A. 303 Ochs, M. 492 Ockham, W. von 447 Oehler, K. 432, 655, 657, 659 Olesen, M. 254, 256 Olesen, T.A. 188, 191, 254 Orange, D.M. 490 Origenes 298, 307, 309 Ørsted, H.C. 182 Osiander, A. 629 f.
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Namensregister
Osiris 370, 373 Osten-Sacken, P. van der 316 Ostwald, W. 498 Overbeck, F. 3 Ovid 317 Paetzold, H. 534 Pannenberg, W. 293, 360 – 362, 409, 456, 629 Pape, H. 323 f., 406, 414, 416, 421, 430 – 433, 489, 525, 532, 555, 565, 567, 570, 591 – 593, 596, 600, 648, 658 Parsons, T. 393 Pascal, B. 67 Patocˇka, J. 277 Paulus 3, 27, 163, 171, 173, 295, 299 f., 306 – 321, 331, 334, 337, 344, 647 Pearson, K. 442 Peirce, B. 644 Peirce, C.S. 99, 110, 125, 149, 156 f., 219 – 221, 227, 323 – 325, 329, 331 – 333, 345, 348, 406 f., 412 – 417, 419 – 423, 430 – 433, 435 – 437, 441 – 443, 465, 468 f., 487 – 496, 514 – 507, 520, 525 f., 529 – 534, 537 – 539, 543 f., 546 – 548, 553 – 556, 558, 561, 565 – 570, 591 – 595, 597 – 600, 604 f., 608, 619, 621 – 625, 635 f., 641 – 649, 654, 657 – 659 Pelagius 189, 312, 446 Percy, W. 410 Perry, R.B. 509 Pesch, O.H. 328 f., 331, 333, 345, 456 – 458 Peters, A. 328, 364 Philo von Alexandrien 317 Pieper, A. 439 Pihlström, S. 547 Plantinga, A. 497 Platon 3, 209, 231, 288, 537, 604 Poe, E.A. 35 Polkinghorne, J. 269 f., 626 Pollack, D. 386 Portmann, A. 530 Poser, H. 150, 361, 505
Posselt, G. 200 Prigogine, I. 638, 648 Prior, A.N. 594, 659 Purkarthofer, R. 250, 252 Putiphar 370 Putnam, H. 103, 555 f., 566 Rad, G. von 274, 359 – 362, 365, 373 Ramakrishna 502 Rammerstorfer, M. 628 Ramsey, I.T. 479, 482 Raposa, M.L. 490, 493, 527, 532 f., 567 f. Ratschow, C.H. 344, 403, 467, 470 – 473 Reichel-Doltmatoff, G. 471 Reinhardt, W. 647 Reinhold, E. 629 Rendtorff, T. 405 Rheinwald, R. 562, 564 Rheticus, J. 629 Ricœur, P. 588 Riedl, R. 637 Ritschl, A. 347 Ritter, H. 637 Robin, R.S. 415, 493, 495 Rohde, B. 200 Rohde, K. 527 Rohls, J. 107, 439, 456 Rorty, R. 501, 520 f. Rosenau, H. 274 Rosenzweig, F. 492, 632 Rücker, H. 480 Russel, A.M. 554 Russel, F.C. 443 Salomon 139 Sarah 272, 281 f., 286, 288 Sartre, J.P. 240 Sauter, G. 294 Schäfer, K. 464 Scharfenberg, J. 484 Scheibe, E. 150 Schelling, F.W.J. 188, 190 f., 242, 274, 496, 616, 638 Schillebeeckx, E. 473 Schiwy, G. 480
Namensregister
Schleiermacher, F.D.E. 98 f., 127, 133 f., 135 f., 178, 181, 186 f., 190, 203, 209 – 217, 227 f., 268, 346 – 348, 350, 396, 446, 452, 474 f., 515, 517, 554, 653 f., 658 Schmidt, L. 359 Schmidt, W.H. 631 Scholder, K. 629 Scholz, O.R. 605 Schönrich, G. 525 Schopenhauer, A. 203, 355, 507 Schott, E. 298 Schouw, J.F. 182 Schramm, T. 370 Schrödter, H. 477 Schröer, H. 200 Schüle, C. 657 Schulz, H. 152 – 154, 163, 273 f., 580, 583, 604, 640, 650 Schulz, L. 423, 430 Schunack, G. 315 Schwägerl, C. 626 Schwöbel, C. 524 Scotus, J.D. 435 Sebaldus 450 f., 463 Seel, G. 558 Short, T.L. 593, 595, 599 Sibbern, F.C. 43 Siebeck, H. 635 Sinding-Larsen, S. 480 Singer, W. 229 Sløk, J. 361 Smith, E.W. 317 Smith, J.E. 521 f. Sokrates 6, 28, 41, 51, 59, 232, 395, 604 Sölle, D. 354, 359, 398 Spee, F. von 338 Spinoza, B. 14, 429 Steck, O.H. 340, 359 Stegmüller, W. 638 Steinbach, E. 354 Stendahl, K. 307, 313 Stenger, I. 638 Stewart, J. 133, 216, 218, 271 Stock, A. 479 Stock, K. 402 Stolz, F. 469, 472
681
Stoodt, D. 381, 387, 405 Swedenborg, E. 210, 514 Szabó, Á. 241 Tammuz 370, 373 Taylor, C. 517 f. Teichert, D. 560 Teilhard de Chardin, P. 345 Tembrock, G. 530 Tertullian 61, 309 Thaidigsmann, E. 348 Thatcher, A. 487, 602, 616 f. Theunissen, M. 149, 169, 238, 581 Thomas, G. 573 Thomas von Aquin 273, 328, 447, 457, 527, 633 Thulstrup, N. 183 Tillich, P. 240, 244, 354, 454, 472 f., 485 – 488, 533 – 536, 596, 602, 604 – 625 Tocqueville, A. de 35 Track, J. 477, 491 Troeltsch, E. 163, 357 Turner, V. 386, 470 Ullrich, C. 530 Urech, E. 480 Van Huyssteen, J.W. 650 Van Seters, J. 360 Vigilius Haufniensis 101, 134 Viktor Eremita 42 Vivekananda, S. 502 Voland, E. 649 Volp, R. 475 Voss, J. 643 Waaler, A. 152 f. Waardenburg, J. 469, 524 Wagner, F. 388, 405, 409, 638 Wagner, R. 356, 370 Waldenfels, B. 525 Wallace, A.R. 634 Wang, H. 563 Weber, B. 632 Weber, M. 373 Weber, O. 295, 313 Weber, T. 637
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Namensregister
Weizsäcker, C.F. 318 f., 630, 634 Welker, M. 264, 269 f., 390, 405, 626, 631 Wenz, G. 487 Wernle, P. 313 Westermann, C. 352, 359 – 361, 631 Whitehead, A.N. 345, 374 f., 489 f., 493, 495, 521, 537 Whitman, W.W. 502 – 504 Wichelhaus, M. 479 Wildman, W.J. 659 Wilhelm (Gerichtsrat) 46, 107, 126 Wilkens, U. 395 William von Baskerville 410 f., 416 Williams, B. 434, 497
Windisch, H. 339 Wittgenstein, L. 40, 67, 71, 274, 434, 477, 497 Wohlfart, G. 483 Wolff, K. 627 Wuketits, F.M. 530, 635 – 639 Wundt, W. 484 f. Wyhe, J. van 637 Young, E. 172 Zahlten, J. 630 Zeffirelli, F. 25 Zink, J. 476 Zuesse, E.M. 470