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German Pages [177] Year 2014
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Christian Kummer (Hg.) Was ist Naturphilosophie und was kann sie leisten?
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Über dieses Buch: Naturphilosophie ist wieder aktuell. Freilich nicht im Sinn einer Rückkehr zu den naturphilosophischen Spekulationen der Romantik. Wohl aber als Eingeständnis der Kurzsichtigkeit des logischen Empirismus, der gültige Aussagen über die Natur nur den Naturwissenschaften vorbehalten wollte. Demgegenüber verlangen sowohl die wissenschaftliche Methodik als auch die damit gewonnenen Ergebnisse eine eigene Reflexion auf metatheoretischer Ebene. Darüber hinaus sind naturwissenschaftliche Forschungsprojekte in der Regel (und häufig stillschweigend) von ontologischen Voraussetzungen und Vorannahmen bestimmt, deren Benennung und Erörterung eine eigene Disziplin erfordert. Und schließlich ist auch der Naturbegriff selbst alles andere als eindeutig und bedarf einer mehr als nur sprachanalytischen Aufarbeitung. Die Hochschule für Philosophie, München bot im Sommer 2007 einer Reihe von Philosophen aus dem deutschen Sprachraum Gelegenheit, ihre Ansichten zu diesem Themenkomplex zu präsentieren. Der Herausgeber: Prof. Dr. phil. Christian Kummer SJ, Eintritt in den Jesuitenorden 1964, Phil.-theol. Grundstudium in Pullach und Frankfurt a. M.; Studium der Biologie in München; Promotion und Habilitation an der Hochschule für Philosophie, München. Dort Professor für Naturphilosophie und Leiter des Instituts für naturwissenschaftliche Grenzfragen zur Philosophie und Theologie; Mitglied der Kommission der Bayerischen Staatsregierung für ethische Fragen in den Biowissenschaften.
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Christian Kummer (Hg.)
Was ist Naturphilosophie und was kann sie leisten?
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Gedruckt mit Unterstützung der Crocallis-Stiftung und der Local Societies Initiative des Metanexus Institute
Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-495-48323-7
(Print)
ISBN 978-3-495-86030-4 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860304 © Ver
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung: Naturphilosophie im Curriculum der Hochschule für Philosophie München Harald Lesch
Zur Konzeption der Philosophie der Physik an der Hochschule für Philosophie München . . . . . . . . . . . . .
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Johannes Seidel
Zur Konzeption der Philosophie der Biologie an der Hochschule für Philosophie München . . . . . . . . . . . . .
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Beiträge Holger Lyre
Ist theoretische Naturphilosophie normativ? . . . . . . . . .
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Kristian Köchy
Naturphilosophie ist mehr als angewandte Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Drieschner
Naturphilosophie und Naturwissenschaft . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Hans-Dieter Mutschler
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Naturphilosophie – Konstitution und Abgrenzung . . . . . .
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Zur Metaphysik der Natur Bernulf Kanitscheider
Klaus Mainzer
Naturphilosophische Forschungsperspektiven der modernen Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Christoph Rehmann-Sutter
Lebewesen als Spären der Aktivität – Thesen zur Interpretation der molekularen Genetik in einer praxisorientierten Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . 127 Gregor Schiemann
Naturphilosophie als Arbeit am Naturbegriff . . . . . . . . . 151 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
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Vorwort des Herausgebers
Dieser Band ist das Ergebnis einer Fachtagung, welche die Autoren am 23. Juni 2007 in München an der Hochschule für Philosophie zusammenführte. An dieser Hochschule wird – wohl einmalig in Deutschland – Naturphilosophie seit jeher als eigenes Hauptfach gelehrt. Kein Student kommt hier während seines Grundstudiums daran vorbei, je ein Semester lang ein zweistündiges Kolleg in »Anorganischer« und »Organischer Naturphilosophie« zu absolvieren. Für viele Studienanfänger geschieht das nicht ohne Stöhnen, haben sie doch nicht erwartet, nach ihrem – lang genug ersehnten – Eintauchen in die freie Welt des Geistes gleich wieder mit ungeliebtem naturwissenschaftlichem Faktenwissen konfrontiert zu sein. Nun schadet es wohl keinem angehenden Philosophen, von Naturwissenschaften einen gewissen Begriff zu haben. Dasselbe ließe sich aber von jeder anderen Einzelwissenschaft genauso sagen und wären somit für eine Rechtfertigung der Naturphilosophie im Lehrplan zu wenig. Der eigentliche Grund liegt, zumindest historisch, tiefer. Die Hochschule für Philosophie ist aus einer Studienanstalt der Jesuiten für die philosophische Ausbildung ihres Ordensnachwuchses hervorgegangen, dem Berchmanskolleg in Pullach/Isartal. 1 Und hier war natürlich der neuscholastische Fächerkanon, der auf dem System Christian Wolffs basierte, die übliche Vorgabe: Erkenntnistheorie und Metaphysik, Anthropologie und Naturphilosophie, Ethik und Natürliche Gotteserkenntnis hießen die drei Stockwerke des Ausbildungsgebäudes. Man hat dieses System oft als antiquiert belächelt, innerhalb des Ordens mehr als außerhalb, wobei es an den Marxismus-Leninismus-Kaderschulen der ehemaligen DDR besser bekannt (und gefürchtet) war als im Westen der Bundesrepublik. Es hat aber die Übersiedlung nach München im Jahr 1971, die aus dem Vgl.: Oswald, J. (Hg.), Schule des Denkens: 75 Jahre Philosophische Fakultät der Jesuiten in Pullach und München. Stuttgart/Berlin/Köln 2000.
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Vorwort des Herausgebers
Ordenskolleg eine öffentliche »Hochschule für Philosophie« machte, ohne Schaden überdauert. Zwar haben sich die Inhalte der Fächer deutlich geändert, und von scholastischer Philosophie ist wenig mehr zu finden, aber das System als solches ist geblieben. Es hat sich als übersichtliche inhaltliche Einführung in das Gesamtgebiet der Philosophie für Studienanfänger aller Fachrichtungen bewährt. Und es ist damit zum unterscheidenden Kennzeichen »unserer« (wie ich mit dem Stolz des Dazugehörenden sagen darf) Hochschule in der ganzen philosophischen Landschaft geworden. »Um systematisch Philosophie zu lernen – geh zu den Jesuiten; um selber Philosoph zu werden – verlass sie wieder«, ist zu einem geflügelten Wort unter Münchner Studenten geworden. Nicht alle Kollegen können darüber schmunzeln. Was sich in dieser Systematik als weiterer Vorteil herausgestellt hat, ist ihre Bezogenheit zu vielen Einzelwissenschaften. Philosophie geschieht hier nicht nur im elfenbeinernen Turm einer Selbstreflexion des Geistes, sondern in der Auseinandersetzung mit dem, was »die Wissenschaften« über den Menschen, die Welt und die Natur zu sagen haben. Das bedeutet eine prinzipielle Offenheit für Biologie, Physik, Psychologie, Sozialwissenschaften u. a. m., und diese Aufgeschlossenheit beeinflusst auch die Themenstellung der entsprechenden philosophischen Disziplin. Das zeigt die Naturphilosophie besonders deutlich. Der letzte lateinische »Kodex« in diesem Fach, der im Pullacher Berchmanskolleg Verwendung fand, die »Philosophia naturalis in usum scholarum auctore Carolo Frank S.J., editio altera emendata« (Freiburg 1947) handelt noch in klassischem Aufbau zunächst die »allgemeinen Eigenschaften der Naturkörper« ab: Quantität, Raum und Zeit, dann ihre Aktivität in den Kategorien von Kausalität und Finalität, um anschließend auf die »Wesensunterschiede« von Pflanze, Tier und Mensch überzugehen und das Ganze mit einer ausführlicheren Beweisführung für die Annahme eines eigenen immateriellen Lebensprinzips zu krönen. Sozusagen als Anhang gab es dann noch eine Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie, deren Anwendbarkeit auf die leibliche Entwicklung des Menschen vorsichtig als »scientifice probabilis« eingestuft wird, woraus allerdings keinerlei Konsequenz für eine Abstammung des Menschen aus dem Tierreich »in genere« gezogen werden durfte. Klar, die theologische Lehre von der unmittelbaren Erschaffung der menschlichen Seele durch Gott musste gewährleistet bleiben. Dürftig genug, wird man aus heutiger Sicht sagen, v. a. weil von 8
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Vorwort des Herausgebers
einer Rezeption des schon voll abgelaufenen wissenschaftlichen Paradigmenwechsels in der Physik, wie er in Relativitätstheorie und Quantenphysik seinen Niederschlag gefunden hat, nicht das geringste Anzeichen zu entdecken ist. (Ob solche Themen in einer eigenen Lehrveranstaltung ›Physik‹ zu dieser Zeit schon zur Sprache gekommen sind, entzieht sich meiner Kenntnis.) Bei meinen Lehrern Mitte der 60er Jahre hatte sich diese Situation indessen grundlegend geändert. Wolfgang Büchels »Philosophische Probleme der Physik« (Freiburg 1965) waren zur Grundlage eines eigenen Teilfachs »Anorganische Naturphilosophie« geworden, und da ging es in aller Ausführlichkeit von den klassischen Raum-Zeit-Betrachtungen in die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie, und die Auswirkungen der quantenphysikalischen Interpretationsprobleme auf die Erkenntnistheorie wurden fast mit Schadenfreude erörtert. Damit war auch dem vormals praktisch als sakrosankt angesehenen aristotelischen Substanzkonzept für die Physik ein sanfter Gnadentod angesagt. In der »Philosophie des Organischen« unter Adolf Haas waren die Umwälzungen nicht weniger gravierend. Von der Verteidigung eines eigenen Lebensprinzips wurde zugunsten einer zellbiologisch fundierten holistischen Betrachtung des Entwicklungsgeschehens Abschied genommen. Die Konzepte einer »vis aestimativa« und des »appetitus naturalis« mussten dem Lorenz-Tinbergenschen Instinktmodell weichen. Und vor allem war die Behandlung der Evolution kein Einzelproblem neben anderen mehr, sondern wurde als der große Weltentwurf Teilhards de Chardin zur eigentlichen Dimension des Kosmos. Wie sich die beiden Teildisziplinen aus diesem (vielleicht nur in subjektiver Wahrnehmung so zu bezeichnenden) Zwischenstadium seither weiter entwickelt haben, v. a. nach der Einbeziehung der modernen Kosmologie und Entwicklungsbiologie 2 , darüber berichten die heute Lehrenden an eigener Stelle des Bandes. Man könnte also bei dem, was Naturphilosophie ist und im eigenen Haus leistet, durchaus selbstgefällig stehen bleiben. Es handelt sich nicht um ein lebendes Fossil, das auf der grünen Wiese vor den Toren Münchens die Kritik des Wiener Kreises (vgl. die Beiträge von Lyre, Köchy, Drieschner und Kanitscheider in diesem Band) verschlafen und damit überstanden hat. Vielmehr zeigt die Veränderung, der Vgl.: Erbrich, P., Makrokosmos – Mikrokosmos. Stuttgart 1996; Bauberger, S., Was ist die Welt? Stuttgart 2003; bzw.: Kummer, C., Philosophie der organischen Entwicklung. Stuttgart 1996.
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Vorwort des Herausgebers
sich das Fach in der Auseinandersetzung mit den modernen Naturwissenschaften unterworfen hat, seine Berechtigung und Aktualität. Nur, es existiert nicht mehr als bloßes katholisches Seminarienfach 3 allein auf weiter Flur. Es gibt mittlerweile wieder Naturphilosophen und -philosophien allenthalben im akademischen Betrieb. Das ist auch an der Münchner Hochschule nicht verborgen geblieben. Diese Wahrnehmung nährte zugleich den Verdacht, der sich, um das vorweg zu sagen, durch die Tagung bestätigte, dass diese Kollegen womöglich einem Mangel abhelfen könnten, der unserer HochschulNaturphilosophie schon fast systemimmanent anhaftet – eine zu geringe Methodenreflexion. Es ist in meinem kurzen historischen Aufriss sicher deutlich geworden, dass es bei aller adaptiven Veränderung über die Jahre vor allem um den Einbau, die Assimilation neuer naturwissenschaftlicher Inhalte in den Präsentationsrahmen des Fachs ging, also um eine Bestimmung der Philosophie durch die Naturwissenschaften, und nicht so sehr um die Bestimmung der eigenen, in der Regel unthematisierten philosophischen Voraussetzungen dieser wissenschaftlichen Befunde. Dies hat seinen Grund vor allem darin, dass die Fachvertreter an unserer Hochschule in der Regel selber mehr Naturwissenschaftler als genuine Philosophen sind. Es ist dies eine schlichte Folge der Personalpolitik des Jesuitenordens in Deutschland, der es sich bei immer knapper werdenden personellen Ressourcen nicht mehr leisten kann, Fachwissenschaftler ganz dem freien Feld der universitären Forschung zu überlassen, sondern sie immer mehr zur Erfüllung der Bedürfnisse seiner eigenen Bildungsanstalten verwenden und entsprechend »umfunktionieren« muss. 4 Was also an unserer Hochschule vor allem betrieben wird, ist eine inhaltliche oder materiale Naturphilosophie (sie ›praktisch‹ zu nennen verbietet sich durch die andere, nämlich öko-ethische, Konnotation, die diese Bezeichnung seit K. M. Meyer-Abich besitzt), weniger jedoch eine allgemeine oder formale. Diesem Mangel abzuhelfen ist der Einladung von Fachkollegen, die Philosophen im »Hauptberuf« sind, vollstens gelungen. Leider können hiervon nur die schriftlichen Beiträge einen Eindruck vermitteln, nicht jedoch die ausführlichen Vgl. Driescher, in diesem Band S. 57. Vgl.: Kummer, C., Zwischen Forschung und Weltanschauung: die Rolle der deutschen Jesuiten in der Biologie, in: Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 109 (2000) 105–120.
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Vorwort des Herausgebers
Diskussionen, die sich formell an die beiden Blöcke mit je vier Referaten anschlossen, und erst recht nicht die nicht weniger ergiebigen informellen Gespräche der Abendstunden. Sie waren Anlass zur Gründung eines Arbeitskreises, der eine diskursive Vernetzung naturphilosophisch arbeitender Kollegen möglich machen soll. Der geneigte Leser wird hier wohl in künftigen Publikationen noch mehr von unseren Gedankenfrüchten ernten können. Eigentlich sollte nun, wie es sich für ein anständiges Vorwort des Herausgebers (bzw. das Vorwort eines anständigen Herausgebers) gehört, noch ein kurzes Eingehen auf die einzelnen Beiträge erfolgen. Die nun ohnehin schon ungebührliche Länge meines Textes hält mich davon ab. Vermutlich sind die den Beiträgen vorangestellten Zusammenfassungen und Abstracts aus eigener Feder der Autoren ohnehin die bessere Lösung. Nur so viel: Nach einer der aktuellen naturphilosophischen Lehre an unserer Hochschule gewidmeten Einleitung folgen zunächst vier Beiträge (der Reihe nach von Lyre, Köchy, Drieschner und Mutschler), die mehr der Frage nachgehen, was theoretische Naturphilosophie eigentlich ist. Sie geben also verschiedene Ansichten wieder, worin das Eigentümliche und Eigenständige von Naturphilosophie (selbst wenn man, wie Lyre, diesen Ausdruck eigentlich ablehnt und lieber durch Philosophie der Naturwissenschaften ersetzen möchte) im Unterschied zu Naturwissenschaft und Wissenschaftstheorie besteht. Der zweite Themenblock (Beiträge von Kanitscheider, Mainzer, Rehmann-Sutter und Schiemann) enthält eher Beispiele dafür, was eine solche, in ihren ontologischen Voraussetzungen durchaus unterschiedlich bestimmte, Naturphilosophie leisten kann: als Programm einer zunehmenden Naturalisierung; als Beschreibung der Dynamik der Natur unter den Kategorien von Komplexität und Selbstorganisation; als Konsequenz einer bestimmten Ontologie des Lebendigen für den Genbegriff; als Arbeit am Naturbegriff selbst. In einem – durchaus anerkennenden – Kommentar der FAZ (vom 28. 6. 2007) hat E. Horst uns Naturphilosophen als Nothelfer für die hoffnungslosen Fälle naturwissenschaftlicher Erklärung apostrophiert, die »gerade dann aufzublühen scheinen, wenn es kryptisch wird«. Bei der neuerlichen Lektüre der Beiträge konnte ich dieser Einschätzung nicht beipflichten. Mag sein, Herr Horst hat sich durch den gelegentlichen Abstraktionsgrad der Diskussionen zu sehr verwirren lassen. Die Lektüre aber erzeugte in mir dasselbe Vergnü-
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Vorwort des Herausgebers
gen, ja noch einmal dieselbe Spannung, wie ich sie beim Anhören der Vorträge empfand und wie ich sie auch dem Leser wünsche. Bleibt am Schluss noch die angenehme Pflicht zu danken. Allen Autoren (Frauen sind offenbar in unserem Fach eine eher rare Ausnahme) für ihre gewissenhaft abgelieferten Manuskripte, sowie, hier noch einmal, für die disziplinierte Einhaltung der halben Stunde Redezeit während der Veranstaltung – eine für Philosophen sicher nicht geringe Leistung. Dem Verlag Karl Alber für die Aufnahme des Tagungsbandes in sein Programm, und seinem Verlagsleiter, Herrn Lukas Trabert, für die ersprießliche Zusammenarbeit. Meinem Mitarbeiter, Herrn stud. phil. Andreas Mischke für die sorgfältige Bearbeitung der Vorlagen. Und vor allem, weil es Geist ohne Materie nicht nur naturphilosophisch gesehen nicht gibt, der Crocallis-Stiftung, Übersee, und der Local Societies Initiative des Metanexus Institute, Bryn Mawr, PA (USA) für finanzielle Beihilfe zum Druck bzw. zur Durchführung der Tagung. München, im Februar 2008
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Einleitung: Naturphilosophie im Curriculum der Hochschule für Philosophie München
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Harald Lesch
Zur Konzeption der Philosophie der Physik an der Hochschule für Philosophie
Zusammenfassung: Die moderne Naturphilosophie ist kein Konkurrenzunternehmen zur Physik sondern eine höchst notwendige Erweiterung physikalischer Forschung. Ihre originären Fragestellungen betreffen das Wesen der Natur im Fokus des Wechselspiels von Experiment und Theorie. Hinzu kommt die große Bedeutung der Naturphilosophie beim Transport von wissenschaftlichen Ergebnissen in die Öffentlichkeit. Abstract: Philosophy of nature is not in competition with physics, but a highly necessary extension of physical science. The philosophical topics concern the essence of nature in the focus of the interplay of experiment and theory. Philosophy of nature also plays an essential role in the communication process of science and public. Die Naturphilosophie der Physik versucht, die unbelebte Natur in ihrer Gesamtheit zu deuten und zu erklären. Während sich das Materialobjekt von Physik und Naturphilosophie größtenteils deckt, zeigt das Formalobjekt deutlich die Unterschiede. Die Physik untersucht nicht die Natur »als solche«, sondern erforscht die Gesetzmäßigkeiten der Naturvorgänge mittels Experimenten, Beobachtungen und mathematischen Theorien. Die Naturphilosophie dagegen arbeitet auf einer höheren Abstraktionsstufe, indem sie bis zum »innersten Wesen« sowie den Bedingungen der Möglichkeit des Natürlichen aufsteigt. Sie bedeutet eine Rückführung auf allgemeinste Prinzipien und damit aber durchaus eine ausdrückliche Bindung an die Metaphysik. Sie ist nach Mutschler regionale Ontologie, nicht dafür geschaffen, alle metaphysischen Grundprobleme zu lösen, in diesem Sinne also »zweite Philosophie«. Naturphilosophie ist die begriffliche Einordnung der philosophischen Erkenntnisse, die auf die Bestimmung des Wesens, der Erscheinungs- und Bewegungsformen 14
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der Natur gerichtet sind. Sie verfolgt das Ziel, die Struktur der in der Natur ablaufenden Prozesse zu analysieren, um Aussagen treffen zu können, die einerseits ihrer Komplexität und Totalität Rechnung tragen und andererseits die Stellung des Menschen zur und in der Natur bestimmen sollen. In ihrer modernen Fassung, stellt sich die Naturphilosophie nach Bartels und van Fraasen die Frage: »Wie muss die Natur beschaffen sein, wenn die Theorien über sie wahr sind?« Es geht der Naturphilosophie so wie vielen Bereichen der Philosophie, sie gebiert neue Fächer, die sich durch methodische Entwicklungen von ihrem philosophischen Ursprung entfernen. Triumphe feiern die Physiker, nicht die Metaphysiker. Die durch den Verzicht auf »letzte« Fragen gewonnene Freiheit, sich ja nicht damit herumschlagen zu müssen, was denn nun die Welt wirklich sei … führt zu der für die Naturwissenschaften sehr angenehmen Lage für alle über den unmittelbaren wissenschaftlichen Tellerrand hinaus gehenden Fragen die Philosophie ins Boot ziehen zu können. Alles was auf ein darüber hinaus verweisen könnte, damit sollen sich die Philosophen beschäftigen, die Spezialisten für unlösbare Probleme. Und die kauen daran teilweise sehr lange, während die Karawane, der messenden, rechnenden und beobachtenden Naturforscher schon längst weiter gezogen ist. Die moderne Physik beschreibt Natur, ihr geht es um ein Naturbild, aber nicht mehr um eine Erklärung. Da fällt kein Weltbild mehr ab. Physik bescheidet sich in ihrem Anspruch derartig (das hat ihr die Wissenschaftstheorie ziemlich drastisch beigebracht), dass sie gar nicht mehr von einer wahren, realen, objektiven Welt zu sprechen wagt, die sich mit und durch ihre Theorien verstehen lässt. Moderne Theorien sind nur noch eine erfolgreiche Hypothesenkonstruktion, die sich einfach nur deshalb etabliert hat, weil sie sich bewährt hat an Experimenten. »Der Erfolg heiligt die Mittel«, so Werner Heisenberg in einer seiner ersten Arbeiten zur Formulierung der Quantenmechanik. Die pragmatische, erfolgsverwöhnte und deshalb erfolgsorientierte Naturwissenschaft, die aber auf Grund ihres sehr hohen Spezialisierungscharakters, nur noch von echten Spezialisten verstanden werden kann. Was soll Naturphilosophie dann sein? Eine nette romantische Variante der Naturwissenschaft aus dem 19. Jahrhundert? Was kann sie, was man innerhalb der Wissenschaften nicht von sich aus könnte? Ich sage hier ganz bewusst könnte, denn sie tun es nicht die Wissenschaftlerinnen. Sie sind in ihren grauen Wissenschaftsalltag so A
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eingesponnen, dass philosophische Fragestellungen doch meist erst im fortgeschrittenen Lebensalter wieder entdeckt werden. Meist sogar erst nach der Emeritierung entstehen die Werke mit dem philosophischen »Touch«. Hier fragt dann jemand nach dem Wesen des Gegenstandes seiner jahrzehntelangen Forschungstätigkeiten. Man könnte fast meinen, da ist jemand wieder zurück zu seinen Wurzeln gekommen, dem ersten Grund, weshalb sie/er dieses Fach studiert und es durch Diplom, Promotion und Habilitation zur Meisterschaft gebracht hat. Zur Philosophie findet man offenbar erst dann zurück, wenn man keine »eigenen Aktien mehr im Spiel hat«, letztlich scheint Philosophie eine Luxuseinrichtung zu sein. Andererseits aber gibt es die Novizen im Felde, die die Physik als wichtige Leitdisziplin erst entdecken – und genau dort offenbart sich ein enormes Interesse an Naturphilosophie. Gerade die Anfänger, die Studenten der ersten Semester sind bemerkenswert stark interessiert an naturphilosophischen Fragestellungen zu ihrer Fachwissenschaft, in der sie nämlich im Fachstudium nur mehr »Handwerkszeug« lernen, vergleichbar mit Notenkunde, Fingerübungen und dem Abspielen vom Blatt. Naturphilosophie hingegen ist Kompositionslehre, Improvisation und Kompass. »Weshalb studiere ich eigentlich Physik?« ist eine sehr oft gestellte Frage, die vom Fachstudium nicht beantwortet wird. Die Studenten versinken in Details, mathematischen Übungsblättern und Praktikumsversuchen. Natürlich, alle die Physik studiert haben, kennen die Sachzwänge einer methodischen Ausbildung in Mathematik, Experimentalphysik und theoretischer Physik. Keine Frage, dass muss sein. Aber es muss mehr da sein. Der Grund und das Ziel des Studiums dürfen aber eben auch nicht aus den Augen verloren werden. Hier haben wir die Rolle, die meiner Meinung nach Naturphilosophie, an einer Hochschule unterrichtet, spielen sollte: Vorlesungen in Physik sollten grundsätzlich von einer dem jeweiligen Gebiet zugeordneten Veranstaltung in Naturphilosophie begleitet werden. Hier sollten die wichtigen Aspekte angesprochen werden, die die geisteswissenschaftliche Dimension naturwissenschaftlichen Denkens und Handelns betreffen: Entwicklungen der Theorien und Experimente, Verknüpfungen mit aktuellen oder historischen philosophischen Strömungen, und der subjektive Charakter der Wissenschaften. Zu wünschen wäre zum Beispiel die Kombination aus einer Physikvorlesung in der die mathematischen und experimentellen 16
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Methoden der Quantenmechanik dargestellt und geübt werden und einer Naturphilosophie-Vorlesung, die sich der Frage stellt, was diese so ungemein erfolgreiche Theorie für unser Verständnis von der Welt zu bedeuten hat. Neben der Motivation sich mittels naturphilosophischer Betrachtungen, kritisch mit der Physik auseinanderzusetzen, kommt als weiteres Ziel die Vermittlung physikalischer Inhalte für ein breiteres Publikum. Es ist nämlich zur Vermittlung (an Universitäten wie in der Öffentlichkeit) des hoch spezialisierten und wirkungsmächtigen Unternehmens Naturwissenschaft unbedingt notwendig, dass sich ein Verständnis der geisteswissenschaftlichen Dimension der modernen Naturwissenschaften ausbreitet. Vorlesungen in Naturphilosophie können genau diese Vermittlung leisten. Last but not least, muss moderne Naturphilosophie eine Diskussionsplattform für noch nicht anerkannte Modelle und Theorien darstellen. In diesem Sinne ist Naturphilosophie Physik »under construction«, sie hat, mit anderen Worten an den Grenzen der physikalischen Erkenntnis weiterzufragen. Die Vorlesung Naturphilosophie I (Philosophische Interpretation der Physik) versucht zu motivieren, zu vermitteln und zu diskutieren. Physik wird als »Experimentelle Philosophie« im transdisziplinären Kontext behandelt. Die Vorlesung beginnt mit einer ausführlichen Diskussion der Position von Naturphilosophie innerhalb der Philosophie und dem Verhältnis zur Physik, das u. a. davon geprägt ist, dass sich ehemals rein naturphilosophische Fragestellungen zu empirischen Forschungsprogrammen in der Physik verwandelt haben. Hierzu gehören der materielle Aufbau der Welt, der Ursprung des Kosmos und die Konzepte von Raum und Zeit. In den nachfolgenden Modulen werden die jeweils aktuellen physikalischen Theorien im Zusammenhang konkreten philosophischen Fragestellungen diskutiert. Der modernen Theorie vom Aufbau der Materie wird das Substanz-Problem entgegengestellt, es werden die Theoriebildung und die Forschung an Großforschungseinrichtungen kritisch beleuchtet und die Frage gestellt, was denn eigentlich empirische Forschung unter den heutigen Bedingungen bedeutet. Einer Darstellung der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie stehen die philosophische Diskussion der Unanschaulichkeit moderner Theorien und deren contra-intuitiven Erkenntnisse gegenüber. Entropie und Zeitrichtung werden im Rahmen der statistischen Mechanik vorgestellt. Dabei A
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wird der Begriff von Naturgesetzen ebenso einer philosophischen Reflexion unterzogen, wie der Begriff der Information. Die erkenntnistheoretischen Probleme der Quantenmechanik werden ausführlich behandelt. Vor allem die moderne Interpretation im Rahmen der Dekohärenztheorie wird thematisiert. Die Erkenntnisse der modernen Kosmologie werden konfrontiert mit dem Kausalitätsproblem des Anfangs und der Frage nach der Schöpfung. Ausführlich werden die Lösungsversuche der Multiversen und der hochdimensionalen Theorien (Strings, M-Branen) unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten kritisch beleuchtet. Die nichtlineare Dynamik wird einerseits im Rahmen einer weit gefächerten Determinismusdebatte analysiert, andererseits wird hier eine Verbindung zur Philosophie der Biologie über den Begriff der Selbstorganisation geknüpft. Als roter Faden zieht sich die Transdisziplinarität durch die ganze Vorlesung. Die Physik muss im Kontext mit allen Naturwissenschaften gesehen werden. Denn, die moderne Welt verdankt sich in ihren wesentlichen Teilen den Leistungen des wissenschaftlichen Verstandes. Das heißt: Wissenschaft ist ein integraler Bestandteil der modernen Welt und zugleich der Inbegriff der Rationalität einer technischen Kultur, die das Wesen der modernen Welt ausmacht. Ohne Wissenschaft verlöre die moderne Welt ihre Natur und die moderne Gesellschaft ihre Zukunft. Die Physik wird als Leitdisziplin in dreierlei Hinsicht betrachtet: Erstens, sind und bleiben die Untersuchungsmethoden und Beurteilungsstandards der Physik, d. h. die methodischen Kriterien der Physik im engeren Sinne, ein wesentlicher Leitfaden naturwissenschaftlicher Forschung (Reduktionismus-Holismus-Diskussion). Zweitens, bildet die physikalische Theoriebildung einen Maßstab für jede theoretische Forschung überhaupt (Mathematisierbarkeit, Naturgesetze). Drittens, die technische Anwendung physikalischer Grundlagenerkenntnisse in anderen Disziplinen. Auch wenn sie heute nicht den Anspruch erhebt, so ist die Physik die weltbildkonstituierende Wissenschaft schlechthin. Ohne Physik keine Technik und ohne Physik keine wissenschaftliche Orientierung, die sich in Begriffen wie Gesetz und Erklärung theoretischen, methodischen und instrumentellen Ausdruck verschafft und zugleich in den Kategorien von Raum und Zeit die Architektur der Welt beschreibt. Physik bildet von Anfang an den Kern der europäischen 18
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Wissenschaftsentwicklung. Sie ist das ursprüngliche Paradigma von Wissenschaft, die Grundlage der Technik und ein konstitutiver Teil einer rationalen Kultur. Sie wird auch in Zukunft eine methodische Leitdisziplin bleiben und ihre Stärken in inter- und transdisziplinären Kollaborationen fruchtbar einsetzen. Disziplinübergreifende Wissenschaften werden in Zukunft eine immer größere Rolle spielen und die »alten« Wissenschaften sowohl inhaltlich inspirieren als auch untereinander näher zusammenführen. Der philosophischen Frage nach dem Wesen der Natur, wird die interdisziplinäre Forschung, mit der Physik als methodische Leitwissenschaft ohne Zweifel näher kommen, denn die Natur kennt ebenso wie die Technik keine Disziplinengrenzen, sie scheint aber letztlich durch die Theorien der Physik zumindest in gewissen Grenzen beschreibbar zu sein. Die Zerlegung der Natur in einzelne Bereiche, mit denen sich auch innerhalb der Physik bestimmte Disziplinen auseinandersetzen, ist keine natürliche, sondern eine künstliche, die sich historisch aus mehr oder weniger pragmatischen Gründen ergeben hat. Sie nährt die Hoffnung, dass das Ganze der Natur einer wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich wird. Es treten immer häufiger Fragestellungen auf, die sich einer solchen Zerlegung widersetzen. Insofern sind es gerade die transdisziplinären Strukturwissenschaften, die den alten Gedanken einer Einheit der Natur wieder mit Leben füllen. Genau hier ergibt sich, meiner Meinung nach, die ganz offensichtliche Bedeutung moderner naturphilosophischer Tätigkeit.
Literatur: Bartels, A. (1996): Grundprobleme der modernen Naturphilosophie, Paderborn. Bauberger, S. (2003): Was ist die Welt? Zur philosophischen Interpretation der Physik, Stuttgart. Drieschner, M. (2002): Moderne Naturphilosophie, Paderborn. Esfeld, M. (2002): Einführung in die Naturphilosophie, Darmstadt. Mutschler, H.-D. (2002): Naturphilosophie, Stuttgart. Vollmer, G. (2003): Wieso können wir die Welt erkennen?, Stuttgart. Von Weizsäcker, C. F. (2004): Der begriffliche Aufbau der theoretischen Physik., Stuttgart.
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Zusammenfassung: Stärker als andere Disziplinen verändern die Biowissenschaften als Teil der Gegenwartskultur das Welt- und Selbstverständnis des Menschen und die Welt selbst tief greifend – Stichworte: Genetik, Neurobiologie, Ökologie. Sie verwirklichen ihren Anspruch als »Leitwissenschaft« allerdings auf problematische Weise, nämlich durch Ausklammerung aller Fragen, die nicht auf technisch Verwertbares abzielen. Biologische Ausbildung heute hat nicht primär den »naturwissenschaftlich Gebildeten« zum Ziel, sondern den in Medizin und Industrie einsetzbaren Biotechniker. Diesem Missstand gegenzusteuern, ist eine Aufgabe von Naturphilosophie. – Die Vorlesung »Naturphilosophie II: Biologisch-philosophische Grenzfragen« umfasst drei Module: Im 1. Modul geht es um Fragen der molekularen Zellbiologie und der Evolution, im 2. Modul um die ontologische Diskussion einiger biologischer Phänomene bzw. Begriffe und im 3. Modul um Neurobiologie als Grundlage des »Leib-Seele-Problems«. Formales Ziel der Vorlesung ist es, zur kritischen Reflexion biologischer Befunde beizutragen sowie transdisziplinäres Denken und fächerübergreifende Dialogfähigkeit zu fördern. Inhaltliches Ziel ist es, die Studierenden anfanghaft mit einigen wissenschaftlichen Sichtweisen, Daten, Experimenten vertraut zu machen, die mehr oder weniger von selbst in Fragen philosophischer Art einmünden. Abstract: More radically than other disciplines life sciences as a part of our present culture are transforming our worldview and the world itself – keywords: genetics, neurobiology, ecology. However, they realize their claim to be the »Leitwissenschaft« (leading science) in a problematic way, i. e. by exclusion of all questions, which do not aim at technical applicability. Biological training today has not primarily the »scientifically educated man« as a goal, but rather a biotechnici20
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Christian Kummer (Hg.)
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Zur Konzeption der Philosophie der Biologie an der Hochschule für Philosophie
an employable in medical industry. To compensate for this one-sidedness is a task of natural philosophy. – The lecture »Natural Philosophy II: Biophilosophical questions« covers three modules: The 1st module deals with issues of molecular cell biology and evolution; in the 2nd module ontological aspects of selected biological phenomena and concepts are discussed; the 3rd module deals with neurobiology as the basis of the »mind-body problem«. Aim of the lecture is to provide for critical reflection of biological findings, to contribute to transdisciplinary thinking, and to promote interdisciplinary dialogue. Scientific views and data are presented in a way which leads more or less automatically into philosophical questions.
1.
Zur geschichtlichen Verortung von Biologie und Philosophie der Biologie
Biologie hat es mit Lebewesen zu tun. Grundeinheit allen Lebens ist die Zelle; Grundlebensvollzug allen Lebens ist der Zellzyklus. Dieses Wissen (und einiges mehr) ist für eine wissenschaftlich verantwortete Philosophie der Biologie grundlegend und heute selbstverständlich, ist aber noch gar nicht besonders alt. Verglichen mit der Physik und erst recht mit der Philosophie ist Biologie eine junge Wissenschaft: Philosophie gibt es seit zweieinhalbtausend Jahren. Physik als Wissenschaft gibt es seit dem 17. Jahrhundert. Biologie als Wissenschaft gibt es dagegen erst seit dem 19. Jahrhundert, einige Stichworte: 1840 Theodor Schwann und Matthias Jakob Schleiden: Alles Leben ist zellulär; Grundeinheit allen Lebens ist die Zelle. 1859 Charles Darwin: »On the Origin of Species«: Die Evolutionstheorie stellt sämtliche Lebewesen (Pflanzen, Tiere, Pilze, Protozoen) in einen einzigen Abstammungszusammenhang. 1865 Gregor Mendel: Mit seiner Vererbungslehre werden erstmals quantitativ überprüfbare Vorhersagen über Merkmalsverteilungen möglich. Weitere Meilensteine zur Wissenschaftswerdung der Biologie: 1828 Friedrich Wöhler: Mit der künstlichen Harnstoffsynthese ist entschieden, dass zwischen organischen und anorganischen Substanzen kein prinzipieller Unterschied besteht. 1897 Eduard Buchner: Mit dem Nachweis zellfreier Gärung ist klar, dass Lebensprozesse chemischer Natur sind. A
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Sich derartige Daten vor Augen zu halten, ist u. a. wichtig um zu wissen, was man an biologischer Kompetenz von einer gegebenen Naturphilosophie erwarten darf. Philosophie fragt bekanntlich u. a.: Was kann der Mensch wissen? Jede Philosophie der Natur und der Naturwissenschaft muss zusätzlich immer auch fragen: Ab wann konnte man was wissen? 1 Angewandt auf die Philosophie der Biologie: Während es seit Jahrhunderten eine entwickelte Philosophie der Physik gibt, steckt die Philosophie der Biologie vergleichsweise noch in den Kinderschuhen. 2 Und wenn über Biologie philosophiert wird, dann meist über Fragen der klassischen Biologie, also über die Evolution und damit zusammenhängende Fragen. Zur modernen molekularen Zellbiologie dagegen fallen den meisten Zeitgenossen nur bioethische Fragen ein. Anderseits verändern die Biowissenschaften als Teil der Gegenwartskultur das Welt- und Selbstverständnis des Menschen und die Welt selbst tief greifend; Stichworte: Genetik; Neurobiologie; Ökologie: Ein Ensemble von Themen, derentwegen die Biowissenschaften zu Recht als »Leitwissenschaft« der Zukunft gelten – im deskriptiven, mehr noch im normativen Sinne. 3
2.
Wo Wirklichkeitserkenntnis auf technisch Anwendbares reduziert wird
Frage aber: Stimmt es, dass die Biowissenschaften der Gegenwart das Welt- und Selbstverständnis des Menschen verändern? Mir scheint, sie tun es tatsächlich, aber auf eine ziemlich problematische Weise, nämlich durch Ausklammerung all der Fragen, die nicht auf technisch Verwertbares abzielen. 4 Naturwissenschaftliche, speziell bioloWas selbstverständlich stark von den jeweils erreichten technisch-instrumentellen Standards abhängt. 2 Vgl. Krohs/Toepfer 2005, 8. 3 Vgl. Krohs/Toepfer 2005, 7. 4 Vgl. Ladenthin 2003, 12: »Die Frage nach dem Sinn von Wissen wird durch die Frage ersetzt, welches Wissen man braucht, um eine vorab bestimmte Funktion ausüben zu können. […] Nun bestimmt nur noch der Zweck, was Wissen ist. Technisches Anwendungswissen hat wissenschaftliches Wissen ersetzt. Die Grenze der Technik ist die Grenze des Wissens.« Treffend bemerkt Ladenthin: ebd.: »Die Verzweckung der Wissenschaft zur Auftragsforschung und ihre Reduktion als Technik sind ein Indiz für das Ende der Wissenschaft.« 1
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gische Ausbildung heute hat nicht (oder nicht mehr) primär den »naturwissenschaftlich Gebildeten« 5 zum Ziel, sondern den in Medizin und Industrie einsetzbaren Biotechniker. 6 Zwischen dem wachsenden Gewicht der Biowissenschaften für die Weltgestaltung sowie für das Selbstverständnis des Menschen einerseits und der gegenwärtigen biologisch-philosophischen Reflexion anderseits besteht also ein krasses Missverhältnis. Dieses Missverhältnis verringern zu helfen, fällt in die Verantwortung und ist damit eine genuine Aufgabe von Naturphilosophie.
3.
»Naturphilosophie« zwischen Literaturbetrachtung und Transdisziplinarität
Grundsätzlich, so scheint mir, kann Naturphilosophie auf (mindestens) zwei völlig unterschiedliche Weisen betrieben werden: Ich möchte sie den »Grenzfragen-Ansatz« und den »literaturorientierten Ansatz« nennen. Der literaturorientierte Ansatz geht vom Werk eines klassischen »Naturphilosophen« (z. B. Schelling) aus, diskutiert dessen Schriften, befragt sie auf ihre innere Kohärenz und kümmert sich nur am Rande um die wissenschaftliche Datenlage. Der Grenzfragen-Ansatz geht »andersherum« vor: Ausgangspunkt sind wissenschaftlich gesicherte Sachverhalte; und es wird davon ausgegangen, dass diese Sachverhalte bzw. deren Darstellung »von selbst« in philosophische Fragen einmünden. Man geht von wissenschaftlichen Daten aus, lässt sich durch die Fakten – und da setzt die philosophische Nachfrage bereits ein: Was sind »Fakten«, »Daten«, »Sachverhalte«? – auf philosophische Fragen stoßen, und man sucht weitgehend selbstständig und unabhängig von vorgestanzten Traditionsantworten nach Antwortentwürfen. Diese Gegenüberstellung der Ansätze ist zugegeben holzschnittartig; konkret wird es immer um ein Mehr oder Weniger, um Zur Frage naturwissenschaftlicher »Bildung« vgl. Fischer 2001. Dass nach Vorstellungen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), allen voran Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, die Hochschulen allein dazu dienen sollen, funktionierende Arbeitskräfte heranzuziehen, ist nicht besonders verwunderlich. »Erschütternd« allerdings ist es, so kritisiert Grigat 2007, 449, zu Recht, dass dem Bundesbildungsministerium (BMBF), der Kultusministerkonferenz (KMK), und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) zur Frage der Bildungsziele gegenwärtig nichts anderes einzufallen scheint als dieses Arbeitgeber-Credo nachzubeten.
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ein Sowohl als Auch gehen – trotzdem: Der Grenzfragen-Ansatz ist grundsätzlich kreativer: wo man versucht, »den Fakten selbst« ihre philosophischen Fragen zu entlocken, ihre Voraussetzungen, ihre Implikationen für das Welt- und Selbstverständnis des Menschen – was allerdings eine gewisse Sachkenntnis voraussetzt: Insofern ist dieser Weg für Nur-Philosophen steiniger als der literaturorientierte. Außerdem werden eigenständige Antwortversuche häufig überholungsbedürftig sein – die Gedanken eines bekannten Autors dürften im Normalfall »ausgereifter« erscheinen als die eigenen. Eine gewisse Belesenheit kann also nicht schaden. Kurz: Beide Ansätze ergänzen sich.
4.
Vorlesungskonzept »Biologisch-philosophische Grenzfragen«
Die Grund- und Pflichtvorlesung »Naturphilosophie II: Biologischphilosophische Grenzfragen« an der Hochschule für Philosophie München 7 versucht, den grenzfragenorientierten Weg zu gehen. Auf ein kurzes Einführungsmodul von vier Stunden folgen drei Module à zehn Stunden: Im 1. Modul geht es um Fragen der molekularen Zellbiologie und der Evolution, im 2. Modul um die ontologische Diskussion einiger biologischer Phänomene bzw. Begriffe und im 3. Modul um Neurobiologie als Grundlage des so genannten »LeibSeele-« oder »Gehirn-Bewusstseins-Problems«. Im Detail: Einführend geht es darum, einen Begriff davon zu vermitteln, in welchen Dimensionen sich Leben auf diesem Planeten abspielt: in welchen Größendimensionen, in welchen Zeitdimensionen, in welchen Ordnungsdimensionen. Dann im 1. Modul u. a.: Ist Biologie »mehr« als Chemie (und Physik)? Was sind mögliche Spezifika der Biologie? Was sind Gene, was leisten sie? Wichtiger noch: Was sind Gene nicht, was leisten sie nicht? Welcher »ontologische« Status kommt dem Genom zu? Zur Evolution vom prokaryontischen Einzeller zum eukaryontischen Vielzeller: Welche ontologischen Fragen wirft die EndosymDie Vorlesung wird im Vier-Semester-Zyklus gelesen; der Vorlesungsstoff ist Prüfungsgegenstand für alle Studierenden.
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biontentheorie auf? Welche Fragen der Übergang vom Ein- zum Vielzellertum? Hat die Evolution eine Richtung? Sodann im 2. Modul u. a.: Was ist »Leben«? Hat Leben »Würde«? Was konstituiert das biologische Individuum als Individuum synchron? Ist das Genom Individuationsprinzip, und wenn nein, was dann? Was konstituiert das biologische Individuum diachron? Wie z. B. sind Zellteilung oder Zellfusion ontologisch zu interpretieren? Moderne biologische Speziesbegriffe in Absetzung zum traditionellen Speziesverständnis: Welche anthropologischen Konsequenzen hat der sich als überlegen erweisende »Kladismus«? Schließlich im 3. Modul u. a.: Was ist der biologische Sinn von Neurosystemen? Inwieweit ist Verhalten genetisch determiniert? Welche biologischen Systeme können als Wahrnehmungssubjekte angesprochen werden, welche nicht? Wie funktioniert Sehwahrnehmung? Was lernen wir an Phänomenen wie Phantomschmerz oder Split brain? Zusammengefasst: Formales Ziel der Vorlesung ist es, zur kritischen Reflexion biologischer Befunde beizutragen sowie transdisziplinäres Denken und fächerübergreifende Dialogfähigkeit zu fördern. Inhaltliches Ziel ist es, die Studierenden anfanghaft mit einigen wissenschaftlichen Sichtweisen, Daten, Experimenten vertraut zu machen, die mehr oder weniger von selbst in Fragen philosophischer Art einmünden. Dahinter steht die Überzeugung, dass eine wissenschaftliche Betrachtung der Wirklichkeit aus sich heraus in philosophische Fragen einmündet.
Literatur: Fischer, E. P. (2001): Die andere Bildung: Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, München. Grigat, F. (2007): Die alte Linke, in: Forschung & Lehre 14, 449. Krohs, U., Toepfer, G. (2005): Einleitung, in: Krohs, U., Toepfer, G. (Hg.): Philosophie der Biologie, Frankfurt a. M. Ladenthin, V. (2003): Wissenschaft am Ende ihrer Epoche: Über das Verschwinden der Wahrheit in der Welt des Nutzens, in: Forschung & Lehre 10, 11–13. A
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Ist theoretische Naturphilosophie normativ?
Zusammenfassung: Es wird eine Zwei-Komponenten-Auffassung von theoretischer Naturphilosophie bzw. Philosophie der Naturwissenschaften vorgeschlagen. Dieser Auffassung zufolge ist theoretische Naturphilosophie in ihrem Kerngeschäft einerseits angewandte Wissenschaftstheorie und andererseits Ontologie der Naturwissenschaften. Für beide Komponenten, so die weitere Überlegung, ergibt sich, dass sie in Strenge nur rein deskriptiv voranschreiten und insofern keine gegenüber den Naturwissenschaften ausgezeichneten Normativitätsansprüche erheben können. Abstract: A two-component-view of theoretical »Naturphilosophie« is proposed, according to which it consists of general philosophy of science and ontology of the natural sciences. It is further argued that, strictly speaking, both components proceed in a purely descriptive manner such that no genuine normative claims can be asserted. Ein eigentümliches Geständnis sei hier vorangestellt: Ich gestehe, ich habe den Ausdruck »Naturphilosophie« nie sonderlich gemocht. Woran liegt das? Sind es seine eher antiquiert wirkenden Konnotationen? Sind es gar falsche Konnotationen? Oder ist es bloß die Tatsache, dass dieser Ausdruck im angelsächsischen Sprachraum keine echte Entsprechung findet? In der Tat ist es eine Mischung dieser drei Komponenten. Der letztere Punkt ist durchaus nicht so banal, wie er auf den ersten Blick scheint. Zur wörtlichen Übersetzung »natural philosophy« findet sich im »Cambridge Dictionary of Philosophy« der Eintrag: »the study of nature or of the spatio-temporal world (no longer a widely used term) … a task for philosophy before the emergence of modern science … the term is now only used with reference to pre28
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modern times«. Auch um die Wendung »philosophy of nature« ist es nicht viel besser gestellt. Der historische Hintergrund dieser sprachlichen Entwicklung ist in seinen Grundzügen weithin bekannt: »philosophia naturalis« ist noch weit über Newton hinaus der Titel für ein gemeinschaftliches Unternehmen von Philosophie und Naturwissenschaft. Erst im 19. Jahrhundert entsteht, im Zuge der romantischen Naturphilosophie, eine spekulative Gegenbewegung zu der sich mehr und mehr autonom entwickelnden Naturwissenschaft. Aufgrund dieser unheilvollen Frontstellung und dem sich seither faktisch vollziehenden praktischen Siegeszug der Naturwissenschaften befindet sich die Philosophie bis zum heutigen Tage über weite Strecken in Selbstfindungs- und Rückzugsgefechten. Dabei ist dies, auch und gerade mit Blick auf den Gegenstandsbereich der ursprünglichen »philosophia naturalis«, ganz und gar unangemessen. Die Naturwissenschaft bedarf jederzeit der Begleitung und des Wechselspiels mit der Philosophie. Dabei scheint es mir jedoch nicht sonderlich ratsam, das moderne Angebot der Philosophie an die Naturwissenschaften mit einem Begriff zu verknüpfen, der historisch mit einer Frontstellung, also einer ganz und gar unglücklichen und irreführenden Konnotation, belastet ist. Im angelsächsischen Raum ist bekanntermaßen das Label »philosophy of science« einschlägig. Die nicht nur wörtliche, sondern auch sachlich angemessene Übersetzung dieses Ausdrucks lautet Wissenschaftsphilosophie. Und zu den großen Domänen der Wissenschaftsphilosophie mag man dann einerseits die allgemeine Wissenschaftstheorie, andererseits die Philosophie bzw. Wissenschaftstheorie der Einzelwissenschaften zählen. Weitere Teildisziplinen sind Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsethik sowie, eingeschränkt, Wissenschaftssoziologie. Moderne Naturphilosophie scheint mir im Rahmen dieser Taxonomie am ehesten als Philosophie der Naturwissenschaften unter Hinzuziehung der allgemeinen Wissenschaftstheorie ansehbar 1. Dies ist nun, das ist klar, eine eigentlich ganz unzulässige Verkürzung und Verengung des Begriffs Naturphilosophie. Gerade weil dieser Terminus nicht ohne weiteres übersetzbar ist, drückt sich in ihm eine besondere Vielfalt aus, die zu einer ganz speziellen und Einen aktuellen Überblick über das Feld der Wissenschaftsphilosophie gibt der Band von Bartels und Stöckler (2007), wenngleich dessen Titel »Wissenschaftstheorie« im Sinne des oben Gesagten nicht ganz zutreffend gewählt wurde.
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wohl auch besonders eigentümlichen Gebietsbezeichnung führt. Dabei geht es gar nicht darum, die antiquierten Konnotationen romantischer Naturphilosophie einzuholen, sondern Naturphilosophie kann natürlich in einem guten Sinne auch als praktische, anthropologische oder ästhetische Disziplin verstanden werden. Hier interessiert man sich dann etwa um Fragen nach dem Wesen von Natur in Abgrenzung zu Kultur und Technik, nach der Stellung und Orientierung des Menschen gegenüber oder in der Natur, nach Natürlichkeit, Naturwertigkeit oder Naturästhetik. Der in den Naturwissenschaften erwachsende Naturbegriff und der im Rahmen solcherart praktischer Naturphilosophie erwachsende Begriff von Natur sollten, so ließe sich mit Georg Picht fordern, nicht konfligieren, denn »eine Wissenschaft, die die Natur zerstört, kann keine wahre Erkenntnis der Natur sein« 2 . Hier ist gewiss nicht von Wahrheit im korrespondenztheoretischen Sinne die Rede, ja es wird nicht einmal das Objektivitätsideal der modernen Naturwissenschaften in Frage gestellt. Carl Friedrich von Weizsäcker, mit dem Picht in einem lebenslangen freundschaftlichen Dialog stand, charakterisiert dessen Wendungen als zwar explizierte, jedoch nicht aufgelöste »Dissonanzen« 3 . Daher kann auch für die Zwecke dieser Betrachtung offen bleiben, ob das Naturbild und der Naturbegriff der Wissenschaft der einzige oder gar der ganze Naturbegriff ist, solange hiervon eine Arbeitsteilung etwa zwischen theoretischer und praktischer Naturphilosophie unberührt bleibt. Praktische Naturphilosophie zum Beispiel im Sinne MeyerAbichs 4 umgreift »menschliches Handeln im Ganzen der Natur«, theoretische Naturphilosophie ist methodisch festgelegter, nur auf sie trifft die obige Charakterisierung als Philosophie der Naturwissenschaften unter Hinzuziehung der allgemeinen Wissenschaftstheorie zu – und nur um sie soll es hier weiter gehen. Um theoretische Naturphilosophie zu bestimmen, muss Näheres zur Philosophie der Naturwissenschaften und zur allgemeinen Wissenschaftstheorie gesagt werden. Nun sind Aufgaben und Themenfelder der allgemeinen Wissenschaftstheorie ja weithin bekannt, schon geradezu kanonisch. Sie betreffen vorzugsweise die Methodologie und Struktur der Wissenschaften. Hierzu gehören Theorien der Erklärung und Bestätigung, Theorien wissenschaftlicher Theorien2 3 4
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Picht 1989, S. 15. Vgl. C. F. von Weizsäcker im Vorwort zu Picht 1989. Meyer-Abich 1997.
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auffassungen, der Themenkomplex des Bestätigungs-Holismus und der Theorien-Unterbestimmtheit sowie Fragen der Theorienreduktion. Der Fragebereich des Wissenschaftlichen Realismus befindet sich darüber hinaus bereits auf der Nahtstelle zu eigentlichen Philosophie der Naturwissenschaften. Was also ist Philosophie der Naturwissenschaften? Sie ist, so möchte ich behaupten, in ihrem Kerngeschäft ontologisch. Mir scheint, dass sich hierin am ehesten das jüngere Selbstverständnis der Philosophie der Naturwissenschaften international widerspiegelt. Als historische Umstände kann man sicher geltend machen, dass sich zum einen nach der Überwindung des Linguistic Turn in der analytischen Philosophie und Jahren der Neuorientierung in den letzten Dekaden insgesamt eine deutliche Hinwendung zu Fragen der modernen Metaphysik abzeichnet (dies betrifft vergleichbar etwa auch die Philosophie des Geistes), und dass zum anderen nach den Zeiten der historio- und soziokritischen Wissenschaftsphilosophie der 70er Jahre – plakativ durch Feyerabend oder Kuhn vertreten – heute wieder eine vorsichtige Bejahung der Ergebnisse der Naturwissenschaften in den Vordergrund gerückt ist. Die moderne positiv-kritische Auseinandersetzung zeigt jedoch weder Ähnlichkeit mit dem naiven Wissenschaftsoptimismus des frühen logischen Empirismus, noch wird sie gar durch einen von den Wissenschaften selbst vertretenen Allerklärungs- oder Einheitsanspruch getragen. Moderne Naturwissenschaft ist im Ganzen zu unüberschaubar, zu heterogen und zu komplex geworden – und vielleicht besteht gerade darum ein vermehrtes Bedürfnis nach ontologischen Fragen, um abzustecken, inwieweit unser Bild von der Welt insgesamt noch kohärent oder ausufernd oder bereits vollständig ungreifbar geworden ist 5 . Die charakteristische Fragestellung der theoretischen Naturphilosophie bzw. Philosophie der Naturwissenschaften scheint mir also zu lauten: Welches Bild von der Welt zeichnen die Naturwissenschaften, sofern ihre Theorien wahr sind? Anhand dieser Frage zeigt sich, dass die Philosophie der Naturwissenschaften sehr wesentlich ein nachträgliches Geschäft ist. Zunächst legen die einzelnen Wissenschaften vor, indem sie den Wissensbestand empirisch erweitern und neue Vorhersagen und Theorien generieren, erst dann tritt die Beispiele für diesen jüngsten Trend zum ontologischen Kerngeschäft der Naturphilosophie bieten die Bände Detel 2007, Esfeld 2008, Ladyman/Ross 2007 und Maudlin 2007.
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Philosophie auf den Plan und reflektiert das von den Wissenschaften durchgeführte Unternehmen. Es geht daher im Rahmen der beiden heute dominanten naturphilosophischen Teilgebiete – der Philosophie der Physik und der Philosophie der Biologie – wesentlich um die Frage, welches die Gegenstände oder der Gegenstandsbereich der jeweiligen Disziplinen ist. Hier zeigt sich zudem die direkte Nahtstelle zum wissenschaftlichen Realismus, also der Frage, ob die theoretischen Terme unserer besten und reifsten Theorien referieren. Auf welche Fragestellungen man mitunter speziell geführt wird, möchte ich an einem konkreten Beispiel aus meinem eigenen engeren Arbeitsgebiet demonstrieren. In der modernen Physik spielen bekanntlich Symmetrien eine erhebliche Rolle. Eine spezielle Klasse, die Klasse der so genannten lokalen Symmetrien, ist hierbei von hervorgehobener Bedeutung. Die hiermit verbundenen Theorien werden aus historischen Gründen als Eichtheorien bezeichnet. Jede der heute als fundamental angesehenen vier Wechselwirkungen kann im Rahmen einer Eichtheorie und mithin mittels einer spezifischen Symmetriegruppe beschrieben werden. Der bekannteste und einfachste Fall ist die Beschreibung der Quantenelektrodynamik auf der Basis der U(1)-Eichgruppe. Naturphilosophisch stellt sich nun die Frage, welches die dieser Theorie zu Grunde liegende Ontologie ist. Interessanterweise gestatten die Eichtheorien eine besondere Klasse nichtlokaler beobachtbarer Effekte, von denen der Aharonov-Bohm-Effekt ein besonders prominenter Kandidat ist. Der Effekt besteht darin, dass die Elektronenwellenfunktion bei Umschließung eines eingesperrten, sich verändernden Magnetfeldes eine Phasenverschiebung aufweist. Da dieser Effekt auftritt, obwohl nachweislich keine (signifikante) direkte Wechselwirkung zwischen der Wellenfunktion und dem Magnetfeld stattgefunden hat, handelt es sich ersichtlich um einen nichtlokalen Effekt. Worin aber besteht hier genau die Nichtlokalität? Eine detaillierte Analyse zeigt, dass Effekte dieser Art in ontologisch ganz unterschiedlicher Weise erklärbar sind. Zunächst lassen sich wenigstens drei relevante Begriffe von Lokalität auseinander halten: Kontaktwechselwirkung, Nahewirkung im Sinne einer endlichen Propagations-Geschwindigkeit und raumzeitliche Separierbarkeit. Je unterschiedliche Grundannahmen darüber, welche dieser spezifischen Lokalitätskonzepte beizubehalten oder zurückzuweisen sind, lassen sich mit je unterschiedlichen Annahmen über die zugrunde liegen32
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den Entitäten der Eichtheorien kompatibel machen, nämlich ob es sich letztlich um Feldstärken, Eichpotentiale oder so genannte Holonomien handelt. In der Konsequenz bedeutet dies, dass im Rahmen der Eichtheorien alleine auf der Basis aller zur Verfügung stehenden Beobachtungsdaten kein abschließendes Urteil über die Ontologie der Eichtheorien getroffen werden kann 6 . Dies Resultat lässt sich, so scheint mir, verallgemeinern. Naturwissenschaftliche Theoriebildung benötigt ab einer gewissen Verallgemeinerungs- oder Abstraktionsstufe metaphysische Vorannahmen, über deren Korrektheit nicht noch einmal empirisch entschieden werden kann. Derartige Vorannahmen finden sich mit Bezug auf die Physik etwa im Umfeld der Konzepte Kausalität und Lokalität oder im Naturgesetzbegriff. Um es mit einem Slogan zusagen: You can’t read off metaphysics from physics. Ein sehr beredtes Beispiel dieser Situation liefert seit jeher die Interpretationsdebatte der Quantenmechanik, in der oftmals ontologisch höchst differente, empirisch aber dennoch äquivalente Konzeptionen konkurrieren (z. B. Kopenhagener Interpretation versus Bohmsche Mechanik versus Viele-Welten-Interpretation). Aufgabe der Philosophie ist es in diesem Falle, die verschiedenen Interpretationen des physikalischen Formalismus begrifflich genau zu präzisieren, sie ontologisch auszudeuten und auf ihre »globale Stimmigkeit«, ihre Kohärenz, Passgenauigkeit und theoretische Ökonomie in Bezug auf den Gesamtbestand wissenschaftlicher Erkenntnis hin abzuklopfen. Nun hatte ich behauptet, die theoretische Naturphilosophie bzw. Philosophie der Naturwissenschaften sei in ihrem Kerngeschäft ontologisch. Dies heißt aber freilich nicht, dass sie ausschließlich ontologisch ist. Sondern es findet sich hier, wie in nahezu allen Gebieten der theoretischen Philosophie, die übliche Vierteilung in Fragen epistemologischer, ontologischer, semantischer und methodologischer Art. Fragen methodologischer Art sind im wesentlichen die spezifischen Fragen der Wissenschaftstheorie, ebenso findet sich das in der Philosophie des 20. Jahrhunderts üblich gewordene enge Verhältnis zwischen Ontologie und Semantik: Fragen nach der Wortbedeutung sind wesentlich Fragen der Referenz und mithin eng verknüpft mit Fragen der Existenzweise der Referenzgegenstände. Erkenntnistheoretische Fragestellungen in der Philosophie der Naturwissenschaften finden sich vor allem im Zusammenhang mit den gängigen 6
Lyre 2004, Kap. 4.2. A
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»Ismen«, also der Frage, ob man etwa einem Realismus, Instrumentalismus, Empirismus, Konstruktivismus oder Apriorismus zuneigt. Halten wir als Zwischenergebnis zunächst aber fest, was ich als Zwei-Komponenten-Auffassung von theoretischer Naturphilosophie bzw. Philosophie der Naturwissenschaften bezeichnen möchte. Theoretische Naturphilosophie ist in ihrem Kerngeschäft • Angewandte Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften und • Ontologie der Naturwissenschaften. Ich möchte nun diese Zwei-Komponenten-Auffassung zusammenbringen mit der Titelfrage, ob die theoretische Naturphilosophie normativ ist, denn von einer Diskussion dieser Frage erhoffe ich mir einige Klärung für die übergeordnete Fragestellung nach dem inhaltlichen Kern und der Leistungskraft dieses Arbeitsgebiets. Spontan mag man die Titelfrage als banal ansehen, insofern jedenfalls die Wissenschaftstheorie üblicherweise als normatives Unternehmen verstanden wird 7 . In ihrem Bemühen um die Methodologie der Wissenschaften gelangen Wissenschaftstheoretiker zwangsläufig zu Aussagen über methodische Standards, auf Grund derer sich Güte und Grad der Wissenschaftlichkeit verschiedener Theorien oder ganzer Disziplinen bewerten lassen. Klassisch-kritische Beispiele sind etwa Poppers Attacken auf Psychoanalyse, Marxismus, Kreationismus und Astrologie, denen er aufgrund seines Abgrenzungskriteriums der Falsifizierbarkeit den Status des Wissenschaftlichen gleich ganz absprach. Eine differenziertere, gleichwohl ebenso kritische Beurteilung der Psychoanalyse findet sich bei Grünbaum 8 . Dennoch halten sich Wissenschaftstheoretiker in der Breite mit Belehrungen gegenüber den praktizierenden Wissenschaftlern eher zurück – warum ist das so? Folgende Überlegung bietet sich an: in Ermangelung einer umfassenden, einheitlichen Methodologie scheinen wissenschaftstheoretische Weisungen an die Adresse der Wissenschaften kaum verantwortbar. In der Tat ist die Wissenschaftstheorie in ihren Bemühungen um ein Durchdringen der Methoden der Erklärung, Bestätigung und des wissenschaftlichen Schließens im Laufe des vergangenen Säkulums zwar erheblich voran, aber bei weitem nicht an irgendein absehbares Ende gekommen. Kein Schema der wissenschaftlichen Erklärung, keine Bestätigungstheorie und 7 8
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Vgl. die Diskussion in Gesang 2005. Popper 1963 und Grünbaum 1984.
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keine Theorienauffassung, die nicht von gravierenden Einwänden oder gar Gegenbeispielen geplagt wäre. Wie wollte man in einer solchen Ausgangslage methodische Weisungen erteilen? Von hier aus lässt sich ein weiterer Gedankenfaden entwickeln. Die Frage erhebt sich, in welchem Begründungskontext die Wissenschaftstheorie selbst, als Metadisziplin, eigentlich steht. Gewiss, sie ist prima facie keine empirische Disziplin, dennoch ist sie Teil menschlicher Erkenntnisgewinnung und steht insofern unter allen Bedingungen, unter denen menschliche Erkenntnis generell steht. Ob hier jedoch allgemeine Vorbedingungen geltend gemacht werden können oder nicht, ist Teil der erkenntnistheoretischen Position, die man einnimmt. In starker Form vertritt der Apriorismus die Annahme, dass menschliche Erkenntnis unter allgemeinen, nicht nochmals empirisch begründbaren Vorbedingungen steht. Da jedoch die erdrückende Mehrzahl heutiger Wissenschaftstheoretiker dem Apriorismus ablehnend gegenüber steht, folgt, dass, sofern wir der Mehrheit zuneigen, auch Wissenschaftstheorie in ihrem Kern letztlich nur deskriptiv sein kann. Dies mag nun wie eine sehr zugespitzte und vielleicht auch abgehoben akademische Behauptung klingen. Denn sofern die Wissenschaftstheorie in der heutigen Wissenschafts- und Forschungspraxis überhaupt noch irgendeine Rolle spielen oder Beachtung finden kann (was man leider weitgehend verneinen muss), dann doch wohl nur in dem Sinne, dass sie methodische Kritiken, Ratschläge und Verbesserungsvorschläge erarbeitet und benennt. Dem stimme ich zu, sehe hierin aber keinerlei Widerspruch zu dem vorher Gesagten. Man muss m. E. zwischen der praktischen Aufgabe der Wissenschaftstheorie und einem streng normativen Anspruch unterscheiden. In einem praktischen Sinne mag es durchaus eine bedeutsame Aufgabe der Wissenschaftstheorie sein, normative Empfehlungen auszusprechen. Der Geltungsanspruch dieser Empfehlungen ist aber nicht höher als derjenige aller anderen am Gesamtunternehmen Wissenschaft beteiligten Parteien (insbesondere der Wissenschaftler selber). Die Wissenschaftstheorie besitzt hier eine unter mehreren Stimmen. Sie liefert methodologische Bewertungen, deren Geltung sich jedoch einzig aus einer Deskription der tatsächlichen Wissenschaften und ihrer fortlaufenden Entwicklung ableitet. Genuine Normativität folgt aus dieser Vorgehensweise nicht – dies wäre anderweitig so, als würde man ethische Normen schlicht aus der Handlungspraxis ablesen und dann als uneingeschränkt verbindlich erklären. A
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Mit Blick auf die Zwei-Komponenten-Auffassung wird nun die zweite Komponente der theoretischen Naturphilosophie umso viel weniger normativ als die erste sein; denn die nachträgliche Analyse und Reflexion auf das ontologische Bild, das die einzelnen Wissenschaften von der Welt entwerfen, die hier geleistet wird, entspringt klarer Weise einer reinen Deskription der Wissenschaften in ihrer faktisch vorliegenden Form. Aufgabe der Philosophie ist es dann vordringlich, die genaue metaphysische Bilanz und die sich jeweils ergebenden Konsequenzen klar zu benennen und herauszustellen. Dass dies kein kleines oder unbedeutendes Unternehmen ist, wurde hoffentlich bereits an dem obigen Beispiel deutlich; denn Wissenschaftler interessieren sich in ihrem Tagesgeschäft häufig nicht für die von Seiten der Philosophie erarbeiteten und diskutierten methodologischen und ontologischen Präzisierungen ihrer eigenen Ergebnisse – dennoch können sie hiervon profitieren, insbesondere dann, wenn Forschung an Grundlagen ins Stocken gerät. An den Ergebnissen wissenschaftsphilosophischer Forschung sollte die Wissenschaft insofern durchaus Interesse zeigen. Um es aber klar zu sagen: Zwar besitzen Philosophie und Naturwissenschaften eine gemeinsame Nahtstelle, die Annäherung an diese Nahtstelle geschieht jedoch von zweierlei gänzlich unterschiedlichen Seiten. Theoretische Naturphilosophie ist kein irgendwie geartetes Nacherzählen der Ergebnisse der Naturwissenschaften, sondern eine souveräne und durch eigenständige und genuine Fragestellungen charakterisierte Disziplin, deren Ergebnisse für die Naturwissenschaft manchmal, allerdings nicht immer (zum Beispiel nicht für weite Strecken des fachwissenschaftlichen Tagesgeschäfts), hilfreich und fruchtbar sein können. Philosophie der Naturwissenschaft und Naturwissenschaft sind also inhaltlich voneinander getrennt, berühren und stützen sich aber wechselseitig. Ist also theoretische Naturphilosophie bzw. Philosophie der Naturwissenschaften normativ? Letzten Endes, so habe ich argumentiert, lautet die Antwort nein. Dies schmälert jedoch keineswegs die Bedeutung oder Leistungsfähigkeit dieser Disziplin. Philosophie der Naturwissenschaften ist wesentlich nachträglich und kritisch reflektierend und letztlich in gleichem Maße fallibel und insofern nur provisorisch, wie es jede menschliche Erkenntnisleistung ist. Im Sinne der Zwei-Komponenten-Auffassung fokussiert sie neben ihrem methodischen Interesse an den Wissenschaften auf deren nicht-empirische Anteile und lotet und bilanziert das Verhältnis zwischen den empirischen Ergebnissen der Naturwissenschaften und ihren meta36
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Ist theoretische Naturphilosophie normativ?
physischen Vor- und Hintergrundannahmen aus. Theoretische Naturphilosophie bzw. Philosophie der Naturwissenschaft ist eine dezidiert eigenständige Disziplin neben den Naturwissenschaften, gleichwohl können ihre Analysen und Ergebnisse hilfreich und befruchtend für naturwissenschaftliche Forschung wirken.
Literatur: Bartels, A./Stöckler, M. (Hg.) (2007): Wissenschaftstheorie: Ein Studienbuch, Paderborn. Detel, W. (2007): Metaphysik und Naturphilosophie, Stuttgart. Esfeld, M. (2008): Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Frankfurt a. M. Gesang, B. (Hg.) (2005): Deskriptive oder normative Wissenschaftstheorie?, Frankfurt a. M. Grünbaum, A. (1984): The Foundations of Psychoanalysis: A Philosphical Critique, Berkeley. Ladyman, J./Ross, D. (2007): Every Thing Must Go: Metaphysics Naturalised, Oxford. Lyre, H. (2004): Lokale Symmetrien und Wirklichkeit, Paderborn. Maudlin, T. (2007): The Metaphysics within Physics, New York. Meyer-Abich, K. M. (1997): Praktische Naturphilosophie, München. Picht, G. (1989): Der Begriff der Natur und seine Geschichte, Stuttgart. Popper, K. (1963): Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge, London.
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Naturphilosophie ist mehr als angewandte Wissenschaftstheorie
Zusammenfassung: In diesem Beitrag wird die Rolle der Naturphilosophie innerhalb des Kontextes naturwissenschaftlicher Forschungsprogramme gewürdigt. Während man beim Verständnis von Naturphilosophie als angewandter Wissenschaftstheorie eine klare Trennung zwischen empirischen Sätzen der Naturwissenschaft und analytischen Sätzen der Wissenschaftstheorie voraussetzt, wird deshalb in diesem alternativen Ansatz von einer innigen Verflechtung von naturphilosophischen Rahmenannahmen mit methodologischen Vorstellungen und konkreten Elementen der Forschungsansätze ausgegangen. Diesen internen Relationen im Detail nachzugehen, ist Aufgabe der folgenden Untersuchung. Abstract: In this paper philosophy of nature is analysed as a specific element of scientific research programmes. Therefore I estimate – in contrast with the assumption of two clearly separated domains, the empirical domain of science on the one hand and the theoretical domain of philosophy of science on the other hand – that there is a complex network of internal relations between philosophical and empirical concepts. The following reflections will demonstrate this multiple relational network. It will be investigated how philosophical ideas – like the diverse concepts of nature – interact with concrete scientific questions, experiments, observations or facts. Die heutige Beschäftigung mit Naturphilosophie kann eine gewisse Skepsis auslösen, wie sie sich etwa auch in den einleitenden Überlegungen von Holger Lyre in diesem Band ausdrückt. Interessanterweise erfolgen jedoch skeptische Einwände von unterschiedlicher Warte aus und bringen eine je unterschiedliche Erwartungshaltung an die Naturphilosophie zum Ausdruck. 38
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Ein erster möglicher Einwand bestünde in dem Vorwurf Naturphilosophie stelle einen Anachronismus dar. Für eine heutige Naturphilosophie stehe zwischen Naturwissenschaft und Wissenschaftstheorie kein eigenständiger methodischer Bereich mehr zur Verfügung. Auch gebe es weder einen Bedarf noch ein umsetzbares Programm einer aktuellen Naturphilosophie. Der Versuch, sich mit Naturphilosophie zu beschäftigen, müsste deshalb auf einen Rückblick im historischen Gang überwundener Konzepte ohne aktuelle systematische Bedeutung hinauslaufen. Ein zweiter Einwand hingegen könnte aus der genau entgegengesetzten Richtung vorgebracht werden. Er könnte sich darauf berufen, dass die Forderung nach einer Philosophie der Natur seit der Ökologiedebatte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts erhoben wurde, womit die Naturphilosophie ihren legitimen Platz in der Debatte bereits eingenommen hätte. Ein erneuter Legitimationsversuch für eine heutige Naturphilosophie müsste deshalb »offene Türen einrennen« und liefe auf eine Rekapitulation philosophischer Selbstverständlichkeiten hinaus. Betrachtet man jedoch diese Einwände vor dem Hintergrund der vorliegenden aktuellen Entwürfe und Überlegungen zur Naturphilosophie 1 dann zeigt sich, dass eine derart fatale Konsequenz sowohl in der einen als auch in der anderen Richtung nicht zu ziehen ist. Einerseits spricht die Fülle aktueller Publikationen dafür, dass die Naturphilosophie keinesfalls obsolet ist, andererseits wird bei deren näherer Analyse deutlich, dass der Status von Naturphilosophie, ihre Aufgaben, ihr Verhältnis zu den Naturwissenschaften und zur Wissenschaftsphilosophie keinesfalls befriedigend und konsensfähig geklärt sind. Ausgangspunkt meiner folgenden Überlegungen ist deshalb erstens die Annahme, dass durch die Metaphysikkritik einerseits und den Siegeszug der Naturwissenschaften andererseits die Tradition der klassischen Naturphilosophien nicht mehr bruchlos fortgesetzt werden kann. Diesen Ausgangspunkt teile ich mit denjenigen, die Naturphilosophie als »angewandte Wissenschaftstheorie« verstehen wollen. In diesem Ansatz wird vorausgesetzt, die Naturphilosophie diene dem Ziel »das Bild der Natur zu entwerfen, das sich ergibt, wenn unsere gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Theorien wahr
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sind« 2 . Naturphilosophie habe demnach herauszufinden, wie naturwissenschaftliche Erkenntnis zustande komme, welche Spuren sie im philosophischen Denken hinterlasse oder welches Bild der Natur sie uns nahe lege. Naturphilosophie kann jedoch nach dieser bis auf Moritz Schlick 3 zurück verfolgbaren Annahme keine apriorische Einsicht über die Natur liefern. Sie ist auch kein Schlüssel zur Einheit der Natur. Zugleich wird in diesem Verständnis eine bestimmte einseitige Abhängigkeit zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie unterstellt, nach der entsprechend neopositivistischer Vorgaben die Kompetenz, etwas Sachhaltiges über die Natur auszusagen, allein auf die Seite der Naturwissenschaften fällt. So hatte es bereits Rudolf Carnap in seiner »Wissenschaftslogik« formuliert: »Alles was über Organismen und organische Vorgänge zu sagen ist, hat die Biologie als empirische Wissenschaft zu sagen; es gibt nicht außerdem noch philosophische Sätze über jene Vorgänge, ›naturphilosophische‹ Sätze über ›das Leben‹« 4 . In diesem Sinne postuliert etwa auch Michael Esfeld in seiner »Einführung in die Naturphilosophie« 5 , eine heutige Naturphilosophie setze die Einsicht voraus, dass Erkenntnis über die Natur nur mit Hilfe der Naturwissenschaften gewonnen werden könne. Ich werde versuchen, mich von dieser Konsequenz abzugrenzen. Meine zweite Annahme ist deshalb, dass man selbst vom wissenschaftsphilosophischen Standpunkt aus mit dem Konzept der Naturphilosophie als angewandter Wissenschaftstheorie letztlich auf ein antiquiertes Verständnis der Disziplin setzt, »eingefroren« etwa zur Zeit der Blüte des Logischen Empirismus. Man verkennt implizit die historische und systematische Dynamik der Wissenschaftsphilosophie selbst. Spätestens seit Kuhns Reflexionen zur paradigmengeleiteten Normalwissenschaft dürfte offensichtlich sein, dass die von den Paradigmen ausgehenden Bindungen der Fachwissenschaften auch solche »quasimetaphysischer« Art umfassen, welche etwa den Status der Natur betreffen und damit grundlegende philosophische Voreinstellungen zum Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften vornehmen 6 . Insofern ist die unkritische Bezugnahme der Philosophie 2 3 4 5 6
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Bartels 1996, S. 16. Schlick 1986, S. 1 ff. Carnap 1992, S. 92 f. Esfeld 2002, S. 8. Kuhn 1991, S. 55.
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auf den naturwissenschaftlichen »Sachstand« als gegebene und lediglich auszudeutende Basis mehr oder weniger naiv. Lakatos hat deshalb in seinem Konzept der Forschungsprogramme diese naturphilosophischen Bindungen auf höherer Ebene in den »harten Kern« der Methodologie aufgenommen 7 . Im Detail lässt sich aus diesem Grund zeigen, dass auch heutige fachwissenschaftliche Debatten, vor allem solche, die mit und in der Öffentlichkeit geführt werden und damit in den Horizont der Deutung naturwissenschaftlicher Bestimmungen im lebensweltlichen Kontext fallen, immer durch naturphilosophische Motive mitbestimmt werden 8 . Dieses ist gerade im Fall einer ethischen Beurteilung naturwissenschaftlicher Handlungsoptionen relevant 9 . Entgegen der im Konzept der Naturphilosophie als angewandter Wissenschaftstheorie tradierten klaren Trennung zwischen empirischen Sätzen der Naturwissenschaft und analytischen Sätzen der Wissenschaftstheorie herrscht ein Kontinuum von wissenschaftlichen Forschungsprogrammen und spekulativer Metaphysik. Allgemeine naturphilosophische Konzepte gehen in fachwissenschaftliche Theorien und Praxen über und verbinden sich mit konkreten empirischen Befunden. Sowohl fachwissenschaftliche als auch naturphilosophische Überlegungen sind dabei nicht nur untereinander, sondern vor allem auch mit bestimmten Beobachtungen und Experimenten eng verzahnt. Ich werde versuchen, die verschiedenen Dimensionen dieser internen Relation von Naturphilosophie und Naturwissenschaft zu skizzieren. Mein Ansatz ist damit der einer Metaperspektive auf das Verhältnis von Naturwissenschaft, Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie. Nicht werde ich selbst eine Naturphilosophie vorstellen, sondern ich werde die Rolle der Naturphilosophie im Kontext wissenschaftlicher Forschungsprogramme untersuchen. Ich werde mich dazu auf bestimmte entwicklungsbiologische Forschungsprogramme beschränken, bin jedoch der Überzeugung, die dargelegten Befunde ließen sich problemlos auf andere Naturwissenschaften übertragen.
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Lakatos 1970, S. 132 f. Köchy 2005a und 2007a. Köchy 2005b und 2006b. A
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Die innerwissenschaftlichen Bezüge
Beobachtung Die Trennung zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie ist u. a. von zwei neopositivistischen Annahmen getragen: Erstens der naturwissenschaftlichen Beobachtung – und nur ihr – käme eine wirklichkeitsfundierende Funktion zu (empirische Verifikation) und zweitens sei ein unproblematischer Übergang von der Beobachtung zum Begriff möglich (logische Induktion). Für die formalen Aspekte dieser Annahmen hat bereits Karl Poppers Kritik durch den Nachweis des Begründungstrilemmas einerseits und des Induktionsproblems andererseits deren Unhaltbarkeit belegt 10 . Für die inhaltlichen Aspekte kann man sich an Ludwik Flecks Kritik am neopositivistischen Beobachtungskonzept orientieren 11 . Beobachtung – so Fleck – ist weder eine gegebene noch eine allgemeine Fähigkeit und kann nicht in einer universalen Weise in »gute« und »schlechte« Beobachtungen unterteilt werden. Beobachtung ist vielmehr eine sozial in einem bestimmten Forschungskontext erworbene und tradierte Fähigkeit. Naturwissenschaftliche Beobachtung ist damit eine durch Schulung erzeugte gerichtete Bereitschaft, bestimmte »Gestalten« als wissenschaftlich bedeutsame Phänomene wahrzunehmen und anderes auszublenden. Naturwissenschaftliche Beobachtung ist ein »Sinn-sehen« vor dem Hintergrund eines bestimmten »Denkstils«, tradiert in bestimmten »Denkkollektiven«. Diese Theorieabhängigkeit von wissenschaftlicher Beobachtung hat für den Fall der Verhaltensforschung etwa Millikan 12 deutlich herausgestellt. Um eine wissenschaftliche Beobachtung, Darstellung und Erklärung von tierischen Verhaltensleistungen möglich zu machen, muss zuvor eine Entscheidung darüber getroffen werden, welche Parameter und welche Bewegungsabläufe denn eigentlich Momente von Verhalten sind. Wie es deshalb keinen standpunktunabhängigen Bewertungsmaßstab für naturwissenschaftlich gute und schlechte Beobachtungen gibt, so sind auch die anschauliche Darstellung und die begriffliche Fassung des Beobachteten weder unabhängig vom Denkstil gegeben, noch sind sie in allen 10 11 12
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Popper 1994. Fleck 1983. Millikan 2005, S. 202.
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Fällen im Sinne neopositivistischer Vorgaben klar und deutlich. Der Übergang von der Beobachtung zum Begriff ist deshalb keinesfalls trivial. Das Verhältnis von Naturphilosophie und Beobachtung hat dann prinzipiell mehrere Dimensionen. Zum einen kann es Naturphilosophien geben, die als adäquate Beschreibungs- und Erklärungsebene der Natur und als angemessenen Zugang zu ihren Phänomenen eben nicht auf die Beobachtung, sondern vielmehr auf die Theorie setzen. Daraus kann dann leicht der Eindruck einer prinzipiellen Empirieferne des Konzepts entstehen. So wurde etwa gerade die für das heutige Verständnis von Naturphilosophie so wichtige romantische Naturphilosophie im Nachhinein als spekulative Konzeption verstanden, die der Empirie diametral entgegengesetzt ist 13 . Dieses Verständnis resultiert aus bestimmten Abgrenzungsbemühungen des naturphilosophischen Ansatzes gegenüber alternativen naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen. So hatte etwa Schelling seine eigene organismische und ganzheitliche Naturphilosophie dadurch bestimmt, dass er sie von dem mechanistischen Ansatz der Naturwissenschaft deutlich abgrenzte. Nach dieser Differenzierung richtet sich das Erkenntnisinteresse der mechanistischen Naturwissenschaft auf die äußeren Kräfte der Natur – und damit auf die räumliche Dimension mechanischer Interaktionen als objektiver Außenseite und »Oberfläche der Natur«. Die organismische Naturphilosophie hingegen sei als »spekulative Physik« am inneren »Triebwerk« der Natur interessiert, der zeitlichen Dimension der Prozessualität als der subjektiven Seite der Natur 14. Diese Unterscheidung bedeutet nun zwar zunächst eine gewisse Deklassierung von naturwissenschaftlicher Beobachtung und Experiment 15 , die Schelling vor allem auf die Tatsache zurückführt, hier werde eine Konstruktion der Natur nach menschlichem (fremden) Maß vorgenommen. Seine Naturphilosophie verbindet Schelling hingegen mit dem Anspruch einer adäquaten Rekonstruktion der genuinen Gesetze der Selbstkonstruktion von Natur 16. Trotz dieser Überlegungen ist die vor allem auf dieses Konzept bezogene nachträgliche Beurteilung der romantischen Naturphilosophie als stets nur spekulativ 13 14 15 16
Köchy 1997. Schelling 1929, S. 274. Schelling 1929, S. 276 f. Köchy 2009. A
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und niemals empirisch fundiert 17 wohl überzogen. Gerade am Fall von Schellings Naturphilosophie und der romantischen Nachfolgeentwürfe kann vielmehr gezeigt werden, dass Beobachtung und philosophische Deutung von Beobachtung stets eng zusammengehören 18 . Umgekehrt kann auch im Fall der Gegenkonzeption einer analytischen Naturwissenschaft vom Leben im 19. Jahrhundert, die sich ihrem Selbstverständnis nach als eine antispekulative und empirische Alternative sah, die Persistenz von Naturphilosophie und Metaphysik in zentralen Bereichen des Programms nicht negiert werden 19 . Deshalb ist die zweite Dimension der Beziehung von Naturphilosophie und Beobachtung die, dass naturphilosophische Vorstellungen einen Teil des jeweiligen Deutungsrahmens ausmachen, vor dessen Hintergrund jede Einzelbeobachtung ausgelegt wird 20 . Damit ist die strikte Trennung von naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Annahmen innerhalb eines Forschungsprogramms allerdings aufgehoben. Während für den ersten Fall noch galt, dass eine mögliche Unterscheidung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft in deren je unterschiedlicher Betonung der Empirie zu suchen wäre – in extremer Weise mit dem Postulat verbunden, Naturwissenschaft sei an der Empirie zu überprüfen und Naturphilosophie eben nicht –, muss für den zweiten Fall anerkannt werden, dass sowohl naturwissenschaftliche (theoretische) als auch naturphilosophische Überlegungen Einzelbeobachtungen und deren Deutung beeinflussen. Eben dieses ist ja der Punkt von Flecks Theorie der Beobachtung, nach der das »Sinn-sehen« im Beobachtungskontext dadurch entsteht, dass Beobachtungen und Beschreibungen von Beobachtungen von den im jeweils tradierten Forschungszusammenhang erworbenen Rahmenannahmen des Forschungsprogramms abhängen. Zu diesem Rahmen gehören dann immer auch naturphilosophische Vorstellungen. Beschränkt man sich auf Fallbeispiele aus der Entwicklungsbiologie (im weiteren Sinne verstanden), dann lassen sich – neben Flecks eigenen Beispielen – für diese Behauptung viele historische Belege anführen, die auch das enge Miteinander von naturwissenschaftli17 18 19 20
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Schleiden 1988. Poser 1981. Schlüter 1985. Husserl 1992, S. 165 ff.
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cher Beobachtung und naturphilosophischen Rahmenannahmen demonstrieren. Olaf Breidbach 21 etwa hat auf die Aristotelische Entwicklungsforschung verwiesen, in dem er die Konzeption des punctum saliens – der ersten bei Sektion eines Hühnereies beobachtbaren Struktur – auf die Aristotelische Naturphilosophie bezog. Die Beobachtung des Aristoteles findet ihre faktische Bedeutung vor dem Hintergrund eines naturphilosophischen Kreismodells, für das das Herz im Zentrum der Körperorganisation steht ebenso wie die Entelechie im Zentrum der Formbildung – das Herz ist die spirituelle Mitte, gleichsam die »Burg« (Akropolis) des Körpers 22. Gerade im Fall der Aristotelischen Naturphilosophie kann man – etwa bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Biologie und Philosophie – ein enges Miteinander naturwissenschaftlicher und naturphilosophischer, empirischer und theoretischer, experimenteller und metaphysischer Elemente nachweisen 23 . Ein zweites Beispiel: Die Zellenlehre von Theodor Schwann und Matthias Jacob Schleiden im 19. Jahrhundert 24 ist nicht nur vor dem Hintergrund einer Naturphilosophie entworfen 25 und mit dem expliziten Wunsch formuliert, eine nichtteleologische Erklärung des Zellbildungsgeschehens zu liefern, sie operiert auch mit dem Vergleich zwischen Zellbildung und Kristallisation. Für diese Analogie spielen zunächst nur wissenschafts- und naturphilosophische Motive eine Rolle – sie prägt dann aber auch die Beobachtung der Zell- und Entwicklungsforscher im Sinne einer gerichteten Bereitschaft, die Zellteilungsprozesse im Mikroskop als Kristallisation wahrzunehmen. Bei schwindender Glaubwürdigkeit der Kristallisationsanalogie ändert sich dann die Beobachtung der Forschung, wie es etwa an den Äußerungen des Botanikers Carl Nägeli deutlich wird 26 . Experimente Vergleichbares gilt auch für das Experiment. Wie die Beobachtung so spielt auch das Experiment in vielen theorienzentrierten Ansätzen 21 22 23 24 25 26
Breitbach 2005, S. 49. Aristoteles 2007, S. 77: PA 3 7, 670a 26 f.; auch den Komentar S. 564 f. Aristoteles 2007, S. 129 ff. und Lennox 2001, S. 98 ff. Schleiden, Schwann, Schultze 2003. Charpa 2005, S. 635 ff. vgl. Sander 1989, S. 186. A
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keine Rolle. In den genannten Beispielen einer Naturphilosophie als angewandter Wissenschaftstheorie wird die Frage nach dem naturwissenschaftlichen Experiment etwa kaum berührt. Experimente und Beobachtung werden entweder als gegebene empirische Rückbindung an die Welt vorausgesetzt oder aber sie gelten im Sinne Poppers als unter der Ägide der Theorie stehend 27 . Nimmt man zur Beförderung des Arguments diese Annahme als richtig an – obwohl man angesichts der umfänglichen Auseinandersetzung mit der theoriegeleiteten Beobachtung wohl differenzieren müsste 28 – so ist damit bereits die Beeinflussung des Experiments durch die Theorie zugestanden. Im Gegensatz zu den gereinigten postpositivistischen Modellen ist nun keineswegs vorauszusetzen, dass »Theorie« ausschließlich naturwissenschaftliche Vorstellungen und Aussagesysteme meint. Vielmehr werden Fragestellung, Planung und Umsetzung und vor allem die Deutung des Experiments mindestens ebenso durch naturphilosophische Vorgaben beeinflusst. Auch dieses lässt sich an vielen Fallbeispielen belegen 29 . Knüpfen wir an die obigen Beispiele aus der Entwicklungsbiologie an, dann prägt die experimentelle Ausrichtung etwa die Entwicklungsforschung des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Maßgeblich Wilhelm Roux und die Entwicklungsmechaniker verstehen das Experiment als kausale Forschungsmethode katexochen. Diese Einschätzung ist zunächst eine Exposition der physiologischen Forschung gegen die auf Beobachtung und Beschreibung setzende Morphologie. Auch hier wird die Rolle der Naturphilosophie in der Auseinandersetzung der Forschungsprogramme offensichtlich: Der führende Morphologe Johannes Müller hatte beispielsweise seine Ablehnung des Experiments – als zu künstlich, zu ungeduldig und zu unzuverlässig – in der Schrift »Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung« (1825) vorgetragen 30 . Die Betonung der Rolle des Experiments durch Roux und andere ist darüber hinaus ein wichtiger Schritt in der Abgrenzung der analytischen Biologie im 19. Jahrhundert von den romantischen Vorläuferkonzepten. Diese hatten ihre Einwände gegen das Experiment vor dem Hintergrund einer naturphilosophischen Organismuskonzeption formuliert, die 27 28 29 30
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Popper 1994, S. 72 ff. Hacking 1996, S. 285 ff. Köchy 2005a und Köchy 2007a. Querner 2000, S. 420.
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auf der Basis eines holistischen Ansatzes jede experimentelle Separation als Informationseinbuße verstand 31 . Die Umwertung des Methodenarsenals der Biologie durch Du Bois-Reymond, Virchow, Schleiden und andere fand deshalb immer auch vor dem Hintergrund naturphilosophischer Erwägungen statt. Obwohl man sich als rein naturwissenschaftlich verstand, waren alle Detailkonzepte von Naturphilosophien durchzogen. In einigen Fällen wird das explizit: Schleiden etwa verstand seine »Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik« (1842) als Anwendung der Gesetze unserer Logik und der mathematischen Naturphilosophie. Begriffe und Konzepte Wie schon auf der Ebene von Beobachtung und Experimenten keine Trennung von naturwissenschaftlicher Sacharbeit und naturphilosophischer »Spekulation« sinnvoll ist, so erst recht nicht auf der Ebene von Begriffen und Theorien. Die Vorstellung, man könne Wissenschaft als formales Begriffssystem verstehen, das neben einer eindeutigen Kennzeichnung aller Begriffe auch eine solche von deren Relationen untereinander erlaube, trifft auf die Logik, nicht jedoch auf die Realität der Naturwissenschaften zu. Weder stellen die empirischen Theorien hierarchisch organisierte formale Systeme dar – für die Physik etwa konstatiert Schwegler 32 ein patchwork aus Bereichstheorien unterschiedlicher Breite und Allgemeinheit –, noch sind alle Begriffe der Naturwissenschaften eindeutig bestimmt – für die Genetik beispielsweise haben Beurton, Falk und Rheinberger 33 die metaphorische Verwendung von Begriffen am Konzept des Gens exemplifiziert. Gerade von kontextualistischer Warte aus wird deutlich, wie sehr die Aussagensysteme von sich entwickelnden Wissenschaften den Charakter eines dynamischen Netzwerks aus zum Teil hochgradig unscharfen Konzepten darstellen 34 . Die Komplexität der Bezugnahme zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem belegen schon viele gebräuchliche Analogiemodelle in den Naturwissenschaften. Im Fall der Entwicklungsbiologie lösen 31 32 33 34
Köchy 1997. Schwegler 2001, S 78 f. Beurton, Falk, Rheinberger 2000. Fleck 1980, S. 31 ff. A
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sich eine ganze Reihe unterschiedlicher Leitmodelle ab – etwa das in Roux’ Entwicklungsbiologie deutlich werdende Maschinenmodell des Lebens oder das mit Trembleys Regenerationsforschung am Süßwasserpolypen (1744) verbundene Polypenmodell. Genannt wurde auch bereits das in Schwann und Schleidens Zellentheorie auftretende Kristallmodell. In allen Modellen werden paradigmatische Vorgaben für das leitende Verständnis lebender Prozesse und lebender Systeme gemacht. Dabei sind ganz unterschiedliche Ebenen der Konkretisierung betroffen. So werden im Fall der zellbiologischen Kristallmetapher sowohl das reale Zellteilungsgeschehen als auch bestimmte ideelle Strukturgesetzmäßigkeiten der organischen Ordnung mit der Kristallanalogie zum Ausdruck gebracht. Beschränken wir uns auf dieses letzte Analogiemodell, dann bildet es zudem eine Brücke in die jüngste Vergangenheit der Entwicklungsforschung des 20. Jahrhunderts. Auch in diesem neuen Kontext bleibt der Bezug zu impliziten Naturphilosophien erhalten. Einen Meilenstein der aktuellen Konzeption bildet etwa Erwin Schrödingers Frage »Was ist Leben?«. Während Schwann noch von Zellen als imbibitionsfähigen Kristallen sprach, bezeichnete Schrödinger Gene als »aperiodische Kristalle« 35 . Diese auf die genetische Ebene verlagerte Kristallanalogie wird erneut erst im Kontext eines umfassenden Forschungsprogramms verständlich. Maßgeblicher empirischer Anknüpfungspunkt dieses Programms ist die von Wendell Stanley 1936 beschriebene Kristallisation des Tabakmosaikvirus. Maßgeblicher theoretischer und naturphilosophischer Anknüpfungspunkt das von Delbrück und Timoféeff-Ressovsky entworfene Delbrück-Modell der Vererbung (»Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur«, 1935). Delbrücks Ansatz stellt nämlich den Versuch dar, das Lebensgeschehen in Auseinandersetzung mit den physikalischen Ideen Niels Bohrs zu erklären 36 . Damit entsteht eine implizite Verbindung zum erkenntnistheoretischen und naturphilosophischen Grundlagendisput um verschiedene methodische Standpunkte zur Erklärung des Lebensgeschehens, denn Bohr hatte in seinem maßgeblichen Kopenhagener Vortrag von 1932 die Idee der Komplementarität eingesetzt, um eine Vermittlung zwischen der physikalistischen und der vitalistischen Position einzuleiten. Delbrück selbst sah in seinem Programm den Versuch, durch einen elementaristisch-reduktionistischen Ansatz die Analyse des Le35 36
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Schrödinger 1951, S. 12 und 86. Fischer 1988.
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bendigen so weit voranzutreiben, bis dieser Rückgriff auf die Bohrsche Konzeption von Komplementarität unvermeidlich würde. Der Rahmen der Kristallmetapher von Schrödinger ist damit sowohl durch den Bezug zu bestimmten Modellorganismen oder Labortechniken eines Denkkollektivs (später war dies die Cold Spring Harbour-Laborgruppe um Delbrück und damit das Programm der Phagengenetik) als auch durch den Bezug zu epistemologischen und naturphilosophischen Grundlagendisputen abgesteckt. Wie die als solche klar erkennbaren modellhaften Übertragungen, die mit Leitmetaphern arbeiten, so haben auch scheinbar rein naturwissenschaftliche Begriffe in vielen Fällen ihren naturphilosophischen Rahmen. Verbleiben wir im Bereich der Entwicklungsbiologie 37. Im Kontext der modernen Zusammenarbeit von Zellbiologie, Gentechnik und Reproduktionsmedizin stehen die aktuellen Debatten um das reproduktive und therapeutische Klonieren, die Stammzellforschung und die Zelltherapie. Vor allem die Stammzellforschung wird umfänglich diskutiert. Stammzellen – teilungsfähige Zellen, die noch nicht vollständig differenziert sind und die ein Potential haben, sich in unterschiedliche Zelltypen zu entwickeln – können im Labor in ihrer Entwicklung gezielt beeinflusst werden, um bestimmte Zelltypen herzustellen. Im Zuge der ethischen Beurteilung dieser Handlungsoptionen wurde eine Charakterisierung der Zellen wichtig, bei der ein um den Begriff der »Potenz« gruppiertes Feld von Begriffen eine zentrale Rolle spielte. Stammzellen gelten als pluripotent und unterscheiden sich in dieser Hinsicht von totipotenten embryonalen Zellen. Der Traditionsbezug dieses Begriffs der »Potenz« ist offensichtlich: Seit der Naturphilosophie des Aristoteles steht dieser Begriff im Zentrum der Metaphysik des Organischen aber auch der Theorie der Biologie 38 . Über diese allgemeine Beziehung hinaus, die eine zufällige Begriffsanleihe mit tatsächlich ganz gewandelter Bedeutung sein könnte, kann man eine direkte Verbindung zwischen dem fachwissenschaftlichen Sprachgebrauch und bestimmten naturphilosophischen Vorgaben rekonstruieren. Die heute in der Stammzellforschung gebräuchliche Sprachregelung unterscheidet sich zwar in einigen Punkten von der in der Entwicklungsforschung, ist jedoch auf diese zurückzuführen. Die entwicklungsbiologischen Begriffe werden ihrerseits wieder in der Frühzeit der 37 38
vgl. zu den folgenden Überlegungen Köchy 2005a, Köchy 2005b, Köchy 2007a. Stallmach 1959. A
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experimentellen Entwicklungsforschung geprägt. Erneut ist man damit auf die Konzepte von Wilhelm Roux und seinem Gegenspieler Hans Driesch verwiesen. Der entwicklungsbiologische Begriff der »Potentialität« wird nur vor dem Hintergrund einer bestimmten fachwissenschaftlichen Theorienlage und mit Blick auf spezielle experimentelle Techniken bei Vorgängen an ausgewählten Modellorganismen verständlich. Neben der rein fachimmanenten Funktion zur Beschreibung entwicklungsbiologischer Befunde ist die Genese des Begriffs essentiell durch naturphilosophische Motive beeinflusst. Der Begriff der Potentialität erfüllt eine Schlüsselfunktion in der Auseinandersetzung zweier konkurrierender entwicklungsbiologischer Schulen und deren Forschungsprogrammen. Maßgebliches Moment der Abgrenzung zwischen der mechanistischen Naturphilosophie von Roux und der vitalistischen Naturphilosophie von Driesch ist dann der je unterschiedlich konnotierte Begriff der Potentialität. Ähnlich lassen sich moderne Debatten um die Organisation des strukturierenden Informationssystems in Zellen auch als Debatten um naturphilosophische Fragen verstehen. So hat sich in den letzten Jahren eine grundlegende Modifikation des bisherigen Genparadigmas ergeben. Auf der Basis neuer empirischer Befunde 39 hat sich die Vorstellung von der Rolle der Gene im Organisationsgeschehen von Lebewesen massiv verändert. Verstand man bisher die Gene als die elementare und kausal fundierende Organisationseinheit von Lebewesen, ist man nun zu der Vorstellung eines komplexen netzwerkartigen Relationssystems übergegangen. Die Rolle der Gene in diesem epigenetischen Netzwerk wird unterschiedlich gewichtet – von der These eines grundsätzlichen Verlusts ihres bisherigen Status als »Puppenspieler« des Organisationsgeschehens 40 bis zur Theorie der Verlagerung genetischer Regulation auf eine höhere Ebene in einem gestuften Regulationsgeschehen 41 reicht das Spektrum. Unabhängig von diesen Teildisputen ist jedoch auffällig, dass die Anhänger des früheren Paradigmas ihr Verständnis des genetischen Programms explizit als Ablösung von Vorstellungen aus der Aristotelischen Naturphilosophie verstanden haben 42 . Mit dem Wandel des bisherigen wis39 40 41 42
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Pennisi 2001. Pennisi 2001, S. 1064. Davidson 2006. Jacob 2002, S. 10.
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senschaftlichen Paradigmas ist deshalb auch ein Wandel in naturphilosophischer Hinsicht verbunden 43 .
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Die außerwissenschaftlichen Bezüge
Verlassen wir die Sphäre der Methodologie und gehen auf den außermethodologischen Bereich über. Mit den Ansätzen von Kuhn und Lakatos ist auch eine Auflösung der bisherigen strikten Grenzziehung zwischen internen (methodologischen) und externen (psychologischen, soziologischen) Elementen wissenschaftlicher Forschungsprogramme verbunden. Während noch Lakatos versucht hat, so viele Parameter wie möglich als interne (rationale) Phänomene in die wissenschaftliche Methodologie zu integrieren, haben etwa die Science-in-Context-Bewegung oder die nachfolgenden wissenschaftshistorischen und -soziologischen Strömungen gezeigt, dass jede Grenzziehung zwischen methodologischen und soziologischen Elementen künstlich bleiben muss 44. Einerseits bilden bestimmte gesellschaftliche Normen auch Teile des wissenschaftlichen Normenkanons – erinnert sei etwa an die Studien von Daston und Galison 45 sowie die von Shapin und Schaffer 46. Andererseits ist gerade durch die technisch-praktische Ausrichtung moderner Naturwissenschaften eine moralisch-praktische und gesellschaftliche Relevanz der Forschung stets gegeben. Während klassisch-kontemplative Modelle von Wissenschaft lediglich unter dem Aspekt der internen Verpflichtung des wissenschaftlichen Ethos standen, sind alle neuzeitlich-nutzenorientierten Modelle immer auch unter dem Aspekt der externen Verantwortung gegenüber den Folgen wissenschaftlicher Handlungen zu betrachten. Insbesondere die im Konzept der Naturphilosophie als angewandter Wissenschaftstheorie erhobene Forderung nach Aufklärung über unser Selbstverständnis als Denkende und Handelnde in der Natur 47 ist deshalb nicht mehr einfach als Rekurs auf den naturwissenschaftlichen Kenntnisstand und die Methodologie einzulösen. Für die Klä43 44 45 46 47
Rehmann-Sutter 2005, S. 44 ff. und der Beitrag Rehmann-Sutter in diesem Band. Lenoir 1992, S. 176 ff. Daston 2001 und Daston, Galison 2002. Shapin, Schaffer 1985. Bartels 1996, S. 21 und 195 ff. A
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rung des menschlichen Selbstverständnisses, seiner Wissenschaftsund Naturvorstellungen, bedarf es vielmehr einer philosophischen Metareflexion, die in essentiellen Teilen als Naturphilosophie aufgefasst werden muss. Diese Tatsache wird vor allem von denjenigen Positionen hervorgehoben, die Naturphilosophie explizit als praktisch-moralische Wissenschaft verstehen 48 . Hier wird geltend gemacht, dass die analytische Ausrichtung auf das normale Reden oder die Diskurstheorie unter moralischen Gesichtspunkten nicht zulangt. Es gehe nicht vorrangig um philosophisches Nachdenken über Zusammenhänge des kommunikativen Handelns oder zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern um Fragen des Umgangs des Menschen mit der Natur. Damit liege eine Verschiebung vom kommunikativen zum instrumentellen Handeln vor 49. Schon in dieser auf das Umweltproblem gemünzten Verwendung von Naturphilosophie wird deutlich, dass zur Klärung der essentiellen gesellschaftlichen und ethischen Fragen ein Rekurs auf die Naturwissenschaften allein nicht ausreicht, sondern dass in allen Fällen auch explizit naturphilosophische Positionen verhandelt werden 50 . Vertreter einer Ökologischen Ethik etwa, die dem Metaphysikverdacht dadurch zu entgehen trachten, dass sie sich auf die Befundlage der Ökologie als Fachwissenschaft zurückziehen, unterschätzen die genuin naturphilosophische Tönung der relevanten Ökologie-Konzepte. Dieses ließe sich an vielen einschlägigen Positionen demonstrieren. Um jedoch bei dem bisherigen Kontext der Entwicklungsbiologie zu bleiben, sei ein anderes Beispiel gewählt. Betrachtet man die Debatten um die ethischen Folgen der neuen Manipulationsmöglichkeiten des Entwicklungs- und Reproduktionsgeschehens, dann wird hier ebenfalls der Versuch unternommen, durch Rekurs auf den naturwissenschaftlichen Sachstand schwelende Konflikte im Sinne einer Objektivierung zu entschärfen. Auch in diesem Fall verkennt man allerdings, dass naturwissenschaftliche Bestimmungen selbst stets vor einem ganzen Hintergrund von theoretischen Konzepten erfolgen, zu denen zumindest implizite naturphilosophische Rahmenannahmen gehören. Gerade in der ethischen Debatte (etwa um den Potentialitätsbegriff) werden deshalb mit den fachwissenschaftlich vor48 49 50
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Böhme 1989 und Meyer-Abich 1990. Böhme 1991, S. 124. Köchy 2006b.
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genommenen Klassifikationen des Objektfeldes durch Hervorhebung bestimmter Unterscheidungsmerkmale (etwa zwischen embryonalen Zellen und Stammzellen) stets auch naturphilosophische Weltbilder mitverhandelt. Über diese naturphilosophischen Rahmenannahmen hinaus stehen alle vorgebrachten ontologischen Bestimmungen immer unter konkreten methodischen Kontextbedingungen. So geht es etwa bei den Fragen zum therapeutischen Klonen immer um eine durch experimentelle Intervention erzeugte künstliche Potentialität und die ethisch bedeutsame Frage lautet nun, ob solchen künstlich erzeugten totipotenten Zellen der gleiche moralische Status zukommt, wie natürlichen totipotenten Zellen. Kontexteinbindung bedeutet darüber hinaus auch, dass die Festlegung der ethischen oder anthropologischen Relevanz bestimmter biologischer Phänomene – etwa zur Feststellung des Beginns menschlichen Lebens – von der fachwissenschaftlichen Ausbildung desjenigen mitbestimmt wird, der oder die diese Bewertung vornimmt 51 . Entsprechend der Überlegungen Flecks nehmen im Fall der Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens die involvierten Fachvertreter je nach Disziplinenzugehörigkeit voneinander abweichende Bestimmungen vor. Das Spektrum fachwissenschaftlicher Antworten reicht von der Bildung eines diploiden Chromosomensatzes über die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, die Gastrulation, die Nidation, die Entwicklung des Neuralrohrs oder aber die Entwicklung der Sprache. Nicht nur ist diese Auswahl von Entwicklungsphasen oder deren Bewertung dann keine rein empirische Sachfrage mehr, auch werden in allen Fällen gravierende naturphilosophische Kontexte mitverhandelt. In der genannten Reihung sind dies etwa die Konzepte von Individuation oder Schmerzund Selbstwahrnehmung in ihrer Bedeutung für das biologische Selbst, der Rolle des Selbstbewusstseins für das persönliche Selbst oder der Kommunikation und Anerkennung für das kulturelle Selbst. Auch in bioethischen Fragen ist man deshalb bei der Deutung von naturwissenschaftlichen Fakten auf den umgreifenden Rahmen an auch naturphilosophischen Vorstellungen verwiesen, die als normative Vorgabe den Faktenbestand durchdringen und begleiten.
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3.
Fazit
Stellt man von der hier eingenommenen Metaperspektive aus die Frage nach dem Status und der Funktion von Naturphilosophie im Kontext von Forschungsprogrammen, dann ist man auf ein Netzwerk von Beziehungen zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie verwiesen. Entgegen der neopositivistischen Annahme einer Grenzziehung zwischen Naturphilosophie – als sinnloser und spekulativer Metaphysik – und Naturwissenschaft – als empirisch fundiertem Weltwissen – ergibt sich das Bild einer komplexen Relation zwischen theoretischen Subdomänen innerhalb komplexer Forschungsprogramme. Anstatt deshalb vor der Entscheidung zwischen zwei sich widersprechenden Alternativen zu stehen, von denen dann eine mittels plausibler Abgrenzungskriterien als der richtige Zugang zur Natur auszuweisen wäre oder aber nach externen Verbindungen zwischen separaten Forschungsstrategien zu suchen, verweisen uns die aufgezeigten Belege aus der Geschichte der biologischen Entwicklungsforschung auf eine interne Relation. Erst bei einer kontextualistischen Analyse dieses Verhältnisses von Subdomänen in Forschungsprogrammen dürfte man deshalb dem in der Naturphilosophie als angewandter Wissenschaftstheorie formulierten Anspruch gerecht werden können, ein Licht auf unser Selbstverständnis als Denkende und Handelnde in der Natur zu werfen.
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Zusammenfassung: Naturphilosophie sollte sich nicht mit Analysen aus der Wissenschaftstheorie begnügen, sondern auch die sokratische Frage stellen: »Weißt du auch, wovon du redest, wenn du das und das sagst?«. Als Beispiel wird der »Realismus« behandelt – wo es nicht immer klar scheint, was »real« bedeutet –, vor allem in der Quantenmechanik. Die Quantenmechanik von David Bohm dient dabei als Beispiel einer »realistischen« Interpretation. Es wird vorgeschlagen, eine Art Äquivalenzklasse aller empirisch ununterscheidbaren Interpretationen als die Interpretation zu akzeptieren. Der Standard-Repräsentant dieser Äquivalenzklasse könnte eine Minimalinterpretation sein, die dann der »Kopenhagener« Interpretation nahe steht. In der Diskussion wird die Notwendigkeit der Näherung in der Physik und die »a priori«-Struktur der Quantenmechanik diskutiert. – Diese philosophischen Diskussionen gehen offenbar über die übliche Wissenschaftstheorie hinaus. Abstract: The article deals with the relation between science and what is called in German »Naturphilosophie«, which may be approximated by the English expressions ›Natural philosophy‹ or ›Philosophy of Nature‹. It is maintained that »Naturphilosophie« should not restrict itself to analyses within philosophy of science, but rather put the Socratic question: »Do you know what you are talking about when you say … ?«. As an example, the field of Realism is treated – where it does not seem clear what the term ›real‹ means –, especially as applied to Quantum Mechanics. In the discussion the interpretation of Quantum Mechanics by David Bohm and his school serves as an example of a ›realistic‹ approach. It is proposed to consider a kind of equivalence class of interpretations the true interpretation, where empirical indistinguishability is the criterion of equivalence. The A
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standard representative of that equivalence class could be a minimal interpretation, which is close to the ›Copenhagen‹ interpretation. In the discussion the necessity of approximations in physics is emphasized, as well as a kind of ›a priori‹ structure of Quantum Mechanics. – This kind of philosophical discussions seems to go beyond the scope of the usual philosophy of science. Naturphilosophie und Naturwissenschaft waren lange Zeit dasselbe: Vom Buch »Physik« des Aristoteles bis zu Newtons »Philosophiae naturalis principia mathematica« (wobei letztere wohl eher der Naturwissenschaft zuzurechnen sind). Engländer haben ja eine Liebe zu Traditionen, und wohl nur deswegen heißt eine physikalische Zeitschrift dort heute noch »Philosophical Magazine« – obwohl es inzwischen eine Spezialzeitschrift für Festkörperphysik ist. Nachdem sich dann die Naturwissenschaft von der Naturphilosophie emanzipiert hatte, entstand eine Konkurrenz zwischen beiden, welche die Naturphilosophie im 20. Jahrhundert klar verloren hat: Ich erinnere mich an meine Anfängervorlesung in theoretischer Physik, wo der Dozent mit boshaftem Vergnügen Hegels Definition der Elektrizität vorlas, um zu sagen: »So geht das bei uns nicht!« (und wohl auch um seinem Vorurteil gegen Philosophie überhaupt freien Lauf zu lassen). Es gab daher eine Weile praktisch gar nichts mehr, was sich Naturphilosophie nannte (außer an den theologischen Hochschulen und in Bochum, aber das ist eine andere Geschichte). Heute gibt es sie wieder, die Naturphilosophie, wie man hier an diesem Band sieht. Aber was ist das, heute? Was soll das sein? – Ich gestehe, dass ich mich mit dieser Frage selber schwer tue, und unter den Autoren dieses Bandes gibt es die verschiedensten Meinung dazu. Aber versuchen wir es! Es ist klar, dass sich Naturphilosophie unausweichlich mit Naturwissenschaft konfrontiert sieht. Ich möchte behaupten, dass Naturphilosophie sich heute nicht anders als in ihrem Verhältnis zur Naturwissenschaft definieren kann. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab es einen Paukenschlag: Die Wissenschaftstheorie des Wiener Kreises. Mit ihr war wohl eine Umkehrung dessen intendiert, was die ältere Naturphilosophie wollte: Hegel etwa wollte von seiner Philosophie her sagen, was Naturwissenschaft ist oder sein sollte, jetzt wollten die Wiener die Philosophie nach dem Maßstab der Naturwissenschaft neu erfinden. Das ist ge58
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scheitert, aber das Scheitern in dieser Hinsicht war großartig und lehrreich. Inzwischen geht es aber auch wieder umgekehrt: Die Erlanger Konstruktivisten bzw. die Kulturalisten um Peter Janich wollen den Naturwissenschaftlern sagen, wie sie es machen sollen – erleiden dabei aber kaum ein besseres Schicksal als Hegel. Aber eigentlich kann weder das eine noch das andere das richtige Verhältnis von Naturphilosophie und Naturwissenschaft sein. Die Aufgabe der Philosophie ist doch eine andere. Wie fragt Sokrates, der Erfinder der Philosophie? – »Weißt du auch, wovon du redest, wenn du das und das sagst?« Übersetzt für die Naturphilosophie würde das bedeuten: »Weißt du auch, wovon du redest, wenn du eine naturwissenschaftliche Beschreibung gibst?« Das scheint mir, zunächst einmal ganz grob, die Frage zu sein, welche das Verhältnis zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft bzw. die Aufgabe der Naturphilosophie beschreibt. Die Wissenschaftstheorie hat ja tatsächlich etwa so gefragt. Ihre Frage: »Was ist eine wissenschaftliche Erklärung?« geht genau in diese Richtung. Ähnlich kann man die Fragen der Analytischen Philosophie verstehen. »Weißt du, wovon du redest?« übersetzt sie in die Frage nach den verwendeten Begriffen, darin ist sie tatsächlich Sokrates nicht unähnlich. Beide Richtungen gehen die Fragen aber eher formal an, und da will ich ansetzen: Formal zunächst schon ganz äußerlich, nämlich unter Verwendung von viel formaler Logik. Auch das ist ein Hindernis, wie wir sehen werden. Das meine ich aber nicht vor allem, sondern ich meine die Konzentration auf die Methode. Natürlich ist es verlockend, wenn man sich Gedanken darüber macht, was das ist, was die Naturwissenschaft treibt, das Allgemeine in der gemeinsamen Methode aufzusuchen; ich versuche das natürlich auch. Aber die Naturwissenschaft selber ist viel zu fruchtbar als dass man ihre Tätigkeit rein methodisch erfassen könnte. Das meinte wohl Feyerabend mit seinem vehementen Feldzug »Against Method«: Man würde die Naturwissenschaft einengen, ihr den produktiven Lebensatem nehmen, wenn man sie auf eine bestimmte Methode festlegen wollte. Die Methode der Naturwissenschaft ist in Wirklichkeit immer eng mit dem Inhalt verwoben. Die philosophische Frage: »Weißt du auch, wovon du redest, wenn du eine naturwissenschaftliche Beschreibung gibst?« werden wir also auch vom Inhalt dieser Beschreibung aus angehen müssen. Die Frage wird dabei auch sein, was die Wirklichkeit ist, welche die
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Naturwissenschaft beschreibt, was es überhaupt bedeutet, dass die Naturwissenschaft Wirklichkeit beschreibt.
1.
Objektivität und Zeit
Nun ist das ja genau festgelegt, die Naturwissenschaft ist geradezu definiert dadurch, dass sie die Wirklichkeit objektiv beschreibt. Und was heißt dabei »objektiv«? – Eine objektive Beschreibung im Sinn der Naturwissenschaft ist eine Beschreibung, die jedermann jederzeit (im Prinzip) selber nachprüfen kann. – Das »im Prinzip« ist dabei wichtig, denn z. B. so einen großen Hadron-Collider, wie er in Genf gerade gebaut wird, kann natürlich kaum jemand in Wirklichkeit jederzeit nachmachen! – Diese Objektivität ist nun einerseits tatsächlich ein methodisches Prinzip, andererseits ist sie auch inhaltlich entscheidend für die Naturwissenschaft, und darum geht es mir hier: Methode und Inhalt sind untrennbar verwoben, die Methode begrenzt, definiert den Inhalt. Unser Kollege Meyer-Abich – der seine Arbeit ja auch als Naturphilosophie versteht, als praktische Naturphilosophie – hat viele Jahre lang einen Gesprächskreis organisiert über »Alternativen in der Wissenschaft«. Das war gedacht als ein Nachdenken darüber, wie die Naturwissenschaft sein müsste, damit sie nicht zur falschen Machtentfaltung taugt, damit sie schon von ihrer Struktur her unsere »Mitwelt« (Meyer-Abich) so respektiert, wie es dieser Mitwelt angemessen ist. Es kamen dabei die interessantesten Programme zusammen, von Esoterik in verschiedenen Spielarten bis zu teilnehmender Beobachtung, empathischer Medizin u. ä. Ich fand mich dabei meistens in der Rolle des Abgrenzers: Es stellte sich auch da immer wieder heraus, dass man entweder objektive, »saubere« Wissenschaft haben kann – dann hat man damit aber auch die technische Anwendbarkeit und die entsprechende Macht, zu welchen bösen Folgen auch immer; oder dass man alternativ vorgeht, dabei aber die Objektivität verliert. Das hat angebbare strukturelle Gründe, und die zu untersuchen ist eine primäre Aufgabe der Naturphilosophie. Denn was ist eine objektive Aussage? – Sie muss jedenfalls nachprüfbar sein (im Prinzip jederzeit von jedermann …). Und da kommt die Zeit herein, von der z. B. C. F. v. Weizsäcker immer wieder betont hat, dass sie fundamental für die Naturwissenschaft sei: Wenn ich etwas nachprüfen soll, muss vorher jemand eine prüfbare Aussage gemacht haben, d. h. 60
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etwas vorausgesagt haben – nämlich, was bei der Prüfung herauskommen wird. Die objektive, nachprüfbare Aussage setzt also eine Voraussage voraus. Eine naturwissenschaftliche Theorie muss also eine Theorie sein, aus der nachprüfbare Voraussagen folgen, d. h. sie muss Regeln zur Erzeugung solcher Voraussagen enthalten. Solche Regeln nennt man Naturgesetze. Das klingt, so hoffe ich jedenfalls, einigermaßen selbstverständlich. Es erweist sich aber als ziemlich vertrackt, wenn man genauer hinschaut. Denn eine solche naturwissenschaftliche Theorie ist einerseits Theorie, also eine allgemeine, zeitüberbrückend beschreibbare Struktur; andererseits beschreibt sie Voraussagen, also etwas, das vom »Jetzt« abhängt; das ist nach der üblichen Auffassung etwas Subjektives. Abgesehen von diesem – subjektiven – Empfinden der Subjektivität ist dabei eine Schwierigkeit die oben erwähnte Formalisierung in der Wissenschaftstheorie. Denn in Formalisierungen werden logische Zusammenhänge mathematisch dargestellt, d. h. durch zeitunabhängige Strukturen. Und – ich will es vorsichtig sagen – das Denken in solchen zeitüberbrückenden Strukturen verträgt sich nicht ohne Weiteres mit der Zeitlichkeit der Naturwissenschaft. Vielleicht liegt es an dieser Schwierigkeit, dass der an sich nahe liegende Gedanke, den Voraussagecharakter der Naturwissenschaft zu betonen, in der »Zunft« kaum vorkommt. Ich möchte diesen Gedanken aber noch etwas ausspinnen zu einer Konsequenz, an der ich – einer Anregung C. F. v. Weizsäckers folgend – seit langem arbeite; und über diese Gedanken komme ich dann wieder auf die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Naturphilosophie zu Naturwissenschaft.
2.
Physik »a priori«
Man kann also schon aus dem Anspruch der Objektivität ableiten, dass Naturwissenschaft Regeln für Voraussagen geben muss, genauer, Regeln für Voraussagen empirisch entscheidbarer Alternativen (auch Observablen genannt). Nun lässt sich zeigen, dass die Beziehungen solcher Voraussagen untereinander genau diejenigen sind, die man üblicherweise in der Wahrscheinlichkeitstheorie behandelt. Darüber hinaus kann man zeigen, dass diese Beziehungen hier die spezielle Form haben, die man gewöhnlich im Hilbertraum beschreibt, als die Struktur der Quantenmechanik. Das ist mathemaA
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tisch zu komplex als dass ich es hier darstellen könnte 1 . Die mathematische Struktur ist leider auch bisher nicht ganz durchschaubar. Aber allein die Möglichkeit, sich so etwas auszudenken, also, um es in der Sprache der philosophischen Tradition zu sagen, über eine Begründung a priori von Physik nachzudenken, gibt zu naturphilosophischen Überlegungen Anlass. Zuerst ist da natürlich die generelle Frage nach einer Theorie a priori: Kann man durch reines Nachdenken Erkenntnis über die Wirklichkeit erlangen? – Natürlich nicht!, werden Sie mit mir einig sein. So weit sind wir alle mit naturwissenschaftlichen Gedanken sozusagen getränkt, dass wir an eine solche Möglichkeit nicht glauben. – Aber die Sache ist komplizierter. Meiner Behauptung, eine objektive Theorie müsse nachprüfbare Aussagen ermöglichen, sind Sie wohl noch gefolgt, vielleicht auch noch, als ich daraus schloss, dass sie auch Voraussagen ermöglichen müsse. Da haben wir also, obwohl wir als Naturwissenschaftler selbstverständlich Empiristen sind, etwas behauptet, das sich empirisch nicht rechtfertigen lässt. Es braucht aber auch keine empirische Rechtfertigung – einfach deshalb, weil wir etwas, das diese Struktur nicht hat, nicht als Naturwissenschaft anerkennen würden. Es geht dabei also zunächst um unseren Entschluss, womit wir uns beschäftigen wollen. Und das scheint mir für alle seriösen Behauptungen »a priori« zu gelten, nur dass eben oft die Argumentation viel komplexer ist. Wir können nicht durch reines Denken etwas über die Wirklichkeit herauskriegen, aber wir können durch reines Denken näher analysieren, was wir meinen, z. B., wenn wir eine objektive Beschreibung der Wirklichkeit fordern. – Ich meine, dass wir mit dieser Präzisierung wieder ganz nah bei Kant angelangt sind; darauf kann ich aber hier nicht näher eingehen. 2 Wir haben mit dieser, hier freilich nur kurz angedeuteten Analyse ein weiteres naturphilosophisches Problem berührt: Das Problem der Stellung der Naturwissenschaft. Das ist, über unsere theoretischen Überlegungen hinaus, ein praktisches Problem. Denn unser naturwissenschaftliches Zeitalter hat es mit sich gebracht, dass wir die naturwissenschaftliche Beschreibung als die eigentlich und einzig wahre ansehen, so selbstverständlich, dass wir es nicht einmal mehr erwähnen.
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detailliert in Drieschner 1979. Drieschner 2005.
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Das ist in gewisser Hinsicht auch berechtigt. Denn die naturwissenschaftliche Wahrheit ist eine, die von niemandem im Ernst geleugnet werden kann. Natürlich kann sich jemand in seiner Meinung über naturwissenschaftliche Wahrheiten irren, so wie wir uns in allem, was wir meinen, irren können. In der Naturwissenschaft kann man sich dann aber entweder auf eine gemeinsame Wahrheit einigen, wenn man nachschaut, wie es wirklich ist; oder das ist nicht möglich, aber dann kann man sich auf diese Unmöglichkeit einigen (im Prinzip, muss ich hier allerdings wieder sagen). Die objektive Wahrheit ist in diesem Sinn zwingend, niemand kann sich ihr im Ernst entziehen, und sie bietet insofern Sicherheit. Wenn jemand Interesse hat an Sicherheit und zwingender Wahrheit, dann ist er bei der objektivierenden Wissenschaft gut aufgehoben. Man kann aber sehen, dass dies ein sehr spezielles Interesse ist; dass jemand gerade dieses Interesse verfolgen sollte, ist keineswegs zwingend. Es gibt ja genügend andere Interessen. Denken Sie etwa an die Theorie der Sprechakte: Wenn ich etwas sage, will ich primär damit etwas erreichen – z. B. mit dem »objektiv« klingenden Satz: »Egon, der Mülleimer quillt über!«. – Auf einer allgemeineren Ebene entspricht dem das Interesse, das hinter meinen Äußerungen, Fragen oder Untersuchungen steckt. Es kann sein, dass ich unwiderlegliche Information über Naturvorgänge suche, viel öfter suche ich aber Orientierung für die nächsten Schritte in meinem Leben, oder ich versuche mich zu beruhigen über die Politik der Vereinigten Staaten im Irak, oder ich möchte meine Nachbarn beeindrucken. Diesen Interessen kann ich mit einer objektiven Theorie nicht dienen. Wie speziell das Interesse ist, das durch die objektivierende Theorie erfüllt wird, kann ich auch an den erwähnten Überlegungen zur Begründung von Quantenmechanik a priori sehen: Die Bedingungen, die ich an eine objektive Beschreibung von Wirklichkeit stelle, sind so eng, dass nur die Theorie der Quantenmechanik sie erfüllt.
3.
Realismus
Lassen sie mich, um das noch etwas zu konkretisieren, bei dem viel diskutierten Stichwort »Realismus« anknüpfen. Mit »Realismus« kann etwas gemeint sein, wie etwa bei Konrad Lorenz oder Gerhard Vollmer, das ich gern karikiere als die Behauptung: »Die Wirklichkeit ist wirklich wirklich!« Man sieht an dieser A
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Karikatur schon, dass ich mit dieser Art von Realismus nichts anfangen kann – genauso wenig, übrigens, wie mit ihrer Gegenbehauptung bei den »Radikalen Konstruktivisten«, etwa E. v. Glasersfeld, dass die Erkenntnisse der Neurologie darüber, wie ein System (z. B. ein Mensch) seine Wirklichkeit konstruiert, zeigten, dass die Wirklichkeit in Wirklichkeit nicht wirklich sei. Diesen Realismus meine ich aber hier nicht. In unserem Zusammenhang interessiert uns ein anderer Realismus, formuliert etwa als Antwort auf die Frage: »Worauf – wenn auf irgendetwas – referieren die theoretischen Terme der Physik?« Dahinter steht nun eine wirklich verständliche Frage: Sind die (»theoretischen«) Terme der Physik »rein theoretisch«, wie etwa mathematischen Begriffe, oder entspricht ihnen irgendetwas in der Wirklichkeit? Damit sind wir unvermeidlich bei der grundlegende Frage, was wir mit »Wirklichkeit« meinen. In der Realismus-Diskussion wird interessanterweise oft vorausgesetzt, das sei bekannt bzw. selbstverständlich. Aber das wirklich philosophische Fragen fängt dabei erst an. Bei der Frage nach der Wirklichkeit stoßen wir zunächst auf die Diskussion der Wahrheitsdefinitionen. Die aristotelische Wahrheitsdefinition heißt in der mittelalterlichen Form: »Veritas est adaequatio rei et intellectus«. – Die Frage ist dabei, was es überhaupt bedeuten kann, dass »ein Gedanke« (oder »eine Aussage«) mit »der Sache« (also »der Wirklichkeit«) übereinstimmt. – Diese Frage nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit will ich aber hier nicht thematisieren. Sondern ich setze voraus, dass ich für alltägliche Zusammenhänge weiß, was es bedeutet, etwas sei wirklich, etwa im Gegensatz zum Kino oder zum Traum. Unsere Frage ist, was im Vergleich dazu die Wirklichkeit eines Elektrons oder eines Quarks bedeutet. Offenbar sind diese physikalischen Gegenstände nicht in demselben Sinn wirklich wie z. B. ein Haus oder ein Pferd – das ich sehen kann, das mir im Weg sein kann etc. Um einen solchen abstrakteren Gegenstand »wirklich« zu nennen, muss ich vom vollen umgangssprachlichen Begriff der Wirklichkeit Abstriche machen. Die Realismus-Diskussion handelt m. E. im Wesentlichen davon, welche Abstriche sinnvoll sind und welche nicht.
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Quantenmechanik
Betrachten wir als Beispiel die Quantenmechanik, die m. E. den radikalsten Einschnitt in die Beschreibung der Wirklichkeit gebracht hat, von der Entwicklung der Naturwissenschaft selbst her. Warum ist das so? Anders als alle früheren, »klassischen« physikalischen Theorien gibt die Quantenmechanik nicht eine Beschreibung der Wirklichkeit, wie sie ist. Das Muster dafür wäre die klassische Punktmechanik, die eine Menge von Massenpunkten, etwa die Sonne mit ihren Planeten, beschreibt, indem sie für jeden Massenpunkt zu jeder Zeit Ort und Impuls angibt. Aus diesen Angaben kann man dann alle physikalischen Größen zu dieser Zeit berechnen; man hat damit alle Eigenschaften dieses Objekts angegeben, wie sie wirklich sind. Entsprechendes gilt von allen »klassischen« Theorien; man kann sagen, dass sie die Wirklichkeit so beschreiben – idealerweise – wie sie an sich, »wirklich«, ist. Nicht so die Quantenmechanik. Ihre Aussagen sind von der Form: »Wenn das und das gemessen wird, dann wird man mit der und der Wahrscheinlichkeit das und das Ergebnis erhalten.«. Diese letztere Beschreibung kann im Prinzip mit der »klassischen« übereinstimmen, nämlich dann, wenn die Voraussagen mit Sicherheit gemacht werden, also mit Wahrscheinlichkeit eins oder null. Dann ist z. B. die Aussage: »Wenn der Ort des Massenpunkts M gemessen wird, dann wird man mit Sicherheit das Ergebnis x erhalten« äquivalent der Aussage: »Massenpunkt M hat den Ort x.« Nun werden aber in der Quantenmechanik fast alle Voraussagen nur mit Wahrscheinlichkeiten zwischen null und eins gemacht, so dass jeweils mehr als ein Ergebnis einer Messung möglich ist: Die Quantenmechanik ist fundamental indeterministisch. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der Quantenmechanik und allen »klassischen« Theorien. Die Sache ist aber noch komplizierter. Denn auch vor der Entdeckung der Quantenmechanik hat man ja in der Physik mit Wahrscheinlichkeiten gearbeitet. Es gibt die berühmte Formulierung des klassischen Determinismus bei Laplace: »Eine Intelligenz, die für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, von denen die Natur beseelt ist, und die gegenseitige Lage aller Wesen, die sie ausmachen, wenn sie überdies genügend weit reichte, um alle diese Gegebenheiten der Analyse zu unterziehen, dann umfasste sie in einer einzigen A
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Formel die Bewegungen der größten Körper des Universums und die des leichtesten Atoms: nichts wäre für sie unsicher, und die Zukunft wie die Vergangenheit wäre vor ihren Augen gegenwärtig.« 3 Sie stammt aus der Einleitung zu einem Buch von Laplace über Wahrscheinlichkeit. Er beschreibt dort den Determinismus um zu sagen: Eigentlich verläuft die Natur nach deterministischen Gesetzen; wir Menschen mit unserem endlichen Verstand sind nur nicht in der Lage, diese deterministische Komplexität zu durchschauen, und deshalb nehmen wir Zuflucht zu einer angenäherten Beschreibung mit Wahrscheinlichkeiten. Aber eine »intelligence«, wie er sie beschreibt, würde keine Wahrscheinlichkeiten brauchen. Das bleibt auch richtig für eine Theorie wie die Statistische Thermodynamik, die ganz auf Wahrscheinlichkeitsüberlegungen beruht. Auch hier können wir unterstellen, dass die grundlegende Mechanik der Moleküle, die eigentlich die Vorgänge richtig beschreibt, deterministisch ist. Wir brauchen Wahrscheinlichkeiten – also die ganze Statistische Thermodynamik – nur deshalb, weil die mechanisch beschreibbaren Vorgänge so komplex sind, dass unser endlicher menschlicher Verstand dafür nicht ausreicht. – Dass diese Grundüberzeugung heftige Diskussionen über die Grundlagen der Statistischen Thermodynamik ausgelöst hat, die heute noch nicht allgemein als gelöst angesehen werden, steht auf einem anderen Blatt. Diese Schwierigkeiten – etwa der Umkehr- und der Wiederkehreinwand gegen die Statistische Thermodynamik – beruhen m. E. eher auf einem ungenügenden Verständnis des Begriffs der Wahrscheinlichkeit; die Diskussion der Grundlagen der Quantenmechanik bietet dann eine Gelegenheit für neue begriffliche Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit. Das Besondere der Quantenmechanik ist es, dass sie fundamental indeterministisch ist in dem Sinn, dass der Ausweg, die Wahrscheinlichkeiten kämen nur von unserem Mangel an Wissen, hier nicht funktioniert. Das ist nun ein sehr kontroverses Thema, auf das ich noch zurückkomme. Alle so genannten Interpretationsprobleme der QuantenmechaLaplace 1814, S. 2: »Une intelligence qui, pour un instant donné, connaîtrait toutes les forces dont la nature est animée, et la situation respective des êtres qui la composent, si d’ailleurs elle était assez vaste pour soumettre ces données à l’analyse, embrasserait dans la même formule, les mouvements des plus grand corps de l’univers et ceux du plus léger atome: rien ne serait incertain pour elle, et l’avenir comme le passé, serait présent à ses yeux.«
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nik lassen sich auf diese eine Struktureigenschaft, den Indeterminismus zurückführen. So umfassend ist das hier nicht unser Thema, aber es wird uns Gelegenheit geben, im Folgenden etwas zur Klärung des Begriffs der Wirklichkeit beizutragen. Die »klassischen« Theorien beschreiben etwas, das wirklich so ist. (Ich weiß, dahinter stecken große Schwierigkeiten; aber für den Augenblick, zur Unterscheidung von der Quantenmechanik, erlauben Sie mir bitte diese Vereinfachung.) Wie ist das aber mit der Quantenmechanik? Wenn die Theorie fast nur Voraussagen mit echten Wahrscheinlichkeiten macht, bei denen es jeweils fundamental mehrere mögliche Ergebnisse gibt, wo bleibt dann die Realität? – Das ist die eine große Frage der Interpretation der Quantenmechanik, über die es auch heute noch Kontroversen gibt. Diese Kontroversen berühren m. E. vor allem einen Punkt im Zugang zur Naturwissenschaft: Von der klassischen Physik waren wir es gewohnt, dass sie die Natur als an sich vorhanden beschreibt, mit Eigenschaften, die ihren Gegenständen einfach zukommen. Es liegt nahe, von jeder möglichen Physik vorauszusetzen, dass ihre Aussagen von der gleichen Art sind. Denn auch in unserem Alltagsverständnis beschreiben wir die Welt als etwas, das einfach in bestimmter Weise ist; wir setzen jedenfalls voraus, dass eine solche Beschreibung im Prinzip immer möglich wäre, auch wenn sie im Augenblick faktisch nicht möglich ist. Die Quantenmechanik lässt allerdings, wegen ihres Indeterminismus, anscheinend eine solche Auffassung nicht zu. Ich kann jeweils für eine bestimmte Messung sagen: Wenn sie gemacht wird, dann wird man mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten bestimmte Ergebnisse finden – aber im Allgemeinen sind mehrere Ergebnisse möglich, wie gesagt, und dann kann nicht eines davon die Wirklichkeit beschreiben. Insbesondere sind verschiedene Messungen möglich, die miteinander nicht verträglich sind: Wenn ein bestimmtes Ergebnis der einen Messung vorliegt, dann sind von den Eigenschaften, die Ergebnis der anderen Messung sein können, mehrere möglich; keine von ihnen kann als die wirkliche Eigenschaft des gemessenen Objekts angesehen werden. Diese Probleme kennt wohl jeder, der sich je mit Quantenmechanik beschäftigt hat. Sie sprechen dafür, den Objekten der Quantenmechanik (also z. B. den Elementarteilchen) nicht »an sich« vorhandene Eigenschaften zuzuschreiben. Damit verlieren diese Objekte zweifellos etwas von »Wirklichkeit«, etwa im Vergleich mit den A
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schon erwähnten Häusern oder Pferden. Wie weit man bereit ist, einen solchen Verlust zu akzeptieren, hängt von vielen Voraussetzungen ab, offenbar auch von fundamentalen Einstellungen zur Welt und zum Leben. Beispielhaft hat sich das an der berühmten Kontroverse zwischen Niels Bohr und Albert Einstein über die Quantenmechanik gezeigt: Bohr war sehr befriedigt, dass sogar in der Physik das vorkam, was er auch sonst für wichtig hielt, nämlich dass bei allen Phänomenen unser Zugang zu ihnen eine entscheidende Rolle spielt. »Wir hängen in der Sprache« war z. B. ein häufiger Ausspruch Bohrs. Einstein dagegen erwartete von einer physikalischen Theorie, dass sie angibt, wie die Welt wirklich ist, und war deshalb mit der Quantenmechanik ganz unzufrieden.
5.
Bohmsche Mechanik
Es gab viele Vorschläge, die Quantenmechanik so umzuformulieren, dass sie doch nur von wirklich vorhandenen Eigenschaften ihrer Objekte handelt. Gehalten hat sich davon nur der Vorschlag von David Bohm 4 , der neuerdings wieder lebhaft diskutiert wird 5 . Bohm geht von der Schrödinger-Gleichung der Quantenmechanik aus, er bietet also keine andere Theorie an, sondern nur eine andere Interpretation der üblichen Theorie. Er schreibt den Formalismus der Quantenmechanik so um, dass er einem klassischen Hamilton-Jakobi-Formalismus ähnelt, aber das ist m. E. vor allem eine Darstellung seiner Motivation. Der wesentliche Schritt seiner Interpretation ist, dass er die Wahrscheinlichkeitsdichte als Dichte wirklicher Teilchen interpretiert, und entsprechend den Wahrscheinlichkeitsstrom als einen wirklichen Strom von Teilchen, also als eine Gesamtheit von Teilchenbahnen. Das ist formal zunächst zulässig, denn die Kontinuitätsgleichung, wie man sie für Teilchen fordern muss, gilt auch für die Wahrscheinlichkeitsdichte: Die Wahrscheinlichkeitsdichte kann weder entstehen noch vergehen, sie ist insgesamt immer Eins und überall positiv. Dass die Interpretation als Teilchenbahnen über die Kontinuität hinaus nicht recht funktioniert, ficht die »Bohmianer« wenig an. Das wäre aber eine längere Diskussion. 4 5
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Bohm 1952. Passon 2004.
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Was uns hier interessiert ist die Frage, wie man eine solche Interpretation rechtfertigt: Empirisch gesehen, also was die Physik im engeren Sinn betrifft, ändert sich durch die Bohmsche Umformulierung nichts. Der Formalismus ist isomorph dem in der üblichen Quantenmechanik, die messbaren Größen sind dieselben und die Voraussagen, die aus dem Formalismus folgen, sind auch dieselben. Es gibt daher schon von der Struktur her keine Möglichkeit, empirisch zwischen den beiden Formulierungen zu unterscheiden. Man sollte deswegen bei Bohm lieber nicht von einer anderen Theorie sprechen sondern nur von einer anderen Formulierung der Quantenmechanik. Bohm hat zwar in seinem ursprünglichen Artikel auch eine geänderte, empirisch unterscheidbare Theorie angekündigt, aber diese Versuche werden offenbar von seinen Anhängern heute nicht weiter verfolgt. Die heutigen Anhänger Bohms ziehen seine Formulierung der Quantenmechanik der üblichen vor, weil sie erlaubt, von Bahnen der beschriebenen Teilchen zu sprechen; die Quantenmechanik würde damit doch erlauben, meinen sie, eine an sich vorhandene Wirklichkeit zu beschreiben, auch wenn diese nicht direkt empirisch aufweisbar sei. – Und das ist der Grund, warum diese Umformulierung hier interessant wird. Was bedeuten die in der Bohmschen Formulierung beschriebenen Bahnen? Zunächst: Sie sind prinzipiell nicht feststellbar; die Theorie selber ist so, dass diese Bahnen empirisch nicht auftauchen können. Einstein hatte eine Umformulierung der Quantenmechanik vorgeschwebt, bei der es (ähnlich wie bei der Thermodynamik) zusätzliche Parameter gibt, die eine Beschreibung im Sinne der »Ontologie der klassischen Physik« liefern. Diese Parameter könnten evtl. so schwer zugänglich sein wie die Koordinaten der einzelnen Moleküle, die als »verborgene Parameter« der Thermodynamik zu Grunde liegen, die aber im Prinzip messbar sind. – Das ist bei der Bohmschen Formulierung der Quantenmechanik anders; dort sind, wie erwähnt, gemäß der Theorie selber die »verborgenen Parameter« empirisch unzugänglich. Das war wohl auch der Grund, warum Einstein sich nicht für die Bohmsche Umformulierung erwärmen konnte; diese Lösung sei ihm »zu billig«, schrieb er an Max Born 6 . Ein weiteres Problem bietet der Charakter dieser Bahnen: Im 6
Einstein 1969. A
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Rahmen der Bohmschen Interpretation kann die Geschwindigkeit der Teilchen beliebig hoch werden. Die aus dem Feld v(x) folgende Wahrscheinlichkeitsdichte wird bei Bohm so übersetzt, dass die Teilchen umso schneller werden, je kleiner die Aufenthaltswahrscheinlichkeit in einem Raumbereich ist. Raumbereiche, in denen die Teilchendichte – etwa durch Interferenz – verschwindet, müssen die Bohmschen Teilchen mit unendlicher Geschwindigkeit durchqueren. Das würde aber der Relativitätstheorie widersprechen. Die Bohmsche Schule erwidert auf dieses Problem mit dem Hinweis, dass die Teilchenbahnen ja ohnehin empirisch nicht nachweisbar seien, dass daher auch kein Konflikt mit der Relativitätstheorie eintreten könne. – Damit wird die Sache allerdings ad absurdum geführt: Zunächst werden Bahnen als wirkliche Bahnen von Teilchen eingeführt; dann stellt sich heraus, dass sie unphysikalische Eigenschaften haben müssten, und zur Entkräftung dieses Einwands wird vorgebracht – April, April – es seien ja gar nicht wirkliche Teilchenbahnen! Dieses Problem ist in der Bohmschen Theorie prinzipiell nicht lösbar. Denn es hat sich gezeigt (erst nachdem Bohm seine Formulierung veröffentlicht hatte), dass eine Theorie mit verborgenen Parametern, welche der Relativitätstheorie genügt, nicht möglich ist; eine solche Theorie müsste empirisch nachweisbar andere Ergebnisse voraussagen als die Quantenmechanik 7 . Die Merkwürdigkeit, dass die Bohmschen »Teilchen« mit Über-Lichtgeschwindigkeit fliegen, ist also strukturell unvermeidlich. Trotz der Schwierigkeiten wird die Bohmsche Redeweise über die Quantenmechanik noch heute lebhaft diskutiert. Ich möchte hier nicht weiter auf die inhaltlichen Fragen eingehen 8 , sondern auf den Aspekt der Theorien-Konkurrenz: Die Bohmsche Schule nimmt für sich in Anspruch, eine Alternative zur Quantenmechanik vorzulegen; empirisch ist zwischen dieser und der »üblichen« Quantenmechanik prinzipiell nicht zu unterscheiden. Was bedeutet das eigentlich? Die Physik hat den großen Vorteil, dass Streit um die Wahrheit von Aussagen im Allgemeinen empirisch entschieden werden kann. Brecht lässt etwa seinen Galilei sagen: »Mach die Augen auf! Schau genau hin!«. Darin steckt das Pathos der Aufklärung, und es ist doch Bell 1964: Direkte empirische Bestätigungen der Quantentheorie bei Clauser 1976 und Aspect 1982. 8 Vgl. aber meine Besprechung des Buchs von Passon in Drieschner 2008. 7
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eine wunderbare Sache: Man braucht sich auf niemand anderen zu verlassen, man kann selber die Fragen klären, evtl. gemeinsam mit einem Kontrahenten entscheiden, was wahr ist. Das geht aber bei der Bohmschen Theorie nicht, wie wir gesehen haben. Und ähnlich ist es mit anderen Angeboten auf dem Markt der Interpretationen der Quantenmechanik, etwa der »Viele Welten Theorie« oder der »Many Minds Theory« oder der »Statistischen Interpretation« oder noch anderen. Physikalisch sind sie alle äquivalent. Ich könnte mir denken, dass man – nach dem Muster des Vorgehens in der Mathematik – statt eine der vielen Theorien zur wahren Physik zu erklären die Äquivalenzklasse aller empirisch ununterscheidbaren Theorien als Beschreibung der Wirklichkeit nimmt. Das geht vielleicht nach dem Muster der Lessingschen Ringparabel; die Ringe der drei Söhne sind ja auch empirisch nicht unterscheidbar.
6.
Hohlwelttheorie
Betrachten wir zur Erläuterung einen einfacheren Fall, die sog. Hohlwelttheorie bzw. Innenwelttheorie. Diese Theorie tauchte im 19. Jahrhundert in Amerika auf und hatte eine Blüte in Deutschland um 1930. Diese Theorie behauptet, dass wir auf der Erde nicht auf der Außenfläche sondern auf der Innenfläche einer Kugel leben. Die übliche »Illusion« der konvexen Erde entstünde dadurch, dass Lichtstrahlen in Wirklichkeit nicht gerade sondern Kreise durch den Mittelpunkt des Kugel-Hohlraums seien. – Nähere Überlegung zeigte, dass man tatsächlich alle bekannten Phänomene für die »Innenwelt« reproduzieren kann, wenn man die gesamte Physik durch eine mathematische Spiegelung an der Erdoberfläche transformiert – bei der z. B. der (konventionelle) Abstand h vom Erdmittelpunkt in den Abstand R2 /h übergeht, mit dem Erdradius R. Auf diese Weise würden z. B. alle Objekte, inklusive aller Meterstäbe, »in Wirklichkeit« immer kleiner, je mehr sie sich der Mitte der Welt nähern. Einige ihrer Anhänger haben versucht, die Hohlwelttheorie experimentell zu beweisen, sogar mit »Erfolg«! 9 Wenn sie die Sache mit der Spiegelung an der Erdoberfläche verstanden hätten, dann müsste ihnen klar gewesen sein, dass ein experimenteller Beweis 9
Sehr schön dargestellt in Simanek 2003. A
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nicht nötig und auch gar nicht möglich ist. Damit habe wir hier einen zur Quantenmechanik analogen Fall vor uns: Es gibt zwei ganz verschiedene Formulierungen einer Theorie, die zu genau denselben Fakten passen; sie sind experimentell ununterscheidbar. Auch hier könnte man also sagen, dass die Wirklichkeit beschrieben wird durch die Äquivalenzklasse aller experimentell ununterscheidbaren Theorien. Nun lässt sich eine solche Äquivalenzklasse nicht direkt hinschreiben, man kann mit ihr auch nichts ausrechnen. Man muss sich für die Praxis an einen Repräsentanten dieser Klasse halten. Damit sind wir dann wieder bei dem alten Streit zwischen den Theorien, aber jetzt geht es nicht mehr darum, welche wahr ist, oder welche die eigentliche Wirklichkeit beschreibt, sondern die Frage ist, welche sich – als Repräsentant der Äquivalenzklasse, welche die »wahre« Beschreibung gibt – am besten für die Praxis eignet. Gegen die Hohlwelttheorie kann man dann mit der Einfachheit argumentieren: Die Physik wird in der Hohlwelt recht kompliziert; oder mit der Homogenität: Die Hohlwelttheorie zeichnet eine Kugel in der Welt aus, der leere Raum ist nicht, wie in der konventionellen Theorie, homogen und isotrop. C. F. v. Weizsäcker hat noch ein prinzipielleres Argument benutzt, nämlich die »semantische Konsistenz«. Sie bedeutet in diesem Fall, dass ich mit »Maßstab« etwas meine, das überall das Gleiche misst; dass also als Maßstab nur etwas taugt, das überall die gleiche Länge hat, jedenfalls nach der Theorie. Das ist in der konventionellen Theorie der Fall (mit unvermeidlicher Modifikation in der Relativitätstheorie), nicht aber in der Hohlwelttheorie.
7.
Minimal-Interpretation
In der Quantenmechanik haben wir den analogen Fall: Es gibt mehrere Formulierungen, die empirisch nicht unterscheidbar sind. Als »wahre« Theorie können wir also die Äquivalenzklasse aller solcher Theorien ansehen, für uns hier vor allem der »gewöhnlichen« Quantenmechanik und der Bohmschen. Dann kommt die Frage des geeigneten Repräsentanten: Soll man lieber auf Bohmsche oder lieber auf – sagen wir Bohrsche Art über Quantenmechanik reden? Ein idealer Repräsentant einer Äquivalenzklasse wäre einer, der nur die Eigenschaften hat, die alle Elemente der Äquivalenzklasse haben. Für die Quantenmechanik würde das bedeuten, dass man als 72
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Repräsentanten für die »wahre« Interpretation eine nimmt, die nur das enthält, was allen Interpretationen gemeinsam ist. Das wäre dann die gelegentlich »Minimalinterpretation« genannte, die sich im Wesentlichen mit Wahrscheinlichkeiten für mögliche Messungen begnügt. Sie wäre wohl am nächsten an der »Kopenhagener« Interpretation. Den Vertretern einer solchen Minimalinterpretation haben ihre Gegner vorgeworfen, sie wollten Fragen nach dem, was hinter den Phänomenen steckt, verbieten. Das ist sicher Unsinn; man kann ja niemandem das Fragen verbieten – und was sollte das nützen? Aber man wird solchen Kritikern die sokratische Frage stellen dürfen, was sie mit »hinter« den Phänomenen meinen. Man wird dann im Allgemeinen eine Antwort bekommen von der Art: »Ich (oder: Die Physik) möchte doch wissen, was da wirklich passiert, wie es im einzelnen zugeht, dass z. B. im Stern-Gerlach-Experiment ein bestimmtes Silberatom nach oben geht und ein anders nach unten.« Physikalisch wird eine solche Frage oft formuliert als die Verwunderung darüber, dass es in der Quantenmechanik zwei ganz verschiedene Mechanismen der zeitlichen Zustandsänderung gibt, nämlich erstens gemäß der Schrödingergleichung und zweitens als »Kollaps der Wellenfunktion« infolge einer Messung; man sucht dann nach einer Beschreibung dieses »Kollaps« mit Hilfe der Schrödingergleichung. Eine solche Frage setzt schon voraus, was erst zu rechtfertigen wäre, nämlich dass es eine Wirklichkeit »hinter« der quantenmechanischen Beschreibung gibt. Im täglichen Leben können wir immer annehmen, dass die Dinge bestimmte Eigenschaften haben, unabhängig davon, ob jemand sie zur Kenntnis nimmt oder nicht. Die klassische Physik hat dies ausgebaut zu einer »Ontologie«: Sie redet von Objekten, die ihre Eigenschaften haben, »an sich« und unabhängig von einer Messung. Die Quantenmechanik mit ihren inkommensurablen Observablen hat uns gelehrt, darüber mindestens noch einmal nachzudenken. Die Frage nach einer Beschreibung dessen, »wie es wirklich zugeht«, setzt schon eine Entscheidung darüber voraus, welche begründet werden müsste, und welche die Minimal-Interpretation gerade nicht trifft. Eine weitere Kritik nennt den »minimalen« Zugang »instrumentalistisch«. Ein Instrumentalist ist jemand, der nur die Ablesung der Messinstrumente real nennen will, nicht aber etwa damit gemessene Objekte. Hier muss man nun freilich unterscheiden: Für unsere alltägliche Welt, den »Mesokosmos« nach Vollmer, scheint mir der A
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Instrumentalismus nicht sinnvoll; wir können, wir müssen sogar damit rechnen, dass die Welt um uns ihre Eigenschaften einfach hat. Für die Objekte der Quantenmechanik ist das aber anders. Sie sind uns gar nicht anders zugänglich denn als abstrakte »Träger« der messbaren Eigenschaften. Für die Quantenmechanik ist es also angebracht, den Aspekt zu betonen, der eigentlich auch für die klassische Physik gilt: Die Objekte der Theorie, die »Modelle« der Wirklichkeit, sind nichts anderes als Zusammenfassungen von passenden Observablen. Die Wirklichkeit beschreibe ich »klassisch« mit ihrer Hilfe, indem ich ihnen wirklich Dinge zuordne – etwa dem Massenpunkt der Punktmechanik den wirklichen Mond. Die Objekte der Quantenmechanik sind uns aber gar nicht zugänglich als »Dinge«, unabhängig von der Theorie. Es gibt sie überhaupt nur als Zusammenfassung von Observablen. Für diese Art von Objekten scheint also der Instrumentalismus geradezu geschaffen 10 . Ein Einwand gegen eine solche Trennung liegt nahe: Kann es denn sein, dass die Beschreibung der Welt in zwei Teile zerfällt, einen »klassischen« und einen quantenmechanischen? – Nein, das kann auch m. E. nicht die Lösung sein. Diese Konsequenz ist aber auch nicht in meinem Vorschlag enthalten. Vielmehr erlaubt sicher die Natur insgesamt ein Kontinuum von Beschreibungen, von der grundlegenden Quantenmechanik bis hin zu ganz klassischen, makroskopischen Theorien. Der springende Punkt ist der Näherungscharakter der Physik insgesamt: Physikalische Theorien können niemals in demselben Sinn exakt sein wie mathematische, sie setzen vielmehr fundamental eine Näherung (Idealisierung, Isolierung) in ihrer Naturbeschreibung voraus. Vor diesem Hintergrund muss man betonen, dass die quantenmechanische Beschreibung genähert mit der klassischen übereinstimmt, wo die klassische brauchbar ist, also im Allgemeinen bei makroskopischen Gegenständen sowie bei der Beschreibung des Messprozesses. Dass dieser Grundsatz (der Näherung) es so schwer hat, sich innerhalb der Naturphilosophie durchzusetzen, liegt sicher auch an deren formallogischer Orientierung: Logisch gibt es nur wahr oder falsch, und »beinah richtig« ist eben falsch. Damit kommt man aber in der Physik nicht weit, in der Physik ist alles nur »beinah richtig«. Das detailliert auszuführen würde allerdings einen weiteren Aufsatz brauchen. Hier ging es ja vor allem um das Verhältnis der 10
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Vgl. Drieschner 1979 und 1993.
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Naturphilosophie und Naturwissenschaft
Naturphilosophie zur Naturwissenschaft. Ich hoffe, es ist klar geworden, wie komplex dieses Verhältnis ist. Es lässt sich vor allem nicht als Gegenstand einer etablierten Wissenschaft abhandeln, sondern es braucht – wie alle Philosophie – immer erneut und frisch die sokratische Frage: »Weißt du auch, wovon du redest, wenn du das und das sagst?«
Literatur: Aspect, A. et al. (1982): Experimental Test of Bell’s Inequalities Using Time-Varying Analyzers, in: Phys. Rev. Lett. 49, 1804. Bell, J. S. (1964): On the Einstein-Podolsky-Rosen Paradox, Physics l, 195. Bohm, D. (1952): A suggested interpretation of the quantum theory in terms of »hidden« variables, in: Phys. Rev. 85, 166–180. Clauser J. F. (1976): Experimental Investigation of a Polarization Correlation Anomaly, Phys. Rev. Lett. 36, 1223. Drieschner, M. (1979): Voraussage – Wahrscheinlichkeit – Objekt. Über die begrifflichen Grundlagen der Quantenmechanik. Berlin. Drieschner, M. (1993): Objekt und Realität, in: Geyer, B./Herwig, H./Rechenberg, H. (Hg.): Werner Heisenberg als Physiker und Philosoph, Heidelberg, S. 229–237. Drieschner, M. (2005): Popper and synthetic judgements a priori, in: Journal for General Philosophy of Science 36, 49–61. Drieschner, M. (2008): Besprechung von Passon 2004, erscheint in: Journal for General Philosophy of Science. Einstein, A./Born, M. (1969): Briefwechsel 1916–1955, München. Laplace, P. S. de (1814): Essai philosophique sur les probabilités, Paris. Passon, O. (2004): Bohmsche Mechanik, Frankfurt/M. Simanek, D. E. (2003): Turning the Universe Inside-Out. http://www.lhup.edu/ ~dsimanek/hollow/morrow.htm.
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Hans-Dieter Mutschler
Zur Metaphysik der Natur
Zusammenfassung: Es ist äußerst unklar, was Naturphilosophie wirklich bedeutet. Versteht man sich als Naturalist, so denkt man dabei an die Reflexion auf die Methoden (Ia) oder auf die Inhalte der Wissenschaft (Ib). Versteht man sich dagegen nicht als Naturalist, wie im Falle des Autors, so wird man vielleicht (Ia) und (Ib) hinsichtlich der Natur akzeptieren, aber man wird eine Ausnahme für den Menschen machen (IIa). Dies scheint jedoch unvernünftig. Es wäre besser, Natur als etwas anzusehen, das die metaphysische Qualität hat, Neues zu produzieren, was die Inhalte der Naturwissenschaften transzendiert (IIb). Tatsächlich ist (IIb) eine logische Voraussetzung vieler Disziplinen wie Kybernetik, Bionik, Spieltheorie usw., insofern sie sich auf Natur beziehen. Abstract: It is quite unclear, what ›philosophy of nature‹ really means. If you are a naturalist, you will think of it (Ia) as a reflexion on the methods or (Ib) on the contents of science. If you are not, as in the case of the author, you may (IIa) accept (Ia) and (Ib) concerning nature, but you will make an exception for human beings. But this seems unreasonable. It would be better to think (IIb) of nature as endowed with the metaphysical quality of producing novelty, which trancendens the capacity of natural science. In fact, (IIb) is logically implied in many disciplines as for instance, cybernetics, bionics, game theorie and so on, if applied to nature. Naturphilosophie hängt, wie alle Philosophie, von der Anthropologie ab. Will man dem Menschen eigenständige Qualitäten gegenüber dem Naturzusammenhang zuschreiben oder nicht? Qualitäten die 76
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womöglich den Kompetenzbereich der Naturwissenschaft übersteigen? Verneint man die letztere Frage im Sinn des Naturalismus, dann wird Naturphilosophie entweder (Ia) »Wissenschaftstheorie« im Sinn einer formalen Methodenreflexion, oder aber man konzentriert sich auf die Inhalte und versucht (Ib), die allgemeinsten ontologischen Vorstellungen der Naturwissenschaften synthetisch darzustellen. Den ersten Weg ging die Wissenschaftstheorie seit dem Wiener Kreis bis hin zu Autoren wie Baltzer, Rosenberg oder Schurz. Den Letzteren gingen Autoren wie Kanitscheider oder Drieschner. 1 Ganz anders stellt sich die Sachlage dar, wenn man die Frage bejaht und dem Menschen emergente Qualitäten zuspricht, die der Naturwissenschaft nicht zugänglich sind. In diesem Fall gibt es wiederum zwei Möglichkeiten: Entweder man beschränkt diese emergenten Qualitäten (IIa) auf den Menschen 2 oder aber, man sieht (IIb) auch in der Natur Analogien zu diesen Qualitäten 3 . Wir haben also vier Möglichkeiten, die Naturphilosophie zu verorten: I a) Methodik der Naturwissenschaft Naturalismus b) Ontologie der Naturwissenschaft II a) Natur als das Andere des Menschen Antinaturalismus b) Natur mit emergenten Eigenschaften Ich werde die naturalistische Position (Ia/b) nicht weiter diskutieren, weil ich sie nicht teile. Die Literatur zur Frage nach dem Naturalismus und Antinaturalismus füllt Bibliotheken. Aus Platzgründen werde ich meinen antinaturalistischen Standpunkt hier nicht ausführlich begründen, sondern zunächst einfach einnehmen 4 , wobei sich allerdings antinaturalistische Argumente aus dem Folgenden ergeben werden. In Bezug auf diesen meinen Standpunkt werde ich (IIa) bestreiten und (IIb) halten. (IIa) ist ein Nachfolgeprojekt des Cartesischen Dualismus: Die Natur ist das ganz Andere. Dagegen werde ich die These vertreten, dass der Naturalismus nur entweder ganz falsch oder ganz wahr ist, nicht aber falsch für den Menschen und wahr für die Natur (IIa). vgl. Drieschner 1981 und Kanitscheider 1984. vgl. Bartels 1996 und Esfeld 2002. 3 vgl. Köchy 1997, Rehmann-Sutter 1996, Kather 2003 und Mutschler 2002. 4 In Bezug auf die Naturphilosophie habe ich Näheres ausgeführt in Mutschler 2002. Die gründlichste Auseinandersetzung mit dem Naturalismus findet man wohl bei Keil 1993. 1 2
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Hans-Dieter Mutschler
Der Grund dafür ist verhältnismäßig einfach: Wenn wir (IIa) akzeptieren, dann kann es keinen Übergang Mensch-Natur geben. Die Evolutionstheorie müsste dann falsch sein. Mit diesem Problem brauchen sich die Naturalisten nicht herumzuschlagen. Sie betrachten den Menschen überhaupt nur als Objekt einer wissenschaftlich beschriebenen Natur. Für sie geht der Mensch im Naturzusammenhang auf. Der Antinaturalist muss hingegen zeigen, dass der Mensch sowohl der Natur gegenübersteht, als auch ihr Teil ist, eine Dialektik, die ausbuchstabiert sein will und die nach meiner Auffassung den Inhalt einer genuinen Philosophie der Natur ausmachen sollte. Um ein Beispiel vorweg zu machen, das Position (IIb) verdeutlicht: Für viele Naturalisten ist die Frage nach den Erlebnisqualitäten die härteste Gegeninstanz. In der Tat sieht man nicht so recht, wie wir z. B. durch noch so genaue Analyse der Gehirnzustände jemals wissen könnten, wie es sich anfühlt, dieser Mensch zu sein. Thomas Nagel hat dies in einem einflussreichen Artikel in Bezug auf die Fledermaus ausgeführt, die mit ihrer Echolot-Orientierung ein Selbstgefühl haben muss, das uns schwerlich zugänglich ist. 5 Nagels Argument wurde unendlich oft kommentiert oder kritisiert, merkwürdigerweise wird es aber fast nur auf den Menschen bezogen, obwohl Nagel mit Bedacht ein Tier gewählt hatte. Der Witz ist nämlich: Wenn Nagel recht hat, dann zeigt sein Argument, dass es auch in der außermenschlichen Natur Qualitäten gibt, die der Naturwissenschaft unzugänglich sind. Nicht umsonst bekennt sich Nagel zum Proto-Panpsychismus. 6 Der Antinaturalismus lässt sich nicht auf den Menschen beschränken. Nagel ist weltanschaulicher Materialist und fordert daher eine Neudefinition des Begriffs der »Materie«. 7 Mir scheint aber, dass ein Proto-Panpsychismus kein Materialismus sein kann. Wer psychische Qualitäten in die Materie hineinlegt, ist kein Materialist. »Materialismus«, »Physikalismus«, »Naturalismus«?: Ich werde diese Begriffe synonym verwenden. Worum es sich dabei handelt, ist aber höchst unklar. Robert van Gulick staffiert z. B. seinen »nichtreduktionistischen Materialismus« mit einer Teleosemantik aus. 8 Nagel 1996, S. 229 ff. Nagel 1996, S. 251 ff. 7 Nagel 1996, S. 244. 8 Gulik in Beckermann S. 157 ff. Die Teleosemantik wurde von Ruth Millikan begründet, bei der sich schon dieselbe Mehrdeutigkeit findet. Sie sagt: »Alle Ziele beziehungsweise Zwecke – die des Herzens, die der Gene, die der Meme und die der Menschen – 5 6
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Diese macht reichlich Gebrauch von teleologischen Begriffen und Wertbegriffen. Es ist aber nicht leicht zu sehen, weshalb das noch »Materialismus« sein soll. Oder Gerhard Vollmer hat sich dazu durchgerungen, Normativität dem Kompetenzbereich der Soziobiologie zu entziehen und als eigenständig anzuerkennen. Gleichwohl will er nach wie vor Naturalist sein. 9 Wie das zusammengehen soll, ist ziemlich unklar. Es scheint, dass man an folgenden Abgrenzungen festhalten sollte: Werte, Ziele, Zwecke und Normen sind nach naturalistischer Überzeugung nichts Objektives, weder in Bezug auf den Menschen, noch in Bezug auf die Natur. Objektiv ist nach dieser Überzeugung nur das, was sich einer Kausalanalyse erschliesst. Dies war die Position des klassischen Naturalismus von Schlick bis Mackie 10 und an ihr sollte man festhalten. Wenn Vollmer die Natur zu einem Generator von Normen macht, dann ist er näher bei Schelling als bei Darwin. Allerdings hat sich auch Schelling als »Naturalist« bezeichnet, aber ein solcher »Naturalismus« ist doch von ganz anderer Art als das, was wir heute gewöhnlich so nennen, obwohl – um die Verwirrung vollständig zu machen – auch dieser Begriff jetzt wieder verwendet wird. Jürgen Habermas vertritt z. B. »einen nicht-szientifischen« oder »weichen« Naturalismus. 11 Der Begriff »nicht-szientifisch« zeigt schon, dass es sich hier um etwas ganz anderes handelt. Ich möchte dagegen den Begriff »Naturalismus« in seinem ursprünglichen Sinn verwenden. Danach ist ein Naturalist nur derjenige, der zur Erklärung aller Weltphänomene ausschließlich von der Naturwissenschaft Gebrauch macht und sonst nichts. Lehnt man den szientifischen Naturalismus ab, dann entsteht das Problem, wie man den Mensch-Natur-Übergang denken soll. Habermas vertrat sehr lange die Position (IIa), die einen solchen Übergang leugnet. Probleme der ökologischen Ethik und die Gefahren einer ausufernden Biotechnologie brachten ihn jedoch dazu, einen solchen Übergang zu fordern, ohne dass er das Problem gelöst hätte. 12 sind aus exakt demselben Holz geschnitzt.« (in: Becker 2003, S. 94) Aber wenn die Menschen zu realer Zwecksetzung befähigt sind, läuft dies auf eine Teleologisierung der Natur hinaus. 9 Vollmer in Bayertz 1993, S. 103 ff. 10 Schlick vertritt eine totale Subjektivierung des Werthaften in 1930. Mackie 1997 spricht von der »Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen«. 11 Habermas 2005, S. 157. 12 Näheres dazu unter Mutschler 2006, S. 69 ff. A
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Es fehlt uns die Sprache für einen solchen Übergang und wir fangen nur mühsam an, uns einer solchen Sprache zu vergewissern. Jan-Christoph Heilinger gab vor kurzem eine »Naturgeschichte der Freiheit« heraus, in der verschiedene Autoren sich an diesem Problem abmühen. 13 Man sucht nach Analogien von Freiheitsgeschehen in der außermenschlichen Natur. Daher die neu aufgeworfene Frage nach dem »Geist der Tiere«. 14 Es ist eben extrem kontraintuitiv anzunehmen, dass der Geist des Menschen aus dem Nichts entstanden sein soll. Entweder er hat Vorformen oder es gibt ihn überhaupt nicht (die einzig wirklich konsequente szientifische Position scheint mir der eliminative Materialismus). Doch wenn es den Geist gibt, dann lässt er sich nicht im Sinn von Position (IIa) sauber vom Rest der Natur abtrennen. Man kann das Problem aber auch von einer anderen Seite her angehen. Naturalisten lieben es, an der Physik Maß zu nehmen. Wenn es eine unmetaphysische Wissenschaft gibt, dann die Physik. 15 Von daher hat sich die Meinung durchgesetzt, alle Naturwissenschaften seien so eine Art von Physik. Ich denke, dass das nicht richtig ist. Die metaphysischen Voraussetzungen mancher zu den Naturwissenschaften gezählten Disziplinen sind zuweilen so stark, dass sie von sich aus den Naturalismus sprengen, auch wenn dies ihren Vertretern oft nicht bewusst zu sein scheint. Ein prominentes Beispiel ist etwa die Bioinformatik. Seit der Entdeckung der Doppelhelix durch Crick und Watson hat man den Begriff der »Information« auf die DNA angewandt, weil man ihn für einen naturwissenschaftlichen hielt. Das ist aber deshalb problematisch, weil nach allgemeiner Überzeugung Information neben der syntaktischen auch eine semantische und pragmatische Dimension hat, von der höchst unklar ist, ob sie sich »naturalisieren« lassen. Der Biokybernetiker Bernd-Olaf Küppers sagt z. B.: »Die zentrale Frage im Hinblick auf das Problem der Lebensentstehung ist die, inwieweit sich der Begriff der semantischen Information überhaupt objektivieren und damit zum Gegenstand mechanistisch orientierter Naturwissenschaft machen lässt.« Nach Küppers wird die »Ursemantik biologischer Information« Heilinger 2007. Wild/ Perler 2005. 15 Ich übergehe die Frage, ob die Physik nicht vielleicht gnoseologisch-metaphysische Voraussetzungen machen muss. Meiner Ansicht nach ist dies der Fall. Die Physik ist unmetaphysisch in dem Sinn, dass ihre Objekte kein Telos, keine intrinsischen Werte, geschweige denn Normen enthalten würden. 13 14
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durch ein »dynamisches Wertekriterium« definiert, »das heißt, wir gehen von einem bereits sinnvollen Resultat der Evolution aus (in unserem Fall verkörpert durch die Zielsequenz) und zeigen, dass mit Hilfe eines Selektionsmechanismus (diese Entstehung von Information) erklärt werden kann.« Über die Pragmatik heißt es: Die »pragmatische Komponente« muss die für Sender und Empfänger relevanten »handlungstheoretischen Inhalte« umfassen. 16 Man sieht hier, in welchem Zirkel dieser Ansatz gefangen bleibt: er muss die Sinnkategorie bereits voraussetzen, wenn er den Begriff der »semantischen Information« näher bestimmen will und was die Pragmatik anbelangt, muss er behaupten, dass es »handlungstheoretische Inhalte« auch dann gibt, wenn keine Menschen auf der Welt existieren. Wie soll man sich das vorstellen? Es gibt sehr viele Disziplinen, die derart Ziele, Werte und Zwecke in die Natur hineinlegen. Ein weiteres prominentes Beispiel ist die Bionik. Unter »Bionik« versteht man eine in den 60er Jahren in den USA entstandene und seit 20 Jahren in Europa eingeführte wissenschaftlich-technische Verfahrensweise, bei der gewisse Optimierungseigenschaften der Natur als Vorbild für menschliche Zwecksetzungen genommen werden. Da die Natur seit Jahrmillionen unter Knappheitsbedingungen wirtschaftet, ist a priori zu erwarten, dass sie dabei gute Ergebnisse erzielen wird, was energetische Wirkungsgrade, Stoffausnützung, Recyclingfähigkeit, Luft- oder Wasserwiderstände, Elastizität usw. anbetrifft. Tatsächlich zeigt sich, dass bei Berücksichtigung der quantitativen Größenordnungen ein Grashalm weit stabiler ist als ein Fernsehturm, eine Meise weit effizienter als ein Düsenflugzeug oder dass die cw-Werte von Tierkörpern weit günstiger liegen als die von Autos oder Flugzeugen. So haben manche Tiere einen energetischen Wirkungsgrad von 98 %, während ein Benzinmotor nur 13 % oder eine elektrische Herdplatte nur 10 % haben. Man untersucht daher seit 20 bis 30 Jahren bei gegebenen technischen Zwecksetzungen entsprechende »Lösungsversuche« der Natur, um sich an ihr zu orientieren. Claus Matthecks schrieb ein Buch »Design in der Natur. Der Baum als Lehrmeister«. Hier zeigt er, wie die Stabilitätseigenschaften von Maschinenbauteilen optimiert werden können, wenn man sie wie Knochen wachsen lässt, d. h. so, dass sich dort Stoffe anlagern, wo die Belastung größer wird und umgekehrt. Übrigens werden die 16
Küppers 1986, S. 62, 83, 132/4. A
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Ergebnisse solcher Untersuchungen in der Automobilindustrie bereits großtechnisch angewandt, oft ohne zu wissen, was man tut. Wenn man nun dem Techniker die Kompetenz zu realer Zwecksetzung zuspricht und wenn er sich die Natur zum Vorbild für seine Zwecksetzungen nimmt, dann hat er sie ipso facto teleologisiert. Etwas, was nicht in sich zweckmäßig ist, kann auch kein Vorbild für zweckmäßige technische Gestaltung sein. Die philosophische Problematik, die hierin liegt, wird aber in der entsprechenden Fachliteratur meist nicht deutlich. 17 Damit ist ein altes philosophisches Problem wieder auf dem Tisch, nämlich die aristotelische Physis-Techne-Parallele. Bei Aristoteles war es so, dass »physis« und »techne« strukturparallel gebildet sein sollten 18 , wobei der »Anstoß zur Bewegung« einmal von »innen«, von der Natur, das andere mal von »außen«, vom Ingenieur oder Handwerker kam. Diese alte, oft belächelte Lehre ist nun plötzlich wieder sehr aktuell. Meines Erachtens wird sie nicht mehr verschwinden, weil wir immer mehr Verfahren kennen, die vom Technischen als starting point ausgehen, um Natur zu interpretieren. Das ist etwas ganz anderes als in der theoretischen Physik. Deren starting point sind nicht technische Zwecke, sondern nomologische, neutrale Strukturen. Im Prinzip ist dieses weithin unerkannte Problem schon sehr alt. Als Norbert Wiener 1948 die Kybernetik erfand, hatte sein Gründungsdokument den Titel »Kybernetik. Kommunikation und Kontrolle in Tier und Maschine.« Die Frage ist dann aber, was es wohl heißt, wenn ein Tier sich selbst kontrolliert. Ist das noch physikalisch beschreibbar? Die Analytischen Wissenschaftstheoretiker sahen in der Kybernetik sehr bald eine Möglichkeit, Teleologie aus der Welt zu schaffen. Wolfgang Stegmüller vertrat diesen Standpunkt noch in den 80er Jahren. In Bezug auf Selbstregulatoren sagt er: »Hier ist die Zweckbetrachtung fernzuhalten; was von Relevanz ist, sind allein die Struktur des Systems und bestimmte Naturgesetze.« Andererseits In dem gemeinsam von Werner Nachtigall und Charlotte Schönbeck herausgegebenen Band zur Bionik wird die Teleologieproblematik auf eine bloße ›Heuristik‹ herabgestuft. Man müsse daher die Analogien zwischen Naturprodukten und Artefakten »auf gemeinsam zugrunde liegende physikalische Gesetze zurückführen«. (Nachtigall/ Schönbeck 1994, S. 119 ff., 193) Aber Zwecke lassen sich eben nicht auf physikalische Gesetze reduzieren. Ich habe die Kritik an diesem ungelösten Problem näher ausgeführt in Mutschler 2002, S. 120 ff. 18 Phys. 194a21/22. 17
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gestand er zu, dass man bei Funktionsanalysen einen »Normalitätsstandard« benötige, da man z. B. wissen müsse, in welchen Sollwert das System bei Störungen zurückschwingt. Beim Festlegen eines solchen Standards seien »Wertvorstellungen maßgebend« 19 . Man sieht, die teleologische Instanz wird hier nur in die Metaebene verschoben und nicht etwa ersetzt. In vielen Lehrbüchern der Kybernetik, wie in dem von Ashby, wird von vornherein zugestanden, dass die Kybernetik von Wert- und Zielvorstellungen abhängig ist, die sie einfach voraussetzt. 20 Eine solche Instanz unterstützt also den Naturalismus nicht. Es ließen sich noch sehr viele Wissenschaften anführen, die man oft grob zur Naturwissenschaft rechnet, die aber auf der Schnittlinie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften liegen, so z. B. die Spieltheorie. 21 Diese Theorie ist zunächst einmal eine Theorie des strategischen Verhaltens, die mit teleologischen Begriffen und Wertbegriffen wie »Nutzen«, »Präferenzen«, »Strategien« usw. arbeitet. Weiß ich nicht, was diese Begriffe bedeuten, dann weiß ich auch nicht, was Spieltheorie ist, und dieses Problem verschleppt sich in die Biologie, wenn etwa Soziobiologen von ihr Gebrauch machen. 22 Die Naturalisten sind also gar nicht so naturalistisch, wie sie sich geben. Die Welt ist zu komplex, als dass wir sie nur am Leitfaden der Kausalität durchkonjugieren könnten. Humes Dictum von der Kausalität als dem »Zement des Universums« wird zwar oft zitiert 23 , aber meist falsch, denn Hume war eben nicht der Meinung, dass wir mit Wirkursächlichkeit allein auskommen. Nach ihm unterstellt nicht nur der Historiker, der die zweckhaften Handlungen der Menschen beschreibt, Finalursachen24 , auch die Natur sei voll davon: »Zweck, Absicht oder Plan drängen sich auch dem oberflächlichsten und stumpfsinnigsten Denker überall auf. … Die Natur tut nichts umsonst.« 25 Hume war realistischer als die heutigen Empiristen, die sich oft zu Unrecht auf ihn berufen. Tatsächlich legen wir permanent Ziele, Werte und Zwecke in die Natur hinein, ohne zu bemerken, dass wir 19 20 21 22 23 24 25
Stegmüller 1983, S. 683, 696, 703, 704. Ashby 1974, S. 317. Der klassische Gründungstext dazu ist Neumann/Morgenstern 1961. Ich habe dieses Problem näher ausgeführt in Mutschler 2002, S. 116 ff. So der Titel von Mackie 1974. Hume 1973, S. 27, 32. Hume 1993, S. 105. A
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damit das naturalistische Programm gesprengt haben. Das gilt z. B. auch oft für die Leib-Seele-Debatte. David Lewis spricht z. B. in seiner psychophysischen Identitätstheorie, wie so viele andere auch, von den »kausalen Rollen«, die unsere mentalen Zustände beim Übergang vom sensorischen Input zum motorischen Output spielen. 26 Doch eine Rolle kann man verschieden gut oder schlecht spielen oder sogar verfehlen. In der Physik kann man nichts verfehlen. Wenn ein Planet in seiner Bahn durch einen Kometen »gestört« wird, dann folgt er einer anderen, aber keiner schlechteren Bahn. Nur wir fühlen uns gestört, weil die Rechnung komplizierter wird. Aber wenn unsere Furcht vor einem tiefen Graben eine kausale Rolle bei unserem Zurückweichen spielt, dann spielt sie ihre Rolle schlecht, wenn wir zu spät zurückweichen und in den Graben fallen. All dies sind keine physikalischen, sondern evaluative, teleologische oder vielleicht sogar normative Begriffe. Das materialistisch bislang ungelöste Problem betrifft die Frage, wie in der Evolution jemals Neues entstehen konnte? Wo kommen Werte, Ziele und Zwecke her, wenn es sie vorher nicht gab? Wie macht es die Natur, dass sie Leben, Bewusstsein oder Selbstbewusstsein hervorbringt? Wir sind offenbar unfähig, dieses Neue in Termen des Alten zu beschreiben, geschweige denn, zu erklären. Nach den heroischen Versuchen des Physikalismus von Carnap bis Hempel und Stegmüller, alles Komplexere auf die Physik zu reduzieren, ist heute mit guten Gründen die Meinung vorherrschend, dass eine solche Theoriereduktion unmöglich ist. Die Biologie bedient sich z. B. eigener Kategorien, die in der Physik nicht enthalten sind. Dasselbe gilt für die Anthropologie relativ zur Biologie. Will man angesichts dessen am materialistischen Programm festhalten, dann muss man erklären, wieso die höheren Formen ontologisch »nichts als Materie« sein sollen, wo sie doch nicht auf die Beschreibung der Materie reduziert werden können? Nach dem offenkundigen Scheitern der Supervenienztheorien wird dazu heute der Emergenzbegriff herangezogen. 27 Es scheint aber, dass dieser Begriff eher ein Etikett für etwas Unverstandenes ist, als eine wirkliche Erklärung. Nach Ansgar Beckermann bedeutet Lewis 1989, S. 8. Es ist kein Zufall, dass Lewis an dieser Stelle ein technisches Artefakt als Vergleich heranzieht (ein Fahrradschloss). Er zehrt von der physis-techne-Paralelle. 27 Vgl. dazu Stephan 1999. 26
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»Emergenz«, dass ein System bestimmte basale Eigenschaften hat, aus denen die emergenten Eigenschaften des Systems in keiner Weise wissenschaftlich abgeleitet werden können, während sie durch die materielle Organisation der Systemkomponenten notwendig festgelegt werden. 28 Das heißt im Klartext, dass z. B. Leben notwendigerweise in Erscheinung treten müsste, wenn nochmals dieselben Bedingungen auf der Erde herrschten wie vor 4 Milliarden Jahren. Oder menschliches Bewusstsein müsste notwendigerweise entstehen, wenn noch einmal derselbe Affe vom Baum stiege, um ein Mensch zu werden. Abgesehen davon, dass wir diese Behauptungen niemals überprüfen können, weil wir nicht imstande sind, dieselben Bedingungen zu reproduzieren, ist die Behauptung einer Notwendigkeit rein metaphysisch. Im Gegensatz zu den starken Supervenienzlehren wird hier ja gerade kein nomologisches Verhältnis zwischen subvenienter und supervenienter Ebene unterstellt. Die behauptete Notwendigkeit hat offensichtlich nur die Funktion, den Materialismus vor dem Kollaps zu retten. »Emergenz« ist ein Etikett, keine Erklärung. Wenn wir also nicht imstande sind, das Entstehen von Neuem zu erklären, dann werden wir es wohl akzeptieren müssen. Natur hat offenbar die Fähigkeit, Neues zu produzieren. Sie trägt diese metaphysische Qualität in sich. Im Prinzip war das die Argumentation von Peirce vor über 100 Jahren: Entweder die Natur ist rein nomologisch erklärbar, dann kann sie nichts Neues produzieren oder die Natur produziert Neues – was wir ja sehen können –, dann brauchen wir als Erklärung eine evolutionäre Metaphysik. 29
Literatur: Ashby, W. R. (1974): Einführung in die Kybernetik, Frankfurt. Balzer, W. (1997): Die Wissenschaft und ihre Methoden. Grundsätze der Wissenschaftstheorie, Freiburg. Bartels, A. (1996): Grundprobleme der modernen Naturphilosophie, Paderborn. Bayertz, K. (Hg.) (1993): Evolution und Ethik, Stuttgart. Becker, A. u. a. (Hg.) (2003): Gene, Meme und Gehirne, Frankfurt a. M. Beckermann, A. (Hg.) (1992): Emergence or Reduction? Essays on the Prospects of Nonreductive Physicalism, Berlin. 28 29
Beckermann 1992, S. 106. Peirce 1991. A
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Hans-Dieter Mutschler Carnap, R. (1998): Der logische Aufbau der Welt, Hamburg (= 1 1928). Drieschner, M. (1981): Einführung in die Naturphilosophie, Darmstadt. Esfeld, M. (2002): Einführung in die Naturphilosophie, Darmstadt. Habermas, J. (2005): Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. Heilinger, J.-C. (Hg) (2007): Naturgeschichte der Freiheit, Berlin. Hempel, C. G. (1974): Philosophie der Naturwissenschaft, München. Hume, D. (1973): Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg (= 1 1777). Hume, D. (1993): Dialoge über natürliche Religion, Hamburg (= 1 1779). Kanitscheider, B. (Hg.) (1984): Moderne Naturphilosophie, Würzburg. Kather, R. (2003): Was ist Leben?, Darmstadt. Keil, G. (1993): Kritik des Naturalismus, Berlin. Köchy, K. (1997): Ganzheit und Wissenschaft, Würzburg. Küppers, B.-O. (1986): Der Ursprung biologischer Information. Zur Naturphilosophie der Lebensentstehung, München. Lewis, D. (1989): Die Identität von Körper und Geist, Frankfurt a. M. Mackie, J. L. (1974): The Cement of the Universe. A Study of Causation, Oxford. Mackie, J. L. (1977): Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, Stuttgart. Mattheck, C. (1997): Design in der Natur: der Baum als Lehrmeister, Freiburg. Mutschler, H.-D. (2002): Naturphilosophie, Stuttgart 2002. Mutschler, H.-D. (2006): Gibt es Werte in der Natur? In: Köchy, K. (Hg.): UmweltHandeln. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Umweltethik, München, S. 69 ff. Nachtigall, W./Schönbeck, Ch. (Hg.) (1994): Technik und Natur, Düsseldorf. Nagel, T. (1996): Letzte Fragen, Mainz. Neumann, J. v./ Morgenstern, O. (1961): Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, Würzburg (= 1 1944). Peirce, C. S. (1991): Naturordnung und Zeichenprozess, Frankfurt. Rehmann-Sutter, C. (1996): Leben beschreiben. Über Handlungszusammenhänge in der Biologie, Würzburg. Rosenberg, A. (2005): Philosophy of Science. A contemporary introduction, New York. Schlick, M. (1984): Fragen der Ethik, Frankfurt (= 1 1930). Schurz, G. (2006): Einführung in die Wissenschaftstheorie, Darmstadt. Stegmüller, W. (1983): Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band I: Erklärung, Begründung, Kausalität, Berlin. Stephan, A. (1999): Emergenz, Dresden. Wiener, N. (1963): Kybernetik. Kommunikation und Kontrolle in Tier und Maschine, Düsseldorf (= 1 1948). Wild, M./Perler, D. (Hg.) (2005): Der Geist der Tiere, Frankfurt a. M.
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Naturphilosophie – Konstitution und Abgrenzung
Zusammenfassung: Die abendländische Philosophie beginnt mit den Vorsokratikern als Nachdenken über die Grundsubstanz und die fundamentale Gesetzlichkeit der Natur und des Kosmos. Der metaphysisch-rationale Zugang zu den elementaren Naturprinzipien wurde in der Neuzeit durch Betrachtungen ersetzt, die als Argumentationsgrundlage die empirischen Theorien der Wissenschaften verwenden. Moderne Naturphilosophie besteht darin, die einzelwissenschaftlichen Resultate auf ihre allgemeinen begrifflichen Voraussetzungen hin zu analysieren. Im 20. Jahrhundert sind es v. a. die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik und die Theorien der Selbstorganisation, die ein verändertes Bild der Natur hervorgebracht haben. Das Charakteristikum der Naturphilosophie im Unterschied zur Allgemeinen Wissenschaftstheorie und Methodologie besteht darin, dass Naturphilosophie nicht nur die strukturellen Merkmale der Wissenschaftssprache untersucht, sondern sich auf die inhaltlichen Beschreibungen und Erklärungen einlässt und diese analysiert. Abstract: Natural Philosophy was constituted by pre-Socratic thinkers as a metaphysical reflection on the fundamental principles of nature. Following from a dissatisfaction with rational accounts of nature through pure reason in the Newton period, natural philosophy became based increasingly on empirical theories. In our own day, natural philosophy steers between approaches that emphasize an analytic theory of scientific structure, on the one hand, and a synthetic philosophy of science that is based on raw material from scientific specialists and is concerned with relating various sciences to one another, on the other. The aim of natural philosophy is the development of a unified conceptual scheme with which scientific theory and fact can be best synthesized. A
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1.
Theoretische Naturphilosophie
Die Naturphilosophie ist die älteste der philosophischen Teildisziplinen. Sie beginnt im Abendland bei Hesiod, der die kosmogonische Frage aufwirft, wie das Universum seine heutige vielfältige Gestalt erhalten hat. Er beantwortet die Ursprungsfrage, indem er das Chaos als strukturärmsten Anfangszustand ansetzt und den Eros als gestaltbildende Kraft verwendet. Die Gestaltbildungsidee setzt sich fort bei den vorsokratischen Philosophen, die nach dem Urstoff und dem Grundgesetz alles Seienden forschten. Die Vorsokratiker von Pherekydes an, über Thales, Anaximander, Anaximenes, Empedokles und Leukipp waren rationale Denker, die mit apriorischen Methoden metaphysische Naturtheorien entworfen haben. Der empirische Zugang war ihnen auf Grund der fehlenden passenden Mathematik und geeigneten Experimentaleinrichtungen noch verschlossen. Dennoch bahnten die »Physiologen« der griechischen Antike den Weg zum logisch kohärenten Verständnis der Natur, weshalb ihr Denken auch als die erste Aufklärung bezeichnet werden kann. Ihr Naturbild ist bereits weithin das der modernen Wissenschaft, denn die Natur ist unabhängig vom Willen der Götter, mit einer autonomen inneren Gesetzesstruktur ausgestattet, die vom Menschen erkannt und formuliert werden kann. Die stoffliche Beschaffenheit des materiellen Universums ist kein unerforschliches Rätsel, sie ist als finite Aufgabe begrenzter Komplexität dem Menschen grundsätzlich zugänglich und kann durch hypothetische Entwürfe, die anschließend der Kritik ausgesetzt werden, schrittweise erkannt werden. Die Gesetzesartigkeit des Kosmos allein hätte nicht ausgereicht, um den Denkern das Prädikat der Wissenschaftlichkeit zu zuerkennen. Wichtig ist die Überzeugung, dass die Gesetze die Phänomene so stark komprimieren, dass diese von den endlichen Vernunftwesen in lebenspraktischen Zeiträumen erfasst werden können. Aristoteles setzt die thaletische Tradition des yusilogo@ fort, indem er physikalische Grundgesetze vorschlägt und an einem befriedigenden Modell der Planetenbewegung arbeitet; yusiologffw, Naturphilosophie treiben, wird bei ihm wissenschaftstheoretische Reflexion und physikalische Hypothesenbildung in einem. In dieser Überlagerung bleibt die Naturphilosophie über Jahrhunderte bestehen, allerdings gliedern sich nach und nach einzelne Spezialdisziplinen aus. Zuerst macht sich die Astronomie selbständig. 88
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Naturphilosophie – Konstitution und Abgrenzung
Ptolemaios trennt deutlich zwischen der mathematischen Syntax der Astronomie, die eine Beschreibung der Planetenbewegung erstrebt und der (aristotelischen) Naturphilosophie, welche die Erklärung dafür liefern soll, warum sich die Planeten so und nicht anders bewegen. Kinematische (phoronomische) und dynamische Betrachtungsweise trennen sich hier, wobei der Philosophie noch das Erforschen der Gründe zugeschrieben wird. Der aristotelischen Naturphilosophie bleibt es überlassen, die dynamischen Ursachen der Planetenbewegung zu finden. Diese Funktionsteilung blieb im Wesentlichen bis über Kopernikus hinaus bestehen und erst Kepler macht einen Vorschlag in seiner »Astronomia Nova«, die geometrische Beschreibung der Planetenbewegungen und deren aitiologische Erklärung wieder zusammenzuführen. 1 Heute sehen wir diesen Zusammenhang so: Erklärung, Beschreibung und Begründung spielen wohlabgegrenzte Rollen in der Wissenschaft. Wir beschreiben die Anfangsbedingungen, erklären mittels Gesetzen Tatsachen und begründen Gesetze aus übergeordneten Prinzipien. Begründungen sind nur bis zu einer Grenze möglich, da es aus logischen Gründen keine Letztbegründungen geben kann. In der Moderne kommt es zu einer Krise der Naturphilosophie, weil die spezialisierten Einzelwissenschaften immer mehr von den Aufgaben der Philosophie übernehmen. Galilei und Newton finden das neue dynamische Grundgesetz: K ¼ m a an Stelle von Aristoteles’ Bewegungsgesetz: m v K¼ W: Der mathematische Formalismus und die experimentelle Ausstattung der Physik trennen philosophische Naturlehre sowie theoretische und experimentelle Physik. Descartes kann mit seiner qualitativen Wirbeltheorie nur den phänomenalen Charakter der Planetenbewegungen wiedergeben, die quantitativen Voraussagen sind nur auf Grund der mit dem Differentialkalkül operierenden Himmelsmechanik von Newton möglich. Kant macht noch in seiner vorkritischen Epoche erfolgreiche Naturphilosophie, indem er die Newtonschen Prinzipien auf die Kosmogonie, die Entstehung des Sonnensystems anwendet. Seine Nebu1
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larhypothese wird zum philosophischen Vorläufer der heute akzeptierten Kosmogonie unseres Sonnensystems. Die transzendentale Wende zur kritischen, genauer idealistischen, antirealistischen, Epoche seiner Philosophie bildet die Brücke zur antiphysikalischen, spekulativen Naturphilosophie, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts den Kontakt zur empirischen Forschung verlor. Diese Entwicklung spiegelt sich in den heftigen Abneigungen, die Alexander v. Humboldt gegenüber Hegel (»die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, die die Welt nie angeschaut haben«) und Justus v. Liebig in Richtung auf Schelling (»die deutsche Naturphilosophie ist ein mit Stroh ausgestopftes und mit Schminke angestrichenes totes Gerippe«) empfand. Die Reaktion der Naturwissenschaftler und auch der Mathematiker – wie C. F. Gauß, der Kants Raumtheorie und G. Cantor, der Hegels Begrifflichkeit des Unendlichen kritisierte – bestand im völligen Ignorieren der Spekulationen der idealistischen Naturphilosophie und dem Aufbau einer eigenen, an der Wissenschaft orientierten Methodologie. H. Poincaré, H. v. Helmholtz, M. Planck, A. Einstein (»die Wissenschaftler wissen am besten, wo der Schuh drückt«) übernahmen die Aufgabe einer rationalen Wissenschaftsphilosophie, ohne Rekurs auf nichtempirische Erkenntnisquellen wie intellektuelle Anschauung, Intuition oder Evidenz. 2 Paradigmatisch kann man hier das Geometrieproblem betrachten: Wie ist der Status der geometrischen Axiome zu deuten, sind es Hypothesen (B. Riemann), Tatsachen (Helmholtz) oder Konventionen (Poincaré)? Kann man die geometrischen Aussagen über den physikalischen Raum einer isolierten Prüfung unterziehen oder nur im Verband einer Theorie oder gar nicht? Die romantische Naturphilosophie konnte dazu nichts beitragen, ihre Diktion hatte einen Status zwischen Theologie, Dichtung und Mythologie, sie vertraute auf Wissensquellen und Einsichtsformen jenseits von Mathematik, Beobachtung und Experiment. Selbst Kant, für den die Axiome der Geometrie synthetische Sätze a priori waren, konnte zur Frage nach der empirischen Geltung der Physikalischen Geometrie nichts beitragen, gerade weil er den geometrischen Sätzen von Anfang an diesen apriorischen Status zuerkannt hatte. Da er sich zudem auf die apriorische Geltung speziell der Euklidischen Geometrie festgelegt hatte, war auch für seine Nachfolger der Weg zur Lösung des erkenntnis2
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theoretischen Problems, welche von den vielen reinen Geometrien den Physikalischen Raum korrekt beschreibt, verbaut. 3 Da machte sich nun eine Gruppe von rationalen Philosophen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf, um der Naturphilosophie ihren wissenschaftlichen Status wiederzugeben. Hauptsächlich Moritz Schlick, ein Schüler von Planck, begründete ein neues philosophisches Forum, den Wiener Kreis. Ziel war es, die Wissenschaftsphilosophie auf eine rationale Basis zu stellen und als Instrument der Erkenntnis nur die logische Analyse gelten zu lassen. Dieser radikale Bruch mit der Vergangenheit ist nur durch das geringe Ansehen der Idealistischen Naturphilosophie zu erklären, die sich bei den Naturwissenschaftlern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur der Verachtung erfreute. Viele Mitglieder des Kreises verstanden wissenschaftliche Philosophie dann nur mehr als strukturelle Untersuchung der Theorien und Hypothesen der Einzelwissenschaft. R. Carnap, O. Neurath, und L. Wittgenstein reduzierten die gesamte Philosophie auf eine Reinigungstätigkeit, um metaphysisch konfuse Elemente daraus zu entfernen. 4 Wittgenstein radikalisierte diese Position bis zu dem Punkt, dass er alle inhaltlichen Betrachtungen über die Welt entfernt haben wollte. »Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken« 5 . Wenn alles, was sich über die Welt ermitteln lässt, von den Naturwissenschaften gesagt wurde, bleibt danach dem Philosophen nichts anderes übrig, als dies zur Kenntnis zu nehmen. Auch von den Satzklassen her wurde diese Einteilung begründet: Synthetische Sätze der Wissenschaft handeln von der Welt und analytische Sätze der Logik haben keinen Gegenstandsbereich, die Logik ist ontologisch neutral. Demgemäß wollte Wittgenstein auch keine Relevanz einer deskriptiven Wissenschaft für die Philosophie anerkennen, weder Psychologie 6 noch Evolutionsbiologie hat aus seiner Sicht irgendetwas mit der Philosophie zu tun 7 und folglich kann es eine Brückendisziplin wie die Naturphilosophie gar nicht geben. Ein Teil der Analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie beschränkte sich in der Tat lange Zeit in Einklang mit dem Wittgen3 4 5 6 7
Kanitscheider 1976. Kamitz 1973, S. 42. Wittgenstein 1921, TLP 4.112. Wittgenstein 1921, TLP 4.1121. Wittgenstein 1921, TLP 4.1122. A
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steinschen Dogma auf logisch-strukturale Metatheorie. Es ging darum die Wissenschaft methodisch abzusichern, von redundantem metaphysischem Gepäck zu säubern, sowie von rein ideologischen, nur weltanschaulichen und politischen Interessen dienenden Elementen zu befreien. Metaphysikkritik war somit auch Ideologiekritik. Schon Schopenhauer, Hegels schärfster Kritiker, hatte darauf hingewiesen, dass die idealistischen Philosophen allesamt Wasserträger der Landesreligion seien. 8 In Bezug auf die Metaphysik war die sprachanalytische Richtung am erfolgreichsten. Sie konnte die Philosophie wissenschaftskonkordant machen und von dem Vorwurf befreien, eine reine Begriffsdichtung oder Wortmusik zu sein, die nur Unterhaltungswert besitzt aber keine Erkenntnisfunktion. Dem Erfolg stand aber ein gravierender Nachteil gegenüber, nämlich der Rückzug aus allen inhaltlichen Belangen. Wissenschaftsphilosophie wäre danach für nichts anderes als Elimination von Unsinn und logischer Analyse der Begriffe zuständig, die gesamte historische Rolle, die sie immer innegehabt hatte, allgemeine Aussagen über die Natur, die Gesellschaft, die Sprache und den menschlichen Geist zu machen, wäre hinfällig geworden. Selbst im Wiener Kreis regte sich Widerspruch. Herbert Feigl machte darauf aufmerksam, dass Fragen wie das Leib-Seele-Problem nicht einfach durch logische Analyse aufgelöst oder dem Bereich der faktischen Wissenschaften zugeordnet werden können. Es ist ein Zwei-Komponenten-Problem, das einen psychologisch-neurobiologischen Teil und einen begrifflichen Teil besitzt und nur unter zu Hilfenahme beider Informationsquellen gelöst werden kann. Das gleiche gilt auch für das Problem der Willensfreiheit und dessen Zusammenhang mit dem Determinismus bzw. Indeterminismus. Carnap selber ging in seiner späteren Zeit dazu über, nicht nur über die logische Syntax der Sprache, sondern auch über konkrete inhaltliche Fragen zu räsonieren. 9 Hauptkritiker des Wittgensteinschen Dogmas war Karl Popper: Sein Ausgangspunkt ist schon völlig anders, er beginnt seine Überlegungen nicht bei den Basissätzen für die Theorien wie die Logischen Empiristen, sondern beim Begriff des Problems. Der Ausgangspunkt aller Erkenntnis ist nicht die Erfahrung, die Beobachtung und das Experiment, sondern das Bewusstsein einer klärungsbedürftigen Fra8 9
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Schopenhauer 1877, Kap. XV, § 174. Carnap 1969.
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ge bzw. das Staunen über einen unerklärten Zusammenhang. Der Ursprung der philosophischen Probleme ist dabei in den Einzelwissenschaften zu suchen. Sie beliefern die Philosophie mit begrifflichen, epistemologischen und ontologischen Fragen, die sie selber nicht lösen können, die aber für den Fortgang der Arbeit unabdingbar sind. Wenn man diesen Informationsfluss abschneidet und mit Wittgenstein die Arbeit der Philosophie auf logische Analyse der Sprache der Wissenschaft restringiert, wird Wissenschaftsphilosophie steril. 10 Es ist wohl richtig, dass Philosophie in ihrer Sprache nüchtern, sachlich und unpathetisch auftreten soll, aber Klarheit ist nicht genug. Eine Philosophie, die dem wissenschaftlichen Rationalismus verpflichtet ist, wird keine Begriffsdichtung als Ausdruck des Lebensgefühls, des Weltschmerzes und der Existenzangst sein, sondern sich bemühen, den Erkenntnisprozess, die Entstehung von Wissen, die Reichweite und Gültigkeit unserer Theorien zu verstehen und uns ein Bild der Welt liefern, das in Einklang mit den am besten bestätigten Hypothesen steht. Die Beziehung von Philosophie und Wissenschaft ist dabei reziprok. Die Methodologie macht Vorschläge zur Erhöhung der Effizienz und Kontrolle der Gesetze und Theorien, und die Philosophie importiert Resultate der Fachwissenschaften, um ihr Begriffs- und Denkarsenal auf dem Laufenden zu halten. Man darf also die Beziehung von beiden nicht nur im Sinne normativer Forderungen der Philosophie an die Wissenschaften, an deren Erkenntnisstrategien sehen, sondern auch im Sinne der Aufnahme von Faktenwissen durch die Philosophie zur Implantierung desselben in die eigene Problematik. Hier gibt es viele Beispiele: – Die Mathematik hat zu einer Transformation des metaphysischen Unendlichkeitsbegriffes durch die transfinite Mengenlehre geführt. In der Tradition von Aristoteles hielt man bis Bolzano und Cantor in der Philosophie an der Meinung fest, dass nur das potentiell Unendliche begrifflich kohärent ist. Cantor konnte durch Aufbau einer transfiniten Arithmetik zeigen, dass auch das aktual Unendliche konsistent verwendet werden kann. 11 – Die Geometrie lieferte eine Umwälzung der epistemischen Situation beim philosophischen Raumproblem, speziell durch die
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Popper 1994, Kap 2, S. 96. Cantor 1966. A
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Entdeckung der Nichteuklidischen Geometrien wurde der empirische Standpunkt deutlich formulierbar. – Die Physik erzeugte eine neue Sicht des Verhältnisses von Raumzeit und Materie, dadurch ergab sich eine Konfrontation mit der Transzendentalphilosophie. Nicht mehr reine Anschauungen bestimmen die metrische Struktur des Erfahrungsraumes und der empirischen Zeitlichkeit, sondern die »bindenden Kräfte« der Materie im Raum, wie B. Riemann es formuliert hat. 12 – Die Quantenmechanik hat den Begriff des Zustandes eines physikalischen Systems verändert, und zwar relationalisiert im Hinblick auf die Wahl einer Experimentalanordnung. Eine Neuheit in der physikalischen Ontologie bilden die verschränkten, EPR-korrelierten Quanten-Systeme. 13 – Die Chaostheorie hat eine Aufspaltung des Kausalitätsbegriffes erzeugt, je nach der Sensibilität der dynamischen Systeme für eine Variation der Anfangsbedingungen. Überdies hat sie den Ljapunow-Horizont als neue Erkenntnisgrenze für komplexe Systeme inauguriert. 14 – Die Informatik und die Algorithmische Informationstheorie führten zu einer Klärung des Begriffes der Berechenbarkeit durch den Gedanken der Haltewahrscheinlichkeit für Universelle Turingmaschinen. 15 – Die Quantengravitation legt möglicherweise die Basis für eine neue Ontologie im submikroskopischen Bereich. 16 Dudley Shapere hat darauf hingewiesen, dass die erkenntnistheoretische Begrifflichkeit auch gegenüber der Änderung durch einzelwissenschaftliche Entdeckungen öffnen muss. 17 Die epistemologischen Kategorien können nicht unbetroffen davon bleiben, dass z. B. die theoretische Beschreibung der Natur unvollständige Weltlinien enthält, an deren Ende die Existenz eines Teilchens nicht mehr definiert ist. Der philosophische Informationsfluss kann auch in Gegenrichtung zur traditionellen Instruktion laufen. Nicht die Philosophen allein sind die authentischen Verwalter von Existenz, Erklärung und
12 13 14 15 16 17
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Riemann 1959. Schrödinger, S. 555–563. Kanitscheider 1994. Chaitin 2003. Hedrich 2007. Shapere 1991, S. 91.
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Erkennen. Sie sollten bereit sein, ihre Begrifflichkeit im Lichte neuer Theorien zu modifizieren. Der Wissenschaftshistoriker Max Jammer hat die Beziehung von Philosophie und Wissenschaft einmal als ein Import- und Exportgeschäft bezeichnet, die Erkenntnistheorie bringt methodische Überlegungen in den Handel ein und die Fachwissenschaft neue Fragestellungen, die wiederum logisch analysiert und rekonstruiert werden können. Moderne analytisch orientierte Naturphilosophie lehnt den Apriorismus ab, die Idee einer reinen Naturwissenschaft, die aus Vernunft allein faktisches Wissen über die Welt erzeugt. Von Aristoteles (»Ursprung der Bewegung«) über Descartes (Einteilung der Welt in »res extensa«, »res cogitans«) bis Kant (»Existenz von synthetischen Urteilen a priori«) meinten die Philosophen, einen Teil der Natur vorempirisch erkennen zu können: Etwa die Arten des Unendlichen, die Ausgedehntheit der Körper, die Teilbarkeit der Materie, den Grund für die Zeitlichkeit der Welt, die Erstreckung des Kosmos, dessen Gleichförmigkeit (Homogenität und Isotropie), alles dies waren Themen, zu denen sich Philosophen in apodiktischer Weise geäußert haben. Leonhard Euler meinte noch, dass das Trägheitsgesetz aus reiner Vernunft ableitbar wäre. 18 Apriorismus war allerdings auch damals nie total, die evidenten naturphilosophischen Axiome bestimmen die Welt nicht eindeutig, nur die Fundamente (wie Räumlichkeit und Zeitlichkeit oder Substantialität) sind vernunftbestimmt. Die konkreten Bewegungen und die Gestalten der Körper, welche als Anfangsbedingungen bei der Lösung der dynamischen Gleichungen verwendet werden, behalten ihren Status a posteriori. Der Apriorismus hat sich dann aber als weitgehend brüchig erwiesen. Das Cartesische Plenum wurde Vorbild für moderne Feldtheorien. Einstein bezeichnet Descartes’ Idee explizit als gedanklichen Vorläufer des Feldkonzeptes: »Erst die Idee des Feldes als Darsteller des Realen […] zeigt den wahren Kern von Descartes’ Idee: es gibt keinen ›feldleeren‹ Raum.« 19 Auf der anderen Seite ist die Grenze der cartesischen Ontologie sichtbar: Die heute gültige Elementarteilchentheorie, die QCD ist atomistisch, zumindest ist sie keine reine Kontinuumstheorie. Ebenso gilt, dass es nach der carte18 19
Euler 1750. Einstein 1988, S. 107. A
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sianischen Physik keinen leeren Raum geben kann, die heutige QFT verwendet aber sehr wohl das Vakuum, sogar mit vielen aktiven Teilchen, virtuelle Teilchen-Antiteilchen-Paare, virtuellen Photonen g, virtuellen Wurmlöchern, verletzt also in doppelter Hinsicht die cartesische Ontologie. Das Auftreten dieser Teilchen als Elemente der Feynman-Diagramme hat eine intensive ontologische Diskussion über deren Realität ausgelöst. 20 Die Frage ist, ob die virtuellen Elemente der Diagramme einen neuen Typus von Materie repräsentieren oder ob sie nur Artefakte der Störungsrechnung sind, d. h. begriffliche Elemente einer bestimmten Lösungsmethode. Die gleiche Deutungsschwierigkeit betrifft den Begriff der »Austauschkraft«, wenn man annimmt, dass in den fundamentalen Wechselwirkungen (elektromagnetisch, stark, schwach) Kräfte zwischen den Teilchen durch den Austausch von Eichbosonen bewerkstelligt werden, beim Elektromagnetismus z. B. durch virtuelle g. Auch hier erhebt sich die Frage, ob und wann bestimmte Elemente einer mathematischen Darstellung ontosemantisch zu interpretieren sind und wann sie nur eine synkategorematische (nur in Verbindung mit anderen Zeichen sinnvolle) Funktion haben. Es ist keine leichte Aufgabe herauszufinden, welcher Teil der Begriffswelt einer Theorie sich auf reale Systeme bezieht und welcher nur eine kalkülhafte syntaktische Rolle spielt. Dies ist aber notwendig, wenn man beurteilen will, ob sich ein bestimmtes metaphysisches Forschungsprogramm durchgesetzt hat oder nicht. Die Idee eines kategorischen Rahmens für jede zukünftige Naturwissenschaft gilt jedenfalls als gescheitert. Wissenschaftsgeschichtlich sind fast alle apriorischen Entwürfe früher oder später an ihre Grenzen gestoßen. Reine denkerische Erkenntnis, wie in der Mathematik, wird es bezüglich der Natur vermutlich nicht geben. Man beachte aber, dass die Nichtexistenz von synthetischen Urteilen nicht bewiesen worden ist, es haben sich nur alle Beispiele für solche Urteile als falsch herausgestellt, bzw. als analytisch a priori oder synthetisch a posteriori erwiesen. Vermutlich lässt sich ein solcher Nichtexistenzbeweis auch gar nicht führen, weil damit auch schon wieder eine vorempirische Aussage über die Realität verbunden wäre. 21 In extremen physikalischen Bereichen hat man immer wieder Überschreitungen der Alltagsintuitionen festgestellt. (In der Größenordnung der Planck-Länge, bei 1033 cm endet vermutlich die 20 21
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Hugget 2000, S. 616–637. Vgl. Stegmüller 1954, S. 27 ff.
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Gültigkeit des Mannigfaltigkeit-Konzeptes der Raumzeit, etwas, was nicht nur die Anschauung sondern auch die Begrifflichkeit der gewöhnlichen Physik in höchsten Maße strapaziert.) Die Kategorien des Alltagsverstandes sind jedoch durch die Stammesgeschichte unseres Gehirns auf einem ganz speziellen Gesteinsplaneten geprägt. Die Theorieräume der Wissenschaft sind ebenso durch das begrenzte Arsenal an Vorstellungen bei der Theorienkonstruktion limitiert. Einstein meinte: Begriffe der Theorien sind »freie Erfindungen des Geistes« 22 , aber Russell wendete dazu ein: Die Begriffe sind frei aber nicht beliebig! Als Bewohner eines Gesteinsplaneten können wir mit dem Begriff des wohl abgegrenzten Dinges umgehen, dadurch hat sich unser Zahlbegriff konstituiert, und aus den natürlichen Zahlen, N, haben wir dann alle weiteren gebildet vom Körper der rationalen Zahlen bis zum reellen und komplexen Kontinuum. Dies steht dann am Ende der Begriffskonstruktionen. Sternbewohner, deren Welt aus Plasma besteht, ohne jede scharfe strukturelle Abgrenzung, hätten vermutlich zuerst eine molluskenartige, quallige Mathematik geformt, wären jedoch nie, oder nur auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau, auf den Atomismus und auf N gestoßen. Vielleicht wären die Plasmawesen zuerst den fuzzy sets, den unscharfen Mengen begegnet und hätten dann erst in der fortgeschrittenen Mathematik Mengen mit starrer Enthaltensrelation entdeckt. Im Unterschied zur Klassischen Mengenlehre, bei der ein Element einer Menge nur angehören kann oder nicht, wird bei den unscharfen oder verschwommenen Mengen von einem bestimmten Zugehörigkeitsgrad der Elemente zu ihrer Menge gesprochen, wobei die Stärke der Zugehörigkeit durch eine Zahl im Intervall [0,1] fixiert ist. Die so genannte »Notwendigkeit« der apriorischen Kategorien und Anschauungsformen beruht de facto auf Abstraktionen von langzeitlicher Alltagserkenntnis. Auf Grund unseres an die terrestrische Umgebung angepassten Sinnesapparates, empfinden wir es als zwingend, dass alles Seiende als in der Raumzeit befindlich angenommen werden muss. Die Wissenschaft kann aber ein solches AlltagsApriori ohne weiteres überrollen. Die Schleifenquantengravitation, einer der beiden Kandidaten für eine Zusammenführung von Quantenmechanik und Relativitätstheorie, enthüllt Raum und Zeit als ebenenabhängige proximate Näherung ohne ultimate Bedeutung. 23 22 23
Kanitscheider 1988, S. 27 ff. C. Rovelli: A dialog on quantum gravity, 2003. A
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Außerdem ist der Notwendigkeitsbegriff mehrdeutig: Logisch gesehen heißt er einfach analytisch. In diesem Sinne ist es notwendig, dass eine Gruppe die Gruppenaxiome erfüllt. – Physikalisch meint er: in Einklang mit den Gesetzen. So ist es notwendig, dass die Entropie in einem abgeschlossenen System niemals abnimmt. – Zuletzt soll es nach Leibniz noch eine metaphysische Notwendigkeit geben, die anschließend von Kripke wieder aktiviert wurde, wonach notwendige Sätze in allen möglichen Welten wahr sind. Philosophen wie Hume haben die Existenz eines solchen Notwendigkeitsbegriffes bezweifelt. 24 – Die Notwendigkeits-Zuschreibung im physikalischen Sinne für Langzeit-Erfahrungen der Menschen hat sich in der Heuristik der Theorienkonstruktion sehr oft hemmend ausgewirkt. – So verteidigte Aristoteles die Ansicht, dass nur Kreisbahnen für die Bewegung der Planeten in Frage kommen. Er begründet dies aus der Vollkommenheit und Symmetrie des Kreises und dessen Angemessenheit an die himmlische Materie. – Kepler war der Meinung, dass die sechs damals bekannten Planeten in ihrer zwingenden Existenz begründet werden müssen. – Heisenberg hielt bestimmte Symmetrien wie die SU(2) und die Lorentz-Gruppe bei der Beschreibung der Elementarteilchen für wesentlich, und andere Symmetrien wie die SU(3), die beim Quark-Modell eine entscheidende Rolle spielt, nur für näherungsweise gültig. 25 – Nach Einstein ist der Determinismus ein unvermeidbarer Grundzug jeder physikalischen Fundamentaltheorie, Zufallselemente in der Beschreibung sind Zeichen einer vorläufigen, unvollständigen, wenn auch effektiven, Theorie. – J. A. Wheeler meinte, die Geschlossenheit des Raumes besitze eine grundlegende Auszeichnung vor allen anderen Zusammenhangsformen, obwohl die Feldgleichungen selber keinen Hinweis auf die Vorrangigkeit der Kompaktheit vor anderen globalen Topologien enthalten. 26 Diese metaphysischen Vorgaben haben vermutlich individuelle psychobiologische Wurzeln, charakterologische Engramme legen die –
24 25 26
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Kripke 1963, S. 83–94. Heisenberg 1976, S. 1–7. Wheeler 1973, S. 207 f.
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Vorlieben in der Theorienkonstruktion fest. Jedoch gelten alle obigen Vor-Festlegungen heute als gescheitert.
2.
Wie gewinnt die Naturphilosophie ihre Erkenntnisse?
Die Romantische Naturphilosophie und die Spekulative Physik des deutschen Idealismus hatten hier ihren Sonderweg im Auge: Spekulation ist aus dieser Sicht eine autonome Erkenntnisquelle (und nicht nur eine Heuristik), die zum Wesen der Natur führt, ohne den Umweg über mathematische Theorien, Beobachtung und Experiment. Die größte methodologische Distanz zu den faktischen Wissenschaften besitzt dabei Hegels System und Fichtes absoluter Idealismus. Am ehesten kann man Schelling eine gewisse heuristische Nähe zu späteren naturwissenschaftlichen Entdeckungen zusprechen. Schellings Ziel in der Naturphilosophie war es, die Einheit von Natur und Geist zu etablieren. Wenn die Natur erkennbar sein soll, darf es keinen Dualismus, keinen unauflöslichen Gegensatz zwischen erkennendem und erkanntem System geben. Deshalb muss es eine durchgehende Entwicklung der Natur geben, die Natur muss als ein monistisches System betrachtet werden, demgemäß nicht nur in der Physik eine Einheit aller Kräfte gegeben ist, sondern es auch einen stetigen Übergang zum Organischen und zum Geistigen gibt. Er spricht in seiner Schrift »Von der Weltseele« davon, dass es Aufgabe der Naturphilosophie sei, zu zeigen, dass die Stufenfolge aller organischen Wesen durch allmähliche Entwicklung einer und derselben Organisation sich gebildet habe. 27 Damit hat er den Darwinismus als durchgängiges Erklärungsmuster akzeptiert und kann als Vorläufer der Selbstorganisationsidee angesprochen werden. Dies wurde auch von J. F. Fries, einem scharfen Kritiker der idealistischen Naturphilosophie, zugestanden. 28 Fries hielt anders als die Idealisten die Sinnenwelt für eine Erscheinung der Dinge an sich. Nach ihm ist die Welt ein Organismus, aber nach mechanistischen und mathematischen Gesetzen aufgebaut. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich noch ein neuer Typ von Reflexion über die Natur, die Induktive Metaphysik. Naturphilosophie wurde hier als Extrapolation innerwissenschaftlicher Regularitäten 27 28
Schelling 1798, Abt. I, Bd. II, S. 348–350. Fries 1824, S. 127. A
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in ungesicherte und erfahrungsüberschreitende Bereiche verstanden, um dadurch ein abgerundetes Weltbild zu erstellen (Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Windelband, Wilhelm Wundt). Dies war die Reaktion der naturwissenschaftlich orientierten Philosophen auf die Inflation der nichtempirischen Erkenntnisquellen. Es handelt sich um ein extrapolierendes Überschreiten der Erfahrung unter Zugrundelegung von Homogenitätsannahmen, die es erlauben die fragmentartige Naturerkenntnis der Einzelwissenschaften in Richtung auf eine Weltanschauung zu ergänzen. 29 Die Idee einer induktiven Metaphysik muss mit dem Problem der Vieldeutigkeit einer solchen erweiternden Überhöhung rechnen. Gerade die extremen strukturalen Differenzen zwischen der Mikro-, Meso- und Makrowelt lassen die extrapolative Methodologie hoch riskant erscheinen. In methodischer Anlehnung an den Logischen Empirismus und Kritischen Rationalismus agiert die synoptische oder synthetische Philosophie, wie sie wohl zuerst von J. J. Smart inauguriert 30 , dann von M. Bunge 31 und Jesús Mosterín 32 weitergeführt wurde. Hier erfolgt das Zusammenfügen von Resultaten der Fachwissenschaft zu einem Ganzen ohne ungesichertes Überschreiten des erfahrungsabhängigen Bereiches und ohne die Inanspruchnahme nichtempirischer Erkenntnisquellen. Wir können somit folgende Methoden der Naturphilosophie unterscheiden:
Die methodischen Unterschiede in der Naturphilosophie lassen sich historisch deutlich festmachen.
Die erste Entfremdung zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft entwickelte sich zwischen der vorkritischen und der kritischen Epoche der Kantischen Philosophie. Kant vor 1781 denkt mit 29 30 31 32
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Vgl dazu Henneman 1959, S. 100. Smart 1968. Bunge 1977. Mosterín 2001.
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Newton und versucht die Reichweite der Mechanik auf den Kosmos und sogar auf die Kosmogonie und den Anfang des Universums auszudehnen. Kant, in der kritischen Phase seines Denkens, will in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« die Notwendigkeit der newtonschen Grundsätze beweisen. Er unterliegt dabei noch dem Begründungsideal der Erkenntnis, wie es seit Francis Bacon verteidigt wurde. Sicheres Wissen ist oberstes Ziel der Erkenntnis. Die transzendentale Wendung Kants in der »Kritik der reinen Vernunft« führt zu einer verhängnisvollen Konsequenz für die Naturphilosophie. Die Abkehr vom erkenntnistheoretischen Realismus führt bei Fichte zum absoluten Idealismus und damit zur Aushöhlung des empirischen Gehalts der Naturphilosophie. Bei Hegel wird das Empirische als Moment der Bewegung des Absoluten Geistes geführt, der natürliche Realismus der Naturwissenschaft damit auf den Kopf gestellt. Der Geist ist nicht mehr ein spätes Produkt der Materie, sondern die primordiale Substanz, die aus ihrer eigenen inneren Aktivität die Welt der Dinge hervorbringt. Einsehbar ist dies nicht mit dem logischen Denken oder der theoretischen Vernunft, sondern nur mit dem spekulativen Vermögen, einer originären philosophischen Erkenntnisquelle. Die synoptische oder synthetische Naturphilosophie (J. J. C. Smart, D. Shapere, R. Giere, B. Kanitscheider) verwendet, wie auch die Induktive Metaphysik, keine außerempirischen Erkenntnisquellen, wie intellektuelle Anschauung, spekulatives Vermögen oder dergleichen, sondern nur die normale Verstandesreflexion, die logische Analyse und das gängige semantische Diskriminationsvermögen. Sie konzentriert sich auf Grenzprobleme der Einzelwissenschaften, Vereinheitlichungsfragen der Theorien, Kohärenz-Unstimmigkeiten in den Disziplinen. Sie macht, anders als die Induktive Metaphysik, keinen Gebrauch von erfahrungsüberschreitenden Extrapolationen in ungesicherte Bereiche. Zudem hat die synthetische Philosophie einen deutlichen pragmatischen Aspekt, sie dient der Weltorientierung und der Optimierung unserer Lebenssituation. J. Mosterín hat es prägnant ausgedrückt: »Si realmente queremos vivir bien, lo primero que requerimos es un mapa correcto de la realidad, una cosmovisión a la altura de la mejor información disponible en nuestro tiempo.« 33 Zur Wissenschaft gibt es zur Zeit keine Alternative für die
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Mosterín, J.: Ciencia viva, ob. cit., S. 109. A
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Weltorientierung, in diesem Sinne ist die synthetische Philosophie szientistisch ausgerichtet. Als Beispiel für die Funktionsweise der synthetischen Philosophie mag die Frage nach der Reichweite des Selbstorganisationsmodells dienen. Das autonome Wachstum von Ordnung in der Welt wurde historisch mit einem überweltlichem Eingriff, einem transzendenten Ordner, in Zusammenhang gebracht (Bekanntermaßen hat Intelligent Design bis heute Verteidiger.). Darwins Evolutionstheorie war die paradigmatische Speerspitze, von der her die spontane Ordnungsentstehung im Organischen verständlich wurde. Darwins Theorie folgten geologische Ansätze wie die Plattentektonik, die die heutigen Formen der Kontinente als Produkte historischer Entwicklung verstehen lassen. Das sind beides Spezialfälle einer allgemeinen Strukturwissenschaft, nämlich der Thermodynamik des Ungleichgewichtes. Diese gilt überregional, von der Quantenoptik bis in die Geistes- und Sozialwissenschaften hinein und lässt verstehen, wie Komplexitätswachstum bereichsunabhängig erklärt werden kann. 34 Eine Problemzone ist der Übergang von Physik zur Biologie. In dem Bereich des Organischen wird seit Milliarden von Jahren Strukturaufbau betrieben, die Verzweigung der Arten weitet sich aus. In der Physik gilt der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik, wonach in einem abgeschlossenen System die Entropie und damit die Unordnung nur zunehmen können. Aus physikalischer Perspektive hätten die Organismen in ihrer Komplexität nur abnehmen können. Dies ist ein typisches transdisziplinäres Grenzproblem; an der Schnittstelle arbeiten Physiker, Biologen und Philosophen zusammen. Als Hinweis zur Lösung kann folgende Idee gesehen werden: Man muss neben der Thermodynamik auch die Gravitation in einem dynamischen Kosmos in Rechnung stellen, dann löst sich das scheinbare Paradoxon. 35 Naturphilosophie ist institutionell nicht nur mit den Denkern der geisteswissenschaftlichen Tradition verbunden: Galilei, Newton, Haeckel, Ostwald, Mach, Boltzmann, Einstein, Heisenberg haben sich engagiert mit der Philosophie der Natur befasst und sie als unverzichtbare Ergänzung der einzelwissenschaftlichen Forschung angesehen. 36 Allerdings herrscht eine gewisse Spannung in den Zugängen, die Wissenschaftler werfen gelegentlich den Philosophen 34 35 36
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Kanitscheider 2006, S. 66–90. Penrose 2004, S. 686 ff. Scheibe 2006.
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mangelndes Fachwissen vor, die Philosophen den Wissenschaftlern begriffliche Naivität und geringes Distinktionsvermögen. Ein Beispiel kann dies erläutern: Georg Cantor, der sehr an einer philosophischen Fundierung seiner transfiniten Mengenlehre interessiert war, setzte sich mit den Kantianern des 19. Jahrhunderts über das aktual Unendliche auseinander, ebenso wie auch mit Hegels ablehnender Haltung gegenüber diesem Begriff. Mit Ausnahme von Bolzano und Frege hatten aber die meisten Philosophen zu wenig mathematisches Wissen, um Cantors Neuerungen gewichten zu können. Sie verstanden nicht, dass Cantor eigentlich eine begriffliche Finitisierung des aktual unendlich Großen zustande gebracht hatte, denn seine Arithmetik erlaubt es, mit endlichen Zeichenketten und Operationen geordnet über die Stufen des Transfiniten zu sprechen. Als ein anderes Beispiel, diesmal für die philosophische Schlichtheit von Fachwissenschaftlern, kann S. Hawkings Überzeugung gelten, dass der Positivismus heute noch die führende Wissenschaftsphilosophie darstellt. Er verwendet einen naiven Empirismus, um sein quantenkosmologisches Modell mit reeller und imaginärer Zeit zu rechtfertigen. Mit den durch eine Wick-Rotation induzierten zwei Zeiten t ! i tritt in diesem Modell das so genannte »joinproblem« auf, also die Frage, wie die beiden Zeitkoordinaten konsistent zusammengefügt werden können. Hawking versucht diese begriffliche Schwierigkeit mit einem kruden Empirismus zu überspielen, wonach es nur auf die Erklärungsleistung des Modells ankommt und jegliche inneren Inkohärenzen des Modells unwesentlich sind. Die Wissenschaftsphilosophie hat sich hier dazwischengeschaltet um herauszufinden, ob die Grundidee einer Entstehung der Welt aus einer Epoche mit imaginärer Zeit überhaupt denkmöglich ist. 37 Speziell in der Kosmologie, allgemein überall an den Grenzen des Wissens, treten exotische theoretische Spekulationen auf den Markt der Ideen. Wie soll man damit umgehen, ist erst einmal alles begrifflich erlaubt? Knifflig ist dabei die Erhaltung der Masse-Energie, die über tiefliegende, gruppentheoretische Sätze mit der Struktur der Raumzeit verbunden ist. In einigen Theorien (Dirac-Kosmologie, Steady State Theory) wird eine absolute Materie-Entstehung postuliert, in der Bohr-Kramers-Slater-Quantenmechanik wurde Energieerhaltung als statistischer Begriff verwendet, und einige Interpre37
Deltete/Guy 1996, S. 185–203. A
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ten der QM ziehen aus der Energie-Zeit-Unschärfe-Relation den Schluss, dass kurzfristige Verletzungen der Energie-Erhaltung erlaubt sind. Gibt es nun naturphilosophische Argumente, die solche theoretische Ansätze zurückweisen können, ohne dass man gleich wieder in aprioristisches Fahrwasser gelangt? In der Tat können begriffliche Überlegungen zum genetischen Prinzip von Lukrez weiterführen, indem man sich den erkenntnistheoretischen Status der Erhaltungssätze vor Augen führt und die Konsequenzen überlegt, die mit der Zulassung von ex nihilo Vorgängen verbunden sind. 38 Eine wichtige Funktion der Naturphilosophie besteht darin, Abgrenzungen der Wissenschaft zu den Parawissenschaften, zur Esoterik und zu magischen Vorstellungen, zu ziehen. Wieder kann hier ein Beispiel illustrieren: Die morphogenetischen Felder von R. Sheldrake, strukturerzeugende unräumliche und unzeitliche Felder, die das Wachstum von Komplexität instantan bewirken sollen, widersprechen bewährten Grundprinzipien unseres Wissens, da Instruktion immer eines Trägers bedarf, um die Information zu transportieren. Hier kann die Naturphilosophie aufklärend wirken und durch Hinweis auf bewährte Prinzipien der Physik und Biologie Irrtümer beheben. Eine soziale Funktion besitzt die wissenschaflich gestützte Aufdeckung von Scharlatanerie, z. B. in der Biologie und Medizin: Warum kann es keine statistisch signifikante Geistheilung geben, warum kann das Gebet nicht mehr als den Placeboeffekt reproduzieren? Dazu muss man die zentralen Voraussetzungen der Magie herausarbeiten und begründen, warum gut gesicherte wissenschaftliche Prinzipien es höchst unplausibel machen, dass Krankheiten mit Beschwörungsformeln zum Verschwinden gebracht werden können.
3.
Praktische Naturphilosophie
Das Verhältnis von Mensch und Natur ist in Europa traditionell stark von der platonisch-christlichen Orientierung bestimmt. Ob er mehr als Ebenbild Gottes oder als massa damnata betrachtet wird, in jedem Fall steht er aus christlicher Sicht im Mittelpunkt des Kosmos, er spielt niemals eine unbedeutende Nebenrolle. Diese zentrale Stellung hat ihm die moderne Kosmologie genommen, weil es hier überhaupt keine ausgezeichneten Orte und 38
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Bunge 1962, S. 116–141.
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Richtungen mehr gibt. Seit Kopernikus haben sich die Zentren des Universums immer wieder verlagert, bis sie in der relativistischen Kosmologie völlig verschwunden sind. Die Naturwissenschaft hat auch eine mögliche Sonderstellung des Menschen in der Hierarchie der komplexen Systeme eliminiert. Seine Denkfähigkeit ist auf diesem Planeten den übrigen Säugetieren überlegen, aber niemand kennt das Entwicklungspotential intelligenter Systeme schlechthin, und deshalb kann auch niemand sagen, wo in einer allgemeinen Stufenleiter der Vernünftigkeit der Mensch angesiedelt ist. Auf Grund fehlender Theorien der Intelligenz und des Fehlens von Vergleichsmaßstäben mit außerirdischer Intelligenz, lässt sich über die Besonderheit des menschlichen Denkvermögens nichts aussagen. Besonderen Stolz zeigten klassische Philosophen auch immer in Bezug auf das menschliche Wertesystem. Kant war neben dem gestirnten Himmel besonders von dem moralischen Gesetz in uns als anthropologischer Auszeichnung beeindruckt. Die Biologie hat jedoch den Status der Werte stark depotenziert, es sind keine zeitlosen Entitäten, die von einer speziellen Intuition erfasst werden, sondern historisch gewachsene Reaktionsmuster in den emotiven Zentren des ZNS. Werte stecken als Bewertungsdispositionen von Einstellungen und Handlungen in den stammesgeschichtlich gewordenen Engrammen des Gehirns. Damit war der erste Schritt einer Naturalisierung der Ethik eingeleitet, die nun nicht mehr im Rekurs auf platonische Wesenheiten betrieben werden konnte, sondern nur mit Blick auf die Überlebensfragen des Tieres Mensch in seiner langen Phylogenie. Der Utilitarismus J. S. Mills stellte die naturalistische Brücke von Evolutionsbiologie und Ethik dar, gewissermaßen die Antwort von der Seite der Philosophie auf die Herausforderung des Darwinismus. Allerdings stellte sich durch die verzweigten Diskussionen zwischen den verschiedenen Varianten der ethischen Konsequenzenanalyse bald heraus, dass kein ethischer Algorithmus in der Praxis den Anforderungen an schnelle Entscheidungen in höchst undurchsichtigen Situationen gewachsen ist. 39 Emotiv gesteuerte, ererbte Reaktionsmuster erlauben viel eher in risikoreichen Situationen ein schnelles und zugleich erfolgreiches Handeln. Der umfassendste Wertekomplex des Menschen ist seine Kultur. Eine Praktische Naturphilosophie wird eine Antwort auf die Einbet39
Dennett 1997, S. 695. A
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tung der Kulturprodukte in das biologische Entwicklungsgeschehen geben müssen. 40 Auch hier liefert eine naturalistische philosophische Betrachtung eine ernüchternde Auswertung. Max Weber hat aus soziologischer Perspektive die Diagnose der säkularen Vergänglichkeit vorweggenommen: Kultur ist ein mit Wert bedachter Ausschnitt aus dem grenzenlosen kosmischen Geschehen, das selber für sich weder Wert noch Sinn besitzt. 41 In einer Praktischen Naturphilosophie muss die Ethik im Naturgeschehen verankert werden. Die biologischen Prädispositionen sind die Randbedingungen für eine naturalisierte, d. h. material adäquate, mit der naturwüchsigen menschlichen Ausstattung verträgliche Ethik. Man kann die Normen nicht aus der Faktizität des Naturgeschehens ableiten, man kann aber beim Aufbau des normativen Regelwerkes auf die faktischen Handlungsspielräume Rücksicht nehmen und von Menschen nicht mehr verlangen, als sein Können zulässt. In einer Ethik mit naturalistischer Verankerung ist es nicht sinnvoll, den Menschen Zwängen auszusetzen, die den biologischen Engrammen zuwiderlaufen und für ein gedeihliches Zusammenleben gar nicht notwendig sind. Eine Ethik, die auf die menschliche Natur Rücksicht nimmt, wird, anders als eine reine Prinzipien-Ethik oder eine theonome Ethik, darauf aus sein, den Menschen minimalen Spannungen zwischen Sollen und Wollen auszusetzen, wenn dies sozialverträglich möglich ist, d. h. mit dem Schadensprinzip in Einklang steht. Eine solche Rücksichtnahme auf die empirische Natur des Menschen erzwingt den Einsatz von Brückenprinzipien, die zwischen dem Normativen und dem Faktischen vermitteln. So ist aus dem römischen Recht der Grundsatz bekannt: »Ultra posse nemo obligatur« 42 . In einer Praktischen Naturphilosophie werden die Brückenprinzipien bedacht, die von der faktischen Natur des Menschen zu seinen Handlungsverpflichtungen führen. Praktische Naturphilosophie hat überdies die Aufgabe, Orientierungen für den Menschen auszuarbeiten, die anders als starre Regelwerke, Anleitungen und Empfehlungen geben, ein gelungenes Leben zu erreichen. Das klassische Vorbild sind die kÐriai dxai des Epikur. Diese Hauptlehren haben einen naturphilosophischen Hintergrund. So sagt er in der XII. Regel: »Es ist nicht möglich, sich von 40 41 42
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Wilson 1998. Weber 1988, S. 594. Celsus; Corpus iuris civilis. Digesta 50,17, 185.
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Naturphilosophie – Konstitution und Abgrenzung
der Furcht hinsichtlich der wichtigsten Lebensfragen zu befreien, wenn man nicht Bescheid weiß über die Natur des Weltalls, sondern sich nur in Mutmaßungen mythischen Charakters bewegt. Mithin ist es nicht möglich, ohne Naturerkenntnis zu unverfälschten Lustempfindungen zu gelangen.« 43 Ein gelungenes Leben setzt daher ein verlässliches wissenschaftliches Weltbild voraus, das zumindest die gröbsten Irrwege bei den Einschätzungen der Konsequenzen seiner Handlungen verhindert. Orientierungshinweise haben allerdings niemals kategorischen, sondern rekommandierenden Charakter, sie sind mithin vom Typus eines Wanderführers. Während sich der Wanderer seine lohnenden Ziele selbst aussuchen muss, kann ihm der Praktische Naturphilosoph mit Rat beistehen, sich im unwegsamen Gelände des Lebens nicht allzu sehr zu verirren.
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Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen X, 143. A
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Naturphilosophische Forschungsperspektiven der modernen Naturwissenschaften
Zusammenfassung: Naturphilosophische Forschungsperspektiven bestimmen nach wie vor die modernen Naturwissenschaften, auch wenn sie gelegentlich als solche nicht erkannt werden. Naturphilosophie wird also nicht als spekulativer Überbau verstanden, sondern ausgehend von der aristotelischen Physik über Newton bis in die Moderne als Prinzipienanalyse der Naturforschung, die methodisch in der Neuzeit zunehmend experimentell gestützt, mathematisch gefasst und neuerdings durch Computermodelle simuliert wird. Dieses Forschungsprogramm wird am Thema von Komplexität und Selbstorganisation der Natur erläutert, die Schlüsselbegriffe der Naturforschung im 21. Jahrhundert sind. Mit Computern und komplexen Systemen als Modelle der Natur stellen sich alte erkenntnistheoretische Fragen nach den Grenzen unseres Wissens, Handelns und Entscheidens neu. Abstract: Perspectives of natural philosophy still determine modern research in natural sciences, although they are often not recognized. Therefore, natural philosophy is not understood as a speculative supplement, but in the tradition of Aristotle and Newton up to modern research as an analysis of basic principles (principia) of science. In modern times, basic principles deliver models which are formulated mathematically, confirmed experimentally, and simulated by computers. This kind of methodology is illustrated by the research program of complexity and self-organization in nature which are key topics of modern science in the 21st century. Modelling nature with computational and complex systems leads to old epistemic questions concerning the limits of human knowledge, acting and deciding.
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1.
Naturphilosophie und Naturforschung
In ihrer aristotelischen Konzeption gewinnt die antike Naturforschung ihre die weitere Entwicklung bestimmende systematische Einheit. Zu den charakteristischen Elementen dieser Konzeption gehört dabei insbesondere die Unterscheidung zwischen Physik (als einer Theorie natürlicher Körper und Bewegungen) und Mechanik (als einer Theorie künstlicher Bewegungen). Die Rezeption der aristotelischen Physik in der Scholastik und die Entwicklung naturwissenschaftlicher Fachdisziplinen wie Astronomie, Statik, Geographie u. a. hat dieser Vorstellung einer einheitlichen Naturphilosophie keinen Abbruch getan. Historisch wird unter Naturphilosophie also sowohl der Aufbau naturwissenschaftlicher Theorien im Sinne von Naturforschung als auch Metaphysik der Natur verstanden. Metaphysik der Natur beschäftigt sich aber nicht mit Spekulationen über »übersinnliche« Phänomene, sondern mit den fundamentalen Prinzipien, denen alle diese Theorien untergeordnet sind. Diese Intention von Forschung wird, wie das folgende Fallbeispiel zeigt, auch in der gegenwärtigen Naturwissenschaft verfolgt. Spätestens seit Newton werden diese Prinzipien mathematisch gefasst, wie sein Werk »Philosophiae naturalis principia mathematica« programmatisch zum Ausdruck bringt. Durch ihre Mathematisierung sind Prinzipien methodisch an Messung und Experiment angebunden und werden zu fundamentalen Gesetzen, allerdings mit hypothetischem Charakter. Historisch ist die Mathematisierung der Naturforschung ein methodischer Prozess, der bereits vor Galilei in der spätmittelalterlichen Physik beginnt. Letztlich setzt sich damit ein Trend durch, der sich in der platonischen Naturphilosophie mit ihrer Betonung von Logos und Symmetrie (in pythagoreischer Tradition) ankündigt. Tatsächlich war Mathematisierung bis in die Zeit Newtons immer mit neuplatonischen Einflüssen verbunden. Aristoteles betont bereits die Bedeutung der Erfahrung, wenn sich auch die Unterscheidung von »experientia« und »experimentum« erst schrittweise herauskristallisierte. In der Beibehaltung des Ausdrucks »Naturphilosophie« für die Prinzipien der Naturforschung (z. B. J.-B. de Lamarck, Philosophie zoologique 1809) ebenso wie in der Bezeichnung »Experimentalphilosophie« (»experimental philosophy«, »philosophie expérimentale«) dokumentiert sich dabei die bleibende Idee einer Einheit von Philosophie und Wissenschaft. 110
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Die disziplinäre Verselbständigung der Naturwissenschaften gegenüber der Philosophie seit dem 19. Jahrhundert ist Resultat inhaltlicher Spezialisierung und damit einher gehender organisatorisch-institutioneller Interessen. Die Frage nach den fundamentalen und einheitlichen Prinzipien der Naturforschung, im aristotelischen Sinn also Metaphysik der Natur, wird damit keineswegs aufgehoben. Letztlich ist es aber nur eine Frage universitärer und organisatorischer Aufgabenteilung, welche Aufgaben der Naturforschung wo betrieben werden. Persönlich möchte ich für meine eigene Motivation des Philosophiestudiums hinzufügen: Wäre Philosophie nur eine textinterpretierende Disziplin einer philologisch-historischen Fakultät, hätte ich dieses Fach in Verbindung mit Mathematik und Physik nie studiert. Faktisch ist es heute aber leider so, dass viele »akademische« Philosophen den Transfer in die Grundlagendiskussionen der Naturwissenschaften aufgrund mangelnder Ausbildung ebenso wenig schaffen, wie umgekehrt Naturwissenschaftler den methodisch geschulten Blick über die Grenzen ihres Spezialgebiets vermissen lassen. Das sind aber eher Unzulänglichkeiten der Ausbildung, die nichts an der grundlegenden Struktur von Naturforschung ändern. Im Zuge der wachsenden Spezialisierung der Forschung bleibt sicher auch eine Spezialisierung in Grundlagenfragen nicht aus. Philosophie und Naturwissenschaften sind aber weiterhin aufgefordert, unter den heutigen Bedingungen von Ausbildung, Lehre und Forschung geeignete einheitliche Organisationsprinzipien zu realisieren. Seit der Antike sind die Grundfragen der Naturphilosophie mit der Stellung des Menschen in der Natur verbunden. Letztlich münden hier alle (teleologischen) Sinn- und Zielfragen der Naturphilosophie. Spekulative Überhöhungen dieser Fragen z. B. in der romantischen Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts (Schelling, Hegel, u. a.) wurden von der mathematischen Naturphilosophie, die sich vor allem an der analytischen Mechanik ausrichtete (Gauß, Poisson u. a.), nicht mehr verstanden. Durch die idealistische Vereinnahmung der Bezeichnung »Naturphilosophie« gerät die Naturphilosophie in Deutschland (im Unterschied zur romanischen und anglo-amerikanischen Tradition) in den Augen der »Naturwissenschaften« geradezu in Misskredit. Im Zeitalter globaler Sensibilisierung für Umweltprobleme und Nachhaltigkeit wird die naturphilosophische Frage nach der Einheit der Natur heute von der mathematischen Naturwissenschaft aber durchaus (wieder) als grundlegend empfunden. Das hängt A
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sicher auch mit der nichtlinearen Mathematik und Computersimulation komplexer dynamischer Systeme zusammen, die heute (gegenüber dem 19. Jahrhundert) zur Verfügung steht. Wir sind damit längst in einer Renaissance des (ursprünglich antiken) Verständnisses von Naturphilosophie.
2.
Komplexität und Selbstorganisation der Natur
Komplexität und Selbstorganisation werden von vielen Forschern unterschiedlicher Disziplinen als Schlüsselthemen des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Die Komplexität von Nano- und Materialforschung bis zu den Life Sciences gehört ebenso dazu wie die Selbstorganisation evolutionärer Prozesse. Die naturphilosophischen Wurzeln dieser Forschungsprogramme finden sich bereits in der aristotelischen Naturphilosophie. In seiner »Physik« begreift Aristoteles den Naturprozess als zielorientierte (teleologische) Umwandlung von Stoff und Form, als Aktualisierung einer in den natürlichen Dingen angelegten Potentialität. Selbstherstellung und Selbstentwicklung der Natur sind danach also auf Zwecke ausgerichtet. Die heute als typisch herausgestellte Selbstbezüglichkeit (Rückkopplungen) der Selbstorganisation wird (wenn auch metaphorisch) angesprochen: »Wenn im menschlichen Herstellen Finalität vorliegt, dann auch in der Produktion der Natur. Am aufschlussreichsten aber ist der Fall, dass ein Arzt sich selbst behandelt; denn genauso liegen die Dinge auch bei der Natur.« 1 Der deutsche Ausdruck der »Selbstorganisation« im heutigen Sinn lässt sich wenigstens bis zu Kants »Kritik der (teleologischen) Urteilskraft« zurückverfolgen. Unter dem Eindruck Newtonscher Kausalität wird die teleologische Orientierung bei Aristoteles aber nur noch als Analogie zur menschlichen Handlung begriffen: »… und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können.« 2 Selbstorganisation als zyklische Kausalität findet sich schließlich in Schellings Naturphilosophie, wenn er von der Wechselwirkung von Produktion (natura naturans) und Hemmmung (natura naturata) spricht. 1 2
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Aristoteles, Physik II,8 199b. Kant, Kritik der Urteilskraft 65, B 291 f.
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In komplexen Systemen kommt es zu charakteristischen Rückkopplungen von Systemelementen, bei denen Wirkungen von Ursachen selber wieder zu Ursachen werden, um ihre Ursachen zu beeinflussen. So entstehen makroskopische Strukturen, die nicht durch die Systemelemente vorgegeben sind, aber durch ihre Wechselwirkung bei geeigneten Anfangs- und Nebenbedingungen (d. h. Einstellung von Kontrollparametern) möglich werden. Man spricht dann auch von Emergenz von Ordnung. Beispiel: In Gasen wirken gestoßene Moleküle ihrerseits wieder auf die sie stoßenden Moleküle ein und erzeugen bei veränderter Temperatur unterschiedliche Aggregatzustände. In der Chemie reproduzieren autokatalytische Stoffe sich selber und erzeugen bei geeignetem Stoff- und Energieaustausch (Metabolismus) organische Lebensfunktionen. Die Zirkelkausalität dieser vielfältigen Wechselwirkungen wird mathematisch durch gekoppelte nichtlineare Gleichungen der einzelnen Systemelemente ausgedrückt. Allgemein besteht ein komplexes dynamisches System aus einer großen Anzahl von Elementen. Die Dynamik des Systems, d. h. die Änderung der Systemzustände in der Zeit, wird durch Differentialgleichungen beschrieben, wobei jeder zukünftige Zustand durch den Gegenwartszustand eindeutig bestimmt ist. Statt kontinuierlicher Prozesse lassen sich auch diskrete Prozesse als Änderung der Systemzustände in Zeitschritte durch Differenzengleichungen untersuchen. Die gleichzeitige Wechselwirkung vieler Elemente wird durch nichtlineare Funktionen erfasst. Zufallsereignisse (z. B. Brownsche Bewegung) werden durch zusätzliche Fluktuationsterme berücksichtigt. Bei stochastischen Prozessen geht es um die zeitliche Veränderung von Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktionen von Zuständen, die z. B. durch eine Mastergleichung beschrieben werden. Die Thermodynamik untersucht komplexe Systeme (z. B. Flüssigkeiten, Gase) aus vielen Elementen (z. B. Atome, Moleküle) mit vielen Freiheitsgraden der Bewegung. Makroskopische Zustände des Systems (z. B. Wärme) werden auf mikroskopische Wechselwirkungen der Elemente zurückgeführt und nach den Gesetzen der statistischen Mechanik erklärt. Die Thermodynamik bietet viele Beispiele von komplexen Systemen, deren Elemente sich unter geeigneten Nebenbedingungen zu neuen Ordnungen selbstständig zusammenfügen. Ein alltägliches Beispiel ist ein Regentropfen auf einem Blatt mit seiner perfekten glatten Oberfläche. Die Wassermoleküle am Rand des Tropfens befinden sich in einem höheren Energiezustand A
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als im Innern. Da das System nach den Gesetzen der Thermodynamik einen Zustand niedrigster Gesamtenergie einnehmen muss, minimiert der Tropfen die Ausdehnung seiner energiereichen Oberfläche und bildet so seine makroskopische Form. Bekannt sind auch die Eisblumen, zu denen sich Wassermoleküle in der Nähe des thermischen Gleichgewichts zusammenfügen. Isolierte Systeme ohne Stoff- und Energieaustausch mit ihrer Umwelt streben nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik von selbst in den Gleichgewichtszustand maximaler Entropie (z. B. strukturlose, irreguläre Verteilung von Gasmolekülen in einem isolierten Behälter). Abgeschlossene (»konservative«) Systeme ohne Stoff-, aber mit Energieaustausch mit ihrer Umwelt hängen von einem Kontrollparameter (z. B. der Temperatur bei einem Ferromagneten) ab. In der Nähe des thermischen Gleichgewichts fügen sich die Systemelemente bei Absenkung auf einen kritischen Wert von selbst zu Ordnungs- bzw. Aggregatszuständen niedriger Entropie und Energie zusammen. Diese Phasenübergänge lassen sich nach L. D. Landau (1980) durch Ordnungsparameter charakterisieren, d. h. einer Verteilungsfunktion der Mikrozustände wie z. B. die Verteilung von Dipolzuständen bei einem Ferromagneten. Phasenübergänge von abgeschlossenen Systemen in der Nähe des thermischen Gleichgewichts werden auch als konservative Selbstorganisation bezeichnet. Fern des thermischen Gleichgewichts hängen Phasenübergänge von hochgradig nichtlinearen und dissipativen Mechanismen ab. Makroskopische Ordnungsstrukturen entstehen durch komplexe nichtlineare Wechselwirkungen mikroskopischer Elemente, wenn der Stoff- und Energieaustausch des offenen (dissipativen) Systems mit seiner Umwelt kritische Werte erreicht. In diesem Fall wird die Stabilität der Ordnungsstrukturen durch eine gewisse Balance von Nichtlinearität und Dissipation garantiert. Zu starke nichtlineare Wechselwirkung oder Dissipation würde die Ordnung zerstören. Emergenz von Ordnung ist also nichts Mystisches, sondern lässt sich mathematisch präzise durch nichtlineare Dynamik erklären: Das »Ganze« der neuen Ordnung ist eben »mehr« als die Summe ihrer »Teile« bzw. Systemelemente. Bei linearer Dynamik wäre der makroskopische Zustand nur die Summe seiner Teile. Allgemein verstehen wir unter offenen (»dissipativen«) Systemen solche komplexen Systeme, die im Stoff- und Energieaustausch mit ihrer Umwelt sind. Selbstorganisation und Emergenz von Ordnung lässt sich in mathematischer Analyse auf eine nichtlineare Zir114
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kelkausalität der Systemelemente zurückführen. Das Standardverfahren dazu ist eine lineare Stabilitätsanalyse. Man untersucht das Verhalten des Systems in der Nähe eines Instabilitätspunktes. Nach Änderung eines stationären Zustands lässt sich das Verhalten der einzelnen Systemelemente unterscheiden. Bei einer kleinen Änderung weisen die meisten Moden der Systemelemente nur geringe Abweichungen auf. Einige Moden potenzieren sich allerdings zu großen Amplituden auf, die auf das Gesamtverhalten der Systemelemente zurückwirken. Sie werden daher als Ordnungsparameter ausgezeichnet, die neue makroskopische Strukturen, Muster oder Trends erzeugen. Anschaulich gesprochen brechen alte Ordnungen in der Nähe von Instabilitätspunkten zusammen, und neue Ordnungen organisieren sich aufgrund der beschriebenen Zirkelkausalität zwischen Systemelementen und Ordnungsparametern selber. Bei weiterer Veränderung des Kontrollparameters kann die Dynamik eines offenen Systems immer neue lokale Gleichgewichtszustände einnehmen, die wieder instabil werden. Man denke etwa an die verschiedenen Oberflächenmuster, die ein Fluss hinter einem Brückenpfeiler in Abhängigkeit von der steigenden Flussgeschwindigkeit als Kontrollparameter bilden kann. Sie reichen von einem homogenen Gleichgewichts- (Fixpunkt-) Zustand über oszillierende und quasi-oszillierende Wirbel bis zur chaotischen Turbulenz. Man spricht auch von den Attraktoren eines dissipativen Systems, das vom thermodynamischen Gleichgewicht immer weiter fortgetrieben wird. Die entsprechenden Phasenübergänge werden als dissipative Selbstorganisation bezeichnet. Attraktoren lassen sich anschaulich als Zielzustände komplexer Dynamik auffassen und stehen damit in einer gewissen Nähe zur aristotelischen Teleologie. Die Dynamik eines Systems scheint in diesen Fällen wie in einem Sog in diese »Zielzustände« hineingezogen zu werden. Dabei handelt es sich um mathematisch wohldefinierte Prozesse dynamischer Systeme. Attraktordynamik ist eine direkte Folge deterministischer bzw. stochastischer Kausalitätsgleichungen (Mastergleichungen). Anders ausgedrückt: Teleologie und Selbstorganisation werden mathematisch modellierbar und damit in Computermodellen simulierbar. Die Beschreibung der makroskopischen Dynamik durch Ordnungsparameter bedeutet eine erhebliche Reduktion von Komplexität gegenüber der Mikroebene. Die Anzahl der Ordnungsparameter ist nämlich wesentlich kleiner als die Anzahl der Mikrozustände (z. B. A
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einzelner Moleküle), die den Gesamtzustand eines komplexen Systems auf der Mikroebene bestimmen. In seinem Konzept der Synergetik spricht H. Haken (1983) anschaulich von einer »Versklavung« der Mikrozustände durch die Ordnungsparameter in der Nähe von Instabilitätspunkten. Dabei unterscheidet sich die Zeitskalierung auf der Makro- und Mikroebene insofern, als Ordnungsparameter nach Störungen langsamer relaxieren als die sich rasch verändernden Mikrozustände. In der Chemie kann wie in der Physik die Entstehung von Ordnung in komplexen Systemen in der Nähe und fern des thermischen Gleichgewichts unterschieden werden. In der Nähe des thermischen Gleichgewichts geht es z. B. um die Entstehung von Kristallen und Festkörpern. Die Komplexität chemischer Reaktionen fern des thermischen Gleichgewichts lässt sich durch Bifurkationsdiagramme veranschaulichen (Abb. 1). In einem kritischen Abstand vom Gleichgewichtspunkt wird der thermodynamische Zweig der minimalen Energieproduktion (lineare Thermodynamik) instabil und verzweigt sich zu neuen möglichen lokal stabilen Zuständen (Symmetriebrechung). Damit beginnt, wie I. Prigogine (1987) zeigte, die nichtlineare Thermodynamik des Nichtgleichgewichts wie z. B. der Grenzzyklus einer chemischen Oszillation. Treibt man die nichtlinearen Reaktionen immer weiter vom Gleichgewichtszustand, entsteht ein zunehmend komplexeres Verzweigungsschema mit neuen möglichen lokalen Gleichgewichtszuständen bis hin zum Chaos. Diese lokalen Gleichgewichtszustände sind mit der »Emergenz« von neuen Phänomenen (z. B. Strömungsmustern, Attraktoren) verbunden. Tatsächlich handelt es sich mathematisch um nichts anderes als das Auftreten neuer Lösungen nichtlinearer Differentialgleichungen, wenn die Kontrollparameter entsprechende kritische Werte einnehmen. Offene physikalische und chemische Systeme zeigen also Eigenschaften, die wir auch lebenden Systemen zuschreiben. Es findet ein Stoff- und Energieaustausch (»Metabolismus«) mit der Umwelt statt, der das System von Tod und Erstarrung im thermischen Gleichgewicht hält und die Ordnung des Systems aufrecht erhält. Die Ordnungen entstehen durch »Selektion« und »Kooperation« der Systemteile bei geeigneten Bedingungen. Geringste Fluktuationen (»Mutationen«) können zu globalen Veränderungen des Gesamtsystems führen. Im Unterschied zu den Mustern dissipativer Systeme in Physik und Chemie brechen aber z. B. lebende Zellen und Organis116
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men nicht spontan zusammen, wenn die Stoff- und Energiezufuhr kurzfristig unterbrochen wird. Konservative Strukturen in (teilweise) abgeschlossenen Systemen sind für die Lebenserhaltung ebenfalls unerlässlich. Für die Emergenz von Lebensprozessen ist also keine besondere Kausalität notwendig, wie in der Tradition immer angenommen wurde. Zu dieser Annahme werden wir nur genötigt, wenn wir Kausalität linear wie die traditionelle Mechanik des 17. und 18. Jahrhunderts verstehen. Für die Erklärung von Lebensentstehung und Lebenserhaltung reichen die Gesetze der Thermodynamik allerdings nicht aus. Bei der zellulären Selbstorganisation sind die Anweisungen für den Aufbau des Systems in den Bausteinen selbst (d. h. der molekularen DNSStruktur der Zelle) verschlüsselt. Man spricht daher auch von einer genetisch kodierten Selbstorganisation der biologischen Evolution im Unterschied zur thermodynamischen Selbstorganisation. In der präbiotischen Evolution geht es um die spannende Frage, wie die thermodynamische Selbstorganisation physikalischer und chemischer Systeme nahe und fern des thermischen Gleichgewichts schließlich den Weg zur kodierten Selbstorganisation der biologischen Evolution fand. Die thermodynamische Selbstorganisation liefert nur die physikalischen und chemischen Rahmenbedingungen für die genetische Selbstreplikation von Nukleinsäuren und Proteinsynthesen. Sie verwendet autokatalytische Prozesse, die im (vereinfachten determinisA
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tischen) Modell des Hyperzyklus nach M. Eigen (1971) durch nichtlineare Differentialgleichungen 1. Ordnung für Konzentrationen chemischer Stoffe beschrieben werden. Das Schema des Hyperzyklus zeigt die wachsende Komplexität vom Makromolekül zur integrierten Zellstruktur. In der Sprache der Tradition könnte man auch von der »Emergenz« neuer Phänomene sprechen, die auf hierarchischen Stufen der Evolution von der katalytischen Wechselwirkung einfacher Moleküle über die Autokatalyse von Makromolekülen (z. B. Proteine) bis zur komplexen Wechselwirkung in einer Zelle auftreten. Die Evolution neuer Arten wird durch Phasenübergänge des Nichtgleichgewichts modelliert. Mutationen entsprechen den »fluktuierenden Kräften«, Selektionen den »treibenden Kräften«. Entsprechende Gleichungen bestimmen wieder Klassen von möglichen Bifurkationsbäumen (vgl. Abb. 1) als Evolutionsschemata mit Fluktuationen (»Mutationen«) in den Verzweigungen und treibenden Kräften in den Entwicklungsästen der Arten. Wie in anderen Modellen auch, lassen sich mögliche Evolutionsszenarien mit lokalen Gleichgewichten angeben. Auch das ökologische Zusammenleben von Populationen lässt sich mit komplexen dynamischen Systemen erfassen. Ökologische Systeme sind nämlich komplexe offene Systeme von Pflanzen oder Tieren, die in gegenseitigen (nichtlinearen) Kopplungen (Metabolismus) mit ihrer Umwelt fern des thermischen Gleichgewichts leben. So kann die Symbiose zweier Populationen mit ihrer Nahrungsquelle durch drei gekoppelte Differentialgleichungen modelliert werden, die bereits Lorenz in der Meteorologie verwendete. Bekannt sind die nichtlinearen Wechselwirkungen einer Raubtier- und einer Beutetierpopulation, die von den italienischen Mathematikern Lotka und Volterra mit zwei gekoppelten Differentialgleichungen beschrieben wurden. Die Dynamik dieser gekoppelten Systeme hat stationäre Gleichgewichtspunkte. Ihre Attraktoren sind periodische Oszillationen bzw. Grenzzyklen. Bei dissipativen Systemen kann die nichtlineare Populationsdynamik immer weiter vom thermischen Gleichgewicht fortgetrieben werden, bis irreguläre Turbulenz und Chaos auftreten. In der Sprache der Tradition handelt es sich dabei um Beispiele der Emergenz von Turbulenz und Chaos. Der menschliche Organismus ist ein komplexes zelluläres System, in dem beständig labile Gleichgewichte durch Stoffwechselreaktionen aufrecht erhalten werden müssen. Das Netzwerk der Stoffwechselreaktionen einer einzigen Leberzelle zeigt, wie ausbalanciert 118
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die lokalen Gleichgewichte sein müssen, um die globalen Lebensfunktionen zu garantieren. Die dabei auftretenden Rückkopplungsschleifen von Zirkelkausalitäten entsprechen genau den gekoppelten nichtlinearen Gleichungen komplexer dynamischer Systeme. Gesundheit als medizinischer Ordnungsparameter des Organismus beschreibt eine Balance zwischen Ordnung und Chaos. Starre Regulation würde verhindern, auf Störungen flexibel zu reagieren. So funktioniert unser Herz nicht wie eine ideale Pendeluhr. Seine nichtlineare Dynamik ist ein gut untersuchtes Anwendungsgebiet komplexer Systeme in der Medizin. Dazu wird das Herz als ein komplexes zelluläres Organ aufgefasst. Elektrische Wechselwirkungen der Zellen lösen Aktionspotentiale aus, die zu oszillierenden Kontraktionen (Herzschlag) als makroskopischen Mustern (»Ordnungsparametern«) führen. Ein Elektrodiagramm ist eine Zeitreihe mit charakteristischen Mustern für die Herzschläge. Um diese Dynamik zu studieren, müssen geeignete Kontrollparameter verändert werden. Dabei kann die Herzdynamik einen periodenverdoppelnden Kaskadenverlauf beginnen, der schließlich im Chaos als Zustand des Herzkammerflimmerns mündet. In der Sprache der Mathematik wäre Herzkammerflimmern wieder ein Beispiel für die Emergenz eines Makrozustands nichtlinearer Dynamik. Es gibt also unerwünschte und unkontrollierbare Emergenz. Sie lässt sich nur vermeiden, indem wir die kritischen Kontrollparameter, unter denen sie eintritt, kennen und vermeiden. Eine der aufregendsten fachübergreifenden Anwendungen komplexer Systeme ist das menschliche Gehirn. Dazu wird das Gehirn als ein komplexes System von Nervenzellen (Neuronen) aufgefasst, die über Synapsen elektrisch oder neurochemisch wechselwirken und sich zu Aktivitätsmustern (»cell assemblies«) verschalten können. Die Dynamik von Gehirnzuständen lässt sich dann durch Gleichungen von (makroskopischen) Ordnungsparametern modellieren, die solchen neuronalen Verschaltungsmustern entsprechen. Bei EEG-Aufnahmen misst ein komplexes System von Elektroden lokale Gehirnzustände mit elektrischen Potentialen. Der Gesamtzustand eines Patienten mit Epilepsie auf der Mikroebene lässt sich durch lokale Zeitreihen an den Elektrodenorten bestimmen. Für die makroskopische Dynamik konnte im numerischen Computermodell ein Chaosattraktor im Phasenraum nachgewiesen werden. Allerdings gilt auch für die Diagnose komplexer Gehirndynamik, dass es in der Medizin nicht nur um das Erkennen makroskopischer OrdA
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nungsparameter geht. Erforderlich ist ebenso eine geeignete medizinische Interpretation dieser Größen als Krankheits- oder Gesundheitszustände. Viele Neuronen sind nicht fest »verdrahtet« wie die Schaltelemente auf einem Computerchip. Ihre synaptischen Verbindungen lassen sich durch Lernregeln neurochemisch verändern. Dadurch entstehen synaptische Korrelationen (Aktivitätsmuster) im Gehirn, die wiederum Korrelationen von Außenweltsignalen entsprechen. In PET (Positron-Emissions-Tomographie)-Aufnahmen des Gehirns lassen sich Schaltmuster bei unterschiedlichen Wahrnehmungen, Bewegungen, Emotionen und kognitiven Leistungen (z. B. Sprechen, Lesen, Rechnen) in Echtzeit beobachten. Die Lernregeln sind also die Selbstorganisationsverfahren eines komplexen neuronalen Systems, nach denen sich die Systemteile (Neuronen) unter geeigneten Nebenbedingungen von selbst zu Ordnungsmustern verbinden. Zu ihrer Erklärung reicht allerdings weder die thermodynamische Selbstorganisation aus der Physik und Chemie, noch die genkodierte Selbstorganisation in der Biologie aus. Nur die Möglichkeit des Lernens ist in hochentwickelten Organismen (wie z. B. dem Menschen) mit dem Aufbau eines Nervensystems genetisch vorgegeben. Was wir lernen, wie wir Probleme lösen, wie sich unsere Gefühle, Gedanken und Einstellungen entwickeln, ist genetisch nicht im Einzelnen vorgegeben. Beim Lernen haben wir es daher mit einer neuen Form der Selbstorganisation komplexer neuronaler Systeme zu tun. In der Sprache der nichtlinearen Dynamik könnte also das Auftreten von Gedanken, Gefühlen, Bewusstsein u. ä. als Emergenz von makroskopischen Gehirnzuständen aufgefasst werden, die nicht durch einzelne Neuronen, sondern durch ihre nichtlineare Wechselwirkung erklärbar werden. In Fortsetzung des bisherigen Forschungsprogramms würde es sich wieder um Lösungen nichtlinearer Differentialgleichungen handeln. Allerdings sind bisher nur niedrigdimensionale Anwendungen wie das eben erwähnte Beispiel der Epilepsie in dieser Weise mathematisch untersucht. Ein Beispiel aus der Kognitionsforschung sind die Kippbilder der Gestaltpsychologie, die als Ganzheit spontan auftreten und nicht aus der Summe ihrer Pixel erklärbar sind. Jedenfalls zeichnet sich für die Theorie komplexer Systeme und nichtlinearer Dynamik ein Forschungsprogramm ab, nach dem die Emergenz von Kognition als Lösungen von Gleichungen zu verstehen ist, die komplexen Zuständen entsprechender Gehirndynamik entsprechen. 120
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Solche kognitiven Untersuchungen zeigen bereits, dass der Mensch als komplexer Organismus mit vielen rückgekoppelten lokalen Gleichgewichten aufzufassen ist und nicht als auseinander- und zusammensetzbare Maschine nach dem Vorbild linearer Kausalität. In der Medizin wurde daher bereits der Begriff der dynamischen Krankheiten eingeführt. Bei Patienten mit dynamischer Systemerkrankung ist der Körper nicht mehr in der Lage, physiologische Gleichgewichte selbstständig auszubalancieren und weitvernetzte Koordinationen zu übernehmen. Auf der Makroebene sind neben dem Herzschlag die lebenserhaltenden Rhythmen der Atemfrequenz, der regelmäßigen Verdauung, der Hormonzyklen oder des Menstruationszyklus zu erwähnen. Jeder von uns kennt mittlerweile den JetLag als flugbedingte Zeitstörung des Wachen-Schlafen-Rhythmus. Die Ordnungsparameter dieser makroskopischen Abläufe werden auf der Mikroebene durch viele biochemische Wechselwirkungen erzeugt, deren chemische Reaktionsgeschwindigkeiten aufeinander abgestimmt sind. Die Komplexität des menschlichen Organismus ist von der organischen bis zur zellulären Ebene durch immer kleinere Zeitkonstanten bestimmt, deren lokale Störung globale Veränderungen des Organismus zur Folge haben können. Diese Zeitkonstanten vergrößern sich von den Reaktionsgeschwindigkeiten biochemischer Prozesse über Zellteilungszeiten, physiologische Perioden und Frequenzen bis zur Lebensdauer des gesamten Organismus. Viele dynamische Krankheiten erweisen sich daher auch als Zeitstörungen auf der Komplexitätsskala des Organismus. Letztlich ist ein Organismus in die komplexen Zeitrhythmen der Natur eingebettet. Die biochemischen Reaktionsgeschwindigkeiten hängen von den Zeitkonstanten der Chemie und Quantenphysik ab. Die organischen und physiologischen Kreisläufe beziehen sich auf die natürlichen Nahrungsketten, die zivilisatorische Umwelt und schließlich die großen kosmischen Rhythmen unseres Sonnensystems. Dynamische Systemerkrankungen bleiben aber nicht auf den somatischen Bereich beschränkt. Die Einsicht in die nichtlineare Kausalität des Gehirns führt ebenso zu neuen Erklärungsansätzen in der Psychiatrie. Philosophiehistorisch ist bemerkenswert, dass die Auffassung von der Natur als einer hierarchischen Skala immer komplexerer Phänomene von der »toten« zur »belebten« Materie auf die Antike zurückgeht. In aristotelischer Tradition wird von einer »scala naturae« und »Selbstorganisation« (autopoiesis) gesprochen, die zur A
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»Emergenz« neuer Phänomene führt. Auf dem Hintergrund des damaligen Entwicklungsstands mathematischer Naturforschung (Euklidische Geometrie und Statik) konnte man sich allerdings nur qualitative Prozesse der Dynamik vorstellen. Heute verfügen wir über mathematische Theorien nichtlinearer Dynamik, um viele dieser qualitativen Prozesse (wenigstens im Prinzip) auch mathematisch zu verstehen. Das ist keineswegs ein Physikalismus, also die Zurückführung von Kognitionsforschung, Biologie und Chemie auf Physik. Die mathematischen Methoden sind gegenüber der jeweiligen Anwendung und Interpretation der Grundbegriffe neutral. Hinzu kommt, dass auf der Stufe der Systemelemente der neue Systemzustand nicht erklärbar ist, sondern erst durch die Dynamik ihrer Wechselwirkung. Mathematisch sind die Ordnungsparameter eben makroskopische Größen, die im Sinne nichtlinearer Dynamik mehr sind als die Summe der Systemelemente. Auf dem Hintergrund dieser mathematischen Analyse war die philosophische Rede von der Emergenz in aristotelischer Tradition also durchaus richtig und der physikalische Reduktionismus ein Irrtum.
3.
Von der Berechenbarkeit zur Nachhaltigkeit der Natur
Mathematische Prinzipien der Naturforschung sind nach der hier vertretenen Konzeption zwar fundamental, aber dennoch hypothetisch an Experiment und Beobachtung gebunden. Wie sicher ist unser Ausgangswissen aber? Was können wir prinzipiell überhaupt wissen? Die formalen Rahmenbedingungen unseres Wissens werden durch Logik und Mathematik bestimmt. Leibniz war in seiner »Mathesis universalis« der Auffassung, dass prinzipiell alles Wissen über die Natur in mathematischen Kalkülen repräsentierbar sei. Naturphilosophisch wurde die Natur selber als eine Rechenmaschine bzw. als ein »unendlicher Automat« aufgefasst. Die Leibnizsche Rede vom »unendlichen Automaten« entspricht mathematisch einer universellen Turingmaschine, die im 20. Jahrhundert Grundlage einer allgemeinen Theorie der Berechenbarkeit und damit der Informatik wurde. Nach der Churchschen These lässt sich eine Turingmaschine als logisch-mathematisch präzisiertes Konzept einer Rechenmaschine bzw. eines Algorithmus überhaupt verstehen. Tatsächlich lässt sich die Churchsche These nicht nur formal für Kalküle, sondern auch naturphilosophisch in Leibnizscher Tradi122
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tion anwenden: Wenn wir Naturprozesse durch dynamische Systeme, d. h. zeitabhängige Differentialgleichungen der Systemzustände, modellieren, dann lassen sich wenigstens sehr viele solcher Systeme approximativ durch Computerprogramme (und damit Turingmaschinen) simulieren. Beispiele sind zelluläre Automaten (die dem Konzept der Turingmaschinen mathematisch äquivalent sind) mit ihren reichhaltigen Simulationen komplexer Naturprozesse aus Physik, Chemie und Biologie. Nach einem bekannten Theorem ist Conways »Game of Life« als mathematische Simulation der Evolution eine universelle Turingmaschine. Leibnizens Programm einer »Mathesis universalis«, das Hilbert Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner Forderung einer vollständigen Formalisierung der Mathematik präzisiert, wurde allerdings durch die Gödelschen Theoreme revidiert. Zunächst gilt festzuhalten: Es gibt prinzipiell keinen Computer, der alle logisch-mathematischen Wahrheiten entscheiden könnte. Kurt Gödel (1931) zeigte, dass in einer (widerspruchsfreien) Formalisierung bereits einer so einfachen Theorie wie der Arithmetik niemals alle wahren arithmetischen Aussagen ableitbar sind (1. Unvollständigkeitssatz). Formalismen sind jedoch erweiterbar, um neue Wahrheiten zu erfassen. Der Erkenntnisprozess hat also keine Grenze. Es gibt nur nicht den absoluten Formalismus für alle Wahrheiten. Allerdings gibt es keine Selbstgarantie des (logisch-mathematischen) Denkens. Nach dem 2. Gödelschen Unvollständigkeitssatz folgt: Wenn eine mathematische Theorie widerspruchsfrei ist, dann lässt sich ihre Widerspruchsfreiheit nicht mit den Mitteln dieser Theorie beweisen. Die Widerspruchsfreiheit einer axiomatischen mathematischen Theorie ist nur mit stärkeren Methoden, als in der Theorie verwendet werden, beweisbar (G. Gentzen). Wir können uns also nicht selber wie der Baron von Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Widersprüche herausziehen, ohne auf wenigstens halbwegs sicherem Grund zu stehen. Allerdings lassen sich prinzipiell immer reichhaltigere Formalismen wachsender Komplexität schrittweise erzeugen. Das entspricht einer sich selbst transzendierenden universellen Turingmaschine. Die Komplexitätsgrade (»scala naturae«) der so erzeugten Formalismen lassen sich im Rahmen einer Theorie relativer Berechenbarkeit durch konstruktive Ordinalzahlen messen (wie ich in meiner Dissertation von 1973 gezeigt habe.) Wie sicher ist unser physikalisches Wissen? Gibt es Grenzen der Berechenbarkeit in der Physik? Die klassische Physik nahm eine toA
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tale Berechenbarkeit der Natur an, wenn im Idealfall eines Supercomputers alle Kraftgesetze und Anfangsbedingungen bekannt wären. Der Laplacesche Geist war der historische Kern dieser naturphilosophischen Annahme. Auch hier hilft eine mathematische Prinzipienanalyse weiter. Die Laplacesche Annahme ist für lineare Systeme wie einem idealen Pendel richtig, bei denen nicht nur eine Ursache eine Wirkung eindeutig bestimmt, sondern ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen auslösen: So bewirkt ein kleiner Stoß eines Pendels einen kleinen Schwung, ein starker Stoß einen großen Schwung. Es ist aber nicht mehr richtig im Fall des deterministischen Chaos, bei dem kleine Veränderungen von Anfangsursachen zu exponentiell auseinander strebenden Zustandsentwicklungen (Trajektorien) von Wirkungen führen. Bekannt ist dieses Phänomen von der Wetterkarte, wenn lokal ein kleiner nicht beachteter Wirbel über Nacht das gesamte Wetter global verändert und damit zu einer anderen Wetterlage führt, als vorausgesagt wurde. Im deterministischen Chaos wächst der Rechenaufwand für Voraussagen über zukünftige Entwicklungen bereits nach wenigen Schritten exponentiell und beschränkt daher langfristige Prognosen. Aber es handelt sich um eine praktische und nicht prinzipielle Grenze der Berechenbarkeit. Da jede Trajektorie eindeutig bestimmt ist, bleibt auch die Zukunft im deterministischen Chaos mathematisch eindeutig determiniert. Entdeckt wurde das deterministische Chaos in der Himmelsmechanik von Henri Poincaré. Er betrachtete Viel-Körper-Probleme, bei denen mehrere Himmelskörper gleichzeitig gravitativ aufeinander einwirken. Die entsprechenden nichtlinearen Gleichungen führen zu Instabilitäten und manchmal Chaos. In der Raumfahrt haben diese Viel-Körper-Probleme praktische Folgen, wenn die Bahnen von z. B. Sonden mit Näherungsverfahren berechnet werden müssen. Mit der Chaostheorie bleiben wir in der Welt der klassischen Physik, in der im Prinzip alle Ereignisse eindeutig determiniert sind, wenn wir sie auch nicht immer vollständig berechnen können. Die Relativitätstheorie ist nur der Abschluss dieser klassischen Sicht, wonach, wie es bei Einstein heißt, Gott nicht würfelt. Die fundamentale Theorie der modernen Physik ist aber die Quantentheorie, in die im Rahmen der Quantenkosmologie die allgemeine Relativitätstheorie der Gravitation eingebettet wird. In der Quantenwelt ist der Zustand eines Quantensystems (z. B. Elementarteilchen) durch eine statistische Wellenfunktion bestimmt. Die gesamte Information über dieses System wird also in dieser Zustandsfunktion erfasst. Die zeitliche 124
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Zustandsentwicklung gehorcht zwar einer deterministischen Gleichung (Schrödinger-Gleichung), wegen Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation zwischen z. B. Ort und Impuls oder Zeit und Energie lässt sich aber ein Zustand nicht eindeutig als Punkt fixieren: Messen wir z. B. den Ort eines Teilchens mit beliebiger Genauigkeit, dann beginnt die Impulsmessung zu streuen und umgekehrt. In der klassischen Physik wird angenommen, dass beide Größen mit beliebiger Genauigkeit messbar sind und daher die Zustandstrajektorie eines Teilchens eine determinierte Bahnkurve ist. In der Quantentheorie folgt ein Teilchen jeder möglichen Bahn zwischen zwei Zuständen, die wir daher nur durch gestrichelte Kurven darstellen könnten. Trotz phantastischer Genauigkeit bei der Berechnung einzelner quantenphysikalischer Messgrößen bleibt die statistische Unbestimmtheit ein prinzipieller Zug dieser Naturphilosophie, der keineswegs durch noch bessere Messapparate aufgehoben würde. In Fortsetzung der Leibnizschen Naturphilosophie könnte daher die Natur heute mit Quantencomputern verstanden werden, in denen Quanteninformation von Quantenzuständen verarbeitet wird. Ein Quantencomputer bleibt aber logisch im Prinzip eine Turingmaschine, so dass die oben erwähnten Einschränkungen und Erweiterungen zu berücksichtigen sind. Es lassen sich Grade der Komplexität unterscheiden, die vom totalen Zufall und Zerfall aller Korrelationen über Chaos, nachhaltige Wirkungen und Selbstorganisation von Ordnung und Struktur bis zu starrer Regulation reichen. Kurzum: Unser Wissen ist unvollständig, aber erweiterbar. Naturprozesse lassen sich nicht vollständig berechnen und kontrollieren. Wir können aber die nichtlinearen Gesetze dynamischer Systeme analysieren und verstehen, um die Selbstorganisation nachhaltiger Entwicklungen zu ermöglichen. Damit kommt ein neuer Zug in die mathematische Naturwissenschaft, der früher nur aus einer ganzheitlich (holistisch) orientierten Naturphilosophie bekannt war – die Natur nicht nur berechnen, um sie kontrollieren und manipulieren zu können, sondern die Dynamik der Natur verstehen, um auf ihre Ereignisse vorbereitet zu sein. Ferner kann Natur dann durch geeignete Nebenbedingungen dazu gebracht werden, sich langfristig selber in gewünschten Zuständen zu entwickeln, in denen Mensch und Natur miteinander leben können. Unsere aktuellen Umweltdebatten im Rahmen des Klimawechsels weisen in diese Richtung. Mit dieser Zielsetzung zieht wieder ein teleologisches Denken in die Naturfor-
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schung ein, das in aristotelischer Tradition konstitutiv für Naturphilosophie war.
Literatur: Aristoteles (1967): Physik, Darmstadt. Kant, I. (1968): Kritik der Urteilskraft, Berlin. Leiber, T. (Hrsg.) (2007): Dynamisches Denken und Handeln. Philosophie und Wissenschaft in einer komplexen Welt. Festschrift für Klaus Mainzer zum 60. Geburtstag, Stuttgart. Mainzer, K. (1988): Symmetrien der Natur. Ein Handbuch der Natur- und Wissenschaftsphilosophie, Berlin/New York. Mainzer, K. (2005): Symmetry and Complexity. The Spirit and Beauty of Nonlinear Science, Singapore Mainzer, K. (2005): Symmetry and Complexity in Dynamical Systems, in: European Review. Academia Europaea 13 Supplement 2, 29–48. Mainzer, K. (2007): Thinking in Complexity. The Computational Dynamics of Matter, Mind, and Mankind, 5th ed., Berlin/Heidelberg/New York. Mainzer, K. (2007): Der kreative Zufall. Wie das Neue in die Welt kommt, München. Mainzer, K. (2008): Komplexität, München.
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Lebewesen als Sphären der Aktivität Thesen zur Interpretation der molekularen Genetik in einer praxisorientierten Naturphilosophie Zusammenfassung: In der Philosophie der Genetik wird darüber diskutiert, welches Bild des Genom-Organismus-Zusammenhangs die empirischen Erkenntnisse der molekulargenetischen Entwicklungsbiologie am besten repräsentieren kann. Ich stelle idealtypisch das Modell des Genoms als genetisches Programm einem systemischen Modell des Genoms gegenüber und vertrete die These, dass ein System-Modell den biologischen Evidenzen besser entspricht. Zudem enthält das ProgrammModell Komplikationen, die für eine naturbezogene Ethik im ökologischen Kontext problematisch sind: Lebewesen werden darin zu Reproduktionsapparaturen ihrer Gene. Demgegenüber eröffnet die Systemtheorie des Genoms Möglichkeiten für eine Theorie der lebendigen Natur und für eine anerkennende Wahrnehmung von Lebewesen als Prozesse, die einen inneren Sinnraum aufspannen. Sinn besteht in ihrem Vollzug oder in ihrer Verwirklichung. Die Begriffe »organische Praxis«, »Akt« und »Ort« werden als anschlussfähige Kategorien für eine praxisbezogene Philosophie der Natur eingeführt. Abstract: Discussions in philosophy of genetics concern the question, which image adequately represents the relationships between the genome and the organism – according to the recent empirical knowledge of developmental genetics. In this chapter I present two contrasting ideal types or models of the genome-in-the-organism: the model of the genome as a genetic programme and a systemic model of the genome. I claim that the systems model is more congenial to the empirical evidences from biology. Additionally, the programme model contains problematic implications for an ethics of the human-nature-relationship: living beings are represented as machines reproducing their genes. A systems approach, on the other hand, A
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opens new possibilities for a philosophical theory of the biosphere and for recognizing living beings as processual spheres of intrinsic meaning: a process whose goal is to be itself realized or performed. The terms »organic practice«, »act« and »place« are proposed as basis categories for developing a practical philosophy of nature. »In the history of European thought,« – so beginnt Robin George Collingwood seine 1945 postum publizierte Schrift The Idea of Nature – »there have been three periods of constructive cosmological thinking; three periods, that is to say, when the idea of nature has come into the focus of thought« (Collingwood 1945, 1). Für Collingwood sind die drei Hauptperioden folgende: (1) die griechische Periode mit der Idee eines rational geordneten und lebendigen Kosmos, (2) die neuzeitliche Idee der Natur als einer von Gott konstruierten Maschine und (3) die moderne Idee der Natur als Prozess der Entwicklung und Veränderung, in dem wir Menschen mitwirken. Dieser Prozess, als der die Natur wahrgenommen wird, ist wie die Menschengeschichte kontingent, gedacht als evolutionärer Prozess. Neben den vielen Fragen, die zu diskutieren diese Charakterisierung von drei epochalen Naturbildern Gelegenheit bietet (Sind es gerade drei? Sind es gerade diese drei?), ist alleine schon die Zuordnung der Idee der Natur zum konstruktiven kosmologischen Denken bemerkenswert. Natur ist zweifellos eine Schlüsselkategorie, die für die Auslegeordnung der Kategorien der wahrgenommenen Welt eine Grundstruktur gibt. In einer solchen Auslegeordnung ergeben sich die Vorstellungen der menschlichen Identität, der Korporealität und der Beziehungen, die den Menschen in ein Ganzes der Welt einbinden. Die Ideen der Natur spiegeln je eine Definition des Menschen im Bezug auf die Sphäre des Transzendenten und sie beschreiben eine ethikrelevante Ontologie seiner nahen Interaktionssphäre. »Natur« ist aber eine hochgradige Abstraktion. Im Alltag interagieren wir mit Gräsern, Bäumen, Schnecken, Zellen, Proteinen, DNA, Himbeeren, Glatteis, Rohstoffen, Permafrost, Hurricanefrequenzen etc. Demgegenüber ist Natur ein Begriff, der uns etwas Allgemeines zeigt, das sich in diesen konkret-alltäglichen Interaktionen manifestiert. Für die praktische Philosophie bietet die Idee der Natur die Chance, auf fundamentaler Ebene zu klären, welche Logik, welche Werte und welche Normen diesen Bezügen innewohnen. Eine solche Reflexion im Sinn der Rückbesinnung auf die allgemeinen Prinzipien ist gegenwärtig im Feld der Genetik im Gange. 128
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Auch dort hat man über Jahrzehnte an einzelnen Details geforscht und man war geleitet von Ideen allgemeinerer Art, insbesondere von der Idee, dass die Gene die Entwicklung steuern und determinieren, dass sie eine Art Bauplan oder Programm für die Entwicklung eines Organismus darstellen. In den letzten Jahren setzte sich aber zunehmend die Erkenntnis durch, dass die aus bestimmten historischen und kulturellen Gründen plausibel gewordene Leitidee eines steuernden und determinierenden Genoms, das in der Idee eines »genetischen Programms« versinnbildlicht wird, mit den gefundenen Details inkohärent geworden ist. Ich möchte in diesem Beitrag auf Implikationen hinweisen, welche diese Bewegung der Ideen für das Bild der Natur haben.
1.
Determinieren die Gene die Natur der Lebewesen?
Es gibt eine von Biologen selbst vorgeführte Kritik am genetischen Determinismus (Moss 2003; Lewontin 2000; Gilbert 1994). Diese Diskussion spielt sich aber auf einer der Theorie zunächst nur schwer zugänglichen Ebene ab, nämlich auf der Ebene der empirischen Kausalitätszuordnungen. Wie groß ist z. B. der genetische Anteil am Risiko, durch Rauchen Lungenkrebs zu bekommen? Diese Frage kann man offensichtlich nicht durch Begriffsanalyse und philosophische Spekulationen beantworten. Die Diskussion um einen genetischen Determinismus im Allgemeinen oder um das Ausmaß der Determination von Genen im Verhältnis zu anderen Faktoren (Umwelt, »nurture«) im Speziellen interagiert mit konzeptuellen Fragen insofern, als in einer Situation vernetzter Kausalität häufig bestimmte Kategorien von Ursachen als »eigentliche« Erklärungsgründe anerkannt werden und andere Kategorien von Ursachen unter die »notwendigen Bedingungen« gerechnet werden, obwohl sie für die Erklärung des Phänomens ebenso notwendig sind. Häufig wurden die genetischen Ursachen als »eigentlich verursachend« behandelt, während die Umwelteinflüsse z. B. als »modulierend«, »mit-verursachend« oder einfach als notwendige Bedingungen zur Ausführung genetischer Programme dargestellt wurden (vgl. Neumann-Held 1999a und b). Die Fragen des Sinns von Kausalität und der verschiedenen Kategorien von Kausalität sind selbst nicht empirisch zu klären. Wichtig scheint mir festzuhalten, dass die Frage des DeterminisA
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mus und die Frage, welches Bild die Rolle des Genoms im Organismus am besten verständlich macht, auf zwei verschiedenen Ebenen liegen. Die Determinismusfrage ist eine Frage der Kausalität, während die Frage des Genom- oder Organismusbildes eine ontologische ist. Es ist durchaus möglich, innerhalb der Ontologie des Bildes eines »genetischen Programms« zu verbleiben und sich gleichzeitig von einem genetischen Determinismus zu distanzieren. Denn die Vorstellung eines Programms lässt es zu, dass bestimmte Faktoren aus der Umwelt in das Entwicklungssystem einbezogen werden. Ein Beispiel: Die Pflanzen wachsen dem Licht entgegen. Die Richtung, aus der das Licht kommt, ist nicht genetisch bestimmt. Aber die Vorstellung eines genetischen Programms lässt es zu, dass es im Programm Instruktionen gibt, wie der Organismus bestimmte Signale von Sinneszellen verarbeiten soll. Man kann deshalb die Idee des genetischen Programms nicht mit denselben Argumenten kritisieren, die uns zwingen, Grenzen des genetischen Determinismus zuzugestehen. Wenn wir hingegen die Frage nach der »Natur« von Lebewesen stellen, stehen ontologische Fragen im Vordergrund: Was macht die besondere Daseinsform von »Lebewesen« aus?
2.
Programm und System
Werfen wir zuerst einen Blick auf in die Biologie. Von welchem Hintergrundbild von Leben geht sie aus? Als Ausgangspunkt bietet sich die Darstellung dieses Hintergrundbildes (»basic picture«) an, das John Maynard Smith und Eörs Szathmáry folgendermaßen formulieren und das ihrer Meinung nach die moderne Biologie von früheren Biologien unterscheidet: »What is transmitted from generation to generation is not the adult structure but a list of instructions for making that structure.« 1 Genetische Information wird in diesem Bild nicht naiv verstanden als Plan oder Blaupause im Sinn einer Flach- oder Kleinversion der adulten Struktur, die, irgendwie in Gensprache codiert, Vorbild für die drei- (oder vier-) dimensionale Verwirklichung als Entwicklungsprozess ist. Genetische Information wird eher gedacht als eine Liste von »Instruktionen«, die von den Zellen des Körpers »verstanden« werden müssen (in einem sehr mechanistischen Sinn von »ver1
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Smith/Szathmáry 1999, S. 2.
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stehen«) und die zu den Prozessen der zellulären Differenzierung und der Morphogenese führen. Die Instruktionen befähigen die Zellen, die Struktur des Lebewesens herzustellen (»making«). Selbstverständlich haben die Autoren in diesem Satz auch Metaphern verwendet, die auffälligste ist die »Instruktion«. Damit wird die DNA als eine Art Kommandozentrale vor Augen gestellt, die in geordneter Folge geeignete Befehle an das Zytoplasma ausgibt. Aber der entscheidende Punkt für Smith und Szathmáry ist natürlich der, dass die Weitergabe der Fähigkeit zur Entwicklung dadurch geschieht, dass Information und nicht die Struktur des Organismus weitergegeben wird. Die Metapher der Instruktion ist nicht naturalistisch gedacht. Es gibt keinen realen Instruktor, der hinter der Instruktion steht und sich darin zum Ausdruck bringt. Durch die Rede von der Liste von Instruktionen wird auch keine Intentionalität der DNA unterstellt. Die genetische Information wird im geeigneten zellulären System so verwendet, als ob sie eine geordnete Instruktionenfolge sei. Dieses Als-ob teleologischer Ausdrucke ist in der Sprache der Biologie immer selbstverständlich mitgedacht. Wir können die Vorgänge beschreiben und verstehen »als« oder »wie wenn«. Das gilt auch für das genetische Programm. Die genetische Information »ist ein genetisches Programm« ist eine Aussage, die meint, dass es scheint, als ob sie ein Programm enthalten würde. Deshalb ist die metaphorische Redeweise wissenschaftlich gesehen legitim. Die Metapher formuliert aber über die scheinbar unterstellte Intentionalität und Teleologie auch eine wissenschaftliche nachprüfbare Erklärungshypothese über die Entwicklung. Das ist der eigentlich biologische Gedanke, der in der Idee des genetischen Programms enthalten ist. Eines der ersten Papers, die ihn explizit formuliert haben, ist 1961 im Journal of Molecular Biology erschienen. Der Inhalt des Aufsatzes ist der von Jacob und Monod entdeckte Mechanismus der differenzierten Regulation der Genaktivität. Am Schluss steht folgender Satz: »The discovery of regulator and operator genes, and of repressive regulation of the activity of structural genes, reveals that the genome contains not only a series of blue-prints, but a co-ordinated program of protein synthesis and the means of controlling its execution.« 2 2
Jacob/Monod 1961, S. 354. A
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Das Genom wurde als selbstreferenzielles Kontrollsystem für eine differenziell-rückgekoppelte Regulation der Genexpression vorgestellt. Die Mittel, die es zur Zeit Jacobs und Monods dazu befähigen, sind die Regulator- und Operatorgene, die z. T. in mehrfach übereinander liegenden Schlaufen die Aktivität von Strukturgenen beeinflussen. Heute sind mehrere Schichten weiterer Regulationsfaktoren hinzugekommen: Histone, Methylierung von Nukleotiden, RNA-Interferenz etc. Diese Hypothese eines selbstreferenziellen genetischen Kontrollsystems für eine differenziell-rückgekoppelte Regulation der Genexpression wird heute von einer Reihe von Evidenzen der molekularen Entwicklungsbiologie untergraben. Es konnte nachgewiesen werden, dass DNA multifunktionell ist und viel eher in bestimmten Weisen von der Zelle »verwendet wird« als dass sie diese bei diesen Verwendung ansteuerte. Es sind verschiedene Phänomene von Multifunktionalität von DNA-Sequenzen nachgewiesen worden. Außerhalb der DNA liegenden Faktoren tragen wesentlich zur Spezifizierung der aktualisierten Funktionen der DNA bei. Thomas Fogle hat das daraus entstehende theoretische Problem das »one-locus-multiple-product-dilemma« genannt 3 . Dafür, dass die Annahme sinnvoll ist, dass DNA-Sequenzen (oder Abschnitte des DNA-Moleküls) im Zell-Zusammenhang Instruktionen darstellen können, müsste die Bedeutung der »Instruktion« aber unabhängig davon bestehen, was von ihr instruiert wird. Genau dies scheint aber nicht der Fall zu sein. In der folgenden Liste sind einige der auffälligsten Phänomene dieser Art aufgeführt 4 . – Alternatives Spleißen (aus einem Gen entstehen je nach Situation der Zelle zwei oder mehr verschieden gespleißte mRNA Moleküle, die zu verschiedenen Proteinen führen); – Überlappende Gene (dieselben DNA-Sequenzen finden in mehreren Genen Verwendung); – Alternative Leseraster (die Tripletts von je drei DNA-»Buchstaben«, die je für eine Aminosäure codieren, werden verschoben abgelesen, was zu anderen Triplett-Codes führt); – Trans-Spleißen (einzelne Exons werden aus anderen Lesefenstern »herbeigeholt« und in eine funktionale mRNA integriert); Fogle 2000, S. 8. Vgl. auch Alberts 2008, Neumann-Held 1999a und Griffiths/Stotz 2006 und die Website http://representinggenes.org.
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–
Antisense-Transkripte (ein Teil der Exons werden in umgekehrter Leserichtung vom zweiten DNA-Einzelstrang abgelesen); – mRNA Editing (nach der Ablesung von der DNA wird die Sequenz der mRNA verändert, was zu einem veränderten Protein führt); – Selektive Methylierung (für die Regulation der differenziellen Genaktivitäten werden einzelne DNA-Abschnitte durch Ansetzen von Methylgrupen kovalent verändert); – Multiple, ortsspezifische Funktion von Genprodukten (dasselbe Gen oder Protein hat zu verschiedenen Zeiten im Entwicklungsprozess und/oder an verschiedenen Orten im Organismus verschiedene Funktionen). Alle aufgezählten Phänomene sind innerhalb des Konzeptes eines genetischen Programms Anomalien, weil sie eine Abhängigkeit der »Bedeutung« der DNA von Interaktionen und Prozessen aufzeigen, die außerhalb der DNA lokalisiert sind. Die Aktivität der DNA und die Funktion von Genen entstehen erst im Kontext eines zellulären Systems. Für die operative Funktion lebendiger Systeme, d. h. für die Entwicklung und für die Lebensvollzüge, ist codierende Information in der DNA zwar offensichtlich notwendig aber nicht hinreichend. Thomas Fogle drückt diesen Befund so aus: »The mutual dependency of DNA and protoplasmic interactions bedevils a simplistic labelling scheme for expressed segments of hereditary information.« 5 Die Annahme von Instruktionen, die in Form von genetischer Information in der Sequenz von DNA-Molekülen gespeichert sind, hat sich als übermäßig vereinfachendes Beschreibungsmuster entpuppt. Es wird den Tatsachen, die in der Molekulargenetik beschrieben wurden, nicht mehr gerecht, auch wenn stets auch Fälle herangezogen werden können, wo zwischen Mutation und Phänotyp eine starke kausale Korrelation besteht. (Beispiele sind das Chorea Huntington Gen oder das Gen für Phenylketonurie.) Wie können Gene, Genome und ihre Rolle in der Entwicklung aber anders verstanden werden? Gibt es ein alternatives Interpretationsmuster? – Um die grundlegende Weichenstellung zu erkennen, die zur Programm-Theorie des Genoms führt, müssen wir das Konzept der genetischen Information genauer betrachten. Organismen sind offenbar in der Lage, genetische Information aus der DNA zu 5
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extrahieren. Dieser Prozess der Extraktion kann auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen verstanden werden. Entweder ist die Information in der DNA schon vorhanden, aus der sie extrahiert wird. Oder die Information wird während und durch die Prozesse der Extraktion erzeugt. In beiden Vorstellungen wird Struktur aus Interaktionen von Makromolekülen mit DNA realisiert. Im Ergebnis eines ausgedehnten Forschungsprojektes mit Befragungen von Molekularbiologinnen und -biologen über ihre Vorstellungen zu diesem Thema bestätigen Paul Griffiths und Karola Stotz die zweite Vorstellung: »We argue that the most general conception of a molecular gene is one that recognizes that genes – and the genetic information that they contain – are constituted during development, making the gene a flexible, context-dependent entity.« 6 Eine der ersten, die erkannt haben, dass die Frage der Präexistenz oder aber der Kontingenz der genetischen Information für das Verständnis der Rolle des Genoms in der Entwicklung entscheidend ist, ist Susan Oyama mit ihrem Buch The Ontogeny of Information von 1985. Die Struktur der Proteine, die Ordnung der Genregulation und die organismische Form werden während des Entwicklungsprozesses konstruiert. Gemäß dieser Ansicht sind Formen ein Ergebnis von Interaktionen, die zwischen Teilen und Prozessen innerhalb des Organismus stattfinden, mit Einbezug von Elementen oder Prozessen der Umwelt. Innerhalb dieser Interaktionen spielt DNA eine spezielle Rolle, die aber nicht ontologisch privilegiert ist. Sie ist nicht wichtiger als die anderen Faktoren und Prozesse, die gemeinsam mit DNA bestimmte Entwicklungsschritte herbeiführen. Alle Faktoren zusammen bilden ein System von kausalen Interdependenzen. Oyama nimmt dabei einen vorher in anderem Zusammenhang von Conrad Waddington verwendeten Begriff auf: das Entwicklungssystem (developmental system). In einem Entwicklungssystem ist die DNA eine Interaktantin. Wichtig zum Verständnis von Oyama’s Ansatz ist ein zeitlicher Aspekt: Die Logik des Entwicklungsprozesses ist nicht im Voraus in Form von präexistenter genetischer Information festgelegt, sondern sie entwickelt sich von Schritt zu Schritt. Gunther S. Stent hat für diese Entwicklungslogik den Begriff des »historischen« Prozesses 6
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Griffiths/Stolz 2005, S. 500.
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vorgeschlagen 7 . Jeder Schritt resultiert aus einer komplexen Konstellation von Ursachen und führt zu einer neuen Konstellation von Ursachen, die den nächsten Schritt herbeiführt. Diese theoretische Weichenstellung eröffnet einen Weg zu einem gegenüber dem genetischen Programm alternativen Verständnis der Rolle des Genoms im Organismus. Tab. 1 gibt eine kontrastierende Darstellung der beiden Auffassungen, in idealtypischer Formulierung als Programm- und als Systemtheorie des Verhältnisses zwischen Genom und Organismus: (i) Die Erklärung der Regelmäßigkeiten der Entwicklung erfolgt unterschiedlich. Die Systemtheorie der DNA erklärt Regelmäßigkeiten als Kaskade von Ursachenkonstellationen. Diese wurden evolutionär so stabilisiert, damit die Lebensfähigkeit des Organismus innerhalb eines Bereiches von Irritationen aufrechterhalten wird. Die Regelmäßigkeit ist in diesem Modell selbst eine Errungenschaft, ein Ergebnis einer bestimmten Ausgangslage und nicht ein Ergebnis der Ablesung einer vorbestehenden Informationsgrundlage. Diese komplexe Ausgangslage liegt bereits nach der Befruchtung in der Zygote vor und bezieht bestimmte Aspekte der Umwelt mit ein. Bei Säugetieren entwickelt sich der Embryo innerhalb der aktiven Umgebung der Gebärmutter (ii) Die kausale Hierarchie ist in der Systemtheorie flach, d. h. es gibt keine a priori Privilegisierung der DNA als »besonders wichtige« oder »andersartige« Ursache. DNA ist einfach ein hoch spezialisiertes Organ unter anderen. (iii) Die genetische Information liegt nicht vor dem Entwicklungsschritt, den sie »informiert« schon vor, sondern wird durch die vorausliegende Konstellation hervorgebracht. Genetische Information ist kontingent und ephemer. D. h. sie ist abhängig vom gesamten Systemzustand und sie ist dementsprechend auch nur vorübergehend wirklich. (iv) Die morphologische Struktur eines Organismus »von innen gesehen«, d. h. aus der molekularen Perspektive betrachtet, kann in bestimmten Fällen eine Rolle spielen für die Herausbildung und Spezifizierung genetischer Information, die einen Entwicklungsschritt erklärt. Es kann z. B. eine entscheidende Rolle spielen, wo in der Zelle sich ein bestimmtes Molekül befindet. Oder es ergeben sich bestimmte räumliche Muster von Flüssen oder Reizübertragungen. 7
Stent 1981. A
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(v) Umwelteinflüsse können für die Ätiologie einer Eigenschaft des Organismus ebenso wichtig sein wie innere, DNA-bezogene Ursachen. Man kann ihren Anteil an der Gesamtkausalität durch Korrelationsanalysen studieren, wie man auch den Anteil von bestimmten SNPs (Einzelnukleotidpolymorphismen) der DNA untersucht. Diese Ergebnisse geben aber noch kein detailliertes Bild davon, wie die einzelnen Faktoren, woher sie auch immer kommen, zusammenwirken. Programm-Theorie der DNA … Verwirklichung der genetischen Information / die Umsetzung von vorbestimmten Listen von Instruktionen. DNA braucht andere Faktoren für ihre adäquate Expression.
Systemtheorie der DNA
(i)
Regelmäßigkeit wird erklärt als die …
(ii)
Kausale Ordnung:
(iii)
Genetische Information …
(iv)
Die Mikrostruktur, der … ist von untergeordOrt der DNA-Interneter Bedeutung, als aktionen … eine der notwendigen Bedingungen für die Genexpression.
… ist als solche wichtig, als eine besondere Klasse von Ursachen im Entwicklungssystem.
(v)
Umwelteinflüsse werden beschrieben durch …
… Korrelationsanalyse und detaillierte Beschreibung der Wirkungen.
»historische« Abfolge von komplexen Ursachen-Konstellationen.
Alle mitwirkenden Faktoren sind notwendig; Keine ontologische Privilegierung der DNA. … existiert vor der Ent- … wird innerhalb von wicklung. Entwicklungsprozessen erzeugt.
… eine Reaktionsnorm / durch phänotypische Plastizität.
Tab. 1: Zwei kontrastierende Ansichten des Genoms und der Beziehung zwischen Genom und Organismus.
3.
Natur und Praxis
Aus dem breiten Feld der Probleme, die sich im Anschluss an die Gegenüberstellung der zwei Genomtheorien aufwerfen lassen, möchte ich nur einer einzigen Frage weiter nachgehen, nämlich der, 136
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warum die Diskussion der Genomtheorien für eine praxisbezogene Naturphilosophie und eine naturorientierte Ethik von Bedeutung ist. Mit der Genetik ist nicht das Ganze der Natur angesprochen. Es geht nicht um Kosmologie oder um eine Theorie der Natur überhaupt, sondern um die Biosphäre, um das Lebendige, um die Lebewesen in ihren besonderen Formen und Daseinsweisen. Es geht aber dabei auch um uns selbst, als menschliche Lebewesen, das heißt um die Korporealität (Leiblichkeit), die unsere Daseinsweise auszeichnet. Wenn wir die Körperlichkeit, unser organisches Sein auslegen, ist immer auch unsere Identität angesprochen, unsere Identität im Bezug auf die nichtmenschliche Natur. Naturbild und Menschenbild sind betroffen, wenn wir über die Lebendigkeit der Lebewesen nachdenken. Denn wir sind innerhalb der Biosphäre dasjenige Lebewesen, das wir aus der Perspektive des »Selbstseins« kennen, wie es Gernot Böhme ausgedrückt hat 8 . Ich glaube, zunächst hat die Naturphilosophie im Rahmen der Ethik eine analytische Aufgabe. Sie untersucht Strukturen, Rollen und Funktionen von Naturbildern und ihrer Konzepte von Leben, Entwicklung, Evolution, Naturgeschichte, Ökologie etc. innerhalb von Handlungskontexten und innerhalb der normativ-ethischen Reflexion auf diese Handlungskontexte. Und sie versucht, die Aspekte der Verhältnisse der Menschen zur Natur begrifflich fassbar und diskutierbar zu machen, die in der Praxis zu einem Problem geworden sind. Damit eröffnet sie den Weg zu einer synthetisch-konstruktiven Weiterführung des Diskurses um Naturbilder. Naturphilosophie soll nicht spekulieren, sondern Natur kritisch deuten und sprachlich interpretieren – auf der Basis des uns verfügbaren Wissens. Die Interpretationsmuster der Genetik (Programm, System) gehören offensichtlich zu diesem Bestand von Naturbildern, die Deutungen enthalten, hinzu. Eine kritische Theorie der Natur ist eine Untersuchung von Naturverhältnissen der Menschen, die daran arbeitet, die Probleme zwischen Gesellschaft und Natur aufzuweisen, der Diskussion zugänglich zu machen und denkerische Ansätze zu entwickeln, um sie zu überwinden. Wie es Gernot Böhme formuliert hat, ist eine kritische Naturphilosophie »eine Theorie der Natur, in die der Mensch als gesellschaftlicher Wirkfaktor wesentlich inte-
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Böhme 1992. A
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griert ist und die sagen kann, was vernünftige gesellschaftliche Verhältnisse sind«. 9 Val Plumwood hat behauptet, dass die Objektivierung der Natur, die sich in der Entfernung aller Intentionalität und Subjektivität aus der Natur ausgewirkt hat, für die Naturkrise mitverantwortlich ist 10 . Die neuzeitlichen Naturkonzeptionen haben der Natur und auch den Lebewesen eine eigene Handlungsmacht (agency) abgesprochen. Die Natur ist objektiv und mechanisch. Die Organismuskonzeptionen, welche als Leitbilder der modernen Molekularbiologie vorangehen, sind in der Tat mechanistische Konzeptionen. Die Teile eines Lebewesens (Moleküle, Zellen, Organe) werden hinsichtlich ihrer Struktur und Funktion untersucht. Die Genetik ist vor allem in der Mitte des 20. Jahrhunderts als die Lösung für das Problem des Lebens innerhalb einer mechanistischen Naturkonzeption gefeiert worden. Wenn sich die Lebewesen nach einem genetischen Programm entwickeln und dieses Programm von Generation zu Generation weitergegeben wird, dann scheint im Prinzip alles am Phänomen des Lebens erklärbar. Es geht dann nur noch darum, die konkreten Details herauszufinden. Als heuristischen Schlüssel hat Plumwood Herrschaftsbeziehungen zwischen Menschen mit der Mensch-Natur-Beziehung verglichen, speziell die gender-Beziehung. Das In-den-Hintergrundstellen der produktiven Anteile der zu unterdrückenden Personen gehört, wie leicht nachzuvollziehen ist, zu den Mechanismen, wie sich eine Herrschaftsbeziehung aufrechterhält. Daraus hat Plumwood eine Reihe von Bedingungen für eine Naturphilosophie abgeleitet, die sich kritisch auf diese Problematik der Mensch-Natur-Beziehung einlässt und gleichzeitig versucht, einen neuen Weg zu öffnen. Die wichtigste Bedingung besteht darin, die Natur als eine Sphäre eigener Aktivität wahrzunehmen. »I have argued that in anthropocentric culture, attributions tend to overemphasise the human (especially the privileged human) and to underemphasise or deny the agency of nature.« 11 Es gilt nun abzuklären, ob diese Forderung in der heutigen Situation erfüllbar ist, ohne zu dogmatischen Behauptungen oder gar zu animistischen Spekulationen Zuflucht nehmen zu müssen. Gibt es Böhme 2003, S. 21. Plumwood 2003. 11 Plumwood 2003, S. 216 f. 9
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auf der Grundlage der gegenwärtig verständlichen und im Kontext der Naturwissenschaften vertretbaren Argumente überhaupt einen Raum für eine eigene Aktivität oder Handlungsmacht im Bereich des Lebendigen, außerhalb der menschlichen Subjektivität?
4.
Praxis, Akt und Ort
Von einem positivistischen Standpunkt aus betrachtet, erscheint der Übergang von der Programmtheorie zur Systemtheorie des Genoms als Demontage einer überflüssigen Metaphysik des Lebens. Der Glaube an ein genetisches Programm oder eine geordnete Reihe von Instruktionen, die den feststellbaren Prozessen der Entwicklung vorausliegen sollen, ist empirisch weder verifizierbar noch falsifizierbar, weil alles, was tatsächlich verifizierbar oder falsifizierbar ist, per definitionem im Begriff der feststellbaren Prozesse enthalten ist. Das genetische Programm ist ein Glaube, der uns die festgestellten Regelmäßigkeiten »plausibel macht«, d. h. uns eine Art logische Erklärung für ihre Möglichkeit gibt. Das genetische Programm ist eine gute Geschichte, die uns erklärt, wie es möglich sein könnte, dass sich Lebewesen so und so entwickeln. Es ist aber keine Geschichte, die in ihren wesentlichen Annahmen durch Beobachtungen gedeckt wäre. Die Nachteile der These vom genetischen Programm liegen aber noch auf einer anderen Ebene. Die Ontologie, welche sie enthält, ist in sich problematisch. Ihr Bild der Entwicklung ist das eines im Grunde heteronomen, nicht autonomen Prozesses. Die Organismen sind eine Art Maschinen, die in der Lage sind, die Instruktionen des genetischen Programms umzusetzen. Wenn die Instruktionen umgesetzt werden, wandelt sich der Aufbau der organischen Maschinen, und damit ergeben sich auch neue Voraussetzungen für die Verwirklichung neuer Instruktionen. Der Prozess ist zwar rückgekoppelt, aber dennoch immer so gedacht, dass die Anweisungen in Form des genetischen Programms schon im Voraus feststehen und den Entwicklungsschritten vorausliegen. Es gibt im Organismus ein Verhältnis zwischen Anweisung und Ausführung. Die Korporealität des Organismus fällt auf die zweite Seite; sie ist Produkt. Sie ist – als Phänotyp – das Ergebnis der Ausführung des Programms und gleichzeitig das Mittel zur Ausführung des Programms. Der Genotyp bestimmt den Phänotyp, auch wenn das Determinationsverhältnis nicht absolut ist und in den Entwicklungsprozess zwischen Genotyp A
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und Phänotyp mannigfache Rückkoppelungsschleifen eingebaut sind. Richard Dawkins hat die naturphilosophische Konsequenz aus der Annahme eines genetischen Programms vielleicht am radikalsten gezogen 12 , indem er den Organismus als »Überlebensmaschine ihrer Gene« oder ihrer genetischen Programme bestimmte. Wenn man nur die Entwicklung betrachtet und einmal vom Verhalten absieht, 13 wird die Vorstellung des Lebens ein Bild von im Wesentlichen vorausdeterminierten organischen Einrichtungen, die geeignet sind, eine Zeit lang zu funktionieren. Die »agency« – wenn man überhaupt von einer solchen sprechen könnte – ist auf die Ebene der Steuerung, d. h. der genetischen Programme verlegt worden. Die systemische Konzeption des Genoms hingegen lässt Raum für eine Anerkennung der Lebenswirklichkeit von Organismen als sich selbst aktiv instruierende Wesen. Die »Hinterwelt« des genetischen Programms wird aufgegeben. Damit gewinnt die Ebene des Wirklichen einen eigenständigen Status. Leben wird als Prozess vorstellbar, der sich korporeal, in gleichsam infinitesimalen Schritten kontinuierlich verwirklicht. Die Ebene der Korporealität ist keine abgeleitete oder sekundäre Wirklichkeit, hinter der sich eine Sphäre von Instruktionen verbirgt. Die körperliche Existenz von Organismen wird durch den ontologischen Schritt von der Programm- zur Systemtheorie des Genoms in ihr eigenes Recht zurückgesetzt. Wenn genetische Information so gedacht wird, dass sie selbst im Laufe der Entwicklungsschritte im Rahmen von Interaktionen entsteht, gelangen in unserem Verständnis die Entwicklung und das Verhalten näher zueinander. Die Entwicklung wird nicht mehr als der Bau der Körpermaschine aufgefasst (mit dem genetischen Programm als Architekt), während das Verhalten (Bewegung, Kommunikation etc.) die Funktion dieser gebauten Maschine ist. Entwicklungsschritte sind selbst Bestandteile eines sich selbst instruierenden Prozesses der korporealen Existenz. Das Verhalten wird zu einem Teil dieses Prozesses der Entwicklung, zu einem Teil freilich, der in höherem Maße die Koordination des Nervensystems impliziert. Wenn die Katze auf Dawkins 1976. Es ist auch innerhalb der Programmkonzeption möglich, das Verhalten gewisser Tiere »subjektiv« zu verstehen. Ein Teil des genetischen Programms kann ja darin bestehen, den Organismus mit einem Empfindungs-, Denk- und Willensvermögen, d. h. einer Innerlichkeit auszustatten. Das kann Vorteile für die Koordination des Verhaltens bieten. Die Frage ist dann eine empirische, ob der Organismus subjektivitätskonstitutive Einrichtungen aufweist: z. B. ein neuronales System mit einer bestimmten Komplexität.
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einer Wiese einer Maus auflauert, die sich (vielleicht) im Mäusegang verbirgt, ist ihr gesamter Habitus, ihre mentale Spannung und der Ablauf ihrer Köperbewegungen neuronal koordiniert. Es trägt zur Veränderung der Struktur und Zusammensetzung des Körpers der Katze wenig bei – außer dass dieses Verhalten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu Futter führt, das den Metabolismus aufrechterhält. Ich möchte nun drei Begriffe (Praxis, Akt und Ort) einführen, welche die naturphilosophischen Möglichkeiten deutlicher machen sollen, die sich aus dem Wechsel vom Programm zum System in der Biologie ergeben. Praxis. Die Systemtheorie des Genoms und des Genom-Organismus-Zusammenhangs lässt Raum für eine Betrachtung der Entwicklung und der Lebensvorgänge als organische Praxis. Organische Praxis meint einen Prozess, dessen Sinn im Vollzug liegt 14 . Der Gegensatz ist die poiesis im aristotelischen Sinn: der Prozess, dessen Sinn im Produkt, modern gesprochen, im funktionalen Beitrag liegt. Aristoteles gewann die Unterscheidung zwischen Poiesis und Praxis in der Sphäre des menschlichen Handelns. Sie findet sich im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik 15 : Eine Poiesis ist ein Herstellen, das zu einem Produkt führt, während eine Praxis ein Handeln ist, dessen Sinn und Wert in ihm selbst liegt. Man kann sagen, ein Herstellen führt man um des Hergestellten willen aus, während man eine Praxis (Handeln) ausübt, weil sie sich selbst lohnt. In der schlanken und geradlinigen Übersetzung von Ursula Wolf kommt dies sehr deutlich heraus: »Das Ziel der Herstellung (poiesis) ist von dieser selbst verschieden, das der Handlung nicht. Denn das gute Handeln (eupraxia) selbst ist Ziel.« 16 Hans-Georg Gadamers Version klingt demgegenüber etwas komplizierter, ist inhaltlich aber deckungsgleich: »Das sachkundige Herstellen vollendet sich in seinem Werk; dagegen vollendet sich das Verhalten immer in sich selbst, im SichRecht-Verhalten selber.« 17 Wenn man nun diese Unterscheidung in einem strukturanalo14 15 16 17
vgl. Rehmann-Sutter 1995 und 2006b. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140a-1140b. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140b 6 f. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140b 6 f. A
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gen aber übertragenen Sinn auf Prozesse anwendet, die sich im Lebendigen ereignen, wird eine organische Poiesis eine Funktion des Organismus, deren »Ziel« (in metaphorischer, nicht ontologisierender Rede) sich aus seinem funktionalen Beitrag ergibt. Eine organische Praxis ist hingegen ein Prozess, der so aufgefasst wird, dass dessen Sinn im Vollzug selbst liegt, in der Wirklichkeit, die der Prozess als Element einer Korporealität darstellt. Die Wirklichkeit des Lebewesens, die in lauter solchen Vollzügen der organischen Prozesse besteht, ist Sinn ihres Ablaufs oder Vollzogenwerdens. Meine These lautet, dass wir genau das meinen, wenn wir von etwas (einem System) sagen, dass es »lebt« 18 . Mit dem Wort »es lebt« sagen wir aus, dass dieses System einen Sinn darin findet, als Prozess da zu sein. Das System eröffnet in sich einen eigenen (»inneren«) Raum von Sinn. Damit unterscheiden sich in unserer Wahrnehmung lebendige von nichtlebendigen Systemen. Diese These der organischen Praxis ist zunächst auf der Ebene der Sprache zu lokalisieren, mit der wir von der Natur sprechen. »Wir fassen organische Prozesse auf als …« In der Sprache manifestiert sich eine Wahrnehmung der Natur: »Wir nehmen organische Prozesse wahr als …«. Es bleibt zu diskutieren, ob und inwiefern wir zu sagen berechtigt sind, die organischen Prozesse seien organische Praxis. Diese Frage der Berechtigung der organischen Praxis als ontologischer These soll an dieser Stelle offen bleiben. Ich möchte hier nur soviel behaupten, dass die Veränderungen der Sprache und der Wahrnehmung schon als solche ernst zu nehmen sind, weil sie eine Bedeutung im Diskurs über Natur haben, selbst wenn die ontologische Frage offen bleibt. Die These der organischen Praxis beinhaltet gegenüber der mechanistischen Sicht eine Veränderung der Naturbeschreibung und der Naturbilder, im speziellen eine Veränderung der Beschreibung und Bilder des Lebens und des Lebendigen. Aber warum kann nicht auch ein genetisch programmierter Organismus als organische Praxis gedacht werden? Es hindert uns doch nichts daran, auch die Prozesse der Genexpression als Wirklichkeiten zu denken, deren Sinn im eigenen Vollzogensein liegt. Ich möchte auf diesen Einwand folgendes antworten: Im Prinzip könnte man das schon machen, aber es ergäbe sich dann eine hinderliche Dissonanz zwischen dem naturwissenschaftlichen Bild und einer unmotiviert darübergestülpten Naturphilosophie. Während es naturwis18
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vgl. ausführlicher Rehmann-Sutter 2004.
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senschaftlich so wäre, dass Instruktionen aus dem Genotyp kommen, während die phänotypischen Prozesse als Ausführungen genetischer Impulse gedacht werden, müsste man philosophisch die umgekehrte Behauptung verteidigen, dass dieselben Prozesse auch als eigenständige Wirklichkeit angesehen werden müssen. Die philosophische These fände keine Entsprechung in der wissenschaftlichen Bilderwelt. Die Systemkonzeption des Genoms ermöglicht und motiviert hingegen diese These deswegen, weil ihre Bilderwelt strukturell mit ihr in Einklang steht. Gleichzeitig muss man vorsichtigerweise einräumen, dass die Analogie mit der naturwissenschaftlichen Bilderwelt die philosophische Schlussfolgerung, welche in die These der organischen Praxis mündet, nicht schon hinreichend begründet. Aber es fällt ein wesentlicher Grund, der gegen sie sprach, weg. Akt. Der Begriff der organischen Praxis ist so breit, dass grundsätzlich alle Lebensvorgänge darunter fallen können. Das ist ein enormes Spektrum. Es reicht von den metabolischen Prozessen in der Zelle, die von der Biochemie, der molekularen Genetik oder der biophysikalischen Chemie untersucht werden, über die Ausübung des genetischen Systems und der Zell-Zell-Interaktionen, welche heute die genetische Entwicklungsbiologie experimentell untersucht, über die Differenzierung von spezialisierten Zellen und Geweben, welche Gegenstand der Stammzellforschung ist, bis hin zum Untersuchungsfeld der Ethologie: das Jadgverhalten, das Werbe- und Paarungsverhalten von Tieren, die Aufzucht von Jungen und die Kommunikation. Auch alle unsere menschlichen Handlungen sind als Praxis anzusehen, wie es Aristoteles dargelegt hat, nämlich dann, wenn es darum geht, sie im Hinblick darauf zu betrachten, was es heißt, gut zu handeln. Susanne K. Langer hat in ihrer breit angelegten Philosophie des Geistes im Kontext nichtmenschlicher Lebensformen einen Begriff geprägt, der sich für eine Differenzierung eigenen könnte. Es ist der Begriff des Aktes. Die einfachsten Akte sind solche, die der homöostatischen Interaktion von Organen ähnlich sind und eigentlich, wie sie sagt, noch der Biochemie angehören. Langer spricht von »proto-acts« 19 und gibt als Beispiel das Steigen und Sinken von Plankton im Wasser als Anpassung an die wechselnden Licht- und Temperaturverhältnisse. Sie beschreibt sie so:
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»The creature moves to escape discomfort, not to reach a goal, and comes to rest where the conditions are tolerable, without knowing in advance where that will be.« 20 Wichtig ist festzuhalten, dass dieses Verhalten durch den Aktbegriff nicht als zielgerichtetes oder absichtsgeleitetes Verhalten beschrieben wird. Es wird also nicht unterstellt, dass die Plankton-Organismen sich etwas »überlegen« oder »denken«, dass sie im Wasser auf- oder absteigen »wollen«. Aber es ist dennoch mehr als ein bloß mechanischer Ablauf, mehr als eine »Funktion« des Organismus. Im »Akt« wird eine fundamentale Form von Subjektivität mitgedacht. Im Zitat von Langer ist sie in den verwendeten Worten »discomfort« oder »tolerable« enthalten. Ein bloß mechanistisch gedachtes System kennt kein Unbehagen und findet nichts erträglich; es reguliert und funktioniert nur. Solche Worte wie Unbehagen oder Erträglichkeit sind selbstverständlich gefüllt mit unseren eigenen, menschlichen Erfahrungen. Wir können uns nicht in die Innenwelt von Plankton »einfühlen«. Insofern sind die verwendeten Worte immer mit einem epistemologischen Vorbehalt aufzufassen. Wenn wir das Verhalten von Lebewesen in der Sprache von Akten beschreiben, verwenden wir unausweichlich eine anthropomorphe Sprache. Dies zwingt uns aber nicht dazu, die Sprache der Akte aufzugeben, sondern dazu, den epistemologischen Vorbehalt mitzudenken, wenn wir die Sprache der Akte verwenden. Die Sprache der Akte hält für die Subjektivität der beschriebenen Lebewesen, so einfach und so anders sie auch sein mag, einen Raum offen. Akte sind Prozesse, die eine Sphäre eigenen Sinnes beinhalten. Dieser Sinn ist – außer wenn es sich um menschliche Akte handelt – radikal nicht-anthropomorph aufzufassen: als das (möglicherweise) radikal Andere, das aber, um anerkannt zu werden, doch in seiner Möglichkeit, subjektiv zu sein, anerkannt werden muss. Im Aktbegriff, wie ich ihn verteidige, ist die Anerkennung dieses Raums eines eigenen subjektiven Sinnes ausgesprochen. Es ist deshalb eigentlich ein Begriff, der eine Beziehung zwischen wahrnehmendem Subjekt (menschlicher Beobachter) und wahrgenommenem Lebewesen normativ strukturiert: Er beinhaltet einen auf das wahrgenommene Wesen gerichteten Akt der Anerkennung. Die System-Konzeption des Genoms scheint mir für die These 20
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der Akte offener zu sein als die Lehre vom genetischen Programm. Denn im genetischen Programm ist eine mechanistische Konzeption des Organismus bereits mitgedacht. Subjektivität hat, wenn sie überhaupt unterstellt wird, einen abgeleiteten Status – selbst als Ausdruck des genetischen Programms. Wenn sich ein Entwicklungssystem hingegen Schritt für Schritt in seinem Leben fortbewegt, teils durch korporeale Entwicklungsprozesse, teils durch Verhalten, ist die darin mögliche Subjektivität des Wesens primär. Subjektivität ist nicht aus genetischen Funktionen abgeleitet, sondern gleich ursprünglich gedacht wie seine funktional-mechanischen Aspekte: die andere Seite derselben Medaille. Ort. Welche Sprache ist geeignet, das Zusammenleben (die Ökologie) der Lebewesen zu beschreiben? In der naturwissenschaftlichen Ökologie hat sich seit Eric Odum der Begriff der ökologischen Systeme oder Ökosysteme eingebürgert: »Das Ökosystem ist die grundlegende Funktionseinheit in der Ökologie, weil es beides umschließt, Organismen und Umwelt. Jedes beeinflusst die Eigenarten des anderen, und beide sind notwendig für die Erhaltung des Lebens auf der Erde.« 21 . Wie im Zitat deutlich wird, liegt der Fokus im Ökosystem-Begriff auf den Funktionen, den wechselseitigen Beeinflussungen von Teilen des Systems – Organismen und Umweltfaktoren – und auf der Erhaltung. Das eröffnet eine naturwissenschaftliche Forschungsperspektive, die heute, angesichts der akuten Bedrohtheit der Ökosysteme durch zivilisatorische Einflüsse, von hoher Relevanz ist. Was im Begriff des Ökosystems nicht vorkommt, ist die Sinn-Perspektive. Wenn wir aus der eigenen Erfahrung schöpfen, als selbst dauernd in Lebensgemeinschaften mit anderen Wesen Beteiligte, legt sich ein Begriff nahe, der die Sinn-Perspektive in die Beschreibung von Naturzusammenhängen einbringt: der Begriff des Ortes. Wir fühlen uns an bestimmten Orten wohl, an anderen weniger. Es gibt gute Orte, schlechte Orte, Orte der Lebensfülle und Orte der Zerstörung. Orte haben eine Atmosphäre. 22 Wir können allgemein sagen, Orte haben Qualitäten, die nicht einfach in naturwissenschaftlicher Sprache zu beschreiben sind. Die Qualitäten von Orten sind nicht auszudrücken in Begriffen der Artzusammensetzung, der Biodiversität oder mit den verschiedenen ökologischen Kenngrößen, 21 Odum 1980, S. 11, zitiert nach Schramm 1984, S. 64; vgl. zum metaphorologischen Kontext Schwarz 2003. 22 Böhme 2001.
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obwohl alle diese Faktoren für die Qualitäten von Orten eine Rolle spielen. Die Qualitäten von Orten sind jedoch notwendigerweise gebunden an die subjektive Wahrnehmung von Orten als an ihnen beteiligte, sie mit bewohnende oder sie besuchende Wesen. Damit ist gesagt, dass ich den Begriff der Orte nicht für die außermenschliche Natur reservieren möchte. Menschen gestalten Orte mit und bevölkern sie. Städte und Landwirtschaftszonen sind von Menschen viel intensiver dominierte Orte als Wälder, Gewässer oder Naturreservate. Orte sind allgemein auf die Wahrnehmung der sie bevölkernden Lebewesen bezogene Texturen von Beziehungen, die einen Raum von Sinn aufspannen 23 . Diese Lebewesen können auch Menschen sein. Mit dem Begriff der Orte lässt sich die Frage der ökologischen Ethik in einem erweiterten Sinn stellen: Es geht dann nicht nur um den Schutz von etwas Bedrohtem (bedrohte Arten, Habitate, Klima etc.), sondern auch um die gute Gestaltung der Orte. Wenn Orte Qualitäten haben und wenn wir Menschen von den Qualitäten von Orten affiziert sind, können wir diese Qualitäten auch im ethischen Sinn begreifen. Wie es eine Ethik des guten Lebens gibt, müsste es eine Ethik der guten Orte geben. Respekt bedeutet dann nicht nur die Anerkennung einer eigenen Daseinsberechtigung nichtmenschlicher Natur, sondern auch die Sorgfalt in der Mitgestaltung der Texturen von Beziehungen, in die wir uns zu anderen Wesen (und Menschen) durch die Gestaltung der Orte begeben. Auch hier gibt es einen engen Bezug zur System-Genomik. Die Entwicklung von Lebewesen ist in dieser Konzeption als sich-entwickelnder Ort gedacht. Der Körper, der sich Schritt für Schritt fortentwickelt, stellt in sich selbst eine Textur von Beziehungen dar, in der es zählt, wo sich eine Zelle im strukturierten multizellulären Zusammenhang befindet, bzw. wo innerhalb einer Zelle sich z. B. ein Proteinkomplex gerade befindet. Gene und Proteine haben im Entwicklungssystem ortsabhängige multiple Funktionen. Leben findet an Orten statt und es schafft gleichzeitig – durch die fortgesetzte Schöpfung von wechselseitig aufeinander bezogener Korporealität – diese Orte, an denen es stattfindet.
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Schluss: eine Bio-Ethik? Die Begriffe der Praxis, der Akte und der Orte enthalten eine Ethik der Anerkennung der eigenen Sinnräume, der Akte von Lebewesen und der Gestaltung von Orten. Sie schlägt zwischen Naturtheorie und Praxis gleichsam den längeren Weg ein. 24 Der längere Weg führt über die Ermöglichung einer substanziellen Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Wahrnehmung der Natur. Die Naturphilosophie kann – unter anderem in Auseinandersetzung mit der Genetik – dazu beitragen, indem sie Begriffe und Konzepte erarbeitet und anbietet, die Fehlwahrnehmungen und in gesellschaftlichen Zusammenhängen »regimebedingte« Wahrnehmungsstörungen begreifbar und kritisch diskutierbar macht. Theorien der Natur stehen zweifellos in einem praktischen und auch in einem gesellschaftlichen Kontext. Um den Kontext, der hier eine Rolle spielt, präziser benennen zu können, verwende ich den Begriff der technologischen Regimes. Sowohl ökologische Probleme als auch die ethischen Fragen der Biotechnologie problematisieren in vielfältiger Weise den technologischen Wandel in einer globalisierten Gesellschaft. Bilder der Natur und ihrer wesentlichen Phänomene (wie des Lebens oder des Werdens) treten in den Bedingungen der technischen Zivilisation als Bestandteile von technologischen Regimes auf, die den technologischen Wandel orientieren. Unter technologischen Regimes verstehe ich (in Anlehnung an die Techniksoziologie von Arie Rip) kohärente Komplexe von Wissen und weltanschaulichen Hintergrundannahmen, von Praktiken der Forschung und des Engineering, industriellen Produktionstechniken, Produktcharakteristika, Praktiken des Technikgebrauchs, erlernten Fähigkeiten, Institutionen und Infrastrukturen (usw.), welche die gesellschaftliche Wirklichkeit eines technologischen Paradigmas bilden. 25 Es gibt z. B. ein Kohlenwasserstoff-Regime und ein Gentechnik-Regime. Naturbilder entfalten innerhalb dieser Regimes eine normative Wirksamkeit, die von einer praxisorientierten Naturphilosophie untersucht und für die Diskussion freigelegt werden kann. 24 Der kürzere Weg wäre die Konstruktion eines metaphysisch aufgeladenen, normativ relevanten Natur- oder Lebensbegriffs, der direkt praxisleitend wirken soll. Paradigmatisch dafür sind die Ansätze von Holmes Rolston III oder Hans Jonas. 25 Den Begriff beziehe ich (mit einer Erweiterung im Bezug auf weltanschauliche Hintergrundannahmen, die für die Naturphilosophie direkter anschlussfähig sind) auf die Arbeit von Rip/Kemp 1998, S. 388 f.
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Es sind grundlegende Gesetzmäßigkeiten in den Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft, die gegenwärtig kollektiv missachtet werden. Der These, dass es sich bei der ökologischen Krise um die Folgen einer zu großen Beherrschung der Natur handle und dass der Weg infolgedessen von der Technik weg führen muss, kann ich wenig abgewinnen. Denn ich kann im Klimawandel mit all seinen katastrophalen Folgen für Menschen, Flora und Fauna in vielen Regionen der Erde, oder im Zerfall der Biodiversität als Folge der übermäßigen Ausdehnung von Zivilisationsräumen keine Spuren von Herrschaft und Kontrolle erkennen. Es sind eher Zeichen der fehlenden Kontrolle und des ökologisch dysfunktionalen Technikgebrauchs. Meine Diagnose folgt eher der folgenden Spur: Es fehlen in den ökonomischen Systeme zentrale Feedbackschlaufen, die die Produktion mit den Bedingungen der Weiterführung von Produktion verbinden. Die ökologischen Verhältnisse sind externalisiert und damit gerade nicht in von Menschen gewünschte Verhältnisse eingeordnet worden. Eine Missachtung von solchen Gesetzmäßigkeiten ist eine kollektiv institutionalisierte und für bestimmte gegenwärtig wirksame technologische Regimes, funktionale Form von Nicht- oder Fehlwahrnehmung der Natur. Mit der Verneinung einer eigenen Sphäre der sinnhaften Aktivität in der Natur ist eine Entsubjektivierung und Passivisierung, eine Reduktion auf den Status einer Ressource verbunden. Das sind möglicherweise wirkungsvolle Aspekte von Naturbildern, die zur Stabilisierung von gegenwärtig problematisch gewordenen technologischen Regimes beitragen. Gleichzeitig könnten veränderte, erweiterte Naturbilder zur vernünftige(re)n Gestaltung von technologischen Regimes beitragen. Aber es ist offensichtlich nicht so, dass der Übergang vom Programmkonzept der DNA zu einem systemischen Denken, also die Diskussion um die Philosophie der Genetik, derartige »große« Probleme einfach lösen könnte. Es wäre aber ein Beitrag.
Literatur: Alberts, B. et al. (2008): Molecular Biology of the Cell, 5th ed. New York. Allis, C. D./Jenuwein, T./Reinberg, D. (Hg.) (2007): Epigenetics, Cold Spring Harbor. Aristoteles (2006): Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Hamburg.
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Naturphilosophie als Arbeit am Naturbegriff
Zusammenfassung: Naturbegriffe beschreiben naturphilosophische Gegenstandsbereiche und fassen Resultate naturphilosophischer Diskurse zusammen. Gehört ihre Bestimmung zu den grundlegenden Aufgaben der Naturphilosophie, so stellt ihre gegenwärtige Vielfalt für die Naturphilosophie eine Herausforderung dar. Von kaum einer wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Definition von Natur ist in den letzten Jahrzehnten behauptet worden, ihr komme keine Relevanz für den Diskurs zu. Der Beitrag zeigt Ordnungsstrukturen in der Pluralität der Verwendungsweisen auf und begründet den aktuellen Geltungsanspruch traditioneller Begriffe im Bezug auf spezifische Erfahrungsweisen. Nach einer Einführung beginne ich mit der Unterscheidung von wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Naturerfahrung, beziehe auf diese Differenz die Aufgaben der Naturphilosophie und gehe dann mit einer Klassifikation von Naturbegriffen zum exemplarischen Teil über. In diesem diskutiere ich am Beispiel bestimmter Aspekte der Naturbegriffe von Aristoteles und Descartes ihre für die Gegenwart typischen Bedingungen der Verwendung in nichtwissenschaftlicher Erfahrung sowie darüber hinaus vorkommender Verwendungen. Abstract: Concepts of nature describe object areas and results of discourses of the philosophy of nature. While their determination is part of the basic tasks of the philosophy of nature, their current diversity represents a challenge for the philosophy of nature. In the last decades there has barely been a single definition of nature of significance for the history of reception that has not been dismissed as irrelevant to the discourse. This article considers the structures of order in the plurality of ways to use concepts of nature, and demonstrates the A
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current claim to validity of traditional concepts in relation to specific ways of experience. The article proceeds by evaluating the distinction between scientific and non-scientific experience of nature, relating the tasks of the philosophy of nature to this difference and then applying a classification of concepts of nature to examples. In this final section I discuss certain aspects of Aristotle’s and Descartes’ concepts of nature, to show their applicability in the present for non-scientific experiences and other areas.
1.
Einleitung
Die Bestimmung von Naturbegriffen gehört zu den grundlegenden Aufgaben einer Naturphilosophie, deren Gegenstand die Natur, das Wissen von ihr und das Verhältnis des Menschen zu ihr ist. Durch den zentralen Stellenwert, den die Naturphilosophie dieser Aufgabe zumisst, unterscheidet sie sich von nichtphilosophischen Disziplinen, die sich ebenfalls mit Natur befassen (Physik, Ökologie, Bioethik etc.). Naturbegriffe beschreiben naturphilosophische Gegenstandsbereiche und fassen Resultate naturphilosophischer Diskurse zusammen. Ihre gegenwärtige Vielfalt ist beeindruckend. Einen ersten Überblick kann man sich durch die Unterscheidung zwischen ihren extensionalen und intensionalen Bestimmungselementen verschaffen. Die Extension von Naturbegriffen wird meist durch den Kontrast zu einem Gegenbegriff festgelegt. In diesem Sinn wird Natur etwa gegenüber Technik, Geschichte, Kultur, Gott oder Geist abgegrenzt. Intensional bezeichnet ein Naturbegriff hingegen die Klasse der Merkmale, die in seiner vollständigen konjunktiven Definition auftreten. Solche Merkmale können ebenfalls gegensätzlich ausfallen: Natur ist das Vertraute, selbstverständlich Vorhandene, aber auch das Fremde, dem Menschen teils feindlich Gegenüberstehende; sie ist das Undurchschaubare, aber auch das nachvollziehbar Geordnete. Im doppelten Sinn stellt die Pluralität der Natur für die Naturphilosophie eine Herausforderung dar. Wo sich die Bedeutungen des Begriffes perspektivisch auf einen Gegenstand beziehen, können sich Eigenschaftszuschreibungen widersprechen, so dass der Gegenstandsbezug fragwürdig wird; wo die Bedeutungen auf unterschiedliche Gegenstände referieren, ist nicht einmal mehr ihre Vergleich152
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barkeit garantiert. Die mangelnde Einheit des Naturbegriffes vermag den Realitätsgehalt und die Einheit des naturphilosophischen Gegenstandes zu gefährden. Die folgende Diskussion von Naturbegriffen weist Bedingungen ihrer Einheit nach, indem sie Ordnungsstrukturen in der Vielfalt ihrer Verwendungsweisen aufzeigt. Auf dieser Grundlage werden aus der Perspektive der begrifflichen Arbeit die Aufgaben der Naturphilosophie dargestellt. Ohne die praktischen und ästhetischen Dimensionen der Naturphilosophie auszuschließen, ist die Präsentation theoretisch orientiert. Innerhalb der Naturphilosophie nimmt heute die theoretische Arbeit, d. h. Analyse der Inhalte des Naturwissens, den größten Raum ein. Dabei stehen das naturwissenschaftliche Wissen und seine Anwendungen im Fokus des Interesses. Diese Ausrichtung ist insofern berechtigt, als die Naturwissenschaften das Verständnis und die Gestaltung der Natur in der Moderne zunehmend dominieren. Sie wird allerdings problematisch, wenn sie – wie gegenwärtig der Fall 1 – die nichtwissenschaftliche Naturerfahrung und -erkenntnis nicht hinreichend berücksichtigt. Nicht zuletzt um dieser einseitigen Fokussierung entgegenzuwirken, konzentriere ich mich im exemplarischen Teil meines Textes auf die Darstellung der Leistungsfähigkeit der naturphilosophischen Analyse von Naturbegriffen in der nichtwissenschaftlichen Erfahrung. Zu den herausragenden Kennzeichen der heutigen Pluralität von Naturbegriffen gehört die Aktualität traditioneller Bestimmungen. Von kaum einer wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Definition von Natur ist in den letzten Jahrzehnten behauptet worden, ihr komme keine Relevanz für den Diskurs zu. So fordert Jürgen Mittelstraß, dass die Natur wieder aristotelischer werden müsse, Robert Spaemann hält zur Sicherung der Basis einer menschenwürdigen Existenz die religiöse Vorstellung der Natur als Geschaffene für unverzichtbar, Klaus Michael Meyer-Abich rekurriert zur Begründung seiner physiozentrischen Position auf Platon und Nikolaus von Kues, und Lothar Schäfer entwickelt seinen Naturbegriff im Rückgang auf Kants Unterscheidung zwischen empirischer und intelligibler Welt – um nur einige Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum zu erwähnen. Die mittlerweile erreichte Gleichzeitigkeit des ehemals Ungleichzeitigen ist beeindruckend. Am Beispiel der Diskussion zweier Naturbegriffe werde ich ein 1
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Modell für die Struktur einer pluralen Begriffsverwendung einführen. Durch begriffliche Analyse lässt sich zeigen, dass Naturbegriffe bevorzugt in bestimmten Erfahrungskontexten Anwendung zu finden vermögen. Die Naturphilosophie kann mit diesem Nachweis einen Beitrag zur Begründung des aktuellen Geltungsanspruches traditioneller Begriffe und zur Dynamik ihrer Verwendungsweisen leisten. Eine Konsequenz des Modells besagt, dass sich Naturbegriffe unter den Bedingungen ihrer heutigen Verwendung nicht unabhängig von den spezifischen Erfahrungen, auf die ihre Bedeutungen Bezug nehmen, vergleichen lassen. Ich beginne mit der Unterscheidung von wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Naturerkenntnis (2.), beziehe auf diese Differenz die Aufgaben der Naturphilosophie (3.) und gehe dann mit einer Klassifikation von Naturbegriffen (4.) zum exemplarischen Teil (5.) über. In diesem diskutiere ich am Beispiel bestimmter Aspekte der Naturbegriffe von Aristoteles und Descartes ihre für die Gegenwart typischen Bedingungen der Verwendung in nichtwissenschaftlicher Erfahrung sowie darüber hinaus vorkommende Verwendungen.
2.
Pluralität von Naturerfahrung und -wissen
Die Formen des Naturwissens lassen sich danach differenzieren, in welcher Weise sie Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügen bzw. nicht genügen. Wissenschaftliche Naturerkenntnis grenzt sich methodisch durch die Verfahren, mit denen sie auf reproduzierbare Erfahrung bezogen ist, und durch ihre Geltungsansprüche von nichtwissenschaftlicher Naturerkenntnis ab. Innerhalb der Naturwissenschaften – von den anderen Wissenschaften sei zunächst abgesehen – haben unterschiedliche Methoden und Gegenstandsbereiche zu einer Vielfalt des Wissens geführt, die nicht im Rahmen einer umfassenden Theorie aufgeht. Beispiele sind strukturelle und inhaltliche Differenzen zwischen den physikalischen Theorien des ganz Kleinen und des ganzen Großen oder zwischen physikalischen und biologischen Theorien. Naturbegriffe können den naturwissenschaftlichen Theorien nicht einfach entnommen werden, sondern verarbeiten vielmehr Konsequenzen für das Wirklichkeitsverständnis, die sich aus Verallgemeinerungen und Interpretationen naturwissenschaftlicher Aussagen ergeben. 154
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Auch außerhalb der Wissenschaften besteht eine Vielfalt der Naturerkenntnis. Sie lässt sich auf eine idealtypische Rekonstruktion von Erfahrungsstrukturen, in denen Wirklichkeit überhaupt thematisch wird, beziehen. Als solche Typen kommen etwa die lebensweltliche, religiöse oder subjektive Erfahrung in Frage. 2 Im Zuge der fortschreitenden Verwissenschaftlichung von Erfahrung wird aber die Unterscheidung von wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Erfahrung problematisch. Allgemein kann man sagen, dass die Verwissenschaftlichung immer mehr gesellschaftliche Bereiche erfasst und, weil dadurch mehr wissenschaftliches Wissen in der Gesellschaft verfügbar ist, die Gesellschaft über bessere Voraussetzungen verfügt, auf die Wissenschaft einzuwirken. 3 Meist wird jedoch das eigentlich erstaunliche Phänomen dieses Prozesses übersehen: Der Verwissenschaftlichung gleichsam zum Trotz bewahren gesellschaftliche Bereiche ihre Eigensinnigkeit und bleibt Wissenschaft mit nichtwissenschaftlichem Wissen konfrontiert. Die daraus resultierende Aufrechterhaltung von Grenzziehungen zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Naturerkenntnis hat verschiedene Gründe, von denen hier nur einige schlagwortartig genannt werden sollen. Die Verbreitung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis wird durch ihre hochgradige und voraussetzungsvolle Spezifität eingeschränkt. Damit teilweise zusammenhängend haben naturwissenschaftliche Wahrheiten ihren ehemals weltanschaulich aufgeladenen Sensationswert verloren. 4 Schließlich zeichnen sich wissenschaftlich-technisch hergestellte Produkte in der Regel dadurch aus, dass man über ihre innere Funktionsweise nichts wissen muss, um sie zu bedienen. Von der Gebrauchsseite her haben sie Blackbox-Charakter mit einfachster, Routinisierungen begünstigender Bedienungsstruktur. 5
Zur lebensweltlichen und subjektiven Erfahrung vgl. Abschnitt 4. Eine mögliche idealtypische Rekonstruktion einer Mannigfaltigkeit voneinander abgegrenzter Erfahrungsbereiche bietet Alfred Schütz’ sozialphänomenologische Theorie. Seine Beispiele umfassen neben der Lebenswelt »die Welt der Träume, der imaginären Vorstellungen und der Phantasie, insbesondere die Welt der Kunst, die Welt der religiösen Erfahrung, die Welt der wissenschaftlichen Kontemplation, die Spielwelt des Kindes und die Welt des Wahnsinns« (Schütz 1971 266). Vgl. auch Schiemann 2008. 3 Nowotny et al. 2001, S. 215 ff. 4 Lübbe 1986. 5 Blumenberg 1963. 2
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3.
Aufgaben der Naturphilosophie
Oftmals wird unter Naturphilosophie nur eine spezielle Richtung der theoretischen Philosophie verstanden. 6 Unter dem Eindruck der Umweltproblematik haben verstärkt aber auch praktische Fragestellungen Eingang gefunden. 7 Zusätzlich scheint es zweckmäßig, die Thematisierung ästhetischer Erfahrungen von Natur als gesonderten Bereich aufzunehmen. Eine Dreiteilung der naturphilosophischen Aufgaben in einen theoretischen, praktischen und ästhetischen Bereich übernimmt die traditionelle Gliederung der Philosophie. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Naturphilosophie nur bedingt über einen eigenen Methodenkanon verfügt und deshalb meist als angewandte Philosophie gelten kann. 8 Zur näheren Bestimmung der Aufgaben der Naturphilosophie bedarf es in jedem Bereich einer Gegenstandspräzisierung und einer Abgrenzung zu anderen Disziplinen, die sich mit denselben Gegenständen befassen. 9 Während die praktische Naturphilosophie und die Naturästhetik sowohl auf naturwissenschaftliche wie auf nichtwissenschaftliche Naturerkenntnis rekurrieren, fokussiert sich die theoretische Naturphilosophie auf das naturwissenschaftliche Wissen und seine Anwendungen. Dass diesem Wissen in der Moderne das größte Gewicht zukommt, geht auf seine welterschließende – und verändernde – Kraft zurück. Kein Zustand oder Ereignis ist dem methodischen Zugriff der Naturwissenschaften im Prinzip mehr entzogen. Ihre eigentliche naturphilosophische Sprengkraft hat die allumfassende, wenn auch nicht notwendig ausschließlich geltende Erkenntnisweise erst im letzten Jahrhundert entwickelt. Zuerst hat die Physik neue Dimensionen des Verständnisses für die Bereiche des ganz Großen und ganz Kleinen eröffnet sowie eine Revision der Grundbegriffe zur Erfassung der physischen Welt erzwungen. Die traditionellen Grenzen der naturwissenschaftlichen Beschreib- und Manipulierbarkeit des menschlichen Denkens und Handelns sind dann seit etwa der Mitte des vergangenen Jahrhunderts von den Kognitionswissenschaften nachhaltig erschüttert worden. In den letzten Jahrzehnten haben die Fortschritte der Gentechnologie offen gelegt, welche tief 6 7 8 9
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Welten 1992. Bayertz 1987. vgl. für die theoretische Philosophie Stöckler 1986. Schiemann/Heidelberger 1999.
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greifenden Auswirkungen auf das menschliche Selbst- und Naturverständnis schon beschränkte technische Eingriffe in die körperlichen Lebensgrundlagen haben. Wegen seiner fortgeschrittenen Spezialisierung in teilweise nur partiell zusammenhängende Fachgebiete erschließt sich die Schlüsselstellung des naturwissenschaftlichen Wissens nur über eine Reflexionsleistung, für die die Naturphilosophie der unverzichtbare Ort ist. Die Aufgaben der Naturphilosophie bestehen in diesem Zusammenhang in der kritischen Diskussion der Voraussetzungen dieses Wissens, der philosophischen Probleme fachwissenschaftlicher Resultate, der Bedingungen einer einheitlichen wissenschaftlichen Naturerkenntnis, der Ethik des wissenschaftlich-technischen Naturumganges und der mit naturwissenschaftlich Theorien verbundenen ästhetischen Fragestellungen. In einigen dieser Bereiche kommen Überschneidungen zur Wissenschaftstheorie bzw. -philosophie vor, die sich nach verbreitetem Verständnis vornehmlich mit methodologischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen beschäftigt. Über die Relevanz der auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis und Weltveränderung bezogenen Aufgaben darf jedoch nicht die naturphilosophische Bedeutung der nichtwissenschaftlichen Naturerfahrung vergessen werden. Sie stellt eine eigenständige Quelle der Naturerkenntnis dar, die in den Weltbezug des Menschen eingeht und vom wissenschaftlichen Wissen bisher nur bedingt erfasst wird. Die Verwissenschaftlichung von Erfahrung droht diese Quelle zu verdrängen, ohne dass die Konsequenzen der daraus resultierenden möglichen Veränderungen schon absehbar wären. Um die Tragweite dieses Prozesses auszuloten, muss die Naturphilosophie den Gehalt auch der nichtwissenschaftlichen Naturerkenntnis stärker als es gegenwärtig der Fall ist in ihre systematischen Bemühungen einbeziehen.
4.
Begriffliche Gliederung des Naturwissens
Die Analyse der Vielfalt von Naturbegriffen und ihrer Verwendungsweisen erlaubt eine Gliederung in zwei grundlegend verschiedene Abteilungen. Die naturwissenschaftliche Erkenntnis entspricht am ehesten einem naturalistischen Begriff, der die Natur extensional, d. h. im Begriffsumfang, mit der gesamten Wirklichkeit gleichsetzt. Die Existenz vermeintlich nichtnatürlicher Entitäten wird in A
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diesem Begriff, der den umfassenden Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften gegenüber anderen Wissenschaften ausdrückt, entweder bestritten oder als natürliches Phänomen für beschreibbar gehalten. Seine Pluralität spiegelt sich nicht in extensionalen, sondern in intensionalen Bestimmungen, d. h. den behaupteten Merkmalen des Natürlichen, die den Gegenständen, aus deren Summe die Welt besteht, zukommen. Demgegenüber lässt sich die begriffliche Vielfalt der nichtwissenschaftlichen Naturerkenntnis über extensionale Bestimmungen darstellen, in die Entgegensetzung von Natur und Nichtnatur (Technik, Geschichte, Kultur, Gott, Geist u. a. m.) aus traditionellen Dualismen hervorgeht. Der Ausdruck »Dualismus« soll hier nicht mehr bedeuten als die Definition des Naturbegriffes durch einen Gegenbegriff. Die nähere Charakterisierung der Beziehungen zwischen den Referenten der Kontrastbegriffe kann ganz unterschiedlich ausfallen. Dualistische Positionen finden sich außerhalb der Naturwissenschaften auch in anderen wissenschaftlichen Thematisierungen von Natur, wie etwa in den Geistes- und Technikwissenschaften. 10
5.
Modell zur pluralen Verwendung von Naturbegriffen
Die Wahl von Naturbegriffen, die vor allem in nichtwissenschaftlicher Erfahrung Anwendung finden, möchte nicht allein der einseitigen Konzentration der theoretischen Naturphilosophie auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis entgegenwirken. Sie motiviert sich auch aus einer Beobachtung der öffentlichen Debatten um Natur. Die Bedeutungen und Verwendungsweisen vieler außerakademischer Naturbegriffe sorgen für Missverständnisse und eine mangelhafte Eindeutigkeit in Entscheidungsprozessen. Der Naturdiskurs besitzt aber einen viel zu hohen gesellschaftlichen Stellenwert, als dass man sich Unklarheiten über die semantischen und praktischen Relationen zwischen den verwendeten Begriffen erlauben dürfte. Es wäre deshalb vorteilhaft, wenn sich zeigen ließe, dass den Verwendungsweisen der dualistischen Begriffe eine Struktur zugrunde liegt, die für die Diskursteilnehmer nachvollziehbar ist. Am Beispiel zweier Naturbegriffe – des aristotelischen und des cartesischen Begriffes – zum Beispiel der Geisteswissenschaft, vgl. Schiemann 1997 und 2004a; zum Beispiel der Nanotechnologie,. vgl. Schiemann 2006b.
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und ihrer bevorzugten Anwendungskontexte möchte ich das Modell einer solchen Struktur entwickeln (zur Begründung der Auswahl vgl. 5.3). Anwendungskontexte definiere ich durch die für sie kennzeichnende Erfahrung, d. h. Prozesse der Erkenntnisgewinnung und Formen des bewährten Besitzes von geordneten und orientierungsstiftenden Inhalten. Das im Folgenden vorgestellte Modell behauptet, dass die bevorzugte Verwendbarkeit der beiden semantisch differenten Begriffe einer gemeinsamen Regel folgt: Sie ist an Erfahrungen ausgerichtet, auf die sich die Erkennbarkeit der Extensionen der Naturbegriffe stützt. 11 Begriffsverwendungen, die darüber hinaus vorkommen, haben die Anwendbarkeit von intensionalen Bestimmungen zum notwendigen Kriterium. Diese Verwendungspotentiale sind nicht auf einen Erfahrungstyp fokussiert, sondern können in den unterschiedlichsten Kontexten vorkommen. 12 5.1 Aristotelische Natur in der Lebenswelt Den aristotelischen Naturbegriff charakterisiere ich extensional durch seine Entgegensetzung zur Technik als dem vom Menschen Hergestellten. Während die Natur (»physis«) aus ihrer eigenen inneren Bewegung hervorgeht, verdankt sich die Technik (»techne«) der äußeren Bewirkung durch den Menschen: Die Bäume eines Forstes wachsen von selbst; die aus ihrem Holz bestehenden Gebrauchsgegenstände bedürfen hingegen der Herstellung. Natur ist bei Aristoteles von äußerem Einfluss freie, aus sich selbst heraus veränderliche Wirklichkeit. Sie fällt mit ihren eigenen Bewegungsprinzipien und Zwecken zusammen. Aristotelische Technik erfährt ihre Zwecksetzung vom Menschen, der sie entwirft und für ihre Bewegung sorgt. Solchem technischen Handeln geht die in der Natur nicht vorkommende planende Überlegung voraus. Natürliche Stoffe werden in 11 Die Anwendung eines Naturbegriffes kann im doppelten Sinn »bevorzugt« heißen: Erstens im Hinblick auf bestimmte Kontexte, die dem Begriff bessere Anwendungsbedingungen bieten als andere Kontexte, und zweitens im Vergleich zu anderen Naturbegriffen, die im selben Kontext schlechtere Möglichkeiten des Gebrauchs vorfinden. So verfügt der naturalistische Begriff auch in der Lebenswelt über Anwendungsbedingungen, die aber schlechter ausgebildet sind als die von dualistischen Begriffen (vgl. Schiemann 2005, Teil 2.2). 12 Vgl. für das folgende die ausführliche Darstellung in Schiemann 2005.
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der Herstellung mit verschiedenen künstlichen Formen versehen. Stoff und Form verlieren damit ihre in der Natur unaufhebbare Einheit. Aristoteles’ Differenz setzt die unmittelbare Wahrnehmbarkeit von äußeren Bewegungsursachen als notwendiges Kriterium zur ihrer Erkennbarkeit voraus. Die Abwesenheit äußerer Ursachen ist bei der Naturbewegung ebenso als der Beobachtung unproblematisch zugänglich gedacht, wie ihre Anwesenheit bei der technischen Bewegung. Im Bezug auf Wahrnehmung liegt auch die wesentliche Begrenzung der heutigen Anwendbarkeit des aristotelischen Begriffspaares. Wenn es einer technischen Herstellung gelingt, ihr Produkt selbstbewegt erscheinen zu lassen, muss es trotz seines nicht sichtbaren fremdbewegten Ursprungs nach Aristoteles der Natur zugerechnet werden. Von den weiteren Anwendungsgrenzen des aristotelischen Technikbegriffes sei hier nur auf die heute nur noch selten erfüllte Eigenschaft der Nachvollziehbarkeit von Herstellungsprozessen hingewiesen. Im Rahmen seiner folglich nur bedingt bestehenden Anwendungsmöglichkeiten entfaltet das aristotelische Begriffspaar in Erfahrungskontexten, die auf direkten Wahrnehmungsleistungen beruhen, allerdings immer noch eine beachtliche Wirksamkeit. Als notwendige und zusammen hinreichende Kriterien eines speziellen Typs von Erfahrung, der den Gebrauch des aristotelischen Begriffes begünstigt, kommen außer der Wahrnehmbarkeit ein ganzheitlich verfasstes Hintergrundwissen, ein vorwiegend unprofessionelles Handeln sowie ein mit vertrauten Personen geteilter Sozialraum hinzu. Diesen Typ, der einem Großteil der mit Selbstverständlichkeit vollzogenen außerberuflichen Alltagspraxis entspricht, nenne ich »Lebenswelt«. Lebenswelt bezeichnet einen Ausschnitt der von einem Individuum erfahrenen und mit seinen Mitmenschen geteilten Welt. Man verlässt seine Lebenswelt, wenn man etwa (schlafend) träumt, sich Phantasievorstellungen hingibt, sich auf die Ausübung professioneller Tätigkeiten konzentriert oder an einer nichtalltäglichen religiösen Praxis teilnimmt. In der Lebenswelt sind die verschiedensten Naturbegriffe geläufig. Die Vielzahl der lebensweltlichen Bedeutungen unterliegt allerdings Relevanzgewichtungen, die auf eine herausragende Position der Unterscheidung von Natur und Technik hindeuten. Leider kann ich mich noch nicht auf eine detaillierte empirische Untersuchung der Verwendung von Naturbegriffen stützen, die zweifellos ein Forschungsdesiderat darstellt. Argumentativ lässt sich aber begründen, 160
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dass die Natur-Technik-Differenz in der Lebenswelt insofern einen bevorzugten Anwendungsbereich findet, als sich die Lebenswelt von anderen Erfahrungsbereichen durch ihren direkten Wahrnehmungsbezug abhebt und andere Lebenswelt taugliche Naturbegriffe Wahrnehmung nicht zur Erkennbarkeitsvoraussetzung haben. Aristoteles’ Differenz verfügt in der Moderne über ein beachtliches lebensweltliches Klassifikationspotential, das elementare Orientierungsleistungen erlaubt. Nach diesem Gliederungsschema von äußeren Wahrnehmungsgegenständen bleibt der Inbegriff der selbstbewegten aristotelischen Natur, d. h. Pflanzen, Tiere und Menschen, deutlich von hergestellten Gegenständen abgehoben. Auf letztere vermag umgekehrt der aristotelische Technikbegriff in der Lebenswelt Anwendung zu finden. Alltagspraktisch benutzte Apparate unterscheiden sich dadurch von aristotelischer Natur, dass sie zur Erreichung vorgefasster Zwecke und erst durch Handlungen in Bewegung bzw. in Funktion gesetzt werden. Dem aristotelischen Kontrast von Natur und Technik entspricht es, wenn etwa der gezüchtete, vielleicht genetisch manipulierte Hamster einem anderen Gegenstandstypus zugeordnet wird als etwa das batteriebetriebene Spielzeugauto, oder die wildwachsende Pflanze ihrem Plastikimitat entgegengesetzt wird. 5.2 Cartesische Natur in der Subjektivität Descartes zählt alles Ausgedehnte – die aristotelische Technik und einen Großteil der aristotelischen Natur – zu seiner Natur. Dagegen setzt er den Geist als Inbegriff des Nichtausgedehnten, das positive Bestimmung allein im selbsterfahrenen klaren und deutlichen Erkennen von Ideen findet. Fasste Aristoteles den Menschen im Wesentlichen als Naturwesen auf, das Nichtnatürliches schafft, spaltet Descartes das menschliche Individuum in die sich wechselseitig ausschließenden Substanzen von Natur und Geist. Zur menschlichen Natur gehören seiner Auffassung nach der objektivierbare Körper und die diesem zugerechneten Anteile des bewussten Erlebens, die er in Wahrnehmungen, Empfindungen und Emotionen nachweist. Während Descartes den Geist im bewussten Erleben mit dem Körperlichen untrennbar vermischt sieht, schreibt er seine reine Form den unabhängig von Erfahrung und Einbildungskraft entstandenen Ideen, dem Willen und den nichtsinnlichen Emotionen zu. Die Spaltung A
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geht damit mitten durch das menschliche Bewusstsein, in dem sie als Gegensätzlichkeit und wechselseitige Durchdringung unterschiedlicher mentaler Zustandstypen erfahren wird. Wie er das Körperliche ohne den Geist entstehen und existieren lässt, so denkt Descartes auch den Geist von aller Natur unabhängig. Seinen Substanzdualismus hat Descartes aber weder konsistent formulieren noch beweisen können. Die von ihm angenommenen Wechselwirkungen zwischen Natur und Geist haben sich wissenschaftlich als unhaltbar erwiesen. 13 Entkleidet man aber den Dualismus seiner substanztheoretischen Formulierung, tritt seine eigenschaftsdualistische Plausibilität hervor. Der Eigenschaftsdualismus bestreitet die Annahme einer unabhängigen Entstehung und Existenz des Geistes, nicht aber die Irreduzibilität seiner Eigenschaften auf die der Natur. Die heute noch einleuchtenden cartesischen Merkmale bilden die Grundlage für die verbreiteten Intuitionen über das Mentale. So erscheinen etwa die Bewusstseinsinhalte, die sich durch die von Descartes entdeckte Eigenschaft der Unräumlichkeit auszeichnen, als kategorial verschieden von den in der äußeren Wahrnehmung präsenten Gegenständen. Weil Gedanken eine eigene räumliche Lokalisierung fehlt, kann man sich bloß in Gedanken an einen Ort begeben oder sich in seine Gedanken verlieren und darüber seinen physischen Ort vergessen. Zudem ist allem Körperlichen das bewusstseinstypische Vermögen der Unveränderlichkeit fremd: Der menschliche Körper, nicht aber der Geist, altert notwendig. Naturphilosophisch stellt sich die Frage, worauf die Aktualität der reformulierten cartesischen Unterscheidung zurückgeht und welches ihre Geltungsbedingungen sind. Die eigenschaftsdualistische Differenz von Natur und Geist ist bevorzugt in einer Einstellung erkennbar, über deren Gegenstände in der ersten Person singular berichtet wird. Diese Erkenntnisbedingung gilt mir als Hinweis auf ein notwendiges Kriterium eines Erfahrungstyps, den ich als »subjektive Erfahrung« bezeichne. In ihr gilt die Aufmerksamkeit eines Subjektes seinen eigenen Bewusstseinsereignissen oder -zuständen, indem es sie erlebt oder auf sie reflektiert. Zahlreiche – lebensweltliche oder von anderen (etwa religiösen) Erfahrungstypen ausgehende – Gelegenheiten bilden Ausgangspunkte für einen Übergang in die subjektive Erfahrung. Ein Wahrnehmungseindruck gibt Anlass, über die besonderen Bedingungen (Zusammenhang mit anderen Wahrneh13
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mungen, Perspektiven usw.), unter denen er zustande kommt, nachzudenken oder ihn mit vergangenen Eindrücken, an die man sich erinnert, zu vergleichen. Die Intensität einer Empfindung vermag die Aufmerksamkeit von äußeren Gegenständen abzuziehen und auf das eigene Erleben zu richten. Oder ein theoretisches Problem löst eine Gedankenverwicklung aus, die statt zur gesuchten Lösung zur Beschäftigung mit dem eigenen Geist führt. Subjektive Erfahrungen machen die Subjekte für sich alleine. Sich den eigenen mentalen Ereignissen oder Zuständen zuzuwenden, ist eine ganz geläufige Erfahrungsweise, die jeder normale Erwachsene ohne spezielle Übung, wenn es die äußeren Umstände zulassen, einzunehmen in der Lage sein sollte. Im Verhältnis zur Lebenswelt handelt es sich um eine Ausnahmeerfahrung. Erst wenn sich die Aufmerksamkeit von den handlungsrelevanten Themen und wahrgenommenen Gegenständen auf die Art und Weise der eigenen Erkenntnis und Befindlichkeit richtet – wozu auch das Bewusstsein gehört, dass man es selbst ist, der mentale Zustände und Erlebnisse hat –, wird Subjektivität als Erfahrung erreicht. Subjektive Erfahrung setzt den Subjektbegriff voraus. Nicht irgendeine abstrakte Person, ein Mensch überhaupt, sondern ein Mitglied der neuzeitlichmodernen Kulturgemeinschaft konzentriert seine Aufmerksamkeit auf sein Bewusstsein. Nur vor diesem Hintergrund wird plausibel, dass dem exzeptionellen Charakter des Subjektiven kulturkonstitutive Elemente zukommen und es dadurch zugleich Vertrautheit gewinnt. Im Hinblick auf seine Leistungsfähigkeit zur Gegenstandsklassifikation entfaltet Descartes’ Naturbegriff in der Subjektivität eine vergleichbare Wirksamkeit wie Aristoteles’ Begriff in der Lebenswelt: Die Erfahrungsgegenstände lassen sich in die drei Klassen der natürlichen, der nichtnatürlichen und der nicht bzw. nicht eindeutig in diese beiden Gruppen einzuordnenden Gegenstände aufteilen. In subjektiver Erfahrung bildet der Geist die nichtnatürliche Seite des Klassifikationsschemas. Unproblematisch können zum Beispiel unkörperliche Gedanken, die man sich über seine Wahrnehmung von Naturgegenstände macht (»Die Farben der Wiese lassen mich über die Wirkung von Komplementärfarben nachdenken«), von der Körperlichkeit dieser Gegenstände (die Farbe einer Blüte, die Form eines Halmes usw.) unterschieden werden. Unbestimmt bleiben hingegen etwa Zuordnungen von Empfindungen (etwa der Wärme des Sonnenlichtes). A
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5.3 Aktualität der beiden Erfahrungsbereiche Die Untersuchung der begrifflichen Voraussetzungen der Verwendungsbedingungen der Naturbegriffe von Aristoteles und Descartes ergibt, dass sie sich in den Grenzen ihrer bevorzugten Erfahrungskontexte, d. h. in der Lebenswelt und der subjektiven Erfahrung, strukturanalog zur Einteilung von Gegenständen eignen. Dieses Argument für die Aktualität der zwei traditionellen Naturbegriffe kann sich auf die überragende Relevanz der beiden Erfahrungsbereiche und der klassifizierten Gegenstände stützen – ein Umstand, der auch für ihre Auswahl leitend war. Die Lebenswelt als Welt der direkten Wahrnehmung und des direkten Handelns stellt in der Moderne nicht weniger als den Standard der unprofessionellen Alltagspraxis dar. Ihr Rang ist durch die zunehmende Technisierung von Wahrnehmungsleistungen und Handlungsvollzügen bedroht. Technische Gegenstände in Abgrenzung vom Menschen zu halten, ist ihr durch den aristotelischen Kontrast gestütztes Proprium. Subjektivität als Welt der inneren Erfahrung und bevorzugter Kontext der cartesischen Entgegensetzung von Natur und Geist ist seit der Neuzeit, auf die sie zurückgeht, zum Signum des modernen Selbstverständnisses aufgestiegen. Zu seinen eigenen Bewusstseinszuständen einen privilegierten Zugang zu haben, gehört zu den elementarsten Vermögen, die Individuen sich selbst sowie anderen zuschreiben und von deren unbestreitbarer Anerkennung sie ausgehen. Die cartesische Gliederung dieser Zustände entspricht der Ordnung, die auch moderne Bewusstseinstheorien den Erscheinungsformen des Mentalen entnehmen und ohne die wir uns schwerlich selbst im eigenen Inneren zu Recht finden würden. 14 5.4 Weitere Verwendungsbedingungen der beiden Naturbegriffe Die beiden Begriffe entfalten nun auch außerhalb ihrer bevorzugten Kontexte beachtliche Anwendungspotentiale. Das hier zu entwickelnde Modell für die Struktur der Verwendungsweisen besagt, dass dieses Potential nicht auf die Erkennbarkeit der Extensionen, sondern auf die der Intensionen, d. h. der durch die Begriffe definierten Merkmalsklassen, zurückgeht. So können sich etwa die in den 14
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Schiemann 2005, S. 314 ff.
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Naturwissenschaften noch vorkommenden Anwendungen der Begriffe auf ihre extensionsunabhängigen Naturcharakterisierungen stützen. Der cartesische Begriff hat nicht nur wesentlich zur Begründung der neuzeitlichen Wissenschaft beigetragen, sondern findet deshalb in ihr begriffliches Inventar bis heute Eingang. Descartes’ Credo, dass er nur mathematisch berechenbare Materieeigenschaften als Natur anerkenne, leitet das experimentelle Verfahren in allen seinen Ausprägungen. Diese Eigenschaft folgt keineswegs zwingend aus dem Attribut der Ausdehnung und seiner dualistischen Entgegensetzung zum Geist. Für den aristotelischen Begriff möchte ich exemplarisch intensionale Bestimmungen nennen, die bemerkenswerte Parallelen zur naturphilosophischen Verarbeitung von Selbstorganisationstheorien aufweisen. Im Rekurs auf diese Theorien wird die Prozessontologie genannt, die die Grundstruktur der Wirklichkeit aus irreversiblen Prozessen ableitet. Trotz ihres Substantialismus charakterisiert die aristotelische Naturauffassung Veränderungen auch wesentlich als Prozesse und bringt durch ihre Orientierung am Organischen die Betrachtung irreversibler Vorgänge ins Zentrum. Sie entwickelt zudem eine ganzheitliche Sichtweise von Prozessen, die ebenfalls in der Naturphilosophie der Selbstorganisationstheorien angesprochen wird. In Aristoteles’ Dynamik bestimmen alle Teile ebenso die Struktur des Ganzen wie sie durch diese bestimmt sind. 15 Bei ihren nicht bevorzugten Verwendungen treten die dualistischen Naturbegriffe in Konkurrenz zu anderen, in den unterschiedlichen Erfahrungsbereichen ebenfalls vorkommenden Begriffen. In den Naturwissenschaften handelt es sich dabei normalerweise um den dominanten naturalistischen Begriff. Von besonderem naturphilosophischem Interesse ist die Untersuchung des speziellen Falls von wechselseitigen Verwendungsbedingungen. Bei den beiden diskutierten Naturbegriffen tritt dieser Fall bei der Anwendung des aristotelischen Begriffes in subjektiver Erfahrung und des cartesischen Begriffes in der Lebenswelt auf. 16 Wechselseitige Verwendungsbedingungen erlauben einen Vergleich von Naturbegriffen unter Berücksichtigung der spezifischen Erfahrungen, auf die ihre Bedeutungen referieren. Wo die Bedeutungen unter den Bedingungen pluraler Verwendungs-
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Schiemann 2003b. vgl. Schiemann 2005, S. 349 ff. A
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weisen nur noch mit Erfahrungsbezug verständlich sind, wird diese Form des Vergleichs zur einzig angemessenen. Aus der Semantik der besprochenen Begriffe lässt sich entnehmen, dass sie in den jeweils nicht von ihnen bevorzugten Kontexten nur eine untergeordnete Rolle spielen: Die aristotelischen Naturgegenstände erscheinen in der Subjektivität, die in dem Erleben oder der Reflexion der eigenen Bewusstseinszustände und -ereignisse besteht, bloß am Rande. Denn die äußere Wahrnehmung ist in der subjektiven Erfahrung nur ein und zudem nicht sonderlich relevanter Bewusstseinszustand neben anderen. In der lebensweltlichen Erfahrung stellen sich die Anwendungsbedingungen der cartesischen Entgegensetzung von Natur und Geist ebenfalls ungünstig dar, wenn man am Kriterium der Entgegensetzung festhält, das vom inneren Erkennen klarer und deutlicher Ideen, nicht aber von äußeren Wahrnehmungsleistungen ausgeht. Geht diese Randständigkeit aus den extensionalen Bestimmungen hervor, entfalten sich mit der Hinzunahme der Intensionen, die jenseits der Bestimmung von Natur und Nichtnatur liegen, bemerkenswerte Korrelationen zwischen den Begriffen. Zu den überragenden Merkmalen der belebten aristotelischen Natur gehört die Seelenlehre, die eine Gliederung des Psychischen in einen – modern gesprochen – vegetativen, sensitiven und kognitiven Bereich vornimmt. In subjektiver Erfahrung bietet sie eine immer noch ernst zu nehmende Alternative oder Korrektur zur einseitigen cartesischen Auffassung des Mentalen. Ihre Aktualität hat sich im Zusammenhang der funktionalistischen Deutungen des Leib-Seele-Problems in einer ausgedehnten Rezeption niedergeschlagen. 17 In der von Subjektivität deutlich geschiedenen lebensweltlichen Erfahrung implizieren die intensionalen Bestimmungen von Descartes’ Naturbegriff ein Reduktionsprogramm, das (unter anderem) die dort wirksame Rede über qualitative Körpereigenschaften durch quantitative Aussagen zu ersetzen sucht und so einer Verwissenschaftlichung und Technisierung der Lebenswelt vorarbeitet, d. h. auch dem aristotelischen Begriff entgegengerichtet ist.
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6.
Schluss
Vor dem Hintergrund einer überbordenden Naturpluralität im öffentlichen Diskurs richtet sich die Aufdeckung einer Verwendungsstruktur gleichermaßen gegen einen beliebigen oder jedenfalls nicht rational ausgewiesenen Begriffsgebrauch wie gegen die Überzeugungen von einer uneingeschränkten, kontextimmunen Geltung der Naturbegriffe. Die Naturphilosophie vermag nachzuweisen, warum traditionelle Naturbegriffe immer noch und gleichzeitig, aber nur begrenzt, wirksam sind. Indem sie die Berechtigung dieser Verwendungen aufzeigt, trägt sie dazu bei, deren begriffliches Differenzierungspotential fruchtbar zu machen. Naturbegriffe haben ihren einstmals umfassenden Geltungsanspruch verloren. Ihre Bedeutungen sind nicht mehr invariant anwendbar und zueinander in geltungsrelativierende Konkurrenz getreten. Offen bleibt, ob es sich bei der Herausbildung dieser Vielfalt um einen irreversiblen Prozess handelt. Die Pluralität könnte in Zukunft einer durch den wachsenden Einfluss der Naturwissenschaften hervorgebrachten Homogenisierung weichen, in der nichtwissenschaftliche Kontexte, für die die Lebenswelt und die Subjektivität exemplarisch stehen, höchstens noch eine marginale Rolle spielen. Erfahrungswissenschaftliche Naturbegriffe ähneln sich in ihrer Extension, die die ganze Wirklichkeit zu umfassen sucht. Sie könnten weiter an Reichweite gewinnen und ihre wechselseitige Relativierung durch gemeinsame Prinzipien begrenzen. Ihre Dominanz müsste zwar der Vielfalt kein Ende setzen, aber es wäre ein neues Niveau der Einheit erreicht, das intensionalen Bestimmungen größeres Gewicht beimessen würde als extensionalen. Pluralität im heutigen Verständnis wäre dann bloß eine Übergangserscheinung gewesen, die vom Nebeneinander einer veralteten Vielfalt und einer neu entstehenden Einheit von Erfahrung und Begriff gezeugt hätte.
Literatur: Aristoteles (1987): Physik. Vorlesung über Natur (griechisch-deutsch), übers. von H.-G. Zekl, Hamburg. Bayertz, K. (1987): Naturphilosophie als Ethik, in: Philosophia Naturalis 24, 157– 185.
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Naturphilosophie als Arbeit am Naturbegriff Seel, M. (1996): Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a. M. Spaemann, R. (1987): Das Natürliche und das Vernünftige: Essays zur Anthropologie, München. Stöckler, M. (1986): Was kann man heute unter Natur verstehen?, in: Philosophia Naturalis 26,1–18. Welten, W. (1992): Recent Conceptions of the Philosophy of Nature, in: Revista Portuguesa de Filosofia 48, 59–75.
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Die Autoren
Prof. Dr. phil. Michael Drieschner Geb. 1939, ist emeritierter Professor für Naturphilosophie. Nach dem Diplom in Physik (München 1964) promovierte er bei Carl Friedrich von Weizsäcker mit einer Arbeit über die Axiomatik der Quantenmechanik (Hamburg 1968). Anschließend war er seit der Gründung bis 1978 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der Wissenschaftlich-technischen Welt. Er habilitierte sich in München 1980 mit einer Arbeit über die begrifflichen Grundlagen der Quantenmechanik. Nach Industrietätigkeit Professor für Naturphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum von 1986 bis 2006. Forschungsschwerpunkte: Seine Forschungen betreffen vor allem philosophische Grundfragen der Naturwissenschaften und ihrer Einordnung, außer der Quantenmechanik vor allem auch der Evolutionstheorie und der Wahrscheinlichkeitstheorie Buchveröffentlichungen (Auswahl): Voraussage – Wahrscheinlichkeit – Objekt, Heidelberg 1979; Einführung in die Naturphilosophie, Darmstadt 1981/1991; Carl Friedrich von Weizsäcker – eine Einführung, Hamburg 1992; Moderne Naturphilosophie – eine Einführung, Paderborn 2002. Prof. Dr. phil. Bernulf Kanitscheider Geb. 1939 in Hamburg, 1947 Übersiedlung nach Innsbruck, Schulbesuch mit Matura (Abitur) 1958, Militärdienst 1959, dann Studium der Philosophie, Mathematik, Physik (und auch einige Semester Musikwissenschaft). Promotion 1964 über das Problem des Bewusstseins. Assistent bei Prof. G. Frey und 1970 Habilitation über das Thema »Geometrie und Wirklichkeit«. 1974 Berufung auf den Lehrstuhl für Philosophie der Naturwissenschaften im Fachbereich Physik und am Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaften der JLU Gießen. 1989 Ruf auf die Nachfolge von G. Frey, aber die 170
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Die Autoren
Verhandlungen scheiterten. 2007 Emeritierung. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie, Kosmologie, begriffliche Analyse von Relativitätstheorie und Quantenmechanik. In jüngerer Zeit auch Untersuchungen zur Naturalismusproblematik und zur Fundierung einer materialistischen Ethik Buchveröffentlichungen (Auswahl): Philosophie und moderne Physik, Darmstadt 1979; Kosmologie, 3. Aufl., Stuttgart 2002; Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum, Darmstadt 1993; Im Innern der Natur, Darmstadt 1996; Das Weltbild Albert Einsteins, München 1988; Die Materie und ihre Schatten, Aschaffenburg 2007. Prof. Dr. rer. nat. Dr. phil. Kristian Ko¨chy Geb. 1961, Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel, Studium der Biologie, Wissenschaftsgeschichte und Philosophie, Mitglied der interdisziplinären Arbeitsgruppen »Gentechnologiebericht« und »Humanprojekt« der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Herausgeber der Reihe »Lebenswissenschaften im Dialog« (Alber), Mitherausgeber von Annals of the History and Philosophy of Biology Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie (der Biowissenschaften), Naturphilosophie, Geschichte der Biowissenschaften, Bioethik, Philosophie des Deutschen Idealismus Buchveröffentlichungen (Auswahl): Ganzheit und Wissenschaft, Würzburg 1997; Perspektiven des Organischen, Paderborn/München/Wien/Zürich 2003; Biophilosophie zur Einführung, Hamburg 2008; (Hrsg. mit D. Stederoth) Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem, Freiburg/ München 2006; (Hrsg. mit M. Norwig) Umwelt-Handeln. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Umweltethik, Freiburg/München 2006; (Hrsg. mit G. Schiemann) Natur im Labor. Schwerpunktheft: Philosophia naturalis Bd. 43 Heft 1, Frankfurt a. M. 2006. Prof. Dr. phil. Christian Kummer SJ Geb. 1945, Studium der Theologie, Biologie und Philosophie, Leiter des Instituts für naturwissenschaftliche Grenzfragen zur Philosophie und Theologie an der Hochschule für Philosophie, München; MitA
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Die Autoren
glied der Kommission der Bayerischen Staatsregierung für ethische Fragen in den Biowissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Philosophie des organismischen Werdens: Keimesentwicklung, Lebensentstehung, Ganzheitstheorie des Organismus. Buchveröffentlichungen: Evolution als Höherentwicklung des Bewusstseins, Freiburg/ München 1987; Philosophie der organischen Entwicklung, Stuttgart 1996; (Hrsg.) Die andere Seite der Biologie, Books on Demand 2003. Prof. Dr. rer. nat. Harald Lesch Geb. 1960, ist seit 1995 Professor für Theoretische Astrophysik am Institut für Astronomie und Astrophysik der Ludwig-MaximiliansUniversität München und Lehrbeauftragter Professor für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie in München. 1984 Diplom in Physik, 1987 Promotion zum Dr. rer. nat. am Max-Planck-Institut für Radioastronomie Bonn, 1988–1991 Forschungsaufenthalt an der Landessternwarte Königsstuhl, 1992 Gastprofessur University of Toronto, 1994 Habilitation an der Universität Bonn Forschungsschwerpunkte: Magnetfelder in Galaxien, Primordiale Nukleosynthese und Naturphilosophie Whiteheads Buchveröffentlichungen: Kosmologie für Fußgänger. Eine Reise durchs Universum (mit Jörn Müller), München 2001; Big Bang, zweiter Akt. Auf den Spuren des Lebens im All, München 2003; Physik für die Westentasche (mit Quot-Team), München 2003; Quantenmechanik für die Westentasche (mit Quot-Team) München 2007; Die kürzeste Geschichte allen Lebens (mit Harald Zaun), München 2008. PD Dr. phil. Holger Lyre Geb. 1965, zur Zeit längerfristige Vertretung des Lehrstuhls für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Bielefeld. Studium der Physik, Philosophie und Neuroinformatik, 1993 Diplom der Physik (Universität Dortmund), 1996 Promotion in Philosophie (Universität Bochum), 2003 Habilitation in Philosophie (Universität Bonn) und seither Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Augsburg und Bielefeld. 172
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Die Autoren
Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Philosophie der Physik, Philosophie des Geistes Buchveröffentlichungen: Lokale Symmetrien und Wirklichkeit, Paderborn 2004; Informationstheorie. Eine philosophisch-naturwissenschaftliche Einführung, München 2002; Quantentheorie der Information, Wien 1998; Hg., mit T. Görnitz: C. F. von Weizsäcker: The Structure of Physics, Berlin 2006; Hg.: C. F. von Weizsäcker: Der begriffliche Aufbau der theoretischen Physik, Stuttgart 2004; Hg. mit M. Kuhlmann, A. Wayne: Ontological Aspects of Quantum Field Theory, Singapore 2002. Prof. Dr. phil. Klaus Mainzer Geb. 1947, Studium der Mathematik, Physik und Philosophie, Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie, Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie, Direktor der Carl von LindeAkademie der Technischen Universität München, Mitglied von Akademien und Stiftungen (z. B. Academia Europaea/European Academy of Science in London, Daimler-Benz Stiftung) Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Komplexe Systeme und Nichtlineare Dynamik Forschungsschwerpunkte: Logik, Erkenntnistheorie, Naturphilosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte, Technikphilosophie, Philosophie des Geistes und der Künstlichen Intelligenz, Komplexitätsforschung Buchveröffentlichungen (Auswahl): Symmetrien der Natur. Ein Handbuch der Natur- und Wissenschaftsphilosophie, Berlin/New York 1988; Computerphilosophie, Hamburg 2003; Zeit. Von der Urzeit zur Computerzeit, 5. Aufl., München 2005; Symmetry and Complexity. The Spirit and Beauty of Nonlinear Science, Singapore 2005; Thinking in Complexity. The Computational Dynamics of Matter, Mind, and Mankind, 5. erw. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 2007; Der kreative Zufall. Wie das Neue in die Welt kommt, München 2007; Komplexität, München 2008.
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Die Autoren
Prof. Dr. phil. Hans-Dieter Mutschler Geb. 1946, ist Professor für Naturphilosophie an der Hochschule Ignatianum in Krakau, Studien der Theologie, Physik und Philosophie in München, Paris und Frankfurt Forschungsschwerpunkte: Naturphilosophie, Dialog Naturwissenschaft – Theologie Buchveröffentlichungen (Auswahl): Aktualität und Grenzen der Naturphilosophie Schellings, Stuttgart 1990; Die Gottmaschine. Das Schicksal Gottes im Zeitalter der Technik, Augsburg 1998; (Hg.) Karl Rahner: Sämtliche Werke Bd. 15; Verantwortung der Theologie. Im Dialog mit Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaft, Freiburg 2002; Naturphilosophie, Stuttgart 2002; Physik und Religion, Darmstadt 2005. Prof. Dr. phil. Christoph Rehmann-Sutter Geb. 1959, Studium der Molekularbiologie, Philosophie und Soziologie, Leiter der Arbeitsstelle für Ethik in den Biowissenschaften der Universität Basel, Präsident der Schweizerischen Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin Forschungsschwerpunkte: Bioethik, Medizinethik, philosophische Grundlagen praxisbezogener Ethik, Philosophie der Genetik und des Lebendigen Buchveröffentlichungen (Auswahl): Leben beschreiben. Über Handlungszusammenhänge in der Biologie, Würzburg 1996; Zwischen den Molekülen. Beiträge zur Philosophie der Genetik, Tübingen 2005; (Hrsg. zus. mit Eva M. Neumann-Held) Genes in Development. Re-reading the Molecular Paradigm, Durham 2006. Prof. Dr. phil. Gregor Schiemann Geb. 1954, Werkzeugmacherlehre, Studium des Maschinenbaus, der Physik und Philosophie, 1988 Diplom in Physik an der ETH Zürich, 1995 Promotion zum Dr. phil. an der TH Darmstadt, 2003 Habilitation an der Universität Tübingen. Seit 2004 Professor für Philosophie in Wuppertal. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie, Geschichte der Wissenschaften und der Philosophie, Naturphilosophie. 174
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Die Autoren
Buchveröffentlichungen (Auswahl): Was ist Natur? Klassische Texte zur Naturphilosophie (Hg.), München 1996; Phänomenologie der Natur (hg. zus. mit Gernot Böhme). Frankfurt a. M. 1997; Wahrheitsgewissheitsverlust. Hermann von Helmholtz’ Mechanismus im Anbruch der Moderne. Darmstadt 1997; Natur, Technik, Geist. Kontexte der Natur nach Aristoteles und Descartes in lebensweltlicher und subjektiver Erfahrung. Berlin/New York 2005. Werner Heisenberg. München 2008. Dozent Dr. rer. nat. Dr. theol. Johannes Seidel SJ Geb. 1953 in Göttingen; seit 1972 Mitglied der Gesellschaft Jesu; Philosophie- und Theologiestudium in München und Rom; Biologiestudium in Göttingen und Regensburg; 1994 Promotion zum Dr. rer. nat. in molekularer Zellbiologie. Seit 1989 Gründungsmitglied des Instituto de Investigación sobre Liberalismo, Krausismo y Masonería an der Universidad Pontificia Comillas, Madrid; seit 1997 Dozent für Naturphilosophie, biologische Grenzfragen zur Philosophie und für Wissenschaftstheorie an der Hochschule für Philosophie, München; Promotion zum Dr. theol. in Moraltheologie. Forschungsschwerpunkte: Philosophische Implikationen der molekularen Zellbiologie; neurobiologische Grundlagen des »Leib-Seele-Problems«; ontologischer Status humanbiologischen Keimmaterials. Ferner: K. C. F. Krause und der Krausismus Buchveröffentlichungen (Auswahl): Ureña, E. M., Fernández, J. L. F., Seidel, J.: El »ideal de la humanidad« de Sanz del Río y su original alemán. Madrid 1992, Segunda edicíon, revisada, Madrid 1997; Ureña, E. M., Seidel, J.: Die Krause-Rezeption in Deutschland im 19. Jahrhundert. Philosophie – Religion – Staat, Stuttgart/Bad Cannstatt 2007; Seidel, J. et al. (Hrsg.): Karl Christian Friedrich Krause: Philosophisch-freimaurerische Schriften 1808–1832, Stuttgart/Bad Cannstatt 2008; Seidel, J.: Schon Mensch oder noch nicht? Untersuchungen zum ontologischen Status humanbiologischer Keime, Stuttgart (im Druck).
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