Was ist Gotik?: eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140 - 1350 3896785710, 9783896785718


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Was ist Gotik?: eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140 - 1350
 3896785710, 9783896785718

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Günther Binding Was ist Gotik?

Günther Binding

W a s ist G o tik?

ÉÊ

Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland

1140-1350 m it Farbfotos von Uwe D ettm ar

Wissenschaftliche Buchgesellsi Darmstadt

ÏHNu

WimEMÊF

IX

In h a lt Einbandgestaltung: Schreiber VIS, Seeheim Abbildung: Saint-Denis, M ittelschiff, Obergaden Foto: Uwe Dettm ar

V o rw o rt...........................................................................

XI

Einleitung.......................................................................

1

I.

II.

Gotik-Begriff und Forschungsgeschichte...........

13

Ablehnende Beurteilung....................................

15

Antiquarisch-enthusiastische Einstellung.......

17

Sachliche W ü rd ig u n g ..........................................

24

Wissenschaftliche U n te rsu ch u n g ....................

28

Überblicksdarstellungen und Monographien .

31

Ikonologische Bedeutung...................................

32

Baubetrieb und B autechnik...............................

32

opusfrancigenum..........................................

33

Historische und geistige G run dla ge n..................

35

1. Die politischen, geistigen und w irtschaftlichen V erhältnisse.........................

37

2.

Die Bedeutung einer Kathedrale.........

3.

V.

2 . S t a t ik ..............................................................................................

93

3.

G e w ö lb e ..................................................................................

95

4. H o c h s c h iffp fe ile r .....................................................................

105

5 .S t r e b e w e r k ................................................................................

107

S t r e b e b o g e n ..............................................................................

108

S t r e b e p f e ile r ..............................................................................

124

6.

H o lz -u n d E is e n a n k e r ........................................................

127

7.

K o n s tru k tio n o h n e S t a t i k ...............................................

129

B a u fo r m e n .........................................................................................

131

l . B a u k ö r p e r ...................................................................................

133

2 . In n e n w a n d g lie d e r u n g ..........................................................

159

3.

181

4.

© 2000 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Bilderdruckpapier Layout & Prepress: Schreiber VIS, Seeheim Druck und Einband: Druckhaus Beltz, Hemsbach Printed in Germany

M a ß w e r k ................................................................................

197

V o r s t u f e .......................................................................................

200

F r a n k r e ic h ...................................................................................

201

E n g la n d .........................................................................................

212

43

D e u t s c h la n d ..............................................................................

215

Das Licht.................................................

51

A u s b lic k .......................................................................................

226

5.

R u n d p fe iler, G lie d e rp fe ile r, B ü n d e lp f e ile r .............

227

III. Bauorganisation und A u s fü h ru n g .......................

53 6.

F a s s a d e n ..................................................................................

237

1.

Bauverwalter und Baumeister............

55 Z ie r w e rk a m A u ß e n b a u ...................................................

265

2.

Handwerker...........................................

61

W im p e r g u nd A t t i k a ..............................................................

265

3.

Transport der B aum aterialien............

63

Fiale u n d T a b e r n a k e l...............................................................

277

B a ld a c h in ........................................

281

7.

Dieses Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustim m ung des Verlages unzulässig. Dies g ilt insbesondere fü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, M ikroverfilm ung und die Einspeisung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

T r ifo r iu m ..................................................................................

4.

Bauablauf und Bauzeiten....................

67

5.

Finanzierung und K o ste n ....................

69

6.

Risse- B a up län e ..................................

71

7. Musterbuch eines Werkmeisters: Villard de H o n n e co u rt......................................

77

8.

V erm essung.........................................

81

IV. K o nstru ktion ............................................................

83

1.Konstruktion und S ta tik .................................. Protokolle der M ailänder fabrico 1 39 1-14 01

85 90

8.

F a r b ig k e it................................................................................

285

Das ist G o t i k .....................................................................................

291

V II. G lo s s a r ................................................................................................

295

G ru n d le g e n d e u n d a b g e k ü r z t z it ie r te L ite r a tu r .........

301

B a u te n v e rz e ic h n is d e r A b b ild u n g e n .............................................

303

A b b ild u n g s n a c h w e is ............................................................................

304

V I.

V III.

XI

V o rw o rt

1 W erkm eister m it Richtscheit und Stech­ zirkel, um 12S5, Schlußstein im südlichen Seitenschiff der Kollegiatskirche Notre-D am e in Sémur-en-Auxois (Côte-d'Or) (Bi 517).

Chartres Der Professor, welcher im Beruf Und bei seinen Leuten An sehr erster, prom inenter Spitze steht, W ußte, w er das alles und w ie und w arum er’s schuf: Und er bat die Freunde, ihn zu bitten, uns zu deuten. Und dann konnte er geflüssig, klar und sinnig Steine, Formen, Farben lesen: Und doch vor den schönen Kirchenfenstern bin ich Damals glücklich ganz fernanderswo gewesen. Joachim Ringelnatz

Wissenschaftler, Architekten und kunstliebende Laien bemühen sich seit über 200 Jahren, dem Geheimnis der gotischen Kathedrale, ihrer Gestaltwerdung und Wir­ kung, nachzuspüren, Verständnis für ihre Form, Konstruktion und Bedeutung zu entwickeln, das Besondere zu erkennen und zu formulieren, ihren Reiz und das Erlebnisgefühl in Worte zu fassen. Jeder glaubt von sich, das Ziel erreicht zu haben oder zumindest auf dem rechten Weg zu sein, einen oder mehrere Schritte in die richtige Richtung getan zu haben, den Geist der Gotik spüren und erklären zu können. Bei der Durchsicht der Literatur, die sich mit der gotischen Kathedrale befaßt, gewinnt man den Eindruck, als sei die Kathedrale ein Spiegel, in dem sich der Autor sieht, er wird von sich selbst überrascht, ja er erschreckt sich, denn der erste Blick in den Spiegel zeigt ein nie Geschautes. Erwartungsvoll beginnt der Betrach­ ter sein Gegenüber, sich selbst zu erkennen. Der Spiegel gewinnt eine eigene Wirk­ lichkeit - seitenverkehrt seine eigene Existenz - und ist doch ausschließlich von seinem Gegenüber, dem Betrachter, bestimmt, der dem am Platze unverrückbaren Bild nicht nur Gestalt, sondern Leben und Bewegung gibt, allein angewiesen auf seinen Willen und sein Dasein. So ähnlich kommen mir häufig, sehr häufig die Betrachter gotischer Kathedralen vor, und so bleibt es und wird sich nicht ändern, nicht ändern können, denn letztendlich suggerieren wir den Sieg des Geistes über die Außenwelt. Seit Ausgang des Mittelalters zeichnet sich im geistigen Leben Europas die un­ übersehbare Tendenz ab, sich im Denken und Glauben von jeglicher autoritären Bevormundung oder auch Beeinflussung zu befreien, geführt von dem Gefühl eines mündigen Verstandes, ein heimliches, leidenschaftliches und schließlich vehement nach außen drängendes Bemühen, die Freiheit des Geistes zu doku­ mentieren. Dabei entstand und besteht eine Unordnung des geistigen Lebens; sich widersprechende Prinzipien treten an die Stelle der alten Ordnung. Das intensive Nachdenken, vorsichtige Weiterdenken, stufenweise Aufbauen, sichere Fortbeste­ hen wird heute oftmals abgelöst von einer oberflächlichen Formulierungslust, von unzähligen Schreibwerken, angerissenen Ideen, Wissensanhäufung und Zitier­ freudigkeit, die die Gediegenheit der Äußerung begründen soll, zugleich aber die Unsicherheit des Autors verdeutlicht. Statt selbst intensiv zu schauen und nachzu­ denken, wird abgeschrieben, behauptet und Autorität in Anspruch genommen: zurück ins Mittelalter! Der mittelalterliche Autor, auf der ständigen Suche nach der verbürgten Wahrheit, fühlte sich nicht als selbständiger Ausleger des Textes, sondern als Sammler der Wahrheit; Eigenständigkeit findet sich nicht im Inhalt, sondern in der Art der Auswahl, in der Form der Anordnung und Zuordnung und im Kommentieren der Texte von bewährten Autoren, denen Autorität zuerkannt wurde. Immer wieder ist es - wie auch bei den Ordensgründungen - eine reforma­ tio. Reformation hat im Mittelalter vordringlich immer die Wiedereinsetzung eines ursprünglich geltenden, inzwischen verachteten Gesetzes zum Inhalt. Refor­ mation im strengen Sinne bedeutet Rückführung zu einer Norm. Wer den Begriff gebraucht oder entsprechend handelt, gründet auf ein fest Gegebenes, Bewährtes, und schaut nicht vorwärts auf ein bloß Erwartetes, das eben deshalb ein Unbe­ stimmbares ist. Zugleich bedeutet das aber auch Anpassung auf der Grundlage dieser Normen an veränderte Gegebenheiten. Ferner ist zu berücksichtigen, daß Betrachten, Urteilen und Entscheiden immer etwas Subjektives, Auswählendes und vielfältig Beeinflußtes sind. Seit über 40 Jahren habe ich im Umgang mit historischer, besonders mittel­ alterlicher Architektur über deren Formen, Technik, Organisation, Planung und Bedeutung so manche Erkenntnis gesammelt, jedoch ist die mittelalterliche Ar­ chitektur ein Phänomen, für das, um es ergründen, verstehen und erklären zu

V orw ort XIII

XII V orw ort

können, ein Forscherleben zu kurz ist. Sprache ist Ausfluß von Gedanken, Gefühlen und Leidenschaft, ein Widerschein persönlicher Beliebigkeit, nicht immer ohne Selbstgefallen. Auch der Reiz des Widerspruchs begleitet uns, entweder deutlich ausgedrückt oder unterschwellig vorhanden. Für wissenschaftliche Forschung sind Kreativität, Neugier, Suchen, Fragen und Zielstrebigkeit die grundlegenden Bedingungen, die vielfältiges, umfangreiches, möglichst umfassendes Wissen vor­ aussetzen, ebenso Erfahrung und immer wieder Zweifeln, Prüfen und die Bereit­ schaft, Fehler zu erkennen und daraus zu lernen, zu fragen und die Vorstellungen zu formulieren und der öffentlichen Kritik zugänglich zu machen. Für mich ist es nicht das größte Glück zu glauben, ein Kunstwerk ganz enträtselt, erfaßt, verstan­ den zu haben; größer ist mein Glücksgefühl, wenn ich immer neue Tiefen ent­ decken kann, die mich immer mehr der Seele des artifex, des Kunstfertigen, näher­ bringen. Eine Wahrheit kann erst dann erkannt werden, wenn der Empfänger dafür reif ist. Ein ständiges Bemühen darum ist Befriedigung und Erfüllung; dabei ist darauf zu achten, nichts zu vergessen, zu übersehen, gering zu achten. Dieses Buch wurde nicht in der Absicht geschrieben, eine umfassende stilge­ schichtliche Behandlung der Baudenkmäler während der frühen und hohen Gotik (1140-1350) zu bieten, wie sie in anderen Büchern für einzelne Länder oder Bau­ werke ausführlicher zu finden ist, sondern es soll zum Verständnis der so beein­ druckenden gotischen Architektur beitragen: wie hat man damals gedacht und geplant, organisiert, gebaut und gestaltet, welche Formen wurden angewandt und wie haben sie sich entwickelt, was ist der „Geist der Gotik“, der sich an Erschei­ nung und Struktur der Bauten ablesen und der die Entwicklung und Formfindung erklären läßt? Das Buch ist auch nur in Ansätzen eine Formenlehre, d. h., weder die einzelnen Formen noch ihre zeitliche Entwicklung und regionale Verteilung wer­ den umfassend behandelt, sondern sie werden nur exemplarisch zur Beurteilung des „Gotischen“ dargelegt. Ich bestaune ein feines Spinnennetz voll dicker Regentropfen, die Standfestig­ keit eines weitausladenen, hohen Baumes im Sturm und die feingliedrige Kon­ struktion gotischer Kathedralen. Ich bemühe mich, ihre Bestimmung, ihre Bedeu­ tung, ihre Botschaft zu erfahren und erfreue mich an der Pracht und Schönheit der gotischen Formen, die sich meinen Augen zeigen; ich möchte sehen, hören, erle­ ben, eintauchen in das Geheimnis ihrer Botschaft aus der Zeit vor 800 Jahren, aus einer fernen Zeit, einer anderen Welt, aus der wir aber stammen, die uns - so ver­ wunderlich es erscheint - doch sehr nahe ist. Sind wir bestimmt von der Sehn­ sucht nach einer heilen Welt, nach einer der Natur - noch - nahen Welt, nach einer gottgefälligen Welt? Suchen wir etwas, von dem wir meinen, es verloren zu haben? Vermissen wir etwas, von dem wir träumen und das wir beim Anblick der gotischen Kathedrale zu erkennen meinen, Trugbilder, Wunschbilder, phantasie­ volle Visionen, gar Hoffnung auf Erlösung? Einem fertiggedruckt vorliegenden Buch merkt man nicht an, in welcher Um­ gebung es entstand, in welcher Stimmung, mit welchen Gedanken, mit welcher Dankbarkeit für vielfältige Unterstützung. Die Arbeit im Studiolo, umgeben von harmonischer Musik und von kleinen lieblichen Dingen, Bildern, Bildnissen und vielen verheißungsvollen Buchrücken dient der Meditation, dem Warten auf Eingebung, auf gute klärende Gedanken - häufig sind es nur vermeintliche, kurzlebige, wieder verworfene, andere hingegen werden auf Dauer dem Druck übergeben. Zwischendurch - erfreulicherweise selten - kommt das Gefühl, der Zweifel, ob es überhaupt sinnvoll, notwendig, beförderlich ist, das Buch zu schrei­ ben. Wer wartet darauf? Wer würde es vermissen, wenn es nicht erschiene? Keiner, auch nicht der Autor, weiß, ob es zweckmäßig ist, aber befriedigend ist es - für den Autor. Er ist mit seinem Tun einverstanden und hofft, daß andere ihm zustimmen.

G ü n th e r B in d in g : A rc h ite k to n is c h e F o rm e n le h re .

G ü n th e r B in d in g : B e iträ g e z u m A rc h it e k tu r - V e r ­

D a r m s t a d t 1 9 8 0 (21 9 8 7 , 41 9 9 8 )

s tä n d n is b e i A b t S u g e r vo n S a in t-D e n is . In : M i t ­

G ü n t h e r B in d in g , N o r b e r t N u ß b a u m : D e r m i t ­

te la lte rlic h e s K u n s te rle b e n n a c h Q u e lle n des 1 1 .

t e la lt e r li c h e

bis 1 3 . Jh.s. Flrsg. G ü n t h e r B in d in g u n d A n d re a s

B a u b e t r ie b

n ö r d lic h

d e r A lp e n

in z e itg e n ö s s is c h e n D a r s t e llu n g e n . D a r m s t a d t

Speer. S t u t t g a r t 1 9 9 3 , S. 1 8 4 - 2 0 7

1978

G ü n t h e r B in d in g : D ie n e u e K a th e d r a le . R a t io ­

G ü n t h e r B in d in g : D ie F r a n z is k a n e r -B a u k u n s t im

n a l i t ä t u n d Illu s io n . In : A u f b r u c h - W a n d e l - E r ­

d e u ts c h e n S p ra c h g e b ie t. In: 8 0 0 J a h re F ra n z von

n e u e r u n g . B e it r ä g e z u r „ R e n a is s a n c e “ des 1 2 .

Assisi. F ra n zis k a n is c h e K u n st u n d K u ltu r des M i t ­

Jh.s. Flrsg. G e o rg W ie la n d . S t u t t g a r t 1 9 9 5 , 5.

te la lte rs . A usst. K re m s 1 9 8 2 , 5 . 4 3 1 - 4 6 0

2 1 1 -2 3 5

G ü n t h e r B in d in g , M a t t h i a s U n t e r m a n n : K le i­

G ü n th e r B in d in g : B e iträ g e z u m G o tik - V e r s t ä n d ­

ne

in

nis (= 5 3 . Veröff. d. A b t. A rc h . d. K u n s th is t. In s t. d.

D e u ts c h la n d . D a r m s t a d t 1 9 8 5 (21 9 9 3 )

U niv. z u K öln ). K öln 1 9 9 5 (21 9 9 6 )

G ü n t h e r B in d in g : D e r B a u b e t r ie b z u B e g in n d e r

G ü n t h e r B in d in g , A n d r e a s S p e e r (F lrs g .): A b t

G o tik . In : Z s .f. A r c h ä o lo g ie d. M it t e l a l t e r s . B e i­

S u g e r vo n S a in t-D e n is , De consecratione, k o m ­

K u n s tg e s c h ic h te

der

O rd e n s b a u k u n s t

h e f t 4, K öln 1 9 8 6 , 5. 6 3 - 9 1

m e n t ie r t e S tu d ie n a u s g a b e (= 5 6 . V e rö ff. d. A b t.

G ü n t h e r B in d in g : D ie A n f ä n g e d e r V e r w e n d u n g

A rc h . d. K u n s th is t. In s t. d. U n iv . z u K ö ln ). K öln

v o n S c h a b lo n e n im 1 3 . Jh. In : F e s ts c h r ift F lan s

1995

K oepf. W ie n 1 9 8 6 , S. 1 3 - 1 9

G ü n t h e r B in d in g : D e r f r ü h - u n d h o c h m i t t e l a l ­

G ü n t h e r B in d in g (F lrs g .): D e r m i t t e l a l t e r l i c h e

te rlic h e B a u h e r r als sapiens architectus. K ö l n -

B a u b e tr ie b W e s te u ro p a s . K a ta lo g d e r z e itg e n ö s ­

D a r m s t a d t 1 9 9 6 (21 9 9 8 )

sischen D a r s te llu n g e n (= 3 2 . V eröff. d. A b t. A rc h .

G ü n th e r B in d in g : D e r g o tis c h e G lie d e rp fe ile r. In:

d. K u n s th is t. In s t. d. U n iv . z u K ö ln ). K ö ln 1 9 8 7 ,

W a llra f-R ic h a rtz -J b . 5 9 , 1 9 9 8 , 5 . 2 9 - 5 8

E r g ä n z u n g s b a n d K öln 1 9 9 2

G ü n t h e r B in d in g : G o t ik ( 1 1 4 0 - 1 3 0 0 ) (= Ta-

G ü n t h e r B in d in g : Opus fra neigen um. E in B e i­

schens W e lta r c h ite k tu r ) . K öln 1 9 9 9

t r a g z u r B e g r if fs b e s tim m u n g . In : A r c h iv f . K u l-

G ü n t h e r B in d in g : a r c h ite c tu s , m a g is t e r o p e ris ,

tu rg e s c h . 7 1 , 1 9 8 9 , S. 4 5 - 5 4

w e re m e is te re : B a u m e is te r o d e r B a u v e r w a lt e r im

G ü n t h e r B in d in g : M a ß w e r k . D a r m s t a d t 1 9 8 9

M i t t e la lt e r . In : M i t t e l l a t . Jb. 3 4 . 1 , 1 9 9 9 , 5. 7 - 2 8

G a b r ie le A n n a s , G ü n t h e r B in d in g : „Arcus supe-

G ü n th e r B in d in g : W e r w a r M e is t e r G e r h a rd , d e r

riores. “ A b t S u g e r vo n S a in t-D e n is u n d da s g o t i ­

v o r 7 5 0 J a h r e n d e n K ö ln e r D o m g e p l a n t u n d

sche K r e u z r ip p e n g e w ö lb e . In : W a llr a f - R ic h a r t z -

g e b a u t h a t ? In : T h e s a u ru s C o lo n ie n s is . F e s t­

Jb. 5 0 , 1 9 8 9 , S. 7 - 2 4

s c h r ift f ü r A n t o n vo n E u w z u m 6 5 . G eb . Flrsg.

G ü n t h e r B in d in g : B a u b e t r ie b im

M itte la lte r .

D a r m s ta d t 1 9 9 3

W o lf g a n g S c h m itz u n d F lilt r u d W e s t e r m a n n A n g e r h a u s e n . K öln 1 9 9 9 , S. 4 5 - 6 0 G ü n t h e r B in d in g : In m e n t e c o n c e p tu m - S e it w a n n g i b t es B a u p lä n e ? In: A rc h ite k tu r, S tru k tu r, S y m b o l. F e s ts c h r ift f ü r

C o rd M e c k s e p e r, Flg.

M a ik e & Kozok. P e te rs b e rg 1 9 9 9 , 5. 7 7 - 8 4 A n d re a s Speer, G ü n th e r B in d in g (Flg.): A b t S u g e r vo n S a in t-D e n is . A u s g e w ä h lt e S c h r ifte n . D a r m ­ s ta d t 2 0 0 0 .

„Um von Kunstwerken eigentlich und m it w ahrem Nutzen fü r sich und andere zu sprechen, sollte es freilich nur in G egenw art derselben geschehen. Alles kom m t aufs Anschauen an, es kom m t darauf an, daß bei dem W ort, wodurch man ein Kunstwerk zu erläutern hofft, das Bestim m teste gedacht werde, w eil sonst gar nichts gedacht w ird .“ Johann W olfgang von Goethe: Einleitung. In: Propyläen, eine periodische Zeitschrift. 1798 (Goethes Werke. H am burger Ausgabe Bd. XII, H am burg 1953, S. 51f.).

So dankt er seinem Verlag für die Gelegenheit, für das Vertrauen, für die Sinngebung. Viele Autoren mit großen „Namen“ in der Kunstgeschichte haben sich mit der Gotik beschäftigt, sich von den gotischen Kathedralen faszinieren lassen, sich bemüht, das Geheimnis zu lüften. Was gibt es da noch Neues, Wichtiges zu erken­ nen, mitzuteilen, zu drucken? Oder sollte das Wort von Bernhard von Chartres (gest. 1124/30) doch zutreffen, daß wir Zwerge sind, die auf den Schultern von Rie­ sen sitzen, so daß wir mehr als sie und weiter sehen können? Ich fühlte mich aus der täglichen Arbeit, dem Bemühen um Verständnis und Vermittlung durch Lehre heraus verpflichtet, das vorzulegen, was ich leisten kann: die Zusammenfassung und Ordnung dessen, was an Erkenntnissen zur Gotik vorliegt; das ist ungemein viel, mannigfaltig und differenziert, uneinheitlich und sich ergänzend, detailge­ bunden und überschwenglich, nicht zu überschauen und nicht zu bewältigen nicht von mir - , dennoch wage ich es in vollem Bewußtsein der Probleme, im Bemühen, mein Bestes zu tun. Dem Langmut meiner Frau, die meine zerstreute Anwesenheit wie mein abgeschiedenes Leben im Studiolo ertragen und mich mit großzügiger Kritik und Unterstützung ermutigt und vielfältig korrigiert hat, ist es zu verdanken, daß ich schließlich ein Manuskript abschließen konnte. Das Buch stellt eine geordnete und ergänzte Zusammenfassung meiner bisherigen Ver­ öffentlichungen zur Gotik dar (siehe nebenstehende Auflistung). Vielen Buchautoren bin ich verpflichtet; ihre Namen sind im Literatur-Verzeich­ nis und in den Anmerkungen aufgeführt. Es sei an den älteren Seneca erinnert, der über Ovid geäußert hat, daß dieser viel von Vergil übernommen habe, nicht um es zu stehlen, sondern weil er es vor aller Augen entlehnen wollte. Bei der Erstellung des Manuskripts haben mich Maria Spitz sowie Britta Bommert, Nina Koller, Catrin Riquier und Julia Benthien vielfältig unterstützt; Diplom­ bibliothekarin Gabriele Abedinizadeh war mit der Erstellung der Literaturver­ zeichnisse betraut. Die Zusammenarbeit war mir eine bedeutende Hilfe, die konstruktiv-kritische Einstellung eine große Freude. Der Fotograf Uwe Dettmar in Frankfurt hat es verstanden, gotische Kathedralen in Frankreich so zu fotografie­ ren, daß die Architektur ihre eigenständige Wirkung auf den Fotos behalten hat und nicht vom Fotografen und seiner Linse „verbogen“ worden ist; er hat Fotos angefertigt, die dem Anliegen meines Buches entsprechen, und diese großzügig zur Verfügung gestellt; Dr. Angelika Pfotenhauer brachte uns zusammen. Der Wis­ senschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt, ihren Lektoren Martin Bredol und Heribert Heuschneider, danke ich für die Bereitschaft, das Buch herauszugeben und mir alle Freiheit in bezug auf Inhalt und Bildauswahl zu lassen. Herrn Karl Ferger danke ich in vieljähriger, freundschaftlicher Verbundenheit sehr herzlich für die glänzende technische und gestalterische Betreuung. Fotos und Zeichnungen sowie ausführliche Beschreibungen können die Bauten selbst nicht ersetzen, sondern lediglich Interesse wecken, die Bauwerke intensiv zu besichtigen, sie, auch im Detail, genau zu betrachten und ihre vielfältigen Aussa­ gen zu erfassen. Kathedralen sind wie ein dickes Buch, das man zu lesen verstehen muß. Die folgenden Texte sollen Anregungen und Hinweise geben. Fratres vos, qui legitis in istis voluminibus et invenietis ubi opus est ad emendan­ dum, non maledictis sed cum omni diligentia emendetis. (Mönch des 11. Jh.s) Köln, Ostern 1999

Günther Binding

XIV

l a Köln, Dom, Chor 1248 begonnen, um 1300 fertig, 1322 gew eiht.

2 ► Reims, Kathedrale des Erzbischofs, Krönungskirche der französischen Könige. Westansicht, spätestens nach 1252 begonnen, Rosengeschoß um 1 2 8 0 ,Türme bis etw a 1310.

a

H ■ B

XVI

1

E in leitu ng

4 Der Bauherr a u f der Baustelle, Steinm etz bearbeitet einen Werkstein m it der Spitzfläche, Steinm etz kontrolliert die Lage der Steine m it der Lotwaage, Hilfsarbeiter trägt einen Quader über die Laufschräge. Um 1 2 1 0 /1 5 , Glasfenster „Légende de Théophile“ im Chor der Kathedrale von Laon (Bi 234).

1

E n te le c h ie b e d e u t e t das, w a s d a s Z ie l, d ie

V o lle n d u n g in sich t r ä g t . - J a n tz e n ( 1 9 6 2 ) , 5. 4 9 - 5 2 . - P a u l F ra n k l: D ie R o lle d e r Ä s t h e t i k in d e r M e t h o d e d e r G e is te s w is s e n s c h a ft. In : Z s .f. Ä s th e tik u. a llg e m e in e Kw. 2 1 , 1 9 2 7 , S. 1 4 5 - 1 5 9 . 2

Vgl. a llg e m e in z u r u n te rs c h ie d lic h e n D e f i n it i­

o n vo n S til d e n Ü b e rb lic k im L e x ik o n d e r K un st, Bd. 7, L e ip zig 1 9 9 4 , 5 . 6 0 - 6 2 . - G e o rg G e r m a n n :

3 Le Mans, Kathedrale Saint-Julien, Südostansicht. Chor 1 2 1 7 -1 2 4 5 an das Langhaus von 1 1 3 5 /5 8 angebaut, Querhaus und Um bau des Langhauses Anfang 14. bis Anfang 15. Jh.

N e u g o t ik . G e s c h ic h te ih r e r A r c h it e k t u r t h e o r i e . S t u t t g a r t 1 9 7 4 , S. 9 - 2 6 .

Für eine angemessene Beurteilung der Bauleistung in der Zeit 1140-1350, die sich in den großen gotischen Kathedralen, aber auch in Stiftskirchen und in Ordenskir­ chen, vornehmlich der Zisterzienser und Bettelorden, sowie in Herrscherkapellen widerspiegelt, ist eine vielfältige Betrachtungsweise notwendig. Wenn auch der Entwurf eines Kunstwerks zum wesentlichen Teil aus einem für uns Unzugängli­ chen und letztlich Unerklärbaren hervorgegangen ist, so sind die ihn betreffenden, erkennbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen zahlreich: geistesgeschichtliche (theologische), politische, ökonomische, organisatorische und letztlich auch tech­ nisch-konstruktive Grundlagen. Sie alle gehen in ein unentwirrbares, gleichzeiti­ ges, sich gegenseitig beeinflussendes Geflecht ein und führen zur Entstehung eines bestimmten, individuell gestalteten Bauwerks. Es ist Aufgabe des Bau- und Kunsthistorikers zu versuchen, die einzelnen Voraussetzungen isoliert zu betrach­ ten und dabei schließlich das Zusammenwirken nicht außer acht zu lassen. Kon­ struktiver Zweck und gestalterische Absicht sind unlösbar miteinander verbunden und das Ergebnis der Erfahrungen des Baumeisters auf der Grundlage langer handwerklicher Tradition. Die Anteile zu trennen ist unmöglich, dieses muß bei jeder Betrachtung und Beurteilung von Bauwerken berücksichtigt werden. Über die Repräsentationsabsichten und den Bedeutungszusammenhang der Bauformen, d. h. die Begründung für deren Wahl, gibt der Zeichenwert Auskunft (siehe S. 43). Der Zeichenwert ist in der materiellen Gegebenheit, in der Form, nicht von objektiver Bedeutung, sondern muß von den Menschen, von jedem einzelnen Subjekt, neu konstituiert werden. Die Bedeutung einer Bauform ist immer eine persönlich hergestellte Verbindung zwischen einem objektiv gegebenen Ding und einem subjektiv gegebenen Zeichen. Daraus folgt, daß dieselbe Form gleiches oder verschiedenes Zeichen sein kann und daß gleiche Zeichen, also Formen, sich wan­ delnde oder mehrere gesetzte Bedeutungen haben können. Die gotische Kathedrale folgt in ihren Proportionen den gleichen mathemati­ schen Regeln wie die instrumentale Musik und der Gesang, die einen wesentli­ chen Bestandteil der Liturgie darstellen. Die vollkommene Musik besteht wie die vollkommene Kathedrale aus Harmonie. Seit Urzeiten ist die Musik ein Zauber­ mittel, wird „verstanden“, erlebt; die Proportionen, die Harmonien, die Logik sind gegenwärtig, aber für den Rezipienten nicht meßbar, ganz wie bei der Kathedrale. Durch die kunstgeschichtliche Literatur über die gotische Architektur ziehen sich zwei gegensätzliche Auffassungen: Erklärung der gotischen Form aus der Konstruktion oder Bestimmung der Form durch die Konstruktion zur Umsetzung des Formwillens (siehe Kapitel I. Gotik-Begriff und Forschungsgeschichte). Immer wieder spielt die Frage nach dem „Stilwollen“ (Kimpel) oder der „Stilentelechie“ (Frankl, Jantzen)1 eine Rolle. Die Auffassung von Stilwollen oder Kunstwollen steht ganz in der Tradition des Denkens im 19. Jh., aus dem heraus der Historismus mit seinen Neostilen entstanden ist, entspricht aber nicht der Vorstellung, daß der Stil einer Zeit, einer Landschaft oder einer Person sich in einer auf wesentlichen Eigen­ schaften beruhenden Gleichartigkeit der künstlerischen Mittel äußert.2 Der Stil ist nicht dem Willen des Künstlers unterworfen oder davon abhängig, sondern Stil ist eine nachträgliche Beobachtung von Gemeinsamkeiten, die sich in einer Zeit oder bei einer Person entwickelt haben. Allein die Auswahl der Formen und deren Anwendung und Zusammenstellung ist dem Bewußtsein des Künstlers Vorbehal­ ten. Die Bauausführung folgt dann wiederum nicht einem starren unveränder­ lichen Baukonzept, sondern richtet sich nach den jeweiligen technischen und ökonomischen Bedingungen. Mehrfache Wechsel der Baumeister über lange Bau­ zeiten hin führen ebenfalls zu Veränderungen, die sich aus dem auf der Baustelle bereits Vorhandenen und den neu hinzugekommenen Erfahrungen und Vorstel­ lungen ergeben, zumal bis zur Mitte des 13. Jh.s noch keine gezeichneten Bauplä­

E in le itu n g 3

2 Einleitung

ne existierten, die eine einmal vorhandene Vorstellung eines Werks, die Planungs­ idee, opus in mente conceptum, verbindlich festlegen und für folgende Generatio­ nen übermitteln konnten (siehe Kapitel III. 6). Aber auch bei Bauten oder Bau­ teilen, die bei günstigen ökonomischen und organisatorischen Verhältnissen in sehr kurzer Bauzeit hochgeführt werden konnten, sind Planungsänderungen immer wieder zu beobachten. Auch muß berücksichtigt werden, daß die Werk­ meister und Handwerker viele Baustellen auf ihren Wanderungen besucht haben, Eindrücke und Erfahrungen weitertrugen, und zwar sehr schnell, denn zumeist haben sie nicht für längere Zeit auf einer Baustelle gearbeitet (siehe Kapitel III. 2). Über den Beginn der Gotik besteht allgemein keine Einigkeit, auch wenn immer wieder der Chor von Saint-Denis (1140-1144, Abb. 182,474) als Geburtsstunde der Gotik gefeiert wird. Hans Erich Kubach formulierte 1977: „Im französischen Kronland schießen seit etwa 1140 vielerlei Tendenzen zusammen, die auf immer stär­ kere Vereinheitlichung des Kirchenbaues und immer stärkere Durchstrukturie­ rung des Gefüges hinwirken. Doch bleibt diese Entwicklung bis gegen 1200 so stark mit ihren romanischen Ursprüngen verbunden, daß man sie als spätroma­ nisch auffassen kann. Erst der Umschwung der 90er Jahre bringt die klassische Gotik zuwege, die eine revolutionäre Umkehr der architektonischen Gestaltungs­ weisen bewirkt.“3 Diese Auffassung hat bereits G. Jakob 1817 vertreten: „Der goti­ sche Stil ist die konsequente und allseitige Durchbildung eines Prinzips, das nicht da oder dort zufällig erfunden, sondern durch den früheren Stil notwendig vorbe­ reitet worden ist; er ist das Endresultat des im romanischen Stile immer lebhafter hervortretenden Strebens nach dem vollkommenen Ausdruck der Einheit zwi­ schen dem Ganzen und den Teilen, dem Innern und dem Äußeren des kirchlichen Baus.“4 Aus der Sicht der vollentwickelten Gotik ist es aber ebenso berechtigt, diese Phase mit Saint-Denis und Laon als Vorstufe, als Entwicklung hin zur Gotik anzu­ sehen, die um 1190 in Chartres mit dreigeschossigem Wandaufriß, vierteiligem Rippengewölbe, Strebewerk, „Plattenmaßwerk“ und Rundpfeiler mit Kapitell und Vorlagen ihre großartige Ausprägung erfährt. Diese ist aber wiederum nur als Vor­ stufe hin zur „klassischen Gotik“ zu verstehen, die 1211/33 in der Kathedrale von Reims mit Maßwerk, Gliederpfeiler und serieller Vorfertigung standardisierter Bauglieder auf der Grundlage von Bauplänen ausgeformt wurde. Diese Stufe fin­ det ihre konsequente Weiterbildung und ihren Höhepunkt mit der vollendeten Wandauflösung und Durchlichtung 1231-1241 im Umbau von Saint-Denis, 1241-1245/48 in der Sainte-Chapelle in Paris, 1255-1272 im Chor der Kathedrale von Beauvais und 1248-1322 im Chor des Kölner Doms sowie im Äußeren 1277-1339 am Westbau des Straßburger Münsters. Wie bei allem Geschichtlichen handelt es sich auch bei Kunstwerken, wie der Architektur, nicht um Ereignisse, um unvermitteltes Dasein, spontan ohne Vorbild oder Anlehnung an frühere Motive, sondern um Prozesse, die weder beginnen noch enden, sondern ineinander übergehen, aus einem Vergehenden herauswach­ sen und eine weitere oder neue Entwicklung begründen. Andererseits können sich aber auch an verschiedenen Orten, voneinander unabhängig - bei einer ähnlichen oder gleichen geistigen und formalen Voraussetzung - gleiche oder ähnliche Pro­ zesse entwickeln, die zu verwandten Formen und Gestaltungen führen und stili­ stisch ohne Vermittlung von Personen gleich sein können. Die gotische Baukunst entstand weit entfernt von der Architektur in den Län­ dern um das Mittelmeer - Byzanz, Italien, Spanien - und ist nicht als Weiterent­ wicklung oder als Übernahme antiker Traditionen zu verstehen, sondern ist aus dem Baugefüge und den Formen romanischer Kirchen erwachsen, und zwar in Frankreich, vorrangig in der fruchtbaren Ile-de-France um den Sitz des französi-

5 ► Saint-Denis bei Paris, Abteikirche m it den Gräbern der französischen Könige, nördliches Querhaus und Chor 1 2 3 1 -1 2 4 1 . Das durch­ lichtete Triforium ist m it dem M aß w erk der Fenster zu einer großen farbigen Lichtzone verbunden.

3

H a n s Erich K u b a c h : D ie K ir c h e n b a u k u n s t d e r

S ta u fe r z e it in D e u ts c h la n d . In: D ie Z e it d e r S ta u ­ f e r . A u s s te llu n g S t u t t g a r t 1 9 7 7 , Bd. 3, 5 . 1 8 4 . Vgl. d a z u a u c h J a n tz e n ( 1 9 6 2 ) 5. 4 9 f. - D e h io B e z o ld ( 1 8 9 2 - 1 9 0 1 ) Bd. 2, S. 5. 4

C. J a k o b : D ie K u n s t im D ie n s te d e r K irch e .

L a n d s h u t 21 8 7 0 (11 8 5 7 ) , S. 6 9 .

4 Einleitung

sehen Königs in Paris. Die erste Blüte entfaltete sich unter Abt Suger in der Kloster­ kirche Saint-Denis (1130/35-1144) mit der königlichen Grablege, in den Kathedra­ len Noyon (1150-1185), Senlis (1156-1191), Laon (1160-1205) und Paris (1163-1220). Die Entwicklung erreichte ihre reife Ausformung in den Kathedralen Chartres (1194-1220), Reims (1211-1241), Amiens (Langhaus 1220-1240) und Bourges (um 1195-1214) und fand ihre Vollkommenheit im Umbau der Kloster­ kirche Saint-Denis (1231-1241), in der königlichen Pfalzkapelle Sainte-Chapelle in Paris (1241-1245/48), in der Kathedrale Troyes (vor 1241) und in der königlichen Schloßkapelle Saint-Germain-en-Laye (um 1238). Zunächst Laon und Chartres, dann aber vor allem Reims (1211-1233) und Amiens (Ostteile 1236-1264) waren die Baustellen, von denen ausgereifte Baukonstruktion und neuer Stil zunächst nach England (Canterbury 1175-1185, Wells vor 1191, Lincoln 1192-1233, Salis­ bury 1220-1266, Westminster Abbey 1245-1272, Lichfield 1257-1280, Kapitel­ haus von Salisbury 1263-1271), dann nach Deutschland (Marburg und Trier ab 1235, Köln 1248-1322, Straßburg ab ca. 1250 und Regensburg 1275-1322) und nach Spanien (Burgos ab 1221/22, Toledo ab 1227) getragen wurden. Auch der 1098 in Burgund gegründete, straff organisierte Zisterzienserorden hat zur schnellen Ausbreitung der Gotik beigetragen (Longpont 1210/15-1227, Royäumont 1228-1236, Maulbronn 1210/30, Lilienfeld 1210-1263, Haina 1216-1328, Altenberg 1259-1276). Wenn auch die Vorstellung von der Gotik geprägt ist durch die großen Kathedralbauten und zisterziensischen Klosterkirchen, wie auch durch die Kapitelsäle und Refektorien, so darf nicht vergessen werden, daß zu einer Kathedrale auch eine Reihe von Nebengebäuden gehörten, an erster Stelle die bischöfliche Residenz, zumeist ein ansehnliches Steingebäude mit einem großen Saal, in dem Versammlungen, u. a. Synoden, stattfinden konnten (Sens, Abb. 23), dazu eine Kapelle, in der der Bischof seine tägliche Messe las (Reims, Abb. 202-204), auch hatte der Palast Gästeräume, in denen hohe Würdenträger oder der König auf Durchreisen oder aus Anlaß von Versamm­ lungen übernachten konnten. An ein Seitenschiff der Kathedrale schloß der Kreuzgang für die Domherren an, in England zudem auch ein Chapter house für die Versammlung der Kapitelsmitglieder (Abb. 11). Die Domherren besaßen eigene kleine Höfe, die Domherrenhöfe oder Kurien (erhalten in Bamberg, Naumburg, Xanten). Ferner standen im Umkreis der Kathedrale die Domschule und Wohnhäuser für das Personal, zudem Scheunen und Keller für Getreide und Wein. Diese Domfreiheit war von einer Mauer mit Toren von der Stadt abgetrennt. Wohlüberlegt oder durch örtliche Gegebenheiten bestimmt führt eine Straße zwischen Mauern und Häusern auf die Kirche zu (Abb. 8), auf ihre Westfassade oder auf eine Ouerhausfront mit tiefgestuften, figurenreichen Portalen, auch mit einer Vorhalle (Laon, Chartres). Immer empfängt den Besucher ein Vorplatz, wenn auch noch so klein, abgeschlossen von dem Getriebe der Welt, Ruhe und Besinnung vorbereitend. Erst im 19. Jh. wurden viele Kirchen durch Abbruch der sie umgebenden kleinen, maßstabbilden­ den Häuser freigestellt (Abb. 94), zum Denkmal auf einen Sockel gehoben, aus dem Leben genommen. Hohe Türme, die in den Himmel ragen, und mächtige Dachflächen, die das Kirchenschiff schützen, herrschten über die niedrigen, vielgestaltigen Dächer der Stadt (Abb. 8, 11). Sie sind weithin sichtbar und grüßen den Fremden wie den Heimkehrer, sind vertrautes, schützendes Wahrzeichen der Heimat, sie künden Geborgenheit, sind feste Gewohnheit, Wegweiser, Ruhepunkt des Auges, im gläubigen Mittelalter Ver­ heißung, Trost und Zukunft, das vom christlichen Glauben geprägte Leben.

Einleitung 5

5 G ü n t h e r B in d in g , U d o M a in z e r , A n i t a W ie d e n a u : K le in e K u n s tg e s c h ic h te des d e u ts c h e n F a c h w e rk h a u s . D a r m s t a d t 41 9 8 9 . -

G. U lric h

G r o ß m a n n : D e r Fach w e r k b a u . K öln 1 9 8 6 . - K o n ­ rad

B e d a l:

H is to r is c h e

H a u s fo r s c h u n g .

Bad

W in d s h e im 1 9 9 3 .

7 Caen, Saint-Étienne, Abteikirche, Südostansicht, Chor um 1 2 0 0 /0 2 begonnen.

6 Chartres, Kathedrale, Westansicht, 2. Hälfte 12. Jh.-C outances, Kathedrale, 1 2 1 8 -1 2 5 0 , Ostansicht, als Vorbild diente die Kathedrale von Bourges (siehe Abb. 93).

In der Zeit der Gotik wurden auch die Stadtmauern mit ihren repräsentativen Toren ausgebaut und neue feste Burgen angelegt. So hat 1196/97 Richard Löwen­ herz die beeindruckende Festung Château-Gaillard an der Seine (Abb. 27, 28) als Riegel gegen das französische Kronland in kaum mehr als einem Jahr erbaut, und Friedrich II. setzte 1240 in die Einsamkeit des apulischen Hochlands das Jagd­ schloß Castel del Monte und errichtete andere repräsentative Schlösser wie Augu­ sta (1239-1242) oder Catania (um 1239) auf Sizilien. Die Bürger begannen, sich in den Städten in größerer Zahl Steinhäuser zu bauen; auch sind aus dem 13. Jh. die ältesten Fachwerkhäuser erhalten und geben einen Eindruck von der hohen Kunst der Zimmerleute.5 Die Stadt Paris ließ um 1190 die Hauptstraßen mit Steinen pfla­ stern, die Zugangsstraßen mußten auf Anordnung König Philipps II. mindestens 18 pied-mains (etwas mehr als 7 m) breit sein. Mit dem Begriff „Gotik“ verbindet man eine allgemein verbindliche Vorstel­ lung, etwas Gleichbleibendes, Unverändertes, plötzlich voll Ausgeformtes, höch­ stens abgesetzt von der um 1350 beginnenden Spätgotik, dem Flamboyant in Frankreich, dem Perpendicular Style in England und der Parierarchitektur in Deutschland. Doch schon die drei sogenannten „klassischen“ Kathedralen Char­ tres, Reims und Amiens sind höchst verschieden, und an den meisten Kirchen ist eine ständige formale Weiterentwicklung zu beobachten, ebenso sind große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern und Landschaften festzustellen. Verschiedenheit und Wandlung sind weniger auf Herrscherwechsel oder Stam­ meszugehörigkeit als vielmehr auf allgemeine ökonomische und geistesge­ schichtliche Phänomene, zufällige Ereignisse und persönliche Verbindungen zu beziehen und damit zu begründen. So waren die verheerenden Brände der Kathedralen in Chartres 1194, Reims 1210 und Amiens 1218 Auslöser neuer Baugestaltungen; nicht der Wechsel zu Ludwig IX., dem Heiligen, 1226 brach­ te den Höhepunkt der französischen Gotik, sondern der Umbau der Kloster­ kirche mit der königlichen Grablege Saint-Denis ab 1231 führte zum durchlichteten Triforium und der Erwerb der Dornen­ krone Christi 1239 zum Bau der königlichen Pfalzka­ pelle Sainte-Chapelle in Paris als gläsernem Schrein. Der neue gotische Stil wurde inJDeutschland nicht durch den deutschen Kaiser, den sizilischen Staufer Friedrich II., gefördert, sondern fand Anwendung in Stiftskirchen wie der Liebfrauenkirche in Trier (Abb. 244-246) und der ab 1235 vom Deutschen Ritterorden errichteten Elisabethkirche in Mar­ burg (Abb. 247-249), oder wurde wie für den Kölner Dom vom Domkapitel übernommen oder wie am Straßbur­ ger Münster unter Beteiligung städtischer Ratsmitglieder weiter­ entwickelt. Und nach England kam die Gotik nicht durch Richard Löwenherz, sondern ab 1175 durch Wilhelm von Sens, den die Mön­ che von Canterbury nach einem vernichtenden Kirchenbrand mit dem Wiederaufbau beauf­ tragt hatten (Abb. 223, 349).

Einleitung 7

6 E in le itu n g

Aufgrund der formalen und stilistischen Gestaltung der Bauten ist die Gotik, die man auch im Gegensatz zum romanischen Quadermassenbau als Steinmetz­ gliederbau charakterisieren kann, einzuteilen:

6

H e rm a n n

B a u e r: K u n s th is to rik . M ü n c h e n

1 9 7 6 (21 9 7 9 ) . - G ü n t h e r B in d in g : Z u r M e t h o d e d e r A r c h it e k tu r b e tr a c h tu n g m it t e la lt e r lic h e r K ir­ ch en (= 4 3 . V eröff. d. A b t. A rc h . d. K u n s th is t. In st, d. U n iv . z u K öln ). K öln 21 9 9 3 .

vereinzelte Form verbundene Form lineare Form verschliffene Form

Frühgotik Hochgotik Hochgotik Spätgotik

Frankreich 11351190/1200 1190/1220 -1260 Rayonnant 1260-1380 Flamboyant 1360/80-1550

England

Deutschland

Early English 1175-1260 Decorated Style 1250-1350 Perpendicular Style 1330-1560

Frühgotik 1235-1250 Hochgotik 1250-1350 Spätgotik 1350-1520

Um die Bauformen in ihrer Entwicklung angemessen einordnen zu können, ist eine möglichst genaue Datierung erforderlich, die aber zumeist kaum zu erreichen ist. Baudaten sind selten überliefert, und es bleibt bei ihnen wie bei allgemein­ historischen Hinweisen immer unsicher, auf welche Teile eines Bauwerks sie zu beziehen sind. Das gilt auch für Nachrichten, die Bauanlaß, Baubeginn oder Grundsteinlegung überliefern, und auch für alle Weihen, denn diese gehören ent­ weder zu einem Altar, der nur wenig über den Baufortschritt sei­ nes Umraums aussagen kann, oder zu Bauteilen, über deren Um­ fang oder Zustand auf dem Weg zur Fertigstellung selten etwas ermittelt werden kann. Zudem ist es immer wieder fraglich, wie zügig oder mit welcher und wann zeitlich genau zu datierenden Unterbrechung zwischen Anfangs- und Abschlußdaten die einzel­ nen Bauteile zeitlich einzuordnen sind. So ist z. B. für die 1211 nach einem Brand begonnene und 1241 im „Chor“ geweihte Kathedrale von Reims eine Bauunterbrechung 1233-1235 aufgrund eines Bürgeraufstands belegt, und für den 1248 begonnenen und 1322 geweihten Chor des Kölner Doms ist nachgewiesen, daß bald nach 1300 mit der Ausstattung (Chorgestühl) begonnen wurde. So sind im folgenden die im einzelnen genannten Daten für die Bauteile und Bauformen immer nur Annäherungen und Vorschläge, wobei für Frankreich Kimpel-Suckale (1985), für Deutschland Nußbaum (1994) und für England Kowa (1990) weitgehend gefolgt wird; darüber hinaus werden Daten einzelnen Baumonographien ent­ nommen. Bei der Betrachtung und Beurteilung von Kunstwerken wird häufig zu deren Hochschätzung das Besondere, von der Norm Ab­ weichende, Einmalige herausgestellt, während bei der Frage „Was ist Gotik?“ das vollkommene Sich-Einordnen ins Allgemeine, das Normale, Übliche, allgemein Verbreitete zu beurteilen und zu wür­ digen ist, ohne dabei die Frage nach der Qualität und nach der In­ novation aus dem Auge zu verlieren; entsprechend werden einzel­ ne Bauten ausgewählt und exemplarisch dargestellt. Es ist nicht die Absicht und auch nicht möglich, eine vollständige Geschichte und Theorie der gotischen Architektur oder Baukunst in Europa zu schreiben. Die Theorie besteht nach dem heutigen Stand der Wissenschaft bezogen auf ein Sachgebiet aus einer Reihe von Sät­ zen, die so verknüpft und aussagefähig sind, daß aus einigen von ihnen die übrigen abgeleitet werden können. Die Theorie ist dann

8 Chartres, Kathedrale N otre-D am e a u f dem Hügel der Stadt, Südostansicht, nach Brand 1 194 Neubau au f altem Grundriß und m it Übernahm e der W esttürm e (1134 und 1145 begonnen), 1220 Chor und Langhaus fertig, Querhaus bis 1245.

9 Tours, Kathedrale Saint-Gatien, Chor und Kapellenkranz von 1233, Hochchor um 1 2 4 1 /4 3 , Fensterverglasung um 1 2 5 5 /6 5 . Querhaus nach 1267 bis 1279.

gültig, wenn die abgeleiteten Sätze mit tatsächlichen Ereignissen oder Dingen übereinstimmen. Im Hinblick auf die Tatsachen oder Gegenstände bleibt die Theo­ rie stets Hypothese und muß sich verändern können, wenn sich bei der weiteren Aufarbeitung des Materials neue Erkenntnisse abzeichnen. Ich wünsche mir, daß eine Geschichte und Theorie der gotischen Baukunst später einmal möglich sein könnte, sofern die Bauwerke nicht verlorengehen und das Interesse und die beson­ deren geistigen Fähigkeiten nicht verkümmern, sondern sich weiterentwickeln. Dieses scheint fraglich zu sein bei dem nachlassenden Geschichtsbewußtsein und dem verbreiteten Fehlen intensiver Beherrschung der lateinischen Sprache, die notwendig ist, um die Schriften zu verstehen und so das Denken und die Erkennt­ nisse der Zeitgenossen gotischer Kathedralen erfassen zu können. Das schöpferi­ sche Zeitalter der Gotik ist nicht allein aus einer umfassenden formalen Betrach­ tung und intensivierten Sammlung von Einzelbeobachtungen zu verstehen, sondern nur im Zusammenhang mit den Erkenntnissen, Gedanken und gelehrten Betrachtungen jener Zeit. Die Beschreibung eines Bau- und Kunstwerks ist zugleich immer eine Interpreta­ tion, die das Verstehen seiner spezifischen Inhalte zum Ziel hat.6 Jedes Kunstwerk kann, da es materiell existent ist, wahrgenommen und durch Beschreiben und Erklären weitergegeben werden, d. h., das rechte Sehen und das rechte Verstehen durch Rezeption bzw. Interpretation dienen schließlich auch der materiellen Bewah­ rung. Wir müssen lernen, genau hinzu­ sehen. Das Anschauen ist die wichtigste Grundlage, dann folgt die Frage nach der Funktion und schließlich nach der Bedeutung. Da der Mensch erwiesener­ maßen nur das sieht, was er weiß, ist es die Aufgabe der Fachleute, Wissen zur Verfügung zu stellen, um die gotische Baukunst richtig zu sehen, aber auch zu erleben. Eine entpersonalisierte Objekti­ vität gibt es nicht, sondern jeder Be­ trachter ist unfrei, abhängig vom Wan­ del der „Anschauungen“. Der mittelal­ terliche Baumeister war aber ebenfalls nicht frei in seiner Formenschöpfung, in der designatio figurae. Die Beschränkun­ gen sind den gotischen Steinmetzen und Baumeistern durch handwerkliche und geistige Tradition gegeben, letztere in unmittelbarem Einfluß durch den theo­ logisch gebildeten Bauherrn, den sapiens architectus. Über die speziellen Absich­ ten der Bauherren sind leider nur selten und dann recht allgemeine Nachrichten überliefert; auch über die Bewertung der Bauten durch die Zeitgenossen sind wir kaum informiert. Hier sind dadurch für Deutungen fast unbegrenzte Möglich­ keiten eröffnet, die häufig von reicher Phantasie, Wunschvorstellungen aus heutigem Verständnis und ideologischer Sicht geprägt sind.

E in le itu n g 8 E in le itu n g

Grundsätzlich ist immer die Frage nach der Funktion des Benutzers und des Betrachers eines Werks zu stellen, erst recht bei einer gotischen Kathedrale mit ihrem enormen gestalterischen und konstruktiven Aufwand und ihrer in der Größe immer weiter gesteigerten, alles überragenden Dimension. Die Nutzer der Kathedrale sind der Bischof und das Domkapitel, der Stiftskirche die Kanoniker und Kanonissen und der Klosterkirche die Mönche und Nonnen, an besonderen Festtagen auch eine zumeist große Zahl von Gläubigen, die das Jahr hindurch in ihrer Pfarrkirche versorgt werden, die so groß gebaut war, daß sie für die Pfarrgemeinde ausreicht. Die Kathedrale war Mutter- und Festtagskirche für die ganze Diözese. In den Chorkapellen, im Querhaus, in den Seitenschiffen und teilweise auch vor den Langhauspfeilern standen Altäre, an denen die Kanoniker und Mön­ che ihre Meßpflichten erfüllten und spezielle Messen, u. a. Jahrgedächtnisfeiern, abhielten. Im 13./14. Jh. gab es neben den 52 Sonntagen noch etwa 40-50 Feier­ tage, an denen nicht gearbeitet wurde. Man besuchte dann Gottesdienste, auch häufig am Vorabend zum Festtag. Die Kathedrale diente zudem zur Abhaltung von Prozessionen, die je nach Festtag einzelne Altäre als Stationen aufsuchten; an besonderen Festtagen zog schließlich die Prozession vom westlichen Hauptportal durch das Mittelschiff zum Altar, zunächst zum Kreuzaltar vor dem Lettner, dann zum Hauptaltar im Chor; dabei wurden Reliquiare und auch goldene Schreine mit­ geführt, ein prächtiger Zug, an dem die Geistlichen in farbigen Gewändern in großer Zahl teilnahmen. Der Kirchenraum war durchwirkt von der wohlgeordne­ ten Liturgie mit vielstimmigem Gesang, begleitet von der zarten Musik kleiner, tragbarer Handorgeln. Teilweise dienten die Bischofskirchen zugleich auch als Pfarrkirchen wie z. B. in Straßburg. Die Bischofskirche ist nicht nur kultisch-religiöser und rechtlich-sozia­ ler Mittelpunkt der familia des Bischofs, sondern war auch bis zum allgemeinen Aufkommen der Rathäuser im 13. Jh. zentraler Versammlungs-, Beratungs- und Wahlort für Organe der bürgerlichen Gemeinde und für Rechtsgeschäfte. Inschrif­ ten zeigen die Verbundenheit der Bischofskirche mit dem Rechts-, Verfassungs­ und Wirtschaftsleben der Stadt. Auch hing in einem der Kirchtürme die Sturm­ glocke, und das Geläut wurde bei profanen Ereignissen eingesetzt. So waren Bischofs- und Stiftskirchen integrierender Bestandteil der mittelalterlichen Stadt. Kathedralen, Stifts- und Klosterkirchen übersteigen aber jede auf Nutzungsan­ sprüche ausgerichtete Dimension (capacitas =Aufnahmefähigkeit). Martin Luther kritisierte schon 1538 die große Höhe und Vielschiffigkeit: „Die Peterskirche zu Rom, der Kölner Dom und das Ulmer Münster sind riesig und unpraktisch.“ Was also ist der Grund für Größe und Aufwand? Sicher ist der Kirchenbau, die ecclesia materialis, das Abbild der ecclesia spiri­ tualis, die aus den Gläubigen, den lapides vivi, gefügt wird. Die Gläubigen ihrer­ seits sind die Kirche: wenn zwei oder drei im Namen des Herrn versammelt sind, ist Gott selbst mitten unter ihnen; es ereignet sich Kirche. Sie ist zwar nicht die Kirche als Ganzes, d. h. das ganze Volk Gottes, sie repräsentiert aber die Kirche. Ebenso ist der Kirchenbau nicht der Tempel Gottes, sondern er weist mit Bezug auf den Tempel Salomos durch den materiellen Kirchenbau auf die ecclesia spiri­ tualis, das Himmlische Jerusalem der Apokalypse, die Gemeinschaft der Heiligen. Also letztlich dient der Kirchenbau ebenso wie die in ihm vollzogene Liturgie zur geistigen Hinführung auf das Gottesreich, zur Anregung der Seele: „Als mich ein­ mal aus Liebe zum Schmuck des Gotteshauses (ex dilectione decoris domus dei) die vielfarbige Schönheit der Steine von den äußeren Sorgen ablenkte und wür­ diges Nachsinnen (honesta meditatio) mich veranlaßte, im Übertragen ihrer verschiedenen heiligen Eigenschaften von materiellen Dingen zu immateriellen zu verharren, da glaubte ich mich zu sehen, wie ich in irgendeiner Region außer-

Eine m ittelalterliche Baubeschreibung

Heinrich von Veldecke, Eneide, um 1270:

Da lagen nach vier Richtungen vier Steine wohl behauen, die man gerne anschaute. Das sagte man uns w ahrheitsgem äß. Darauf standen zwei Schwibbogen. Der gelehrte M ann Geom etras, der des Werkes M eister war, hatte sie m it Sorgfalt errichtet. Sie waren 20 Fuß hoch, er verstand es vorzüglich abzuzielen, daß sie zusam m enkam en oben kreuzweise. Das w ar vorzüglich zu rühm en, w ie uns die Buchquelle bezeugt. Da wurde ein Schlußstein eingefügt, ich glaube, er w ar aus Porphyr. D arau fstand ein Pfeiler aus M arm o r 40 Fuß hoch und w ar so geschaffen, daß große Kunst daran sichtbar wird. A uf ihm lagein Kämpferstein rund, sieben Fuß breit. Das w ar eine große M üh e, die man leicht bew ältigte. D arauf setzte man kunstvoll m it Kehle ein M auerw erk, das sich e rw e iterte rundherum nach allen Seiten in die Länge und in die Breite, m it jedem Steine um eine reichliche Spanne. Der M eister hatte es so bemessen. Es w urde 40 Fuß hoch und 20 im Lichten. Es w ar sinnvoll errichtet.

Da lagen in vier synnen Vier steyne wolgehow en, Die man gerne mochte schowen. Daz saget man uns vur ungelogen. Dar uffe stunden zwene swibogen. D erw ise man Geometras, D er des Werkes m e is te r w as,

Er w orchte sie m it muzze. Sie waren hoch zwenzic vuzze, Des konde er wol geramen. Do die zu samne quam en In cruze w isobenne, Daz was wol zu lobenne, Als uns daz buch urkunde gibit, Da w art ein simez stein u f geligit, Ich w ene er purfir were. Da uffe stunt ein pfilere Von marm ore vierzic fuzze ho Und was gem eistert also Daz michel list dar ane schein Und dar uffe lac ein simez stein, Sinewel und siben fuzze breit. Daz was ein michel erbeit, Des man lutzel bedorfte. Dar uffe man worchte M it simeze bereite Ein werc daz sich breite AI umbe in allen siten In die lenge und in die w iten Zu igelichem steine Guter spannen eine. Der meister ram te es also. Ez was fierzic fuzze ho Und fierzic w ie t inbinnen. Ez was geworcht m it sinnen.

Henric van Veldeken, Eneide. Hrsg. Gabriele Schieb,Theodor Frings (= D t.Texte des M ittelalters 5 8 ,1). Berlin 1964, S. 668, Vers 9 4 2 2 -9 4 5 6 .

10 Beauvais, Kathedrale Saint-Pierre, Chor von Osten, Chorum gang und Kapellenkranz 1 2 2 7 -1 2 4 5 , Hochchor und Einwölbung 1 2 5 5 -1 2 7 2 . Dünne, 50 m hohe Strebepfeiler m it Strebebogen stützen das Gewölbe und bilden zugleich ein mehrschichtiges Netz um den Hochchor.

Einleitung 11

1 0 Einleitung

halb des Erdkreises, die nicht ganz im Schmutz der Erde, nicht ganz in der Rein­ 11 Salisbury, Kathedrale, Südostansicht heit des Himmels lag, mich aufhielt und glaubte, daß ich, wenn Gott es mir 1 2 2 0 -1 2 6 8 , Vierungsturm 14.Jh. gewährt, auch von dieser unteren Region zu jener höheren in hinaufführender Weise ( anagogicomore) hinübergetragen werden könne."7 Die von Abt Suger 1140 verfaßte Inschrift auf den vergoldeten Bronzetürflügeln im Westportal von Saint-Denis, der Grabeskirche der französischen Könige, besagt es sehr deutlich: Edel erstrahlt das Werk, doch das Werk, das edel erstrahlt, soll die Herzen erhellen, so daß sie durch wahre Lichter zum wahren Lichtgelangen, wo Christus die wahre Tür ist.... Der schwerfällige Geist erhebt sich mit Hilfe des Materiellen zum Wahren."8 Die Pracht der in der Liturgie benutzten Gegenstände, die orna­ 7 S u g e r v o n S a in t-D e n is , De adm inistratione, menta ecclesiae (Altar, Bücher, Reliqniare, Antependien, Kreuze usw.), soll durch die subtile Arbeit (honor, labor operis), durch Gold und Edelsteine zum Staunen S a tz 2 2 4 ; ed. C ü n t h e r B in d in g , A n d r e a s Speer. D a r m s t a d t 2 0 0 0 (im D ru c k ). anregen und die geistige Bedeutung sichtbar machen.- de materialibus ad imma­ 8 W ie vo rh er, S a tz 1 7 4 . S ie h e a u c h S e ite 4 4 . terialia excitans.9 Ebenso sollen auch Größe und Pracht des Gotteshauses auf 9 S u g e r vo n S a in t-D e n is , De adm inistratione, Erden weithin wirksam über den Ort, über diese Welt, hinausragen und die S a tz 2 6 4 ; B in d in g -S p e e r ( w ie A n m . 7).

12 Troyes, Kathedrale Saint-Pierre et SaintPaul, Südansicht, Anfang 13. Jh. begonnen, Hochchor vor 1241, Langhaus und W esttürm e 15. Jh.

10 B in d in g ( 1 9 9 8 ) S. 1 0 1 - 2 1 8 . 11 B in d in g ( 1 9 9 8 ) S. 2 3 2 - 2 3 6 .

Größe und Bedeutung der ecclesia anzeigen und auch die herausragende Stel­ lung der Gott dienenden und die Kirche auf Erden führenden Personen verdeut­ lichen, die sich durch Gründung bzw. Stiftung des Kirchenbaus auch den Himmel „erkaufen“ wollen. Und schließlich ist der Kirchenbau für die Gemeinschaft der Gläubigen, für die Benutzer gebaut und setzt deren Fähigkeit zum Staunen und Fragen voraus, nicht jedoch deren Verständnis, dafür fehlt der Bevölkerung eine ausreichende Bildung.10 So wendet sich der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux 1124/25 in einer Streitschrift gegen „die ungeheure Höhe der (Kloster-)Kirchen, die maßlosen Län­ gen, überflüssigen Breiten, verschwenderischen Steinmetzarbeiten und die unge­ wöhnlichen Malereien, die den Blick der Betenden auf sich lenken und die Andacht verhindern.... Freilich die Sache der Bischöfe ist eine andere als die der Mönche. Wir wissen nämlich, daß jene, da sie Weisen und Unweisen verpflichtet sind, die Andacht des fleischlich gesinnten Volkes mit materiellem Schmuck anre­ gen, weil sie es mit Geistigem nicht vermögen.“11

E in le itu n g

Hymnus an die Gotik - oder Erleben einer gotischen Kathedrale

Ihrer krausen, komplizierten Sprache hingegeben stehe ich beobach­ tend vor den bizarren Formen: aneinandergereiht, geordnet, Wieder­ holungen immer gleicher Elemente - beeindruckt vom großen Zau­ ber der Formen, geometrischer und vegetabiler: in Stein gefestigte Natur, die gotische Kathedrale. Das Unüberschaubare, Aufstrebende, in den blauen Himmel Ausschweifende - unzählig - vom Boden ab­ gehoben, zierlich, gestaffelt, aufgetürmt, ohne den Blick auffan­ gende, beruhigende Flächen, ein ruheloses Umherirren, Staunen, bedrückt von der geordneten Vielfalt; die lebendige Schönheit der Kunst wie des Geistigen: pulchritudo. Ich befinde mich im Einklang mit Gesetzen und Proportionen, über die sich nicht ungestraft hinwegsetzen kann, wer selbst diesen Mustern entspricht und entstammt. Gesetze und Proportionen der Geometrie, wie sie Vitruv, Leonardo und Dürer aufgezeigt haben, als homo quadratus oder homo circulus, geschaffen nach Strukturen, wie sie dem ordo mundi zugrunde liegen. Das Betrachten solcher Gebilde erzeugt ein Gefühl von Überein­ stimmung unseres Innern mit dem Willen, der diese Gebilde entste­ hen ließ, Schöpfungen von begnadeten Menschen, die die Grenze zwischen Formen und Stimmung zerfließen lassen. Entdeckungen, an denen unsere Seele, unser Gefühl immer teilhat. Großartig Ge­ bautes, in Stein beständig, für Gott, die Ewigkeit, geschaffen und doch so zerbrechlich, frei von erdgebundener Schwerkraft, in den Himmel wachsend, unwirklich und doch sichtbar, ein Erlebnis uner­ warteter, unbekannter und nicht formulierbarer Gefühle, Ahnungen vom Unendlichen, Übernatürlichen, ein Gefühl, dem Schöpfer dieser Welt, dem sapiens architectus et artifex mundi, nahe zu sein. In die Tiefe gezogen, begleitet, beobachtet, empfangen von ern­ sten, schlanken, königlichen Statuen, belehrt von vielfigurigen Re­ liefs im Tympanon des Portals betreten wir durch die porta coeli die ecclesia materialis, Abbild der ecclesia spiritualis. Im Innern das Licht, das Leichte, das Aufstrebende, das Weite, linear und gitterhaft, unüberschaubar und zugleich unendlich in der Zahl der Glieder und Formen, die zueinander geordnet, auch einan­ der untergeordnet sind. Da stehen lange Reihen von schlanken run­ den Stämmen vom Erdboden empor, tragen raumhaltige Wände. Ungeheuer dehnt sich darauf die Wölbung: Rippen wie schmale Schatten, dazwischen dünne Häute gespannt, aufgebläht, ein ge­ wölbtes Seidenzelt über vielfältigem Gestänge. Alles ist eingetaucht in das den Raum durchflutende, beherrschende Licht, das von den farbigen Fenstern ausgeht: rot, blau, ein Spiel der Farben, Strahlen im Raum, Lichtflecke auf den Baugliedern: wandernd, wandelnd, vergehend. Die Farbe, die erst durch das göttliche Licht sichtbar und wirksam wird; das Licht, die Wahrheit Gottes, der alle Formen nach seinem Willen, nach seiner Vorstellung geschaffen hat: utpote in mente architectoris formam et similitudinem domus fabricandae.12 Dieses göttliche „Geheimnis“ mutet mich an, läßt mich gefühl­ voll, ergeben, beflügelt, dankbar, beglückt mein Sein erleben als Teil der göttlichen Ordnung, eingebunden, bewahrt, gesichert. Dieses beruhigende, tröstliche, beglückende Gefühl der Geborgenheit in einem unwirklichen und doch seienden Raum, aus der unendlichen Welt herausgenommen, eingefügt in ein erkennbar begrenztes, den Gesetzen der Welt entsprechendes und schützendes Bauwerk, das sich von der Behausung so unendlich unterscheidet, schafft Sicher­ heit, Zuversicht und läßt einen Hauch Gottes spüren.

12a Glasfenster aus Köln, 1 2 8 0 /9 0 (Leihgabe aus Privatbesitz im W est­ fälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte M ünster).

12 „Entsprechend existiert im Geiste des Baumeisters die Form und das Abbild des Hauses, das gebaut werden soll“ (Bischof Robert Grosseteste um 1228 in seinem Brief„De unicaforma omnium").

13 Straßburg, Münster, Westansicht, 1277 unter Erwin von Steinbach begonnen, Rosengeschoß um 1295.

I

1 4 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

G otik-Begriff und Forschungsgeschichte 15

15 Bauarbeiten an einer Kirche, Censier der Abtei Sainte-Geneviève in Paris, 1276 (Archives Nationales, Pièce S 16261, fol. 20 - Bi 415a).

1

v. S im s o n ( 1 9 7 2 ) 5 . 1 .

2

Gross ( 1 9 6 9 ) S. 5.

3

B o d o W. J a x th e im e r : G o tik (= K n a u rs S til k ü n ­

de). M ü n c h e n , Z ü ric h 1 9 8 2 , 5.15. 4

F r a n k l ( I 9 6 0 ) . - J a n tz e n ( 1 9 5 7 ) 5 . 1 5 7 - 1 6 2 .

- J a n tz e n ( 1 9 6 2 ) 5. 4 2 - 4 9 . -

G ross ( 1 9 6 9 ) 5.

5 - 2 1 . - G e o rg G e r m a n n : G o tik . G e s c h ic h te ih re r A r c h it e k t u r t h e o r ie . S t u t t g a r t 1 9 7 4 (E n g l. A u s ­ g a b e : G o th ic R e v iv a l in E u ro p e a n d B rita in . L o n ­ d o n 1 9 7 2 ) . - H a n n o - W a l t e r K r u ft: G e s c h ic h te d e r A r c h it e k tu r t h e o r ie . M ü n c h e n 1 9 8 5 .

5 E rw in P a n o fs k y : D a s e r s te B l a t t a u s d e m 8L ib ro 9 G io rg io Vasaris. E in e S tu d ie ü b e r d ie B e u r­ te ilu n g d e r G o tik in d e r ita lie n is c h e n R e n a is ­ sance. In : S tä d e l-J b . 6 , 1 9 3 0 , 5. 2 5 - 72. - R u d o lf W it t k o w e r : G o th ic versus C lassic. A r c h it e c t u r a l P ro je c ts in S e v e n te e n t h C e n tu r y Ita ly . L o n d o n 1 9 7 4 . - N in o C a r b o n e r i: R ifle s s io n i s u l B arocco. G e n u a 1 9 8 3 , bes. S. 2 0 3 - 2 7 1 .

14 Troyes, Kollegiatskirche Saint-Urbain, 1 2 6 2 -1 2 6 6 , Verglasung um 1270.

A n m . 6, 7 n ä c h s te S e ite

„Der Ausdruck 'Gotische Kathedrale’ruft in uns ein so klares und bestimmtes Vor­ stellungsbild herauf, wie kaum ein anderer Gebäudetyp.''1 Mit dieser Feststellung beginnt Otto von Simson sein 1968 erstmals in deutscher Sprache erschienenes Buch über „Die gotische Kathedrale“. Fragt man aber genauer nach, wie denn das „bestimmte Vorstellungsbild'' aussieht und worauf es sich gründet, dann fehlt dar­ auf jede Antwort, denn es gibt nicht „die gotische Kathedrale“ und auch nicht „die Gotik“, sondern unsere Vorstellung wird von einem vielfältigen Bild geprägt, das sich von Zeit zu Zeit und von Betrachter zu Betrachter ändert. Auch ist die 1969 von Werner Gross einleitend formulierte Auffassung weit von der Wahrheit entfernt, daß „im heutigen Bewußtsein ... die gotische Bauweise zu jenen Kunstschöpfun­ gen (zählt), deren Art und Wert, Entstehung und Entwicklung als hinreichend geklärt gelten. Doch weiß man auch, daß dies gerade bei der Gotik keineswegs immer der Fall war.“2 Mit der Frage, was das „Gotische“ ist, haben sich zunächst im 16. und 17. Jh. ita­ lienische Theoretiker und Baumeister beschäftigt, wenn auch ablehnend. Um eine positive Würdigung bemühten sich im 18. Jh. Franzosen und besonders Engländer und schließlich Goethe in seinem enthusiastischen Aufsatz von 1772 über das Straßburger Münster als Ausdruck deutscher Baukunst. Im 19. Jh. wurde durch Viollet-le-Duc, Kugler, Dehio, von Bezold und andere ein ungeheurer Fortschritt in der Bereitstellung von Beobachtungen und sachlichem Einzelwissen befördert, auf denen bis heute - angereichert durch Einzeluntersuchungen - die Beurteilung der Gotik erfolgt. Weit über Kuglers Darstellung von 1859 sind wir aber grundlegend nicht hinausgekommen. Bodo Jaxtheimer vertritt 1982 die Ansicht, daß unsere Kenntnisse von der Gotik gegenüber Goethes Äußerungen von 1772 „umfassender“ geworden sind und „daß uns heute - ganz abgesehen von allgemeinen kunsthistorischen Interessen etwas sehr nahe mit der Gotik verbindet: eine ähnliche Baugesinnung. Sie erfüllt offenbar einige der besten Architekten unserer Zeit, und wie in der Hochgotik gip­ felt sie in der Überzeugung, daß vollendete Architektur gleichbedeutend ist mit materialgerecht rationellster Konstruktion.“3 Das entspricht der Auffassung von Viollet-le-Duc (1858/68), der meinte, in der Gotik ähnliche Tendenzen wie in den zeitgenössischen Eisenkonstruktionen zu erkennen. Dem stehen jedoch die Unter­ suchungsergebnisse moderner Statiker gegenüber, die sehr komplizierte Kräfte­ verhältnisse in den gotischen Konstruktionen nachweisen. Aus dem Verlauf der über 500jährigen Gotik-Beurteilung läßt sich ein sehr wechselndes Bild von der Gotik erkennen.4 A b le h n e n d e B e u r te ilu n g

Die Italiener sahen mit dem Aufkommen der Renaissance eine Überwindung der verwerflichen Baukunst des finsteren Mittelalters (le tènebre) durch die klassi­ schen Formen.5 Lorenzo Valla (1406-1457) unterscheidet 1440 zwischen gotischen und römischen Buchstaben (codices gothice scriptos); alles Gotische ist bei ihm schlecht, alles Schlechte gotisch.6 Die gleichen Erscheinungen nennt Giorgio Vasari (1511-1574) 1550 u. a. „maniera tedesca“ bzw. „maniera de’ Goti“ und „Questa maniera fu trovata dai Goti “.7 Vasari benutzt den Namen Gotik, um damit seiner Verachtung gegenüber der Kunst des Nordens, der Goten, Ausdruck zu geben, und beschreibt deren Baukunst als monströs und barbarisch, denn jeder Begriff von Ordnung ist darin vergessen, so daß man eher von Verwirrung und Unordnung sprechen müßte. „In diesen Gebäuden, deren so viele sind, daß sie die ganze Welt verpestet haben, schmückte man die Portale mit dünnen, nach Art der Rebe gewundenen Säulen, welche keine Kraft haben, ein Gewicht zu tragen, wie leicht es auch sei. Und so machte man über alle diese Fassaden und anderen ornamenta-

G o tik -B e g riff und Forschungsgeschichte 17

16 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

len Teile hin von jenen verfluchten Tabernakelchen (tabernacolini), eins aufs ande­ re, mit so vielen Pyramiden, Spitzen und Laub, daß sie unmöglich stehen, geschweige denn etwas tragen zu können scheinen und eher wie aus Papier (fatte di carta) als wie aus Stein oder Marmor gemacht aussehen. Auch wurden in diesen Werken so viele Vorsprünge, Durchbrüche, Kragsteinchen und Reblinge gemacht, daß sie jede Proportion verloren, und oft erreichten die Portale, bei denen eins aufs andere gestellt war, eine solche Höhe, daß ihr Ende das Dach berührte.... Sie kon­ struierten nun die Gewölbe m it... Spitzbogen über dem viergeteilten Kreisdurch­ messer und füllten ganz Italien mit diesen verfluchten Gebäuden.“8 Philibert de l'Orme (um 1512-1570) bezeichnet in seinem Architekturtraktat von 1567 Rip­ pengewölbe mit herabhängenden Schlußsteinen als Gewölbe „à la mode Françoi­ se“.9 Filippo Baldinucci (1624-1696) zählt in seinem „Vocabolario Toscano dell’arte del disegno“ (1681) unter den antiken Ordnungen auch die „Ordine Gottico“ als „maniera Tedesca“ auf.10 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Auseinandersetzung um die Entwürfe für die Fassade von San Petronio in Bologna. Andrea Palladio (1508-1580) äußert beispielsweise, daß alle vorhandenen Zeichnungen nichts taugen würden und die relativ beste noch die „gotische“ des seit 1568 amtieren­ den Architekten Francesco Terribilia (gest. 1603) sei. Ferner verweist er auf andere gotische Bauten: San Marco und die Frarikirche in Venedig, Mailänder Dom, Certo­ sa von Pavia, die Dome von Orvieto, Siena und Florenz, der Palazzo Ducale und der Palazzo Communale von Vicenza. Darüber hinaus empfiehlt er eine größere Spar­ samkeit hinsichtlich der „intagli“ und „piramidi“.11 Die von Italien abhängige und überwiegend vitruvianisch ausgerichtete Kunsttheorie der nordischen Länder, vor allem in Frankreich und Deutschland, hat im 17./18. Jh. ebenfalls das barbarische Zierwerk der gotischen Bauten abgelehnt.12 In der Tradition von Vasari steht noch Johann Georg Sulzer (1720-1779) in sei­ ner „Allgemeinen Theorie der Schönen Künste“. „Man bedient sich dieses Beiworts in den schönen Künsten vielfältig, um dadurch einen barbarischen Geschmack anzudeuten;... Fürnehmlich scheint er (der Ausdruck) eine Unschicklichkeit, den Mangel der Schönheit und guter Verhältnisse, in sichtbaren Formen anzuzeigen, und ist daher entstanden, daß die Goten, die sich in Italien niedergelassen, die Werke der alten Baukunst auf eine ungeschickte Art nachgeahmt haben.... Das Gotische ist überhaupt ein ohne allen Geschmack gemachter Aufwand auf Werke der Kunst, denen es nicht am Wesentlichen, auch nicht immer am Großen und Prächtigen, sondern am Schönen, am Angenehmen und Feinen fehlt.... Darum nennt man nicht nur die von den Goten aufgeführten plumpen, sondern auch die abenteuerlichen und mit tausend unnützen Zieraten überladenen Gebäude, wozu vermutlich die in Europa sich niedergelassenen Sarazenen die ersten Muster ge­ geben haben, gotisch.“13 Entsprechend formuliert Christian Ludwig Stieglitz (1756-1836) in seiner „Encyklopädie der bürgerlichen Baukunst“ 1794: „Man nennt überhaupt alles Gotisch, wo sich in Werken der Kunst ein ohne allen Geschmack gemachter Aufwand zeigt. Solchen Werken fehlt es nicht am Wesentli­ chen, auch nicht am Großen und Prächtigen, sondern am Schönen. Daher nennt man eine Bauart Gotisch, welche von dem Charakter und den Proportionen der Griechischen und Römischen Bauart gänzlich abweicht, eine Bauart, die zwar dau­ erhaft, prächtig und zierlich, aber auch mit einer Menge unnötiger und unschick­ lich angebrachter Zierraten überladen ist.“14 Die Kritik an der Gotik mag heute ästhetisch wie historisch unverständlich erscheinen, sie erfaßte jedoch Eigentümlichkeiten, die auch wir als wesentlich empfinden: das Vertikale, Emporsteigende, Illusionistische, Zerbrechliche, Fili­ grane.

A n t iq u a r is c h -e n th u s ia s tis c h e E in s te llu n g

6 Z it. F r a n k l ( 1 9 6 0 ) 5. 2 6 0 . - D a s b e i F r a n k l 5. 2 5 9 a u f g e f ü h r t e u n d h ä u f i g w ie d e r h o lt e Z it a t , w o n a c h L e on B a t t is t a A l b e r t i ( 1 4 0 4 - 1 4 7 2 ) in s e in e n „ D e ila p i t t u r a lib r i t r e “ 1 4 3 5 e r s tm a ls „ m a n i ... ve c c h izze e t g o t ic h e “ v e r w e n d e t h a b e , is t u n z u t r e f f e n d : es is t „ z o t i c h e “ z u le s e n ; vgl. C ia n f r a n c o F o le n a : N o te r e lle lessicali a lb e r tia n e . In : L in g u a N o s tr a 1 8 , 1 9 5 7 , S. 6 f. (H in w e is v e r ­ d a n k e ich P ie rg iu s e p p e S c a rd ig li). 7

F r a n k l ( 1 9 6 0 ) 5 . 2 9 2 f , 2 9 4 , 2 9 7 f , 8 5 9 . - V asa­

ri n e n n t im Leben des A r n o lf o d i L a p o d e n P a la s t d e r S ig n o r i z u A re z z o „ u n p a la z z o d e l la m a n ie r a

15 Ü b e r s e tz u n g

d e i G o t t h i “ u n d „ la v o r i, c h e si c h ia m a n o Tedes-

a r c h ite k to n is c h e U r t e i l in d e r R e n a is s a n c e . In :

vo n

H u b e rtu s

G ü n th e r : D a s

c h i“. M . G io rg io V a s a ri: Le v it e d e 9 p iü e c c e lle n t i

D e r A r c h it e k t 1 9 9 8 , S. 3 9 4 - 4 0 2 , Z i t a t S. 4 0 2 .

p it t o r i, s c u lto ri e a r c h ite t to r i. G u in t i 1 5 6 8 . In tr o -

16 B a t t y u n d T h o m a s L a n g le y : G o th ic A r c h it e c ­

d u z io n e , d e ll a rc h . 1,3, 5. 2 6 , 2 7 , z it . n a c h H u g o

tu re . L o n d o n 1 7 4 2 (3. A u fl. L o n d o n 1 7 4 7 , R e p rin t

G r a f O p u s F ra n c ig e n u m . S tu d ie n z u r F ra g e n a c h

F a rn b o ro u g h 1 9 6 7 ) . - B e r n a r d d e M o n t f o u c o n :

d e m U rs p rü n g e d e r G o th ik . S t u t t g a r t 1 8 7 8 , S. 7f.

M o n u m e n t s s u r l'A r c h ite c tu r e . La H a y e , P aris

8

G io rg io V asa ri: Le v ite d e 9 p iü e c c e lle n ti p i t t o ­

ri, s c u lto r i e a r c h it e t t o r i, H rs g . R o s a n n a B e t t a r i-

1 7 5 5 ( N a c h d r u c k G r e g g Press 1 9 6 6 ) , bes. S. 2 5 1 - 2 6 3 , 2 7 5 f f . - J e a n L e b eu f. H is to ir e d u d io ­

n i. F lo r e n z 1 9 6 6 f f . - T e ila b d r u c k b e i G e r m a n n

cèse d e Paris. 1 5 Bde. Paris 1 7 5 4 - 1 7 5 8 .

( w ie A n m . 4 ) S. 3 6 m i t Ü b e r s e tz u n g . - J a n tz e n

17 P. (M a r c -A n t o in e ) L a u g ie r: Essai s u r l 9A rc h ite c ­

( 1 9 6 2 ) S. 2 2 0 .

tu re . P aris 1 7 5 5 , 2 . A u fl. P aris 1 7 6 5 , Z i t a t S. 2 0 1

9

P h ilib e r t d e l 9O r m e : A r c h it e c tu r e . Le p r e m ie r

(R e p r in t F a r n b o r o u g h 1 9 6 6 u n d B rü sse l 1 9 7 9 ) ,

t o m e d e l 9a r c h ite c tu r e . P aris 1 5 6 7 (w e it e r e A u f ­

d t. Ü bers. F r a n k fu r t, L e ip z ig 1 7 5 6 , 1 7 5 8 , 1 7 7 1 .

la g e n 1 5 6 8 , 1 5 7 6 , 1 6 2 6 ) . Z it. n a c h 5. A u fl. R o u en

18 G e r m a n n ( w ie A n m . 4 ). - L u d g e r J . S u t t h o f f :

1 6 4 8 , f o L 1 0 7 (R e p rin t F a rn b o ro u g h 1 9 6 4 ) .

G o tik im B arock. M ü n s t e r 1 9 9 0 .

10 F ilip p o

19 J o h n C a r t e r in : T h e B u ild e r 9s M a g a z in e . L o n ­

B a ld in u c c i:

V o c a b o la r io

To sca n o

5.5 3 .

d e l l 9a r t e d e l d is e g n o . F lo r e n z 1 6 8 1 , S. 1 1 3 : „ m a

d o n 1 7 7 8 , z it. G e r m a n n (A n m . 4 )

d i f a z z i o n e in t u t t o b a r b a r a , co n s o ttilis s im e

20 Im N o v e m b e r 1 7 7 2 e r s c h ie n e n in F r a n k f u r t

c o lo n n e , e s m is u r a ta m e n t e lu n g h e , a u u o lte , e in

als a n o n y m e F lu g s c h r ift, v o r d a t ie r t a u f 1 7 7 3 .

p i ù m o d i s n e r u a t e , e p o s te T u n a s o p r a l 9a lt r a ,

G o e th e h a t d e n A u f s a tz n a c h s e in e r V e r ö ff e n t li­

con u n 9 in f in i t a d i p ic c o li ta b e r n a c o li, e p ir a m id i,

c h u n g in H e r d e r s S a m m lu n g

r is a lt i, r o t t u re, m e n s o lin e ,f o g li a m i , a n im a li, e

G o t t f r ie d H u t h s A llg e m e in e m M a g a z i n f . d ie

( 1 7 7 3 ) u n d in

v itic c i, p o n e n d o s e m p r e co sa s o p r a cosa, s e n z a

b ü r g e r lic h e

a lc u n a r e g o la , o r d in e , e m is u r a , c h e v e d e r si

3. H e f t des 4 . B a n d e s s e in e r Z s .„ Ü b e r K u n s t u n d

p o s s a co n g u t s t o “ (H in w e is vo n M ic h a e l K ien e).

A l t e r t u m “ W ie d e ra b d ru c k e n lassen. D ie W irk u n g

B aukunst

(1 7 8 9 )

e rs t

1824

im

- G e o rg G e r m a n n : Les d ic tio n n a ir e s d e F é lib ie n

w a r g e r in g , so d a ß G o e t h e in „ A u s m e in e m

e t d e B a ld in u c c i. In : R e v u e d 9e s t h é t iq u e 3 1 / 3 2 ,

Leben. D ic h tu n g u n d W a h r h e it “ 3. Teil, 1 2 . B uch,

1 9 9 7 , S. 2 5 3 - 2 5 8 . - G e r m a n n ( w ie A n m . 4 ) 5.

1 8 1 3 , b e m e rk t: „ H ä tt e

1 4 . - A u c h G u a r in o G u a r in i w id m e t sich 1 7 3 7 in

d e n e n ich ih re n W e r t n ic h t a b s p re c h e n w ill, k la r

ich

d ie s e A n s ic h te n ,

ä h n lic h e r W e is e d e r „ O r d in e G o t ic o “; G u a r in o

u n d d e u tlic h , in v o r n e h m lic h e m S til a b z u fa s s e n

G u a r in i: A r c h it e t t u r a c iv ile. T u rin 1 7 3 7 (R e p rin t

b e lie b t, so

Lo n d o n 1 9 6 4 ), 5 .8 3 ,1 3 3 f -

d a m a ls , a ls ich ih n h e ra u s g a b , m e h r W ir k u n g

G e r m a n n (w ie A n m .

h ä tte

der

D ru c k b o g e n

... sc h o n

4 ) S .1 5 f.

g e t a n .“ A u s g a b e : H a n s D ie tric h Ir m s c h e r (H rsg.):

11 P a n o fs k y ( w ie A n m . 5 ) 5. 4 6 , 4 8 - 5 1 . - G e r ­

H e rd e r. G o e th e . Frisi. M ö s e r . V o n D e u ts c h e r A r t

m a n n (w ie A n m . 4 ) S. 1 2 f.

u n d K u n s t. E in ig e f l i e g e n d e B lä t te r . H a m b u r g

12 G e r m a n n ( w ie A n m . 4 ) S. 1 1 - 4 9 .

1 7 7 3 . S t u t t g a r t 21 9 8 3 (R e c la m ), S. 9 5 - 1 0 4 . - Z u

13 J o h a n n G e o rg S u lze r: A llg e m e in e T h e o rie d e r

„ G o e th e v o r d e m S tr a ß b u r g e r M ü n s t e r “ h a t sich

S c h ö n e n K ü n s te . L e ip z ig 1 7 7 1 - 1 7 7 4 , z it . n a c h

R e in h a r d

Bd. 2 , L e ip z ig 21 7 7 8 , S. 3 4 7 ( Z i t a t in m o d e r n e

g e ä u ß e r t, d o r t a u c h d ie w e ite r e L ite ra tu r. - W. D.

S c h re ib w e is e g e ä n d e r t).

R o b s o n -S c o tt: T h e L i te r a r y B a c k g r o u n d o f t h e

14 C h r is t ia n

L u d w ig

d e r b ü r g e r lic h e n

S t ie g litz :

B a u k u n s t.

5

Liess,

L e ip z ig

1985,

a u s fü h r lic h

E n c y k lo p ä d ie

G o th ic R e v iv a l in G e rm a n y . O x f o r d 1 9 6 5 . - N ik o ­

B de.

L e ip z ig

la u s P evs n er: R o m a n t ic G o th ic . G o e t h e a n d

- Vgl.

S tra s s b u rg . In : T h e A r c h it e c t u r a l R e v ie w 9 8 ,

1 7 9 2 - 1 7 9 8 , Z i t a t Bd. 2 ( 1 7 9 4 ) S. 5 3 9 f

a u c h : V on a lt d e u ts c h e r B a u k u n s t. L e ip z ig 1 8 2 0 .

1 9 4 5 , S. 1 5 5 - 1 5 9 .

Neben dieser ablehnenden Tradition finden sich aber auch einzelne positive Stim­ men, wie um 1477 von Francesco Florio, der von Florenz nach Frankreich überge­ siedelt war und die gotische Kathedrale von Tours preist: „Die Kirche ist schön, ins­ gesamt erfreulich, ganz vollkommen, sie stimmt in jedem Teil dermaßen mit sich selbst zusammen, daß sich bei ihrem bloßen Anblick, innen wie außen, Schwer­ mut und Trauer in Heiterkeit und Freude wandelt; alles und die einzelnen Teile stimmen mit soviel Proportion oder sozusagen Harmonie zusammen, daß die Quantität und die Qualität in der Quantität wunderbar wiederscheint. So steht der Bau durch Festigkeit aufrecht, erstrahlt in heller Klarheit, glänzt im Schmuck und vereint alle Grazie.“15 Im zweiten Drittel des 18. Jh.s mehren sich positive Stimmen und objektive, sachbezogene Darstellungen von gotischen Bauwerken. Als Folge des um die Mitte des 18. Jh.s beginnenden antiquarischen Interesses wuchs auch das Interesse an der mittelalterlichen, und hier besonders an der gotischen Bau­ kunst: Batty Langley (1696-1751) „Gothic Architecture“ (1742), der Pariser Bene­ diktinermönch Bernard de Montfoucon (1655-1741) in fünf Bänden „Monuments de la Monarchie Française“ (1729-1733) und Jean Lebeuf (1687-1760) in 15 Bän­ den über die Bauten der Diözese Paris (1754-1758).16 Zu nennen ist auch der Jesui­ tenpater Marc-Antoine Laugier (1713-1769) mit seiner Entwicklung einer „ordre Françoise“ (1753); über den Straßburger Westbau äußert er sich begeistert: „II y a plus art e de genie dans ce seul morceau, que dans tout ce que nous voyons ailleurs de plus marveilleux.“17 Davon hat sich Goethe bei seiner Beschreibung des Straß­ burger Münsters beeinflussen lassen. Gleichzeitig entwickelte sich in England und Deutschland die Wiederbelebung gotischer Formen in Neubauten: das von Horace Walpole (1717-1797) „im gotischen Geschmack“ errichtete Landhaus Strawberry Hill (1748-1777), in Potsdam das von Friedrich dem Großen entworfene Nauener Tor (1755), gotische Bauten in „Englischen“ Gärten wie Kew in England (vor 1753), Weimar (1766) und Wörlitz mit dem „Gotischen Haus“ (1769-1773).18 John Carter (1748-1817) begründet 1778, warum sich der gotische Stil für Kirchenbauten eig­ net, und formuliert die Gedanken, die die neugotische Baukunst in der 2. Hälfte des 18. Jh.s bestimmt haben: „Der griechische Geschmack paßt gewiß am besten für öffentliche Bauten..., aber für Sakralbauten sollte zweifellos die Gotik herange­ zogen werden. Der Unterschied ist leicht zu bemerken;... welche... das Gemüt mehr berührt, welche die frommeren Gedanken eingibt, welche die Sinne mit der größe­ ren Andacht des Himmels über uns erfüllt, welche mehr zur Betrachtung des künf­ tigen Lebens einlädt.“19 Der 23jährige Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) nimmt in seinem 1772 zunächst als anonyme Flugschrift verbreiteten Aufsatz „Von deutscher Bau­ kunst, D. M. Ervini a Steinbach“ angesichts des Straßburger Münsters enthusia­ stisch Stellung20: „Und nun soll ich nicht ergrimmen, heiliger Erwin, wenn der deutsche Kunstgelehrte, auf Hörensagen neidischer Nachbarn, seinen Vorzug ver­ kennt, dein Werk mit dem unverstandenen Wort ‘gotisch’ verkleinert...., das ist deutsche Baukunst, unsere Baukunst, da der Italiener sich keiner eignen rühmen darf, vielweniger der Franzos.“ Goethe ist ergriffen von der Leistung des Genies, „dem Baumeister, der Berge auftürmte in die Wolken“. Er bemüht sich, die gotische Kathedrale als große Kunstschöpfung darzustellen, ausgehend von der Frage nach den schönen Verhältnissen. „Die Harmonie der Massen, die Reinheit der Formen“, die „ohne Gestaltsverhältnis zusammenstimmen, denn eine Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen. Diese charakteristische Kunst ist nun die einzige wahre. Wenn sie aus inniger, einiger, eigner, selbstständiger Empfindung um sich wirkt, unbekümmert, ja unwissend alles Fremden, da mag sie aus rauher Wildheit, oder aus gebildeter Empfindsamkeit geboren werden, sie ist ganz und lebendig....

G otik-Begriff und Forschungsgeschichte 19

18 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

Je mehr sich die Seele erhebt zu dem Gefühl der Verhältnisse, die allein schön und von Ewigkeit sind, deren Hauptakkorde man beweisen, deren Geheimnisse man nur fühlen kann.“ Nicht der streng proportionale Bezug der Teile zum Ganzen, wie in der Nachfol­ ge der Architekturtheorie Vitruvs die Proportionen immer wieder bestimmt wur­ den, sondern eine die Einzelbildungen geheimnisvoll übergreifende Formenver­ bindung sei es, welche als das in der Gotik herrschende, dem antiken gleichwertige Kunstgesetz zu gelten habe.21 Mit keinem Wort erwähnt er den farbig durchlichte­ ten Innenraum, auch nicht 1811-1813 in „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. Hier bringt er aber eine einfühlsame Beschreibung der Straßburger Westfassade: „Jemehr ich die Façade desselben betrachtete, desto mehr bestärkte und entwickelte sich jener erste Eindruck, daß hier das Erhabene mit dem Gefälli­ gen in Bund getreten sei.... Die Öffnungen der Mauer, die soliden Stellen derselben, die Pfeiler, jedes hat seinen besonderen Charakter, der aus der eignen Bestimmung hervortritt; dieser kommuniziert sich stufenweise den Unterabteilungen, daher alles im gemäßen Sinne verziert ist, das Große wie das Kleine sich an der rechten Stelle befindet, leicht gefaßt werden kann, und so das Angenehme im Ungeheue­ ren sich darstellt. Ich erinnere nur an die perspektivisch in die Mauerdicke sich einsenkenden, bis ins Unendliche an ihren Pfeilern und Spitzbogen verzierten Türen, an das Fenster und dessen aus der runden Form entspringende Kunstrose, an das Profil ihrer Stäbe, so wie an die schlanken Rohrsäulen der perpendikulären Abteilungen. Man vergegenwärtige sich die stufenweise zurücktretenden Pfeiler, von schlanken, gleichfalls in die Höhe strebenden, zum Schutz der Heiligenbilder baldachinartig bestimmten, leichtsäuligen Spitzgebäudchen begleitet, und wie zuletzt jede Rippe, jeder Knopf als Blumenknauf und Blattreihe, oder als irgend ein anderes im Steinsinn umgeformtes Naturgebilde erscheint.... Nun aber erkannte ich noch die Verknüpfung dieser mannigfaltigen Zierarten unter einander, die Hinleitung von einem Hauptteile zum andern, die Verschränkung zwar gleicharti­ ger, aber doch an Gestalt höchst abwechselnder Einzelnheiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer, vom Blatt bis zum Zacken.“22 1773 druckt Herder Goethes Aufsatz zusammen mit einem Beitrag des Italie­ ners Paolo Frisi„Saggio sopra l'architettura gotica“ (Versuch über die gotische Bau­ kunst), Livorno 1766, wo dieser sich gegen die italienische Renaissance-Kritik wen­ det.23 Die bei Goethe anklingende Naturbezogenheit hat Georg Förster (1754-1794) bei der Beschreibung des Kölner Doms 1790 aufgenommen: „So oft ich Köln besu­ che, geh ich immer wieder in diesen herrlichen Tempel, um die Schauder des Erha­ benen zu fühlen. Vor der Kühnheit der Meisterwerke stürzt der Geist voll Erstau­ nen und Bewunderung zur Erde; dann hebt er sich wieder mit stolzem Flug über das Vollbringen hinweg, das nur eine Idee eines verwandten Geistes w ar.... Die Pracht des himmelan sich wölbenden Chores hat eine majestätische Einfalt, die alle Vorstellung übertrifft. In ungeheurer Länge stehen die Gruppen schlanker Säu­ len da, wie die Bäume eines uralten Forstes: nur am höchsten Gipfel sind sie in eine Krone von Ästen gespalten, die sich mit ihren Nachbarn in spitzen Bogen wölbt, und dem Auge, das ihnen folgen will, fast unerreichbar ist. Läßt sich schon das Unermeßliche des Weltalls nicht im beschränkten Raum versinnlichen, so liegt gleichwohl in diesem kühnen Emporstreben der Pfeiler und Mauern das Unauf­ haltsame, welches die Einbildungskraft so leicht ins Grenzenlose verlängert.“24 Den Vergleich mit Bäumen bringt auch Francois René Chäteaubriand (1768-1848) in „Génie du Christianisme“ 180125: „Die gotische Ordnung enthält mitten in ihren fremdartigen Verhältnissen dennoch eine eigentümliche Schönheit.... Jene mit Blätterwerk ausgemeißelten Gewölbe, jene Pfeiler, welche die Mauern stützen,

16 Caspar David Friedrich (1 7 7 4 -1 8 4 0 ), Klosterfriedhof im Schnee, Ölgem älde 1819 (ehern. Nat.-Galerie in Berlin, verbrannt).

26 J a m e s H a ll: Essay o n th e O r ig in , H is to ry , a n d P rin c ip ie s o f G o th ic A r c h it e c tu r e . L o n d o n , E d in ­ b u r g h 1 8 1 3 . - G e r m a n n ( w ie A n m . 4 ) 5. 2 9 . Jurgis B a ltru s a itis : Im a g in ä r e R e a litä te n . F ik tio n u n d Illu s io n als p r o d u k t iv e K r a ft. K ö ln 1 9 8 4 , S. 9 0 - 1 1 3 . - S cho n 1 6 9 9 h a t J e a n -F ra n ç o is F é lib i­

21 C ross ( 1 9 6 9 ) S. 6. 22 J o h a n n W o lf g a n g v o n G o e th e : A u s m e in e m

en ( 1 6 5 8 - 1 7 3 3 ) d e n V erg leich m i t B ä u m e n v o r­ g e n o m m e n : „Les p la n s e t les d e s c r ip t io n s ... u n e

L e b e n . D ic h t u n g u n d W a h r h e it . 2 . Teil, 9 . B uch.

D i s s e r t a t i o n 1 6 9 9 . - G e rm a n n (w ie A n m . 4 ) S. 27.

H rs g . P e te r S p r e n g e l (= S ä m tlic h e W e rk e , H rs g .

27 J. C. C o s te n o b le : L ie b e r a lt d e u ts c h e A r c h it e k ­ t u r u n d d e re n U r s p r u n g . H a lle 1 8 1 2 , 5. 7 3 - 7 6 .

K a r l R ic h te r, Bd. 1 6 ) . M ü n c h e n , W ie n

1995,

5. 4 1 2 - 4 1 7 .

Er b e h a n d e lt u n t e r d e m T ite l „ A ltd e u ts c h e B a u ­

23 D e n T e x t s ie h e Ir m s c h e r ( w ie A n m . 2 0 ) S.

k u n s t4' a u s s c h lie ß lic h g o tis c h e B a u fo r m e n .

1 0 7 -1 2 2 .

28 F rie d ric h S chlegel: G r u n d z ü g e d e r g o th is c h e n

24 Z it. in D ie t e r K im p e l, R o b e rt S u c k a le : D ie g o t i­

B a u k u n s t; a u f e in e r Reise d u rc h d ie N ie d e r la n d e ,

sche K a th e d ra le . In : F u n k k o lle g K unst. H rsg. W e r ­

R h e in g e g e n d e n , d ie S c h w e iz , u n d e in e n T h e il

n e r Busch. Z ü ric h 1 9 8 7 , Bd. 1, S. 3 2 . 25 F ra n c o is

René

C h a t e a u b r ia n d :

vo n F ra n k re ic h . In d e m J a h r e 1 8 0 4 bis 1 8 0 5 . In : G é n ie

du

F rie d ric h S chleg e T s s ä m m t lic h e W e rk e . Bd. 6.

C h r is t ia n is m e . P aris 1 8 0 1 ; d e u ts c h e A u s g a b e :

W ie n 1 8 2 3 , S. 2 2 3 - 3 0 0 ; Z i t a t e S. 2 4 2 , 2 5 8 - 2 6 2 .

G e is t des C h r is te n tu m s . Bd. 2 , 1 8 5 4 , 5. 2 2 f ;

- T e x t-A u s s c h n itte J a n tz e n ( 1 9 6 2 ) 5 . 2 3 1 - 2 3 3 . -

A b d r u c k in J a n tz e n ( 1 9 6 2 ) 5 . 2 2 9 f .

G ross ( 1 9 6 9 ) S. 7 f

und schnell enden, wie gebrochene Stämme, die Kühle der Hallen, das Dunkel des Heiligtums, die beschatteten Fittiche, die geheimen Durchgänge, die gesenkten Pforten - alles zeigt den Bau der Waldungen in den gotischen Kirchen.“ Entspre­ chend leitet auch der Engländer James Hall (1761-1832), von einem ästhetischen Eindruck ausgehend, den gotischen Stil vom Erscheinungsbild des Waldes und dem vermeintlich ursprünglichen Leben der unzivilisierten Kelten und Germanen ab.26 Der Naturableitung widerspricht 1812 J. C. Costenoble ganz energisch.27 Ähnlich, aber schon etwas weniger gefühlsbetont wie Goethe, lobt Friedrich Schlegel (1772-1829) in seinen „Grundzügen der gothischen Baukunst“, die er 1804/05 „auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz, und einen Theil von Frankreich“ mit den Brüdern Boisserée verfaßt hat, vor dem Kölner Dom „die Schönheit der Verhältnisse, die Einfalt, das Ebenmaß bei der Zierlichkeit, die Leichtigkeit bei der Größe. ... Sind solche Türme gleichsam unermeßliche Gewächse von lauter Schnitzwerk zusammengewunden und stolz in die Höhe schießend, so sind die Menge der weitläufigen Träger mit allen ihren Schwibbo­ gen, ihren Verzierungen, ihren Knospen, Spitzen und Türmen einem Walde zu ver­ gleichen. Auch die gotischen Säulen,..., welche statt einer einzigen, ein Geflecht vieler zusammengebundenen schlanken Röhren darzustellen scheinen, m it... blät­ terigen Knauf in der Höhe, wo sie einen spitzigen und mannigfach gebrochenen Bogen bilden, hat man mit der stolzen Wölbung eines hohen Baumganges nicht unschicklich verglichen.... Alles ist gestaltet, und gebildet, und verziert, und immer höhere und mächtigere Gestalten und Zierden steigen auf aus den ersten und klei­ neren. ... Das Wesen der gotischen Baukunst besteht also in der naturähnlichen Fülle und Unendlichkeit der inneren Gestaltung und äußeren blumenreichen Ver­ zierungen. Daher die unermüdlichen und unzähligen steten Wiederholungen der gleichen Zierraten, daher das Pflanzenähnliche derselben, wie an blühenden Gewächsen. Und daher auch das Innigergreifende, das rührend Geheimnisvolle, das freudig Liebliche und Belebende des Eindrucks bei dem Erstaunen über die Größe. Die gotische Baukunst hat eine Bedeutung, und zwar die höchste.“28 Schle-

2 0 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

G otik-Begriff und Forschungsgeschichte 2 1

18 Denkmal au f dem Kreuzberg, Federzeichnung von Karl Friedrich Schinkel für seine „Sam mlung Architektonischer Entwürfe“ 1823, Eisenguß, Details nach dem Kölner Dom.

17 Berlin, Kirche a u f dem Werderschen M arkt, E ntw urf Karl Friedrich Schinkel, Rohbau 1 8 2 5 -1 8 2 8 .

29 S c h le g e l (w ie A n m . 2 8 ) 5 . 2 3 2 - 2 3 4 . 30 G e o rg e D o w n in g W h it t in g t o n : A n H is t o r ic a I S u rv e y o f t h e E cclesiastical A n tiq u itie s o f France. W it h a V ie w t o illu s t r a t e t h e Rise a n d P ro g ress o f G o th ic A r c h it e c tu r e in E u ro p e . L o n d o n 1 8 0 9 (L o n d o n 21 8 1 1 ) . - G r a f ( w ie A n m . 7 ) S. 7. 31 K a r l F rie d ric h

S c h in k e l: E n t w u r f z u

e in e r

B e g rä b n is k a p e lle f ü r Ih r e M a j e s t ä t d ie H o c h se­ lig e K ö n ig in Lu ise v o n P re u ß e n . 1 8 1 0 . - T e ila b ­ d r u c k in J a n tz e n ( 1 9 6 2 ) S. 2 3 4 - 2 3 8 . Vgl. a u c h G e o rg F ried rich Koch: K a rl F rie d ric h S c h in k e l u n d d ie A r c h it e k t u r des M i t t e l a l t e r s . In : Zs. f . Kg. 1 9 6 6 , S. 1 7 7 - 2 2 2 . 32 J o h a n n

S u lp iz B o is serée: L ie b e r d ie s o g e ­

n a n n t e g o th is c h e B a u k u n s t. In : K u n s t b la t t Nr. 1 0 0 . H rsg. L u d w ig S cho rn b e i C o tta (= B e ila g e z u „ M o r g e n b l a t t f ü r g e b ild e t e S t ä n d e “ S t u t t g a r t 1 7 , 1 8 2 3 ) S. 3 9 7 - 3 9 9 , Z i t a t S. 3 9 9 .

gels Feststellung, daß man an gotischen Gebäuden „bei dem größten Reichtum von Zierraten eine strenge Symmetrie und eine durchgehende Gleichförmigkeit und Harmonie in der schönen Fülle“ beobachtet, berührt unmittelbar die heute noch gültige Faszination von dem Ineinandergreifen von geometrisch-starren und vegetabilisch-bewegten Formen als ein die Kathedralgotik kennzeichnen­ des Element. Wie Goethe betont Schlegel 1804/05: Es sei „die gotische, oder wie man es in der nächsten geschichtlichen Beziehung wohl auch nennen könnte, die deutsche Baukunst, weil sie ja allen deutschen Völkern gemein war, und deutsche Baumeister, auch in Italien, wie in Frankreich und selbst in Spani­ en viele der wichtigsten sogenannten gotischen Gebäude aufführten;... Übrigens dürfte die Benennung der gotischen Baukunst, sobald man diesen großen Nationalnamen nur in seinem vollständig umfassenden Sinne auf­ faßt, für die altchristliche und romantische Bauart des Mittelalters,..., sehr angemessen und für immer beizubehalten sein;... Die gewöhnlichen Ein­ würfe einiger Kunstkritiker gegen den gotischen Namen rühren bloß daher, daß sie den Sinn solcher Bezeichnung nicht großartig und welthi­ storisch genug aufzufassen wissen.“29 1806 wies George Downing Whittington (1781-1807) zum großen Mißvergnügen der Sozietät der englischen Antiquare nach, daß Frank­ reich die Gotik früher besaß als England.30 Dennoch bleibt bei deut­ schen Autoren weiterhin das deutsch-nationale Empfinden wirk­ sam. Als der preußische Architekt Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) seinen „Entwurf zu einer Begräbniskapelle für ihre Majestät die Hochselige Königin Luise von Preußen“ in neugoti­ schen Formen 1810 erläuterte, betonte er: „Nun entstanden Aus­ drucksformen für die Idee der Erhabenheit, der Entwicklung und des Strebens nach der Höhe, der Feierlichkeit und vor allem des inneren, tiefen, geistigen, organischen Zusammenhanges, der die Vollendung gibt. Hierdurch wird die Wirkung und der unmittelba­ re Einfluß eines jeden einzelnen Teils eines Werkes auf das ganze übrige Werk und umgekehrt erst sichtbar und darstellbar.“ „Bei der fortschreitenden Erweiterung der Wissenschaft und ihrer An­ wendung auf die Kunst ergab sich, daß auch mit geringerem Auf­ wand von Masse dieselbe Festigkeit, Größe und Ausdehnung im Bauwerk erreicht werden könne.“31 Johann Sulpiz Boisserée (1783-1854) erkennt 1823: „Die Glasmalerei ... erlaubte (den Architekten), ohne zu große Steige­ rung der Helle, da Fenster anzubringen, wo sie sonst hätten massiv bauen müssen; auf diese Weise konnten sie alle un­ nötigen Massen vermeiden, sie konnten sozusagen transparente Mauern er­ richten und ihren Gebäu­ den eine wunderbare Leichtigkeit erteilen.“32 Rudolph Wiegmann sieht noch 1842 „den Geist der Zeit im Sinne des Chri­ stentums“ im Spitzbogen­ stil des 13. Jh.s „als vollen-

G otik-Begriff und Forschungsgeschichte 23

2 2 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

dete Romantik, d. h. als das entgegenge­ setzte Extrem des Klassizismus.... Wie die von der Sinnlichkeit ausgegangene klassische Kunst an ihrem eigenen Prinzip erkrankte und im Materialis­ mus unterging, so verdorrte nun auch die ihr so entgegengesetzte vom Geisti­ gen ausgegangene christliche Kunst an der Ausartung ihres Prinzips in über­ triebenen, die wahre Kunst überschrei­ tenden Spiritualismus. ... In Deutsch­ land dagegen haben wir sie (die Gotik) als Ergebnis bewußten Strebens, als ein in seinen wesentlichen Eigenschaften verstandenes Mittel zur Erweiterung der Grenzen der architektonischen Technik zuerst - und schon in den ersten Jahren des 11. Jh.s - wirksam gefunden. In Deutschland war es, wo der junge Keim, gleich dem der Eiche, den ganzen zukünftigen prächtigen Baum schon in sich tragend, an das Licht kam und die erste Pflege fand. Und darum ist Deutschland das eigent­ liche Vaterland des Spitzbogenstils.“33 Diese Auffassung vertritt zunächst auch Franz Kugler (1808-1858) in der 1. Auflage seines „Handbuchs der Kunstgeschichte“ 1842, wobei er allerdings das Problem der deutschen Herkunft differenzierter zu sehen beginnt: „Der neue Stil der Kunst, welcher unmittelbar auf die vollendete Entfaltung des romanischen folgte und zum Teil sogar gleichzeitig mit ihr hervortrat, ist am schicklichsten mit dem Namen des germanischen Stils zu bezeichnen. Zwar gehört derselbe nicht ausschließlich den rein-germanischen Nationen an; im Gegenteil sehen wir ihn doch noch unentwickelt - bei einigen Völkern romanischer Zunge (in Nordfrank­ reich und England) sogar früher erscheinen, als z. B. in Deutschland. Dennoch erkennen wir entschieden,... daß es der Germanismus ist, dem er seine Nahrung verdankt. ... Die Periode des germanischen Stils bezeichnet die reichste und glänzendste Entfaltung der romantischen Kunst.... In den Werken dieser Periode herrscht durchweg, innerlich und äußerlich,... das Streben nach dem Höheren, Überirdischen vor.“34 „Das Bestreben der Romantiker, die Erscheinung der gotischen Baukunst aus geistigen Ursachen herzuleiten, enthielt zwar einen richtigen Gedanken, mußte indessen seine enggezogenen Grenzen finden, da die sehr beschränkte und unzulängliche Kenntnis der Denkmäler weder für eine Vertiefung in das Wesen der Gotik ausreichte noch zu einer sicheren Beurteilung ihrer historischen Stel­ lung. Man vergißt leicht, welch unendlicher Mühe im Laufe des Jahrhunderts es bedurfte, um zu einer zuverlässigen Chronologie der wichtigsten gotischen Kir­ chenbauten Europas zu gelangen, überlieferte Baudaten in die richtige Verbin­ dung mit den in die Gegenwart hineinreichenden Baudenkmälern zu bringen, das Charakteristische in der sich wandelnden Formenwelt der Gotik zu erkennen, Methoden der Stilvergleichung zu entwickeln, um schließlich etwas über die Geschichte der Gotik aussagen zu können.“35

18a W örlitz, Schloßgarten, Gotisches Haus 1 7 7 3 -1 8 1 3 nach Plänen von Friedrich W ilhelm von Erdmannsdorff. 19 ► Salisbury, Kathedrale, Chor 1 2 2 5 -1 2 6 6 , Zeichnung von John Britton, Chronological History, 1826.

33 R u d o lp h W ie g m a n n : L ieb e r d e n U rs p ru n g des S p itz b o g e n s tils . D ü s s e ld o r f 1 8 4 2 , 5 . 1 - 5 7 , Z i t a t

5. 7,57. 34 F ra n z K ug ler: H a n d b u c h d e r K u n s tg e s c h ic h te . S t u t t g a r t 1 8 4 2 , S. 5 1 3 - 5 1 5 1 8 5 9 ). 35 J a n tz e n ( 1 9 6 2 ) 5 . 4 4 f .

(3 . A u f I. 1 8 5 6 -

G otik-Begriff und Forschungsgeschichte 25

2 4 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

S a c h lic h e W ü r d ig u n g

Mit einer antiquarisch-wissenschaftlichen Erfassung gotischer Architektur hat John Britton in mehreren reich illustrierten Publikationen begonnen, wobei er sich 1807-1838 vorrangig den gotischen Bauten in England gewidmet hat.36 Ihm folg­ te das mehrbändige Werk „Winkles’s Architectural and Picturesque Illustrations“ 18 36-1842.37 Für den deutschen Sprachraum sind zu nennen: Carl Heideloff 1838-1855, Gustav Heider und Rudolf von Eitelberger 1858-1860, Vinzenz Statz und Georg Ungewitter 1856 sowie Ernst Förster 1858-1860.38 Einen wichtigen Fortschritt in der Gotik-Auffassung bringt Franz Kugler (1808-1858), dem Jacob Burckhardt (1818-1897) nach eigenen Worten seine gei­ stige Richtung verdankte. Kugler stellt im dritten Band seiner „Geschichte der Bau­ kunst“ 1859 die mittelalterliche Architektur erstmals in den Zusammenhang der gesamten Kunstentwicklung und fragt damit nach ihren Besonderheiten.39 In der gotischen Architektur, deren Heimatgebiet er als erster in Nordfrankreich erkann­ te, wurde vor allem „lichtvolle Erhabenheit und einheitliche Gliederung des Raumes ... erstrebt. Man ging mit lebhaftem Bewußtsein auf die mystische Wir­ kung der baulichen Erscheinung aus, welche die schwärmerische Erregung des Geistes erforderte;... (Das) Mystische (ist) der Totalität des gotischen Baues einge­ woben. ... Es entwickelte sich,..., dem Lichte entgegen;... Der innere Aufbau ... ist wesentlich hierauf berechnet.... Diese Räume steigen luftig aufwärts, sich in ihren oberen Teilen der Fülle einströmenden Lichtes öffnend; diese Decke erscheint wie in schwebender Bewegung von den aufsteigenden Stützen getragen, massenlos, einer Wundererscheinung gleich. Eine sinnreich kombinierte technische Kon­ struktion machte diese dem natürlichen Gesetz scheinbar widerstreitende Wir­ kung möglich. Die gesamte bauliche Masse hatte sich in ein Gerippe selbständiger Einzelstücke aufgelöst, zwischen welche überall nur leichtere Füllteile zum Abschluß nach außen eingesetzt waren; ... Die Elemente dieses technischen Systems (Spitzbogen, Strebepfeiler, Kreuzrippengewölbe) lassen sich in der roma­ nischen Architektur, seit den ersten Versuchen einer Verbindung des Gewölbes mit dem Basilikenbau, nachweisen, vornehmlich in der französisch-romanischen Architektur, die zu diesem Behuf das Verschiedenartigste in Angriff genommen hatte. Es ist daher wohl die Ansicht ausgesprochen, daß dies ganze System nichts sei, als die notwendige Vollendung jener Bestrebungen, und es hat nicht an gründ­ lichen technischen Nachweisen zur Bestätigung solcher Ansicht gefehlt. Nur ist dabei das Eine übersehen: daß auch das technische Endergebnis ohne die völlige Umwandlung des geistigen Strebens, ohne die ideale Absicht, ohne den aufwärts und dem Lichte entgegen strebenden Drang, ohne das Verlangen nach einer wun­ dervollen Wirkung nimmer zu Tage getreten wäre.“40 Kugler erfaßt die gotische Kathedrale vom Innenraum her und verweist darauf, daß die Starrheit der Mauer fast gänzlich verschwinde und statt ihrer fast nichts als vollständig gegliederte Stützen und Gewölbe erschienen und daß es als dessen wichtigste Einzelmerkma­ le Rippengewölbe, Strebepfeiler und Rippenbildungen hervorgebracht habe. Damit war erstmals der Vorrang des Formalen vor dem Konstruktiven in der Gotik erkannt worden.41 „Im Blick auf die weitere Entwicklung des Gotikverständnisses erscheinen Kuglers über hundert Jahre zurückliegende Texte als eine Sicht der Gotik, die wie in einem Brennglas die ganze Fülle der Gotikphänomene gesammelt zeigt, als ein Konzentrat, das nicht nur volle Überzeugungskraft besitzt, sondern in seiner Weite, Dichte und Schlüssigkeit unüberbietbar anmutet. In der Tat erlebte es seither wohl beträchtliche Abschwächungen oder wenig einleuchtende Übersteigerungen, jedoch kaum Erweiterungen. Denn die nachfolgende Gotikbetrachtung ging den Weg der geschichtlichen Breite und der Spezialisierung.“42

36 J o h n B r itto n : T h e A r c h it e c tu r a l A n t iq u itie s o f C r e a t B rita in . 4 Bde. L o n d o n 1 8 0 7 - 1 8 1 4 . - J o h n B r it t o n : T h e H is t o r y a n d A n t iq u it ie s

o f th e

C a t h é d r a l C h u rc h o f S a lis b u ry . L o n d o n 1 8 1 4 . J o h n B ritto n : C h r o n o lo g ic a l H is to r y a n d G r a p h ic Illu s t r a t io n s o f C h r is t ia n A r c h it e c t u r e in E n g ­ la n d . L o n d o n 1 8 2 6 . - J o h n B r i t t o n : A D ic t io n a r y o f t h e A r c h it e c t u r e a n d A r c h a e o lo g y o f t h e M id d le A ges. L o n d o n 1 8 3 8 . 37 T h o m a s M o u le , R o b e r t C a r la n d : W in k le s 9s A r c h ite c tu r a l a n d P ic tu re s q u e Illu s tra tio n s o f t h e

20 Köln, Dom, Petersportal, Archivolte, Zeichnung aus dem Buch von Sulpiz Boisserée, Ansichten, Risse und einzelne Theile des Doms von Köln 1 8 2 1 - 1 8 3 2 ,2 . Aufl. M ünchen 1 8 4 2 ,Tafel XIV (Ausschnitt).

C a t h é d r a l C h u rc h e s o f E n g la n d a n d W a le s . 3 B de. L o n d o n 1 8 3 6 - 1 8 4 2 . 38 C a r l H e id e lo ff, C a r l G ö rg e l: D ie O r n a m e n t ik des M i t t e la lt e r s . E in e S a m m lu n g a u s e r w ä h lt e r V e r z ie r u n g e n u n d P r o file b y z a n t in is c h e r u n d d e u ts c h e r A r c h ite k tu r . N ü r n b e r g 1 8 3 8 - 1 8 5 5 . -

43 A n t o n S prin g er: D ie B a u k u n s t des c h ris tlic h e n

G u s ta v H e id e r, R u d o lf v o n E ite l b e rg e r, J. H ie s e r:

M it t e la lt e r s . B o n n 1 8 5 4 , Z it. 5 . 1 1 7 f . 1 2 2 - 1 2 4 .

M i t t e la lt e r lic h e K u n s td e n k m a le des ö s te r re ic h i­

44 H e r b e r t Rode: D o m b a u m e is t e r E rn s t Fried rich

s c h e n K a is e rs ta a te s . S t u t t g a r t 1 8 5 8 - 1 8 6 0 . -

Z w ir n e r ü b e r d e n K u n s t w e r t d e r n o r d f r a n z ö s i­

V in z e n z S ta tz u n d G e o rg U n g e w it te r : G o th is ch e s

s c h en K a th e d r a le n . E in B e it r a g z u r K u n s ta n ­

M u s te r b u c h . L e ip zig 1 8 5 6 . - E rn s t Fö rs ter: D e n k ­

s c h a u u n g im 1 9 . J a h r h u n d e r t . In : V o m B a u e n ,

m a le d e u ts c h e r B a u k u n s t. 2 B de. L e ip z ig 1 8 5 8 ,

B ild en u n d B e w a h r e n . F e s ts c h rift f . W illy W eyres.

1860.

H rs g . Jo sep h H o s te r, A lb r e c h t M a n n . K öln 1 9 6 3 ,

39 F r a n z K u g ler: G e s c h ic h te d e r B a u k u n s t. Bd. 3.

S. 2 7 7 - 2 8 5 .

S t u t t g a r t 1 8 5 9 , Z i t a t 5. 7 - 9 .

45 C a rl S ch n aas e: G es c h ic h te d e r b ild e n d e n K ü n ­

40 K u g le r ( w i e A n m . 3 9 ) 5. 7 - 9 .

ste. 5. Bd. D ü s s e ld o r f 21 8 7 2 (1 . A u fl. 1 8 5 6 ) .

41 Gross ( 1 9 6 9 ) S. 9.

46 A u g u s t e R o d in : D ie K a th e d r a le n F ra n k re ic h s .

42 G ross ( 1 9 6 9 ) 5 . 9 f

B e rlin o. J. (1 9 1 0 ) , 5 . 1 , 7 5 , 1 8 1 f .

Während Franz Kugler das Ineinander konstruktiver, strukturell-formaler und geistiger Momente betont, vertritt Anton Springer (1825-1891) in seiner 1854 Sul­ piz Boisserée gewidmeten „Baukunst des christlichen Mittelalters“ mehr die for­ male Sicht und begründet den wichtigsten Unterschied zur Romanik durch „das vollkommene Zurücktreten der antiken Tradition, die unbedingte Selbständigkeit der germanischen Phantasie in der gotischen Bauweise.... Von den vorgeschla­ genen Namen ist jener des gotischen Stils unstreitig am wenigsten sachgemäß, er hat aber das Alter und die Gewohnheit für sich, während die übrigen: deutscher, germanischer, Spitzbogenstil die Mängel des ersteren nicht völlig aufheben, ohne die Tradition für sich zu besitzen. Die geringste Empfehlung verdient der Name: Spitzbogenstil. Der Spitzbogen ist nicht der Anfang der Gotik, ebensowenig der Mittelpunkt des Systems.... Durch die Stetigkeit und Gleichförmigkeit der Arbeits­ weise, ... (konnte) diese unendliche Fülle der Dekoration, die doch nur auf einige wenige Grundelemente sich zurückführen läßt, welche das Ganze des Baues in eine endlose Zahl kleiner und kleinster Teile gliedert und dennoch in jedem ein­ zelnen Teile das Ganze zur Ahnung bringt, erreicht werden.... Der gotische Stil hat in der Wölbekunst seinen Ausgangspunkt.... Spitzbogige Gewölbe können in jeder Höhe errichtet werden und umspannen jede Breite.... Aus Kreissegmenten gebil­ det, sind sie weniger in sich gespannt, üben einen geringeren Schub, machen nur eine Unterstützung der Endpunkte und Rippen nötig. Die starre Mauer verwandelt sich in stützende Pfeiler und bloße Füllungen oder Wandverschluß, welcher großenteils durch die Fenster ausgefüllt wird. Dem vertikalen Druck des Gewölbes begegnen die Pfeiler, der ohnehin nur geringe Seitenschub wird durch die den inneren Pfeilern entsprechenden äußeren, die Strebepfeiler aufgehalten. Die Ver­ änderung in der Gewölbeanlage führte demnach folgerecht zu einer Veränderung der gesamten Bauweise. An die Stelle des massiven Mauerbaues tritt ein großarti­ ges kühnes Baugerippe, welches nur einer leichten Füllung bedarf, die schwere Masse löst sich in eine Summe selbständiger Glieder auf, mit deren Hilfe, durch deren Ineinandergreifen alle materiellen Schranken glänzend bewältigt wer­ den.“43 Diese formale Auffassung geht auch aus einem Brief des Kölner Dombaumei­ sters Ernst Friedrich Zwirner (1802-1861) vom 22.11.1844 an seinen Freund Sul­ piz Boisserée hervor, wo Zwirner seine Eindrücke von einer Besichtigung französi­ scher Kathedralen beschreibt und dabei vornehmlich die Formentwicklung sieht und zwischen frühen, schwerfälligen (Chartres, Amiens), mittleren (Paris, SaintDenis) und späteren (Rouen) Formen unterscheidet.44 In diesem Zusammenhang ist auch Carl Schnaase mit seiner „Geschichte der bildenden Künste“ von 1856 zu nennen.45 Ganz in der Tradition der Romantik steht der französische Bildhauer Auguste Rodin (1840-1917). „Die Kathedralen rufen ein Gefühl von Zuversicht, Vertrauen, Frieden hervor. Wodurch? Durch ihre Harmonie.“ So beginnt Rodin sein Buch „Die Kathedralen Frankreichs“, das die Frucht einer Reise im Jahre 1877 ist. „Wiederho­ lung und Regelmäßigkeit sind die Grundlagen des Schönen. Das ist ein Gesetz. Romanischer und gotischer Stil gehorchen ihm:... Ich liebe das menschliche Bestre­ ben, das sich durch regelmäßige Wiederholungen unablässig steigert.... Die Säulen der Kathedrale verzehnfachen ihre Grazie, indem sie einander folgen und sich ver­ einigen.“ „Die waagerechte und senkrechte Linie, die sich in ihren richtigen Valeurs entwickelt: das ist Gotik; sie beruht auf dem Strebepfeiler.“46 Einen bedeutenden, wenn nicht sogar den bedeutendsten Fortschritt im Wissen um die gotischen Formen brachte der französische Architekt Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814-1879) mit seinem zehnbändigen, enzyklopädisch aufgebau­ ten „Dictionnaire raisonné de l'architecture française du XIe au XVIe siècle“

G otik-Begriff und Forschungsgeschichte 27

2 6 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

1858/68. Viollet-le-Duc, ein Autodidakt der Architektur, hat zahlreiche Studienrei­ sen unternommen, Neubauten errichtet und französische Kirchen (u. a. seit 1840 Abteikirche von Vézelay, die Pariser Kathedrale, Saint-Sernin in Toulouse, SaintDenis, Lausanne, Evreux und auch Schloß Pierrefonds) restauriert; dabei ist er einer puristischen Originalitätsfiktion gefolgt, die von der Académie des Beaux-Arts in Paris unter dem mächtigen Vorsitzenden Ouatremère de Ouincy in der Nachfolge von Winckelmanns Theorie des harmonischen Idealschönen bestimmt war. Darüber hinaus war für Viollet-le-Duc, ganz im Sinne der Zeit, der konstruktive Funktionalismus maßgeblich, und so waren auch die tragenden Glieder und die Kreuzrippengewölbe gestaltbestimmend, als eine Art Skelettbau wie die GlasEisen-Architektur seiner Zeit. Viollet-le-Duc steht auf der Seite der Ingenieure, die mit den neuen Materialien Eisen und Glas weitgespannte, leicht wirkende Kon­ struktionen für Markthallen, Bahnhöfe und Kaufhäuser errichteten. Er sieht in den gotischen Kathedralen ein hohes Maß an konstruktiver Perfektion, aus deren Stu­ dium man für die eigene Zeit lernen kann.47 „Wenn die gotische Konstruktion auch keinen absoluten Formeln unterliegt, so folgt sie doch bestimmten Prinzipien.... Gleichgewicht, Ausgleich der Schubkräfte durch Druckkräf­ te, Stabilität durch aufliegende Gewichte, die die verschiedenen schrägen Kraftlinien in vertikal lastende verwandeln; als Folge davon Reduktion des Querschnittes der Stützen: das sind diese Prinzipien, und das sind auch noch die Prinzipien der wirklich modernen Kon­ struktion, ... Wenn die gotischen Konstrukteure über die Technik des Eisengusses großer Elemente verfügt hätten, dann hätten sie sich dieses sicheren Mittels, möglichst schlanke und feste Stützen herzustellen, gewiß mit Eifer bedient, und vielleicht hätten sie es mit mehr Geschick angewendet als wir heute. Alle ihre Anstrengungen richten sich in der Tat darauf, die Kräfte ins Gleichgewicht zu bringen und die Stützen nur noch als Stäbe zu betrachten, die nicht durch ihr Eigengewicht im Lot gehalten werden, sondern durch die vollständige Neutralisierung aller schrägen Schubkräfte, die auf sie einwirken. Machen wir heute etwas anderes bei unseren Konstruktionsbauten, bei unseren großen öffentlichen Gebäuden,...? Muß es uns nicht in Erstaunen versetzen, heute in ein- und derselben Stadt Häuser, Markthallen, Bahnhöfe und Kaufhäuser zu sehen, die, obwohl beträchtliche Flächen überdeckend, sich auf dünnen Stützen erheben,..., und gleichzeitig Gebäude, bei denen Unmengen von Stein Block für Block angehäuft werden, um nur vergleichsweise geringfügige Flächen zu bedecken und lediglich Decken zu tragen, die keinerlei Seiten­ schub entfalten? Deuten diese Tatsachen nicht darauf hin, daß die Architektur von dem Wege abgeraten ist, der ihr durch unsere Bedürfnisse und unser modernes Ingenieurwissen vorgezeichnet ist,...? Wir wiederholen also, daß die gotische Konstruktion trotz ihrer Män­ gel, Irrtümer, ihrer tastenden Versuche, und vielleicht gerade wegen all dieser Merkmale, ein äußerst nützliches Studienobjekt ist: Ihr Studium ist die sicherste Einführung in die moderne Konstruktionskunst, die es noch nicht gibt..., denn sie stellt die wahren Prinzipi­ en auf, denen wir uns heute unterwerfen müssen, weil sie mit den antiken Traditionen gebrochen hat, ist sie in ihren Anwendungsmöglichkeiten so fruchtbar ... Das Schöne ist nicht,..., auf ewig an eine einzige Form geknüpft: es kann immer dort vorhanden sein, wo die Form nur der Ausdruck eines befriedigten Bedürfnisses und des wohlüberlegten Gebrauchs des vorhandenen Materials ist.“ Viollet-le-Duc

47 V io lle t-le -D u c ( 1 8 5 8 - 1 8 6 8 ) Z i t a t Bd. 4 , 5. 57, Ü b e rs , n a c h D ie t e r K im p e l u n d R o b e r t S u c k a le : W ie e n ts t e h t e in e g o tis c h e K a th e d r a le ? In: F u n k ­ k o lle g K u n s t. H rs g . W e r n e r B usch. M ü n c h e n , Z ü ric h 1 9 8 7 , 5. 5 8 f , Ü b e rs , ü b e r a r b e it e t vo n C a tr in R iqu ier. - Louis C ro d e c k i: V io lle t le D u c e t

21 Paris, Kathedrale, Südostansicht, um 1163 bis um 1265.

sa c o n c e p tio n d e l 9a r c h it e c t u r e g o t h iq u e . In : A c te s d u C o llo q u e In t e r n a t i o n a l V io lle t-le -D u c , P aris 1 9 8 0 . P aris 1 9 8 2 , 5 . 1 1 5 - 1 2 6 . - P o l A b r a ­ h a m : V io lle t le D u c e t le r a t io n a lis m e m é d ié v a l. P aris 1 9 3 4 . - B r u n o F o u c a r t (H r s g .): V io lle t - le D u c . A u s s te llu n g s k a ta lo g P aris 1 9 8 0 . 48 Ju les G a ilh a b a u d : L9a r c h it e c t u r e d u V .m e a u X V I.m e siècle e t les a r ts q u i en d é p e n d e n t. 4 Bde. Paris 1 8 5 0 - 1 8 5 6 . - A u g u s te Choisy: C A rt d e B â tir

Die Erkenntnisse aus Viollet-le-Ducs Restaurierungspraxis und den Bemühun­ gen um Vollendung unfertiger gotischer Kirchen werden bis heute in der Praxis angewendet, wenn auch unter veränderten statischen Kenntnissen. Die Betrach­ tungsweise von Viollet-le-Duc war sehr einflußreich: zu nennen sind u. a. Jules Gailhabaud (1850/53), Auguste Choisy (1873 und 1899), Camille Enlart (1902), Robert de Lasteyrie (1926/27), Karl-Heinz Clasen (1930), Marcel Aubert (1947) und vor allem Georg Dehios und Gustav von Bezolds immer noch grundlegendes Werk „Die kirchliche Baukunst des Abendlands“ (1892-1901).48 Die Autoren „bieten

c h e z les R o m a in s . Paris 1 8 7 3 . - A u g u s te C hoisy: H is to ir e d e l'A rc h ite c tu re . Paris ( 1 8 9 9 ) . - C a m ille E n la r t: M a n u e l d 9A r c h é o lo g ie f r a n ç a is e . P aris 1 9 0 2 . - L a s te y rie ( 1 9 2 6 - 1 9 2 7 ) . - M a r c e l A u ­ b e rt: L9a r c h ite c tu r e c is te rc ie n n e e n F ran ce. Paris 1947. -

C la s e n ( 1 9 3 0 ) . -

K a r l- H e in z C la s e n :

D e u ts c h e G e w ö lb e d e r S p ä t g o t ik (= S c h r ifte n des In s tit u ts f . T h e o rie u n d G e s c h ic h te d e r B a u ­ k u n s t). B e rlin 1 9 0 1 ).

1958. -

D e h io - B e z o ld ( 1 8 9 2 -

49 Cross ( 1 9 6 9 ) 5 .1 0 .

50 A u b e r t ( 1 9 6 4 ) S. 4 2 .

wohl vorzügliche Zusammenfassungen gründlicher Einzelforschung, zu einer über Kugler hinausgehenden Gesamtinterpretation aber brachten sie es nicht."49 Noch 1963 preist Marcel Aubert Amiens ganz in der Tradition von Viollet-le-Duc: „In die­ sem ganzen Bau, sowohl im Grundriß wie im Aufbau, in den Proportionen der Wandgliederung wie in der sicheren Gewölbetechnik, kommt ein derartiger Sinn für das Maß, eine Sicherheit des Geschmacks, eine Logik und ein Rhythmus der Formen zum Ausdruck, daß sie den Bau von Amiens zu einer der vollkommensten Kathedralen des Mittelalters machen. Sie ist der Gipfel der gotischen Baukunst, ihr höchster, klassischer Ausdruck.“50 Die Kriterien für die als Gotik zu bezeichnende Bauweise suchte und fand man allgemein im Spitzbogen und Kreuzrippengewölbe. Das fortschrittliche Kreuzrip­ pengewölbe erlaubte die Erleichterung der Wandmassen. Die Erfindung des Kreuz­ rippengewölbes wurde als entscheidendes Merkmal betrachtet wie z. B. Dehio/v. Bezold formuliert haben: Die gotische Entwicklung „beginnt mit einer konstrukti­ ven Einzelfrage. Wie ist die überlieferte Form des Kreuzgewölbes zu verbessern? wie ist dieselbe zugleich materiell fester und formell biegsamer zu m achen?... Diese drei sind also die Erzeuger der gotischen Konstruktion: die Kreuzrippen, der Spitzbogen, das Strebewerk. Die Reihenfolge, in der wir sie nennen, bedeutet

G o tik -B e g riff und Forschungsgeschichte 29

2 8 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

zugleich ihre Rangordnung. Die Kreuzrippen sind das absolut Wesentliche; die spitze Form der Bögen und die Bogenform der Streben können abwesend gedacht werden.“51 Enlart formuliert ähnlich: „trois éléments caractéristiques: 1) la voûte d'ogives, 2) l'arc-boutant, 3) ornementation toute nouvelle puisée (non plus dans les traditions mais dans l'étude directe de la nature).“ Und „voûtes d'ogives, point de départ de toute la construction gothique“.52

22 Bourges, Kathedrale, Südostansicht, um 1195 bis um 1250.

53 Z u r F o rs c h u n g s g e s c h ic h te u n d ü b e r d ie K o n ­ s tr u k tio n u n d S ta t ik d e r g o tis c h e n K a th e d r a le n sie h e Kap. IV. 1 . „ K o n s tr u k tio n u n d S t a t ik ", A n m . 1 4 -1 7 . 54 H e lm u t W e b e r: D as w e c h s e ls e itig e V e rh ä ltn is von K o n s tr u k tio n u n d F o r m u n g a n d e n K a t h e ­ d ra le n N o rd fra n k r e ic h s . Diss. H a n n o v e r 1 9 5 7 .

55 P a u l F ra n k l: A b h a n d lu n g . M e in u n g e n ü b e r W is s e n s c h a ftlic h e U n te r s u c h u n g

H e r k u n fl u n d W esen d e r G o tik . In: W a lte r T im m -

Ernst Gail ist zu verdanken, daß in diese einseitige Beurteilung der vorrangigen Bedeutung des Kreuzrippengewölbes kritische Stimmen einflossen. Er wies nach, daß es falsch sei, in der technischen Erfindung des Kreuzrippengewölbes den Aus­ gangspunkt für die Entwicklung gotischer Architektur zu suchen. Nicht techni­ sches Wissen, sondern formaler Gestaltungswille schufen das Gliedergerüst aus Diensten und Rippen. Der Dienst war früher als die Rippe da, wesentlich war der

Ung: K u n s tg e s c h ic h te u n d K u n s tw is s e n s c h a ft (= K le in e L ite r a tu r f ü h r e r Bd. 6 ) L e ip zig 1 9 2 3 , 5 . 1 9 f. - Vgl. a u c h P a u l F ra n k l: D ie R o lle d e r Ä s th e tik in d e r M e t h o d e d e r G e is te s w is s e n s c h a fte n . In : Zs. 51 D e h io -B e z o ld ( 1 8 9 2 - 1 9 0 1 ) 5. 6 f

f Ä s th e tik

52 E n la r t (w ie A n m . 4 8 ), z it. n a c h J a n tz e n ( 1 9 6 2 )

1 4 5 -1 5 9 .

5 . 4 6 f.

56 J a n tz e n ( 1 9 5 7 ) S. 1 3 .

u n d a ll g e m e in e

Kw. 2 1 , 1 9 2 7 , S.

durch Dienste und Rippen plastisch veranschaulichte Kräftefluß. Neuere For­ schungen haben schließlich darlegen können, daß die tragende Funktion der Kreuzrippen durch moderne wissenschaftliche Berechnungsmethoden in Frage zu stellen ist, d. h., die Einschätzung der gotischen Kathedrale als rein funktional-kon­ struktiv bestimmte Struktur kann für ein angemessenes Verständnis nicht ausrei­ chen.53 Andererseits darf die Bedeutung von Last, Schub und Streben nicht unberücksichtigt bleiben, wie Helmut Weber 1957 mit seiner Dissertation über „Das wechselseitige Verhältnis von Konstruktion und Formung an den Kathedra­ len Nordfrankreichs“ deutlich gemacht hat. Die Konstruktion ist abhängig von den speziellen Eigenschaften des verwendeten Materials und von den Beanspruchun­ gen, die ein Element und dessen Verbindung mit anderen Elementen durch die Belastung (Druck, Schub) erfährt. Die Formung unterliegt jedoch gestalterischen Absichten. Beides zusammen bestimmt die vom Betrachter erlebte Gestalt.54 Paul Frankl (1878-1962) kennzeichnet das Problem 1923: „Beide, Dehio und Gail, sehen das Gotische in dem Prinzip, den Baukörper nach den Funktionen des aktiven Tragens und passiven Füllens, sozusagen in ein Skelett harter Knochen und zwischengespannter Membrane zu zerlegen. Nur meint Dehio, dies geschah zuerst im Gewölbe und sei hier durch die Erfindung der Rippe ausgelöst worden, die aus technischen Gründen geschaffen ward, und sei dann in die Wände, die das Gewölbe tragen, hinunter projiziert worden, während Gail meint, es sei zuerst die Wandgliederung dagewesen und dann aus rein ästhetischem Bedürfnis in die Gewölbe übertragen worden, die Rippe sei keine ‘Erfindung', brachte überhaupt zuerst keine technischen Vorteile - was tatsächlich stimmt - , sondern sei nur die künstlerische Konsequenz der Wandgliederung. Ich lasse zunächst offen, wer von beiden mehr recht hat, und frage, d. h. ob die ihnen gemeinsame Definition der gotischen Idee als Zerlegung in tragendes Gerüst und Haut berechtigt ist, und ob sie dazu führt, zu erkennen, warum der Stil entstand. Zweifellos trifft sie ein durchgehendes und höchst wichtiges Merkmal der fertigen Gotik.... Aber auch ein hinreichendes? Gibt es diese Zerlegung in Skelett und Füllung nur in der Gotik? In den romanischen Bauten kommt doch die Zerlegung in durchgehende Stützen und nur füllende Wandteile vielfach vor.“55 Der Positivismus in der Erforschung der gotischen Architektur während des 19. und beginnenden 20. Jh.s nahm bei der Analyse seinen Ausgang von der techni­ schen Konstruktion und richtete vorrangig alle Aufmerksamkeit auf Entstehung und Durchbildung des Rippengewölbes, mit vielen wertvollen Hinweisen, wie Hans Jantzen 1957 betont. „Im Erlebnis des gotischen Rauminneren bleibt die Bedeutung der technischen Mittel vorerst verdeckt. ... Die zu überwindende Schwierigkeit der Aufgabe liegt darin, daß im Erlebnis der Kathedrale alle Wir­ kungsmittel als ein Zugleich gegeben sind, wobei das Einzelne durch die unmittel­ bare Erfahrung des Ganzen verstanden wird.“56 Es wurde weitgehend übersehen, daß das Bauwerk eine räumliche Struktur hat, die bestimmt wird durch seine Maße, Proportionen und durch die Art seiner Begrenzung; der Raum soll visionär erfaßt werden (Henri Focillon, Jean Bony). Hans Jantzen (1881-1967) ist es zu verdanken, daß er 1928 wieder den gotischen Innenraum als Ganzes analysiert hat; das Formprinzip bezeichnet er als „diaphane Struktur“. „‘Diaphane Struktur' besagt, daß die Plastik der Wand gewissermaßen als Architektur-Relief mit Raumgrund unterlegt wird und daß diese Hinterlegung mit Raumgrund den gotischen Charakter der Raumgrenze mitbestimmt. Die goti­ sche Wand ist nicht ohne den Raumgrund als Folie auffaßbar und erhält dadurch erst ihren Wirkungswert für das Ganze des Kathedralenraums.... Die Hochschiff­ wand wirkt wie ein vor der Ummantelung durch den Raumgrund errichtetes Reli­ efgitter. Für den Raumcharakter der französischen Gotik erscheint das Prinzip der

G o tik -B e g riff und Forschungsgeschichte 31

30 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

diaphanen Wandstruktur sinnfälliger als Einzelheiten der Formensprache und entscheidender als die Verwendung von Spitzbogen und des Kreuzrippengewölbes.“57 Auf Jantzen folgen zahlreiche Versuche, sich dem Gebilde der gotischen Kathe­ drale mit charakterisierenden Worten zu nähern. Werner Gross hat sich 1948 auf der ersten Kunsthistorikertagung im Schloß Brühl „Zur Bedeutung des Räumli­ chen in der mittelalterlichen Architektur“ geäußert: „Doch gilt auch für diese einen bedeutsamen Interpretationsumschwung einleitenden Forscher... das soge­ nannte gotische Wandsystem für ‘weggegliedert’ (Pinder), rein ‘visuell’ (Gail), ‘durchlöchert und des trennenden Sinnes beraubt’ (Frankl), ‘vom farbig schim­ mernden Grund durchsetzt’ (Jantzen). Damit bleibt... die ‘gotische’Baumaterie als Formengitter und Gliederskelett aufgefaßt und entspräche immer noch stark der Wandinterpretation, die Schinkel der Werderschen Kirche (1821) gegeben hat (Abb. 17), wo das gestängehaft starre und glatte Pfeilerwerk den Raum wider­ standslos hindurchgleiten läßt wie durch Gußeisenformen.... Ergänzt man sich dagegen die gotischen Wandsysteme bis hin zu Amiens und Reims nach dem dekorativen System der Taufkapelle von St. Gereon in Köln (Abb. 627) und im Sinne der Neuaufdeckungen in den Kathedralen von Lausanne und Sion, so entstehen über und über von Ornament erfüllte, dicht verzahnte Gebilde. Daß sie ‘gotisch’ gestuft, gebündelt und rundgliedrig verflüssigt sind, steht mit der verkettenden Wirkung der Ornamentmuster im deutlichen Einklang: es ist offenbar nicht ‘Auflockerung’ (Clasen), sondern die ‘Bindung’ (Kugler), die ... mit der gotischen Wandaufgliederung kulminiert. Wird unter diesem Eindruck die ornamentge­ tränkte Bauform selbst ‘ornamental’, ‘belebt’ aufgefaßt, und wird sie in ihrem engen Zusammenwirken mit den ebenfalls ‘ornamentalen’ Strukturen der Baupla­ stik und der Wand- und Glasbilderreihen begriffen, so erweist sich der gotische Bauorganismus keineswegs als starres ‘Formengitter’und ‘Gliederskelett’.“ 58 Hans Sedlmayr (1896-1984) führt 1950 das Prinzip der „übergreifenden Form“ und das „Baldachinsystem“ ein: „Um die Kathedrale so zu sehen - und nur so erklärt sich dem Auge ihr Gefüge -, muß man sich jene Form ins Ungemessene vergrößert vorstellen, die uns als Überbau über Altären ganz geläufig ist. Vier Säu­ len tragen - das ist eine seit alt christlichen Zeiten vorkommende Altarform - ein Kreuzgewölbe und schließen ein Raumprisma ein, das nach allen Seiten offen ist. Denkt man alle Bogen des Kreuzgewölbes spitzbogig, alle mit plastischen Wülsten - ‘Rippen’ - besetzt, die Säulen in Bündel starker Rundstäbe verwandelt, den ganzen Baldachin geweitet, vergrößert, in die Höhe gezogen, so gewinnt man das Grundelement, aus dessen Abwandlungen sich der Innenraum der Kathedrale restlos aufbaut.... In keinem Bauteil des Innenraums gibt es eine andere Gestal­ tung eines Raumteils als die aus Baldachinzellen.... 63 solcher Zellen bilden den Raum der Kathedrale von Reims, 92 den der Kathedrale von Köln.“59 Bei der Fassade wachsen die höheren Teile des Baus hinter den niedrigeren her­ vor, ohne daß man sieht, wo die Fußpunkte sind, von denen sie in mehreren Schichten aufsteigen: „Prinzip der überschnittenen Geschosse“, die Außenflächen verwandeln sich in ein Gefüge von Gitterflächen oder „Splitterflächen“. Im Ver­ hältnis zu der technischen Konstruktion ist die sichtbare Architektur der Kathe­ drale eine Illusionsarchitektur. Zugleich ergänzt Hans Sedlmayr auch Jantzens Erkennen von optischen Werten der Kathedrale durch das Aufspüren von struktu­ rellen Werten. Sedlmayr nennt es „das Prinzip der übergreifenden Form“ und sieht darin verwirklicht, daß die gotische Wand durch das hierarchische Übereinander­ greifen plastisch geformter Pfeiler- und Bogenmotive aufgebaut ist, die in Bestandteile erster, zweiter und dritter Ordnung zerlegt sind, wobei hier besonders das Maßwerk in den Feldern zwischen den Diensten zu nennen ist.

Ü b e r b lic k s d a r s te llu n g e n u n d M o n o g r a p h ie n

60 S ie h e L ite r a tu r-V e rz e ic h n is S e ite 3 0 1 f . 61 U lr ik e S eeger: Z is te r z ie n s e r u n d G o tik r e z e p ti­ o n . D ie B a u t ä t i g k e it des B a b e n b e r g e r s L e o p o ld VI. in L ilie n fe ld u n d K lo s te rn e u b u rg (= K unstw iss. S tu d ie n , Bd. 6 9 ). B e rlin 1 9 9 7 . - B in d in g (1 9 8 9 ) . G ü n th e r B in d in g : D a s D a c h w e r k a u f K irc h e n im d e u ts c h e n S prach r a u m v o m M i t t e l a l t e r bis z u m 1 8 . J a h r h u n d e r t. M ü n c h e n 1 9 9 1 . - G ü n t h e r B in ­ d in g : D e r g o tis c h e G lie d e r p fe ile r . In : W a llr a f R ich artz-Jb . 5 9 , 1 9 9 8 , 5 . 2 9 - 5 8 . 62 A c h im H u b e l, M a n f r e d S c h ü lle r: D e r D o m z u R e g e n s b u rg . V o m B a u e n u n d G e s t a lt e n e in e r g o tis c h e n K a th e d ra le . R e g e n s b u rg 1 9 9 5 . 63 R ic h a rd H a m a n n - M a c L e a n u n d Ise Schüssler: D ie K a th e d ra le vo n R eim s. Teil 1 : D ie A rc h ite k tu r. 3 Bde. S t u t t g a r t 1 9 9 3 . - A la in E rla n d e -B r a n d e n b u rg : N o t r e - D a m e in P aris. F r e ib u r g - B a s e l W ie n 1 9 9 2 . - J ü rg e n M ic h 1er: Z u r S te llu n g vo n B o u rg es in d e r g o tis c h e n B a u k u n s t. In : W a llr a f R ic h a rtz -J b . 4 1 , 1 9 7 9 , S. 2 7 - 8 6 . - H a n n a A d e ­ n a u e r : D ie K a th e d r a le v o n L a o n . D ü s s e ld o r f 1934. -

F e rn e r s in d u. a. z u n e n n e n : A r n o ld

W o iff: C h ro n o lo g ie d e r e rs te n B a u z e it des K ö ln e r D o m e s 1 2 4 8 - 1 2 7 7 (= K ö ln e r D o m b l a t t 2 8 / 2 9 ) . K öln 1 9 6 8 . -

P e te r .K u r m a n n : La C a t h é d r a le

S a in t-É tie n n e d e M e a u x . G e n f 1 9 7 1 . - C h a d e s S eym u r: La c a th é d r a le N o t r e - D a m e d e N o y o n a u X Ile siècle. G e n f 1 9 7 5 . - A n n e P roche: S a in t-R e m i d e R eim s. G e n f 1 9 7 8 . - N o r b e r t B o n g a r t z : D ie f r ü h e n B a u te ile d e r K a th e d r a le in Troyes. S t u t t ­ g a r t 1 9 7 9 . - B e r n h a r d S c h ü tz : D ie K a t h a r in e n ­ kirc h e in O p p e n h e im . B e rlin - N e w York 1 9 8 2 . -

57 H a n s J a n tz e n : Ü b e r d e n g o tis c h e n K ir c h e n ­

B ru n o K lein : S a in t-Y v e d in B r a in e (= 2 8 . V eröff. d.

r a u m . F r e ib u r g 1 9 2 8 . W ie d e r a b d r u c k in H a n s

A b t. A rc h ite k tu rg e s c h . d. K u n s th is t. In s t. d. U niv.

J a n tz e n : Ü b e r d e n g o tis c h e n K ir c h e n r a u m u n d

z u K ö ln ). K ö ln 1 9 8 4 . - N ic o la B o r g e r -K e w e lo h :

a n d e r e A u f s ä tz e . B e r lin 1 9 5 1 ,

5. 7 - 2 0 .

- Z ita t:

J a n tz e n ( 1 9 5 7 ) S. 7 3 .

D ie L ie b fra u e n k ir c h e in Trier. T rie r 1 9 8 6 . - J e a n M ic h e l L e n ia u d u n d F ra n ç o is e P e rro t: La S a in te -

58 W e r n e r G ross: Z u r B e d e u t u n g des R ä u m li­

C h a p e lle . P aris 1 9 9 1 . - F r e ig a n g ( 1 9 9 2 ) . - K a ­

c h e n in d e r m it t e l a l t e r l i c h e n A r c h it e k tu r . In :

t h a r in a C orsep ius: N o t r e - D a m e - e n - V a u x . S tu d i­

B e it r ä g e z u r K u n s t des M i t t e l a l t e r s (= V o r tr ä g e

en z u r B a u g e s c h ic h te des 1 2 . J a h r h u n d e r t s in

d e r E rsten D e u ts c h e n K u n s th is to rik e r ta g u n g a u f

C h ä lo n s -s u r-M a r n e . S t u t t g a r t 1 9 9 7 .

S c h lo ß B rü h l 1 9 4 8 ) . B e rlin 1 9 5 0 , 5 . 8 4 - 8 8 , Z i t a t

64 M ic h le r ( 1 9 8 4 ) . - Vgl. Kap. V. 8 : „ F a r b ig k e it“. -

S .8 5 f .

A la in E r la n d e -B r a n d e n b u r g : Q u a n d les c a t h é ­

59 S e d lm a y r ( 1 9 5 0 ) S. 4 8 .

d ra le s é t a ie n t p e in te s . P aris 1 9 9 3 .

In Veröffentlichungen ringen die einzelnen Autoren jeweils um eine Darlegung der formalen und stilistischen Entwicklung der gotischen Architektur, ihrer zeitli­ chen und regionalen Eigenheiten, der gegenseitigen Beeinflussung einzelner Bau­ ten, Ableitung der Bauformen, Erfassen der Bauidee und verbalen Darstellung der Erscheinung gotischer Kathedralen. Nachdem 1892-1901 Georg Dehio und Gustav von Bezold ihre Gesamtdarstel­ lung über die mittelalterliche Architektur in Europa veröffentlicht haben, deren Planwerk bis heute unerreicht ist, folgen mehrere Bücher mit Überblicken über die gotische Baukunst in einzelnen Ländern, die ebenfalls bis heute ihre Gültigkeit haben60: Lisa Schürenberg (1934), Renate Wagner-Rieger (1956/57), Robert Branner (1960), Werner Gross (1948) und die überzeugende Analyse der Klassischen Kathe­ dralen von Hans Jantzen (1957); darüber hinaus erschienen Überblicksdarstellun­ gen von Karl Heinz Clasen (1930), Hans Jantzen (1962), Paul Frankl (1962), Marcel Aubert (1964), H. Gerhard Franz (1969), Werner Gross (1969), Wim Swaan (1969) und Otto von Simson (1972). In den letzten 20 Jahren sind erneut zahlreiche Überblicksdarstellungen und Baumonographien zur gotischen Baukunst vorgelegt worden. Zu erwähnen sind besonders Louis Grodecki, der in Straßburg den bis heute besten Überblick über die „Gotik“ in der Reihe „Storia universale dell’architettura“ (1976/86) verfaßt hat, ferner Ernst Ullmann (1981), Jean Bony (1983), Die­ ter Kimpel und Robert Suckale (1985), Alain Erlande-Brandenburg (1988 und 1995), Willibald Sauerländer (1990), Günter Kowa (1990) und Norbert Nußbaum (1994). Diese werden ergänzt durch Untersuchungen einzelner Fragen, wie z. B. jüngst Ulrike Seeger „Zisterzienser und Gotikrezeption“ (1997), über Maßwerk (1989), Dachwerk (1991) und Pfeilerbildungen (1998).61 1995 haben Achim Hubel und Manfred Schüller Ergebnisse ihrer vorbildlichen bauanalytischen Untersu­ chung des Regensburger Doms vorgelegt; durch Befundbeobachtungen belegte Erkenntnisse zur Bauausführung geben neue Einblicke in Bautechnik und Bau­ fortgang.62 Eine große Zahl monographischer Darstellungen einzelner Kirchen sind in den letzten Jahren erschienen, wie z. B. die ausführliche Dokumentation der Kathedrale von Reims von Richard Hamann-MacLean (1993) und die überzeu­ gende Vorstellung der Kathedrale in Paris von Alain Erlande-Brandenburgv>(1992) und der Kathedrale von Bourges von Jürgen Michler (1980), nicht zu vergessen die immer noch gültige Behandlung der Kathedrale von Laon von Hanna Adenauer (1934), die alle in unterschiedlicher Weise das Wissen über einzelne Bauten berei­ chern und - wie auch die Überblickswerke - zeigen, daß Einzelwissen und Gesamt­ schau an Umfang und Intensität zunehmen.63 Einen wichtigen Fortschritt in der Beurteilung gotischer Architektur bringt Jürgen Michler, der 1984 an der Elisa­ bethkirche in Marburg ausführlich die Bedeutung der Farbigkeit für die Wirkung gotischer Innenräume dargelegt hat.64 Heute sind wir auf einer Stufe angelangt, wo eine baugeschichtlich-formanaly­ tische, also kunsthistorisch-ästhetisch bestimmte Betrachtungsweise allein nicht mehr weiterführt und die Einzelbetrachtung von Bauten und Bauentwicklungen, z. B. in der Ile-de-France, dem „Geburtsort“ der Gotik, keine verbindlichen Erkennt­ nisse bringen, sondern wir müssen uns grundsätzlich mit dem Thema befassen, um uns zunächst in Auseinandersetzung mit der zahlreichen und umfangreichen Literatur einen Überblick über die Grundlagen konstruktiver, gestalterischer und geistiger Verhaltensweisen zu verschaffen, die die „gotische Kathedrale“ ermög­ licht haben, wobei zu berücksichtigen ist, daß es „die Gotik“ zu keiner Zeit und an keinem Ort gegeben hat. Dieses im einzelnen darzustellen ist die Aufgabe des Kunsthistorikers. Er muß seine Beobachtungen und sein Wissen einsetzen und versuchen, seine Vorstellun-

G o tik -B e g riff und Forschungsgeschichte 33

32 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

gen in Worte zu fassen und somit seine Gedanken anderen zu vermitteln. Dieses ist das größte Problem und zeigt sich bei der Durchsicht der Literatur durchge­ hend. Albert Knoepfli hat 1982 in der ihm eigenen Art dieses Phänomen ange­ sprochen: „Kürzlich habe ich mir das Vergnügen erlaubt, in vier kapitalen Werken von Hans Jantzen (1881-1967), Peter Meyer (geb. 1894), Hans Sedlmayr (geb. 1896) und Otto von Simson (geb. 1912) einige Abschnitte gewissermaßen parallel zu lesen, welche denselben Teilaspekten des gotischen Innenraumes gewidmet sind. Da ergibt sich ein eindrückliches Bild, wie groß das Bemühen sein muß, die Ein­ deutigkeit der kunstwissenschaftlichen Information mit ihrer sprachlichen Bild­ haftigkeit in Einklang zu bringen und eben diese Teilaspekte einer Ganzheit ein­ zugliedern. Und daß wir zum Verständnis des Mittelalters über den Schatten des Rationalismus springen müssen, der seit den Zeiten der Renaissance und der Auf­ klärung unser analytisch durchdringendes, wissendes Sehen bestimmt und för­ dert. Die vier Werke haben, jedes in seiner Art, zu einer neuen Sicht der Stilerschei­ nungen gotischer Architektur wesentlich beigetragen. Angebotene Alternativen sind jedoch von den Lesern weit mehr als notwendig zu Gegensätzen der Auffas­ sung hochstilisiert worden; eine unvermeidliche Folge der Vereinzelung von Aus­ sagen, die der Empfänger nicht wieder zusammenbringt. Ein also irreführender Rapport trägt wohl die Hauptverantwortung für Anwürfe an die Adresse der Kunstwissenschaft, wie ich sie vor wenigen Wochen vernahm: sie streite ja heute noch darüber, ob die Bewegung des gotischen Kathedralraumes von unten nach oben strebend zu lesen sei oder in umgekehrter Richtung von den Gewölben über die sich zerfasernden Dienstebündel, die wie Luftwurzeln heruntergelassen erscheinen.“65 Ik o n o lo g is c h e B e d e u tu n g

In einen anderen Bereich ist Sedlmayr vorgestoßen, indem er den formal begrün­ deten Baldachinraum zugleich als Abbild des Himmelsgewölbes gemäß spezifisch mittelalterlicher Vorstellung deutet und auf die „Gesamtbedeutung der Kathedra­ le, Abbild des Himmels zu sein“, verweist; seine Absicht war es, „von der abstrak­ ten Stil- zur konkreten Bedeutungsgeschichte zu kommen“. Vorstufen dazu sind das Buch des Theologen Joseph Sauer (1872-1949) „Symbolik des Kirchengebäu­ des“ von 1924 und Edgar de Bruyne „Études d’Esthétique médiévale“ von 1946, wo zahlreiche Belege für die Interpretation der gebauten Kirche, ecclesia materialis, als geistige Kirche, ecclesia spiritualis, vorgelegt worden sind.66 Darauf haben 1951 Günter Bandmann mit seiner „Mittelalterlichen Architektur als Bedeutungsträ­ ger“ und Otto von Simson „The Gothic Cathédral“ (1956, deutsch 1968/72) zurück­ gegriffen.67 Wichtige Ergänzungen hat Friedrich Ohly mit seinen Münsteraner Forschungen gebracht.68 Die Ikonographie der Kathedrale, d. h. der Kirchenbau als Bedeutungsträger, betrifft, wie Günther Binding ausführlich dargelegt hat, nun aber nicht gezielt die gotische Kathedrale, sondern in gleicher Weise alle romanischen Kirchen, vor­ nehmlich schon in karolingischer Zeit.69 Mit der Frage nach dem „Mittelalterlichen Kunsterleben nach Quellen im 11.-13. Jh.“ befaßt sich schließlich ein von Günther Binding und Andreas Speer 1993 herausgegebener Aufsatzband.70 B a u b e tr ie b u n d B a u te c h n ik

Dieter Kimpel legte 1981 seine Vorstellungen über die serielle Bauproduktion in der hochgotischen Architektur und ihre wirtschaftlichen Aspekte dar. Dabei geht es um die zunehmende Normierung der Werksteine in der Zeit zwischen etwa 1180 und 1220, mit deren Hilfe nicht nur die Präfabrikation und das Lagern auf Vorrat, sondern auch ein zügiger Versatz der vorgefertigten Teile möglich wurde.71

65 A lb e r t K n o e p fli: D ie S p ra c h e des K u n s th is to ­ rikers. H ilf e u n d H in d e r n is . In : A r c h it e k t u r u n d S prach e. G e d e n k s c h rift f ü r R ic h a rd Zü rcher. H rsg. C a r lp e te r B ra eg g er. M ü n c h e n 1 9 8 2 , S. 1 6 9 - 1 9 0 , Z i t a t S. 1 8 4 . - Vgl. d a z u a u c h d ie p o le m is c h e n A u s fü h r u n g e n vo n M ü l l e r (1 9 9 0 ) . 66 Jo sep h S a u e r: S y m b o lik des K ir c h e n g e b ä u d e s u n d s e in e r A u s s t a t t u n g in d e r A u f fa s s u n g des M it t e la lt e r s . F re ib u rg 21 9 2 4 . - E d g a r d e B ru y n e : É tu d e s d 'E s th é tiq u e m é d ié v a le (= R ijk s u n iv e rs it e i t te G e n t. W e r k e n u itg e g e v e n d o o r d e F a c u lt e i t v a n d e w ijs b e g e e r te e n L e tte r e n , L ie fe r u n g 9 7 - 9 9 ) . 3 Bde. B rü ssel 1 9 4 6 . 67 G ü n te r B a n d m a n n : M it t e la lt e r lic h e A r c h ite k ­ t u r als B e d e u tu n g s tr ä g e r . B e rlin 1 9 5 1 (m e h r e r e u n v e r ä n d e r te N a c h d ru c k e ). - v. S im s o n (1 9 7 2 ) . 68 F r ie d r ic h O h ly : Sch r i f l e n z u r m i t t e l a l t e r l i ­ c h e n B e d e u tu n g s fo rs c h u n g . D a r m s t a d t 1 9 7 7 . -

72 S ie h e K ap. „ E in le it u n g “ A n m . 3.

B ru n o R e u d e n b a c h : S ä u le u n d A p o s te l. Ü b e r le ­

73 A m é d é e F ran cois Frézie r: La T h e o rie e t la P ra ­

gungen zum

tiq u e d e la C o u p e des P ierres e t des Bois, p o u r la

V e r h ä lt n is v o n A r c h it e k t u r u n d

a r c h ite k tu r e x e g e tis c h e r L ite r a tu r im M it t e la lt e r .

C o n s tr u c tio n des V o û te s e t a u tr e s P a r tie s des

In : F r ü h m itte la lte r lic h e S tu d ie n (= Jb. d. In s titu ts

B â t im e n t s C ivils e t M il it a ir e s , o u T r a ité d e S té ­

U n iv e r s it ä t

r é o t o m ie a l'U s a g e d e l'A rc h ite c tu re . 3 Bde. Paris,

York 1 9 8 0 , 5.

S tr a ß b u r g 1 7 3 8 , 1 7 3 9 , 1 7 5 4 . - P ie rre d u C o lo m ­

3 1 0 - 3 5 1 . - H e in z M e y e r : D ie Z a h le n a lle g o r e s e

b ie r: A m é d é e F ra n ç o is F rézie r. In g é n ie u r O r d i­

f

F r ü h m i t t e l a lt e r f o r s c h u n g

der

M ü n s t e r ) Bd. 1 4 , B e rlin , N e w

im M i t t e l a l t e r (= M ü n s te r s c h e M it te la lte r -S c h r if­

n a ire en C h e f d u R oy à L a n d a u . In : F e s ts c h rift f ü r

te n 2 5 ) . M ü n c h e n 1 9 7 5 . -

K a r l L o h m e y e r.

H e in z M e y e r u n d

R u d o lf S u n tr u p : L e x ik o n d e r m it t e la lt e r li c h e n

H rs g .

K a r l S c h w in g e l.

S a a r­

b rü c k e n 1 9 5 4 , 5 . 1 5 9 - 1 6 6 . - W e r n e r M ü lle r : D as

Z a h le n b e d e u tu n g e n (= M ü n s te r s c h e M it t e la lt e r -

V e r h ä lt n is z w is c h e n S t e r e o t o m ie u n d Ä s t h e t i k

S c h rifte n 5 6 ). M ü n c h e n 1 9 8 7 .

b e i F r é z ie r u n d s e in e

69 B in d in g ( 1 9 9 8 ) .

L a n d a u u n d G r o ß b r o c k e n h e im . In : T e c h n ik g e ­

70 G ü n t h e r B in d in g , A n d re a s S p e e r (H rs g .): M i t ­

s c h ic h te 3 6 , 1 9 6 9 , S. 2 7 7 - 2 9 0 .

G e w ö lb e e n t w ü r f e f ü r

te la lte rlic h e s K u n s te rle b e n n a c h Q u e lle n des 1 1 .

74 Lo uis F ra n c is S a lz m a n : B u ild in g in E n g la n d

bis 1 3 . J a h r h u n d e r ts . S t u t t g a r t - B a d C a n s t a t t

d o w n t o 1 5 4 0 . A D o c u m e n t a r y H is to ry . O x f o r d

1993.

1 9 5 2 , 21 9 6 7 . - P ie rre D u C o lo m b ie r : Les c h a n ­

71 D ie t e r K im p e l: T e c h n ik u n d S til in d e r g o t i ­

tie rs des c a th é d r a le s . O u v r ie r -

s c h en A r c h it e k t u r des 1 3 . J a h r h u n d e r ts . In : C o l­

S c u lp te u rs . P aris 1 9 5 3 , 21 9 7 3 . - B o o z ( 1 9 5 6 ) . -

A r c h it e c ts -

lo q u iu m des „ C o m ité In t e r n a t io n a l d 'H is to ir e d e

M a r c e l A u b e r t : La C o n s tr u c tio n a u m o y e n â g e .

l'A r t“. Z ü ric h 1 9 8 1 . Vgl. d a z u W illib a ld S a u e r lä n ­

In : B u lle tin M o n u m e n t a l 6 8 , 1 9 6 0 , S. 2 4 1 - 2 5 9 ;

d e r: B e z ie h u n g e n z w is c h e n S til, T e c h n ik u n d

6 9 , 1 9 6 1 , 5. 7 - 4 2 , 8 1 - 1 2 0 , 1 8 1 - 2 0 9 , 2 9 7 - 3 2 3 .

M a t e r i a l . Ein C o llo q u iu m des „ C o m it é I n t e r n a ­

- F rie d a v a n T y g h e m : O p e n o m d e m id d e le u w -

t i o n a l d 'H is to ir e d e L9A r t “, Z ü ric h 7 . - 9 . 9 . 1 9 8 1 .

se b o u w e rf. Brussel 1 9 6 6 . - R ech t (1 9 8 9 ) . - W o lf­

In : K u n s tc h r o n ik 3 4 , 1 9 8 1 , 5. 3 8 0 - 3 8 7 . - D ie t e r

g a n g S c h ö lle n D ie r e c h tlic h e O r g a n is a t io n des

K im p e l: Ö k o n o m ie , Technik u n d Fo rm in d e r h o c h ­

K ir c h e n b a u e s im M i t t e l a l t e r v o r n e h m lic h des

g o tis c h e n A rc h ite k tu r. In : B a u w e r k u n d B ild w e r k

K a th e d ra lb a u e s . B a u la s t - B a u h e r r s c h a ft - B a u ­

im H o c h m it t e la lt e r . A n s c h a u lic h e B e it r ä g e z u r

f in a n z ie r u n g . K öln - W ie n 1 9 8 9 . - D ie tr ic h C o n ­

K u ltu r - u n d S o z ia lg e s c h ic h te . G ie ß e n 1 9 8 1 , S.

ra d : K irc h e n b a u im M it t e la lt e r . B a u p la n u n g u n d

1 0 3 - 1 2 5 . - Vgl. d a z u a u c h K im p e ls A u s f ü h r u n ­

B a u fü h r u n g . L e ip z ig 1 9 9 0 . - B in d in g ( 1 9 9 3 ) m i t

g e n in K im p e l-S u c k a le ( 1 9 8 5 ) . - J e a n B o n y : La

A n g a b e d e r ä lt e r e n L ite ra tu r. - G ü n th e r B in d in g :

g e n è s e d e l'a r c h ite c tu r e g o t h iq u e : „ A c c id e n t o u

a rc h ite c tu s , m a g is te r o p eris, w e r c m e is te r e : B a u ­

N é c e s s ité ?“. In : R e v u e d e l'A r t 5 8 / 5 9 , 1 9 8 3 , S.

m e is t e r u n d B a u v e r w a lt e r im M i t t e l a l t e r . In :

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75 M ü l l e r

A l t e t (H rs g .): A rtis te s , A r t is a n s e t P ro d u c tio n

76 A lle

a r tis tiq u e a u M o y e n A ge. C o llo q u e in te r n a t io n a l.

G ü n th e r B in d in g : O p u s f r a n c ig e n u m . Ein B e itra g

C e n tre N a t i o n a l de la R ech erch e s ie n tifiq u e U n i­

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B in d in g ( 1 9 9 6 ) 5 . 1 2 7 - 1 3 6 .

N a c h w e is e

zum

F o lg e n d e n

s ie h e

Zudem kommt es Kimpel darauf an, daß die wesentlichen Elemente der gotischen Raumstruktur nicht durch ein Stilwollen zustande kommen und sich auch nicht im Verlaufe einer angeblichen Stilentelechie verwirklichen, sondern daß es sich viel­ mehr um Lösungen handelt, deren konstruktive Elemente durch technische und ökonomische Errungenschaften nach und nach ermöglicht und bedingt werden.72 Auf die Bedeutung des Steinschnitts für eine angemessene und materialspa­ rende Bauausführung ist bereits 1738/39 der französische Ingenieuroffizier Amédée Francois Frézier (um 1700-1773) in seinem Lehrbuch über den Stein­ schnitt eingegangen;73 in seinem Vorwort weist er darauf hin, daß sich die Kunst des Steinschnitts während der Gotik entwickelt hat. Auch Viollet-le-Duc macht durch entsprechende isometrische Darstellung den Steinschnitt deutlich. Schließlich begann in den 1950er Jahren die intensive Beschäftigung mit dem Baubetrieb und der Bauorganisation der gotischen Kathedrale: Louis Francis Salz­ man 1952, Pierre Du Colombier 1953, Paul Booz 1956, Marcel Aubert 1960/61, Frie­ da van Tyghem 1966, Roland Recht 1989, Wolfgang Schöller 1989, Dietrich Conrad 1990 und schließlich - nach zahlreichen Vorarbeiten seit 1972 - Günther Binding 1993.74 Mit seinem Buch „Grundlagen gotischer Bautechnik“ versucht Werner Müller 1990 nicht immer ganz ohne Polemik darzulegen, daß bei der Bewertung der goti­ schen Kathedrale die konstruktiven Notwendigkeiten und die sozialen und ökono­ mischen Grundlagen weitgehend übersehen wurden. In dem als Einführung gedachten Buch hat Müller „ganz überwiegend die mit dem Entwurf zusammen­ hängenden Probleme in den Vordergrund“ gestellt, d. h. sich mit dem „Grenzgebiet zwischen Kunstgeschichte und Technikgeschichte“ beschäftigt und hier ein umfangreiches, kritisch gesichtetes und beurteiltes Material vorgelegt. „Daß ihre Betrachtung, vor allem aber die Erörterung ihrer Entstehung (der Kathedrale), ohne Einbeziehung konstruktiver Aspekte nicht möglich ist, können selbst phäno­ menologisch orientierte Kunsthistoriker nicht leugnen. Was sie aber vehement ablehnen, sind alle Versuche, die Entstehung künstlerischer Formen technologisch zu begründen, wobei sich diese Kritik bis vor wenigen Jahren vor allem gegen Viol­ let-le-Duc und seine Schule gerichtet hat.“75 So einseitig muß das Urteil nicht ausfallen, sondern Technik und Organisation, politische, geistesgeschichtliehe und ökonomische Verhältnisse sind allgemein die Grundlage für künstlerisches Gestal­ ten, besonders für die Ausführung großer Bauvorhaben. opusfrancigenum Von zahlreichen Kunsthistorikern wird seit der Mitte des 19. Jh.s u. a. die Auffas­ sung vertreten, daß der Stil, den wir heute „Gotik“ nennen, um 1280 als opus francigenum bezeichnet wurde.76 1837 von Domkapitular Dahl in Müllers „Beiträgen zur deutschen Kunst- und Geschichtskunde“ in die Fachliteratur eingeführt, wird dieser Begriff, der einer von Schannat 1724 publizierten Nachricht über die franzö­ sische Bauweise (opus francigenum) der Ritterstiftskirche St. Peter in Wimpfen im Tal am Neckar entnommen ist, im Zusammenhang mit den Untersuchungen goti­ scher Baukunst immer wieder angeführt und behandelt. Sie wird von Otte 1854 als Zitat, von Schnaase 1856 als lateinischer Text und von Kugler 1859 mit Über­ setzung für ihre Gotik-Diskussion benutzt. Graf wählt 1878 den Begriff als Titel sei­ ner Ausführungen über den Ursprung der Gotik. Intensivere Beschäftigungen fin­ den dann in den letzten zwanzig Jahren des 19. Jh.s statt: Adler 1881, Dohme 1886, Reimers 1887, Kraus 1897, Dehio/v. Bezold 1901, Hasak 1902, Kautzsch 1907. Seit 1954 verstärkt sich das Interesse an dieser Quelle wieder: Arens/Bührlen 1954, Frankl 1960 („french style“), Aubert 1964 („französischer Stil“), Klotz 1967, v. Sim­ son 1972, Rüdiger 1979, der den Begriff mehrfach verwendet und davon spricht,

3 4 G otik-Begriff und Forschungsgeschichte

daß „der Kölner Dom ... ein opus francigenum ist, d. h. im französischen Kathedralstil erbaut“ ist, Kimpel-Suckale 1985 („französische Bauweise“) und schließlich Nußbaum 1994, der ein Kapitel mit „Opus francigenum. Die großen Kathedralbauhütten und ihr Umfeld“ überschreibt. Burkhard von Hall, der von 1296 bis zu seinem Tode 1300 Dekan des Stiftes St. Peter in Wimpfen im Tal war, berich­ tet in seiner um 1280/90 geschriebenen Chronik über den 1269 begonnenen Neubau der Kirche dieses Stiftes: „und nachdem er einen in der Baukunst er­ fahrenen Steinmetz (peritissimus in architectoria arte latomus) berufen hatte, der damals gerade aus dem Ort Paris aus einem Teil Franciens gekom­ men war, ließ er nach französischer Werkart eine Kirche aus gehauenen Steinen errichten (opere Francigeno basilicam ex sectis lapidibus construi iubet). Eben dieser Kunstfertige (artifex) wundervoller Architektur (mirabilis architecturae) fertigte die Kirche, die mit Bildern der Heiligen innen und außen hochansehnlich ausgestattet war, sowie Fenster und Säulen ganz nach der Art einer reliefierten Art (ad instar anaglifi)..." Für die Interpretation dieser Stelle ist der wohlbegründete Vorschlag von Reimers 1887 zu über­ nehmen und unter dem Begriff opus francigenum allgemein die französische Bautechnik zu verstehen, die der jüngst aus Paris gekommene Steinmetz ange­ wandt hat. Die Quader der Ostteile sind zahngeflächt, eine zeitsparende, besonders in Frankreich angewandte Steinbearbeitungsweise mit der Zahnfläche. Damit ist die von Arens 1954, Klotz 1967 und Nußbaum 1994 interpretierte Übersetzung „eine Basilika mit nach französischer Art gehauenen Steinen“, d. h. aus zahnge­ flächten Quadern, die richtige Auffassung, und mit opus francigenum nicht der gotische Baustil gemeint.

23 Sens, erzbischöflicher Palast, Palais synodal, um 1230, von V iollet-Ie-D uc 1861 restauriert.

i

36 Historische und geistige Grundlagen

Politische Verhältnisse 37

II.1. Die politischen, geistigen und wirtschaftlichen Verhältnisse

26 Der Bauherr gibt dem W erkm eister m it Richtscheit und Doppelfläche und dem Steinm etz, der m it Setzeisen und Klöpfel ein Kapitell schlägt, den Auftrag zum Kirchenbau. Buchmalerei in einer Bible moralisée, Reims (?), 2. Viertel 13. Jh. (Wien, Österr. Nat.-Bibl., Cod. 2554, fol. 3V. - Bi 623).

J e a n G im p e l: D ie in d u s tr ie lle R e v o lu tio n des

25 Saint-Denis bei Paris, Abteikirche m it den Königsgräbern, Chor unter Abt Suger 1 1 4 0 -1 1 4 4 , Um bau des Binnenchores m it durchlichtetem Triforium 1 2 3 1 -1 2 4 1 .

M it t e la lt e r s . Z ü ric h , M ü n c h e n 1 9 8 0 (frz . P aris 1 9 7 5 ).

Das 12. und 13. Jh. ist eine Zeit des geistigen, wirtschaftlichen und technischen Aufbruchs, der scholastischen „Summen“ (Zusammenfassungen eines gewaltigen theologischen Stoffs), der Universitäten und auch der Inquisition (Katherer). Zugleich sind die politischen Verhältnisse großen Wandlungen unterworfen. Zum Herrschaftsgebiet des deutschen Königs gehörten im 12. und 13. Jh. das Schelde- und Maasgebiet mit Antwerpen, Brüssel, Maastricht und Lüttich, ElsaßLothringen mit Straßburg und Metz, der Ostteil von Burgund und das Gebiet der heu­ tigen Schweiz. Die südlich der Alpen gelegenen staufischen Herrschaftsgebiete in Ober- und Unteritalien wurden nach dem Aussterben der Staufer 1250 selbständig. Der fern von Deutschland in Italien residierende Staufer Friedrich II. (1215-1250) versuchte, das nach dem Tode Friedrich Barbarossas 1190 und seines Nachfolgers Heinrich VI. 1197 in Streit und Verfall geratene Deutsche Reich zu einen, doch nach seinem Tod zerfiel Deutschland in Territorialfürstentümer, und die Städte gewan­ nen an Eigenständigkeit und wirtschaftlicher, politischer und kultureller Bedeu­ tung. Erst Rudolf von Habsburg (1273-1291) stellte nördlich der Alpen die Reichs­ macht wieder her, aber die sieben Kurfürsten und die freien Reichsstädte behielten ihre Selbständigkeit und hatten Einfluß auf die Reichspolitik. Karl von Anjou, Bruder des französischen Königs Ludwig IX., des Heiligen, wurde 1266 zum König des süditalienischen Normannenreichs in Rom gekrönt; er sorgte für französischen Ein­ fluß in Süditalien. Nachdem die Herrschaft der Staufer über die oberitalienischen Städte geendet hatte, bauten diese ihre Eigenständigkeit als Stadtstaaten weiter aus. Ganz anders als in Deutschland und Italien verlief die Entwicklung in Frank­ reich, wo seit 987 die Kapetinger als Nachfolger der Karolinger herrschten (bis 1328). Sie festigten ihre Stellung in enger Bindung an das Papsttum (Papst Urban IV, 1261-1274, war in Troyes geboren). Mit wachsender politischer und wirt­ schaftlicher Bedeutung führten sie nach und nach die Kleinstaaten zu einem ein­ heitlichen Reich zusammen und regierten von der Ile-de-France (Francien) aus: Philipp II. August 1180-1223, der 1226 frühverstorbene Ludwig VIII., der mit Bian­ ca von Kastilien (1188-1256) verheiratet war, Ludwig IX., der Heilige, 1226-1270, Philipp III., der Kühne, 1270-1285, Philipp IV, der Schöne, 1285-1314, Karl IV, der Schöne, 1322-1328, mit dessen Tod die Familie der Kapetinger ausstarb. Der engli­ sche König Edward IV. versuchte seinen Erbanspruch durchzusetzen, was 1338 den 100jährigen Krieg auslöste. Unter Heinrich II. Plantagenet (1154-1189), Herr über England, die Normandie und die Bretagne, entwickelte sich die Herrschaftsausweitung der Plantagenets für den französischen König bedrohlich, denn er hatte von seinem Vater, dem Gra­ fen von Anjou, die Grafschaft Anjou sowie Maine und Touraine geerbt und durch seine Heirat 1152 mit der kurz zuvor vom französischen König Ludwig VII. geschie­ denen Eleonore von Aquitanien die Herrschaft über Poitou, die Auvergne und Aquitanien hinzugewonnen; nun beherrschte er mehr als die Hälfte von Frank­ reich und war nicht nur der vermögendste, sondern auch an Grund und Boden reichste Herrscher Europas. Der französische König war auf Toulouse, das westli­ che Burgund, die Champagne, Vermandois, Flandern und die Ile-de-France einge­ schränkt. Sein Reich umfaßte ein Gebiet, das weniger als ein Drittel von dem betrug, was Heinrich II. unter seiner Herrschaft vereinigt hatte. Die Kathedrale von Poitiers wurde 1162 im Auftrag Heinrichs und Eleonores begonnen und bis in die 1180er Jahre ausgeführt. Unter Heinrichs Söhnen Richard I. Löwenherz (1189-1199) und Johann Ohneland (1199-1216) zerfiel die englische Herrschaft. Richard Löwenherz, der zugleich Herzog der Normandie war, hatte nach seiner Rückkehr vom Kreuzzug 55 000 Pfund Stirling aus der königlichen Kasse für den

P olitische V erh ältn isse 39

38 Historische und geistige Grundlagen

Bau der Festung Château Gaillard über Les Andelys auf einem 100 m hohen Krei­ defelsen an der Seine-Schleife zwischen Rouen und Paris zur Verfügung gestellt (Abb. 27, 28). Die Festung wurde 1196/97 in vierzehnmonatiger Bauzeit nach mo­ dernsten Erfahrungen der Kriegskunst in der traditionellen Form als Turmhügel­ burg (Motte) mit mächtigem Donjon (Wohnturm) gebaut und galt in Verbindung mit Lage, Flußsperre und einem hölzernen Fort auf der Gegenseite als uneinnehm­ bar. Schon sieben Jahre später, im Frühjahr 1204, eroberte der französische König Philipp II. August die Normandie. Château Gaillard wurde am 6. März 1204 durch Sappeure, die die Mauer unterhöhlten und durch den Latrinenturm in die Festung eindrangen, eingenommen. Die Besatzung hatte sich in den durch 5 m dicke Mau­ ern unverwundbaren Donjon zurückgezogen, doch mußten sie sich wegen Versor­ gungsmängeln den Truppen des französischen Königs ergeben. Papst Innozenz IIL, dem Vormund des in Sizilien aufwachsenden Staufers Friedrich IL, gelang es 1207, König Johann von England zu seinem Vasallen zu machen. Heinrich III. von Eng­ land (1216-1272) heiratete Eleonore von Provence, die Schwester der französi­ schen Königin, und störte dadurch erneut die französische Vorherrschaft. 1259 wurde in Paris Frieden geschlossen. Eduard I. (1272-1307) unterwarf Wales und band es an die englische Krone. 1338 brach der Konflikt mit Frankreich durch den Erbanspruch Edwards IV. von England (1337-1377) nach dem Aussterben der Kapetinger 1328 (Karl IV. der Schöne) erneut aus (lOOjähriger Krieg). Bis ins 14. Jh. war Französisch die Sprache des engli sehen Adels und am Hofe. Die Oxforder Provisionen von 1259 sind das erste offizielle Dokument, das nicht in französischer oder lateinischer, \ sondern in englischer Sprache abgefaßt ist. Darin wird bestimmt, daß königliche Lehen nicht mehr an Ausländer vergeben werden dürfen und daß die Kommandanten der königlichen Festun­ gen und Häfen englischer Abstammung sein ff müssen. Eine große Zahl der englischen Stu- $ denten studierte an der Universität Paris; dort * bestanden allein sechs englische Kollegs für Theologie. William von Occam, Robert Grosseteste, Roger Bacon und Duns Scotus haben dort gelehrt. Die Universitäten Oxford und Cambridge sind nach dem v Pariser Vorbild gegründet. Als 1174 die Kathedrale von Canterbury abbrannte, wurde Wilhelm aus Sens mit dem Neubau betraut; er führte dort in Kenntnis französisch-goti­ scher Kirchen 1175-1185 den ersten gotischen Bau aus (Abb. 223, 277), der wiederum den Chor von Saint-Étienne in Caen ab 1190 beeinflußt hat (Abb. 7). Zwischen Spanien und Frankreich bestanden enge Beziehun­ gen. Das von Arabern besetzte Spanien war mit Hilfe französi­ scher Ritter zurückerobert worden. Katalonien, mit Roussillon ver­ einigt, erkannte bis 1258 die Lehnsherrschaft des französischen Königs an. Seit 1131 schickte Bernhard von Clairvaux Mönche zu Alphons VII., König von Kastilien; mehrere Zisterzienserklöster wur­ den gegründet. Der französische König hatte sich seit dem 10. Jh. auf der Seine-Insel in Paris eine feste Residenz geschaffen. Seine Reichtümer flössen ihm aus seinem Kronland, der Ile-de-France, einer höchst fruchtbaren Land

A m b ia n is , u rbs p re d iv e s , Q u a m p re c la ro s h a b e s cives, Q u a m h o n e s tu m h a b e s c le r u m ! Si f a t e r i v e lim v e ru m , S o la re b u s in m u n d a n is H o c p re fu lg e s , A m b ia n is , q u o d n e c c le ru m n e c p a s to r e m U s q u a m v id i m e l i o r e m ... E rg o R em is, c iv it a t u m P r im a te n e n s p r in c ip a t u m T ib i m a n d a t p e r P r im a t e m , q u o d t e f a c i t o p t im a t e m , U t sis u n a d e s u p re m is , D ig n a p ro le s s a cre Rem is.

Amiens, du reiche Stadt, Die die besten Bürger hat, Die geehrtste Geistlichkeit! Du strahlst in der W eltlichkeit, Amiens, w enn ich die W ahrheit Sagen darf, von solcher Klarheit, Daß ich nirgends sonst als da So berühm te Pfarrer sah ... Doch nun Reims, du erste Stadt, Die den Vorrang innehat, Dich hebt Primas hoch empor, Stellt dich in den großen Chor, Daß du m it die höchste bist Und dein Volk dir würdig ist. Hugo von Orléans um 1 1 3 5 /4 0 (Karl Langosch: Hymnen und Vagantenlieder. Darm stadt 31961, S. 148f.)

27,28 Chateau Gaillard über Les Andelys an der Seine zwischen Paris und Rouen, 1 1 9 6 /9 7 von Richard Löwenherz als Grenzfeste gegen das Herrschaftsgebiet des französischen Königs errichtet.

schaft, zu. Kein Monarch der Christenheit verfügte im 13. Jh. über mehr Ansehen und größere Reichtümer als Philipp II. August (1180-1223) und Ludwig IX. (1226-1270), der 1297 heiliggesprochen wurde. In ungewöhnlich intensiver Weise und ganz in der Tradition wurden Weltliches und Kirchliches, Zeitliches und Ewiges zu einer glänzenden Einheit verbunden und fanden sichtbaren Aus­ druck in den Kathedralen, Klöstern und Kirchen: die hauptstädtische Bischofskir­ che Notre-Dame in Paris (ab 1163), die königliche Krönungskirche Notre-Dame in Reims (ab 1211), die Klosterkirche Saint-Denis mit der königlichen Grablege (1140-1144, ab 1231), die Sainte-Chapelle (1241-1248) als doppelgeschossige Pfalzkapelle im Königspalast auf der Pariser Seine-Insel für die 1239 vom ost­ römischen Kaiser erworbene Dornenkrone Christi, die Wallfahrtskirche NotreDame in Chartres (ab 1194) als wichtigste Marienkirche der Gegend und die Kathedrale von Amiens (ab 1218) in der damals reichsten Handelsstadt. Grund­ lage für diese Leistungen war eine festgegründete, geordnete Gesellschafts­ hierarchie, die in Frankreich in der Zeit zwischen 1140 und 1280 bestimmend war; ähnlich auch in England. Ganz anders sah es in Deutschland aus, wo der Herrscher in Süditalien residierte und die einzelnen weltlichen Herren, Bischöfe und zur Selbständigkeit aufstrebenden bürgerlichen Städte sich die Macht teilten bzw. konkurrierend auftraten. Hier zeigten sich besonders Spannungen, die aus dem Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion und des erfolgreich betrie­ benen Handels erwuchsen. Zu diesen innergesellschaftlichen Umbrüchen kamen die Auseinandersetzun­ gen zwischen Papst und Kaiser, Kirche und König sowie der beginnende Konflikt zwischen orthodoxem Glauben und Ketzerei. Dies bedingte ein Überdenken und Ordnen des christlichen Lehrgebäudes auf der Grundlage antiker Schriften, insbe­ sondere derer von Platon und Aristoteles; damit verbunden waren Fragen nach der Natur. Das führte zu einer außeror­ dentlichen Ausweitung des Wissens und der Erkenntnisse auf den verschiedenen Gebieten, wozu auch die Kreuzzüge nicht unwesentlich beigetragen haben. Der Kreuzzugsgedan­ ke, der seit 1095 lebhaft und gegenwärtig zu einem großen Teil die Politik der Kirche und der Herrscher, besonders aber das Verhalten der Ritterschaft bestimmt hatte, war 1291 mit dem Fall der Festung Akkon, der letzten fränkischen Besit­ zung im Heiligen Land, endgültig überwunden. In dieser Zeit geistigen Aufbruchs sind die monumentalen Kirchenbauten mit ihrer steinernen Größe, von Türmen gesi­ cherten Eingangsfront und reichen farbigen Ausstattung ein Zeichen der Sicherheit, des Schutzes und der Geborgenheit. Sie verkünden die Macht des Ewigen, sie sind Gottesstadt: ihr Fundament ist Christus, die Säulen sind die Apostel und Pro­ pheten, die Steine sind die lebendigen Steine, die Gemein­ schaft der Gläubigen. Hier herrscht traditionelle Ordnung, Sicherheit und Zukunft, vergegenwärtigt in der Liturgie, sichtbar in der Farbe, dem Licht, das von Gott kommt. Die Theologen entwickelten im 13. Jh. ein umfassendes Bild von der Schöpfung und der Menschwerdung sowie Theo­ rien zur Befreiung von der Schuldhaftigkeit: man konnte sich durch Riten, Taten und Geld von der Sünde freikaufen, vor­ rangig durch Klostergründungen und Kirchenbauten. Schon im 12. Jh. war große religiöse Begeisterung die Grundlage für die erfolgreichen Aufrufe zu Kreuzzügen, besonders durch

Politische Verhältnisse 4 1

4 0 Historische und geistige Grundlagen

den Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux, der 1147 sogar König Konrad III. und König Ludwig VII. von Frankreich zum Kreuzzug ins Heilige Land bewegen konnte. Auch Friedrich Barbarossa und Richard Löwenherz zogen 1189, Friedrich II. 1228 und Ludwig IX. 1248 und 1270 aus, um das Heilige Land von den Ungläubigen zu befreien. Die Kirche propagierte aber - * auch, daß die Errichtung von Kirchen oder die Beteiligung daran vor Gott ebenso hoch angerechnet würde wie die Teilnahme an einem Kreuzzug. ^ Den 1098 in Citeaux gegründeten, 1119 von Papst Kalixtus II. bestätigten Zisterzienserorden führte Bernhard (um 1090-1153), Gründungsabt von C Clairvaux, ab 1122, zentral hierarchisch orga­ nisiert, zu europäischer, höchst einflußrei­ cher Macht. Bereits um 1150 war der Orden mit mehr als 350 Klöstern im ganzen & Abendland verbreitet, und noch im 13. Jh. wurden 200 neue Klöster gegründet (Abb. 29, 30). Die Zisterzienser stellten sich gegen die vom Adel beeinflußten Cluniazenser mit ihrem prunkvollen Kloster Cluny und gegen die Pracht der Bischöfe und ihrer Bauten. Sie predigten Einfachheit, die sich in ihren Bauvorschriften deutlich äußerte, zogen mit ihren Klöstern fern von den Städ­ ten in die Einsamkeit, betonten die Handarbeit, wur­ den aber gerade dadurch in der aufblühenden Land Wirtschaft reich und gewannen Einfluß an den Königshöfen nicht nur in Frankreich, hier besonders bei Bianca von Kastilien, seit 1226 Regentin für den jungen König Ludwig IX., sondern auch am sizilischen Hof des Staufers Friedrich II. Ludwig IX., der Heilige, bevorzugte das von seinem Vater Lud­ wig VIII. 1226 gestiftete Zisterzienserkloster Royaumont (Abb. 229) als Grablege für seine nächsten Angehörigen, die Grafen von Berg wählten das von ihnen an der Stelle ihrer Stammburg gestiftete Zisterzienserkloster Altenberg bei Köln (Abb. 234) zu ihrer Grablege. Die Bedeutung des Zisterzienserordens für die schnelle und überregionale Verbreitung von neuer Bautechnik und neuen Bauformen ist durch die zentralistische Organisation des Ordens mit seinem jährlichen Generalkapitel, der straffen Filiatiations- und Visitationsstruktur und in der Verbesserung der landwirtschaftlichen Erträge und deren Vermarktung begründet. Häufig jedoch wird ihre Bedeutung für das Bauwesen, besonders im Bereich der Baugeometrie (Proportionen), überschätzt oder allzu einseitig gesehen. Mit den Bettelorden (Dominikaner 1216, Franziskaner 1223 und ähnliche Ge­ meinschaften wie die Minoriten) entwickelte sich im 13. Jh. eine neue Form des Ordenslebens, das sich hinsichtlich seiner Funktion und Organisation deutlich von den älteren Mönchsorden abhob (Abb. 238-243). Auf der Grundlage eines die urchristlichen Gemeinschaften bestimmenden Armuts- und Askese-Ideals sahen die Orden ihre Aufgabe in einer die bestehende Pfarrorganisation in den Städten übergreifenden Seelsorge, in deren Mittelpunkt die Predigt und das Bußsakrament standen. Durch die rasche Ausbreitung der Orden wurden seit der Mitte des 13. Jh.s ihre Kirchen zu einem das Stadtbild prägenden Element. Ihre schmucklose, schlichte Architektur wird bestimmt von polygonal geschlossenen Langchören und großen dreischiffigen, häufig flachgedeckten basilikalen Langhäusern. In den

29 Maulbronn, bei B retten/W ürttem berg, Zisterzienserkloster, Überblick über die Anlage m it Kirche, Klausur, Wirtschaftsgebäuden, um ­ geben von einer Mauer, 1138 gegründet, 1147 verlegt, Kirche und Klausur 1 1 4 7 -1 3 5 0 , W irt­ schaftsbauten 15./16. Jh., 1556 aufgehoben.

M it der Gründung des Zisterzienserklosters Royaumont 1228 erfüllte der jun g e König Ludwig VIII. den Wunsch seiner Eltern. Über sein Engagement berichtet später W ilhelm von Saint-Pathus:„Der König, der in dieser Zeit in seinem Landsitz Asnières w eilte, der recht nahe der besagten Abtei lag, kam o ft in selbige Abtei, die Messe und andere Gottesdienste zu hören und die Baustelle zu besichtigen. Und wenn die M önche gem äß dem Brauch ihres Ordens von CTteaux nach der Terzie zur Arbeit gingen und die Steine und den M örtel an die Stelle trugen, wo man die M auern aufführte, nahm der König die Trage und trug sie m it Steinen beladen hin, und er hielt sie vorn und ein Mönch hinten. Und das ta t er damals des öfteren.

30 M aulbronn, Zisterzienserkloster, Brunnenhaus am Kreuzgang um 1 3 4 0 /5 0 .

Und in dieser Zeit hieß der König auch oft seine Brüder, die Herren Alfons, Robert und Karl, m it anzupacken. Und bei jedem trug ein Mönch die Trage a u f der anderen Seite. Und dasselbe ließ der König von anderen Rittern aus seinem Umkreis tun. W enn seine Brüder sich m anchm al unterhalten oder herumschreien oder spielen w ollten, sagte der König zu ihnem 'D ie M önche schweigen gerade und das sollten w ir ebenfalls/ Und w enn die Brüder des Königs ihre Trage schwer beluden und unterwegs rasten w ollten, sagte er zu ihnen:‘Die M önche rasten nicht, darum sollt auch ihr nicht rasten/ Und so veranlaßte der heilige König seine Gefolgschaft, gut zu arbeiten.“

wirtschaftlich aufstrebenden Städten wurden die Bettelor­ den zu einer einflußreichen und die Zisterzienser verdrän­ genden geistigen Macht. Mit Papst Innozenz III. (1198-1216) war der Höhepunkt der mittelalterlichen Papstherrschaft erreicht. Auf der Late­ ransynode 1215 wurden nicht nur Reformen der Kirche und Ketzerverfolgung gefordert, Ordensneugründungen einge­ schränkt und Unabhängigkeit der Klöster und Bischöfe von weltlicher Macht und Abgabenpflicht angeordnet, sondern auch die Transsubstantiationslehre festgelegt, wonach Brot und Wein im Meßopfer tatsächlich in Leib und Blut Christi verwandelt werden. Dieser Wunsch nach Vergegenwärtigung bestimmte auch das Sichtbarmachen biblischer Geschichte in den Bildprogrammen der Fenster und Skulpturen an den Kathedralen. Die engen Beziehungen des französischen Königs zum Papst führten schließlich unter Papst Clemens V, der vorher Erzbischof von Bordeaux gewesen war, zur Resi­ denz der Päpste in Avignon (1309-1377) und zu ihrer Abhän­ gigkeit vom französischen König. 1140-1260 ist eine Zeit geistiger Aktivität, Durchdringung der Schöpfung, Beginn der Naturkunde, Entwicklung von Ordnungsstrukturen, zugleich aber auch eine Zeit, in der weltliche Kultur, höfische Lyrik, Welt der Minne, Verfeine­ rung der Lebensart, Lebensfreude und Genuß aufblühten. Es ist eine Zeit großer Gegensätze, jedoch eingebunden in eine übergreifende geistige Ordnung, der teilweise noch die Machtstrukturen entsprachen. Die übernatürliche Wahrheit in der von Gott geschaffenen Wirklichkeit stand nach philosophisch-theologischer Auffas­ sung fest, und die in den Kathedralschulen, Klöstern und Universitäten ausgebildeten Theologen mußten sich nur bemühen, die Wahrheit zu erkennen, zu verstehen und den Menschen nahezubringen. Die Welt wurde in Formeln erfaßt und beschrieben. Die Kathedrale mit ihren Bildprogrammen (Malerei, Skulptur) war eingebunden in diese Vergegenwärtigung und war Teil der Liturgie. Daneben entwickelte sich während des 12. und 13. Jh.s die ritterlich-höfische Kultur im Gesellschaftskreis von Adel und Rittertum und brachte die erste univer­ sale Laienkultur mit Denkinhalten und Normvorstellungen in Europa hervor, deren Leitbilder auch auf das städtische Bürgertum ausstrahlten. Um 1270/80 ist der zweite Teil des „Roman de la Rose“ (Rosenroman) und ab 1307 Dantes „Divina Commedia“ (Göttliche Komödie) entstanden, die, in der Volkssprache geschrieben, nun auch größeren Bevölkerungskreisen zugänglich waren. Im 12./13. Jh. begann sich das karolingische, im 9.-11. Jh. ausgebreitete und konsolidierte Grundherrschaftssystem des Königs sowie der kirchlichen und welt­ lichen Herren mit der Wirtschafts- und Sozialordnung und den Fronleistungen aufzulösen. Parallel zur beträchtlichen Ausweitung des kultivierten Landes im Zuge des Landesausbaus und in Wechselwirkung mit der Entfaltung der Stadtkul­ tur erreichte man in der Landwirtschaft deutliche technische Verbesserungen: Errungenschaften wie das Arbeitspferd mit Hufeisen und Zuggeschirr, Beetpflug, Sense, Ackerwagen sowie Wasser- und Windmühlen brachten höhere Erträge (Abb. 31). Zugleich entwickelte sich die Dreifelderwirtschaft, die schließlich zur

Die B e d e u tu n g e in e r K athedrale 43

4 2 Historische und geistige Grundlagen

Dreizelgenwirtschaft führte, bei der die Gewannflur eines Dorfes in drei Zeigen (Großfelder) eingeteilt wird und ein für alle Bauern verbindlicher Wechsel von Wintergetreide, Sommergetreide und Brache vorgeschrieben wurde. Auf diese Weise wurde nicht nur der Getreideertrag verdoppelt, sondern auch das Pflügen, Säen und Ernten wurden gleichmäßiger über das Jahr verteilt, gleichzeitig war die Gefahr von Mißernten reduziert. Die vorübergehende Erwärmung des Klimas und die agrarwirtschaftliche Ertragssteigerung bildeten im 12./13. Jh. die Grundlage für die Versorgung der Städte. Dort konnte sich bei der allgemeinen Verdoppelung der Bevölkerung durch das Ausbleiben von Hungersnöten und Epidemien Arbeitsteiligkeit und handwerkliche Produktion entwickeln. Dieser Prozeß wurde durch die Ein­ führung der Geldwirtschaft, die zudem das Aufblühen von Fernhandel und Gewerbe mit sich brachte, unterstützt oder überhaupt erst ermöglicht. In den Händen von Bürgern sammelten sich teilweise große Geldvermögen an; der wirtschaftliche Aufstieg war begleitet von wachsendem sozialem Ansehen und politischem Einfluß. So war seit der Mitte des 12. Jh.s bei den einen Wohlleben und Reichtum und bei den anderen ein bescheidenes, mühsames, in Naturalien abgegoltenes Dasein entstanden. Dieser eingreifende Strukturwandel und die durch die Prosperität immer zahlreicher und umfangreicher geförderten Bauaufträge führten im Zusammenhang mit der Verteuerung der Arbeitskräfte auf den Baustellen in der ersten Hälfte des 13. Jh.s zu einer Vielzahl von Innovationen: Erfindung der maßstäblichen Bauzeichnung ab ca. 1230/50, Systematisierung und Vereinheitlichung der Bauglieder, beides Voraussetzungen für die serielle Produktion von Quadern und Gliederungsfor­ men, Strebesystem im Skelettbau und damit Reduktion des Materialbedarfs, Einführung des Baukrans mit Laufrad seit der Mitte des 13. Jh.s (Abb. 52) zur Einsparung von Hilfskräf­ ten, alles einhergehend mit dem Bau der großen gotischen Kathedralen, sowie der Stifts- und Klosterkirchen, von denen besonders die des Zisterzienserordens mit seiner zentrali­ stisch ausgeprägten Struktur zu nennen sind. Um 1300 kam es infolge von Kriegen, Epidemien, Mißern­ ten und sozialen Unruhen, verbunden mit nachlassendem Wohlstand, zu einschneidenden Veränderungen der gesell­ schaftlichen und sozio-kulturellen Verhältnisse. Das 14. Jh. begann mit Kälteeinbrüchen, 1303 und 1306/07 war es so kalt, daß die Ostsee und die Flüsse zufroren, Mißernten folgten, 1315 war ein besonders nasses Jahr, in der Folge eine £ große Hungersnot; seit 1347 dezimierten immer wie- - t -Cà derkehrende Wellen der Pest die Bevölkerung. Den­ noch wurden noch Neubauten be­ gonnen, aber wie auch die unfertigen Kirchen nur lang­ sam fortgeführt. Überschau­ bare Ausstattungsstücke wurden jedoch vermehrt in Auftrag gegeben, vornehm­ lich aufgrund von Einzel­ stiftungen der zu Ansehen und Reichtum aufgestiegenen Fami­ lien in den Städten.

11.2. Die Bedeutung einer Kathedrale

31 Kornmühle, Kornernte, Pflügen, um 1 1 7 5 /8 1 dargetellt von Herrad von Landsberg im „Hortus deliciarum “ (Kopie der 1870 in Straßburg verbrannten Buchmalerei).

32 G ott als Baumeister der W elt, um 1230, Buchmalerei, Bible moralisée, Bd. 1, fol. l v (Toledo, Kirchenschatz der Kathedrale. - Bi 555).

1

D ie In te r p r e ta tio n s m ö g lic h k e it d e r g e b a u te n

K irc h e u n d ih r e r Teile is t v ie lf ä l t ig , s ie h e K ap . I, A n m . 6 6 - 6 8 . - B in d in g ( 1 9 9 8 ) m i t Q u e l le n b e le ­ gen. 2

S u g e r vo n S a in t-D e n is , D e c o n s e c ra tio n e , S a tz

4 9 ; ed . G ü n t h e r B in d in g , A n d r e a s Speer. D a r m ­ s t a d t 2 0 0 0 (im D ru c k ). 3

B in d in g ( 1 9 9 8 ) 5 . 2 5 - 2 7 .

4

H e n n ig B r in k m a n n : M i t t e l a l t e r l i c h e H e r m e ­

n e u tik . D a r m s t a d t 1 9 8 0 .

Die Kathedrale ist nicht nur ein Gehäuse für die liturgischen Handlungen, sondern sie ist Teil der Liturgie, in der jede Einzelheit ihre symbolische bzw. allegorische Bedeutung hat.1 Die gebaute Kathedrale, die ecclesia materialis, steht für die eccle­ sia spiritualis, die aus den lapides vivi, den lebendigen Steinen, d. h. den Gläubigen, immerwährend errichtet wird, denn nach Esra 5,16 wird der Tempel Gottes „seit der Zeit bis jetzt gebaut und ist noch nicht vollendet“ [ex eo tempore usque nunc aedificatur et necdum completum est). Das Kirchengebäude ist in der theologisch begründeten Interpretation ein weitgehend aus dem irdischen Dasein ausgeson­ dertes Gebilde, eine Steigerung der Stiftshütte und des Salomonischen Tempels, die als Typen der Altzeit in der gegenwärtigen Kirche auf das Himmlische Jerusa­ lem der Eschatologie hinweisen. Das anzuschauende Werk, das zum Erkennen anregen und die Schönheit spüren lassen soll, ist durch die Werktätigkeit des Bau­ meisters und der Handwerker „mit geometrischen und arithmetischen Hilfsmit­ teln“ (geometricis et aritmeticis instrumentis)2 geformt und bietet der Seele für ihren Aufstieg von der materiellen zur immateriellen Welt ein angemessenes Gehäuse, eine Stätte der geistigen Übungen. Zahlen und Geometrie sind die Ord­ nungskräfte dieser Welt als Hinweis auf die vollkommene, die göttliche Ordnung des Kosmos, aus dem das göttliche Licht gesandt ist, das sich in den leuchtenden Farben spiegelt. Für den Menschen hat ein Gegenstand (res) an sich zunächst keine Bedeutung. Damit er ihm eine Bedeutung zuordnen kann, muß er für ihn zum Zeichen (figura) werden, denn nur als Zeichen, das über sich selbst hinausweist, können Gegen­ stände oder Formen eine Bedeutung erlangen.3 Das von Gott Geschaffene (res) exi­ stiert unabhängig vom Menschen. Erst, wenn der Mensch sich ihm zuwendet, d. h. einen Namen (nomen) gibt, ordnet er ihm eine Bedeutung zu (Genesis 2,19). Die Bedeutung ist immer eine subjektiv hergestellte Verbindung zwischen einem objektiv gegebenen Ding und einem subjektiv gegebenen Zeichen, das eine histo­ risch bedingte und begrenzte Bedeutung hat. Was uns allgemein, im besonderen auch in den Bau- und Kunstformen, überliefert ist, sind nun aber nicht Bedeutun­ gen, sondern Zeichen oder Zeichenzusammenhänge, in denen die subjektiv kon­ stituierte (secundum placitum) Bedeutung jeweils festgelegt ist. Sie muß für ande­ re aber erst objektiviert werden, d. h., die Rezeption von Bauten und Bauformen als hermeneutischer Prozeß vollzieht sich stets unter der Prämisse der Geschichtlich­ keit des Verstehens. Da nun aber das Zeichen beliebig ist, auf Absprache beruht, d. h. auf Konvention, ist es auch bei einem unveränderten, materialen Zeichenträ­ ger veränderbar. Die Bedeutung muß also von einem Subjekt eingeführt und von einem Betrachter aufgrund seiner Kenntnis der Konvention erkannt werden. Da nun die Zeichen mehrdeutig sind und verschiedene Interpretationen zulassen, ist das Zeichen in seiner Bedeutung nur in seinem Kontext zu erfassen. Auch können gleiche Zeichen zeitlich, also geschichtlich, sich wandelnde oder mehrere gesetzte Bedeutungen haben. Somit sind für uns - aber auch schon in der Geschichte - die Zeichen und ihre Bedeutungen in ihrer objektiven Erkenntnismöglichkeit einge­ schränkt und sehr anfällig für Fehldeutungen. Einen besonderen Zeichenwert hatten für den Bauherrn im Mittelalter die in der Bibel beschriebenen Bauten wie die Arche Noah (Genesis 6,14-16), das Tabernakel des Moses (Exodus 26,1-37; 27,1-21), der Tempel Salomos (1. Buch der Könige 5,15-32; 6,1-38; 7,13-51; 8,1-8; 2. Chronik 3-7), die Vision Ezechiels vom neuen Gottesreich (Ezechiel 40,1-42, 20; 43,13-17) und das Neue Jerusalem der Apoka­ lypse (Offenbarung 21,10-21).4 Dies alles war nach dem Willen Gottes gebaut. Patristik und Mittelalter sind der Auffassung des Bischofs von Karthago Ouodvult-

Die Bedeutung einer Kathedrale

4 4 Historische und geistige Grundlagen

deus (geb. um 453) gefolgt, der die Maße der Arche, den Umfang des Bundeszeltes und die Höhe des Tempels Salomos als typologische Zeichen [figurae) in Anspruch genommen hat.5 In den Hymnen zur Kirchweihe wird im 8.-13. Jh. die Kirche als irdisches Abbild des Himmlischen Jerusalem gefeiert, die Bestandteile des Gebäu­ des werden auf die tätigen Glieder der Kirche bezogen. Schon Beda Venerabilis (gest. 735) und ihm folgend Amalar von Metz (gest. um 850) sowie Sicard von Cre­ mona (um 1155-1215) und schließlich Durandus von Mende (1230/31-1296) haben ausführlich die Parallelisierung von lebendiger und gebauter Kirche vorge­ nommen. Der Tempelbau Salomos wird als Präfiguration der christlichen Kirche verstanden, d. h., das Kirchengebäude ist demnach die Steigerung des Tempels, so wie die Liturgie der Kirche den Tempelkult spiegelt und überhöht. Entsprechend hat sich Abt Suger von Saint-Denis (um 1081-1151) 1140 ge­ äußert. Die neue Kirche soll Abbild des Salomonischen Tempels sein, der - so das Buch der Weisheit (9, 8) - ein Abbild des Bundeszeltes des Moses nach dem Willen Gottes war. Wer durch das Westportal von Saint-Denis tritt, geht durch die Himmels­ tür zum wahren Licht, wo Christus die wahre Tür ist. In der liturgischen Handlung innerhalb der gebauten Kirche ist die lebendige Kirche, die Gemeinschaft der Gläu­ bigen, symbolisch zu erkennen, wie Suger im Weihebericht ausführt: „In der Mitte nun erhoben zwölf Säulen, die die Anzahl der zwölf Apostel vorstellen, in zweiter Linie aber ebenso viele Säulen der Seitenschiffe, die die Zahl der Propheten bezeich­ nen, den Bau unvermittelt hoch, wie der Apostel sagt, indem er in geistlicher Weise baut: Thr seid nun nicht Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, erbaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten, mit Christus Jesus selbst als dem vorzüglichsten Eckstein', der beide Wände verbin­ det, ‘in dem das ganze Gebäude' - sei es geistig oder materiell - ‘zu einem heiligen Tempel im Herrn wächst.' Je höher und je passender wir in ihm uns bemühen, materiell zu bauen, desto mehr werden wir belehrt, daß wir durch uns selbst geist­ lich ‘zu einer Wohnung Gottes im Heiligen Geist auferbaut werden'.“6 Durandus von Mende beginnt sein umfangreiches Buch über die Liturgie (1286/96) mit dem Satz: „Alles, was zu den kirchlichen Gottesdiensten, Dingen und Schmuck (ornamenta, d. h. der Glanz der Heiltümer wie Altar, Reliquiare, Gewän­ der, Geräte, Bücher) gehört, ist voller göttlicher Zeichen und Geheimnisse.“7 In einem späteren Kapitel schreibt er: „Die materielle Kirche, in der das Volk, um Gott zu loben, zusammenkommt, zeigt die heilige Kirche an, die im Himmel aus leben­ digen Steinen gebaut wird.“8 Solche typologischen und allegorischen Deutungen hat schon in Anlehnung an den Engländer Beda Venerabilis (gest. 735) der Trierer Erzbischof und Lehrer an der Hofschule in Aachen, Amalar von Metz (775/80 bis um 850), in seinem Kaiser Ludwig dem Frommen gewidmeten Buch Liber officialis von 823 dargelegt, das im ganzen Mittelalter hochgeschätzt war: „Wenn wir näm­ lich Zusammenkommen, um zu Gott zu beten, ist es für uns zweckdienlich zu wis­ sen, daß wir die Werke der zu bauenden Mauern unserer Kirche haben müssen, wie jene die der Stadt Jerusalem hatten.... Die Mauer unserer Kirche hat im Funda­ ment Christus, auf dessen Fundament sind festgefügt die Apostel und die durch sie geglaubt haben sowie glauben werden. Wir fügen am heutigen Tage diese Mauer zusammen, die immer gebaut werden wird bis an das Ende der Welt. Ein jeder der Heiligen, der von Gott für ein ewiges Leben bestimmt ist, ist ein Stein die­ ser Mauer. Ein Stein wird auf einen Stein gelegt, wenn die Lehrer der Kirche Jünge­ re zum eigenen Studium heranziehen, zum Lehren, zum Verbessern und zum Fe­ stigen in der heiligen Kirche. Ein jeder hat über sich einen Stein, der eine brüderliche Last trägt.... Die größeren Steine, sowohl die geglätteten wie die Quader, die (als Außenschale) auf beiden Seiten davor gesetzt werden, in deren Mitte die kleineren Steine liegen, sind die vollkommeneren Männer, die die schwächeren Schüler oder

Ursprüngliche Inschrift des Abtes Suger auf den Bronzetüren von Saint-Denis: W er Du auch bist, der Du die Herrlichkeit dieser Türen rühmen willst: nicht das Gold und die Kosten bewundere, sondern die Leistung dieses Werkes! Edel erstrahlt das Werk, doch das Werk, das edel erstrahlt, soll die Herzen erhellen, so daß sie durch wahre Lichter zu dem w ahren Licht gelangen, w o Christus die w ahre Tür ist. W elcher Art dieses innen ist, das bestim m t die goldene Tür ihnen. Der schwerfällige Geist erhebt sich m it Hilfe des M ateriellen zum W ahren, und obwohl er zuvor niedergesunken war, ersteht er neu, w enn er dieses Licht erblickt hat.

33 ► Köln, Dom, Chor 1248 begonnen, um 1300 fertig, um 1310 verglast, 1322 gew eiht, an den Pfeilern Figuren der Apostel, Christus und M aria als Träger der eccles ia s p iritu a lis , um 1270.

5 O u o d v u lt d e u s , D e g l o r ia r e g n o q u e s a n c ­ t o r u m X III, 1 7 ; CCSL 6 0 , 2 2 1 . - F rie d ric h O h ly: H a u s III (M e ta p h e r ). In : R e a lle x ik o n f. A n t ik e u n d C h r is t e n t u m 1 3 , 1 9 8 6 , Sp. 9 0 5 - 1 0 6 3 . - B in d in g ( 1 9 9 8 ) 5. 3 8 3 . 6

S u g e r vo n S a in t-D e n is , D e c o n s e c ra tio n e ; B in -

d in g -S p e e r ( w ie A n m . 2 ) S a tz 5 8 . 7 D u r a n d u s vo n M e n d e , Rationale divinorum officiorum , prohem ium 1 ; C C C M 1 4 0 ,3 . 8

W ie vo rh er, 1,1,9; C C C M 1 4 0 ,1 5 .

45

Die Bedeutung einer Kathedrale 4 7

4 6 Historische und geistige Grundlagen

Brüder in der heiligen Kirche durch ihre Ermahnungen und Gebete bewahren. Die Festigkeit der Mauer kann ohne Mörtel nicht sein, Mörtel besteht aber aus Kalk, Sand und Wasser. Der siedende Kalk ist die Liebe, die sich mit dem Sand verbindet. ... Damit aber Kalk und Sand tauglich für den Bau der Mauer sind, werden sie durch die Beimengung von Wasser verbunden. Das Wasser ist der Heilige Geist.... Denn so, wie ohne Mörtel die Steine der Mauer nicht zu einer festen Mauer miteinander verbunden werden können, so können Menschen nicht zum Gebäude des Himmli­ schen Jerusalem verbunden werden ohne Liebe, die der Heilige Geist wirkt.“9 Diese Hinweise mögen genügen, um zu verdeutlichen, daß die theologischen Vorstellungen weder die gotische Kathedrale geschaffen noch begründet haben. Diese theologischen Vorstellungen sind eindeutig dem Bereich des theoretischen Wissens und der Theologie zuzuordnen und in traditioneller, schon lange vor dem 12. Jh. bekannter Weise zu interpretieren. Sie waren ebenso für die romanische wie auch für die gotische Kathedrale sinnstiftend, aber nicht formgebend. Die gotische Kathedrale ist zwar nicht zu Stein gewordene Philosophie, aber sie ist von dem gleichen Geist bestimmt, der sich auch in der Philosophie bzw. Theolo­ gie zeigt. Alle Wissenschaften (scientiae) und Kunstfertigkeiten (artes) sind auf die Vollkommenheit des Menschen, auf seine Glückseligkeit (beatitudo) ausgerichtet (Thomas von Aquin, 1224/25-1274). Nach Hugo von St. Viktor (um 1096-1141) soll sich der Mensch durch das Streben nach Weisheit (sapientia) bemühen, die Unversehrtheit seiner Natur wiederherzustellen, um letztlich zu seiner wahren Erfüllung in der Weisheit Gottes zurückzufinden. Die Weisheit ist die vorzüglichste Vollkommenheit der Vernunft, die die Ordnung zu erkennen vermag, die zwischen den Dingen und auf ein Ziel hin besteht, somit ist es nach Thomas von Aquin, der darin Aristoteles folgt, „Sache des Weisen zu ordnen“. Jedes Seiende hat demnach an dem Göttlich-Schönen teil, welches nach allge­ meiner mittelalterlicher Auffassung mit dem Guten identisch ist.10 Nach Thomas von Aquin, angeregt von Pseudo-Dionysius, fügt aber das Schöne begrifflich etwas dem Guten hinzu: die Beziehung zur Erkenntnis. Bei Alexander von Haies (um 1185-1245) ist „die Wahrheit eine Disposition der Form (veritas est dispositio ex parte formae), die auf das Innere des Seienden bezogen ist, die Schönheit (pulchri­ tudo) dagegen ist eine Disposition der Form, die auf das Äußere bezogen ist“. In Texten mittelalterlicher Autoren wird von Schönheit niemals im Sinne von „Kunstschönheit“ gesprochen. Vielmehr sagt Hugo von St. Viktor: „Die Gestaltung gewisser Dinge bewundern wir, weil sie auf eine besondere Art schicklich und in übereinstimmender Weise zusammenpassend sind, so daß eben die Planung des Werkes gewissermaßen die besondere sich hinwendende Umsicht des Gründers (conditor, Gott) anzuzeigen scheint.“ Robert Grosseteste, Bischof von Lincoln, defi­ niert in seinen Werken De divinis nominibus und Hexaemeron um 1230 die Schön­ heit ähnlich, aber noch eindeutiger: „Die Schönheit aber ist Einklang (concordia) und Übereinstimmung (convenientia) eines Dinges in sich selbst und Harmonie (harmonia) aller seiner einzelnen Teile in sich selbst und in bezug auf die übrigen und in bezug auf das Ganze und des Ganzen in bezug auf alle Teile“, und: „Die Schönheit ist die Eintracht der Verhältnisse (proportionum concordia pulchritudo est).“ Ähnlich erklärt auch Thomas von Aquin (1224/25-1274) in seinem Haupt­ werk Summa theologiae um 1250 die Schönheit, allerdings im Kontext seiner Gotteslehre: „Für die Schönheit sind drei Dinge erforderlich. Erstens die Vollstän­ digkeit oder Vollkommenheit; unvollständige Dinge nämlich sind häßlich. Weiter die rechte Proportion (proportio) oder Harmonie (harmonia). Und schließlich die Klarheit (claritas); denn wir nennen solche Dinge schön, die leuchtende Farben haben.“ Auf dieser Basis ist das Kunsterleben im Mittelalter, besonders in der Zeit der Gotik, zu beurteilen.11

34 ► Chartres, Kathedrale N otre-Dam e, Prodigus-Fenster im Chor, um 1 2 0 5 /1 5 .

9

A m a l a r vo n M e t z , Liber officialis IV, 3, 4 - 7 ;

B in d in g ( 1 9 9 8 ) 5 . 3 9 5 f 10 Z u m f o l g e n d e n J a n A . A e r ts e n : D ie F ra g e n a c h d e r T r a n s z e n d e n t a l it ä t d e r S c h ö n h e it im M it t e la lt e r . In : H is t o r ia p h ilo s o p h ia e m e d iia e v i. F e s ts c h rift K u r t Flasch. H rs g . B u r k h a r d M o js is c h u n d O l a f P Iu ta . A m s te r d a m , P h ila d e lp h ia 1 9 9 1 , S. 1 - 2 2 . - J a n A . A e r ts e n : „ Ü b e r d a s S c h ö n e " A lb e rts des G ro ß e n K ö ln e r V o rle s u n g z u D io n y s i­ us A r e o p a g it a . In : D o m b a u u n d T h e o lo g ie im m itte la lte r lic h e n Köln. H rsg. L u d g e r H o n n e f e id e r u. a. (= S tu d ie n z u m K ö ln e r D o m 6 ). K ö ln 1 9 9 8 ,

5 . 4 1 7 - 4 2 7 . - A n d re a s S peer: K u n s t u n d S c h ö n ­ h e it . In : M is c e lla n e a M e d i a e v a l i a 2 2 , 1 9 9 4 , 5. 9 4 5 - 9 6 6 . - J a n A . A e r ts e n : Ü b e r d a s S c h ö n e (le ct. 5 ). In : A r c h iv f. m it t e la lt e r l. P h ilo s o p h ie u n d K u lt u r III. S o fia 1 9 9 6 , S. 9 7 - 1 0 3 . - S ie h e a u c h D o m H e n r i P o u illo n : La b e a u t é , p r o p r ié té tr a n s ­ c e n d a n ta le , c h e z les s c o la s tiq u e s ( 1 2 2 0 - 1 2 7 0 ) . In : A rc h iv e s d 'h is t o ir e d o c tr in a le e t lit t é r a ir e d u m o y e n â g e 2 1 , 1 9 4 6 , S. 2 6 3 - 3 2 8 . 11 G ü n t h e r B in d in g , A n d re a s S p e e r (H rs g .): M i t ­ te la lte rlic h e s K u n s te rle b e n n a c h d e n Q u e lle n des 1 1 . bis 1 3 . J a h r h u n d e rts . S t u t t g a r t - B a d C a n s ta t t 1993. 12 A n d re a s S peer: D ie e n td e c k te N a tu r. U n te r s u ­ c h u n g e n z u B e g rü n d u n g s v e rs u c h e n e i n e r 'scien­ t i a n a t u r a l i s ' im 1 2 . J a h r h u n d e r t . L e id e n , N e w York, K öln 1 9 9 5 . 13 F rie d ric h O h ly : Deus G eom etra. S k iz z e n z u e in e r V o r s te llu n g vo n G o tt. In : T r a d itio n

als

h is to ris c h e K ra ft. H rs g . N o r b e r t K a m p u n d J o a ­ c h im W o lla s c h . B e rlin , N e w York 1 9 8 2 , S . l - 4 2 .

Um ein mittelalterliches Kirchengebäude in seiner Bedeutung verstehen zu können, ist das Wissen um die theologisch-philosophischen Hintergründe als Ganz­ heit aller Erkenntnismöglichkeiten mit dem alleini­ gen Ziel, das transzendente Göttliche zu erfassen, notwendig. Im Laufe des 13. Jh.s hatte sich - von Frankreich ausgehend (Chartres, Paris) - in allen Bereichen das Bemühen entwickelt, im harmoni­ schen, wohlproportionierten Kosmos der Schöp­ fung den genauen Ort für den Menschen zu be­ stimmen, sowohl bezüglich seiner Vernunft als auch seiner Natur, d. h. in den vollkommenen Formen, in denen sich Gott offenbart. Man be­ mühte sich, das Geheimnis der Welt zu erkennen und die innewaltende göttliche Ordnung auf­ zuzeigen.12 Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie sind die „Instrumente“ (instrumenta), d. h. die Methoden, die auch nach Suger notwendig sind, „damit das Werk schicklicher und rühmlicher wohlbedacht zustande gebracht werden könne“. Geometrie als geistiges Grundgestaltungsele­ ment gotischer Kathedralen ist im Gesamtzu­ sammenhang einer vorrangig theologischen Interpretation des Kirchengebäudes zu berück­ sichtigen. Die gotische Kathedrale ist bestimmt von „Rationalität“, wie es z. B. Thierry von Char­ tres (gest. nach 1149, seit 1142 Kanzler in Char­ tres) und Suger von Saint-Denis ausgedrückt haben. Nach Platons Schrift Timaios, von dem in Chartres die erste Hälfte umfassend gelesen und verarbeitet wurde, muß es für alles, was entsteht, einen rechtmäßigen Grund und ein Prinzip geben. In der Baukunst sind es die Zahl und die Geometrie, die Ordnungsstrukturen und aufzeigbare Entstehungsmuster bewirken. So wird dem Baumeister wie dem Schöpfergott in den Pariser Bible-Moralisée-Illustrationen ab 1220/30 der Zirkel als Bemessungsinstrument charakterisie­ rend in die Hand gegeben, mit dem das architek­ tonische Werk, im Geiste konzipiert (in mente conceptum), dauerhaft umgesetzt wird.13 Diese Gedanken haben im 12. Jh. den Boden bereitet, auf dem im 13. Jh. in der Ile-de-France (Chor und Langhaus der Krönungskirche in Reims 1211-1233, Umbau der Grabeskirche in Saint-Denis 1231-1241, königliche Palastkapelle Sainte-Chapelle in Paris 1241-1248) die neue Kathedrale entstehen konnte. Nicht der Initiative der Künstler ist die Kom­ position überlassen, sondern sie folgt den seitens der Kirche im zweiten Konzil von Nicäa 787 auf-

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gestellten Grundsätzen und Traditionen und wird von den Theologen bestimmt; dem „Künstler“ obliegt die technische Ausführung auf der Basis seiner Erfahrungen. Über die theologischen Vorgaben des Bauherrn, der häufig unter Bezug auf den ersten KorintherBrief des Apostels Paulus - „Ich habe wie ein weiser Architekt das Fundament gelegt“ - als architectus bezeichnet wird, sind schriftliche Zeugnisse nicht überkommen. Auch die Schriften des Abtes Suger von Saint-Denis, die so häufig dafür in Anspruch genommen wer­ den, geben über recht allgemeine Gedanken hinaus keine konkreten Hilfen. Innerhalb der Lehre von den Sieben Freien Künsten (septem artes liberales) beschäftigen sich die vier Fächer des Quadrivium (Arith­ metik, Geometrie, Musik, Astronomie) auf der Grundlage der Zahlen mit der Natur der sin­ nenfälligen Welt.14 Sie sind jedoch nicht nur als Selbstzweck, als Weg zur besseren Welt­ kenntnis anzusehen, sondern auch als Mög­ lichkeit, Gott und seiner Idee der Schöpfung näherzukommen, und zwar mit dem immer wieder zitierten nachdrücklichen Bezug auf die Aussage im biblischen Buch der Weisheit (Liber sapientiae Salomonis 11, 21): „Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ (omnia in mensura et numero et pondere dis­ posuisti). So galt, je mehr die Kathedrale die­ sem dem Kosmos innewohnenden Ordnungs­ gesetz folgte, desto mehr war sie geordnet, wahr und konnte den Teilnehmern an der Liturgie zur Erkenntnis, zu Gott führen, „der allein der Schöpfer und Kunstfertige (artifex) der Natur ist“ (Hugo von St. Viktor). Schon Platon stellte im Philebos, der im 12. Jh. zwar noch unbekannt, aber in seiner Auffassung seit Augustinus wirksam war, fest: „Wenn jemand aus allen Künsten die Rechenkunst und die Meßkunst und die Waagekunst ausscheidet, so ist es, geradeheraus gesagt, nur etwas Geringfügiges, was von einer jeden dann noch übrigbleibt.... Als Schönheit von Gestalten will ich nicht das bezeichnen, was wohl die meisten glauben möchten, wie etwa die Schönheit lebender Körper oder gewisser Gemälde. Als schön bezeichne ich viel­ mehr etwas Gerades und Kreisförmiges und aus diesen wiederum die Flächen und Körper, die gedreht oder durch Richtscheit und Winkelmaß bestimmt werden,... denn diese sind immer an und für sich schön und haben eine eigentümliche Lust.“ Ähnlich äußert sich Platon in der im Mittelalter durch die lateinische Übersetzung des Calcidius bekannten ersten Hälfte des Timaios. Nach Augustinus (354-430) ist das gleichseitige Dreieck schöner als das ungleichseitige, weil mehr Gleichheit in ihm ist; noch schöner ist das Quadrat, in dem gleiche Winkel gleichen Seiten gegenüberstehen; am schönsten ist aber der Kreis, bei dem kein Winkel die konti­ nuierliche Gleichheit des Umrisses unterbricht.

Die B e d e u tu n g e ine r K athedrale 4 9

35 Straßburg, M ünster,W estansicht, W im perg über dem H auptportal, um 1 2 9 0 /1 3 0 0 .

36 Reims, Kathedrale N otre-Dam e, Ostchor m it den Engelsfiguren als W ächter der M auern des Himmlischen Jerusalem, um 1 2 1 5 /2 0 .

15 D o m in ic u s G u n d is s a lin u s , D e d iv is io n e p h ilo ­ s o p h ia e ; L u d w ig B au er, in : B e iträ g e z u r Gesch. d. P h ilo s o p h ie des M i t t e l a l t e r s IV, 2 - 3 . M ü n s t e r 1 9 0 3 , 5 . 1 0 9 . - B in d in g ( 1 9 9 8 ) S. 2 1 1 f 14 Z u m f o lg e n d e n B in d in g ( 1 9 9 8 ) 5 . 1 6 5 - 2 1 7 .

16 B in d in g ( 1 9 9 8 ) 5 . 1 6 5 - 2 1 7 , 4 1 9 - 4 5 2 .

Die theoretischen Vorstellungen von Platon und Augustinus verwendet der Spa­ nier Dominicus Gundissalinus (um 1140/50) in praktischer Hinsicht: Jeder Kunst­ fertige (artifex) der mechanischen Künste (wie z. B. jeder Handwerker, Zimmer­ mann, Schmied und Maurer) ist nach der Geometrie bei der Herstellung und beim Arbeiten mit Hilfe der artes mechanicae praktisch (practice) tätig.15 Entsprechend hat der Werkmeister Villard de Honnecourt ein Kapitel seines um 1220/30 entstan­ denen Musterbuches überschrieben: „Hier beginnt die Kunst der (Grund-)Züge des Zeichnens, so wie die Kunst der Geometrie sie lehrt, um leicht zu arbeiten.“ Schon Plinius der Ältere (23-79 n. Chr.) berichtet von einem Maler, der besonders in der Arithmetik und der Geometrie gebildet war, ohne die er keine Kunst ausführen konnte. Es werden Zahlen und einfache geometrische Figuren verwendet. Hinzu kommen die durch die Zahl gestalteten Harmonielehren von Augustinus (De musica, 387/88), Boethius (um 480-525), Cassiodor (1. Hälfte 6. Jh.) und Isidor von Sevilla (gest. 636), die auf den Pythagoräern aufbauten und ihren festen Platz in der Schulausbildung während des Mittelalters hatten.16 Cassiodor faßt, wie

50 Historische und geistige Grundlagen

schon Platon (s. o.), knapp zusammen: „Die Zahl ist es, die alles bestimmt.“ Ent­ sprechend heißt es bei Isidor von Sevilla: „Nimm die Zahl aus allen Dingen und alles geht unter.“ Nach Boethius „scheint alles, was von der ursprünglichen Natur zusammengefügt ist, durch die Vernunft der Zahlen geformt zu sein“. Für Augusti­ nus ist die göttliche Weisheit in der Zahl zu erkennen, „denn alle Dinge haben For­ men, weil sie Zahlen haben“. Er sieht daher eine moralische Verpflichtung zur Erkenntnis, die „ohne das Wissen von der Bedeutung der Zahlen“ nicht gegeben sei: „Das ist die Ordnung des Strebens nach Weisheit, durch die man fähig wird, die Weltordnung zu verstehen.“ Schließlich formuliert Alanus ab Insulis gegen Ende des 12. Jh.s in der Tradition von Augustinus, daß Gott als „schicklicher Architekt“ {elegans architectus) bzw. „Kunstfertiger des Universums“ (universalis artifex) die Welt als seinen königlichen Palast nach musikalischen Harmonien zusammenge­ fügt hat. Thierry von Chartres (gest. nach 1149) sagt in seinem Tractatus de sex dierum operibus (Kapitel 30): „Es sind also vier Arten von Methoden (genera ratio­ num), die den Menschen zum Nachdenken über den Schöpfer führen: nämlich die Beweisführungen (probationes) der Arithmetik, Musik, Geometrie und Astrono­ mie. Von diesen Methoden (instrumenta) müssen wir in dieser Theologie kurz Gebrauch machen, damit sowohl das Kunstwerk (artificium) des Schöpfers in den Dingen sichtbar wird, als auch das, was wir dargelegt haben, vernunftgemäß (rationabiliter) erklärt wird.“17 Schließlich münden alle Überlegungen in dem mit­ telalterlichen Grundanliegen der Ordnung (ordo). Das Wissen vom Sinn der Zahlen ist zugleich das Wissen vom Universum. Die einzelnen Zahlen wie 1, 3, 7,12, 24 usw. sind in hohem Maße bedeutungsträchtig und symbolisieren beispielsweise Gott, Dreifaltigkeit, Schöpfungstage, Apostel und Propheten, Älteste usw.18 Es gibt kaum einen mittelalterlichen Autor, der nicht von den Zahlen die Offenbarung verborgener Wahrheiten erwartet hat. Die Autoren waren ausgesprochen erfinderisch in theologischen Interpretationen, die sich auch auf die Zahl der Architekturglieder ausgewirkt haben, entsprechend der allgemeinen Auffassung: „Die gebaute Kirche zeigt die geistige Kirche an“ (ecclesia materialis significat ecclesiam spiritualem). Die Zahlen haben wie die Geometrie Anteil an der beständigen, sichtbaren Form eines Bauwerks. Arithmetik und Geo­ metrie sind es, die den Kosmos, d. h. die Welt, in ihrer Ordnung verstehen lassen und auch die gebaute Kirche als Hinweis auf die geistige Kirche bestimmen. Mit der Einführung der Transsubstantiationslehre auf der Lateransynode 1215 unter Papst Innozenz III. entstand vermutlich auch verstärkt das Bestreben, die symbolische Funktion der Bauglieder zu veranschaulichen. Nach Vorstufen wie dem Skulpturenprogramm an der Westfront von St. Pantaleon in Köln um 1000 und der Beschriftung der Säulen von St. Michael in Hildesheim 1015/22 ent­ wickelten sich zunächst die Portale in immer reicherem Maße zu Bildträgern. Aber erst mit der hochgotischen Kathedrale wurde die Architektur in größerem Umfang zum sichtbaren Bildträger: in Reims beschützen Engelsfiguren über den Strebepfeilern den Chor der Kathedrale (Abb. 51,131, 610), ebenso in Tabernakeln auf den Strebepfeilern der Chorkapellen des Kölner Doms; in der Sainte-Chapelle zu Paris (Abb. 629,630) und im Kölner Dom (Abb. 33) zeigen Apostelfiguren an den Wänden bzw. Chorpfeilern deren Bedeutung an. Die Skulpturenprogramme der Portale werden auf die ganze Kirchenfassade, in Reims (um 1250) sogar auf die Innenwände (Abb. 271), ausgedehnt, und die umfangreichen Glasgemäldezyklen erzählen die Heilsgeschichte in vielfältiger Weise (Abb. 34, 356, 641).19 Die alles durchdringende Symbolik ließ auch die Bauformen als Bedeutungsträger nicht aus, aber wieweit im einzelnen die Symbolik die Baugestalt und die Formen von vornherein bestimmt oder ihnen nachträglich interpretierend von gebildeten Theologen aufgesetzt wurde, ist nur von Fall zu Fall zu entscheiden.20

Das Licht 51

11.3. Das Licht Im „Spiegel der Seele", einem der Königin Bianca (1 1 8 8 -1 2 5 2 ) gew idm eten kleinen Traktat, heißt es: „Ihr w erdet Bürgerin sein dieser heiligen Stadt, w o Engel die Bürger sind, G ottvater das Kloster, Gottes Sohn das Licht, der Heilige Geist die Helle." Und w e i­ te r über diese Vision Gottes: „Der den Er­ leuchteten das Licht ist, den Gequälten die Ruhestatt, den Bittenden der Friede und den Lebenden das Leben, die Krone der Sieger." Der Traktat endet m it schwärmerischen Be­ schreibungen der him mlischen W onnen: „Sehr teure Dame, bedenkt also, w ie erha­ ben diese Stadt vielleicht ist, denn sie ist ein sicheres Haus, ein Land, w o alles vorhanden ist, was den Menschen gefällt und sie er­ götzt, w o alle Bewohner in Frieden leben, ohne M urren, ohne Leid und ohne Not. Welches Licht, o Dame, m eint Ihr, besitzen die Seelen, w enn das Licht des Körpers gleichen wird der Sonne?“ 37 Bauarbeiten, Glasmalerei 1 2 1 0 /2 0 , in der Kapelle Saint-Jean-dans-la-Nef am nördlichen Seitenschiff der Kathedrale N otre-D am e in Rouen.

„Von der erlesenen Hand vieler M eister (m a g is tr o r u m m u lt o r u m m a n u ) aus verschiedenen Landen ließen w ir die neuen Fenster in ihrer vielfarbigen P racht... oben w ie unten in M alerei gestalten. Eines von diesen, das uns anspornt, uns vom M ateriellen zum Im m ateriellen zu erheben, zeigt den Apostel Paulus, w ie er eine M ühle d r e h t..." Suger von Saint-Denis, D e a d m in is t r a t io n e , Satz 263f. 17 B in d in g ( 1 9 9 8 ) S. 4 2 9 . 18 H e in z M e y e r . D ie Z a h le n a lle g o re s e im M i t t e l a l t e r (= M ü n s te r s c h e M it t e la lt e r - S c h r if t e n 2 5 ). M ü n c h e n 1 9 7 5 . - H e in z M e y e r , R u d o lf S u n tru p : L e x ik o n d e r m it t e la lt e r li c h e n Z a h le n b e d e u t u n ­ g e n (= M ü n s t e r s c h e M it t e la lt e r - S c h r if t e n 5 6 ). M ünchen 1987. 19 W o lf g a n g E r z ä h lu n g

K em p:

Sermo

corporeus. D ie

d e r m i t t e la lt e r li c h e n

C la s fe n s te r .

M ünchen 1987. 20 D ie g r o ß e Z a h l u n d d ie V i e l f ä lt ig k e i t d e r

1

th e o lo g is c h e n S c h rifte n f ü h r t e n z u d e r N o t w e n ­

S a tz 4 9 . ed . G ü n t h e r B in d in g , A n d r e a s Speer.

d ig k e it, z u s a m m e n fa s s e n d e Ü b e rb lic k e v o rz u le ­

D a r m s t a d t 2 0 0 0 (im D ru c k ). - A n d r e a s S p ee r:

g e n , w ie sie im 1 3 . Jh. u. a. D u r a n d u s ( 1 2 3 0 / 3 1 -

Lux mirabilis et continua. A n m e r k u n g e n z u m

S u g e r v o n S a in t-D e n is , De consecratione,

1 2 9 6 ) , s e it 1 2 8 6 B is c h o f vo n M e n d e , m i t s e in e m

V e r h ä ltn is vo n m it t e la lt e r li c h e r L ic h t s p e k u la ti­

Rationale divinorum officiorum, e in e r D a r s te l­

o n u n d g o tis c h e r G la s k u n s t. In : H im m e ls lic h t .

lu n g d e r g e s a m t e n L itu r g ie , u n d V in c e n z v o n

H rsg. H ilt r u d W e s te rm a n n -A n g e r h a u s e n . A u s s t.-

B e a u v a is ( 1 1 8 4 / 9 4 - u m

1 2 6 4 ) , E r z ie h e r u n d

K a ta lo g K öln 1 9 9 8 , 5 . 8 9 - 9 4 .

B ib lio th e k a r a m H o f e K ö n ig L u d w ig s IX., m i t sei­

2

n e m Speculum maius, e in e r E n z y k lo p ä d ie a u s

S e y fa rth , d e r ich H in w e is u n d Ü b e r s e tz u n g v e r­

e t w a 2 0 0 0 Q u e lle n s c h rifte n , e r s te llt h a b e n .

danke.

S p e c u lu m v ir g in u m ; C C C M 5, S. 3 3 5 , ed. J u t t a

Erst im gotischen Kirchenraum werden die Fenster zum mitbestimmenden Ele­ ment des Raumes. Während die Fenster zuvor Lichtöffnungen in der Mauer waren, die diese mehr oder weniger groß lochartig öffneten (Abb. 263,266) und durch die eine gebündelte Lichtführung den Raum unterschiedlich erhellte und damit zer­ teilte, gewinnen die gotischen Fenster ihre Wirksamkeit aus der Struktur der Raumgrenze, die selbst räumlich gebildet ist und die als Quelle des Lichts erscheint. Zwar treten die Fenster hinter die plastisch gebildeten Teile der vorde­ ren Schicht der Raumgrenze zurück, doch verleiht ihnen ihr farbiges Licht eine räumliche Erscheinung, die die Flächengrenze des Glases ausweitet. Die raum­ durchdringende Lichtintensität und die Leuchtkraft der Fenster werden unmittel­ bar wirksam (Abb. 38). Im Verlauf der Entwicklung zur hochgotischen Wandstruk­ tur wird mit der zunehmenden Vergrößerung der Fenster bei wachsender Auflösung der steinernen Wand die Bedeutung der Fenster als Einzelelement der Wand geringer, denn sie werden wandflächenbeherrschend. Ihr Spannungsver­ hältnis zur gegliederten Wand verringert sich in dem Maße, wie die Glasfenster selbst Wand werden, z. B. in den großen Glaswänden von Troyes (vor 1241, Abb. 274), Saint-Denis (1231/41, Abb. 273, 337), Köln (ab 1248, Abb. 342) oder Straßburg (um 1240/50, Abb. 286). Die Folge ist ihre Einbindung in die Wandgliederung, deren Elemente sich über das Fenster fortsetzen und dadurch eine vereinheitli­ chende Struktur hervorrufen, so daß steinerne Gliederungselemente (Maßwerk) auch die großen Fensterflächen teilen und sie damit in die Baustruktur einbinden. Ein die Wand überspannendes Netzwerk bildet nun die strukturierte Raumgrenze, in der das farbige Licht der Fenster weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Das Licht sollte sich nach dem Willen des Abtes Suger von Saint-Denis (1140, Abb. 474) dem Innenraum der Kirche als gestaltendes Element mitteilen: der Chorumgang mit den Kapellen, „durch die die ganze Kirche erstrahlen sollte von dem wunderbaren und ununterbrochenen Licht der strahlenden Glasfenster, wenn dieses die Schönheit des Innenraumes durchwanderte (quo tota clarissi­ marum vitrearum luce mirabili et continua interiorem perlustante pulcritudinem eniteretJ“.1 Hier ist auf das zeitgleiche, bald nach 1140 entstandene Speculum vir­ ginum hinzuweisen: „Hast du zufällig einmal eine Kirche betreten, die durch Glas­ fensterschmuck erhellt war (vitreo decore illuminatum)?“Antwort: „Du spottest mit mir, da doch dieser Brauch in den Kirchen so sehr Vorrang hat, daß ohne diese Zierde (decore) auch das, was man sonst an Ausschmückung (ornamenti) anbringt, nichts ist.“ Der erste fährt fort: „Wenn nun die Strahlen der Sonne mit ihrem Glanz (splendore) das bunte Glas (vitreum colorem) durchdringen, wem würdest du dann die Farbigkeit der Wand zuschreiben? Was erkennst du, was da durch das Glasfen­ ster (fenestra vitrea) hindurch hervortritt?“ Antwort: „Ganz ohne Zweifel schreibe ich den Strahlen der Sonne die vielfarbige Schönheit auf der Wand zu, nicht dem Glas...." Der erste sagt: „Wenn nämlich der Strahl der Sonne nicht da wäre, könnte das farbige Glas in der Dunkelheit nicht zeigen, was es an Kunstfertigkeit (in arte) empfangen hat.“2 Die Auffassung von Schönheit ist auf die lichtsymbolische Lehre des Dionysios Areopagites (um 550) zurückzuführen, die die mittelalterliche Anschauung vorrangig geprägt hat. Danach hat die Farbe einen hohen Schönheitsrang, der ihr durch die substanti­ elle Gebundenheit an das Licht zukommt; denn das Licht ist die Kraft, die der Farbe erst ihren Charakter gibt. Das geht zurück auf Plotin (203-270), nach dem es eine einfache Schönheit gab, nämlich die der Farbe: denn Farbe bedeutet einen Sieg des Lichts über die Finsternis. Gott ist das Licht. Robert Grosseteste (um 1168-1253), in Paris vielseitig ausgebildet, schreibt im Angesicht der gotischen Kathedralen über

52 Historische und geistige Grundlagen

die Bedeutung des Lichts: „Johannes von Damaskus (um 650-um 750) sagt: ‘Nimm das Licht fort, und alle Dinge werden unerkannt in der Finsternis bleiben, wenn sie nicht ihre ihnen eigene Zierde (decor) zeigen können. Das Licht ist also Schönheit und Schmuck (pulchritudo et ornatus) jeder sichtbaren Kreatur/ Und, wie Basilius (um 330-379) sagt:... Durch sich selbst ist es schön, weil ‘seine Natur einfach ist, und es ist für sich selbst alles zugleich'. Deshalb ist es am meisten einheitlich und, bezogen auf sich selbst, durch Gleichheit (aequalitas) in vollkommenster Weise proportionsgerecht (proportionata), die Übereinstimmung der Proportionen aber ist Schönheit. Deshalb ist das Licht selbst, auch ohne die harmonische Proportion körperhafter Gestalten, schön und dem Blick höchst angenehm. Daher ist auch das Gold kraft der Zierde des Lichts aus seinem schimmernden Glanz schön, und die Sterne erscheinen dem Blick sehr schön, obwohl sie doch keine Schönheit aus der Zusammenfügung der Gliedmaßen oder der Proportion von Gestalten zeigen, viel­ mehr allein aus dem Glanz des Lichts. Wie nämlich Ambrosius (um 340-397) sagt: ‘Die Natur des Lichts ist solcherart, daß nicht in der Zahl, nicht im Maß, nicht im Gewicht, wie es für anderes gilt, sondern im Anblick all seine Wohlgefälligkeit ent­ steht. Es bewirkt, daß auch die übrigen Glieder der Welt lobenswert sind.’“3 Hier sind die leuchtenden Farbfenster der gemalten Farbe überlegen, denn sie können die Schönheit durch Farblicht raumwirksam werden lassen und damit einen höhe­ ren Realitäts- und Wirkungsgrad des Lichts bewirken. So sind die Glaswände der gotischen Kathedralen als Verbindung zwischen der Summe neuer Bauerfahrungen und neuplatonisch-scholastischer Lichtmetaphy­ sik zu verstehen. In der scholastischen Wissenschaft vom Sein steht das Licht als „erste und allgemeine Form“ (forma prima et communis) auch für die „Form des vollkommenen Körpers“ (forma perfectionis corporis), und da das vom Licht Geformte als das eigentlich Schöne gilt, in dem sich auch das Gute oder im theolo­ gischen Sinne Göttliche offenbart, gibt das Licht der Materie und damit auch der Architektur der Kirche erst aus seiner Kraft Schönheit und Weihe. Daraus läßt sich das Bemühen ableiten, durch immer größere Kirchenfenster dem Haus des Herrn, der Kirche, immer mehr Lichtfülle und damit Göttliches zukommen zu lassen, um eine Vorahnung auf die himmlische Kirche, die Zeit der Erlösung, zu geben. Duran­ dus von Mende (1230/31-1296) sieht traditionell „in den Glasfenstern heilige Schriften, die Wind und Regen fernhalten (fenestre ecclesie vitree sunt Scripture divine que ventum et pluviam repellunt), d. h. alles Schädliche abwehren und die Klarheit der wahren Sonne, d. h. Gottes, in die Kirche, d. h. in das Herz der Gläubi­ gen, hinüberschickt, und die darin Weilenden erleuchtet“ (Rationale 1,1,24). Nicht zu beantworten ist die Frage, ob im 13. Jh. die Lichtsymbolik zur Konven­ tion absank und nur in der institutionalisierten Lehrmeinung der Hochscholastik fortlebte, ohne daß sie bewußt in gebaute Architektur umgesetzt wurde. Auch muß darauf hingewiesen werden, daß die vom Farblicht bestimmte Bauweise der sog. klassischen Kathedralen der Ile-de-France und davon abhängig diejenigen in Straßburg und Köln nicht Allgemeingut wurde. Am Freiburger Münster (1240/50) z. B., wo man Formen aus Straßburg übernahm, verzichtete man auf ein durchlichtetes und mit den Fenstern eine Einheit bildendes Triforium und wählte statt des­ sen kleinformatige Fenster als Mauerdurchbrüche, ähnlich auch am Langhaus von St. Lorenz in Nürnberg (1260/80).

Ohne Licht, ohne Gott, gibt es kein Leben: am Morgen beginnt das Licht im Osten über dem Altar, dem Thron Christi, am Tage durchstreift es die Kirche, erleuchtet, am Abend geht es im Westen unter, verlöscht, am Morgen beginnt es von neuem, das Leben des Menschen anzeigend: Geburt Leben im Glauben, im Licht Gottes, Sterben Erlösung und Auferstehung weisend.

3

R o b e r t G ro s s e te s te , K o m m e n t a r z u m H e x a ­

e m e r o n ; D o m H e n r i P o u illo n : La b e a u t é , p r o ­ p r ié t é tr a n s c e n d e n ta le , c h e z les s c o la s tiq u e s ( 1 2 2 0 - 1 2 7 0 ) . In : A rc h iv e s d 'h is t o ir e d o c t r in a le

38 Chartres, Kathedrale Notre-D am e. Ein Blick in Chor und Querhaus verm ittelt die Raum wirkung, die von vertikalen Linien, geometrischen M ustern und farbigem Licht geprägt ist. 1 1 9 4 -1 2 2 0 erbaut und verglast.

e t li t t é r a i r e d u m o y e n â g e 2 1 , 1 0 4 6 , S. 3 2 2 f Ü b e rs e tz u n g S u s a n n e L in s c h e id -B u rd ic h .

*

B a u v e rw a lte r und B a u m e iste r 55

B a u o rg a n is a tio n und A u s fü h ru n g

Die gotischen Bauwerke sind vor allem die Hinterlassenschaft engagierter Organisatoren, erfahrener Werkmei­ ster, begabter Steinmetzen und anderer Handwerker sowie einer kaum abzu­ schätzenden Zahl von Handlangern. Es sind die gestalterischen Ideen und die handwerklichen Leistungen, die zu Stein geworden sind. Bei genauer Ana­ lyse werden sie erkennbar. Bei den Personen, die die Bauaus­ führung bestimmen, sind zu unter­ scheiden (Abb. 39,40): 1. Der theologisch gebildete oder weltli­ che, häufig politisch einflußreiche Bauherr, von dem die Bauabsicht stammt und der die Bedeutung (significatio) festlegt. Die Theologen, Bischöfe oder Äbte, werden in den Quellen häufig architectus genannt, entsprechend der Äußerung des Apo­ stels Paulus im ersten Brief an die Korinther 3,10: „Wie ein weiser Ar­ chitekt habe ich das Fundament (der ecclesia spiritualis) gelegt“: ut sapiens architectus fundamentum posui. 2. Der Theologe oder Laie, dem als Funktionsträger die Bauverwaltung (magisterium), längerfristig oder jährlich wechselnd, übertragen wird und dem als Leiter der Bauhütte (fabrica) die Vermögensverwaltung, Materialbeschaffung und Rech­ nungslegung obliegt; er wird magi­ ster operis (Baumeister) oder provi­ sorfabricae genannt. 3. Der ebenfalls magister operis oder Werkmeister genannte handwerk­ lich geschulte Kunstfertige (artifex), der die technische Bau-Erstellung (opus) und die Konstruktion (struc­ tura) bestimmt und das Bauwerk „von Maurern, Steinmetzen, Bild­ hauern, Zimmerleuten und anderen Werktätigen“ (caementarii, lathomi, sculptores, carpentarii et alii operarii, Suger von Saint-Denis) ausführen läßt, die von zahlreichen Hilfsarbei­ tern unterstützt werden.

III.1. Bauverwalter und Baumeister

40 Bauherr m it Schlüssel, W erkm eister m it M eßstab, Bauverwalter m it Geldbeutel (rechts unten) und Steinm etzen m it Setzeisen und Klöpfel sowie Zahnfläche. Glasfenster der M arienkapelle östlich der Abteikirche SaintGermer-de-Fly, um 1260 (Bi 542).

W o lf g a n g S c h ö lle n D ie r e c h tlic h e O r g a n is a ti­ o n des K irc h e n b a u e s im M i t t e l a l t e r v o rn e h m lic h des K a th e d r a lb a u e s . B a u la s t - B a u h e r r s c h a ft B a u f in a n z ie r u n g . K ö ln , W ie n 1 9 8 9 . - B in d in g ( 1 9 9 3 ) S. 4 4 - 7 4 , 2 3 6 - 2 6 7 , m i t L it.-A n g a b e n . -

39 M atthäus Parisiensis, V ita e d u o r u m O ff a r u m , Federzeichnung um 1250 (Dublin,Trinity College, Sign. E. i.4 0 ,fo l. 5 9 ,6 0 .- Bi 168). Von links betreten drei Personen die Baustelle der Klosterkirche St. Albans: zuerst König Offa m it Szepter, dahinter der Werkm eister m it Lederkappe, Richtscheit und Bodenzirkel und hinter ihm der vornehm gekleidete Bauverwalter. Zwei Hilfsarbeiter trans­ portieren Steinquader auf einer Trage über eine Laufschräge aus Holmen m it Quersprossen. Un­ ten schiebt ein Hilfsarbeiter eine m it Steinquadern beladene Schubkarre. A uf der rechten Hälfte kontrollieren zwei M aurer m it Lotwaage und Lot die in M örtel versetzten Quader. Ein W inde­ knecht betätigt eine Seilwinde. Ein Steinmetz bearbeitet m it der Doppelfläche ein Kapitell und ein Zim m erm ann m it dem Beschlagbeil einen aufgebockten Balken. Ein Zim m erm ann steht auf einer Leiter und bohrt in eine Gerüststange. Nur der sonst noch übliche Mörtelmischer fehlt auf dieser Darstellung aller Gewerke, zu denen noch der Schmied gerechnet werden muß.

D ie w ic h tig s te L ite r a tu r sei g e n a n n t , d a r in f i n d e n sich d ie O u e lle n b e le g e u n d w e ite r e L it.-A n g a b e n . Louis Fran cis S a lz m a n : B u ild in g in E n g la n d d o w n

B in d in g ( 1 9 9 8 ) S. 2 4 9 - 2 8 1 . - G ü n t h e r B in d in g : a rc h ite c tu s , m a g is te r o p eris, w e r c m e is te r e : B a u ­ m e is t e r o d e r B a u v e r w a lt e r im M i t t e l a l t e r . In M i t t e l la t . Jb. 3 4 . 1 , 1 9 9 9 , S. 7 - 2 8 . - G ü n t h e r B in ­ d in g : W e r w a r M e is t e r G e rh a rd , d e r v o r 7 5 0 J a h ­ re n d e n K ö ln e r D o m g e p l a n t u n d g e b a u t h a t? In : T h e s a u ru s C o lo n iensis. F e s ts c h rift f ü r A n t o n v o n E u w . H rs g . W o lf g a n g S c h m itz u n d H i l t r u d W e s te rm a n n -A n g e rh a u s e n . 4 5 -6 0 . -

In d ie s e n

K ö ln

W e rk e n fin d e n

1999,

5.

sich a lle

N a c h w e is e u n d w e i t e r e L i t . - A n g a b e n . - A l l g e ­ m e in s ie h e a u c h K im p e l-S u c k a le ( 1 9 8 5 ) , R e c h t ( 1 9 8 9 ) u n d J o h n H a r v e y : T h e M e d i a e v a l A r c h i­

t o 1 5 4 0 . O x f o r d 1 9 5 2 . - B o o z ( 1 9 5 6 ) . - J o h n H a r v e y : T h e M e d ia e v a l A rc h ite c t. L o n d o n 1 9 7 2 . - P ie rre D u C o lo m b ie r : Les c h a n tie r s des c a th é d ra le s . O u v r ie r

te c t. L o n d o n 1 9 7 2 , s o w ie F r e ig a n g ( 1 9 9 2 ) 5.

- A r c h i t e c t e s - S c u lp te u rs . P aris 21 9 7 3 . - R e c h t ( 1 9 8 9 ) . - B in d in g ( 1 9 9 3 ) .

1 9 8 -2 0 2 .

Bauherr und Auftraggeber für den Bau von Bischofskirchen war nicht der Bischof, sondern als Hausherr das Kapitel der Kanoniker, eine Korporation von Geistlichen, die den Chordienst, die täglichen gottesdienstlichen Verpflichtungen, zu organi­ sieren und durchzuführen hatten sowie den Bischof in seinen geistlichen und weltlichen Aufgaben unterstützten. Der Bau von Stifts- und Klosterkirchen wurde von dem Abt oder der Äbtissin initiiert, aber häufig vom Patronatsherrn oder Stif­ ter, der einen Teil der finanziellen Mittel bereitstellte, beeinflußt. Bauorganisation und Bauausführung lag in den Händen von den für eine beschränkte Zeit gewähl­ ten Bauverwaltern und für die Dauer der Bauzeit angestellten Werkmeistern. Recht zahlreich sind Belege für einen angesehenen magister operis, der in deut­ schen Quellen in wörtlicher Übersetzung als „Werkmeister“ (Erwin von Steinbach in Straßburg 1284: wercmeistere) oder „Baumeister“ (Wetzlarer Urkunde 1285: pro­ curatores sive magistri operis, vulgariter bumeystere appellantur) bezeichnet wird. Er war, wie z. B. in Nürnberg, Augsburg, Konstanz oder Köln, als Beauftragter des städtischen Rats aus dem Kreis der ratsfähigen Patrizier jeweils für ein Jahr gewählt und für die Beaufsichtigung städtischer Bauten insbesondere im Hinblick auf die Finanzverwaltung und Kontrolle der Verwendung der öffentlichen Gelder für Baumaßnahmen der Gemeinde verantwortlich. Das gleiche gilt für Pfarrkir­ chen und auch für Domkirchen, wenn diese der Bürgerschaft zugleich als Pfarrkir­ chen dienten, wie in Straßburg, Freiburg, Regensburg, Wien oder Siena. So war der Straßburger Bürger Konrad Oiemann als Ratsmitglied zum Pfleger der Münsterfa­ brik (hier Frauenwerk genannt) gewählt worden; er wird zwischen 1261 und 1274 als procurator fabricae, appreciatorfabricae, magister fabricae, magister seu rector fabricae und magister operis bezeichnet. Für die Administratoren der Kölner Dom­ fabrik, die mit der Verwaltung des für den Dombau bestimmten Vermögens sowie der Einnahmen und Ausgaben betraut waren und aus dem Kreis der Kanoniker des Domkapitels gewählt wurden, sind während des Chorbaus 1248-1322 folgen­ de Bezeichnungen urkundlich nachgewiesen: provisorfabricae, magister seu provi­ sorfabricae, provisor seu rector nove fabricae, magister operis, magisterfabricae seu operis, procurator fabricae. Seit dem Ende des 13. Jh.s zeichnete sich mit der häufi­ geren Verwendung der Begriffe procurator fabricae und provisor fabricae als Bezeichnung für den Verwalter des „Fabrikvermögens“ die Tendenz zu einer gewissen Vereinheitlichung der terminologischen Vielfalt ab. 1267 einigen sich Kapitel und Erzbischof über die Pflichten der Finanzverwalter (operarii ecclesiae) der fabrica der Kathedrale von Narbonne; beide Parteien wählen zwei Kanoniker und zwei Kleriker auf ein Jahr zur Administration der Finanzen, dreimal im Jahr legen sie Rechnung vor dem Erzbischof und dem Dom­ kapitel, nach einem Jahr, jeweils am 24. Juni, scheiden sie aus dem Amt oder müs­ sen darin bestätigt werden. 1307 werden sie procuratores genannt. Für das flämi­ sche Kloster Ter Duinen sind im Jahre 1265 erstmals „Meister dieser Kirche, die Kirchmeister genannt werden“ (magistri eiusdem ecclesiae, qui dicuntur kercmesters), erwähnt. Seit dem 12. Jh. mehren sich auch die Quellenbelege für die Bezeichnung operarius für den Verwalter der Kirchenfabrik. Die Verwaltung des kirchlichen Fabrikvermögens durch Laien scheint gegen Ende des 13. Jh.s weit ver­ breitet gewesen zu sein, denn 1287 befaßt sich die Synode von Würzburg in einem eigenen Kapitel damit: „Über die Laien, die die Kirchenfabrik verwalten“ (De laicis, qui fabricae ecclesiae administrant). Im Jahre 1267 schreibt Papst Klemens VII. einen Brief wegen einer Beschwerde des Dekans und des Kapitels der Kirche Saint-Urbain in Troyes: Vor ihn sei gebracht worden, „daß Johannes Anglicus, Bürger von Troyes, mit dem Kreuze

B a u v e rw a lte r und B a u m eiste r 57

56 Bauorganisation und Ausführung

bezeichnet (d. h. Kreuzfahrer), früher magisterfabrice dieser Kirche des Hl. Urban, von dem Geld, welches zum Bau dieses Werks bestimmt war (depecunia operi eius­ dem fabricae deputata), 10 500 Pfund touronischer Solidi erhalten hat, sich aber unberechtigterweise weigert, dem genannten Dekan und Kapitel über diese Geld­ summe Rechnung zu legen.“ Beim Bau der Koblenzer Stadtmauer treten 1276-1281 zwei Baukassenverwal­ ter auf: Jacobus clericus, Kapellan des Erzbischofs von Trier an der Kirche St. Castor in Koblenz, und Wolframus laicus. 1284-1286 war nur noch ein Verwalter, der Schöffe Gernot, tätig, 1288/89 der Bürger Hildebert. Über die Aufgabe des Baukas­ senverwalters sagt Hildebert selbst, er sei vom Schultheißen, von den Rittern, Schöffen und den übrigen Koblenzer Bürgern insgesamt gewählt worden, um die Abgaben einzunehmen und zu verwalten. Aus der Baukasse wurden alle durch den Mauerbau unmittelbar oder mittelbar entstehenden Kosten bestritten. Halb­ jährlich erfolgte vom Baukassenverwalter die Rechnungslegung vor einem städti­ schen Ausschuß, der 1289 aus zehn Mitgliedern bestand, und zwar aus drei Stifts­ herren von St. Florin bzw. St. Castor, zwei Rittern, zwei Schöffen und drei Bürgern. Ähnliches ist für Paris überliefert, wo 1190 König Philipp II. August (1180-1223) sieben städtische Schöffen für den Bau der steinernen Stadtmauer mit ihren Tür­ men einsetzte. Um die Mitte des 13. Jh.s tauchen in Frankreich die ersten Stadt­ baumeister auf. In Augsburg waren 1320 zwei „baumaister“ bestellt. In Nürnberg betraute, seit dem Anfang des 14. Jh.s nachweisbar, der Rat „baumeister“ bzw. „paumeister“ mit der Durchführung der städtischen Bauaufsicht. Das allgemeine Verlangen, die Anonymität der Baumeister zu lüften, die unse­ re romanischen und gotischen Kathedralen geschaffen und über so bewunderte gestalterische und konstruktive Fähigkeiten verfügt haben, hat oftmals eine kriti­ sche, objektive Beurteilung der Quellen verhindert und so manchen Kanoniker oder angesehenen, ratsfähigen Bürger als bauverwaltenden magister operis, opera­ rius oder architectus zum planenden und ausführenden Baumeister fehlinterpre­ tiert. Der die Bauausführung technisch leitende Baumeister oder Werkmeister, eben­ falls magister operis genannt, war ein Maurermeister (magister caementarii) oder Steinmetzmeister (magister lapicidae oder sculptor), der während der Wander­ schaft auf zahlreichen größeren Baustellen Erfahrungen gesammelt hatte. Beson­ ders deutlich wird dies aus einer Darstellung des Gervasius von Canterbury, der 1180 als Augenzeuge über den Wiederaufbau seiner Kathedrale nach dem verhee­ renden Brand vom 5. September 1174 berichtet: „Inzwischen suchten die Brüder Rat, wie und nach welcher Maßgabe der Vernunft die niedergebrannte Kirche wie­ derhergestellt werden könne, aber sie fanden ihn nicht.... So wurden Kunstfertige (artifices) aus Frankreich und England zusammengerufen, aber selbst die stimm­ ten nicht überein beim Ratgeben.... Es kam aber unter den anderen Kunstfertigen einer aus Sens, Wilhelm mit Namen, ein ausgesprochen tüchtiger Mann, in Holz und Stein ein sehr geschickter Kunstfertiger (vir admodum strenuus, in ligno et lapide artifex subtilissimus). Diesen nahmen sie, indem sie die anderen fortschick­ ten, wegen der Lebhaftigkeit der Erfindungsgabe (propter vivacitatem ingenii) und wegen des guten Rufes in das Werk auf.“ Im September 1178 brach das Gerüst für das Vierungsgewölbe zusammen, und Wilhelm stürzte auf den Boden. Schwerver­ letzt lag er im Bett. „Aber weil doch der Winter bevorstand und es nötig war, das obere Gewölbe zu vollenden, übergab er einem fleißigen und klugen Mönch, der den Maurern Vorstand, die Vollendung des Werks.... Der Meister jedoch, der im Bett darniederlag, ordnete an, was früher, was später gemacht werden mußte. Als der Meister im Frühjahr spürte, daß er durch keine Kunst der Ärzte geheilt werden könne, kündigte er das Werk auf und kehrte über das Meer nach Frankreich

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41 Epitaph des Erwin von Steinbach, M a g i­ ster des Straßburger Münsters, im „Leich­ höfel“ am östlichen Strebepfeiler der Johan­ neskapelle: „Im Jahr des Herrn 1316, am 13. Aug., starb die Herrin Husa, Frau des M eisters Erwin. Im Jahre des Herrn 1318, am 17. Jan., starb M e i­ ster Erwin, Leiter der Bauhütte ( g u b e r n a t o r f a b r ic a e ) der Straßburger Kirche. Im Jahr des Herrn 1339, am 16. Apr., starb M eister Johan nes, Sohn des Erwin, des W erkm eisters ( m a ­ g is te r o p e ris ) dieser Kirche.“

42 Frondienst der Israeliten in einer Pariser Buchmalerei aus der M itte des 13. Jh.s (New York, Pierpont M organ Library, M s.fr. 6 3 8 ,fol. 7V. —Bi 355a). Unten links der W erkm eister m it M eßstab, rechts zwei Steinm etzen m it Richtscheit, Setzeisen und K löpfel,auf der Leiter ein Hilfsarbeiter m it Korb, au f einem Auslegergerüst versetzt ein M aurer die Quader, m it der Kelle hat er M örtel aus der Holzm ulde genom m en.

zurück. Ihm folgte in der Bauleitung (incuram operis) ein a helm, ein Engländer von Geburt, klein an Gestalt, aber in unterschiedlichen Wer­ ken sehr geschickt und tüchtig (sed in diversis operibus subtilis valde et probus).“ Aus diesem Bericht geht hervor, daß der im Handwerk, Holz und Stein, ausgebilde­ te und erfahrene Meister die Bauausführung nicht nur leitete, sondern auch mit­ arbeitete. In Werkverträgen wird häufig als Entlohnung für den Meister ein Jahres­ sold und zusätzlich für jeden Tag, an dem er auf der Baustelle arbeitet, ein Tagelohn festgelegt. Weiterhin ist aus dem Bericht des Gervasius zu erkennen, daß es noch keine Baupläne gab, sondern das Werk im Geiste konzipiert war, wie mehrfach durch Quellen belegt werden kann (siehe Kapitel III. 6). Die Benennung des den Bau leitend ausführenden Steinmetzmeisters ist sehr unterschiedlich und häufig wechselnd. So wird z. B. der erste Kölner Dombaumei­ ster Gerhard, der den 1248 begonnenen Chor gebaut hat, magister Gerardus lapici­ da rectorfabricae, lapicida de summo, magister operis, und rector fabricae genannt; einer seiner Nachfolger, Johannes (1308-1330/32), wird als lapicida, magister operis, magister fabricae, magister operis seu fabricae und ab 1315 ais rectorfabricae bezeichnet.

B a u v e rw a lte r und B a u m eiste r 59

58 Bauorganisation und Ausführung

Die Aufteilung der Zuständigkeiten von Bauherr, Bauverwalter und Werkmei­ ster werden in einem Vertrag von 1261 für den Bau der Klosterkirche von SaintGilles in der Provence dargelegt. Guillaume de Sieure, Abt des Klosters Saint-Gilles, und Valentin de Mirabello, Bauverwalter (operarius) dieses Klosters, auf der einen Seite und Meister (magister) Martin de Lonay, Einwohner von Posquières (Vauvert bei Nîmes), auf der anderen Seite treffen eine Vereinbarung über das Gebäude, über die Konstruktion oder die Durchführung, sowie über die Vorbereitung und die Anordnung zur Errichtung der Kirche (super edificio, constructione vel opere et apparatu et ordinatione ad construendum ecclesiam) des genannten Klosters. Mei­ ster Martin, dem die Bauleitung (curam et administrationem operis) übergeben war, hat sich auf mündliches oder schriftliches Geheiß des Abtes, des Bauverwal­ ters (operarius) oder eines anderen zwischen dem Fest des Hl. Michael (29. Sept.) und Pfingsten beim Bau einzufinden. Als Lohn werden ihm für jeden Arbeitstag elf touronische Solidi versprochen; er darf außerdem an der Tafel des Abtes teilneh­ men mit genauer Aufzählung der ihm zustehenden Speisearten und Mengen, die er auch dann bekommt, wenn er außerhalb des Klosters essen will. Jährlich erhält er zu Pfingsten 100 touronische Solidi für ein Gewand. Die Dauer der Abmachung erstreckt sich bis zur Fertigstellung der Kirche. Ähnliche Vereinbarungen enthält der Vertrag vom 28. Nov. 1286 für Jean Deschamps als oberster Werkmeister der Kathedrale von Narbonne. Mit der Zustimmung der obersten Baudirektoren (pré­ vôts) stellt der Bauverwalter (procureur de la fabrique) Raymond de Céret als ober­ sten Baumeister (leprimier maistre dans le travail de le église) Jean Deschamps ein; er erhält für jeden Tag, den er anwesend ist (tous les jours quii sera present), drei Sous, zuzüglich 100 Sous für den Unterhalt seines Hauses und jährlich 10 Livres für Kleidung. (Ein Zugpferd kostete 14-20 Livres, ein Reitpferd etwas weniger.) An diesen vorgestellten Belegen ist die Zweiteilung der Leitungsfunktion einer Großbaustelle deutlich zu erkennen: der technische Bauleiter, der als erfahrener Handwerksmeister auf der Baustelle mitarbeitet, und der administrative Bauleiter, der für die Finanzverwaltung und Organisation zuständig ist und aus dem Kon­ vent oder Rat für ein- oder mehrjährige Tätigkeit in das Amt gewählt wird (Abb. 39,40). Diese Organisation ist seit karolingischer Zeit durch das ganze Mittelalter nachweisbar. Die in den Quellen vorkommende Bezeichnung architectus wird für einen Kir­ chengründer benutzt, dessen Leistung im symbolischen Sinne zu verstehen ist (Paulus-Brief an die Korinther: „Wie ein weiser Architekt, sapiens architectus, habe ich das Fundament gelegt“), aber auch für einen Maurer, der fachgerecht die Fun­ damente der Kirche setzt. Das entspricht den Ausführungen von Thomas von Aquin in der ab 1265 in Paris begonnenen Summa theologiae:„So nennt man im Bereich des Bauens den Kunstfertigen (artifex), der die Form des Hauses entwirft, weise und Architekt (architector) gegenüber den untergeordneten Kunstfertigen, die das Holz behauen oder die Steine bereiten, wie in 1. Korinther 3 gesagt wird: Wie ein weiser Architekt habe ich das Fundament gelegt.“ Diese Auffassung wird bestimmt von der Metaphysik des Aristoteles (384-322 v. Chr.), die im späteren 12. Jh. besonders in Paris und Chartres von großem Einfluß war und deren lateini­ sche Übersetzung aus dem 12. Jh. besagt: „Ein Kunstfertiger (artifex) ist aber (wei­ ser) als die Erfahrenen, ein architector aber (weiser) als ein Kunstfertiger mit der Hand (manu artifice)/' In Fortsetzung dieser Gedanken schreibt Thomas von Aquin 1269 in Paris in sei­ nen Quaestiones de quodlibet:„Es muß aber bedacht werden, daß bei jedem belie­ bigen Kunstwerk (artificium) in einfacher Weise derjenige, der in bezug auf das Kunstwerk Anweisungen vornimmt und architector genannt wird, besser ist als irgendein Handwerker (manualis), der an dem Werk ausführend handelt gemäß

Anstellungsvertrag eines W erkm eisters von 1253 „Bischof, Dekan und Kapitel von M eau x (entbieten) allen, die vorliegendes Schreiben einsehen,das Heil im Herrn. W ir machen bekannt, daß w ir dem M eister G autier de Varinfroy ( m a g is te r G a lte r u s d e V a lle R e m fr id i) aus der Diözese M eau x die Bau­ arbeiten unseres Kirchenbaues (o p u s fa b r ic e ecclesie n o s tr i) übergeben haben unter folgenden Verabredungen: er selbst soll für jedes einzelne Jahr zehn Pfund bekomm en, solange w ir und unsere Nachfolger und das genannte Kapitel an besagter B aum aß­ nahm e (fa b r ic a ) zu arbeiten zustande bringen. Und wenn es sich fügt, daß ihn lange oder dauernde Krankheit befällt, so daß er nicht arbeiten kann, dann soll er die genannten zehn Pfund nicht erhalten. Eben­ falls soll er drei Solidi für jeden Tag em p fan ­ g e n e n dem er an besagter Baum aßnahm e arb eitet oder im Dienste der B aum aßnahm e geschickt wird, und er soll ohne unsere Er­ laubnis kein anderes Werk (o p u s ) außerhalb unseres Bistums annehm en. Ferner soll er das Bauholz haben, dem sie keine V erw en­ dung fü r die B aum aßnahm e zuweisen kön­ nen, und er d arf nicht a u f die Baustelle (fa b r ic a ) von Evreux oder an einen anderen O rt außerhalb der Diözese von M eau x mehr als zwei M on ate gehen oder (dort) verw ei­ len, es sei denn m it Erlaubnis des Kapitels. Und er ist verpflichtet, sich in der Stadt M eau x aufzuhalten, und er schwört, daß er treulich an der oben genannten B aum aß­ nahm e arbeitet und der oben genannten Baum aßnahm e treu sein wird. Gegeben im Jahr des Herrn 1253, im M o n a t O ktober/' Transkription des Originals (Catulaire A, p. 228) bei Peter Kurmann: La cathédrale SaintEtienne de M eaux. G enf 1971, S. 79, Anm. 2 3 4 .- Übersetzung und Interpretation bei Kimpel-Suckale (1985) S. 447f. - G ünther Binding: Zum Kölner Stadtm auerbau. Bemerkungen zur Bauorganisation im 1 2 ./13 . Jh. In: Wallraf-Richartz-Jb. 4 7 ,19 8 6 , S. 16f. Peter Kurmann, Dethard von W interfeld: G autier de Varinfroy, ein „Denkm alpfleger" im 13. Jahrhundert. In: Festschrift f. O tto von Simson zum 65. Geb. Hrsg. Lucius Grisebach, Konrad Renger. Berlin 1977, S. 1 0 1 - 1 5 9 .Peter Kurmann: G autier de Varinfroy et le problème du style personel d’un architecte au Xllle siècle. In: Recht (1989) S. 1 8 7 -1 9 4 .

43 Grabplatte des Werkm eisters Guerin aus der Pfarrkirche Saint-Marcel in Saint-Denis aus dem dritten Viertel des 13. Jh.s (Paris, Musée des Thermes et de l'Hôtel de Cluny, Inv.-Nr. 11.789): Lot m it durchlochtem Abstandshalterklötzchen, M eßstab, Doppelfläche und Kelle.

dem, was ihm von einem anderen angewiesen wird, weshalb zum Bau von Gebäu­ den derjenige, der Anweisungen bezüglich des Gebäudes vornimmt, wenngleich er nichts mit den Händen arbeitet, sich um einen höheren Lohn verdingt als die handwerklich Kunstfertigen (manuales artifices), die Hölzer behauen und Steine schlagen." Entsprechend lästert der Franziskanermönch Nicolaus de Byard 1261: „Die Mau­ rermeister ( m istrcementariorum), Meßstab und Handschuhe in den Händen, g a sagen zu den anderen: Schlage mir dieses, und sie arbeiten nicht; und dennoch erhalten sie einen größeren Lohn.“ In den Distinctiones, die ebenfalls Nicolaus de Byard zugeschrieben werden, heißt es: „Auf diesen großen Bauten pflegt ein Hauptmeister (magister principalis) zu sein, welcher nur durch das Wort anordnet; selten oder niemals legt er Hand an, und doch erhält er einen höheren Lohn als die anderen." Die hier charakterisierte Stellung der Werkmeister war das Ergebnis eines eingreifenden Strukturwandels, zu dem Geldwirtschaft, Arbeitsteiligkeit in den Städten, zahlreiche technische Innovationen und eine entwickelte Laienkultur in Europa geführt hatten. Die starre gesellschaftliche Ordnung, die Stellung eines jeden in den ordines, löste sich auf. Im Verlauf dieser Entwicklung gewann im 13. Jh. auch der Handwerksmeister, der artifex oder magister lapicidae, als techni­ scher Bauleiter (magister operis) Ansehen und Einkommen. Dem Kölner Dombaumeister Gerhard überließ 1257 das Kölner Domkapitel wegen seiner Verdienste um die Domkirche in Erbpacht ein besonders großes Grundstück mit einem großen Steinhaus, das Meister Gerhard aus eigenen Mitteln gebaut hat. Aus der undatierten Durchführung (vor 1302) seiner testamentari­ schen Bestimmungen über das Steinhaus in der Marzellenstraße erfahren wir, daß das Haus so groß war, daß es in vier Wohnungen geteilt werden konnte. Aus der Nachlaßregelung ist ferner zu entnehmen, daß Gerhard drei weitere Häuser in der Marzellenstraße besaß. Hausbesitz bei einem eindeutig als Handwerksmeister charakterisierten magister ist auch sonst seit dem 13. Jh. mehrfach bezeugt. Auch der Werkmeister der Pariser Kathedrale, Pierre de Montreuil, wird 1247 in SaintDenis und 1265 in Paris im Zusammenhang mit Grunderwerb genannt; ferner gehörten ihm ein Stück Land und ein Steinbruch in Conflans in der Nähe von Charenton, ein Grundstück in Cachan, und 1265 verkaufte er dem Kloster von Char­ treux ein Grundstück in Vauvert. John of Gloucester, Baumeister des englischen Königs, besaß bei seinem Tode 1260 ein Haus in Puck Lane, beim Nordtor der Stadt Gloucester, ein Gut in Bletchington in der Grafschaft Oxford, ein Haus in Bridport in Dorset, Ländereien im Süden von London, zwei Häuser in Oxford und ein Geschäft bei den Tuchhändlern von Gloucester. Der Hausbesitz zeugt von einer recht hohen sozialen Stellung der Werkmeister. Mit dem Aufkommen von Bauplä­ nen seit der Mitte des 13. Jh.s wird die Leistungseffizienz gesteigert und der Bau­ meister von der täglichen Anwesenheit auf der Baustelle freigestellt; damit wird ihm auch die Möglichkeit gegeben, weitere Bauten zeitgleich zu planen und zu beraten, wie es sich für Pierre de Montreuil und Jean Deschamps und seine Famili­ enmitglieder (1248-1357) in Schriftquellen und Bauten nachweisen läßt. Zeitgleich mit der Entwicklung zu einer angesehenen persönlichen Stellung tre­ ten in der 2. Hälfte des 13. Jh.s Grabplatten (Abb. 41,43) mit Namensnennung auf, wie die des Werkmeisters Hugues Libergier von Reims (gest. 1263, Abb. 44), die ver­ mutlich erst Ende des 13. Jh.s angefertigt worden ist, und die des Guerin aus der Pfarrkirche Saint-Marcel in Saint-Denis, vermutlich drittes Viertel 13. Jh., oder das Epitaph des Wilhelm am Chorsockel von Saint-Étienne in Caen (Guillelmus iacet hic petrarum summus in arte iste novum perfecit opus). Jetzt werden auch Werk­ meister mit Namen in Schriftquellen genannt und auf Fußbodenlabyrinthen mit Bezug auf den sagenhaften Architekten Dädalus, der das Labyrinth von Knossos

6 0 Bauorganisation und Ausführung

auf Kreta gebaut hat, verewigt; 1288 in der Kathedrale von Amiens: Robert de Luzarches, Thomas de Cormont und sein Sohn Régnault; um 1285 in der Kathedrale von Reims: für die Zeit 1211-1286 Gaucher de Reims, Jean de Loup, Jean d'Orbais und Bernard de Soissons. Pierre Montreuil, der auf sei­ nem Grabstein 1267 in der Marienka­ pelle von Saint-Germain-des-Prés in Paris doctor lathomorum genannt wird, ließ sogar zum Gedenken an seinen 1258 verstorbenen Vorgänger Jean de Chelles auf dem Sockel am Südquer­ schiff der Pariser Kathedrale eine 10 m lange und 8 cm hohe Inschrift ein­ meißeln: „Im Februar 1257 wurde die­ ses begonnen... von dem (damals noch) lebenden Steinmetzmeister Johann.“ Aus der im Original erhaltenen Ver­ einbarung des Kapitels von Meaux mit dem Werkmeister Gautier de Varinfroy vom Oktober 1253 ist zu entnehmen, daß er zuvor am Bau der Kathedrale von Evreux beschäftigt war (Text S. 58). Die Leitung dieser Baumaßnahme (ver­ mutlich der Obergaden des Langhauses) wird ihm weiterhin ausdrücklich gestattet, weitere Aufgaben außerhalb der Diözese Meaux aber untersagt, es sei denn, das Kapitel gestatte sie ihm. Durch diesen Vertrag erhalten wir erstmals Kenntnis davon, daß ein Werk­ meister zwei Baustellen gleichzeitig betreut hat. Bis in die zweite Hälfte des 14. Jh.s ist die Mehrfach­ beschäftigung anscheinend selten oder zumin­ dest kaum belegt. Für Pierre de Montreuil bezeugen Erwähnungen und Hausbesitz seine Beteiligung an dem Umbau von Saint-Denis und am Querhaus der Kathe­ drale von Paris. Weitere Beteiligungen, die durch stilistische Vergleiche vermu­ tet werden, müssen unsicher bleiben, wenn man berücksichtigt, daß sich zwischen Evreux und Meaux für Mei­ ster Gautier keine formalen und stili­ stischen Verwandtschaften nachweisen lassen. Solche personenbezogenen Werkzuweisungen müssen, da sie nicht beweisbar sind, außerhalb der Betrach­ tung über Werkmeister-Personen bleiben, und somit müssen wir eingestehen, daß wir über die gotischen Werkmeister nur sehr wenig Persönliches wissen.

Handwerker 6 1

III.2. Handwerker

44 < Grabplatte des Hugues de Libergier, W erkm eister von Saint-Nicaise in Reims, gestorben 1263, entstanden Ende 13. Jh. (Kathedrale von Reims. - Bi 491). Modell, M eßstange, Richtscheit und Stechzirkel.

45 Glasfenster „Histoire de Saint Silvestre“ im südöstlichen Chorum gang der Kathedrale von Chartres, um 1 2 2 0 /2 5 (Bi 139): Schablonen, Lotwaage, W inkel, Richtscheit, Zahnfläche und Maurerkelle.

46 Glasfenster „Histoire de Saint-Chéron“ in der nördlichen Chorkapelle der Kathedrale von Chartres, um 1 2 2 0 /2 5 (Bi 141): Maurer, Steinm etzen und Bildhauer bei ihrer Arbeit. An der Wand hängen Schablonen, Zirkel und Richtscheit.

47 Rippenanfänger und Dienstbasis über einem W andpfeiler, 13. Jh. 1

Z u m F o lg e n d e n s ie h e B in d in g ( 1 9 9 3 ) S. 2 6 8 -

3 3 8 , m i t L it.-A n g a b e n .

Auf einer gotischen Kathedralbaustelle waren verschiedene Handwerkergruppen [artifices, operarii) und zahlreiche Hilfsarbeiter (garciones, famuli, servi, knechte) beschäftigt, ferner ein Hüttenknecht, mehrere Mörtelmacher (morteliers), Winde­ knechte und Erdarbeiter [fodiatores)1. Als Fachkräfte standen zur Verfügung: Mau­ rer (caementarii, lathomi, muratores, 1271 murer), Steinmetzen bzw. Bildhauer (lapicidae, sculptores, caesores lapidum, seit dem Ende des 13. Jh.s auch Steinmetz), Zimmerleute (carpentarii), Schmiede (fabri) und zeitweise Dachdecker (tegulatores), Seiler und Glaser sowie im Steinbruch die Steinbrecher (fractores lapidum, incisores in lapidicina, quarriatores). Die nach dem Stadtbrand von London 1212 festgelegte Höchstlohnliste führt als Bauhandwerker auf: Zimmermann (carpenta­ rius), Maurer (caementarius), Dachdecker (tegulator), Steinmetz/Bildhauer (sculptor lapidum), Tüncher (dealbator), Lehmbewerfer (appositor luti) und Putzer (torchiator). Die 1268 vom französischen König Ludwig IX. veranlaßte Aufstellung der in Paris vorhandenen Handwerker enthält den Bau betreffend: Maurer (maçons), Steinmetzen (tallieurs de pierre), Putzer (plastieres), Mörtelmacher (morteliers), Zimmerleute (charpentiers) und Schreiner (huissiers). An der Westminster Abbey, die König Heinrich III. neu bauen ließ, waren von Mitte Juni bis zum 20. Juli 1253 bis zu 435 Personen beschäftigt, darunter 130 Steinmetzen und 220 Hilfsarbeiter, ferner Marmorarbeiter, Polierer, Maurer, Zim­ merleute, Schmiede, Bleigießer und Glaser. Während der Ernte im September ging die Zahl auf etwa 200 zurück, wobei vorrangig die Hilfsarbeiter die Baustelle ver­ ließen. Nach der Ernte waren bis zum 9. November dann wieder bis zu 160 Hilfsar­ beiter beschäftigt, anschließend blieben nur noch die ebenfalls in ihrer Zahl redu­ zierten Fachkräfte zurück, aber immerhin noch 100 Personen. An der Klosterkirche von Vale Royal waren 1278-1280 bis zu 231 (im Juni 1278) und durchschnittlich 135 Handwerker und Hilfsarbeiter tätig, und zwar arbeiteten 1278 bis zu 64,1279 bis zu 39 und 1280 bis zu 51 Steinmetzen gleichzeitig bei einer durchschnittlichen Beschäftigungsdauer von 5-10 Monaten. Von den 30 im Jahre 1280 beschäftigten Steinmetzen waren elf 29-36 Monate und vier 12 Monate auf der Baustelle, alle übrigen nur für kürzere Zeit, wie auch im ersten Jahr kürzere Ver­ weilzeiten üblich waren. In Exeter waren 1299/1300 durchschnittlich 30 Personen anwesend, darunter 15 Steinmetzen und neun Hilfsarbeiter. Aus den für Vale Royal überlieferten Namen ist zu erkennen, daß die insgesamt 486 beschäftigten Fuhrleu­ te, Gräber und Steinhauer aus dieser Gegend stammten, von den 71 Zimmerleuten und Schmieden etwa die Hälfte, von den 131 Steinmetzen nur etwa 5-10 %. Immer wieder wird in den Quellen die Beschaffung der Steinmetzen als besondere Leistung vermerkt. Aus den Steinmetzzeichen und Lohnlisten ist zu erkennen, daß die Stein­ metzen häufig nur sehr kurze Zeit auf einer Baustelle während ihrer Wanderung verweilt haben, was dazu geführt hat, daß Erfahrungen sehr schnell von Baustelle zu Baustelle übermittelt wurden, aber auch die Hütten dazu veranlaßt hat, im Spät­ mittelalter die Mindestzeit für das Verweilen auf einer Baustelle auf eine Woche festzulegen. An der Kathedrale von Narbonne werden 1307 die Fachkräfte (magistri et operarii) am Sonntag nach Arbeitstagen entlohnt, die Hilfsarbeiter (manobrii) erhalten täglich ihren Lohn vom Bauverwalter ausgezahlt. Üblich war Wochenlöh­ nung am Freitag oder Samstag. Die Steinmetzen, Zimmerleute und Schmiede arbeiteten auf der Baustelle selbst oder auf einer unmittelbar anschließenden Fläche unter freiem Himmel; allenfalls schützten leichte Überdächer vor dem Regen. Erst allmählich kamen im 13. Jh. verschließbare Holzbuden auf, die den Steinmetzen auch die Winterarbeit ermög­ lichten.

T ransport der B a u m a te ria lie n 63

62 Bauorganisation und Ausführung

Das verwendete Werkzeug ist in Zahl und Oua lität bescheiden und seit der Antike durch das ganze Mittelalter hindurch bis in das 19. Jh, weitgehend gleich: für die Maurer Kelle, Hammer, Lot, Lot- oder Setzwaage, Mör­ telmischhacke, für die Steinmetzen Spit­ ze, Fläche, Setzeisen, Klöpfel, Winkel, Richtscheit und Zirkel, für die Zimmerleute Axt, Beschlagbeil, Säge, Stecheisen, Klöpfel, Richtscheit und Farbschnur. Schon seit dem 12. Jh. wurden Quader oder Roh formen für Bauglieder im Steinbruch vorgefertigt, um den Transport zu erleichtern, aber erst zu Beginn des 13. Jh.s lassen sich Typisierungen, d. h. Serienferti­ gung und Präfabrikation feststellen.2 Während an den Kathedralen von Laon (1160-1205) und Bourges (1200-1214) noch die traditionelle individuelle Einzel­ anfertigung kurz vor dem Versatz zu erkennen ist, findet sich am Chor der Kathedrale von Soissons (1200/05-1212) und an der Kathedrale von Chartres (1194-1220) schon eine gewisse Typisierung. Eine serielle Vorfertigung ist jedoch erst am Langhaus der Kathedrale von Amiens (1220-1230) nachzuweisen, wo 28 große Gliederpfeiler unter Verwen­ dung von zwei Steintypen einheitlich ausgeführt sind, während in Reims für die gleichen Gliederpfeiler noch acht Steintypen verwendet wurden, was auch schon als Besonder­ heit galt, denn Villard de Honnecourt hat den Befund 1220/30 in seinem Musterbuch durch genaue Fugenzeich­ nung festgehalten (Abb. 84). Sämtliche Rippenprofile, Vorla­ gen der Mittelschiffhochwand, Maßwerk der Fenster, Triforiumsgliederungen sowie Gesimse und Kapitelle sind nach Schablonen (Abb. 92), die zu Beginn des 13. Jh.s aufkommen, einheitlich vorgefertigt. Zugleich wurde auch die Sta­ pelbauweise eingeführt, d. h., die im Mauerverband stehenden Gliederungselemente, vorrangig die Dienstvorlagen, wurden vor­ gefertigt und aufgesetzt, die Mauern dann dazwischen eingefügt. Bis in die Mitte des 13. Jh.s wird die En-délit-Technik angewandt (Abb. 49). Diese um 1220 aufkommende Typisierung erlaubte den Steinmetzen, in größerem Umfang auch im Winter zu arbeiten (und im Sommer zu versetzen), und förderte damit eine kürzere Bauzeit und bessere Ausnutzung der Spezialkräfte. Noch beim Bau der Kathedrale von Chartres sind Unterbrechnungen während der Wintermonate nachzuweisen. Zugleich erforderte es aber auch eine Festlegung der formalen Einzelgestaltung, d. h. maßstäbliche zeichnerische Darstellung, die Ein­ führung von Schablonen und Bauplänen, zunächst als Ritzzeichnungen von ein­ zelnen Baugliedern wie Maßwerkfenstern im Maßstab 1:1 ab etwa 1220 und dann auch ganzer Bauabschnitte wie die Palimpseste der Westfassade von Reims um 1250/60 nach Vorlagen aus der Zeit um 1230/50 (Abb. 71, 72). Als Villard de Honnecourt 1220/30 in Reims war, hat er dort solche Pläne noch nicht vorgefun­ den (siehe Kapitel III.7). Um 1235 waren mit dem Bau des Chors der Kathedrale von Amiens die Entwicklungen abgeschlossen; beim Umbau von Saint-Denis 1231-1241 und beim Bau der Schloßkapelle Saint-Germain-en-Laye, die um 1238 begonnen wurde, sind die neuen Techniken eingesetzt.

III.3 .Transport der Baum aterialien

48 ◄ Rippenbündel ü bereiner Wandsäule, 13. Jh. 49 „en délit" gearbeitete Dienste an einem Rundpfeiler im Chor des Kölner Doms, um 1255.

2

D o r o t h e a H o c h k irc h e n : M it t e la lt e r lic h e S te in ­

b e a r b e it u n g u n d d ie u n f e r t ig e n K a p ite lle des S p e y e r e r D o m e s (= 3 9 . V e rö ff. d. A b t . A rc h . d. K u n s th is t. In s t. d. U n iv . z u K ö ln ). K ö ln 1 9 9 0 . D ie t e r K im p e l: Le d é v e lo p p e m e n t d e la ta ille en s é rie d a n s l'a r c h it e c t u r e m é d ié v a le e t so n rô le d a n s l'h is to ir e é c o n o m iq u e . In : B u lle t in M o n u ­ m e n t a l 1 3 5 , 1 9 7 7 , S. 1 9 5 - 2 2 2 . - D ie t e r K im p e l: D ie V e r s a tz te c h n ik e n des K ö ln e r D o m c h o re s . In: K ö ln e r D o m b la t t 4 4 / 4 5 , 1 9 7 9 / 8 0 , 5 . 2 7 7 - 2 9 2 . D ie t e r K im p e l: Ö k o n o m ie , T e c h n ik u n d F o rm in d e r h o c h g o tis c h e n A rc h ite k tu r. In: B a u w e r k u n d B ild w e r k im H o c h m it t e la lt e r . H rs g . K a r l C la u s ­ b e rg , D ie t e r K im p e l, H a n s -J o a c h im Kunst, R o b e rt S u c k a le . G ie ß e n 1 9 8 1 , 5. 1 0 3 - 1 2 5 . S u c k a le (1 9 8 5 ) .

K im p e l-

Der Transport der Baumaterialien zur Baustelle erfolgte möglichst über den Was­ serweg auf Lastkähnen oder Flößen, über Land auf zwei- oder vierrädrigen Och­ senkarren oder bei besonders schweren Lasten auf Rollen oder Schlitten, auf der Baustelle bei kleineren Gewichten in der Schubkarre (Abb. 39), auf Holzbahren (Abb. 39, 50, 52,76), die von zwei Männern getragen wurden, in der Holzmulde auf der Schulter (Abb. 52), in Körben (Abb. 42) oder in einem Holzwinkel mit zwei Stan­ gen über den Schultern (Vogel, oiseau, Abb. 50, 53). Auf höhere Arbeitsebenen führ­ ten Laufschrägen (Abb. 39,42, 50), oder das in einen Korb, Eimer oder auf Paletten gelegte Material (Steine, Mörtel) wurde an einem Seil, das über eine Rolle am Gal­ gen geführt wurde, hinaufgezogen. Größere Steine wurden am Seil befestigt (Abb. 54, 56), bis zum 13. Jh. mittels des Wolfs, einer dreiteiligen Eisenaufhängung in einer schwalbenschwanzförmigen Vertiefung in der Steinoberfläche (Abb. 58). Seit Anfang des 13. Jh.s benutzte man die Steinzange, die durch Hebelkraft in zwei in die Sichtfläche und Rückseite des Steins eingearbeitete, kleine, quadratische oder runde Löcher greift (Abb. 54, 55, 58). Darstellungen des 12. und beginnenden 13. Jh.s bezeugen den allmählichen technischen Aufholprozeß gegenüber der Spätantike und dem byzantinischen Osten. Um 1100 kam der Lastkran auf, dessen zwei Säulen mit einem Ouerriegel verbunden sind, an dem die Seilrolle angebracht ist. Daneben existierte der Säulenkran mit einem Ausleger oder mit T-förmig auf­ sitzendem Ausleger, dessen Enden eine Rolle tragen (Abb. 51-61). Beide Grundfor­ men sind seit dem 13. Jh. nebeneinander zu beobachten. 50 Turmbau zu Babel im Morgan-Psalter, um 1200 (N ew York, Pierpont M organ Library, Ms. Das Baumaterial zogen allgemein Windeknechte mit der Hand hinauf. Als 338, fol. 168v. - Bi 354b). früheste Form des mittelalterlichen Windwerks wird seit dem 13. Jh. die Haspel mit horizontaler Welle dargestellt, die in zwei Holzpfosten oder in einem bockähn­ lichen Gestell gelagert ist und mit Handspeichen oder einer Kurbel betätigt wurde (Abb. 39, 56). Der Kran mit dem schon in der Antike verwendeten Laufrad ist erst seit der Mitte des 13. Jh.s für den goti­ schen Baubetrieb in Frankreich in Abbildungen bezeugt und ist späte­ stens im 14. Jh. allgemein in Europa verbreitet (Abb. 52, 54, 59,60). Das Laufrad wurde durch das Körpergewicht eines oder mehrerer im Inneren der Trettrommel laufender Windeknechte angetrieben, während die verlängerte Trommelachse als Windkörper diente. Dadurch konnten auch größere Steinlasten in jede beliebige Höhe gehoben werden. In Paris und Laon sind schon um 1180 die Steinformate in den Obergeschossen der Kathedrale deutlich größer, und an der Kathedrale von Soissons finden sich vor 1212 im Obergaden Werk­ stücke an Gewölben und Fensterlaibungen als monolithe Platten, die meh­ rere Zentner wiegen. Gervasius von Canterbury bewunderte ausdrück­ lich die Winden, die der französische Baumeister Wilhelm von Sens 1175 zum Be- und Entladen der Steine, welche aus Nordfrankreich nach England zum Bau der Kathedrale von Canterbury per Schiff antransportiert wurden, höchst einfallsreich konstruiert hat. Auch Vil­ lard de Honnecourt befaßt sich in seinem Musterbuch 1220/30 mit der Konstruktion verschiedener Maschinen, zeigt aber noch keinen Kran mit Laufrad. Für das Mauern und Versetzen der Steine dienten Arbeitsbühnen auf Bock- (Abb. 53), Ausleger- (Abb. 51, 54, 57, 59, 61) oder Standgerüsten (Abb. 56) mit Laufschrägen, über die das Material getragen wurde, 51 Turmbau zu Babel in einer französischen Bibel, Anfang 13. Jh. während die Leiter seltener vorkam und nur für die Arbeiter zum (Manchester, John Rylands Library, M s.fr. 5, fol. 1 6 . - Bi 315). Erreichen hoher Arbeitsbühnen diente. Die Gerüste erstellten die

Transport der Baum aterialien

6 4 Bauorganisation und Ausführung

54 Weltchronik des Rudolf von Ems, 1 3 4 0 /5 0 (Zürich, Cod. Rh. 15,fo l. 6V. Bi 651).

52 Turmbau zu Babel in einer französischen Bibel, um 1250 (N ew York, Pierpont M organ Library, Ms. fr. 638, fol. 3. - Bi 355), die früheste Darstellung eines Galgenkrans m it Laufrad.

55 Jansen Enikel und Rudolf von Ems, W eltchronik, um 1370 in Süddeutschland entstanden (München, Bayer. Staatsbibi., Cod. germ. 5,

57 W eltchronik des Rudolf von Ems, um 1360 (Fulda, Hess. Landesbibi., Cod.Aa 8 8 ,fol. 1 6 .- B i 183).

fol. 29v. - Bi 335).

Zimmerleute, die auch die Stützgerüste und Lehrbogen für die Bogen und Gewölbe anfertigten und aufstellten sowie schließlich das Dachwerk zimmerten, das als Arbeitsbühne für die Einwölbung dienen konnte. Wenn eine größere Baumaßnahme, insbesondere ein Neubau geplant wurde, war es die vorrangige Aufgabe, einen günstig gele­ genen Steinbruch zu erwerben, der brauchbares Steinmaterial bot, das man möglichst bequem über den Wasserweg auf Flößen zur Baustelle transportieren konnte, denn die Kosten für den Stein­ transport auf dem Landwege betrugen für 18 km Entfernung etwa soviel wie die Quadersteine selbst. So wurden die Steine für den direkt am Rhein gelegenen Kölner Dom am Drachenfels, 40 km rheinaufwärts, gewonnen, wo man die gebro­ chenen Steine ohne größeren Aufwand zum Rheinu­ fer bringen konnte. In Südengland fehlte gutes Steinmaterial; es mußte über das Meer aus den Brüchen von Caen auf Schiffen transportiert werden. Daraus wurden u. a. der Tower in London (75 Ladungen Steine aus Caen für 332 53 Eine gotische Kirchenbaustelle des 14. Jh.s in der französischen Handschrift „Grandes Chroniques de Saint-Denis" (Bi 665).

56 Weltchronik des Rudolf von Ems, 1385 (Kassel, Landesbibi., Ms. th e o l.4 ,fo l. 28v. —Bi 214).

58 Steinzange und W o lf zum Aufziehen von Quadern (A. W olff).

65

6 6 Bauorganisation und Ausführung

B a u a b la u f und B auzeiten 6 7

111.4. Bauablauf und Bauzeiten

60 Histoire universelle, 2. H älfte 13. Jh. (Dijon, Bibi. M unicipale, Ms. 562, fol. 9V. - Bi 159).

62 Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum, fol. 2 7 ,1 1 7 5 /9 1 (Bi 526). Die nur noch als Kopie erhaltene Bilderhandschrift zeigt in der Illustration des Turmbaus zu Babel die Steinm etzen und ihre Handlanger bei der Arbeit: links ein Handlanger, der m it einer langstieligen, beidhändig geführten Mörtelm ischhacke den M örtel in einem rechteckigen Trog mischt, rechts sind zwei Steinm etzen m it dem Behauen eines Quaders beschäftigt; der linke stellt m it Schlageisen und Klöpfel den Randschlag her, und der rechte arbeitet m it einer beidhändig geführten Doppelspitze die stehengebliebene Bosse bis a u f die Ebene des Randschlags ab. Zwei H and lang ertrag en den M örtel in einer M ulde und einen Quader au f ihren Schultern. Zwei Steinm etzen prüfen m it Lot und Richtscheit die richtige Lage der Quader.

59 W eltchronik des Rudolf von Ems, 1383 (Stuttgart, W ürttem b. LandesbibL, Cod. Bibi. 2°5, fol. 9V. - Bi 537).

Pfund 2 Schlling), die Kathedralen Chichester, St. Cross in Winchester, Rochester, Norwich, Glastonbury, die Abtei St. Albans, St. Augustine in Canterbury, Abtei Westminster (23. März 1253 aus Caen für 53 Pfund 4 Schilling) und der Königspa­ last in Winchester (am 3. Sept. 1222 „1700 Hausteine aus Caen für 4 Pfund 7 Schil­ ling“) errichtet. In der Regel gehörte der Steinbruch der Dombauverwaltung [fabri­ ca), die auch die Steinbrecher entlohnte. Diese arbeiteten in engem Kontakt mit dem Werkmeister, denn teilweise wurden die Steine auch im Steinbruch schon grob zugehauen, um ihr Gewicht für den Transport zu reduzieren. Auch mußten die Steine entsprechend ihrer Verwendung am Bau nach ihrer Qualität ausgesucht werden, denn Steinbrüche liefern kein einheitliches Material.

61 Holkham Bible, 1 3 2 6 /3 1 (London, British M useum , Add. Ms. 4 7682, fol. 27. - Bi 259).

63 Narbonne, Kathedrale, Bauabschnitte des Chorbaus: um 1275, bis 1 2 8 5 /9 0 ,1 2 9 0 /1 3 0 0 , um 1310 (Chr. Freigang 1992).

Mit dieser traditionellen, verhältnismäßig einfachen technischen Ausstattung wurden die großartigen, bewunderten Kathedralen sowie Pfarr-, Stifts- und Klo­ sterkirchen in überraschend kurzer Zeit errichtet, sofern ein einflußreicher Bau­ herr über ausreichende Baustoffe und finanzielle Mittel verfügte und Spezial­ handwerker in gewünschter Zahl verpflichten konnte (Abb. 63-67). Den detaillierten Abrechnungen für die ersten drei Baujahre der Vale Royal Abbey (1278-1280) in England sind die Vorbereitungen für einen großen goti­ schen Kirchenbau sehr genau zu entnehmen. Im ersten Jahr errichteten die Zim­ merleute im Steinbruch und auf der Baustelle je eine Schmiede, in der ein Schmied und ein Gehilfe an einer mit Holzkohle befeuerten Esse die Werkzeuge reparierten, ein zweiter Gehilfe bediente den Blasebalg, ein dritter sammelte und verteilte Hammer, Bohrer und Steinbearbeitungswerkzeuge auf der Baustelle. Auch wurden Schlafräume für die Steinmetzen und andere Handwerker und ein Steinhaus für den Baumeister errichtet und geweißt. Im Juni 1279 wurden 1400 Bretter für die Werkstätte der Steinmetzen bezahlt, im April 1280 weitere 2000. Im ganzen wur­ den in den drei Jahren für die Erstellung der Wohn- und Arbeitshäuser 12 300 Holzbretter gesägt und 67 000 Eisennägel gekauft. Gleichzeitig mit den Zimmer­ leuten begannen sechs Trupps zu je acht Arbeitern Steine im nahen Steinbruch zu brechen. Am 6. März 1278 wurden zehn Männer für die Vorbereitung des Geländes bezahlt, „wo der (Schnur-)Wurf für das Kloster geschehen sollte“; die Fläche wurde gereinigt, aufgefüllt und eingeebnet, um darauf die Grundrißvermessung vorneh­ men zu können. Im April schaufelten 200 Mann „Wälle und Gräben für einen Teich, von dem Wasser zum Bauplatz geleitet werden kann, um Mörtel zu machen“. Im Juli waren 44 Hilfsarbeiter damit beschäftigt, „die Fundamente für die Kirche auszuheben und zu legen, Mörtel zu mischen und ihn herbeizufahren, Sand auszuheben und Schubkarren zu fahren“. Im Januar 1280 wurden die glei­ chen Arbeiten von 18 Arbeitern ausgeführt. Über den Baufortgang der Kathedrale von Canterbury (Abb. 223) in den einzel­ nen Jahren 1175-1179 berichtet 1180 Gervasius als Zeitzeuge; die Bauleitung hatte der Baumeister (artifex) Wilhelm von Sens: „So wurde viel Mühe für die Beschaffung von Steinen von Übersee (Kontinent) aufgewendet. Um die Schiffe zu beladen und zu entladen und um den Mörtel und die Steine zu ziehen, verfertigte er mit großem Erfindungsreichtum Winden. Er übergab den Steinmetzen, die zusammengekommen waren, auch Formen zum Formen der Steine und bereitete anderes in gleicher Weise sorgfältig vor. Der Chor also, der zum Abriß bestimmt war, wurde eingerissen, und darüber hinaus wurde in diesem ganzen Jahr (Sept. 1174-Sept. 1175) nichts getan.... Im folgenden Jahr, d. h. nach dem Fest des hl. Bertin (5. Sept. 1175), richtete er vor dem Winter vier Pfeiler auf, d. h. auf beiden Seiten zwei. Nachdem der Winter vergangen war, fügte er zwei hinzu, so daß auf beiden Seiten drei in einer Reihe seien. Über diesen und den Seitenschiffaußen­ mauern baute er passend Bogen und Gewölbe, d. h. drei Schlußsteine auf beiden Seiterï. Ich setze Schlußstein für das ganze Gewölbe, weil der Schlußstein, in die Mitte gesetzt, die Teile, woher sie auch kommen, abzuschließen und zu festigen scheint.... Im dritten Jahr (Sept. 1176-Sept. 1177) fügte er auf jeder Seite zwei Pfei­ ler hinzu, von denen er die beiden äußeren rundherum durch marmorne Säulen schmückte, und weil dort Chor und Querhausarme Zusammenkommen mußten, setzte er sie als Hauptpfeiler. Und nachdem auf diese die Schlußsteine gesetzt waren und das Gewölbe gebaut war, spannte er von dem größeren Turm bis zu den vorgenannten Pfeilern, d. h. bis zum Querhaus, das untere Triforium mit vie­ len Marmorsäulen ein. Über dieses Triforium fügte er noch ein anderes aus einem

6 8 Bauorganisation und Ausführung

Bauzustand um 1265 anderen Material und die oberen Fenster hinzu, dann drei Schlußsteine des großen Gewölbes, und zwar vom Turm bis zum Querhaus. ... Im Sommer des Jahres 1178 errichtete er, vom Quer­ haus ausgehend, zehn Pfeiler, zu beiden Seiten fünf. Deren beiden ersten mit marmornen Säulen schmückend, baute er sie als Hauptpfeiler den anderen beiden gegenüber. Über diesen zehn setzte er Bogen und Gewölbe. Nachdem aber die beiden Triforien und die oberen Fenster fertig waren, bereitete er die Gerüste zur Wölbung des großen Gewölbes zum Anfang des fünften Jahres (Sept. 1178) vor. (Dabei stürzte der Meister mit dem Gerüst zu Boden.) ... So wurde das Gewölbe zwischen den vier Hauptpfeilern geschaffen, in des sen Schlußstein gewissermaßen der Chor und die Ouerhausarme zusammenzukommen scheinen. Auch wurden vor dem Winter (noch) zwei Gewölbe auf beiden Seiten gemacht, aber die immer heftiger auftretenden Regenfälle erlaubten nicht, mehr zu m achen.... Im Sommer des fünf­ ten Jahres (1179) wurden beide Querhäuser, nämlich das südliche und das nördliche, vollendet, und man wölbte das Gewölbe, das über dem Hauptaltar ist, was nicht im vorgenann­ ten Jahr geschehen war, obwohl alles vorbereitet gewesen war, weil die Regenfälle es verhindert hatten. Außerdem machte er ein Fundament im östlichen Teil der Erweiterung der Kirche, weil die Kapelle des heiligen Thomas dort von neuem aufgebaut werden sollte.... Nach­ dem aber ein äußerst festes Fundament für die Außenmauer aus Stein und Mörtel gemacht war, errichtete er auch die Mauer der Krypta bis zur Sohlbank der Fenster. Damit wurde das fünfte Jahr vollendet (Sept. 1179).“ Besonders kurze Bauzeiten sind nachweisbar für die Klosterkirche Saint-Denis unter Abt Suger: Westbau 1130/35-1140, Chor 1141-1144 (3 Jahre und 11 Mona­ te), für die Sainte-Chapelle in Paris, die Pfalzkapelle des französischen Königs, Roh­ bau 1241-1245 (Weihe 1248), für den Chor von Canterbury 1175-1183 (dann Unterbrechung wegen Geldmangels), für die Prämonstratenserklosterkirche SaintYved in Braine sieben Jahre (um 1195/1200-1204, Weihe 1208), für das Dekagon von St. Gereon in Köln 1219-1227, für die Zisterzienserklosterkirche Le Lys bei Melun 1244-1248, für die Kirche des Klosters Maubuisson bei Pontoise Pfingsten 1236 bis Ostern 1242, für die Zisterzienserklosterkirche Royaumont 1228-1236, für die unteren Geschosse des Westbaus, das Langhaus und den Westteil des Ouerschiffs der Kathedrale von Amiens 1220 bis um 1230, für Chor, Ouerschiff und Osthälf­ te des Langhauses (ohne Gewölbe) der Kathedrale von Reims 1211-1233, für Chor und Ouerschiff von Saint-Bénigne in Dijon 8.2.1282-27.4.1287. Für kleinere Kirchen waren oft nur zwei bis drei Jahre notwendig: Viktorinerstift Notre-Dame de la Roche 1232-1235, Johanniterkomtur ei Saint-Jean-en-lTle in Corbeil 1223-1225, Prämonstratenserabtei Joyenval 1221-1223, Dominikaner­ 65 Köln, Dom, Bauabfolge der Chorkapellen: Bauabschnitt 1.2, obere Teile der Pfeilerköpfe bis kloster in Rouen 1256-1257. 13,7 m Höhe, Fertigstellung aller Kapellen bis 19,8 m Höhe einschl. Gewölbe (A. W o lff 1968).

Finanzierung und Kosten 69

III.5. Finanzierung und Kosten

66 O tto von Freising, Chronica, 3. Viertel 12. Jh. (Jena, Universitätsbibi., Cod. Bose q. 6, fol. 2 0 a .- Bi 210). Romulus und Remus lassen die Stadtm auer von Rom bauen: Ein Steinm etz m it Spitz-Fläche schlägt einen Quader, ein Handlanger trägt einen Quader zu einem Maurer.

Wir, Renault le Cras, Prévôt (= Bürgermeister) von Paris, geben bekannt, daß Etienne de Bon neu il, Steinm etz ( t a ille u r d e p ie rr e ), am 30. August 1287 vor uns erschienen ist und sich d am it einverstanden erklärt hat, das Am t des Steinm etzm eisters und Bauführers der Kirche von Uppsala in Schweden, w ohin er sich begeben wird, zu übernehm en. Er bestätigt, zur freien Verfügung 40 Pfund Pariser W ährung von den Herren Olivier und Charles, beide Rechtsanwälte und Notare in Paris, entgegengenom m en zu haben, um zu Lasten des Bauwerks der besagten Kirche vier Kollegen und vier Gesellen m it sich zu führen, um den Stein zu behauen, in der M einung, dies geschehe zum Nutzen der besagten Kirche. Er verpflichtet sich, alle Auslagen der besagten Arbeiter, die ihm nach Schweden folgen werden, zu decken. Wenn aber Etienne Bonneuil und seine Begleiter vor ihrer A nkunft in Schweden auf hoher See durch einen Sturm oder a u f andere Weise ums Leben kom m en sollten, so werden er, seine Begleiter und ihre Erben von der Erstattungspflicht der besagten Summe entbunden.

H e n r y K ra u s: G o ld w a s t h e M o r t a r . T h e Eco­ n o m ic s o f C a t h é d r a l B u ild in g . L o n d o n 1 9 7 9 . W ilh e lm H e r m a n V ro o m : D e f in a n c ie r in g v a n d e k a t h e d r a lb o u w in d e m id d e le e u w e n . M a a r s e n 1 9 8 1 . - D g l. in : R e c h t ( 1 9 8 9 ) S. 8 1 - 9 0 . - D ie t e r K im p e l e b d a . S. 9 1 - 1 0 1 . - B in d in g ( 1 9 9 3 ) S. 4 2 f. m i t L it.-A n g a b e n .

Für Bauten der Könige standen zumeist ausreichende finanzielle Mittel zur Verfü­ gung. Auch die Klöster waren in der Lage, durch Ansammlung und Konzentration ihrer Einnahmen ansehnliche Summen bereitzustellen. Anders war es bei Bischofs- und Stiftskirchen. In der Regel gaben der Bischof, die Kanoniker und die Stiftsherren nur geringe Summen aus ihrem Privatvermögen. Statt dessen mußten Einnahmen, Spenden und freibleibende Präbenden und Pfründen (Bezahlung von Kanonikern) genutzt werden, um die Finanzierung einigermaßen sicherzustellen. Da es sich um jährliche Einnahmen handelte, konnte aus verschiedenen Gründen der Mittelzufluß in die fabrica, die Finanzverwaltung und Kasse des Kirchenbaus, nachlassen, stocken oder unterbrochen werden wie z. B. 1233/35 durch die Ausein­ andersetzung zwischen den Bürgern und dem Bischof von Reims. Neben den lau­ fenden Einkünften mußten auch Wälder und Land verkauft werden. Größere Spenden des Adels oder des Königs betrafen üblicherweise erst die Ausstattung der Kirche, insbesondere die Glasfenster. Da häufig ein Brandunglück den Neubau notwendig machte, konnte dieses aufwühlende Ereignis die Spendenfreudigkeit der Bevölkerung anregen. So war nach dem verheerenden Brand in der Nacht vom 9. zum 10. Juni 1194, bei dem die Kathedrale und ein großer Teil der Stadt Chartres eingeäschert wurden, Frankreichs kostbarste Reliquie, die sancta camisia, das Hemd, das die Jungfrau Maria bei der Geburt ihres Sohnes umhüllt und das Karl III. aus Aachen nach Chartres geholt hatte, verschont geblieben. Diese wundervolle Rettung, die als Zeichen Gottes empfunden wurde, und das Entsetzen über den Großbrand bewirkten vor allem im Kronland der Kapetinger-Könige eine unge­ wöhnliche Begeisterung und Opferbereitschaft, angefeuert durch Predigten, Dankund Bittprozessionen mit Wallfahrten zu dem Wunderort. So kamen in kurzer Zeit Geld, Material und Hilfskräfte zusammen, die den Neubau in der von etwa 10 000 Menschen bewohnten Stadt ermöglichten. 1221, nach 26 Jahren, konnten endlich die Kanoniker ihr Gestühl im Chor beziehen, der über der erhaltengebliebenen Krypta völlig neu gebaut werden mußte. Mit dem Fortgang der Wiederaufbauar­ beiten ließ aber auch in Chartres wie andernorts die „Begeisterung“ und damit auch die Spendenbereitschaft nach. Auch wurden wundertätige Reliquien der neu zu bauenden Kirche auf Reisen geschickt. Guibert, seit 1104 Abt von Nogent (gest. 1124), berichtet in seiner Auto­ biographie, daß Kleriker mit Reliquien von Laon durch Nordfrankreich und Flan­ dern von Ort zu Ort gezogen sind und Spenden sammelten, sie wurden von Kauf­ leuten betrogen und auf der Überfahrt nach England von Piraten ausgeraubt. Sieben Monate fuhren sie dann durch die Orte Südenglands und kehrten schließ­ lich mit reichen Gaben nach Laon zurück. So wurden zusätzlich zu den eigenen Mitteln Summen zusammengetragen, die den Bauablauf beschleunigen konnten. Als im 14. Jh. wirtschaftliche Krisen und in Frankreich der Hundertjährige Krieg einsetzten, wurden zahlreiche Baustellen stillgelegt oder nur stockend weiterge­ führt. Letztlich müssen alle Versuche, die Baukosten zu ermitteln, scheitern, nicht nur weil uns die Quellen wenig über die Höhe von Geldstiftungen und Kosten überlie­ fern, sondern weil sie nie über den gesamten finanziellen Aufwand für einen bestimmten Bauabschnitt informieren und nicht erkennen lassen, was an Sachlei­ stungen wie Materialstellung, Hand- und Spanndienst (Frondienst) und Verpfle­ gung hinzukommt, zumeist ein sehr bedeutender Anteil an dem Aufwand für einen Bau. So hat Richard Löwenherz 1196/97 für den Bau von Château Gaillard 55 000 Pfund Sterling aus der königlichen Kasse zur Verfügung gestellt (etwa 220 000 Pfund touronische Solidi), dazu kamen die Hilfsdienste der umwohnen

7 0 Bauorganisation und Ausführung

Risse - Baupläne 7 1

111.6. R isse-B aupläne

67 Regensburg, Dom, Bauzustand um 1 3 1 0 /1 5 (M. Schüller 1995).

68 Glasfenster „Histoire de Saint-Silvestre" im südlichen Chorum gang der Kathedrale von Chartres, um 1 2 2 0 /2 5 (Bi 137) - Steinm etzen bei der Arbeit.

1

B in d in g ( 1 9 9 3 ) 5 . 1 7 1 - 2 3 5 m i t L it.-A n g a b e n .

- B in d in g ( 1 9 9 8 ) 5. 3 5 7 - 3 8 0 . 2

B in d in g

S c h ö lle n

( 1 9 9 3 ) S. 1 9 8 - 2 0 6 . -

R itz z e ic h n u n g e n .

E in

W o lf g a n g

B e it r a g

zur

G e s c h ic h te d e r A r c h it e k t u r b e t r a c h t u n g im M i t ­ t e la lt e r . In : a r c h it e c t u r a 1 9 , 1 9 8 9 , 5. 3 6 - 6 1 . F r e ig a n g (1 9 9 2 ) , 5 . 9 0 - 9 6 . - K a t h a r in a C o rs e p i­ us: N o t r e - D a m e - e n - V a u x . S tu d ie n z u r B a u g e ­ s c h ic h te des 1 2 . J a h r h u n d e r t s in C h â lo n s -s u r M a r n e . S t u t t g a r t 1 9 9 7 , S. 8 2 - 8 6 .

Bevöl­ kerung. Für die 10 500 Pfund touronische Solidi, über die der Bauverwalter von Saint-Urbain in Troyes die Abrechnung verweigerte (siehe oben), sind weder der Zeitraum ihrer Verausgabung noch der Bauab­ schnitt, der damit bezahlt worden ist, bekannt. Wenn für die Sainte-Chapelle in Paris 40 000 Pfund touronische Solidi überliefert sind, während ein mittle­ res Haus in Paris 150 Pfund kostete, dann ist zu berücksichti­ gen, daß für den Bau der verhältnismäßig kleinen Kapelle fast nur hochspezialisierte Fachkräfte - Steinmetzen für Profilsteine, Glaser und Maler - erforderlich waren und wir uns in der Mitte des 13. Jh.s schon in einer Zeit befinden, in der die Entlohnung der Fachhandwerker vermehrt durch Geld und weniger durch Sachleistungen erfolgte.

3

B in d in g

( 1 9 9 3 ) S. 1 9 2 - 1 9 8 . -

W o lf g a n g

S c h ö lle n Le d e ssin d 'a r c h it e c t u r e à l'é p o q u e g o t h iq u e . In : R e c h t ( 1 9 8 9 ) S. 2 2 7 - 2 3 5 . - P e te r P au s e :

G o tis c h e

A r c h it e k t u r z e ic h n u n g e n

in

D e u ts c h la n d . Diss. B o n n 1 9 7 3 . - S te p h e n M u r ­ ra y : T h e G o th ic F a ç a d e D r a w in g s in t h e „ R e im s P a lim p s e s t“. In : G e s ta 1 7 . 2 , 1 9 7 8 , S. 5 1 - 5 5 . R o b e r t B r a n n e n D r a w in g s f r o m

a T h ir t e e n t h -

C e n tu r y A rc h ite c t's S ho p: Th e R eim s P a lim p s e s t. In : J o u r n a l o f t h e S o c ie ty o f A r c h it e c t u r a l H is to ria n s , 1 7 , 1 9 5 8 , Nr. 4 , 5 . 9 - 2 1 . - B r a n n e r v e r m u ­ te t , d a ß s c h o n u m 1 2 2 0 d ie e x a k t v e r k le in e r t e W e r k z e ic h n u n g e r fu n d e n w o r d e n sei. 4

H a n s K a u ffm a n n : D ie K ö ln e r D o m fa s s a d e . In:

D e r K ö ln e r D o m . F e s ts c h rift z u r S ie b e n h u n d e r t­ j a h r f e i e r 1 2 4 8 - 1 9 4 8 . K ö ln 1 9 4 8 , S. 7 8 - 1 3 7 . A r n o ld W o lff: M i t t e la lt e r lic h e P la n z e ic h n u n g e n f ü r d a s L a n g h a u s des K ö ln e r D o m s . In : K ö ln e r D o m b la t t 3 0 , 1 9 6 9 , 5 . 1 3 7 - 1 7 8 . - R ic h a rd W o r t­ m a n n : N o c h e i n m a l S tr a ß b ü r g -W e s t . In : a r c h i­ te c t u r a 2 7 , 1 9 9 7 , 5 . 1 2 9 - 1 7 2 m i t Lit.

Generell verlief - entgegen der immer wieder vehement vorgetragenen falschen Meinung - die Bauausführung bis zur Mitte des 13. Jh.s weitgehend ohne vorher zeichnerisch festgelegte Projektierung.1 Eine allgemeine Vorstellung von Bautyp und Dimension im Geist des Baumeisters (in mente conceptum) diente als Grund­ lage für die sukzessive Bau-Erstellung. Die architektonische Idee nahm erst in der empirischen Auseinandersetzung mit dem Material im emporwachsenden Bau selbst ihre endgültige Form an. Über Raumkonzeption und Proportion bestand eine in knappen verbalen Anweisungen festgelegte Konvention, enthalten z. B. in Werkmeisterverträgen zur Ausführung eines Bauwerks oder Bauabschnitts. Im Baufortgang wurden die Einzelteile in Originalgröße auf dem Reißboden gezeich­ net. So entstanden nicht nur die geometrisch bestimmten Maßwerkfiguren, son­ dern auch für die Rippengewölbe die komplizierten Bogenaustragungen (die erst in der Spätgotik aufkommen). Seit dem 13. Jh. sind entweder auf gequaderten oder verputzten Wandflächen oder auf Terrassendächern mit erheblichem Aufwand angebrachte, zwei bis drei Millimeter eingetiefte Ritzzeichnungen erhalten: Wir kennen 17 Beispiele aus Frankreich, 13 aus England, neun aus Deutschland, eines aus Dalmatien.2 Der früheste erhaltene und recht zuverlässig datierte Bodenriß ist der von Soissons aus der Mitte des 13. Jh.s (Blendarkade und Maßwerkfenster, Abb. 70); die Risse von Byland/England und Notre-Dame-en-Vaux in Châlons-sur-Marne stammen mögli­ cherweise schon aus dem Anfang des 13. Jh.s. Um 1290/1300 entstanden die Risse in Bourges (Maßwerkfenster, Abb. 69), Clermont-Ferrand, Limoges, Narbonne und Cambridge. Diese 1 : 1-Risse dienten zum Abmessen der in dieser Zeit aufkommen­ den Schablonen und der Kontrolle der fertigen Werksteine vor dem Versatz am Bauwerk. Die ältesten erhaltenen, auf Pergament gezeichneten, verkleinerten (Auf-)Risse sind die beiden Reimser Palimpseste (Abb. 71, 72) mit der dreiportaligen Ouerschiffassade einer Kirche, die 1250/60 als Kopien von Vorlagen aus der Zeit um 1230/50 aufgetragen wurden.3 Villard de Honnecourt hat um 1220/30 in Reims noch keine Werkrisse als Vorlage für die Zeichnungen in seinem Musterbuch benutzt, jedoch schon Grundrisse mit Darstellung von Mauerdicken entwickelt. Um 1260/70 entstand der älteste Straßburger Riß A für einen Teilaufriß der West­ fassade des Münsters (Abb. 73), der von den Ouerhausfassaden der Pariser Kathe­ drale beeinflußt ist; es folgten die Risse B um 1275 (250 cm hoch) und D 1277/80. Risse von anderen Baustellen stammen ebenfalls aus dem letzten Viertel des 13. Jh.s, so der älteste erhaltene Grundriß (Wiener Riß A) für den Südwestturm des Kölner Doms um 1280, der Kölner Riß F für die Westfassade um 1300 (405 cm hoch, Abb. 74) und die Langhausrisse E und El um 1330/40 (Abb. 75).4 Diesen Zeitansatz für das Aufkommen von verkleinerten Planrissen als Werk­ risse bestätigen auch die schriftlichen Quellen. Der in Paris ausgebildete Robert Grosseteste (1168-1253, seit 1235 Bischof von Lincoln) kennt in seinem 1228/32 geschriebenen Brief an Adam Rufus noch keine Pläne. Auch Thomas von Aquin geht in seiner 1265 in Paris begonnenen Summa theologiae noch davon aus, daß „der Baumeister (artifex) bestrebt ist, das Haus der Form anzugleichen, die er im Geiste erfaßt hat“. Abt Menko von Wittewierum bei Groningen in Holland schreibt 1248: „Weil schwer weiterzubauen ist, wenn man die Absicht des ersten Gründers nicht kennt, zumal jeder ausgezeichnete Werktätige (artifex) die Gestalt seines Werkes zunächst im Geiste deponiert,... deshalb führen wir an dieser Stelle die Beschreibung der ersten Konzeption des Werkes durch, damit, wenn es den Nach­ kommen gefällt weiterzubauen, sie daraus die Gestalt (materia) des Fortzusetzen-

Risse - B aupläne 73

72 Bauorganisation und Ausführung

69 Bourges, Kathedrale Saint-Étienne, 1 : 1-Riß (4,53 X 6,04 m) eines M aßw erkfensters a u f dem Plattenboden des Zwischengeschosses des um 1300 errichteten südwestlichen Strebeturms, dessen Ost- und W estfenster dem Riß entsprechen, Ritztiefe 2 m m .

den haben.“ Vincenz von Beauvais (1184/94-1264), Erzieher und Bibliothekar am Hofe Ludwigs IX., kennt dann um 1250 in seinem Speculum maior eine ichnographia in der Tradition von Vitruv, also die verkleinerte Grundrißzeichnung eines Gebäudes, zeitgleich mit den ersten Reimser Rissen. Auf dieser Grundlage kann man sich kaum vorstellen, daß komplizierte Propor­ tionsfiguren zur Bemessung von Grund- und Aufriß angewandt wurden. Statt des­ sen waren nur einfache, auch bei der Grundrißvermessung seit der Antike ange­ wandte Dreieckskonstruktionen sowie glatte Zahlen von Fußmaßen für Grundund Aufriß bestimmend. Dem folgen auch noch 1391-1400 die zur Begutachtung eingeladenen Werkmeister bei der Diskussion über die konstruktiv sinnvolle Dimension des Mailänder Langhauses, die „nach der geometrischen Vernunft des Dreiecks erfolgte“. Eine ausgewogene Gestaltung wird durch feste Maßverhältnisse einzelner Bau­ teile zueinander und zum Ganzen (Proportion), ausgehend von dem Grundmaß oder von Grundfiguren, erreicht. Das Grundmaß ist als Werkmaß die Länge der Grundstrecke bei der Vermessung von Bauten, angegeben in Fuß (z. B. röm. Fuß 29,6 cm, karol. Fuß 33,29 cm, franz. Königsfuß 32,50 cm und andere), als Modul (z. B. der untere Halbmesser einer Säule als Verhältnismaß für den zu errichtenden Bau) oder als eine andere, die Proportion bestimmende Grundstrecke wie der Gol­ dene Schnitt, die Teilung einer Strecke in zwei Teile, die sich zueinander verhalten wie der größere zur Gesamtstrecke (schon seit dem Altertum verwendet). Die Grundfigur ist entweder ein gleichseitiges Dreieck (Triangulatur), ein Quadrat (Quadratur) oder ein Fünfeck (Pentagramm, auch Drudenfuß), denen jeweils eine entsprechende zweite Figur diagonal einbeschrieben ist usw., also jeweils mit entsprechenden kleineren Seitenlängen; auch ein Achtort (Achtspitz oder Acht­ uhr), zwei einem Kreis einbeschriebene, übereckgestellte Quadrate. Bei der harmo­ nischen Proportion wird die Architektur mit der Musik in Verbindung gesetzt

70 Soissons, Kathedrale, 2 mm tiefe Ritz­ zeichnung einer 1,66 X 1,86 m großen Blend­ arkade, eines 2,63 m großen M aß w e rk ­ fensters und eines Querschnitts durch eine Fensterbank, au f dem Fußboden des Zwischengeschosses im N ordw estturm um 1250 aufgetragen.

7 1 ,7 2 Reimser Palimpseste (U m zeichnun­ gen) um 1 2 5 0 /6 0 nach Vorlagen aus der Zeit um 1 2 3 0 /5 0 .

5 P a u l vo n N a r e d i-R a in e r: A r c h it e k tu r u n d H a r ­ m o n ie . K ö ln 61 9 9 9 m i t L it.-A n g a b e n . - M ü l l e r ( 1 9 9 0 ) 5 . 3 5 - 1 1 0 . - D a s R ü c k fin d e n vo n P ro p o r­ tio n e n is t e in w e i t v e rb re ite te s B e m ü h e n bis h in z u c o m p u t e r g e s t ü t z t e n V e r fa h r e n w ie z u l e t z t von W o lfg a n g W ie m e r: B a u g e o m e tr ie u n d M a ß ­ o r d n u n g d e r A b t e ik ir c h e E b ra c h -

E rg e b n is s e

e in e r C o m p u te r a n a ly s e . W ü r z b u r g 1 9 9 5 ; Bespr. v o n C h r is t ia n

F r e ig a n g in : K u n s tc h r o n ik 5 1 ,

1 9 9 8 , 5. 3 4 4 - 3 5 0 . -

W e d e r d ie ü b e r lie f e r t e n

W e r k z e u g e n o c h s c h riftlic h w ie b ild lic h b e le g te s W issen n o c h s c h lie ß lic h d e r W e r k s t a t t a llt a g la s ­ sen s o lc h e ü b e r s p itz te n V e r fa h r e n a ls w a h r ­ s c h e in lic h e rs c h e in e n . 6

R ic h a rd vo n St. V ik to r, In V is io n e m E zech ielis;

M ig n e , PL. 1 9 6 , 5 4 8 D - 5 5 0 A (Ü b e rs e tz u n g 5. Lins c h e id -B u r d ic h ). - Z u d e n Illu s t r a t io n e n s ie h e W a lt e r C a h n : A r c h it e c t u r a l D r a f t s m a n s h ip in T w e lft h -C e n tu r y P aris: T h e Illu s tr a t io n s o f R ic h ­ a r d o f S a in t - V ic t o r 9s C o m m e n t a r y o n EzekieTs T e m p le

V is io n .

In : G e s ta

15,

1 -2 ,

1976,

S.

2 4 7 - 2 5 4 m i t A b b . - W a lt e r C a h n : A r c h it e c tu r e a n d E xeg esis: R ic h a r d vo n S t .- V ic t o r 9s E z e k ie l C o m m e n t a r y a n d Its Illu s tr a tio n s . In : A r t B u lle ­ tin 7 6 , 1 9 9 4 , 5. 5 3 - 6 8 m it A b b . u n d Lit.

gemäß der antiken, von Augustinus in das christliche Abendland vermittelten Ent­ deckung, daß bei zwei angezupften Saiten der Unterschied der Tonhöhe eine Oktave beträgt, wenn die eine halb so lang ist wie die andere, eine Quinte, wenn sie zwei Drittel, eine Quarte, wenn sie drei Viertel der anderen Saite beträgt, also Maßverhältnisse 1: 2,2 : 3 oder 3 :4.5 Um den Planungs- und Bauausführungsvorgang zu verdeutlichen, sei eine Text­ stelle aus dem Ezechiel-Kommentar des Richard von St. Viktor in Paris (gest. 1173) zitiert, wo er eine ausführliche Beschreibung der Einzelformen der Torbauten des Tempels zusammenfaßt und durch eine einfache Strichzeichnung illustriert6: „Weil wir aber ... über die Beschreibung der Toranlage schon hinreichend gesprochen haben und ... der Reihe nach ausgeführt haben, wollen wir an dieser Stelle zur größeren Anschaulichkeit (evidentia) dessen, was gesagt wurde und was noch zu sagen ist, die Form (forma) all der (Dinge), die weiter oben von Teil zu Teil vorgetragen wurden, in einer Figur (figura, Zeichnung) zusammenfassen, damit der Geist des Betrachters Ort, Lage und Zahl, Beschaffenheit, Größe, Proportion aller dieser (Dinge) gesammelt leicht entnehmen kann. Weil es aber schwierig oder sogar unmöglich ist, Länge und Breite und Höhe von Gebäuden in der Fläche in dieser Figur (Zeichnung) wiederzugeben, glaube ich, daß es genügt, wenn man Lage und Ort all der (Dinge), die ich genannt habe, in die rechte Form gebracht und durch proportionsgerechte Linien (lineis proportionalibus ductis) gleichsam das Fundament all dieser (Dinge) gelegt hat. Denn wenn wir die Linien, die nach pro­ portionsgerechter Vermessung abgemessen sind (lineas proportionali commensuratione modificatas), betrachten und unter ihnen nichts anderes verstehen als sozusagen die gelegten oder bezeichneten Fundamente (iacta seu designata fu n ­ damenta) der Wände, ist leicht mitzuverstehen, wie von dieser Führung der Linien (ab hac linearum deductione) sich die Wände in die Höhe erheben und auf diese Wände das Dach sich legt.“

R isse-B au pläne 7 5

◄ 73 Straßburg, Münster, Westfassadenriß A l, um 1275 (ergänzende Um zeichnung, Original Straßburg, Musée de l'Œuvre NotreDame, Inv. No. 2). Vorbild Ouerhausfassaden der Kathedrale von Paris (1 2 5 0 /6 5 ) und Westfassade von Saint-Nicaise in Reims (M itte 13. Jh.).

74 Köln, Dom, W

estfassadenriß F (Ausschnitt), um 1 3 0 0 ,4 ,0 5 m hoch, 26 Pergamente

zusam m engeklebt (Köln, Archiv der D om bauverw altung).

7 6 Bauorganisation und Ausführung

Villard de Honnecourt 7 7

III.7. Musterbuch eines Werkmeisters: Villard de Honnecourt

76 Chartres, Kathedrale, Glasfenster „Histoire de Charlem agne" im nordöstlichen Chorum ­ gang, um 1225 (Bi 1 4 0 ):Trage, Laufschräge, Lotwaage.

D ie L ite r a tu r ü b e r V illa r d d e H o n n e c o u r t u n d sein M u s te r b u c h is t s e h r u m fa n g r e ic h . G r u n d le ­ g e n d is t im m e r n o c h H a h n lo s e r (1 9 7 2 ) . D ie L ite ­ r a t u r bis 1 9 8 1 e r f a ß t C a r l F. B a rn e s : V illa r d d e H o n n e c o u r t. T h e A r t is t a n d his D ra w in g s , a C ri­ t ic a ! B ib lio g r a p h y. B o s to n /M a s s . 1 9 8 2 . - E in e a u s fü h r lic h e Z u s a m m e n f a s s u n g b i e t e t B in d in g ( 1 9 9 3 ) S. 2 0 7 - 2 2 4

m i t n e u e r e r L it. in A n m .

1 0 1 9 ; f e r n e r s in d z u n e n n e n : L e x ik o n d e r K unst, Bd. 7, L e ip z ig 1 9 9 4 , S. 6 3 6 f . m i t Lit. - R o b e r t W. S ch e ller: E x e m p lu m . M o d e l-B o o k D r a w in g s a n d th e P ra c tic e o f A r t i s t ic T ra n s m is s io n in th e M i d ­ d le A g e s (ca. 9 0 0 - c a . 1 4 7 0 ) . A m s t e r d a m 1 9 9 5 , S. 1 7 6 - 1 8 7 (e r d a t i e r t ca. 1 2 1 5 - 1 2 4 0 , d ie B a u ­ te n 1 2 3 0 / 3 5 n a c h B a rn e s ). - W ilh e lm S c h iin k :

75 Köln, Dom, Riß E l, um 1 3 3 0 /4 0 , Fenster, W im perg und Attika des Langhauses (Kölner Stadtm useum , Inv.-Nr. A I3 /1 32 ).

I

W a r V illa r d d e H o n n e c o u r t A n a lp h a b e t ? In : F a b ie n n e J o u b e r t u n d D a n y S a n d r o n : P ie rre , lu m iè r e , c o u le u r (= C u ltu r e s e t c iv ilis a tio n s m é ­ d ié v a le s 2 0 ). 1 9 9 9 , S. 2 1 3 - 2 2 1 .

„Vilars dehonecort“ oder „Wilars dehoncort“ nennt sich der Verfasser des 33 Perga­ mentblätter (16 X 24 cm) umfassenden Musterbuchs, das seit 1795 in der Pariser Nationalbibliothek (ms. fr. 19093) aufbewahrt wird. Die auf Reisen u. a. nach Cam­ brai, Meaux, Vaucelles, Reims, Laon, Chartres, Lausanne und Ungarn um 1220/30 teils nach der Natur, teils nach Bildvorlagen angefertigten Skizzenblätter wurden von dem aus Honnecourt bei Cambrai in der Picardie stammenden, vermutlich als Werkmeister (artifex) tätigen Villard nachträglich zu einem livre zusammenge­ stellt, soweit möglich thematisch geordnet und in Altfranzösisch mit didaktischer und erklärender Absicht beschriftet, wie W. Schiink vermutet, nach Diktat von drei verschiedenen Schreiben, weil Villard - wie wohl viele Werkmeister - schreibun­ kundig war. Auf fol. l v nutzt Villard den Platz über der obersten Apostelreihe zu einem Wort an seine Leser: „Wilars dehoncort grüßt Euch und bittet alle diejenigen, die mit die­ sen Fähigkeiten (engiens), die man in diesem Buch (livre) findet, arbeiten werden, für seine Seele zu beten und sich seiner zu erinnern. Denn in diesem Buch kann man großen Rat finden über die große Fertigkeit der Maurerei und die Fähigkeiten der Zimmerei, und Ihr werdet die Fertigkeit des Zeichnens (portraiture) finden, die Grundzüge, wie die Kunstfertigkeit (ars) der Geometrie sie verlangt und lehrt.“ Schon im Mittelalter gingen etwa 13 Blätter verloren. Die noch vorhandenen 325 Einzelzeichnungen zeigen zu etwa zwei Dritteln Menschen- (163) und Tierdar­ stellungen (62), ferner liturgisches Gerät, Maschinen, Ansichten und Grundrisse von Kirchen sowie vier Seiten Geometrie für die Bau-Erstellung. Die braunen Federzeichnungen sind in Bleistift und bei den Bauabbildungen auch durch Blind­ rillen auf dem Pergament vorbereitet. Die am heutigen Baubestand nachkontrol­ lierbaren Zeichnungen von Reims, Laon, Chartres und Lausanne erweisen, daß Vil­ lard die Bauformen aufgrund seiner eigenen konstruktiv-geometrisch bestimmten Logik leicht verändert und teilweise summarisch wiedergegeben hat. Seine Figu­ renzeichnungen im späten Muldenfaltenstil gehören in vielfältige ikonographische Bereiche der Skulptur und der Buch- und Glasmalerei: christliche Figuren, Allegorien, Ecclesia, Gerichts- und Turnierszenen, Würfelspieler und Löwenkampf sowie Aktdarstellungen, vermutlich nach antiken Skulpturen. Die zahlreichen Tierdarstellungen mit geometrischen Figuren als Zeichenhilfe stehen in der Tradi­ tion von Bestiarien, zoologisch-mythologische Darstellungen vom Aussehen und Verhalten der Tiere, um 200 in Alexandria verfaßt und besonders im 12. Jh. viel­ fach abgeschrieben und ergänzt. In vielfacher Weise sind seine Skizzen Quellen für tiefere Einsichten in die damaligen Planungstechniken, vor allem für die Kathedrale von Reims, die für die Entwicklung der Hochgotik formal (Gliederpfeiler, Maßwerk, Skulpturenprogram­ me), technisch und im Planungsverfahren (Aufkommen von Baurissen) 1211/33 von höchster Bedeutung ist und die er auf sechs Blättern mit Innen- und Außen­ ansichten sowie Detailzeichnungen darstellt (Abb. 80-84). Der schematische Grundriß einer „eckigen Kirche, die für einen Bau des Zisterzienserordens vorgese­ hen war“ (Abb. 77), und der Chorentwurf, den Villard und Peter von Corbie „in gemeinsamer Besprechung (inter se disputando) miteinander erfunden haben (invenerunt)t( (Abb. 79) und für den der Chor der Zisterzienserkirche zu Vaucelles bei Cambrai (Abb. 78) vorbildhaft gewesen war, zeigen in ihrer unterschiedlichen Darstellungsweise als Linienschema bzw. horizontaler Mauerschnitt mit Gewölbe­ eintragung die Vielfalt der Darstellungsweisen. Mit dem in mehreren Ebenen zusammen projizierten Grundriß und perspektivischen Aufriß eines der nach 1205 errichteten Westtürme von Laon (Abb. 85, 86) beweist Villard, wie erschöp-

V illa rd de H o n n e c o u rt 79

7 8 Bauorganisation und Ausführung

I

unt 77 Musterbuch des Villard de Honnecourt um 1 2 2 0 /3 0 (Paris, Bibi. Nat. m s.fr. 1 9 0 9 3 ,fol. 14v), Zisterzienserkirche und Chor von N otre-D am e in Cambrai.

78 Chor der Zisterzienserkirche in Vaucelles (fol. 18).

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79 „Diesen Chor haben Villard von Honne­ court und Peter von Corbie in gem einsam er Besprechung m iteinander erfun d en “; unten: „Dies ist der Chor von Sankt Faron in M eau x.“ (fol. 17).

8 0 - 8 4 Musterbuch des Villard de Honne­ court, um 1 2 2 0 /3 0 (Paris, Bibi. Nat., m s.fr. 19093, fol. 32v, 30v, 31, 31v, 32), Strebewerk, Chorkapelle, Mittelschiff, Aufriß und Details, Kathedrale Notre-D am e in Reims, seit 1211 'm ßa u .- Links:fol 10v, Seitenschiffenster.

8 0 Bauorganisation und Ausführung

Vermessung 8 1

III.8. Vermessung

87 G ott als Baumeister verm ißt die W elt. Bible moralisée wohl aus Reims, 2. Viertel 13. Jh. (W ien, Österr. Nat.-Bibl., Cod 2554, Frontispiz. - Bi 621).

fend er ein architektonisches Vorbild wiederzugeben vermochte: „Ich bin in vielen Ländern gewesen an keinem Ort habe ich jemals einen solchen Turm erblickt, wie der von Laon einer ist.“ Ein Beispiel für die Kopierweise und Umstilisierung eines Architekturdetails ist das große runde Westfenster der Kathedrale von Char­ tres auf fol. 5V, das dem Neubau nach 1194 angehört, dessen obere Teile vor 1220 fertiggestellt waren. Villard übernimmt die Konzeption des Originals, verändert das Ganze aber im Hinblick auf größere Leichtigkeit und detailliertere Gliederung. Grundsätzlich wird durch die veränderten Proportionen das Fenster schemati­ scher, geometrisch einfacher konstruierbar und damit nachvollziehbarer, es wird ornamentaler, ein bedeutender Schritt hin zum Maßwerk. Ganz ähnlich ist Villard mit dem vor 1225/30 entstandenen Rundfenster am Südquerhaus der Kathedrale von Lausanne verfahren.

8 5 ,8 6 Musterbuch des Villard de Honnecourt, um 1 2 2 0 /3 0 , einer der W esttürm e der Kathedrale von Laon, nach 1205 erbaut: „Ich bin in vielen Ländern gewesen, w ie Ihr aus diesem Buche ersehen könnt; an keinem Ort habe ich jem als einen solchen Turm erblickt, w ie der von Laon einer ist. Seht hier (den Grundriß) des ersten Geschosses dort, (wo es) bei den ersten Fenstern (anhebt). A uf (der Höhe) dieses Grundrisses ist der Turm von acht (Strebe-)Pfeilern umgeben; die vier Türmchen, au f (Bündeln) von (je) drei Säulen, sind viereckig. Alsdann kom men Bogen und Stockwerke: Und dann sind w ieder Türmchen da, durch acht Säulen gegliedert, und zwischen zwei Säulen ragt ein Ochse heraus. Und dann folgen Bogen und das Geschoß. Darüber ist der Helm m it acht Gräten. In je ­ dem Feld dient eine Schießscharte zur Be­ leuchtung. Schauet vor Euch: Ihr w erdet viel darin sehen über die Bauart und über den ganzen Aufbau und darüber, w ie die Türm ­ chen m iteinander abwechseln. Und überlegt es Euch wohl: denn wenn Ihr einen guten Turm machen w ollt, so m ü ß t Ihr Strebepfeiler w ählen, die von genügender Tiefe sind. Habt wohl acht au f Eure Arbeit; so w erdet Ihr tun, was eines weisen und großzügigen M annes w ürdig ist.“ (fol 9V, 10)

W illy W e y re s : D a s S y s te m des K ö ln e r C h o r ­ g ru n d ris s e s . In : K ö ln e r D o m b l a t t 1 6 / 1 7 , 1 9 5 9 , 5. 9 7 - 1 0 5 . - G ü n t h e r B in d in g : D ie P fa lz G e ln h a u ­ sen. B o n n 1 9 6 5 . - K o n ra d H e c h t: M a ß u n d Z a h l in d e r g o tis c h e n B a u k u n s t. In : A b h a n d lu n g e n d. B ra u n s c h w e ig . W iss. Ges. I, 2 1 , 1 9 6 9 ( 1 9 7 0 ) , 5. 2 1 5 - 3 2 6 ; II, 2 2 , 1 9 7 0 ( 1 9 7 2 ) 5 . 1 0 5 - 2 6 3 ; III, 2 3 , 1971

( 1 9 7 3 ) 5. 2 5 - 2 3 6 . -

G ü n t h e r B in d in g :

„ G e o m e tr ic is e t a r it m e t i c is in s t r u m e n t is " . Z u r m itte la lte r lic h e n B a u v e rm e s s u n g . ln :Jb . d. rh e in . D e n k m a lp f le g e 3 0 / 3 1 , 1 9 8 5 , S. 9 - 2 4 m i t L i t A n g a b e n . - M ü l l e r ( 1 9 9 0 ) 5 . 3 5 - 1 0 0 . - B in d in g ( 1 9 9 3 ) 5. 3 3 9 - 3 5 4 . - P a u l v o n N a r e d i- R a in e r : A r c h it e k t u r u n d H a r m o n ie . Z a h l, M a ß u n d P ro ­ p o r t io n in d e r a b e n d lä n d is c h e n B a u k u n s t. K öln 61 9 9 9 m i t L it.-A n g a b e n . - W o lf g a n g W ie m e r : B a u g e o m e trie u n d M a ß a n o r d n u n g d e r A b te i­ k ir c h e E b ra c h

(=

Q u e lle n

u. F o r s c h u n g e n z.

G esch. d. B is tu m s u. H o c h s t ifts W ü r z b u r g 4 5 ). W ü r z b ü r g 1 9 9 5 . - G e o rg S c h e lb e rt: D ie C h o r ­ g r u n d r is s e d e r K a t h e d r a le n v o n K ö ln u n d A m i ­ ens. In : K ö ln e r D o m b l a t t 6 2 , 1 9 9 7 , 5. 8 5 - 1 1 0 . W u l f S c h irm er, W o lf g a n g Zick: C a s te l d e ! M o n t e . In : a r c h ite c tu r a 2 8 , 1 9 9 8 , S. 1 - 3 6 . - A u s f ü h r l i c h d e m n ä c h s t in G ü n t h e r B in d in g : P la n e n

und

B a u e n im M i t t e l a l t e r n a c h d e n S c h rift- u n d B ild ­ q u e lle n des 8 . - 1 3 . J a h r h u n d e r t s (in V o r b e r e i­ tu n g f . 2 0 0 1 ).

Über die Einmessung des Grundrisses gotischer Kathedralen, insbesondere des komplizierten Chorpolygons mit Umgang und Kapellenkranz, existieren in der Literatur häufig phantasievolle Vorstellungen. Nach welchen geometrischen Grundfiguren und in welcher Weise diese auf der Baustelle umgesetzt und einge­ messen wurden, wissen wir nicht. Es gibt zahlreiche, sich gegenseitig aus­ schließende Rekonstruktionen auf der Grundlage einer mehr oder weniger genau­ en modernen Grundrißvermessung. Für den Chor des Kölner Doms hat Willy Weyres das Vermessungsproblem gesehen, aber letztlich keinen überzeugenden Vorschlag gemacht. Für die Vermessung müssen Festpunkte außerhalb der Funda­ mentgruben, die in Köln bis 10,50 m unter den Fußboden reichen, vermarkt wer­ den. Während nach Weyres für die Planung der in zwölf Segmente geteilte Kreis bestimmend war, sei der Grundriß mittels gleichseitiger Dreiecke von Außen­ punkten eingemessen worden. Wie diese Punkte auf dem Außenkreis im Gelände ermittelt wurden, erläutert Weyres nicht. Demgegenüber schlägt Georg Schelbert 1997 ein Triangulaturschema für die Einmessung des Kölner Domgrundrisses vor. Weyres machte darauf aufmerksam, daß nur verhältnismäßig geringe Entfernun­ gen genauer gemessen werden konnten, da man mit einem Seil von 25 m kaum einen genauen Kreis ziehen könne. Letzlich ist es notwendig, ein einfaches, gut zu kontrollierendes Meßsystem auf der Basis von Dreiecken zu entwickeln, mittels dessen die Kreissegmente und Teilpunkte der Sehnen bestimmt werden können. Hierfür gibt es bisher noch keine ausreichenden Vorschläge; allein der von Wulf Schirmer 1998 für Castel del Monte aufgezeigte Meßvorgang ist überzeugend, er ist der von Günther Binding 1963 für die Pfalz Gelnhausen aufgezeigten Vermes­ sung ähnlich. Zu berücksichtigen ist dabei immer, daß als Meßinstrumente nur die Meßstange {pertica oder virga, Abb. 44,88-90,92), Richtschnur (linea, Abb. 91), Knotenschnur (Abb. 88), Richtscheit (regula, Abb. 92), Lot (perpendiculum, Abb. 39, 61) und Lotwaage (libella, libra, Abb. 39, 51) zur Verfügung standen, sowie das Wis­ sen um die Konstruktion des rechten Winkels mittels eines Dreiecks mit den Sei­ tenlängen 3: 4: 5 (Pythagoras) vorhanden war; ferner ist zu bedenken, daß die Ein­ messung auf einem häufig teilbebauten und unebenen Gelände ausgeführt werden mußte. Für die Planung auf dem Reißboden standen Richtscheit und Bodenzirkel (Abb. 87,89,90), ab Mitte 13. Jh. für die Planzeichnung auf dem Perga­ ment zusätzlich der Stechzirkel (Abb. 44) zur Verfügung. Auf dem Grabstein aus dem Ende des 13. Jh.s. für den 1263 verstorbenen Werkmeister Hugues de Libergier in Reims sind als die seine planende und vermessende Tätigkeit charakterisieren­ den Instrumente Meßlatte, Richtscheit und Stechzirkel dargestellt (Abb. 44). Diese einfache Ausstattung mit Werkzeugen erlaubte die genaue Einmessung des Grundrisses und war von der Antike bis ins 20. Jh. üblich. Eine ausreichende Zahl von Quellen aus dem 9.-15. Jh. gibt Auskunft über den Vermessungsvorgang. Am 6. März 1278 wurden beim Bau des englischen Zisterzi­ enserklosters Vale Royal zehn Männer für die Vorbereitung des Geländes bezahlt, „wo der (Schnur-)Wurf für das Kloster geschehen sollte“ (ubi iactus monasterii fie­ ret). Um die Mitte des 9. Jh.s wird über die Klostervermessung in Corvey im Jahre 822 berichtet: „Nach beendeter Dankandacht warfen sie die Richtschnur (linea) aus und schlugen Pflöcke (paxilli) ein und begannen zu messen.“ In Lorenz Lachers Unterweisungen von 1516 wird die Chorvermessung mit Schnur und Pflöcken beschrieben: „schlag die Pfel nach einer schmier.“ Die Vermessung führten Fach­ leute aus. Bischof Oswald von York (gest. 999) bemühte sich, wie zwischen 995 und 1005 niedergeschrieben, „Maurer anzuwerben, die mit grader Gradlinigkeit des Richtscheits (regula) und mit dem dreiteiligen Dreieck (triangulum ternarium)

B au o rg a n isa tio n und A u s fü h ru n g

K onstruktion

90 Isidor von Sevilla, Etymologiae, Buch­ malerei aus Zweifalten, 2. H älfte 12. Jh. (Stuttgart, W ürttem berg. Landesbibi., Cod. poet. et philol. 2°33, fol. 28 v. - Bi 538e). 88 Bonn-Schwarzrheindorf, St. Klemens, Deckenmalerei in der Unterkapelle 1 1 5 1 /5 6 , Visionen des Ezechiel: Vermessung des neuen Jerusalem m it M eß la tte und Knotenschnur (Bi 513, 514).

89 Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum, fol. 32r, 1175/91, Darstellung der G eom etrie m it M eßstange und Bodenzirkel (Bi 527).

sowie dem Zirkel (circinus) ehrenvoll die Funda­ mente des Klosters (Ramsay) anzufangen wissen.“ In dem 1443/52 verfaßten Werk De re aedificatoria libri decem (1485 gedruckt) beschreibt Leon Battista Alberti den Meßvorgang: „Bevor du zu graben beginnst, mußt du die Ecken der Grundfläche und alle Seitenlinien auf das sorgfältigste immer wie­ der bezeichnen, wie sie sein sollen und wo sie hin­ gehören. Bei der Bestimmung dieser Ecken muß man kein winziges, sondern ein sehr großes Rech­ tewinkelmaß (norma) haben, damit man die Rich­ tungslinien (directionum lineae) mit größe­ rer Sicherheit erhält. Das Rechtewinkelmaß machten die Alten (wie schon bei Vitruv beschrieben) aus drei geraden Richtscheiten (rectis regulis), die zu einem Dreieck (triangulum) /y verbunden waren. Von diesen hatte eines drei Ellen, das J '' andere vier Ellen, das dritte fünf Ellen.“ Wie man sich das Ergebnis einer solchen Vermessung vorzustellen hat, wird nach 1079 für Hildesheim überliefert: „Man sah die Grenzli nien (limites) bezeichnet (designati) und gleichsam zum Ausheben der Fundamente einer Kirche durch einen kunstfertigen rechten Winkel des Messenden (artifi- ^ cioso metientis orthogonio) in der Art von Frühlingsreif niedergeschrieben, ausgerichtet von der uralten * Kapelle St. Maria nach Westen, so breit und lang unter sich Abstand haltend wie die Mauerdicke, die Länge der Kirche und die Geräumigkeit (capacitas) es erforderten.“ „Nachdem das Fundament gelegt ist, streckt der Maurer die Richtschnur (linea) gerade aus, läßt das Lot hinab und setzt dann die sorgfältig geglätteten Steine in die Reihe“, schreibt Hugo von St. Viktor vor 1141 in seinem Lehrbuch Didascalicon.

91 Abstecken eines Kirchengrundrisses von Cluny, Vie de Saint Hugues, 12. Jh. (Paris, Bibi. Nat., ms. lat. 17716, fol. 43. - Bi 451).

(Vt* 92 Vermessung m it M eßstab, Richtscheit, Zirkel und Schablone in einer Psychomachia des Prudentius von 1289 aus der Abtei SaintVictor in Paris (Paris, Bibi. Nat., ms. lat. 15158. - B i 450).

m

Konstruktion und Statik 85

8 4 Konstruktion

IV .l. Konstruktion und Statik

I

9

j

95 Schlesische Buchmalerei aus dem H ofatelier Herzog Ludwigs I. von Liegnitz und Brieg, um 1353 (M alibu,The J. Paul Getty M useum , Ludwig XI, 7, fol. 56. - Bi 312).

1

S e d lm a y r (1 9 5 0 ) , N a c h d r u c k 1 9 7 6 , S. 5 1 3 .

2

K im p e l-S u c k a le ( 1 9 8 5 ) 5. 4 0

3

S e d lm a y r

5 1 3 -5 2 2 . -

(1 9 5 0 ),

N a c h d ru c k

1976,

5.

S ie h e k r itis c h e B e s p re c h u n g vo n

E rn s t C a ll in : K u n s tc h r o n ik 4 , 1 9 5 1 , S. 1 4 - 2 1 . M ü l l e r ( 1 9 9 0 ) S. 1 8 4 - 2 4 6 , 2 9 8 - 3 0 8 . D a s b e ­ t r i f f t a u c h d ie jü n g s t e D is s e r ta tio n vo n K a t h a r i­ n a C orsepius: N o t r e - D a m e - e n - V a u x . S tu d ie n z u r B a u g e s c h ic h te des 1 2 . J a h r h u n d e r ts in C h â lo n s s u r - M a r n e . S t u t t g a r t 1 9 9 7 , S. 7 8 - 8 1 : „ B a u s t a ­ t ik u n d K o n s t r u k t io n “, w o sie k e in e K e n n tn is v o n d e r in A n m . 1 7 z i t i e r t e n L i t e r a t u r n i m m t u n d a u c h n i c h t B in d in g ( 1 9 9 6 ) in d e r A u f la g e v o n 1 9 9 5 b e r ü c k s ic h tig t. - D e r f o l g e n d e T e x t f o l g t te ilw e is e d e r F a s s u n g in B in d in g ( 1 9 9 6 ) S. 1 3 7 - 1 7 9 . 4

v. S im s o n ( 1 9 7 2 ) S. 1 3 . -

Z u m S p it z b o g e n

s ie h e S e d lm a y r ( 1 9 5 0 ) 5 . 2 6 9 - 2 7 2 . 5

A u b e r t ( 1 9 6 3 ) S. 2 3 .

6

J a c o b M u r p h y : Ü b e r d ie G r u n d r e g e ln d e r

g o th is c h e n B a u a r t. (E ng l. O r ig in a la u s g a b e : P rin ­ c ip ie s o f G o th ic A r c h it e c t u r e .) A u s d e m E n g li­ s c h e n v o n J. D. E. W. E n g e lh a r d . L e ip z ig u n d D a r m s t a d t 1 8 2 8 , 5.26.

94 Köln, Dom, Südostansicht, Chor 1 2 4 8 -1 3 2 2 , Langhaus und Türme 1880 vollendet.

I

Die technischen Probleme der Kathedrale sind, nach Hans Sedlmayr, „von glei­ chem Rang, auch innerhalb der Kunstgeschichte, wie die eigentlich künstlerischen und ikonologischen: sie gehen unabtrennbar in die künstlerische Gestaltung ein“1. Ähnlich formulieren Dieter Kimpel und Robert Suckale: „Statische und gestalteri­ sche Überlegungen greifen ineinander.“2 Trotz dieser richtigen Auffassung fehlt bis auf wenige Ausnahmen - in der bau- und kunstgeschichtlichen Literatur eine angemessene Erörterung der konstruktiven und statischen Probleme.3 Das gotische Konstruktionssystem erlaubt über unterschiedlich großen Räu­ men gleichhohe Wölbungen durch die Verwendung des Spitzbogens, dessen Bogenschenkel mehr oder weniger steil geführt werden können. Für Viollet-le-Duc und viele seiner Zeitgenossen und Nachfolger war die Erfindung des spitzbogigen Kreuzrippengewölbes die Grundlage und das bestimmende Element der Gotik. Dem widerspricht Otto von Simson 1956: „Das entscheidende Merkmal des neuen Stils sind nicht Kreuzrippengewölbe, Spitzbogen oder Strebepfeiler. Sie alle sind nicht mehr als konstruktive Mittel (die schon von der vorgotischen Architektur entwickelt oder vorbereitet waren) zur Verwirklichung einer künstlerischen Absicht. Die Baumeister des französischen Westens verwenden das Rippengewöl­ be schon um die Mitte des zwölften Jahrhunderts mit einer Meisterschaft, die auch von ihren 'gotischen' Zeitgenossen keineswegs übertroffen wird;... Auch das Auf­ streben zur Höhe, die Steilheit der Proportionen, ist nicht das charakteristische Merkmal der gotischen Architektur.“ Neu seien nur „die Berücksichtigung des Lichts und das Verhältnis von tektonischer Struktur und Erscheinung“.4 Diese weitgehend richtige Erkenntnis enthebt uns aber nicht der Verpflichtung, die beeindruckende Konstruktion gotischer Kathedralen zu beurteilen und der Frage nachzugehen, mit welchen technischen Kenntnissen und Mitteln diese erreicht worden ist. Marcel Aubert hat 1963 allgemeinverständlich die konstruktiv-statischen Ver­ hältnisse der gotischen Kathedrale charakterisiert: „Die Gewölbekappen sind zwi­ schen Bogen gespannt, die spitzbogigen Umriß haben; Druck und Schub sammeln sich in den vier Ecken des Gewölbejochs, die durch Strebebogen ausreichend abge­ stützt werden müssen: große steinerne Arme, die sich über die Dächer der Seiten­ schiffe bis zur Höhe der Gewölbeauflager und der Gurtbogen des Mittelschiffs schwingen, die sich auf Widerlager stützen und mit ihrem eigenen Druck einen Teil des Seitenschubs von oben auffangen, der bereits von dem Gewicht des oberen Mauerwerks, des Dachstuhls und der Decke senkrecht nach unten abgeleitet wird“5 (Abb. 96). Bewundernd stellte schon Jacob Murphy 1828 fest: „Wenn die Baumeister dieser Kathedralen damals so sehr ohne alle Kenntnis der Wissen­ schaft waren, wie man sie schildert, so ist es zu verwundern, daß sie so genau die richtige Größe ihrer Pfeiler, Gewölbe und Strebepfeiler usw. auszumitteln gewußt haben, während die Neueren mit allen ihren vorgeblichen Fortschritten in dieser Kunst und mit der Hilfe, welche ihnen augenscheinlich die Algebra leistet, noch keine Beispiele von Konstruktionen gegeben haben, welche denen, die uns jene Baumeister hinterlassen, an die Seite zu setzen wären.“6 In den Ergänzungen des Übersetzers und Herausgebers Engelhard wird „der Hauptgrundsatz in Absicht auf Konstruktion der gotischen Bauwerke“ formuliert: „Man setze die in einem Gebäu­ de zu dessen Zerstörung wirkenden Kräfte einander entgegen, um sie dadurch sich gegenseitig bekämpfen und aufheben zu lassen, oder denselben vielmehr eine sol­ che Richtung zu geben, die sie für das Gebäude unschädlich macht.... Ebenso konn­ ten ... die Gewölbe selbst viel schwächer gemacht werden, indem man die Stellen derselben, auf deren Tragbarkeit es hauptsächlich ankam, mit jenen Rippen von

Konstruktion und Statik 87

8 6 K o n s tru k tio n

gehauenen Steinen verstärkte, welches gleichsam eine Quadrierung dieses Kon­ struktionssystems war, indem nun wieder, durch die im Ganzen verminderte Masse des Gewölbes, Säulen und Strebepfeiler erleichtert wurden. Ja die Gewölbe­ rippen sind selbst wieder schwächer in den Punkten, auf die es weniger ankam, als in den Hauptpunkten konstruiert.“7 Später stellt Viollet-le-Duc fest: „Alle ihre Anstrengungen richten sich in der Tat darauf, die Kräfte ins Gleichgewicht zu bringen und die Stützen nur noch als Stäbe zu betrachten, die nicht durch ihr Eigengewicht im Lot gehalten werden, sondern durch die vollständige Neutralisierung aller schrägen Schubkräfte, die auf sie ein­ wirken.“ „Wenn die gotische Konstruktion auch keinen absoluten Formeln unter­ liegt, so folgt sie doch bestimmten Prinzipien ... Gleichgewicht, Ausgleich der Schubkräfte durch Druckkräfte, Stabilität durch aufliegende Gewichte, die die ver­ schiedenen schrägen Kraftlinien in vertikal lastende verwandeln.“8Viollets große Schule hat seine Doktrin, das Kreuzrippengewölbe sei das erzeugende Element der gotischen Konstruktion, beinahe zum Dogma erhoben. Georg Dehio und Georg v. Bezold formulieren 1901 in Fortführung der Gedanken von Viollet-le-Duc: „Diese drei sind also die Erzeuger der gotischen Konstruktion: die Kreuzrippen, der Spitz­ bogen, das Strebewerk. Die Reihenfolge, in der wir sie nennen, bedeutet zugleich ihre Rangordnung. Die Kreuzrippen sind das absolut Wesentliche; die spitze Form der Bögen und die Bogenform der Streben können abwesend gedacht werden.“9 Bei Georg Dehio sind Kreuzrippengewölbe, Spitzbogen und Strebewerk die Gotik bestimmende Elemente, aber nicht neue statische Erfindungen, wie Hans Sedl­ mayr behauptet und dabei statische Dimensionierung, Konstruktion und optische Erscheinung verwechselt.10 Gegen das Primat der Rippe hat sich 1915 Ernst Gail gewandt und nachgewie­ sen, daß es falsch ist, in der technischen Erfindung des Kreuzrippengewölbes den Ausgangspunkt für die Entwicklung gotischer Architektur zu sehen.11 Damit nimmt er die 1842 von Franz Kugler geäußerten Gedanken auf, der darauf hin­ weist, daß beim neuen System der Gotik „die Starrheit der Mauer fast gänzlich ver­ schwindet und statt ihrer fast nichts als vollständig gegliederte Stützen und Gewölbebögen erscheinen“ und daß es als dessen wichtigste Einzelmerkmale Rip­ pengewölbe, Strebepfeiler und Rippenbildungen hervorgebracht habe.12 Hiermit war der Vorrang des Formalen vor dem Konstruktiven in der Gotik erkannt wor­ den: Strebepfeiler und Rippenbildung erscheinen weniger als Ursache denn als Folge des gotischen Prinzips. Paul Frankl kennzeichnet das Problem 1923 folgendermaßen: „Beide, Dehio und Gail, sehen das Gotische in dem Prinzip, den Baukörper nach den Funktionen des aktiven Tragens und passiven Füllens, sozusagen in ein Skelett harter Knochen und zwischengespannter Membrane zu zerlegen. Nur meint Dehio, dies geschah zuerst im Gewölbe und sei hier durch die Erfindung der Rippe ausgelöst worden, die aus technischen Gründen geschaffen wurde, und sei dann in die Wände, die das Gewölbe tragen, hinunterprojiziert worden, während Gail meint, es sei zuerst die Wandgliederung dagewesen und dann aus rein ästhetischem Bedürfnis in die Gewölbe übertragen worden, die Rippe sei keine ‘Erfindung’, brachte überhaupt zuerst keine technischen Vorteile - was tatsächlich stimmt -, sondern sei nur die künstlerische Konsequenz der Wandgliederung.“13 In verschiedenen Abhandlungen zur Geschichte des Gewölbebaus, besonders in denen von John Fitchen, Franz Hart und James H. Acland, in Lexika und Darstel­ lungen zur Gotik finden sich mehr oder weniger brauchbare Hinweise.14 Dazu kommen experimentelle Untersuchungen über den Kräfteverlauf innerhalb goti­ scher Konstruktionen wie z. B. jene von Robert Mark in den 1970/80er Jahren, der jedoch in seinem Modell die Materialeigenschaften nicht berücksichtigt; er kommt

7 M u r p h y ( w ie A n m . 6 ) 5 . 5 0 .

k irc h e n im R h e in la n d . Diss. A a c h e n 1 9 7 5 . - J a c ­

57. -

q u e s H e y m a n : O n t h e R u b b e r V a u lts o f t h e

S ie h e K ap . I m i t d e m a u s fü h r lic h e n Z i t a t (A n m .

M id d le A ges, a n d o t h e r M a t t e r s . In : G a z e t t e des

8

V io ll e t - l e - D u c ( 1 8 5 8 - 1 8 6 8 ) Bd. 4 , 5.

‘ 4 7 ). 9

B e a u x -A r ts , Ser. 6, 7 1 , 1 9 6 8 , S. 1 7 7 - 1 8 8 ( W i e ­

D e h io -B e z o ld ( 1 8 9 2 - 1 9 0 1 ) Bd. 2 , 5. 6 f.

d e ra b d ru c k

in

Heym an,

w ie

Anm .

14,

S.

10 Vgl. C a l l ( w ie A n m . 3 ), d e r d a r a u f h in w e is t,

1 0 3 - 1 1 4 ) . - B a r t h e l ( w ie A n m . 1 7 ) S. 4 2 - 6 6 .

d a ß S e d lm a y r b e i s e in e r K r itik in s e in e m B u c h

17 H e lm u t W e b e r: D a s w e c h s e ls e itig e V e rh ä ltn is

h ä u f ig F e h lin te r p r e t a tio n e n d e r A u t o r e n zw e c k s

v o n K o n s tr u k tio n u n d F o r m u n g a n d e n K a t h e ­

e ig e n e r H e r v o r h e b u n g b e tr e ib t .

d r a le n N o r d f r a n k r e ic h s . Diss. H a n n o v e r 1 9 5 7

11 E rn s t C a ll: N ie d e r r h e in is c h e u n d n o r m ä n n i-

( m i t L it ) . - M a r t i n G rassnick: D ie g o tis c h e n W ö l­

sche A r c h it e k t u r im Z e it a l t e r d e r F r ü h g o tik . B e r­

b u n g e n des D o m e s z u X a n t e n u n d ih r e W ie d e r ­

lin 1 9 1 5 . - E rn s t G a il: D ie g o tis c h e B a u k u n s t in

h e r s t e llu n g n a c h 1 9 4 5 . Diss. D a r m s t a d t 1 9 6 3

F ra n k re ic h u n d D e u ts c h la n d . Teil 1 . Le ip zig 1 9 2 5 ,

(m it

2 . A u f l. B ra u n s c h w e ig 1 9 5 5 .

A n g a b e n ) . - J o h a n n e s M ö lle r : D ie B e r e c h n u n g

u n z u r e ic h e n d e n

u n d fe h le r h a fte n

L it.-

12 F ra n z K ug ler: H a n d b u c h d e r K u n s tg e s c h ic h te .

von

S t u t t g a r t 1 8 4 2 , S. 5 1 7 .

K a rls ru h e 1 9 6 6 . - J ü r g e n S egg er: Z u r S ta t ik g o t i ­

13 P a u l F r a n k l: M e i n u n g e n ü b e r H e r k u n f l u n d

s c h e r K a th e d r a le n . D a r g e s t e ll t a m K ö ln e r D o m

k r e is z y lin d r is c h e n

K r e u z g e w ö lb e n .

Diss.

W e s e n d e r G o tik . In : W a lt e r T im m lin g : K u n s tg e ­

u n d s ta tis c h

s c h ic h te u n d K u n s tw is s e n s c h a ft. L e ip z ig 1 9 2 3 , 5.

A a c h e n 1 9 6 9 . - M ü l l e r ( 1 9 9 0 ) S. 1 8 4 - 2 4 6 . - R a i­

9 - 3 5 , Z ita ts . 1 9 .

n e r B a r th e l: T r a g v e r h a lte n g e m a u e r t e r K re u z g e ­

v e rw a n d te n

K a t h e d r a le n . Diss.

14 J o h n F itc h e n : T h e C o n s tr u c tio n o f G o th ic

w ö lb e (D iss. K a r ls r u h e 1 9 9 1 ) (= A u s F o rs c h u n g

C a th e d ra ls . A S tu d y o f M é d ié v a l V a u lt E re c tio n .

u n d Lehre 2 6 , In s t it u t f . T r a g k o n s tru k tio n e n . U n i­

O x f o r d 1 9 6 1 (R e p rin t 1 9 7 7 ) . - F ra n z H a r t : K u n s t

v e r s it ä t K a r ls r u h e ). K a r ls r u h e 1 9 9 3 . - S e g g e r

u n d T e c h n ik d e r W ö lb u n g . M ü n c h e n 1 9 6 5 . -

s e tz t

J a m e s H . A c la n d : M é d ié v a l S tru c tu re : T h e G o th ic

n i m m t G rassnicks D is s e r t a tio n a lle r d in g s n ic h t

V a u lt. T o ro n to 1 9 7 2 . - J o h n F itc h e n : M i t Leiter,

z u r K e n n tn is ; G rass nick s e in e rs e its k a n n t e o f f e n ­

sich

k ritis c h

m it

W eber

a u s e in a n d e r ,

S tr ic k u n d W in d e . B a u e n v o r d e m M a s c h in e n ­

s ic h tlic h d ie A r b e it v o n W e b e r n ic h t, u n d M ü l l e r

z e it a lt e r . B a s e l 1 9 8 8 (e n g l. O r ig in a la u s g a b e :

s t ü t z t sich w e i t g e h e n d a u f W e b e r u n d k e n n t

B u ild in g C o n s tr u c tio n B e fo re M e c h a n iz a t io n ,

S e g g e r n ic h t.

C a m b r id g e 1 9 8 6 ) ; r e c h t v e r a l t e t e r F o rs c h u n g s ­

18 S e g g e r ( w ie A n m . 1 7 ) S. 1 4 , 4 0 .

s ta n d . - R o b e r t M a r k : L ig h t, W in d a n d S tru c tu re .

19 G ra s s n ic k ( w ie A n m . 1 7 ) S. 1 1 . So a u c h H a n s

C a m b r id g e /M a s s . 1 9 9 0 . -

Jacques H e y m a n :

S tr a u b : D ie G e s c h ic h te d e r B a u in g e n ie u r k u n s t.

A rches, V a u lts a n d B uttre sse s. A ld e r s h o t /H a m p -

E in Ü b e r b lic k vo n d e r A n t ik e bis in d ie N e u z e it

s h ire , B ro o k fie d /U S A 1 9 9 6 ( A u fs a t z s a m m lu n g ).

(= W is s e n s c h a ft

- N e u e rd in g s N u ß b a u m - L e p s k y ( 1 9 9 9 ) m i t a u s ­

W e d e r A n t ik e n o c h M i t t e l a l t e r h a t t e n r e c h n e ­

f ü h r l i c h e r D isk u ss io n .

r is c h - q u a n t it a t iv e o d e r m a th e m a t is c h - p h y s ik a ­

und

K u lt u r 4 ). B a s e l 1 9 4 9 .

15 R o b e r t M a r k : E x p e r im e n ts in G o t h ic S tr u c ­

lis ch e K e n n tn is s e b e i d e r B e m e s s u n g u n d F o r m ­

tu r e . C a m b r id g e /M a s s . 1 9 8 2 . - M a u r y I. W o lfe ,

g e b u n g vo n B a u w e r k e n .

R o b e r t M a r k : G o th ic C a th é d r a l B u ttre s s in g : T h e

20 G ra s s n ic k (w ie A n m . 1 7 ) S. 3 8 .

E x p e r im e n t a t B o u rg e s a n d its In flu e n c e . In :

21 E r w in P a n o fs k y : D a s e r s te B l a t t a u s d e m

J o u r n a l o f t h e S o c ie ty o f A r c h it e c tu r a l H is to r ia ns

„ L ib r o (8 G io rg io V asa ris . In : S tä d e l-J b . 6 , 1 9 3 0 , 5.

3 3 , 1 9 7 4 , 1 7 - 2 6 . - M a u r y I. W o lfe , R o b e r t M a r k :

2 5 - 7 2 , Z i t a t s . 4 3 , A n m . 1.

T h e C o lla p s e o f t h e V a u lts o f B e a u v a is C a t h e ­

22 A n t o n i o A v e r lin o F i la r e t e 9s T r a c t a t ü b e r d ie

d ra ls 1 2 8 4 . In : S p e c u lu m 5 1 , 1 9 7 6 , 5 . 4 6 2 - 4 7 6 .

B a u k u n s t. H rs g . W o lf g a n g vo n O e t tin g e n . W ie n

-

1 8 9 0 , S. 2 7 4 . - A n t o n io A v e r lin o : F ila r e t e 9s Trea -

R o b e r t M a r k , R ic h a r d A la n P r e n tk e : M o d e l

A n a ly s is o f G o th ic S tr u c t u r e . In : J o u r n a l o f t h e

tis e o n A rc h ite c tu re . H rs g . J o h n R. Spencer. 2 Bde.

S o c ie ty o f A r c h it e c t u r a l H is t o r ia ns 2 7 , 1 9 6 8 , S.

N e w H a v e n , L o n d o n 1 9 6 8 . - A n n a M a r i a F in o li,

4 4 - 4 8 . - R o b e r t M a r k : T h e S t r u c t u r a i A n a ly s is

Lilia n a G rassi: A n t o n io A v e r lin o d e t t o d i F ila re te ,

o f G o t h ic C a th e d r a ls . In : S c ie n tif ic A m e r ic a n

T r a t ta to d i a r c h it e t t u r a . M a i l a n d 1 9 7 2 .

2 2 7 , 1 9 7 2 , H e f t 5, S. 9 0 - 9 9 . - K u r t D. A le x a n d e r ,

23 P e te r T ig le r: D ie A r c h it e k t u r t h e o r i e des F ila ­

R o b e r t M a r k , J o h n F. A b e l: T h e S t r u c t u r a l B e h a -

r e te (= N e u e M ü n c h n e r B e iträ g e z u r Kun stg esch.

v i o r o f M é d ié v a l R ib b e d V a u ltin g . In : J o u r n a l o f

5 ). B e r lin

t h e S o c ie ty o f A r c h it e c tu r a l H is to r ia n s 3 6 , 1 9 7 7 ,

E u r o p ä is c h e

S. 2 4 1 - 2 5 1 . - L u tz K ü b ler: C o m p u te r a n a ly s e d e r

1 9 4 7 - 1 9 4 8 , Bd. 1, S. 2 1 3 f .

S t a t ik z w e i e r g o tis c h e r K a th e d r a le n . In : a r c h i­

24 P a o lo Frisi: „ V e rs u c h ü b e r d ie G o th is c h e B a u ­

1 9 6 3 , S. 9 7 - 1 0 0 . K u n s tg e s c h ic h te .

P e te r M e y e r : 2

B d e . Z ü ric h

t e c t u r a 1 9 7 4 , S. 9 7 - 1 1 1 .

k u n s t " L iv o rn o 1 7 6 6 , J o h a n n W o l f g a n g G o e th e :

16 K la u s P ie p e r: V on d e r S ta t ik m i t t e la lt e r li c h e r

„ V o n d e u ts c h e r B a u k u n s t “, 1 7 7 3 . In : H e rd e r,

1 9 5 0 , 5.

G o e th e , Frisi, M ö s e r . V o n d e u ts c h e r A r t u n d

K a r l P ie p e r:

K u n st. E in ig e f l i e g e n d e B lä tte r . H a m b u r g 1 7 7 3 .

S ic h e r u n g h is to r is c h e r B a u te n . B e r lin 1 9 8 3 . -

H rs g . H a n s D ie tric h Irm s ch e r. S t u t t g a r t 21 9 8 3 , S.

H e r m a n n B o llig : S ta tis c h e S c h ä d e n a n H a lle n -

9 3 - 1 0 4 u n d S. 1 0 5 - 1 2 2 . Vgl. K ap. l,A n m . 2 0 .

K ir c h e n b a u te n . 6 0 0 -6 0 4

In : B a u m e is t e r 4 7 ,

(L ü b e c k e r K irc h e n ). -

zu dem Schluß, daß die Rippen nicht tragen bzw. nur im unteren Bereich das Tra­ geverhalten verstärken.15 Hinzuweisen ist ferner auf Untersuchungen oder Berich­ te über statische Sicherungsarbeiten an gotischen Kirchen, wie sie u. a. von Klaus Pieper und Hermann Bollig vorgelegt wurden.16 Diese Bemühungen um die kon­ struktive und statische Erklärung der gotischen Architektur wurden durch die Dis­ sertationen von Helmut Weber (1957), Martin Grassnick (1963), Jürgen Segger (1969) und Rainer Barthel (1991) auf sicherere Grundlagen gestellt.17 Jürgen Segger formuliert 1969: „Bisweilen werden in die Bauten Erklärungen hineingeheimnist, die erst die Unbestechlichkeit der Statik eindeutig aufklären kann.“ Und er fährt fort: „Die Gotik versucht erfolgreich, Masse durch Konstrukti­ on zu ersetzten, und wo nicht möglich, zu reduzieren.... Selbst heute könnte man eine gotische Kathedrale mit gleichem Material nicht wesentlich besser bauen, d. h. nach unseren Sicherheitsvorschriften nicht dünner, im Bauvorgang nicht rationeller, in der Konstruktion nicht einfacher.“18 Martin Grassnick konstatiert 1963: „Gewölbe sind in Bezug auf ihre Form und Gestaltung, Baustoff und Festig­ keit, sowie ihrer handwerklichen Ausführung als Ganzes zu sehen und zu werten. Historische Wölbungen sind keine Ingenieurarbeit im heutigen Sinne, sondern handwerklich technische Leistungen. Bei aller Würdigung des Könnens unserer Vorfahren darf deshalb unter dem Aspekt des heutigen Ingenieurs nicht verkannt werden, daß Vertrauen, Wagemut und empirisches Gefühl, nicht aber rational­ quantitative Kenntnisse, Grundlage des historischen Bauens waren.“19 Man darf nicht übersehen, daß im Mittelalter auch der Baumeister nicht über mathema­ tisch-statische Kenntnisse verfügte. Noch 1742/43 führten die Versuche einer ein­ fachen Kuppelberechnung in Rom mit den damaligen Kenntnissen zu keinem Erfolg.20 Der Verfasser des pseudoraffaelischen Gutachtens über die römische Baukunst gibt im 15. Jh., wie alle Renaissancetheoretiker von Alberti bis Paolo Frisi, dem Rundbogen den Vorzug vor dem Spitzbogen, was nicht nur mit ästhetischen, son­ dern auch mit konstruktiven Erwägungen begründet wird, wobei sogar behauptet wird, daß das gerade Gebälk, dessen Schwäche Vasari offen zugesteht, den Spitz­ bogen an Stabilität noch übertreffe.21 Demgegenüber hatte um 1460 Filarete (um 1400-1469) eine konstruktive Überlegenheit des Rundbogens über demSpitzbogen ausdrücklich in Frage gestellt, dem ersteren allerdings aus ästhetischen Grün­ den den Vorzug gegeben; konstruktiv schreibt er dem Spitzbogen günstigere Eigenschaften zu, da er den stets empfindlichen waagerechten Scheitel des Rund­ bogens vermeide und das Gewicht der Mauern und der Gewölbe direkter auf die Widerlager ableite.22 Die Festigkeit eines Rundbogens ist nach Filarete erst dann der eines Spitzbogens ebenbürtig, wenn seine Fundamente eine angemessene Stärke besitzen. Für ihn liegt die größere Schönheit des Rundbogens in dem Gleichmäßigen, Gesetzmäßigen, das mit einem Blick erfaßt werden kann; dage­ gen findet seiner Ansicht nach das Auge an der gebrochenen Linie des spitzen Bogens einen unangenehmen Widerstand.23 Man kann also festhalten, daß bei den italienischen Architekturtheoretikern Konstruktionserfahrung und ästheti­ sche Bewertung ausschlaggebend waren und nicht Berechnungen. Den sozusagen „vor-statischen“ Wissensstand gibt 1766 der Italiener Paolo Frisi wieder, dessen Darstellung Herder 1773 zusammen mit Goethes Aufsatz über die deutsche Baukunst abdruckt und damit zwei völlig unterschiedliche Gotik-Inter­ pretationen gegenüberstellt.24 Frisi geht vorrangig, wie schon Alberti in seinem Werk „De re aedificatoria“, Florenz 1485, auf die Tragfähigkeit von Kuppelgewölben ein, behandelt aber auch den Spitzbogen: „Ich könnte hier eine ganze geometrische Abhandlung über die Stärke und den Widerstand der Gewölbe aus Halbkreisen und Spitzbögen liefern. Ich will mich aber begnügen, nur das einfache Resultat davon

Konstruktion und Statik 89

97 Köln, Dom, Chor von Osten, 1 2 4 8 -1 3 0 0 , 1322 gew eiht.

96 Amiens, Kathedrale N otre-Dam e, Langhaus, Querschnitt, 1236 vollendet.

25 Frisi ( w ie A n m . 2 4 ) 26 Z u m

5.1 0 9 .

F o lg e n d e n s ie h e B o o z ( 1 9 5 6 ) bes.

5.

9 -1 5 . 27 C u a it h e r H e r m e n iu s Rivius: V itru v iu s Teutsch. N ü r n b e r g 1 5 4 8 , f o i . 9 v (N a c h d r u c k H ild e s h e im 1 9 7 3 ). 28 R iv iu s ( w i e A n m . 2 7 ) f o i 8. - B o o z ( 1 9 5 6 ) S.

12. 29 G r a f R e in h a r t vo n S olm s: E in K ü r tz e r A u s z u g v n n d u e b e rs c h la g , e in e n B a w a n z u s t e lle n ... Köln 1 5 5 6 . - A u s z ü g e b e i B o o z ( 1 9 5 6 ) S. 1 2 f. 30 E n d re s T ü ch er: B a u m e is te r b u c h

d e r S ta d t

N ü r n b e r g ( 1 4 6 4 - 1 4 7 5 ) . H rs g . M a t t h i a s Lexer, S t u t t g a r t 1 8 6 2 ( R e p r in t A m s t e r d a m 1 9 6 8 ) . B o o z ( 1 9 5 6 ) S. 1 3 . 31 S o lm s ( w ie A n m . 2 9 ). - B o o z ( 1 9 5 6 ) S. 1 3 . 32 G ü n t h e r B in d in g : Geometricis et aritm eticis

instrumentis. Z u r m it t e la lt e r li c h e n B a u v e r m e s ­ s u n g . In : Jb. d. r h e in . D e n k m a lp f le g e 3 0 / 3 1 , 1985,

5.

9 -2 4

m i t w e i t e r e r L ite r a tu r . - S ie h e

a u c h K ap. III. 8, S. 8 1 f.

anzuführen, damit ich diesen Versuch nicht mit Demonstrationen und Figuren zu verwirren nötig habe. Erstlich ist es eine ausgemachte Wahrheit, daß bei allen Arten von Kuppeln und Gewölben ein Teil von der Wirkung der aufliegenden Last in der Hälfte, oder dem dritten und vierten Teile der Krümmung dadurch verloren geht, daß sie auf die darunter angebrachten Säulen oder Gewölbe waagerecht drückt. Zweitens ist der waagerechte Druck eines halbkreisigen Bogens auf die Unterlage dem halben Druck, welcher auf den Schluß wirkt, gleich,... Daher hat die Widerlage beim gotischen Bogen mehr Sicherheit als beim römischen;... Nun neh­ men de la Hire und Belidor als einen Erfahrungssatz an, daß die Bogen und Gewöl­ be insgemein zwischen dem Schluß und der Widerlage reißen: daher pflegt man auch die eisernen Klammern gegen den dritten Teil des Bogens zu anzubringen. Da nun der gotische Bogen zwischen dem Schluß und der Widerlage schwächer ist, wo doch die Gefahr zu reißen größer, so kann man ihn dem römischen nicht vorziehen, und die deutschen Baukünstler haben also damit nicht nur der Schönheit, sondern auch der Stärke und Festigkeit der Gebäude Eintrag getan.“25 Den mittelalterlichen Prüfungsordnungen der Universitäten ist zu entneh­ men, daß rechnerisches Wissen nicht verlangt wurde.26 Die Prüfungsordnung von Oxford schreibt 1408 nur das Rechnen mit ganzen Zahlen vor. Erst im Laufe des 15. Jh.s findet sich vereinzelt Unterricht im Rechnen, dann jedoch nur linear mit ganzen Zahlen. 1548 wird in Bayern Rechnen obligatorisches Lehr­ fach in den Schulen. Im gleichen Jahr gibt der Nürnberger Arzt und Mathematiker Walter Ryff (Rivius) dem Rechnen nur unterstüt­ zende Funktion für die Geometrie und für die Berech­ nung von Materialien und Löhnen.27 Ryffs Forderung, „das fur allen dingen dem künstlichen Architecto von nöten sey, das er des Schreibens und lesens ... guten verstandt und wissen hab“28, ist wohlberechtigt, denn Architekten und Baumeister konnten häufig nicht schrei­ ben. 1556 erstellt Graf Reinhart von Solms (1491-1562) sehr komplizierte Massenberechnungen,29 und Endres Tücher erwähnt 1465/75 nur das Rech­ nen mit Kerbhölzern,30 die auch Graf Solms für die Abrechnung der Baumei­ ster mit den Bauverwaltern aufführt: „du soit alle wochen alss den Sontag deinenn bawschreiber unnd bawdiener zu dir körnen lassen mit jren kerphöltzen und so alle wochen deine Register machen und schließen.“31 Statt dessen findet man seit dem 12. Jh. in den Quellen immer wieder Hinweise auf die Geometrie, die noch Ryff als wichtiges Element der Bau­ konstruktion nennt.32 Villard de Honnecourt schreibt um 1220/30: „Denn in diesem Buche kann man (gar) guten Rat finden über die große Kunst der Maurerei und die Konstruk­ tionen des Zimmerhandwerks; und Ihr werdet die Kunst des Zeichnens

9 0 Konstruktion

geometrica del triangolo)u;ferner wird von „der rechten Ord­ nung des Dreiecks (il retto ordine del triangolo bzw. secondo la geometria triangolare, délia forma triangolare) gespro­ Für den Neubau des Mailänder Doms war im Juli 1389 der chen, von der ein in der Geometrie Erfahrener (geometra französische Werkmeister Nicolas Bonaventure, magister perito) weder ab weichen kann noch darf." und inzignerius, angeworben worden;33 er verließ am 31. Nach dem Tod der Werkmeister Giovannio de Grassi und Juli 1390 die Baustelle wieder, weil man sich über die Giacomo da Campione im Jahre 1398 traten Zweifel an der Dimensionierung der Vierungspfeiler nicht einigen konnte. Stabilität des bisher Gebauten auf, und die reverenda fabbri­ Zweifel an der Richtigkeit des Entwurfs verstärkten sich, so ca wandte sich im April 1399 um Hilfe an den in Paris leben­ daß der Consilio délia Fabbrica am 24. September 1391 den den flandrischen Maler und Baumeister Jacques Cona und in Piacenza lebenden Gabriele Stornaloco, expertus in arte seine beiden Gehilfen Johannes Campanosen und Johannes geometriae, um ein Gutachten über Höhe und Länge der Kir­ Mignot; sie sollten eine neue Zeichnung a fundamentis che bat, das er am 10. Oktober in Mailand erstellte. Er ermit­ usque ad summitatem ausarbeiten, die Magister Johannes telte die Höhe des Mittelschiffs, indem er über der durch die Mignot vorlegte; er fand aber bei der Bauhütte kein Gehör Fundamente bereits festgelegten Breite des Langhauses von und bat den Herzog um Vermittlung. Mignot wurde veran­ 96 Ellen ein gleichseitiges Dreieck konstruierte, dessen Höhe laßt, sein Gutachten zu erstellen, dessen 45 Kritikpunkte am einen irrationalen Wert ergibt, der mit einer angenäherten, 11. Januar 1400 diskutiert wurden. durch sechs teilbaren Zahl, nämlich 84 Ellen, angegeben „Zuerst die Pfeiler, die die hinteren Abschnitte besagter wurde. Die Sechsteilung ergab sich aus der Forderung nach Kirche zwischen den großen Fenstern zu stützen und auf­ einer fünfschiffigen Kirche, deren Mittelschiff doppelt so recht zu halten haben, sind so schwach, daß es notwendig breit wie die Seitenschiffe und deren Querschnitt in drei ist, zwei andere Pfeiler neben diese zu bauen, sonst wird die­ Stufen gestaffelt sein sollte. Aus dieser Teilung der Basislinie ser Teil der Kirche nicht so fest sein, wie er sollte, bevor diese ergeben sich sechs ineinandergestellte gleichseitige Drei­ beiden gebaut sind." Gemeint ist der Chor, dessen Mauern ecke, die die Kämpferlinien und Gewölbehöhen festlegen. durch die großen Fensterflächen und durch Verzicht auf Die endgültige Entscheidung über die Lösung des Auf­ Kapellen nicht genügend Stabilität besaßen, um dem Schub rißproblems sollte auf einer großen Zusammenkunft von 14 der Gewölbe standzuhalten. Die angegriffenen Werkmeister namentlich erwähnten Werkmeistern, u. a. Michael Parier, beriefen sich auf die solide Ausführung des bisher gebauten, am 1. Mai 1392 getroffen werden; elf Fragen wurden vorge­ die tiefreichenden Fundamente, die sorgfältige Bearbeitung legt, die durch Mehrheitsbeschluß geklärt werden sollten. der Steinblöcke, die durch Dübel miteinander verbunden Schließlich wurde die Mittelschiffhöhe von 84 Ellen bei Stor­ waren. Sie betonten die besondere Bauweise der Pfeiler naloco auf 76 Ellen reduziert. „Frage: Wieviele Ellen die Mit­ selbst, die durch zusätzliche eiserne Zuganker noch belast­ telstützen (medii pilloni) aufsteigen, die oberhalb der großen barer werden sollten. „Und über die besagten Kapellen be­ Pfeiler vor der Mauer gemacht werden sollen (Dienste) bis zu schließen wir, wie schon beschlossen war, alle Spitzbogen den Gewölben (ad volturas) bzw. Bogen (arcus), die darüber seien entsprechend dem Vorbild, das von anderen erfahre­ zu machen sind, und wieviele Ellen sollen die Gewölbe nen Ingenieuren vorgeschlagen wird, wie die diese betref­ (hoch) sein, die über diesen (Diensten) gemacht werden sol­ fend sagen, daß Spitzbogen keinen Druck auf die Strebepfei­ len. Antwort: Sie haben beschlossen und erklärt, die Mittel­ ler ausüben, und aus besagten Gründen schließen wir, daß stützen (Dienste) seien 11 Ellen (hoch) und das Gewölbe des alle Strebepfeiler stark und angemessen sind und noch Mittelschiffs selbst soll zum Dreieck (ad triangulum) aufstei­ größere Lasten aushalten, weshalb es nicht erforderlich ist, gen, eben 24 Ellen." noch zusätzliche Strebepfeiler in irgendeinem Teil der Kir­ Diese Frage wird in der Sitzung vom 25. Januar 1400 wie­ che zu bauen." der akut; dort erklärt die Baukommission gegenüber Johan­ Da keine Einigung herbeigeführt werden konnte, vertag­ nes Mignot, „die genannte Kirche steigt auf ad triangulum, te man sich auf den 25. Januar 1400. Mignot verwies erneut wie durch andere inzignerii erklärt worden ist.“ In der Sit­ mit Nachdruck auf die konstruktiven Mängel (praedicta zung vom 15. Mai 1401 wird noch einmal das Dreieckspro­ opera non habere fortitudinem), die er bereits dem Bauaus­ blem aufgegriffen: „Im Vergleich zu jener ersten Anordnung schuß der Mailänder Kirche schriftlich dargelegt hatte, „er (ordinata) gibt es einige Änderungen der Höhe, wenn man sagte es wiederum und behauptete, daß alle Strebepfeiler (den Bau) nach dem Projekt Mignots (progetto Mignoto) voll­ um die besagte Kirche herum weder stark noch fähig sind, endet, aber diese Änderung ist lobenswert, weil sie der geo­ die Last zu tragen, die auf sie entfällt, denn sie müssen drei­ metrischen Vernunft des Dreiecks folgt (segue la ragione mal so stark - für jeden - sein als ein Pfeiler im Inneren der Protokolle der Mailänd er fabrica 1391 -1 4 0 1 als Beispiel für konstruktives Wissen

Konstruktion und Statik 9 1

Kirche stark ist (iterato dicit et proponit quod omnes contrafortes circum circha dictam ecclesiam non sunt fortes nec habiles ad sustinendum onus quod eis incumbet quia debent esse tribus vicibus pro quolibet grossis quantum est grossus unus pilonus de intus ecclesiam). Die (Mailänder Werk-)Meister antworteten: hinsichtlich des ersten Satzes sagen sie, daß alle Strebepfeiler (contrafortes) der besagten Kirche stark und fähig (fortes et habiles) sind, ihre Last (onus) zu tra­ gen und mehr, aus vielen Gründen (rationes), weil eine Elle unseres Marmors und Sarizos nach jeder Seite so stark ist wie zwei Ellen der Steine Frankreichs bzw. der Kirche Frank­ reichs, welche er den oben genannten Werkmeistern als Bei­ spiel vorhält. Diese sagen daher, daß, wenn sie ein oder ein­ halbmal so stark sind - und sie sind es - , als es die Pfeiler in der Kirche sind, dann seien diese Strebepfeiler stark und richtig; und wenn sie größer gewesen wären, dann hätten sie besagte Kirche verfinstert, wie es augenscheinlich die Kirche zu Paris zeige, die sowohl Strebepfeiler nach der Art (ad modum) des Meisters Johannes habe wie auch andere Gründe, die geschadet haben können." Mignots Kritik wendete sich im folgenden gegen vier Türme, die an den Ecken des geplanten Vierungsturms hin­ zugefügt werden sollten. „Ebenso sagte er, daß vier Türme angefangen sind, um den Vierungsturm (tiburium) der besagten Kirche zu stützen, und daß keine Pfeiler (piloni) noch ein anderes Fundament da seien, fähig, die besagten Türme zu tragen (habiles pro sustinendo dictas turres); ja vielmehr, wenn die Kirche völlig fertig sei, würden sie sofort mit den besagten Türmen unfehlbar Zusammenstürzen. Hinsichtlich dessen aber, was sicher aus Vorliebe geschehen sei, daß einige Unwissende (ygnorantes) anführen, die gespitzten Bogen seien stärker und von geringerer Last als die runden (quod voltae acutae sunt plus fortes et cum mino­ ri onere quam voltae retondae) und daß weiter über anderes nach Wülen und nicht nach Können verhandelt worden sei und, was noch schlimmer sei, daß entgegnet worden sei, daß das Wissen der Geometrie (scientia geometriae) hier kei­ nen Platz habe, weil das Wissen eines und die Kunst etwas anderes sei (quia scientia est unum et ars est aliud), so sagte der genannte Meister Johannes, daß Kunst ohne Wissen nichts ist (ars sine scientia nihil est) und daß die Bogen (vol­ tae), ob gespitzt oder gerundet, nichts seien, wenn sie kein gutes Fundament hätten. Und überdies, obgleich sie gespitzt seien, hätten sie größere Last und Gewicht (nihilominus quamvis sint acutae habent maximum onus et pondus). Ebenso sagen sie, daß sie die Türme aus verschiedenen Gründen und Ursachen (pluribus rationibus et causis) machen wollen, wie sie sagten, nämlich zuerst um die vor­ genannte Kirche und das Gewölbe (oder Kreuzung, croxeria) richtig zu machen, daß die dem Quadrat gemäß der Ord­

nung der Geometrie entspreche (quod respondent ad quatrangulum secundum ordinem geometriae); ferner aber wegen der Stärke und Schönheit des Vierungsturms (pro fortitudine et pulchritudine tiborii), nämlich fast nach dem Beispiel, wie Gott der Herr im Paradies auf seinem Thron sitzt. Um den Thron sind die vier Evangelisten gemäß der Offenbarung; und das sind die Gründe (rationes), weswegen sie angefangen worden sind. Und obgleich zwei Pfeiler bei jeder Sakristei nicht gegründet sind, da sie über der Erde anfangen, so ist doch die Kirche stark genug aus folgenden Gründen (fortis bene istis rationibus), da nämlich Vorsprün­ ge sind, auf denen die besagten zwei Pfeiler stehen; und die besagten Vorsprünge sind aus großen Steinen und mit Eisenankern verklammert (inclavatis cum clavibus ferri); und daß das Gewicht (pondus) in den besagten drei Türmen überall über ihrer Grundfläche laste (ponderat ubique super suum quadrum), und sie werden senkrecht und stark gebaut werden (aedificata recte et fortiter), das Senkrechte aber kann nicht fallen (rectum non potest cadere); daher sagen sie, daß die Türme an sich stark sind und daher dem Vie­ rungsturm Halt geben werden, da er in der Mitte jener Türme eingeschlossen ist, wodurch die besagte Kirche sehr stark ist." Mignot wurde am 22. Oktober 1401 fristlos entlas­ sen, weil seine Gewölbe weniger schön und weniger fest als die geplanten seien und Baufehler an den Sakristeien gerügt wurden.

33 A lle B e le g e B in d in g ( 1 9 9 3 )

5.2 6 1 - 2 6 5 . -

C. C a n tu (H rs g .): A n n a li d é lia

f a b r i c a d e l d u o m o d i M i l a n o d a l l 9o r i g i n e f i n o a l p r e s e n t e (= P u b lic a t i a c u ra d é lia s u a a m m in is t r a z io n i) . Bd. 1 . M i l a n o 1 8 7 7 , S. 6 8 , 2 0 2 - 2 2 4 .

9 2 Konstruktion

Statik 93

IV.2. Statik

100 Buchmalerei aus Reims, Bible moralisée, 2. Viertel 13. Jh. (W ien, Österr. Nat.-Bibl., Cod. 2554, fol. 5 0 . - Bi 625).

39 L e x ik o n d e r K unst, Bd. 7. L e ip z ig 1 9 9 4 , 5 . 1 7 . 40 W a s m u t h s L e x ik o n d e r B a u k u n s t. Bd. 4. B e r­ lin 1 9 3 2 , 5 . 4 5 4 . - K a r l-E u g e n K u rre r. D ie A n f ä n ­ g e d e r F e s tig k e its le h re in C a lile o G a lile is V is c o r s i\ In : H u m a n is m u s u n d T e c h n ik 3 2 , 1 9 8 9 , 5. 3 3 - 6 1 . - K a r l-E u g e n K u rre r: 2 0 0 J a h r e „ E in le i­ t u n g in d ie s t a tis c h e B a u k u n s t “. In : B a u in g e ­ n ie u r 6 5 , 1 9 9 0 , S. 3 - 1 0 . - K a rl-E u g e n K urrer: D as

darin finden, die Grundzüge, so, wie die Disziplin der Geometrie sie erheischt und lehrt.“34 Die Lösungen steinmetzmäßiger Probleme werden mittels geometrischer Hilfsfiguren dargestellt. Der französische Baumeister Jean Mignot, um 1400 Leiter der Bauarbeiten am Mailänder Dom, wird „ein wahrer Meister der Geometrie“ (un vero maestro di geometria) genannt, Heinrich III. Parler 1401 „in der Geometrie sehr erfahrener Meister“ (geometriae expertissimo magistro) und der in Bordeaux tätige Colin Tranchant „Meister der Geometrie“ (maître en géométrie); schließlich rühmt sich ein maître de la maçonnerie de Paris als großer Geometriker und Zim­ mermann, der der oberste der Maurer sei (grand géometrier et charpentier, ce qui est supérieur à maçon).35 Derartige Belege ließen sich noch zahlreich anführen.36 Messen, Meßwerk oder Maßwerk ist die Geometrie, wie 1516 Lorenz Lacher in der Unterweisung an seinen Sohn aufführt und entsprechend für die Dimensionie­ rung von Stützen auch nur in Proportionen angegebene Maßzahlen nennt.37 Paul Booz formuliert: „Zusammenfassend läßt sich mit Gewißheit sagen, daß die Gotik keine rechnerische Statik in unserem heutigen Sinne ... besessen haben kann.“38

98! ◄ Köln, Dom, Langchor-Südseite, Strebewerk um 1 2 7 5 -1 3 0 0 . 99 Châlons-sur-Marne, Stiftskirche NotreDam e-en-Vaux, Chor nach 1187 bis 1217.

V e r h ä lt n is v o n B a u te c h n ik u n d S ta t ik . In : B a u ­ t e c h n ik 6 2 , 1 9 8 5 , H e f t 1 , S. 1 - 4 . -

Vgl. a u c h

R o d rig o C il d e H o n t a h ô n , d e r im 1 6 . Jh. le b te u n d d e s s e n T e x t 1 6 8 1 - 8 5 im „ C o m p e n d io d e A r q u ite c tu r a “ g e d ru c k t w u rd e . -

S e rg io Luis

S a n a b r ia : T h e M e c h a n iz a t io n o f D e s ig n in t h e 1 6 t h C e n tu ry : Th e S tr u c t u r a l F o r m u la e o f R o d ri­ g o G il d e H o n ta h ô n . In : J o u r n a l o f t h e S o c ie ty o f 34 H a h n lo s e r ( 1 9 7 2 ) S. 1 1 .

A r c h it e c tu r a l H is to r ia n s 4 1 , 1 9 8 2 , S. 2 8 1 - 2 9 3 . -

35 B e le g e a u f g e f ü h r t b e i B o o z ( 1 9 5 6 ) 5 . 1 4 .

G e o rg e K u b le r: A L a te G o th ic C o m p u t a t io n o f

36 Vgl. B in d in g (w ie A n m . 3 2 ). - B in d in g ( 1 9 9 3 )

R ib V a u lt Th rusts. In : G a z e tte des B e a u x -A r ts 2 6 ,

S. 3 3 9 - 3 5 4 .

1 9 4 4 , S. 1 3 5 - 1 4 8 . - M ü l l e r ( 1 9 9 0 ) S. 2 3 5 - 2 3 9 ,

37 U lr ic h C o e n e n : D ie s p ä tg o tis c h e n W e r k m e i­

3 0 6 - 3 0 8 (L it.-B e ric h t).

s t e r b ü c h e r in D e u t s c h la n d a ls B e it r a g z u r m i t ­

41 W a s m u t h s L e x ik o n d e r B a u k u n s t ( w i e A n m .

te la lte r lic h e n A r c h it e k tu r t h e o r ie . U n te rs u c h u n g

4 0 ) 5 .4 5 4 f .

u n d E d itio n d e r L e h rs c h rift f ü r E n t w u r f u n d A u s ­

42 B o o z ( 1 9 5 6 ) 5 . 3 8 . - Vgl. S tr a u b (w ie A n m . 1 9 )

f ü h r u n g vo n S a k r a lb a u t e n (Diss. A a c h e n 1 9 8 8 ) .

S. 1 5 2 , 2 1 7 .

Aachen 19 89.

43 B o o z ( 1 9 5 6 ) 5 . 3 8 .

38 B o o z ( 1 9 5 6 ) S. 1 0 .

44 L e x ik o n d e r K u n s t 7 ( w ie A n m . 3 9 ) 5 . 1 7 - 1 8 .

Statik ist die Lehre bzw. die Theorie vom Gleichgewicht der Kräfte (dazu gehören statische Lasten wie Eigen- und Schneelast und dynamische Lasten wie Wind- und Verkehrslast), die auf feste, starre Körper einwirken. „Die Baustatik untersucht die Art und Herkunft jener Kräfte, denen ein Konstruktionsglied ausgesetzt ist, ferner dessen statisches und dynamisches Verhalten unter verschiedenen sogenannten ‘Lastfällen’ (Normallast, 'Bruchlast')“39 und bestimmt alle Abmessungen von Bau­ teilen, damit diese den denkbar ungünstigsten Belastungen widerstehen können, ohne daß das Gleichgewicht und ihre Materialfestigkeit gefährdet wird. Die Kon­ struktion, die Summe der Tragelemente, sorgt für die Standfestigkeit eines Bau­ werks. Die Grundlage zur Lösung dieser Aufgaben schufen Galilei (1564-1642), der 1638 seine „Discorsi e Dimostrazioni matematiche, intorno a due nuove scienze“ in Leiden/Holland drucken ließ, und Newton (1643-1727) mit seinem Kräfteparalle­ logramm.40 Ihre statisch grundlegenden Erkenntnisse sind41: 1. Jeder Körper verharrt im Ruhezustand oder in der gleichförmigen, geradlinigen Bewegung, solange er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen ist, seinen Zustand zu ändern. 2. Die Änderung der Bewegung ist der bewegenden Kraft proportional und erfolgt in Richtung der geraden Linie, in der die Kraft wirkt. 3. Jede Kraft erzeugt einen Widerstand, der ihrer Größe gleich und ihrer Richtung entgegengesetzt ist. Die Anwendung auf die Baukonstruktionen ermöglicht die mathematisch genaue Ermittlung der zulässigen Belastungen, der erforderlichen Abmessungen aller konstruktiven Teile und ihrer Anordnung. Doch erst seit den empirischen Festigkeitsmessungen im 18. Jh. sind diese Berechnungen voll anwendbar. Die Festigkeitslehre über die zulässige Belastbarkeit von Baumaterialien, d. h. das Ver­ halten der Baustoffe bei Hitze und Kälte, Eigengewicht und zulässige Spannungen, ist noch jung. Zu den frühesten Festigkeitsversuchen gehören die von Messenne (um 1626) und Mariotte, welcher um das Jahr 1670 seine Versuche mit Holz-, Metall- und Glasstäben hinsichtlich Zug und Biegung durchführte. Tabellarische Festlegungen der gewonnenen Werte wurden 1707/08 von Parent (1666-1716) erstmals veröffentlicht. „Genauere und vollständigere Werte gaben schließlich Musschenbrock (1692-1761) und Buffon (1707-1788). Das praktische Auftreten des wissenschaftlich berechnenden Ingenieurs fällt jedoch erst in die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts.“42 Zuvor hatte Leonardo da Vinci theoretische Studien über die Belastbarkeit von Säulen und über das Verhalten von Gewölben angestellt, „ohne indessen zu wirklich greifbaren Werten oder Formeln zu kommen. Auch bei Dürer findet sich ein allerdings sehr überschlägiger Hinweis auf die Belastungsmöglich­ keit einer Säule: ‘Daher kommt, daß man keiner Säule, die sich oben einzieht, etwas höheres zu tragen geben soll, denn ihre Triangelspitze reicht/“43 Ähnlich summarische Formulierungen geben das Gutachten von Annaberg von 1519 und die bereits erwähnten Protokolle der Mailänder Fabrica 1391-1401. Bis zum 18. Jh. lagen nur Erfahrungswerte über die Belastbarkeit von Materia­ lien und Konstruktionen sowie Kenntnisse vom Verlauf der Kräfte vor, wie das Seileck oder Seilpolygon, einer Hilfsfigur der graphischen Statik, durch deren Konstruktion beliebige Kräfte, die an einem starren Körper angreifen, zusammen­ gesetzt oder zerlegt werden können, gemäß der Erkenntnis, daß man einem Kräf­ tesystem zwei gleich große und entgegengesetzt gerichtete Kräfte auf der gleichen Wirkungslinie beliebig hinzufügen kann, ohne den statischen Wert des ebenen Kräftesystems zu ändern.44 Diese Methode wurde von dem italienischen Mathe­ matiker Luigi Cremona (1830-1903) zum Cremona-Plan als Kräfteplan zur sukzes-

Gewölbe 95

9 4 Konstruktion

siven graphischen Ermittlung der Stabspannungen in statisch bestimmten, ebenen Fachwerken wei­ terentwickelt. „C. A. Coulomb (17361806), der u. a. das Problem der Bie­ gung eines Balkens erschöp­ fend löste, und L. M. H. Navier (1785-1836), der die wissen­ schaftlichen Grundlagen der theoretischen Statik ausarbei­ tete, ... wurden zu den eigentli­ chen Begründern der Bausta­ tik.“45 Statisch bestimmt ist ein Tragwerk, dessen Auflagerwi­ derstände und Stabkräfte lediglich mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingungen ermittelt werden können; Vorausset­ zung dafür ist, daß ein Tragwerk weder in der Anordnung seiner Aufla­ gerung noch im Aufbau des Systems selbst überzählige Auflagerbedingungen oder Stabkräfte aufweist. Statisch unbe­ stimmt ist eine Konstruktion, bei der die Zahl der unbekannten Kräfte größer ist als die Zahl der Gleichungen, d. h., ein Träger auf zwei festen Auflagern ist statisch unbestimmt, während ein Träger mit einem festen und einem beweglichen Aufla­ ger bestimmt ist. Von Statik sollte deshalb im Zusammenhang mit gotischer Baukunst nur dann gesprochen werden, wenn die Anwendung moderner Methoden zum Nachrech­ nen von historischen Konstruktionen gemeint ist, ansonsten ist allein der neutrale Begriff Konstruktion zu verwenden. Das konstruktive Grundsystem einer dreischiffigen gotischen Kathedrale hat Segger in fünf Hauptkonstruktionsteile mit ihren jeweiligen statischen Grund­ funktionen aufgegliedert (Abb. 101)46: 1. Hauptschiffgewölbe als Addition mehrerer Elemente; 2. Strebebogen vereinfacht zum Zweigelenkbogen, der eine Spreizwirkung zwi­ schen den Pfeilern ausübt; 3. Seitenschiffgewölbe als Dreigelenkbogen und Spreize zwischen den Pfeilern; 4. Hochschiffpfeiler als mehrfach seitlich belastete Pendelstütze; 5. Strebepfeiler als am Fuß eingespannter Balken, der durch seine Masse alle hori­ zontalen Seitenschübe auffangen muß. Weiterhin schreibt Segger: „Den Kräftefluß im ganzen System kann man sich cum grano salis so veranschaulichen, als ob er, vom Schlußstein als symbolischen Ouellpunkt ausgehend, nach beiden Seiten über das Gewölbe - durch die Rippen markiert - hinabfließen würde. Am Pfeilerkapitell gabelt sich der Strom in den inneren Ast, den die Dienste vor dem Hochschiffspfeiler beschreiben, und den äußeren, der über den unteren Strebebogen laufend vom Strebepfeiler aufge­ nommen wird. (Hierbei läßt Segger allerdings die wichtige Auflast, die das Dach­ werk auf die Hochschiffmauer abgibt, außer acht.) Diesem Eigengewichtssystem gleichsam aufgeständert ist die Konstruktion der Windübertragung, die ohne wesentlichen Einfluß auf den eben geschilderten Kraftfluß sich mit dem Gewölbe und den oberen Strebebögen zwischen die beiden Strebepfeiler spannt. Es läßt sich also sehr gut ein Konstruktionssystem für das stets wirkende Eigengewicht und ein latentes, d. h. erst bei Beanspruchung wirksames, für Windbelastung dar­ stellen.“47

IV.3. Gewölbe

102 Englische Buchmalerei, Anfang 14. Jh. (London, Brit. M useum , Royal Ms. 14 E III, fol. 85 v. - Bi 278).

101 Belastungsfälle nach Segger: M itte Eigengewicht, unten W inddruck.

48 Z u s a m m e n fa s s e n d N u ß b a u m -L e p s k y (1 9 9 9 ) . 49 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5. 5 3 . 50 W e b e r ( w ie A n m . 1 7 ) . - Vgl. a u c h d ie A u s ­ f ü h r u n g e n von G e o rg G o ttlie b U n g e w it te r : L ehr­ b u c h d e r g o tis c h e n K o n s tr u k tio n e n . B e a rb . K. M o h r m a n n . 2 B de. 3. A u f!. L e ip z ig 1 8 9 0 - 1 8 9 2 , 4 . A u f!. L e ip z ig 1 9 0 1 (1 . A u f!. L e ip z ig 1 8 5 9 ) . C a r l K ö rn e r: G e w ö lb t e D e c k e n . In : H d B . d. A rc h . 3 .2 .3 . D ie H o c h b a u c o n s t r u k t io n e n . D a r m s t a d t 1 8 9 5 , bes.S . 4 0 1 - 4 9 5 . 51 W e b e r ( w i e A n m . 1 7 ) 5. 9 f. - Vgl. d a z u d e n B e r ic h t vo n M ü l l e r ( 1 9 9 0 ) 5 . 1 8 7 - 1 9 2 . 52 C a r l S c h ä fe r: D e r S p itz b o g e n u n d s e in e R o lle im

m it t e l a l t e r l i c h e n

G e w ö lb e b a u .

In :

Zen­

t r a l b l a t t d e r B a u v e r w a lt u n g 1 8 8 5 , S. 2 9 0 - 2 9 9 . W ie d e r a b d r u c k in C a r l S c h ä fe r: V o n d e u ts c h e r

45 L e x ik o n d e r K u n s t 7 (w ie A n m . 3 9 ) 5 . 1 8 . 46 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5 . 1 9 . 47 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5 . 2 1 .

K u n st. B e rlin 1 9 1 0 , S. 3 0 6 - 3 1 6 , Z i t a t 5. 3 0 6 f . 53 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) S. 4 1 . 54 B a r t h e l ( w ie A n m . 1 7 ) 5 . 1 5 - 4 1 .

Das Gewölbe bildet den die Wände verbindenden oberen Raumabschluß.48 Die einzelnen Joche werden durch Gurtbogen getrennt und häufig mittels Schildbo­ gen an die Mauern angeschlossen; Diagonalrippen teilen das Gewölbe in einzelne Kappen (Abb. 104-108). Das Kreuzrippengewölbe sammelt die Auflager- und Schubkräfte weitgehend auf die vier Fußpunkte der Rippen, Gurtbogen und Schildbogen, deren Auflager auf der Hochs chiffmauer besonders ausgebildet sein müssen, um die konzentrierten Kräfte aufnehmen zu können. Die zwischen den Auflagern liegende Mauer ist somit kaum belastet und kann ausgehöhlt, ausge­ dünnt oder in Maßwerkfenster aufgelöst werden (Abb. 96). Segger formuliert die­ sen Zusammenhang wie folgt: „Das gotische Kreuzrippengewölbe wird je nach Über- oder Unterschätzung der Rippen definiert als ‘selbsttragendes Gewölbe mit rein optischer Gliederung durch die Rippen’ (Clasen, Worringer, Rave, Buchowicki) bis zur Beschreibung als ‘Haut, die über ein tragendes Gerüst gespannt ist’ (Violletle-Duc, Masson, Sabouret, Sedlmayr). Richtig ist, daß im Laufe der Gotik alle Stufen zwischen beiden Extremen vorhanden waren und meistens mit einem Zusam­ menwirken beider Elemente gerechnet werden muß. Zunächst brachten die Rip­ pen durch die Unterteilung der zu überwölbenden Flächen den praktischen Vorteil der leichteren Ausführbarkeit.“49 Nach Weber können die Rippen zwar den Kraft­ fluß beschreiben, niemals jedoch die Spannung symbolisieren: Der Kraftfluß bleibt wie die Rippenquerschnitte konstant, die Spannung nimmt jedoch nach unten hin zu und würde eigentlich eine stetige Querschnittsvergrößerung der Rippen erfor­ dern.50 Die Form der Kreuzgewölbe, d. h. rund- oder spitzbogig, ist statisch weniger maßgebend als gewöhnlich angenommen wird. Statische Unterschiede zwischen romanischen und gotischen Gewölben oder zwischen verschiedenen Typen von Kreuzgewölben bestehen nicht. Die spitzbogige Konstruktion birgt zwar eine größere Modulierbarkeit, diese ist aber konstruktiv und nicht statisch. Gewölbe ohne Horizontalschub gibt es nicht, und zwischen Kreuzgewölben mit Graten oder Rippen besteht statisch kein Unterschied; die wesentlichen Kraftlinien sind auf die Eckpunkte ausgerichtet und rufen in den Auflagern schräge Kämpferreaktionen hervor.51 Bei dem Wunsch, Wölbungen auf möglichst hohe und schlanke Pfeiler zu legen und störende Zuganker in den Räumen zu vermeiden, mußten außenliegen­ de Abstützungen eingeführt werden: Strebebogen und Strebepfeiler. Das Problem der konstruktiven und statischen Beurteilung der Gewölbe und die daraus resultierende Diskussion hat Carl Schäfer 1885 zutreffend beschrieben: „Nun sind aber in den mittelalterlichen Bauwerken die Gewölbe, die für den bauli­ chen Zusammenhang maßgebenden und die geschichtliche Entwicklung beherr­ schenden Teile des Ganzen minder zugänglich und nach Form und Zusammenset­ zung weit minder faßlich, als irgend ein sonstiges Glied des Baukörpers.... (Dem) ist die Schuld zuzuschreiben, wenn in den bisher vorhandenen zeichnerischen Aufnahmen der Baudenkmäler ganz besonders die Darstellung der Gewölbe viel­ fach mit Fehlern behaftet ist und kaum jemals von vornherein Vertrauen verdient. ... Ob in einem Bauwerk die Diagonalbogen der Kreuzgewölbe halbrund oder spitz­ bogig, ob die Schildbogen gestelzt oder von unten auf gekrümmt sind, ob die Kap­ pen ... nach dem Scheitel hin ansteigen oder fallen oder ob sie am Rand und am Schlußstein die gleiche Höhe behaupten: über alle diese Punkte geben die Zeich­ nungen unserer Aufnahmewerke oft Angaben, die sofort als unrichtig oder zwei­ felwürdig zu erkennen sind.“52 Diese Aussagen haben auch heute noch ihre Gül­ tigkeit, was Helmut Weber gar nicht und Jürgen Segger nur ansatzweise bei seinen Bauvergleichen berücksichtigt haben.53 Erst Rainer Barthel unterscheidet 199 154 -

Gewölbe 97

9 6 K o n s tru k tio n 1

104 Laon, Kathedrale, Langchor m it sechsteiligem Gewölbe vor 1215.

103 Laon, Kathedrale, Vierung vor 1190.

i

wie schon Wilhelm Rave 195555 - ausdrücklich bei den vierteiligen Kappengewöl­ ben auf rechteckigem Grundriß: 1. kreuzzylindrische Kreuzgewölbe (auch „römisches Kreuzgewölbe“); 2. spitzbogige Kreuzgewölbe mit geraden, horizontalen Scheiteln, halbkreisförmi­ gen Diagonalbogen und spitzbogigen Gurt- und Schildbogen, z. B. klassische französische Kathedralen; 3. Kreuzgewölbe mit gebusten, d. h. mit gekrümmten, parabelförmigen, zur Schildwand ansteigenden Scheiteln; 4. kuppelartige Kreuzgewölbe mit halbkreisförmigen Diagonalbogen (Grate, Rip­ pen), z. B. romanische Gewölbe; davon zu trennen ist das Domikalgewölbe, das wesentlich höher als die halbkugelförmige Kuppel ist. Alle Gewölbe kommen mit und ohne Rippen vor; auch bestehen keine Unter­ schiede zwischen dem verwendeten Material und der Kappendicke (10-60 cm) oder der Art der Einbindung der Rippen in die Kappen und deren Anschluß an die Schildwand.56 Die historischen Gewölbetypen sind in zwei Gruppen zu ordnen: zum einen liniengelagerte Gewölbe, die einen Druck auf die ganze Mauerlänge ausüben, und zwar Tonne, Klostergewölbe und Kuppel, zum anderen punktgela­ gerte Gewölbe, die Druckkräfte nur auf einzelne Punkte des Unterbaus abgeben, also Kappengewölbe (Kreuz- und Kreuzrippengewölbe), Stutzkuppel (böhmische Kappe) und Pendentifkuppel.57 Weder die antiken Schriftquellen wie Vitruv noch die mittelalterlichen und früh­ neuzeitlichen geben eindeutige technische Auskunft über Form und Konstruktion der Gewölbe. Alberti beschreibt in seinen zehn Büchern über Architektur (De re

58 G ra ss n ick (w ie A n m . 1 7 ) S. 1 0 . - B a r t h e l (w ie A n m . 1 7 ) S. 6 7 - 6 9 . 59 U n g e w i t t e r ( w ie A n m . 5 0 ). - V io lle t - Ie - D u c ( 1 8 5 8 - 1 8 6 8 ) . - R u d o lp h W ie g m a n n : U e b e r d e n U rs p r u n g des S p itz b o g e n s tils . D ü s s e ld o r f 1 8 4 2 . 60 M a n f r e d

B ü h lm a n n : D ie

E n ts te h u n g

der

K re u z k u p p e lk ir c h e . E in e v e r g le ic h e n d e S tu d ie In :

u n t e r b e s o n d e r e r B e r ü c k s ic h tig u n g d e r K a t h e ­

D e u ts c h e K u n s t u n d D e n k m a lp f le g e , 1 9 5 5 , 5.

d r a le von P aros (= Z s . f Gesch. d. A rc h ite k tu r, B ei­

55 W ilh e lm

R ave :

Das

D o m ik a lg e w ö lb e .

h e f t 1 0 ). H e id e lb e r g 1 9 1 4 . - R u d o lf K ö m s te d t:

3 3 -4 3 . 56 Z u m

S te in s c h n it t u n d z u r A u s b ild u n g des

D ie E n tw ic k lu n g des G e w ö lb e b a u e s in d e n m i t ­

V e r b a n d e s s ie h e V io ll e t - I e - D u c ( 1 8 5 8 - 1 8 6 8 ) ,

te la lte r lic h e n K irc h e n W e s tfa le n s (= S tu d ie n z u r

U n g e w i t t e r (w ie A n m . 5 0 ) u n d H a r t (w ie A n m .

d e u ts c h e n

1 4 ).

1 9 1 4 . - S e d lm a y r ( 1 9 5 0 ) , N a c h d r u c k 1 9 7 6 .

K u n s tg e s c h . H e f t 1 7 2 ) . S tr a ß b u r g

57 G ra s s n ic k (w ie A n m . 1 7 ) 5 . 1 0 . - B a r t h e l (w ie

61 G ra ss n ick ( w ie A n m . 1 7 ) 5. 3 8 .

A n m . 1 7 ) 5 . 15f

62 K ö rn e r (w ie A n m . 5 0 ).

aedificatoria 1485) erstmals die räumliche Tragwirkung bei Kuppeln. „Erst im 19. Jahrhundert, mit dem Aufkommen historisierender Baustile, setzt zwangsläufig die eigentliche Bauforschung in dem Bestreben ein, den Baumeistern bei der techni­ schen Durchführung ihrer historisierenden Bauglieder, so auch besonders der Wöl­ bungen, Hilfestellung zu leisten.“58 Hier sind an erster Stelle Georg Ungewitters „Lehrbuch der gotischen Konstruktionen“ und Viollet-le-Ducs „Dictionnaire“ sowie Rudolph Wiegmann zu nennen.59 Wiegmann versucht mit Kenntnissen aus der graphischen Bogenstatik den Ursprung des Spitzbogenstils im Statisch-Konstrukti­ ven nachzuweisen. Er behauptet, daß das spitzbogige gotische Kreuzgewölbe einen geringeren Horizontalschub als das kreiszylindrische romanische ausübt. Die räum­ liche Lastabtragung in den Kappen und die aus der muldenförmigen Ausbauchung erwachsende „allseitige Spannung“ gestattet das Aufmauern der Kappen ohne Lehrgerüst auf den Rippen. Ungewitters Lehre über die Statik mittelalterlicher Wöl­ bungen ist bis zum Beginn des 20. Jh.s Grundlage der Berechnungen.60 „Ein über­ wiegender Teil enthält Betrachtungen über Wölbungen nur im Zusammenhang mit der allgemeinen baugeschichtlichen Entwicklung. Dabei ergeben sich recht verschiedene Standpunkte über die Statik der Wölbungen und hier insbesondere den Einfluß der Rippen und des Gewölbeschubes.“61 Die erste Auflage 1858 enthält noch keine Berechnungen der Gewölbe. Ausführlicher geht erst 1901K. Mohrmann in der 4. Auflage darauf ein und stellt auf der Grundlage der Stützlinienmethode fest, daß der Lastfluß den Fallinien folgt, d. h., die Kräfte sammeln sich in den Kreuzgraten, folgerichtig seien die Rippen als Widerlager der Kappen ausgebildet und damit die eigentlichen Träger. Dem folgt auch Carl Körner 1901.62

(

9 8 Konstruktion

Mit Wilhelm Raves Aufsatz „Über die Statik mittelalterlicher Gewölbe“ von 1939 wird die über hundertjährige Diskussion zu einem vorläufigen Ende geführt: „Auch beim gotischen Gewölbe verlaufen die Drucklinien nicht inner­ halb der sichtbaren Rippen, sondern wie beim romanischen Gewölbe in der Ver­ zahnung der Kappen, nahe dem Gewölbeanfänger sogar durch die gemauerten Zwickel.“63 „Die neuere, sich mit statischen Wölbbedingungen befassende Litera­ tur gibt die Möglichkeit, mit dem derzeitigen Stand des mathematischen Wis­ sens das Formänderungsverhalten und Tragvermögen mittelalterlicher Wölbun­ gen besser zu verstehen. Es ist deshalb angängig, über die einachsige Stabstatik hinaus das räumliche Tragverhalten64 von Wölbungen mit in die Betrachtung einzubeziehen. Solche Ansätze sind schon bei Ungewitter nachweisbar und wer­ den“ in neueren Untersuchungen weitergeführt.65 „Wichtig ist der von Prof. Dr. Schorn gemachte Hinweis, daß neben angenommenen auch andere Gleichge­ wichtszustände bei historischen Gewölben möglich sind. Ehe zum Beispiel ein dreifach statisch unbestimmter Bogen oder ein Tonnengewölbe einstürzt, bildet sich vorher ein statisch bestimmter Dreigelenkbogen aus, dessen Gelenke sich im Scheitel und an den Kämpfern durch Substanzzertrümmerung entwickeln.... Die Annahme eines räumlichen Kräftespiels bei mittelalterlichen Wölbungen erscheint möglich, weil diese Gewölbe an den Rändern stets mit Mauerwerk oder Gurten verbunden sind.... Ein übliches Anmauern der Kappen an die Außenglie­ der (Außenwände bzw. Gurte) genügt offenbar zur Aufnahme der Kräfte. Sind die Kappen in Mauerschlitze eingebunden, erhöht sich die Möglichkeit der Kraftauf­ nahme.“66 Martin Grassnick sieht in der „Tatsache, daß bei den Kriegszerstörungen 1945 ganze Gewölbe oder auch Kappenteile stehengeblieben sind, obwohl die Rippen, zum Teil auch die Gurte, abgestürzt waren“, die Eigentragfähigkeit der Kappen.67„Das hochgotische Rippengewölbe ist keineswegs eine ‘Skelett-Konstruk­ tion’, sondern wesentlich ein räumliches Flächentragwerk, eine Schale.“68 „Man kann deshalb nicht immer von zwischen die Rippen gespannten Kappen sprechen. Sind die Rippen in ein Gewölbe eingebaut, werden sie bei der Lastabtragung zwangsläufig mit herangezogen. Während des Baues eines Ge­ wölbes ändern sich die statischen Verhältnisse (Bauzustand) gegenüber dem geschlossenen und abgebundenen Gewölbe (Endzustand).“69 Der Diagonalbo­ gen, die Rippe, hat - laut Segger - nicht die Fähigkeit, die Gewölbekappen zu tra­ gen, „so daß zu seiner Standfestigkeit unter Belastung aus Eigengewicht, Schluß­ steinanteil und Kappen zur sicheren Aufnahme der Kräfte der über dem Diagonalbogenrücken liegende Kappengrat zur statischen Mitwirkung herange­ zogen werden muß.“70 Nach den Berechnungen von Jürgen Segger für den Kölner Dom trägt die Kappe von der Gewölbelast dreimal so viel wie die Rippe, das heißt aber nicht, daß die Rippe mehr aus formalen Gründen geschaffen wurde, sondern sie ist auch statisch unbedingt notwendig, „weil die Standfestigkeit der Kappengrate allein zu schwach wäre. Außerdem sind die Rippen auch konstruktiv als Lehre zum leichteren Einwölben sehr wesentlich.“71 Martin Grassnick hat - wie bereits Carl Schäfer 1885 - anhand seiner praktischen Erfahrungen bei der Wiederher­ stellung des Xantener Doms die theoretischen Erörterungen von Ungewitter korrigiert.72„Der Aufstellung der Lehrbögen ist größte Sorgfalt zu widmen. Ihre rich­ tige Lage und Stellung ergibt die gewünschte Form des Gewölbes. Einfach ist dies bei Kreuzgewölben. Unten setzen sie sich auf die Kämpferplatte, im Scheitel ver­ binden sie sich am besten durch kleine Brettzangen. Vor dem Versetzen der Rip­ pen ist eine gewissenhafte Kontrolle, auch die der Höhen des Lehrgerüstes, vor­ zunehmen. Die Diagonalen müssen in gerader Projektionslinie durchlaufen. Ist

Gewölbe 9 9

105 ► Köln, Dom, Chor 1 2 4 8 -1 3 0 0 , Vergla­ sung gleichzeitig.

63 W ilh e lm R ave : Ü b e r d ie S t a t ik m i t t e l a l t e r l i ­ c h e r G e w ö lb e . In: D e u ts c h e K u n s t u n d D e n k m a l­ p f le g e H e f t 7 / 8 , 1 9 3 9 / 4 0 , 5 . 1 9 3 - 1 9 8 . 64 „ A u ß e r e in ig e n V e rg le ic h e n m i t K u p p e ln f i n ­ d e t sich in d e r L it e r a t u r k e in e in d e u t ig e r B e z u g a u f e in r ä u m lic h e s T r a g v e r h a lte n v o n W ö lb u n ­ g e n . " G ra ss n ick ( w ie A n m . 1 7 ) S. 3 8 . 65 W ilh e lm S c h o rn , A l b e r t V e rb e e k : D ie K irc h e St. G e o rg

in

K ö ln

(=

D e n k m ä le r D e u ts c h e r

K u n s t). B e rlin 1 9 4 0 , S. 8 2 - 8 8 . - J o s e f F in k : D ie K u p p e l ü b e r d e m V iereck. U rs p ru n g u n d G e s ta lt. F r e ib u r g 1 9 5 8 . - K a r l-H e in z S c h e llin g : G o tis c h e K r e u z r ip p e n g e w ö lb e u n d d e r e n S t a b ilit ä t s s y ­ s te m . In : B a u k u n s t u n d W e r k fo r m , 1 0 , 1 9 5 7 , 5. 1 7 0 - 1 7 3 . - S tr a u b ( w ie A n m . 1 9 ). - P ie p e r (w ie A n m . 1 6 ) S. 6 0 0 - 6 0 4 . - K ö rn e r ( w ie A n m . 5 0 ) 5. 4 0 1 - 4 9 5 . - B o llig (w ie A n m . 1 6 ). - R a in e r B a r ­ th e l: T r a g v e r h a lte n u n d B e r e c h n u n g g e m a u e r ­ t e r K re u z g e w ö lb e . In: E rh a lte n h isto ris ch b e d e u t­ sam er

B a u w e r k e . Jb. 1 9 9 2 ,

B e r lin

1994,

5.

2 1 - 4 0 . - B a r th e l ( w ie A n m . 1 7 ). 66 G rass n ick ( w ie A n m . 1 7 ) 5 . 3 8 f. - B a r t h e l (w ie A n m . 1 7 ) S. 7 7 , 1 1 2 f . 67 G ra s s n ic k (w ie A n m . 1 7 ) 5 . 3 9 . 68 W e b e r (w ie A n m . 1 7 ) 5 . 1 9 . 69 G ra s s n ic k (w ie A n m . 1 7 ) 5 . 3 9 . 70 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) S. 2 4 . 71 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) S. 3 3 . 72 G ra s s n ic k (w ie A n m . 1 7 ) S. 7 3 - 7 6 .

1 0 0 Konstruktion

Gewölbe 1 0 1

einem stark gebusten grätigen First versehen.74 Das entspricht den Beob­ achtungen von Carl Schäfer 1885, daß die frühen gotischen Gewölbe aus schweren unregelmäßigen Bruchstei­ nen über Schalung gemauert sind und somit ohne Busung. Erst mit dem Auf­ kommen von Tuffquadern und Back­ steinen geht man dazu über, die Kap­ pen frei zu mauern und dabei die Busung zu verwenden. Aber auch im norddeutschen Backsteingebiet sind die frühen Backsteingewölbe noch auf Schalung ohne Busung gemauert. Schäfer stellt in diesem Zusammen­ hang fest: „Wesentlich nur in der Islede-France und der Champagne tritt, durch die Eigenart des Materials er­ möglicht, die Busung auf.“75 So sind die Ausführungen von Kimpel-Sucka­ le auch nicht zu verallgemeinern, daß, wenn Kreuzrippen und Gurtbogen standen, man keine Gerüste mehr brauchte und die freihändige Auf­ mauerung der Kappen anderen Kräf­ ten „überlassen“ konnte76 (Abb. 110). Grassnick führt weiterhin aus: „Für geübte Maurer ist die Wahl des Kap­ penverbandes gleichgültig. Beim Kuffverband stehen die Schichten recht­ winklig zum Gurt- oder Wandbogen, die des Schwalbenschwanzverbandes senkrecht zu den Rippen. Dabei treffen sich die Schichten im Scheitel in einer Zick-Zacklinie. Gebuste Kappen in Kuff zeigen im Scheitel ein fischblasenför­ miges Feld.... Bei Rippengewölben bis

◄ 1 0 6 ,1 0 7 ► Beauvais, Kathedrale SaintÉtienne, Chor 1 2 2 5 -1 2 4 5 ,Triforium, Fenster und Gewölbe 1 2 5 5 -1 2 7 2 , nach Einsturz von Teilen des Langchors 1284 Erneuerung und Einstellen zusätzlicher Pfeiler, dadurch sechsteiliges Gewölbe bis 1324.

das Gewölbe erst geschlossen, läßt sich eine Korrektur nicht mehr bewerkstelli­ gen. ... Bevor man die Rippen im Scheitel schließt, setzt man den Schlußstein auf das Lehrgerüst und stützt ihn zweckmäßigerweise in den Dachstuhl ab.... So las­ sen sich die Rippen besser anpassen.... Sofort nach dem Versetzen der Rippen kann mit dem Zuwölben der Kappen begonnen w erden.... Ungewitter will bei leichten Rippen diese gleichzeitig mit dem Mauern der Kappen versetzen. Tech­ nisch ist dies möglich, aber handwerklich sehr unpraktisch. Eine nachträgliche Korrektur im Rippenverlauf ist zum Beispiel unmöglich. Außerdem können die Rippen nicht zum Mittragen der Kappen während der Bauzeit ausgenutzt wer­ den. ... Ein guter Maurer mauert die Kappen frei aus der Hand, die richtige Busung ergibt sich dabei notwendigerweise von selbst. Die Busung ist keine Formfrage, sondern technisch notwendig, um freihändig mauern zu können, weil jede Schicht für sich einen Bogen bildet.“73Die alten Kappen in den Chorka­ pellen des Kölner Doms sind auf Schalung gemauert, flacher gewölbt und mit

73 G ra s s n ic k ( w ie A n m . 1 7 ) 5. 7 3 - 7 5 . - A n d e n R ip p e n d e r K irch e S a in t-O u ir ia c e in P ro vin s s in d S te in k o n s o le n s te h e n g e b lie b e n , d ie als A u f la g e r f ü r d ie L e h rb o g e n g e d ie n t h a b e n . Vgl. d ie B e fu n ­ d e a n d e n G e w ö lb e n des R e g e n s b u r g e r D o m s : A c h im H u b e l, M a n f r e d S c h ü lle r: D e r D o m z u R e g e n s b u rg . V o m B a u e n u n d G e s ta lt e n e in e r g o tis c h e n

K a th e d r a le .

R e g e n s b u rg

1995.

-

G a b r ie le A n n a s , G ü n t h e r B in d in g :„A rc u s s u p e r ­ io r e s “. A b t S u g e r vo n S a in t-D e n is u n d d a s g o t i ­ sche K r e u z r ip p e n g e w ö lb e . In : W a llr a f - R ic h a r t z Jb. 5 0 , 1 9 8 9 , 5. 7 - 2 4 (A u s w e r t u n g d e r h is t o r i­ sc hen Q u e lle n ). 74 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5 . 2 2 . 75 S c h ä fe r (w ie A n m . 5 2 ) 5. 3 0 8 . 76 K im p e l-S u c k a le ( 1 9 8 5 ) 5 . 4 1 . - E b en so M ü l l e r (1 9 9 0 ) 5 .1 9 1 .

Schlußstein der Sainte-Chapelle in Paris, um 1245.

1 0 2 Konstruktion

4,5 m Spannweite kann man die Lehrbögen vor dem Zukappen entfernen, bei solchen bis 8 m ein bis zwei Tage nach dem Einbau der Kappen.“77 Das Kreuzgewölbe hat - wie Segger feststellt - gegenüber anderen Wölbformen eine günstige aussteifende Wirkung: „ausreichende Längsversteifung war durch die Längskappen über deren First und die wichtige Querversteifung durch die Ouerkappen gegeben.... Weitere Vorteile ergaben sich, daß durch die Ouerkappen die zur Seite auf die Wände schiebenden Massen der Längskappen reduziert wur­ den.“ Die Ouergewölbe ruhen fast wie gegen den Schildbogen stützende Scheiben auf den Diagonalbogen (Rippen) auf. „Der Schubausgleich der Ouerkappen bela­ stete im Prinzip die Wände nicht, sondern glich sich in Längsrichtung (am Gurtbo­ gen) untereinander aus.“78 Die unteren Endkräfte der Längskappen werden dadurch in die Pfeiler eingeleitet, wobei die Gewölbeanfänger besonders ausgebil­ det und durch Übermauerung verstärkt werden.79 Da die einzelnen Joche nachein­ ander eingewölbt wurden, hatte - so Segger - der Gurtbogen zwischenzeitlich den seitlichen Druck aufzunehmen, mußte deshalb besonders stark ausgeführt wer­ den, außerdem hat er ungefähr doppelt soviel Last wie die Diagonalrippen zu tra­ gen.80 Rainer Barthel hat „auf einen grundlegenden Unterschied aufmerksam gemacht zwischen den Vorstellungen Grassnicks und Seggers zum räumlichen Tragverhalten und dem Schalentragverhalten, wie es Weber und Fitchen anspre­ chen. Grassnick und Segger gehen von der üblichen Stützlinienvorstellung aus und ziehen zusätzlich horizontale Ringkräfte in Betracht. Die räumliche Tragwirkung besteht also ausschließlich aus Kräften entlang den vertikalen, den Fallinien fol­ genden Stützlinien und den Ringkräften innerhalb horizontaler Streifen. Die von Weber und Fitchen angesprochene Schalentragwirkung meint etwas anderes. Bei einer Schalentragwirkung können Kräfte auch schräg zu den Fallinien und Höhen­ linien übertragen werden. Wird diese Vorstellung zugrundegelegt, ergeben sich ganz andere Kraftabtragungen. Diese können allerdings nicht mehr so anschau­ lich wie mit der Analogie der rollenden Kugeln ermittelt werden, sondern nur noch mit Hilfe einer statischen Analyse.... Die erste derartige Schalenberechnung eines Kreuzgewölbes wird von Mark veröffentlicht.81 Er kommt zu dem Schluß, daß in den Kappen ein zweidimensionaler Spannungszustand herrscht und die Kräfte nicht von den Graten angezogen werden.“82 Das bestätigt schließlich Bar­ thel: „Der Kräfteverlauf im Lastfall Eigengewicht hat im wesentlichen keine Ähn­ lichkeit mit dem Fallinienverlauf. Die Spannungstrajektorien verlaufen direkt zum Auflager. Allerdings üben die Kappen durch ihre Schubsteifigkeit eine Faltwerk­ wirkung aus und erzeugen somit entlang den Kreuzgraten einen relativ steifen Bereich. Die Spannungen sind deshalb dort grundsätzlich höher als in den Kap­ penflächen. ... Eine Ausnahme bildet das gebuste Kreuzgewölbe. Dort kommt es zu größeren Kräftekonzentrationen am Kreuzbogen.“83 Um seine queraussteifende Aufgabe (Winddruck) erfüllen zu können, muß der Kreuzbogen eine kräftige, von dem Bogen zu tragende Übermauerung erhalten, denn die Kappengrate sind wegen ihrer gebusten Form für die Windübertragung ungeeignet. Wie hoch die Wind- (Druck- und Sog-) Belastung der Obergadenmau­ ern ist, wird in der Literatur sehr unterschiedlich beurteilt, unter bestimmten Stand­ ort- und Witterungsbedingungen ist sie aber zumindest zeitweise bedeutend. Da der Winddruck mit dem Quadrat der Windgeschwindigkeit wächst und die Geschwindigkeit in größeren Höhen erheblich zunimmt, konnte der Winddruck bei den immer höher aufsteigenden Obergaden der Kathedralen erhebliche Werte annehmen. Nach den experimentellen Versuchen von Robert Mark war es der aus wechselnden Richtungen auftreffende Wind, der in Beauvais 1284 zum Einsturz geführt hat.84 Im Regelfall erzeugt der Wind auf der einen Seite Druck und auf der Gegenseite Sog, so daß zusätzliche Kräfte auf die Konstruktion einwirken. Schließ-

Gewölbe 10 3

77 G ra s s n ic k ( w ie A n m . 1 7 )

5. 75. -

Vgl. a u c h

H u b e l-S c h u lle r (w ie A n m . 7 3 ). - K a rl K ra u ß : V o m M a te r ia lw is s e n u n d d e n B a u te c h n ik e n d e r a lt e n B a u m e is te r . In : D e n k m a lp f le g e in B a d e n - W ü r t ­ t e m b e r g 1 4 , 1 9 8 5 , 5. 2 1 8 - 2 2 3 . - S c h o n A lb e r t i s c h rie b in s e in e m 1 4 8 5 in F lo r e n z g e d r u c k te n W e r k „ Z e h n B ü c h e r ü b e r d ie B a u k u n s t “ III, 1 4 (H rs g . M a x T h e u e r, W ie n - L e ip z ig 1 9 1 2 , R e p r in t D a r m s t a d t 1 9 7 5 , S. 1 6 3 ) , d a ß d ie L e h r g e r ü s te n a c h A u s f ü h r u n g d e r G e w ö lb e la n g s a m a b g e ­ s e n k t w e r d e n m ü s s e n , d a m i t sich d ie G e w ö lb e ­ s t e in e m i t d e m e la s tis c h e n M ö r t e l f e s t v e r b in ­ d e n : „ U n d a u ß e r d e m is t es g u t , b e i e in g e r ü s t e ­ te n G e w ö lb e n d o r t , w o sie d u rc h d ie o b e r s te n K eile g e sc h lo s s e n sin d, d ie U n t e r la g e e in w e n ig n a c h z u la s s e n , s o z u s a g e n , d u rc h

w e lc h e

das

G e r ü s t g e tr a g e n w ird , u n d z w a r d e s h a lb , d a m i t n i c h t d ie fr is c h

g e m a u e r te n

K e ile z w is c h e n

ih r e m B e t t u n d d e m K a lk m ö r t e l s c h w im m e n , s o n d e rn d a ß sie e in e n u n t e r e in a n d e r a u s g e g li­ c h e n e n r u h ig e n S itz b e i v o lls t ä n d ig e m G le ic h ­ g e w ic h t e

e in n e h m e n .

G e s c h ie h t

d ie s

aber

w ä h r e n d des Trocknens, so w ü r d e sich da s M a u ­ e r w e r k n ic h t, w ie es e r fo rd e rlic h ist, z u s a m m e n ­ g e d r ä n g t Z u s a m m e n h a lt e n , s o n d e rn b e im S e t­ z e n Risse h in te rla s s e n . D e s h a lb g e s c h e h e es so: d a s G e r ü s t s o ll n ic h t g e r a d e z u w e g g e n o m m e n , s o n d e rn vo n Tag z u Tag a l l m ä h lic h g e lo c k e r t w e r d e n . ... U n d f a h r e d a n n s o f o r t , bis sich d ie s t e in e r n e n K eile a n d e m G e w ö lb e z u e in a n d e r p a s s e n u n d d a s M a u e r w e r k e r h ä r t e t i s t “ (A b b .

110 ). 78 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 )

5.3 4 .

79 H e n r i D e n e u x : D e la c o n s t r u c tio n e n ta s d e c h a r g e e t d u p o i n t d e b u t é e des a r c s - b o u ta n ts a u m o y e n - â g e . In : B u lle tin M o n u m e n t a l 1 0 2 , 1 9 4 4 , S. 2 4 1 - 2 5 6 . - H . G n u s c h k e : D ie T h e o rie d e r g e w ö lb t e n B ö g e n , m i t b e s o n d e re r R ü cksicht a u f d e n v e r s te ife n d e n E in f lu ß d e r U e b e r m a u e r u n g u n d U e b e r s c h ü ttu n g . In : Z s . f B a u w e s e n 4 2 , 1 8 9 2 , S. 7 4 - 1 0 6 . 80 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 )

5. 3 6 .

81 S ie h e A n m . 1 5 . 82 B a r th e l (w ie A n m . 1 7 )

5. 7 6 f.

83 B a r t h e l (w ie A n m . 1 7 ) S. 2 8 6 . 84 M a r k 1 9 8 2 (w ie A n m . 1 5 ) S. 5 8 - 7 7 .

110 Regensburg, Dom, W ölbungsvorgang m it Lehrgerüst und Schalung, um 1300 (M. Schüller).

1 0 4 Konstruktion

Hochschiffpfeiler 1 0 5

lieh ist die Dachlast zu berücksichtigen, die allerdings weitgehend schubfrei als senkrechte Auflast für die Ablenkung der schrägen Drucklinien in Richtung auf die Senkrechte sorgt (s. u. Hochschiffpfeiler). Für den Schlußstein eines Kreuzrippengewölbes (Abb. 109) werden allgemein zu große statische Auf­ gaben angenommen. Den weitaus größten Lastanteil für die Standsicherheit der Rippenbogen liefern „beim Endzustand die Kappen, gegen den das Schluß­ steingewicht völlig unwesentlich wird. Von Einfluß ist der Schlußstein nur während des Baus des Diago­ nalbogens“, wo er durch sein Gewicht dem „Auftrieb“ entgegenwirkt und einen harmonischen Drucklini­ enverlauf erzielt.85 Dem Auftrieb der Rippenbogen vor ihrer Belastung durch die aufliegenden Kappen kann auch durch zwischenzeitliches Verkeilen des Schlußsteins unter die Dachbalken entgegengewirkt werden, denn verschiedentlich kann nachgewiesen werden, daß das Dachwerk vor der Einwölbung auf die Obergadenmauern aufgesetzt wird; es dient dann als Arbeitsbühne während der Einwölbung.86 Bei Erhöhung des Scheitelgewichts durch Übermauerung konnte die Bogenstandfestigkeit erhöht werden, besonders im oberen Bereich (dritte Fuge von oben) sowie beim Hochmauern der Kappen, wenn der Ver­ bund zwischen Bogenrücken und aufliegendem Kap­ pengrat wegen des noch weichen Mörtels schwach ist. Vorrangig ist der Schlußstein konstruktiv der verformungssichere Knotenpunkt der Rippen und optisch der Ouellpunkt des Kraftflusses, wie es Gerva­ sius von Canterbury 1180 ausgedrückt hat: „Ich setze 'Schlußstein' (clavis = Schlüssel) für das ganze Gewölbe(feld), weil der Schlußstein, in die Mitte gesetzt, die Teile, woher sie auch kommen, abzuschließen und zu festigen scheint“; und die Gutachter über die Standfe­ stigkeit des Gewölbes über dem Ouerschiff der Kathe­ drale von Chartres urteilen 1316: „daß die vier Bogen (Rippen), die die Gewölbe tragen, gut und fest (bons et fors), ebenso die Pfeiler, die die guten Bogen tra­ gen, und der Schlußstein (clef) ist gut und fest“.87

IV.4. Hochschiffpfeiler

„Der Hochschiffpfeiler ist am besten durch einen Vertikalstab beschrieben, der mehrfach seitlich belastet, oben und unten gelagert ist. Seine Fähigkeit, am Fuß nur kleine Momente aufzunehmen“, weist ihn als Pendelstütze aus. „Alle Horizon­ talkräfte werden meist gleich am Ort ihrer Wirkung durch Gegenkräfte ausgegli­ chen, d. h. sie bilden in sich geschlossene Gleichgewichtssysteme.“88 Die schlanken Dienste hätten durch ihre Lage außen am Pfeilerquerschnitt die größten Span­ nungswerte aufzunehmen. „Deswegen wird ein Baukundiger die schlanken Dien­ ste selten als tragend, sondern eher als den Kraftfluß beschreibend empfinden, der ja seinen Weg schon vom Schlußstein als Ouellpunkt über die Rippen genommen hat und sich dann in den Diensten sammelt.“89 Die Dienste können nur die Kon­ struktion erläutern und die in Materie umgesetzten Drucklinien nach außen gekehrt darstellen (Abb. 111,113). Die statische Sicherung der schlanken Pfeiler findet, dem Auge unsichtbar, u. a. in der Verklammerung mit dem Triforium und

112 Federzeichnung aus RegensburgPrüfening, um 1175 (München, Bayer. Staatsbibi., Cod. lat. 13074, fol. 90 v. - Bi 347).

113 Laon, Kathedrale, M ittelschiffw and, um 1 1 8 0 /9 0 .

85 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) Z i t a t 5.24. - K im p e l-S u c k a le ( 1 9 8 5 ) 5 . 4 1 . 86 S ie h e h ie r z u z. B. d a s D a c h w e r k des F r e ib u r g e r M ü n s t e r s v o n 1 3 0 7 ; J o s e f F r e ih e r r v o n H o r n s te in : D ie T a n n e n g e b ä lk e des K on S ta n z e r u n d F r e ib u r g e r M ü n s t e r s u n d ih r e g e s c h ic h tlic h e

88 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5 . 2 7 f .

A u s w e r t u n g . In : A le m a n n is c h e s Jb. 1 9 6 4 / 6 5 , 5. 2 3 9 - 2 8 9 , h ie r

89 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5. 3 7 . - D ie t e r K im p e l,

5. 2 7 9 - 2 8 1 . - A n n a s -B in d in g ( w ie A n m . 7 3 ).

R o b e r t S u c k a le : D ie g o tis c h e K a th e d r a le . In :

87 J o c h e n S c h rö d e r: D ie d e s c r ip tio n e s e c c le s ia r u m im „ T r a c ta tu s

F u n k k o lle g K unst. H rsg. W e r n e r Busch. M ü n c h e n ,

d e c o m b u s tio n e e t r e p a r a t io n e C a n tu a rie n s is e c c le s ia e “ des G e r ­

Z ü ric h 1 9 8 7 , S. 4 6 , b r in g e n w ie d e r d ie h ä u f i g

vasius von C a n te r b u r y als B e is p iel m it t e la lt e r lic h e r B a u e rfa s s u n g .

v e r tr e t e n e fa ls c h e M e in u n g z u m A u s d ru c k , d a ß

M a g is t e r a r b e it K öln 1 9 9 3 . S a tz 2 4 4 . - V ic to r M o r t e t : L9e x p e r tis e

d ie D ie n s te „ w ir k lic h d i e n e n “, sie „ t r a g e n d ie

d e la c a th é d r a le d e C h a rtr e s en 1 3 1 6 . In : C o n g rès A r c h é o lo g iq u e

G e w ic h t e d e r G e w ö lb e m it, besser: sie n e h m e n

d e F ran ce 6 7 . Session C h a rtre s 1 9 0 0 . Paris 1 9 0 1 , S. 3 0 8 - 3 2 9 , Z i t a t

1 1 1 Châlons-sur-Marne, Stiftskirche N otre-Dam e-en-Vaux, Langhaus um

d e n D ru c k ü b e r d e n G e w ö lb e r ip p e n in d e r H ö h e

5. 3 1 3 .

1 1 7 0 /8 0 , Chor 1 1 8 7 -1 2 1 7 .

a u f u n d le ite n ih n m i t n a c h u n te n a b “.

1 0 6 Konstruktion

Strebewerk 1 0 7

IV.5. Strebewerk

116 Französische Bible moralisée, um 1 2 3 0 /4 0 (Oxford, Bodleian Library, Ms. Bodley 270b, fol. 3 6 .- B i 408).

91 E d u a r d L e fè v re -P o n ta lis : L 'o rig in e des arc s b o u t a n t s . In : C o n g rès A rc h é o lo g iq u e s 8 2 , 1 9 2 0 ,

5. 3 6 7 - 3 9 6 . - D e n e u x ( w i e A n m . 7 9 ). - J o h n F itc h e n :A C o m m e n t o n th e F u n c tio n o f t h e U p p e r F ly in g B u ttre ss in Fren ch G o th ic A r c h ite c tu re . In: G a z e tte des B e a u x A rts, 6 , 4 5 , 1 9 5 5 , 5. 6 9 - 9 0 . F itc h e n ( w ie A n m . 1 4 ) . - A n n e P ro c h e : Les arcsb o u t a n t s a u X Ile siècle. In : G e s ta 1 5 , 1 9 7 6 , 5. 3 1 - 4 2 . - J a c q u e s H e n r ie t: R e c h e rc h e s s u r les

den Seitenschiffgewölben statt; hier sind, wie Segger gezeigt hat, notwendige Querschnittsverlagerungen elegant bewältigt. Häufig wird die Auflast des Daches, die entweder direkt auf die Hochschiffpfeiler wirkt oder über die Fensterbogen auf diese übertragen wird, zu wenig berücksichtigt, denn diese weitgehend schubfreie Last lenkt die vom Gewölbe und vom Wind ausgehende Schubkraft in Richtung auf die Senkrechte ab. Die Auflast aus Dachlast und Aufmauerungen haben Kimpel-Suckale erkannt und kommen zu dem Schluß: „Die Chartreser Kathedrale ist unseres Wissens einer der ersten Bauten, bei dem das Prinzip der Auflast umfas­ send eingesetzt ist.“90 (Zur Entwicklung der Form der Mittelschiffpfeiler siehe Kapitel V. 5, S. 227-236.)

115 A Bonn, Münster, ehern. Stiftskirche, Langhaus, Südansicht, um 1220.

p r e m ie r s a r c s -b o u ta n ts . In : B u lle tin M o n u m e n ­ t a l 1 3 6 , 1 9 7 8 , 5. 3 0 9 - 3 2 3 . - Louis G ro d e c k i: Les a r c s -b o u ta n ts d e la c a th é d r a le d e S tra s b o u rg e t

114 < Chartres, Kathedrale N otre-Dam e, Chor, Strebewerk vor 1220.

le u r o r ig in e . In : e b d a . S. 4 3 - 5 1 . - B o n y (1 9 8 3 ) . W illia m W. C la rk , R o b e r t M a r k : T h e F irs t F ly in g B u ttre s s e s :A N e w R e c o n s tru c tio n o f t h e N a v e o f N o t r e - D a m e d e P aris. In : T h e A r t B u lle t in 6 6 , 1 9 8 4 , 5. 4 7 - 6 5 . - M a r io n N ie m e y e r-T e w e s : D a s D e k a g o n von St. G e re o n in Köln. Diss. K öln 1 9 9 8 , S. 3 5 - 5 3 . 92 J a n tz e n ( 1 9 5 7 ) S. 8 5 .

90 K im p e l-S u c k a le ( 1 9 8 5 ) S. 3 8 - 4 4 , Z i t a t S. 4 0 .

93 S c h iin k ( 1 9 7 8 ) S. 1 3 2 f .

Ein wichtiges konstruktives und gestalterisches Element der gotischen Kathedrale ist das Strebewerk, das aus Strebepfeilern und Strebebogen besteht. Zusammen mit den Gurtbogen, Kreuzrippen und Gewölbekappen über Mittel- und Seiten­ schiffen bildet es eine unlösbare Einheit und sorgt für die Standfestigkeit der Kon­ struktion. Diese Einheit ist als Travée zu bezeichnen, im Unterschied zum romani­ schen kreuzgratgewölbten Joch, das als Einzelelement in der Addition den Raum bildet (Abb. 96,128). Um den Gewölbeschub und den Winddruck des Mittelschiffs bei Basiliken oder des Hochchors bei Umgangschören auf die Außenmauern mit ihren Strebepfeilern übertragen zu können, wurden zunächst Ouermauern über den Gurtbogen der Sei­ tenschiffgewölbe gespannt, die unter dem Pultdach unsichtbar bleiben (Kathedra­ le von Durham). Diese Aufgabe können im 12. Jh. auch die Gewölbe von Seiten­ schiffemporen übernehmen (Schwibbogen in der Normandie, Halbtonnen in der Auvergne, Kreuzgewölbe in der Provence, Ile-de-France, Lombardei, Niederrhein). Der Strebebogen, ein ansteigender Halbbogen zur Ableitung des Gewölbeschubs auf die Strebepfeiler, ist frei über die Seitenschiffdächer hinweg auf die Strebepfei­ ler gespannt (offenes Strebewerk). Er wird seit etwa 1160/70 zunächst bei Umgangschören in der Normandie und Ile-de-France (Saint-Germain-des-Prés in Paris nach 1160, Abb. 303; Saint-Leu-d’Esserent um 1200/20, Abb. 307; Saint-Remi in Reims 1180-1200, Soissons 1200-1212 und davon abhängig an der Zisterzien­ serkirche Longpont 1210/15-1227, Abb. 121) angewandt, seit etwa 1190 auch beim Langhaus (Kathedrale von Paris 1180/1200, ab 1230 grundlegend verändert, Abb. 142; Noyon 1179/80-1200, Abb. 118; Laon 1180/90, Abb. 119), wo der Fortfall der Emporen nach 1194 in der Kathedrale von Chartres eine Steigerung der Verti­ kaltendenz zur Folge hat (Abb. 125). Bei zunehmender Höhe des Mittelschiffs und bei fünfschiffigen Kirchen sind zwei (Amiens, Beauvais, Köln) oder drei (Bourges, Châlons-sur-Marne) Strebebogen übereinander notwendig. Das offene Strebewerk wird in den Mittelmeerländern und in Südfrankreich kaum aufgenommen. Es ver­ breitete sich von Frankreich aus nach England (Norwich) und Deutschland (Chor von St. Georg in Limburg um 1200/25, Abb. 317; Langhaus des Bonner Münsters 1210/20, Abb. 115; St. Gereon in Köln 1219/27) und wurde schließlich bei fast allen Großbauten angewandt.91 „Die Geschichte des offenen Strebebogens lehrt (so Hans Jantzen) deutlich, daß zuerst die Idee des gotischen Rauminneren sich zur Geltung brachte, dann erst die Bautechnik herangezogen wurde, um dem Kathedralenraum den notwendigen materiellen Halt von außen her zu geben. Jede Änderung in den Höhenmaßen des Raumes und jede Änderung des Querschnitts stellte den Architekten der Kathe­ drale von neuem vor die Frage nach der besten Lösung für die Anordnung des Stre­ bewerks, das, zunächst als Zweckform verwendet, allmählich zur Kunstform sich wandelte und die Wirkung des Außenbaues der Kathedrale mitbestimmte.“92„Der Strebeapparat der frühgotischen Bauten war außerordentlich schlicht, eine reine Zweckform gewesen. Erst in Chartres und Bourges wurde er zu einer baukünstle­ risch wirksamen Bereicherung des Außenbaues.... Neben den schweren Strebe­ mauern des Langhauses von Chartres finden sich am Chor von Chartres und besonders am Langhaus von Bourges bereits kühne und schlanke, mehrgeschossi­ ge und doppelabständige Bogenschläge.“93 Aus der einstigen Zweckform wird das Strebewerk als dominierender Formträger des Außenbaus, insbesondere der Chor­ anlagen. Über 50 m hoch sind die Strebepfeiler am Hochchor von Beauvais (1255-1272, Abb. 145,146). Dem Baumeister von Amiens gelang es schließlich um 1250/60, „das Maßwerk der Hochchorfenster durch das Medium des Strebeappara-

1 0 8 Konstruktion

117 Reims, Saint-Remi, Chor, 1 1 6 5 /7 0 - 1 2 0 0 (1:3 0 0 ).

Strebewerk 1 0 9

118 Noyon, Kathedrale, Langhaus, 1 1 7 0 /8 0 1200 (1: 300).

119 Laon, Kathedrale, Langhaus, 1 1 8 0 /9 0 (1: 300)

120 Soissons, Kathedrale, Chor, um 1 2 0 0 -1 2 1 2 (1:3 0 0 ).

tes in die dritte Dimension zu versetzen, den Baumantel der Hochchor-Abschnitte mit der raumausgreifenden Hülle des Strebewerks in einen gemeinsamen Form­ zusammenhang zu stellen.“94 Er hat das dadurch erreicht, daß er zwischen Bogen und Spreize (s. u.) zweibahniges Maßwerk mit stehendem Vierpaß spannte und damit das Vorbild Chartres hochgotisch abgewandelt hat (Abb. 132-134). Strebebogen Der Strebebogen hat die Aufgabe zu verstreben oder besser, größere Schubkräfte von der Hochschiffwand, bzw. vom Hauptpfeiler in die Strebepfeiler als Endaufla­ ger für die Horizontalkräfte, die aus Gewölbeschräglast und Winddruck entstehen, abzuleiten. Dieses wird durch die Bogenaufmauerung, die Spreize, bewirkt. Laut Segger wird der eigentliche Bogen „zwischen dem unteren, dem Strebepfeiler ein­ gebundenen Bogenansatz95 und dem oberen, von den Säulchen getragenen Kämp­ ferstein ... auf einer hölzernen Lehre ... gesetzt. Er dient als Tragelement für den ihm später aufgelagerten Spreizkörper, der in Köln (Abb. 147,149) aus zwei durch das Maßwerk der Vierpässe auf Abstand gehaltenen Streben besteht.“96 Durch diese Trennung bzw. die Zwickelausmauerung zwischen Bogen und Spreize über den Bogenanfängen wird die Auftreffbasis am Hochpfeiler und Strebepfeiler ver­ größert, „so daß auch bei Schwankungen in Last und Form immer ein sicherer Kräfteabfluß gewährleistet ist“97. Der innere Aufbau des Strebebogens läßt sich an den Fugen ablesen, die klar Tragbogen von Strebekörper trennen. Schließlich ent­ steht - so Segger - die sogenannte,/Reduktionsform' wie z. B. in Senlis ..., wo man den Strebebogen auf seine wesentliche Aufgabe, die Systemverstrebung reduziert hat, d. h. nur die gerade Strebe ohne Bogen beibehält“98. ,/Strebebogen' ist dem­ nach eher zu lesen als ‘Strebe plus Bogen' und nicht so sehr als ‘Bogen, der strebt'.

121 Longpont, Zisterzienserklosterkirche, 1 2 1 0 /1 5 1227, Nachfolge von Soissons (1 :3 0 0 ).

122 Soissons, Kathedrale, Chor um

1200 - 1212 .

94 Sch lin k ( 1 9 7 8 ) 5 . 1 3 6 f - Ü b e rb lic k b e i M ü lle r ( 1 9 9 0 ) 5. 2 0 5 - 2 1 9 . 95 Ein s o lc h e r A n s a tz , d e r b e im S tr e b e p fe ile r b a u als a u s k r a g e n d e r A n f ä n g e r s te in g le ic h v o rg e s e ­ h e n w ir d , f i n d e t sich o h n e a u s g e f ü h r t e n B o g e n in B e a u v a is a n d e r N o r d o s ts e ite . S e g g e r ( w ie A n m .l7 )S .5 7 . 96 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5.25, vgl. a u c h 5 . 4 0 . 97 S e g g e r ( w ie A n m . 1 7 ) 5 . 2 6 . - Vgl. d a z u a u c h

124 Soissons, Kathedrale, Chor von Südosten um 1 2 0 0 -1 2 1 2 .

K la u s B e tz n e r : D ie d r e i B a u a b s c h n it t e des H a l ­ b e r s t ä d t e r D o m e s . V e r g le ic h e n d e s t a tis c h - k o n ­ s t r u k t iv e U n t e r s u c h u n g d e r T r a g s y s te m e a m L a n g h a u s u n d a m Chor. In: G e b a u te V e r g a n g e n ­ h e i t h e u te . B e r ic h te a u s d e r D e n k m a lp f le g e . H rs g . D e t l e f K a rg . B e rlin - M ü n c h e n 1 9 9 3 , 5. 2 1 -5 0 . 98 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5. 57. 99 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5.25. 100 D ie A u f fa s s u n g vo n S a u e r lä n d e r is t fa ls c h : „ S ta tis c h e r r e ic h te e r d a m i t e in H ö c h s t m a ß a n S o lid itä t. " W illib a ld S a u e rlä n d e r: D ie K a t h e d r a ­ le vo n C h a rtr e s . In : M e ile n s t e i n e e u r o p ä is c h e r K u n s t. H rs g . E rich S te in g r ä b e r. M ü n c h e n 1 9 6 5 ,

5 . 1 3 1 - 1 5 7 , Z i t a t S .1 5 0 .

123 Reims, Saint-Remi, Chor, Strebewerk 1 1 8 0 -1 2 0 0 .

Der Bogen muß also dauernd aktiv das Eigengewicht des ganzen Strebebogens tra­ gen, während in den aufliegenden Spreizen von der möglichen Strebekraft nur soviel geweckt wird, wie die angreifenden Kräfte (Wind, Gewölbe) als Reaktion zum Gleichgewicht brauchen.“99 Die Funktionstrennung von Bogen und Strebe bzw. Spreize wird überdeutlich am Strebewerk der von Papst Urban IV. 1262 an der Stelle seines Geburtshauses gestifteten Kirche Saint-Urbain in Troyes, 1262-1266 ausgeführt, wo Bogen und Strebe voneinander abgesetzt sind und sich im unteren Drittelspunkt berühren und im oberen Bereich durch einen Dreipaß abgestützt werden (Abb. 153, siehe auch Abb. 151,152,159 -167). Aber auch am Langhaus der Kathedrale von Chartres wurde schon die Strebe über vier Arkaden auf den tra­ genden Bogen (schwebende Arkade) abgestützt (Abb. 114,125).100

1 1 0 Konstruktion

Von besonderer Bedeutung ist die Gestaltung des oberen Kämpfersteins, der so ausgebildet sein muß, daß er auch eine nach unten gerichtete Endkraft aufnehmen kann. Das an dieser Stelle eingefügte Säulchen (Abb. 120-124) ist deshalb „zwar statisch sinnvoll placiert, sein Wert im Gleichgewichtsspiel jedoch unerheblich.... Andererseits sollte das Säulchen nun nicht als statisch zwecklose Dekoration abgetan werden, zumal wenn man an seine Entstehung, seine ursprünglich direkte Verbindung mit dem Hochpfeiler denkt (Chartres, Soissons, Reims; Abb. 114, 125, 128), von dem es aber im Laufe der Entwicklung gelöst wurde (Langhaus von Amiens, Köln; Abb. 96,147) zur Schaffung eines Umganges ... und zur Auflockerung der Pfeilerkonstruktion. Ganz sicher trägt das Säulchen einen Teil der Strebebogenlast, aber sein Wert scheint doch weniger statischer als konstruktiver Natur zu sein. Das Säulchen ist eher ein Stück Baugerüst, das den oberen Kämpferstein solange tragen sollte, bis der Bogen sich gegen ihn spannte und ihn in seine Funktion einbezog. Von diesem Augenblick an ist das Säulchen eigentlich nicht mehr nötig.“101 Dennoch wird das Säulchen weiterverwendet. Durch seine Freistellung entsteht eine Schichtung, ein vor die Mauer gestelltes Gitterwerk, das bei den schließlich besonders dünnen, hohen, sehr schlanken Säulen kaum noch die ursprüngliche Aufgabe erkennen läßt. Die Entwicklung beginnt am Langhaus der Kathedrale von Amiens um 1225/30 (Abb. 96,135), an

128 Reims, Kathedrale, Langhaus, 1 2 2 0 /3 0 ,

1 2 5 ,1 2 6 Chartres, Kathedrale, Langhaus 1 2 1 0 /2 0 (1 :3 0 0 ).

Gewölbe und Strebewerk 1 2 3 5 /4 0 (1 :3 0 0 ).

127 Bourges, Kathedrale, Chor und östliche Langhausjoche 1 2 1 4 fertig (1:3 0 0 ).

101 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5.26.

1

der Kathedrale von Chälons-sur-Marne nach 1230 (Abb. 138), am Chor von Le Mans vor 1245 (Abb. 139), am Chor von Saint-Denis 1231/41 bis hin zu Beauvais 1255/70 (Abb. 145,146), zum Langhaus von Saint-Denis 1245/82 (Abb. 140,141) und zum Kölner Dom 1270/1300 (Abb. 147,149). Parallel dazu gibt es aber immer auch Bauten, die keine Säule verwenden wie Bourges (Abb. 127) und Paris (Abb. 142). Nach 1300 wird die Säule ganz aufgegeben, nur die Kathedrale von Metz weist noch einmal die der Wand aufgelegte Säule an dem 1380 vollendeten Strebewerk auf (Abb. 164). Im Strebewerk der Kathedrale von Clermont-Ferrand wird um 1280 die Säule mit verbindendem Kleeblattbogen auch vor die Innen­ seite der Strebepfeiler angeordnet, wie es am Chor von Amiens 1236/64 vor­ bereitet war (Abb. 134). Die Dimensionierung der Strebebogen richtet sich bei doppelten Strebebogen nach der größeren der auftretenden Kräfte, so daß lediglich aus Gründen der Ein­ heitlichkeit beide Strebebogen gleich dimensioniert sind. Der untere Strebebogen dient vorrangig zur Weiterleitung des Gewölbeschubs, der obere zur Übertragung des Winddrucks, der allerdings auch teilweise auf den unteren Strebebogen ein­ wirkt (Abb. 128, 149). In Chartres hat man anscheinend den Winddruck unter­ schätzt und mußte nachträglich oder aufgrund einer Planänderung als Folge neuer Erkenntnisse obere Strebebogen anbringen (Abb. 114,125).

1 1 2 Konstruktion

129 Reims, Kathedrale, Langhaus, Südansicht, Obergaden um 1 2 2 0 /3 0 , Strebewerk 1 2 3 5 /4 0 .

Bei der Beurteilung eines Strebebogens dürfen die Tragwirkung des Bogens und der Spreizeffekt der Strebe nicht vermischt oder gar verwechselt werden (wie es Weber getan und worauf Segger hingewiesen hat).102 Die Spreizwirkung ist nicht so sehr von Bogenführung, Strebensteigung oder Ansatzpunkt als von einem über­ haupt vorhandenen, geraden Strebeelement abhängig, in dem sich bei Belastung unabhängig von der Form des Strebebogens die nötige Reaktionskraft bilden kann. Viel schwieriger und wichtiger war das richtige Auswägen der Neigung, „weil ein flacher Strebebogen den Strebepfeiler ungünstiger belastet als ein steiler. Je steiler jedoch der obere Strebebogen gegen die Wand fällt, desto größere Oberla­ sten werden auf dem Hochpfeiler erforderlich (z. B. Dach), um den Auftrieb’ des Strebebogens auszugleichen.“103 Ein Ausgleich dieser sich widersprechenden

130 Reims, Kathedrale, geplantes Strebewerk des Chores nach Villard de Honnecourt um 1 2 2 0 /3 0 .

131 ► Reims, Kathedrale, Chor von Osten, 1212 begonnen, Strebewerk 1 2 3 5 /4 0 .

102 W e b e r ( w ie A n m . 1 7 ) 5. 3 3 . - S e g g e r ( w ie A n m . 1 7 ) 5 .3 9 . 103 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) S. 3 9 .

1 1 4 Konstruktion

Strebewerk 1 1 5

Effekte mußte angestrebt werden; dar­ aus ergibt sich der Neigungswinkel des oberen Strebebogens. „Die Neigung eines unteren Strebebogens bestimmt sich nach dem Einheitlichkeitsprinzip von selbst parallel (Ausnahme Bourges, Abb. 127) zum oberen, weil beim unte­ ren Strebebogen die Neigung der Stre­ be nicht so wichtig wie die richtige Höhenlage des Bogenansatzes ist.“104 In der Tatsache, daß die Strebebogen nicht in Höhe des Kapitells, des Rippen­ auflagers, sondern etwas höher im Bereich der die Schubkräfte übertra­ genden Übermauerung ansetzen, sieht Weber, daß die Baumeister, vorrangig der klassischen Kathedralen, in den

1 3 6 -1 3 8 Châlons-sur-Marne, Kathedrale, Langhaus nach 1 2 3 0 (1 :3 0 0 ).

1S5 Amiens, Kathedrale, Langhaus, Strebe­ w erk um 1 2 2 5 /3 0 (1 :3 0 0 ).

1 3 2 - 1 3 4 Amiens, Kathedrale, Chor, Strebe­ werk, nach 1236, vor 1264 (Schnitt 1 :3 0 0 ).

104 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5 . 3 9 .

105

W e b e r (w ie A n m . 1 7 ) 5 . 4 0 .

139 Le Mans, Kathedrale, Chor 1 2 1 7 -1 2 4 5 (1 :3 0 0 ).

meisten Fällen richtig gehandelt und die konstruktiven Probleme erkannt haben.105 Andererseits weist Weber daraufhin, daß die Stre­ bebogen der Kathedrale von Reims so stark überdimensioniert sind, daß sie den zehnfachen Druck hätten aufnehmen können, ebenso seien die 50 cm dicken Kappen und die 3,5 m hohe Hintermauerung viel zu dick. Bei besonders dünnen Strebebogen, wie z. B. an der Kathedrale von Paris (ab 1230), muß die Schrägführung dem tatsächlichen Kräfteverlauf genau angepaßt werden, damit keine zusätzlichen Knickmomente entstehen, die bei einem dickeren Strebebogen aufgefangen werden. Bei doppelten bzw. dreifachen (Bourges, Le Mans; Abb. 127,139) Strebebogen setzt der obere in Höhe der Dachtraufe an, um den Wind­ druck abzufangen; bei einem einfachen Strebebogen liegt sein Anschluß in der Regel zwischen der Traufe und dem Fußpunkt der Rippen. Dem entspricht auch die Konstrukti­ on am Langhaus von Chartres (Abb. 125), wo die Arkaden auf den unteren in Kapitellhöhe ansetzenden Bogen stehen, die die eigentliche Strebe/Spreize in der üblichen Höhe auf den Bogen abstützen. Der Strebebogen muß gleichzeitig mit der Ein­ wölbung zwischen Obergadenmauer und Strebe­ pfeiler gespannt werden, damit die Obergadenmauer nicht

1 1 6 Konstruktion

Strebewerk 1 1 7

1 4 4 -1 4 6 Beauvais, Kathedrale, Chor, 1 2 2 7 1245 Um gang und Kapellenkranz, 1 2 5 5 1272 Obergaden und Strebewerk (1:3 0 0 ).

1 1 8 Konstruktion

1 4 7 ,1 4 8 Köln, Dom, Chor, 1248 begon­ nen, Ober­ gaden und Strebewerk 1 2 7 0 - 1300 (1 :1 5 0 ).

Strebewerk 1 1 9

Strebewerk 1 2 1

154 Eu, Kathedrale, 1 4 .Jh.

1 4 9 ,1 5 0 Köln, Dom, Langhaus ab 1500 (1 :3 0 0 ).

151 Auxerre, Kathedrale, Chor um 1230 fertig (1 :3 0 0 ).

106 V io ll e t - I e - D u c ( 1 8 5 8 - 1 8 6 8 ) Bô. 1 , 5. 7 1 f.; Bd. 3, S. 5 0 6 ; Bö. 4 , 5 . 1 8 7 ; Bd. 5 , 5 . 4 2 4 .

durch den Strebebogen nach innen oder durch die Gewölbe nach außen gedrückt wird. Hierzu bringt das Musterbuch des Villard de Honnecourt eine vorzügliche Darstellung. Auf fol. 31v ist der Innen- und Außenaufriß eines östlichen Langhaus­ joches gezeichnet (Abb. 83): Sowohl auf der Innenansicht fehlen Gurtbogen, Rip­ pen und Gewölbekappen als auch auf der Außenansicht die Strebebogen; nur v die Konsolen zwischen den Obergadenfenstern als Auflager für die Strebebogen und die Strebepfeiler sind bis kurz über die Seitenschifftraufe dargestellt, d. h. ausgeführt gewesen, als Villard die Baustelle in Reims 1225/30 vor dem Bürgeraufstand und die dadurch bedingte Bau­ unterbrechung von 1233 besucht hat. Um 1230 kam die Idee auf, den Strebebogen zur Wasserableitung zu verwenden. Das in einer Steinrinne an der Dachtraufe gesammelte Wasser wurde über eine Eintiefung in der Abdeckung des Strebebogens herunter und durch die Strebepfeiler zu einem außen angesetzten Wasserspeier abge­ leitet.106 Wenn der Strebebogen nicht in der Höhe der Traufe ansetzte, wurde das Wasser in senkrechten Röhren auf den Strebebogen geführt. Die Steinrinnen und Rohre hatten den Nachteil, daß in die Fugen Wasser eindringen und der Frost Schäden anrichten konnte, die dann direkt die Standfestigkeit der dünnen Spreizkörper auf den Strebebogen minderten.

J

Strebewerk 1 2 3

1 5 8 ,1 5 9 Straßburg, Münster, Langhaus 1 2 5 0 /7 0 (1 :3 0 0 ).

160 Freiburg, Münster, 2. H älfte 13.Jh. (1 :3 0 0 ).

164 M etz, Kathedrale, Langhaus, 1 2 5 0 /6 0 bis Triforiumshöhe, Unterbrechung, 1380 vollendet (1:3 0 0 ).

165 Straßburg, Münster, Langhaus, Strebewerk der Nordseite 1 2 5 0 /7 0 .

Strebewerk 1 2 5

1 2 4 Konstruktion

Strebepfeiler „Der Strebepfeiler ist das äußere Widerlager des Ouersystems, dessen Wirkung zwar durch Masse in erster Linie erzeugt wird, deren Hebel man aber durch Staffe­ lung der Massen nach innen, Abtreppen der Vorderkante, Massenverteilung usw. vergrößern kann. Um das kippende Moment minimal zu halten, sollen die Angriffspunkte der Strebebögen möglichst tief und deren Neigung steil sein.“107 Schließlich ist zur Vermeidung des Kippmoments eine möglichst lange Fußfuge, also eine große Standfläche in Querrichtung notwendig. Die Pfeilergestalt zeigt zunächst rohe, massige Formen (Soissons, Chartres), dann erfährt sie durch Abtrep­ pen der Vorderkante, Wasserschläge (Kaffgesimse), kleine Giebel, Kreuzblumen u. ä. eine erste Gliederung bis hin zu Säulen- und Maßwerk-Verblendung (Reims 1235/40, Chor von Amiens 1236/64, Langhaus von Saint-Denis 1245/82, Beauvais 1255/72, Kölner Dom 1260/1300), Fialen (Langhaus 1225/30 und Chor 1236/64 von Amiens, Kathedrale von Chälons-sur-Marne nach 1230, Langhaus von Saint-Denis 1245/82, Beauvais 1255/72, Kölner Dom 1260/1300 und Westbau des Straßburger Münsters um 1300) und auch Tabernakel (Reims 1235/40, Abb. 129-131; Paris nach 1235, Abb. 142), zuvor schon an der Stirnfläche der Strebepfeiler am Langhaus von Chartres schmale Nischen für Figuren (Abb. 114,126). Während die Rückstufung statische Vorteile bringt, wird die durch die Fialen bewirkte Auflastfunktion zu hoch eingeschätzt.108 Die äußere Fiale des Strebepfei­ lers (Abb. 149) beweist vornehmlich die dekorative Funktion der Fialen, weil sie statisch eher schädlich ist - wenn man überhaupt von einer Wirkung der Fiale auf den Strebepfeiler sprechen kann. Im Gegensatz dazu ist ein statischer Effekt der inneren, höheren Fiale nicht zu bestreiten. Durch sie wird die Resultierende der Kräfte unterhalb des oberen Strebebogens um 3 cm, unterhalb des unteren nur noch um 1 cm zum Kern hingerückt. Mit den nach unten gewaltig anwachsenden Massen verliert sich die Wirkung der Fiale sehr schnell, so daß ihr Wert nur auf die oberen Bereiche beziehbar ist, und zwar, wie Jacques Heyman dargelegt hat, erhöht die Fiale durch ihr Gewicht die innere Reibung im Mauerwerk des Pfeilers gerade in dem Bereich, in dem die vom Strebebogen ausgehende Schubkraft die Mauerkrone des Pfeilers abzuscheren versucht.109 So sind letztlich Fiale und Taber­ nakel ebenso wie die den Strebebogen am Auflager stützende Säule Teile einer all-

166 Dijon, Notre-Dam e, Pfarr- und W all­ fahrtskirche, Chor vor 1240. 167 Reims, Kathedrale, Chorkapelle 1 2 1 1 /1 5 . 168 Amiens, Kathedrale, Chorkapelle um 1235. 169 Limoges, Kathedrale, Chorscheitelkapelle Ende 13. Jh. 170 Mantes, Kathedrale, Kapelle am Chor Anfang 14. Jh.

107 S e g g e r (w ie A n m . 1 7 ) 5. 6 4 . 108 So n o c h K im p e l-S u c k a le ( 1 9 8 5 ) 5. 4 3 . 109 H e y m a n (w ie A n m . 1 6 ) 5 . 1 7 7 - 1 8 8 .

Holz- und Eisenanker 1 2 7

1 2 6 Konstruktion

IV.6. Holz- und Eisenanker

175 Bible moralisée aus Reims, 2. Viertel 13. Jh. (W ien, Österr. Nat. -Bibi., Cod. 2554, fol. 50. - Bi 624).

176 ► Amiens, Kathedrale, Holzanker zwischen den M ittelschiffpfeilern, um 1225.

110 V io lle t - Ie - D u c ( 1 8 5 8 - 1 8 6 8 ) Bd. 2 , 5. 4 0 2 f O tto

G r u b e r: A n k e r.

In : R D K 1 ,

H rs g .

O tto

S c h m itt, S t u t t g a r t 1 9 3 7 , Sp. 7 0 8 - 7 1 3 . - R. W il-

gemeinen Auflockerung bzw. Schichtung der Außenerscheinung der Kathedrale. Das konstruktiv notwendige Strebewerk wird zur raumbildenden Hülle um die Kathedrale, ähnlich wie das Schleiermaßwerk, das an den Westbauten des Straß­ burger Münsters (ab 1277; Abb. 442, 537) und des Kölner Doms (Abb. 94,148) aus­ gebildet wird. Das offene, die Außenwirkung bestimmende Strebewerk findet sich bei mehrschiffigen Großbauten. Einschiffige Kapellen wie die Sainte-Chapelle in Paris (Abb. 211, 212) oder die Chorkapellen sind bestimmt von Strebepfeilern, die der Mauer eingebunden sind und nur mehr oder weniger vorstehen (Abb. 166-170, 173). Sie sind zunächst über Kaffgesimse zurückgestuft und enden wie in Reims 1212/20 in Höhe des inneren Gewölbefußes mit kleinem Pult- oder Satteldach, werden dann aber wie in Amiens um 1235 bis zur Traufe hochgezogen (Abb. 168); ihre Abdeckung wird mit dem Traufgesims verkröpft, oder sie werden am Ende des 13. Jh.s von Fialen bekrönt (Abb. 129-131,174) und mit Traufgalerien und Wim­ pergen über den Fenstern verbunden (Abb. 576, 583, 586). Die Ausformung der Strebepfeiler von Amiens wird nach 1235 von der Liebfrauenkirche in Trier und der Elisabethkirche in Marburg übernommen (Abb. 247).

cox: T im b e r R e in fo r c e m e n t in M é d ié v a l C astles. In : C h a t e a u G a i lla r d 5 ( 1 9 7 0 ) , C a e n 1 9 7 2 , 5. 1 9 3 - 2 0 2 . - G ü n t h e r B in d in g : H o lz a n k e r b a lk e n im M a u e r w e r k m it t e la lt e r lic h e r B u rg e n u n d K ir­ c h e n . In : C h â te a u G a illa r d 8 ( 1 9 7 6 ) , C a e n 1 9 7 7 ,

5. 6 9 - 7 7 . - G ü n t h e r B in d in g : A n k e r. In : Lex. d. M A 1, M ü n c h e n 1 9 8 0 , Sp. 6 5 2 f . - R. P. W ilc o x : T im b e r a n d Ir o n R e in fo r c e m e n t in E a r ly B u ild ­ in g s (= O c c a s io n a l P aper, N e w Series, II). L o n d o n 1981. -

W a lt e r H a a s : H ö lz e r n e u n d e is e r n e

A n k e r a n m i t t e la lt e r li c h e n K ir c h e n b a u te n . In : A r c h it e c t u r a 1 3 , 1 9 8 3 , S. 1 3 6 - 1 5 1 . -

M ü lle r

( 1 9 9 0 ) 5 . 3 0 3 f. - M a r e n L ü p n itz : D e r m it t e l a l t e r ­ lic h e R in g a n k e r in d e n C h o r o b e r g a d e n fe n s te r n

173 Saint-Germ ain-en-Laye bei Paris, Königliche Schloßkapelle Notre-D am e, Chor, um 1238 begonnen.

des K ö ln e r D o m e s . In: K ö ln e r D o m b la t t 6 2 ,1 9 9 7 , S.

6 5 -8 4 .

-

J e a n -L o u is

T a u p in :

Le f e r

111 K im p e l-S u c k a le ( 1 9 8 5 ) S. 4 3 .

174 Paris, Sainte-Chapelle, 1 2 4 1 -1 2 4 8 , Tabernakel und Fialen a u f den Strebepfeilern.

des

c a th é d ra le s . In: M o n u m e n t a l 1 3 , 1 9 9 6 , 5 . 1 9 - 2 7 . 112 L ü p n itz ( w ie A n m . 1 1 0 ) 5 . 8 3 . 113 V io lle t-Ie -D u c ( 1 8 5 8 - 1 8 6 8 ) Bd. 2 , S. 4 0 2 f .

Bei aller Diskussion über die Standfestigkeit der steinernen Konstruktion dürfen die besonders im Ostseeraum verbreiteten, von Gewölbefuß zu Gewölbefuß durch den Kirchenraum gespannten Holz- und Eisenanker und die eisernen Ringanker nicht unberücksichtigt bleiben, die bei schlanken Außenpfeilern polygonal geschlossener oder zentral angelegter Räume gegen Gewölbeschub und horizontal angreifende Windkräfte eingezogen wurden. Schon in karolingischer Zeit (Aache­ ner Pfalzkapelle) aus Eisen, in der Romanik zumeist aus Holz in den dicken Mauern verwendet, wurden die Anker in der Gotik zu schmalen, auch durch die Fensteröff­ nungen als Eisenstege fortgeführten Verankerungen ausgebildet.110 „Robert de Luzarches ist zur Verwendung des Eisens für Zuganker im Chor (von Amiens) über­ gegangen, als er die Probleme des (Amienser) Langhausobergadens bewältigt hatte. In der Ste.-Chapelle in Paris ... ist der Einsatz des Eisens noch umfassender. In Straßburg ist der Schmied der wichtigste Helfer des Architekten.“111 Im Obergaden von Langchor und Chorpolygon des Kölner Doms (Abb. 177) wur­ den um 1270-1285 drei bzw. vier der horizontalen Windeisen zwischen den Maßwerkstäben der Fenster mit einem dickeren Querschnitt (5,5/3,5 statt 4/2 cm) ausgeführt und „zeitgleich mit dem Versetzen der Pfeilersteine im Mauerwerk rückverankert“; die Eisenstangen in Höhe der Langchorkapitelle wurden kraft­ schlüssig miteinander verbunden und bilden somit einen zugfesten Ringanker. „Der Einbau der verstärkten Windeisen und des Ringankers bereits während des Chorobergadenbaues war notwendig. Zum einen dienten sie der Aussteifung der Pfeiler, solange diese noch nicht mit Auflasten versehen waren. Dabei übernimmt der Ringanker die Funktion, die Langchorpfeiler an ihrem höchsten Punkt zu sichern. Zum andern gab er den bereits durch ihre polygonale Anordnung sich gegenseitig aussteifenden Obergadenwänden zusätzliche Sicherheit gegen Wind­ kräfte, solange die Wände noch ohne Gewölbe und Strebewerk standen.“112 In der Sainte-Chapelle in Paris waren 1243/45 vier solcher Ringanker eingesetzt. Auch in den Kathedralen von Beauvais (drei, ca. 5/3 cm) und Amiens (einer, 4/3 cm) sowie in Saint-Urbain in Troyes (1262-1266), im Chor und Kapitelhaus der Westminster Abbey, Laon, Reims, Auxerre und Tours waren Ringanker eingebaut, in Beauvais (1255-1272) einer wie in Köln in Höhe der Kapi­ telle. Während der Bauarbei­ ten wurden z. B. in Amiens die Mittelschiffpfeiler und in Köln die Chorpfeiler mit höl­ zernen Ankerbalken ausge­ steift, die nach Bauabschluß her­ ausgesägt wurden; in Amiens sind noch alle Balkenköpfe in den Pfeilern vorhanden (Abb. 176).113 In Saint-Nazaire in Carcassonne (1269-1329) sorgen Eisenanker für die Standfestigkeit der schlanken Stützen.

K o n s tru k tio n oh ne S ta tik 1 2 9

IV.7. Konstruktion ohne Statik

178 W erkm eister m it Lotwaage und Stein­ m etz m it Setzeisen und Klöpfel. Glasfenster der Kathedrale von Beauvais, um 1240 (Bi 52).

114 P ie p e r (w ie A n m . 1 6 ) 5. 6 0 0 .

177 Köln, Dom, Chor, Obergaden m it eisernen Ringankern, um 1 2 7 0 /1 3 0 0 (M. Lüpnitz).

115 B o o z ( 1 9 5 6 ) S. 4 0 .

Wenn Paul Pieper 1950 „Von der Statik mittelalterlicher Kirchenbauten“ zu berich­ ten verspricht, unter dieser Überschrift dann aber doch nur seine mit modernen Mitteln vorgenommenen Nachrechnungen mitteilt und zudem feststellt, daß der mittelalterliche Baumeister bei seiner Planung die statischen Kräfte vorzüglich genau berücksichtigt habe, aber nicht erklärt, wie das der mittelalterliche Baumei­ ster ohne Statik berechnet oder bestimmt hat, so steht er mit dieser Unterlassung nicht alleine.114 Auch Weber, Grassnick und Segger haben gotische Konstruktionssysteme nachgerechnet und sind zu der Überzeugung wohlüberlegter Planung gekommen, konnten jedoch ebensowenig wie Mark 1982 mehr als nur den Kräfte­ verlauf und die günstige Dimensionierung aufzeigen, nicht jedoch sagen, wie das der mittelalterliche Baumeister erreicht hat. Dabei ist Pieper nachdrücklich zuzu­ stimmen, wenn er darauf hinweist, daß das Mauerwerk gotischer Kathedralen keine konsistente, einheitlich belastbare Masse darstellt, sondern Ouaderschalen, Schüttkerne und Mörtel unterschiedliche Festigkeiten haben. Die geringe Aussagefähigkeit zeitgenössischer Quellen über Konstruktion und deren Bemessung hält sich bis zum Übergang zur Renaissance. Auch die spätmit­ telalterlichen Steinmetz-Musterbücher bzw. Traktate ergeben nicht mehr; sie neh­ men immer wieder auf die „Alten“, auf die Vorgänger, Bezug, Roritzer und Schmuttermayer sogar ausdrücklich auf die Junker von Prag, also die Parier. Die Bezugnahme auf die „Alten“ und die Wertschätzung des exemplum, d. h. die Nach­ ahmung alter und bewährter Vorbilder wird dem mittelalterlichen Meister zur Pflicht gemacht. So schreibt Booz 1956: „Der angehende Meister erwirbt sich seine Kenntnisse als Diener eines bewährten Praktikers am Werk selbst, der ihm so seine eigenen, auf die gleiche Weise empfangenen Kenntnisse weitervererbt, je nach der Leistungsfähigkeit der Einzelpersönlichkeit aus eigener Erfahrung vermehrt oder auch nur erhalten. Welch bedeutende Rolle gerade diese persönliche Erfahrung während des Mittelalters spielte, geht aus Berichten von kritischen Bauperioden hervor. In solchen Momenten rief man im Mittelalter stets eine Gutachtersitzung zusammen, wobei nicht selten zehn und mehr Meister um ihren Rat befragt wer­ den. In Gerona beispielsweise wurde 1417 wegen der Lösung der Frage, ob die dor­ tige Kathedrale ein oder drei Schiffe erhalten sollte, ein volles Dutzend der bekann­ testen Architekten aus der Umgebung herbeizitiert. Ganz ähnliche Vorfälle sind von italienischen Kirchenbauten in Mailand, Florenz, Siena, Bologna und anderen Städten bekannt. In England finden wir die erwähnte Praxis schon im späten 12. Jahrhundert nach dem Brand der Kathedrale von Canterbury. In Frankreich schließlich boten gefahrdrohende Veränderungen an Bauteilen der Kathedralen von Chartres, Cambrai, Sens, Beauvais, Limoges, Noyon usw. in gleicher Weise Anlaß zur Einberufung mehrköpfiger Gutachterkollegien. Das markanteste Bei­ spiel für Deutschland bietet eine Sitzung in Ulm, wo im Jahre 1492 achtundzwan­ zig Meister vom Rat um ihre Meinung befragt wurden, wie der drohende Einsturz des Münsterturms zu vermeiden sei. Die aufgeführten Beispiele mittelalterlicher Baugewohnheiten zeigen, daß man sich nicht auf einen einzigen Meister beschränkte, sondern eine Summe von Erfahrungen und Ansichten anhäufte, um aus ihr die Lösung des Dilemmas gleichsam herauszukristallisieren.“115 Die technische Konstruktion der gotischen Kathedrale beruht auf Erfahrungs­ werten und Vorstellungen vom Kräfteverlauf. Die Konstruktion hat in der Kathe­ drale nur dienende Funktion. Ein geometrisches Gestaltungs- und Ordnungsprin­ zip ist die auslösende und die romanische Raum- und Körper-Wirkung ersetzende Absicht, die bei ihrer Ausführung zu komplizierten Konstruktionen führen mußte, um die Lasten und Kräfte, für das Auge weitgehend unsichtbar, standsicher aufzu-

1 3 0 Konstruktion

nehmen und abzuleiten. Das Kreuzrip­ pengewölbe mit seinen den Kraftlini­ enverlauf darstellenden Rippen war eines der idealen Elemente für die Gestaltung, somit wurde die in romani­ schen Bauten entwickelte Konstrukti­ onsweise für die gotische Kathedrale verwendet und vom sechsteiligen zum vierteiligen Gewölbe im Zusammen­ hang mit der Hochschiffwandgliede­ rung entwickelt. Nicht die Erfindung des Kreuzrippengewölbes charakteri­ siert die Gotik, sondern seine gestal­ terischen Vorteile veranlassen den gotischen Baumeister, das Kreuzrip­ pengewölbe zu wählen. Ferner ist die gotische Kathedrale kein Skelettbau im Sinne der im 19. Jh. entwickelten Eisen­ architektur und moderner Stahl- bzw. Stahlbeton-Skelettbauten, sondern ein durchaus in der romanischen Tradition stehender gegliederter Mauermassen­ bau, dessen sichtbaren Mauerflächen möglichst weitgehend reduziert und durch geometrische Gliederungsele­ mente optisch unwirksam gemacht werden. Statische Nachrechnungen und konstruktive Erfahrung haben deutlich gemacht, daß die gotische Kathedrale keine Skelettbauweise mit zwischengespannten Füllungen ist, sondern nur optisch so erscheinen soll­ te; darauf waren alle gestalterischen und konstruktiven Bemühungen des gotischen Baumeisters ausgerichtet, wobei er die anfallenden Lasten be­ rücksichtigen mußte und aufgrund vielfältiger Erfahrungen auch glänzend berücksichtigt hat, wie die Standfestig­ keit und die modernen Nachrechnun­ gen erwiesen haben.

179 Noyon, Kathedrale, südliches Querhaus und M ittelschiff. Nach Brand 1131 Neubau, bis 1157 der Chor, 1160er Jahre Querhaus, nach 1170 Langhaus.

Baukörper 1 3 3

V .l. Baukörper

184 Bibel des Robertus de Bello, 1 2 2 4 -1 2 3 5 (London, British M useum , Burney Ms. 3-f, fol. 5V. - Bi 261).

„Es w urde auch a u f scharfsinnige Weise dafür gesorgt, daß durch die oberen Säulen und m ittleren Bogen, die den unteren, in der Krypta gegründeten aufgesetzt werden sollten, m it geometrischen und arithm etrischen H ilfsm itteln die M itte des alten Gewölbes der Kirche der M itte der neuen Vergößerung angeglichen und nicht w eniger die Größe der alten Seitenschiffe der Größe der neuen angepaßt werde, abgesehen von jener eleganten und gebilligten Erweiterung der Kapellen ringsum, durch die die ganze Kirche erstrah­ len sollte von dem w underbaren und un­ unterbrochenen Licht der strahlenden Glas­ fenster, wenn dieses die Schönheit des Innenraum s durchw anderte.“ Suger von Saint-Denis, D e c o n s e c ra tio n e , Satz 49

Ab den 1130er Jahren werden mit der Kathedrale Saint-Étienne in Sens (Abb. 187, 258, 319-322) unter Erzbischof Henri de Sanglier (gest. 1142) und mit dem West­ bau und dem Chor (Abb. 5, 25,182, 474) der Abteikirche Saint-Denis unter Abt Suger (1130/35-1144) die ersten Bauwerke mit gotischen Formelementen im fran­ zösischen Kronland, der Ile-de-France, errichtet. Hier bildet sich ein neuer künstle­ rischer Schwerpunkt in der Architektur heraus, der in der konsequenten Verbin­ dung der normannischen kreuzrippengewölbten Basilika (Durham, Winchester, Peterborough, Gloucester, Saint-Étienne in Caen, Lessay, Duclair, Saint-Paul in Rouen) mit dem aus Burgund (Paray-le-Monial, Autun, Cluny) vermittelten Spitz­ bogen besteht. Während der älteste Bauteil der Kathedrale von Sens, der Chorumgang aus den 1130er Jahren (Abb. 258), noch von Rundbogen bestimmt ist, finden sich im Hoch­ chor und im Langhaus (bis 1168) Spitzbogen (Abb. 258, 319-322). Zugleich stellt die Wandgliederung mit der Kreuzrippenwölbung zwischen Gurtbogen eine Ein­ heit her. Für die Schildrippe wird das Dienstbündel um ein drittes Dienstpaar ver­ mehrt. Die breiten Gurtbogen fassen jeweils zwei Joche zusammen, die nach nor­ mannischem Vorbild ein sechsteiliges Gewölbe einschließen. Die Zwischenrippen werden von einem gewirtelten, d. h. mit einem Schaftring versehenen Dienst auf­ genommen, der über dem Kämpfer der hier erstmals verwendeten, gekuppelten, gemauerten Rundpfeiler mit Kapitellen aufsteigt. Die körperhaft vor die Wand tre­ tenden, auf den Boden geführten Dienstbündel zwischen den Doppeljochen bewir­ ken eine deutliche Rhythmisierung des Schiffs bis zur Apsis. Der Wandaufriß ist dreigeschossig: Arkaden, gruppierte Arkadenöffnungen in den Dachraum über den Seitenschiffgewölben („unechte Empore“) und gekuppelte Obergadenfenster. Die Besonderheiten von Sens werden bei einem Vergleich mit der gleichzeitigen Abteikirche Saint-Germer-de-Fly deutlich, deren 1132 begonnener Chor 1145 voll­ endet war (Abb. 305). Hier werden zwar Spitzbogen und Strebemauern angewandt, aber der normannische, ausgehöhlte Lichtgaden über einer auf Konsolen als Lauf­ gang vorgekragten Sohlbank beibehalten; auch findet sich hier besonders früh der viergeschossige Wandaufbau: Arkaden, Emporen, anstelle des Triforiunts recht­ eckige Öffnungen zum Dachraum, Lichtgaden. Für den der karolingischen Basilika Vorgesetzten doppeltürmigen, stark restau­ rierten Westbau (um 1130/35-1140) der Abteikirche Saint-Denis bei Paris (Abb. 5, 500) sind die normannischen Westbauten wie Sainte-Trinité in Caen (Abb. 501) formbestimmend, jedoch sind die Türme, die nur noch von gliedernden Strebe­ pfeilern eingefaßt sind, durch den Wegfall horizontaler, über die Front durchlau­ fender Gesimse verselbständigt (siehe Kapitel V.6.). Im Anschluß an die Weihe des Westbaus errichtete Abt Suger auch einen neuen Chor über der alten Krypta, die er vergrößern ließ, damit sie den doppelten Chorumgang mit Kapellenkranz tragen kann (Abb. 182,474). Die halbrunden Kapellen, in deren Zwickel außen tiefe Stre­ bepfeiler gesetzt sind, verschmelzen im Innern mit dem siebenseitig gebrochenen Chorumgang; durch das Öffnen der Kapellenseitenwände wird ein zweiter Umgang geschaffen. Die spitzbogigen Rippen, Gurtbogen und Scheidbogen mit einfachem Rundprofil (wie Notre-Dame in Morienval und Saint-Étienne in Beau­ vais) werden von schlanken Säulen mit monolithen, unverjüngten Schäften getra­ gen. Es entsteht ein freier, lichter Hallenraum, der durch die jeweils zwei großen Fenster in den flachbogig ausbuchtenden Kapellennischen den Hochchor als Licht­ kranz umfängt, was Suger in seiner Schrift über die feierliche Einweihung am 11. Juni 1144 besonders hervorgehoben hat (Text nebenstehend). Obwohl sich die Joche nach außen strahlenförmig weiten (3,44 bis 5 m) und dadurch die Bogen-

Baukörper 1 3 5

185 Noyon, Kathe­ drale, nach Brand 1131 neugebaut, Chor bis 1157, 1160er Jahre Quer­ haus, nach 1170 Langhaus, 1 2 2 0 /3 0 W estbau (1 :8 0 0 ).

188 Xanten, Stiftskirche St. Viktor, Westbau 1 1 8 0 /9 0 -1 2 1 3 , Chor 1 2 6 3 -1 4 3 7 , Langhaus 1483 bis Anfang 16. Jh. (1:8 0 0 ).

189 Braine, Prämonstratenserkirche Saint-Yved, 1 1 9 5 /1 2 0 0 -1 2 0 8 , Langhaus nicht erhalten (1:8 0 0 ).

186 Soissons, Kathedrale, Süd­ querhaus 1176 be­ gonnen, Chor 1 2 0 0 /0 5 -1 2 1 2 , W estbau nach 1212 begonnen, Langhaus um 1230 vollendet, Nordquerhaus um 1260 (1 :8 0 0 ).

190 Reims, Saint-Remi, Chor nach 1 1 6 5 /7 0 bis 1200 an das Langhaus des 1 1 .Jh.s (1:8 0 0 ).

187 Sens, Erzbi­ schöfliche Kathe­ drale, 1 1 3 0 /4 0 N eu­ bau begonnen, 1151 südliches Querhaus fertig, 1168 Kirche fertig , 1 1 8 4 Stadt­ brand, W estbau 1 1 9 0 -1 2 2 0 , nach Brand 1268 Ober­ gaden erneuert (1 :8 0 0 ).

192 Laon, Kathe­ drale, Querhaus und Ostteile des Lang­ hauses 1 1 7 8 /7 9 1190, Langhaus und Westbau 1 1 9 0 1205, Chor 1 2 0 5 1215 (1 :8 0 0 ).

191 Reims, Saint-Nicaise, 1231 von W erkm eister Hugues de Libergier begonnen m it W estbau (1 :8 0 0 ).

1 3 6 Bauformen

19B Paris, Kathedrale, Baubeginn um 1163, Chor 1182 gew eiht, Langhaus 1 1 7 5 -1 1 9 6 , W estbau nach 1196 bis 1 2 2 0 /2 5 , Kapellen (obere Grundriß­ hälfte) und Vergrößerung der O bergadenfenster ab 1225, Nordquerhaus ab 1250, Südquerhaus ab 1258 (1 :8 0 0 ).

194 Bourges, Kathedrale, um 1195 begonnen, 1 214 fertig, Langhaus und Westbau bis M itte 13. Jh. (1:8 0 0 ).

Baukörper 1 3 7

1 3 8 Bauformen

Baukörper 1 3 9

199 Troyes, Kathedrale, Chor A nfang 13. Jh. bis 1241 (1:8 0 0 ). 200 Beauvais, Kathedrale, Chor 1 2 2 7 -1 2 4 5 , Obergaden und Gewölbe 1 2 5 5 -1 2 7 2 , Einsturz 1284, W iederherstellung bis 1324 (1 :8 0 0 ).

197 Reims, Kathedrale, Chor, Querhaus und Ostjoche des Langhauses 1 2 1 1 -1 2 4 1 , W estbau wohl ab 1 2 5 2 ,Türme bis 1310 (1 :8 0 0 ).

198 Amiens, Kathedrale, Langhaus 1 2 2 0 -1 2 3 0 , W estbau bis Rosengeschoß 1243, Chor und Querhaus 1 2 3 5 - 1 2 6 9 (1 :8 0 0 ).

201 Narbonne, Kathedrale, um 1 2 7 5 - 1 3 1 0 (Chorumgang), Obergaden bis 1330 (1 :8 0 0 ).

spannen zunehmen, liegen alle Bogenscheitel und die auf Kuff gemauerten Gewölbekappen durch unterschiedliche Stelzung einheitlich 2,50 m über den Kämpfern, und alle Bogenradien sind mit 2,70 m gleich, so daß die Steine für die Bogen auf dem Reißboden einheitlich angepaßt werden konnten und so das Lehrgerüst für jeden Bogen wiederver­ wendbar war. Die Stützen zum Hochchor und dessen Ober­ bau wurden zusammen mit Ouerschiff und Langhaus ab 1231 erneuert und dabei verändert (Abb. 25). Im Chor der Kathedrale von Noyon (etwa 1150/57) klingt in dem fünfgliedrigen Kapellenkranz Saint-Denis nach, je­ doch sind die tief in den Raum hineinragenden Käpellenmauern nicht zu einem zweiten Umgang durchbrochen (Abb. 185). Ebenfalls mit Saint-Denis verwandt ist der gleich­ zeitige Chor (1163 geweiht) der Abteikirche Saint-Germaindes-Près in Paris (Abb. 302), jedoch ohne zweiten Umgang und die in Saint-Denis zu beobachtende Leichtigkeit und Raumvereinheitlichung. Bei dem Neubau des Chors von Saint-Remi in Reims (Abb. 117,190, 315, 316) in den 1170er Jahren wurde die mittlere der fünf Kapellen durch Stelzung zur Hauptkapelle, und in die Öffnung der Kapellen zum Umgang wurden je zwei schlanke Säulen gestellt, um die achtteiligen Zentralgewölbe aufzunehmen. Gleichzeitig mit den Bauten in der Ile-de-France begann im Süden in den Landschaften Maine, Poitou und Anjou, die seit der Hochzeit des englischen Thronfolgers Heinrich II. mit der kurz zuvor geschiedenen französischen Königin Eleonore von Aquitanien 1152 mit dem Reich der Plantagenet im anglo-normannischen Gebiet vereint waren, eine selbständi­ ge, Spitzbogen und gebuste Gewölbe anwendende Entwick­ lung, die sich im Wiederaufbau des Langhauses der Kathe­ drale Saint-Julien in Le Mans 1135-1158 und in den dreischiffigen Hallenkirchen mit gebusten Rippengewölben der Kathedralen von Angers (1149-1153) und Poitiers zeigt.

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1 4 0 Bauformen

Poitiers wurde 1162 im Auftrag König Heinrichs II. und Eleonores von Aquitanien begonnen und bis in die 1180er Jahre ausgeführt. Gurt-, Scheid- und Schildbogen sind wie die Rippen als dünne Rundstäbe geformt und ruhen auf einer gleich­ mäßigen Folge von Rundstützen wie in Laon und Paris. Im Chor der Abteikirche Saint-Serge in Angers (Abb. 219) sind im 13. Jh. die Gewölbe mit dünnen Rippen auf äußerst schlanke Säulen gesetzt und bilden im Anschluß an das Hallenlang­ haus auf quadratischen Pfeilern mit Halbsäulenvorlagen einen lichten Raum. Die gebusten Gewölbe bleiben weiter raumbestimmend, z. B. in den sechs westlichen Jochen der Kathedrale von Poitiers, in Airvault, Candes und Aisnière. Die vorromanische Kathedrale von Laon war abgebrannt und wiederherge­ stellt, als Gautier de Mortagne 1155 Bischof wurde (1174 gestorben). Er begann in den 1160er Jahren einen Neubau, zunächst mit einem zweijochigen Chor mit Apsis und Chorumgang (Abb. 192). In den 1180er Jahren entstanden das dreischiffige Querhaus mit großen runden Lochscheibenfenstern zwischen zwei Flan­ kentürmen an jeder Ouerhausfront (Abb. 265, 389) und an den Osttürmen vortre­ tenden Apsiden und das Langhaus bis zum fünften Joch, etwa 1190 fertiggestellt (Abb. 103,113,119,180). Anschließend folgten bis 1205 der Rest des Langhauses und die westliche Doppelturmfront mit drei tiefen Vorhallen vor den gestuften Figuren-Portalen, darüber ein beherrschendes Rundfenster und von zweigeschos­ sigen Tabernakeln vor den abgeschrägten Turmecken reich gegliederte Türme (Abb. 512, 516, 517, 522-524). Laon, das heute fünf Türme besitzt, sollte sieben erhalten, und zwar jeweils zwei im Westen und auf den Ecken der Ouerhausgiebel sowie einen Vierungsturm. Für Chartres waren acht (Abb. 181) und für Reims sogar zehn Türme vorgesehen, deren Ausführung aber unterblieb, da das Engagement nach Inbenutznahme der Kirche nachließ. Der 1134 begonnene Nordwestturm von Chartres ist der älteste Spitz­ turm in Frankreich (Abb. 509); wie die Türme von Laon abgeschlossen werden soll­ ten, ist unbekannt, vielleicht ähnlich dem Südwestturm von Senlis (Abb. 505, 506).

2 0 2 - 2 0 4 Reims, Erzbischöfliche Kapelle südöstlich der Kathedrale, um 1 2 1 1 /2 0 (1 :3 0 0 ).

205 Troyes, Saint-Urbain, 1 2 6 2 -1 2 6 6 (1:800).

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Baukörper 14 3

2 1 5 -2 1 7 Saint-Germer-de-Fly, Benediktinerabtei, M arienkapelle östlich des Chors nach 1259 bis vor 1267. Südansicht, Chor und Grundriß (1 :8 0 0 ).

2 0 6 - 2 1 4 Paris, Sainte-Chapelle, königliche Pfalzkapelle, 1 2 4 1 -1 2 4 5 /4 8 , Ost-W estSchnitt, Grundriß Ober- und Untergeschoß, Querschnitt, Nordwestansicht, Oberkapelle, Unterkapelle. Farbverglasung aus der Bauzeit, Farbfassung der Bauglieder von Viollet-Ie-Duc rekonstruiert.

Paris verzichtet auf die große Zahl von Türmen und beläßt es bei zweien an der Westfront. In Reims beginnt eine Entwicklung, die in Amiens abgeschlossen ist, bei der die quadratischen Türme zu flachen, allein auf Westansicht berechnete Schaufronten reduziert werden; in Amiens werden sogar die Einzelgliederungen nicht auf die Seiten herumgeführt (siehe Kapitel V. 6.). 1205-1215 wurden Chor und Apsis der Kathedrale von Laon durch einen flach schließenden, siebenjochigen, dreischiffigen Chor in Fortsetzung der Langhaus­ gliederung ersetzt, dessen Ostwand drei mächtige Lanzettfenster unter einem großen Rundfenster mit einer Vorstufe von Maßwerk beherrschen (Abb. 387, 388, 558, 559). Wie ursprünglich Laon so verwendet auch der Chor der Kathedrale Notre-Dame in Paris 1163-1182 den runden Chor mit Umgang, jedoch doppelt, und führt damit die doppelten Seitenschiffe um den Chor herum, die durch die zunächst nicht vorspringenden Ouerschiffarme kaum unterbrochen waren (Abb. 193). Mit der relativ kleinen Prämonstratenserklosterkirche Saint-Yved in Braine, um 1195/1200 begonnen, bald nach 1204 fertiggestellt und wohl 1208 geweiht, ist ein anderer Bau geschaffen, der einigen Einfluß ausgeübt hat (Abb. 189). In den Ecken zwischen Chor und Ouerschiff sind zwei Kapellen im Winkel von 45° schräg einge­ spannt. Diese Anlage wurde in der Champagne und in Flandern sehr beliebt und strahlte u. a. nach Toul, Trier (Abb. 246), Xanten (Abb. 188), Oppenheim, Pforzheim und Ahrweiler aus. Die Baumeister der Kathedralen im französischen Kronland, der Ile-de-France, streben in der Zeit von 1140 bis 1190 zu immer stärkerer Durchgliederung, Er­ höhung und Verdünnung der Formen und zur Vereinheitlichung und Durchlich­ tung des Raumes. Mit der Beseitigung der Empore und damit Erhöhung der Seiten­ schiffe und Arkaden sowie der Gliederung von Triforium und Fensterzone beginnt nach 1190 eine größere Auflösung der Wand, bedingt durch die konsequente Nut­ zung des Strebewerks und der Einführung des vierteiligen, querrechteckigen Gewölbefeldes, Vereinheitlichung des Raumes und schließlich ab 1215 die Ein-

Baukörper 1 4 5

1 4 4 Bauformen

218 Châalis bei Fontaine/Oise, Zisterzienserabtei, Abtskapelle, M itte 13 J h .

219, 220 Angers, Saint-Serges, Anfang 13 J h .

führung des vergitternden Maßwerks (Chorkapellen der Kathedrale von Reims). Mit der Durchlichtung des Triforiums ab etwa 1230 (Saint-Denis, Troyes, Chor von Amiens, Saint-Sulpice-de-Faviéres, Chor von Beauvais und schließlich im Chor des Kölner Doms) und mit der Ausbildung des Glieder- und Bündelpfeilers beginnt die reife Gotik, die auch die klassische genannt wird. Im 12. und frühen 13. Jh. wählte man für die meisten Kathedralen den 5/10Chorschluß, zumeist in Verbindung mit dem sechsteiligen Gewölbe im Langchor: Sens, Paris, Noyon, Senlis, Cambrai, Bourges; im 13. Jh. mit vierteiligen Gewölben: Reims (Abb. 197), Nevers, Tours, Bayeux, Sées, Meaux, Troyes (Abb. 199), Soissons (Abb. 186), Rouen, Auxerre, Chablis, Saint-Quentin, Notre-Dame in Villeneuve-surYonne, Saint-Pierre in Bourges und Zisterzienserkirche Ourscamp, schließlich in Südfrankreich Narbonne (Abb. 201), Toulouse, Rodez, Bordeaux, Bayonne, Agen. Im 13. Jh. findet sich ferner der 7/12-Chorschluß: Amiens (Abb. 198), Beauvais (Abb. 200), Coutances, Köln (Abb. 195), Clermont-Ferrand, Limoges sowie die Abteikir­ chen von Longpont, Royaumont (Abb. 229), Valmagne, Poissy und Altenberg (Abb. 234). Der 5/10-Schluß hat gegenüber dem 7/12-Schluß den Vorteil einer beträchtli­ chen Raumvergrößerung der Einzelkapellen. Auf der Stilstufe des Chors der Kathedrale von Amiens und in enger Anlehnung an die dortige Chorscheitelkapelle hat um 1238 vermutlich der Werkmeister Pierre de Montreuil die Sainte-Chapelle im königlichen Schloß Saint-Germain-en-Laye unweit von Paris erbaut, wohin sich die französischen Könige häufig zurückzogen (Abb. 173, 373, 374). Das Maßwerk der Fenster und der westlichen Blendrose entsprechen der Maßwerkentwicklung in der Ile-de-France, das zweischalige Mauersystem erinnert an Bildungen in Burgund und in der Champagne. Wenig später ließ König Ludwig IX., der Heilige, für seine Reliquiensammlung, insbesondere für die 1239 vom oströmi­ schen Kaiser Baudouin II. erworbene Dornenkrone Christi und für den 1240 von den Templern im Heiligen Land gekauf­ ten Splitter des Wahren Kreuzes, in seinem Palast auf der Seine-Insel in Paris einen „Schrein“, einen zweigeschossigen Bau in der Tradition von Pfalzkapellen erbauen. Die 1241 begonnene und 1245 im Rohbau fertiggestellte Sainte-Chapelle wurde im April 1248 geweiht (Abb. 24, 206-214). Über einer hallenartigen, niedrigen, vom Hof aus betretbaren Unterkirche liegt ein hoher, vom Palast zugänglicher Saal­ raum mit feingliedriger Wandgestaltung und schlanken, zweibahnigen Maßwerkfenstern mit gestapelten Dreipässen über den Lanzetten, die in leuchtenden Farben in 1134 Sze­ nen Geschichten des Alten und Neuen Testaments sowie aus dem Leben der Heiligen darstellen. Über einem reich in Arka­ den gegliederten Sockel, mit Vergoldung und inkrustierten Glas-, Spiegel- und Emailplatten reich verziert, stehen erhöht auf Konsolen und unter Baldachinen überlebensgroße Figu­ ren vor den in Dienstbündel aufgelösten Pfeilern, zum ersten Mal in der französischen Architektur im Innenraum. Der gesamte Innenraum ist ornamental farbig bemalt (restau­ riert, Abb. 629,630) und ist durchflutet vom farbigen Licht der Fenster. Es entsteht der Eindruck eines kostbaren Reliquien­ schreins, beherrscht im Osten von dem auf eine Bühne gestellten, mächtigen, steinernen Baldachin bzw. Tabernakel

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(Abb. 213). Dieser Einbau wurde für die Aufstellung der Reliquien 1255 nachträglich eingebaut und ist über eine filigranhaft-durchsichtige Treppenspindel zugänglich. Mit der Sainte-Chapelle ist der Höhepunkt in der Entwicklung der Hochgotik in der Ile-de-France erreicht, seine technisch höchst sinnreiche Konstruktion mit mehre­ ren eisernen Ringankern, die durch die Strebepfeiler und Fenster geführt sind, zugleich als Ersatz für die Windeisen als Versteifung der Bleiverglasung dienend. Zusammen mit den tiefen Strebepfeilern halten sie die grazile Architektur im Gleichgewicht. Auch dieser Bau hat Beziehungen zur Chorscheitelkapelle von Ami­ ens, so daß die Überlieferung aus dem 18. Jh. zutreffen kann, daß Pierre de Mon­ treuil der Werkmeister dieses Glasschreins war. Von ihm stammen neben dem Umbau von Saint-Denis (1247 dort bezeugt) die Marienkapelle und das Refektorium von Saint-Germain-des-Près in Paris (nicht erhalten), vielleicht die Schloßkapelle von Saint-Germain-en-Laye (um 1238) und die südliche Querhausfront der Pariser Kathedrale, deren Ausführung er nach dem Tode von Jean de Chelles bald nach 1258 übernommen hat. Pierre de Montreuil starb am 17. März 1267. Er scheint der bedeutendste und meistbeschäftigte hochgotische Werkmeister gewesen zu sein. Der erzbischöfliche Palast in Reims besitzt ebenfalls einen zweigeschossigen Kapellenbau (oben St.-Nicolas, unten St.-Jacques), dessen Untergeschoß niedrig, dunkel, ungegliedert und nur von queroblongen Kreuzrippengewölben gedeckt ist, während in der Oberkapelle die teilweise nach innen gezogenen und mit Durch­ 221 Noyon, Kathedrale, Kapitelsaal nach 1230. gängen versehenen Strebepfeiler hohe Nischen mit langen, schmalen Lanzettfenstern bilden, die, obwohl gleichzeitig 1215/20 mit dem Chor der Kathedrale errichtet, kein Maßwerk verwenden (Abb. 202-204). Die Kapelle von Saint-Germain-en-Laye und die SainteChapelle waren Vorbild für die östlich vor dem Chor der Benediktinerabteikirche Saint-Germer-de-Fly bei Beauvais nach 1259 gebaute und vor 1267 von Guillaume de Grez, Bischof von Beauvais (gest. 21.2.1267), geweihte Marienka­ pelle, die ebenfalls die Handschrift oder zumindest den unmittelbaren Einfluß von Pierre de Montreuil erkennen läßt (Abb. 215-217, 578, 579). Die in der Ile-de-France entwickelten frühgotischen For­ men hat Wilhelm von Sens nach England übertragen, wo nach einer Brandzerstörung 1174 die Kathedrale von Canterbury unter seiner Leitung neu gebaut wurde, indem er für einen traditionellen normannischen Grundriß einen goti­ schen Wandaufriß wählte (Abb. 223, 277). In der Kathedrale von Salisbury, 1220 begonnen und 1266 vollendet, verbindet sich eine klare Symmetrie des Grundrisses mit gradlinigem, eckig ausladendem Umriß (Abb. 11,226). Das weitausladen­ de zweischiffige Querhaus trennt das langgestreckte dreischiffige Gebäude in der Mitte, der zehnjochige Chor ist noch einmal mittig von einem kleineren zweischiffigen Querhaus geteilt. Diese Staffelung durchzieht den Grundriß wie den Aufriß. Auch die Kathedralen von Lincoln (Abb. 224) und Wells (Abb. 225) zeigen diesen typisch englischen, schon in der Kathedrale von Canterbury gewählten Grundriß, nur nicht in der einmaligen Ausgewogenheit von Salisbury. In der Gotik wird eine typische englische Bauform, das Kapitelhaus, Chapter House, für die Versammlungen der Kapitelmitglieder, zur Höchstform entwickelt. Die ursprüng- 222 Salisbury, Kathedrale, Chapter House um 1280.

Baukörper 1 4 7

223 Canterbury, Kathedrale, Ostteile 1 1 7 5 -1 1 8 4 , W estteile ab 1369 (1 :8 0 0 ).

224 Lincoln, Kathedrale, 1 1 9 2 -1 2 5 0 , Engelschor 1 2 5 6 -1 2 8 0 /1 3 0 0 (1 :8 0 0 ).

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226 Salisbury, Kathedrale, 1 2 2 0 - 1 2 6 6 (1:8 0 0 ).

Baukörper 1 4 9

228 York, Kathedrale, 1 2 3 4 -1 3 3 8 (1 :8 0 0 ).

1 5 0 Bauformen

lieh runden Zentralbauten (z. B. Worcester um 1125) werden über polygonalem Grundriß mit maßwerkgegliederten Glaswänden errichtet. Die einzelnen Kapitelhäuser überbieten sich in ihrem Streben nach Durchlichtung. Die frühe­ sten Beispiele finden sich in Lincoln (Abb. 472), 1235 vollendet, und in Here­ ford, beide ausnahmsweise zehneckig; es folgen die achteckigen von Westmin­ ster Abbey, 1253 vollendet (Strebepfei­ ler 1377) mit vierbahnigen Maßwerk­ fenstern mit gerahmten und ungerahmten Paßfiguren (vgl. Amiens, Saint-Denis, Sainte-Chapelle), Salisbury um 1280 (Abb. 222), York 1290, Southwell 1294 im Bau und Wells 1306 voll­ endet (Abb. 225), jeweils über einer Mit­ telstütze palmförmig ausstrahlend rippengewölbt, nur York (Abb. 228) und Southwell sind frei überspannt, in Southwell bei 18 m Durchmesser aus Holz. Die burgundische Zisterzienserar­ chitektur orientierte sich an der älteren burgundischen Bautradition und ver­ band sie mit Elementen der Kathedralarchitektur, besonders von Sens und Langres. Diese Rezeptionen führten unter dem Schlichtheitsgebot zur eigenständigen burgundischen Zisterziensergo­ tik, die dann durch die zentral straff organisierte Struktur des Ordens schnell auf Spanien, Italien, England, Deutschland und nach 1200 bis weit nach Osten (Polen, Böhmen-Mähren) und von dortigen Zisterziensterklöstern auch auf andere Bauten ausstrahlte, zugleich aber auch Einflüsse örtlicher Bautraditionen aufnahm. In dem nach Bernhards Tod 1153 begonnenen Neubau von Clairvaux war im Mittel­ schiff das Kreuzrippengewölbe statt der bisher verbreiteten Spitztonne eingeführt worden, gleichzeitig im Langhaus der Klosterkirche von Pontigny ab 1160, hier auch in den Seitenschiffen Kreuzrippen- statt Kreuzgratgewölbe. Der Wandaufriß bleibt flächig und ohne Emporen oder Triforium. Um 1185 übernahmen Pontigny und 1228 Royaumont den Chorumgang mit Kapellenkranz von den Kathedralen (Abb. 229). Als Citeaux um 1190 einen neuen Chor erhielt, war dieser gerade ge­ schlossen mit rechteckigem Umgang und Kapellen, eine in der Folge von den Zis­ terziensern bevorzugte Chorlösung, wie sie auch Villard de Honnecourt als typi­ schen Grundriß einer Zisterzienserkirche gezeichnet hat (Abb. 77). Die monastische Architektur der Zisterzienser bereitete mit ihrer asketischen Baugesinnung im 13. Jh. gewissen Stiltendenzen der deutschen Gotik den Weg (Altenberg, Arnsburg, Ebrach, Heiligenkreuz, Lilienfeld, Marienstadt, Walkenried). Die Zisterzienserklosterkirche Lilienfeld in Niederösterreich wurde von dem Babenberger Leopold VI. seit 1202 gefördert und zu seiner Grablege gewählt (Abb. 237); der Chor, dessen Umgangskapellen 1217 fertig waren, ist innen polygonal geschlossen (1230 geweiht), Kapellen und Umgang sind eine zweischiffige Halle; Achteckpfeiler mit hohen Sockeln und schlanken Kapitellen tragen die schweren

Baukörper 1 5 1

229 Royaumont, Zisterzienserkloster, 1228 gegründet, Kirche 1235 gew eiht (1 :1 0 0 0 ).

Baukörper 1 5 3

1 5 2 Bauformen



Wulstrippen. Die Zisterzienserklosterkirche Altenberg (1259 begonnen, 1276 Chorweihe; Abb. 234) östlich von Köln, Grab­ lege der Grafen von Berg, orientiert sich an der Kathedrale von Amiens und an der Zisterzienserkirche Royaumont (1228 von Cfteaux gegründet, Kirche 1235 geweiht, Grablege für Mitglieder der französischen Königsfamilie), jedoch im De­ tail bescheidener und von der Kölner Dombauhütte beein­ flußt; das Strebewerk ist glatt und schmucklos; bis auf die Vierungspfeiler sind alle Stützen ungegliederte Rundpfeiler mit vielfach variierten Blattkapitellen im Chor; die weiten Fenster sind mit reichem Maßwerk ausgestellt. Die einfache Raum- und Wandstruktur betrifft besonders die Kirchen der Bettelorden mit ihrer Tendenz, reiche Vorlagen, diaphane Struktur und z. T. das Gewölbe abzulehnen (Dominikanerkir­ che in Regensburg um 1245- 1270, Erfurt 13./14. Jh.). Statt der Basilika wurde die Hallenkirche bevorzugt. Mit den Bettelorden (Dominikaner, Franziskaner u. a.) entwickelte sich im 13. Jh. eine neue Form des Ordenslebens, die sich hinsicht­ lich ihrer Funktion und Organisation deutlich von den älteren Mönchsorden abhob. Auf der Grundlage eines urchristlichen Armuts- und Askese-Ideals, das die Gemeinschaften weitgehend bestimmte, sahen die Orden ihre Aufgabe in einer die bestehende Pfarrorganisation in den Städten übergreifenden Seelsor­ ge, in deren Mittelpunkt die Predigt und das Bußsakrament standen. Durch die rasche Aus­ breitung der Orden wurden seit der Mitte des 13. Jh.s ihre Kirchen zu einem das Stadtbild prägen­ den Element. Ihre schmucklose, schlichte Archi­ tektur wird bestimmt von polygonal geschlosse­ nen Langchören und großen dreischiffigen, zumeist flachgedeckten basilikalen Langhäusern. Der Chor der Dominikanerkirche in Regensburg (vor 1246- etwa 1270; Abb. 242) und der verhält­ nismäßig kurze Chor der Minoritenkirche in Köln (nach 1245-1260; Abb. 239, 243) sind Beispiele für die neue Entwicklung, die sich in glatten Wänden mit einfach geglie­ derten Arkaden und in die Wand eingeschnittenen Fenstern äußert. Auf die deutschen Dom- und Stiftskirchen haben anfänglich vorrangig Saint-Yved in Braine mit den zwi­ schen Chor und Querhaus diagonal gestellten Kapel­ lenpaaren (Trier, Xanten, Oppenheim, Pforzheim, Ahr­ weiler), Laon mit seinem viergeschossigen Wandaufriß, seinem reichen Dienstsystem und der Turmbildung (Bamberg, Naumburg, Limburg) und Reims und Amiens mit ihrem Maßwerk (Marburg, Trier) eingewirkt. Die Summe französischer Bauentwicklungen wurde mit dem Kölner Dom ab 1248 (Vorbilder: Amiens, aber auch Beauvais, Paris und Saint-Denis) und mit dem Straßburger

233 M arienstatt im W esterwald, Zisterzienserkloster, Kirche 1 2 4 3 -1 3 2 2 (1 :8 0 0 ).

234 Altenberg bei Köln, Zisterzienserkloster, Kirche 1 2 5 5 -1 3 7 9 (1:8 0 0 ).

239 Köln, M inoritenkirche St. M ariä Empfängnis, Chor 1 2 4 5 -1 2 6 0 , Langhaus bis um 1350 (1 :8 0 0 ).

242 < Regensburg, Dominikanerkirche, Chor 1 2 4 8 -1 2 6 0 /7 0 , Langhaus 1271 bis um 1300 (1 :8 0 0 ).

235 Doberan, Zisterzienserkloster, Kirche 1 2 9 5 -1 3 6 8 (1 :8 0 0 ).

236

Chorin, Zisterzienserkloster, Kirche

1273-1334 (1:800).

243 Köln, M inoritenkirche, dreischiffiges Langhaus und Chor 1245 bis um 1350.

1 5 4 Bauformen

Baukörper 1 5 5

2 4 7 -2 4 9 M arburg, Elisabethkirche, Grundriß (1 :8 0 0 ), Ostansicht, Querschnitt und W andaufriß (1 :3 0 0 ),1 2 3 6 -1 2 8 6 .

I

Münster (Saint-Denis) unmittelbar rezipiert, aber auch weiterentwickelt (Bündel­ pfeiler), so daß hier „französische“ Kathedralen auf deutschem Boden entstanden, die aber selbst nur geringe Nachfolge fanden. Vielmehr machte sich das Bestreben geltend, die Wand durch einfachen Aufriß mehr zu schließen und zum zweige­ schossigen Wandaufriß zurückzukehren. Der in Paris ausgebildete Magdeburger Erzbischof Albrecht begann 1209 den Neubau, dessen Chor mit Umgang und Kapellenkranz ganz den französischen Kathedralen folgt, im Aufbau jedoch im spätromanischen Formgefühl verbleibt. Bei der Marienkirche in Gelnhausen, bis 1235/40 erbaut, war der lothringische Kunstraum, besonders Notre-Dame in Dijon, prägend.

Baukörper 1 5 7

1 5 6 Bauformen

252 Regensburg, Dom, 1273 bis um 1370 (1 :8 0 0 ).

253 Lübeck, Marienkirche, 1 2 6 1 /6 3 - 1 3 3 0 (1 :8 0 0 ).

’■

Erst mit der Elisabethkirche in Marburg (1236-1283) und der Liebfrauenkirche in Trier (1235-1253/65) kamen Kir­ chenbauten auf, die - von Kirchen der Champagne abhängig (Reims, Toul) - nicht nur einzelne gotische Formen, wie Maßwerk und Pfeiler, sondern auch in Grundriß und Raum­ bildung Erinnerungen an französische gotische Bauten auf­ weisen, wenn auch in Marburg statt der Basilika die Hallen­ kirche gewählt wurde. Trier ist ein Zentralbau, kreuzförmig basilikal mit diagonalgestellten Kapellen nach dem Vorbild von Braine, dessen Chorgrundriß zum Zentralbau ergänzt wurde (in der Tradition der Marienkapellen); es entstand ein Zentralbau mit niedrigeren Kapellenpaaren zwischen den Kreuzarmen und mit zweigeschossigem Aufriß (Abb. 244 bis 246). Rundpfeiler mit Diensten (Gliederpfeiler ähnlich Bourges) tragen die Vierungsbogen. Auf offenes Strebewerk wurde verzichtet, ebenso bei der Elisabethkirche in Marburg, in der man die Reimser Chorkapellen-Maßwerkfenster in zwei Geschossen übereinander angeordnet hat. In Marburg wählte der Deutsche Ritterorden als Bauherr den polygona­ len Dreikonchenchor, der das Grab der 1235 heiliggespro­ chenen Landgräfin Elisabeth von Thüringen aufnahm und den Landgrafen als Grablege diente (Abb. 247-249). Der Marburger Bau hat reiche Nachfolge gefunden: als Beispiele seien die Minoritenkirche in Köln (nach 1245-1260) und das Hallenlanghaus des Mindener Domes mit den überaus viel­ gestaltigen, mehrbahnigen Maßwerkfenstern (nach 12671290; Abb. 448) genannt. Am Dom von Verden an der Aller entstand zwischen 1273 und 1313 der erste gotische Hallenumgangschor, 1288 war der 1295 geweihte, steile und lichte Hallenchor der Zisterzienserklosterkirche Heiligenkreuz im Bau. „Bis gegen Ende des 13. Jh.s tat die deutsche Gotik einen großen Schritt aus dem Schatten der französischen heraus. Die Bedeutung Kölns und Straßburgs als große, auch überregional wirkende Haupthütten im Reich, die völlig singuläre Erfindung des Freiburger Münsterturms, die neuen Raumtypen der deutschen Hallenkirchen und der Bettelorden, und nicht zuletzt die aus besonderen Materialbedingungen hervorgegangenen Formen des Backsteinbaus zeigen, daß sich eine über lange Zeit enge und fruchtbare Bindung allmählich lockerte, ohne ganz zu reißen. Es bahnte sich eine Pluralisierung der gotischen Stilgrundlagen an, die in den Nachbarlän­ dern des Reiches ebenfalls zu beobachten ist“ (Nußbaum, 1994, S. 116). In Norddeutschland, an der baltischen Küste, in den Niederlanden, in Flandern, Bayern und Schlesien fehlt brauchbarer Haustein; seit der Mitte des 12. Jh.s wird hier deshalb mit Backsteinen gebaut, die das Erscheinungsbild der Kirchen bestim­ men: einfache, nur durch das Muster des Steinverbands und durch braun, grün oder schwarz glasierte Steine belebte oder teilverputzte Oberflächen. Die teuren Formsteine für Profile, Pfeiler, Friese und Konsolen beschränken die Variations­ möglichkeit im Gegensatz zum Steinmetzgliederbau in Werkstein. Selten wurde Sandstein oder Stuck für Bauornamente und Kapitelle eingesetzt. So bewahrt der Backsteinbau ruhige, glatte Oberflächen und blockhafte Konturen. Einer der älte­ sten gotischen Backsteinbauten ist das Zisterzienserkloster Chorin (Abb. 236), Grablege einer Seitenlinie des askanischen Hauses, nach 1273 begonnen, ein dem Halbrund angenäherter 7/12-Polygonchor mit Chorjoch und Querhaus, an dessen Ostmauern rechteckige Kapellen anschließen, angeregt von dem 1251 begonne-

250 Oppenheim , Katharinenkirche, Blick in das südliche Seitenschiff, 1 3 1 7 -1 3 3 2 /3 3 .

251 Lübeck, Dom, Chor, 1 2 6 6 -1 3 3 5 (1 :8 0 0 ).

nen Hausteinchor der Zisterzienserklosterkirche Schulpforta in Thüringen. Her­ vorzuheben ist die beherrschende Westfassade (siehe Kapitel V.6.). Großen Einfluß bekam das gegen Ende des 13. Jh.s errichtete neunjochige Hallenlanghaus der Marienkirche in Neubrandenburg; die querrechteckigen Mittelschiffjoche sind durch breite Scheidarkaden von den fast quadratischen Seitenschiffjochen getrennt, verwandt mit dem Hallenchor von Verden. Der neue Chor des Lübecker Doms wurde um 1266 begonnen (Abb. 251); Umgang und Kapellenkranz sind letztlich aus Nordfrankreich (Soissons, Ouimper) und Gent abzuleiten. Die reiche Bürgerschaft folgte beim Neubau ihrer Pfarrkirche St. Marien um 1280 dem Domchor (Abb. 253). 1304 wurden die beiden mächtigen Westtürme begonnen, 1320/30 das basilikale Langhaus. Für die zweigeschossige Innengliederung des Chors dienten jüngste Entwicklungen in Frankreich als Vorbild (Le Mans, Coutances). Im Langhaus verwendete man eine neue Pfeilerform: einem quadrati­ schen Kern sind dünne Eckstäbe angefügt, die auch die Bogen der Arkaden beglei­ ten. Sehr dünne, den Pfeilern und Obergadenmauern aufgelegte Dienstbündel tragen die wie Linien wirkenden Rippen der Gewölbe.

* 1 5 8 Bauformen

In n e n w a n d g lie d e ru n g 1 5 9

V.2. Innenwandgliederung

25 4 Pelplin, Zisterzienserkloster, Kirche 1265 bis um 1300 (1 :8 0 0 ).

Als Tochtergründung von Doberan (Abb. 235) wurde nach 1276 die Zisterzien­ serklosterkirche von Pelplin begonnen und wohl noch im 13. Jh. mit dem frühe­ sten Sterngewölbe auf dem Festland überdeckt (Abb. 254). „Die längsrechteckigen Joche des nördlichen Seitenschiffs durchzieht ein gerader Rippenzug im Scheitel des Gewölbes. Ihn durchkreuzen Gurtrippen und von Jochecke zu Jochecke gespannte Diagonalrippen, die als Grundgerüst der Rippenfiguren eine Folge von Kreuzgewölben bilden. In die Ouerkappen der Kreuzgewölbe sind Rippendrei­ strahle eingefügt, deren längere Schenkel von den Jochecken aufsteigen, während die kurzen die Gabelpunkte der Dreistrahle mit den Schlußsteinen der Jochmitten verbinden. In den Längskappen führen zwei Flechtrippenpaare von den Pfeilern zur durchlaufenden Scheitelrippe hinauf. Dreistrahle mit Flechtrippen formen vierzackige Rautensterne, deren Rauten von den Diagonalrippen halbiert werden. Zu seiten der Gurte verbleibt je ein Flechtrippenpaar außerhalb der Sternfiguren. Diese Gewölbe gleichen jenen im Mittelschiff der Kathedrale von Lincoln (1233, Abb. 472), wo allerdings das zweite Flechtrippenpaar fehlt. Sie passen vorzüglich in die Entwicklung der englischen Gewölbe im „Decorated Style“ (um 1250 bis um 1350), in denen sich die Anzahl der Flechtrippen Zusehens steigert. Sehr genau entspricht die Pelpliner Figur dem Seitenschiffgewölbe vor dem südlichen Ouerhausturm der Kathedrale von Exeter (um 1270 beg.). Auch die Jochgrundrisse stim­ men fast überein. Im Südseitenschiff des Pelpliner Chores fehlt die Scheitelrippe. An den sechszackigen Rautensternen des wohl etwas später gewölbten Mittel­ schiffs ist sie zwar beibehalten, nicht aber die Flechtrippe der Seitenschiffe. Die großen Sternfiguren sind ganz aus Dreistrahlen aufgebaut, die die Kappen zwi­ schen Gurt-, Diagonal- und Scheitelrippen dritteln. Dies ist für die Sternformen über den Schiffen der englischen Kathedralen völlig untypisch, aber um so charak­ teristischer für die spätere Gewölbeentwicklung in der Architektur des Deutschor­ densstaates“ (Nußbaum, 1994, S. 113f.). Eine unübersehbare Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Bauformen, deren Verfügbarkeit und ein hoher technisch-konstruktiver Standard hat zu dem streng organisierten Gliederapparat des Style Rayonnant in Frankreich und den späteren hochgotischen Bauten in Deutschland und England geführt. Auch das Bauornament erreicht einen hohen Abstraktionsstand. In der 1. Hälfte des 14. Jh.s werden die Bauten davon bestimmt. Ein Wandel tritt um die Mitte des 14. Jh.s gleichzeitig in Frankreich (flamboyant), England (perpendicular) und Deutschland (Spätgotik, Parier) ein.

256 Bible moralisée aus Paris, 14. Jh. (Paris, Bibi. Nat., Ms. fr. 107,fol. 1 8 . - Bi 457).

257 Laon, Kathedrale, 1 1 7 8 /7 9 -1 2 1 5 .

-M-M-H t

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255 Salem, Zisterzienserkloster, Kirche 1 2 9 9 -1 3 1 9 (1?800).

Auf die liturgische Mitte der Kirche ausgerichtet bestimmt in erster Linie die Wandgliederung von Binnenchor und Mittelschiff die Raumwirkung der Kathe­ drale. Die Grundform der gotischen Kathedrale ist die seit der Spätantike für die christliche Kirche allgemein gewählte dreischiffige, seltener fünfschiffige Basilika, bei der das Mittelschiff über die Seitenschiffdächer erhoben ist, um im oberen Teil (Obergaden) durch Fenster eine eigene Belichtung zu erreichen. Die konstruktive Bedeutung der Gewölbe über den Seitenschiffemporen als ein den Gewölbeschub des Mittelschiffs abstützendes Element veranlaßt im 12. Jh. die Baumeister im Kerngebiet der gotischen Baukunst (Ile-de-France, Champagne, Picardie), die Empore über den Seitenschiffen und im Chor sowie im dreischiffigen Querhaus als wichtiges Konstruktionselement anzuwenden. Dieser dreigeschossige Wandaufriß (Arkade, Empore, Obergaden) wird nach der Mitte des 12. Jh.s durch die Ein­ führung des Triforiums als ein in Arkaden geöffneter Laufgang in der Mauerdicke zwischen Empore und Fensterzone - wahrscheinlich nach anglo-normannischen Vorbildern - zu dem für die Frühgotik charakteristischen viergeschossigen Wandaufriß gewandelt (Abb. 257, 259), wie ihn die Kathedralen von Noyon um 1150-1170, Laon nach 1160, Paris ab 1163, Saint-Remi in Reims 1170/80 und Notre-Dame-en-Vaux in Châlons-sur-Marne um 1150-1183 aufweisen. Zudem werden die Gewölberippen auf Dienstbündeln abgefangen, die in Châlons-surMarne, Laon, Paris und Saint-Remi in Reims nur bis auf die Kämpfer der gemauer­ ten und mit Kapitell versehenen Rundpfeiler geführt werden; der ganze Oberbau scheint dadurch vom Boden gelöst. Mit dem Bau der Kathedrale von Chartres 1194-1220 wird die Empore aufgegeben, und es entsteht der klassische gotische, dreigeschossige Wandaufbau mit Arkade, Triforium und Fensterzone (Abb. 330), wie er dann von Reims und Ami­ ens fortgeführt wird. In Chartres wird auch das zwei Joche zusammenfassende sechsteilige Rippengewölbe durch das vierteilige Rippengewölbe über jedem queroblongen Joch ersetzt. Die von einer Rippe gerahmte Schildwand wird durch zwei eng zusammengerückte Lanzettfenster unter großem Kreis mit Achtpaß (Plattenmaßwerk) weitgehend aufgelöst. Zusammen mit dem Reihentriforium und den vor den wech­ selnd runden und achteckigen Stützen auf den Boden geführten Diensten entsteht eine gleichgestaltete Folge zwi­ schen die Dienste gespannter, durchbrochener Wandfelder. Es ist die erste Stufe zu der mit der Einführung des Maßwerk­ fensters in Reims (1211-1233) vollzogenen, geometrisch­ linear strukturierten Vergitterung, der Auflösung der Wand, letztlich ermöglicht durch die konsequente Einführung des Strebewerks in Chartres. Hans Jantzen (1962, S. 21f.) hat die in Reims ausgebildete Wandgliederung als „diaphane Struktur“ bezeichnet: „ein Reliefgitter mit hinterlegtem Raumgrund von verschiedener Tiefenschichtung und optisch unterschiedlichem Charakter je nach der Stellung der Geschosse.... Die Wand als Begren­ zung des gesamten Langhausinnern ist nicht ohne den Raumgrund auffaßbar und erhält durch ihn ihren Wirkungs­ wert. Der Raumgrund selbst zeigt sich als optische Zone, die der Wand gleichsam hinterlegt ist.“ „Es handelt sich um eine

In n e n w a n d g lie d e ru n g 1 6 1

1 6 0 Bauformen

258 Sens, erzbischöfliche Kathedrale, 1 1 4 0 -1 1 6 8 , Fenster nach 1268.

259 Châlons-sur-M arne, Stifts- und W allfahrtskirche N otre-D am e-enVaux, Langhaus 1183 gew eiht, Chor bis 1217.

optische Relation zwischen der körperplastisch geformten Wand zu den dahinter­ liegenden Raumteilen.... Die Wand wird in ihrer gesamten Ausdehnung in Breite und Höhe von Raumgrund unterlegt, entweder als optischer Dunkelgrund oder als farbiger Lichtgrund derart, daß das Mittelschiff der gotischen Kathedrale wie von einer Raumhülle ummantelt erscheint“ (Jantzen, 1957, S. 73). Diese Auffassung, daß das Mittelschiff von einer Raumschale umgeben ist, ist eine grundlegende Beobachtung, die in der liturgischen Nutzung der Kathedrale ihre Erklärung fin­ det. Der Hochchor, d. h. der von Chorumgang und Kapellenkranz räumlich umfan­ gene und basilikal überhöhte Raum mit dem Altar und dem Chorgestühl, setzt sich über die gleichhohe Vierung in das Mittelschiff fort, von dem, wie für die Kathe­ drale von Reims überliefert, noch vier Joche zum Chor gehörten. Die Mitte der Kir­ che, d. h. die West-Ost-Achse, ist der liturgisch herausgehobene Aktionsraum mit Hauptaltar und Kreuzaltar sowie dem Prozessionsweg, der seine festliche Über­ höhung in dem Weg vom Westportal durch das Mittelschiff zum Altar findet. Die Seitenschiffe sind ebenso wie die Seitenschiffe im Querhaus und der Chorumgang räumliche und liturgisch genutzte Umgrenzungen des Hauptraums (Mittelschiff und Chor). Das durchlichtete Chorhaupt und die beherrschenden Fensterrosen in den Querhausfronten und in der Westwand bringen für die Hauptachse die bestimmende Begrenzung, und zwar sowohl räumlich als auch geistig in den figürlich gestalteten Farbfenstern als Lichtquelle.

Gedichte sind gem alte Fensterscheiben! Sieht man vom M arkt in die Kirche hinein, Da ist alles dunkel und düster; Und so siehts auch der Herr Philister: Der m ag denn wohl verdrießlich sein Und lebenslang verdrießlich bleiben. Kom m t aber nur einm al herein, Begrüßt die heilige Kapelle! Da ists a u f einm al farbig helle, Geschieht und Zierat glänzt in Schnelle, Bedeutend w irkt ein edler Schein; Dies wird euch Kindern Gottes taugen, Erbaut euch und ergetzt die Augen! Johann W olfgang v. Goethe

Die heute gewohnte und immer wieder gepriesene Weiträumigkeit und Übersichtlichkeit einer gotischen Ka­ thedrale ist nicht die ursprüngliche, historische Raumwirkung, denn der einheitlich erscheinende Raum war im Sichtbereich der Kirchenbenutzer spä­ testens seit dem 13. Jh. durch einen Lettner und durch Chorschranken ver­ stellt, die den Hochchor vom Chorum­ gang und Kirchenschiff abtrennten (Abb. 260). Der Lettner stand entweder unter dem Triumphbogen, also am Choransatz, unter dem westlichen Vie­ rungsbogen oder auch sogar im ersten bis vierten Mittelschiffjoch. So war für die Kanoniker in Kathedralen oder Stiftskirchen, für die Mönche in Klo­ sterkirchen, aber auch im Verlaufe des Mittelalters zunehmend für Priester­ kollegien in Pfarrkirchen ein abgeson­ derter Raum für das mehrfach am Tage übliche Chorgebet oder für Messen ge­ schaffen, ungestört von Kirchenbesu­ chern, wie Pilgern, oder Privatmessen in den Kapellen am Chorumgang, im Querhaus oder an den Seitenschiffen. Der Lettner, 1261 schon in einer Straß­ burger Quelle als „lettener“ bezeichnet, abzuleiten von lectionarium, also ein Leseplatz, war eine erhöhte Bühne, vor der der Kreuzaltar als Altar für den Laiengottesdienst stand. Der Lettner, als Hallenlettner oder Schrankenlettner ausgebildet, war reich gegliedert und häufig mit Reliefs geschmückt und bestimmte als Abschluß die Laienkir­ che, das Langhaus. Die Lettnerbühne diente dem Verlesen von Epistel und Evangelium an Festtagen, der Reli­ quienweisung, der Ablaßverkündung oder für Proklamationen. An der Innen­ seite der Chorschranken stand das in zwei oder drei Reihen gestufte Chorge­ stühl mit seiner hohen, zumeist hölzer­ nen, aber auch steinernen (Naumburg) Rückwand (Dorsalien). Vorrangig in Nordfrankreich (Franci­ en) vollzieht sich die Entwicklung im Aufriß der basilikalen Mittelschiff- und Chorwand. Hier werden in der zweiten Hälfte des 12. Jh.s Versuche unternom-

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1 6 2 Bauformen

men, ein Gliedergerüst vor eine immer mehr aufgelöste Wand zu stellen. Es zeigt sich ein strukturelles Bemühen um ein optisches Liniengerüst vor differenziertem Raumgrund. Das wird besonders deutlich in der Nord- und Südkonche der Kathe­ drale von Noyon, die in den 1160er Jahren nacheinander errichtet wurden (1914/18 restauriert). In der Nordkonche (Abb. 262) steht vor der Wand ein Gerüst aus schlanken Diensten und Rippen. Die Wandfelder sind in vier Geschosse geteilt: ein mit Spitzbogenblenden besetztes Untergeschoß, ein dreiteiliges Reihentriforium, ein zweites sehr hohes Triforium mit spitzbogig Überfangenen Doppelarka­ den und hoch ins Gewölbe gerückten, doppelten, stabförmig getrennten Lanzett­ fenstern, die an die Rippen ohne Wandrest anschließen. Die obere Zone ist voll durchlichtet und nimmt die Durchlichtung der Emporen auf. Es entsteht eine nach oben zunehmende optische Auflösung der Wand, unterbrochen von den Diensten, über die die geschoßtrennenden Gesimse verkröpft sind, so daß raumbildende Wandfolie und Gliedersystem verbunden sind und sich horizontale und vertikale Systeme zusammenfügen, ausgleichen und schließlich in die schmalen, radial auf­ einander zustrebenden Rippen übergehen, über die segelförmig die Gewölbekap­ pen aufgebläht sind. In der wenig später entstandenen Südkonche (Abb. 179, 261) wird das Untergeschoß über Blendarkaden durchfenstert, so daß nur noch das Tri­ forium eine Dunkelzone bildet. Das Langhaus (Abb. 261, 263) nimmt nach 1170 die Gliederung des bis 1157 errichteten Chors (Abb. 261) auf, jedoch statt des Blendtriforiums das Reihentriforium der Ouerhauskonchen, und zwar nun an der traditio­ nellen Stelle unter den Fenstern, die in ihrer Ausformung den Fenstern der Konchen folgen. Das sechsteilige Rippengewölbe wird durch Dienste abgefangen, die auf den gemauerten, runden Zwischenpfeilern mit Kapitellen enden, während sie an den gurtbogentragenden Pfeilern bis auf den Boden geführt sind. Die hier ver­ wendeten Bauglieder entstammen dem Vokabular der Romanik. Auch die Zweischaligkeit der Wand findet sich schon in Apsisgliederungen der Kirchen SaintNicolas (1083-1093) und Saint-Trinité (um 1100) in Caen, in Cérisy-la-Forêt in der Normandie oder in englischen Bauten wie der Kathedrale von Peterborough (1118-1140). Neu sind die Zusammenstellung, die strukturelle Gestaltung und der Einsatz des Lichts.

261 Noyon, Kathedrale, M iteischiff 1 1 7 0 -1 2 0 0 , Querhaus 1 1 6 0 /7 0 und Chor nach 1131 (1:300).

262 Noyon, Kathedrale, nördliches Querhaus, 1 1 6 0 /7 0 .

In den 1180er Jahren werden Ouer- und Langhaus der Kathedrale von Laon errichtet (Abb. 113, 314): Arkaden auf gemauerten, gedrungenen Rundpfeilern mit Kapitellen, tiefe, mit hohen Doppelarkaden unter Überfangbogen geöffnete Empo­ ren, Reihentriforium und einfache große Fenster in säulengerahmten Rücksprün­ gen; dieser Wandaufbau wird auch für die Querhausarme gewählt. Die sechsteili-

1 1 6 4 Bauformen

gen Gewölbe ruhen auf Dienstbündeln, die reich mit Schaft­ wirteln besetzt und über die die Horizontalgesimse verkröpft sind. Der durch das sechsteilige Gewölbe bedingte Wechsel von drei und fünf Diensten wurde in den beiden östlichen Doppeljochen durch sechs kleine, um die Rundpfeiler gestell­ te Säulen berücksichtigt (Abb. 471), dann aber zugunsten einer gleichmäßigen Reihung von gemauerten Rundpfeilern mit Kapitell aufgegeben; damit ist die Wirkung einzelner Joche aufgehoben. Die Hochschiffwand ist aus „körperpla­ stisch, zylindrisch geformten Einzelformen zusammenge­ fügt. ... Im Erdgeschoß herrschen die zylindrisch geformten Rundstützen, in den Emporen und im Triforium die runden Säulchen der Arkaturen. Die Dienste steigen als gebündelte Rundstäbe durch die ganze Hochschiffwand hinauf und set­ zen sich in den Rundungen der Gewölberippen fort“ (Jantzen, 1957, S. 72). Der Wandaufriß der Kathedrale Notre-Dame in Paris (1163 -1200) ist viergeschossig, hat jedoch statt des Triforiums eine Rundöffnung mit Fünfpaß, die um 1230 durch Ver­ größerung der in die Mauerfläche eingeschnittenen, spitzbogigen Obergadenfenster entfernt wurde (im Ostjoch durch Viollet-le-Duc rekonstruiert; Abb. 266). Die sechsteiligen Gewölbe im Langhaus (1180-1200) werden im Westen von den vor den Rundpfeilern heruntergeführten Diensten abge­ fangen (Abb. 479); entsprechende Halbsäulen nehmen die Arkadenbogen auf. Das ist der Beginn des in Reims konse­ quent angewandten gotischen Gliederpfeilers. Die Stiftskirche Notre-Dame-en-Vaux in Châlons-surMarne erhielt an das romanische Ouerschiff aus der Mitte des 12. Jh.s um 1180/90 einen Chor (Abb. 259) mit drei strah­ lenförmig angeordneten Kapellen, die dem Chor von Saint Remi in Reims ähnlich sind. Wie in Reims und Laon ist der Wandaufriß viergeschossig: Arkaden auf gemauerten Rund­ pfeilern mit Kapitellen, Empore mit Doppelarkaden unter spitzen Überfangbogen und gruppiertes Reihentriforium, das sich den Zweier- und Dreier-Lanzettfenstern mit schma­ len Stäben anschließt, die die Schildwand völlig auflösen und zusammen mit den großen Emporenfenstern für rei­ chen Lichteinfall sorgen. Abt Pierre de Celle ließ in den 1170er Jahren in Saint-Remi in Reims einen Chorumgang mit Kapellenkranz errichten, dessen Scheitelkapelle dreijochig hervortritt (Abb. 190, 316). Im Inneren bilden Wandpfeiler tiefe Fensternischen, vor denen ein Laufgang angeordnet ist, der die Pfeiler durch­ stößt. Diese Wandbildung wird in der Reimser Kathedrale (1220/30) und im Chor und Querhaus der Kathedrale in Auxerre (1220/30) wiederaufgenommen, später auch in der Stiftskirche der Grafen von Auxerre Saint-Martin in Clamecy (1215 begonnen), in Rieux bei Montmiral (Anfang 13. Jh.), der Pfarr- und Wallfahrtskirche Notre-Dame in Dijon (1220/40) sowie auch in Südengland (Trinity Chapel der Kathedrale von Canterbury, Exeter, St Albans), in der Bretagne (Ouimper)

In n e n w a n d g lie d e ru n g 1 6 5

I

266 Paris, Kathedrale, W andaufriß, links ursprüngliche Form um 1 1 7 5 -1 1 9 6 (Rekonstruktion von Viollet-le-Duc), rechts Umbau nach 1225 (1 :3 0 0 ).

265 Laon, K athedrale, N o rd q u e rh a u s und Chor, 1 1 7 8 /7 9 -1 2 1 5 .

267 Paris, Kathedrale, nördliches Querhaus und Chor, nach 1 1 6 3 -1 1 9 6 , Fensterver­ größerung nach 1225.

1 6 6 Bauformen

und in der Normandie (Bayeux, Lisieux, Abb. 300, 301), schließlich in der Liebfrauenkirche in Trier (ab 1235). Die nach einem verheerenden Brand im Juni 1194 bis 1220 errichtete Kathedrale von Chartres wird bestimmt von vierteiligen Kreuzrippengewölben über queroblongen Jochen, denen je ein Seitenschiffjoch zugeordnet ist (Abb. 38, 196, 269, 330). Die Wandgliederung ist dreigeschossig: Arka­ den, Reihentriforium und doppelte Lanzettfenster unter einem großen Rundfenster mit Achtpaß, die die dünne Schildmauer unter den Schildrippen gänzlich ausfüllen. Neu ist die Proportion des Wandaufrisses: die Fenster haben die gleiche Höhe wie die Arkaden, das dunkle Reihentriforium zieht sich als mittenbetonendes Band um den ganzen Raum. Den wechselnd runden und achteckigen Pfeilern sind in Längs- und Querrichtung vier achteckige bzw. runde Dienste vorgelegt, deren Kapitellgröße jeweils auf den Schaftquerschnitt bezogen ist und deren Dienst, der die Gurtrippe im Mittelschiff stützt, ohne Kapitell, nur von einem verkröpften Kämpfer unterbrochen, bis zum Kapitell unter dem Rippen­ ansatz durchgeht. Das Gewölbe-Joch-System von Chartres, der dreigeschossige Wandaufriß und das Plattenmaßwerk haben schnell und weitverbreitet Einfluß genommen, z. B. schon auf den Chor der Kathedrale von Soissons, der 1212 vollendet war. Die Kathedrale Saint-Étienne in Bourges wurde zeitgleich mit Chartres um 1195 begonnen; bereits 1214 konnte im Chor die Messe gelesen werden, 1218 war er wohl ganz voll­ endet. Über den Hochchorarkaden und den inneren Um­ gangsarkaden liegt ein breites Triforium mit jeweils sechs gleichhohen Arkaden unter einem halbrunden Überfangbo­ gen. Im anschließenden, bis 1260 errichteten, fünfschiffigen Langhaus wird die gleiche dreigeschossige Gliederung, zwi­ schen Mittelschiff und innerer Seitenschiffmauer gestuft, aufgenommen, jedoch werden die Triforiumsarkaden im Bogenabschluß gestaffelt (Abb. 268, 327). Mit den hohen, vor die Wand sich vorwölbenden Rundpfeilern mit aufgelegten, schmalen Diensten und sechsteiligem Rippengewölbe ent­ steht ein reichdifferenzierter Raumeindruck, der sich vom Hauptschiff aus erschließt und sich letztlich zu einer einzi­ gen Raumeinheit zusammenfügt, eine Chartres durchaus 268 Bourges, Kathedrale, Langhaus, um 1195 bis M itte 13. Jh. ebenbürtige, eigenständige Leistung ohne Vorbild, beein­ flußt durch Entwicklungen in der Champagne und in Sois­ sons. Im Gegensatz zu Chartres war der Einfluß von Bourges geringer; zu nennen sind die unteren Teile des Chores der Kathedralen von Le Mans (1217-1245) und Coutances nördlich von Caen (1220-1250) sowie Burgos in Spanien (ab 1221/22). Die Kathedrale von Reims, die Krönungskirche der französischen Könige, nimmt wegen ihrer politischen Bedeutung neben Saint-Denis mit den Königsgrä­ bern und der Pfalzkapelle Sainte-Chapelle in Paris einen herausragenden nationa­ len Rang ein. In ihrer baukünstlerischen und bautechnischen Ausformung ist sie sowohl im Ganzen als auch in Details von höchster Bedeutung; sie war seit der Grundsteinlegung am 12. Mai 1211 unter Erzbischof Aubry de Humbert (nach dem 269 ► Chartres, Kathedrale, Langhaus, Brand am 6. Mai 1210) und vor dem Bürgeraufstand 1233 wohl die wichtigste, 1 1 9 4 -1 2 2 0 .

In n e n w a n d g lie d e ru n g 1 6 7

1 6 8 Bauformen

anregendste und einflußreichste Bau­ stelle in Europa. Nach 1235 kamen wei­ tere Neuerungen wie die endgültige Ausformung des Gliederpfeilers, das durchlichtete Tympanon und die Skulpturenprogramme hinzu (Abb. 270, 271, 331, 332). Von Chartres über­ nimmt Reims den dreigeschossigen Wandaufriß mit Reihentriforium, das vierteilige Gewölbe und den Rundpfei­ ler mit Kapitell und Dienstvorlagen, neu und wegweisend sind die Ein­ führung des Maßwerkfensters und die Ausbildung der Einzelformen, insbe­ sondere des Gliederpfeilers. Nachdem die Kathedrale von Ami­ ens in einer der reichsten Handelsstäd­ te Frankreichs, 150 km nördlich von Paris, 1218 wie zuvor die Kathedralen von Chartres und Reims ein Raub der Flammen geworden war, begann 1220 Bischof Evrard de Fouilly einen Neu­ bau, bei dem er die neuen Tendenzen von Reims in Grund- und Aufriß über­ nehmen ließ (Abb. 272, 334-336). Seine Werkmeister, die das 1288 im Mittel­ schiff in den Boden eingelassene Laby­ rinth überliefert (Robert de Luzarche, Thomas Cormont und sein Sohn Re­ naud), haben den Bau mit zahlreichen Varianten ausgeführt. Der Neubau begann entgegen der sonst üblichen Weise nicht im Osten, sondern im Westen. 1236 oder erst 1243 waren die Westfassade bis zum Giebel und das Langhaus vollendet. Der zweite Bauabschnitt mit dem Chor begann 1243/45, 1264 wurden die Gewölbe geschlossen, 1269 ließ Bischof Bernard dAbbeville das mittlere Chorfenster einsetzen. Gegenüber Reims unterscheidet sich Amiens durch die Verwendung des Gruppentriforiums, das im Chor um 1250 in Übernahme von Saint-Denis und Beauvais durchlichtet ist und durch das Herunterführen des mittleren Fensterstabs bis auf die Sohlbank des Triforiums Fenster und Triforium zusammenbindet und somit die sechsbahnigen, im Chorpolygon vierbahnigen Maßwerkfenster zu einer Licht­ fläche zusammenfügt, eine großartige Weiterentwicklung der Gliederung im älte­ ren Langhaus. Nachdem 1225 die Kathedrale von Beauvais ebenfalls abgebrannt war, begann Milon de Manteuil 1227 mit dem Bau eines neuen Chors; um 1245 waren Chorum­ gang und Kapellenkranz fertig, um 1255 folgten die Obergeschosse des Chors, des­ sen Gewölbe bis zu einer Höhe von 48 m aufsteigen (Abb. 10,145, 385, 386). 1272 war diese kühne, von hohen, stabartig schlanken, doppelten Strebepfeilern und dünnen, doppelten Strebebogen gestützte Konstruktion fertig, stürzte aber schon 1284 im Langchor teilweise ein und mußte bis 1324 durch Halbierung der Arka­ denweiten, Einführung von sechsteiligen Gewölben und Verdoppelung der Strebe­ pfeiler wiederhergestellt werden. Das wie in Amiens durchlichtete Triforium ist auch hier durch die Vermittlung des heruntergeführten mittleren Stabes aus dem Fenstermaßwerk mit diesem verbunden.

Innenw andgliederung 1 6 9

270 Reims, Kathedrale, 1211 bis M itte 13. Jh.

271 Reims, Kathedrale, w estliche M itte l­ schiffwand, wohl nach 1252.

272 A m iens, Kathedrale, M itte ls c h iff und N o rdquerhaus, um 1 2 2 5 /3 0 .

In n e n w a n d g lie d e ru n g 1 7 1

1 7 0 Bauformen

Mit Beauvais war die konstruktive Steigerung der Kathe­ dralen und die Streckung der Innenwandgliederung über­ schritten und dadurch beendet: Noyon (1170/80) und Senlis (um 1170) mit 22 m, Sens (1140-1168) und Laon (11601190) mit 24,50 m, Paris (1163-1196) und Chartres (11941220) mit 35 m, Bourges (1200-1214) mit 37,15 m, Reims (1211-1241) mit 38 m, Amiens (1220-1230) mit 42,30 m und Köln (1248-1322) mit 43,35 m bis hin zu Beauvais (1227-1272) mit 48 m; die Kathedrale von Metz (ab 1243) geht wieder auf 41,50 m zurück und die Kathedrale von Nar­ bonne (1272-1330) auf 40,10 m. Gleichzeitig mit den Chören von Amiens (nach 12361269) und Beauvais (1225-1272) wurde der Umbau der Abteikirche Saint-Denis 1231 begonnen (Abb. 273, 339, 511). Der Chor des Abtes Suger (1140/44) wurde bis auf den Chor­ umgang mit Kapellenkranz neu errichtet, ferner das Ouerschiff und das Langhaus bis zum alten Westbau. 1241 wurde der Chor wieder benutzt, 1245 fehlten noch die Gewölbe im Mönchschor, d. h. in den drei östlichen Langhausjochen. 1247 ist der Werkmeister der späteren Pariser Südquerhausfassa­ de Pierre de Montreuil in Saint-Denis bezeugt. Erst 1282 war der Umbau, der einem weitgehenden Neubau gleichkam, abgeschlossen. Die herausragende Leistung des oder der Mei­ ster ist die völlige Auflösung der Wand. Die vierbahnigen Maßwerkfenster füllen die gesamte Fläche zwischen den Diensten und der Schildrippe aus und reichen mit ihren Stä­ ben über das „gruppierte Reihentriforium“ (vier Lanzetten mit zweibahnigem Maßwerk) bis auf das Brüstungsgesims herunter und schließen das durchlichtete Triforium mit den Fenstern zu einer Lichtfläche zusammen. In konsequenter Weise werden die Querhausfronten entsprechend behandelt, wo auch die Zwickel zwischen dem Kreis der Rose und dem durchlichteten Triforium wie im Ouerschiff der Kathedrale von Paris (1250-1267) mit Maßwerk geöffnet und zu einer Gesamtfläche verbunden sind. Diese Lichtwände sind das raumbestimmende Element, wie sie auch von dem zweiten Werkmeister der Kathedrale von Troyes angewandt wurden (Abb. 274, 338); hier war ein Neubau zu Beginn des 13. Jh.s in Chartreser Formen begonnen worden; ein 1228 eingestellter neuer Meister baute bis 1241; er hatte die gleiche Idee, seine Fensterstäbe sind noch dünner profiliert, die Triforiumsöffnungen sind flächiger und weiter, dadurch werden sie wie die Fenster leichter, graphischer, in der Entwicklung zwi­ schen Saint-Denis und Köln. Gleichzeitig werden auch die Tympanonfelder der Westportale an der Kathedrale von Reims mit Maßwerk durchlichtet. Die reiche Entwicklung der Gotik in der Ile-de-France brei­ tete sich um die Mitte des 13. Jh.s schnell über ganz Frank­ reich aus, vermittelt durch die Bischöfe, die enge Beziehun­ gen zum König unterhielten, zumeist in Paris studiert hatten und Baumeister aus der Ile-de-France anwarben. So baute Jean Deschamps, der Beauvais, Chambrai, Amiens, Saint-

273 Saint-D enis, A b te ik irc h e , M itte ls c h iff, 1 2 3 1 -1 2 4 1 .

274 Troyes, Kathedrale, S üdquerhaus und M itte ls c h iff, 1 2 2 8 -1 2 4 1 .

In n e n w a n d g lie d e ru n g 1 7 3

1 7 2 Bauformen

Denis und Paris kannte, 1248-1265 die Kathedrale von Clermont-Fer­ rand, vielleicht auch 1273 die Kathedrale von Limoges, 1277 die Kathe­ drale von Rodez und 1286 die von Narbonne. Er starb kurz vor 1295 (?) und ruht in der von ihm erbauten Kathedrale von Clermont (Freigang, 1992, S. 198-202). Aber auch viele andere Kirchen in ganz Frankreich zeigen den Einfluß aus der Ile-de-France: in der Champagne Saint-Yved in Braine, Orbais bei Châlons-sur-Marne, die Kathedrale und SaintUrbain in Troyes, Bar-sur-Aube bei Chaumont, Saint-Ouiriac, Saint-Ayoul und Sainte-Croix in Provins, Langny und Rampillon; in Burgund die Kathedralen von Auxerre (um 1230 im Rohbau fertig), Dijon (1220-1251), Nevers, der Chor der Klosterkirche in Vézelay, die Kollegiatskirche von Chablis, Notre-Dame in Dijon, Saint-Thibault-en-Auxois, Semur-en-Auxois bei Dijon und Saint-Martin in Clemecy sowie in der Bretagne Tréguier, Ouimper, Saint-Pol-de-Léon, Saint-Brieuc und die Kathedrale des Erzbischofs Dol-de-Bretagne, ferner Le Mans (Hoch­ schiffwand 1254), Lisieux, Evreux (Obergaden 1250, Chor 1260), der Chor von Saint-Ouen in Rouen (Querhaus nach 1265/70), Coutances, Bayeux und Sees (um 1260) in der Normandie, wobei Coutances und Bayeux schon nur noch den zweigeschossigen Wandaufriß zeigen. Unter den Nachfolgebauten ragt die von Papst Urban IV. an der Stelle seines Geburtshauses 1262 gestiftete Kirche Saint-Urbain in Troyes besonders hervor, die das System der Sainte-Chapelle mit den Eisenbändern bis 1266 für Chor und Quer­ haus übernommen und die Lichtfülle in herausragender Weise gesteigert hat, indem das durchlichtete Triforium unter den die halbe Raumhöhe einnehmenden dreibahnigen Maßwerkfenstern vergrößert und bis auf einen ungegliederten Sockel im Chor heruntergezogen wurde (Abb. 14,172, 205, 275). Die Kirche steht auf der gleichen Entwicklungsstufe wie die Hochschiffwand der Kathedrale von Tours (bis 1260). Schließlich sei noch auf die kleine, nur 16,80 m hohe Kirche SaintNazaire in Carcassonne hingewiesen, deren Chor und Querhaus, vermutlich im Auftrag von König Ludwig IX., 1269-1329 von einem nordfranzösischen Baumei­ ster errichtet wurden. Die große Maßwerkrose in der südlichen Ouerschifffront erinnert unmittelbar an nordfranzösische Ausformungen wie in Saint-Germainen-Laye, Saint-Germer-de-Fly und Sainte-Chapelle in Paris. Die große Bedeutung, die die Bettelorden in Deutschland und Italien für die Entwicklung gotischer Kirchenräume seit der Mitte des 13. Jh.s hatten, ist in Frank­ reich wegen fehlender Bauten nicht nachzuweisen. Genannt werden kann nur die zweischiffige Jakobskirche in Toulouse, in der Thomas von Aquin begraben ist (Abb. 238); sie wurde 1227 gegründet, die Bauarbeiten begannen 1240, aber erst ab 1260 wurden die heute erhaltenen Bauteile errichtet. Schlanke, hohe Rundpfeiler trennen die beiden Schiffe; dreibahnige Maßwerkfenster sind weit nach unten geführt. Die im dritten Viertel des 13. Jh.s begonnenen Bauvorhaben wurden fortge­ führt; um 1300/1310 erlahmte in Frankreich allgemein der Baueifer und kommt dann mit Beginn des 100jährigen Krieges mit England 1338 weitgehend zum Erliegen.

England Die nach England tradierten französischen Formen wurden von Anfang an mit tra­ ditioneller, normannischer Raum- und Wandauffassung verbunden und in ihrer Wirkung verändert. In der englischen Frühgotik, Early English, fehlt das französi­ sche Bestreben der Raumvereinheitlichung. Den Unterschied zeigt besonders ein Vergleich zwischen den Kathedralen von Reims und Lincoln, wo sich der Baukör­ per nach allen Seiten ausbreitet.

275, 276 Troyes, Saint-Urbain, Ostteile 1 2 6 2 -1 2 6 6 (1:3 0 0 ).

277 Canterbury, Kathedrale, 1 1 7 5 -1 1 8 4 .

1 7 4 Bauformen

Nachdem die Kathedrale von Canterbury 1174 abgebrannt war, betrauten die Mönche Wilhelm von Sens mit dem Neubau, den er und sein Nachfolger Wilhelm der Engländer 1175-1184 in Kennt­ nis französisch-gotischer Bauten ausgeführt haben (Abb. 223, 277, 349). An den alten Chor bauten sie einen neuen mit Umgang (Trinity Chapel) und eine runde Scheitelkapelle (Becket’s Crown) und errichteten zwischen westlichem und östlichem Querhaus ein dem Chor in der Wandgliederung ähnliches Schiff. Der dreige­ schossige Wandaufriß folgt dem der 30 Jahre älteren Kathedrale von Sens (Abb. 319). Die Rundpfeiler mit schlanken Säulchen erin­ nern an Laon, kommen aber auch an romanischen Kirchen der Normandie und der Bretagne vor. Die vorgelegten schwarzen Purbeck-Marmorsäulchen ähneln in ihrer Verwendung den schwar­ zen Schiefersäulen der rheinischen Romanik. Beginnend mit Durham und Canterbury liegt der Ansatz der Rippenwölbung im Unterschied zu französischen Kathedralen der Zeit (Sens, Noyon) unterhalb der Fensterzone in Höhe der Kapitel­ le der Emporenarkaden. Die Gewölbe werden nicht wie in Frank­ reich als konsequente Fortführung der in der Wand ausgebildeten Vertikallinien aufgefaßt, sondern das Gewölbe ist in die horizon­ tal geschichtete Wand eingehängt. So ist eine malerische Verwen­ dung von Diensten möglich; hinzu kommen dekorative Gestal­ tung der Bogenlaibungen und Archivolten sowohl im Triforium als auch in der Fensterzone. Die konstruktiven Elemente der fran­ zösischen Kathedrale werden mit Ornamentik überspielt. In allen Bereichen fehlt den englischen Kirchen die Streckung in die Höhe. Auch beträgt die Raumhöhe zumeist nur die Hälfte oder höch­ stens 2/3 der in Frankreich üblichen. Im siebenjochigen, bis 1233 eingewölbten Langhaus der Kathe­ drale von Lincoln (Abb. 224, 353, 472) finden sich über den von Canterbury beeinflußten Pfeilern mit schlanken Freisäulen aus Purbeck-Marmor zusätzlich zu den wie die Rippen profilierten und dimensionierten Gurtbogen und Kreuzrippen noch Scheitelrippen (Lierne) in Längs- und Querrichtung sowie weitere Sekundärrippen (Tierceron), die von den gleichen Kapitellen wie die Kreuzrippen ausgehen, aber den Schlußstein nicht erreichen, sondern paarweise an den Scheitelrippen in eigenen Schlußsteinen enden. Es entsteht eine Reihe von Sternen und über den Kapitellen Bündel auf­ strebender Rippen, einem Palmblatt ähnlich. Die Joche sind im Gewölbe kaum noch wirksam. Die zahlreichen Rippen bewirken einen breitgelagerten, längsge­ richteten Raumeindruck; das In-die-Höhe-Streben gotischer Kreuzrippengewölbe zwischen Gurtbogen, wie in Frankreich und Deutschland, fehlt. Die Gewölbezone ist unabhängig vom Jochrhythmus der Wandgliederung. Die Kathedrale von Salisbury (Abb. 157, 226), die ohne Bindung an einen Vor­ gänger 1220 begonnen wurde und 1266 bis auf den hohen Vierungsturm (14. Jh.) vollendet war, ist in ihren Proportionen Lincoln und Wells ähnlich; der dreige­ schossige Wandaufriß mit zweischaliger Mauer und einfachen, recht niedrigen Fenstern ist ebenso mit Lincoln verwandt wie die schon in Canterbury aufkom­ mende Anwendung der Polychromie des Marmors. Im Norden Englands haben die Zisterzienser die Gotik vermittelt. In anderen Gegenden hatte die Entwicklung der normannischen Architektur, insbesondere in der zweischaligen Wandauffassung, den Boden bereitet, um französisch-gotische Einflüsse aufnehmen zu können. In der nach dem Brand von 1187 sogleich wie-

Innenw andgliederung 1 7 5

2 7 9 ,2 8 0 York, Kathedrale, Nordquerhaus, 1 2 4 1 -1 2 6 0 , Nordwand und Ouerschnitt (1:300).

278 Lincoln, Kathedrale, Engelschor, 1256 bis

um 1280

(vg>-Abb- 3 55)-

deraufgebauten Kathedrale von Chichester wurde der dreigeschossige Wandaufriß von dem verschont gebliebenen Mittelschiff beibehalten, man verwendete aber die Pfeiler mit schlanken Freisäulen aus schwarzem Marmor in Anlehnujng an Canterbury. Zu nennen sind ferner der Chor und das Ouerschiff der Kathedralen von Worcester 1224-1232 und Ely 1234-1252 sowie das Südquerhaus von York ab 1227 (Abb. 279, 280,409, 548). Mit dem Neubau der Abteikirche von Westminster in London ab 1245 unter König Heinrich III. (1216-1272) wird der französische Chorgrundriß mit Umgang und Kapellenkranz eingeführt. Zugleich beginnt eine neue Stilphase, der Decorated Style, der durch reiche Maßwerkfenster bestimmt ist (Abb. 418). Mit 32 m Höhe übertrifft der Bau alle englischen Sakralbauten, bleibt jedoch weit unter den fran­ zösischen Raumhöhen. Der Wandaufriß der Kathedralen von Reims und Amiens wird für die Mittelschiffwände übernommen, Maßwerk in die Fenster eingefügt und Strebewerk verwendet. Die einheitliche Profilierung und Dimensionierung der Gurt- und Diagonalrippen sowie die Verwendung der Scheitelrippe überspie­ len im Gewölbe die Jocheinteilung wie schon im Langhaus von Lincoln. In der Nachfolge der königlichen Abteikirche Westminster entstanden das Langhaus der Kathedrale von Lichfield und der dreischiffige, rechteckige „Engels­ chor“ der Kathedrale von Lincoln (1256- um 1280; Abb. 224, 278, 355) mit reicher plastischer Wandgliederung und großem, den Chor abschließendem Maßwerk­ fenster, das wie auch das Kapitelhaus in Lincoln von der Westminster Abbey beeinflußt ist. Seinen besonderen Reichtum erhält dieser Chor durch die Tie­ fenstaffelung der Archivolten über den Doppelarkaden des Triforiums, den in Maßwerk geöffneten Laufgang vor den Obergadenfenstern, die dreißig Engelreli-

Innenw andgliederung 1 7 7

1 7 6 Bauformen

efs in den Zwickeln der Triforiumsbogen, die schwarzen Purbeck-Säulen im Kontrast zum hellen Kalkstein, die von Schaftringen zusammengefaßte Bündelung von acht Diensten um jeden Pfeiler, die fein profilierten, viel­ fach abgestuften Arkadenbogen und Rippenbündel, die vom Kapitel­ kranz der Pfeiler ausgehen, und die schmalen profilierten Rippenbün­ del auf den von Konsolen abgefangenen Dreierdiensten vor dem Triforium. Alle diese Details zeugen von der typisch englischen Gotik­ auffassung. Dem Chor von Lincoln verwandt ist der etwas frühere Chor der Kathedrale von Worcester 1224-1232, bei dem aber noch die Gewölbe auf dem umlaufenden Gesims der Fensterbank aufset­ zen und das Herunterziehen wie in Lincoln fehlt. Die Ostwand ist in zweigeschossig angeordneten, gestaffelten Lanzettfenstern geöff­ net, ähnlich dem Nordquerschiff der Kathedrale von York (1241-1260; Abb. 279, 280). Während dort im Nordquerschiff die Gewölbe wie in Worcester, im Chor der Kathedrale von Ely (1234-1252) und in Salisbury (1220-1266) auf dem Fenstersohl­ bankgesims beginnen, zeigt das Südquerschiff ab 1237 den herun­ tergezogenen Gewölbeansatz wie der Engelschor von Lincoln. Die reich gegliederte Plastizität ist u. a. in der Kollegiatskirche von Beverley um 1220 bis vor 1251 und im Chor der Kathedrale von Ely (1234-1252) vorgebildet, auch Salisbury wäre zu nennen. Deutschland Während sich in Frankreich der gotische Wandaufriß aus romani­ schen Formen kontinuierlich stufenweise entwickelt hat und in England durch Wilhelm von Sens die französische Gotik auf der Ent­ wicklungsstufe von 1175 eingeführt worden ist, traten in Deutsch­ land im 1. Drittel des 13. Jh.s einzelne Formen und Konstruktionen aus der gotischen Architektur Frankreichs zu den ganz in der örtli­ chen Tradition stehenden Bauten hinzu: Übernahme und zugleich Assimilation sowie Umbildung einzelner formaler und konstrukti­ ver Elemente wie Maßwerk, viergeschossiger Wandaufriß und Stre­ besystem (Bamberg, St. Gereon in Köln, St. Georg in Limburg, Magde­ burg, Naumburg) oder weitgehende Übernahme und konsequente Weiterbildung (Kölner Dom, Straßburger Münster). Während des ganzen 13. Jh.s gehörten franzö­ sische Baustellen zu den wichtigsten Stationen auf der Wanderung deutscher Steinmetzen. Auf die deutschen Bauten haben anfänglich vorrangig Laon mit sei­ nem viergeschossigen Wandaufriß und seinem reichen Dienstsystem sowie Reims und Amiens mit ihrem Maßwerk (Marburg, Trier) eingewirkt. Besonders die romanische Architektur im Rhein-Maas-Gebiet, vorrangig in Köln, zeigte eine wandgliedernde und durch Zweischaligkeit Raumschichten bil­ dende Formenvielfalt, die für französisch-gotische Formen aufnahmefähig war. Als besonders reiches, qualitätvolles Beispiel ist das 1219-1227 errichtete Deka­ gon der Stiftskirche St. Gereon in Köln zu nennen (Abb. 281-283), bei dem der Bau­ meister einen bis 16,50 m Höhe erhaltenen römischen Ovalbau mit Konchen (4. Jh.) zur Grundlage wählte und ummantelte, um eine ungewöhnliche, einmali­ ge Lösung zu gestalten. Der Innenraum ist vom rundbogigen Konchenkranz des Urbaus umgeben, darüber von Emporen, die sich in spitzbogig Überfangenen, gestaffelten Dreierarkaden öffnen und über einem Gesims einen Laufgang tragen, dessen Außenmauer von Fächerfenstern durchbrochen ist. Dieser dreigeschossige, den rheinischen Emporenkirchen entsprechende Wandaufbau ist in Spitzbogen auf Eckdiensten eingespannt, die vom Boden aufsteigen, während die dicken,

2 8 1 ,2 8 2 Köln, St. Gereon, Stiftskirche, 1 2 1 9 -1 2 2 7 , W andaufriß (1 :3 0 0 ).

283 Köln, St. Gereon, Stiftskirche, Farbfassung von 1 8 8 3 - 1 8 9 1 nach dem Entw urf von August von Essenwein, beim W iederaufbau nach Kriegszerstörung nicht w iederhergestellt.

höher reichenden Hauptdienste die Rippen der zehn Gewölbekappen aufnehmen; die Rippen enden in einem tief herabhängenden Scheitelknauf aus lederbezoge­ nem Holz. In den spitzbogigen, von gewirtelten Säulen eingefaßten Feldern über den hohen spitzbogigen Arkaden liegt ein weiterer Laufgang vor gruppierten Lanzettfenstern mit darüber eingefügtem Dreipaß, die in dünne Mauern einge­ schnitten sind. In dem in der Kölner Tradition stehenden Bau verschmilzt die zweischalige Geschoßteilung der Apsiden und Dreikonchenchöre mit der gewölbebe­ zogenen, vertikalen Jochgliederung der Langhausbauten. Der Baumeister spannt

1 7 8 Bauformen

den dreigeschossigen Wandaufriß (Konche, Empore, Fächerfenster) in die Arkaden des zweigeschossigen Wandaufrisses (übergreifender Spitzbogen auf Eckdiensten und gruppierte Lanzettfenster) und verbindet sie mit französisch-gotischer Kon­ struktion (offenes Strebewerk) zu einem vertikal betonten Zentralraum größter Feinheit in Raumwirkung und Gliederungsbestreben. Die glatten, über den Empo­ renpultdächern frei aufsteigenden und mit kleinen Satteldächern abschließenden Strebepfeiler tragen einfache Strebebogen, die auf die Ecklisenen der romanischen Außenwandgliederung mit abschließender, in die rückspringende Wandfläche eingeschnittener Zwerggalerie über Platten- und Rundbogenfries unter der Traufe stoßen. Ein einzelnes Vorbild ist nicht zu nennen, aber viele Anregungen: für die Wandschichtung mit Laufgängen die Seitenschiffe der Kathedrale von Reims, aber auch Noyon, Rouen und Lausanne, für die aus der dünnen, gemauerten Wand­ fläche ausgestanzten Fenster (Plattenmaßwerk) Chartres und Soissons, für das glatte, offene Strebewerk Châlons-sur-Marne und Soissons. Auch das Bonner Münster zeigt im Langhaus (1220/30) mit den fünffach gestaf­ felten Laufgangarkaden vor den Fenstern (Kathedrale von Genf) und dem Strebe­ werk gotische Einflüsse (Abb. 115). Bei der Stiftskirche St. Georg in Limburg an der Lahn (vor 1200-1235; Abb. 317, 318) erinnern der viergeschossige Wandaufriß und die Dienstausbildung an Laon, die zwei Strebebogen ebenfalls an französische Vorbilder, die aber weder formal noch konstruktiv richtig eingebunden wurden; auch der Kirchenraum ist von einem völlig anderen Raumgefühl geprägt. Mit der Elisabethkirche in Marburg (1236-1283; Abb. 247-249) und der Lieb­ frauenkirche in Trier (1235-1253/65; Abb. 244-246) wurde der zweigeschossige Wandaufriß gewählt (Arkaden, Fenster), wie er sich zunächst um 1230 in Lothrin­ gen ausgebildet hat und in der königlichen Stifts- und Pfarrkirche Notre-Dame-delAssomption in Villeneuve-sur-Yonne in der Diözese Sens um 1240 findet. Trier benutzt den Laufgang innen vor den Fenstern mit Durchbrechung der Wandpfei­ ler, die tiefe Fensternischen bilden. In Marburg wird der Laufgang wie in Lyon, im Hennegau und in Flandern außen vor den Fenstern und durch die Strebepfeiler geführt. Das bewirkt eine räumliche Tiefe der Mauer. Um die Mitte des 13. Jh.s entstehen im deutschen Herrschaftsbereich franzö­ sisch beeinflußte Kirchenbauten an verschiedenen Orten. Im Langhaus des Straß­ burger Münsters (um 1235 begonnen, 1275 gewölbt; Abb. 158,284-286) wurde der dreigeschossige Wandaufriß von Saint-Denis und Troyes übernommen, und Straß­ burger Formen bestimmen das Langhaus des Freiburger Münsters um 1240. Für den Kölner Dom (Abb. 341, 342) nahm man 1248 den Grundriß der Kathedrale von Amiens zum Vorbild und entwickelte den Aufriß in Kenntnis von Saint-Denis und Beauvais, jedoch mit Bündelpfeilern, gestreckteren Proportionen und einem fili­ granen, gitterförmigen Triforium, für das es in Frankreich nichts Vergleichbares gibt. Zudem wurden Pfeilerstatuen mit Christus, Maria und den Aposteln auf hal­ ber Höhe den Chorpfeilern (Abb. 33, 646) wie in der Sainte-Chapelle in Paris ange­ fügt. Die Bauherren der Zisterzienserklosterkirche Altenberg orientierten sich 1259 an Amiens und Royaumont, jedoch im Detail bescheidener und der Kölner Dom­ bauhütte verpflichtet (Abb. 345); Strebebogen und Strebepfeiler sind glatt und schmucklos; bis auf die Vierungspfeiler sind alle Stützen ungegliederte Rundpfei­ ler mit vielfach variierten Blattkapitellen im Chor; die weiten Fenster sind mit rei­ chem Maßwerk ausgestellt. Der nach einem Brand 1273 notwendige Neubau des Regensburger Doms (Abb. 67, 252, 344) erhielt als Chor einen einfachen Dreiachtelschluß; man verzichtete auf den Umgang mit Kapellenkranz. Der Chor ist wie in Marburg in zwei Fenster­ geschosse, jedoch mit einem zwischengeschalteten durchlichteten Triforium geteilt; die breiten Fenster sorgen für umfangreiche Durchlichtung. Der Chor war

In n e n w a n d g lie d e ru n g 1 7 9

2 8 4 ,2 8 5 Straßburg, Münster, um 1 2 5 0 /7 0 , Aufriß und Schnitt des Langhauses (1 :3 0 0 ).

286 ► Straßburg, Münster, M ittelschiff, um 1 2 5 0 /7 0 .

Triforium 1 8 1

1 8 0 Bauformen

V.3. Triforium

1310 bis auf die Gewölbe fertig. Die Mauermasse mit ihren großen Flächen ist zwar mit Diensten und Spitzbogen gegliedert, aber nicht wie in französischen Kathedralen gänzlich aufgegeben (Vorbilder Saint-Urbain und Saint-Sulpice-de-Favières in Troyes). Das Maßwerk ist in die Fen­ steröffnungen eingefügt und nicht zwischen die Dienste gespannt. Bischof Leo der Thundorfer hatte die französische Kathedralgotik auf dem Rückweg vom Konzil in Lyon 1275 in Dijon und Straßburg kennengelernt und sie zum Vorbild genommen, aber deutlich eigenständig umformen lassen. Der Chor der Dominikanerkirche in Regensburg (vor 1246 bis etwa 1270; Abb. 242) und der verhältnismäßig kurze Chor der Minoritenkirche in Köln (nach 1245 bis 1260; Abb. 239, 243) sind Beispiele für die neue Entwick­ lung, die sich in glatten Wänden mit einfach gegliederten Arkaden und in die Wand eingeschnittenen Fenstern äußert. Das Triforium fällt weg, und es entsteht der zweige­ schossige Wandaufriß, bei dem die Fenster in die Mauer­ fläche eingeschnitten werden (Dom zu Halberstadt, vor 1317; Abb. 287). Damit endet die Ausformung reichgeglie­ derter Innenwandaufrisse.

291 Baustelle um 1 2 3 0 /4 0 in einer Bible moralisée (Oxford, Bodleian Library, Ms. Bodley 270b, fol. l l v. - Bi 407).

2 8 7 ,2 8 8 Halberstadt, Dom, vor 1317, Langhaus, Aufriß und Schnitt (1 :3 0 0 ).

. I llllill I

2 8 9 ,2 9 0 Braine, Saint-Yved, Prämonstratenserkirche, 1 1 9 5 /1 2 0 0 -1 2 0 8 . M ittelschiff, nördliches Querhaus und Chor (1 :3 0 0 ).

H a n s E ric h K u b a c h : R h e in is c h e T r ifo r ie n k ir c h e n d e r S ta u f e r z e it . Diss. K ö ln 1 9 3 4 . - H a n s Erich K u b a c h : D a s T rifo riu m . In : Z s . f Kg. 5 , 1 9 3 6 ,

5 . 2 7 5 - 2 8 8 . - A r n o ld W o lff: C lu n y u n d C h a rtre s . In: V o m B a u e n , B ild e n u n d B e w a h r e n . F e s ts c h rifl W illy

W e y res. H rs g . Jo sep h

H o s te r, A I b r e c h t

M a n n . K öln 1 9 6 3 , 5 . 1 9 9 - 2 1 8 . - V irg in ia Ja nsen: S u p e rp o s e d W a ll Passages a n d th e T rifo riu m Ele­ v a tio n o f S t . W a r b u r g 9s C hester. In : J o u r n a l o f t h e S o c ie ty o f A r c h it e c t u r a l H is t o r ia n s 3 8 , 1 9 7 9 , S. 2 2 3 - 2 4 3 . - G ü n th e r B in d in g : T rifo riu m . In : Lexi­ ko n d e r K u n st 7, Le ipzig 1 9 9 4 , 5 . 4 1 0 . - H a n s -J ü r­ g e n G r e g g e r s e n : D ie f o r m a l e E n t w ic k lu n g des T r ifo riu m s in d e n f r ü h - u n d h o c h g o tis c h e n K ir­ c h e n F ra n k re ic h s . M S M a g . - A r b e i t K ö ln 1 9 9 6 . S o w ie S e d lm a y r (1 9 5 0 ) ,J a n t z e n (1 9 5 7 ) , K im p e lS u c k a le (1 9 8 5 ) .

Das Triforium ist für die Gliederung der Hochschiffwand in Mittelschiff, Querhaus und Chor und für die Raumwirkung gotischer Kirchen von besonderer Bedeutung. Es findet sich vornehmlich in Frankreich um 1150 bis 1300, im Raum von Köln und Basel in der Zeit zwischen 1200 und 1280 mit nur wenigen Ausstrahlungen nach Westfalen, Holland, Nürnberg, Assisi und Roskilde. Formal ist es in Nischengliede­ rungen der Wandzone über den Arkaden während des 11. Jh.s im Rheinland, in rechteckigen, radförmigen oder Arkaden-Öffnungen zum Dachraum in der Ile-deFrance (Saint-Germer-de-Fly, Abb. 305; Paris, Abb. 266; Sens, Abb. 319-322; Provins) und im Rhein-Maas-Gebiet während der ersten Hälfte des 12. Jh.s sowie in Blend­ arkaden in der Normandie und Burgund um 1100 vorbereitet (Chor von Saint-Éti­ enne in Nevers 1090 geweiht). Das echte Triforium, ein räumliches Gliederungs­ element, bildet sich in der zweischaligen romanischen Wand der normannischen Architektur (mur épais, mur évidé) und steht im Zusammenhang mit Laufgängen, die vor den Fenstern liegen und Säulenstellungen tragen (Sees, Saint-Seine, Bonn, Lincoln; Abb. 278, 294-299, 347-354). Die Verbindung des durchlichteten Trifo­ riums mit den Hochschiffenstern (wie in Saint-Denis ab 1231, Abb. 338) führt schließlich zur Aufgabe des Triforiums und des klassischen dreigeschossigen Wandaufbaus überhaupt (Saint-Urbain in Troyes 1262/66, Abb. 343). Der altfranzösische Begriff trifoire bezeichnet eine „durchbrochene Arbeit“. Erst­ mals benutzt Gervasius von Canterbury 1180 den Begriff für jede Art von Laufgang im Chor der Kathedrale von Canterbury: „über dieser Mauer war ein Weg (Lauf­ gang), der Triforium genannt wird, und die oberen Fenster“ (supra quem mumm via erat, quae triforium appellatur, et fenestrae superiores). Beim Vergleich des alten und des neuen Chors sagt Gervasius: „Einst ein Triforium, jetzt zwei im Chor und im Seitenschiff der Kirche ein drittes“ (Ibi triforium unum, hic duo in choro et in ala ecclesiae tertium), „das untere Triforium mit vielen Marmorsäulen“ (trifori­ um inferius multis columpnis marmoreis). Villard de Honnecourt zeichnet um 1220/30 das Reimser Triforium und bezeichnet es als voies = Laufgänge (Abb. 83). Die heute übliche Bezeichnung Triforium für einen in Arkaden oder Maßwerk geöffneten Laufgang unterhalb der Fensterzone des basilikalen Raums.wurde unter ausdrücklicher Berufung auf Gervasius von John Henry Parker, A Concise Glossary of Architectural Terms, London 1846, eingeführt und von Viollet-le-Duc 1868 (Band 9, S. 272-307) übernommen. Aufgrund der Ausbildungen der Öffnungen zum Mittelschiff sind zu unter­ scheiden: 1. Das in Burgund aus antiken Motiven entwickelte Reihen-Triforium (Toulouse, Conques, Cluny, Autun), das immer von Dienst zu Dienst reicht wie z. B. in Char­ tres, Reims, Laon, Braine, Noyon, Notre-Dame-en-Vaux in Chälons-sur-Marne. 2. Das in der Normandie ausgebildete Gruppen-Triforium, bei dem die zumeist unter Blendbogen gekuppelten Zwillings- oder Drillingsarkaden in die Mauer eingeschnitten sind wie z. B. in Amiens, Bourges, Beauvais, Westminster Abbey, Canterbury, York, Lincoln. 3. Beim durchlichteten Triforium werden seit 1230 die Maßwerkstäbe der Fenster bis auf die Sohlbank des Triforiums heruntergezogen und durch die Durchfensterung der Triforiumsrückwand mit dem Obergadenfenster zu einer Licht­ fläche zusammengezogen wie z. B. Saint-Denis 1231/41, Troyes vor 1241, Straß­ burg 1240, Amiens 1245, Beauvais 1255/72, Köln um 1270. Das Triforium kann in verschiedener Weise konstruiert sein: 1. Zwischen Rückwand und Arkaden entsteht ein Laufgang unter einem von Dienst zu Dienst gespannten Mauerbogen; der Gang wird nicht hinter den

1 8 2 Bauformen

Triforium 1 8 3

2 9 8 ,2 9 9 Caen, Saint-Étienne, Abteikirche, Chor, nach 1190 (1 :3 0 0 ).

305 Saint-Germer-de-Fly, Benediktinerabtei, Kirche, Chor, 1 1 3 2 -1 1 4 5 .

3 0 0 ,3 0 1 Lisieux, Kathedrale Saint-Pierre, Langhaus nach 1 1 7 0 /7 5 (1 :3 0 0 ).

Gewölbediensten fort geführt, jeder Abschnitt ist vom Dachboden des Seiten­ schiffs zugänglich (Abb. 300, 320). 2. Statt des Bogens ist der Laufgang mit Steinplatten oder einer Längstonne gedeckt und hinter den Gewölbediensten fortgeführt, z. B. im Chor von Soissons 1200/1212, Chartres 1210/20, Bourges 1214 vollendet, Reims 1220/30 und im Chor von Le Mans 1217/45. 3. Bedingt durch die dünnere gotische Mauer wird die Rückwand des Triforiums hinausgeschoben und ruht auf dem Seitenschiffgewölbe bzw. auf einem der Mauer über den Seitenschiffen vorgelegten Entlastungsbogen; diese Form wird als Kastentriforium bezeichnet, z. B. Saint-Germain-des-Près in Paris 1163 geweiht (Abb. 303), Laon 1170/80 (Abb. 119), Saint-Leu-d'Esserent um 1200/20

Triforium 1 8 5

1 8 4 Bauformen

1

!

3 0 6 - 3 0 9 Saint-Leu-d'Esserent (Oise), Abteikirche, Anfang 13. Jh., M ittelsch iff (1:3 0 0 ).

314 Laon, Kathedrale, M ittelschiff, 1 1 8 0 /9 0 (1:3 0 0 ).

315 Reims, Saint-Remi, Chor, 1 1 6 5 /7 0 - 1 2 0 0 (1:3 0 0 ).

I

310 Châlons-sur-Marne, N otre-D am een-Vaux, Chor, nach 1 1 8 7 -1 2 1 7 (1:3 0 0 ).

3 1 1 ,3 1 2 Mouzon (Ardennes), Benediktinerabtei, Anfang 13. Jh. (1 :3 0 0 ).

(Abb. 306-309), Langhaus der Kathedrale von Noyon 1170/1200 (Abb. 118), Saint-Remi in Reims 1165/70-1200 (Abb. 117). 4. Das durchlichtete Triforium, bei dem die Rückwand des Triforiums durchfen­ stert wird (ermöglicht durch die Abwalmung der Seitenschiffdächer). Vorstu­ fen: Saint-Leu-d'Esserent 1200/20 (Abb. 306-309), Chor von Notre-Dame in Dijon um 1225 (Abb. 313). Voll ausgebildet: Saint-Denis 1231/41 (Abb. 5). 5. Schließlich das Blendtriforium, bei dem Arkaden der Wand vorgeblendet sind, z. B. Longpont 1210/1227 (Abb. 329), Groß-St. Martin in Köln um 1235, St. Kuni­ bert in Köln vor 1237.

313 Dijon, Notre-Dam e, Chor, um 1225.

3 1 7 ,3 1 8 Limburg an der Lahn, St. Georg, Stiftskirche, Langhaus, 1 2 1 0 /1 5 gew ölbt (1 :3 0 0 ).

316 Reims, Saint-Remi, Chor, 1 1 6 5 /7 0 -1 2 0 0 .

Mit dem Chor der Kathedrale von Noyon, nach dem Brand 1131 begonnen und mit Unterbrechung (1148-1157) und geändertem Plan mit Blendtriforium über dem Emporenge­ schoß fortgeführt, beginnt die Reihe klassischer Ausformun­ gen des Triforiums (Abb. 179, 261, 263). Aufgrund unter­ schiedlicher Jochweiten im Langchor und in der Apsis variiert die Zahl der Triforiumsbogen: im Langchor vier und fünf, im Chor drei Kleeblattbogen, eingespannt zwischen Endélit-Dienstbündeln mit Schaftringen. In den 1160er Jahren folgen die Ouerhauskonchen. In dem ebenfalls viergeschossi­ gen Aufriß wird das Triforium, nun mit Laufgang, zur deko­ rativen Wandgestaltung genutzt und bei fehlendem Umgang unter der ebenfalls schmalen, durchfensterten Empore ange­ ordnet. Die jeweils zu dritt angeordneten Rundbogenarka­ den sind zwischen die Dienste gespannt; das Sohlbankge­ sims ist wie das der Empore über die Dienste verkröpft. Im Mittelschiff ist der Laufgang des Triforiums über der hohen Empore nicht hinter den Diensten fortgeführt, sondern abschnittsweise durch Türen in der Rückwand vom Dach­ raum zugänglich. Die rundbogigen Fünferarkaden sind in die Mauerfläche eingeschnitten, ihr Sohlbankgesims stößt gegen die Dienstbündel; dadurch entsteht eine vertikale Jochgliederung im Unterschied zu der horizontalen Geschoß­ gliederung in den Ouerhauskonchen.

Triforium 1 8 7

1 8 6 Bauformen

Der erste Bauabschnitt der Kathe­ drale von Laon 1155/60 bis 1174 folgt der Gestaltung des Langhauses von Noyon mit echtem Laufgang, der in einer Folge von rundbogig abschließenden Dreierarkaden geöffnet ist, die seitlich zu den Dienstbündeln noch Mauerreste stehen lassen, also in die Mauerfläche eingeschnitten und nicht zwischen die Dienste gespannt sind, aber von der Südkonche von Noyon die Verkröpfung des Sohlbankgesimses über die Dienst­ bündel übernimmt (Abb. 113,257, 314). Die nach 1176 errichtete Südquerhauskonche der Kathedrale von Soissons (Abb. 323) zeigt ebenfalls die joch­ weise Vertikalgliederung und spannt die spitzbogigen Sechserarkaden des

319 Sens, erzbischöfliche Kathedrale, Chor, Nordwand 1 1 4 0 -1 1 6 8 , Fenster nach 1268 vergrößert. Die paarweise unter Ü berfang­ bogen a u f vorgeblendeten Säulen die M au er unter der Fensterzone durchbrechenden Dop­ pelarkaden sind in den Dachraum geöffnet (unechte Empore).

326 Soissons, Kathedrale, Chor 1 2 0 5 -1 2 1 2 .

(1:3 0 0 ).

Triforium 1 8 9

1 8 8 Bauformen

HIMUIIH H+i itti I!

328 Soissons, Kathedrale, M ittelschiff, 1 2 2 0 /3 0 (1 :3 0 0 ).

329 Longpont, Zisterzienserklosterkirche, 1 2 1 0 /1 5 - 1 2 2 7 ( 1 : 3 0 0 ).

Triforiums ohne Mauerrest zwischen die Dienste und folgt damit dem Chor von Noyon. Diese Gestaltungsform wird von der Kathedrale in Chartres nach dem Brand von 1194 aufgenommen, jedoch mit der Verkröpfung des Sohlbankgesimses über die Dienstbündel (Abb. 330). Damit ist die gültige Ausformung des Reihentriforiums erreicht, die auch in der Kathedrale von Reims nach 1211 übernommen wird (Abb. 331). Hier bildet die Arkadenfolge des Triforiums, abgesetzt durch Gesimse, die über die Dienste verkröpft sind, ein selbständiges Geschoß zwischen Arkaden und Fenstern. Die um 1195 begonnene und im Chor 1214 fertige Kathedrale von Bourges (Abb. 327) entwickelt erstmals das Gruppentriforium zur beherrschenden Verselbständi­ gung der einzelnen Joche, die aber zugleich durch Verkröpfen des Sohlbankgesimses eine horizontale Anbindung erfahren: eine Viererarkade wird durch schmale Mau­ erstreifen von je einer niedrigeren Bogenöffnung auf Säulchen getrennt, die zusam­ men von einem weiten flachen Spitzbogen überfangen werden, der im Inneren als Ouertonne den Laufgang überdeckt. Nur in den schmaleren Chorpolygonfeldern fehlen die seitlichen Arkaden, und es entsteht der Eindruck eines Reihentriforiums unter Überfangbogen. In dem nach einem Brand im Jahre 1218 ab 1220 bis etwa 1232/43 neugebauten Langhaus der Kathedrale von Amiens (Abb. 335) wird im Gegensatz zum gleichzeitigen Reims mit Reihentriforium bewußt das Gruppentrifo­ rium verwendet. Zwei jeweils unter einem Überfangbogen zusammengefaßte Drei­ erarkaden mit liegendem Dreipaß darüber (Vorstufe zum Maßwerk) sind zwischen die Dienstbündel gespannt und durch den heruntergezogenen Mittelstab des vierbahnigen Maßwerkfensters mit diesem verbunden. In dem nach 1245 errichteten

330 Chartres, Kathedrale, M ittelschiff, 1 1 9 4 - 1 2 2 0 (1 :3 0 0 ).

3 3 1 ,3 3 2 Reims, Kathedrale, Langhaus, 1 2 1 1 - 1 2 4 1 (1:3 0 0 ).

Chor (Abb. 334) wird das Gruppentriforium durchlichtet und in Maßwerk geöffnet, zusätzlich durch Übergiebelungen mit Krabben und Kreuzblume betont. Beim Umbau der Abteikirche von Saint-Denis 1231-1241 wird zum ersten Mal das vollausgebildete durchlichtete Triforium mit Maßwerkfenstern in der Rück­ wand, die durch die Anwendung eines abgewalmten Daches außen freiliegt, ange­ wandt (Abb. 337, 339). Alle in der Literatur genannten früheren Beispiele sind frag­ lich, nicht ausreichend sicher datiert (Beauvais, Celles, Vaudoy-en-Brie) oder nur mit kleinen Fensteröffnungen (Saint-Leu-d'Esserent, Abb. 309) ausgestattet; das durch­ lichtete Triforium der Kathedrale von Beauvais gehört erst zu der Baumaßnahme ab 1255 nach einer Bauunterbrechung (Abb. 106,107,144). Das durchlichtete Trifo­ rium im Chorpolygon der Benediktinerabteikirche Saint-Père in Chartres ist in die Mitte des 13. Jh.s zu datieren. Die spitzbogig abschließenden Triforiumsöffnungen von Saint-Denis sind - wie die Lanzetten der Fenster - durch einen Stab geteilt, der Kleeblattbogen trägt, darüber ein liegender Dreipaß. Zugleich ist in Saint-Denis zu

Triforium 1 9 1

1 9 0 Bauformen

334 Amiens, Kathedrale, Chor, um 1240 bis 1269 (Verglasung).

beobachten, daß nach Vorstufen hier die Stäbe der Maßwerkfenster bis auf die Sohlbank des Triforiums heruntergezogen werden und somit Fenster und Trifori­ um eine einheitliche, strukturierte Lichtfläche über dem Arkadengeschoß bilden. Damit ist die Entwicklung des Triforiums abgeschlossen. Im Langhaus des Straß­ burger Münsters (um 1235 begonnen, 1275 eingewölbt, Abb. 158, 284), in Meaux (1253-1275, Abb. 378-380) und in Köln (um 1265/70, Abb. 341, 342) wird in konse­ quenter Weise auch der verbliebene Bogenzwickel über dem Triforium in Maßwerk aufgelöst, so daß ein zwischen die Dienste gespanntes rechteckiges Maßwerkfeld entsteht, das in Köln einem Reihentriforium entspricht und nur durch den mittleren heruntergezogenen Fensterstab angebunden ist, während in Meaux, das dem Gruppentriforium folgt, keine Anbindung vorhanden ist und in Straßburg, das ebenfalls dem Gruppentriforium folgt, der Mittelstab auf das Sohlbankgesims des Triforiums reicht, aber durch das Sohlbankgesims des Fensters überschnitten wird.

337 ► Saint-Denis, Abteikirche, Mittelschiff,

1 2 3 1 -1 2 8 2 .

1 9 2 Bauformen

Triforium 19 3

339 Saint-Denis, Abteikirche, M ittelschiff, 1 2 3 1 -1 2 8 2 (1 :3 0 0 ).

338 Troyes, Kathedrale Saint-Pierre, Anfang 13 J h . bis vor 1241.

340 Châlons-sur-Marne, Kathedrale, nach 1 2 3 0 (1 :3 0 0 ).

1 9 4 Bauformen

347 A Genf, Kathedrale Saint-Pierre, Langhaus nach 1232 (1 :3 0 0 ).

348 A A Lausanne, Kathedrale, Langhaus 1 1 7 3 -1 2 3 2 (1:3 0 0 ).

349

► Canterbury, Kathedrale, 1 1 7 5 - 1 1 8 4

(1 :3 0 0 ).

350, 351 ► Wells, Kathedrale, 1 2 2 0 -1 2 3 9 (1 :3 0 0 ).

352 ▼ Salisbury, Kathedrale, 1 2 2 0 -1 2 6 6 (1 :3 0 0 ).

343 Troyes, Saint-Urbain, Chor, 1 2 6 2 - 1 2 6 6 , Verglasung um 1 2 7 0 /7 5 .

3 4 5 ,3 4 6 Altenberg bei Köln, Zisterzienser­ klosterkirche, 1 2 5 9 -1 3 7 9 (1 :3 0 0 ). Gotischer Neubau, der den modernsten nordfranzösi­ schen Zisterzienserklöstern Longpont und Royaumont (Abb. 229) folgt und unter dem Einfluß der Kölner D om bauhütte steht. Chor 1287 fertig und verglast.

1 9 6 Bauformen

M aßw erk 1 9 7

V.4. M aß w erk

357 Chartres, Kathedrale, Glasfenster, 2. Viertel 13. Jh., Steinm etz m it Zahnfläche (Bi 145).

D a s f ü r d ie g o tis c h e A r c h it e k t u r so w ic h tig e M a ß w e r k w ir d im Z u s a m m e n h a n g m i t G e s a m t­ d a r s t e llu n g e n o d e r M o n o g r a p h ie n b e h a n d e lt . E in z u s a m m e n fa s s e n d e r Ü b e r b lic k f i n d e t sich b e i L o ttlis a B e h lin g : G e s ta lt u n d G e s c h ic h te des M a ß w e r k s . H a lle 1 9 4 4 , u n d G ü n t h e r B in d in g , M a ß w e r k . D a r m s t a d t 1 9 8 9 ; le t z te r e s is t m i t L i t e r a tu r a n g a b e n u n d 4 1 2 A b b ild u n g e n v o rg e ­

Das steinerne Maßwerk, das „gemessene Werk“, ist eines der wichtigsten formalen Gestaltungselemente innerhalb der Entwicklung der Gotik. Die „Diaphanie der Wand“ (H. Jantzen 1927), die „übergreifende Form“ (H. Sedlmayr 1950), die „Vergit­ terung der Wand“ (H. Sedlmayr 1950) und ganz besonders die Einführung des opti­ schen Skelettbaus um 1200/1220 bedingen in konsequenter Ausformung die Erfindung des Maßwerks als eine in das Skelett eingespannte Raumbegrenzung durch strukturierte, leuchtende Wände, denn durch die Negation der Mauer als raumschließende Wand gibt es auch kein die Mauer durchbrechendes, lichteinlassendes Fenster mehr wie in der Romanik. Gerade dieser in den Chorkapellen der Kathedrale von Reims 1215/20 vollzogene Wandel ist die Geburt der eigentlichen Gotik. Maßwerk ersetzt nicht die Bleistege und Armierungen (Windeisen) der romanisch-frühgotischen Glasfenster, auch wohl nicht den die Fensteröffnung tei­ lenden hölzernen Kreuzstock mit Ouersprossen (wie z. B. Ilbenstadt vor 1159), son­ dern dient der raumbegrenzenden Vergitterung zwischen den Gliedern des Ske­ lettbaus. So ist auch folgerichtig das Maßwerk nicht in die Öffnungen, in den Zwischenraum, eingespannt, sondern bildet schließlich eine Einheit mit dem pro­ filierten Gewände und den begleitenden Gewölbediensten, überzieht als Blend­ oder Schleiermaßwerk verbliebene Mauerflächen, füllt Wimperge, Brüstungen und Triforien und entspricht in seiner Profilierung den auch bei den Stützen, Bogen und Rippen üblichen Formen. Zwischen die Stäbe des Maßwerks sind die Windeisen (Abb. 356-359, 641) ein­ gefügt, die verschiedentlich zugleich als Ringanker dienen (Sainte-Chapelle in Paris 1241/45, Chor des Kölner Doms um 1270, Abb. 177) und in die weiterhin die Bleistege (Ruten) der Verglasung eingebunden sind. Villard de Honnecourt unter­ scheidet zwischen dem Rahmen des Fensters (forme) und dem unterteilenden Maßwerk (vexiere), zwischen das das Fensterglas (vitrea) mit seinen Bleiruten ein­ gespannt ist (Hahnloser, 1972, S. 56f., 1701). Das Maßwerk besteht aus senkrechten, profilierten, anfangs auch mit Rundstä­ ben oder schlanken Säulchen besetzten Stäben (Stabwerk), die bei mehreren grup­ pierten Bahnen in ihrer Dicke unterschieden sind in die dickeren, alten Stäbe oder Hauptstäbe und die dünneren, jungen oder Nebenstäbe, die Lorenz Lacher in den

le g t, w o b e i d ie ä lt e r e n V e r ö ff e n t lic h u n g e n a u s ­ g e w e r t e t w u rd e n . - G e n a n n t s e ie n f e r n e r : J o h n B r itto n : T h e A r c h it e c t u r a l A n t iq u it ie s o f G r e a t B r ita in . B a n d 5: C h r o n o lo g ic a l H is to r y . L o n d o n 1 8 2 6 . - G e o rg G o ttlo b U n g e w it te r : L e h rb u ch d e r g o tis c h e n K o n s tr u k tio n e n . L e ip z ig 1 8 5 9 . 3. A u f ­ la g e b e a r b e it e t vo n K a r l M o h r m a n n . L e ip z ig 1 8 8 9 - 1 8 9 2 . - V io lle t-L e -D u c ( 1 8 5 8 - 1 8 6 8 ) Bd. 5 u n d 8. - G o ttfr ie d K iesow : D as M a ß w e r k in d e r d e u ts c h e n B a u k u n s t bis 1 3 5 0 . M s .-D is s . G ö t t in ­ g e n 1 9 5 7 . - R ü d ig e r B e c k s m a n n : D ie a r c h it e k t o ­ n is c h e R a h m u n g des h o c h g o tis c h e n B ild fe n ­ sters. B e rlin 1 9 6 7 . - B e r n h a rd S c h ü tz: D ie K a th a ­ r in e n k ir c h e in O p p e n h e im . B e rlin , N e w

York

1 9 8 2 . - F rie d ric h K ob !er: F e n s te rro s e . In : R e a Ile ­

355 Lincoln, Kathedrale, Engelschor, 1256 bis um 1280 (vgl. Abb. 278).

356 Bourges, Kathedrale, Chor, ProdigusFenster, 220 x 600 cm, um 1 2 1 0 /1 5 . Gerüst der Windeisen in unterschiedlichen M ustern als Rahmen für die in Bleiruten gefaßten, farbigen Glasscheiben m it Erzählungen in großer Ausführlichkeit, hier „Der verlorene Sohn“.

x ik o n z u r d e u ts c h e n K u n s tg e s c h ic h te 8 , 1 9 8 2 , Sp. 6 5 - 2 0 3 m i t L i t . - V e r z . - J ü rg e n M ic h le r : D ie u r s p rü n g lic h e C h o r f o r m d e r Z is te r z ie n s e r k ir c h e S a le m . In: Z s . f Kg. 1 9 8 4 , S. 3 - 4 6 . - J ü r g e n M ic h ­ ler: V e r m it tlu n g s w e g e g o tis c h e r B a u fo r m e n im f r ü h e n T recento. In: M i t t e il u n g e n des K u n s th is t. In s t, in F lo re n z 4 1 , 1 9 9 7 , S. 1 6 5 - 1 7 6 .

358 Gerüst der W indeisen, M uster von Fenstern der Kathedralen von Bourges und Chartres (zwei rechte) 1 2 0 5 /1 5 .

M aßwerk 1 9 9

1 9 8 Bauformen

361 ◄ Balustraden: stehender und liegender Vierpaß (Beauvais, Kathe­ drale um 1270), stehendes und liegendes Vierblatt in sphärischen Quadraten (Rouen, Abteikirche SaintOuen um 1300), liegendes D reiblatt in sphärischen Drei­ ecken (Carcassonne, Kathedrale 14. Jh.).

363 > Soissons, Kathedrale, Lang­ chor, Südseite, um 1 2 0 5 /1 0 .

Unterweisungen an seinen Sohn Moritz 1516 „alte und junge Pfosten“ nennt. Die in ihrer Dicke abgestuften Stäbe sind eingespannt zwischen die in ihrer Dicke wie­ derum gestuften Dienstbündel. Oberhalb der Kämpferlinie befindet sich im Bogenfeld, im Couronnement, das eigentliche Maßwerk, das ausschließlich durch exakte Kreisbogen bestimmt wird, deren Zirkeleinstiche sich aus den geometri­ schen Schnittpunkten von geraden Verbindungen und Kreislinien ergeben; daher werden für die Maßwerkkonstruktion nur Zirkel und Richtscheit benötigt. Jede Einzelform ist mit der nächsten durch ihren geometrischen Ort, durch die Ver­ schneidungen der Kreisbogen und durch das feste Liniengerüst unverrückbar ver­ bunden und bildet ein Ganzes. Der Nürnberger Hans Schmuttermayer widmet zu Ende des 15. Jh.s sein Büchlein „Über die Fialen Gerechtigkeit“ „allen meisteren und gesellen, die sich diser hohen und freyen kunst der Geometria geprauchen“, um sich „dem wahren grünt des maswerks paß (besser) zu unterwerfen“. In seinen Formen ist das Maßwerk praktisch unerschöpflich, so daß der Variantenreichtum unüberschaubar ist, jedoch bleiben immer deutlich erkennbare Hierarchien, Unterordnung unter übergreifende Formen. Dieses entspricht der allgemeinen Vorstellung von der Unterordnung eines jeden in die weltlichen ordines (Stände), die die himmlischen Hierarchien spiegeln. Die ordines sollen zusammenfließen zu einer sich ergänzenden Einheit, dem ordo. Die einzelnen, durch Stäbe getrennten Bahnen werden über der Kämpferlinie im Couronnement mit einem Spitz- oder Lanzettbogen, ab 1300 auch mit einem Kielbogen abgeschlossen. Der Lanzettbogen ist ein überhöhter Spitzbogen, dessen Kreisradien größer als die Bogenspannweiten sind, d. h., die Bogenmittelpunkte

360 Maßwerkformen: gespitzter Kleeblatt­ bogen, genaster Spitzbogen, liegender Dreipaß, liegendes Dreiblatt, Dreischneuß, Falchion und Zwickelblase (Schneuß), stehendes Vierblatt in sphärischem Viereck umgeben von Schneußen.

362 Carcassonne, Kathedrale Saint-Nazare, Ouerhaus-Ostfenster und Chorfenster, Anfang 14. Jh.

liegen im Unterschied zum Spitzbogen außerhalb der Kämpferpunkte. Der Kiel­ oder Karniesbogen ist ein Spitzbogen mit geschweiften Schenkeln, die im unteren Teil konkav, im oberen Teil konvex geschwungen sind. In den Spitz-, Lanzett- oder Kielbogen können Maßwerknasen (genaster Bogen) oder ein Kleeblatt- bzw. Drei­ paßbogen, seltener ein Mehrpaßbogen, eingefügt werden. Der Dreipaßbogen besteht aus drei stark eingezogenen Kreisbogen (Pässe), deren mittlerer größer ist und auch gespitzt sein kann (Dreiblattbogen). Oberhalb der die Bahnen abschließenden oder paarig zusammenfassenden Bogen sind Dreiviertelkreise, Pässe, zu mehreren in einen Kreis (Okulus) eingefügt: liegender (unten zwei Pässe) oder stehender (unten ein Paß) Drei- oder Vierpaß, auch Fünf-, Sechs- oder Mehrpaß (Abb. 360, 361). Die Pässe bilden an ihrem Treff­ punkt „Nasen“, die auch zusätzlich als Lilien ausgebildet sein können (bereits am Triforium der Kathedrale von Amiens nach 1220, Abb. 370). Durch die Verwendung von Spitzbogen statt der kreisförmigen Pässe entwickelt sich in Frankreich seit 1260/70 das Blatt; es wird zu einem Drei- oder Vierblatt zusammengefügt, häufig begrenzt von einem krummlinigen, d. h. sphärischen Drei- oder Viereck (Abb. 360-362). Werden die Bogenschenkel stark gestelzt und bilden Lanzetten, so spricht man von einem Strahl (Dreistrahl usw., Abb. 444, 467). Im Verlauf des 14. Jh.s entstehen weitere Varianten (Abb. 360, 362): der Soufflet (frz. Blasebalg) ist ein Vierpaß, bei dem ein gegenüberstehendes Paar gerundet und das andere kielbogig gespitzt ist. Das Falchion (engl. Pallasch) ist ein vierblättriges Gebilde, bei dem einem Paß ein kielbogiges Blatt gegenüberliegt, während die beiden seitli­ chen Blätter gespitzt langgezogen und gekrümmt sind; es kann auch unter Weg­ fall des Passes oder des kielbogigen Blattes dreiteilig ausgebildet sein. Und schließ­ lich entstand um 1300 der Schneuß (Schnabel), auch Fischblase oder Mouchette

2 0 0 Bauformen

(engl. Karnieshobel) genannt (Abb. 360), ein Zweiblatt, bei dem ein Blatt kürzer als das andere ist; häufig ist das kleinere kielbogenartig ausgebildet und die Nasen kommen sehr eng zusammen. Der Schneuß kann auch S-förmig geschwungen sein und so einer Fischblase ähnlich sehen. Mehrere Schneuße in einem Kreis zusammengestellt ergeben eine Wirbelform, den Drei- oder Vierschneuß. Die Entwicklung von eng gruppierten Fenstern zu Gruppenfenstern unter Über­ fangbogen im Langhaus von Chartres (Plattenmaßwerk) bis schließlich hin zum ersten Maßwerkfenster in Reims (1215/20) und die Entwicklung der tektonisch konzipierten Rad- und Lochscheibenfenster zu immer stärkerer Auflösung und Loslösung von Architekturgliedern bis hin zum Ornamentalen in den großen Rosenfenstern geben eine rein genetische Erklärung, die überzeugender erscheint als alle anderen Vermutungen, wie sie in der Literatur immer wieder angestellt werden. Die Tendenz zur Auflockerung der Wand ist die treibende Kraft. In der weiteren Entwicklung wird das Maßwerk spätestens um 1300 zur strukturellen Form, zur Dekoration, am eindrucksvollsten an der Westfront des Straßburger Münsters verwirklicht (Abb. 13, 442), an der die langen, nur wenige Zentimeter dünnen Stäbe des Schleiermaßwerks vor dem Schwarzblau der Schattenrisse gleich den Saiten eines Instruments - einer Harfenbespannung - nicht nur vor den Mauerflächen, sondern auch vor den Maßwerkfenstern ausgespannt sind, ähnlich dem Südwestturm des Kölner Domes (Planriß um 1300, Ausführung nach 1357, Abb. 74, 541). Vorstufe Die Vorstufe zum Maßwerk ist nicht das im Laufe der 2. Hälfte des 12. Jh.s in Frank­ reich, Deutschland und England zu Gruppen geordnete Spitzbogen- oder Lanzett­ fenster, sondern es sind erst die unter einem Überfangbogen in eine zurückgestuf­ te, glatte Mauerfläche eingeschnittenen Fensterpaare in Verbindung mit einem darüber angeordneten Rundfenster (Okulus) wie im Obergaden der Kathedrale von Chartres (um 1215, Abb. 365), wo die Fenstergruppe die ganze, durch Säulchen und Archivolte gerahmte Schildbogenfläche einnimmt. Die Öffnungen haben im Innern einfache, schräge Gewände, in die das Glas außen fast flächenbündig ein­ gesetzt ist. Die verbleibenden Zwickelflächen zwischen Fensterbogen und Okulus

M a ß w e rk 2 0 1

364 Soissons, Kathedrale, Langchor- und Langhaus-Obergaden um 1 2 0 5 /1 0 .

365 Chartres, Kathedrale, LanghausObergaden um 1 2 1 0 /1 5 .

3 6 6 ,3 6 7 Reims, Kathedrale, Chorumgangskapellen nach 1 211 bis vor 1221.

368 Reims, Kathedrale, Seitenschiff um 1230.

369 Reims, Kathedrale, Chor nach 1211 bis um 1230.

sind schichtweise aufgemauert, ebenso wie die Pfosten, Laibungen und Bogen der Fenster (Plattenmaßwerk). Dies entspricht den Obergadenfenstern im Langchor der Kathedrale von Soissons (um 1205/10, Abb. 364), im Langchor und Mittelschiff der Kathedrale von Bourges (1205/10), in der königlichen Stiftskirche Notre-Dame in Moret-sur-Loing (Anfang 13. Jh.) und im Dekagon von St. Gereon in Köln (um 1225, Abb. 281-283). Frankreich In Frankreich wird auf der Grundlage dieser Vorstufen in den Chorkapellen der Kathedrale von Reims (1215/20, Abb. 366) der aus profilierten Stäben gefügte klas­ sische Maßwerktyp der Hochgotik (1220-1270, z. B. Chälons-sur-Marne um 1230, Paris, Veränderung der Obergadenfenster ab 1225) gebildet: über mit Säulchen besetzten Stäben zwei Spitzbogen, deren Scheitel, auf kurzer Strecke mit ihm ver­ schmolzen, einen Kreis mit oder ohne einbeschriebenem Sechspaß tragen, so noch im Hochchor von Saint-Denis 1231/41 (Abb. 371) und in den Chorkapellen von Beauvais 1247 mit Achtpaß. Als Villard de Honnecourt um 1220/30 die Kathedrale von Reims besuchte, hielt er Chor- und Langhausaufriß, sehr genau beobachtet, in

2 0 2 Bauformen

M a ß w e rk 2 0 3

372 Paris, Sainte-Chapelle, 1 2 4 1 /4 5 .

374 Saint-Germain-en-Laye, königliche Schloßkapelle, Südansicht, um 1238 begonnen.

370 Amiens, Kathedrale, Langhaus um 1230.

371 Saint-Denis, Abteikirche, Langchor 1 2 3 1 -1 2 4 1 .

seinem Skizzenbuch fest und zeichnete auch ein zweibahniges Maßwerkfenster des Seitenschiffs: „Seht hier eine Fensterform (forme) von Reims.... Ich zeichnete es, weil es mir am meisten gefiel.“ Es ist gegenüber den früheren, gestelzten Chorfen­ stern, die er auch gezeichnet hat, die jüngere und dann häufig wiederaufgenonjmene Form (Abb. 80-83). Um 1230 (Amiens um 1230, Saint-Denis 1231/41, Saint-Germain-en Laye nach 1238, Sainte-Chapelle in Paris 1241/45) entsteht in Frankreich das vierbahnige Maßwerkfenster mit abgestufter Profilierung (Abb. 337, 370-374): das klassische Gliederungssystem von zwei Lanzetten mit Kreis wird in den beiden Lanzetten wiederholt. Das Profil des Fenstergewändes setzt sich aus einer Folge von Gliedern I

373 Saint-Germain-en-Laye, königliche Schloßkapelle, um 1238 begonnen.

3 7 5 -3 7 7 Amiens, Kathedrale, ChorumgangsAchskapelle um 1 2 3 6 -1 2 5 0 .

zusammen, von denen die äußeren auch den Spitzbogen des Fenstergewändes umziehen, während die inneren um die Hauptteilung des Fensters geführt und von den alten Stäben aufgenommen werden. Ein innerer Teil, um eine Stufe zurückgenommen und in der Stabdimension reduziert, ist um eine zweite Ord­ nung geführt und wird von den jungen Stäben wiederholt. Das Maßwerk bildet mit dem profilierten Fenstergewände eine Einheit. Bereits um 1250 wird durch Stelzung des Bogenfeldes auch für die schmalen, zweibahnigen Fenster eine rei­ chere Musterung angestrebt, indem, wie bei dem vierbahnigen Fenster, kleinere Drei- und Vierpässe zwischen Hauptpaß und Unterteilung in Kreisen eingefügt werden: Chor von Clermont-Ferrand 1248-1280, Hochchor in Beauvais 1255-1272. Daneben tritt die Verwendung von drei ungerahmten Dreipässen im Bogenfeld auf: Chorkapellen von Amiens 1236/50 (Abb. 375-377), Chor der Sainte-Chapelle in Paris 1241/45 sowie Fenster mit drei- und sechsfachen Bahnen, bei denen das Bogenfeld entsprechend größere Ausdehnung erhält und darin eine dichtere Fül­ lung mit geringerer Differenzierung der Pässe vorkommt: Langchor von Amiens nach 1258. Das klassische Schema des Fenstermaßwerks wird seit 1260 im RayonnantMaßwerk (1260-1380) entweder dahin abgewandelt, daß das Couronnement eine große Rose erhält, die aus zahlreichen kleinen Pässen besteht oder den Fensterro­ sen ähnlich gestaltet wird, oder daß die Pässe in die Spitzbogenform eingefügt werden, wobei die Drei- und Vierpässe das Übergewicht erhalten und die Vierpäs­ se nicht mehr ausschließlich stehend, sondern auch liegend angeordnet werden. Noch früher tritt an der Sainte-Chapelle in Paris (1241/45, Abb. 209) der Abschluß

T 2 0 4 Bauformen

M aßwerk 2 0 5

i

\

381 Troyes, Saint-Urbain, 1 2 6 2 -1 2 6 6 , Chor­ fenster, Verglasung um 1 2 7 0 /7 5 , vgl. Abb. 343.

3 8 3 ,3 8 4 Chartres, Kathedrale,W estfassade, Rad-Lochscheibenfenster um 1 2 1 0 /2 0 .

382 Soissons, Kathedrale, Nordquerhaus, Ostportal m it durchlichtetem Tympanon (wie Reims-West) um 1260.

3 8 5 ,3 8 6 Beauvais, Kathedrale, links Langchor 1 2 8 4 -1 3 2 4 , rechts Chorpolygon 1 2 5 5 -1 2 7 2 .

der Bahnen durch Kleeblattbogen anstelle von Spitzbogen auf. Die Rahmung der Pässe durch sphärische Drei- oder Vierecke anstelle von Kreisen kommt erst­ mals wohl an der Rose und am Triforium des Südquerschiffs der Kathedrale von Paris (begonnen 1258) vor (Abb. 396) und ist seit 1270 schon recht weit verbreitet: Narbonne, Toulouse, Evreux, Limoges, Carcassonne ab 1290 (Abb. 362). Nur an den Kirchen in Zentralfrankreich finden sich bis ins 14. Jh. keine sphärischen Rahmungen, in Tours und Vendôme erst seit 1320. Burgund und die Champagne bleiben, wie schon im 13. Jh., in der Auf­ nahme neuer Elemente zurückhaltend. Die Führung in der Entwicklung des Maßwerks haben die nördliche Ile-de-France und die Normandie; hier ist der größte motivische Reichtum bei immer dichter werdender Musterung zu finden. Aus einem Architekturglied wird ein Ornament. Seit etwa der Mitte des 13. Jh.s kommen Sternblase (Nordquerschiff der Kathedrale von Paris) und Zwickelfischblase (Sainte-Chapelle in Paris, Wimperge der Kapellen am Chorumgang der Kathedrale von Paris 1298-1318, Saint-Germer-de-Fly Wimperge außen 1259-1266) auf, ohne aber den geometrischen Gesamtcharakter vor dem Ausgang des 14. Jh.s (Flamboyant) zu verändern. Der gleichen Entwicklung unterliegen die großen Rosenfenster der Westund Ouerhausfronten. Aus den zunächst runden Lochscheibenfenstern (Laon,

Maßwerk 2 0 7

2 0 6 Bauformen

387, 388 Laon, Kathedrale, Chor, Ostfront, 1 2 0 5 -1 2 1 5 (danach w urde 1860 die Westrose erneuert).

392, 393 Paris, Kathedrale, südliche und nördliche Querhausrosen 1 2 5 5 /6 5 .

390, 391 Chartres, Kathedrale, Südquerschiff 1 2 2 5 /3 0 und Nordquerschiff 1 2 3 0 /4 0 .

Nordquerschiff um 1180/90, Abb. 389; Chartres, West um 1210/20 mit 7 m Durch­ messer, Abb. 383, 384; Chartres, Südquerschiff 1225/30, Abb. 390, 391) und Radfen­ stern (Nordquerschiff von Saint-Étienne in Beauvais 1130/40, Westchor des Worm­ ser Doms vor 1181 und das aus Eichenholz gezimmerte sechzehnspeichige Radfenster im Nordquerhaus der Kathedrale von Basel 1180/1200) entwickeln sich geometrische Kreisgebilde, die strahlenförmig (Laon; das originale schlechterhal­ tene Westfenster als Radfenster mit eingespannten Kreisen wurde 1860 in Detail und Steinschnitt dem ähnlichen Ostchorfenster von 1205/15 angeglichen, Abb. 387) und schließlich netzartig (Chartres, Nordquerschiff 1230/40 mit 10,15 m Durchmesser, Abb. 391) überspannt werden. Bei der um 1210/20 entstandenen Westrose der Pariser Kathedrale um­ schließen die inneren zwölf Kleeblattbogen-Arkaden einen mit einem blattge­ nasten Zwölfpaß besetzten Kreis (Abb. 513); die äußeren 24 Kleeblattbogen-Arka­ den stehen abwechselnd auf den Säulen und den Bogenscheiteln der inneren Reihe; die Zwickel zur Fensterrosenlaibung sind durchbrochen. Diese Fensterrose

389 Laon, Kathedrale, Nordquerhaus, Lochscheiben-Rundfenster 1 1 8 0 /9 0 .

394, 395 Paris, Kathedrale, Nordquerhaus, Rose um 1 2 4 5 -1 2 5 8 von Jean de Chelles.

2 0 8 Bauformen

M a ß w e rk 2 0 9

400 Rouen, Kathedrale, Südquerhaus, Rose um 1300 (Zeichnung 1825).

401 Saint-Germer-de-Fly, M arienkapelle, W estwand vor 1267.

3 9 7 ,3 9 8 A Reims, Kathedrale, Westrose um 1270. 399 T Reims, Kathedrale, Südquerhaus, Rose um 1240 (vgl. Abb. 405).

396 Paris, Kathedrale, Südquerhaus, Rose nach 1258 von Pierre de M ontreuil (1725 und 1 8 6 0 /6 1 erneuert und dabei um 15° verdreht).

402 Sées (Orne), Kathedrale, Nordquerhaus um 1300.

ist die unmittelbare Vorstufe zum Maßwerk der um 1245/58 von Jean de Chelles an der Nordquerhausfassade gestalteten 16teiligen Rose mit einem seltenen Durchmesser von 13 m (Abb. 394, 395). Lanzett-Fensterrosen, bei denen die Lanzet­ ten in zwei Reihen angeordnet sind, sind nicht häufig. In die Zwickel zwischen den äußeren Lanzettbogen und der Fensterrosenlaibung sind ungerahmte, stehende Dreipässe eingefügt. Die Zwickel zur rechteckigen Rahmung sind mit je einem gerahmten, stehenden Sechspaß und zwei kleineren, gerahmten, stehenden Vier­ pässen gefüllt; die unteren Felder sind durchbrochen und verglast. Der Giebel ist vor 1258 mit einer Blendrose verziert worden, deren zentraler, liegender Sechspaß und deren Dreipässe in den umgebenden Kreisen durchbrochen und verglast sind. Die Giebelgestaltung entspricht dem Nordquerhaus von Saint-Denis um 1240. Das große Rosenfenster (um 1236/38) von Saint-Denis ähnelt in der Anordnung der von Paris, wie überhaupt die ganze, 1231 begonnene Nordfassade von Saint-Denis der Komposition von Paris entspricht. In diese Gruppe der Maßwerkrosen sind auch die Blendrose auf der Westwand der königlichen Schloßkapelle in Saint-Germain-en-Laye um 1238 und die Rose der Südquerhausfassade von Paris, die Pierre de Montreuil um 1260/65 in Anlehnung an die Nordrose gestaltet hat, zu zählen. In Fortführung der an den Nordquerhaus-Fassaden von Reims und Saint-Denis entwickelten Fensterrosenformen ist die Westrose der Marienkapelle an der Abtei­ kirche Saint-Germer-de-Fly bei Beauvais (1259 bis vor 1267, Abb. 401) gestaltet. Diese Ausformung findet sich im späten 13. Jh. mehrfach: Westfassade der Kathe­ drale von Reims (um 1270, Abb. 397), Westfassade der Kathedrale von Poitiers (um 1300), Nordquerhaus der Kathedrale von Tours (um 1300), und bleibt bis ins späte 14. Jh. bestehen: Sées 1300/20 (Abb. 402), Carcassonne um 1320, Limoges 1344/50.

2 1 0 Bauformen

M aßwerk 2 1 1

4 0 4 Chartres, Kathedrale, Südquerhaus, Rose 1 2 2 5 /3 0 .

405 Reims, Kathedrale, Nordquerhaus, Rose 1 2 3 0 /4 0 (vgl Abb. 399).

403 Soissons, Kathedrale, Nordquerhaus Ende 13.Jh.

406 Tours, Kathedrale Saint-Gatien, Nordquerhaus Anfang 14. Jh.

407 Troyes, Kathedrale, Südquerhaus, im 19. Jh. erneuert.

2 1 2 Bauformen

M aßwerk 2 1 3

409 York, Kathedrale, Südquerhaus 1 2 3 0 /4 0 .

411 Binham (Norfolk), Klosterkirche, W estfenster um 1270.

408 Châlons-sur-Marne, Kathedrale Saint-Étienne, Nordquerhaus nach 1256, Außenansicht und Querschnitt.

Die Auflösung der unteren Eckzwickel war schon im Nordquerschiff von Chartres (1230/40) eingeführt, die Umschreibung der Rose durch ein Quadrat mit Auflö­ sung auch der oberen Zwickel tritt an der Schloßkapelle von Saint-Germain-enLaye (um 1238) und an Saint-Germer-de-Fly (1259-1267, Abb. 401), dann auch an den Nordfassaden von Tours (Anfang 14. Jh. mit 10,50 m Durchmesser, Abb. 406) und Sées (Abb. 402) auf. Schließlich wird der Spitzbogen über durchbrochenen Zwickeln an der Reimser Westfassade (um 1270 mit 12 m Durchmesser, Abb. 1, 514) angewandt. Die Rose wird mit dem durchlichteten Triforium so verbunden, daß eine einheitliche Maßwerkfläche entsteht. Um 1300 erhält die Südquerschiff­ fassade der Kathedrale von Rouen (Abb. 400) eine Rose, deren sechs zentrifugal angeordneten, unterteilten Lanzetten auf einem großen, als eigene kleine Rose gestalteten Kreis im Zentrum aufsitzen; in die Zwickel zwischen den Lanzetten sind von der Laibung ausgehende, gleichförmige Lanzetten eingefügt, die ein sphärisch gerahmtes Dreiblatt auf beiden Seiten begleitet. England In England werden in der frühgeometrischen Phase (1245-1280) die ersten von Reims bzw. Paris beeinflußten Maßwerkfenster am Neubau der Westminster

410 York, Kathedrale, Kapitelhaus Ende 13. Jh.

412 Tintern, Abteikirche, Chor, Ostfenster 1287.

Abbey nach 1245 verwendet, die dort jedoch ohne Bezug zum Dienstsystem in die Wandfläche eingefügt sind. Die vierbahnigen Fenster am dortigen Kapitel­ haus (1245-1250/53) gehen auf die gleichzeitigen Fenster von Saint-Denis und am Chorumgang der Kathedrale 413 Tintern, Abtei von Paris zurück. Erst ab 1280 werden die Fensterstäbe syste kirche, W estfenster matisch den Diensten zugeordnet. Auf dieser von Frank­ 1 2 8 7 /8 8 . reich abhängigen Grundlage entwickelt sich das eng­ lische Maßwerk wenig variiert bis um 1300, dabei entstehen bis zu achtbahnige Fenster: Engels^ chor von Lincoln 1260/80 (Abb. 355), Bin harn um 1270 (Abb. 411), Oxford 1289/94. Das achtbahnige Fenster im Chor der Zisterzienserkirche von Tintern ab 1287 (Abb. 412) zeigt drei pyramidal angeord­ nete, gleich große Kreise, die mit Fünf­ pässen so ausgestaltet sind, daß diese zusammen mit den gleich großen Fünf­ pässen in den Lanzetten das gesamte Couronnement optisch wie ein Netzwerk ausfüllen. Am Übergang zur spätgeome­ trischen Phase kommen im letzten Viertel des 13. Jh.s drei- 41 4 Oxford, M erton College, Kapelle, und vierbahnige Fenster auf, die eine etwas breitere und Ostfenster im Scheitel höher gezogene Mittelbahn aufweisen: 1 2 8 9 -1 2 9 4 . York, Kapitelhaus 1275-1291 (Abb. 410), Edlesborough um 1290. Den Stäben sind allgemein Säulchen mit Basis und Kapitell vorgestellt. Das Maßwerk der spätgeometrischen Pha­ se (1280-1320) ist durch eine allgemeine Loslösung von den klassischen, französisch geprägten Motiven und durch eine zuneh­ mende Bereicherung um kompliziertere Formen gekennzeichnet, die weicher werden, aber auch Vergratungen erfah­ ren: langblättrige, gespitzte und gerahm­ te Paßfiguren, genaste Lanzettbogen oder spitzblättrige Kleeblattbogen inner­ halb der Lanzettbogen als Abschluß der einzelnen Bahnen; ungerahmte Figuren 415 York, Kathedrale, W estfenster 1338. und Zwickelmotive werden gebräuch lieh. Das Maßwerk wird zur freien Form, im Couronnement mit oder ohne Zentral­ motiv: Tintern, Westfenster 1287/88 (Abb. 413); Oxford, Ostfenster 1289/94 (Abb. 414). Auch finden sich Netzmuster, die durch Bogenkreuzungen und An- und Übereinanderreihung gleichartiger und gleich großer Figuren entstehen. Während in Frankreich zu Beginn des 14. Jh.s im Rayonnant-Maßwerk die For­ men aus grätigen Spitzblättern und sphärischen Drei- und Vierecken mit Paßfigu­ ren gebildet werden, nimmt die Entwicklung in England einen anderen Verlauf. Die Fortsetzung der Tendenz, die streng voneinander abgesetzten geometrischen Figuren zu einem netzartigen Gesamtbild zu vereinigen und gleichzeitig die vielen Zwickel zwischen den Kreisformen einzuspannen, führt zu fließenden, wellenarti-

2 1 4 Bauformen

M a ß w e rk 2 1 5

4 2 0 -4 2 2 M arburg, Elisabethkirche, Fenster im Dreikonchenchor 1 2 3 5 -1 2 4 8 , im W estteil des Langhauses nach 1 2 6 5 -1 2 8 3 und in der Sakristei um 1280.

418 London,W estm inster Abbey, 1 2 4 5 -1 2 5 8 .

4 1 6 ,4 1 7 Lincoln, Kathedrale, Südquerhaus, Bishop’s Eye um 1320.

gen Linien und schmiegsamen, blasenartigen Formen in der 1. Hälfte des 14. Jh.s, zu dem Curvilinear- oder Flowing-Maßwerk (1315-1360/80). Mit dem Aufkom­ men des Kielbogens werden kurz nach 1300 die ersten curvilinearen Formen aus­ gebildet. Die Verschmelzung des Kielbogens mit spätgeometrischen Figuren läßt ein Netzwerk aus zwiebelförmigen Gebilden entstehen. In der Folgezeit werden durch die Variation in der Verbindung mit der gleichzeitigen Verselbständigung der Zwickelmotive Schneuß und Soufflet immer wieder vorrangig neue blasenför­ mige, vergitterte Gebilde geformt, oft mit dem baumartigen Motiv des LeaffedStem: Westfenster der Kathedrale von York 1338 (Abb. 415), Lincoln, Südquerhaus um 1320 (Abb. 417,418).

425 Straßburg, Münster, südliches Seitenschiff um 1 2 4 0 /5 0 .

4 2 3 ,4 2 4 Haina, Zisterzienserkloster, Kirche, Nordquerhaus und Ostfenster des Chors um 1 2 5 0 /6 0 (Vorbild Amiens, Langhaus vor 1235).

Deutschland In Deutschland ist bis 1250 der Einfluß Frankreichs unverkennbar. Mit der Elisa­ bethkirche in Marburg (1235-1283), der Liebfrauenkirche in Trier (um 1235 bis nach 1253) und der Zisterzienserkirche in Haina (um 1240/50) werden erste durch­ gehend gotisch gestaltete und konstruierte Bauten auf deutschem Boden errichtet. Hier erscheinen auch erstmals die Reimser zweibahnigen Maßwerkfenster. Der Marburger Dreikonchenchor (1235-1243) zeigt Einflüsse aus der Pariser Bauhütte (Abb. 420-422). Die Achsfenster sind durch stehende Sechspässe in den sonst lee­ ren Kreisen hervorgehoben, im oberen Südfenster durch einen liegenden Sechs­ paß (um 1243). In der Trierer Liebfrauenkirche sind in der unteren Fensterzone im Ostchor die Kreise mit stehenden und in den Konchen mit liegenden Sechspässen gefüllt (Abb. 244, 245), wie das auch in der 1268 begonnenen Ritterstiftskirche in Wimpfen im Tal angewandt wird. Diese u. a. auch im Westchor des Naumburger Doms (um 1250) erkennbare, klare Grundstruktur endet um 1250. Ein Übergang zu reicheren Schmuckformen findet statt, und vierbahnige Fenster setzen sich durch: Langhaus des Straßburger Münsters (1240-1275, Abb. 425), Freiburger Münster (um 1240/50), Zisterzienserkirche Haina (um 1250/60, Abb. 423,424), Chor des Köl­ ner Doms (um 1280, Abb. 426-431), Zisterzienserkirche Altenberg (nach 1258). Säulchen mit Kapitel und Basis sowie Rundstäbe sind den Stäben vorgelegt, aber auch einfache, abgeplattete Grate kommen vor (Freiburger Münster nach 1250) oder auch Wirtel an den Säulenschäften (Hirzenach bei Boppard am Rhein um 1250). Der Kreis bleibt leer oder wird von freien Drei- und Vierpaßfiguren ver­ drängt, auch von gestapelten Dreipässen wie im Chor von Amiens und in der Sainte-Chapelle in Paris: Kölner Dom, Chor 1248/1300 (Abb. 430), Wetter um 1270/80, Paderborner Dom um 1270/80, Chorin um 1290/1300; auch gestapelte Kreise kommen vor: Predigerkirche in Basel 1261-1269, Dominikanerkirche in Frankfurt a. M. vor 1280, Zisterzienserkloster Loccum, Kreuzgang um 1300. Die volle Eigenständigkeit wird durch den Straßburger Fassadenriß B (1275/78) und die Ausführung des Westbaus unter Erwin von Steinbach (gest. 1318) erreicht, wo eine Reihe von neuen Formen eingeführt wird (Abb. 432-442), u. a. die Nasen an den Lanzettbogen der Bahnen (zum ersten Mal in dem Straßburger Riß A 1255/75) und der Dreistrahl (zuvor im Blendmaßwerk am Nordquerhaus der Pari­ ser Kathedrale vor 1257). Auch wird hier nach 1295 erstmals das Problem gelöst, die für den Außenbau wichtige Einordnung der Rose in ein Quadrat mit einer der Kreisform der Rose entsprechenden Belichtung zu verbinden (Abb. 432-435). Dies

4 2 6 ,4 2 7 Köln, Dom, Fenstermaßwerk, Chor-Obergaden und Fassadenriß F, 1. Obergeschoß, um 1 2 7 0 /1 3 0 0 .

geschieht mit Hilfe der Anordnung von Rose und Rahmen in zwei getrennten 431 ► Köln, Dom, Chor-Obergaden um 1 2 7 5 /8 5 . Schichten. In Straßburg ist das Quadrat als freier Maßwerkschleier der Wand vor­ gestellt. Diese schlanke, feingliedrige Rose schließt die Entwicklung des 13. Jh.s ab und bildet zugleich ihren Höhepunkt. Ab 1260 kommen ungerahmte Paßformen vor, gleichzeitig treten auch erste dreibahnige Fenster auf: je nach Füllung des Couronnements wird die mittlere Bahn über die beiden seitlich hinaufgezogen, wie dies bei Dreifenstergruppen üblich war, oder sie endet niedriger, wenn sich das Zentralmotiv zwischen die seit­ lichen Bahnen senkt. Auch finden sich nun sechsbahnige Fenster, die entweder in drei und drei Bahnen (südliches Querhaus von St. Martin in Colmar 2. Hälfte 13. Jh.) oder dreimal zwei Bahnen (südliches Querhaus der Stiftskirche von Wimp­ fen nach 1268, dann Regensburg um 1300) eingeteilt sind. Einmalig werden die sechs Fenster des Hallenlanghauses des Mindener Doms (nach 1267 bis um 1290) in der Kombination von Bahnen- und Rundfenstern gestaltet (Abb. 448). Parallel zu der Straßburger Entwicklung werden die Ober­ gadenfenster des Kölner Domchors und deren bekrönenden Wimperge ab etwa 1277 reich gestaltet: der beherrschende Vierpaß ist genast und hat Lilienenden, die Kreise in den überfangenen Doppelbahnen haben genaste liegende Fünf­ pässe, im krabbenbesetzten Wimperg befindet sich ein Drei­ strahl, der mit zwei Lanzetten und einem Dreipaß gefüllt ist, in den Zwickeln ebenfalls Dreipässe. In der Zeit von 1290 bis 1310 verhärtet sich das Stabprofil, und das Maßwerk erhält einfachere Detailformen, zugleich entstehen große, reichgegliederte, sechsbahnige Fenster: Westfenster der Elisabethkirche in Marburg vor 1283 (Abb. 4 2 9 ,4 3 0 Köln, Dom, Langchor-Obergaden um 1 2 7 5 /8 5 und Chorka­ pelle um 1 2 6 0 /6 5 .

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428 Köln, Dom, Chor, Obergadenfenster m it W im perg um 1 2 8 0 /1 3 0 0 .

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