Was ist der Mensch, was Geschichte?: Annäherungen an eine kulturwissenschaftliche Anthropologie [1. Aufl.] 9783839402665

Die Beiträge renommierter Vertreter verschiedener Disziplinen widmen sich der althergebrachten und zugleich aktuellen Fr

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German Pages 380 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
Ein Historiker, der vorwärts denkt. Jörn Rüsen zum 65. Geburtstag
Menschsein und Menschenbilder
Der verlorene Mensch
Vermittelte Unmittelbarkeit. Das Glück der ästhetischen Erfahrung
Homines hominum causa. Kultur und Menschenbild: Zur Logik der Deutungsebenen
Christen und wir. Einige Gedanken aus stets gegebenem Anlaß
Lebensführung in exzentrischer Positionalität. Helmut Plessners Grundlegung philosophischer Anthropologie
Stufen der Sinnhaftigkeit. James George Frazer auf dem Weg von der Auf- zur Abklärung
Sind wir nicht alle Chinesen? Überlegungen eines Sinologen zum Menschsein
Sinn und Sinnbefreiung im Spiel der Zeichen. Zu Roland Barthes’ Semiotik des Fremden am Beispiel Japans
Autonomie, narrative Identität und die postmoderne Kritik des sozialen Konstruktionismus. »Relationales« und »dialogisches« Selbst als zeitgemäße Alternativen?
Anfragen an die Geschichte
Die Naturalisierung des Geistes und das Ende der Geschichte. Philosophische Überlegungen zu den anthropologischen Voraussetzungen des Geschichtsbewusstseins
Synthesekonzeptionen heute
Der metaphorische Mensch. Zur Analogiebildung von Mensch, Staat und Geschichte in der Aufklärung und im Vormärz
Zweierlei Katastrophe. Über den Zusammenhang der Täter- und Opferrollen in der deutschen Geschichtsschreibung nach 1945
Der Mensch und die Gewalt. Perspektiven der historischen Forschung
»Der Mensch ist eine Frau.« Die ›Genderisierung‹ des europäischen Subjekts im Liebesdiskurs
Gesellschaftliche Praktiken und Vorstellungen in der Kulturgeschichte
»Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben.« Traditionen des utopischen Denkens bei Robert Musil
Die fünfte Dimension: Intersubjektivität
Autorinnen und Autoren 371
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Was ist der Mensch, was Geschichte?: Annäherungen an eine kulturwissenschaftliche Anthropologie [1. Aufl.]
 9783839402665

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Was ist der Mensch, was Geschichte?

2005-05-10 17-39-08 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 83753332810

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) T00_02 vak.p 83753332850

Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.) Was ist der Mensch, was Geschichte? Annäherungen an eine kulturwissenschaftliche Anthropologie Jörn Rüsen zum 65. Geburtstag

2005-05-10 17-39-10 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S.

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) T00_03 innentitel.p 83753332946

Gedruckt mit Unterstützung des Alfred-Anger-Fonds bei dem Verein zur Förderung des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-266-X Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 83753333026

Inhalt Friedrich Jaeger und Jürgen Straub Vorwort der Herausgeber 9 Eberhard Lämmert Ein Historiker, der vorwärts denkt. Jörn Rüsen zum 65. Geburtstag 13

Menschsein und Menschenbilder Dirk Rustemeyer Der verlorene Mensch 21 Hans-Georg Soeffner Vermittelte Unmittelbarkeit. Das Glück der ästhetischen Erfahrung 53 Burkhard Gladigow Homines hominum causa. Kultur und Menschenbild: Zur Logik der Deutungsebenen 73 Jan Philipp Reemtsma Christen und wir. Einige Gedanken aus stets gegebenem Anlaß 89

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Wolfgang Bialas Lebensführung in exzentrischer Positionalität. Helmut Plessners Grundlegung philosophischer Anthropologie 103 Klaus E. Müller Stufen der Sinnhaftigkeit. James George Frazer auf dem Weg von der Auf- zur Abklärung 123 Helwig Schmidt-Glintzer Sind wir nicht alle Chinesen? Überlegungen eines Sinologen zum Menschsein 141 Thomas Göller Sinn und Sinnbefreiung im Spiel der Zeichen. Zu Roland Barthes’ Semiotik des Fremden am Beispiel Japans 153 Jürgen Straub und Barbara Zielke Autonomie, narrative Identität und die postmoderne Kritik des sozialen Konstruktionismus. »Relationales« und »dialogisches« Selbst als zeitgemäße Alternativen? 165

Anfragen an die Geschichte Georg Essen Die Naturalisierung des Geistes und das Ende der Geschichte. Philosophische Überlegungen zu den anthropologischen Voraussetzungen des Geschichtsbewusstseins 213 Hans-Ulrich Wehler Synthesekonzeptionen heute 233

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7) T00_05 inhalt.p 83753333146

Sebastian Manhart Der metaphorische Mensch. Zur Analogiebildung von Mensch, Staat und Geschichte in der Aufklärung und im Vormärz 241 Chris Lorenz Zweierlei Katastrophe. Über den Zusammenhang der Täter- und Opferrollen in der deutschen Geschichtsschreibung nach 1945 279 Friedrich Jaeger Der Mensch und die Gewalt. Perspektiven der historischen Forschung 301 Luisa Passerini »Der Mensch ist eine Frau.« Die ›Genderisierung‹ des europäischen Subjekts im Liebesdiskurs 325 Paul Ricœur Gesellschaftliche Praktiken und Vorstellungen in der Kulturgeschichte 337 Wilhelm Voßkamp »Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben.« Traditionen des utopischen Denkens bei Robert Musil 347 Harald Welzer Die fünfte Dimension: Intersubjektivität 363

Autorinnen und Autoren 371

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) vakat 008.p 83753333274

VORWORT DER HERAUSGEBER

Vorwort der Herausgeber

»Denn Philosophie […] ist ja die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke subordinirt sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen. Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.«1 Die zentralen Problemstellungen der Philosophie, die Immanuel Kant an dieser berühmten und viel zitierten Stelle der Einleitung seiner Logik in programmatischer Absicht absteckte, kulminieren in der abschließenden, alle übrigen in sich vereinigenden anthropologischen Grundfrage des Denkens. Die Wirkungsmächtigkeit dieser von Kant gestellten Frage lässt sich daran ermessen, dass sie noch heute als das eigentliche Thema der neueren Kulturwissenschaften im Sinne der Wissenschaften vom Menschen und seiner kulturellen Welt gelten kann und ihnen nicht allein ihre heuristischen Perspektiven sowie ihr theoretisch-methodisches Profil, sondern auch ihre disziplinäre Vielfalt und Struktur verleiht. Zugleich haben sich die neueren Kulturwissenschaften in ihrem forschenden Fragen nach ’dem Menschen’ nachdrücklich gegenüber der historischen Vielfalt und unerschöpflichen Pluralität menschlicher Entwicklungswege, Lebensformen und Kulturen geöffnet. Dies hat ihren Erfahrungsbezug und empirischen Geltungsanspruch gegenüber dem Zeitalter Kants noch einmal erheblich gesteigert. Kant unterschied die Anthropologie als »eine Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt«, in zwei komplementäre Abteilungen, nämlich eine Anthropologie in physiologischer und 1. Immanuel Kant, Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. Hrsg. von Gottlob Benjamin Jäsche. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. IX: Logik, Physische Geographie, Pädagogik, S. 1-150, hier S. 24f. Berlin: Walter de Gruyter 1968. 9

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FRIEDRICH JAEGER UND JÜRGEN STRAUB

eine in pragmatischer Hinsicht.2 Während Erstere sich damit zu befassen habe, »was die Natur aus dem Menschen macht«, widme sich die zweite, Kant vornehmlich interessierende, der Frage, »was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll«.3 Die heutigen Kulturwissenschaften begreifen »Kultur« oder »Kulturalität« als Bestandteil der Natur des Menschen, thematisieren den Menschen aber auch in anderen Hinsichten durchaus als »Naturwesen« – wobei sie immer engere Kooperationen mit den an allgemein-menschlichen Gesetzmäßigkeiten und Universalien interessierten Naturwissenschaften eingehen. Ihr zentraler Gegenstand ist jedoch der Mensch als kontingentes, veränderliches und »lokal« besonderes »Kulturwesen« und, wie Kant sagte, als »Weltbürger«. Die jüngeren Kulturwissenschaften untersuchen die als Kollektivsingular begriffene Lebensform des Menschen ebenso wie die historisch und kulturell variablen, heterogenen Lebensformen der Menschen. Sie knüpfen damit an Kants differenziertes Programm einer anthropologischen Forschung an, wenngleich sie deren theoretischen, methodologischen und methodischen Rahmen selbstverständlich längst ebenso überschritten und erweitert haben wie die seinerzeit vorliegenden Befunde (z.B. bezüglich der von Kant vorgestellten »Anthropologischen Charakteristik«, die sich dem »Charakter« der »Person«, des »Geschlechts«, des »Volks«, der »Rasse«, schließlich dem »Charakter der Gattung« widmet). Jenseits der allgemeinen Aktualität des kulturwissenschaftlichen Fragens nach dem Menschen gibt es für das Erscheinen dieses Bandes auch einen ganz besonderen Grund: Am 20. und 21. Oktober 2003 hat am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen ein Symposion aus Anlass von Jörn Rüsens 65. Geburtstag stattgefunden, das dem Thema »Was ist der Mensch? Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Anthropologie« gewidmet war. Der Titel wurde gewählt, weil er eine Leitperspektive des Denkens von Jörn Rüsen kennzeichnet, die er in zahlreichen Schriften ausgearbeitet und begründet hat. Dabei verknüpft er seit langem Einsichten einer historischen und philosophischen Anthropologie, die die jüngsten Ergebnisse einer multi- und interdisziplinären, kulturelle Lebensformen kontinuierlich differenzierenden erfahrungswissenschaftlichen Forschung aufnahm, mit theoretischen und pragmatischen Überlegungen zum praktischen, ethisch-moralischen Prinzip der Anerkennung von Differenz und seiner schrittweisen Konkretion in der Geschichte der Menschenrechte. Solche Überlegungen besitzen also niemals den Status idealistischer Wunschträume oder bloß normativer Postulate. Sie bewegen sich vielmehr auf dem Boden 2. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. VII: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 117-333, hier S. 119. Berlin: Walter de Gruyter 1968. 3. Ebd. 10

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VORWORT DER HERAUSGEBER

einer kulturwissenschaftlichen und speziell geschichtswissenschaftlichen empirischen Forschung, die in – diachron und synchron – kulturvergleichender Perspektive nach anthropologischen Universalien und Menschheitskonzeptionen fahndet und die eine nicht illusionäre, in die Zukunft entworfene Geschichte in weltbürgerlicher Absicht im Zeichen eines neuen Humanismus eröffnen und begründen hilft. Die Absicht des Jörn Rüsen gewidmeten Symposions war es, die am Kulturwissenschaftlichen Institut in den vergangenen Jahren unter seiner Präsidentschaft geleistete Forschungsarbeit zumindest in einigen Auszügen Revue passieren zu lassen. Dies sollte vor allem unter Mitwirkung derjenigen geschehen, die als Leiter oder Angehörige interdisziplinärer Studiengruppen oder als Mitarbeiter in anderen Forschungsprojekten, schließlich als individuell am Kulturwissenschaftlichen Institut tätige Wissenschaftler (z.B. in der Funktion eines Senior Fellow) zur Verwirklichung anspruchsvoller Forschungsprogramme beigetragen haben. Es waren die in diesem Band vertretenen Fellows und sonstigen Gäste des Instituts, die das thematische und wissenschaftliche Profil in den vergangenen Jahren wesentlich mit geprägt haben – neben einigen anderen Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls zum Gelingen der Arbeit sowie der regionalen, nationalen und internationalen Anerkennung des von Jörn Rüsen geleiteten Kulturwissenschaftlichen Instituts im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen beigetragen haben. Manche dieser Kolleginnen und Kollegen waren auf dem Symposion anwesend, konnten ihren Beitrag jedoch in der gebotenen Zeit nicht fertig stellen. Ihnen danken wir für ihr damaliges Kommen, den Autorinnen und Autoren für ihre Aufsätze, die sie zu Ehren des Jubilars verfassten und zur Verfügung stellten. Dazu gehören auch jene Beiträge von Freunden, Kolleginnen und Schülern des Jubilars, welche die Herausgeber zusätzlich zu den überarbeiteten Vorträgen eingeworben haben. Das Thema des Symposions und vorliegenden Bandes wurde bewusst weit gefasst. Angesichts der breit gefächerten und dennoch konzentrierten wissenschaftlichen Interessen und Aktivitäten Jörn Rüsens lag die Formulierung Was ist der Mensch, was Geschichte? nahe. Diese Frage wurde selbstverständlich im Bewusstsein gestellt, dass eine umfassende Antwort auch durch die differenzierten Bemühungen einer größeren Schar von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unmöglich ist. Die Aufsätze des Bandes, der keine erschöpfende und systematische Antwort auf die aufgeworfene Frage geben kann und will, gehen dem Thema vor allem unter zwei Gesichtspunkten nach: In einem ersten Teil steht die Frage nach Dimensionen des Menschseins sowie nach Menschenbildern aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven im Zentrum des Interesses. Beiträge aus dem Bereich der Philosophie und philosophischen Anthropologie, der Ästhetik und Religionswissenschaft, der Ethnologie und Psychologie sind 11

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FRIEDRICH JAEGER UND JÜRGEN STRAUB

dabei ebenso vertreten wie Arbeiten, die Erfahrungen kultureller Fremdheit und der Differenz der Kulturen zum Thema machen. Die Beiträge des zweiten Teils sind historischen Aspekten und Dimensionen der kulturwissenschaftlichen Anthropologie gewidmet und greifen die Ausgangsfrage des Symposions aus unterschiedlichen Perspektiven, mit jeweils anderen Schwerpunktsetzungen und anhand konkreter Beispiele und Fallstudien auf. Dass die Antwort auf die Frage nach dem Menschen vor allem auch auf historische Weise gegeben werden müsse, ist eine Einsicht, die in ihrer ganzen Konsequenz erst im Rahmen des nach Kant erfolgenden Aufstiegs der historischen Wissenschaften vom Menschen realisiert worden ist. Das Werk Jörn Rüsens steht für genau diese Einsicht und erweist sich von der Überzeugung geleitet, dass Menschen erst im Modus des historischen Erzählens ihrer selbst im zeitlichen Wandel bewusst und kulturell mächtig werden können. Dabei vergewissern sie sich nicht allein der Vergangenheit und Gegenwart ihrer selbst, entwerfen Handlungs- und Lebensorientierungen für ihre je eigene zukünftige Existenz (in einer wie auch immer globalisierten Welt) – sondern sie schlagen womöglich auch Brücken zu den kulturellen Lebensformen anderer und fremder Kulturen, Brücken, die eine an universellen oder im Dialog universalisierbaren Aspekten ausgerichtete, vernunftorientierte Zukunft einer als Einheit ihrer Differenzen gefassten, gefährdeten und sich gefährdenden Menschheit eröffnet. Vorangestellt ist den Beiträgen eine persönliche Würdigung Jörn Rüsens und seines Wirkens als Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts durch Eberhard Lämmert, die der Vorsitzende des Beirats des Kulturwissenschaftlichen Instituts im Rahmen einer in das Symposion integrierten öffentlichen Festrede im Folkwang Museum Essen vorgetragen hat. Essen und Chemnitz, im März 2005 Friedrich Jaeger und Jürgen Straub

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EIN HISTORIKER, DER VORWÄRTS DENKT

Ein Historiker, der vorwärts denkt. Jörn Rüsen zum 65. Geburtstag Eberhard Lämmert

Es macht Sinn, Jörn Rüsen zu seinem 65. Geburtstag mit einer öffentlichen Laudatio1 zu bedenken, und zwar aus drei Gründen: 1. Seit seiner Geburt, die nicht sein Verdienst sein konnte, ist nun hinreichend viel Zeit verstrichen, um zu sehen, dass nächst seiner Familie, die ohnehin längst weiß, was sie an ihm hat, mittlerweile so viele Menschen in den verschiedenen Stadien seines Lebens Gewinn aus dem Umgang mit ihm davontrugen und noch tragen – Freunde, Schüler, Mitarbeiter, Politiker, Journalisten aller Medien, Mitbürger und Bekannte in aller Welt, und sogar Kollegen –, dass kein Hausbriefkasten mehr hinreicht, um ihm den Dank für diesen Gewinn abzustatten und ihm Glück für den weiteren Weg zu wünschen. 2. Die sechziger Jahre sind ein Höhenzug im Leben jedes Menschen, dem vergönnt ist, sie zu erreichen, und der 65. Geburtstag in dessen Mitte ist ein Aussichtspunkt, von dem aus der Rückblick auf das gelebte Leben schon gelassen genug und der Vorausblick auf das künftige noch neugierig genug sind, um nach allen Beglückungen und Zusammenstößen mit dem wirklich Gewesenen für das Mögliche noch Sinn zu haben. In Ihrem Falle, lieber Jörn Rüsen, ist dies aber nicht ein einfacher Aussichtspunkt auf Ihr eigenes Leben. Denn seit Sie sich vor sechseinhalb Jahren dazu entschieden haben, die Verantwortung für das KWI zu übernehmen, haben Sie es mit einem Ort zu tun, um den der Wind noch etwas schärfer weht als um ein einzeln stehendes Haus. Minister und Mäzene haben seit einiger Zeit den bildkräftigen Aus1. Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine Ansprache, die anlässlich der öffentlichen Ehrung des Jubilars im Folkwang-Museum Essen am 20.10.2003 gehalten wurde. Der Wortlaut der Festrede, mit dem der Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts und seine Gäste begrüßt wurden, wurde beibehalten. So sind im vorliegenden Buch einige der festlichen Töne bewahrt, die den Abend begleiteten. 13

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EBERHARD LÄMMERT

druck »Leuchtturm« für eine Anzahl selbständiger Kultureinrichtungen gefunden, die selbst dann im Blick bleiben sollen, wenn allen schon das Wasser bis zum Halse steht. Eine unserer führenden Tageszeitungen, deren Urteil in kulturellen Angelegenheiten auch denjenigen etwas gilt, die ihr politisch ferner stehen, hat in einer melancholischen Bilanz über die geringe Anzahl solcher Einrichtungen in der kulturwissenschaftlichen Szene der Bundesrepublik immerhin zwei davon gelten lassen, weil sie es verstanden hätten, »mit neuartigen Fragen« eine interessierte Öffentlichkeit zu erreichen. Eine davon ist das KWI. Das Siegel darauf hat erst kürzlich der Wissenschaftsrat mit dem Dictum von der »singulären Erscheinung in der deutschen Wissenschaftslandschaft« gesetzt, und für die Presse des Landes ist das KWI, um nur aus den letzten Jahrgängen zu zitieren, »ein Ort der Konzentration und des intensiven Dialogs«, es »holt kluge Köpfe« ins Land, und es erweist sich bei Bedarf auch als ein »Hort der zeitgenössischen Kunst«. Es ist also ein Leuchtturm, lieber Jörn Rüsen, an dessen Errichtung Sie nach Ihren Vorgängern, Lutz Niethammer und Wilfried Loth, einen hohen Anteil haben. Gemeinsam mit den klugen Köpfen, die Sie dazu immer neu ins Land locken, weitet er ihnen den Ausblick, und mit dem Leuchtfeuer, für das Sie miteinander zu sorgen haben, kann er heute schon ein Ort der Orientierung auch und gerade bei unsicherer Wetterlage sein. Viele wissen mit mir, wie viel dem Historiker Rüsen daran liegt, wissenschaftliche Arbeit mit dem Ziel zu betreiben, Orientierungspunkte angeben zu können bei Entscheidungen, die das Leben Einzelner oder vieler Menschen angehen. Die gemeinsame Anstrengung und auch die Lust, mit der im KWI in Projekten, Studiengruppen, Workshops und Konferenzen an diesem Ziel gearbeitet wird, gibt an einem Tag, der eigentlich nur Ihr Geburtstag ist, auch reichlichen Anlass zu Glückwünschen und Ermunterungen für die Zukunft des KWI und für alle Mitarbeiter und Kollegen, die Sie dabei zu bedenken haben. Auch deshalb macht eine Laudatio in aller Öffentlichkeit einen guten Sinn. 3. Zu diesem Geburtstag bereiten Freunde und Schüler Ihnen an diesem Institut ein Symposion unter dem nicht gerade eng gefassten Titel »Was ist der Mensch?«. Ich vermute, dass eine solche Weite der Fragestellung Ihnen nicht ungelegen ist, und sei es nur, um den Wissensdurst zu kennzeichnen, den Sie dem Kulturwissenschaftlichen Institut wünschen und selber ständig eingeben. Mir scheint auf der halben Strecke dieses Symposions der Augenblick jedoch günstig, das schier randlose Thema »Was ist der Mensch?« zu fokussieren auf die Frage: »Was ist Jörn Rüsen?«. Um diese Frage gehörig einzugrenzen auf die Zuständigkeit, die mir an dieser Stelle zukommt, und um, wie es auch Rüsens gute Art ist, beizeiten kenntlich zu machen, worauf sie zielt, 14

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EIN HISTORIKER, DER VORWÄRTS DENKT

möchte ich in gebotener Kürze an zwei Blutproben zeigen, was Rüsen als Wissenschaftler für mich ausmachte, bevor er das KWI übernahm, und was er dort für mich wurde. Mit Jörn Rüsen und zum guten Teil durch ihn hat die Geschichtswissenschaft auf die Frage, ob ein Geschichtsschreiber die Vergangenheit so erzählen kann, »wie es eigentlich gewesen«, in den siebziger Jahren – nach einem guten Jahrhundert – zu einer neuen Ehrlichkeit gefunden. Herausgefordert durch den Verdacht hartnäckiger Strukturalisten, ein Erzähler, der durch Quellen bezeugte Tatsachen zu einer Geschichte verknüpft, verbiege sie notwendig in seinem Sinne, durchschlug Rüsen entschlossen den gordischen Knoten, zu dem der rote Faden einer Geschichtserzählung unversehens geworden war, mit der Waffe des philosophisch geschulten Theoretikers: Ein Konstrukt sei sie in jedem Falle, aber ein wahrhaftiges Angebot an den Leser könne eine mit wissenschaftlichem Anspruch erzählte Geschichte dann sein, wenn der Erzähler Sinn und Zweck seiner Darstellung durchblicken lässt und mit dem Blick auf seine Gegenwart auch begründet. Um dieselbe Zeit übrigens hatte Uwe Johnson seine Bemerkungen zur Romantheorie mit dem lapidaren Satz begonnen: »Geschichte ist ein Entwurf«. Unter einer solchen Vorgabe klärte sich schließlich auch neu, warum Ranke die Geschichte aus europäischer Sicht nacheinander als eine Geschichte der Völkerwanderungen, der Kreuzzüge und zuletzt der Kolonialpolitik beschreiben konnte. Rüsen wurde damals für mich zu einem Historiker, der vorbildlich das Ethos einer selbstkritischen Genauigkeit mit dem Ethos eines Orientierungsangebots für die Lebenden von heute und morgen verband: ein Historiker, der die Notwendigkeit eines Standpunktes lehrte, und der selbst einen hatte. Mit ihm ließ sich – das führte uns im Historikerstreit zusammen – die Zukunft der Aufklärung bedenken. In seinem ersten Rundfunk-Interview als Präsident des KWI hat Rüsen die Konflikte zwischen unterschiedlichen Kulturen im fortschreitenden Globalisierungsprozess als eines der »wesentlichen Themen« bezeichnet, das den Kulturwissenschaften »heutzutage« anstünde (WDR, 31.10.1997). Den Beirat, der über das Programm der Studiengruppen mit entscheidet, hatte er mit der ihm eigenen Gabe, alles Wünschbare für dringlich zu erklären, rasch dafür gewonnen, den Bewerbungen aus dem oder über den Islam, über afrikanische und asiatische Verhältnisse besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden: Interkulturelle Kommunikation zu fördern, gehöre zum Wichtigsten, was das Institut für die nächsten Generationen zu leisten habe, auch um der Kultur willen, mit der wir hierzulande künftig leben wollen. Unermüdlich war er selbst darin, zusätzlich zu den guten Kontakten zu den USA, über die in unseren Disziplinen beinahe jeder verfügt, der auf sich hält, Arbeitsvorhaben mit afrikanischen und asiatischen Partnern in Gang zu setzen. Darunter ist das Projekt mit der 15

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EBERHARD LÄMMERT

südafrikanischen Universität Stellenbosch unter dem Titel Transition to Democracy schon angesichts der Verhältnisse im Irak geradezu beispielhaft für das, was heute vor Anderem nottut: die Erforschung der Probleme im Verlauf der Demokratisierung vormals autoritär regierter Gesellschaften. Oft und gern ist von der Internationalisierung der Wissenschaften die Rede, als ob sie so leicht wäre wie die Gründung von Tochterfirmen in Billiglohn-Ländern. Rüsen hat Ernst damit gemacht auch in seinen eigenen Studien. In dem Essayband, den der Historiker Rüsen in diesem Jahr unter dem herausfordernden Titel Kann gestern besser werden? vorgelegt hat, ist gründlich auch von morgen die Rede. Denn in der Einleitung so gut wie im letzten Abschnitt dieses Buches wird, fragend noch, die Richtung ausgemacht, in der bislang kaum befragte Grundlagen unseres Kulturbewusstseins sich zu ändern oder doch zu erweitern haben, um dem unumkehrbaren Globalisierungsschub, den bisher vor allem grenzüberschreitende Geldströme und Informationssysteme diktieren, nicht passiv ausgesetzt zu sein. Seit es möglich wurde, jeden Ort der Welt in so genannter »Echtzeit« mit den gleichen Nachrichten und Bildern zu versehen, wird dies, womöglich stärker noch als die Belieferung mit denselben Gebrauchsgütern und Getränken, vormals gut abgrenzbare Kulturen porös, aber ebenso gegeneinander neuralgisch machen. Kaum aufhaltbare Migrationsbewegungen sorgen darüber hinaus schon heute gegen allen Protest für die dauerhafte Verzahnung ehemals einander fern stehender Kulturen auf engem Raum. Aus diesen Gründen wäre für Rüsen auch die vielberufene Erweiterung unseres Identitätsbewusstseins von einem nationalen auf einen europäischen Horizont nur eine halbe Lösung. Denn, so heißt es auf der vorletzten Seite seines letzten Buches, »nur der Grundsatz einer wechselseitigen […] Anerkennung von Differenz und Besonderheit« kann dem künftigen Neben- und Miteinander der Kulturen auf einer immer dichter besiedelten Erde gerecht werden. Dies wird allerdings nicht nur den historischen Grenzen der Kulturen, sondern auch einer schroffen Entgegensetzung von »Eigenem« und »Fremdem« ihre Absolutheit nehmen. Die Substanz dessen, was eigentlich unsere Identität ausmacht, wird im Fluss der Zeit immer rascher neu zu überprüfen sein. Seine eigenen Studien hat Rüsen bis an den Rand dieser Zukunftsprobleme vorgetrieben. In der neuen Studiengruppe Islamische Kultur und moderne Gesellschaft und in dem Graduiertenkolleg über Interkulturelle Kommunikation – Interkulturelle Kompetenz, das im April 2004 seine Arbeit aufnehmen wird, sind die Schneisen zur Inangriffnahme dieser uns alle angehenden Themen schon gelegt. Dabei greifen die Arbeitspläne dieser Projekte bereits weiter aus, als Rüsen vorgedacht hat. Auch das gehört zur Wissenschaftskultur des KWI, die er mit geprägt hat. 16

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EIN HISTORIKER, DER VORWÄRTS DENKT

Nicht durch Anordnung, wohl aber durch Ansporn, nicht durch Machtfülle, wohl aber durch Sinn für das Gebotene hat Rüsen immer wieder Mitarbeiter gewonnen, die unter Beweis stellen, was Kulturwissenschaften zu leisten vermögen, wenn ihnen Autonomie gewährt und ein Raum der gegenseitigen Verständigung auch über weit reichende Aufgaben gesichert ist. Manchem ist er Vorbild, für viele ist er der stimulierende Ratgeber, für höhere Instanzen zuweilen, auch das zum Glück, einer, der auf seinem Standpunkt hartnäckig besteht, auf jeden Fall aber einer, dem leidenschaftlich daran liegt, der Vernunft zum Nutzen der menschlichen Gesellschaft Bahn zu brechen. Was ist Jörn Rüsen? Ehe ich weiter sondiere, was Jörn Rüsen alles ist oder sein kann, fasse ich, was er mir bedeutet, getrost in einen Satz: Jörn Rüsen ist ein Historiker, der vorwärts denkt. Ich denke, es macht Sinn, an diesem Tage auch uns zu ihm zu gratulieren.

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2005-05-10 17-39-14 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S.

13- 17) T01_02 laemmert.p 83753333362

2005-05-10 17-39-14 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S.

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) vakat 018.p 83753333450

Menschsein und Menschenbilder

2005-05-10 17-39-15 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S.

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) T02_00 resp 1.p 83753333554

2005-05-10 17-39-15 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S.

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) vakat 020.p 83753333618

DER VERLORENE MENSCH

Der verlorene Mensch Dirk Rustemeyer

Die Frage nach dem Menschen richtet sich auf das Vertrauteste und das Fremdeste zugleich. Als sich bewusst zur Welt verhaltendes Leben sind Menschen sich vor aller Reflexion bekannt; in der Objektivierung dieser Vertrautheit als eines Etwas in der Welt aber konstituiert sich der Mensch als ein Seiendes, das ein positives Wissen von sich sucht, das zugleich ein Wissen von der Möglichkeit dieses Wissens und von der Welt wäre. Zwei Strategien scheinen sich anzubieten, um die Struktur dieser sich wissenden Reflexionsform zu beschreiben: Entweder das Wissen vom Menschen nimmt seinen Ausgang von etwas ihm Vorgängigen – Gott oder Welt –, oder es behandelt den Menschen als konstituierenden Grund eines Wissens, zu dem er selbst wie die Welt gehört. Im ersten Fall wird der Grund des Wissens vom Menschen in eine externe Instanz ausgelagert, von der sich das Wissen ableitet, ohne dass ein positives Wissen von dem vorausgesetzten Anderen des Wissens möglich wäre. Im zweiten Fall muss die Instanz des Wissens ihre Erzeugungs- und Repräsentationsleistungen erklären, in denen die Welt und sie selbst vorkommen, obwohl doch jede Erfahrung von der Welt ihren Ausgang nimmt, die im Wissen konstituiert sein soll. Beschreibt die erste Argumentationsstrategie Grundzüge eines antiken und christlichen Welt- und Menschenbildes, so die zweite ein zentrales Motiv neuzeitlicher Subjektphilosophie von Descartes bis Kant. Beide Varianten überfordern die Möglichkeiten eines innerweltlichen Wissens. Gott markiert eine Instanz, die jedes Weltwissen, also auch das Wissen vom Menschen, übersteigt, und die weltkonstituierende Subjektivität vermag innerweltlich nicht die Ursprungsmacht Gottes zu kopieren. Dennoch dominieren diese beiden Optionen lange Zeit den Diskurs über den Menschen. Die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten deuten auf ein Theorieproblem hin, dessen Lösung begriffsstrategische Umdisponierungen erfordert, in deren Zuge die theoretische Figur des Menschen als Symptom einer zu wenig komplexen Problemstellung aufgelöst wird. Die Frage, was der Mensch ist, erhebt sich im Schatten eines ontologischen Denkens, das zunächst ohne ein Denken des »Menschen« 21

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ausgekommen war, weil es diesem eine zwar exponierte, aber doch untergeordnete Position auf der Stufenleiter des Seienden anwies, die einer ersten Ursache oder einem weltschaffenden Gott entsprang. Zu einem zentralen Thema rückt der Mensch hingegen auf, wenn die Begründung einer sich nachmetaphysisch begreifenden Philosophie entweder ohne oder gar gegen die exponierte Position Gottes in Angriff genommen wird. Dann wird die Position Gottes als des unbezeichenbaren und unwissbaren Grundes aller innerweltlichen Formen vorzugsweise mit dem Menschen besetzt. Im Konzept des Menschen reproduziert sich insofern ein Theoriemodell, das am Konzept metaphysisch-theologischen Denkens erarbeitet und zugleich gegen dieses Modell ausgespielt wurde. Der Mensch ist der theorielogische Nachfolger Gottes. Dessen Tod zieht, wie Nietzsche hervorhebt, langfristig die Überwindung des »Menschen« nach sich. Die Lösung aus einem ontologischen Denkrahmen gelingt zunächst nicht ohne die Neubestimmung des Ortes der Reflexion, an dem ein Wissen des Wissens, ein Wissen des Seienden und ein Wissen des Seinsollenden koinzidieren. Die Figur des Menschen wird insofern zur Chiffre des Problems der Reflexion. Zum einen wird diese Neuverortung durch die Beobachtung der Mannigfaltigkeiten der Erscheinungen menschlichen Lebens versucht; daraus entsteht das Programm einer empirischen kulturwissenschaftlichen Beobachtung, in deren Durchführung die Figur des »Menschen« als eines Subjekt-Objekts des Wissens schließlich verwischt »wie ein Gesicht im Sand«, weil sie sich in den empirischen Bedingungen ihrer Möglichkeit auflöst.1 Zum anderen kann sie durch die Reflexion auf die konstituierende Differenz der Reflexion abgelöst werden, die allen empirischen Ordnungsbildungen als Operation der Unterscheidung zugrunde liegt, ohne im Seienden oder in Gott zu gründen. Reflexion verweist demnach nicht auf den Grund aller erkenntnisförmigen Unterscheidungen, für die traditionell Gott und Mensch stehen, sondern auf den grundlosen Grund aller Unterscheidungen, der nicht länger als Reflexion zu denken ist, weil Reflexion die Bezugnahme auf ein Vorgängiges und dessen Transformation im Erkennen impliziert. Die Konstellation einer Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, wie es Gott und Mensch leisten sollen, weicht der paradoxen Konstellation einer ontologisch grundlosen Unterscheidung, die das zu Unterscheidende in der Operation des Unterscheidens konstituiert. In dieser zweiten Variante öffnet sich die Frage nach dem Menschen zur Frage nach der Operation des Unterscheidens, das im Kern Entscheiden ist, da es in keinem Seienden, sondern nur in seinen eigenen Operationen Halt findet. Im Zuge dieser Umschrift gewinnt das Politische ein neues Gewicht, das dem Menschen bereits im klassischen Denkrahmen als Merkmal zugeordnet war. 1. Vgl. Foucault (1974, S. 462). 22

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Die folgenden Überlegungen rekonstruieren diesen Weg in vier Schritten. Erstens: Im Kontext der klassischen Metaphysik und ihrer christlichen Weiterführung existiert kein Problem des Menschen. Weil die Kontingenz des Seienden dessen nichtkontingenten Grund nicht bedroht, besteht auch kein Problem der Geschichte und der Moral. Die Ordnung des Ganzen gilt als gut und geschlossen (I.). Zweitens: Die Figur des Menschen wird in der Kritik eines metaphysischen Denkrahmens relevant, kopiert jedoch die Struktur des Kritisierten. Das aus dieser Kritik entstehende Problem der Zeitlichkeit und der Kontingenz wird, in typisierender Zuspitzung, entweder durch das Modell der Geschichte oder der Moral bearbeitet (II.). Geschichte und Moral sollen nun Probleme einer temporalisierten Ontologie lösen. Im Zentrum von Geschichte und Moral steht die Figur des Menschen. Sie muss die Kontingenzen einer entfesselten Zeitlichkeit auffangen. Das gelingt nur, solange der Mensch, metaphysikanalog, selbst als nichtkontingent gut oder perfektibel aufgefasst wird. Drittens: Diese Funktion überlastet die Figur des Menschen. Er ist weder der konstituierende Grund des Wissens noch der Geschichte oder der Moral. Nicht zuletzt muss er mit der Möglichkeit rechnen, böse zu sein. Das verweist auf das Desiderat einer postanthropologischen Theorie der Kultur. Diese wird zunächst in Gestalt einer Philosophie der Entscheidung durchgespielt (III.). Viertens: Varianten einer Entscheidungsphilosophie arbeiten zwar die theoriestrategischen Defizite der Figur des Menschen heraus, zielen aber ihrerseits noch auf ein Denken des Grundes ab. Darin kopieren sie, wenngleich in negativer Form, die Tradition des Kritisierten. Es bietet sich darum an, die Philosophie der Entscheidung als Theorie des Unterscheidens im Rahmen einer Theorie der Sinnbildung zu reformulieren (IV.).

I. Das Vernünftige und das Politische beschreiben im abendländischen Diskurs über den Menschen seine Eigenschaften, lange bevor im 20. Jahrhundert die Anthropologie als philosophische Disziplin den Menschen zum Thema macht. Vernunft und Politik gründen in der Sprache, in der die wesentlichen Unterscheidungen von Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit getroffen werden. Durch die Stimme verknüpfen sich diese Unterscheidungen zu einem Gespräch, das die Teilnahme vernünftiger Bürger an der Regierung ermöglicht und ein gutes Leben hervorbringt.2 Die Funktion der Rede als des Mediums denkender Reflexion und klugen Handelns basiert auf einer Theorie der Repräsentation, in der Denk- und Seinsordnungen in der Ordnung 2. Vgl. Aristoteles (1981, I.2, III.1.). 23

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der Zeichen zusammengeschlossen sind.3 Vernünftige Einzelne streben nach dem Guten, das sie mit rationalen Mitteln durch das Finden richtiger Unterscheidungen und Begründungen verfolgen. Aufgabe der Staatskunst ist es mithin, die Bürger zu befähigen, das Gute zu tun.4 Das Mittel dazu ist die Erziehung.5 Der Diskurs über den Menschen ist in dieser Figuration, wie sie von Aristoteles vorgeschlagen wird, rationalistisch, optimistisch und pädagogisch grundiert. Der Logos, in dem Seiendes und Reflexion sich verschränken, verweist teleologisch auf eine gute Ordnung, die sich in Bildungsprozessen realisiert, deren Medium die vernünftige Rede ist. In diesem Denkrahmen ist die Position des Menschen komplementär zur Position der ersten Ursache oder Gottes. Der Mensch besetzt den eigentümlich ortlosen Ort der Einheit der Differenz von Ewigem und Zeitlichem, Unendlichem und Endlichem, Vernunft und Materie, Seele und Leib, an dem diese Differenz zur Reflexion gelangt. Als Bild Gottes steht er im Mittelpunkt der Natur, in der sich die Extreme der Schöpfung, die Niedrigkeit der Körper und die Höhe des Denkens, verknüpfen. Er ist die Inkarnation einer Differenz, in der sich die Ordnung der Welt reflektiert, weil sie sich zu Gott als deren Ursprung homolog verhält. In dem Wissen, das diese Differenz ermöglicht, wird die Ordnung des Seienden repräsentiert, nicht konstituiert. Ihr Grund ist im Ursprung gesetzt. Darum ist der Mensch ein herausgehobenes Seiendes, dessen intelligibles Wesen seinen bestimmten Ort in der Taxonomie des Seienden besitzt. Seine Funktion ist relativ zu Gott. Das Wissen vom Menschen ist deshalb ein Wissen von der Welt und von Gott. Dieses Wissen ist nichtkontingent, denn als Geist sind Gott und Mensch, Ursprung und Welt homolog. Die Ordnung ist gut, weil sie vernünftig ist, sodass Wissen, Sein und Sollen sich korrelativ verhalten. Sie kennt kein anderes ihrer selbst außer ihren Ursprung, der jedoch unbestimmbar, weil unwissbar bleibt. Die Reflexion dieser Ordnung, deren Ort der Mensch ist, erzeugt daher eine Darstellung dieser Ordnung, die ihres eigenen Grundes sicher ist, wenngleich dieser Grund nicht im Modus des bestimmten Wissens, sondern des alle Wissensbestimmungen übersteigenden Schauens oder Glaubens reflektiert wird. Reflexion trägt den Charakter der Rückkehr zu einem Vorgängigen und bleibt funktional durch die Ordnung des Gewussten bestimmt. Eine nicht in Wissen fundierte Reflexion dieses Ursprungs bezieht ihren Antrieb statt aus der unmöglichen Evidenz des Wissens aus dem Streben der Liebe – sei es zum Wissen, sei es zu Gott. Zukunft, in der das Telos des Menschen sich realisiert, bedeutet Rückkehr. Der Mensch, als Teil des Seienden, ist gut, weil Kosmos und Schöpfung es sind. Böses wird in der Regel als ontologisch nichtseiend 3. Vgl. Rustemeyer (2005). 4. Aristoteles (1985, I.10). 5. Aristoteles (1985, X.10.). 24

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betrachtet. Allerdings besitzt der Mensch die Möglichkeit, gut oder schlecht zu sein, indem er sich wissend und wollend zum wahren Sein verhalten kann. Richtiges Denken und Handeln resultieren aus wissender Einsicht; sie erfordern keine Moral, in der die Kontingenz des Handelns normativ abgefangen werden müsste, indem der Mensch sich selbst die Regeln gibt, die er außerhalb seiner selbst nicht finden kann. Das gute Leben der Menschen befördernde Politik hängt von der Qualität der Herrschenden und ihrem Wissen, nicht vom Management der Kontingenz der Meinungen ab. Einem hierarchischen Modell des Wissens korrespondiert darum ein hierarchisches Modell des Politischen. Beide verweisen auf einen Ursprung. Dieser ist die Vernunft selbst.

II. Die Figur einer die Geschlossenheit der Ordnung repräsentierenden Reflexion wird allmählich zugunsten eines Denkens der Reflexion als einer Differenz gelockert, die ihres Ursprungs nicht mehr sicher ist, weil sie ihn aus sich heraus erzeugen muss. Im Zuge dieser Transformation entwickelt sich die Figur des Menschen von einem exponierten Element der gegebenen Ordnung zu einer Instanz der Weltkonstitution, die ihren Ort zugleich innerhalb und außerhalb der Ordnung findet. Über die klassische griechische Philosophie und das Christentum bis zur Neuzeit verschieben sich die Koordinaten, die das Telos des Menschen qualifizieren. Von dem Motiv der Einheit mit dem Kosmos oder dem Aufstieg der Seele zur Schau des Einen über die Figur einer Rückkehr zum Ursprung am Ende der Zeit bis zur Vorstellung eines herzustellenden Morgen verlagert sich der Akzent auf die Zukunft. Zeithorizonte treten auseinander, und Vergangenheit wird zur Geschichte, aus der sich der Weg über die Gegenwart in die Zukunft rekonstruieren lässt. Im Blick auf das Gewesene soll der Mensch als Einzelner wie als Gattung seine zukünftigen Möglichkeiten erkennen und seine Vergangenheit überbieten. In diesem Überbietungsgestus transzendiert die Figur des Menschen sich selbst und kopiert noch einmal die Form Gottes. Darin beendet und beerbt Nietzsche das Denken der Metaphysik. Sein »Übermensch«, der auf den »zahmen« Menschen der Moderne mit Gelächter und Scham als der Inkarnation lebensfeindlicher Mittelmäßigkeit zurückblickt, überwindet Gott als eine Fiktion des Guten, die der Härte des Lebens eine Illusion des Heils bloß vorgaukelt.6 Da Zukünftiges sowenig wie das Gute aus einem Seienden abgelesen oder in Gott geglaubt, also wissend gesetzt werden kann, produziert der Mensch als innerweltlicher Ursprung ein Problem der Kon6. Vgl. Nietzsche (1988e, bes. S. 276f.); Nietzsche (1988a, S. 14, 19ff.); Nietzsche (1988b, S. 184f.). 25

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tingenz der Ordnung, das er durch temporale und durch die normative Auslagerung bewältigen muss. 1. Anders als in der antiken Philosophie von Platon über Aristoteles bis zum frühen Augustinus konzipiert das christliche Denken des Mittelalters diese Reflexion nicht als Leistung der Vernunft, die sich mit dem Kosmos homolog weiß, sondern als Rückkehr in Gott als in einen undenkbaren Ursprung, in dem je schon war, was ist, und der sich nicht der Kraft der Einsicht, sondern auf dem Wege der Gnade erschließt.7 Logos und Gnade, die Ordnung der Unterscheidungen des Seienden und die Möglichkeit ihrer wissenden Repräsentation, gehen im Zeichen der Aufklärung an Natur und Geschichte über. Sie zeigen den Menschen nun als Vollender eines Entwicklungsprozesses, der in ihm seinen Abschluss findet, ohne in seinen Ursprung zurückzukehren. In der guten Maschine Natur fallen Gott, Vernunft und Moral im Menschen in eins, der kraft sprachlicher Zeichen aus den Gesetzen der Natur lernt.8 Die Gesetze des Fortschritts lassen sich entziffern, im menschlichen Verstand zeichenhaft organisieren und zur Beschleunigung einer prinzipiell unendlichen Entwicklung zum Besseren nutzen.9 So wie der Kosmos und die Schöpfung gelten die Natur und mit ihr der Mensch als gut. Zur Herstellung einer künftigen Vollkommenheit des Menschheitssubjekts können Vernunft und Politik, Wissen und Herrschaft sich vereinigen: Der Staat als pädagogisches Zwangsinstitut vollendet die Geschichte in der Vervollkommnung der Gattung als herrschaftsfreier Bildungsgemeinschaft im Namen der Zukunft in der Gegenwart.10 Die Naturalisierung der Vernunft zieht die Historisierung der Natur nach sich, wenn deutlich wird, dass die Formen der Natur, mithin auch der Mensch, nicht ewig, sondern geworden sind. Die Zeit der Natur ist dann ein Prozess der Vernunftwerdung. Deshalb lässt sich der Geist, in dem die Vernunft ihre Formen bildet, als zweite Natur auffassen. Sprache, seit jeher gemeinsames Merkmal des Menschen und der Vernunft, kann als geschichtliche Errungenschaft studiert werden, die dem einzelnen Menschen einerseits vorausliegt und ihn andererseits zur Beherrschung der Natur instandsetzt, ja ihn eigentlich erst zum Menschen macht.11 Im Fluchtpunkt dieser Entwicklung erscheint der Mensch als eine Gestalt der Geschichte. Seine Erforschung

7. Vgl. paradigmatisch die Gnadenlehre des Augustinus, in der er seinen früheren Vernunftoptimismus revidiert: Augustinus (1990), sowie Eriugena (1994, S. 129ff., 185). 8. Vgl. d’Holbach (1978); LaMettrie (1990). 9. Vgl. Condorcet (1976, S. 31ff.). 10. Vgl. Fichte (1971a, 1971b). 11. Vgl. Herder (1989, S. 141). 26

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nimmt die Konturen einer historischen Geisteswissenschaft12 oder die Form einer politischen Selbsterschaffung an, in deren Vollzug, wie der frühe Marx glaubt, die Einheit zwischen Mensch und Natur im »totalen« Menschen allererst herzustellen und die entfremdenden Formen der gesellschaftlichen Arbeit in einem finalen Akt abzustreifen wären, mit dem der Mensch aus dem Stadium der Vorgeschichte heraustritt.13 In beiden Fällen liefert das Wissen der Vergangenheit die Voraussetzung für die Gestaltung der Zukunft, ohne dass diese Rückwendung je einen Ursprung hinter dem Nebel des Gewesenen erreichen könnte. Aber die Wissenschaft der Geschichte nimmt der Gegenwart ihre bedrohliche Kontingenz, indem sie dem Menschen eine temporalisierte Logik der eigenen Formwerdung vor Augen führt, die sich in die Zukunft extrapolieren lässt. Dies gilt sogar bei skeptischen Vorbehalten gegenüber dem guten Gang der Natur oder der Geschichte. Rousseau, der vom Menschen nur reden zu können glaubt, indem er die Sache der Menschheit pathetisch verteidigt, liest doch die Geschichte unter normativen Vorzeichen als paradoxen Prozess. Die Entwicklung des ursprünglich, das heißt von Natur aus guten Menschen mündet in die Vervollkommnung des Verstandes und die Entstehung der Kultur, während die Gattung verdirbt und sein Wesen böse wird.14 Die Offenheit der menschlichen Natur, sich zu perfektionieren, indem den Trieben widerstanden wird, führt historisch zur Korruption der zweiten Natur des Menschen, seiner kulturellen Leistungen und Bedürfnisse. Nicht der erste, der letzte Mensch ist böse. Dieser aber ist so sehr in den Verstrickungen der Kultur gefangen, dass er noch den Verlust seiner Ursprungsnatur lediglich in Gestalt der Erzählung einer Ursprungsfiktion zu reflektieren vermag. Das Wissen vom Ursprung ist ein Produkt von dessen Zerfall und literarisch-narrativer Rekonstruktion. In dieser Argumentation erscheint die Geschichte nicht als Fortschritt der Vernunft und des Menschen, sondern als kulturelle Deformation der guten menschlichen Natur, die schließlich auch die Vernunft und Politik korrumpiert. Anthropologie wird zur Kulturkritik, wenn die erste – natürliche – Natur in der zweiten – kulturellen – Natur aufgelöst und zugleich diese als Geschichte begriffene Transformation von Natur in Kultur als Verlust oder Verhängnis gedeutet wird, das den Traum der Vernunft als Befreiung des Menschen von Leid in das Gegenteil einer instrumentell restringierten Vernunft und totalitären Politik verkehrt.15 Zwar bietet eine damit ins Auge gefasste Theorie der Kultur den Vorteil, den Menschen nicht länger als höchste Form des 12. 13. 14. 15.

Vgl. Dilthey (1990, S. 31ff.). Vgl. Marx (1977, S. 538ff.). Vgl. Rousseau (1981). Vgl. Horkheimer/Adorno (1978). 27

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Seins der Natur oder als Form eines übernatürlichen Geistes ansehen zu müssen, der sein Wesen durch die asketische Negation seiner natürlichen Triebstruktur realisiert, um darin einen göttlichen Weltgrund zu erfassen und zu verwirklichen.16 Aber auch eine gegen die Geisttheorie des Menschen oder eine Vergöttlichung des Natürlichen in Anschlag gebrachte Soziologie der Kultur ist vor der Versuchung einer kulturkritischen Wendung ihrer eigenen Kategorien nicht gefeit. Insofern ist Rousseaus Blick auf den Menschen als Einheit von Natur und Kultur sowie auf die Aporie von Fortschritt und Verlust paradigmatisch. Noch Gehlens Institutionen, die das Handeln des affektüberlasteten Mängelwesens Mensch so formieren, dass die Unterscheidung von Natur, Kultur und Geist hinfällig wird, neigen dazu, sich zu verselbständigen und den Menschen zur Gefangenschaft in seinen immer künstlicheren und riskanteren Strukturen zu verurteilen. Deren Zusammenbruch würde ihn allerdings weniger befreien als auf eine primitive Stufe der Gesellschaftsbildung zurückwerfen.17 Varianten einer historisch ausformulierten Anthropologie argumentieren insoweit metaphysikanalog, als sie die traditionelle Position Gottes durch die Figur einer temporal entfalteten und als ganze in den Blick zu nehmenden Menschheit substituieren. Die Philosophie des Menschen gewinnt dann Züge einer anthropozentrischen Theorie der Natur und Geschichte. Auf der anderen Seite macht die philosophische Anthropologie darauf aufmerksam, dass die Frage nach dem Menschen ein hartnäckiges Problem benennt. Denn die Reflexivität eines sich erlebenden Lebens beschreibt die Position eines Subjekts, das zugleich für sich Objekt ist, das sich in einer Welt vorfindet, die doch nur für sein Erleben Welt ist und das sich zugleich zur Welt und zu sich selbst verhält, ohne sich und die Welt in Gott aufgefangen zu wissen. Diese eigentümliche, auf einer Ebene des präkognitiven Weltbezugs angelegte Reflexivität ist utopisch: ortlos im Seienden. Sie ist der Nullpunkt aller Koordinaten der unterscheidenden Bestimmung von etwas als etwas. Daher entzieht sie sich einer wissenschaftlichen Objektivierung. Sie ist Vollzug, der, als zeitlicher, sich in den Formen der Kultur geschichtlich realisiert, ohne je in die Ganzheit eines Wissens von sich oder der Geschichte zu münden.18 Gottähnlich ist er in Plessners Augen dadurch, dass er wie Gott als Reflexion jedem Wissen vom innerweltlich Seienden entzogen bleibt. Der »homo absconditus« bleibt sich verborgen, weil er weltoffener Vollzug von Geschichte ist, in deren Schatten er sich begegnet, ohne der Geschichte oder in dieser sich selbst je frontal gegenüberzustehen. Fortschritts- und Verfallsgeschichten des Menschen verfehlen diese facettenhaften Selbstausle16. In diesem Sinn Scheler (1978, bes. S. 16, 37f., 55ff., 91f.). 17. Vgl. Gehlen (1986); Gehlen (1977, bes. S. 8, 105). 18. Vgl. Plessner (1981, bes. S. 70f., 364f., 378). 28

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gungen eines in der Welt ausgesetzten Wesens. Jede Erklärung bleibt retrospektiv und abgeleitet aus einem nicht verfügbaren Vorgängigen der Reflexion eines sich erlebenden Lebens.19 Unterscheidungen von Natur und Kultur, Innerem und Äußerem laufen leer, wenn die menschliche Existenz als Bewegung einer geschichtlichen Transformation von Zufälligem in Gewohnheiten besteht.20 Plessners Antwort auf eine historisierte Anthropologie beschreibt den Menschen als Vollzug einer ontologisch bodenlosen Reflexion. Als Instanz positiven Wissens ist er so grundlos wie Gott, dessen Position der Mensch theoriegeschichtlich zu okkupieren versucht. 2. Plessner beschreibt den theoriesystematischen Ort der Frage nach dem Menschen als Instanz eines Subjekts und Objekts des Wissens und Erlebens, das sich seiner eigenen Voraussetzungen und Konstitutionsleistungen, seines Seins und seines Sollens nicht sicher sein kann. In seinen geschichtlich-kulturellen Artefakten begegnet es sich retrospektiv und perspektivisch wie einem Schatten. Damit reformuliert Plessner aus phänomenologischer Perspektive das Kantische Problem einer Transzendentalphilosophie. Deren Anspruch, den Ort der Reflexion selbst auf ein neues Wissensfundament zu stellen, wird bezweifelt, weil aus reiner Vernunft weder ein Wissen über das Wissen noch ein Wissen über das Sollen zu gewinnen ist. Plessner revidiert damit ein Theorieprogramm, das im Zeichen der Aufklärung gegen die traditionelle Metaphysik den Menschen als Subjekt des Wissens und Handelns einsetzt, indem er die sich im Menschen wissende Vernunft zu einem homo absconditus depotenziert. Komplementär dazu besetzt Kants System insofern einen zentralen Platz im Diskurs über den Menschen, als er seine Kritik der Erkenntnis zu der doppelten Operation einer Fundierung der Moral und einer in ihrem Lichte erfolgenden Konstruktion der Geschichte nutzt. Für Kant steht in einem theorielogischen Zusammenhang, was ansonsten als Geschichtsphilosophie und Moralphilosophie auseinandertritt, aber doch zwei Weisen darstellt, die Frage nach den Möglichkeiten einer Selbstbeschreibung des Menschen zu formulieren. Sollte dieser Versuch einer historischen und moralischen Konstitution der Vernunft und des Menschen als Alternative zu der geschlossenen Einheit älterer Metaphysik oder einer metaphysikanalog gedachten Einheit der vernünftigen Geschichte der Menschheit fehlschlagen, scheint der Rückzug auf eine Plessnersche Antwort nahezuliegen, die ihrerseits jedoch den Menschen als eine ortlose Reflexionsbewegung beschreibt, die den Ansprüchen an Vernunft kaum genügt und die sich auf die Explikation einer ortlos gewordenen Reflexi19. Vgl. Plessner (1974). 20. In diesem Sinn beschreibt Merleau-Ponty den Leib als elementare Struktur menschlichen Zur-Welt-seins. Vgl. Merleau-Ponty (1966, etwa S. 202ff., 224). 29

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on zurückzieht, in der die Figur des Menschen als eines sagbaren Gegenstandes des Wissens verschwindet. Die Stiftung dieses Zusammenhangs gelingt Kant allerdings systematisch nur durch die Verschiebung der Einheit von Wissen, Geschichte und Moral in das Kontrafaktische eines Als-ob. Kants Versuch, die Metaphysik auf die neue Grundlage einer sich ihrer Grenzen vergewissernden Vernunft zu stellen, behandelt den Menschen als moralischen Selbstgesetzgeber und den Staat als eine moralische Person. Die Vernunft ist zugleich epistemisch, moralisch und politisch, obwohl und weil sie als transzendentale Struktur nicht historisch sein darf. Sie rückt als personifiziertes Gesetz in die Position des Souveräns ein.21 Aus dem Umstand, sowohl Subjekt als auch Objekt des Wissens zu sein, zieht die Transzendentalphilosophie die Konsequenz, die Bedingungen der Möglichkeit allen Wissens in nicht empirischen und darum nichtkontingenten Strukturen des Verstandes zu verankern, mit denen eine universale Struktur aller Menschen als Vernunftwesen fixiert wird. Diese Struktur einer formalen Vernunft ermöglicht einerseits ein Wissen von der Natur als Gesamtheit der Erscheinungen unter selbstgegebenen Gesetzen; sie verlangt und ermöglicht andererseits eine Selbstbestimmung der Vernunft zum gesetzesförmigen Gebrauch der Freiheit, der aus der Einsicht des sich den selbstgegebenen Gesetzen unterwerfenden Gesetzgebers in die universale Form des Gesetzes selbst entspringt.22 Als auf sich reflektierendes Vernunftwesen ist der Mensch jedoch historisch und sozial ebenfalls eigentümlich ortlos. Seiner konkreten Erfahrung widerspricht zudem die Idee einer Freiheit, derer er sich auch als moralisch reflektiertes Wesen nie sicher sein darf. Daraus leitet Kant allerdings keine Ermäßigung der Ansprüche der Vernunft ab, sondern wendet ihre Restriktionen vielmehr ins Kontrafaktische: Die Erzählung einer Geschichte der Menschheit am Leitfaden der Vernunft unter der Idee der Freiheit dient je gegenwärtigen Menschen als Ermutigung dazu, die Möglichkeit einer Realisierung der Vernunft in der Geschichte und der Natur für wirklich zu halten. Das Telos der Natur kehrt als historiographisches Konstruktionsprinzip einer Erzählung der Entwicklung der Menschheit zum Guten wieder.23 Diese Geschichte muss so reflektiert angelegt sein, dass sie über die empirische Unmöglichkeit einer Koinzidenz von menschlicher Natur und Vernunft Rechenschaft ablegt und die Teleologie der Vernunft als Prozess einer unendlichen Annäherung an eine Idee entwirft.24 Dabei darf sie von dem Rousseauschen Kunstgriff einer fiktionalen Konstruktion des Naturzustandes Gebrauch machen, 21. 22. 23. 24.

Vgl. Kant (1983c, S. 197). Insofern verweist die theoretische Philosophie auf die praktische. Vgl. Kant (1983a). Vgl. Kant (1983a, A 397). 30

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um den Menschen im Zuge einer Refiguration seiner theologischen Tradition als ein sich vernünftigerweise als vernünftig beschreibendes Naturwesen darzustellen.25 Kants Fundierung der Moral im Sittengesetz als Form der Vernunft selbst ermöglicht die Erzählung der Geschichte der Menschheit als einer Geschichte der Freiheit in praktischer Absicht. Weder Geschichte noch Freiheit wären ohne diese temporalisierte Selbstdarstellung dem Menschen erfahrbar. Zerbricht jedoch die transzendentalphilosophische Klammer zwischen Geschichte und Moral, fallen Vergangenheit und Zukunft, Sein und Sollen auseinander. Die Geschichte muss, wie Kant und Hegel wissen, vernünftig erzählt und angeschaut werden, um vernünftig zu sein. Darum bleibt die Vernunft selbst ungeschichtlich. Darin behält Kant gegen Hegel recht, der seinerseits Geschichte als Bewegung einer ahistorischen Logizität des Begriffs beschreibt. Kant verlagert die Einheitsidee der älteren Metaphysik als einer guten und geschlossenen, in sich reflektierten Ordnung in die Konstitutionsleistungen einer transzendentalen Vernunft, die zwar ungeschichtlich ist, sich aber ihrer geschichtlichen Möglichkeit doch in Erzählungen der Geschichte der Menschheit versichert und das Gute in die allgemeine Form eines moralischen Urteils verlagert, das zukunftsgerichtetes Handeln so dirigieren soll, dass die Form der Vernunft sich in der politischen Form des bürgerlichen Rechtsstaates realisiert. Zeit wird als Geschichte zum Als-ob der Vernunft und das Gute eine überzeitliche Form des je gegenwärtig Zukünftigen, die als allgemeines Gesetz gegenüber jedem geschichtlichen Inhalt neutral bleibt. Der Mensch ist ein natürlicher, sich gattungsgeschichtlich entfaltender Statthalter der nichtnatürlichen und nichtgeschichtlichen Form der Vernunft. Er ist ortloser Ort einer formalen Vernunft, die sich in Bezug auf Sein und Sollen ohne Absicherung in Erfahrung entwirft. Moral liefert ein Äquivalent für das Gute der älteren Metaphysik und dient als Prinzip selbstbestimmter Freiheit zur narrativen Organisation der Geschichte. Diese Operation einer Transformation des Guten in die allgemeine Form eines moralischen Urteils, die den Menschen wesentlich als moralisches Subjekt bestimmt, findet Parallelen sowohl in der naturalisierten Figur eines allgemeinen moralischen Gefühls26 als auch einer kommunikationstheoretisch reformulierten Transzendentalphilosophie, die die Form des Urteils in die Idee des herrschaftsfreien Dialogs prozedural und kontrafaktisch verschiebt.27 Dieser urteilstheoretischen Umschrift des Guten steht seine kulturtheoretische Reformulierung durch die Kristallisation in Werten gegenüber, die sich als absolut 25. Vgl. Kant (1983b). 26. Vgl. Hume (1972, S. 120ff.); Smith (1985, S. 1, 397ff.); auch Mill (1976, S. 46), als Gefühl der Pflicht. 27. Vgl. Habermas (1991). 31

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Geltendes dem Erkennen anbieten28 oder die, als historisch-kontingent gewordene, sich zu rivalisierenden Ordnungen aufbauen, zwischen denen keine Vernunft mehr zu unterscheiden vermag.29 Geschichte und Moral, in deren Koordinaten der Mensch im Kontrast zur älteren Metaphysik beschrieben wird, treten argumentationssystematisch auseinander. Gewusstes Gewesenes und gewusstes Gesolltes sollen die Kontingenzen gegenwärtigen Handelns kognitiv bewältigen. Gewesenes bestimmt die Gegenwart in Bezug auf Zukunft, wenn diese ihr kausales Resultat darstellt, dessen Komplexität aber jedes Wissen überfordert und die ihrerseits durch die Operation gegenwärtigen Erkennens ins Unerkennbare modifiziert würde.30 Die postulierte Einheit von Sein und Sollen in der Geschichte supponiert eine temporalisierte Totalität, die die Position Gottes als ein Absolutes des Wissens wieder in die Welt hineinholt, das den Menschen doch nur als Vehikel der eigenen Entfaltung und Selbsterkenntnis benötigt.31 In Hegels Absolutem ist weder für Gott noch für den Menschen Raum. Gesolltes ist dann nicht auf Gewesenes zurückzuführen oder in ihm auflösbar, wenn seine Geltungsgründe ahistorisch-formaler Natur sind. Sind sie dies, übersteigen sie jedoch die historischen Kontexte, in denen sie als Gründe wirksam werden sollen. Weder als primär historisch noch als primär moralisch bestimmtes Wesen genügt der Mensch den Ansprüchen einer Vernunft, denen er sich mit dem Versuch einer Theorie des Menschen doch unterwirft. Aus diesem Dilemma verspricht schließlich eine Theorie der Geschichte hinauszuführen, die beide Varianten anthropologischen Denkens verknüpft. Sie fasst eine nicht formale, aber dennoch allgemeine Vernunft ins Auge, die sie mit einer narrativen Theorie der Geschichte und einer kulturtheoretischen Deutung des Guten in Verbindung bringt. Das Kantische Motiv einer vernünftigen Erzählung des Gewesenen im Lichte des formal gewussten Seinsollenden verschränkt sich mit einem Weberianisch inspirierten Verständnis des Seinsollenden als eines nicht formalen, sondern in kulturellen Traditionen verwurzelten und diese Traditionen zugleich übersteigenden Deutungsgeschehens menschlichen Handelns und Erlebens. In dessen Vollzug entspringen die orientierenden Gesichtspunkte nicht ewigen oder rivalisierenden Wertkonstellationen, sondern werden als tiefsitzende anthropologische Sehnsucht nach dem guten Ende der erzählten Geschichte leidvoller menschlicher Erfahrung wirksam. In diesem Sinne versteht Rüsen das Gute als unabweisbares, im menschlichen Leben schlechthin angelegtes Orientierungsbedürf-

28. 29. 30. 31.

Vgl. Rickert (1986). Vgl. Weber (1988). Vgl. Danto (1980). Vgl. Hegel (1982). 32

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nis, das sich als Geschichtsbewusstsein konstituiert und entfaltet.32 Auf ihrer Suche nach Orientierung in der Zeit überbieten demnach Menschen ihre interpretierte Vergangenheit im Vorgriff auf ein Seinsollendes, das in den formalen Koordinaten moralischer Urteile nicht aufgeht. Indem Gewesenes und Gesolltes sich in der Operation je gegenwärtiger Weltdeutungen verschränken, ist der narrative Ort der Einheit von Geschichte und Moral selbst ortlos. Diese Ortlosigkeit unterscheidet sich von der Ortlosigkeit einer Kantischen reinen Vernunft und der Ortlosigkeit einer exzentrischen Positionalität des Plessnerschen homo absconditus durch die Aufladung mit konkret-utopischen Interessen an einem besseren Leben. Menschen begreifen in Rüsens Augen ihr geschichtliches Gewesensein als Vorlauf zu einem dieses überbietenden künftigen Guten, das sich je gegenwärtig neu vor dem Hintergrund des erzählend gedeuteten Vergangenen konturiert. Mensch und Geschichte gelten als gut, weil sie als auf ein gutes Ende hin bezogen erzählt werden müssen.33 Die Einheit von Sein und Sollen refiguriert Rüsen als eine kulturell interpretierte Zeit, die ihrer selbst nicht im absoluten Wissen oder der Konstitutionskraft einer formalen Vernunft innewird, sondern die sich einem Deutungsgeschehen verdankt, in dem die menschliche Natur die Form einer Sehnsucht nach Sinn als nach einer Erlösung ohne Gott gewinnt. Ein solches Geschichtsbewusstsein, das sich in den politischen Gründungsdokumenten der Aufklärung auch verfassungsrechtlich als pursuit of happiness ausspricht, unterläuft utilitaristische Kalküle des Guten, weil sie diese in einen stets geschichtlich verankerten und sich historisch verändernden Deutungshorizont stellt. Rüsens Anthropologie nimmt die Dezentrierungsbewegungen der älteren Metaphysik durch die Geschichtsund Moralphilosophie auf und überbietet diese zugleich in dem Bestreben, die vernunfttheoretisch überdehnte Figur des Menschen zu retten, durch eine quasitheologisch interpretierte Theorie der menschlichen Natur als eines kulturellen Sinnstrebens. Das Ganze ist nicht Heilsgeschehen, sondern eine unendlich neu erzählte Heilsgeschichte.

III. Mit der Betonung des Futurischen wächst das Gewicht des Politischen, denn die Zukunft muss durch Entscheidungen der Gegenwart hergestellt werden. Kontingenzen des Handelns im Horizont je gegenwärtiger Unsicherheit werden durch Verzeitlichung aufgefangen. Zum einen lässt sich gegenwärtige Unsicherheit im Blick auf die Kontinuität des

32. Vgl. Rüsen (1983, S. 8, 16f., 24f., 48). 33. Vgl. Rüsen (2002). 33

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Gewesenen entschärfen, zum anderen verspricht die Vernunft Einsichten in das Seinsollende, an dem sich zukünftiges und gegenwärtiges Handeln orientiert. Geschichte und Ethik markieren zwei Möglichkeiten, das gesteigerte Kontingenzbewusstsein neuzeitlicher und moderner Gesellschaften theoretisch zu formieren, nachdem das Vertrauen in die metaphysische Einheit von Sein und Sollen, Ewigkeit und Zeit, Glauben und Wissen zerbrach. »Menschen« bilden dabei das Zentrum zeitlicher, epistemischer und politischer Differenzen. Als sterbliche, leidende, bewusste und erkennende Wesen verorten sie sich im Blick auf Geschichte, und sie verstehen sich als Subjekte moralisch qualifizierten Handelns, an dem ihre Freiheit normativen Halt findet. Ein wesentlicher Strang der neuzeitlichen Philosophie entwirft den Menschen als epistemischen, politischen und moralischen Souverän. Dennoch wird die philosophische Figur des Menschen im Zuge einer Transformation des Vernunft-, Gottes-, Geschichts- und des Naturbegriffs allmählich unterminiert. Wenn die Vernunft selbst geschichtlich und ihre transhistorischen Ansprüche abzulegen genötigt wird, wenn Gott als unbestimmbares Anderes von Wissen und Seiendem seine strukturierende Kraft für Erkenntnis und Handeln einbüßt und durch Vernunft, Geschichte oder Natur substituierbar ist, wenn der Geschichte ihr Vernunftanspruch bestritten und sie als kontingente Form des narrativen Erinnerns, nicht als Repräsentation einer quasinaturalen Kontinuität des Seienden behandelt wird, wenn schließlich die Natur als Substitut für Vernunft ausfällt, weil sie als Resultat zufallsabhängiger Kausalitäten erscheint, in deren Fluchtpunkt die Unterscheidung von Natur und Kultur fragwürdig wird, der sie sich als Alternative zu Vernunft, Gott und Geschichte verdankt, dann wird auch die Position eines Zentrums der Ordnungen des Seienden, des Wissbaren und des Machbaren vakant. Das Projekt der »Anthropologie« reagiert auf diese Verschiebungen durch die Transformation der Frage nach dem Sein des Menschen in die Frage nach den Formen seiner reflexiven Selbstverständigung über seine ihm immer schon vorgegebenen Bedingungen. Natürliche, kulturelle und geschichtliche Voraussetzungen prägen demnach die Möglichkeiten der Reflexion mit und dezentrieren die Figur des Menschen im Lichte von Strukturen, für die keine Reflexion aufzukommen vermag. Die ihrer eigenen Voraussetzungen nicht mächtige Reflexion sieht sich damit in neuer Weise auf sich zurückgetrieben. Das Motiv der Entscheidung bietet eine Möglichkeit, auf diese Situation zu reagieren. In drei typischen Argumentationsvarianten wird sie vorgetragen. Bot sich die Figur des Menschen zunächst an, um die Position Gottes nach dem Zerfall der klassischen Metaphysik innerweltlich zu reformulieren, so führt das empirische Interesse an seinen natürlichen, geographischen, rassischen, gesellschaftlichen, historischen oder kulturellen Differenzen zu einer Transformation der Frage nach dem Sein des Menschen zur Frage nach den gleichzeitigen Formen seiner Er34

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scheinung. Diese Beobachtungsstrategie kultiviert einen moralfreien und vernunftskeptischen Blick auf menschliche Lebensformen. Von Machiavelli über Hobbes und die Moralistik Graciáns bis zu Carl Schmitt entstehen so Grundzüge einer Soziologie des Menschen, die damit rechnet, dass er nicht gut, sondern böse ist (a). Sofern Vernunft, Geschichte und Moral nicht als konstitutive Merkmale des Menschen gelten, eröffnet sich darüber hinaus die Möglichkeit, ihn als Ursprung der Differenz von Gut und Böse zu beschreiben.34 In diesem Sinne führt Nietzsches Lebensphilosophie moralistische Überlegungen zu einer Psychologie der Kultur weiter und formuliert ein Komplementärmodell zu Kierkegaards religiösem Denken der Existenz (b). Eine Soziologie und eine Psychologie des Menschen, die sich aus den Koordinaten einer Theorie der Vernunft, der Geschichte und der Moral lösen wollen, behandeln ihn dennoch als den Grund aller epistemischen, politischen und moralischen Formen der Kultur. Wird auch diese Prämisse fallengelassen, verschwindet die Figur des Menschen in der Anonymität eines Sinngeschehens. Heideggers Kritik der Anthropologie und der Ontologie konstituiert sich deshalb als Andenken eines Abwesenden im Modus der Nichtung aller Bestimmtheiten, zu denen auch der Mensch gehört (c). Alle drei Argumentationstypen konvergieren darin, die Frage nach dem Menschen in die Frage nach dem grundlosen Grund aller Unterscheidungen der Kultur umzuformen. Mit wechselnden Akzenten legen sie es nahe, dazu den Weg einer Theorie der Entscheidung einzuschlagen. 1. Mit der Entstehung des frühneuzeitlichen Staates und einer höfischen Gesellschaft wächst das Interesse an einer Beobachtung der Verhaltensweisen des Menschen, die ihn nicht von vornherein als vernünftig und gut voraussetzt, sondern sein Handeln und seine Selbstbeschreibungen auf soziale Kontexte bezieht, an deren komplementären Erwartungsstrukturen eine Innenwelt allererst Form gewinnt. Unter diesem nüchternen Blick kehrt sich die Ontologie des Guten um. Machiavelli und Hobbes betrachten den Menschen als böse. Getrieben von Gier und Todesfurcht zeigt er sich ihnen als wankelmütig, verlogen und undankbar.35 Ein Kampf aller gegen alle, in dem sogar der Freund ein potentieller Feind und die Ordnung des Sozialen durch Angst, Misstrauen sowie eine Kunst der Verstellung begründet ist, tobt nicht nur im Naturzustand, sondern, wie Gracián hervorhebt, auch im Gesellschaftszustand.36 Die Differenz von Recht und Unrecht entspringt erst der Unterwerfung der Einzelnen unter den absoluten Souverän ei34. Damit erhalten Motive, die sich bereits bei Protagoras und der sophistischen »Aufklärung« des späten 5. Jahrhunderts vor Christus finden, neue Aktualität. 35. Vgl. Machiavelli (1978, S. 68f.); Hobbes (1959, S. 62). 36. Vgl. Hobbes (1980, S. 91); Gracián (1992). 35

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nes künstlichen Menschen. Dessen absolute Gewalt stiftet Frieden im Wissen um den Abschied vom Ideal der Glückseligkeit, wie es von der Antike an die optimistische politische Anthropologie beherrscht.37 Sein genuin politisches Wesen entwickelt der Mensch demnach nicht aus der Verwirklichung des Guten, sondern aus der Bewältigung der Gefahren des Lebens, die ihm von den Anderen drohen. Deshalb kann Carl Schmitt sagen, alle echten politischen Theorien setzten den Menschen als böse voraus.38 Politik wird als eigene soziale Sphäre sichtbar, die weder auf Wahrheit noch auf Geschichte oder Moral zurückzuführen ist. Unter dieser Perspektive ist der Mensch der Begründer seiner Ordnungen, ohne deren Grund aus Gott oder aus der Natur ableiten zu können. Darum sind, wie Schmitt betont, die Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe.39 Die Macht Gottes zur Setzung von Ordnung wird mit dessen neuzeitlicher Depotenzierung in die Welt hineingeholt und als Naturkausalität oder politische Souveränität reformuliert. Mit dieser Einverleibung Gottes in die Welt aber geht der Begriff eines Außen der Ordnung verloren. Spiegelt sich zunächst noch, wie bei Hobbes, die Transzendenz Gottes in der Transzendenz des absoluten Souveräns, der nicht an die von ihm geschaffene Ordnung gebunden ist, so wird allmählich auch die Position des Souveräns als bloße Funktion innergesellschaftlicher Ordnungsbildung gezähmt und mit der Rechtsordnung in eins gesetzt. Der antike Gedanke einer Konstitution des guten Lebens der Polis in der vernünftigen Rede der Bürger mündet, so zeichnet Schmitt den politischen Diskurs des Abendlandes, in die Vorstellung vom Politischen als einem unendlichen Gespräch.40 Diesem romantisch-demokratischen Ideal kommt, so Schmitt, das Bewusstsein dafür abhanden, dass jede Ordnung auf einer Setzung beruht, die nicht in der Ordnung selbst zu begründen ist. Die Unvermeidlichkeit des vakanten Gottes zeigt sich dagegen im Ausnahmezustand, wenn die Ordnung kollabiert und eine Entscheidung verlangt, die sich aus keiner Norm ableiten lässt, die ihrerseits eine Ordnung voraussetzt. Souveränität ist die Möglichkeit zu absoluter Entscheidung ohne Rekurs auf Gewesenes oder moralisch Gesolltes.41 Souverän ist, wer im Ausnahmezustand entscheidet. Politik, Macht und Dezision koinzidieren, denn Inhalte oder Verfahren der Entscheidung erweisen sich gegenüber dem nackten Dass der Dezision und dem politischen Subjekt, das sie trifft, als sekundär.42 Schmitt präsentiert die Tradition politischer Theorie von Machiavelli über Hobbes als ein zu 37. 38. 39. 40. 41. 42.

Vgl. Hobbes (1980, S. 90). Vgl. Schmitt (1987, S. 61). Vgl. Schmitt (1993, S. 43). Vgl. Schmitt (1993, S. 53, 59). Vgl. Schmitt (1993, S. 18f). Vgl. Schmitt (1993, S. 38, 40). 36

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rehabilitierendes Denken der Entscheidung. Die Überbrückung einer Grundlosigkeit, die in der Entscheidung erfolgt, gerät dabei selbst zum absoluten Grund. In diesem Sinne bleibt Schmitts Denken der Entscheidung metaphysikanalog. Die »Romantik« der Ausnahme43 wiederholt in politisch-staatsrechtlicher Terminologie das Postulat nach einem absoluten, transzendenten Gott, dem der böse Mensch sich im Ausnahmefall zu unterwerfen hat, ohne sich anmaßen zu dürfen, seine Existenz oder Legitimität zu konstituieren. Sein politisches Wesen realisiert der Mensch durch die Unterwerfung unter einen absoluten Souverän. In dieser Figur wiederholt und unterbietet Schmitt die Tradition der Metaphysik: Er wiederholt sie durch den Verweis auf einen transzendenten Ursprung jeder weltlichen Ordnung, und er unterbietet sie durch ein Pathos der Fraglosigkeit der Macht, das an keine Vernunft und an kein Wissen zurückgekoppelt bleibt, ein Pathos, wie es die Tradition in dem Topos pflegt, dass Glaube eine höhere Form des Wissens ist. 2. Gegenüber diesem Argumentationstypus, der den Menschen als böses politisches Tier konzipiert, entwirft ihn eine psychologisch ansetzende Theorie als ein Wesen, dessen Fähigkeit zur Entscheidung gerade unpolitischer, wenn nicht antipolitischer Natur ist. Wenn der Mensch nicht an sich gut, sondern der Grund der Unterscheidung von gut und böse ist, wählt er im Akt seiner Selbstkonstitution vor allem sich selbst. Bei Kierkegaard und Nietzsche verwandelt sich die neuzeitliche Theorie eines autonomen Vernunftsubjekts in das Projekt der nichtvernünftigen Selbstkonstitution eines Wesens, das seine Grundlosigkeit zum Grund seines Selbst stilisiert. In diesem Sinne besteht für Kierkegaard die Paradoxie des endlichen menschlichen Daseins im Glauben, durch den es sich selbst einholt. Sich einzuholen bedeutet aber, die grundlos-absurde, alle Möglichkeiten des Verstandes übersteigende Operation zu vollziehen, an der Welt, ihrer Beherrschung und Begründung zu resignieren und das Unmögliche in seiner Unmöglichkeit zugleich zu bejahen. Im Pathos von Ohnmacht und Demut steht der Einzelne in einem absoluten Verhältnis zu Gott, das, anders als der Hegelsche Begriff es verheißt, durch nichts zu vermitteln ist.44 An die Stelle der Dialektik, die Denken und Sein synthetisierend verschränkt, steht ein unvermittelter Sprung zwischen Reflexion und Existenz, Unendlichkeit und Endlichkeit. Denkende Reflexion vermag ohne Anstoß durch die Leidenschaften des endlichen Daseins keine Bewegung in Gang zu bringen, und ihre immanente Logizität holt das Absolute nicht in sich selbst ein. Aus der doppelten Lösung von der Erinnerung an Gewesenes und von der neugierigen Hoffnung auf Zu43. Vgl. Lübbe (1965, S. 119). 44. Vgl. Kierkegaard (1988b, S. 38f., 42, 51). 37

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künftiges entspringt die Sicherheit des Augenblicks – eine beruhigte Endlichkeit als eigentliche Wirklichkeit.45 Vergangenheit und Zukunft, die ein neuzeitliches Vernunftsubjekt in seiner Souveränität zu vermitteln sucht, erweisen sich für Kierkegaards endlichen Einzelnen als unvermittelbar. Diese Unvermittelbarkeit verlangt eine Entscheidung, die allererst in der Entscheidung zu einer Wahl besteht. Die Alternative zwischen Gut und Böse ist das Produkt dieser ersten Entscheidung. Der Kern der Existenz enthüllt sich als Möglichkeit einer Wahl der Wahl.46 Im Unterschied zu einer Vernunft, die sich der Zeit enthoben wähnt, stellt sich dem endlichen Menschen die Zukunft als Notwendigkeit einer Wahl dar, zu der er sich als Wahl entscheiden muss.47 Weder aus der Geschichte noch aus der Vernunft oder der Natur lassen sich die Kriterien dieser Entscheidung gewinnen. Sie ist existenziell, weil in sich selbst grundlos – und in diesem Sinne frei.48 Diese Wahl besteht nicht in der souveränen Gestaltung der Zukunft, in der sich ein autonomes Subjekt selbst schafft, sondern in der Rückwendung auf ein Gewesenes, dessen letzter Grund Gott ist, und in dem alles, was ist und war, eine Bejahung erfährt.49 Kierkegaards Motiv einer Rückkehr zur Bejahung des Seienden im absurden Glauben an Gott wendet Nietzsche komplementär zu einem Pathos der Selbstüberwindung des Menschen im Bruch mit Vergangenheit und Gegenwart. Auch Nietzsche verzichtet mit seiner Figur der Überwindung des Menschen auf eine politische Form der Schaffung von Zukunft, weil er, wie Kierkegaard, die Entscheidung zu sich selbst als individuellen Akt vorstellt. Der Mensch, das listige Tier, ist für Nietzsche ein Lebewesen, das sich in seinem Machtwillen in den Erzeugnissen seiner Kultur verliert. Gott, Fortschritt und Moral ermöglichen einerseits das Überleben der Mehrheit der Schwachen und lassen andererseits die starken Exemplare erkranken, weil das Besondere dem Allgemeinen geopfert wird. Vergesellschaftung und Staatsbildung erscheinen so als Vergewaltigung einer instinktiv nach Selbststeigerung strebenden Natur. Wenn der Mensch sich selbst im Gespinst seiner Kultur in den Koordinaten von Gott, Fortschritt und Moral versteht, verfehlt er seine Möglichkeiten. Um sich auf sich selbst zu besinnen, bedarf es deshalb keines Kierkegaardschen Sprungs in die Religion, sondern einer Überwindung des geschichtlich gewordenen Menschen. Das wertende, schätzende Tier muss zu einer Umwertung aller Werte vordringen. Im Übermenschen wird von starken Einzelnen die Fessel 45. 46. 47. 48. 49.

Vgl. Kierkegaard (2000, S. 3ff.). Vgl. Kierkegaard (1988a, Teil II, S. 718). Vgl. Kierkegaard (1988a, S. 723). Vgl. Kierkegaard (1988a, S. 724f). Vgl. Kierkegaard (1988a, S. 774, 782f., 815f.). 38

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der Kultur zerrissen und eine Sphäre amoralischer Existenz eröffnet, die die Unterscheidung von gut und böse hinter sich lässt, weil diese Alternative als falsche Wahl durchschaubar wird. Wo Staat und Gesellschaft aufhören, beginnt der Mensch der Zukunft.50 Seine Selbstschöpfung verlangt die Vernichtung überkommener Geltungen. In der Leere dieser Sinngebung durch Selbstüberwindung geht jeder Rekurs auf Gott, Vernunft, Geschichte und Moral verloren. An ihre Stelle tritt eine absolute Bejahung des sich selbst fühlenden Lebens ohne Umweg über den absurden Glauben Kierkegaards. Im amor fati findet der Übermensch den Maßstab für die Entscheidungen seines Handelns. Dieser Maßstab ist, anders als Kants kategorischer Imperativ, nicht formal-allgemein, sondern er verweist auf den Willen und die Kraft, eine Entscheidung in alle Ewigkeit zu wiederholen. Weder vor der Geschichte noch vor einem Seinsollen der Zukunft lässt er sich rechtfertigen. Er ist der Wille zum ewigen Gewesensein. Die Figur der ewigen Wiederkehr ist radikal individuell und amoralisch.51 3. In dem Gestus des Übermenschen, sich als Wille zur Macht selbst zu schaffen, erblickt Heidegger hingegen die Vollendung der Neuzeit im Sinne der Radikalisierung einer Philosophie des Subjekts, das sich der Welt gegenüberstellt und sie unterwirft.52 Darin bleibe Nietzsches Nihilismus der Metaphysik und einem Willen zur Wahrheit zugehörig, gegen die sie doch mit aller Schärfe revoltiert. Das Pathos der Existenz zielt auf eine Beherrschung des Seienden einschließlich ihrer selbst. Noch der Wille zur Macht ist ein Etwas in der Welt; seine Reflexion bestimmt es als Seiendes, das wertend und schaffend alles in den Horizont seiner selbst stellt. Der Übermensch ist Vollender des getöteten Gottes. Wirkliche Überwindung der Metaphysik bedeutet für Heidegger, aus dem Bannkreis des Denkens des Seienden als des Bestimmten auszuscheren und die andere Seite aller Bestimmungen – nicht positiv bestimmend, sondern negativ als sich entziehenden Grund – zu denken. Dieses Zugrundeliegende ist kein Subjekt und kein Wesen; es ist das Undenkbare, das sich als grundloser, nicht denk- und ableitbarer Grund aller Bestimmtheit bestimmt. Dieses Sein ist das »Ausbleiben«.53 Für dieses Ausbleibende und sich Entziehende nun ist der »Mensch« in seiner Reflexionsfähigkeit ein Resonanzboden oder, wie Heidegger formuliert, eine »Unterkunft der Ankunft«.54 Ohne die aktive Passivität einer reflektierenden Resonanz wäre kein Sichentziehen des Grundes möglich, in dem alles positive Denken sich als Nichtung des Bestimm50. 51. 52. 53. 54.

Vgl. Nietzsche (1988a, S. 63). Vgl. Nietzsche (1988c, S. 297); Nietzsche (1988d, S. 570). Vgl. Heidegger (1999, S. 184). Heidegger (1999, S. 218f). Heidegger (1999, S. 231). 39

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ten auflöst. Unter allem Seienden ist der Mensch die am meisten ungesicherte Weise zu sein.55 Seine Reflexion führt ihn zur ständigen Irritation über seine eigene Position in der Welt. Heidegger begreift nun diese konstitutive Unsicherheit als Sensibilität für ein Geschehen, das den Menschen von außen anfällt und als Geschick des Seins überfällt. Seine zentrale Position gewinnt der Mensch durch seine ausgezeichnete Weise, ein nicht eindeutig bestimmbares Seiendes zu sein und zu verstehen, dass ihm damit die Rolle zufällt, Medium für ein nicht bestimmbares Sein zu sein, dessen Unbestimmbarkeit Grund seiner negativen Reflektierbarkeit ist. Unter einer solchen Perspektive sind Geschichte und Moral, Historiographie in antiquarischer, monumentaler oder kritischer Sicht ebenso wie eine Ethik oder eine pseudonihilistische Umwertung aller Werte Monumente eines subjektphilosophischen Eskapismus vor dem radikalen Denken des Entzugs von Sinn.56 Die Analytik des Daseins von Sein und Zeit sowie das Denken der Kehre erschließen zwei komplementäre Aspekte dieser Figur einer Entscheidung. Im Dasein fasst Heidegger ein Seiendes ins Auge, dessen Seinsart darin besteht, Seiendes erscheinen zu lassen und das darin fundamentaler wirklich wird als in der Frage nach dem Sein des Menschen als eines Seienden. Geworfen in eine Welt, in die hinein es sich entwirft, versäumt dieses Dasein zumeist seine genuine Möglichkeit, da es sich an den gegebenen Strukturen des »Man« orientiert. Um diese Möglichkeit, sich zu seinen eigenen Möglichkeiten zu verhalten, zurückzugewinnen, bedarf es eines Rückzugs aus der Uneigentlichkeit der Existenz. Dieser Rückzug, angelegt im Vorlauf zum Tode und in der Angst, die alle innerweltlichen Geltungen inhibiert, führt zu einer Entscheidung für das eigene Seinkönnen des Daseins. In dieser Entscheidung wird die Geworfenheit nicht etwa annulliert, weil diese das konkrete Dasein ausmacht; vielmehr führt sie zum »Nachholen einer Wahl«, die in der Entscheidung für das eigene Seinkönnen besteht.57 Vor aller inhaltlichen Bestimmung des Gewählten gewinnt das Dasein sich in seiner Möglichkeitsstruktur in der Wahl der Wahl selbst, die ihrerseits jeder moralischen Unterscheidung zwischen gut und böse zugrunde liegt. Der Kern der Entscheidung liegt in der Wahl des Daseins als sich zu sich verhaltender Möglichkeit. Da seine Möglichkeiten mit seiner konkreten Geworfenheit in die Welt vorgegeben sind, impliziert die Entscheidung die Übernahme eines Grundes, für den das Dasein nicht aufzukommen vermag. Jede Wahl bedeutet die Bejahung des Ausschließens des nicht Gewählten.58 Mit der Entscheidung zu einer 55. 56. 57. 58.

Heidegger (1999, S. 242). Heidegger (1999, S. 245ff.). Heidegger (1979, S. 268). Vgl. Heidegger (1979, S. 284f.). 40

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solchen Entschlossenheit gewinnt das Dasein sich mithin nicht durch einen Rückzug von der Welt, sondern umgekehrt durch das Entdecken und Ergreifen seiner faktischen Möglichkeiten in der Welt.59 Wenn Entschlossenheit Übernahme der Geworfenheit bedeutet, dann ist das sich in die Zukunft entwerfende Dasein seine eigene Gewesenheit. Die Möglichkeit der Zukunft besteht im Gewesensein und im Aushalten der Selektivität seiner eigenen Möglichkeit.60 Der Entschluss der Gegenwart zum eigentlichen Seinkönnen als Möglichkeit wiederholt das Gewesene als faktisch konditionierte Möglichkeit, ohne sich von dieser Vergangenheit in einem normativen Sinne binden oder diese in einem antizipierten Fortschritt überbieten zu wollen. Stattdessen löst die Entscheidung zur Eigentlichkeit die Gegenwart von jeder historischen oder moralischen Bindung.61 Im Gedanken des Seins zum Tode findet sich insofern ein Äquivalent zu Nietzsches Motiv der ewigen Wiederkehr. Beide beschreiben eine Gegenwart, die sich von allen ontologischen oder moralischen Fesseln befreit und sich als radikale Selbstaffirmation versteht. Allerdings weist Heideggers Philosophie der Entscheidung das Pathos einer Selbsterschaffung des sich zu sich verhaltenden Einzelnen zurück. Vielmehr ist dessen Position durch eine uneinholbare Bedingtheit seiner Existenz bestimmt, die es anzuerkennen, zu wählen und auszuhalten gilt. Darin meldet sich eine konstitutive Passivität des Daseins, die Heidegger später in ihrer eigenen Möglichkeit seinsgeschichtlich erläutert. Ihren Grund findet die Möglichkeit einer Freigabe des Seienden durch das Dasein nämlich in einem Anspruch des Seins selbst, das sich doch jeder konkreten Bestimmbarkeit entzieht.62 Als Dasein ist der Mensch nie Grund seiner selbst. Darum bleibt die anthropologische Frage nach dem Sein des Menschen als eines innerweltlich Seienden im Bannkreis der Metaphysik gefangen. Das, wovon der Mensch angesprochen und getroffen wird, bedarf zwar des Daseins als eines sich um sich sorgenden Selbstverhältnisses, aber es ist seiner Bestimmung unerreichbar. Allenfalls in der Inhibierung aller Bestimmungen als Denken des Grundes gelangt es in die Nähe eines Seins, das nur als Differenz zum Seienden, das heißt als bestimmungsloses Anderes aller Bestimmung, negativ bestimmbar ist. Im Unterschied zu Nietzsche ist dieser abwesende Grund auch nicht auf die wertende Tätigkeit des Menschen zurückzuführen.63 Das Motiv der Entscheidung bekommt aus seinsgeschichtlicher Perspektive die Kontur eines Ereignisses, das den Menschen als Verweigerung aller Bestimmtheiten ergreift und das Dasein als Resonanzkörper eines Seinsgeschehens ins 59. 60. 61. 62. 63.

Vgl. Heidegger (1979, S. 298f.). Vgl. Heidegger (1979, S. 325f.). Vgl. Heidegger (1979, S. 385f.). Vgl. Becker (2004). Vgl. Heidegger (1981, bes. S. 32f., 39). 41

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Spiel bringt. Der »letzte Gott« beendet eine Epoche der Seinsvergessenheit des »Menschen«, ohne die Geschichte teleologisch abzuschließen. An die Stelle einer Erlösung tritt die mögliche Eröffnung eines Möglichkeitsfeldes und die Institutierung des Daseins in seine Möglichkeiten.64 Heideggers Philosophie der Entscheidung entfaltet aus der doppelten Perspektive einer Daseinsanalytik und einer Seinsgeschichte eine Theorie der Möglichkeit, in deren Fluchtpunkt die Reflexivität des Daseins steht. Anders als eine politisch angesetzte Entscheidungstheorie konzentriert sie sich auf die Möglichkeiten des je Einzelnen; im Kontrast zu einer psychologisch diagnostizierenden Anthropologie verweigert sie sowohl den Sprung in ein religiöses Absolutes als auch die Idee einer Selbsterschaffung, die sich aus den Verstrickungen der Gesellschaft befreit. Aber der späte Heidegger hält trotz seines Denkens der Bestimmungslosigkeit des Grundes daran fest, das Sein als eine Struktur zu konzipieren, von deren Gewalt das Dasein in aktiver Passivität getroffen wird und dem es sich andenkend zuwendet. Aus dieser Sicht müssen die empirischen Bedingtheiten des Menschen, wie die Humanwissenschaften sie explizieren, als unzulässige Hypostasierungen eines anonymen Seinsgeschicks erscheinen. Der Gestus einer solche Strukturen noch unterlaufenden Reflexion allerdings beschwört ein Sein des Seins, das sich lediglich im Modus der Nichtung aller Bestimmtheiten negativ umschreiben lässt. Diesem eine aktive Rolle zuzugestehen, in Bezug auf die das menschliche Dasein eine responsive Funktion gewinnt, überbietet in gewisser Weise den Gestus der Metaphysik. Der unbestimmbare Grund aller Bestimmtheiten ist unsagbar und ungreifbar. Das ganz Andere lässt zwar den Ort Gottes in der älteren Metaphysik wie denjenigen des Menschen in deren Reformulierungsversuchen unbesetzt, hält jedoch an der argumentationslogischen Funktion eines Absoluten fest. Die Theorie der Möglichkeit, die der Figur einer Bestimmung des Daseins durch Entscheidung das Fundament verleiht, läuft damit ins Leere. Selbst die Reflexion dieser Struktur bleibt für das innerweltliche Dasein entweder folgenlos oder beschränkt sich auf die Haltung der Kultivierung einer Verweigerung aller innerweltlichen Sinnstrukturen. Nietzsches Insistenz auf der Lust und dem Machtwillen, der die Lehre der ewigen Wiederkehr begründet, verblasst in Heideggers Entscheidung zur Eigentlichkeit zu einer Übernahme des Gewesenen. Der Versuch, über das konstitutive Schweigen zu sprechen, reproduziert schließlich das Motiv der Metaphysik und erweist sich als deren letzte Facette. Es gibt keine Phänomenologie des Absoluten.

64. Vgl. Heidegger (1994, S. 413). 42

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IV. Im Diskurs über den »Menschen« erscheint dieser unter historischen wie systematischen Aspekten als Figur eines Differenzdenkens. Gilt diese Differenz zunächst innerhalb eines ontologischen Denkrahmens als in sich vermittelbar, nimmt sie im Kontext einer Kritik ontologischen Denkens paradoxe Züge an. Besetzt der Mensch im antiken und mittelalterlichen Weltbild den Ort einer Reflexion zwischen Gott und Welt, in der die Ordnung des Ganzen sich spiegelt, so wird er im Kontext neuzeitlichen Denkens zur Bedingung der Möglichkeit der Welt in der Welt. Geschichte und Moral bieten ihm Formen, um die Kontingenzen der Welt aufzufangen. Wird jedoch diese Funktion des Menschen als eines konstituierenden Grundes infrage gestellt, gewinnt die Figur der Vermittlung zwischen Gott und Welt, Empirischem und Transzendentalem die Signatur einer Paradoxie, die in keiner Vermittlung der Relata aufzuheben ist. Die Reflexion selbst erscheint in verschiedenen Versionen als ortloser Ort oder azentrisches Zentrum in der Welt. In den Varianten einer Philosophie der Entscheidung wird demgegenüber ein Denken des Menschen unter Verzicht auf das Modell einer Vermittlung durchgespielt. Bei Schmitt, Nietzsche und Heidegger erfährt der Topos der Entscheidung eine politische, psychologische oder seinsphilosophische Akzentuierung. In der Grundlosigkeit des Grundes, für die der Mensch steht, versinken auch Geschichte und Moral als Formen innerweltlicher Kontingenzbindung zugunsten eines Denkens der Bindungslosigkeit. Die Position des Menschen nimmt die Färbung einer Differenz an, deren Reflexivität sich durch sich selbst festlegt. Diese Festlegung, als Entscheidung, behält allerdings in allen drei Varianten den metaphysikanalogen Status eines absoluten oder grundlosen Grundes, der die innerweltlichen Ordnungen des Seienden außer Kraft setzt. Um die Kritik einer entscheidungsphilosophisch angesetzten Anthropologie an den Modellen der traditionellen Metaphysik zu bewahren und doch die Verabsolutierung oder Ontologisierung der Entscheidung zu vermeiden, bietet es sich an, die Figur der Entscheidung als Theorie der Unterscheidungen zu reformulieren. Dies verspricht den Vorteil, die Grundlosigkeit des Grundes als innerweltliche Operation von Kommunikation zu entschärfen, die Kontingenzen des Entscheidens analytisch aufzutrennen und die Apotheose des Augenblicks der Entscheidung durch ein Modell der Wiederholung zu beschreiben, mit dem die Figur der Reflexion, wie sie den Diskurs über den Menschen dominiert, in die Figur einer Rekursion transformiert wird. Eine Theorie des Unterscheidens folgt den Optionen einer Entscheidungsphilosophie in der Akzentuierung der Gegenwart. Jede Entscheidung ist aktualer Vollzug einer Unterscheidung, die weder als durch vergangene Kausalitäten noch als durch zukünftig Seinsollendes 43

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determiniert behandelt wird. Als je gegenwärtige Operation ist die Entscheidung der Ort einer Trennung von Vergangenem und Zukünftigen, die jedoch erst im Lichte der Operation ein bestimmtes Profil gewinnt. Entscheidungen beschreiben indeterminierte Ereignisse, die sich operativ auf Vergangenes oder Zukünftiges sowie auf Wirkliches und Mögliches beziehen und damit Kausalitäten oder Zwecke festlegen. Sichtbar werden sie im Modus bezeichnender kommunikativer Unterscheidungen, die sie als Festlegungen benutzen. Indem sie Festlegungen vollziehen und Möglichkeiten ausschließen, eröffnen sie zugleich neue Möglichkeiten, an die neue Unterscheidungen anschließen können. Darin sind Entscheidungen ihr eigener Grund, ohne existenziell oder seinsphilosophisch aufgeladen werden zu müssen. Zum operativen Grund ihrer selbst werden sie erst durch rekursive Anschlussoperationen. Anschlussoperationen behandeln die Operation des Unterscheidens als irreversible Voraussetzung ihrer eigenen Möglichkeit, die auch im Falle abweichender Folgeunterscheidungen übernommen werden muss. Wahrnehmung und Kommunikation, als korrelative Modi der Formierung von Sinn, sind an Entscheidungen beteiligt, obwohl Entscheidungen erst im Modus von Kommunikation soziale Form gewinnen. Werden Entscheidungen dergestalt als operative Differenzen betrachtet, sind nicht primär Menschen Entscheidungsträger. Menschen erscheinen stattdessen als Chiffre für Unbestimmtheit und Kontingenz, die sich erst sozial formieren. Indeterminiertheit und Kontingenz werden als Voraussetzung für Entscheidungen und kommunikative Festlegungen sichtbar. Freiheit beschreibt eine Perspektive auf Kontingenz im Sinne eines Schemas für die Unvoraussagbarkeit kommunikativer Anschlüsse, die Entscheidungen als Modus sozialer Formbildung ermöglicht. Entscheidungen sind insofern die Einheit einer Differenz von Vergangenheit und Zukunft, Gewesenem und Seinsollendem. Sie behandeln Zukunft als indeterminiert durch die Kausalität des Vergangenen und setzen sich selbst als Beginn einer neuen Geschichte voraus. Entscheidungen liefern eine Form der Möglichkeitssuche, die alle Festlegungen als kontingent und in Zukunft änderungsfähig betrachtet.65 Solche Festlegungen bleiben jedoch pfadabhängige Konstruktionen jeweiliger Unterscheidungen. Andere Beobachtungsformen mögen in der Selbstfestlegung einer Entscheidung Kausalitäten entdecken. In diesem Sinne begründen Entscheidungen Ordnungen, die durch rekursive Verkettungen unterscheidender Festlegungen entstehen, ohne darum absoluter Grund aller Ordnung zu sein. Indem sie Differenzen spezifizieren, markieren sie ihre eigene Selektivität als Entscheidung, die im Nachhinein nicht geändert, sondern nur durch weitere Unterscheidungen in neue Kombinationen gebracht werden kann. Diese Se65. Luhmann (2000, S. 166f.). 44

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lektivität stabilisiert sich durch die rekursive Anknüpfung an die jeweils entscheidungsspezifische Vergangenheit. Durch die Form der Entscheidung eröffnete Kontingenzen erzeugen mit ihrer rekursiven Selektivität ein Gedächtnis der realisierten und der nichtrealisierten, aber damit entscheidungskonstitutiven alternativen Möglichkeiten.66 Durch die Schließung einer Option werden Möglichkeiten nicht vernichtet. Vielmehr bleiben diese im Modus der Vergangenheit appräsentiert und für zukünftige Entscheidungen zugänglich. Ihre Beschreibung kommt ohne ein Nietzscheanisches Motiv der ewigen Wiederkehr oder der Heideggerschen Schuld aus, weil sie keinen emphatischen Begriff der Reflexion voraussetzt, der auf ein sich empfindendes und bewusst zu sich Stellung nehmendes Leben verweist. Rekursive Differenzen konstituieren über Zeit unwahrscheinliche, weil eigenlogisch entstandene Ordnungen von Verknüpfungen und Verweisungen. Solche Felder beschreiben Sinnmöglichkeiten, in denen etwas als etwas bestimmbar wird, ohne dass ihnen der Status eines Seienden zugesprochen werden müsste. Möglichkeitsfelder repräsentieren zum einen spezifische Kontingenzen, die sie bestimmbar machen, und zum anderen sind sie mehrdimensional strukturiert. Diese Mehrdimensionalität öffnet sie für die analytische Unterscheidung von Unterscheidungsdimensionen, die weder von einem konstituierenden Zentrum noch von einer festen Grenze aus zu denken sind. Neben ihrer zeitlichen Dimension, in der Entscheidungen je aktuale Operationen rekursiv zu pfadabhängigen Mustern koppeln, bestimmen Möglichkeiten sich durch feldspezifische Symbolordnungen. Entscheidungen sind symbolisch markierte Unterscheidungsereignisse, indem sie ein jeweils Bestimmtes von möglichem Anderen, also von bestimmt Unbestimmtem so unterscheiden, dass diese entscheidungskonstitutive Selektivität rekursiv reproduzierbar ist. Rekursive Reproduktionen von Sinnselektionen benutzen replizierbare Zeichen, die eine relative zeitliche Stabilität verfügbar machen und eigenen Kombinationsordnungen unterliegen. Symbolische Markierungen konstituieren im Modus von Entscheidungen die Gleichzeitigkeit von Aktualem und Appräsentiertem, von Wirklichem und Möglichem. Ohne diese simultane Repräsentation von Bestimmtem und bestimmt Unbestimmtem kommen sie weder in zeitlicher noch in symbolischer Hinsicht zustande. Die Einheit dieser Differenz lässt sich als Kultur bezeichnen. Sie liefert einen symbolisch repräsentierten Raum der gleichzeitig in Entscheidungen zugänglichen Alternativen. Schließlich verweisen Entscheidungen auf eine soziale Adresse. Diese Adresse wird traditionell vom »Menschen« besetzt, und die einseitige Fokussierung auf diesen als Entscheidungsträger dirigiert klassische Philosophien der Entscheidung. Eine Theorie der Entscheidung als Unterscheidungsoperation bietet dazu insofern Alternativen 66. Luhmann (2000, S. 170). 45

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an, als sie die Position der Entscheidungsinstanz kommunikationstheoretisch fasst. Menschen kommen stets als soziale Formen geordneter Kontingenzen ins Spiel, die je schon in bestimmten Erwartungs- und Möglichkeitskontexten spezifiziert sind. Der »Mensch« stellt eine zu starke, weil alle konkreten Verweisungskontexte transzendierende und insofern die soziale Welt übersteigende Größe dar. Er wäre äquivalent mit Natur. Spätestens mit der funktional differenzierten modernen Gesellschaft erfolgt die Inklusion des »Menschen« im Modus der Kommunikation und nicht mehr primär durch – zum Teil gewaltsamen – Zugriff auf den Körper. Der Mensch, als Einheit der Differenz von Körper und Vernunft, erscheint nun sozial als Person, die für Kommunikation als Adresse verfügbar ist. Zwischen Einzelnem und Gesellschaft strukturieren zunehmend Organisationen – und damit als Entscheidung markierte Kommunikationen – soziale Sinnhorizonte. Die Form »Mensch« wird daher durch die Form »Person« ersetzbar und spezifizierbar. Nicht zuletzt Organisationen kommen nämlich als Entscheidungsinstanzen in Frage.67 Sie konditionieren Entscheidungsketten und koppeln wiederum Entscheidungen an die Form der Person. Hingegen würden Organisationen vom »Menschen« überfordert, der darum nur in spezifischen Hinsichten als Kontingenzgenerator in den Blick gelangt – und dann in diesem Überschusspotential wiederum partiell sozial gefordert sein mag. Damit entfallen alle Überbietungsambitionen der Anthropologie ebenso wie Bestimmungen des Menschen als u-topischer Ort der Reflexion-als-Reflexion. Beide Varianten überdehnen das Denken der Entscheidung, weil sie Möglichkeitsfelder auf einen letzten Grund beziehen anstatt sie mehrdimensional zu zerlegen und operativ handhabbar zu machen. Varianten der Anthropologie neigen dazu, einzelne Dimensionen von Sinnfeldern zu isolieren und zum Merkmal des »Menschen« zu stilisieren: sei es durch die Betonung der Zeit als Geschichte, der Moral als kultureller Invariante des Seinsollenden, sei es durch die Stilisierung der Sozialität im Sinne einer Grundlegung des Politischen oder der Institutionen, sei es durch die Betonung der symbolischen Existenzweise des Menschen.68 Erst in ihrem komplementären Zusammenspiel hingegen konstituieren diese Dimensionen eine Ordnung von Unterscheidungen, die sich als Entscheidungsereignisse, das heißt als simultane soziale, temporale, kulturelle und symbolische Festlegungen zu spezifischen Kontingenzspektren beobachten lassen. Eine Fundamentalisierung einer dieser Dimensionen wird ebenso unnötig wie die Grundlegung von Sinnfeldern in einem Absoluten oder einem Seinsgeschick. Personen, als soziale Form biologischer Wesen, Geschichte als soziale Form einer symbo67. Vgl. Baecker (2003, S. 29ff., 248ff.), der allerdings Entscheidungen für die Form der Organisation reserviert. 68. Vgl. Cassirer (1990). 46

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lisch strukturierten Zeit, Symbolisierungen als semiotische Formierung replizierbarer Wahrnehmungen und Kommunikationen, oder kulturelle Weltdeutungen als Formen des zu einer Zeit Möglichen und Wirklichen, zu dem Ethik und Moral ebenso zählen wie künstlerische Ausdrucksformen, Religion oder Naturverständnisse, beschreiben gemeinsam die Bestimmungsmerkmale einer »Welt« wie des »Menschen«. Ontologie und Anthropologie fokussieren auf komplementäre Weise einseitig Unterscheidungsordnungen, die Hinsichten des sinnhaft Möglichen konstitutieren. Unter sinntheoretischer Perspektive bleiben sie damit für analytisch-empirische Zwecke zu wenig differenziert. Als Fokus simultaner Unterscheidungsmöglichkeiten ist die Figur des Menschen unterkomplex. Das Theorieproblem, auf das die Anthropologie reagiert, kann unterscheidungs- und sinntheoretisch reformuliert werden, denn die Figur der Reflexion, für die der »Mensch« steht, markiert eine zu eingeschränkte, weil zu anspruchsvolle Form von Differenz. Reflexion zielt auf eine Identität des Unterschiedenen, dessen Relata miteinander zu vermitteln sind. Das Ideal von Reflexion wäre Identität, Selbsttransparenz und Selbsterkenntnis. Solche Anforderungen ergeben sich aus einem ontologischen Denkrahmen, scheitern aber mit dem Zerfall von dessen Prämissen. Stattdessen lässt sich die Figur der Differenz von Reflexion auf Rekursion umstellen. Dann lassen sich Bestimmungen als feldrelative Markierungen betrachten, denen keine feste Identität zukommt. Ohne rekursive Bezugnahmen würden sie zerfallen. Sinnfelder beschreiben mehrfache Kontingenzspektren ohne Zentrum. Sie entziehen sich damit einer einfachen Repräsentation. Während die Figur des Menschen traditionell die Position eines Zentrums besetzt, in dem die Welt sich repräsentiert und die sich selbst reflektiert, so entfällt die Notwendigkeit, eine solche Instanz in einem feldtheoretischen Beschreibungsformat vorzusehen. Die im Rahmen kulturwissenschaftlicher Beobachtungen des Menschen auffallenden empirischen Bedingungen seiner Möglichkeit – seit Herder vor allem Sprache, Geschichte und kulturelle Identität –, legen ebenfalls eine feldtheoretische Beschreibung nahe. Das ehemalige Zentrum einer Theorie der Repräsentation erscheint dann als Fokus mehrfacher Dezentrierungsbewegungen. An die Stelle des Modells zeitenthobener Identität tritt die Figur der Identitätsbildung durch Wiederholung; an die Stelle des Modells einer Identität der Bedeutung tritt ein semiotisches Verweisungsgeschehen, das in Wahrnehmung und Kommunikation eigendynamische Ordnungen entfaltet; an die Stelle des Modells einer Identität des Menschen als Seele oder Bewusstsein tritt die operative, mehrdimensionale Zuschreibung von Erwartungen und Eigenschaften an Personen; an die Stelle des Modells einer Identität des Realen, Wahren und Repräsentierbaren treten kontextrelative Geltungsprofile. Entscheidungen, als operative kommunikative Differenzen, profilieren jeweils Möglichkeitsfelder in allen Dimensionen der 47

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Sinnbildung. Statt Komplexität durch Identität und Reflexion aufzufangen, dienen sie zu deren Steigerung. Sie sind Schemata der Eröffnung von Möglichkeiten und der Erzeugung von Vergangenheiten, deren retrospektive Irreversibilität gegenwärtige Alternativsuchen stimuliert, deren Relevanzkriterien wiederum nicht vorgegeben, sondern auf äquivalente Möglichkeiten hin abzusuchen sind. In der Form symbolisch gedeuteter Zeit konstituieren Entscheidungen sich retrospektiv als Resultate von Geschichte, die Extrapolationen von zukünftig Seinsollendem ermöglicht. Anders als Varianten einer Geschichtsphilosophie liest eine Theorie der Entscheidung solche rekursiven Differenzbildungen jedoch als kontingenzgenerative Schematisierungen, die sowohl positive als auch negative, gute oder böse, optimistische oder pessimistische Codierungen erlauben.69 Moralische Codierungen werden als alternative Codierungsmöglichkeiten zugleich verfügbar und in ihrem Geltungsanspruch relativiert. Entscheidungen zeigen sich in der operativen Festlegung von Unterscheidungen. Sie beschreiben keine absolute Größe, weil sie nur in der Differenz von Möglichkeits-Wirklichkeits-Differentialen beobachtbar werden, deren Ursprung weder eindeutig auszumachen noch zu begründen ist. Allerdings ermöglichen sie zugleich eine soziale Adressierung. Diese jedoch zielt nicht auf Menschen, sondern auf Personen, denen die Übernahme von Kontingenz und Ungewissheit zugemutet wird. Da Entscheidungen ohne soziale Adressierung nicht zustande kommen, setzt dieser Aspekt von Selektivität eigene Möglichkeiten der Kritisierbarkeit frei, die sich im Modus von Politik als Zumutung von Entscheidungskompetenz kommunizieren lassen. Personen sind feldrelative Adressen. Sie sind ontologisch ungreifbare, flüchtige und wandlungsfähige Spuren zeitlicher Interpunktionen, symbolischer Verschiebungen, sozialer Erwartungen und kulturell verfügbarer Möglichkeiten. Sie verdanken sich Unterscheidungen, die Entscheidungen ermöglichen, die Personenadressierungen ermöglichen. In rekursiven, dynamischen Sinnfeldern ohne Zentrum markieren sie eine soziale Zuschreibungsmöglichkeit von Sinn. Darin sind Personen wirklicher als der Mensch, der in dem Bestreben, Gott zu kopieren, zunächst diesen und sodann sich selbst als eine theorielogische Möglichkeit verloren hat.

69. Vgl. auch Weick (1995, S. 278). 48

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Vermittelte Unmittelbarkeit. 1 Das Glück der ästhetischen Erfahrung 2 Hans-Georg Soeffner

1. Endliches Gelingen Die Liebe zur Kunst, insbesondere zur Musik, habe, so erzählte mir ein enger, vor einigen Jahren verstorbener Freund,3 sein ganzes Leben bestimmt. Aussagen dieser Art finden sich allenthalben. Sie sind bei Bildungsbürgern oder solchen, die dafür gehalten werden wollen, ebenso beliebt wie bei Künstlern unterschiedlicher Art und Qualität. Und fast immer basieren diese Bekenntnisse auf Erfahrungen, in denen sich Ästhetik und Affekt vermischen. Je nach affektiver Beigabe kleidet sich das Bekenntnis in heroisches Pathos oder romantische Verklärung; in die kühle Sachlichkeit des ästhetischen Konstrukteurs oder in schwärmerische Gefühligkeit und völlige Hingabe an das, was als Kunstgenuss empfunden wird. Die Aussage meines Freundes dagegen zielte einerseits auf weniger, andererseits auf mehr, als in den meisten Liebesbekenntnissen zur Kunst enthalten ist: auf weniger Gefühlsbeimischung, stattdessen auf so etwas wie Vollendung – auf das Glück der und in der ästhetischen Erfahrung. Seine Eltern hatten ihm, als er noch ein Kind war, ein Klavier gekauft. Den Klavierunterricht bezahlten sie, obwohl sie es sich eigent1. Vgl. Plessner (1975, S. 321ff.). 2. Alfred Bellebaum hat mich in seiner unwiderstehlich beharrlichen Art dazu gebracht, über das Glück in der ästhetischen Erfahrung nachzudenken. Unglücklicherweise stieß er mich damit auf ein Thema, das eine eigene Dynamik enthält und das selbst dann, wenn man das Glück haben sollte, über viel Zeit zu verfügen, nicht erschöpfend behandelt werden könnte. Es sei denn, man wäre im Stande, durch einen glücklichen Einfall, zum Beispiel in den drei Zeilen eines vollendet eleganten Haiku das Glück einzufangen und erfahrbar zu machen. Im folgenden – erkennbar nicht haikuartigen – Aufsatz geht es dagegen nur um einige Vorbemerkungen zu einem umfassenden Thema. 3. Anselm Strauss, *18. Dezember 1916; † 5. September 1996. 53

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lich nicht leisten konnten oder vielleicht gerade, weil es über das Lebensnotwendige hinausging. Der Schüler dankte es dem Klavierlehrer dadurch, dass er den Unterricht nicht als Last empfand – obwohl beiden schon bald klar war, dass die Begabung des Schülers nicht außergewöhnlich war. Mein Freund hatte nichts von einem musikalischen Wunderkind, wohl aber eine enge Wahlverwandtschaft zur Welt der Musik, einer Welt, in der uns das große gespielte Werk, solange das Spiel anhält, in eine ebenso vollkommene wie flüchtige Ordnung stellt. Flüchtige Ordnungen sind auch das Thema der Sozialwissenschaften, ohne dass – bis auf ganz wenige Ausnahmen – sozialen Ordnungen auch nur ansatzweise so etwas wie Vollkommenheit in einem ästhetischen Sinne zugeschrieben werden könnte. Aber die Parallelität in Flüchtigkeit und ›Werkcharakter‹ einerseits und andererseits die Differenz in der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen ›Sinnprovinzen‹, ›Erkenntnisstilen‹ und Einstellungen fordern geradezu dazu heraus, diese verschiedenartigen Ordnungstypen – Alltagswelt und Welt der Ästhetik – zu kontrastieren und den Kontrast analytisch zu nutzen. Von solchen Überlegungen war der Klavierschüler, allerdings zunächst noch, weit entfernt. Später prägten sie, wie sich zeigen lässt, seinen theoretischen Stil.4 Erst einmal aber galt es, die Fingerübungen abzuleisten und den Erfolg an einer Serie von Etüden zu erproben. Dann folgten, zu Beginn noch heimlich und gegen den Willen des Klavierlehrers, angeregt durch Konzertbesuche, die ersten Versuche mit Sonaten der ›Klassiker‹. Salons, Sonntagskonzerte und Solisten hatten hier den Publikumsgeschmack und damit anfangs auch den des Musikschülers vorgeformt und Favoriten geschaffen, an denen auch die musikalischen Lehrlinge sich zu bewähren versuchten. Eine Klaviersonate Mozarts, die schon zur Zeit ihrer Entstehung das Publikum durch das souveräne Spiel mit (vorgeblich) türkischen Stilelementen gewonnen hatte,5 zog meinen Freund in besonderer Weise an. Es war eine Faszination, die ihn bis zum Ende seines Lebens nicht mehr los ließ. Immer wieder versuchte er sich an ihr. Schon bald konnte er sie auswendig. Und auch seine Spieltechnik war so weit fortgeschritten, dass sich nur noch geringfügige Fehler in das Spiel einschlichen. Über mehr als siebzig Jahre blieb Mozarts ›Klingstück‹ meines Freundes ständige Herausforderung. Obwohl die Sonate längst durch ein verhältnismäßig großes Repertoire anderer Stücke Konkurrenz erhalten hatte, war und blieb sie letztlich seine einzige große, persönliche, musikalische Liebe: eine Geliebte allerdings, die sich ihm immer wieder entzog. Denn alles Üben, Wiederholen, Verbessern hatte nie dazu geführt, dass er die Sonate auch nur

4. Vgl. Soeffner (1991). 5. Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate A-dur KV 331 (Alla turca). 54

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einmal so hatte spielen können, wie er sie – seinem »inneren Wissen und Empfinden« nach – hätte spielen müssen. In seinem letzten Lebensjahrzehnt wurde er schwerhörig. Sein Leben als akademischer Lehrer – und eben auch als Musikliebhaber – bestand aus einem immer hartnäckigeren und ständig schwerer werdenden Kampf gegen die immer wieder versagenden, pfeifenden, knarrenden oder scheppernden Hörgeräte. Auch die Finger wehrten sich mit zunehmendem Alter immer renitenter gegen den Spielwillen meines Freundes. Das alles hinderte ihn nicht daran, sich weiter aufopfernd um seine musikalische Geliebte zu bemühen. Manchmal, wenn wir nach langem Gespräch und einigen Gläsern Wein nachts zusammen saßen, fragte er, ob ich – noch einmal – hören wolle, wie weit er mit seiner Interpretation fortgeschritten sei. Ich wollte immer, schon weil er wieder und wieder – insbesondere im ersten Satz – die Mozartschen Variationen mit ›eigenen‹ Variationen und Abtönungen unterlegte. Nie jedoch war er mit seinen Bemühungen zufrieden. Er starb plötzlich, eigentümlich leicht und gelöst – bei einem kleinen Park nahe am Meer in der kalifornischen Sonne. Am Abend vor seinem Tode habe er, erzählte mir seine Frau, wieder einmal – und für sich allein – ›seine‹ Sonate gespielt. Beim Frühstück habe er glücklich gesagt, dieses Mal habe er sie so spielen können, wie er sie habe spielen müssen.

2. Utopischer Standort Dem zwar kurzen und flüchtigen, im Gedächtnis dann aber wohl unzerstörbaren Glückserlebnis waren lange Jahre an Arbeit vorausgegangen. Dabei bildete die sich ständig wiederholende Erfahrung, dem eigenen Ideal nicht gerecht zu werden, den Antrieb: Die erlebte Differenz zwischen einem geahnten Ideal und den daran scheiternden Realisierungsbemühungen hielt den Willen wach, das zu besitzen, was eben kein selbstverständlicher Besitz sein kann – das Erlebnis, glücklich zu sein. »Glücklich zu sein«, schreibt Kant »ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewusstsein seiner unabhängigen Selbstgenügsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist«.6 Wenn nun die Notwendigkeit des ›Verlangens‹, glücklich zu 6. Kant (1968, S. 133, Anmerkung II). 55

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sein, auf die – offenkundig wiederholte – Erfahrung trifft, dass die Chancen, glücklich zu werden, bei einem endlichen, bedürftigen und um seine Bedürftigkeit wissenden Wesen nicht eben groß sind, liegt es nahe, dass dieses bereit ist, hohe Kosten oder Risiken in Kauf zu nehmen, um das Ziel zu erreichen. Ebenso nahe liegend ist die Gefahr der Selbsttäuschung, dann nämlich, wenn das unbändige Glücksstreben, der Wunsch nach Glück, zum Vater der (imaginierten) Glückserfüllung wird. Beides, Risikobereitschaft und Selbsttäuschungsanfälligkeit beweist Faust. Seine riskante Wette liefert ihn an Mephisto aus, wenn es diesem gelingt, Faust im »höchsten Augenblick« vollendetes Glück genießen zu lassen: »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen. / Dann will ich gern zugrunde gehen.«7 Da Mephisto um Fausts – aus der Sehnsucht nach Glück entspringende – Empfänglichkeit für Illusionen weiß, gaukelt er am Ende der Tragödie dem schon Erblindeten vor, was dieser gern sähe – und aus den (von Lemuren imitierten) Arbeitsgeräuschen schließt: »Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdentagen / Nicht in Äonen untergehn. – / In Vorgefühl von solchem hohen Glück / genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick. (Faust sinkt zurück, die Lemuren fassen ihn auf und legen ihn auf den Boden).«8 Vergleicht man den Wortlaut der Wette – im strengen Sinne – mit Fausts angeblicher Einlösung des Paktes, so zeigt sich, dass Mephisto durchaus nicht als Sieger über Faust dasteht. Goethe selbst hat denn auch gegenüber C.F.D. Schubarth (3.11.1820) festgestellt: »Mephistopheles darf seine Wette nur halb gewinnen, und wenn die halbe Schuld auf Faust ruhen bleibt, so tritt das Begnadigungsrecht des Alten Herrn sogleich herein, zum heitersten Schluss des Ganzen.«9 Nähme man den Wortlaut der phantasierten Wunscherfüllung des sterbenden Faust juristisch genau, so hätte Mephisto seine Wette vermutlich ganz verloren. Denn die vollständige Hingegebenheit an den Augenblick, wie sie in der Wettformel formuliert ist, findet sich in den letzten Worten Fausts nicht: Weder wird die Formel wiederholt, noch findet die Wunscherfüllung als solche tatsächlich in der erlebten Gegenwart statt. Die endgültige Befriedigung des Wunsches verlagert sich stattdessen aus der faktischen, gegenwärtigen Welt in eine zukünftige, konjunktivische Utopie, in der man zum Augenblicke sagen »dürft« (Hervorhebung H-G.S.), »verweile doch, du bist so schön!« So genießt Faust denn auch nicht einen bereits erfüllten Wunsch, sondern »Im Vorgefühl 7. Goethe (1999, S. 57). 8. Goethe (1999, S. 348). 9. Vgl. dazu auch Friedenthal (1963, S. 630ff.). 56

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(Hervorhebung H-G.S.) von solchem Glück […] jetzt den höchsten Augenblick«. Unabhängig von allen Diskussionen über die Doppelwette (Gott/Teufel; Faust/Mephisto) und über ethische Rechtfertigungen, göttliche Gnade oder Goethes ›Anleihen‹ bei Mysterienspielen, zeigt sich in Fausts letzten Worten, dass sich der Genuss des ›höchsten Augenblickes‹ interessanterweise gerade nicht aus der Wunscherfüllung selbst, sondern aus dem Vorgefühl solchen Glückes speist. Der Superlativ in der Formulierung verrät, dass es eben nicht das Erlebnis einer vollkommenen Wunscherfüllung ist, das einen ›höheren Augenblick‹ – oder gar den Genuss des ›höchsten Augenblickes‹ erzeugen könnte. Denn in solch vollendeter Wunscherfüllung würde der Erlebende im Erlebnis aufgehen und das Glück sich selbst genügen. Zurecht stellt Schopenhauer daher fest, dass »der Wunsch, d.h. Mangel […] die vorhergehende Bedingung jedes Genusses [ist]. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der Genuss auf«.10 Der Schwebezustand eines anhaltenden Genusses von etwas – auch der Genuss des eigenen Selbst – verdankt sich dagegen dem Hiatus zwischen Erlebendem und Erlebtem: einer Distanz, die aus Beobachtung, Reflexion oder Selbstwahrnehmung des genießenden Subjektes entspringt und nicht zur Ruhe kommt. Aus eben dieser Distanz konstituiert sich jener spezifische Stil des Erkennens und Erlebens, der die Besonderheit dessen ausmacht, was als das ›Glück der ästhetischen Erfahrung‹ gilt. Deshalb sind auch, so lässt sich vermuten, Ekstase und unmittelbare Versenkung in der Meditation zwar wesentliche Elemente des Glückes der religiösen, nicht aber des Glückes der ästhetischen Erfahrung. Die Mehrdeutigkeit in der Genitivkonstruktion dieser Formulierung verweist zudem auf die eigentümlichen Strukturelemente ästhetischer Erfahrung: Einerseits – genitivus subjectivus – entspringt das Glück aus der ästhetischen Erfahrung, es liegt in ihr selbst; andererseits – genitivus objectivus – ist das Glück der ästhetischen Erfahrung nichts Selbstverständliches. Man muss sich dezidiert bemühen, um schließlich (vielleicht) das Glück der ästhetischen Erfahrung einzufangen und zu genießen. Bei solchen Bemühungen geht es nicht um den Einsatz von Techniken, wie sie von der alten und neuen Ratgeberliteratur für ein ›Glückseligkeitsmanagement‹ vorgeschlagen werden. In ihr werden Glückseligkeit bzw. Glückszustände entweder – wie schon in der antiken Philosophie bei den Kynikern – durch eine so kräftige Absenkung der eigenen Bedürfnisse erreicht, dass man die Bedürfnisbefriedigung verhältnismäßig leicht bewerkstelligen kann, oder aber dadurch, dass man – wie bei den Epikuräern – auf die immer neue Erfindung von Steigerungsformen der Befriedigung setzt. 10. Schopenhauer (1923, S. 376). 57

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Beide Formen solchen Glückseligkeitsmanagements arbeiten mit der Hoffnung auf die Manipulierbarkeit jenes ursprünglichen und notwendigen Bedürfnisses, von dem Kant spricht. Anders als jenes beruhen jedoch die instrumentell und à la carte fabrizierten Standardformen gesellschaftlich angepriesener Glückseligkeiten auf dem Einsatz von Täuschung und Selbsttäuschung. Frei nach Swift lassen sich folglich solche Glückseligkeiten als Zustände kennzeichnen, »da man ununterbrochen wohl und geschickt betrogen wird«11 oder sich selbst betrügt. Ähnlich verhält es sich mit Empfehlungen, nicht dem großen Glück nachzujagen, sondern sich mit dem ›stillen und kleinen Glück zu bescheiden‹. Was immer in solcher Bescheidung genossen wird, mit dem Glück der ästhetischen Erfahrung und ihrer Dimensionen hat das ›stille, kleine Glück‹ kaum etwas zu tun. Die Spannung und Anspannung, aber auch der Schwebezustand, in die ästhetische Erfahrung die Subjekte versetzt, werden in solcher Selbstbescheidung ersetzt durch eine Harmonisierungsmaxime, die sich gegen jede Art von Widerständigkeit durch Selbstabkapselung zu schützen sucht: »Wer eben Glück und Behagen vom Leben ernten will«, stellt Nietzsche in diesem Zusammenhang fest, »der mag nur immer der höheren Kultur aus dem Weg gehen«,12 einer Kultur, so ist zu ergänzen, in der das Glück des Menschen – statt im Behagen – darin besteht, ein Gleichgewicht zwischen einerseits intendierter und andererseits objektiver, d.h. tatsächlicher aber unwahrscheinlicher Erfüllung herzustellen. Es ist ein Gleichgewicht, das dem Menschen nicht gegeben, sondern als Problem aufgegeben, »durch seine endliche Natur […] aufgedrungen«13 ist, und das er immer »auf’s Neue mit Glück«,14 aber in der Regel vergeblich, zu erreichen versucht. Das Glück der ästhetischen Erfahrung besteht dann, sofern man es zu fassen bekommt, in dem Erstaunen über das unwahrscheinliche – jenseits des praktisch Möglichen – Eintreten eines Gleichgewichts, einer Balance, in der die existenzielle Endlichkeit und Bedürftigkeit des Erlebenden eben nicht kaschiert oder gar gänzlich zum Vergessen gebracht werden darf. Im Gegenteil: Die Freude über das unverhoffte, zwar flüchtige, aber sich in die Erinnerung einbrennende Gelingen der Balance lebt gerade von der punktuellen Überwindung jener prinzipiellen Bedrohung, die von der ›Brüchigkeit des Mundanen‹ (Alfred Schütz) ausgeht. Gegen diese Bedrohung suchen wir uns im alltäglichen Handeln abzusichern durch die unentwegte intersubjektive Arbeit an der Kon-

11. 12. 13. 14.

Zitiert nach Mauthner (1980, S. 442). Nietzsche (1980, Bd. I, 277, S. 617). Kant (1968, S. 133). Plessner (1975, S. 339). 58

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struktion und Erhaltung jener »Strukturen der Lebenswelt«,15 die es uns ermöglichen, uns so in der Welt einzurichten, dass unser – im Hintergrund immer vorhandenes – Wissen um die Bedürftigkeit, Endlichkeit und Riskiertheit unserer Existenz uns nicht handlungsunfähig macht oder gar in ›gegenstandsloser Angst‹16 versinken lässt. Anders als im alltäglichen Handeln begegnen wir in der ästhetischen Erfahrung der Bedrohung nicht durch die Konstruktion von Sicherheitssystemen, sondern – im Wissen darum, dass es endgültige Sicherungssysteme nicht geben kann – letztlich in utopischer Einstellung. Die in dieser Haltung entworfene Utopie der Ästhetik, ein durch die Imagination konstituiertes Irgendwo, ein ›Nicht-Ort‹, steht zwischen der Atopie, der widersinnigen, verkehrten, ›gottlosen‹ Welt17 und der Eutopie eines befriedeten, vollendeten und in sich ruhenden Ortes. Zugleich nimmt die utopische Einstellung, aus der heraus ästhetische Utopien entworfen werden, eine Mittlerstellung ein zwischen der Realität und dem Entwurf besserer Welten.18 In den ›glücklichen Fällen‹ entsteht aus dieser Einstellung jenes einfach erscheinende und doch raffiniert ausbalancierte Spielen mit der Bedrohung, das den Schein entstehen lässt, es könne eine Kultur geben, in der die »Herrschaft der Kunst über das Leben« gelänge. Sie wäre eine Kultur, in der »wie im älteren Griechenland […] jene Verstellung, jenes Leugnen der Bedürftigkeit […] und überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschung […] alle Äußerungen« des Lebens begleitet. In einer solchen Kultur verrieten »weder das Haus noch der Schritt noch die Kleidung, noch der tönerne Krug […], dass die Notdurft sie erfand: es scheint so, als ob in ihnen allen ein erhabenes Glück und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden«.19 – Gegenüber diesem Schein einer in sich ruhenden, die Bedürftigkeit ausklammernden ›olympischen Wolkenlosigkeit‹ zeichnet sich die utopische Einstellung, in der sich die ästhetische Erfahrung vollzieht, aus durch die Einklammerung der uns ›aufgedrungenen‹ endlichen Natur. Insofern ist es von vornherein problematisch und nicht zu rechtfertigen, die ästhetische Erfahrung an das Erleben des Schönen zu binden. Wir haben das – in dieser Hinsicht zweifelhafte – Glück der ästhetischen Erfahrung (und dies nicht erst seit dem Auftritt der modernen Kunst) auch bei der Betrachtung von äußerst ›realistischen‹ Kruzifixdarstellungen, Dämonenbildern, Tragödien, musikalischen Totenmes15. Vgl. Schütz/Luckmann (1979/1984, Bd. 1 und 2). 16. Vgl. Kierkegaard (1960). 17. Vgl. dazu die Verwendung des Adjektives τοπος (átopos) im Neuen Testament. 18. Vgl. Soeffner (1974, insbesondere S. 9f.). 19. Nietzsche (1980, 5. Bd., darin: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, alle Zitate S. 321). 59

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sen und den oft ganz und gar nicht schönen Gegenständen der Literatur. Die Schönheit eines Werkes, das unsere ästhetische Erfahrung anzieht und begeistert, ist ein Glücksfall, oder auch nur, so Stendhal, »une promesse de bonheur«, aber nicht die Grundlage der ästhetischen Erfahrung an sich. Denn es ist wesentlich die Spannung zwischen intendierter und tatsächlich erreichbarer Erfüllung; zwischen dem erfahrenden Betrachter (Rezipienten) und der von ihm erfahrenen Wahrnehmung; zwischen unvollkommener Realität und angestrebtem – vollkommenem – Entwurf, die aus einer pragmatischen eine ästhetische Erfahrung macht. Wenn dem Begriff des Schönen innerhalb dieses Erfahrungsstiles überhaupt eine Bedeutung zukommt, so liegt sie nicht darin, dass die äußeren Gegenstände der Erfahrung ›schön‹ sein müssten, sondern in dem unverhofft gelingenden, zwar flüchtigen, aber bewussten Erfassen der erfolgreichen und zugleich fragilen Balance – des unwahrscheinlichen, aber glücklich möglichen – Gleichgewichtes zwischen gewusster Bedürftigkeit und Endlichkeit des Erfahrenden einerseits und der Außeralltäglichkeit sowohl des Erfahrenen als auch der Erfahrung andererseits. An solcher Außeralltäglichkeit werden wiederum Nähe von – aber auch Differenz zwischen – ästhetischer und religiöser Erfahrung erkennbar. Beide entspringen der Einsicht in die prinzipielle Endlichkeit und Bedrohtheit der menschlichen Existenz, und beide setzen auf eine außeralltägliche Lösung. Aber während die religiöse Erfahrung darauf abzielt, sich aus dieser Lage durch den »Sprung in den Glauben« zu befreien und sich selbst noch an dem Gedanken erbauen kann, »dass wir gegen Gott immer unrecht haben«,20 verweigert die ästhetische Erfahrung den Sprung auf ein ›Definitivum‹, auf ein festes Ufer jenseits der menschlichen Existenz. Will man bei dem Bild, der Metapher des Sprunges bleiben, so ließe sich sagen: Zwar ist auch in der ästhetischen Erfahrung der Sprung angelegt, aber der Springende weiß, dass ihm seine Landung keine Sicherheit bringen, sondern ihm seinen »utopischen Standort«, seine »exzentrische Positionalität«21 in Erinnerung rufen wird. Nicht in dem Endpunkt des Sprunges, in der Landung, sondern im Springen selbst, in dem Schwebezustand der Ablösung von der ›existenziellen Schwere‹ liegt das ästhetische Moment dieser spezifischen Erfahrung. In ihr kommt es nicht nur, wie Nietzsche meint, auf das »Kunststück« an, »›In Ketten‹ [zu] tanzen, es sich schwer [zu] machen und dann die

20. Vgl. Kierkegaard (1988, insbesondere S. 923f.). 21. Plessner (1975, S. 341ff.). 60

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Täuschung der Leichtigkeit darüber zu breiten«,22 sondern darauf, in der Leichtigkeit zu genießen, dass sie den Ketten abgewonnen wurde.

3. Konjunktivischer Stil Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass weder das Glück, das einer ästhetischen Erfahrung entspringt, noch jenes, das sich einer außeralltäglichen Erfahrung verdankt, gleichzusetzen sind mit ungetrübter Seligkeit, restloser Beglückung, wohligem Behagen oder anhaltendem seelisch-geistigem Sonnenschein. Das deutsche Wort »Glück«, das, wie das Grimmsche Wörterbuch feststellt, in der deutschen Sprache erst spät (um 1160) auftritt und belegt ist, hat denn auch von Anfang an einen insgesamt ausgesprochen ambivalenten Bedeutungshorizont.23 Dieser spannt sich auf zwischen ›Schicksal‹, ›Geschick‹, ›Zufall‹ einerseits und ›Gelingen‹, ›Heil‹, ›Seligkeit‹, ›Wonne‹, ›Erfolg‹, ›Entzücken‹ andererseits. Eines allerdings haben (fast) alle Bedeutungsvarianten gemeinsam: Sie betonen die Unberechenbarkeit des Glückes. Man kann sein Glück machen, Glück haben, sein Glück versuchen oder auch seinem Glücke vertrauen. Eines jedoch kann man nicht (auch wenn es entsprechende Redewendungen gibt): Man kann das Glück weder erzwingen noch vorhersagen oder planen. Denn durchgehend zeigt der Wortgebrauch, dass Glück (in welcher Bedeutung auch immer) als das Geschenk einer von außen wirkenden (Schicksals-) Macht angesehen wird. Seine Unkalkulierbarkeit führt folglich dazu, dass man dem Glück seine Launenhaftigkeit vorwirft und es dementsprechend behandeln sollte wie eine kapriziöse, wankelmütige Dame, die ihre Gunst heute diesem und morgen jenem gewährt. Der Kavalier der launischen Diva, der Glücksritter, hat sich in dieser Ungewissheit eingerichtet und lebt mit ihr. Auch für das Glück der – oder in der – ästhetischen Erfahrung gilt, so hat sich gezeigt, die Unverhofftheit (bis hin zur Unwahrscheinlichkeit) seines Eintretens. Aber den Hintergrund dieser Ungewissheit bilden weder Zufall noch Schicksalsmächte, sondern sie ergibt sich aus der Besonderheit des Verhältnisses, das der Mensch zur Welt und zu sich selbst hat: aus seiner exzentrischen Positionalität und seinem utopischen Standort. Die Strukturen dieses Selbst- und Weltverhältnisses sind ihm ebenso auferlegt wie seine Endlichkeit, Bedürftigkeit und Bedrohtheit. Nicht auferlegt ist ihm allerdings, was er aus dieser Ausgangslage macht. Denn »unfestgestellter als irgendein Tier«24 ist und 22. Nietzsche (1980, 2. Bd., darin: Menschliches, Allzumenschliches. Der Wanderer und sein Schaffen 140, S. 932). 23. Vgl. Grimm (1984, Bd. 8, S. 226ff.). 24. Nietzsche (1980, 4. Bd., darin: Zur Genealogie der Moral III, 13, S. 862). 61

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bleibt der Mensch nicht das, was er von vornherein ist, sondern er muss sich zu dem machen, was er sein wird oder sein könnte.25 Seine Experimente, sowohl bei der Suche nach Sicherheit als auch beim Austesten des aus dieser ›Nichtfestgestelltheit‹ sich ergebenen Freiraumes, haben insofern von vornherein etwas ›Unwirkliches‹ an sich, als dem Menschen ›Wirklichkeit‹ als solche nicht gegeben ist. Vielmehr ist sie im Handeln und Deuten immer wieder erst herzustellen und damit variierbar: also ebenfalls nicht ›festgestellt‹. Versetzte man sich gegenüber solchem Verhalten hypothetisch in die Perspektive der Tiere, so käme man zwangsläufig zu der Befürchtung, dass der Mensch zwar auch ein Tier sei, allerdings ein besonders merkwürdiges, »das in höchst gefährlicher Weise gegen den gesunden Tierverstand handelt, – als das wahnwitzigste Tier, als das lachende Tier, als das weinende Tier, als das unglückselige Tier«.26 Angesichts des Zusammenspiels von Nichtfestgestelltheit, Unsicherheit und Endlichkeit besteht das dem Menschen auferlegte und insofern notwendige Ziel des dem Pragma verpflichteten, alltäglichen Handelns darin, so weit wie möglich Sicherheit, Ordnung, Überschaubarkeit und Planbarkeit herzustellen. Gelingt dies, wenn auch nur vorübergehend, so wird es in der alltäglichen Lebenswelt – mit Recht – als Glück empfunden: als ein Glück, das dem Gefühl des Sieges über die Unsicherheit entspringt. Anlass sowohl des Kampfes als auch des Sieges gegen die Unsicherheit ist die Notwendigkeit, der »Nichtfestgestelltheit« Herr zu werden. Ästhetisches Handeln und ästhetische Erfahrung sehen sich mit der gleichen Ausgangslage konfrontiert wie alltäglich-pragmatisches Handeln. Aber in ihnen wird das Ungewisse und nicht Festgelegte nicht lediglich als Bedrohung, sondern auch als Spielraum gesehen. Unverfügbar ist zwar die Ausgangssituation selbst, nicht aber der Horizont, der sich daraus eröffnet. Denn durch ihn wird auch und gerade das Reich der Notwendigkeiten und der Selbstverständlichkeiten, wie es das alltägliche Handeln hervorbringen muss, in das Spiel und das Bemühen um das Glück der ästhetischen Erfahrung einbezogen: Ästhetisches Handeln und mit ihm die gelingende ästhetische Erfahrung werden so zu den – aus dem utopischen Standort des Menschen geborenen – Gegnern des Notwendigen. Anders ausgedrückt: Aus der uns vorgegebenen, exzentrischen Positionalität erwachsen sowohl die Zwänge, Notwendigkeiten und ›Selbstverständlichkeiten‹ des alltäglichen Handelns und der alltäglichen Lebenswelt als auch der Spiel- und Freiheitsraum ästhetischen Handelns und ästhetischer Erfahrung.

25. Vgl. dazu die entsprechenden Überlegungen bei Plessner und Gehlen. 26. Nietzsche (1980, 3. Bd., darin: Die fröhliche Wissenschaft, 224, »Kritik der Tiere«, S. 152). 62

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Entdeckung und Nutzung dieses Freiraumes prägen den spezifisch konjunktivischen27 Stil ästhetischen Handelns und ästhetischer Erfahrung. Beide Erkenntnis-, Handlungs- und Wahrnehmungsstile, der alltägliche wie der ästhetische, verdanken sich dem gleichen Problemhintergrund, auf den sie ihre unterschiedlichen Antworten geben. Beide sind als strukturell vorgegebene Ausdrucksformen exzentrischer Positionalität gleichursprünglich. Insofern ist es nicht einleuchtend, wenn der aus dem alltäglichen Handeln erwachsenden Alltagswirklichkeit – so sehr diese auch die meisten unserer Aktivitäten und auch den größten Anteil unserer Lebenszeit bestimmt – die Qualität der »ausgezeichneten Wirklichkeit«, der ›paramount reality‹, gegenüber anderen Wirklichkeiten, vor allem gegenüber der des ästhetischen Handelns und Erfahrens, zugesprochen wird.28 Unbestritten ist, dass wir uns ›der Wirklichkeit‹ – abhängig von unterschiedlichen Erkenntnis- und Wahrnehmungsstilen, Akzentsetzungen und ›Bewußtseinsspannungen‹, Zeitperspektiven und Formen der Sozialität – jeweils anders zuwenden. So können wir uns – wie William James – vorstellen, dass wir in unterschiedlichen ›Subuniversa‹29 leben, von denen jedes nicht nur »eine Wirklichkeit eigener Art«,30 sondern auch – wie Schütz betont – aufgrund unserer jeweils spezifischen Zugangsweisen zur Wirklichkeit – eine eigene »geschlossene Sinnprovinz«31 darstellt. Aber ebenso unbestreitbar ist, dass wir diese Sinnprovinzen, so geschlossen sie auch sein mögen, in ihrer jeweiligen Besonderheit nur deswegen erfahren können, weil wir auch die jeweils anderen kennen und erfahren haben. Denn »die Wirklichkeit des Alltags ist immer vom Halbschatten ganz anderer Wirklichkeiten umgeben«.32 So ist es insbesondere zweifelhaft, ob der pragmatisch-kognitive Stil, der in der Welt unseres Alltagslebens vorherrscht, und jener konjunktivische Wahrnehmungs- und Erkenntnisstil, der die ästhetische Erfahrung prägt, tatsächlich als so voneinander abgeschlossen charakterisiert werden können, dass man das Wechseln von einem zum anderen nur

27. Vgl. hierzu auch Plessner (1983, darin: Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft, S. 338-352). 28. Vgl. Schütz (2003, S. 206ff.). 29. Vgl. James (1927, Bd. II, Kap. XXI, S. 283-322). 30. Schütz (2003, S. 206). 31. Schütz (2003, S. 206ff.). Als unterschiedliche »geschlossene Sinnprovinzen« bzw. »Welten« nennt Schütz »die Welt der Träume, der imaginierten Vorstellungen und der Phantasien, insbesondere die Welt der Kunst, die Welt der religiösen Erfahrung, die Welt der wissenschaftlichen Kontemplation, die Spielwelt des Kindes und die Welt des Geisteskranken« (S. 208). 32. Berger (1973, S. 42). 63

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durch einen »Sprung« leisten kann, der seinerseits »subjektiv als Schock erfahren wird«33. Kierkegaard, von dem Schütz den Ausdruck »Sprung« übernimmt, charakterisiert diese Metapher als »qualitativen Sprung«, als grundlegende Diskontinuitätserfahrung und als »fortwährenden (Hervorhebung H-G.S.) Sprung im Dasein«.34 Vor allem aber bezieht der dänische Philosoph und Glaubensanalytiker diese Metapher ausdrücklich und ausschließlich auf die religiöse Erfahrung und dort auf den Augenblick der Entscheidung für den Glauben. Die Übertragung der Metapher »Sprung« auf die Erfahrung der Grenzüberschreitung bei allen ›geschlossenen Sinnprovinzen‹ ist also äußerst problematisch.35 Noch problematischer erscheint mir die semantische Überspitzung von ›Sprung‹ zu ›Schock‹. Denn der pragmatisch-kognitive Stil alltäglichen Handelns und der konjunktivische Wahrnehmungs- und Erkenntnisstil ästhetischen Handelns und Erfahrens haben nicht nur einen gemeinsamen Ursprung, sondern sie sind auch wechselseitig aufeinander bezogen: Der eine kann ohne den anderen nicht leben. So wie der konjunktivische Stil der Ästhetik sich vom praktischen Indikativ des Alltags dadurch abhebt, dass er sich ihm bewusst entgegensetzt – ihn zitierend, überhöhend oder negierend, der Notwendigkeit die Freiheit, dem Faktischen die Option entgegenhaltend –, so versteht es der kognitive Stil der Praxis, das ihm vom konjunktivischen Stil der ästhetischen Erfahrung eröffnete Reich der Optionen zur Lösung der ständig anstehenden neuen Problemlagen zu nutzen: In Boccaccios ›Decamerone‹ fliehen die Erzählerinnen und Erzähler vor der Pest in einen idyllisch gelegenen Palast. Das Leben und das Erzählen dort behält als unauslöschbaren Hintergrund die außerhalb der Mauern tobende Pest. Es ist gerade diese düstere Kulisse, vor der sich der idyllische Palast so hell abhebt und vor der die erzählten Novellen eine besondere Leichtigkeit und Heiterkeit ausstrahlen.36 Gleich aber, ob die Gegensätzlichkeit der beiden Stile dazu führt, dass die Gegensätze einander anziehen oder abstoßen, ob das Individuum die beiden Sinnprovinzen als unvereinbar ansieht und an der Unvereinbarkeit leidet, oder ob es beide Bereiche so aufeinander bezieht, dass der eine vom anderen profitiert: Das Nebeneinander der beiden, ihre wechselseitige Anziehung und Abstoßung, der geregelte oder überraschende Übergang von dem einen zum anderen, kennzeichnen unser gesamtes Leben bis hinein in die Gestaltung unseres Tagesablaufes. »Die Wochentage«, schreibt E.T.A. Hoffmann, »bin ich

33. 34. 35. 36.

Berger (1973, S. 209). Kierkegaard (1959, S. 135, Anmerkung 1). Kierkegaard (1960, S. 57). Boccaccio (1957). 64

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Jurist: und höchstens etwas Musiker, sonntags am Tage wird gezeichnet und abends bin ich ein sehr witziger Autor bis in die späte Nacht.«37 Auch das Glück der – oder in der – ästhetischen Erfahrung lebt vom anhaltend erfahrenen Wechselspiel und Gegensatz der beiden Sinnprovinzen. Das ästhetisch-konjunktivische Wahrnehmen, Handeln und Erfahren erlebt, gerade weil es sich als Gegner des Notwendigen – der wehrlosen Verfallenheit an den ›unvermeidlichen Bestimmungsgrund‹ (Kant, s.o.), endlich und bedürftig zu sein – versteht, im Glück der ästhetischen Erfahrung: Freiheit. Aber diese Freiheit wird nicht als verdientes Resultat einer Leistung, sondern als Geschenk empfunden. Sie ist eine Freiheit aus Gnade: eine Freiheit, die sich nicht von allein einstellt und die auch nicht selbstverständlich ein – noch so angestrengtes – Bemühen belohnt. Nicht nur für den Rezipienten, den ästhetischen Wahrnehmenden, sondern auch für den Künstler, den ästhetischen Handelnden, tritt oft »ein Ereignis an die Stelle der Tat«38, die überraschende Erfahrung einer außeralltäglichen Wahrnehmungsgestalt oder einer weder kalkulierten noch kalkulierbaren Gestaltschließung.39 So wird die Erfahrung der Unberechenbarkeit des ästhetischen Gelingens und der daran anschließenden Glückserfahrung, in der auch die Welt sich in ein Kunstwerk verwandelt, zwangsläufig selbst wiederum zum Gegenstand der Kunst, beispielhaft in den ebenso schönen wie einfachen Schlusszeilen eines Eichendorff-Gedichtes: »Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst Du nur das Zauberwort«.40 Bezeichnenderweise gibt Eichendorff seinem bekannten Gedicht die weniger bekannte Überschrift »Wünschelrute«. Denn das, was – wenn es gelingt – als vollendet und in sich geschlossen erscheint, ergibt sich, wie gesagt, nicht automatisch aus »Mühe und Arbeit«41 oder effektiver Planung im Horizont des kognitiven Stils der Praxis. Für letzteren gilt, wenn er erfolgreich ist: »Jedes Ding / wird mit mehr Trieb erjaget, als genossen«.42 Ganz anders verhält es sich mit dem konjunk-

37. Hoffmann (1967, Bd. 1, S. 78). Was den Tagesablauf bei Alfred Schütz angeht, so finden sich dort einige überraschende Parallelen zu Hoffmann, und es ist nur schwer vorstellbar, dass Schütz seinen Tagesablauf als eine Folge von sich ständig wiederholenden Schockerfahrungen erlebt hat. 38. Chamisso (1960, S. 56). 39. Vgl. hierzu auch die Problematik des »abduktiven Schließens« bei Peirce (1983); dazu auch: Soeffner (2000, darin: Zur Soziologie des Symbols und des Rituals, insbesondere S. 189ff.); ebenso: Reichertz (2003). 40. Eichendorff (1965, S. 149). 41. So die Definition, die das Alte Testament dem alltäglichen menschlichen Leben gibt, vgl. Psalm 90 in der Lutherschen Übersetzung. 42. Shakespeare (1867, 5. Bd., darin: Der Kaufmann von Venedig, S. 40). 65

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tivischen Stil der Ästhetik. In ihm wird unsere Wahrnehmung zur ästhetischen Erfahrung ›verzaubert‹. Die Glückserfahrung verdankt sich diesem Zauber. Es ist der Zauber einer spezifischen Zeitempfindung, die Nietzsche dadurch zu erfassen versucht, dass er behauptet, Glück werde für uns zum Glück durch »das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden«.43 Für das Glück in einem allgemeinen Sinn mag dies zutreffen. Das Glück der – oder in der – ästhetischen Erfahrung wird durch diese Charakterisierung jedoch nicht hinreichend erfasst.

4. Der Augenblick Dass die ästhetische Erfahrung von sich aus kein Glücksversprechen enthält und auch nicht in der Glückserfahrung aufgeht, wurde schon deutlich. Im Gegenteil: Die ästhetische Erfahrung entspringt nicht nur dem Wissen um die menschliche Bedürftigkeit, Endlichkeit und Bedrohtheit, sie bildet nicht nur deren Gegenpol, sondern sie stößt sich ebenso an der Mangelhaftigkeit und Dürftigkeit wie an der Banalität, Fadheit und Gewöhnlichkeit dessen, was sowohl einen Großteil unseres Lebens ausmacht als auch in fehlschlagenden ästhetischen Bemühungen und Produktionen aufdringlich sichtbar wird: Der sich trotz aller ästhetischer Anstrengungen immer wieder einstellende Misserfolg, die Kläglichkeit und Trivialität eines Endproduktes, verweisen so unverschämt auf die Kluft zwischen intendierter Perfektion und realisierter Durchschnittlichkeit, dass – pathetisch gesprochen – das Leiden in der ästhetischen Erfahrung eher angelegt ist als das Glück. Wenn es allerdings zu der – eher unwahrscheinlichen – Erfahrung ›ästhetischen Glückes‹ kommt, dann in einem eigentümlichen Zeitmodus: In einer Aufhebung der ›Standardzeit‹44 haben wir das paradoxe Erlebnis von Dauer jenseits des Zeitflusses. Der »gemischte Charakter unserer unmittelbaren Wahrnehmung«, in der wir sowohl »einen Zustand unseres Bewusstseins« als auch »eine […] uns [(als unabhängig erscheinende), Einfügung der Klammer H-G.S.] Wirklichkeit zugleich erfassen«,45 verliert seine Gebrochenheit. Er scheint aufgehoben zu sein in einer Einheit von Erfahrendem und Erfahrenem: in einem Evidenzerlebnis, bei dem erfahrendes Subjekt und erfahrener Gegenstand zu einer Einheit zusammengezogen zu werden scheinen: Trifft man das Zauberwort, so hebt nicht nur die Welt an zu singen, sondern man wird auch selbst zum Mitglied des Chores, Teil des Gesanges. 43. Nietzsche (1980, 1. Bd., darin: Vom Nutzen und Nachteil der Historie, S. 212). 44. Vgl. Schütz (2003, S. 207). 45. Bergson (1982, S. 202). 66

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Das griechische Wort Kairós (καιρ ς), das in sich die Bedeutungen »rechtes Maß«, »rechter Ort«, »rechte, günstige Zeit«, »Vorteil, Nutzen«, »Zeitumstände« vereint46 und diesen Bedeutungshorizont in die unterschiedlichen Verwendungskontexte mit einfließen lässt, trifft den Zeit-/Raummodus der Erfahrung ästhetischen Glückes noch am ehesten, ohne ihn allerdings analytisch hinreichend zu erfassen. Immerhin verdeutlicht die Bedeutungsvielfalt des Ausdruckes, dass – aller Ganzheitserfahrung zum Trotz – die von ihm suggerierte Einheit sich aus unterschiedlichen räumlich-zeitlichen Elementen zusammensetzt. Zugleich war schon für die griechische Antike der Kairós Repräsentant eines subjektiven Zeitbegriffes, der im Gegensatz stand zu Chronos, der gleichmäßig fließenden Zeit. Das für den Kairós charakteristische Zusammenziehen und Konzentrieren unterschiedlicher Komponenten in einem Zeitfenster hat den Ausdruck zwangsläufig auch für die Philosophen attraktiv gemacht, zumal dann, wenn es um die Analyse von Entscheidungssituationen ging: um Situationen, in denen für ein handelndes Subjekt zwei oder mehrere Alternativen nebeneinander stehen, die auch bewusst nebeneinander gehalten werden, während zugleich der Zwang besteht, unmittelbar handeln, d.h. sich für eine der Alternativen entscheiden zu müssen. Die gelingende Entscheidung verdanke sich, so glaubten schon die Griechen, dem Erkennen und rechzeitigen Ergreifen des günstigen Augenblickes, wobei die treffsichere Entscheidung nicht allein auf die Intelligenz des Handelnden zurückgeführt, sondern auch als ›Glücksgriff‹ angesehen würde. Die Existenzphilosophie, insbesondere die Martin Heideggers, dramatisiert den ›existenziellen Augenblick‹ demgegenüber als eigentliche, den Sinn des gesamten menschlichen Daseins erfassende und sichtbar machende Entscheidungssituation, durch die ihrerseits eine »ursprüngliche Zeitigungsweise« aufgedeckt wird: die der »ekstatischen Zeitlichkeit selbst«. Dabei ermöglicht erst diese ekstatische Zeitlichkeit »den ekstatischen Entwurf von Sein überhaupt«.47 Dementsprechend stellt Heidegger eine ›ursprüngliche Zeitigungsweise‹ gegen spätere Zeitkonstruktionen. Die ›ek-statische‹, aus dem Zeitkontinuum heraustretende, im Augenblick komprimierte »ursprüngliche Zeit«48 ›ereignet‹ sich allerdings auch bei ihm nur in der Ausnahmesituation der ›Unverstelltheit‹ des Seins. Es ist eine Grenzsituation, auf die Einfluss zu nehmen kaum möglich ist. Anders als in Heideggers Versuch einer Existenzialontologie zielt Kierkegaard, von dem Heidegger an anderer Stelle grundlegende

46. Gemoll (1959, S. 400). 47. Heidegger (1960, S. 437). 48. Heidegger (1960, S. 437). 67

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Gedanken übernimmt,49 darauf ab, den Augenblick als das zwar ›Plötzliche‹, aber dennoch eben nicht Unvermittelte oder Unvermittelbare zu begreifen: als ein für die menschliche Erfahrung ebenso einzigartiges wie zentrales Phänomen. Dabei geht es Kierkegaard darum, in Abhebung von der griechischen Antike, die Besonderheit des christlichen Glaubens darzustellen: den durch die Vernunft nicht zu begründenden und dennoch notwendigen ›Sprung‹ in den Glauben. Diesem Sprung geht eine Entscheidungssituation voraus, in der ganz verschiedenartige Zeitdimensionen im ›Augenblick‹ aufeinander treffen. Aber das Zusammenziehen dieser Zeitdimensionen im Augenblick hebt deren Unterschiedlichkeit nicht auf. Vielmehr ergeben sich die Besonderheit und die Kraft der Augenblickserfahrung gerade aus dem Austragen und Aushalten der Gegensätze: »Der Augenblick ist jenes Zweideutige, worin Zeit und Ewigkeit einander berühren, und hiermit ist der Begriff der Zeitlichkeit gesetzt, wo die Zeit ständig die Ewigkeit abschneidet und die Ewigkeit ständig die Zeit durchdringt.«50 Gleichzeitig versteht Kierkegaard den Augenblick nicht einfach als »das Atom der Zeit, sondern als das Atom der Ewigkeit. Es ist der erste Reflex [Spiegelung] der Ewigkeit in der Zeit, ihr erster Versuch, die Zeit gleichsam anzuhalten.«51 Was für Platon noch »das Plötzliche«, der schicksalhafte Moment, war,52 verliert in der Entscheidungssituation des Augenblicks – und auch im Sprung – den Charakter des Plötzlichen, Blitzartigen und sofort wieder Verschwindenden. Die paradoxe Formulierung »Atom der Ewigkeit« und die Räumlichkeit der Metapher eines (nicht ausmessbaren) Sprunges stehen denn auch nicht für extreme Zeitraffung, sondern für die Charakterisierung des Überganges, der Transzendenz, von einem Zustand in einen anderen. In der Analyse des Augenblicks, so lässt sich, wiederum mit Kierkegaard, formulieren, stößt das Denken auf etwas, was es überrascht und zugleich glücklich macht: auf »das höchste Paradox des Denkens, etwas zu entdecken, was es selbst nicht denken kann«.53 Denn diese spezifische Entdeckung verdankt sich gerade nicht dem (menschlichen) Denken selbst und geht nicht notwendig aus ihm hervor. Was Kierkegaard in seinen Schriften zum christlichen Glauben über den Zeithorizont des Augenblicks der Entscheidung für den Glauben sagt, lässt sich nicht umstandslos auf andere Erfahrungsbereiche übertragen, auch wenn die strukturelle Nähe von ästhetischer und religiöser Erfahrung immer wieder erkennbar ist. Für die Analyse des Zeitmodus ästhetischer Glückserfahrung lassen sich dennoch einige 49. 50. 51. 52. 53.

Heidegger (1960, S. 235ff.). Kierkegaard (1960, S. 82). Kierkegaard (1960, S. 82). Kierkegaard (1960, S. 81). Kierkegaard (1964, S. 36). 68

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Strukturelemente aus der Kierkegaardschen Beschreibung des Augenblickes übertragen. Auch das Glück (in) der ästhetischen Erfahrung besteht weder im Erleben einer in sich geschlossenen, vollendeten Gegenwart noch in einem Gefühls- oder Gedankenblitz. Und auch die ästhetische Glückserfahrung hält die unterschiedlichen Zeitdimensionen ebenso nebeneinander wie die gewählten und ausgeschlossenen Alternativen; die ursprüngliche Intention und das tatsächliche Gelingen; den alltäglichen Zwang des Notwendigen und das Erlebnis der Freiheit im ästhetischen Entwurf. Der konjunktivische Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Handlungsstil der Ästhetik spannt sich, wie bei Faust vom »Vorgefühl« hohen Glückes bis zum Genuss »des höchsten Augenblicks«. Beide, das Vorgefühl und die im ›Jetzt‹ stattfindende Wunscherfüllung, werden in einem Genuss zusammengezogen. Dieser Situation geht eine konjunktivische Formel voraus: »Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön!«54 Sie steht für die noch nicht aufgelöste Spannung zwischen dem intentionalen Entwurf und dem erreichten Ziel. Gelöst ist diese Spannung erst dann, wenn Intention und Ziel in ein gelungenes Verhältnis treten. Zugleich müssen die Gegenwart und die ihr folgende Erinnerung zukunftsfähig sein. Die Erfahrung des ästhetischen Glückes darf sich also nicht unwiederbringlich auflösen, sondern muss für den erinnernden Rückgriff wachgehalten werden und in der Rückwendung wieder erreichbar sein. So gehört es also notwendig zum Zeitmodus des Glückes (in) der ästhetischen Erfahrung, dass eine als vergessen geglaubte Vergangenheit wiederentdeckt und festgehalten werden kann, wie zufällig der Anlass auch immer sei – zum Beispiel der Genuss einer Tasse Tee und eines Sandtörtchens mit dem Namen ›Madeleine‹: »In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.«55 Dieses Glücksgefühl, das zunächst ›ganz für sich allein‹ besteht und ›dessen Grund‹ – ebenfalls zunächst – unbekannt ist, wird bei Proust im Anschluss an die zitierte Textpassage phänomenologisch sorgfältig entschlüsselt. Der blitzartigen Erleuchtung (Illumination) folgt eine Beschreibung der komplexen Bewusstseinsinhalte, Zeitperspektiven, Körperreaktionen und Wahrnehmungsakte, auf die sich das Glücksgefühl stützt. Der eigentliche ästhetische Gewinn besteht jedoch nicht in der Wiederholung des ursprünglichen Glücksgefühls, sondern darin, dass diesem Gefühl durch Worte Ausdruck verschafft, dass es in eine (gelungene) ästhetische 54. Goethe (1999, S. 57). 55. Proust (2000, S. 63). 69

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Form überführt, aus der Diffusität befreit und damit neu geschaffen wird. Das Glück (in) der ästhetischen Erfahrung und die Eigenart des konjunktivischen Stils der Ästhetik liegen, so zeigt sich nun am (vorläufigen) Ende dieser Überlegungen, in der äußerst konzentrierten Zusammenziehung von Gegensätzen. Diese Gegensätze lassen sich auf fast allen Ebenen finden: in der anthropologischen Grundbefindlichkeit (›exzentrische Positionalität‹), in widersprüchlichen Strukturen des Zeit- und Raumerlebens, in Wirklichkeitsdefinitionen und utopischen Entwürfen, Notwendigkeiten und Möglichkeiten (Freiheit), indikativischer Alltagspraxis und konjunktivischem Horizont, vorgestellter, intendierter und (nicht) realisierter Erfüllung. Das Geheimnis des spezifisch ästhetischen Glückes besteht somit darin, dass die Gegensätze nicht zum Verschwinden, sondern (vorübergehend) in eine Balance gebracht werden. Das Ergebnis ist die unwahrscheinliche, ebenso paradoxe wie vollendete Komposition von Disharmonien zu einem großen harmonischen Akkord, der so kräftig ist, dass er eine wunderbar einprägsame Enklave in unserem Erleben und in unserem Bewusstsein schafft, die für ihre eigene Erinnerung sorgt. Obwohl dieser Akkord überladen ist mit Problemen, Antinomien und übermäßigen Erwartungen, klingt er schwebend leicht. So erfüllt er das, was wir letztlich von der Ästhetik erwarten: Sie gibt uns einerseits eine gut bebilderte Ahnung dessen, was eine gelungene Wunscherfüllung sein könnte, etwa jene, die Nietzsche als ›ersten Satz seiner Ästhetik‹ formuliert: »Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen.«56 Andererseits zeigt sie uns im Widerschein: Bedürftigkeit, Endlichkeit, Durchschnittlichkeit. Gäbe es das Glück (in) der ästhetischen Erfahrung nicht, so würden zumindest die Nicht-Religiösen unter uns einerseits an der eigenen Unvollkommenheit weniger leiden: Sie würden den Mangel kaum spüren. Andererseits wäre ein menschliches Leben kaum vorstellbar, in dem nicht einmal eine Ahnung vorhanden wäre von Freiheit und ästhetischer Vollkommenheit, von der Entlastung vom ›Praktischen‹ und Zweckmäßigen im gelungenen Spiel und von der Befreiung aus der Gefangenschaft von Sinnzuschreibungen oder Sinnkonstruktionen. So aber gilt – auch für die Erfahrung ästhetischen Glückes – zu guter Letzt, dass darin auch die Befreiung von der ›Schwere des Sinns‹ erlebt werden kann. Denn auch dies trifft zu: »Fast überall, wo es Glück gibt, gibt es Freude am Unsinn.«57

56. Nietzsche (1980, 4. Bd., darin: Der Fall Wagner I, S. 905). 57. Nietzsche (1980, 2. Bd., darin: Menschliches, Allzumenschliches I, 213, S. 572). 70

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HOMINES HOMINUM CAUSA

Homines hominum causa. Kultur und Menschenbild: Zur Logik der Deutungsebenen Burkhard Gladigow

In den folgenden Überlegungen sollen einige Perspektiven im Verhältnis von Kultur und Menschenbild angesprochen und in den Rahmen einer europäischen Kultur- und Religionsgeschichte eingeordnet werden. Im Vordergrund stehen dabei Menschenbilder als normative Modelle menschlicher Existenz: In dem Sinne, dass für eine bestimmte Zeit ›universale‹ Modelle des Menschseins vorgestellt werden,1 die unabhängig von Professionalisierung und spezialisierter Arbeitsteiligkeit ›allen‹ Menschen erreichbar sein konnten oder sollten. Eine darüber hinausreichende Perspektive ist auf das Phänomen gerichtet, dass bestimmte Menschenbilder auch in ›fremden‹ kulturellen Kontexten eine normative Bedeutung gewinnen konnten. Die damit angesprochene Ausweitung von ›Menschenbildern‹ auf normative Vorstellungen über den Menschen in unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontexten, ihren ›Passungscharakter‹, führt zugleich zu der Frage, wie kulturspezifisch und epochenbezogen Menschenbilder überhaupt sind. Damit verbunden ist die Frage, wie weit eigentlich die ›Geltung‹ der an so unterschiedlichen Modellen entwickelten Eigenschaften reichen kann. Es ist erkennbar, dass Vorstellungen von Weisheit, Ritterlichkeit, Menschlichkeit, Entsagung, Bildung an bestimmten normativen Modellen vorgestellt werden. Sind diese Modelle gegenseitig exklusiv: Kann der Ritter gebildet sein, der Asket menschlich, der Wilde gar ›edel‹? Wenn sich Menschenbilder – eine weitere ›mitlaufende‹ Frage – als normative Modelle auch auf ›andere‹ Kulturen übertragen lassen, sind sie damit zugleich (oder notwendig) anachronistisch und ›exotisch‹? Ist Goethes Dictum aus ›Antik und Modern‹ »Jeder sei auf

1. Beispiele hierfür finden sich in folgenden Sammelbänden: Donadoni (1992); Vernant (1993); Giardina (1991); Le Goff (1994); Garin (1990); Vovelle (2004). 73

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seine Art ein Grieche! Aber er sei’s«2 – selbst wenn es nur an den Künstler gerichtet ist – ein Anachronismus im Stile eines ›going Celtic‹ in einem modernen Paganismus? Passen Weltbilder und Menschenbilder notwendig zusammen? Können insbesondere fremde Menschenbilder überhaupt in eine bestimmte Kultur passen? Die Fragen überspannen den Raum zwischen einer alternativelosen Einbettung des Lebens in den von Stamm, Stadt, Staat oder Kultur vorgegeben Rahmen und von höchster Individualisierung, in der jedes Leben in seiner ›Lebens-Gestaltung‹ einmalig und damit unersetzlich ist. In der Mitte zwischen beiden Positionen liegt Ciceros der stoischen Anthropologie entnommene Sentenz homines autem hominum causa esse generatos (aus De officiis),3 »die Menschen sind um der Menschen willen geschaffen«, eine Sentenz die soziale Aufgaben und individuelle Verpflichtungen miteinander verbindet: Die Menschheit als kosmopolitische Interessengemeinschaft.

1. Komplexe Kulturen und Differenzierungsbedingungen Zunächst einige Bemerkungen zu den Bedingungen kultureller Entwicklung, die Voraussetzung für die Möglichkeit sind, ›Menschenbilder‹ zu entwerfen und zu tradieren – und die zugleich einen Bedarf dafür annoncieren: Kulturelle Entwicklung4 lässt sich nicht nur über ›Innovationen‹ beschreiben, die Fortschritte für Problemlösungen mit sich bringen, sondern auch über Ausdifferenzierungsprozesse, die in der Folge institutionell verfestigter Arbeitsteiligkeit stehen. Wenn man in dieser Perspektive klassische Bereiche wie etwa Wirtschaft, Recht, Kunst und ›Religion‹ ins Auge fasst, zeigt sich, dass Entwicklungsniveaus, Komplexitätsgewinne, Rationalitätssteigerungen oder gar Professionalisierungstendenzen höchst unterschiedliche Dynamiken entwickeln. Zugleich ist die Tendenz erkennbar, dass Menschen nicht nur über Arbeitsteiligkeit und Machtgefälle voneinander getrennt sind, sondern zugleich Lebensbereiche und Lebensformen entwickeln, ›in‹ denen (oder nach denen) sie für eine gewisse Zeit (oder dauerhaft) leben können. Räumliche Trennung und akzeptierte Rollenübernahmen verstärken die Möglichkeiten, sich ›in‹ einer Kultur Sonderformen der Lebensweise zu schaffen und zu erhalten. Der zentrifugalen Dyna2. Goethe (1818). 3. De officiis I, 7,22: »Sed quoniam, ut praeclare scriptum est a Platone, non nobis solum nati sumus ortusque nostri partem patria vindicat, partem amici, atque, ut placet Stoicis, quae in terris gignantur, ad usum hominum omnia creari, homines autem hominum causa esse generatos, ut ipsi inter se aliis alii prodesse possent«. Vgl. auch Cicero, De natura deorum 2, S. 154ff. und Seneca, De ira 1, 5, 2. 4. Dazu Tenbruck (1989), und Parsons (1966). 74

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HOMINES HOMINUM CAUSA

mik in der Etablierung von Kulturbereichen und der ihnen zugeordneten Wissens- und Lebensformen stehen, soll die Kultur sich nicht ›auflösen‹ (dramatisch gesagt: zerfallen), offensichtlich systemintegrierende Leistungen wie Reziprozität, normativer Konsens und schließlich (am anderen Ende der Skala) Lebensformen, -modelle, -muster, -›bilder‹ gegenüber. Im Blick auf systemintegrierende Funktionen ist ›Religion‹ ein Bereich mit einer ›paradoxen‹ (oder anachronistischen) Position ›in‹ der Kultur: In gewisser Hinsicht lässt sich ›Religion‹ als jener kulturelle Teilbereich bestimmen, welcher die Differenzierungsfolgen, denen er seine Entstehung selbst ›verdankt‹ hat, ständig ›aufzuheben‹ versucht. Von dem Bereich ›Religion‹ aus – an dem sich dieser Prozess am deutlichsten zeigen lässt – werden beispielsweise Abgaben, Strafverfügungen, Heiratsverbindungen, Stadtgründungen und Kriegspraxen geregelt, für die es an sich ›schon lange‹ interne Regulative und Plausibilitäten gab. Religiöse Vorgaben für Wirtschaft, Recht und später vor allem für den Bereich der Wissenschaften ›negieren‹ so gewissermaßen Differenzierung und Differenzierungsfolgen innerhalb ihrer Kulturen, greifen also mit ihren Normierungsansprüchen über den kulturellen Teilbereich ›Religion‹ hinaus. Dieser Anspruch kann eine gewisse Zeit lang über Komplexitätssteigerungen oder Professionalisierungen aufgefangen werden. Wenn Grenzen für diese Leistung einer ›System-Reintegration‹ erreicht sind (oder provoziert werden, wie beispielsweise in Renaissance und Aufklärung), ergeben sich Orientierungskonflikte, bei denen dann Sinn-Ressourcen unterschiedlicher Bereiche gegeneinander stehen können. Das religiöse Sinnsystem kann unter diesen Bedingungen ein Sinnsystem unter anderen sein (sekundärer Pluralismus), oder aber in seiner Reichweite systematisch eingeschränkt werden (Säkularisierung). Diese Bruchstelle, diese Annonce eines prekären Transfers zwischen unterschiedlichen Teil-Systemen und Gesellschaft, markiert einen grundsätzlichen internen Konfliktbereich, der auch für die Konstitution von Menschenbildern bedeutsam wird: Menschenbilder können hier sowohl re-integrierende Funktionen haben, wie sie Konfliktzonen (oder Orientierungskonflikte) überhaupt erst definieren mögen. Dies ist eine erste These. Nun noch eine Erweiterung des Rahmens: Niklas Luhmann hatte im Blick auf eine Weltgesellschaft5 die These aufgestellt, dass die Kapazität symbolischer Deutungs- und Wertsysteme zu gering sei, um den Steuerungsbedarf ausdifferenzierter Teilsysteme noch harmonisieren zu können. Habermas, der sich in seiner Frankfurter Rede anlässlich der Verleihung des Hegelpreises an ihn auf Luhmann bezieht,6 5. Luhmann (1971, S. 33). 6. Habermas (1974). 75

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sieht im gleichen Rahmen einerseits die Vereinbarkeit von religiösen Sinngehalten mit einer ›vernünftigen Identität‹ der Gesellschaft durch ein Unwirksam-Werden der Vermittlungsmechanismen verloren gegangen, entwirft aber (statt dessen) andererseits eine ›neue Identität‹, die mehr leisten soll, als eine formale Systemintegration herzustellen. Die neue Identität könne sich nicht mehr auf gemeinsame Weltbilder berufen, wohl aber auf eine universalistische Moral »in vernünftiger Rede«, zu der gegebenenfalls auch »popularisationsfähige wissenschaftliche Grundideen« gehören können.7 Schließlich könne sich – so Habermas’ weiterreichende These – eine Identität in projektierten Lebensformen ausbilden, die sich an wert- und normbildende Lernprozesse anschließen. Mit anderen Worten, und das wäre eine zweite These: Menschenbilder fungieren als Nachfolge-Institute (oder Substitute) für ein Weltbild. Ein ›normatives Menschenbild‹ – in dem hier angesprochenen Sinne, nun noch einmal über Habermas’ Bezug auf Hegel hinausgehend – entsteht nicht am Ende eines Professionalisierungsprozesses, an einem Punkt, an dem nur noch der Spezialist es ›ausfüllen‹ könnte, sondern steht gewissermaßen ›quer‹ zu Arbeitsteiligkeit und Professionalisierungen. Unter diesen Bedingungen ist dann wieder eine Kritik an normativen Ansprüchen von Menschenbildern – oder ihre Relativierung – möglich: »Aus so krummem Holze als woraus der Mensch gemacht ist, kann nicht ganz Gerades gezimmert werden«,8 heißt es bei Kant. Und in einer paradoxen Wendung soll sehr viel später ein ›humanistisches‹ Menschenbild normative Ansprüche kritisch aufheben: »Das krumme Holz der Humanität« ist ein programmatischer Buchtitel von Isaiah Berlin.9 In diese Richtung geht schließlich auch das auf die Gegenwart bezogenen Votum von Peter Rippe in seinem Beitrag »Brauchen wir ein Menschenbild?«10 Er beantwortet die titelgebende Frage mit einem klaren Ja, tritt aber in seinem Schlusswort, um nicht in das Dilemma eines einzelnen perfektionistischen Menschenbildes zu verfallen, für ein ›offenes Menschenbild‹ ein.

7. Habermas (1974, S. 69): »Identitätsverbürgende Deutungssysteme, die heute die Stellung des Menschen in der Welt verständlich machen, unterscheiden sich von traditionellen Weltbildern nicht so sehr in ihrer geringeren Reichweite, als viel mehr in ihrem revisionsfähigen Status. […] Zum Teil gehen die globalen Deutungen auch auf popularisationsfähige wissenschaftliche Grundideen zurück, die das Selbstverständnis des Menschen berühren«. 8. Kant (1910, S. 23). 9. Berlin (1995). 10. Rippe (1999). 76

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2. Charakterisierung des Menschen über eine differentia specifica Ich möchte mich nun – in einem zweiten Anlauf – dem Problem der Menschenbilder noch von einer anderen Seite nähern: Ein beliebter Modus, den Menschen über deskriptive Zusätze zu charakterisieren, und daraus – in der einen oder anderen Richtung – normative Konsequenzen zu ziehen, läuft über das Schema der differentia specifica. Im natürlichen System der Lebewesen ist die Species Mensch, dem linnéschen binären Klassifikationssystem entsprechend, als homo sapiens (sapiens) bezeichnet. Dieses System aus genus proximum und artbildender Differenz11 hat zu einer Fülle weiterer, meist plakativer Bestimmungsversuche geführt. Ohne strenge Bindung an das Deskriptionssystem der Biologie, in einem Versuch, nun Wesensmerkmale herauszustellen, die ihn von den nächsten tierischen Verwandten (oder allen Tieren) unterscheiden, wird der Mensch so unter anderem als homo faber, der Werkzeugherstellende der Gattung homo bezeichnet, als homo creator und innovator, der Schöpferische, als homo politicus, als ludens, der als Kulturwesen Spielende, religiosus, der einen Glauben hat, aber auch als homo militaris,12 der Krieg führt, als homo interfector,13 der mordet, und, wieder etwas allgemeiner, als homo necans,14 der tötet und opfert. Alle diese Bestimmungen werden, dem naturwissenschaftlichen Klassifikationsmodell entsprechend, mit dem Anspruch vorgetragen, sie seien charakterisierend und universell gültig,15 – eine Basis für Menschenbilder in dem hier vorgestellten Sinne stellen sie freilich nicht dar. Eine plakative Extension dieser Reihe spezifischer Differenzen stellt Ernst Cassirers Charakterisierung des Menschen als animal symbolicum dar,16 das sich über die Fähigkeit des Symbolisierens in einer zweiten Welt, einem ›symbolischen Netz‹ oder ›symbolischen Universum‹ ansiedelt. »Es ist das symbolische Denken, das die natürliche Trägheit des Menschen überwindet und ihn mit einer neuen Fähigkeit

11. Einen Überblick über die naturwissenschaftlichen Probleme einer zoologischen Taxonomie des Menschen bietet Schindewolf (1972). 12. Garlan (1975, S. 21). 13. Andreski (1968, S. 10). 14. Burkert (1972). 15. Eine weitere Auflistung findet sich bei Winkler/Schweikhardt (1982). Zum homo mundanus Meinberg (1988, S. 256ff.). 16. Cassirer (1990); dort, S. 51: »Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren.« 77

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ausstattet, der Fähigkeit, sein Universum immerfort umzugestalten.«17 Die Kultur als ›zweite Natur‹ (secunda natura) des Menschen hat bereits die Stoa angesprochen und damit einen langlaufenden Diskurs über das ›Kulturwesen Mensch‹ angestoßen. Eine neue Ebene der Diskussion hat Hans Lenk mit einem Hinweis auf eine interne und externe Steigerungsfähigkeit von Symbolen und Symbolisieren eröffnet: Der Mensch sei das einzige Lebewesen, das »alle seine Repräsentationen und Erfassungen (präsentierender wie strukturierender Art) in einer prinzipiell nach oben offenen, sich aufschichtenden Folge von Stufen wiedergeben, ›re-präsentieren‹ […] kann.«18 Anders als die Tiere könne der Mensch nicht nur immer abstraktere Symbole erzeugen, sondern habe auch die Fähigkeit, diese metasprachlich und metatheoretisch zu untersuchen. Der Mensch ist nicht nur, oder nicht so sehr das animal symbolicum, sondern vor allem das animal metasymbolicum.19 Der Mensch ist »dasjenige Wesen, das seine Interpretationen auch wiederum interpretieren kann und auch stets von neuem interpretieren muss – und diese auch nur so verstehen kann«20. Wenn man mit Lenk – und vor diesem Hintergrund – Kultur als eine Interpretationsgemeinschaft21 versteht, als eine komplexe Verbindung von verschiedenen Sprach-, Bild-, Symbol-, Handlungs- und Schema-Spielen, lassen sich auch unterschiedliche Menschenbilder einordnen: Menschenbilder sind – in diesem Sinne – Zusammenfügungen (›cluster‹) symbolischer Spiele, oder anders ausgedrückt: Die Fähigkeit, den Menschen (und sich selbst) unterschiedlichen Menschenbildern zuzuordnen, ist ein MetaSymbolisieren – oder eine Folge davon.

3. Der Begriff des Menschenbildes in Konkurrenz zur ›Lebensform‹ Im Blick auf die Geschichte der Kulturen ist die kulturelle Ausformung der Möglichkeiten zur Reflexion und – daran anschließend – zu einer ›Wahl‹22 – freilich nicht selbstverständlich. Die qualitative Veränderung, die einem Übergang von einer Berufswahl (die es nur unter be17. Cassirer (1990, S. 100). 18. Lenk (1995, S. 255). Dabei bezieht er sich auf Silvers (1989). 19. Lenk (1995, S. 14). 20. Lenk (1995, S. 15). 21. Zu diesem Begriff vgl. Lenk (1995, S. 254), im Anschluss an Wittgenstein: »Wir handeln und interpretieren praktisch immer schon in einer sozialen und kulturellen Gemeinschaft, in einer Interpretationsgemeinschaft, in einer Sprachgemeinschaft, und wir müssen uns letztlich auch immer darauf beziehen, können nicht davon abstrahieren.« 22. Die Perspektive einer Wahl ist aktuell ein spezifisches Thema der Religionswissenschaft: Young (1997); Bruce (1999). 78

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sonderen kulturellen Bedingungen wirklich gegeben hat) zu einer Wahl der ›Lebensform‹ zugrunde liegt,23 ist von – meist professionalisierten – Reflexionen über das Wesen und die Möglichkeiten menschlicher Existenz begleitet. Der ›soziale Ort‹ für die Möglichkeit einer solchen Wahl ist durch eine exzentrische Position des Wählenden – zumindest die Fiktion einer solchen Exzentrizität – charakterisierbar. Das früheste europäische Muster einer solchen ›Wahl‹ ist dementsprechend im Medium des Götter- und Heldenmythos präsentiert. Es ist die in der europäischen Literatur und Kunst so oft dargestellte mythische Szene von Paris auf dem Ida.24 Drei Göttinnen erscheinen vor einem Hirten (Paris), der in Wirklichkeit ein troischer Prinz ist, und bieten ihm als Lohn für die Zuerkennung des Schönheitspreises25 an: Herrschaft über Ländereien und Reiche (Hera), Heldentum und Sieg (Athene) und ein Leben in Liebe – in der Verbindung mit Helena (Aphrodite). In das Grundmodell kultischer Schönheitswettkämpfe (kallisteia)26 wird die Entscheidung eines Menschen für eine Göttin eingefügt. Paris entscheidet sich, er trifft die für seine wahre Position falsche Entscheidung,27 und er hat die anderen Göttinnen als Feindinnen, die ihm und seiner Stadt letzten Endes das Verderben bringen werden. In dem Satyrspiel Krisis hat Sophokles diese Entscheidungssituation28 bereits in die Form einer Parabel oder Allegorie gebracht, verlässt also weitgehend den Bereich des praktizierten Kultus. Aphrodite tritt hier als hedoniké daimon,29 als Göttin der Lust auf, während Athena phronesis, nous und areté (Besonnenheit, Vernunft und Tüchtigkeit) vertritt. Beachtlich ist immerhin, dass die Geschichte über die Wahl von Lebenswegen in dieser Tradition mit einer falschen 23. Überblicke aus verschiedenen Perspektiven bei Koslowski (2000); Müller (1984); Barsch/Hejl (2000); Reichardt/Kubli (1999); Meinberg (1988). 24. Belege bei Hunger (1959). 25. Wenn Snell (1955, S. 328) die angesprochene Situation kommentiert: »Diese Versprechungen der Göttinnen haben mehr den Charakter einer Beeinflussung des Richterspruchs, um nicht zu sagen einer Bestechung, als dass damit Paris vor die Wahl gestellt wird, sich für sein eigenes Leben und für einen bestimmten Weg zu entscheiden«, verschiebt er das Problem lediglich auf die formale Ebene. Der Inhalt der Versprechungen bleibt doch gerade für Paris’ Entscheidung wesentlich; ein ästhetisches Urteil über göttliche Schönheit ist letztlich nicht gefragt. 26. Vgl. Nilsson (1957, S. 57 und 336). 27. Dazu Reinhardt (1960a, S. 16): »So ergeht es einem Herrscherhaus, und sei es noch so fest gefügt und noch so söhnereich, wenn erst ein junger Prinz anfängt, vor Hera oder Athene den Vorzug der Liebesgöttin zu geben.« 28. Den Übergang des traditionellen Konzepts ›Wahl‹ zum neuen Konzept ›Entscheidung‹ hat Snell (1955, S. 325ff.) im Anschluss an seine früheren Arbeiten zur älteren attischen Tragödie herausgearbeitet. 29. Athenaios 687 C ( fr. 334 N2). 79

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Entscheidung, einem verhängnisvollen Fehler beginnt. Anders als bei der mit dem ›Parisurteil‹ vergleichbaren Szene von ›Herakles am Scheidewege‹. In der Geschichte des Prodikos von ›Herakles am Scheidewege‹, die Xenophon überliefert hat,30 ist schließlich das ›Lehrhafte‹ dieser Lebenswahl und ihrer Konsequenzen gänzlich in den Vordergrund getreten, zuungunsten des ›Heroischen‹: Als der junge Herakles unschlüssig ist, welchen Lebensweg er einschlagen soll (aporounta poteran ton hodon trapetai), treten zwei Frauen zu ihm, eine edel gestaltete und gekleidete, die Areté, die andere üppig und aufgeputzt, Eudaimonía (glückliches Leben) von den Freunden genannt, Kakía (Schlechtigkeit) aber von den Feinden. Das Motiv des ›Herakles am Scheidewege‹ ist durch die abendländische Geistesgeschichte hindurch – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen freilich31 – das dominante Bild für eine Entscheidung über ›Lebenswege‹ geblieben: Kyniker, Stoiker und (Neu-)Pythagoreer haben es als Modellsituation von Lebens-Orientierung und Lebens-Entscheidung rezipiert. Die Frauen, die für Herakles die Lebensalternativen in einem Streitgespräch vorstellen, sind nicht freilich mehr Göttinnen des griechischen Kultus, sondern nur noch ›Personifikationen‹ oder ›allegorische Figuren‹,32 sie heißen nun Kakía (Schlechtigkeit) und Areté (Tüchtigkeit). ›Von nun an‹ kann auch die Paris-Episode Reflexionen über ›die menschliche Natur‹ transportieren: »Der Hirt auf dem Ida, der zwischen den drei Göttinnen zu wählen hat, zeigt, wie der sich selbst überlassene Mensch statt des tätigen und beschaulichen Lebens (Juno und Minvera) von Natur aus auf das des bloßen sinnlichen Genusses verfällt«, heißt es 1561 in der ›Auslegung der Fabeln‹ bei Conti.33 Die frühen Beispiele und die literarischen Diskussionen vergleichbarer Entscheidungssituationen34 versuchen zugleich zu zeigen, dass rigoristische Positionen in einem polytheistischen System zum Scheitern verurteilt sind. Erst das Exemplum des Herakles prämiert die Entscheidung für eine Gottheit, Areté ›Leistung/Bewährung‹, und gegen eine andere, Eudaimonía (Glück),35 durch Heroisierung des sich entscheidenden ›Menschen‹ – und damit

30. Xenophon, Memorabilien 2, 21ff. 31. Zur Motivgeschichte Snell (1955, S. 329ff.) und Hommel (1976). 32. Die Frauen treten unter ›ihrem‹ Namen auf: kai he Kakia hypolabousa eipen (2, 1,28) oder he hyp’ Aretes Herakleous paideusis (2, 1, 34). Personifikationen neigen eher dazu, ›Programme‹ zu vertreten als komplexe persönliche Götter. Das scheint unter bestimmten kulturellen Bedingungen ihre Attraktivität auszumachen, – aber auch ihre Grenzen vorzugeben. Zum Gesamtkomplex Reinhardt (1960b). 33. Zitiert bei Reinhardt (1960a, S. 17, 3). 34. Dazu Gladigow (1990). 35. Zur Motivgeschichte Snell (1955, S. 329ff.). 80

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nur im Durchgang durch den Tod –, zudem in der Tradition bereits in einen pythagoreischen Kontext einbezogen.

4. Integrierende Elemente und ihr ›Passungscharakter‹ Das Beispiel des Paris – und, an ihn anschließend, des Herakles – zeigt in mythischer oder ›allegorischer‹ Form, dass die Entscheidung für eine Lebensform ›von Anfang an‹ in einer Konfliktsituation erfolgt, und dass die einmal getroffene ›Wahl‹ durchaus problematisch sein kann: Sie zieht sekundäre Konflikte nach sich, und die ausgeschlossenen Möglichkeiten werden als immer noch wirksam angesehen. Die mit dem Wort und Begriff ›Lebensform‹ verbundene ›Unschärfe‹ – so Arno Borst in seiner Einleitung zu ›Lebensformen im Mittelalter‹36 – macht wohl zugleich seine Attraktivität aus. Von Platons bion paradeigmata über Ciceros forma vivendi zieht sich bis zur frühmittelalterlichen vivendi ordo, oder dem mos oder ritus vivendi eine lange Tradition, in der ›Lebensform als ein realisiertes Menschenbild‹ gegen den jeweiligen sozialen und historischen Kontext abgesetzt wird. Borst spricht hier von »einer Idealisierung und Isolierung, die dem Wort Lebensformen noch im 20. Jahrhundert anhaftet«.37 In Verbindung mit der anfangs entwickelten systematischen und kulturtheoretischen Einordnung ergibt sich an dieser Stelle nun eine Fragestellung, auf die man den ethologischen Begriff der ›Passung‹38 anwenden könnte. Wenn man die Beobachtung heranzieht, dass die ›großen Religionen‹ der allgemeinen Religionsgeschichte die ihre Struktur bestimmenden ›Modellvorstellungen‹39 nach einer gewissen Anfangsphase den veränderten kulturellen Kontexten nicht mehr angeglichen haben, ließe sich die Frage anschließen, ob Ähnliches auch für die Menschenbilder gilt. Gilt auch für Menschenbilder, dass sie unterschiedlichen Zeithorizonten entspringen? Wie genau ›passt‹ eine Lebensform oder ein Menschenbild in ›ihre‹ oder ›seine‹ Kultur,40 kann sich dieses ›Passungsverhältnis‹ im Laufe der Zeit verschlechtern, und gar: Gibt es Menschenbilder am falschen Ort, in der ›falschen‹ Kultur? Demgegenüber hatte bereits Wilhelm Ernst Mühlmann darauf hingewiesen, dass es das Wesen gerade der höheren Kulturen ausmacht, »daß sie stark

36. Borst (1995, S. 14.A.). 37. Borst (1995, S. 15). 38. Zur Übertragung des ethologischen Begriffs der Passung auf kulturelle Phänomene vgl. Gladigow (1999). 39. Es ist das Verdienst von Topitsch (1972; 1979), auf die Genese und Konstanz von Modellvorstellungen hingewiesen zu haben. 40. Im Blick auf eine ›Vielzahl der Welten‹: Gladigow (1988). 81

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abweichende Handelnsmodelle nicht nur tolerieren, sondern sogar kultivieren, weil sie sie als Steigerungsmodelle der normalen Wirklichkeit offensichtlich brauchen. Daher die charismatische Legitimität, daher der Geniekult!«41

5. Der Passungscharakter von Menschenbild und Kultur Mit der Ausdifferenzierung von Kultur in relativ selbständige Teile (Subsysteme) ergibt sich – damit kehre ich noch einmal zu meinen anfänglichen kulturtheoretischen Reflexionen zurück und erweitere sie um ein weiteres Element – die Möglichkeit (oder das Problem), diese Teile in einer neuen Weise zu re-kombinieren oder gar ›fremde‹ Elemente zu inkorporieren. Was unter den ethnologischen Begriffen wie Diffusion oder Enkulturation den ›Normalfall‹ kultureller Kontakte und Austauschbeziehungen darstellt, wird in der konkreten historischen ›Umsetzung‹ prekär, wenn ein potentiell strukturbestimmendes, ›dominantes‹ Element (oder Subsystem) ›ausgetauscht‹ werden soll. Mit zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlicher Intensität hat die europäische Kultur Elemente fremder Kulturen und Religionen rezipiert. Mit den verschiedenen Renaissancen und kolonialen Erweiterungen des ›Weltbildes‹ bilden sich feste Traditionsschemata heraus, die Rückgriffe, Revitalisierungen oder eine rinàscita ermöglichten und in Konkurrenz zu den dominanten Orientierungen setzen konnten. Die zeitliche oder räumliche Distanz, Anachronismus und Exotismus,42 liefern dann die sinngebenden Differenzen für eine Programmatik des Rückgriffs (oder Ausgriffs) und seine latente oder explizite Normativität.43 Das ferne Alte wird als das alte Wahre ›neu‹ rezipiert, im Fernen und Frühen kann das Proprium der eigenen Tradition erkannt werden. Wenn unter bestimmbaren Bedingungen Traditionen reflexiv werden, bilden sich regelmäßig vergleichbare Phänomene eines Nativismus oder von Revitalisierungstendenzen44 heraus: Unter den Bedingungen der europäischen Wissenschaftsgeschichte und, allgemeiner gesagt, Kulturgeschichte, bekommen die Traditionsmuster eine besondere Programmatik.

41. 42. 43. 44.

Mühlmann (1966, S. 39). Skizzen zu dieser interpretatorischen Alternative bei Trümpy (1973). Gladigow (1994). Linton (1943); Wallace (1964); Mühlmann (1964, S. 9ff.). 82

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6. Integration von Mensch und Kultur: Geltungsgrund und Konkurrenz von Symbolsystemen Ich möchte nun, in Verbindung mit kurzen Schlussbemerkungen, die Integration (oder Des-Integration) von Lebensformen oder Menschenbildern in eine Kultur, unter den Perspektiven von Anachronismus und Symbol ansprechen. Verbindendes Glied für diesen Analyseschritt ist eine Einordnung von Menschenbildern in den Kontext kultureller Reflexionen, jenes Meta-Symbolisieren von Hans Lenk, bei dem Lebensformen immer auch Verwirklichungen symbolisch codierter Muster und Zusammenhänge sind. Ein professionalisierter Umgang mit Symbolen, wie er spätestens auf der Ebene staatlich organisierter Kulturen festzustellen ist, muss mit dem Dilemma umgehen, dass Zeichen zwar ›frei‹ generiert werden könnten, ein Geltungsgrund von Symbolen und ihre Verbindlichkeit45 aber auf alte Traditionen oder göttliche Stiftung zurückgeführt werden muss. Selbst wenn Symbole neue Funktionen oder Inhalte aufnehmen, wird ihre ›Plausibilität‹ und Akzeptanz im Rahmen der kulturellen Tradition erzeugt, die für die neuen Funktionen noch kein ›Design‹ zu besitzen scheint. In diesem Sinne sind (neue) Symbole notwendig anachronistisch – das ist die dritte These: Sie entsprechen den Bedürfnissen einer (aktuellen) ›Binnendifferenzierung‹ von Geltungsebenen,46 ›widerrufen‹ diese aber auf der Basis eines Rekurses auf einen frühen Status der Kultur, auf dem diese Differenzen noch nicht galten. Da Symbole – anders als Zeichen – ein materielles Substrat besitzen, können sie ›überbleiben‹,47 ohne notwendig ›tradiert‹ und damit jeweils in die aktuellen kulturellen Kontexte eingestellt zu werden. Auf diesem Spannungsverhältnis von realer Existenz und anachronistischer Präsenz48 beruhen ihre besondere Verwendbarkeit und Leistung: Sie können sich im Besitz von Herrschern befinden und damit Teil des Herrschaftsapparats sein, und sie können in einem ›professionellen Symboldesign‹ von Fall zu Fall reaktiviert werden. Die bisher vorgetragenen Überlegungen haben die am weitesten reichende These begleitet, dass Menschenbilder, vor allem religiöse 45. Zu einer kommunikationstheoretischen Einordnung von Zeichen und Symbol Leach (1978), die älteren religionswissenschaftlichen Positionen bei van Baal/van Beek (1985). 46. Elemente und Grundpositionen dieser Zugangsweise liefern u.a. Reimann (1974); Geertz (1983); Parsons (1975); Bellah (1973); Luhmann (1977); Döbert (1973); Berger/Luckmann (1977); Dux (1982). 47. In einer älteren Sprache der Religionswissenschaft wird dies auch als ›Macht der Symbole‹ bezeichnet. Zu dieser Gruppe von ›nicht-diskursiven Symbolen‹ Biezais (1979, S. IXff.). 48. Dazu Gladigow (2004b). 83

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Menschenbilder, grundsätzlich durch anachronistische Elemente bestimmt sind und dass diese Anachronismen in einem paradoxen Rekurs die Folgen kultureller Differenzierung, zu denen auch die Religionen gehören, aufzuheben versprechen. Damit würden Menschenbilder, wenn auch auf einer anderen systematischen Ebene, ähnlich wie Symbole Zeit- und Differenzierungsebenen überbrücken oder aufheben. Die parallele systematische Frage, ob ›Religion‹ darauf angelegt sei, Anachronismen zu ›nutzen‹, oder ob Religion der kulturelle Bereich sei, in dem Anachronismen am ehesten ›überdauern‹, lässt sich wohl beantworten.49 Man kann den Anachronismen in Religionen eine spezifische Funktion zuschreiben, in dem Sinne, in dem Hans Magnus Enzensberger für den Anachronismus postuliert,50 er sei »kein vermeidbarer Fehler, sondern eine Grundbedingung der menschlichen Existenz«. Wenn retardierende oder anachronistische Elemente in religiösen Traditionen eine bestimmbare Funktion haben, kann ihr Fehlen als Indiz für ein Schwinden des vollen Spektrums von Menschen- und Weltbildern gewertet werden. So hat Franz-Xaver Kaufmann schon vor einiger Zeit im Rahmen einer Diskussion über Religion und Modernität das ›Schwinden von Religion‹ mit einem Mangel an Zeit für ›Prozesse der Sedimentierung‹ in Verbindung gebracht: »Es scheint, als ob die Beschleunigung des sozialen Wandels den Prozessen der Sedimentierung und Traditionsbildung als konstitutiven Momenten sozialer Lebenswelten nicht mehr genug Zeit ließe. Ebenso steht die Erosion traditioneller Weltbilder in einem unmittelbaren Zusammenhang mit jenen kulturellen Mutationen, die die Zukunft zu Lasten der Vergangenheit aufgewertet haben.«51 Dieses gilt dann auch für religiöse Symbole und Menschenbilder, deren Bedeutung, wie anfangs ausgeführt, darin gesehen werden kann, dass sie unterschiedliche Zeichen- und ZeitEbenen überbrücken und so für die Kultteilnehmer und Gläubigen bereits getrennte Bereiche von Kultur ›in anachronistischer Weise‹ übergreifen und ›Gleichzeitigkeiten‹52 herstellen. Eine mangelnde kulturelle Bereitschaft, Anachronismen zu ›pflegen‹ – oder zu tolerieren –, lässt sich dann auch als Indiz dafür werten, dass bestimmte ›sinngebende Ungleichzeitigkeiten‹ haltlos werden.

49. Dazu im weiteren Rahmen Gladigow (2004a). 50. Enzensberger (1997). 51. Kaufmann (1986, S. 291). 52. Zur Forschungsgeschichte im Anschluss an Bloch (1973), Conrad (2002), publiziert unter www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish; in Anm. 3 der Hinweis auf die Anwendbarkeit des ›Ungleichzeitigkeitstheorems‹ auf andere Kulturbereiche. 84

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CHRISTEN UND WIR

Christen und wir. Einige Gedanken aus stets gegebenem Anlaß Jan Philipp Reemtsma

1. »Im Operativen sind wir uns einig« Das ist einer der katholischsten Sätze, die je gesprochen wurden. Leute wie ich, d.h. solche, die ihre Theologie zuerst aus calvinistischer Quelle bezogen haben, atmen dabei hörbar durch: welche Weltläufigkeit, welche Durchtriebenheit, welche Souveränität, was für ein Ick-bün-alldor-Selbstbewußtsein! Und: Was steckt dahinter? fragt man besorgt, denn als Calvinist ist man natürlich mißtrauisch, und dieses Mißtrauen nimmt man aus dem theologischen Kontext in den säkularen mit. D.h. Leute wie ich, a-religiöse Ex-Calvinisten also, sind mißtrauisch einer-, voll Bewunderung andererseits: für eine Religion, die 2000 Jahre Wissen um den Menschen und um die Ausübung von Macht in die Denkroutine übernommen hat, wie Skipper das Wissen um See und Segel aus noch viel mehr tausend Jahren in die Routinen des Arrangierens von Tauwerk auf dem Bootsdeck. Weltaufgeladene Theologie – da, hätte Tony Buddenbrook gesagt, weiß man doch, was man verschluckt. »Im Operativen sind wir uns einig« – es war der katholische Kardinal Joseph Ratzinger, der den Satz zu Jürgen Habermas sagte, und zwar in einer Art Konklave, d.h. nur eine handverlesene Schar Journalisten war anwesend, und es fand statt, weil sich Habermas in der Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels zum Thema Religion geäußert und gleichzeitig mit einem Weber-Zitat bekannt hatte, er sei religiös unmusikalisch. Das war der Anlaß, es kam zu einer Begegnung, und da beide, der Kardinal, schon durchs Epitheton »katholisch« verpflichtet, und der Philosoph, selbstverpflichtet durch seine Schriften, als bekennende Universalisten bekannt waren, nahm es eigentlich nicht wunder, daß sie sich im Operativen einig waren. Wie denn auch anders. Der katholische Universalismus des »Schlagt sie tot, der Herr wird die Seinen schon erkennen«, ist zurzeit nicht mehr auf der politischen und wohl auch nicht theologischen Agenda. 89

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2. Zum Beispiel Matthäus-Passion In seinem letzten großen Roman »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen« läßt Christoph Martin Wieland seinen Titelhelden Olympia besuchen und den Zeustempel mit der Statue des Phidias besichtigen. Er schreibt an seinen Freund Kleonidas im nordafrikanischen Kyrene: »Wie sehenswürdig auch die weltberühmten Olympischen Spiele sind, so zweifle ich doch nicht, daß die Einbildungskraft eines Dichters mit bloßer Hülfe des Hippodroms und der Gymnasien und Fechtschulen in Cyrene sich eine noch größere und den alten Heldenzeiten angemeßnere Vorstellung von ihnen machen könnte, als diejenige ist, die wir andern gewöhnlichen Menschen mittelst unsrer Leibesaugen erhalten haben. Aber den Jupiter des Fidias muß man sehen, Freund Kleonidas, wenn man sich einen Begriff von ihm machen will. Also komm und sieh, und bete an!« Beides: »sieh« und »bete an« – nimm den Anlaß und überlaß dich der Wirkung. Diese wird analysiert und beschrieben: »Nach diesem Eingang erwartest du, natürlicher Weise, keine Beschreibung von mir, die am Ende doch nur auf ein Verzeichnis der unzählichen einzelnen Stücke und Teile hinaus laufen würde, aus welchen dieses über allen Ausdruck große und reiche Kunstwerk, dem kein anderes in der Welt vergleichbar ist, mit hohem Sinne zusammengesetzt, wie eine himmlische Erscheinung vor unsern Augen da steht. Jeder dieser Teile ist, für sich selbst betrachtet, schön, groß gedacht, mit reiner sicherer Bestimmtheit der Verhältnisse und Formen ausgeführt, und so zierlich vollendet, daß dem Liebhaber der Kunst nichts zu wünschen, dem Kenner wenig oder nichts zu erinnern übrig bleibt. Aber alle diese besondern Schönheiten verlieren sich, oder vereinigen sich vielmehr in dem Haupteindruck, den das herrliche Ganze – Jupiter auf seinem Thron, von seinem ganzen Göttergeschlecht umgeben – auf die Seele des Anschauers macht, indem er sich beim ersten Anblick von einem wunderbaren Schauder ergriffen fühlt, den der große und glaubige Haufe für ein unmittelbares Zeichen der Gegenwart Gottes hält.« Das widerfährt dem Nicht-Gläubigen nicht, doch muß der darum nicht unempfindlich sein gegen ästhetische Sensationen: »Dir, mein Freund, brauche ich nicht zu sagen, daß weder dumpfes Anstaunen noch Überfluß an Glauben unter die Gebrechen meiner Natur gehören. Ich betrat den Tempel mit der kaltblütigsten Gewißheit, einen Gott von Elfenbein und Gold von der Hand eines großen Bildners zu sehen, und konnte mich doch des besagten Schauders so wenig erwehren, als ein anderer.« Doch verbindet er das nil humani alienum mit dem nil admirari: »Du wirst mir indessen gerne zutrauen, daß ich bei dieser schnell vorüber gehenden Verzückung noch Besonnenheit genug behielt, dem Grunde des Zaubers nachzuforschen, wodurch dieses

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göttliche Machwerk eines sterblichen Meisters auf alle die es erblickten, ohne Ausnahme, eben dieselbe Wirkung tut.«1 Es folgt eine eingehende Analyse, die wir hier übergehen können, da sie sich auf die besondere Wirkung eines besonderen Kunstwerks bezieht. Das Allgemeine ist genügend bestimmt, es geht um diejenige Spielart des Schönen, die man das Erhabene nennt. Daß sie in diesem Fall mit der physischen Größe des Kunstwerks zusammenhängt, ist, wie gesagt, dem Beispiel geschuldet, daß die Wirkung Größe sein muß, gehört zur Wirkungsabsicht, und wäre die Ursache eine Miniatur. Das Erhabene in der Natur muß bekanntlich nicht im Gebirge gefunden werden, obwohl es dort gerne gesucht – oder, zuweilen, und der Einzelfall heißt dann Winckelmann oder Hegel, vermieden – wird. Die Schilderung bringt eine gewisse Skepsis gegen das Erhabene zum Ausdruck – gegen das in der Natur (das, in der ästhetischen Theorie, die Augen öffnen sollte für das Erhabene in der Kunst) programmatisch der Romananfang: »Alle Götter der beiden Elemente, denen du bei unserm Abschied mein Leben so dringend empfahlst, schienen es mit einander abgeredet zu haben, die Überfahrt deines Freundes nach Kreta zu begünstigen. Wir hatten, was in diesen Meeresgegenden selten ist, das schönste Wetter, den heitersten Himmel, die freundlichsten Winde; und da ich dem alten Vater Oceanus den schuldigen Tribut schon bei einer frühern Seereise bezahlt hatte, genoß ich der herrlichsten aller Anschauungen so rein und ungestört, daß mir die Stunden des ersten Tages und der ersten Hälfte einer lieblichen mondhellen Nacht zu einzelnen Augenblicken wurden. Gleichwohl – darf ich dirs gestehen Kleonidas? – deuchte michs schon am Abend des zweiten Tages, als ob mir das majestätische, unendliche Einerlei unvermerkt – lange Weile zu machen anfange. Himmel und Meer, in Einen unermeßlichen Blick vereinigt, ist vielleicht das größte und erhabenste Bild, das unsre Seele fassen kann; aber nichts als Himmel und Meer und Meer und Himmel, ist, wenigstens in die Länge, keine Sache für deinen Freund Aristipp.«2 Was in der Natur die unterbrechungslose Erhabenheit des Immergleichen und immer gleich Großen ist, ist in der Kunst ein spezieller wunderbarer Schauder, der nicht anhält, wenn nicht etwas Außerkünstlerisches dazu kommt, eine religiöse Disposition etwa. Künstlerisch ist das Erhabene ebenso erklärlich wie herbeiführbar. Man kann die Technik verstehen, die es auslöst. Diese Erkenntnis unterbricht den spezifischen Genuß des Erhabenen ebenso wie die bloße Dauer der Wirkung beim konstitutionell nicht Disponierten. Das setzt das Erhabene in einen nicht unbedeutenden Kontrast mit dem Schönen. Das Erhabene verschwindet in der Natur mit der Gewöhnung des Blicks 1. Wieland (1988, S. 34ff.). 2. Wieland (1988, S. 13). 91

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und in der Kunst mit dem Blick hinter die Kulissen wie der Zaubertrick; zurück bleibt dort die Vertrautheit mit unserer psychischen Apparatur, die naiv darüber zu erschrecken versteht, daß Berge, Meer und Wüste so gar nicht für unser Wohlbefinden da sind, der latent masochistische Genuß unserer Marginalität im Kosmos (oder, was für die Nerven dasselbe ist, vor der Majestät Gottes), hier die Bewunderung der Technik. Das Schöne aber verschwindet nicht mit der Zeit und nicht in der Analyse seiner Wirkung. Im Gegenteil: In beidem stellt es sich immer erneut her. Erkenntnis und Genuß sind hier Synergien. »Mir bleibt«, schreibt Joseph Cardinal Ratzinger, »unvergessen das Bach-Konzert, das nach dem frühen Tod von Karl Richter Leonhard Bernstein in München dirigiert hat. Ich saß neben dem evangelischen Landesbischof Hanselmann. Als der letzte Ton verklungen war, schauten wir uns spontan an und sagten ebenso spontan zueinander: Wer das gehört hat, weiß, daß der Glaube wahr ist. In dieser Musik war eine so unerhörte Kraft anwesender Wirklichkeit vernehmbar geworden, daß man nicht mehr durch Schlußfolgerung, sondern durch Erschütterung wußte, daß dies nicht nur aus dem Leeren stammen konnte, sondern nur geboren werden konnte durch die Kraft von Wahrheit, die in der Inspiration des Komponisten sich gegenwärtig setzt.«3 Und doch empfinden auch die religiös Unmusikalischen, aber musikalisch Musikalischen etwas. Aber etwas anderes. Ratzinger möchte auf das Moment der Erschütterung hinweisen, das dem Erleben großer Kunst eigen sein kann, und ihm ist es Zeichen (im Grunde mehr als Zeichen, nämlich Beweis) für etwas das Menschenmögliche Übersteigende. Leute wie ich würden sich die Erschütterbarkeit nicht absprechen oder absprechen lassen. Einer wie ich, sitzend zur andern Seite des Kardinals, hätte im Bunde der Theologen insofern den Dritten abgeben können, als ein Vierter die Blicke hätte kaum unterscheiden können, und doch wäre unsere je-eigene Beschreibung dessen, was wir gehört, und wie wir unsere Blicke wieder adjustiert hätten, ganz unterschiedlich ausgefallen. Tatsächlich hätte ich, in den Augen Ratzingers, die Transzendenz verpaßt. In meinen Augen hat er das Humanum nicht verstanden. Da für ihn die Potenz des ex nihilo schon vergeben ist, kann er es, wo er es vor Ohren hat, nicht mehr hören. Für ihn verkörpert sich die Schönheit in ihrer höchsten Qualität im Erhabenen, das von Mehr-als-Menschlichem zeugt, für mich ist das Erhabene ein Gefühl, das, wo es nicht durch bloße technische Fertigkeit auf meinen Nerven spielt, ein Gefühl, das das Erlebnis des Schönen begleitet: weil das Schöne menschenmöglich ist. Für Ratzinger ist das vermutlich ein Gattungs-Narzißmus, der jene Demut vermissen läßt, die die Schönheit allein als gottgegebene Fähig-

3. Ratzinger (2004, S. 36). 92

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keit vom Göttlichen zu zeugen erkennt; für mich reduziert Ratzinger das Schöne auf den Atavismus der Überwältigung. Wir empfehlen beide, in Bach-Konzerte zu gehen. Sind wir, also, im Operativen einig, obwohl wir einander wechselseitig der Blasphemie zeihen: er mich der am Göttlichen, ich ihn der am Schönen?

3. »The Passion of Christ« Das Schöne, so Ratzinger, das er mit einem verwundenden Pfeil vergleicht, das also seine Würde durch Schmerz zu verbürgen hat, sei aber nicht hinreichend – »Apoll reicht nicht aus«.4 Gemäß seiner Auffassung, das katholische Bekenntnis vereine griechische Aufklärung mit hebräischer Frömmigkeit zur Verkündigung einer ganzheitlichen Wahrheit, fehlt noch etwas. Wir stimmen zu und nennen es Moral. Ratzinger gewinnt seine Gedankenführung aus der Auslegung zweier den Psalm 45 einführender Antiphone: »Du bist der Schönste von allen Menschen, Anmut ist ausgegossen über deine Lippen« und »Nicht Schönheit war an ihm noch edle Gestalt. Sein Gesicht war entstellt.« Zur Schönheit muß die Entstellung treten, die Christus-Gesichter der Ikonenmalerei reichen nicht aus, es muß »das Grabtuch von Turin« – nota bene nicht Grünewald, sondern der Fetisch – hinzukommen: »Gerade in dem so entstellten Gesicht kommt die wahre, die letzte Schönheit zur Erscheinung: die Schönheit der Liebe, die ›bis zum letzten‹ geht und sich eben darin stärker erweist als die Lüge und die Gewalt. Wer diese Schönheit wahrgenommen hat, weiß, daß eben doch die Wahrheit und nicht die Lüge die letzte Instanz der Welt ist.«5 Wir, die wir nicht von der gläubigen Sorte sind, zweifeln nicht nur an der Beweisführung, sondern auch an den Substantiven. Gleichwohl sind wir uns im Operativen insofern einig, als auch wir sagen würden, daß Apoll nicht ausreiche. Nur haben wir, was das Ethische anlangt, die Bilderfixierung hinter uns gelassen. Sie gehört in den Bereich des Ästhetischen, das mit dem Ethischen in moralischen Fragen gut zusammengehen kann (etwa in der Idee des Vorbilds), und dort keinerlei Regressives hat. Wir sind nur der Meinung, daß in der Idee der Universalität, die modernen ethischen Konzepten eigen ist, das Bild keine Rolle zu spielen hat, weil es zu sehr an historisch kontingente Vorlieben gebunden ist. Die Ursprungsfrage ist damit nicht tangiert, wohl aber die Zielrichtung. Ob es ein gekreuzigter Gott ist oder eine Familienidylle – mit irgendwelchen Bildern verbinden sich die Moralvorstellungen genetisch zugrunde liegenden Affekte meist. Aber so,

4. Ratzinger (2004, S. 38). 5. Ratzinger (2004, S. 38). 93

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JAN PHILIPP REEMTSMA

wie man lernen kann, die unmittelbaren Affektlagen im Raisonnement zu transzendieren, so kann man lernen, auch andere und immer wieder neue Bilder ansprechend, gar schön zu finden. Ich lasse hierbei zwar mein Mißtrauen gegenüber den besonderen Religionen, bei denen Bilder und Inszenierungen von Leid und Qual eine zu zentrale Rolle spielen wie beim schiitischen Islam und dem Christentum, nicht unerwähnt, aber beiseite, denn es geht um einen allgemein evolutionären Zug des Geistes: die Metaphorisierung des Religiösen. Wo Religionen in ihren jungen und ungestümen Jahren noch physisch kämpfen, da ringen ihre Anhänger später nur noch im Gebet. Wo die Hölle einst noch bildlich und wörtlich mit dem ganzen danteschen Arsenal imaginiert wurde, ist mit »Hölle« irgendwann nur noch ein Seelenzustand »getrennt von Gott« gemeint. Am Ende solcher Metaphorisierung steht – nur wenig noch. Weltliterarisches Dokument ist dies in Lessings Dialog »Testament Johannis« geworden, wo nach einer alten Legende die letzten Tage des Jüngers Jesu vorgestellt werden – die eines am Körper hinfälligen Greises, der gleichwohl seine Gemeinde nicht im Stich läßt: »Er«, sagt die in diesem Dialog mit »Ich« bezeichnete Stimme, »ließ keine Collecte gern zuende gehen ohne seine Anrede an die Gemeinde, welche ihr tägliches Brot lieber entbehrt hätte, als diese Anrede. / Er: Die öfters nicht sehr studiert mag gewesen sein. / Ich: Lieben Sie das Studierte? / Er: Nachdem es ist. / Ich: Ganz gewiß war Johannis Anrede das nie. Denn sie kam immer ganz aus dem Herzen. Denn sie war immer einfältig und kurz; und wurde immer von Tag zu Tag einfältiger und kürzer, bis er sie endlich ganz auf die Worte einzog – – / Er: Auf welche? / Ich: Kinderchen, liebt euch! / Er: Wenig und gut. / Ich: Meinen Sie wirklich? – Aber man wird des Guten, und auch des Besten, wenn es alltäglich zu sein beginnt, so bald satt! – In der ersten Collecte, in welcher Johannes nicht mehr sagen konnte, als Kinderchen, liebt euch! gefiel dieses, Kinderchen liebt euch! ungemein. Es gefiel auch in der zweiten, in der dritten, in der vierten Collecte: denn es hieß, der alte schwache Mann kann nicht mehr sagen. Nur als der alte Mann auch dann und wann wieder gute heitere Tage bekam, und doch nichts mehr sagte, und doch nur die tägliche Collecte mit weiter nichts, als einem Kinderchen liebt euch! beschloß, als man sahe, daß der alte Mann nicht bloß, nur so wenig sagen konnte; als man sahe, daß er vorsätzlich nicht mehr sagen wollte; ward das Kinderchen liebt euch! so matt, so kahl, so nichtsbedeutend! Brüder und Jünger konnten es kaum ohne Ekel mehr anhören; und erdreisteten sich endlich den guten alten Mann zu fragen: Aber, Meister, warum sagst du denn immer das nehmliche? / Er: Und Johannes? / Ich Johannes antwortete: Darum, weil es der Herr befohlen. Weil das allein, das allein, wenn es geschieht, genug, hinlänglich genug ist. – / Er: Also das? Das ist Ihr Testament Johannis? / Ich: Ja! / Er: Gut, daß Sie es apokryphisch genen-

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net haben! / Ich: Im Gegensatz des kanonischen Evangelii Johannis. – Aber göttlich ist es mir doch.«6 Für Lessing ist die Entwicklung des Christentums, anderswo als »christliche Religion« unterschieden von der »Religion Christi«, die dann auch konsequenterweise als »diejenige Religion, die er als Mensch selbst erkannte und übte; die jeder Mensch mit ihm gemein haben kann« bezeichnet wird, ein Abweg von diesem sigillum-veriEinfachen in die Vieldeutigkeit: Die Religion Christi und die christliche Religion ließen sich nicht »in ein und demselben Buche« finden. Jene sei »in den klarsten und eindeutigsten Worten« geschrieben, diese »hingegen so ungewiß und vieldeutig, daß es schwerlich eine einzige Stelle giebt, mit welcher zwei Menschen, so lange als die Welt steht, den nehmlichen Gedanken verbunden haben.«7 Der Philologe und Moralist spricht, nicht der Theologe, das hatte Goeze ganz richtig gesehen, und hatte nur das Pech, daß eben auch der viel bessere Schriftsteller sprach. Für Lessing ist die Theologie ein erwiesenermaßen unpassender hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der Bibel. Daß Reimarus über Goeze triumphieren konnte, war eine protestantische Angelegenheit, keine katholische. Aber sie ist über diese innerchristliche Differenzierung hinaus bedeutsam. Daß die fundamentalistische Regression, die der Protestantismus jeder Couleur darstellt, der Säkularisierung so ungeheuren Schub versetzen konnte, liegt eben nur zum Teil an den politischen Umständen seiner Verbreitung. Es liegt an der Wortneigung und Bilderdistanz des Protestantismus. Die muß sich nicht zum Ikonoklasmus steigern oder sich diesbezügliche Abstinenz verordnen, wie es der sture Calvinimus tut, aber gerade in ihren gemäßigten Formen erlaubt sie eine stärkere und schnellere Adaption an eine sich säkularisierende Gesellschaft, weil sie es nötig macht, ihre Inhalte immer wieder neu und damit à la longue einigermaßen geschmeidig, man kann sagen: beliebig zu formulieren. Das »Testament Johannis« ist nicht eine uralte Kernwahrheit, von der sich eine komplizierte Theologie und zur Idolatrie verkommene Religion abgewandt hat, sondern der schale Rest, der bleibt, wenn man alle Theologie von der Religion abzieht, und nur noch gelten läßt, wozu alle Ja sagen können, ohne Amen sagen zu müssen. Ratzinger hat eine solche Theologie der Selbstaufgabe im Vorwort zu seiner »Einführung in das Christentum« mit der Situation des Hans im Glück, nachdem er alles, was ihn beschwerte, weggetan hatte, verglichen: »Wie lang seine Trunkenheit währte, wie finster der Augenblick seines Erwachens aus

6. Lessing (1989, S. 450f.). 7. Lessing (2001, S. 223f.). 95

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der Geschichte seiner vermeinten Befreiung war, das auszudenken überläßt jene Geschichte, wie man weiß, der Phantasie ihrer Leser.«8 Das ist der Grund, warum ein Film wie Mel Gibsons »The Passion of Christ« feuilletonauf und -ab besprochen werden konnte, als habe es sich um ein künstlerisches Ereignis von Belang gehandelt. Es hat sich um ein Ereignis gehandelt, das es erlaubte, den verblaßten Bildervorrat, aus dem sich das Gemüt bedient, wenn andere im Sonntagsradio Choräle singen, wieder zu restaurieren und neu einzufärben. Die Zeiten, in denen einige dieser Lieder einer aufgeklärten Ästhetik verdächtig waren, sind seit dem Tode von Tante Amelie, deren Sarg »in der großen Halle« aufgestellt werden sollte, »wo der Faun steht«, vorbei. Sie hatte noch verfügt: »Es soll auf dem Wege vom Schlosse bis in den Park, unter Vorantritt Nipplers, von allen Dorfkindern das Lied: ›Was Gott tut, das ist wohlgetan‹ gesungen werden. Aber nicht: ›O Haupt voll Blut und Wunden‹. Dies verbiete ich ausdrücklich.«9 Man möchte die Bilder wieder haben; man ist einer Sinngebung durch das Wort, die in der Verfügung des Sprechenden liegt, überdrüssig. Wahrheit ist etwas, das sich in der Kommunikation herstellt und keine Instanz jenseits der Welt. Das erscheint denen anders, die sie im Bild zu erblicken meinen – von dort blickt sie zurück. Die Theologie, die um das Anbeten von Bildern eine Ratio spinnt, entwirft die Bilder als Instanzen, vor denen sich die Sprechenden zu rechtfertigen haben: »Sinn, der selbst gemacht ist, ist im letzten kein Sinn.«10 Für die nicht-Gläubigen sind Bilder Objekte, über deren Bedeutung für uns wir uns untereinander verständigen müssen, und Sinn ist nur das, was man selbst seinem und anderem Tun verleiht. Wäre ich einer, der Bilder alter Schriften auslegte, ich führte Moses, der die Schrifttafeln angesichts des idolatrischen Haufens zerbricht, an und wiese darauf hin, daß er, als er die Gesetze brachte, dem Berg mit all dem gewittrigen Gotteszubehör den Rücken kehrte.

4. Respekt Ratzinger hat mit großer Verve gegen eine Theologie, die ihren Glaubensbestand metaphorisiert, geschrieben. Sie breche ihre Versprechen, sie gebe Menschen keinen Halt. Er hat recht, er schreibt überzeugend. Ich lese Ratzinger lieber als Küng. Aber das ist privat. Der diesbezügliche Respekt gilt dem hinsichtlich der intellektuellen Architektur meiner Bibliothek interessanteren Text, nicht der Religion. Die ist so oder 8. Ratzinger (1998, S. 7). – Vgl. auch die Darlegungen in: Allen (2002, S. 70-75, S. 247-258 und S. 262-266). 9. Fontane (1959, S. 471). 10. Ratzinger (1998, S. 47). 96

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so zu respektieren. Religionsfreiheit bedeutet nicht Freiheit von Religion, wie wünschenswert diese einem, der nicht aus dem »großen und glaubigen Haufen« stammt, auch erscheinen mag, sondern ist individuelle Freiheit von Religion ebenso wie Freiheit zur Religion, kurz: Glaube jeder, was er will. Solche Freiheit schließt Respekt noch nicht ein. Dennoch halte ich einen diesbezüglichen Respekt für eine Tugend, und da, wie es scheint, sind wir, der Kardinal und ich, im Operativen einig: Er nennt die »Achtung vor dem, was dem anderen heilig ist« einen »für alle Kulturen wesentlichen Aspekt«.11 Ist, daß der Text so weiter geht, bloße gedankenlose Routine und Unhöflichkeit? – : »[…] insbesondere die Achtung vor dem, was im höheren Sinne heilig ist, die Achtung bzw. Ehrfurcht vor Gott, etwas, das man auch bei Menschen findet, die nicht an Gott glauben. In einer Gesellschaft, in der diese Achtung verletzt wird, geht etwas Wesentliches verloren.«12 Wohl keine Gedankenlosigkeit. Und es ist jenseits des Operativen, es stiftet den Sinn dessen, was sonst eben bloß das Operative wäre. Daß der Theologe meine Bereitschaft, seine Religiosität zu achten, als Hinweis auf meine Disposition zum Glauben versteht, versteht sich. Auf dieses Verständnis aber gründet er, der Theologe, seine Achtung, die er dem entgegenbringt, was mir von existenzieller Bedeutsamkeit erscheint. Dort, wo ihm dieses nicht von Glauben in unentwickeltem Stand zeugt, sondern nur von (aus seiner Sicht) beliebigen Ideosynkrasien, ist allenfalls Achtung minderen Grades angebracht. Nun steckt darin ein Differenzierungsbemühen, dem man sich kaum verschließen kann: Nicht jeder Unfug, nur weil einer ihn für wichtig hält, kann Achtung verlangen, wenn man unter Achtung mehr versteht, als ihn einfach machen zu lassen, wenn er keinen Schaden damit anrichtet. Wir reden nicht über bürgerliche Freiheiten, sondern über Dimension von Zivilität, die hinzukommen sollte: Respekt. Weder seine noch meine Bereitschaft zum Respekt ist unbedingt. Da sind wir uns einig. Ich achte Frömmigkeit, Religiosität, Theologie nicht bloß darum, weil sie vorhanden sind. Ich respektiere keine geistigen Gehalte, die für mich bedeutungslos sind oder die ich für Unfug halte – interessanten Unfug vielleicht, aber eben Unfug. Ich respektiere auch nicht, wenn sich jemand ohne Not das Leben schwer macht. Und doch spielen diese Faktoren eine Rolle beim Respekt: ein fremdes Denken (dem eigenen bringt man ja keinen Respekt entgegen), das man nicht abtun will, bloß weil es fremd ist, und ein Denken, das Auswirkungen auf die Lebensführung hat, erschwerende. Respekt vor einem gewissen Ernst. Meinerseits ist dieser Respekt von der Ansicht geleitet, daß wir, um noch einmal Wieland zu zitieren, nicht alle durch dasselbe Schlüsselloch in 11. Ratzinger (2004, S. 67). 12. Ratzinger (2004, S. 67). 97

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die Welt sehen können, und das Leben zu schwer ist, als daß man es einfach leicht nehmen könnte. Getragen ist er von der Überzeugung, daß wir auf der Basis solchen wechselseitigen Respekts besser miteinander leben können als ohne ihn. Und damit kommt ein Moment der Reziprozität ins Spiel und wird entscheidend. Tatsächlich kann ich vor Fanatikern keinen Respekt haben. Ich kann sie nicht achten wie eine Art ritterlichen Feindes – man schlägt einander vielleicht tot, respektiert einander aber. Das mag in den Haushalt kriegerischer Tugenden gehören, in den ziviler gehört es nicht. Respekt erhält man für Respekt. Und damit wird klar, daß ich den Religiösen nicht für das respektiere, worauf es ihm ankommt. Ich empfinde keine Achtung vor dem, was ihm im höheren Sinne heilig ist, sondern vor ihm, zu dessen Lebensentwurf gehört, Empfindungen des Heiligen zu forcieren. Wenn er das im Rahmen bürgerlicher Dezenz tut. Ich höre von einem, der den Sabbat heiligt, und das macht seinen Weg vom Hotel zum Tagungsort kompliziert. Das ist zu respektieren. Er bedient sich auch nicht zureichend der Unterstützung derjenigen, die den Sabbat nicht heiligen, weil er nicht möchte, daß sie Gebote brechen, obwohl die für sie gar nicht existieren. Mir begegnet einer, der das anerkennenswert findet. Ich finde das albern, aber, wie heißt es doch?: Wenn du die Neurose triffst, sag ihr, ich laß sie grüßen. Wir tanzen alle mit wunderlichen Gebärden den Todesweg hinab. Und nun kommt dieser fromme Mensch zu spät, und da ein Vortrag von ihm auf dem Programm steht, warten alle lange und geben dann auf. Dann kommt er irgendwann; er hat sich auf dem Stadtplan vertan und der Fußweg war länger als geschätzt. Das geht nicht. Der Mann ist ein Flegel, über anderes reden wir später. Die Einhaltung der Regeln des Zusammenlebens vorausgesetzt, respektiere ich den Sinn, den jeder seinem Tun gibt, er mag diesen Sinn verstehen, wie er selber möchte, im Zweifelsfalle ganz anders als ich, vor allem, wenn er in bestimmter Weise religiös ist, nicht als Sinn, den er selbst seinem Leben gegeben hat. Ich verlange, daß er sich so verhält, daß als Resultat seines Verhaltens dasselbe herauskommt wie bei meinem. Er wird sich etwas anderes denken dabei, er wird mich innerlich darum respektieren, weil er in dem Teil von mir, den er respektiert, etwas zu erkennen meint, wovon ich nichts weiß. Er respektiert es darum, weil er darin das erkennen möchte, worum es ihm geht. Das ist wie Öl und Wasser. In einer säkularen Gesellschaft gibt – tendenziell wenigstens – das Denken, das ich hier »meines« genannt habe, den Rahmen ab. In ihr kann man den von Ratzinger definierten Respekt der Religiösen so verstehen, als bedeute er dasselbe. Man sollte das vielleicht um des lieben Friedens willen tun. In weniger säkularen Gesellschaften sieht das anders aus – fabula resp. historia docet. Das sind die Gesellschaften, in denen man nur Platz hat, wenn man zur 98

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Familie gehört oder als verlorener Sohn oder verirrtes Schaf. Timeo christianos et reverentiam praestantes.

5. Modefragen Die Leute können sich anziehen, wie sie wollen. Das ist kein Zeichen einer säkularen Gesellschaft, sondern einer permissiven. Ich hätte nichts gegen Kleidungsvorschriften in Kirchen und Museen. In kurzen geblümten Hosen sollte nicht Mann noch Frau vor einer Madonna oder einer Venus stehen dürfen. Aber wir haben wenige, und, hätten wir andere, weil sich Ansichten wie die eben geäußerte durchsetzten, so liefen sie auf ein Mehr an Bedeckung hinaus, nicht auf ein Weniger. Wer seine Haare bedecken möchte, soll das tun, und als Frau darf sie das sogar in einer Kirche. Ein Kopftuchverbot, ob an Schulen oder anderswo, ist nicht tolerabel, und eine Bemerkung wie die von einem schwäbischen Rektor berichtete: »Ich will Ihre Haare sehen« ist widerwärtig. Es gibt gewisse Anstandsregeln, die verletzt werden, wenn man zu wenig trägt. Darüber hinaus hat sich der Staat nicht in Modefragen einzumischen. Beim Kopftuch handele es sich aber nicht um eine Modefrage, sondern darum, ob an Schulen religiöse Propaganda gemacht werden dürfe. Das Kopftuch sei ein diesbezügliches Symbol. Das kann schon sein, jedenfalls aus der Perspektive derjenigen, die es trägt. »Kann sein«, sage ich, denn es ist ja umstritten, ob das Kopftuch automatisch dies oder das bedeute. Aber lassen wir es bei der Annahme. Wir verbieten das Tragen des Hakenkreuzes. Es ist als Symbol einer verbotenen Partei verboten. Wäre das Kopftuch Symbol einer verbotenen Religionsgemeinschaft, wäre gegen sein Verbot nichts einzuwenden. Wenn eine Lehrerin ihre Stellung dazu mißbraucht, religiöse Propaganda zu machen, ist sie zu entlassen. Aber sie muß dazu etwas tun. Zu zeigen, daß sie etwas anderes glaubt als die anderen Lehrer oder die Schüler, reicht nicht. Strengt man ein Disziplinarverfahren gegen die Lehrerin an, kann der Umstand des Kopftuchtragens als Teil eines Befundes gewertet werden. Nicht aber als einziger Befund hinreichen. Ist umgekehrt geboten, wenn man das Kopftuch verbietet, auch die Soutane des Religionsunterricht gebenden Pfarrers zu verbieten oder das Kreuz am Hals des Mathematiklehrers? Ein Fehler wird nicht dadurch besser, weil man aus Gerechtigkeitsgründen noch einen begeht. Es ist nur so, daß sich eine Gesellschaft, die das Recht zum Tragen von Kopftüchern einschränkt, nicht aber das von Kreuzen, dem Verdacht aussetzt, es gehe ihr nicht darum, die weltanschauliche Neu-

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tralität ihrer Schulen zu wahren, sondern, weil sie eine traditionell christliche ist, Moslems das Leben schwermachen zu wollen. Mein Respekt, den ich einem religiösen Menschen entgegenbringe, gilt ihm, seiner individuellen Entscheidung, zu leben, wie er leben will. Ich übernehme nicht seine Vorstellung von Respekt, die dem gilt, was er für heilig hält. Meine Toleranz gegenüber einer religiös bestimmten Tracht hat nichts damit zu tun, daß ich etwa die Vorstellungen über die Reinheit oder Sündigkeit des menschlichen Körpers, die sie oder er hat, achte, sondern ich respektiere ihren oder seinen Lebensentwurf. Solange sie die Spielregeln der säkularen Gesellschaft respektieren und damit ihre Tochter nicht über das Eltern allgemein zuzubilligende Maß an Intoleranz hinaus schikanieren. Als Mitmenschen haben sie meinen Respekt; als Mitbürger meine Zusage, daß ich mich für ihre Rechte einsetze; als Vorgesetzter haben mich Modefragen, Kopftücher, Kreuze und andere Accessoires nicht zu interessieren, sofern sie nicht, siehe oben, die gerade gültigen Anstandsbräuche verletzen. Kopftücher haben für die Schulbehörde Modefragen zu sein. Symbole werden erst durch Handlungen und geeignete Kontexte zu Symbolen. Darin besteht die Auffassung, die für die Umgangsformen einer säkularen Gesellschaft bestimmend ist: daß der Kontext und die Kommunikation den Sinn stiften. Daß der Sinn von außerhalb kommt und festgelegt ist, ist die Ansicht der Religiösen, nicht unsere. Wir sind uns da nicht einig. Nur auf diesem Dissens beruht die Möglichkeit, Religionen zu respektieren. Da so das Grundsätzliche beschaffen ist, werden wir uns auch im Operativen seltener einig sein, als man meistens glaubt.

Literatur Allen, John L. (2002), Kardinal Ratzinger, Düsseldorf: Patmos. Fontane, Theodor (1959), Vor dem Sturm, München: Nymphenburger. Lessing, Gotthold Ephraim (1989), »Das Testament Johannis«, in: Lessing, Gotthold Ephraim, Werke 1774-1778, hg. von Schilson, Arno, Frankfurt a. Main: Deutscher Klassiker-Verlag. — (2001), »Die Religion Christi«, in: Lessing, Gotthold Ephraim, Werke 1778-1781, hg. von Schilson, Arno und Schmitt, Axel, Frankfurt a. Main: Deutscher Klassiker-Verlag. Ratzinger, Joseph Cardinal (1998), Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis, München: Kösel. — (2004), »Verwundet vom Pfeil des Schönen. Das Kreuz und die neue ›Ästhetik‹ des Glaubens«, in: Ratzinger, Joseph, Unterwegs zu Jesus Christus, Augsburg: Sankt-Ulrich. — (2004), »Warum haßt sich der Westen?«, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, (Juni 2004), S. 67. 100

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Wieland, Christoph Martin (1988), Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, hg. von Manger, Klaus, Frankfurt a. Main: Deutscher KlassikerVerlag.

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Lebensführung in exzentrischer Positionalität. Helmut Plessners Grundlegung philosophischer Anthropologie Wolfgang Bialas

1. Die exzentrische Positionalität als Lebensform des Menschen1 Zu dem, was sie immer schon sind, müssen sich Menschen in der Übernahme der ihr Selbstsein ermöglichenden Bedingungen erst machen. Sie stehen dabei unter Bedingungen, die sie auf eine körperliche Organisation festlegen, zu der sie jedoch zugleich in einer Weise auf Distanz gehen können, die ihre Subjektposition als natürliche, naturgegebene Mittellage in der anthropozentrischen Existenz des aus sich auf sich hin Lebens problematisiert. In der Auseinandersetzung mit den von ihnen selbst nicht verantworteten Bedingungen ihres Lebens versuchen sie diese Bedingungen in ihren eigenen Lebensentwurf einzuarbeiten. Aus ihrem Leben können sie immer nur das machen, was als Bedingung seiner Möglichkeit bereits in ihm liegt. Erst die Aneignung dieser Bedingungen setzt das in seinem Ausgang offene Spiel des Lebens als Kunst des Ausgleichs und der Vermittlungen in Gang. Ein Leben auf der Höhe der in ihm liegenden Möglichkeiten zu führen, gelingt als fragiler Balanceakt immer dann, wenn Menschen sich weder dem vermeintlich zwingenden Diktat dieser Bedingungen beugen noch diese als Synonym äußerer Fremdbestimmung in den eigenen Lebensentwürfen ablehnen. Nach dem Verlust der naiven Unmittelbarkeit der eigenen Seinsposition in durch kulturelle Vermittlungen gebrochener vermittelter Unmittelbarkeit muss der Mensch wiederherstellen, was so noch nie für ihn bestanden hat: eine Existenzform des Lebendigen, die unter strukturellem Reflexionszwang stehend gar nicht anders kann, als sich immer wieder in Frage zu stellen, neben sich zu treten, um hinter sich 1. Zu Plessners Anthropologie vgl. Haucke (2000). 103

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selbst und das Geheimnis ihres eigenen Seins zu kommen. Mit dem Konzept der Positionalität als einer spielerischen Toleranz in einem gelockerten Sein hatte Plessner Toleranz als ein naturphilosophisches Motiv eingeführt. Schon die Natur ist spielerisch verfasst. Jedes Lebendige bringt sich selbst hervor, was sich beim Menschen zur natürlichen Künstlichkeit einer Lebensform steigert, die eben den spielerischen Umgang mit den artifiziellen Vermittlungen ihrer Existenz zum exemplarischen Modus menschengemäßer Lebensführung kultiviert.2 Der Rückfall des Menschen in vorreflexive (anthropo-)zentrische Organisations-, besser: Destruktionsformen des Lebendigen bleibt dennoch möglich. Mit der Exzentrizität seiner Lebensform steht der Mensch in der Herausforderung, sich in der Spannung natürlicher Lebensbedingungen und kultureller Setzungen mit einer eigenen Identität zu behaupten. Die mit dem Tier erreichte zentrische Organisationsform steigert sich in ihm zur Reflexivität der zentrischen Mitte in der exzentrischen Außenperspektive – zum Paradoxon der exzentrischen Mitte.3 Die positionale Mitte ist die dem Menschen angemessene Organisationsform. Sie ist das Moment exzentrischer Positionalität, das Menschen mit tierischem Leben gemeinsam haben. Im Unterschied zum Tier ist der Mensch in der fraglosen Selbstverständlichkeit einer intuitiv in Anspruch genommenen Zentralposition jedoch immer wieder gegenläufigen Erfahrungen der Dezentrierung und Relativierung seiner unterstellten Mittelpunktsposition ausgesetzt. Die faktische Widerlegung seiner imaginierten Zentralposition zwingt den Menschen in die grundsätzliche Auseinandersetzung mit seiner Position in der Welt. Der Prinzipien, von denen er sich intuitiv in seinem Leben leiten lässt, muss er sich nun in ihrer Realitätstauglichkeit reflexiv vergewissern, ohne jedoch die einfache Angleichung des prinzipiell in Anspruch genommenen an das unter den gegebenen Bedingungen Mögliche als Lösung dieses Konfliktes zwischen Wirklichkeit und kontrafaktischen Intuitionen akzeptieren zu können. Vielmehr fordert ihn dieser Konflikt zu einer gleichermaßen wirklichkeitsorientierten wie prinzipiengeleiteten Vermittlung seiner kontrafaktischen Intuitionen und faktischen Erfahrungen auf. Was als Intuition frustriert wird, muss in der Reflexion neu behauptet werden. Im Übergang vom Tier zum Menschen schafft sich das Leben keine neue Organisationsform, sondern gewinnt der »zentral repräsentierte Körper«4 die reflexive Distanz zu sich selbst, aus der Menschen aus ihrer eigenen Mitte lebend sich der Zentralität ihrer Existenz bewusst werden. Die Ermächtigung zu bewusster Lebensfüh2. Vgl. Plessner (1975, S. 309ff.). 3. Plessner (1975, S. 342). 4. Plessner (1975, S. 290). 104

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rung reagiert auf eine zu unbestimmten Möglichkeiten aufgebrochene Existenz, die sich nicht mehr im naturwüchsigen Selbstlauf der organisch festgelegten Realisierung einer zentrischen Lebensform von selbst lebt. In dieser Spannung lebt der Mensch und in ihr wird sein Drang nach Freiheit zur Herausforderung, sich in dieser Bindung, und nicht gegen sie in seinem Freiheitsdrang zu behaupten. Im Kampf um sein Dasein kämpft der Mensch mit sich gegen sich selbst um sich selbst. Das menschliche Streben nach Vollkommenheit, nach einem Leben im Gleichgewicht mit sich und der Welt, hält den Menschen in der Unruhe einer existentiellen Lebensform, die ihm ein solches Gleichgewicht strukturell verweigert. Wäre es ihm möglich, zur Ruhe zu kommen und seinen Frieden mit sich und der Welt zu schließen, so wäre diesem Leben jede Spannung genommen. Ohne inneren Antrieb, sich auf das unbekannte Territorium neuer Erfahrungen zu begeben, ängstlich darauf bedacht, jedes Risiko des Gesichtsverlustes oder der Lächerlichkeit zu meiden, würden sich Menschen dann lediglich in den Bahnen des ihnen Vertrauten bewegen. Zwar würde ihnen das nicht vorhersehbare Aufregungen und mögliche Peinlichkeiten ersparen. Zugleich würde ihnen jedoch durch eine solche Absicherung genommen werden, was den Reiz menschlichen Lebens entscheidend ausmacht: die offene Begegnung mit dem Neuen, in der sie sich selbst auf neue und unerwartete Weise erleben. Ruhig gestellt in der Gleichförmigkeit eines sich in seinen grundlegenden Konstellationen wiederholenden Lebens, wäre dieses Leben seiner Dynamik beraubt. Die konstitutive Unruhe menschlichen Lebens, in der dieses sich erst auf der Höhe seiner Möglichkeiten bewegt, hätte sich zur Wiederkehr des immer Gleichen beruhigt. Körperlich bleibt der Mensch Tier, da seine Exzentrizität, die ihn zum Menschen macht, ihn in keine neue Organisationsform setzt. Die zentrische Organisationsform, die er mit dem Tier gemeinsam hat, bleibt die Basis seiner Exzentrizität. Um sich neben sich stellen zu können, braucht er die Mitte, neben die er sich stellen kann. Er ist eben nicht nur Positionalität, d.h., auf sich als lebendige Mitte seiner komplexen Existenz in all seinen Dezentrierungen bezogen, sondern exzentrische Positionalität. Der Komplexität seiner Existenz nähert sich der Mensch erst aus der Distanz an, ohne je zu rückhaltloser Übereinstimmung mit sich selbst zu kommen. Diese Differenz übersetzt sich in die Rückhaltlosigkeit einer Lebensführung, die das Risiko des Scheiterns exzentrischer Ganzheitlichkeit eingeht. Der Universalitätsanspruch des Menschen als eines ›reflektierten Exzentrikers‹ kann scheitern. Das Tier, dem »sein selber sein verborgen«5 ist, kann nicht in Beziehung zu seiner eigenen positionalen Mitte treten. Die Selbstbe5. Plessner (1975, S. 288). 105

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ziehung, die zur eigenen Subjektposition auf Distanz geht, ist ihm nicht möglich. Es ist in seinem Verhalten auf seine körperliche Organisation festgelegt, während der Mensch in seinem Verhaltensrepertoire mit der Differenz von Innen- und Außenperspektive, von körperleiblicher Bestimmung und der reflexiven Öffnung dieser Festlegung zum Entwurf seines Selbst im Horizont unbestimmter Möglichkeiten spielen kann. Im Unterschied zur Selbstverständlichkeit der tierischen Zentralposition versteht sich das Selbstsein des Menschen nicht von selbst. In medialer Mittellage des reflexiv gebrochenen Durchgangs zu und durch sich selbst wird den Menschen ihr Leben zum Problem der Lebensführung. Ihr Leben steht unter dem Risiko des Scheiterns und kann eben deshalb, in der Herausforderung, eine lebbare Balance von zentrischer Organisations- und exzentrischer Positionsform zu finden, auch gelingen.6 Der Mensch ist in seiner exzentrischen Positionalität strukturell dazu gezwungen, in seinem Lebensvollzug zugleich neben sich zu stehen und auf sich selbst und sein Leben von außen zu sehen. Diese in der situativen Variation von Nähe und Distanz zugleich erlebte und reflektierte Differenz möglicher Perspektiven kann sich sowohl zur Eigenständigkeit separierter Welten als auch zur existentiellen Spaltung eines Lebens in der Differenz von innen und außen, von eigentlicher Existenz und oberflächlichem Leben verselbständigen. Der durch das Vermögen exzentrischer Positionalität gesetzte Maßstab eines Lebens auf der Höhe seiner Möglichkeiten fordert jedoch dazu auf, sich an einem Leben im Wechsel der Perspektiven und der Identität ermöglichenden Zusammenführung der unterschiedlichen Aspekte zu versuchen. Im Doppelaspekt von Leib und Seele, von Sein und Haben, von reflexiver Vergegenwärtigung gegenständlicher Verkörperungen eines Ich und intuitiver Gegenwärtigkeit eines in der Irrealisierung der offenen Unbestimmtheit nicht zu Vergegenständlichenden, dem freien Entwurf des Neuen verpflichteten Ich steht ein Bruch menschlicher Natur, der sich weder glätten noch vermitteln lässt. Im Modus der exzentrischen Lebensform ist der Mensch selbst der reflexiv gebrochene Dritte, dem eine ungebrochene Selbstbezüglichkeit nur in der Spannung der Infragestellung intuitiver Gewissheiten möglich ist. In der offenen Situation der Lebensführung bringt sich eine Pluralität unbestimmter Möglichkeiten des menschlichen Lebens zur Geltung. Wo alles längst entschieden scheint, öffnet sich die zentrische Organisationsform zur Situation der Bewährung in der auf Nichts gestellten konstitutiven Heimatlosigkeit eines sich selbst ins Nichts entwerfenden Selbst. Um sich im Gleichgewicht einer fraglos-selbstverständlichen Lebensform zu halten, braucht er ein kulturelles Gegengewicht. Als le6. Zur Diskussion des Konzeptes exzentrischer Positionalität vgl. u.a. Krüger (1999, S. 94ff.); Eßbach (1994); Fischer (2000). 106

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bendiges Wesen, das in die Mitte seiner Existenz gestellt zugleich aus der Mittellage dieser Existenz gefallen ist, braucht der Mensch kulturelle Vermittlungen, um die natürliche Unmittelbarkeit einer mit sich und seinen kulturellen Gegenwelten identischen Existenz leben zu können. In konstitutiver Ruhe-, Gleichgewichts-, Wurzel- und Heimatlosigkeit auf der Suche nach einer intuitiven Unmittelbarkeit entspannter Existenz findet sich der Mensch in der reflexiven Dauerspannung der Problematisierung und Infragestellung aller vermeintlichen Selbstverständlichkeiten seines Lebens wieder. Die Metapher der konstitutiven Heimatlosigkeit ist im besten Sinne mehrdeutig. Auf der Suche nach einem Ort, der sie zum Verweilen in uneingeschränkter Zustimmung zu seinen existentiellen Koordinaten einlädt, erfahren Menschen die freischwebende Existenz der Ort- und Zeitlosigkeit als die ihnen gemäße Weise, ihr Leben zu führen. Bei sich selbst sind sie zugleich außer sich. Nähe ertragen sie auf Dauer nur aus der Ferne einer sehnsüchtig übersteigerten Erwartung oder in der flüchtigen Intensität des gelebten, gerade nicht auf Dauer zu stellenden Augenblicks. Die ihnen aufgezwungene Distanz der Fremde zum Eigenen nährt in ihnen die unstillbare Sehnsucht nach einer rückhaltlosen Nähe, die alle Distanzen auflösen würde, und die in der Distanzlosigkeit des verfehlten Taktmaßes zwischen Menschen doch immer wieder nur die aggressive oder depressive, jedenfalls enttäuschte Abstandnahme provoziert. Die anthropologische Herausstellung der exzentrischen Positionalität zeichnet die Mitwelt als die Menschen gemäße soziale Existenzform aus. Mitmenschlichkeit, die Anteil nehmende Hinwendung zum Leben des Mitmenschen, als sei in seinen Freuden und Leiden ich selbst in meinem Leben betroffen, ist in einer anthropologischen Tiefenstruktur der menschlichen Lebensform gegründet. Moralisches Verhalten verliert mit der Zumutung, in der Intuition der Mitmenschlichkeit zunächst von meinen eigenen Interessen abzusehen, ja, wenn nötig, gegen meine Interessen zu handeln, die negative Aura übermenschlich-irrationalen Verhaltens. Mit der exzentrischen Positionsform wird es zu einem wahrscheinlichen Verhalten, das von Menschen, die sich in ihrem Handeln von ihren Interessen leiten lassen, erwartet werden kann. Es wird von ihnen erwartet, im Blick auf das zu handeln, was Menschen füreinander in einer von ihnen geteilten Welt sind und bedeuten.7

7. Vgl. Plessner (1975, S. 302ff.). 107

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2. Plessners anthropologische Universalisierung der Ideologie Für endliche Wesen, die darauf drängen, ihre Endlichkeit auf Unendlichkeit hin zu transzendieren, ist der Königsweg ihrer Existenz der Umweg, das Spiel, die Verdopplung in einer Ausdruckswelt, in der sich Intentionalität in eigenen symbolischen Ordnungen gegenständlich spiegelt. Bereits das lebendige Sein besitzt einen Ausdruckscharakter. In der Fähigkeit, auch noch zu diesen Ausdrucksformen menschlichen Seins spielerisch auf Distanz zu gehen, zeigt sich die Eigenart menschlicher Vernunftnatur. Menschen vermögen die reflexive Distanz zu sich selbst jedoch nicht nur auszudrücken, sondern auch darzustellen. Der Mensch kann sich von seiner biologischen Natur nicht lösen und ist doch kulturell nicht auf sie festgelegt. Im expressiven Spiel ihrer Ausdrucksformen inszenieren Menschen ihr Leben als eine andauernde Spannung von Bestimmtheit und Transzendenz. Symbolische Bewusstseinsäquivalente der psychophysischen Basis des Menschen sichern als die immanente Spiegelwelt seines Daseins,8 dass der Mensch symbolisch auf die natürlichen Grundlagen seiner Existenz bezogen bleibt. Die ideologiekritische Destruktion dieser symbolischen Vermittlungen als illusorische Vorspiegelung möglicher ganzheitlicher Existenz nimmt dem Menschen mit seiner symbolischen Spiegelwelt eben das, was ihn kulturell auszeichnet. In einer kulturanthropologischen Wendung des Universalismusproblems knüpft Plessner die Gegenüberstellung eines Eigentlichen und Wesentlichen, eines kulturunspezifischen Universellen auf der einen und einer pragmatischen, fragmentierten, oberflächlichen Erscheinungswelt der Kulturen auf der anderen Seite an, aus der sowohl die ideologische Verselbständigung als universell ausgezeichneter Werte als auch deren ideologiekritische Dekonstruktion ihre Plausibilität beziehen. Die Pointe von Plessners Überbietung der Ideologiekritik kultureller Universalien liegt in der Universalisierung der Ideologie selbst als einer in ihrer lebensweltlichen Funktionalität anthropologischen Universalie. Die Relativierung des universellen Geltungsanspruchs normativer Universalien durch den Nachweis ihrer kontextspezifischen Funktionalität, so seine Argumentation, setzt diesen Geltungsanspruch nur dann außer Kraft, wenn Universalität als kontextunabhängig begriffen wird. Deshalb stellt Plessners Re-Kontextualisierung anthropologischer Universalien diese ausdrücklich in den Zusammenhang der Konstituierung sinnhafter Orientierungen in kulturell spezifischen Kontexten. Als Horizont kultureller Orientierung muss sich Universalität in der Vermittlung eines kulturellen Sinnzusammenhangs bewähren. Die destruktive Kritik der kulturellen Funktionalität anthropologischer 8. Vgl. Plessner (1982). 108

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Universalien einer Entlarvung im Zusammenhang einer allgemeinen Verdachtslogik des Universellen wird damit in der selbstreflexiven Wendung der eben nicht mehr selbstverständlichen kulturellen Gründung der Pluralität des Universellen zur Behauptung ihres je kulturspezifischen universellen Geltungsanspruchs in einer Vielfalt der Kulturen. Mit der Einführung eines Ideologiebegriffs, der in seiner universellen Funktionalität der Vermittlung kultureller Differenzen selbst zum Synonym einer Erneuerung des Anspruchs auf Universalität im Durchgang durch ihre Dysfunktionalisierung wird, gibt Plessner der von ihm eindringlich beschriebenen normativen Entmächtigung des politischen Humanismus durch die ideologiekritische Demontage gattungsgeschichtlicher Universalien eine markante Wendung. Als Pointe der Abfolge ideologiekritischer Dementierungen des Universellen und ihrer funktionalen Substitute hatte er die Funktionalität des universellen Geltungsanspruchs gattungsgeschichtlicher Kategorien der Vernunft herausgearbeitet. Eine der methodischen Unterstellungen dieser variantenreichen Ideologiekritik war die Unvereinbarkeit von Funktionalität und Universalität. Dieses Unvereinbarkeitstheorem klassischer Ideologiekritik als der Selbstdemontage einer gegen ihre eigenen normativen Grundlagen gerichteten Selbstkritik der Aufklärung wendet Plessner zur Bedingung eines neuen politischen Humanismus. Dessen lebensweltliche Funktionalität erklärt er nun zur konstitutiven Bedingung seines Universalitätsanspruchs. Der Universalitätsanspruch eines erneuerten politischen Humanismus steht nach dieser funktionalen Wendung unter dem Druck nachzuweisen, dass sich sein Wertesystem zur Vermittlung kultureller Differenzen und der Anregung eines gleichberechtigten Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen eignet. Nach ihrer funktionalen Umkodierung aus einer essentiellen und exklusiven Verkörperung universeller Werte zur Prozeduralität der Vermittlung des Universellen im Ausgleich von Differenzen wird Universalität zum Synonym kultureller Funktionalität. Universalität wird zur interkulturellen Verpflichtung, gegen die normative und machtpolitische Versuchung der Gleichschaltung der Kulturen am Maßstab der in ihrem universellen Geltungsanspruch überlegenen westlichen Kultur deren lebendige Vielfalt als kostbares Gut einer in sich differenzierten Menschheitskultur zu erhalten. Im spielerischen Transzendieren seiner Endlichkeit schafft sich der Mensch eine eigene Spiegelwelt, eine Welt von Ausdrucksphänomenen und Bewusstseinsäquivalenten, die das Leben in der Spannung von Endlichkeit und Unendlichkeit halten. Plessners Generalisierung der Ideologie zum universellen Überbauphänomen lässt alles, »was dem Dasein an kategorialer Formung […] abgerungen werden konnte«,9 9. Plessner (1982, S. 157). 109

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als eine solche immanente Spiegelwelt des menschlichen Lebens erscheinen. Erst die symbolische Ausdruckswelt der Ideologie setzt Menschen in die kulturelle Komplexität von Welt- und Selbstverhältnissen, in der sie sich als Angehörige einer mit anderen geteilten Welt erfahren, für deren menschengemäße Gestaltung sie gemeinsam verantwortlich sind. Zwar werden also durch die historischen, soziologischen, psychoanalytischen oder biologischen Entlarvungen normativer Universalien – einer Wirklichkeit, einer Vernunft, eines Sittengesetzes für alle Menschen, diese Setzungen »ebenso problematisch […] wie die Menschlichkeit selber«.10 Der Nachweis schließlich ihrer geschichtlichen und naturhaften Seinsgebundenheit, des kulturellen Standortes ihrer als objektiv, unabhängig und selbstverständlich beanspruchten absoluten Geltung, deckt inhaltliche Entsprechungen zwischen diesen Universalien und den jeweiligen Kontexten ihrer Setzung auf. Diese inhaltlichen Entsprechungen müssen sich dem Bewusstsein verbergen, um die Funktionalität seiner kategorialen Setzungen zu sichern. Zu ihnen gibt es keine Alternative, sondern nur eine Abfolge funktionaler Ersatzbildungen. Diese Einsicht kann in der Konfrontation mit dem vitalen Unterbau einer naturhaften Triebbasis und einem biologischen Naturalismus als dessen Rationalisierung am Ende zu einer Rehabilitierung der unter Verdacht geratenen Vernunftnatur des Menschen und seiner Ausdifferenzierungen führen. Zwar lässt sich die Existenz einer solchen Vernunftnatur als Unterstellung gegenständlicher Entsprechungen metaphysischer Universalien nicht nachweisen. Über den Umweg der ideologiekritischen Entlarvung spekulativer Metaphysik zeigt sich jedoch die alternativlose, menschliches Leben erst ermöglichende und Wirklichkeit konstituierende Funktionalität des Spiels der Masken, einer kulturellen Objektivierung menschlicher Spiegelexistenz im Plural. Die gespielte Unendlichkeit kultureller Umwege ist konstitutiv für menschliche Existenz. Menschliches Leben braucht eine Spiegelwelt kultureller Ausdrucksweisen, um Leben zu sein. Die angemessene Antwort auf die interessierte Verschleierung verdeckter Interessen ist in der Tat die rücksichtslose Entlarvung. Ein Gemeininteresse, das in der Aushandlung unterschiedlicher Interessen gründet, steht in dieser Radikalisierung der Ideologiekritik unter dem Generalverdacht der interessierten Fiktion. Konsequent zu Ende gedacht, zielt diese Destruktionslogik auf die Zerstörung einer auf dem Prinzip interessierter Gegenseitigkeit gegründeten Moral der Mitmenschlichkeit im Zusammenleben der Menschen. Die Desillusionierung über die fiktive Gründung dieser Moral soll Menschen in der Ernüchterung darauf einstellen, ihren eigenen moralischen Intuitionen 10. Plessner (1982, S. 154). 110

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zu misstrauen. Damit werden sie zugleich eingestimmt auf ein rückhaltloses Vertrauen zu einer Autorität geistiger Formung und politischer Formierung, der sie sich ohne Einschränkung als Material der Mobilisierung zur Verfügung stellen sollen. Der Verfall des universalhistorischen Bewusstseins wirft die Frage nach der anthropologischen Gründung geschichtlicher Bindungen auf. Diese Frage signalisiert, dass die Bindung an Tradition und Herkunft nicht mehr als Einbindung in übergreifende Sinnhorizonte und selbstverständliche Zugehörigkeit zu einer historisch gewachsenen Kultur positiv wahrgenommen, sondern als problematische Bedrohung eigener Freiheit zurückgewiesen wird. Im Zusammenspiel von Historismus und Biologie, von innergeschichtlicher Relativierung und außergeschichtlicher Zwangsläufigkeit dessen, was als Menschsein gilt, wird die Dimension menschlicher Freiheit selbst fraglich. Zwar gestand die historistische Perspektivierung der Universalgeschichte allen Dimensionen menschlicher Existenz ein gleiches zeitgeschichtliches Recht zu, jedoch um den Preis, ihr mit dieser pluralen Dimensionierung eine objektive, ihre perspektivischen Bindungen integrierende und zugleich transzendierende Identität abzusprechen. Die Identität der Subjekte ist dann nicht Konsequenz innerer Entwicklungen und freier Entscheidung, sondern Ergebnis eines äußeren Formierungsprozesses. Gegen diesen äußeren, durch Biologie und Ökonomie dominierten Formierungsprozess ist Plessners Bestehen auf unvorhersehbaren Möglichkeiten gerichtet. Die Determinationskraft des Vorhersehbaren weist er als der Entscheidung aus eigener Freiheit entgegenstehend zurück. Worauf es letzten Endes ankomme, sei den Halt an sich selbst und in der Freiheit des Selbstseins nicht die Demut zu verlieren.11 In dieser klaren Absage an Selbstaufgabe wie Selbstermächtigung scheint der schmale Grat eines möglichen Lebens in Würde und Selbstverantwortung für das eigene Handeln auf. Es wäre ein Leben, das sich den Herausforderungen und moralischen Zerreißproben der Zeit nicht entzieht, das jedoch zugleich auch um kulturelle Einbindungen und Zugehörigkeiten weiß, die sich nicht einfach im dezisionistischen Handstreich aufkündigen lassen. Das ganz Andere eines neuen, uneingeschränkt selbstbestimmten Lebens hätte dann dennoch Rücksicht auf persönliche Verpflichtungen und gewachsene Traditionen zu nehmen. Plessners sehr persönliches Credo formuliert ein Ethos, das den Ambivalenzen der kulturellen Moderne moralisch gewachsen wäre. Es ist ein Ethos, das die Vielfalt möglicher Lebensformen und normativer Setzungen als Bedingung dafür nimmt, die Freiheit des Selbstseins in der Vermittlung mit diesen Beständen ohne Differenzierungsverlust zu behaupten. 11. Vgl. Plessner (1982, S. 132). 111

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Geschichte diesseits von gut und böse, und doch befreit von den Unwägbarkeiten moralischer Entscheidungen zwischen gut und böse; Geschichte, die sich von den kulturellen Codes moralischer Verpflichtungen frei gemacht und statt dessen den naturgesetzlichen Plausibilitätskriterien rassischer Reinheitsgebote und biologischer Vervollkommnung überantwortet hat – in diesem Paradigmenwechsel der Geschichte wird der Mensch selbst als mögliches Hindernis anthropologischer Höherentwicklung wahrgenommen und auszuschalten versucht. In der Verweltlichung des universalgeschichtlichen Bewusstseins bleibt der ursprüngliche heilsgeschichtliche Impuls der Universalgeschichte als menschlicher Gestaltungsanspruch von Geschichte erhalten. Geschichte wird jetzt konzipiert als Medium der Selbstbestimmung des Menschen im Abbau äußerer und innerer Autoritäten. Im Anspruch, Geschichte in Kenntnis der Gesetze ihrer Formierung zu gestalten, erneuert sich das Pathos unbedingter Selbstbehauptung im Selbstverständnis souveräner historischer Subjekte. Dieser Anspruch trifft auf ein Universum dezisionistisch nicht verfügbarer Realität. Faktisch sind die Möglichkeiten begrenzt, die Welt am Maßstab eigener Setzungen und Präferenzen zu gestalten. Die trotzige Weigerung, sich mit dem Möglichen zu bescheiden und das Unmögliche dennoch zu wagen, übersetzt diese Diskrepanz in eine aktivistische Antriebsmotorik, die Welt als Herausforderung begreift, sie so, wie sie ist, nicht zu akzeptieren, sondern sie nach eigenen Präferenzen zu verändern. Und tatsächlich stehen Menschen vor dem Problem, sich in einer Welt einzurichten, die nicht von vornherein auf sie und ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. Gerade weil diese Welt eigenen Regeln folgt, kann der Versuch ihrer vernünftigen Regelung scheitern. Insbesondere der emphatische Anspruch, die ganzheitliche Natur auf die Universalität der Vernunft umzustellen, droht in die Rationalität des Totalitären zu kippen. Nicht nur der Schlaf der Vernunft, auch der Tagtraum universeller Bemächtigung des kulturell und herrschaftstechnisch nicht Verfügbaren gebiert Ungeheuer. Die strategischen Schnittstellen eines Menschseins aus eigener Kraft wahrzunehmen und sich auf diese in ihrem Handeln zu konzentrieren, fällt Menschen in ihrem beständigen Drang zur Grenzüberschreitung offensichtlich schwer. Gerade das Nichtverfügbare provoziert die kulturelle Aufkündigung dessen, was Menschsein in der anthropologischen Verschränkung von Innen-, Mitund natürlicher Umwelt im existentiellen Kern ausmacht. Wird, was nicht zur Disposition stehen darf, zur Frage kultureller Zuschreibung oder Aberkennung mit der Konsequenz einer Definition höher- oder minderwertigen Lebens, so setzt sich menschliche Vernunft in den Stand einer kulturellen Naturgewalt. Im Unterschied zur ersten Natur überlässt diese zweite Entwicklung nicht der Eigendynamik ihres Selbstlaufs, sondern sie greift ein, beschleunigt oder verlangsamt. Sie schafft vollendete Tatsachen der normativen Entgrenzung menschli112

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chen Seins, das nicht länger unter dem Diktat von Moral und Religion, von Mitmenschlichkeit und Empathie, von Selbstbegrenzung und den Normen eines politischen Humanismus steht. In der Mentalität der Grenzüberschreitung als Versuchung der normativen Entgrenzung des menschlichen Lebens wird darauf bestanden, das technisch Mögliche und in seinen Erfolgsaussichten strategisch Kalkulierbare auch tatsächlich zu verwirklichen. Diese Attitüde der Außerkraftsetzung moralischer Hemmschwellen menschlichen Handelns gibt einem imaginierten Druck nach, in den eigenen Handlungsimperativen und Lebensmaximen Schritt zu halten mit dem, was sich technisch und wissenschaftlich zu Gestaltungsmöglichkeiten bisher nicht vorstellbaren Ausmaßes akkumuliert hat. Diese neuen Möglichkeiten am Maßstab traditioneller Werte zu relativieren, erscheint in diesem Gestus der gleichsam objektiven Ermächtigung zur Grenzüberschreitung als ressentimentgeladene Schwäche, die überwunden werden muss. Die Reduktion der Vielfalt geistiger Dimensionen auf eine »Dimension der Vitalität« nimmt »der Geschichte den Druck der Verantwortung« und setzt »an Stelle der Freiheit den Weltlauf.«12 Ein wertfreies, von normativer Differenzierung nach gut und böse unberührtes Sein, das sich im naturgesetzlichen Selbstlauf als Weltlauf vollzieht, bleibt als Resonanzboden moralischer Werte und Normen stumm. Die Annahme eines objektiven Verlaufs von Geschichte erübrigt das Handeln historischer Subjekte, das, unter dem Risiko des Scheiterns stehend, Geschichte erst konstituiert. Ihre naturgesetzliche Umkodierung soll Geschichte von der Unwägbarkeit der kontingenten Bedingungen menschlichen Seins entlasten. Indem sie ein Umgreifendes, nicht Verfügbares anerkennen, in dessen Horizont Menschsein im letzten Grund ohne den Menschen entschieden wird, machen diese ihren Frieden mit dem nun einmal objektiv gesetzten Lauf der Welt. Als »in christlicher Tradition und Kultur erzogene Mensch(en)« suchen sie den Halt, den sie »am Christentum und am Geist verloren« haben, nun in weltlichen Ersatzbildungen des Religiösen, die »als Materie, Natur, Entwicklung, Leben«13 ihre Zugehörigkeit zu einer Welt verbürgen, die in der Anerkennung das Leben umgreifender existentieller Haltepunkte das bedrohliche Image einer Welt, die auch ohne den Menschen auskommt, zu kontern versucht.14

12. Plessner (1982, S. 131f.). 13. Plessner (1982, S. 132). 14. Diese Konstellation kann als Ausgangspunkt so unterschiedlicher Denker wie Martin Heidegger, Carl Schmitt, Karl Jaspers und Max Scheler genommen werden, die auf je eigene Weise wieder anthropologisch-existentiellen Grund in eine Welt im Leerlauf sinnfreier Routinen zu konstituieren versuchen, in die der Mensch geworfen ist. 113

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3. Die anthropologische Neugründung des politischen Humanismus Die Annahme des politischen Humanismus, eine emanzipatorische Triade von Selbstfindung, Selbstgesetzgebung und Selbstverwirklichung sei als anthropologisches Motiv geschichtlicher Entwicklung wirksam, war in den um instrumentelle Rationalität und ideologische Mobilisierung organisierten industriellen Massengesellschaften zum gesellschaftlichen Vulgärzynismus geworden. Der subjekttheoretische Schnittpunkt dieser Annahme war der Mensch als Monade und exemplarische Gattungsexistenz. Das souveräne Individuum galt als Spiegel des Universums. Als effektiv handlungs- und moralisch zurechnungsfähige Subjekte waren sie zugleich mit der Kompetenz zur Aushandlung ihrer Interessen und zur Regelung ihrer Konflikte ausgestattet. Ist der Mensch ein geschichtliches und naturhaftes Wesen, so ist auch sein Bewusstsein nicht als freier Entwurf aus dem Nichts entstanden, sondern aus seinem historisch-biologischen Sein zu begreifen. Das Gleiche gilt für das jeweils favorisierte Symbolsystem der Objektivität, das durch geschichtliche und ethnische Perspektiven erst kulturelle Konturen bekommt. Dieser Objektivitätsanspruch soll die Vorbildlichkeit und Überlegenheit des »weltoffenen und darum weltverbindenden«15 westlichen Rationalitätstyps unterstreichen. Mit der Öffnung der ökonomisch, kulturell, ethnisch, religiös etc. gegeneinander abgeschlossenen Welten zum globalen Großraum der einen Welt, die den gleichen universellen Kategorien westlicher Rationalität unterworfen wird, verbindet der Westen tatsächlich die Vielfalt der Kulturen zur verbindlichen Rationalität eines Wertesystems. Auch die Annahme einer universellen Vernunft steht jedoch unter der Logik des Verdachts. Die »eine Wirklichkeit, eine Vernunft, ein Sittengesetz für alle Menschen« erscheinen ebenso problematisch und verdächtig, »wie die Menschlichkeit selber«.16 Gilt als prinzipiell entschieden, dass der Geltungsanspruch des politischen Humanismus sich nicht durch seine Konsequenzen für das Leben der Menschen entscheidet, denen es mit diesem Prinzip besser oder schlechter geht, sondern auf der höheren Ebene eines metahistorischen Austragungsortes geschichtsphilosophischer Prinzipien, so ist der Humanismus zur dezisionistischen Instrumentierung politischer Interessen und Ideologien freigegeben. Menschen werden dann im Namen eines neuen Humanismus dazu aufgefordert, sich einem Telos unterzuordnen, dem sie durch ein Leben in der weltgeschichtlichen Spannung höheren Sinns und tieferer Bedeutung erst zum historischen Durchbruch verhelfen sollen. Dabei ist von vornherein klar, dass sie als 15. Plessner (1982, S. 152f.). 16. Plessner (1982, S. 154). 114

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sterbliche, begrenzte, auf ihre Sinnlichkeit und Körperlichkeit verwiesene Wesen der metaphysischen Tiefe solcher höherer Prinzipien immer nur näherungsweise gerecht werden können. Eben das kennzeichnet ja die Suggestivkraft allgemeiner Prinzipien, dass sie im Anspruch ihrer Realisierung Spiralen der Selbstüberbietung in Gang setzen, die Menschen, die sich diesen Prinzipien verpflichtet fühlen, nicht nur über sich selbst, sondern über jegliches menschliches Maß hinaus wachsen lassen.17 Der aggressiven Verabschiedung des bürgerlichen Humanismus und seines universellen Ethos der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung durch die ideologische Kampfrhetorik seiner Ersetzung durch rassische oder soziale Substitute eines universellen Emanzipationsversprechens setzte Plessner das Programm einer konzeptionellen und zugleich politikfähigen Erneuerung des politischen Humanismus entgegen. In seiner Erstarrung zum Rigorismus universalistischer Prinzipien sieht er den westlichen Humanismus unfähig, den komplexen Herausforderungen von klassen- und rassetheoretischen Reduktionen normativ zu begegnen. Ihrer gesellschaftspolitischen Provokation der Ersetzung universeller Prinzipien durch einen kämpferischen Humanismus des auf seinen ideologischen Materialwert reduzierten Menschenmaterials war dieser bürgerliche Humanismus politisch nicht gewachsen. Gegenüber der erklärten Bereitschaft, ideologische Reinheitsgebote eines neuen Menschen durch die Vernichtung rassisch unwerten Lebens und die Züchtung eines von moralischen Ressentiments universeller Mitmenschlichkeit freien Übermenschen auch politisch umzusetzen, war der Verweis auf die Prinzipien menschlicher Gattungsvernunft machtlos. Gegen die auf eine Mobilisierung völkischer Vitalität gegründete rassische Volksbiologie entwickelte Plessner die Alternative einer von individueller Lebendigkeit, Lebensführung und spielerischem Umgang mit existentiellen Bindungen, biologischen Festlegungen und kulturellen Verpflichtungen getragenen lebensphilosophisch-hermeneutischen Biologie. Im Konzept einer liberalen Biologie begegnete er der politischen Herausforderung autoritärer Biologie auf der Ebene einer philosophischen Grundlegung menschlicher Lebensformen. Einer Biopolitik der Suggestion und Mobilisierung des naturgeschichtlichen Aufbruchs zum neuen Menschen im Namen einer sozialdarwinistisch zur Autorität der Geschichte aufgewerteten und bellizistisch verengten Natur setzte Plessner die Öffnung der Biologie des Menschen zum Kraftfeld der Entscheidung für menschlicher Pluralität angemessene Modi der Lebensführung in einer Stufenfolge des Organischen entgegen. Liberalität und Pluralität, spielerische Expressivität und Perspektivenwechsel, die Fähigkeit zur reflexiven Distanzierung von den nichthintergehba17. Bialas (2000). 115

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ren Einbindungen menschlicher Existenz in einem biologischen Kontinuum nichtverfügbarer Zugehörigkeit zu einem menschliches Sein übergreifenden Universum wurden auf diese Weise zur biopolitischen Möglichkeit eines auf Pluralität, Toleranz und mitmenschlicher Würde gegründeten Humanismus, der sich in der politischen Zerreißprobe seiner Infragestellung wusste.18 Plessners anthropologische Grundlegung des politischen Humanismus war gerichtet gegen einen westlichen Humanismus, der normativ und politisch durch die Komplexität der europäischen Entwicklungen überfordert war und auf diese nicht mehr differenziert mit aussichtsreichen Szenarien politischer Intervention zu reagieren vermochte. Die Annahme eines vernünftigen Prinzips im Menschen hatte für den Europäer den messianischen Sinn einer spezifischen Sendung Europas. Als Verpflichtung auf die mit dem Vernunftbegriff assoziierte Mission, das eigene universelle Wertesystem über die ganze Welt zu verbreiten, war dem politischen Humanismus der Anspruch einer normativen Leitfunktion Europas und des Westens konzeptionell eingeschrieben. Seine Annahme einer Wesensgleichheit aller Menschen operierte mit der Konstruktion einer überpersönlichen Vernunft, die als innerweltlicher Erlösungsglaube und innerer Antrieb der »Selbstbefreiung des Menschen durch den Menschen«19 wirksam werden sollte. Die Bestimmung des Menschen wurde darin gesehen, sich von den Fesseln der Natur frei zu machen. Diese emphatische Einführung einer Bestimmung des Menschen zur Herrschaft und die dazu komplementäre Diskreditierung der Natur als einer dem menschlichen Freiheitsstreben entgegenstehenden Macht hat eine Tradition von Aufklärung und emanzipatorischer Vernunft begründet, in der eine gegenaufklärerische Ermächtigung zur politischen Verfolgung gesellschaftlicher Endlösungen und totalitärer Visionen einer am Reißbrett entworfenen und sozialplanerisch durchgeführten, von Störfaktoren jeder Art befreiten idealen Gesellschaft als eine mögliche Tendenz angelegt war. Sein auf Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und andere normative Prinzipien gegründetes Wertesystem ist in universellem Geltungsanspruch an alle Menschen adressiert. In der Anerkennung ihrer vielfältigen Spaltung und Fragmentierung wird gleichzeitig an ein allen Menschen gemeinsames, kulturell spezifisches Potential des Menschseins appelliert. Plessners Anthropologie selbstbestimmter Lebensführung antwortet auf die akute Gefahr der politischen Ersetzung des Humanismus einer plural vielstimmigen Gattungsvernunft durch die partikularen Rigorismen von Klasse und Rasse mit der konzeptionellen Rückverlagerung des Politischen auf eine anthropologische Ebene. Der Krise des 18. Vgl. Haucke (2003, S. 15ff.). 19. Plessner (1982, S. 38). 116

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westlichen Humanismus begegnet Plessner mit dem Konzept einer Neugründung der Politik auf der Basis einer politischen Anthropologie. Eine in den Möglichkeiten des Menschseins selbst gegründete Politik soll Europa aus seiner Krise herausführen. Dem eurozentrischen Hegemonialanspruch setzt Plessner die Pluralisierung der vielfältigen und vielschichtigen Facetten kulturellen Menschseins entgegen. Auf die kolonisatorische Demütigung des Anschlusses für minderwertig befundener Völker und Nationen an ein überlegenes Wertesystem antwortet er mit dem Plädoyer für einen europäischen Wertewandel, in dessen Ergebnis universelle Prinzipien des Humanismus im Blick auf die Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen ihrer Geltung durch ihre kulturelle Kontextualisierung zugleich relativiert und in ihrem universellen Geltungsanspruch erneuert werden sollen. Dabei wird menschlicher Existenz selbst ein struktureller Zwang zur Selbstbestimmung eingeschrieben, der gegen politische Szenarien rassen- oder klassenideologischer Fremdbestimmung gewendet werden konnte. Auf die politisch-konzeptionelle Krise des westlichen Humanismus sucht Plessner nach einer normativ grundlegenden wie zeitgemäßen Antwort, die gegen das ideologische Pathos anthropologisch reduzierter Entgrenzung menschlichen Seins ebenso wie gegen einen selektiven Universalismus bzw. realitätsfernen und politikunfähigen Prinzipienrigorismus eine politische Anthropologie geteilter Verantwortung für die gefährdete Perspektive der menschlichen Gattung entwickelt. Gegen die rassen- oder klassenpolitische Verabschiedung des Humanismus setzte er dessen philosophisch-anthropologische Neugründung durch die Verknüpfung von hermeneutisch-lebensphilosophischer Krisenanalyse und politischer Anthropologie. Im Rekurs auf unverändert geltende, in ihrer Bedeutung unterschätzte oder bewusst unterdrückte Wahrheiten menschlicher Existenz erinnert Plessner an eine überlebensnotwendige Korrespondenz zwischen außermenschlicher und menschlicher Natur: Der Mensch kann sich weder von der äußeren Natur abnabeln und auf seine innere Natur zurückziehen, noch kann er auf Dauer die äußere Natur zum strategischen Feld seiner Interventionen instrumentalisieren, denen nur von ihm selbst und der Reichweite seines Willens zur Bemächtigung Grenzen gesetzt sind. Er ist selbst Teil der Natur und bleibt als endliches und sterbliches Wesen ihren Gesetzen unterworfen, auch wenn er im Unterschied zum Tier über soziokulturelle Möglichkeiten verfügt, diese Endlichkeit zu transzendieren. Es ist jedoch nicht nur die Endlichkeit und Sterblichkeit des Menschen, die seinen Bemächtigungsphantasien Grenzen setzt. An der Natur erfährt der Mensch seine Einbindung in ein seine Existenz Umgreifendes, erlebt er seine existentielle Abhängigkeit von einem ihm nicht Verfügbaren positiv als Zugehörigkeit. Und er erfährt sich in einem Zusammenhang des Lebendigen als substantielle Mitte in der 117

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Vermittlung. Er ist Teil eines Kreislaufs, der ihn aus der Mitte der natürlichen Zentralposition nimmt und zur konstruktiven Erneuerung des nicht mehr Selbstverständlichen zwingt. Durch anthropologische Konstruktionen reagiert er auf die vielfältigen Erfahrungen seiner Dezentrierung mit der Erneuerung eines Selbstbezugs, in dem er sich im Bewusstsein der Gefährdung seiner Zentralposition zu sich selbst ermächtigt. Die Kränkung des Verlustes; die Erfahrung der Grenzen des Machbaren; schließlich das Bewusstsein, in nicht verfügbaren Zusammenhängen zu leben, die Einsicht in die Notwendigkeit, Abhängigkeiten zuzulassen, deren Aufkündigung das eigene Leben gefährden würde – all diese vielschichtigen und mehrdeutigen Erfahrungen werden durch das Konzept der Lebensführung und der Selbstermächtigung zur existentiellen Herausforderung gewendet, an der Menschen sich bewähren und steigern, an der sie freilich auch scheitern können. »Als einer, der zu sich ermächtigt ist, findet der Mensch sich verantwortlich oder frei.«20 Menschen müssen sich für eine bestimmte Lebensführung entscheiden und mit dieser Entscheidung die Verantwortung auch für die Komplexität der ihnen nicht verfügbaren Lebensumstände übernehmen. In der offenen Situation des Scheiterns oder Gelingens ihres Lebens erschließt sich ihnen dabei eine neue Dimension von Freiheit. Nur dann, wenn sie im Bestehen auf dem, was ihnen wichtig und unverzichtbar ist, dessen Scheitern riskieren, kann gelingen, was ihnen als ein erfülltes, ganzheitliches Leben vorschwebt. Jeder Versuch, ein eigenes Leben zu führen, wird modifiziert durch die Umstände und die Eigengesetzlichkeit dieses Lebens selbst. Es ist diese Spannung des offenen Ausgangs eines nicht länger durch den Anschluss an fraglos geltende Traditionen oder übermächtige Autoritäten gesicherten Lebens, die Leben zum Zusammenhang einer in sich stimmigen Biographie schließt. In der Selbstermächtigung zum Beginn von etwas Neuem nehmen sich Menschen die Freiheit, aus den strukturellen Vorentscheidungen ihres Lebens auszusteigen. Die Radikalität dieser Entscheidung, sich auf ein strukturell entsichertes Leben einzulassen, wird nicht dadurch gemindert, dass der Ausstieg aus diesen dezisionistisch nicht verfügbaren Strukturen immer nur ein fiktiver sein kann. Gerade in der Simulation des als ob, in der fiktiven Überschreitung der immer begrenzten individuellen Möglichkeiten auf die Unendlichkeit des menschlichen Freiheitsdrangs wird Freiheit zur Grenzerfahrung. Das Paradox dieser Grenzerfahrung liegt darin, in der radikalen Selbstermächtigung zur Freiheit Verantwortung auch für jene nicht verfügbaren Dimensionen des Lebens zu übernehmen, in denen Menschen in einem ihr Leben transzendierenden Zusammenhang stehen. Was ih20. Plessner (1981, S. 200). 118

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nen nur bedingt durchschau- und verfügbar ist und sich gleichsam durch die unsichtbare Hand übermächtiger Sinngebungsinstanzen zu Bedeutungen und Ergebnissen zu fügen scheint, die von den Einzelnen so nicht intendiert waren, kann Menschen gerade deshalb dazu provozieren, sich nun erst recht die Freiheit zu nehmen, ihr Leben so zu führen, als läge es allein an ihnen selbst, aus ihm das zu machen, was ihnen ihr Glücksanspruch als ein erfülltes Leben verheißt. Diese Konstellation lässt jedoch auch die andere Möglichkeit offen – ihr Leben so zu führen, dass das, was auch ohne sie schon so ist, wie es ist, sich in unbefragter Selbstverständlichkeit einfach fortsetzt. Gegen das Pathos der unbedingten Entgrenzung menschlicher Freiheit um ihrer selbst willen schließt die liberale Selbstverpflichtung auf Freiheit deren reflektierte Selbstbegrenzung ein. Die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte wie die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens oder die Unverletzbarkeit menschlicher Würde setzen menschliche Freiheitsrechte in den Zusammenhang einer Selbstverpflichtung auf ihren verantwortlichen Gebrauch. Es gibt keine transzendentale, wissenschaftliche, anthropologische oder wie auch immer gegründete Garantie eines Lebens in Freiheit und Würde. Ohne den inneren Drang nach Freiheit, der sich strukturelle Bedingungen eines Lebens in Freiheit in Auseinandersetzung mit historischen und naturgegebenen Bindungen menschlicher Existenz erst schafft, ist Freiheit nicht möglich. Erst dann weichen Aufgeregtheit, Verzweiflung, Ernüchterung oder Desillusionierung angesichts der ideologiekritischen Zerstörung verlässlich geglaubter normativer und sittlicher Grundlagen menschlicher Existenz im Ergebnis einer generalisierten Verdachtslogik der unaufgeregten Gelassenheit, auch ohne solche Sicherungen leben zu können. Es gibt keinen Grund zu verzweifeln, wenn sich universale Gründungen des Humanismus auf einem »freischwebenden zeitlosen Vernunftfundament«21 als haltlos herausstellen. Erst im Verzicht auf die problematisch gewordene Annahme »einer für alles Menschliche verbindlichen Menschlichkeit« wächst die Souveränität selbstbestimmter Lebensführung, die »im Bewusstsein der Endlichkeit, Vergänglichkeit und Rückhaltlosigkeit«22 menschlichen Lebens Menschen an die vernünftigen Grenzen ihrer Selbstverpflichtung auf eine Humanisierung der Verhältnisse führt. Für Plessner bleibt Philosophie auch und gerade nach der Zerstörung freiheitsverbürgender normativer Sicherungen auf Freiheit bezogen. In der Selbstverpflichtung auf eine Menschen gemäße Lebensführung, menschengemäß in ihrer perspektivischen Verschränkung von Selbst-, Mit- und Umwelt, sucht die Philosophie den Königsweg moralisch nicht korrumpierter, wissenschaftlich aufgeklärter Selbstfin21. Plessner (1982, S. 204). 22. Plessner (1982, S. 204f.). 119

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dung des Menschen als Möglichkeit offen zu halten. In ihr stellen sich Menschen dem »Konflikt zwischen dem Anspruch auf außerzeitliche Geltung der Werte und Gebundenheit des wertenden Menschen an einen natürlich-geschichtlichen Standort«,23 in dem sie sich selbst mit eigenen Entscheidungen und normativen Setzungen behaupten müssen. Die Rede von der »Würde und Unverlierbarkeit des Seins, das sich selbst und als Selbst besitzt«,24 die Verpflichtung also auf die Autonomie menschlichen Selbstseins, das seine Würde in der Übernahme der Verantwortung für sein Tun behauptet, um sich darin in der Herausforderung moralischer Bewährung als zurechnungsfähiges Subjekt zu beweisen, schreibt die Seinsbindung der Philosophie zur existentiellen Situation des Menschen in der Entscheidung fest. Im Pathos eines selbstbestimmten Lebens kompliziert sich menschliche Lebensführung zur Entscheidung für das in seinem Ausgang nicht Vorhersehbare. In der Ungewissheit, dieser Herausforderung gewachsen zu sein oder an ihr zu scheitern, wird menschliches Leben zur Unbestimmtheit des vorab nicht Bestimmbaren. Diese Gebrochenheit menschlicher Existenz, ein Leben führen zu müssen, ohne sich der möglichen Einlösung des Freiheitsversprechens sicher sein, ohne sich also gegen mögliche Frustrationen dieses Versprechens oder gegen das eigene Scheitern und Versagen absichern zu können, wird zum Dauerzustand eines Lebens in der offenen Situation seines vorab nicht mehr kalkulierbaren Verlaufs. Auf der Suche nach seinen historischen Wurzeln verschiebt der Mensch den Schwerpunkt seines Daseins. Nur dadurch, dass er sich seiner historischen Herkunft zuwendet, erschließt sich ihm Zukunft. Im Versuch, sich historisch zu verorten, ist er »in unvorhersehbarer Weise und Richtung immer über sich hinaus«.25 Die Sicherheit verheißende Suche nach einer historisch gegründeten Existenz tradierter Zugehörigkeit wird in der menschlichen Suchbewegung nach einem verlässlichen Halt zur Haltung, die Kontingenz des Lebens als anthropologische Unruhe und bleibende Herausforderung menschlicher Lebensführung zu akzeptieren. Ohne je bei sich anzukommen, ist der Mensch entweder immer schon über sich hinaus oder bleibt er hinter sich zurück. Die bleibende Gegenwart der Ankunft bei sich selbst, die Zukunft zum eingelösten Versprechen der Vergangenheit in der Heilsgewissheit einer Gegenwart stillstellen würde, ist Menschen nicht gegeben.

23. Plessner (1982, S. 206). 24. Plessner (1982, S. 207). 25. Plessner (1982, S. 44). 120

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LEBENSFÜHRUNG IN EXZENTRISCHER POSITIONALITÄT

Literatur Bialas, Wolfgang (2000), »Die verspätete Nation der Deutschen. Helmuth Plessner Deutschlandbuch«, in: Bialas, Wolfgang (Hg.), Die nationale Identität der Deutschen. Philosophische Imaginationen und historische Mentalitäten, Frankfurt a. Main: Peter Lang, S. 115-143. Eßbach, Wolfgang (1994), »Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie«, in: Dux, Günter/Wenzel, Ulrich (Hg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes, Frankfurt a. Main: Peter Lang, S. 15-44. Fischer, Joachim (2000), »Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der Philosophischen Anthropologie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 48, S. 265-288. Haucke, Kai (2000), Plessner zur Einführung, Hamburg: Junius. — (2003), Das liberale Ethos der Würde, Würzburg: Königshausen und Neumann. Krüger, Hans-Peter (1996), »Angst vor der Selbstentsicherung. Zum gegenwärtigen Streit um Helmuth Plessners philosophische Anthropologie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 44, S. 271-300. — (1999), Zwischen Lachen und Weinen, Berlin: Akademie-Verlag. Plessner, Helmuth (1975), Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York: Walter de Gruyter. — (1981), Macht und menschliche Natur, Gesammelte Schriften, Bd. V, Frankfurt a. Main: Suhrkamp. — (1982), Die Verspätete Nation, Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt a. Main: Suhrkamp.

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STUFEN DER SINNHAFTIGKEIT

Stufen der Sinnhaftigkeit. James George Frazer auf dem Weg von der Auf- zur Abklärung Klaus E. Müller

An einem schönen späten Septembertag schreitet ein Mann auf halber Höhe in einem deutschen Mittelgebirge mit rüstigem Schritt auf einem Wanderweg dahin, der leicht ansteigt. Er gewinnt an Höhe und Weitblick. Beides erhebt ihn, emotional. Er hält inne, um sein Auge über das grüne Tal tief unter ihm gleiten zu lassen, das ein blitzender Fluss durchzieht, den einzelne kleine Weiler säumen, die ein Kirchturm, von einer roten Zwiebelkuppe gekrönt, überragt. Bestrickt von dem Anblick, bemerkt er nicht, dass ein anderer auf leisen Sohlen hinter ihn tritt, seinen Wanderstab, der unten mit einer stählernen Spitze bewehrt ist, anhebt und mit voller Wucht auf seinen linken Stiefel stößt. Feuerstrahlartig durchfährt ihn der Schmerz; aufstöhnend verkrümmt er sich und blickt fassungslos seinen Peiniger an, dessen höhnisches Lächeln der silbrigen Sichel des abnehmenden Mondes in seiner schmalsten Phase gleicht. Mit sichtlichem Behagen kostet er den durchschlagenden Erfolg seines Anschlags aus. Der Getroffene versteht die Welt nicht mehr. Ihm ist leibhaftige Kontingenz widerfahren, deren Sinn ihm nicht einleuchten will. Eine Erklärung, die sein Auge von dem anderen fordert, wird ihm nicht zuteil. Der nämlich macht sich schon wieder davon, seinen Stab mit der Hand in kreisende Bewegung versetzend. Nur die Melodie, die er summt, bleibt noch für einige Schritte lang hörbar und verklingt dann. Der nunmehr um seine Fußfertigkeit wie sein Glücksempfinden Gebrachte schleppt sich mühsam zur nächsten Bank, setzt sich und fällt ins Sinnieren. Er wollte nach oben, kam gut voran, bis sein Bemühen, ebenso schmerzlich wie unverhofft, von einem anderen, der offenbar nicht vermögens war zu begreifen, worum es ihm ging, und den sichtlich niedrige, bösartige Instinkte beherrschten, vereitelt wurde. Fortschritt, so sagte der »Befremdete« sich, während er vorsichtig den Stiefel aufschnürte und vom Fuß streifte, ist möglich, so man sich im123

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KLAUS E. MÜLLER

merzu strebend bemüht. Doch droht ihm ständig Gefahr durch das widersinnige Handeln anderer, denen es an der Vernunft, die ihn trägt, und der Sittlichkeit, die aus dieser erwächst, gebricht. Dies war das Credo des Evolutionismus, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts im alten Europa in Flor stand. Zug um Zug sich ihres äffischen Erbes entschlagend, hatte die Menschheit sich emporgearbeitet. Ihre Vernunft blühte auf. Und ein Geschenk dieser Entwicklung war die Erkenntnis, dass man einander Gutes tun müsse – schon, um auch selbst von den guten Taten anderer profitieren zu können. Kategorisch forderte der Denker von Königsberg: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.«1 Im Gegensatz zur Religion hielt man die Moral für entwicklungsfähig. Und die Vernunft, so Eduard Westermarck (18621939), spiele dabei eine »unschätzbare Rolle«.2 Moral stützt sich, wie Émile Durkheim (1858-1917) deklarierte, »einzig auf die Ideen, die Gefühle und Praktiken, die von der Vernunft abhängen«;3 ihre fortschreitende konsequente Rationalisierung müsse als »Auftrag unserer gesamten historischen Entwicklung begriffen werden«.4 Der Weg hinauf bis zur Höhe dieser fortschrittlichen Gedankenverknüpfung war steinig und weit gewesen. Der französische Evolutionist Charles Letourneau (1831-1902) unterteilte ihn in die folgenden Phasen: 1. Morale chez les animaux ; 2. Morale bestiale, das heißt die Sittlichkeit der prähistorischen Menschheit, charakterisiert unter anderem durch sexuelle Zügellosigkeit, Faustrecht, Infantizid und Altentötung; 3. Morale sauvage, das heißt die Sittlichkeit der klassischen »Naturvolkgesellschaften«; typisch dafür unter anderem: Blutrache und Kannibalismus; 4. Morale barbare, das heißt die Sittlichkeit der Archaischen Hochkulturen, gekennzeichnet unter anderem durch Despotie, Sklaverei und Prostitution; und schließlich 5. die Morale industrielle ou mercantile.5 Aber der Fortschritt hinterließ Ruinen und Relikte. Sein »Pfad ist«, beschrieb bildgewaltig der seinerzeit viel gelesene englische Mathematiker und Biologe Charles Pearson (1857-1936), was er rückblickend sah, »übersät mit verfaulenden Gebeinen alter Nationen, überall können wir die hinterlassenen Spuren minderwertiger Rassen sehen […] die nicht den engen Pfad zur Perfektion gefunden haben«.6 Einzelne Individuen lebten, gleichsam als Untote, auch in den europäi-

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Kant (1962, S. 43, Hervorhebung im Original). Westermarck (1909, S. 588f.). Durkheim (1973, S. 59; vgl. auch S. 61, S. 164f.). Durkheim (1973, S. 61). Letourneau (1887). Nach Koch (1973, S. 117f.). 124

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schen Gesellschaften noch fort. Nach wie vor ausgeliefert den niederen Trieben ihrer »Steinzeitmoral«, suchten sie andere durch bösen Zauber zu schädigen, huldigten blutigen heidnischen Ritualen, wurden auffällig als Kriminelle und zogen überhaupt Genuss daraus, ihren Mitmenschen übel mitzuspielen, indem sie ihnen zum Beispiel den Wanderstab auf die rüstig voranschreitenden Füße stießen. Aufklärung tat weiterhin not. Die Evolutionisten sahen sich vor allem dazu berufen. Einer ihrer größten Vertreter war der britische Ethnologe James George Frazer (1854-1941). Doch es lebten mehrere Seelen in seiner Brust. Er hatte neben Klassischer Philologie und Philosophie auch Jurisprudenz und Physik studiert, schrieb Gedichte und tat sich als Literaturwissenschaftler hervor. Und er lebte, arbeitete und publizierte noch, als der Evolutionismus, zumindest in der Ethnologie, längst anderen Lehrmeinungen gewichen war. Das verlieh ihm ein ganz besonderes Profil, erhob ihn in einmaliger Weise über die Zunft hinaus. Frazer war Spross einer schottisch-großbürgerlichen Kaufmannsfamilie in Glasgow. Mütterlicherseits mit den Stuarts und Cromwells verwandt, hatte er in der väterlichen Linie mindestens einen Earl zum Ahnen. Dem Adel verpflichtet, nahm er sein Studium schon mit fünfzehn Jahren an der Universität seiner Heimatstadt Glasgow auf, beginnend mit den traditionsreichen Fächern Klassische Philologie, Philosophie und Physik. Im letzteren Fall zählte zu seinen bevorzugten Lehrern kein Geringerer als William Thomson (1824-1907), der spätere Lord Kelvin of Largs, der für seine bahnbrechenden Entdeckungen auf vielen Gebieten der Experimentalphysik 1906 den Nobelpreis erhielt. Zwanzigjährig wechselte Frazer, nach erfolgreicher Bewerbung um ein Stipendium, ans Trinity College der Universität Cambridge über, um dort auf Wunsch seines auf Pragmatik pochenden Vaters Jurisprudenz zu studieren. Sieben Jahre später erhielt er die Zulassung zum Anwalt am angesehenen Middle Temple in London, übte den Beruf jedoch niemals aus, da er inzwischen auf die Ethnologie gestoßen war, der er sich fortan mit vollem Herzen verschrieb. Privates trat in den Hintergrund. Erst mit 42 Jahren, nachdem er sein berufliches Feld längst bestellt hatte, gab er der gefeierten Kinderbuchautorin Lilly Grove, einer geborenen Französin, das Jawort fürs Leben – und hielt es bis ans Ende seiner Tage, unstreitig zu seinem Segen, mitunter zum Schrecken seiner Freunde. Frazers Weg zur Ethnologie führte über die Lektüre des Klassikers Primitive culture von Edward Burnett Tylor (1832-1917), der das Fach im Vereinigten Königreich erst eigentlich akademisch etablierte. Darin stand, richtungweisend für Frazer, geschrieben: »Die gebildete Welt Europas und Amerikas stellt praktisch einen Maßstab auf, wenn

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KLAUS E. MÜLLER

sie die eigenen Nationen an das eine Ende der socialen Reihe und die wilden Stämme an das andere Ende derselben stellt.«7 Abbildung 1: Frazer kommt zur Ethnologie

Quelle: Robert Ackerman: J.G. Frazer: his life an work, Cambridge: Cambridge University Press 1987, Abbildung 3.

7. Tylor (1873, S. 26). 126

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Dies war die evolutionistische Programmatik; es ging einhellig und geradewegs von unten nach oben, »bis zu uns herauf«, wie Tylor bekräftigt.8 Doch nicht nur papierne Gelehrsamkeit, auch Männerfreundschaft hatte die Hand bei der Neigungswende im Spiel. Frazer war dem in Cambridge lehrenden, bekannten Alttestamentler und Arabisten William Robertson Smith (1846-1894) seit längerem persönlich verbunden. Dieser, an sich zwar anglikanischer Geistlicher, aufgrund gewisser unbotmäßiger Lehrmeinungen jedoch von der Kirche kaltgestellt, diente ab 1881 seinem Vaterland als Herausgeber der Encyclopaedia Britannica. Und in dieser Eigenschaft suchte er, wie alle seinesgleichen, verzweifelt nach Autoren. Frazer schien ihm ein geeignetes Opfer. Er überredete ihn, die Artikel »Taboo« und »Totemism« zu übernehmen. Der Freund gab nach; sein Einstieg in die Ethnologie war vollzogen. Frazer war von enormem Fleiß und Engagement. Zwölf Stunden Arbeit pro Tag bildeten für ihn die Regel. Drohte er zu ermüden, half seine Frau nach. Sprachbarrieren kannte er nicht. Er las Altgriechisch so gut wie Englisch, fließend auch Italienisch, Spanisch und Niederländisch, konnte sich mühelos im besten Latein und Französisch ausdrücken, sprach ein passables Deutsch und besaß schon insofern optimale Voraussetzungen für seine vielgerühmte Gelehrsamkeit. Neidlos von Freund wie Feind anerkannt, umfasste sie neben der Ethnologie und ihren unmittelbarer benachbarten Fächern auch weite Teile der Naturwissenschaften, wie insbesondere Physik und Biologie. Hier konnte er jederzeit auch mit den größten Autoritäten, wie Lord Kelvin, sachverständig die neuesten Entwicklungen diskutieren. Sein Denken war bestimmt von den Idealen des englischen Empirismus und Rationalismus, speziell geprägt durch sein Studium der Physik, das ihn gelehrt hatte, das Universum, wie ein Biograph schreibt, »as regulated by exact and absolutely unvarying laws of Nature expressible in mathematical formulas« zu begreifen.9 Sein ethnologisches Erkenntnisinteresse war ebenso in der Tiefe wie breitenmäßig universal dimensioniert: »Die Ethnologie verfolgt das Ziel, das Wachstum, die Entwicklung und den Niedergang aller [!] menschlichen Einrichtungen von den ältesten bis zu den jüngsten Zeiten zu erforschen, indem sie die Tatsachen nicht nur in ihrer chronologischen Reihenfolge festhält, sondern sie auf ihre allgemeinen Ursachen, die in der physischen und geistigen Verfassung des Menschen und in dem äußeren Einfluß der Natur begründet sind, zurückführt.« Man habe sich, wie er unter erkennbarem Bezug auf die Maxime des Tacitus (ca. 55-120 n. Chr.) zu Beginn der Annalen (I 1) hinzusetzt, ständig bemüht zu halten, »ohne Vorurteile an sie [die Ethnologie] he8. Tylor (1873, S. 27). 9. Downie (1940, S. 6). 127

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ranzugehen und sie ohne Leidenschaft zu betreiben, immer eingedenk dessen, daß unser Ziel lediglich die Feststellung der Wahrheit und nicht die Austeilung von Lob oder Tadel ist; daß wir nicht Richter und erst recht nicht Anwalt sind, sondern nichts als Forscher; daß es uns in der Sprache Spinozas10 geziemt, humanas actiones non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere«11 – also »die Handlungen der Menschen weder zu verlachen, noch zu beklagen, geschweige denn zu verabscheuen, sondern zu verstehen«. Da die Ethnologie, wie er wiederholt betonte, noch am Anfang stehe, und wohl auch, weil er einen Experimentalphysiker zum Lehrer gehabt hatte, sah Frazer seine Aufgabe zuvörderst im Sammeln und Systematisieren von Fakten. Dies galt ihm als die notwendige Voraussetzung einer jeden Wissenschaft. Eben darum wurde er oft – und sichtlich von Leuten, die ihn nicht gründlich gelesen hatten – der Theorielosigkeit geziehen. Aber einem Gelehrten, dem Locke und vor allem Hume aufs beste vertraut waren, konnte das Verhältnis von Empirie und Theorie weder unbekannt noch gleichgültig sein. In der Tat bezog er auch dezidiert dazu Stellung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt könnten, da die Befundbasis noch zu schmal sei, Theorien nur eitle Spekulationen sein, vergänglich wie die »Sandburgen der Kinder«, die jede neue Flut fortspüle. Erst wenn »eine umfassende Sammlung und genaue Klassifizierung von Tatsachen« vorliege und eine hinreichend »breite und feste Grundlage für die induktive Erforschung des primitiven Menschen« biete,12 habe die Stunde der großen Denker, »der Newtons und Darwins der Anthropologie«, geschlagen.13 Sich selber am Sammeln im Feld zu beteiligen, zeigte er keinerlei Neigung; vermutlich hätte das seine Frau auch nicht zugelassen. Einmal befragt, ob er einen der Wilden, die er so lebendig beschreibe, schon jemals sozusagen in situ gesehen habe, entgegnete er abwehrend: »God forbid!« Trotz allen bekennenden Empirismus darf man Frazer doch fraglos zu den wenigen wirklich großen Denkern der Ethnologie zählen. Anders hätte er nicht der überragende Systematiker sein können, der er war; denn jede Systematik setzt zwingend ein theoretisches Konzept voraus, das ihre nomothetische Basis bildet. Frazer war eher so etwas wie ein hypochondrischer Kryptotheoretiker. Er vertrat seine Thesen nur selten explizit (wie z.B. in Totemism and Exogamy), vor allem später nicht mehr. Meist liegen sie verdeckt seinen großen systematischen Würfen,14 letzten Endes auch seiner Forderung zugrunde, die Ethnologie habe, wie jede andere Wissenschaft, die »allgemeinen 10. 11. 12. 13. 14.

Er bezieht sich hier auf Spinoza: Tractatus politicus I 4. Frazer (1932, S. 24, 25). Frazer (1932, S. 30). Frazer (1910, S. I, XVf.). Vgl. die Zusammenstellung seiner Hauptthesen in Frazer (1932). 128

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Gesetzmäßigkeiten« (general laws) zu erforschen, »welche die menschliche Geschichte in der Vergangenheit regierten und sie, sofern die Natur tatsächlich einheitlich ist, wohl auch in Zukunft regieren werden«.15 Letztere Zielsetzung rechtfertigte Frazer mit zwei Grundprämissen des Evolutionismus. Zum einen dürfe vorausgesetzt werden, dass die Geistigkeit aller Menschen (human mind) im wesentlichen gleich sei und bestehende Differenzen entweder in individuellen Abweichungen oder in den unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der Völker begründet lägen. Insofern kritisierte er auch die Auffassung seines Zeitgenossen Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939), die »Primitiven« charakterisiere eine spezifische, nämlich »prälogische« beziehungsweise »mystische« Art zu denken;16 eher handle es sich, wie zum Beispiel im Fall der totemistischen Klassifikationssysteme, um »a crude and barbarous philosophy«17 – ein Vorgriff um ein gutes halbes Jahrhundert auf Claude Lévi-Strauss! Zum andern sei auch der Mensch nur Teil der Natur, das heißt immer und überall ihren Gesetzen in gleicher Weise unterworfen.18 Dafür lieferte die Entwicklungsgeschichte der Technologie, Ergologie und selbst der Sozialorganisation, betrachtete man sie jedenfalls mit dem Auge des Evolutionisten, durchaus eine Bestätigung. Insofern schien die Sache hier abgetan; Frazers Geist fing beim Gedanken an Beile, Töpfe, Dreschflegel, Buckeldachhäuser oder die Regeln der maritalen Residenzordnung kein Feuer. Glaubenskonzepte wie Magie und Religion dagegen forderten ihn als nüchternen Rationalisten Hume’scher Prägung schon eher heraus. Beide schienen lediglich eine formale, weniger jedoch eine inhaltliche Entwicklung, geschweige denn Evolution, durchlaufen zu haben und waren zudem noch immer, zwei Jahrhunderte nach der Aufklärung, lebendig – im schottischen Hochland wie in der Westminster Abbey. Dies ging ihm nicht nur gegen den evolutionistischen Strich, es sprach auch seiner Vernunft- und Wissenschaftsgläubigkeit Hohn. Über vierzig Jahre lang widmete er diesem Problem seine bevorzugte Aufmerksamkeit. Das weckt die Vermutung, dass es vielleicht um noch mehr ging: den zähen Zank mit einem wohlverborgenen zweiten Ich, wie es offener in seinen poetischen und literaturwissenschaftlichen Neigungen zutage trat. Die Früchte der religionsethnologischen Forschungen Frazers füllen vor allem die ursprünglich zwei (1890), zuletzt zwölf Bände (31911-1915) seines vielbewunderten Monumentalwerks The Golden Bough, zu denen später (1936) noch ein Ergänzungsband Aftermath (»Spätheu«, »Nachspiel«) kam. Den Titel seines Opus magnum hatte er 15. 16. 17. 18.

Frazer (1913, S. 159f.). Vgl. Jones (1984, S. 52). Frazer (1910, I, S. 117f.; III, S. 118). Frazer (1913, S. 160ff.). 129

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KLAUS E. MÜLLER

der Aeneis Vergils (VI 137ff.) entnommen, da er die dort behandelte Geschichte um den »goldenen Zweig an beschattetem Baume« als Schlüsselerzählung für die frühen Stadien der Religionsentwicklung Abbildung 2: Der Urmensch wacht auf; Porträt eines ›Homo primigenius‹

(Rekonstruktionsversuch) von der Hand eines unbekannten Künstlers (Arztreklame).

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verstand. Sonst ist Wichtiges zu seinen Auffassungen in dieser Beziehung auch in Psyche’s task (1909, 21913) enthalten, einem Buch, das sein Protegé und Antievolutionist Bronislaw Malinowski (1884-1942) gar als seinen »vielleicht anspruchsvollsten und originellsten Beitrag zur Theorie [!] der Menschheitsentwicklung« pries.19 Frazer gliederte die geistesgeschichtliche Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart in die drei Stadien der »Magie«, »Religion« und »Wissenschaft« (science). Abbildung 3: Eckpunkte der intellektuellen Evolution des Menschen. Porträt eines Australiopithecinen Porträt Immanuel Kants

(Rekonstruktionsversuch) von der

Quelle: Will Durant: Die großen Den-

Hand eines unbekannten Künstlers

ker, Züric: Orell Füssli, 81947, S. 273

(Arztreklame).

Im »Zeitalter der Magie« (the age of magic) herrschte insgesamt noch »a lower intellectual stratum«;20 die Menschen glaubten alle Vorgänge in der Natur von dem mechanischen Walten unveränderlicher Gesetze bestimmt (»by the operation of immutable laws acting mechanically«).21 Diesen lagen letztendlich zwei Prinzipien der Wahrnehmungsassoziation zugrunde: 1. Ähnliches bewirkt Ähnliches, beziehungsweise eine Wirkung ähnelt ihrer Ursache. Dem entspricht das law of similarity, das die imitative (oder homöopathische), das heißt die Analogiemagie bestimmt. 2. Dinge, die einmal in Berührung miteinander standen, bleiben verbunden und wirken auch weiterhin, selbst über größere Distanzen hinweg, 19. Malinowski (1949, S. 182). 20. Frazer (1963, S. XX). 21. Frazer (1963, S. 224). 131

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aufeinander ein; dem entspricht das law of contact or contagion, das die Kontakt- und Übertragungsmagie bestimmt. Hier griff Frazer, nebenbei gesagt, wenn man so will, dem quantenphysikalischen Prinzip der »nichtlokalen Korrelation« vor! Beide elementaren Prinzipien der Magie wurzeln schließlich in der gemeinsamen, allgemeineren Grundlage der »sympathetischen Magie«, die vom law of sympathy bestimmt wird.22 Ohne Frage knüpfte Frazer mit seinem Dreifaltigkeitskonzept der Magie an seinen großen schottischen Landsmann David Hume (1711-1776) an,23 den er zwar nicht eigens erwähnte, aber wohl nur, weil er die Kenntnis seiner Schriften, die damals zur Pflichtlektüre in Gymnasien und erst recht bei Studenten zählten, bei Gebildeten seines Schlages ohne weiteres voraussetzen durfte. In An inquiry concerning human understanding hatte Hume die beiden Prinzipien Frazers bereits – gleichlautend – benannt und als universale »Prinzipien der Vorstellungsverknüpfung« bestimmt.24 Nur in einem Punkt wich Frazer von ihm ab. Bei Hume ist von drei Prinzipien die Rede: Ähnlichkeit und Kontiguität (contact or contagion) in Zeit und Raum werden bei ihm durch das Prinzip der Kausalität ergänzt. Frazer sah jedoch, zu Recht, wie ich meine, dies letztere in den beiden ersteren schon enthalten: Die Ähnlichkeits- wie die Kontiguitätsrelation stellen bereits, magisch verstanden, Kausalbeziehungen dar. Genuin leiten sie sich wohl aus der steten Erfahrung des sozialen Zusammenlebens in traditionellen Gesellschaften ab: Verwandte erscheinen ähnlich, weil sie eines Blutes sind und dieselbe Kultur miteinander teilen; sie stehen in enger Verbindung und bleiben es auch, wenn sie größere Entfernungen voneinander trennen. Der aktiv betriebenen »positiven« stellte Frazer dann noch, nicht wertend, sondern als Gegenpart, das Korpus der Meidungsgebote oder Tabus als »negative Magie« entgegen und vereinigte beide zu einem einzigen geschlossenen Ganzen, dem ersten fassbaren Sinnkonzept der Menschheit, demzufolge alles Geschehen in der Natur von Kräften beherrscht wird, die festen Regeln, beziehungsweise »Gesetzen« (laws) gehorchen. Ihre Kenntnis lieferte den Schlüssel zum Verständnis des Daseins und gab den Orientierungsrahmen für das Handeln ab. Ganz abgesehen davon, dass man hier wohl kaum von theoretischer Abstinenz sprechen kann, liegen die Analogien zum naturwissenschaftlichen Denken auf der Hand. Frazer verstand das auch so; er meinte nur, die Wilden hätten aus den gegebenen Vorstellungsassoziationen lediglich die falschen Schlussfolgerungen gezogen. In Überein22. Frazer (1963, S. 52-54, Kap. III 1: The principles of magic). 23. Vgl. Frazer (1913a, S. 11ff.). 24. Hume (1809, S. 24). 132

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STUFEN DER SINNHAFTIGKEIT

Abbildung 4: Schematische Darstellung des Magie-Konzepts Frazers; erweitert nach einer Skizze von ihm selbst

Kontaktmagie (Gesetz des Kontakts)

Positiv

Tabu

Kontaktmagie (Gesetz des Kontakts)

Negativ

Magie

Analogiemagie (Gesetz der Ähnlichkeit)

Praktisch (Magie als Pseudo-Technik)

Theoretisch (Magie als Pseudo-Wissenschaft)

Quelle: James George Frazer: The golden bough, part 1: The magic art and the evolution of kings, London: Macmillan & Co. Ltd., 31963, S. 54.

stimmung mit Tylor, der die Magie bereits als »eine sorgfältig und systematisch durchgeführte Pseudowissenschaft« charakterisiert hatte,25 bezeichnete er sie als »the bastard sister of science«.26 Den kontinuierlichen Aufstieg zur »richtigen Wissenschaft« verlegten jedoch in universaler Breitenentfaltung die Glaubensgebäude der Religion. Dass sie eine jüngere Erscheinung darstellte, folgerte er aus dem Umstand, dass sie ganz offiziell noch in der Gegenwart neben der Wissenschaft fortexistierte. Zudem sah er die Voraussetzungen zu den Vorstellungsverknüpfungen, die der Magie zugrunde liegen, bereits bei den Tieren angelegt: »Selbst die Tiere assoziieren die Vorstellungen von Dingen, die einander gleich sind oder die sie in ihrer Erfah25. Tylor (1873, S. 134). 26. Frazer (1963, S. 222; vgl. 220ff.). 133

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rung zusammen gefunden haben; und sie könnten schwerlich auch nur einen Tag leben, wenn sie das nicht täten. Aber wer schreibt den Tieren den Glauben zu, dass die Naturerscheinungen von einer Vielheit unsichtbarer Tiere oder von einem einzigen, ungeheuren, überwältigend starken Tier hinter den Kulissen bewirkt werden?«27 Den Übergang von der einen zur anderen Phase erklärte sich Frazer folgendermaßen: Ließen sich die Naturkräfte, wenn man nur die Regeln gut genug kannte, nutzen, ja beherrschen, mussten die intelligenteren Mitglieder der wilden Gesellschaften imstande gewesen sein, ihren Vorteil daraus zu ziehen. Da sie die »magic art« effizienter handzuhaben verstanden, stiegen sie alsbald zu Oberhäuptern auf. Die pristine Demokratie wandelte sich zur Autokratie, die frühen »Könige« allerdings auch mit einem Übermaß an Verantwortung für die Ihren belastend. Man erwartete von ihnen, dass sie vermöge ihrer besonderen magischen Gaben die Fruchtbarkeit von Boden, Vieh und Menschen, reiche Ernten, den Erhalt der Gruppe, ja der kosmischen Ordnung gewährleisteten. Schwanden ihre Kräfte, mussten sie daher um des Gemeinwohls willen einem Nachfolger Platz machen – das heißt sterben, analog zum im Korn verkörperten Göttlichen Kind von Himmel und Erde, das alljährlich der Sichel zum Opfer fällt, damit die Menschen überleben können. Frazer entwickelte so, die Zusammenhänge mit der Christus-Mythe nicht nur erkennend, sondern auch deutlich herauszustreichen bemüht, über die Tausende von Seiten des Golden Bough hin eine ebenso schlüssig entwickelte wie weit ausgreifende erste Theorie des Sakralkönigtums, die konsequent auf dem Magiekonzept aufbaut und ihre spezifische Auskleidung durch die religiöse Vorstellungswelt, den Mythos und die Kultpraxis der frühen Bodenbaukulturen erhält: Man könnte sie auch als erste ethnologisch überzeugende Theorie der traditionellen Agrarreligionen, speziell nur zugespitzt auf die Institution des Sakralkönigtums, bezeichnen. Frazer verschwieg nicht – darin war er immer von seltener Aufrichtigkeit – dass er vieles an Einsicht dabei dem deutschen Volkskundler Wilhelm Mannhardt (1831-1880) verdankte.28 Die Entwicklung ging weiter. Abermals waren es hellere Köpfe, Keimträger der Vernunft sozusagen, die erkannten, dass der Zauber trog, dass mit magischen Machenschaften nichts wirklich zu bewirken sei. Die meisten Vorgänge in der Natur vollzogen sich sichtlich auch ohne Zutun des Menschen. Daraus folgerten sie, dass es Wesenheiten von übermenschlicher Art geben müsse, die, unsichtbar hinter der Flucht der Erscheinungen waltend, die Geschicke der Welt bestimmten. Und der nächste Schritt, sie vorstellungsmäßig zu fassen, das heißt analogisierend auf anthropomorphe Weise nach dem eigenen, mensch27. Frazer (1932, S. 210). 28. Frazer (1963, S. XIIf.). Vgl. Insbesondere Mannhardt (1963). 134

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lichen Bild, bestand in der Personifizierung zunächst vor allem der besonders eindrucksvollen Naturphänomene (die Geburt der »Naturmythologie«!). Ihrer Überlegenheit wegen konnten sie zu nichts – auch nicht durch Zauber – gezwungen, sondern allein durch Demut und Dienen, durch Gebete, Opfer und Kult gnädig gestimmt und bei Unmutsausbrüchen wegen allzu schwerwiegender Vergehen der Menschen versöhnt werden – das »Zeitalter der Religion« (the age of religion) war heraufgezogen, ein neuartiges Sinnsystem entstanden.29 Frazer beschrieb die denkwürdige Wende einmal so: »So muß unser primitiver Philosoph«, nachdem er erkannt hatte, dass »sein mühseliges Abrackern nutzlos vertan, sein wißbegieriger Scharfsinn zwecklos verschleudert worden war«, er »an Drähten gezogen hatte, an denen nichts hing […] abgetrieben von seinem alten Ankerplatz und hin- und hergeworfen auf dem bewegten Meer des Zweifels und der Unsicherheit, sein altes, frohes Vertrauen zu sich selbst und seinen Kräften [im ›Zeitalter der Magie‹] grob erschüttert, traurig verwirrt und erregt gewesen sein, bis er, wie in einen ruhigen Hafen nach stürmischer Fahrt, in einem neuen Glaubens- und Lebenssystem zur Ruhe kam.«30 Das klingt fast wie ein nostalgischer Nachruf auf unsere Vorangegangenen. Aber es zeigt Frazer, wie er war: einerseits kruder Rationalist, der die geistige Entwicklung der versunkenen Geschlechter mit kaltem Skalpell, bis in die Hirnhöhle hinein, sauber seziert, gleichzeitig aber auch Literat mit zarten lyrischen Obertönen. Auch saß ihm das Kettenhemd des Evolutionismus nicht allzu enge. Die Irrtümer der Vergangenheit, die magischen und religiösen Wahnvorstellungen, abstrusen Brauchtümer und Institutionen hatten, wiewohl auf dem schlüpfrigen Grund fehlerhafter Erkenntnisse und Schlussfolgerungen gewachsen, doch auch ihr Gutes: Sie trugen entscheidend mit dazu bei, den Bestand der wilden Gesellschaften, ihre Rechts-, Sozial- und Heiratsordnung, den Schutz des Eigentums und die Achtung des menschlichen Lebens zu sichern – kurz: Sie hielten »the whole fabric of civil society« intakt.31 Und mit diesem dezidierten Bekenntnis formulierte er bereits 190932 nichts weniger als das Grundpostulat des Funktionalismus, dass nämlich die Kultur einer Gesellschaft insgesamt die Funktion erfüllt, diese ebenso leistungs- wie lebensfähig zu erhalten. Dies bildete das Resümee von Psyche’s Task, der Schrift, die Malinowski, neben Alfred Reginald Radcliffe-Brown (1881-1955), dem Mitbegründer des ethnologischen Funktionalismus, wohl nicht von ungefähr so hoch einschätzte. Wenn man so will, reichen die Parallelen noch weiter. 1907 er29. 30. 31. 32.

Frazer (1963, S. 222ff.); vgl. a. Frazer (1926). Frazer (1932, S. 212f.). Frazer (1913, S. 154). Dem Jahr der Erstauflage von Psyche’s Task (Frazer 1913). 135

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hielt er einen Ruf an die Universität von Liverpool. Er sollte dort, als erster und erstmals unter dieser Fachbezeichnung, eine Professur für »Social Anthropology« bekleiden, dem Begriff, der später über Jahre hin für den Funktionalismus stand. Frazer folgte dem Ruf auch, kam der ihm ungewohnten Lehrtätigkeit jedoch nur wenige Monate nach, um sich gleich wieder, fast fluchtartig, in seine Gelehrten-Einsiedelei unter der Obhut seiner Frau nach Cambridge zurückzuziehen. Sir James war ein kritischer, kein dogmatischer Evolutionist. Mit den Jahren schwächte sich seine anfängliche Aufklärungseuphorie ab und wich relativierendem Zweifel, wie ihn Gerontengelehrsamkeit reifen lässt, zumindest in Köpfen, denen der Schnee von etlichen Wintern die geistige Frische noch nicht ganz zum Gefrieren gebracht hat. Er maß nunmehr, etwa mit Eintritt in sein siebtes Lebensjahrzehnt, der Diffusion von Kulturelementen fast die gleiche entwicklungsgeschichtliche Bedeutung wie ihrer unabhängigen Parallelentstehung, der Konvergenz, bei, einem zwingenden Postulat des Evolutionismus.33 Die Matriarchatshypothese, die zu den Dogmen des evolutionistischen Lehrgebäudes zählt, bezeichnete er als »einen Traum von Schwärmern und Pedanten«.34 Und ganz nebenbei nahm er die Grundthese der »evolutionären Erkenntnistheorie« von Konrad Lorenz (1903-1989), Gerhard Vollmer (geb. 1943) und anderen vorweg, dass der Erkenntnisfortschritt sich an der zunehmenden »Passung« (Vollmer) der Theorien auf die Gegebenheiten der Wirklichkeit, das heißt ihrer empirischen Bewährung, gleichsam ablesen lasse.35 Doch galt ihm auch dies nur unter Vorbehalt. An sich nämlich kam er dahin, die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten, bei allem erfahrungsgestützten Rationalismus und wiederum ganz im Gegensatz zur Fortschrittsgläubigkeit der Evolutionisten, eher skeptisch zu beurteilen, auf jeden Fall aber für begrenzt zu halten.36 Seine Zeitgenossen indes sahen gerade in ihm die glänzendste Bestätigung für geistigen Fortschritt und die unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten der menschlichen Intelligenz. Anatole France (1844-1924) verglich ihn mit Charles de Montesquieu (1689-1755), Malinowski unter anderen mit Thomas More (1478-1535), Francis Bacon (1561-1626) und Johann Gottfried von Herder (1744-1803). Sich selbst bezeichnete er als gelehrigen Schüler des Golden Bough37 und attestierte seinem großen Gönner eine ungewöhnliche Intuition und Kreativität und wollte ihn auf jeden Fall »zu den größten Lehrern und Meistern der ganzen Welt« gerechnet wissen38 – eine Huldigung, die eben33. 34. 35. 36. 37.

Vgl. Frazer (1919, S. 106f.), (1932, S. 46ff.). Frazer (1963a, S. 211). Frazer (1926, S. 1-3). Frazer (1926, S. 3ff.), (1932, S. 51f.). Vgl. Downie (1970, S. 86). 136

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so für Malinowski selbst spricht, da er selber ja geradezu konträre Auffassungen vertrat. Und da sie nicht so recht ins Bild des großen Klassikers unter den Funktionalisten passt, ignorierte man sie denn auch später geflissentlich. Aber es gab noch mehr der ärgerlichen Beispiele. Der kühlere Radcliffe-Brown, dem man dergleichen noch weniger zutrauen mochte, rühmte Frazer immerhin als »einen der großen und inspirierenden Führergestalten dessen, was man als den ›neuen Humanismus‹ bezeichnen könnte« – er musste es wissen. Lady Lilly beklagte sich einmal: »Wir hören von Radcliffe-Brown nur, wenn er eine Empfehlung braucht«.39 Abbildung 5: Sir James und Gemahlin

Quelle: Robert Ackermann: J.G. Frazer: his life and work, Cambridge: Cambridge University Press 1987, Abb. 9 und 10.

Frazer besaß einen Nimbus, den man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Er übte nachweislich Einfluss auf so namhafte Gelehrte aus wie zum Beispiel Émile Durkheim (1858-1917), Wilhelm Wundt (18321920), die Ethnologen Konrad Theodor Preuß (1869-1938), Richard Thurnwald (1869-1954), Robert Ranulph Marett (1866-1943) und Andrew Lang (1844-1912), den Historiker Arnold Toynbee (1889-1975) und die Philosophen Henri Bergson (1859-1941) und Ludwig Wittgen-

38. Malinowski (1949, S. 173f.). 39. Downie (1970, S. 86). 137

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Abbildung 6: Frazer erblindet und abgeklärt

Quelle: Robert Ackermann: J.G. Frazer: his life and work, Cambridge: Cambridge University Press 1987, Abb. 11.

stein (1889-1951), der zu seinen größten Bewunderern zählte.40 Er war so beeindruckt vom Golden Bough, das er ihm eine eigene Abhandlung widmete.41 Der so ins Licht allseitiger Anerkennung Getauchte selbst behauptete demgegenüber, in der guten alten Tradition britischer Un40. Malinowski (1949, S. 174f.), Downie (1970, S. 86f.). 41. Wittgenstein (1979). 138

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tertreibung, beharrlich, weder jemals einen Studenten noch Anhänger besessen, noch je auf irgend jemanden Einfluss gehabt zu haben.42 Frazer war zeitlebens scheu; er floh geradezu die Öffentlichkeit. Obwohl er sich oftmals mit Erfolg widersetzte, vermochte er doch nicht zu vermeiden, dass er zum Mitglied zumindest der angesehensten wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien der Welt gewählt wurde und man ihn mit Ehrungen und Auszeichnungen nur so überschüttete. Teils lag das natürlich an der Hochschätzung, die er überall genoss, teils aber auch den hartnäckigen Bemühungen seiner Frau, die ihren James George unbedingt in der ihm, wie sie überzeugt war, gebührenden Weise geehrt sehen wollte. Als er endlich, schon seit Jahren erblindet und nahezu neunzigjährig, von seinem irdischen Arbeitsfeld ins himmlische Jerusalem aufbrach, sah sich seine bessere Hälfte jählings ihrer Lebensaufgabe beraubt. Sie legte sich nieder – und folgte ihrem Gatten nur wenige Stunden später nach.

Literatur Downie, Robert Angus (1940), James George Frazer: the portrait of a scholar, London: Watts. — (1970), Frazer and the Golden Bough, London: Gollancz. Durkheim, Émile (1973), Erziehung, Moral und Gesellschaft: Vorlesungen an der Sorbonne 1902/1903, Neuwied: Luchterhand. Frazer, James George (1910), Totemism and exogamy: a treatise on certain early forms of superstition and society, 4 Bde., London: Macmillan. — (19132) (1909), Psyche’s task: a discourse concerning the influence of superstition on the growth of institutions, London: Macmillan. — (1913a), The belief in immortality, Bd. I, London: Macmillan. — (1919) (1918), Folk-lore in the Old Testament: studies in comparative religion, legend, and law, Bd. I, London: Macmillan. — (1926), The worship of nature, London: Macmillan. — (1932), Mensch, Gott und Unsterblichkeit: Gedanken über den menschlichen Fortschritt, Leipzig: Hirschfeld. — (1963), The magic art and the evolution of kings, Bd. I, London: Macmillan. — (1963a), Adonis, Attis, Osiris: studies in the history of oriental religion, Bd. II, London: Macmillan. Hume, David (1809), Essays and treatises on several subjects, Bd. II, Edinburgh: Bell and Bradfute. Jones, Robert Alun (1984), »Robertson Smith and James Frazer on religion. Two traditions in British social anthropology«, in: Stocking, George

42. Downie (1970, S. 86). 139

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W., Jr. (Hg.), Functionalism historicized: essays on British social anthropology, Madison: University of Wisconsin Press. S. 31-58. Kant, Immanuel (1962), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg: Meiner. Koch, Hannsjoachim W. (1973), Der Sozialdarwinismus: seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken, München: C.H.Beck. Letourneau, Charles (1887), L’évolution de la morale: leçons professées pendant l’hiver de 1885-1886, Paris: Bataille. Malinowski, Bronislaw (1949), »Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur«, in: Malinowski, Bronislaw, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze, Zürich: Pan, S. 45-170. Mannhardt, Wilhelm (19632), Wald- und Feldkulte, 2 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Tylor, Edward B. (1873), Die Anfänge der Cultur: Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, Bd. I, Leipzig: Winter. Westermarck, Edward (1909), Ursprung und Entwickelung der Moralbegriffe, Bd. II, Leipzig: Klinkhardt. Wittgenstein, Ludwig (1979), Bemerkungen über Frazers »Golden Bough«, Atlantic Highlands: Humanitas Press.

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SIND WIR NICHT ALLE CHINESEN?

Sind wir nicht alle Chinesen? Überlegungen eines Sinologen zum Menschsein Helwig Schmidt-Glintzer Wenn die Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht ausreichte, um den Faschismus zu besiegen, muß man weitergraben und nach den früheren Stationen der Aufklärung fragen.1

1. Einleitung Mir ist bewusst, dass die Ausgangsfrage »Sind wir nicht alle Chinesen?« eigentlich töricht ist. Dennoch will ich sie etwas weiter verfolgen, in der Hoffnung, dabei etwas mehr über die Chinesen wie über uns zu erfahren. Das Ganze ist auch eine Definitionssache: Wer Chinese ist, definiert die Zentralregierung in Peking, und wer welcher Minderheit angehört, definiert das Amt für nationale Minderheiten. Bekanntlich kann es vorteilhaft sein, sich einer Minderheit in China zuordnen zu lassen, wenn man etwa mehr als ein Kind haben will. Mancher will also gar nicht Chinese sein. Andere wieder müssen Chinesen sein, obwohl sie es nicht wollen, wie manche Taiwanesen beispielsweise. Und bei einem Blick in die Geschichte wird sehr schnell deutlich, dass es geradezu ein Konstituens der Chinesen ist, dass sie ursprünglich gar keine Chinesen, sondern Barbaren waren. Dies wird selbst in manchen Gründungslegenden so geschildert, wonach die Nähe zwischen Mensch und Tier nur graduell war. So gesehen sind wir doch potentielle Chinesen, nur hat uns die chinesische Zentralregierung noch nicht zu Chinesen gemacht. Übrigens: Auch aus europäischer Sicht galten die Chinesen mal als früh ausgewanderte Ägypter; auch waren sie in der europäischen Wahrnehmung nicht immer gelb, und irgendwann im 17. Jahrhundert soll sogar einer zu der Einsicht gekommen sein, dass Gott Chinesisch gesprochen habe. Ferner gibt es die Rede von der »gemeinsa-

1. Kluge (2003, S. 28). 141

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men Natur der Völker«2 und zahllose Thesen zum Ursprung und zur Diversität der Völker.3 Aus traditioneller chinesischer Sicht gilt aber, dass, um Chinese zu werden, ein Kultivierungsprozess notwendig ist. Umgekehrt hat es im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts die Vorstellung gegeben, die Frage der Gleichheit respektive Ungleichheit sei nur eine Frage der evolutionären Entwicklung bzw. der Entwicklungsstufe. So gesehen könnten wir auch fragen: Sind nicht alle Menschen Europäer, oder doch potentielle Europäer? Dann wäre die Frage zu stellen, ob es nicht für Chinesen leichter ist, Europäer, oder ob es für Europäer nicht leichter wäre, Chinesen zu werden. Vielleicht ist es aber wahrscheinlicher, dass es, wie es Kang Youwei im frühen 20. Jahrhundert im Datongshu (»Buch von der großen Gemeinschaft«) antizipiert hat, irgendwann zu einer Mischform kommt. Angesichts der globalen Entwicklungsprozesse in den letzten zwei Jahrhunderten spräche vieles dafür, alle zu Europäern zu machen, auch wenn die biologische Wahrscheinlichkeit eher dafür spricht, dass irgendwann alle mehr oder weniger Chinesen sein werden. Der Vorsprung der Europäer, der für eine Europäisierung der Welt spricht, war jedoch selbst erst eine Folge der Aufgliederung der Welt seit dem 17. Jahrhundert, insbesondere seit die Menschenkunde zur Völkerkunde wird, wie Christoph Martin Wieland 1785 bemerkte.4 Überhaupt hat dieser Artikel Wielands ja etwas Pragmatisches, wenn er etwa schreibt: »4. Die nützlichste, also die vornehmste, aller Wissenschaften, oder, noch genauer zu reden, diejenige in welcher alle übrigen eingeschlossen sind, ist die Wissenschaft des Menschen: Der Menschheit eignes Studium ist der Mensch. – 5. Die Wissenschaft des Menschen ist eine Aufgabe, an deren vollständiger reiner Auflösung man noch Jahrtausende arbeiten wird, ohne damit zu Stande gekommen zu seyn.« Wieland meint, man müsse »das Unterscheidende oder Charakteristische eines jeden Volkes, welches merkwürdig genug ist um die öffentliche Aufmerksamkeit zu verdienen, kennen lerne[n]: und dieses Charakteristische äussert sich gewöhnlich eben so wohl, ja oft noch stärker und auszeichnender, in Fehlern als in Vollkommenheiten.«5 Hierbei habe ich meine Mühe, Wieland zu folgen, und würde das Kennen lernen gerne prolongieren, sicher ganz im Sinne Wielands, der von einer Jahrtausende dauernden Aufgabe spricht, bevor ich auf 2. Siehe Vico (1990). 3. Siehe Borst (1957-1963). – Zusammenfassend für das 18. Jahrhundert jetzt Zedelmaier (2003). 4. Der Teutsche Merkur 1785, Drittes Vierteljahr, S. 197f. Zur Entdeckung der Welt um 1800 siehe Guthke (2001); s.a. Guthke (2003). 5. Der Teutsche Merkur 1785, Drittes Vierteljahr, S. 200. 142

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»Fehler« zu sprechen komme, auch wenn ganz im Wortsinne dies weithin die Fragestellung der Komparatistik war.6 Zugleich muss auf einen anderen Zusammenhang verwiesen werden, nämlich auf den der Referenzebene, auf die Weltvorstellung, die sich im Abendland in spezifischer Weise entfaltete und gründlich verschieden ist von dem Referenzrahmen der Chinesen. Dies wird deutlich, wenn wir Begriffe wie etwa Weltkultur, Weltgesellschaft, Weltliteratur und Weltbürgertum herausgreifen. Denn natürlich ist es immer die Umgebung, zu der sich der Einzelne ebenso wie jedes Kollektiv verhält. Es geht somit um das Weltverhältnis, wobei wir hier das spezifische Verhältnis zur Welt als ganzer einschließlich der Menschheit und ihrer einzelnen Gruppen meinen. Dieses spezifische Weltverhältnis ist, behaupte ich, in Europa früher entfaltet worden als in anderen Weltgegenden.

2. Das Weltverhältnis Der Weltbürger wird bei Sigmund von Birken 1669 erstmals nachgewiesen und ist eine Lehnübersetzung des »Cosmopoliten« und wird zu einem Schlagwort der Aufklärung.7 Während viele »welt«-Begriffe auf die so genannte Zwei-Reiche-Lehre zurückgehen, wie etwa »Weltkind« bei Luther (um 1520 Lk 16,8), aber auch Weltweisheit (seit 1528 Philosophie meinend), Weltrevolution (bei Herder 1784) und Weltreich (eigtl. irdisches Reich), Weltregierung (belegt 1620), Weltseele (belegt 1617) und Weltwunder (16. Jh.), kennen wir aus der Aufklärungszeit die Begriffe der Weltliteratur, wozu dann Goethe im Jahre 1827 ausführlicher sich äußert,8 sowie den Begriff der Weltverbesserung und der Weltwirtschaft (1776). Das Weltverhältnis blieb grundsätzlich verschieden in China und Europa und ist es bis heute. Und da liegt eine Hürde, die es uns erschwert, so einfach zwischen unserem ChineseSein und unserem Deutsch-Sein zu tauschen. Leibniz hatte zwar versucht, die Brücken zu schlagen, doch können seine Argumente heute wenig überzeugen. Im Speziellen liegt die Unterschiedlichkeit im besonderen Gottesverhältnis. Es geht also auch um Mensch und Gott. Denn wenn es um unser Menschenbild geht, müssen wir uns immer wieder, wie Jürgen Habermas es in seiner Dankrede nach der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001 in der Frankfurter 6. Warum, z.B., fehlte in China die Entwicklung hin zu einer rationalen Wissenschaft, so als wäre schon ausgemacht, dass der »Fehler« nicht gerade in dieser europäischen Entwicklung liegt. 7. Siehe Weigand (1968). 8. Koch (2002). 143

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Paulskirche formulierte, »die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abendländischen Säkularisationsprozesses in Erinnerung rufen«. Es geht also auch um die Beziehung zwischen Mensch und Gott, anders gewendet: um die spezifische Selbstthematisierung des Menschen. Insbesondere geht es um die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, die nicht einzuebnen ist. Ich greife hier Habermas’ Anmerkung zum 1. Buch Moses, 1,27 auf (»Und Gott schuf den Menschen, ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.«): »Dass der Gott, der die Liebe ist, in Adam und Eva freie Wesen schafft, die ihm gleichen, muss man nicht glauben, um zu verstehen, was mit Ebenbildlichkeit gemeint ist. Liebe kann es ohne Erkenntnis in einem anderen, Freiheit ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben.« Es geht um den Eigensinn, der eine Grundbedingung jeder Freiheit ist und der in der Außensicht als Eigenrecht zu gelten hat. Diesen Gedanken kann ich hier nicht weiter entfalten, sondern muss auf die gesamte Diskussion von Schöpfungsmythen hier wie dort verweisen. Während wir also in Europa auf einen Säkularisierungsprozess zurückblicken, ist in China lediglich ein Verblassen der Gottheiten erfolgt. Als Folge dieser »Degradierung« – den Begriff entlehne ich Theodor Reik9 – konnte man in China nicht nur gelassen mit den Göttern umgehen und sie nach Bedarf absetzen, sondern es ermöglichte auch einen entspannten Umgang mit fremden Göttern und Gottheiten. Diese Gelassenheit kennzeichnete den Umgang mit den Lehren des Buddhismus10 ebenso wie mit der christlichen Mission. Diese Lage wurde von G.W. Leibniz in einer seiner letzten Schriften als ein Verlust gesehen, den er zu heilen versuchte, indem er den Chinesen die natürliche Religion wiedergeben wollte, eine Spur, die Pater Wilhelm Schmidt etwa 300 Jahre später unter anderen Auspizien wieder aufgriff. Offensichtlich gibt es einen Unterschied, den ich hier festhalten möchte. Er bezieht sich auf das unterschiedliche Verhältnis zu Gott, welches zwar zunächst nur kollektiv etabliert wird, den Einzelnen dann aber wieder einholt. Es ist also auch die Frage, ob der Mensch um des Menschen willen – oder aber um seiner selbst willen – geschaffen wurde. Denn wenn es stimmt, was Jan Assmann unter dem Begriff der »monotheistischen Wende« so fasst, dass es als Folge eines Umsturzes und eines Einbruchs von außen (im Sinne einer Offenbarung) zu einem Aufsprengen der »ursprünglich ungeschiedenen Einheit von Herrschaft und Heil« gekommen sei,11 dann besteht eben doch ein fundamentaler Unterschied zwischen solcher religiös fundierter Welthaltung

9. Reik (1975, S. 157). 10. Siehe hierzu Schmidt-Glintzer (1999). 11. Assmann (2003, S. 69). 144

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einerseits und der chinesischen Welthaltung, die diesen Bruch nicht oder doch anders kennt. Nun könnte es aber sein, dass im Sinne der biblischen Wende sich nunmehr überall »Menschen in Freiheit zusammenschließen, um sich unter die Herrschaft eines mit Gott geschlossenen Bündnisvertrages zu stellen«.12 Und auch wenn es realistischer sein mag, diese aus einem »antistaatlichen Impuls« geborene »Freiheit« mit dem Begriff einer aufgeklärten Staatlichkeit zu verbinden, scheinen die Konflikte der Gegenwart unüberbrückbar und ermuntern nicht zu zukunftsfrohem Optimismus. Auch die These Gottfried Wilhelm Leibniz’ zur »natürlichen Theologie der Chinesen« hülfe uns nicht weiter, denn selbst wenn Leibnizens Behauptung von dem Selbstmissverständnis der Chinesen zuträfe, würden wir uns nicht sogleich auf gleicher Stufe mit den Chinesen befinden und daher eben auch aus grundsätzlichen Erwägungen nicht zum Chinesentum befähigt sein.13

3. Distanz zur Aufklärung. Die Vitalistische Variante Auch wenn wir also nicht so leicht zu Chinesen werden, ist doch seit der Zuordnung einzelner Weltgegenden zu unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Wunsch zur Überwindung dieser Unterschiede lebendig geblieben, eine Sehnsucht, die auf allen Seiten gepflegt wird und die erst in jüngster Zeit gelegentlich durch einen kulturellen Selbstbehauptungswillen konterkariert wird. Im späten 18. Jahrhundert sah man sich gern auf dem Scheitelpunkt der Weltgeschichte, deren Fortsetzung zu nicht geringem Teil durch die Spezifik der Diagnose des Eigenen und des Fremden jener Zeit prädisponiert wurde. Während Schiller die eigene Kultur nicht nur als Schuldner gegenüber den Alten, sondern auch gegenüber den anderen Regionen sah, wendet sich hundert Jahre später das Blatt, und das Altertum wird selbst zum Schuldner, die »Achsenzeit« wird für manche zur Wende zum Schlechteren, und aus der Schuldnerschaft gegenüber den Anderen wird die Sehnsucht nach der verlorenen Welt. Schiller noch konnte von einem weltbürgerlichen Band14 und einer historisch gewordenen

12. Assmann (2003, S. 67). 13. An dieser Stelle würde ich, wenn es die Zeit erlaubte, einen weiteren Diskurs eröffnen, der mir systematisch hierher zu gehören scheint, nämlich den der Menschenrechte. Denn in dieser Debatte, dazu gehört auch als Teildiskurs die Stammzellendebatte, gibt es unterschiedliche Priorisierungspragmatiken. Ich möchte es mit diesem Hinweis bewenden lassen. 14. Schiller (1980, hier Bd. IV, S. 756). 145

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Weltbürgerschaft sprechen: »Selbst in den alltäglichsten Verrichtungen des bürgerlichen Lebens können wir es nicht vermeiden, die Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die ungleichartigsten Perioden der Menschheit steuern zu unsrer Kultur, wie die entlegensten Weltteile zu unserem Luxus.«15 Durch die Verbindung der Welt wurde die Ungleichzeitigkeit der »ungleichartigsten Perioden der Menschheit« erst offenbar. Dort, wo die Menschheit ihren höchsten Stand erreicht hatte, »an den Ufern des Rheins« gewissermaßen, mischten sich die verschiedensten Elemente. Friedrich Schiller sah sein »menschliches Jahrhundert« als Folge der Anstrengung aller vorhergehenden Zeitalter.16 Er wusste um die Bestimmung durch den Geburtsort ebenso wie um deren Überwindbarkeit, wie er dies in dem Geburtstagsbrief an Goethe, datiert auf den 23. August 1794, formulierte: »Währen Sie als ein Grieche, ja nur als ein Italiener geboren worden, und hätte schon von der Wiege an eine auserlesene Natur und eine idealisierende Kunst Sie umgeben, so wäre Ihr Weg unendlich verkürzt, vielleicht ganz überflüssig gemacht worden.«17 Doch bald schon wurde das Griechische überschritten und die ganze Welt wurde zum Ort des Heils, der Flucht. So spricht Nietzsche im »Willen zur Macht« von einer Verbindung mit dem Süden, aber doch anders als Schiller: »Schritt für Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, über-europäischer, morgenländischer, endlich griechischer – denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und eben damit der Anfang der europäischen Seele, die Entdeckung unserer ›neuen Welt‹ –: wer unter solchen Imperativen lebt, wer weiß, was dem eines Tages begegnen kann? Vielleicht eben – ein neuer Tag.«18 Auf seine Weise gestaltet Gottfried Benn in seiner transhistorischen Attitude diese Wendung des 20. Jahrhunderts, die »Geschichtslosigkeit« Ostasiens in der Tradition Hegels bemühend (in einem Brief von 1954 an Emil Preetorius): »Eine Kunst uralt, geschichtslos, alterslos, aber noch heute uns, die Dialektiker und Schizophrenen, aufs erregendste berührend. […] Ihre Gedanken zur Kunst im allgemeinen sind die Gedanken eines Geistes, in dem der Osten und der Westen lebt, und dies in einem Augenblick, in dem der Westen über die Zwiespältigkeit seiner Grundlagen nicht zur Ruhe kommt.«19 Die Enttäuschung der Moderne eines Evola greift Benn unter 15. Schiller (1980, Bd. IV, S. 760f.). 16. Schiller (1980, Bd. IV, S. 766). 17. Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hg. von Emil Staiger (1977, Erster Band, S. 34-35). 18. Zitiert nach Wodtke (1963, S. 10). 19. Benn (1959-1961, Bd. IV, S. 334). 146

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Rückgriff auf Nietzsches »Wendung gegen die Geschichte« und auf Schillers Antrittsrede aus dem Jahr 1789 wieder auf und kommentiert: »Sie (sc.: die Geschichte) beginnt nach Evola zeitlich zwischen dem siebten und sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Was vorher liegt, nennt er die Traditionswelt. Machen wir uns den Zeitpunkt klar. Es ist die Zeit zwischen Homer und der griechischen Tragödie, vor Salamis. Im Osten wäre es das Jahrhundert von Lao-tse. […] Vor dem Verfall liegt nach Evola das dunkle Zeitalter des Orients, das eiserne des klassischen Altertums, das Zeitalter des Wolfs in den nordischen Ländern. Das ist die Traditionswelt. Dann beginnt die Moderne.«20 Diese Beschwörung der Traditionswelt als Untergrund der seelischen Ausstattung des Menschen findet sich bei Gottfried Benn auch an anderen Stellen, etwa in seinem Text »Der Aufbau der Persönlichkeit. Grundriß einer Genealogie des Ich«, wo er von den »orphischen Zellen« in der Seele und im Gehirn des okzidentalen Menschen schreibt: »Wir tragen die frühen Völker in unsrer Seele, und wenn die späte Ratio sich lockert, in Traum und Rausch, steigen sie empor mit ihren Riten, ihrer prälogischen Geistesart und vergeben eine Stunde der mystischen Partizipation. Wenn der logische Oberbau sich löst, die Rinde, müde des Ansturms der vormondalten Bestände, die ewig umkämpfte Grenze des Bewußtseins öffnet, ist es, daß das Alte, das Unbewußte, erscheint in der magischen Ichumwandlung und Identifizierung, im frühen Erlebnis des Überall und des Ewigseins.«21 Ich will diese psychedelische Position an dieser Stelle nicht durch eigene Anmerkungen vertiefen. Von dem Verlust wusste auch Schiller, der 1792 schrieb: »Dieselbe Kultur, welche in unserm Gehirn das Feuer eines fanatischen Eifers auslöschte, hat zugleich die Glut der Begeisterung in unseren Herzen erstickt, den Schwung der Gesinnungen gelähmt, die tatengreifende Energie des Charakters vernichtet.«22 Entwicklung ist nun einmal Verlust, der viele verschiedene Jahreszahlen kennt, etwa auch 1789, wie bei Hans Sedlmayr im »Verlust der Mitte«, der seine Einleitung zu dem gleichnamigen Buch mit den Worten beginnt: »In den Jahren und Jahrzehnten vor 1789 hat in Europa eine innere Revolution von unvorstellbaren Ausmaßen eingesetzt: […].« Und Sedlmayr spricht von einer »ungeheuren inneren Katastrophe«. An dieser »historischen Wende sind wir nicht nur historisch, 20. Benn (1959-1961, Bd. IV, S. 254). 21. Benn (1959-1961, Bd. I, S. 99). In dem Aufsatz »Provoziertes Leben« von 1943 verweist Benn auf den Beginn der Lösung aus der Sphäre der »prälogischen, aber noch erfüllungsfähigen Welten«, den er 1300 Jahre vor dem von ihm auf 800 n. Chr. datierten »Sockel von Borobudur« einsetzen lässt: Benn (1989, S. 314). 22. Schiller (1980, Bd. IV, S. 991f.). 147

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sondern ganz unmittelbar interessiert. Denn mit ihr beginnt unsere Gegenwart […].«23 Vom Reichsdeputationshauptschluss will ich hier nicht reden. Sedlmayr endet sein Buch mit dem Satz: »Was aber die Kunst betrifft, so wird es zunächst vielleicht noch nicht möglich sein, vielleicht noch lange nicht, etwas in die leere Mitte zu setzen. Dann aber muss wenigstens das Bewusstsein davon lebendig bleiben, dass in der verlorenen Mitte der leergelassene Thron für den vollkommenen Menschen, den Gottmenschen, steht.«24 Soviel nur zu den geistigen Unterströmungen nach dem Zeitalter der Aufklärung, dem wir verbunden sind und das uns doch auch davon trennt, uns mit China auf gleiche Augenhöhe zu begeben. Denn gerade diese Haltung des Gottmenschen hatte Lessing abgelehnt, der sagte: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!«25

4. Nur nicht Chinese werden Das Chinese-Werden wird natürlich nicht leichter durch den Blick in die Gegenwart, wenn wir etwa die Texte der jungen Literaten lesen, wie sie in den großstädtischen Milieus entstehen, wo von einer Neuen Menschheit (xin renlei) die Rede ist, wie sie Beate Geist in ihrer Untersuchung zur chinesischen Gegenwartsliteratur schildert,26 aber auch von Exzessen und menschenverachtenden Lebenslagen, die zu schildern ich an dieser Stelle mich scheue und wozu ich nur auf einschlägige Literatur verweise wie etwa den Kurzgeschichtenband »Das Leben ist jetzt« (shenghuo zai zishi).27 Es wird wohl noch einige Zeit dauern, dass wir, wenn wir dann noch dazu bereit sind, hoffen dürfen, Chinesen zu werden. Denn die Einheit des Menschengeschlechtes unter einer Sonne steht immer noch unter der Prämisse, dass der Aufbruch hierzu, in den Worten Ernst Blochs, unter einer Sonne stattfinde, »die doch zuerst, aktiv wie theoretisch, in Europa aufgegangen ist, und die eine Gemeinschaft wirklich ohne Sklaverei bescheinen möchte. Der westliche Fortschrittsbegriff hat immerhin in seinen Revolutionen keine europäische

23. 24. 25. 26. 27.

Sedlmayer (1965, S. 7). Seldmayer (1965, S. 191). Lessing (1989, Bd. 8, S. 510). Geist (2003). Meinshausen (2003). 148

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(freilich auch keine asiatische oder afrikanische) Spitze impliziert, sondern eine – ganze bessere Erde.«28 Wir sind eben bestenfalls davor, Chinesen zu sein! Sei es, weil Leibniz China als das Europa des Ostens apostrophierte, denn dann wären wir nur Zwillingsgeschwister der Chinesen bei zu vermutender Zweieiigkeit, sei es, weil es einem nach längerem Verweilen in chinesischer Umgebung so ergehen kann, dass man seine Andersartigkeit vergisst, was ja nur vorübergehende Einbildung bedeutet, sei es, wie ich selbst erlebte, dass ein Sinologe nach einem Chinaaufenthalt bei gemeinsamem Spaziergang in Japan gesteht: »Hier sieht man doch endlich wieder Nasen. Die Chinesen brauchen noch tausend Jahre, bis sie dahin kommen!« Wogegen sich dann wieder der Einwand ins Feld führen ließe, dass – die Japanologen mögen weghören – eine nur teilweise Sinisierung vielleicht dann doch einer vollständigen Tatamisierung vorzuziehen sei. Und bei all diesem Chinese-werden-Wollen sind uns – wie sollte es anders sein! – die Dichter vorangegangen. Wie Franz Kafka, der 1915 aus Marienbad auf einer Postkarte an Felice schreibt »Im Grund bin ich ja Chinese«, um seine Landschaftsempfindung zum Ausdruck zu bringen,29 jener Kafka, von dem Elias Canetti, der von der Sinologie wenigstens einiges verstand (was jeder weiß, der den Großsinologen Kien in Die Blendung kennen gelernt hat), sagte, er sei der einzige seinem Wesen nach chinesische Dichter. Ganz im Gegensatz zu Georg Christoph Lichtenberg (um 1772/1773), der notiert: »Chineser dürfen wir noch nicht werden«,30 und im Gegensatz auch zu Hermann Hesse 150 Jahre später (ca. 1921), der schreibt: »Wir können und dürfen nicht Chinesen werden, wollen es im Innersten auch gar nicht. […] Wir müssen China, oder das, was es uns bedeutet, in uns selber finden und pflegen.«31 Doch trotz aller dieser Reflexionen geht es dem Sinologen manchmal anders, wenn er sich die Finger in den Nachschlagewerken wundblättert und wenn er sich um das Verständnis des Chinesischen bemüht. Dann mag er mit dem großen Sinologen und Kulturhistoriker Bertold Laufer (1874-1934) klagen: »Wenn ich eines bedauere, ist es, nicht als Chinese geboren zu sein.« Wie schwierig dies wäre, wusste Fontane, der im »Stechlin« sagt: »Eher wird ein Chinese ein Christ als ein Christ ein Chinese«, eine Behauptung, der ich nur mit der eingangs gemachten Einschränkung beipflichten kann. Spannungsvoll war die Beziehung zwischen China und Europa

28. 29. 30. 31.

Bloch (1970, S. 146). Siehe Canetti (1982, S. 152). Lichtenberg (1978, S. 36). Materialien zu Hermann Hesses »Siddharta«, Hesse (1986, S. 26). 149

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ja immer, wie etwa in Thomas Manns Bericht über Lotte in Weimar (1939), in dem die einzelnen ihr Ressentiment gegen Goethe empfinden und ausdrücken dürfen, allen voran Charlotte Kestner geborene Buff. Als Goethe beim Mittagessen im Haus am Frauenplan auf einen »alten Globus« in der großherzoglichen Bibliothek verweist, auf dem über Deutschland vermerkt sei: »Die Deutschen sind ein Volk, welches eine große Ähnlichkeit mit den Chinesen aufweist«, relativiert der schwadronierende Tischredner und Alleinunterhalter Goethe diese Bemerkung als einen beliebigen Vergleich. Der Vergleich passe ebenso gut oder besser auf die Franzosen, deren culturelle Selbstgenügsamkeit und mandarinenhaft rigoroses Prüfungswesen sehr stark ins Chinesische schlügen. Außerdem seien sie Demokraten und hierin den Chinesen verwandt, wenn sie sie in der Radikalität demokratischer Gesinnung auch nicht erreichten. Die Landsleute des Confucius nämlich hätten das Wort geprägt: »›Der große Mann ist ein öffentliches Unglück.‹ Hier brach Gelächter aus an Goethes Tafel. […] Und etwas später: (in Thomas Manns Schilderung:) […] Nur Charlotte saß gerade aufgerichtet, in Abwehr erstarrt. […] Eine spukhafte Vision schwebte ihr vor: Unter Türmen und vielen Dächern und Glöckchen daran hüpfte ein altersnärrisches, abscheulich kluges Volk, bezopft, in Trichterhüten und bunten Jacken, von einem Bein aufs andere, hob abwechselnd die dürren Zeigefinger mit langen Nägeln empor und gab in zirpender Sprache eine äußerste und tödlich empörende Wahrheit von sich. Während aber dieser Alb sie heimsuchte, kroch dieselbe Angst, wie schon einmal, ihr kalt den Rücken hinab: es möchte nämlich das überlaute Gelächter der Tafelrunde bestimmt sein, ein Böses zuzudecken, das in irgendeinem schrecklichen Augenblick verwahrlost ausbrechen könnte, also, dass einer aufspringen, den Tisch umstoßen und rufen möchte: ›Die Chinesen haben recht!‹« – Soweit, als Ausklang gewissermaßen, zum Typus des Chinesen in der deutschen Literatur!

5. Schluss: Großer Mann oder Gottmenschen Dem Goethe Thomas Manns möchte ich aber doch gerne widersprechen. Er kommentiert das chinesische Wort vom großen Mann als öffentliches Unglück mit den Worten: »Ein solches Wort ist nun freilich eine schlechte Bestätigung der Weisheit unseres Globus. Bei dem dicidierten Anti-Individualismus solchen Bekenntnisses endigt sich die Verwandtschaft von Chinesen und Deutschen.«32 Denn bei aller in China früh bereits geäußerten Kritik am »Großen Mann« gibt es doch eine sehr differenzierte Vorstellung von Größe in China. Ich gebe ein 32. Doch Goethe relativiert seine Aussage dann noch einmal selbst: Mann (1939, S. 375). 150

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Beispiel und einen Beitrag zugleich zum Thema »Mensch und Natur in China« zum Abschluss, auch ein Beitrag zum Thema »Egozentrizität und Mystik«, wie es Ernst Tugendhat jetzt verhandelt hat, womit ich nun dem Jubilar etwas näher treten möchte, der ja wohl auch dem Chinesentum sich hin und wieder stark genähert hat: In dem Werk Rudao zhiren fu (Rhapsodie über die Vollendung im Eintreten in das Dao) heißt es: Wenn es einen Vollendeten gibt, der sich nicht um Ruhm schert, Wird er in das Dao eintreten und in der Wahrheit hausen. Er wird seinen Verstand brachliegen lassen und sein Wissen mindern. Er wird sich entziehen und sein Selbst aufgeben. Dann Wird er in tausend Klaftern Höhe eine Klause bauen, Fern von allem, Ein dunkler Raum, ganz abgeschieden in der Leere. […] Himmel und Erde wird er auf seine Einzigkeit beziehen, Wird auf dem Fleck seines Herzens die Vier Ozeane durchqueren Und sich aus irdischem Staub erheben, um der wahren Ansicht willen.33 Damit – mit dieser dichterischen Beschreibung der Emeritierung, die bekanntlich nicht mit der Vollendung des 65. Lebensjahres einsetzen muss – damit also beende ich meine Rede mit allen guten Wünschen und mit größtem Respekt und mit Bewunderung für Jörn Rüsen.

Literatur Assmann, Jan (2003), »Die Monotheistische Wende«, in: Müller, Klaus E. (Hg.), Historische Wendeprozesse. Ideen, die Geschichte machten, Freiburg: Herder, S. 44-69. Benn, Gottfried (1959-1961), Gesammelte Werke in vier Bänden, Wiesbaden: Limes. — (1989), Sämtliche Werke. Bd. IV, Prosa 2, Stuttgart: Klett-Cotta. Bloch, Ernst (1970), Tübinger Einleitung in die Philosophie, Gesamtausgabe Bd. 13, Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Borst, Arno (1957-1963), Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 4 Bde., Stuttgart: Hiersemann. Canetti, Elias (1982), Das Gewissen der Worte, Frankfurt a. Main: Fischer.

33. Yiwen leiju (Shanghai 1965), Kap. 36, S. 646f. 151

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Geist, Beate (2003), Die »neue Menschheit« in Chinas Großstädten. Eine Untersuchung zur chinesischen Gegenwartsliteratur, Hamburg: Institut für Asienkunde, Mitteilungen Band 369. Guthke, Karl S. (2001), Goethes Weimar und »Die grosse Öffnung in die weite Welt«, Wiesbaden: Harrassowitz. — (2003), »Die Entdeckung der Welt um 1800«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, S. 134-207. Hesse, Hermann (1986), Siddharta, Bd.1, Franfurt a. Main: Suhrkamp. Kluge, Alexander (2003), Die Kunst, Unterschiede zu machen, Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Koch, Manfred (2002), Weimarer Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff der »Weltliteratur«, Tübingen: Niemeyer. Lessing, Gotthold Ephraim (1989). Werke und Briefe, Frankfurt a. Main: Deutscher Klassiker Verlag, Bd. 8 (»Eine Duplik«). Lichtenberg, Georg Christoph (1978), »Lichtenbergs Werke in einem Band«, in: Einfälle und Bemerkungen, Heft C (1772-1773), 192, Berlin: Aufbau. Mann, Thomas (1939), Lotte in Weimar, Stockholm: Bermann-Fischer. Meinshausen, Frank (Hg.) (2003), Das Leben ist jetzt. Neue Erzählungen aus China, Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Reik, Theodor (1975), Der eigene und der fremde Gott. Zur Psychoanalyse der religiösen Entwicklung, Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Schiller, Friedrich (1980), Sämtliche Werke, Bd. I-V, München: Hanser. Schmidt-Glintzer, Helwig (1999), »Chinesischer Buddhismus im Spannungsfeld von religiöser und nationaler Identität«, in: Gephart, Werner/Waldenfels, Hans (Hg.) (1999), Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus, Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 141-169. Sedlmayer, Hans (1965), Verlust der Mitte. Salzburg 1948, Ullstein Buch Nr. 39, Berlin: Ullstein. Staiger, Emil (Hg.) (1977), Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Frankfurt a. Main: Insel, Erster Band. Vico, Gianbattista (1990), Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker [1668-1744], 2 Bde., hg. v. Hösle, Vittorio und Jermann, Christoph, Hamburg: Meiner. Weigand, Friedrich Ludwig Karl (19685), Deutsches Wörterbuch, 2 Bde., Gießen: Töpelmann. Wodtke, Friedrich Wilhelm (1963), Die Antike im Werk Gottfried Benns, Wiesbaden: Limes. Zedelmaier, Helmut (2003), Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert, Hamburg: Meiner.

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SINN UND SINNBEFREIUNG IM SPIEL DER ZEICHEN

Sinn und Sinnbefreiung im Spiel der Zeichen. Zu Roland Barthes’ Semiotik des Fremden am Beispiel Japans Thomas Göller

Das Zeichen ist ein Riss, der sich stets nur auf dem Gesicht eines anderen Zeichens öffnet. Roland Barthes

1. Kein Ort – Japan In den späten sechziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts bereist Roland Barthes Japan, das – wie er es prägnant nennt – »Reich der Zeichen«.1 Seine Beobachtungen und Notizen nehmen eine bemerkenswerte Sonderstellung innerhalb des Japan-Diskurses ein. Durch die Erfahrungen, die er vor Ort mit der fremden Sprache, Schrift, Kultur, mit fremden Äußerungen überhaupt macht, wird Barthes mit einer ihm gänzlich unbekannten semiotischen Ordnung konfrontiert. Doch nicht nur das: Barthes wird das Universum seiner ihm vertrauten Sprachund Zeichenwelt in einem solchen Maße problematisch, dass er den Grund seiner Desorientierung zu erforschen sucht, indem er das Fundament der Zeichenrelation überhaupt – und damit die konstitutive Funktion von symbolvermittelndem Sinn und symbolgebundener Bedeutung – radikal in Frage stellt. Die Reise in ein fremdes Land wird ihm zugleich zu einer semiotischen Expedition zu einem real nicht existierenden, imaginären, unsinnlichen »Ort« des Bedeutens und der Sinnkonstitution. Dieser utopische »Ort« trägt den Namen »Japan«. Er ist Anlass und Chiffre zugleich für eine Entdeckungsreise, die von Barthes auch als individuelle Erweckungsreise erfahren wird. Sie beginnt damit, dass alle Realitätsbezüge, die mit dem Namen »Japan« in gängi1. Vgl. Barthes (1981). 153

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THOMAS GÖLLER

gen Diskursen konnotiert sind, eliminiert werden. In einer Art semiotischen »Epoché«2 wird alles kulturspezifisch Tradierte eines bestimmten Symbolsystems gleichsam eingeklammert, damit ein möglichst unverstellter »Blick« auf eine unbekannte Ordnung möglich wird. Die zeichentheoretisch motivierte Orientierung und Verortung, die zugleich eine Selbsterkundung ist, kann also nicht, wie in den empirisch-positiven Wissenschaften üblich, raumzeitlich oder kausalanalytisch mit Hilfe bereits bestehender Zeichen oder fest umrissen vorliegender Symbolsysteme erfolgen, sondern sie muss sich erst ihrer eigenen explorativen Chancen und semiotischen Möglichkeiten versichern. Sie versucht, das eine wie das andere spielerisch-konstruktiv zu erproben. Das heißt, es geht darum, »irgendwo in der Welt dort eine gewisse Anzahl von Zügen (ein Wort mit graphischem und sprachlichem Bezug)« aufzunehmen »und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System« zu bilden (13).3 Diesen anderen Ort »dort«, der jenseits des eigenen Standpunktes liegt und auf den Zeichen womöglich verweisen, ohne dass mit Sicherheit auszumachen wäre, ob ihnen wirklich ein Denotat entspricht, »dieses System« heißt bei Barthes »Japan« (13). Es ist eine offene, sich der diskursiven Bestimmung letztlich entziehende Variable im semiotischen Universum, während das vermeintlich »reale« Japan, die kulturelle und geografische Entität, die ansonsten in der Empirie und in der Normalsprache so bezeichnet wird, versuchsweise ihres Realitätscharakters beraubt und probeweise zu einer Fiktion erklärt wird. Der Fiktivsetzung des einen, des »Dort«, d.h. »Japans«, entspricht auf der anderen Seite eine ebensolche Fiktivsetzung des anderen, des »Hier« bzw. des »Westens« (Europas bzw., konkret im Falle Barthes, Frankreichs): »Osten und Westen dürfen hier also nicht als ›Realitäten‹ verstanden werden, die man einander historisch, philosophisch, kulturell oder politisch« (13) annähern oder entgegensetzen könnte. Aus diesem Grunde kann auch das, was gemeinhin unter Japan (bzw. generell dem »Orient«) verstanden wird, für Barthes letztlich – wie er lapidar betont – »gleichgültig« (13) sein. Denn was er intendiert, ist nicht ein wissenschaftsgestützter Diskurs, sondern es ist ein »Spiel«, das man, in Anlehnung an Wittgenstein und in gleichzeitiger Abhebung von ihm, als ein semiotisches Spiel, als ein Symbol- oder Zeichenspiel bezeichnen könnte: es ist ein fiktives Spiel mit differenten Symbolsystemen, wobei die Zeichenfolge »Japan« in diesem fiktiven Zeichenspiel »lediglich einen Vorrat von Zügen«, die »in Stellung« gebracht 2. Husserl sprach bekanntlich von einer phänomenologischen Epoché, um die Geltung der Weltbezüge des transzendentalen Subjektes einzuklammern. Vgl. Husserl (1973, S. 66). 3. Alle im Text in Klammern angeführten Seitenangaben beziehen sich auf Roland Barthes »Das Reich der Zeichen«. 154

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SINN UND SINNBEFREIUNG IM SPIEL DER ZEICHEN

werden, bedeutet. Doch dann, »wenn das Spiel erfunden ist«, ist der entscheidende Schritt getan, um »mit der Idee eines unerhörten und von dem unsrigen gänzlich verschiedenen Symbolsystems zu ›liebäugeln‹« (13). Ein solches Unternehmen ist auch von gängigen Vergleichen, so wie sie innerhalb der Kulturwissenschaften leider nur zu oft durchgeführt werden, unterschieden. Denn anders als bei unreflektiert kulturessentialistischen Verfahren, bei denen zwei feststehende Größen vorausgesetzt werden, um sie dann in bestimmten Hinsichten miteinander zu vergleichen, wird bei Barthes die Emphase auf den offenen, tentativen und dabei vor allem auf den prozessualen Charakter kulturell-semiotischer Konstitution und Konstruktion gelegt. Deshalb ist auch nicht von zwei gleichsam feststehenden und schon fixierten Parametern – hier Europa, dort Japan – auszugehen, sondern die jeweiligen Perspektiven kultureller Wahrnehmungen und Sinnbestimmungen konstituieren sich erst in komplexen semiotischen Prozessen gegenseitigen Abhebens und Aufeinanderbeziehens, wobei spielerisch-fiktiv die unterschiedlichsten Aspekte differenter semiotischer Systeme in Verbindung gebracht, in der Imagination aufeinander bezogen und miteinander kombiniert werden. Deshalb kann es nicht darum gehen, ein bestimmtes Symbolsystem zu favorisieren oder gar eine bestimmte semiotische Ordnung als exklusive Ordnung zu deklarieren. Entscheidend ist demgegenüber, was sich durch die »Möglichkeit einer Differenz« zwischen den Symbolsystemen ereignet. Dies nennt Barthes nicht ganz unprätentiös eine »Revolution im Charakter der Symbolsysteme« (14). Sie hat zur Voraussetzung, dass die »Rufe nach Differenz« (14; Herv. von mir, T.G.) nicht ungehört verhallen dürfen. Nur so lässt sich verhindern, »unsere Unwissenheit hinsichtlich Asiens mittels bekannter Sprachen zu akklimatisieren« (14) – was andernfalls einer Usurpation eines Symbolsystems durch ein anderes gleich käme. Demgegenüber ist stets mit nicht-eliminierbaren »Dunkelzonen« im Wissen des anderen Landes zu rechnen. Deshalb kann von Barthes auch nicht ein gemeinsames Sediment der Überlieferung oder eine anthropologisch gegebene Überschneidungs- oder Überlappungssituation in Anspruch genommen werden, so wie es die philosophische Hermeneutik und in einem gewissen Sinne auch die interkulturelle Hermeneutik tun.4 Es handelt sich auch nicht darum, »andere« Symbole zu deuten oder unsere empirischen Kenntnisse von 4. Landmann (2003) versucht, nicht nur Barthes’ Beitrag zur interkulturellen Kommunikation herauszustellen, sondern auch postmoderne und postkoloniale Theoretiker mit Gadamers philosophisch-hermeneutischem Dialogmodell des Verstehens zusammen zu führen. Vgl. meine Kritik an der Hermeneutik Gadamers: Göller (2000, bes. S. 43-66). Vgl. auch speziell zu Fragen des Verstehens literarischer Texte anderer kultureller Kontexte: Thomas Göller (2001, bes. S. 11-35). 155

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»Japan« zu erweitern. All das greift zu kurz. Die Grundintention von Barthes zielt demgegenüber darauf, dass ein »feiner Lichtstrahl« »nach der Symbolbeziehung überhaupt« sucht (14; Herv. von mir, T.G.). In Frage steht also die Relation, die Symbole und kulturell verschiedene Symbolsysteme konstituiert. Sie ermöglicht nicht nur den Sinn oder die Bedeutung einzelner Symbole, sondern sie ist darüber hinaus für die Differenz von Symbolsystemen – und damit für die Unterscheidung der je und je zeichenvermittelten Sphären des Eigenen und des Fremden – konstitutiv. Schon allein aus diesem Grunde ist es ausgeschlossen, dass die fragliche Relation auf der Denotatsebene, d.h. auf der Wahrnehmungsebene der Kulturphänomene, liegen kann; sie kann, wie es Barthes selbst formuliert, »nicht auf der Ebene der Kulturprodukte erscheinen: was hier vorgestellt wird, gehört nicht (zumindest wünsche ich mir das) zum japanischen Städtebau oder zur japanischen Küche« (14). Denn das, was sich über kulturelle Phänomene und kulturspezifische Sachverhalte sagen lässt, setzt die Sinnbestimmtheit von Symbolen und die Sinndifferenz von Symbolsystemen gewissermaßen schon voraus. Doch genau das ist für Barthes problematisch, dazu bedarf es eigens einer zeichentheoretischen Explikation. Doch nicht nur das. Diese darf sich nämlich nicht nur auf einen äußeren Verweisungszusammenhang von Zeichen beziehen, sondern sie hat sozusagen auch ein »inneres« Pendant, da ihr eine »innere« Differenzerfahrung des Ich entspricht. Barthes bezeichnet diese, wie er meint, radikal neue Ich-Erfahrung mit den zen-buddhistischen Ausdrücken Satori bzw. Mu (»Leere«). Er meint damit eine Art »Selbsterweckung« bzw. »semiotische Epiphanie«: »Der Autor hat nie und in keinem Sinne Japan photographiert. Eher gilt das Gegenteil: Japan hat ihn mit vielfachen Blitzen erleuchtet: oder besser noch: Japan hat ihn in die Situation der Schrift versetzt« (14). Die tiefgreifende Differenzerfahrung des Ich, die semiotisch bedingt ist, bewirkt nicht nur eine »Umwälzung der alten Lektüren«, sondern auch eine »gewisse Zerrüttung der Person«, eine »Erschütterung des Sinns« (16). Anders gesagt, der semiotischen Desorientierungserfahrung auf der Denotatsebene entspricht eine Krisenerfahrung des Subjektes, wobei unter der Gewalt dieser Erlebnisse die scheinbar fest gegründete und in ihrer Symbolkompetenz scheinbar sichere Personalität sich zu deformieren beginnt, ja sich sogar aufzulösen droht. Dies alles wird erfahren als ein »Erdbeben, das die Erkenntnis, das Subjekt ins Schwanken bringt« und das eine »Leere in der Sprache« (16) bewirkt. Allerdings geht aus dieser Sprachleere, die zugleich eine Leere des Sinnes ist, ein produktiver Neuanfang, d.h. eine Neuordnung von Sinnbezügen und damit eine Neuorientierung in anders formierten Weltbezügen hervor. In solchen innovativen Akten konstituiert sich das, was Barthes »Schrift« nennt, von ihr gehen neue Züge im Spiel der Zeichen aus, denn durch die

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SINN UND SINNBEFREIUNG IM SPIEL DER ZEICHEN

»Sinnbefreiung« wird neuer Sinn geschaffen und werden andere, neue Sinnbezüge gestiftet (16).5

2. Zwischenräume, sprachfreier Zustand Zu dem Erkundungsprozess, den Barthes »Japan« nennt, gehört ebenso unabdingbar die Erfahrung mit einer fremden und zugleich befremdenden Sprache, die man dennoch glaubt, »irgendwie« verstehen zu können, obwohl man kein Wort dieser Sprache spricht. Die »rauschende Masse einer unbekannten Sprache« erzeugt für den Sprach- und Sinnunkundigen »eine delikate Abschirmung« (22). Sie bewirkt die nicht anders als »erotisch« zu nennende Erfahrung, als ob man in eine »Haut von Tönen« (22) gehüllt, von ihr umgeben ist – ohne je den Sinn dieser Töne verstehen zu können: man lebt »in einem Zwischenraum, der frei von jeder vollen Bedeutung ist« (22). Der eigentümliche Schwebezustand zwischen der eigenen Sprache und der fremden japanischen Sprache ermöglicht es, »die Differenz« beider sprachlichen Symbolsysteme so wahrzunehmen, »ohne daß diese Differenz freilich jemals durch die oberflächliche Sozialität der Sprache, durch Kommunikation oder Gewöhnlichkeit eingeholt und eingeebnet würde« (17). Die Differenz ist, so lässt sich das deuten, dermaßen fundamental, dass Barthes meint, »in einer neuen Sprache die Unmöglichkeit der unsrigen erkennen« (17) zu können. Wenn es richtig ist, dass jede Sprache aufgrund ihrer Morphologie und ihrer Pragmatik jeweils eigene weltund wirklichkeitskonstitutive Funktionen hat, so treten Sprachen unweigerlich zueinander in Konkurrenz. Das, was sich als »Wirklichkeit« bezeichnen lässt, kann immer nur sprachimmanent möglich sein. Demgemäß entspricht einer Pluralität von Sprachen eine Pluralität von Welten oder, besser, Weltkonstruktionen.6 Die jeweiligen weltkonstruktiven Funktionen einer bestimmten Sprache müssen dann der Grundintention Barthes’ zufolge durch Akte der Dekonstruktion so weit zurückgenommen werden, bis sich die vermeintlich bekannte und vertraute Wirklichkeit »unter dem Einfluß anderer Einteilungen, einer anderen Syntax« (17) aufzulösen beginnt. Eine solche Dekonstruktion muss gleichsam »ins Unübersetzbare hinabsteigen und dessen Er-

5. Sie betreffen (fremde) Sprachen, Gesten, aber generell auch sämtliche kulturellen Produkte, Erzeugnisse und Ereignisse wie »Häuser, Blumengebinde, Gesichter und die Gewalt«. Vgl. zu diesen Punkten auch die einzelnen Abschnitte des Essays von Roland Barthes, die sich mit der Stadt, dem Wohnraum, der Nahrung, der Schrift, der Körperund Gesichtssprache, aber auch dem Thema der Gewalt in »Japan« befassen. 6. Vgl. zur Frage nach der möglichen Inkommensurabilität sprach- bzw. kulturbedingter Weltkonstruktionen: Göller (2003); vgl. auch Göller (2000, II.3, bes. S. 137-175). 157

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schütterung empfinden, ohne es je abzuschwächen, bis der ganze Okzident ins Wanken gerät und mit ihm die Rechte der Vatersprache, der Sprache, die wir von unseren Vätern ererben und die uns wiederum zu Vätern und Besitzern einer Kultur macht« (17). Erst nach radikalen dekonstruktiven Prozessen, denen sprachliche und damit auch kulturelle Zeichensysteme unterworfen werden, wird eine »Schau der irreduziblen Differenzen« (17, Herv. von mir, T.G.) möglich, vollzieht sich die Befreiung von Sinn und eine Erfahrung der »Leere«, die den eigenkulturellen Kosmos gleichermaßen außer Geltung setzt wie auch die Verfestigungen des eigensemiotischen Universums. Die intendierte Vereitelung, ja Vernichtung von »Sinn« sieht Barthes im Zen-Buddhismus, aber auch im Haiku, den er als adäquaten literarischen Ausdruck des Zen auffasst, realisiert. Sowohl das eine wie das andere ist ihm »ein gewaltiges Verfahren«, welches es ermöglicht, »die Sprache anzuhalten […], um das unbezwingliche Geplapper der Seele zu leeren, auszutrocknen und in die Sprachlosigkeit zu versetzen« (102). Das geschieht im Zen-Zustand des Satori, weshalb er nur vage und ungenau mit den »westlichen« Ausdrücken der »Erleuchtung« oder »Offenbarung« getroffen wird, da ihnen unweigerlich religiös-christliche Konnotationen anhaften. Durch absurde Frage- und Diskussionsstrategien führt der Zen-Buddhismus Barthes zufolge die Geltung von Aussagesätzen ad absurdum und bewirke so eine »Verhinderung des Sinns« (100). Man könnte auf diese Weise »die Lächerlichkeit des paradigmatischen Einrastens und den mechanischen Charakter des Sinnes hervortreten lassen« (ebd.), indem man beispielsweise folgende zen-buddhistische Gesprächstaktik anwendet: »Wenn jemand euch in der Frageübung nach dem Sein fragt, so antwortet mit dem Nichtsein. Wenn er euch nach dem Nichtsein fragt, so antwortet mit dem Sein. Wenn er euch nach dem gewöhnlichen Menschen fragt, so sprecht ihm vom Weisen und so weiter« (100; im Original kursiv). Der »sprachfreie Zustand der Befreiung« (102) ist prä- oder post-propositional, er ist »ein panischer Schwebezustand der Sprache, die Leerstelle, die in uns die Herrschaft des Codes auslöscht, der Bruch in unserem inneren Monolog, der für unsere Person konstitutiv ist« (102). In ihm ist die Reflexion, das »sekundäre Denken«, aufgehoben. Denken referiert nunmehr nicht auf sich, es wird Barthes zufolge möglich, aus dem Zirkel der reflexiven Selbstabstufung des Denkens auszusteigen und der für das diskursive Denken und Sprechen charakteristischen metasprachlichen Selbstthematisierung der Sprache durch die Sprache zu entgehen. Denn in ihr wird immer nur ein Zeichen durch ein anderes Zeichen ersetzt. Um diese diskursive Subsituierung, die in und um sich selbst ruhelos rotiert, zu vereiteln, gilt es, »jenen sprachlichen Kreisel anzuhalten, der in seiner Drehung das zwanghafte Spiel des Symbolersatzes fortführt« (103). Der Ausbruch aus dem »unendlichen Zirkel der Sprache«, dem Prozess der endlosen »Ergänzung 158

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der überzähligen Signifikate« (102), kann nur dann gelingen, wenn das Zeichen oder Symbol selbst zur Disposition gestellt wird: »Letztlich ist das Symbol als semantische Operation das Ziel dieses Angriffes« (103). Für Barthes erfüllt nun das Haiku genau die Bedingungen für eine solche Operation, weshalb er ihn geradezu zu einem Sinnbild dessen erhebt, was er – fiktiv-real, real-fiktiv – in dem von ihm entworfenen semiotischen Spiel der Zeichen »Japan« nennt.7 Denn ein gelungenes Haiku, bei dem eine maximale Angleichung von Signifikant und Signifikat erreicht werde, wirke auf die »Wurzel des Sinnes« ein, »um zu erreichen, daß der Sinn sich nicht erhebt, sich nicht verinnerlicht, sich nicht einschließt, nicht ablöst, sich nicht ins Unendliche der Metaphern, in die Sphären des Symbols verliert« (103; Hervorhebung von mir, T.G). Wäre es anders, so würde das Haiku seine nur ihm eigene charakteristische bzw. individuelle Prägung verlieren und zu einem Zeichengebilde unter anderen Zeichengebilden werden, mit der Folge, dass es unter dem Generieren von immer neuen und anderen Zeichenund Symbolketten unkenntlich diffus werden, letztlich verschwinden müsste. Nicht von ungefähr vergleicht Barthes deshalb die »Richtigkeit« eines Haiku mit der von Musik. Es ist »Sinn«, der sich in reine Form auflöst, der sich als Form selbst befreit. Das heißt, der Signifikant verflüchtigt sich, »bevor ein Signifikat die Zeit gehabt hätte ›zu nehmen‹« (148), bevor ein Signifikant sich mit einem Signifikat verbindet und sich das Signifikat in der Weise zu eigen macht, dass aus dieser Fusion eine semantisch feststehende Einheit entsteht, die in die jeweilige Sprache als dauerhafte Sinn- oder Bedeutungsgröße eingehen und Bestand im Lexikon der jeweiligen Sprache haben könnte. Die demgegenüber von Barthes beschworene Flüchtigkeit des Haiku ist ihm zugleich ein Beleg dafür, dass in der japanischen Kultur der Raum kein Zentrum hat:8 Für ihn gelte das, was generell für die semiotische Erkundung der Chiffre »Japan« gelte: dort gebe es »nichts zu greifen« (149).

7. Vgl. Barthes (1981, S. 109): »Was ich hier vom Haiku sage, könnte ich geradeso gut von allem sagen, was sich ereignet, wenn man in diesem Land, das ich hier Japan nenne, umherreist.« 8. Vgl. auch Barthes’ Ausführungen zur »dezentrierten« Nahrung (S. 33ff.) und zu »Stadtzentrum, leeres Zentrum« (S. 47ff.). Jacques Derrida beschreibt die Abwesenheit eines Zentrums – bzw. eines »transzendentalen Signifikats« – als Voraussetzung dafür, dass alles zum Diskurs werden kann. Für ihn folgt aus der Auffassung, dass das »Zentrum […] kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt. Mit diesem Augenblick bemächtigt sich die Sprache des universellen Problemfeldes. Es ist dies auch der Augenblick, da infolge der Abwesenheit eines Zentrums oder eines Ursprungs alles zum Diskurs wird«; Derrida (1976, S. 424). 159

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3. Sinn in der Zeichendifferenz? Die von Barthes in der semiotischen Dekonstruktion des Zeichenspiels intendierte »Sinnbefreiung« hat Konsequenzen. Sie eröffnet, wie er meint, die Möglichkeit, im ›Zwischen‹ unterschiedlicher Symbolsysteme »Sinn« neu zu konstruieren bzw. zu konstituieren – ohne die Verfestigungen und Vorprägungen vorformulierter und bereits bestehender Diskurse aufzunehmen und zu sedimentieren. Die Neukonstruktion, die ebenso sehr Neukonstitution von »Sinn« ist, vollzieht sich gewissermaßen im ›Zwischen‹ der Symbolsysteme, in und durch die Differenz, die zwischen ihnen besteht, bestehen muss, soll das freie Spiel der Zeichen in Gang kommen. Nur so lassen sich Akte innovativer Sinngebung evozieren und perennieren, die sich nicht bloß auf ein spezifisches, wenn womöglich auch singuläres Symbolsystem – das der Sprache – beziehen. Für Barthes ist das »Reich der Signifikanten« (22f.) nämlich »derartig ausgedehnt und um so vieles weiter als die Sprache«, »daß der Austausch der Zeichen trotz der Undurchsichtigkeit der Sprache und zuweilen gar wegen ihr einen faszinierenden Reichtum, eine bestrickende Beweglichkeit und Subtilität besitzt« (23). Diese Vielheit und Vielschichtigkeit der Signifikanten gilt also nicht nur für das Symbolsystem der Sprache, sondern für alle semiotischen Systeme. Sie erstreckt sich auf alle Teilbereiche einer Kultur, d.h. auf sämtliche Arten und Formen kollektiver und individueller Äußerungen: auf Gesten, Körperausdruck, Stimmgebung usw.9 Doch selbstverständlich wirft die von Barthes verfolgte semiotisch motivierte Dekonstruktion schwierige methodische Fragen auf, die sowohl seinen Ansatz im Allgemeinen wie auch dessen Durchführung im Besonderen betreffen. Was er beispielsweise über die zen-buddhistischen Erleuchtungs- und Erweckungserlebnisse, was er über das Haiku als literarische Form sagt, ist eher geeignet, traditionelle Japanvorstellungen zu konservieren oder gar mystisch zu überhöhen, als sie zu dekonstruieren.10 Dabei werden von Barthes – ob er sich darüber 9. So meint Barthes gar einen »rein erotischen Entwurf« der Körperhaltung und Körpersprache der Japaner wahrnehmen zu können, der aufgrund seiner Subtilität gleichwohl verborgen bleibe, weshalb der Körper frei von »Hysterie und Narzismus« (S. 23) bleibe. 10. Was konkret in diesem Zusammenhang Bashô und seine Haiku-Sammlung Oku no hosomichi (zu deutsch: »Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland«) aus dem Jahre 1689 betrifft, so haben sie mit Buddhismus und gar mit Zen-Buddhismus nur wenig zu tun. Die japanische Standardliteraturgeschichte von Kato jedenfalls urteilt in dieser Sache so: »Aus Bashôs Bericht über seinen Rückzug in seine Einsiedelei […] geht klar hervor, daß er damit keine explizit buddhistischen Ziele verband […]. Ebenso läßt sich in seinen übrigen Schriften und Gedichten kaum ein tiefergehender Einfluß des Buddhismus nachweisen«; Kato (1990, S. 315-325, hier: S. 317). 160

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im Klaren ist oder nicht – altbekannte Japan-Topoi und -Bilder evoziert oder übernommen, ohne dass sie (auch) als kulturspezifische Festschreibungen durchschaut und gemäß Barthes’ eigenem Anspruch zufolge kritisiert, d.h. einer semiotischen Dekonstruktion unterzogen würden.11 Darüber hinaus stützt sich Barthes auf kulturelles Vorwissen von einer anderen Kultur (der japanischen), dem er einfach den Status gültigen Wissens einräumt – was keineswegs so unproblematisch ist, wie dies von ihm offensichtlich vermutet wird. Das betrifft gerade wiederum sein Verständnis vom Haiku und vom Zen-Buddhismus.12 Aber nicht nur das. So fragt sich, ob die von Barthes anvisierte Einklammerung aller Denotatsfunktionen von Zeichen und kulturellen Symbolsystemen wirklich radikal genug ist. Denn dann dürfte sie nicht oder jedenfalls nicht so unbefragt den Realitätsgehalt kulturspezifischer Äußerungen und Interpretationen in Anspruch nehmen, wie es Barthes (zumindest passagenweise) tut. Wollte er wirklich seinem eigenen Anspruch genügen, so müsste Barthes auch die Informationsquellen, auf die er sich mehr oder minder unkritisch oder gar naiv bezieht, und die Übersetzungen, die er in gleicher Weise unkritisch benutzt, vorab semiotisch dekonstruieren, um in einem darauf folgenden 11. Vgl. zu solchen Topoi beispielsweise Graf von Dürckheim (1986). Er schreibt über die »Stille«, um die sich »der Japaner« »naturgemäß« »stets« bemühe: »Es geht ihm in ihr um die Quelle des tiefsten Lebensgefühles, um den Atem-Raum unseres Wesens, das in seinem Grunde eins ist mit dem Wesen des Alls« (S. 12). Und Eugen Herrigel (1991) beschreibt in seinem berühmten Buch »Zen in der Kunst des Bogenschiessens«, seine Erfahrung beim Gelingen eines echten Schusses beim Bogenschießen oder beim Führen eines Schwertes so: »Es ist, als ob das Schwert sich selbst führe, und wie beim Bogenschießen gesagt werden muß, daß ›Es‹ zielt und trifft, so ist auch hier an die Stelle des Ich das ›Es‹ getreten […]. Und auch hier ist das ›Es‹ auch nur ein Name für etwas, das man weder verstehen noch erjagen kann, und das nur dem offenbar wird, der es erfahren hat« (S. 88). Interessant ist dabei die Parallele, die Herrigel hier zieht: Er verweist auf Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater. Zum kritischen Umgang mit traditionellen Topoi des Japan-Diskurses vgl. u.a.: Hijiya-Kirschnereit (1988). Vgl. generell kritisch zum Asien-Diskurs: Osterhammel (1998), sowie Pekar (2003). Pekar spricht im Falle Barthes’ von dem wohl herausragendsten Vertreter einer »sympathisierenden Japanliteratur«, die dazu neige, ihr ›Lieblingsobjekt‹ Japan zu überschätzen (ebd. S. 32, Fußnote 62). Vgl. auch Pekars Studie zum Zeichencharakter der Blicke bei Barthes. Vgl. Pekar (1996, insbes. S. 26-28). 12. So ist es wohl eine überzogen romantisierende Vorstellung, in einem Haiku von Bashô würde sich ›Sinnleere‹ sozusagen durch Sprachleere ereignen. Denn wie kompliziert und vielschichtig die Sinnerschließung bzw. die Rekonstruktion der möglichen Sinnbezüge eines Haiku sind, zeigt die Fülle von Informationen, die dazu erforderlich ist. Vgl. die einschlägigen Erläuterungen von Dombrady zu Bashôs Haiku-Sammlung in Bashô (1985, S. 279-325). 161

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Schritt ihren Gehalt in der Differenz der fraglichen Symbolsysteme erst neu zu erschließen. All das verdichtet sich zu dem epistemischen Verdacht, dass Barthes gewissem kulturellem Wissen einen Gehalt zuspricht, den es von sich aus gar nicht haben kann, sondern der erst, folgt man Barthes’ eigenem Ansatz, auf der Grundlage einer semiotisch geforderten Dekonstruktion zu legitimieren wäre.13 Auf all diese Punkte reflektiert Barthes nicht, sondern setzt bestimmtes Kulturwissen epistemologisch naiv als gültiges Faktum voraus. Doch das Proprium, der innovative Impetus und literarische Reiz des Essays von Barthes liegt in etwas Anderem: Er liegt in seiner – unaufgelösten und analytisch unauflösbaren – Verschränkung von diskursiven und intuitiv-ästhetischen oder – wenn man so will: poetischen – Momenten. Denn sie dispensieren den Leser und möglichen Interpreten von der Frage nach dem empirisch-wissenschaftlichen Gehalt seiner Äußerungen, der erkenntniskritischen Standards Stand halten müsste. Barthes selbst nämlich klammert von Anfang an nicht von ungefähr die Frage nach dem Entsprechungsverhältnis von Zeichen und Wirklichkeit aus, er interessiert sich in seinem Essay nicht dafür, ob den Denotaten der in Frage stehenden Zeichen, ob den kulturellen Symbolsystemen etwas korrespondiert, was im Sinne der empirischpositiven Wissenschaften oder im Sinne des alltäglichen Bewusstseins als »Realität« bezeichnet wird. Diese Fragen gelten ihm als sekundär. Primär ist ihm dagegen das Spiel der Zeichen, das jedwede Realitätssicht – sei sie nun eigen- oder fremdkulturell – konstituiert, weshalb für ihn die Frage scheinbar überflüssig wird, ob ihnen »Realität« entspricht. Denn wenn es Wirklichkeit immer nur zeichenvermittelt gibt, so stellt sich die Frage nach »der« Wirklichkeit, die unabhängig von semiotischen Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion ist oder sein kann, für Barthes eigentlich nicht: Das, was Zeichen und Symbolsysteme meinen, ist wirklich, und was wirklich ist, meinen die Zeichen und Symbolsysteme. »Realität« ist nichts anderes als eine symbolische Konstruktion, sie konstituiert sich im Spiel der Signifikanten. Deshalb kann auch nicht gesagt werden, dass die in Barthes’ Essay gemachten Äußerungen seinem Selbstverständnis zufolge überhaupt keinen Realitätsbezug hätten. Freilich ist dabei zu beachten, dass 13. Einen exklusiven (semiotischen und/oder dekonstruktiven) Zugang zu kulturellem Wissen kann es ebenso wenig geben wie zu Wissen überhaupt. Ein solcher Zugang kann auch nicht auf nicht-argumentative Weise gewonnen werden, wenn es sich um wirklich gültiges kulturelles Wissen handeln soll, das als solches erst auszuweisen wäre. Denn auch eine dekonstruktive Argumentation muss – qua Argumentation – logisch-diskursiv (mit allem, was dazu gehört) geregelt sein. Deshalb kann eine zen-buddhistische »Argumentation«, will sie tatsächlich argumentativ sein, ebenso wenig aus dem Diskurs »aussteigen«, wie es andere Argumentativität beanspruchende Diskurse tun können. Vgl. dazu generell Göller (2000, bes. III. 2, S. 356-411). 162

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es sich bei ihnen nicht um direkte, wissenschaftlich-diskursive, sondern um indirekt angedeutete Bezüge handelt, bei denen das im Zeichen Bezeichnete oder das im Symbolsystem Symbolisierte selbst wiederum für etwas steht, mit dem etwas Nicht-Diskursives gemeint oder »gezeigt« wird. In der Differenz von Symbol- und Zeichensystemen nämlich wird durch das Zeichenspiel selbst etwas über »die Wirklichkeit« einer anderen, fremden Sprache und Kultur nicht nur in indirekter Weise, sondern auch in gleichzeitiger Abhebung von der eigenen symbolkonstituierten Wirklichkeit dargestellt: dergestalt, dass bei einem solchen semiotischen Experiment – einer Entdeckungsreise zur Relation der Zeichenrelationen, die gleichzeitig eine egologische Erkundungsreise ist – in einem fiktiven Zwischenraum zwischen Realität und Imagination, zwischen Sinn und Sinnbefreiung innovative Zeichenund Symbolbezüge in bisherige Ordnungen durchbrechender Weise aufscheinen können. Sie können dies, indem sie zugleich neue Deutungsspielräume eröffnen, in denen bisher tradierte und scheinbar feststehende Parameter von Vertrautsein und Fremdsein, von Kultureigenem und Kulturfremdem radikal und stets von Neuem zur Disposition gestellt werden. Das gilt auch dann, wenn solche intuitiv-semiotischen Erkundungen kultureller Symbolwelten janusgesichtig sind und janusgesichtig bleiben müssen: Provozieren sie in der Realität aufweisbaren Widerspruch, so verlangen sie gleichwohl in der Imagination ästhetische Affirmation. In diesem Sinne scheint für Barthes’ Japan-Essay das zu gelten, was er selbst einmal zum Zeichencharakter anführte:14 Das Zeichen ist ein Riss, der sich stets auf dem Gesicht eines anderen Zeichens öffnet.

Literatur Barthes, Roland (1981), Das Reich der Zeichen, aus dem Französischen von Bischoff, Michael, Frankfurt a. Main: Suhrkamp [frz. Original: L’empire des signes, 1970]. Bashô (1985), Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, [Oku no hosomichi], aus dem Japanischen übertragen sowie mit einer Einführung und Annotationen versehen von Dombrady, Géza Siegfried (= Handbibliothek Dieterich, Bd. 2), Mainz: Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung [japanischer Erstdruck: 1702]. Derrida, Jacques (1976), »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 422-442.

14. Vgl. auch das Motto, das meinen Ausführungen vorangestellt ist; vgl. Barthes (1981, S. 76). 163

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— (1976), Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. Main: Suhrkamp [frz. Original: L’ écriture et la différence, 1967]. Dürckheim, Graf von Karlfried (1986), Japan und die Kultur der Stille, o.O.: Otto Wilhelm Barth Verlag. Göller, Thomas (2000), Kulturverstehen. Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis, Würzburg: Königshausen und Neumann. — (2001), Sprache, Literatur, kultureller Kontext. Studien zur Kulturwissenschaft und Literaturästhetik, Würzburg: Königshausen und Neumann. — (2003), »Sind Kulturen und Realitätssichten inkommensurabel?«, in: Kaufmann, Matthias (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – Multiple Realitäten. Der Streit um ein Fundament der Erkenntnis, (= Treffpunkt Philosophie, hg. v. Kaufmann, Matthias, Bd. 3), Frankfurt a. Main/ Bern/New York: Peter Lang Verlag, S. 269-283. Herrigel, Eugen (1991), Zen in der Kunst des Bogenschiessens, o.O.: Otto Wilhelm Barth Verlag. Hijiya-Kirschnereit, Irmela (1988), Das Ende der Exotik. Zur japanischen Kultur und Gesellschaft der Gegenwart, Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Husserl, Edmund (1973), »Cartesianische Meditationen«, in: Husserliana, Bd. 1, Haag: Martinus Nijhoff. Kato, Shuichi (1990), Geschichte der japanischen Literatur, Bern/ München/Wien: Scherz. Landmann, Antje (2003), Zeichenleere. Roland Barthes’ interkultureller Dialog in Japan, München: iudicium. Osterhammel, Jürgen (1998), Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München: C.H.Beck. Pekar, Thomas (1996), »›Augen-Blicke‹ in Japan. Schlüsselszenen der literarischen Fremdbeschreibung bei Engelbert Kaempfer, Bernhard Kellermann und Roland Barthes«, in: Japanstudien. Jahrbuch des Deutschen Institutes für Japanstudien der Philipp-Franz-vonSiebold-Stiftung, 8, S. 17-30. — (2003), Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext (1860-1920). Reiseberichte – Literatur – Kunst, München: iudicium.

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AUTONOMIE, NARRATIVE IDENTITÄT UND DIE POSTMODERNE KRITIK …

Autonomie, narrative Identität und die postmoderne Kritik des sozialen Konstruktionismus. »Relationales« und »dialogisches« Selbst als zeitgemäße Alternativen? Jürgen Straub und Barbara Zielke

1. Das autonome Selbst: normativer Anspruch und Handlungspotential Es gehört zu den kulturellen Standards moderner (westlicher) Gesellschaften, sein eigenes Leben selbst zu bestimmen und zu führen.1 Der normative Anspruch auf Autonomie ist eine historische und kulturelle Besonderheit, die den Angehörigen moderner Gesellschaften längst als Selbstverständlichkeit erscheint. Er prägt die Enkulturation und Sozialisation der Einzelnen und bildet einen notwendigen Bestandteil des Begriffs der Person. Die kulturelle Semantik bindet diesen Begriff an die Aspiration, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Autonomie bedeutet im vorliegenden Zusammenhang vor allem die sich selbst und anderen zugestandene und auch zugemutete Freiheit und Fähigkeit, sich von überkommenen Vorgaben und Autoritäten, Werten, Normen und Orientierungen kognitiv distanzieren und eigene, reflektierte Entscheidungen treffen und handelnd verwirklichen zu können. Diese können selbstverständlich im Sinne der Tradition ausfallen. Ein unbedingtes Gebot, sich an das Überlieferte zu halten, besteht für autonome Personen jedoch nicht. Der »negativen« Freiheit von traditio1. Begriffsgeschichtlich betrachtet sind Autonomie und Selbstbestimmung keine Synonyme, wenngleich sich ihre Bedeutung stark überlappt (seit erstmals in Immanuel Kants Schriften terminologisch von Selbstbestimmung die Rede ist; die »Sache selbst« ist im philosophischen Denken bereits in der Antike, im Mittelalter und dann ganz besonders in der gesamten Neuzeit präsent; vgl. Ballauff 1971; Gerhardt 1995). Wir verwenden die Ausdrücke hier gleichbedeutend, wobei wir die psychologisch relevanten Aspekte hervorheben werden. 165

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JÜRGEN STRAUB UND BARBARA ZIELKE

nellen Vorbildern und Vorschriften korrespondiert die Fähigkeit sprach- und vernunftbegabter Subjekte, selbst festzulegen, was im eigenen Leben zu tun und zu lassen und wie dieses insgesamt zu führen sei: Autonome Subjekte handeln im Bewusstsein der Freiheit ihres Denkens und Wollens, geben sich selbst das »Gesetz« ihres Handelns vor und »verwirklichen sich« gerade auch dadurch selbst. Als sprach- und vernunftbegabte Wesen legen Personen ihr Leben permanent aus, deuten es als sinn- und bedeutungsvolles, kulturell geprägtes Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten.2 Dabei spielt die Reflexion des eigenen Selbst (der eigenen Bedürfnisse, Motive, Intentionen, Orientierungen, Interessen etc.) ebenso eine Rolle wie die (moralische) Rücksicht auf die sozialen Anderen. Autonomie ist keine (logische oder empirische) Alternative zur Gebundenheit an andere oder zur Verbundenheit mit ihnen.3 An einer derartigen, theoretisch und empirisch fragwürdigen oppositionellen Gegenüberstellung von Autonomie und Verbundenheit kranken zahlreiche Debatten und ganze Forschungszweige. So wird z.B. in der kulturvergleichenden psychologischen Forschung häufig ein sog. »autonomes«, »individualistisches« (»westliches«) Selbst mit seinem Hang nicht allein zur (kognitiven, emotionalen, praktischen) Unabhängigkeit von anderen, sondern sogar zur narzisstischen und egoistischen Selbstbehauptung gegen andere, einem »kollektivistischen«, »interdependenten« (»östlichen«) Selbst gegenübergestellt, das angeblich ganz in der gemeinschaftlichen Verbundenheit mit anderen aufgeht, sich stets in Beziehung zu diesen versteht und ausschließlich aus diesen Beziehungen heraus lebt.4

2. Boesch (1991); Bruner (1990); Straub (1999). 3. Leu/Krappmann (1999b). 4. Durch diese simplifizierende Kontrastierung werden oft ganze »Kulturen«, die Nationalstaaten oder gar Kontinente umfassen sollen, homogenisiert und stereotyp beschrieben (vgl. etwa Hofstede 1984; zum Kulturbegriff s. Straub 2003). Darüber hinaus muss die kulturvergleichende Psychologie zum Zweck dieser beliebten Unterscheidung einen »unterkomplexen« Autonomiebegriff ins Spiel bringen. Er erinnert kaum mehr an die vielschichtige Semantik und Pragmatik, die dieser Begriff im Rahmen des »westlichen« – auch des psychologischen – Diskurses seit langem besitzt. Autonomie meint z.B. nicht einfach nur »Selbständigkeit« bei der Ausführung von (relativ schlichten) Handlungen. Die Autonomie einer Person mag die in der (frühen) Kindheit erworbenen Fähigkeit, bestimmte einfache Dinge selbst – ohne Hilfe von den Eltern, älteren Geschwistern oder anderen Bezugspersonen – erledigen zu können, zwar einschließen. Auf diese Kompetenz reduzierbar ist der Autonomiebegriff aber nicht (s.u.). Zu einer kulturvergleichenden Betrachtung von Autonomie und Verbundenheit vgl. Trommsdorf (1999). Trotz der ebenfalls vorhandenen Tendenz zur nationalkulturellen Homogenisierung (und anderer nahe liegender Einwände) bietet z.B. Doi (1982) mit seinem auf die »Struktur japanischer Psyche« gemünzten Konzept des »Amae« einen interessanten Ansatzpunkt 166

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AUTONOMIE, NARRATIVE IDENTITÄT UND DIE POSTMODERNE KRITIK …

Die Autonomieentwicklung ist ein sozialer Vorgang. Sie setzt Beziehungen und Verbundenheit voraus und modifiziert eher deren Qualität, als dass sie sie auflöst und ersetzt. Die autonome Person hat, wie zahlreiche empirische Untersuchungen gezeigt haben,5 mit dem häufig kritisierten Zerrbild eines narzisstischen, egoistischen, isolierten, beziehungsunwilligen und -unfähigen Individuums nichts gemeinsam. Letzterem kann allenfalls eine Art »reaktive Autonomie« zugestanden werden,6 die begrifflich und empirisch strikt von der hier interessierenden »reflexiven Autonomie« unterschieden werden muss: »By its very nature, the independent nonreliance that defines reactive autonomy would be expected to preclude positive connection with others. The ability to autonomously self-govern, however, does not require that one avoid the influence of or closeness with others.«7 Ganz im Gegenteil ermöglicht es nämlich gerade ein vergleichsweise hohes Maß an erlangter Autonomie, sich angstfrei auf Beziehungen zu anderen einlassen zu können. Deren Nähe und Verbundenheit sind gerade dann keine Bedrohung, wenn das eigene Selbst auch selbstbestimmt zu denken, zu urteilen und zu handeln vermag. Distanzierungsfähigkeit ist mithin eine psychologische Voraussetzung nicht nur der autonomen, sondern auch der »beziehungsfähigen« Person. Offenheit gegenüber anderen sowie der Wunsch nach Nähe und Verbundenheit setzen eine psychische Struktur voraus, die durch den Einfluss des Anderen und potentiell Fremden nicht von vorneherein gefährdet ist. Ohne ein Mindestmaß an »internen« Kontrollpotentialen geraten Annäherungen von anderen leicht zu überwältigenden Begegnungen, die unversehens als leidvolle Fremdbestimmung erlebt werden und das Handlungspotential des Betroffenen untergraben. Die psychologische Bereitschaft zu partiellen Selbsttransformationen bedarf einer gewissen Stabilität des Selbst, und diese wurzelt, wie etwa die Bindungsforschung eindrücklich gezeigt hat, in jener kontinuierlichen Erfahrung verlässlicher Bindung, welche die Autonomieentwicklung ihrerseits nicht verhindert, sondern ermöglicht und fördert. Psychologisch betrachtet bilden Autonomie und Verbundenheit einen dialektischen Zusammenhang. Sie sind interdependent. Autonomie ohne Verbundenheit ist eine psychologische Chimäre (auch wenn es selbstverständlich Formen der Verbundenheit gibt, die keine autonomen Personen voraussetzen oder fördern). Personale Autonomie setzt ein mit anderen geteiltes Symbolsystem, eine gemeinsame Praxis und damit verknüpfte Möglichkeiten der für eine subtile, gerade nicht oppositionelle Bestimmung des Verhältnisses von Selbstbestimmung und Verbundenheit. 5. Exemplarisch und weiterführend: Hodgins/Koestner/Duncan (1996). 6. Hodgins/Koestner/Duncan (1996, S. 228). 7. Hodgins/Koestner/Duncan (1996, S. 228). 167

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symbolischen Selbstbeschreibung voraus. Diese Möglichkeiten sollen in Kulturen, Gesellschaften und Gemeinschaften, die das Konzept personaler Autonomie (oder autonomer Personalität) anerkennen, ergriffen werden. Dadurch gewährleisten Personen, dass andere sinnvoll an ihr sprachliches und nicht-sprachliches Handeln anschließen, auf es antworten und es fortsetzen können. Michael Hampe, der den Begriff autonomer Personalität im Anschluss an Charles S. Peirce entfaltet und dabei den normativen (ethisch-moralischen) Gehalt dieses Konzepts hervorhebt, zählt folgende Implikationen auf, die – neben anderen – als Kompetenzen einer autonomen Person aufgefasst werden können: a) »Autonome Personen müssen in der Lage sein, einander Versprechen zu geben und zu halten, d.h. sich in ihrer Zukunft zu binden; b) sie müssen für ihr Handeln Verantwortung übernehmen (es sich zuschreiben) und Verantwortung übertragen bekommen; c) sie müssen in der Lage sein, das von ihnen zu verantwortende Handeln nach Standards der Rechtfertigung gegenüber den von diesem Handeln betroffenen Personen zu rechtfertigen; d) sie müssen Versprechen anderer entgegennehmen und die Verantwortlichkeit ihres Handelns akzeptieren, d.h. andere als autonome Personen anerkennen können.«8 Autonomie hängt von der »Anerkennung und ›Ansinnung‹ dieser Kompetenzen ab«.9 Wenngleich der unweigerlich normative Autonomiebegriff an Ansprüche der praktischen Vernunft gebunden ist, müssen diese von Individuen bekanntlich nicht übernommen und erfüllt werden. Ohne diese Ansprüche jedoch kann der Begriff personaler Autonomie nicht expliziert werden. Diese Einsicht ist auch in der Psychologie geläufig. Die ethisch-moralische Dimension personaler Autonomie steht bekanntlich im Mittelpunkt der einflussreichen empirischen Forschungen und theoretischen Modelle von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg (die, auf teils individuelle Weise, das Erbe von Kants Kritik einer auf kategorische Imperative zielenden praktischen Vernunft aufnehmen und tradieren). Dem Aspekt der Selbstgesetzgebung wird auch in neueren Explikationen des psychologischen Konzepts moralischer Autonomie nachgegangen, so etwa in Tobias Krettenauers10 interessanten Ausführungen über den Begriff »intuitiver Postkonventionalität«.11 8. Hampe (2002, S. 174f.). 9. Hampe (2002, S. 175). 10. Krettenauer (1999, S. 281ff.). 11. Mit diesem Begriff wird der Tatsache Rechnung getragen, dass »postkonventionelle« moralische Urteile (die auf den Stufen 5 und 6 in Kohlbergs berühmtem Entwicklungsmodell angesiedelt sind) psychologisch an Bedeutung verloren, weil sie empirisch 168

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Auch der psychologische Autonomiebegriff schließt moralische Autonomie ein, umfasst aber offenkundig mehr als das. Moralische Autonomie ist selbst ein überaus komplexes, voraussetzungsvolles Konzept, das zahlreiche andere Kompetenzen impliziert (z.B. Sprachkompetenz und anderes implizites Regelwissen). Ohne dem hier genauer nachgehen zu können (und auf diesem Weg eine theoretisch zufrieden stellende Explikation des theoretischen Konstrukts »personale Autonomie« anzustreben), sei erwähnt: Neben der moralischen Dimension ist für ein psychologisches Konzept insbesondere die sog. Wirksamkeitserfahrung wichtig. Zu Recht wird dieses Konzept als »wesentliches psychisches Korrelat von Autonomie« bezeichnet.12 Ohne einen Rekurs auf Wirksamkeitserfahrungen und die damit verbundenen Kontrollüberzeugungen einer Person ist ein psychologischer Autonomiebegriff, der Urteils- und Handlungsfähigkeit in allen Lebensbereichen einschließt, nicht verständlich zu machen. Daran kann man festhalten, solange Selbstbestimmung nicht mit der Wirksamkeit eigenständig kaum mehr zu beobachten waren, nachdem Kohlberg seine Theorie durch die Revision von Operationalisierungen, Mess- und Kodierverfahren von einigen empirischen Anomalien befreit hatte (Krettenauer 1999, S. 279). Krettenauer stellt Ergebnisse empirischer Studien zu Entwicklungsbedingungen von Solidarität und sozialem Engagement Jugendlicher vor, die davon ausgehen, dass die Entwicklung moralischer Urteilskompetenz und Handlungsfähigkeit nicht »mit der Existenz tradierter Gemeinschaftsbezüge steht und fällt« (Krettenauer 1999, S. 267). Damit wendet er sich den besonderen Entwicklungsbedingungen in modernen Gesellschaften zu und widerspricht der empirisch und theoretisch zweifelhaften These, die Ausbreitung sog. »individualistischer Orientierungsmuster« gefährde den Fortbestand traditionaler solidarischer Handlungsbereitschaften und setze massenweise egoistische, »ästhetisch-expressionistische«, sozial verantwortungslose, nur noch auf die instrumentelle Durchsetzung persönlicher Belange und Interessen bedachte Jugendliche (und Erwachsene) frei. Diese Relativierung grassierender Sorgen angesichts der »Individualisierung der Jugendphase« untergräbt nicht zuletzt die pädagogisch-politische Forderung nach der Restitution kollektiv-solidarischer Traditionen und Gemeinschaftsbildungen bzw. verloren gegangener Tugenden. Moralische Autonomie fungiert bei Krettenauer als Begriff, der empirisch verbreitete, »reguläre« Entwicklungen Jugendlicher zu erfassen gestattet und dabei nahe legt, »dass bereits Jugendliche in der Lage sind, intuitiv einen moralischen Standpunkt auszubilden, der auf postkonventionellem Niveau die Struktur moralischen Urteilens definiert. Die Entwicklung moralischer Autonomie könnte damit jene Grundlagen für die Genese eines individualistischen und gleichwohl solidarischen Moralbewusstseins bereitstellen« (Krettenauer 1999, S. 283). Dieses Moralbewusstsein ist definiert »durch die unbedingte und generalisierte Achtung des Individuums als Zweck an sich, der die Anerkennung grundlegender Rechte und Pflichten moralisch verbindlich fordert« (Krettenauer 1999, S. 283). Dieses Bewusstsein ist offenbar mit personaler Autonomie im hier skizzierten Sinne eng verbunden. 12. Schneewind/Ruppert/Schmid/Splete/Wendel (1999, S. 357). 169

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(ohne direkte Unterstützung anderer) handelnder Personen gleichgesetzt wird. Autonomie kann Personen trotz der offenkundigen Tatsache zugesprochen werden, dass Möglichkeiten der Selbstbestimmung stets limitiert sind. Es gibt keine uneingeschränkte, nicht von Heteronomie »durchkreuzte« Autonomie.13 Dies ist schon deswegen so, weil Autonomie stets nur unter biologischen und soziokulturellen Bedingungen erworben und zum normativen Fluchtpunkt der Lebensführung handlungsfähiger Subjekte werden kann.14 Solche Bedingungen, denen man die entwicklungs- und situationsabhängige psychische Verfassung eines Menschen hinzugesellen kann, können sowohl als empirische Bedingungen der Möglichkeit von Autonomie als auch als Grenzen für die Entfaltung von Potentialen der Selbstbestimmung angesehen werden. Der Mensch ist als (biologisch und sozial) abhängiges Wesen zur Autonomie fähig (und nicht erst als transzendentales Vernunftsubjekt im Sinne Kants): »Eine realistische Konzeption von Autonomie wird daher zwischen solchen externalen sozialen Faktoren, die als konstitutive Rahmenbedingungen angesehen werden können, und tolerierbaren Einschränkungen unterscheiden müssen und beide Gruppen von solchen sozialen [und psychischen; J.S./B.Z.] Zwängen abzugrenzen haben, die mit der Ausbildung oder dem Haben von Autonomie unvereinbar sind«.15 Den Gedanken, dass Autonomie stets unter empirischen soziokulturellen und psychischen Bedingungen erworben wird, teilen neuere philosophische Konzeptionen sowie eine Sozialisationsforschung und Entwicklungspsychologie, die die Genese des Subjekts nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt wachsender Potenziale der Selbstbestimmung analysiert.16 Die im 19. Jahrhundert massiv betriebene 13. Meyer-Drawe (1990). 14. Vgl. auch Hampe (1999, S. 163f.). 15. Quante (2002, S. 50). – Letzteres war bereits ein wichtiges Thema einer am Abbau gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse interessierten Sozialisationsforschung, wie sie insbesondere seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. Die Forschungen, die klassen-, schicht-, milieu- oder auch geschlechtsspezifische Sozialisationsbedingungen in gesellschaftskritischer Absicht untersuchten, gingen damals (gerade auch in Deutschland) mit Bildungsreformen einher, die ihre Versprechen bekanntlich nur teilweise halten konnten. 16. Dieter Geulen (1999) macht darauf aufmerksam, dass diese Sichtweise bereits bei den Klassikern der Sozialisationstheorie (Émile Durkheim, Sigmund Freud, George H. Mead, Jean Piaget) angelegt war, aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Topos der empirischen Sozialisationsforschung avancierte. Er rekonstruiert diese Entwicklung in wissenssoziologischer Perspektive als Ausdifferenzierung eines ursprünglich politischen Motivs, das der »überkommenen Subjekt-Philosophie« (1999, S. 21), vor allem der Kantischen, entnommen wurde. Im Rückblick auf die konti170

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»Destruktion des von der Aufklärung hinterlassenen Subjekt-Begriffs«17 führte zwar zum Abschied von der Idee eines »starken«, substantialistisch gedachten und absoluten Subjekts, das sich denkend als »geschlossene« und »bruchlose« Einheit begreift (»setzt«), nicht aber zur völligen Abschaffung der normativen Idee der persönlichen Autonomie sprachbegabter, reflexiver, handlungsfähiger Subjekte.18 Die Tatsache, dass das »Werden der Person« oder die »Subjektgenese« von zahlreichen kontingenten empirischen Bedingungen abhängig ist und ohne mannigfache »äußere« und »innere« Zwänge kaum denkbar ist, desavouiert den Autonomiebegriff als ein »unabdingbares Postulat der praktischen Vernunft«19 und als psychologisches Konzept keineswegs, verwandelt ihn jedoch erheblich.20 Autonomie gibt es alnental-europäische Aufklärung und den deutschen Idealismus skizziert Geulen die in der bürgerlichen Emanzipation in der Neuzeit entstandene kulturelle Semantik des Subjektbegriffs, die auch nach 1789 tradiert (und dabei selbstverständlich differenziert bzw. transformiert) wurde. Für Geulen ermöglicht speziell die Übernahme dieses Begriffs in die moderne Sozialisationstheorie (bereits des 19. Jahrhunderts) und in die Sozialisationsforschung (des 20. Jahrhunderts), dass der Subjektbegriff, von den Annahmen der Substantialität und Absolutheit befreit, weiterhin als (herrschafts- und macht-)kritischer Grundbegriff der Sozial- und Kulturwissenschaften fungieren kann, ohne bloß die Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft zu perpetuieren. Dasselbe gilt für das hier vertretene Konzept personaler Autonomie (und weitere, nicht zuletzt psychologische Grundbegriffe). 17. Geulen (1999, S. 27). 18. Auf die Konzeption eines starken, substantialistisch und absolutistisch gedachten Subjekts konnte man getrost verzichten, sobald diese Idee ihre zentrale politische Funktion verloren hatte: Die Emanzipation des Bürgertums vom ersten und zweiten Stand war eine »bald« besiegelte Angelegenheit (Geulen 1999). Speziell zur Kritik am Substanzbegriff, die in der Philosophie des 19. Jahrhunderts grassierte, vgl. die konzisen Bemerkungen von Hampe (2002, S. 167f.). Dort wird nicht zuletzt dargelegt, dass das Konzept der »Einheit der Person« nicht per se, sondern lediglich ein substantialistisch gedachter Einheitsbegriff verworfen werden muss. Letzterer ist auch für eine psychologische Theorie personaler Autonomie und Identität in der Tat nicht mehr zu gebrauchen. Man kann sich diesbezüglich etwa an Paul Ricœur (1996, S. 11) halten: »Es wird unsere durchgängige These sein, dass die im Sinne des ipse verstandene Identität keinerlei Behauptung eines unwandelbaren Kerns der Persönlichkeit impliziert« (vgl. dazu Straub 2002a; Straub/Renn 2002). Wie die exemplarisch zitierten Autoren vertreten auch wir die Auffassung (s.u.), dass ein nicht substantialistisch (essentialistisch) konzipierter Begriff der Einheit der Person vorausgesetzt werden muss, um die Begriffe Autonomie und Identität explizieren zu können. 19. Geulen (1999, S. 28). 20. Vorläufer, die diesen Wandel zumindest teilweise vorweggenommen haben, gab es mehrere. Zu ihnen gehört etwa Michel de Montaigne, der 1580 in seinen berühmten Essays (III, 12) über Willensfreiheit, Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis reflektierte 171

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lenfalls für Menschen, deren persönliche Entwicklung und biographischer Werdegang von unzähligen Kontingenzen, einer vom Einzelnen nicht beherrschbaren Dynamik der soziokulturellen Praxis sowie, last but not least, einer unbewussten psychischen Dynamik bestimmt ist. Autonomie ist ein Produkt einer (in biologischen Grenzen) sich vollziehenden Enkulturation, Sozialisation und psychosozialen bzw. psychosexuellen Entwicklung. Das autonome Subjekt als »eine Instanz, eine Struktur oder als ein Ensemble von Kompetenzen« entsteht »in den sozialen Interaktionen, in die das Kind von Beginn an integriert ist«.21 Distanzierungsfähigkeit setzt Teilnahme und Zugehörigkeit voraus. Ohne Eingebundenheit und Verbundenheit gäbe es keine Notwendigkeit, »nein« zu sagen und sich abzugrenzen, um selbständig und selbstbestimmt handeln zu können. Autonomie bedarf sodann ihrerseits der Anerkennung durch andere, ist also gewiss kein Attribut sozial isolierter Monaden. Noch heute gehört das Postulat der partiellen Autonomie dezentrierter Subjekte zum normativen Horizont unserer »folk psychology«22 und zahlreicher wissenschaftlicher Unternehmungen. Kaum etwas spricht dafür, dass sich daran in absehbarer Zeit wirklich etwas ändern wird, selbst wenn das im Prinzip möglich wäre und von bestimmten wissenschaftlichen Strömungen, konsequent etwa in der Soziobiologie oder auch in bestimmten Bereichen der Psychologie – wie der insbesondere mit der neurophysiologischen Hirnforschung liierten Biopsychologie – propagiert wird.23 und dabei – ohne daran zu zweifeln, dass der Mensch nach seinen je eigenen Vorstellungen handeln könne – notierte: »Wir wollen nichts frei, nichts unbedingt, nichts beständig«. Unser Handeln liegt für Montaigne erst recht nicht ganz und gar in unserer Hand. 21. Leu/Krappmann (1999, S. 11). 22. Bruner (1990). 23. Manche Vertreter der nomologischen Psychologie, so etwa Theo Herrmann (1987), halten deren Programm grundsätzlich – und zu Recht – mit dem Menschenbild eines intentional handelnden, partiell autonomen Subjekts für unvereinbar. Die von dieser Wissenschaft unterstellten (!) und in der empirischen Forschung untersuchten (hypothetischen) Gesetze menschlichen Erlebens und Verhaltens lassen keinerlei Platz für die Annahme personaler Autonomie. Diese deterministisch oder probabilistisch formulierten Gesetze stehen für eine totale Heteronomie, die die Rede vom »freien Willen«, von »Selbstbestimmung« etc. als eine – allenfalls praktisch »nützliche«, im Rahmen einer bestimmten Rechts- und Moralordnung sogar unabdingbare – »Illusion« erscheinen lässt. Es ist leicht zu sehen, dass diese Auffassung der nomologischen Wissenschaften in der »vorgängigen« metaphysischen Ontologie einer vollständig determinierten Natur (zu der auch die psycho-sozio-kulturelle Welt des Menschen gezählt wird) gründet, die selbst nicht zur Disposition gestellt wird. Zu einigen Schwierigkeiten »empirischer Widerlegungen« der Willensfreiheit vgl. z.B. Dirk Hartmann (2000), dessen Forschungen nicht zuletzt ans Licht brachten, dass ein in diesem Zusammenhang noch heute viel zitiertes 172

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Die von einer Person avisierte und tatsächlich erreichbare Autonomie ist prinzipiell limitiert. Wer eine Person als aktives Subjekt24 oder gar also producer of his/her own development25 bezeichnet, braucht nicht zu verkennen, dass das Leben bzw. die Entwicklung eines Menschen niemals allein auf selbstbestimmte Entscheidungen und Handlungen zurückgeführt werden kann. Zu den Bedingungen, die diese rationalistische Vorstellung in ihre Schranken verweisen, gehört nicht zuletzt der Zufall als ein »Motivationsrest« auch der individuellen Lebensgeschichte (wie man in Anlehnung an eine auf die Geschichte gemünzte Formulierung Reinhart Kosellecks [1985] sagen kann). Kontingenz ist aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenken. Selbst das Handeln ist, allen rationalistischen Verzeichnungen »reflexiver Subjekte« in zahlreichen psychologischen Theorien zum Trotz, nicht frei davon.26 Eine Handlungstheorie, die den Handlungsbegriff nicht ausschließlich im Sinne des in der Psychologie gemeinhin verbindlichen, intentionalistischen oder teleologischen Modells definiert,27 sondern auch der Regelgeleitetheit und vor allem der Kreativität des Handelns Rechnung trägt,28 konzipiert den Menschen uno actu unter den Gesichtspunkten der Heteronomie und der Autonomie. Sie ist einem Autonomiebegriff verpflichtet, der im Sinne einer akzentuierenden Unterscheidung von »Heteronomie« abgegrenzt wird und kein »starkes«, substantialistisch bestimmtes Subjekt mehr voraussetzt. Axel Honneth spricht treffend von dezentrierter Autonomie und bringt dadurch alle (hier nicht im Einzelnen erwähnten) Aspekte auf den Begriff, die eine nicht rationalistische Vorstellung von Autonomie zu berücksichtigen hat. ZusammengeExperiment von Grey Walter – nach Auskunft von Daniel Dennett, der einst für seine Bekanntheit sorgte – wohl gar nie durchgeführt wurde. Eine gegenwärtig besonders einflussreiche Abkehr von der Idee des handlungsfähigen Menschen vollzieht die erwähnte, neurophysiologisch orientierte Biopsychologie, deren deterministische Annahmen in Gestalt eines reduktionistischen Materialismus artikuliert sind. Zur Kritik dieses Programms in der Psychologie vgl. z.B. Laucken (2003); eine prinzipielle und generelle philosophische Kritik neurobiologischer Konzeptionen des menschlichen Lebens bieten z.B. Kettner (2003) oder Wingert (2004). Dort finden sich auch Argumente dafür, dass wir – trotz der neurowissenschaftlich begründeten Verwerfung der Autonomie in Form von Willens- und Handlungsfreiheit – nach wie vor gute Gründe haben, auch in den Wissenschaften an der (normativen) Idee der Autonomie festzuhalten. 24. Brandtstädter (1984); Geulen (1999). 25. Lerner/Bush-Rossnagel (1981). 26. Vgl. dazu Straub (1999, S. 141, 150), wo im Anschluss an Aristoteles speziell von dieser Handlungskontingenz im engeren Sinne die Rede ist. 27. Vgl. z.B. Greve (1994); Groeben (1986); Werbik (1978); komplexer z.B.: Brandtstädter/Greve (1999); zur Formalisierung des intentionalistischen Handlungs(erklärungs)modells siehe insbesondere von Wright (1974). 28. Joas (1992); Straub (1999, S. 102ff., 113ff., 141ff.); Waldenfels (1990). 173

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fasst: »Die persönliche Freiheit oder Selbstbestimmung von Individuen wird hier in der Weise verstanden, dass sie nicht als Gegensatz, sondern als bestimmte Organisationsform der kontingenten, jeder individuellen Kontrolle entzogenen Kräfte erscheint.«29 In modernen Gesellschaften zählen überaus dynamische, weiterhin beschleunigte Vorgänge der Enttraditionalisierung, der funktionalen, kulturellen, sozialen und psychischen Differenzierung, der Pluralisierung und Individualisierung zu den maßgeblichen soziokulturellen Rahmenbedingungen der Entwicklung personaler Autonomie und Identität. Es gehört bereits zu den (allerdings fragwürdigen) Gemeinplätzen unserer Tage, dass unter diesen Bedingungen jede Vorstellung von Autonomie und Identität anachronistisch und obendrein überflüssig geworden sei. »Poststrukturalistische« oder postmoderne Positionen leisten dem reduktionistischen Materialismus, wie er in den Naturwissenschaften anzutreffen ist, Schützenhilfe. Man verabschiedet das autonome, »mit sich identische« Subjekt und mit ihm das unvollendet gebliebene Projekt der Moderne bisweilen ganz ohne Wehmut.30 Wo bleibt, so lautet die verbreitete rhetorische Frage, das einst emphatisch gepriesene Subjekt »angesichts der Übermacht von globalen Verflechtungen, verselbständigten Techniken und einer von allgegenwärtigen Medien überformten Realität? Postmoderne Zeitkritiker erklären den ›Tod des Subjekts‹ […]. Die Subjekte […] seien in der globalisierten, dem Handeln einzelner nicht mehr zurechenbaren und von ihnen nicht mehr mit Sinn füllbaren Welt nicht mehr gefragt«.31 Wir kommen darauf in Abschnitt 3 zurück. Vorerst sei festgehalten: Solche »postmodernen« Zeitdiagnosen stellen ernsthafte Herausforderungen dar, weil sie wichtige Aspekte des soziokulturellen Wandels in modernen Gesellschaften »dramatisieren« und dadurch ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. In sozialisationstheoretischer Perspektive resümieren Leu und Krappmann die – jedenfalls in ihrer massenhaften Verbreitung und ihrer Radikalität – »neuen« Anforderungen, denen kein um die Entwicklung seiner Autonomie und Identität bemühtes Subjekt einfach ausweichen kann. Wir gestatten uns, deren (auf eine zukünftige Sozialisationsforschung gemünzte) konzise Skizze zu zitieren: »Worauf kann eine subjektorientierte Sozialisationsforschung ihre Konzeption von Subjektivität angesichts dieser Veränderungen von gesellschaftlichen Strukturen, sozialer Praxis und soziologischen Deutungen stützen? Anders als in den 60er Jahren sind es heute nicht mehr in erster Linie rigide Normen, sondern Unverbindlichkeiten, nicht unverrückbare Ziele, sondern leicht austauschbare Optionen, nicht vorgeschriebene Karrieren, son29. Honneth (1993, S. 151); vgl. auch Straub (2002a). 30. Vgl. dazu kritisch Straub (1991, 2000). 31. Leu/Krappmann (1999, S. 13); kritisch dazu Renn (2002). 174

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dern biographische Versatzstücke, denen Kinder und Erwachsene Sinn abringen müssen. Der sozialisationstheoretische Rekurs auf das Subjekt hat in derartigen Situationen nicht mehr die Stoßrichtung einer Befreiung aus verkrusteten und entmündigenden Strukturen. Die Probleme, denen sich die Sozialisationsforschung zu stellen hat, liegen vielmehr in der Frage nach einem in biographischer Perspektive tragfähigen Umgang mit Offenheiten, Risiken und Wandel, die Menschen heute in ihrer Lebenswelt erfahren. Dabei hat die Vielfalt von Deutungs- und Lebensmustern, die nicht mehr in allgemein verbindlichen Traditionen verankert sind, das Problem sinnstiftender Orientierungen offensichtlich keineswegs behoben, sondern stellt dem Subjekt diese Aufgabe in verschärfter Weise, denn Lebenssinn und -ziele fallen dem einzelnen weniger denn je zu. Die enorm gewachsene Vielfalt zulässiger Lebensformen und Orientierungsmuster wird zwar als erweiterter Spielraum für individuelle Entscheidungen, bis hin zum ›Entscheidungszwang‹, erfahren. Die Angebote werten sich jedoch gegenseitig auch ab und bieten wenig Sicherheit. […] Vor diesem Hintergrund ist das Verhältnis von Individuation und Vergesellschaftung, von Autonomie und Verbundenheit neu zu reflektieren. Die Sozialisationsforschung hat zu klären, welche Anforderungen sich an die Behauptung von Subjekthaftigkeit in Situationen stellen, die nicht mehr vor allem von überkommenen Traditionen, sondern in hohem Maße von normativer Pluralität, von Offenheiten und Risiken geprägt sind«.32 Die Autoren fordern sodann, neue Konzepte zu entwickeln, mit denen sich die aufgezeigte Spannung zwischen individueller Besonderheit und gesellschaftlicher Integration begreifen und untersuchen lässt. Empirische Fragestellungen richten sich auf soziokulturelle und psychische Voraussetzungen, die personale Autonomie und Identität entweder ermöglichen und fördern oder aber einschränken, vielleicht verhindern. Empirische Forschungen sollten – neben weiteren Gesichtspunkten33 – auch klären, »wie die Entwicklung ›selbständiger‹, situationsübergreifender, längerfristiger Orientierungen in unterschiedlichen Lebenswelten erfolgt«.34 Diese Frage werden wir im folgenden Abschnitt aufgreifen und in ausgewählten Aspekten bearbeiten. Es soll argumentiert werden, dass für den interessierenden Vorgang eine besondere sprachliche Kompetenz, nämlich die Fähigkeit, Geschichten zu verstehen und zu erzählen, überaus relevant ist.35 Eine 32. Leu/Krappmann (1999, S. 15, 18). 33. Leu/Krappmann (1999, S. 18). 34. Leu/Krappmann (1999, S. 18). 35. Vgl. dazu auch Straub (2000c), wo dargelegt wird, dass diesbezüglich ein erstaunliches Defizit der Sozialisationsforschung besteht. Der Bogen von der in aller Munde befindlichen »Autonomie« über die »Identität« hin zur »Narrativität« ist dort noch kaum »ausgezogen«. Damit bleiben wichtige Voraussetzungen der Autonomieentwicklung im 175

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spezielle Variante dieser narrativen Kompetenz ist auf das Erzählen und Verstehen von Selbst-Geschichten zugeschnitten. Diese Geschichten sind unabdingbar für die Entwicklung wesentlicher Dimensionen personaler Identität und, da Autonomie eine als Identität zu begreifende »Einheit der Person« voraussetzt, auch für die autonome Personalität. Zu beachten ist dabei: Nicht alle Angehörigen moderner »westlicher« Gesellschaften sind von deren Wandel in gleicher Weise und gleichem Ausmaß betroffen. Erst recht ist Vorsicht angezeigt, wenn man den Blick in andere Kulturen und Gesellschaften schweifen lässt. Nicht überall hat man – unter anderem – eine emanzipatorische Sozialisationsforschung im Zeichen aufklärerischer Bildungsbemühungen und politischer Bildungsreformen hinter sich. Und in vielen Kulturen und Gesellschaften dominieren nach wie vor vergleichsweise rigide Normen, unverrückbare Ziele und vorgeschriebene Lebensverläufe.

2. Das Selbst als Geschichtenerzähler: Kontinuität und narrative Identität in handlungstheoretischer Perspektive Autonomie ist auf Selbstreflexion angewiesen. Diese wiederum setzt Selbstthematisierungen voraus, durch die eine Person zum Ausdruck bringt, wer sie (geworden) ist und sein möchte. Zu den besonders wichtigen Formen der Selbstthematisierung gehören Erzählungen. Personen geben zu verstehen, wer sie sind und sein möchten, indem sie – nicht zuletzt – Geschichten erzählen. In speziellen Zweigen der narrativen Psychologie wurde diese Funktion speziell von self stories oft hervorgehoben und zum Gegenstand empirischer Untersuchungen gemacht.36 Der Mensch als partiell autonomes Subjekt ist zwangsläufig ein Geschichtenerzähler (story teller). In Geschichten artikuliert eine Person ihre aspirierte Identität, ohne die sie sich nicht als partiell autonomes Subjekt auffassen könnte. Die genannte Funktion erfüllen Erzählungen wegen der ihnen eigentümlichen Struktur und Dynamik in einer teilweise einzigartigen und durch keine andere (sprachliche) Praxis ersetzbaren Weise. Eine Theorie autonomer Personalität ist auf eine Theorie narrativer Identität angewiesen. Diese Konzepte sind partiell interdefinierbar und zeigen einen praktischen Zusammenhang an. In Selbst-Erzählungen entwirft sich eine Person in der zeitlichen Dimension. Es ist der insbesondere von Paul Ricœur in seinen profunden Studien ausgewiesene »innere« Zusammenhang zwischen (einer Dunkeln. Das lässt sich ohne weiteres auch für die Entwicklungspsychologie sagen, die das Potenzial der narrativen Psychologie noch kaum wahrgenommen hat (zu diesem Forschungszweig vgl. Echterhoff/Straub 2003, 2004). 36. Zum Überblick: Echterhoff/Straub (2003, 2005); vgl. z.B. Brockmeier (2002, 2003); Brockmeier/Carbaugh (2001); Bruner (1997); McAdams (1993, 1999). 176

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spezifisch humanen) Zeit und Erzählung, der die narrative Selbstthematisierung zu einem besonderen Modus dieser literarischen und alltagsweltlichen kommunikativen Gattung macht. Wer sich selbst in seiner Zeitlichkeit, Veränderlichkeit und Vergänglichkeit thematisiert, in seinem unablässigen »Werden«, situiert sich in einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die wechselseitig aufeinander verweisende Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nur »analytisch« trennbar. Sie sind in ihrer qualitativen Bestimmtheit voneinander abhängig: Nicht nur die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart und diese die Zukunft. Auch ist die Vergangenheit als handlungsleitendes mentales Konstrukt von Gegenwartsdeutungen und Zukunftserwartungen abhängig. Das Erzählen von Selbst-Geschichten »präsentiert« den Menschen in seiner zeitlichen, geschichtlichen und lebensgeschichtlichen Extension.37 Dieses »Präsentieren« ist dabei eine (mitunter in ihrer Struktur und Dynamik nur schwer »überschaubare«) sprachliche Handlung, durch die sich eine Person – um Dantos38 in anderem Zusammenhang geprägten Begriff zu übernehmen und abzuwandeln – als »temporal komplexes Phänomen« konstituiert. Die personale Identität erscheint unter dem Aspekt ihrer Zeitlichkeit notwendigerweise als narrative Identität. Dieser Begriff hat sich zu Recht eingebürgert, um speziell der temporal komplexen Struktur und Dynamik des praktischen Selbstverhältnisses eines Subjekts Rechnung zu tragen. Wer seine lebensgeschichtliche, in Erfahrungen und Erwartungen, Erinnerungen, Imaginationen und Antizipationen verwurzelte Identität zum Ausdruck bringen will, ist darauf angewiesen, Geschichten zu erzählen, Selbst-Geschichten zumal. Solche Geschichten besitzen nun nicht allein, ja nicht einmal primär eine deskriptive Funktion. Sie sollten keineswegs einfach als Lebensbeschreibungen gehört und gelesen werden. Narrative Selbstthematisierungen sind, in sprachpragmatischer Perspektive betrachtet, mitunter höchst komplexe Sprechhandlungen. Sie besitzen eine performative Kraft eigener Art. Wer »sich selbst erzählt«, tut mehr und anderes, als in reflexiver Einstellung Beschreibungen seines Lebens zu liefern. Im Akt des Erzählens wird personale Identität konstituiert und womöglich von anderen anerkannt:39 »Die rechtfertigenden Bekennt37. Rüsen (1990). 38. Danto (1965). 39. Diese Konstitution ist keine willkürliche Konstruktion. Auch reißt sie die Grenze zwischen fiktiven literarischen Erzählungen und alltagsweltlichen, lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht vollkommen ein. Selbsterzählungen nehmen, wie auch immer sie sich sprachlicher, poetischer, rhetorischer und literarischer Mittel (z.B. bekannter Redefiguren oder Tropen) bedienen müssen, die insbesondere in literarischen Erzählungen kunstvoll eingesetzt werden, auf mannigfache Geschehnisse und Ereignisse, Erlebnisse, Erfahrungen, Erwartungen (des autobiographischen Erzählers und anderer Protagonisten) Be177

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nisse, mit denen der performativ erhobene Anspruch auf die je eigene Identität beglaubigt werden kann, sind nicht mit der stets selektiven Beschreibung eines Individuums zu verwechseln. Die literarische Gattung des Briefs, der Konfession, des Tagebuchs, der Autobiographie, des Bildungsromans und der didaktisch vorgetragenen Selbstreflexion […] bezeugt den veränderten illokutionären Modus: es geht nicht um Berichte und Feststellungen aus der Perspektive eines Beobachters, auch nicht um Selbstbeobachtungen, sondern um interessierte Selbstdarstellungen, mit denen ein komplexer Anspruch gegenüber zweiten Personen gerechtfertigt wird: der Anspruch auf Anerkennung der unvertretbaren Identität eines in bewusster [und nicht bewusster; J.S./ B.Z.] Lebensführung sich manifestierenden Ich. Der stets fragmentarisch bleibende Versuch, diesen in performativer Einstellung geltend gemachten Anspruch anhand eines totalisierenden Lebensentwurfs glaubhaft zu machen, darf nicht verwechselt werden mit dem undurchführbaren deskriptiven Vorhaben, ein Subjekt durch die Gesamtheit aller möglicherweise auf es zutreffenden Aussagen zu charakterisieren.«40 Das gilt auch für die alltagsweltliche, mündliche Selbst-Erzählung, die spontane Stegreiferzählung eingeschlossen. Halten wir fest: Autonomie, mithin alle symbolisch vermittelten Versuche der Selbstbestimmung sprach- und handlungsfähiger Subjekte, sind unweigerlich an bestimmte, wie auch immer unzulängliche und vorläufige »Antworten« auf die Identitätsfrage gekoppelt, durch die sich eine Person als Einheit konstituiert und als solche anerkannt werden möchte. Selbstbestimmte Absichten, Entscheidungen und Handlungen setzen voraus zu »wissen«, wer man (geworden) ist und sein möchte. Autonomie ist nicht zuletzt ein »Versprechen in die Zukunft«. Heutzutage heben zahlreiche Autorinnen und Autoren in verschiedenen Disziplinen und aus durchaus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven die praktische, theoretische und begriffliche Abhängigkeit von Autonomie und personaler Identität hervor. Diese Begriffe gehören zu einem Sprachspiel (und sind gleichermaßen Bestandteil einer spezifischen, hermeneutisch vermittelten Lebensform). Sie verweisen wechselseitig aufeinander. Ihre semantische und pragmatische Bedeutung ist interdependent. Als Begriffe sind sie partiell interdefinierbar. Gegenwärtig argumentieren nicht zuletzt Repräsentanten einer sprachanalytischen Philosophie, die ihre Berührungsängste gegenüber der Hermeneutik und Phänomenologie ebenso verloren hat wie gegenüber den empirischen Sozial- und zug. Diese fungieren als notwendige »Referenten« der Geschichte. Dass dies nicht bedeutet, Referenz müsse im Sinne eines repräsentationalistischen Abbildverhältnisses gedacht werden, gehört heute zu den Gemeinplätzen epistemologischer Debatten (vgl. z.B. Putnam 1997, Rorty 1981). 40. Habermas (1988, S. 206). 178

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Kulturwissenschaften (und sich dem in diesen Disziplinen gebräuchlichen Identitätskonzept widmet und annähert),41 »dass auch dem Konzept der Autonomie ein impliziter Rekurs auf die biographische Identität der Person eingeschrieben ist: Ohne den Rückgriff auf diese Identität oder […] auf die Vorstellung einer Persönlichkeit lässt sich weder bestimmen, was unter der Autonomie einer Person überhaupt zu verstehen ist, noch angeben, ob einzelne Entscheidungen oder Handlungen von Personen als autonom einzuschätzen sind.«42 Insofern Autonomie an die temporale Dimension personaler Identität gekoppelt ist, ist das um Autonomie besorgte und bemühte Subjekt notwendigerweise ein Geschichtenerzähler. Selbst-Geschichten sind Antworten auf die selbstbezügliche Frage, wer ich (geworden) bin und sein möchte, und als solche stellen sie eine unabdingbare Grundlage der praktischen Orientierungsbildung und Lebensführung reflexiver, partiell autonomer Subjekte dar. Wer autonom handeln will, muss sein Leben erzählen, wenn auch nicht, was unmöglich ist, »das ganze«.43 Er muss seinem Leben, wie selektiv er es auch zur Sprache bringen mag, eine narrative Gestalt verleihen. Diese narrative Formgebung schafft eine Einheit, ohne die Persistenz eines Substrats oder einer Substanz vorauszusetzen und ohne die innere Differentialität und Heterogenität eines prinzipiell von Kontingenz durchzogenen Lebens in Abrede zu stellen. Jedes Leben und noch seine symbolische Repräsentation in Gestalt einer Erzählung bezeugt den für jede Identität konstitutiven Selbstentzug.44 Ein hinreichend komplexer (psychologischer, soziologischer) Begriff personaler Identität meint keine einfache, diachrone und synchrone Gleichheit von »etwas« mit sich selbst (in jeder Hinsicht).45 Diese trivialisierende Deutung wird von allen ambitionierten Theorien, wie sie in der Psychologie und Soziologie des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, zurückgewiesen.46 Die Einsicht in eine nicht still zu stellende, lebenslange, in hohem Maße kontingente Veränderung der Person bzw. bestimmter Aspekte personalen Seins ist die unabdingbare Voraussetzung, die die moderne Identitätsfrage überhaupt erst virulent und in spezifischer Weise sinnvoll erscheinen lässt. Zahlreiche Selbstthematisierungen, durch die jemand »praktisch« zum Ausdruck bringt, wer er (geworden) ist und sein möchte 41. Vgl. Quante (1999). 42. Quante (2002, S. 32). 43. Der Imperativ »Erzähle dich selbst!« ist, insofern er den Anspruch enthält, das ganze Leben zu umfassen, unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten insbesondere von Dieter Thomä (1998) kritisiert worden. 44. Vgl. Ricken (2002); Straub (2002a, 2002b). 45. Vgl. Renn/Straub (2002). 46. Vgl. z.B. Straub (1991, 1996). 179

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(bzw. als wer er anerkannt werden will), sprechen von Ereignissen bzw. Erlebnissen, die sich nicht bruchlos in die Einheit einer narrativen Identität integrieren lassen. Traumatische Erlebnisse sind die prominentesten Beispiele dafür. Dennoch ist es richtig zu sagen, dass der Begriff personaler Identität, gerade auch das Konzept narrativer Identität, eine als Einheit begriffene Struktur des kommunikativen Selbstverhältnisses einer Person bezeichnet. Anders würde der Identitätsbegriff semantisch leer und der Autonomiebegriff unverständlich. Diese Einheit ist »dynamisch« verfasst, sie symbolisiert eine offene Struktur, deren transitorischen Charakter wir an anderer Stelle hervorgehoben haben.47 Transitorische Identität konstituiert sich im Übergang,48 ist also niemals ein abgeschlossenes Resultat eines Prozesses, sondern der kontrafaktisch unterstellte Fluchtpunkt dieses lebenslangen Prozesses.49 Die avisierte Einheit verdankt sich, wie gesagt, nicht zuletzt der Sprechhandlung der Erzählung selbst. Dies bedeutet, dass sie in beträchtlichem Maße ein sprachsymbolisches Produkt post festum darstellt. Identität ist weniger eine Struktur als ein Vorgang der Strukturierung im Rahmen einer symbolischen Praxis, in der das Geschichtenerzählen eine wichtige Rolle spielt. Diese Strukturierung des kommunikativen Selbstverhältnisses einer Person erfolgt auf weiten Strecken retrospektiv und retrodiktiv. Selbst wenn Selbst-Erzählungen von Imaginationen und Antizipationen einer zukünftigen Zeit zehren, ist dies so. Auch die kommenden Tage können im Modus des Futurum exactum als zukünftige Vergangenheit und vergangene Zukunft »ausgemalt« werden. Bedenkt man, wie eine als Einheit konzipierte personale Identität theoretisch genauer bestimmt werden kann, bedient man sich in aller Regel der in einschlägigen Debatten verbreiteten Begriffe Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz. Letzterer bezeichnet, wie wir an anderer Stelle vorgeschlagen haben, die an soziokulturellen Kriterien der Verträglichkeit (Kompatibilität) zu bemessende Einheit ästhetischer Prinzipien oder moralischer Maximen.50 Konsistenz meint die logische Stimmigkeit von Aussagen und Aussagensystemen im Kontext identitätsrelevanter Selbstthematisierungen. Kontinuität bezieht sich dagegen auf die temporale, diachrone Einheit von Ereignissen (Erlebnissen, Gedanken, Gefühlen, Handlungen etc.), die in der Zeit einer Lebensgeschichte »verstreut« sind. Für die aktive Konstruktion von Kohärenz mögen Erzählungen von Fall zu Fall dienlich sein, jedoch spielen hier andere sprachliche Modi der Identitätsbildung (z.B. Beschreibung, Reflexion, Argumentation) eine wichtigere Rolle. Analoges gilt für die lo47. 48. 49. 50.

Renn/Straub (2002). Sommer (1988). Straub (2002b). Straub (1996). 180

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gische Konsistenz einer Selbstthematisierung. Allein für die Konstruktion von Kontinuität ist das Geschichtenerzählen wegen des oben erwähnten, »inneren« Zusammenhangs zwischen Zeit und Erzählung nicht nur von überragender Bedeutung, sondern schlicht notwendig. Kontinuität steht für die zeitliche Dimension personaler Identität und ist deswegen narrativ konstituiert. Bei diesem Aspekt verweilen wir noch einen Moment. Auch er ist, will er angemessen verstanden werden, auf einen hinreichend komplexen Begriff der Kontinuität angewiesen. Der identitätstheoretische Begriff »Kontinuität« schließt Kontingenz nicht aus, sondern ein. Es ist ein verbreitetes Vorurteil, die narrative Konstruktion von Kontinuität bzw. Identität komme einer Eliminierung von Kontingenz gleich. Richtig ist dagegen: Das Erzählen bringt den Zufall mit ins Spiel, und mit ihm all die unerwarteten und unvorhersehbaren, in jedem Leben unvermeidlichen Ereignisse, die in lebensgeschichtlichen Erzählungen als »Unfälle«, »Brüche« oder auch als willkommene Wendungen des Schicksals imponieren. Sieht man genau hin, wird man sagen können, dass das Erzählen von Geschichten Kontingenz nicht eliminiert, sondern, im Gegenteil, in einzigartiger Weise thematisiert und, wie Ricœur sagt, »in Ehren hält«, sie dabei freilich transformiert, verwandelt.51 Die Erzählung macht aus der »wilden« Kontingenz unvorhergesehener Geschehnisse eine narrativ geregelte Kontingenz erzählter Ereignisse im Rahmen eines Plots, einer symbolischen Ordnung also, in der kontingente Ereignisse eine Stelle und Funktion in einer Geschichte zugewiesen bekommen und dadurch zum Sinn derselben beizutragen vermögen. Erzählungen stiften, mit anderen Worten, Einsicht, und zwar selbst in Zusammenhänge unseres Lebens, Erlebens und Handelns, in denen nicht zuletzt der Zufall regiert. Dies ist, was hier lediglich angemerkt sei, ein wichtiger Gesichtspunkt, der es gerechtfertigt erscheinen lässt, das Erzählen als eine spezifische Form des menschlichen Denkens oder der Intelligenz zu bezeichnen.52 Ricœur (1985) spricht von einer Form phronetischer Vernunft, Bruner (1986) von einem narrativen Modus des Denkens, den er vom paradigmatischen (logico-szientifischen) unterscheidet. Selbstverständlich stellt das Erzählen von Selbst-Geschichten auch eine Form der psychosozialen Verarbeitung von Kontingenzerfahrungen dar. (Das Überraschende bedarf gemeinhin der Verarbeitung.) Jedoch geht es damit gerade nicht um den Ausschluss von Kontingenz 51. Ricœur (1985). Die Vorstellung, dass in der »Mitte« der Erzählung stets ein kontingentes Ereignis, eine Komplikation, ein Plan-Bruch etc. platziert ist, hat sich von der einflussreichen formalen Bestimmung der Erzählung in der Poetik des Aristoteles bis in unsere Gegenwart gehalten (vgl. zusammenfassend Straub 1998; Echterhoff/Straub (2003, 2005). 52. Vgl. ausführlicher Straub (1998, insb. S. 151ff.; 2001a). 181

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aus unserer Erfahrung und Erinnerung, sondern um eine symbolischnarrative Repräsentation, die es erst gewährleistet, dass subjektiv erlebte Kontingenz als intersubjektiv nachvollziehbare Erfahrung artikuliert und erinnert werden kann. Wie gesagt verwandelt die Erzählung kontingente Ereignisse, indem sie sie in eine symbolische Ordnung integriert. Eine derartige Transformation ist jedoch kein Ausschluss und keine Verleugnung: Kontingenz ist ein wesentlicher Bestandteil nicht nur der erlebten, sondern gerade auch der erzählten Welt des Menschen, mithin der narrativen Identität einer Person. Die Erzählung ist von Ricœur aus gutem Grund als eine aktive Synthese nicht nur des Differenten, sondern des Heterogenen bezeichnet worden. Die Heterogenität der erzählten Welt hat z.B. damit zu tun, dass Kontingenz, etwa in Form unvorhergesehener Widerfahrnisse, neben intentionalen Handlungen und beabsichtigten Folgen sowie nicht-intendierten Nebenfolgen steht und sich all das zusammen zu einer Geschichte fügt, durch die eine Person zu artikulieren versucht, wer sie (geworden) ist und sein möchte. »Kontinuität« ist so wenig das einfache Gegenteil von »Kontingenz« und »Diskontinuität«, wie der hier interessierende Begriff der Identität in eine abstrakte Opposition zum Nicht-Identischen tritt, dieses kurzerhand ausschließt und verdrängt. Das Gegenteil ist der Fall: Identität als eine aspirierte, kontrafaktisch unterstellte einheitliche Struktur des kommunikativen Selbstverhältnisses einer Person bedarf des Nicht-Identischen (begrifflich, theoretisch und empirisch). Der soziokulturelle Anspruch, Identität und Autonomie zu erlangen, lässt sich von keiner Person jemals vollständig erfüllen. Er besagt weder, das Nichtidentische könne faktisch aus dem Leben und seiner symbolischen Repräsentation ausgeschlossen werden, noch zielt er normativ darauf ab, diese totale Exklusion solle doch wenigstens angestrebt werden. Die Vorsicht gegenüber den vielfältigen Erscheinungen, die als psychopathologische Spaltung oder als Zerfall der Persönlichkeit beschrieben worden sind, ist im Rahmen des modernen identitätstheoretischen Denkens keinesfalls eine Aufforderung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ohne Selbstentzug, Autonomie ohne Heteronomie, Identität ohne Nichtidentisches zu begreifen und die Praxis autonomer Subjekte an diesen irreführenden Dichotomien auszurichten. Wer vor jenen »pathologischen« Phänomenen warnt, die die Betroffenen selbst als ihr persönliches Leid zum Ausdruck bringen, plädiert keineswegs für eine Persönlichkeitsstruktur, die Erik Erikson (1959) vor langer Zeit als »Totalität« bezeichnet und dezidiert von der »Identität« abgegrenzt hat. Das Konzept personaler Identität impliziert, wie der Begriff der Autonomie, gerade kein »totalitäres Ich«.53 Identität ist vielmehr ausdrücklich gegen diese Möglichkeit des, wie man durchaus sagen kann, 53. Sampson (1989). 182

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psychologischen Totalitarismus gerichtet – theoretisch und praktisch. Das alles – zumindest das – muss in Erinnerung behalten werden, wenn man sich mit der postmodernen Kritik an der Autonomie und Identität des »modernen« Subjekts auseinandersetzen möchte.

3. Relationales Selbst und dialogisches Selbst: die Fragmentierung des Selbst in post-modernen Diskursen Auch jene neueren Ansätze in der Psychologie, die sich kritisch gegen die Vorstellung wenden, Identität sei notwendigerweise mit der aspirierten Einheit der Person verbunden, greifen für ihre Argumentation das Konzept der Narrativität auf. Dies gilt unter anderem für diejenigen sozialpsychologischen Strömungen, die sich unter der Bezeichnung Social Constructionism zusammenfinden.54 Einer der renommiertesten Vertreter des Sozialkonstruktionismus, der US-amerikanische Sozialpsychologe Kenneth Gergen, hat seine Kritik am »Mainstream« der Psychologie nicht zuletzt im Hinblick auf eine im Zeichen der Dekonstruktion und Kritik des autonomen, mit sich identischen Subjekts stehende, »postmoderne« Theorie des Selbst entwickelt. Mit seiner Konzeption des relational self will er aus der seiner Ansicht nach zutiefst »individuozentrischen« Ausrichtung der Psychologie ausscheren und zugleich eine zeitgemäße Vorstellung des Selbst entfalten. Ähnliches 54. Diese Bezeichnung steht etwa seit Mitte der 80er Jahre für ein größeres Programm: Sozialkonstruktionistische Gegenstandsentwürfe haben sich – zunächst besonders im englischsprachigen Raum – als Alternative zur (kognitivistischen) »Mainstreampsychologie« etabliert. Den Ausgangspunkt der sozialkonstruktionistischen Kritik bildet die »Zentrierung« der Psychologie auf das Individuum und der Vorwurf, die soziokulturelle Basis vieler, wenn nicht aller psychologischer Begriffe werde durch diesen »Individuozentrismus« systematisch in den Hintergrund gedrängt. Speziell in der Sozialpsychologie stellt diese Sicht psychologischer Phänomene eine Alternative zur kognitivistischen Social-Cognition-Sozialpsychologie dar, die davon ausgeht, man könne menschliches Zusammenleben dadurch erforschen, dass man die internen psychischen Prozesse der einzelnen Interaktionsteilnehmer erfasst und analysiert (vgl. Strack 1988). Der Position des Social Constructionism vergleichbare kritische Argumente und Vorschläge haben Sozial- und Kulturpsychologen unter Stichworten wie »Psychologie des Sozialen« oder »Semantische Sozialpsychologie« vorgebracht (Bruner 1990; Flick 1995; Laucken 1998; Straub 1998a u.a.). Erst in den letzten Jahren hat sich der Begriff »Sozialkonstruktionismus« auch im Deutschen als Bezeichnung für die psychologische Variante des Sozialen Konstruktivismus eingebürgert. Auch die Discursive Psychology oder »Diskurspsychologie« kann man als eine Variante des Sozialkonstruktionismus bezeichnen, die besonders an der Methode der Konversations- und Diskursanalyse ausgerichtet ist, die grundlagentheoretischen Positionen aber teilt (Potter/Wetherell 1987; Billig 1991; Edwards/ Potter 1992; Shotter 1994; Potter 1996; Harré 1994, 1986; Edwards 1997). 183

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gilt für das Konzept des dialogical self, das die niederländischen Kultur- und Persönlichkeitspsychologen Hubert Hermans und Harry Kempen in die Diskussion gebracht haben. Wir werden im Folgenden wesentliche Aspekte dieser beiden sozialkonstruktivistisch orientierten Theorieansätze darstellen und danach fragen, wie sie das Konzept der Narrativität für die theoretische Bestimmung des Selbst verwenden, um schließlich einige Unterschiede zwischen diesen Ansätzen und dem oben skizzierten Begriff personaler Identität und Autonomie herauszustellen. Dabei werden wir einige Einwände gegen die Diagnose und nicht zuletzt gegen die normative Idee eines postmodernen Selbst formulieren. Die postmoderne Psychologie des Selbst soll also als eine der zweifellos bedeutenden, innovativen und herausfordernden Strömungen der zeitgenössischen Psychologie vorgestellt werden, ohne ihre Schwächen zu verbergen.

3.1. Das relationale Selbst oder: das Individuum als Nebenprodukt sozialer Beziehungen Die Beschäftigung mit dem Begriff des Selbst zieht sich durch Gergens wissenschaftliche Karriere. Schon zu Beginn seiner Laufbahn befasste er sich mit Selbstkonzept-Theorien sowie mit Fragen der Selbstwahrnehmung und -präsentation. Auch die umfassenden wissenschaftsund gegenstandstheoretischen Überlegungen bis zur Entwicklung des Social Constructionism wurden nicht zuletzt mit dem Ziel entfaltet, zu einer »social reconstitution of the individual« beizutragen, und zwar in »non-individualistic terms«.55 In der Monographie The Saturated Self präsentiert er seine identitätstheoretischen Überlegungen bzw. sein Konzept des relational self am ausführlichsten. Das relationale Selbst (oder »Beziehungsselbst«) ist der Versuch, einen Begriff für die an der sozialen Praxis Beteiligten zu schaffen, der nicht zugleich eine neue Variante des autonom handelnden und »kognizierenden« Individuums ins Spiel bringt. Letzteres möchte Gergen vermeiden, indem er den Begriff der Beziehung in den Vordergrund rückt: »From the constructionist standpoint, relationship takes priority over the individual self: selves are only realized as a by-product of relatedness.«56 Gergen entfaltet seinen Begriff des Selbst, indem er einerseits die Veränderungen einer »Sprache des Selbst« im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts rekonstruiert, andererseits die Lebensverhältnisse von Mitgliedern moderner Gesellschaften beschreibt.57 Beides wird im Hinblick darauf analysiert, welches Modell eines Selbst für die Lebenszusammenhänge postmoderner Gesellschaften adäquat ist. Gergens 55. Gergen (1997, S. 234f.). 56. Gergen (1994, S. 249). 57. Gergen (1990, 1991). 184

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identitätstheoretische bzw. identitätskritische Überlegungen gehen von folgender Leitthese aus: Neue Technologien, insbesondere die Massenmedien, aber auch neue Verkehrswege und -mittel erleichtern den Mitgliedern moderner, westlicher Industriegesellschaften die Kommunikation über Landesgrenzen und Kontinente hinweg und erlauben ihnen größere Mobilität und geografische Flexibilität. Dadurch wird es möglich, direkte oder indirekte Beziehungen mit einem immer größeren Kreis von Personen aufzunehmen und zu unterhalten. Dies wiederum resultiert in einem mittlerweile erreichten Zustand der »sozialen Sättigung«, da sich neue Formen des Bezogen-Seins herausbilden, die immer unverbindlicher und temporärer werden. Die weitreichenden Folgen dieser neuen Beziehungsformen für das Selbstverhältnis jeder einzelnen Person und für die Art und Weise, in der Einzelpersonen zueinander in Beziehung treten, führen im Extremfall zur Auflösung des individuellen Selbst und zum Verlust jeglicher Identität und Autonomie: »The fully saturated self becomes no self at all«.58 Gergen interpretiert seine Beobachtungen der (post-)modernen Lebensverhältnisse dahingehend, dass das Selbst immer stärker »bevölkert« werde, dass also das Selbst einer Person heute in viel stärkerem Maße als früher von anderen Seinsweisen und »Identitäten« durchsetzt sei.59 So bedinge zum Beispiel die Tatsache, dass zwischenmenschliche Beziehungen häufiger und mit mehr Partnern eingegangen werden, in stärkerem Maße und in kontingenteren Richtungen einen Wechsel zwischen unterschiedlichen Lebensformen und

58. Gergen (1991, S. 6f.). – Verwandte Ansichten äußert auch Zygmunt Baumann (1996) in seinem Aufsatz From pilgrim to tourist – or a short history of identity. Die Mitglieder postmoderner Gesellschaften sind dort immer »on the move«, und daher auch (fast) immer »strangers« (S. 28f.). Die beschriebene Lebensform des immerwährenden Touristen und andere »postmoderne Lebensstrategien« haben für Baumann, ganz in Gergens Sinne, eines gemeinsam: »they tend to render human relations fragmentary« (S. 33). Dadurch verändern sich auch die Anforderungen an das Selbst des postmodernen Menschen: Während das Problem »moderner« Identität immer auf die Frage hinaus laufe, wie Identität herzustellen und zu stabilisieren sei, stelle sich die »Identitätsfrage« in der Postmoderne ganz anders: »The postmodern problem of identity is primarily how to avoid fixation and keep the options open« (S. 18). (Es ist leicht zu sehen, dass exakt dieses Problem von Krappman und Leu und vielen anderen als zentraler Referenzpunkt moderner Theorien personaler Identität ausgewiesen wird!) Im Grunde genommen ebenfalls mit Gergens Zeitdiagnose vergleichbar ist Richard Sennetts (1998) – allerdings eindeutig kritische, ja wehmütige – Klage über »the corosion of character«. Diese Auflösung des auf Langfristigkeit angelegten Charakters begreift der soziologische Kulturkritiker als einen im »Turbokapitalismus« systemisch bedingten Zerfall nicht zuletzt narrativ konstituierter Identität und Autonomie (zur Diskussion Straub 2001b). 59. Gergen (1996, S. 123ff.). 185

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Existenzweisen, als das früher der Fall war.60 Die rapide Entwicklung der »population of the self«, also der Durchsetzung und Durchkreuzung des Selbst einer Person mit den Ansichten, Vorstellungen und Orientierungen vieler anderer, führe irgendwann zwangsläufig dazu, dass man von personaler Identität und Autonomie, so Gergen, nicht mehr sinnvoll reden könne. Für die Beschreibung dieses stark fragmentierten Selbst (das eigentlich keines mehr ist) bedient sich Gergen der aus Bachtins Romantheorie entlehnten Metapher »unterschiedlicher Stimmen«: Die vielfältigen Beziehungen, die das moderne Individuum unterhält, versorgen es mit einer Vielzahl inkohärenter und auseinander driftender »innerer Dialoge«, was wiederum zur Folge hat, dass auf alles, was es über sich selbst zu wissen glaubt, andere Stimmen in ihm »antworten«, die möglicherweise dieses vermeintlich sichere Wissen bezweifeln oder gar ablehnen. Stellvertretend für die Vielzahl an inkohärenten und nicht miteinander verbundenen Beziehungen ziehen sie uns nach unterschiedlichen Richtungen und laden uns zu widersprüchlichen Rollenübernahmen ein, erzwingen so die radikale Fragmentierung und schließlich die Auflösung des erkennbaren Selbst: »[T]he very concept of an authentic self with knowable characteristics recedes from view.«61 Die Überlegungen zum Selbst sind für Gergen, wie gesagt, mit einer Zeitdiagnose der »Postmoderne« verknüpft: Weder die der Romantik zuzurechnende Auffassung des Selbst als »tiefere«, nur bedingt dem rationalen Verstand zugängliche Seele, noch die moderne Auffassung, der zufolge das Selbst ein beobachtbarer Teil einer komplexen Maschine sei, würden den vielfältigen, multiplen Realitäten einer hochtechnisierten Welt gerecht: »As we enter the postmodern era all previous beliefs about the self are placed in jeopardy and with them the patterns of action they sustain.«62 Erst der »Postmodernismus«, so Gergen, sei heute zeitgemäß, indem er das Konzept der einheitlichen, kohärenten und kontinuierlichen Identität konsequent verwerfe, anstatt nur wieder eine neue Variante des im Grunde genommen ewig gleichen, längst anachronistischen Modells anzubieten. Dieses Modell bezichtigt Gergen nicht zuletzt eines unhaltbaren Substantialismus oder Essentialismus: »The very concept of personal essences is thrown into doubt. Selves as possessors of real and identifiable characteristics – such as rationality, emotion, inspiration and will – are dismantled.«63 Wenn diese Diagnose einer unausweichlichen Auflösung des Selbst nach postmodernem Nihilismus und Pessimismus klingt, so ist dies gewiss nicht Gergens Absicht. »Der postmoderne Mensch«, heißt 60. 61. 62. 63.

Gergen (1996, S. 116f.). Gergen (1991, S. 6f.). Gergen (1991, S. 7). Gergen (1991, S. 7). 186

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es zwar zunächst, ist »eine Art sozialer Konstruktion: er ist so, wie die anderen – und er selbst – ihn sich vorstellen.«64 Dies aber sollte als eine Chance begriffen werden, die postmoderne Lebensform oder Existenzweise und ihre Auswirkung auf das Selbst positiv zu sehen. Das eigene Selbst nurmehr als »Knotenpunkt in der Verkettung von Beziehungen«65 zu verstehen, könne das Dasein, so Gergen, bereichern und die Lebensqualität erhöhen: Erstens werde unsere Identität durch die Effekte der »sozialen Sättigung« vielschichtiger, so konstatiert Gergen häufig mit Bezug auf Bachtins Begriff der »Dialogizität«. Jedes »neue Selbst«, das dem Einzelnen begegne und ihn bevölkere, trage zu intensiven »inneren Dialogen« bei, schließlich zu einer »Polyphonie« innerer Stimmen und unbegrenzter imaginärer Beziehungen, sodass man letztlich im positiven Sinn von den »multiplen« Identitäten oder Persönlichkeiten ein und desselben Menschen reden könne. Zweitens führe die besagte innere Polyphonie umgekehrt dazu, dass die Kluft zwischen Selbst und Anderem im unentwegten Austausch mit Anderen gleichsam »in uns« aufgehoben sei: »Self and other are locked together in the generation of meaning.«66 Gergens Ansicht nach mögen die verschiedenen Stimmen zwar sehr Unterschiedliches bedeuten und aussagen. Gerade dies aber sei als Vorteil und Gewinn anzusehen, könne es doch dazu führen, dass man inmitten des kreativen Wirrwarrs eine neue Konstellation von Empfindungen und Gedanken entdecke und auf dieser Basis ein ganz neues Selbstverhältnis entwickle.67 Und wenn die sich Gehör verschaffenden Stimmen einander radikal widerstreiten sollten, sodass sie auf ewig unvereinbar erschienen (ohne jemals Ruhe geben zu wollen)? Auch dann bliebe Gergens Bild durchaus positiv, denn es ist nun einmal »a typical condition of the individual to be in internal conflict: for each belief there exists a strong countertendency«.68 Damit ist, so Gergen, ein weiteres konstitutives Element des relational self angedeutet, das dieses von anderen psychologischen Konzepten des Selbst unterscheidet:69 Es kann nicht angehen, meint Gergen, dass sich die aka64. Gergen (1991, S. 197). 65. Gergen (1991, S. 197). 66. Gergen (1999, S. 131). 67. Gergen (1991, z.B. S. 69). 68. Gergen (1991, S. 72). 69. Gergen grenzt seinen Begriff auch gegen jene sozialpsychologischen Ansätze ab, die das Individuum zwar »als sozialen Akteur« oder als »Konstrukteur der sozialen Wirklichkeit« konzeptualisieren, dabei aber immer noch klassisch »moderne« Identitätskonzeptionen zu Grunde legen (Gergen 1997, 1999). Dabei wird so unterschiedlichen Autoren wie George Kelly, Lev Vygotski, Frederic Bartlett, George Herbert Mead und Jerome Bruner nachgesagt, sie blieben am selbstgesteuerten, unabhängigen Individuum interessiert, anstatt dieses durch eine radikal kulturelle oder soziale Konzeptualisierung zu 187

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demische Psychologie damit begnügt, den hier beschriebenen Zustand eines gesättigten, vielfach fragmentierten Selbst generell zu pathologisieren – nur weil er bisweilen dazu führt, dass eine Person nicht mehr entscheidungs- oder handlungsfähig ist. Schließlich stelle die extreme Fragmentiertheit und Zerrissenheit des beziehungsgesättigten Selbst so etwas wie die »subjektive« Seite der fortgeschrittenen Temporalisierung, Differenzierung, Pluralisierung und Individualisierung der postmodernen gesellschaftlichen Lebenswelt dar, sei also durchaus »normal«. Im Übrigen müsse dieser unsichere Zustand des völlig von den Sichtweisen, Ansichten, Einstellungen und Erwartungen anderer durchdrungenen relational self nicht unbedingt als leidvoll erlebt werden. Er könne, wie gesagt, auch mit Gefühlen der Erweiterung, ja des »Abenteuers« einhergehen.70 Gergen selbst spricht – in Abgrenzung vom pathologisierenden Begriff der Schizophrenie, an den er dennoch anknüpft, indem er ihn gleichsam »steigert« und »überbietet« – bekanntlich vom Zustand der Multiphrenie:71 Die Bevölkerung und soziale Sättigung des Selbst führen demnach dazu, dass ein Selbst in sog. »Teil-Identitäten« aufgespalten wird, die jede Kohärenz und Kontinuität verunmöglichen und damit auch die autonome Personalität untergraben. Es entsteht ein in der postmodernen Psychologie affirmierter, bisweilen propagierter multiphrener Zustand, in dem man in gegenläufigen und ihre Richtung ständig ändernden »Seinsströmungen« schwimmt. Dadurch wird es zwar zunehmend schwierig, ja unmöglich, eine an der Vorstellung einer kohärenten und kontinuierlichen Identität und personaler Autonomie orientierte Existenz zu führen, was aber nicht weiter zu bedauern sei, denn: »the way is open for the postmodern being«.72

3.2. Identität als Nebenprodukt von Erzählungen – oder »narrative Identität«? Die Möglichkeit eines »multiphrenen«, postmodernen Menschen eröffnet im sozialen Konstruktionismus – meist mit deutlichem Blick auf Foucault und Derrida – den Weg einer kritischen Dekonstruktion der ersetzen (Gergen 1999, S. 123f). Zur Kritik des relational self vgl. z.B. die Kommentare von Mitchell G. Ash (1990), Jerome Bruner (1990) und Thomas Luckmann (1990) in der Psychologischen Rundschau sowie die Beiträge von Wenzel (1995), Diehl (1994), Straub (2000b) oder Zielke (2004). 70. Gergen (1991, S. 73f.). 71. Wolfgang Welsch denkt ähnlich, wenn er (in Anlehnung an Felix Guattari und Gilles Deleuze) von Polyphrenie als der normalen Verfassung des Selbst in unserer postmodernen Moderne redet (Welsch 1990, 1991, 1993; zur Kritik an Welschs Subjektbegriff vgl. Straub 2000a). 72. Gergen (1991, S. 80). 188

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Idee des rationalen, selbstbestimmt handelnden Individuums. Diese normative Idee wird als Ergebnis überindividueller, Hegemonialität beanspruchender, von Machtansprüchen durchsetzter Diskurse und institutionalisierter Praktiken entlarvt.73 Die individualistische Konzeption des mit sich identischen, autonomen Selbst, gegen die argumentiert wird, verdankt sich, so Gergen, bestimmter hegemonialer Arten der Rede, die andere Arten der Rede, deren Resultat oder Produkt dann eben auch ein anderes Bild des Selbst sein könnte, ausschließen.74 In diesem Sinne interessiert auch Gergen die Narration als besondere Sprachform, deren »by-product« eine spezifische Form personaler Identität ist.75 Der enge Zusammenhang zwischen Erzählung und Identität bleibt auch aus der Sicht des Sozialkonstruktionismus unbestritten: Narrationen sind überaus zentral für unser Denken und Handeln. Sie weisen eine bestimmte Struktur auf, die sich historisch und kulturell eingebürgert und bewährt hat. Insbesondere für Selbst-Erzählungen gilt, dass diese besondere Struktur Hinweise auf die Art und Beschaffenheit moderner Selbstverhältnisse gibt. Allerdings müssen auch scheinbar »individuelle« Selbsterzählungen, das betont Gergen unermüdlich, als »social accounts«, als ausschließlich »diskursiv« und damit sozialfunktional bestimmte Formen des Selbstbezugs verstanden werden. Nichts an der empirischen Form narrativer Selbstpräsentationen berechtigt zu universellen Annahmen über diese Sprachform, geschweige denn über notwendige Merkmale einer sich in der Erzählung genuin ausdrückenden narrativen Identität (in dem Sinn etwa, dass das Selbst z.B. auf Kohärenz und Kontinuität angewiesen sei). Erzählungen sind nach sozialkonstruktionistischer Auffassung Diskurse, die durch Form und inhaltlichen Aufbau bestimmte Vorstellungen davon generieren, was als wahr zu gelten hat. Mitnichten bilden Erzählungen das gelebte Leben oder eine sonstige Realität ab, die unabhängig von Diskursen bestünde und als solche erfasst werden könnte. Erzählende Subjekte agieren nur scheinbar autonom beim Gestalten einer autobiografischen Erzählung. »Persons«, so schreibt Gergen, »do not author their own lives. Rather, the self-narrative is a linguistic implement, embedded within conventional sequences of action and employed in relationships in such a way as to sustain, enhance or

73. Z.B. Gergen (1991, S. 96ff., 106). 74. Hier wird Gergen, der postmodernen und moralkritischen Stoßrichtung seiner sonstigen Ausführungen zum Trotz, häufig und deutlich normativ, so etwa bei der folgenden polemischen Kritik der klassischen, ›modernen‹ Auffassung des Selbst: »[D]oesn’t the presumption of real and actual selves render society more rigid, and oppression more compelling?« (Gergen 1991, S. 99). 75. Gergen (1998). 189

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impede various forms of action.«76 Lebensgeschichten müssen dem hiermit vorgegebenen Muster folgen, um als intelligible Selbstpräsentation akzeptiert zu werden. Gergen kritisiert auch hier aufs Schärfste, dass von diesem Muster abweichende Selbstpräsentationen in westlichen modernen Gesellschaften auch heute noch pathologisiert würden: Eine »multiple Persönlichkeit« würde abwertend als gespalten, psychisch labil oder krank bezeichnet, nicht nur weil sie nicht alle Fragmente ihres Selbst unter einen Hut zu bringen vermag, sondern auch weil sie sich nicht aus dem kulturellen »Reservoir« intellegibler Geschichten bediene. Gergen zufolge zeige dagegen schon ein kurzer Blick in Werke moderner oder postmoderner Literatur, etwa in die Arbeiten von James Joyce, Milan Kundera, Thomas Pynchon oder Don de Lillo, dass Erzählungen gar nicht so sehr auf Kontinuität und Kohärenz angewiesen sind, wie es die sozialwissenschaftliche Erzählforschung unterstellt.77 Das heißt für die sozialkonstruktionistische Auffassung dann auch, dass possible selves nicht auf die in den Sozialwissenschaften gemeinhin in Anspruch genommene narrative Form der Sinnbildung festgelegt sein dürfen. Deshalb hebt die sozialkonstruktionistische Auslegung eines narrativen Selbst stets auf die Möglichkeiten des Erzählenden ab, Form und Inhalt der Selbstpräsentation – wiederum nach vorgegebenen soziokulturellen Mustern – zu variieren und dadurch auch aus dem »klassischen« Identitätsmodell auszubrechen. Man kann demnach durchaus unterschiedliche Selbsterzählungen bilden und sogar verschiedene Varianten parat haben, in denen man sich selbst sogar widersprüchlich darstellt. Solche Varianten mögen einander ergänzen wie die Steine eines Mosaiks, sie können einander aber auch widersprechen oder widerstreiten und sich der Integration in eine einheitliche, kohärente und kontinuierliche Form widersetzen. Sie variieren in Abhängigkeit vom »relational context«,78 in dem man gerade spricht und handelt. Dafür sind Kompetenzen der Erzählerin erforderlich, die sich von den traditionellen Kriterien gelingender Identität unterscheiden: »One acquires not a deep and enduring ›true self‹ but a potential for communicating and performing a self.«79 Das adaptive self wird nach dieser Auffassung zu einem radikal kontext- und situationsabhängigen, flexiblen, möglichst variantenreichen und versierten Selbst-Darsteller. Gergen ist der Ansicht, dass der sozialkonstruktionistische Narrativitätsbegriff damit Aspekte in den Vordergrund rückt, die die »herkömmliche« Erzähl- und Identitätsforschung seines Erachtens nicht (oder nicht genügend) hervorhebt: Sowohl die strukturelle Form der 76. 77. 78. 79.

Gergen (1994, S. 188). Vgl. z.B. (Gergen 1994, S. 185f.). Gergen (1994, S. 206). Gergen (1994, S. 206). 190

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Erzählung als auch die Pragmatik der Erzählsituation zeigen, dass die Eingebundenheit jeder (Selbst-)Erzählung in sozialfunktionale Zusammenhänge ein konstitutives Merkmal personaler Identität ist. Die relevanten Kriterien narrativer Selbstthematisierungen haben für Gergen damit zu tun, dass das Erzählen einer intelligiblen Geschichte (über das eigene Selbst) dem Erzählenden moralische und soziale Integrität sichert bzw. ihn zur Rücksichtnahme auf andere verpflichtet, denn: »Narrative validity depends strongly on the affirmation of others«; und weiter: »self-intelligibility depends on whether others agree about their own place in the story«.80 Kohärenz, Konsistenz und Kontinuität dagegen müssen weder das Selbst noch ein Narrativ unbedingt aufweisen: »[B]ecause one stands in shifting relationships to a multiplicity of others, one may or may not achieve stability in any given relationship, nor is there reason across relationships to suspect a high degree of coherence.«81 Wir kommen darauf zurück.

3.3. Das dialogische Selbst: ein bunter Haufen heterogener »Ich-Positionen«? Hermans und Kempen (1993) haben mit ihrer Konzeption eines dialogischen Selbst ebenfalls einen theoretisch aufwendigen Versuch vorgelegt, das Individuum in sozialen Zusammenhängen aufgehen zu lassen: Psychische Prozesse, Funktionen oder Zustände, die für das Selbst und die Identität eine Rolle spielen (z.B. Emotionen oder Handlungsfähigkeiten), gelten diesen Autoren, ähnlich wie Gergen, als »rhetorical actions«, als Resultate des Beteiligtseins an dialogischen Kommunikationen. Mit Gergen verbindet Hermans und Kempen auch der Anspruch, ein für die Psychologie neues Konzept vorzulegen, das die »kulturell bedingten Grenzen von Individualismus und Rationalismus« transzendiert, da es das Selbst nicht mehr als Einheit, sondern nurmehr als eine »multiplicity of positions« versteht.82 Das Konzept der Narrativität gilt den Autoren als »basic mode of thought« und als wichtiges Element des modernen Selbst, als eine heute besonders gut einsetzbare Art und Weise, Ereignisse, Erfahrungen und Handlungen sinnvoll zu ordnen. Es steht im Zentrum ihrer Theorie des Selbst. Besondere Aufmerksamkeit erhält dabei die Unterscheidung zwischen erzählendem und erzähltem Ich, die sie, in Anlehnung an William James, in die Unterscheidung von »I« und »Me« übersetzen.83 80. Gergen (1994, S. 188f., 209). 81. Gergen (1994, S. 205f.). 82. Hermans/Kempen/van Loon (1992, S. 29). 83. Sogar Identitätstheorien, die selbst noch nicht mit Narrativität als zentraler Metapher arbeiten, können, so die Autoren, mit Hilfe dieser Metapher besser verstanden werden: »James’ original distinction between the I and the Me can be reformulated in narra191

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Die Autoren setzen diese Unterscheidung freilich ein, um zu zeigen, dass gerade ein narratives Selbst nicht auf die Einheit der Person abzielen müsse, sondern unterschiedliche, widerstreitende Erzählerpositionen, »I-positions«, beherbergen kann, denen durchaus widerstreitende Welt- und Selbstsichten erlaubt sind. Damit ist es der erzählenden Person möglich, ihr Selbst auf ganz unterschiedliche, auch widersprüchliche und widerstreitende Weise zu konstruieren, und zwar keineswegs etwa nur im Sinne unterschiedlicher Facetten einer Persönlichkeit, die durch die I-positions und die in der Geschichte auftretenden Protagonisten repräsentiert, aber durch ein zentrales, erzählendes Selbst kontrolliert, gesteuert und integriert würden. Hermans und Kempen heben eigens hervor, dass die unterschiedlichen I-positions tatsächlich unvereinbare Persönlichkeiten in einer Person darstellen, ohne dass es eine übergreifende Erzählinstanz gebe, die alle Positionen kenne.84 Wie im postmodernen Entwurf Gergens spielt Bachtins Begriff der Dialogizität und die Metaphorik der widerstreitenden »Stimmen« eine tragende Rolle. Die Diversität der I-positions konzeptualisieren Hermans und Kempen als »voices by which the I in one position can agree, disagree, understand, misunderstand, oppose, contradict, question, and even ridicule the I in another position«.85 In diesem Sinne betonen auch die Erfinder des dialogischen Selbst nicht nur die Eingebundenheit des modernen, sich selbst entwerfenden Menschen in Dialoge mit anderen, sondern die Konstituiertheit des modernen Selbst durch polyphone Dialoge, außerhalb derer es überhaupt keine Position gibt. Wie in musikalischen polyphonen Kompositionen, in denen die einzelnen Stimmen oder Instrumente bisweilen in opponierender Weise zusammen spielen, sich ergänzen und brechen, so haben auch die Charaktere einer »polyphonic novel« nicht einfach nur unterschiedliche Rollen in der »einen« erzählten Welt. Sie stellen vielmehr selbst, jede für sich »autonom«, eine Vielzahl unterschiedlicher Welten und Perspektiven her, von denen auch die des Autors nur eine unter vielen ist.86 Dieses konstruktivistische und pluralistische Verständnis des (durch und in Erzählungen konstituierten) Selbst steht beim dialogischen Selbst ebenso Pate wie beim relationalen Selbst Gergens. Beide verbindet allerdings auch, dass nicht ganz klar wird, wer denn da mit wem tatsächlich in einem Dialog steht – und was »Dialog« hier eigenttive terms by seeing the I as author and the Me as actor« (Hermans/Kempen/van Loon 1992, S. 27). Eine ähnliche Anwendung der Erzähltheorie haben auch Mancuso und Sarbin (1983) sowie Sarbin (1986) vertreten. Sie argumentierten bereits, das I könne als Autor, das Me als Aktor, als Protagonist, verstanden werden. 84. Hermans/Kempen (1993, S. 44ff.). 85. Hermans/Kempen/van Loon (1992, S. 29). 86. Hermans/Kempen/van Loon (1992, S. 27). 192

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lich bedeutet, da die unterschiedlichen kommunizierenden Stimmen oder »Identitäten« als potenziell inkommensurabel beschrieben werden (s.u., Abschnitt 4.). Das dialogical self unterscheidet sich vor allem in einem wichtigen Punkt vom rein diskursiven Selbst des sozialen Konstruktionismus. Hermans und Kempen heben die »leibliche« Basis unserer Selbstkonstruktionen hervor. Von Anfang an machen sie deutlich, dass – allen Aufspaltungsphantasien zum Trotz – die Selbstkonstruktionen und -kognitionen eines Subjektes nicht unter Missachtung der Tatsache konzeptualisiert werden dürfen, dass das konstruierende Subjekt einen Körper bzw. einen Leib hat. Welche Ereignisse und Dinge für uns welche Bedeutung haben, ist nicht zuletzt bestimmt oder doch wenigstens geformt durch die Muster unserer Körperbewegungen, unsere stets auch leiblich vermittelte, räumliche und zeitliche Orientierung in der Welt und unsere praktische Interaktion mit den »Gegenständen« in ihr. Die Rede ist, in Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty, vom »body subject« – und immer wieder vom »embodied self«.87 Dadurch kann die Struktur des dialogical self mit Hilfe räumlicher Metaphern beschrieben werden: Das Selbst ist ein Raum, ein »mind space«, innerhalb dessen das I die Bewegungen des Me als Teile einer narrativen Konstruktion zusammenfügt.88 »[M]ental acts are analogs of bodily acts«, und schließlich: »The I has the possibility to move, as in a space, from one position to the other, in accordance with changes in situation and time.«89 Scheint damit nicht doch eine gewisse »Zentrierung« vorgegeben zu sein? Der Leib ist in der Theorie von Hermans und Kempen immerhin der »Ort«, an dem die unterschiedlichen Stimmen oder I-positions sich jeweils einfinden, und er ist an eine »particular position in space and time« gebunden.90 Dem Verdacht, hier könne sich durch die Hintertüre ein Bestreben nach Integration oder Festschreibung der unterschiedlichen und höchst beweglichen I-positions einschleichen, wird zunächst durch den Hinweis auf die spezifische, konstruktive Fähigkeit des I entgegengewirkt, den unterschiedlichen Positionen imaginäre Stimmen zu verleihen. Diese können dann, jede für sich, ihre in sich kohärenten, konsistenten und kontinuierlichen, narrativen Konstruktionen voranbringen. Untereinander können diese jedoch radikal widersprüchlich oder einander widerstreitend sein: »Each character has a story to tell from its own stance.«91 So entsteht, folgt man den Autoren, ein narrativ strukturiertes Selbst, das sich vom »individualis87. 88. 89. 90. 91.

Vgl. Hermans/Kempen/van Loon (1992, S. 25, S. 28, u.a.). Hermans/Kempen (1993, S. 46). Hermans/Kempen/van Loon (1992, S. 27f.). Hermans/Kempen/van Loon (1992, S. 29). Hermans/Kempen/van Loon (1992, S. 29). 193

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tischen« und »rationalistischen« Bias befreit, der allen »herkömmlichen« identitäts- und narrationstheoretischen Arbeiten anhaftet, die das Selbst als eine aktiv synthetisierte oder integrierte, einheitliche Gestalt begreifen. Dagegen betonen Hermans und Kempen: Das Selbst kann mehrere, voneinander separierte und fragmentierte I-positions in unterschiedlichen, raumzeitlich konzeptualisierten Welten einnehmen, ohne vergessen zu müssen, dass es auch leiblich und damit an eine feststellbare, raumzeitliche Position gebunden ist. Hermans und Kempen haben wie Gergen den Anspruch, das Selbst in einem Sinne »sozial« zu zeichnen, der (angeblich) über den Meadschen Begriff der Rollenübernahme weit hinausgehe, insofern anderen eine Position im eigenen Selbst zugestanden wird. Die multiple selves verschiedener Personen besetzen sich gegenseitig und treiben so ihre Sättigung und Vervielfältigung unendlich weiter: »I construe another person as a position that I can occupy and a position that creates an alternative perspective on the world and myself.«92 Ermöglicht wird diese extreme Offenheit und Durchlässigkeit des Selbst für andere Positionen durch eine Fähigkeit des I, die als »power of imagination« bezeichnet wird. Es ist augenscheinlich, dass die Bedeutung, die der »Vorstellungskraft« des I zugesprochen wird, im Konflikt mit dem Postulat der Auflösung des Selbst oder Ich steht. Und wenn diese Vorstellungskraft zudem noch einem »embodied self« zugesprochen wird, das doch durch sein leibliches Dasein nur einmal in der Welt verankert ist, so stellt sich auch die Frage, wie dieses embodied self radikal unterschiedliche Welten und radikal fremde Positionen konstruieren kann. Derjenige Leser, der sich auch unter postmodernen Bedingungen nicht gänzlich vom Selbst verabschieden will, gerät hier in ein Dilemma. Gerade die Punkte, in denen das dialogical self im Unterschied zum relational self noch an interne Kontinuität, Konsistenz und Kontinuität oder sogar eine synthetisierte Einheit der Person erinnert (embodied self, power of imagination), fordern zur immanenten Kritik des dialogical self auf: Wieso, möchte man fragen, steht im Rahmen der Beschreibung eines vervielfältigten, fragmentierten Selbst, das explizit als Alternative zum »Western ideal of self as a centralized equilibrum« aufgefasst wird,93 die Rede von der imaginativen Kreativität und Vorstellungskraft des I, und nicht etwa die produktive und konstitutive Kraft sozialer Diskurse, Konventionen oder Praktiken, die sich der Kontrolle dieses Subjekts entziehen, im Zentrum? Diesbezüglich ist Gergens Theorie, jedenfalls auf den ersten Blick, konsequenter und stringenter. Allerdings gerät auch sie unter den Druck schwer vereinbarer Annahmen und performativer Selbstwidersprüche, sobald Gergen den macht- und herrschaftskritischen oder 92. Hermans/Kempen/van Loon (1992, S. 29). 93. Z.B. Hermans/Kempen/van Loon (1992, S. 29). 194

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kultur- und gesellschaftskritischen, mit einem Wort: den explizit emanzipatorischen Anspruch des Social Constructionism geltend macht. Wer aber – welches Subjekt – könnte hier als Gergens Adressat fungieren, und wie sollte man diesen Adressaten »denken«? Ohne handlungstheoretisches Rüstzeug, das auf die Vorstellung einer vernunftorientierten, argumentativen Auseinandersetzung über alternative Handlungsoptionen und Lebensformen nicht ganz verzichtet, wird man dieses Subjekt emanzipatorischer Bewegungen kaum ins Blickfeld bekommen.94

4. Wo ist das Neue, wo der Unterschied? Anfragen an das »postmoderne Selbst« Für beide Konzeptionen, das relational self und das dialogical self, gilt, bei allen sonstigen Differenzen: Diese Modelle eines postmodernen Selbst haben sich nicht allein von der Vorstellung eines »starken«, substantialistisch gedachten Subjekts gelöst. Sie dekonstruieren und demontieren nicht bloß – auf überzeugende Weise – die Konzeption eines Subjekts, das seine Selbständigkeit als totale soziale Unabhängigkeit missdeutet und seine Selbstverwirklichung als antisoziale, willentliche und strategische Behauptung und Durchsetzung des eigenen Selbst missversteht. Das Modell eines postmodernen Selbst untergräbt vielmehr jede Idee personaler Identität und autonomer Personalität, auch die in den ersten beiden Abschnitten dieses Aufsatzes vorgestellte Konzeption, die eine Person als komplexe, dynamische oder transitorische Einheit ihrer durch keinerlei Versöhnung eliminierbare Differenzen und heterogenen »Bestandteile« begreift. Die postmoderne Psychologie erklärt die mit sich identische und autonome Person zu einer Art negativem Kontrasthorizont des eigenen Konzeptes eines fragmentierten, multiplen Selbst. Das postmoderne Selbst ist ein Gegenentwurf zum Modell autonomer Personalität mit sich identischer Subjekte. Es soll das Bewusstsein, dass es reine Konstruktion und in gewisser Weise »leer« ist, in sich tragen und den damit verbundenen Identitätsverlust als Bereicherung und Chance erleben. Einig sind sich die Sozialkonstruktionisten und die Schöpfer des dialogical self also darin, dass das Selbst gänzlich ohne Kohärenz, Kontinuität, Identität und Autonomie auskommt und damit Positionen im »Dialog«, die es heute artikuliert und »lebt«, morgen aufgeben und ablehnen kann, ohne dafür Gründe, die dies plausibilisieren, geltend machen zu müssen. Der Sprung von einer I-position zur nächsten oder der vollständige Verzicht auf die Rede vom Ich macht alle Plausibilisierungs- und Erklärungsansprüche

94. Vgl. Zielke (2004). 195

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obsolet, von normativen Rechtfertigungen einzelner Handlungen und Praktiken ganz zu schweigen. Die vorgestellten Theorien des postmodernen Selbst haben, neben der bis heute eher dürftigen empirischen Befundlage, mit einigen »internen« Schwierigkeiten zu kämpfen. Die abschließend angeführten Einwände sollen dies verdeutlichen. Wir beginnen mit den empirischen Geltungsansprüchen der postmodernen Psychologie, die diese auch dann erheben muss (und faktisch erhebt), wenn sie traditionellen Konzeptionen wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung mit einiger Skepsis begegnet und sich im Grunde genommen damit bescheiden will, einer Stimme unter vielen »Gehör zu verschaffen«.95 Danach kommen wir zu einigen theoretischen Einwänden. 1. Leu und Krappmann teilen, wie viele andere,96 die Diagnose eines self beyond identity and autonomy aus guten Gründen nicht, sondern konfrontieren sie mit den zahllosen widersprechenden Befunden der empirischen Forschung »über Kommunikation, Interaktion und Entwicklung, die zeigen, dass Kinder wie Erwachsene in ihren Auseinandersetzungen mit anderen als aktive Konstrukteure von Problemlösungen und Regeln, von Weltdeutungen und Identitäten tätig sind. Vor allem griff die Forschung Jean Piagets These von der sozialen Konstitution der Handlungsfähigkeit auf und wandte ihre Aufmerksamkeit der Ko-Konstruktion kognitiver, sozialer und moralischer Entwicklungsschritte zu«.97 Zu den besonders wichtigen Einsichten auch der jüngsten empirischen Studien gehört, dass es für Heranwachsende und Erwachsene wichtig ist und bleibt – unter »postmodernen« Bedingungen sogar wichtiger denn je sein könnte! –, die Differenzialität, Pluralität und Heterogenität möglicher Handlungs- und Lebensorientierungen zu reflektieren und diesbezüglich selbstbestimmte Wahlen zu treffen, aber auch Übersetzungsleistungen zu erbringen, die solche Wahlen erst ermöglichen. Es ist empirisch nach wie vor so, dass zahllose Menschen am Projekt personaler Autonomie und Identität festhalten, ihr Leben also retrospektiv so zu deuten und antizipativ so zu entwerfen geneigt sind, dass es ihnen als zumindest partiell selbstbestimmte Geschichte von verantwortlich handelnden Subjekten zugeschrieben werden kann. Das gilt nicht nur für einzelne Handlungs- und Lebensorientierungen, sondern sogar für Lebensformen, die man als komplexe Arrangements symbolisch strukturierter Praktiken begreifen kann. Auch die psychosoziale Welt unserer Tage besteht nicht aus lauter abgeklärten Nihilisten, die sich von den (noch immer bestehenden) normativen Ansprü95. Zum Empirieverständnis des sozialen Konstruktionismus vgl. ausführlicher die kritische Analyse von Zielke (2004, Kap. 4.1). 96. Z.B. Helsper (1997). 97. Helsper (1997, S. 13f.). 196

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chen der Kultur und Gesellschaft, ein autonomes Leben zu führen, verabschiedet haben. Deren Gefühl eines erfüllten, sinn- und bedeutungsvollen Lebens hängt maßgeblich von ihren Identitätsaspirationen und Autonomiebedürfnissen ab. Solche Befunde haben mit neokonservativen Sehnsüchten nach einem verlorenen, für alle Menschen einheitlich definierbaren »Sinn des Ganzen« nichts zu tun. Sie heben vielmehr zunächst einmal ganz nüchtern hervor, dass zahlreiche Zeitgenossen nicht davon ablassen (mögen), ihre Lebensgeschichte und ihr alltägliches Tun und Lassen als sinn- und bedeutungsstrukturierte Angelegenheit aufzufassen, bei der es ihnen – womöglich sehr langfristig – um etwas geht. Dafür setzen sie sich als Denkende und Handelnde in ihrer Lebenspraxis ein. 2. Identität und Autonomie sind, wie dargelegt, kein Produkt eines vereinzelten Ich. Das wird von allen komplexen Theorien personaler Identität und Autonomie erkannt und anerkannt. Die dargestellte, von uns vertretene Auffassung der Identität gehört als häufig »implizite« Wissensstruktur zu einer soziokulturellen Praxis. Es sind die kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die konkreten Beziehungen zu anderen, die mit entscheidend dafür sind, ob und in welcher Weise das je eigene Handeln und Leben als sinn- und bedeutungsvoll erscheinen kann: »Dabei scheint die Qualität der Beziehungen, in denen Sinn ausgehandelt wird – und sei es im Widerstreit –, eine besonders wichtige Rolle zu spielen. Wie viel Suche erträgt die Beziehung, wie viel Einwand, wie viel Enttäuschung? Wie viel Unsicherheit kann in ihr bestehen bleiben?«98 Sinn und Bedeutung sind soziale Konstrukte und als solche meistens implizite Bestandteile einer kollektiven Praxis. Die Anforderungen an Personen, die sich als autonome, mit sich identische Subjekte verstehen und damit normativen Ansprüchen ihrer Kultur, Gesellschaft und Gemeinschaft Rechnung tragen (wollen), mögen komplexer geworden sein und weiterhin steigen. Einfach zurückgewiesen und praktisch ignoriert werden sie auch in unserer »postmodernen Moderne« wohl von kaum jemandem.99 Das wäre auch gar nicht ohne weiteres möglich für jemanden, der sich aus der soziokulturellen Praxis nicht kurzerhand ausschließen wollte. 3. Zu den empirischen Einwänden gegen die Diagnose des postmodernen Selbst gesellen sich theoretische Einwände: Aus sozialpsychologischer Sicht bleibt unklar, wie der beschriebene Typ von »Person« eigentlich noch in der Lage sein soll, so fundamental in sozialen Beziehungen oder Dialogen verankert zu sein, wie es dem relational self und dem dialogical self zugestanden und zugemutet wird. Zur Aufnahme 98. Leu/Krappmann (1999, S. 17). 99. Vgl. die Beiträge in Leu/Krappmann (1999). 197

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von (intimen) Beziehungen gehört die Fähigkeit zur Bindung, zugleich aber auch die zur Distanzierung.100 In diesem Sinne erfordert eine tiefergehende soziale Beziehung und bereits die Partizipation an dialogischen Interaktionen auch die Fähigkeit und die Bereitschaft, eine »eigene«, in gewissem Umfang kohärente und kontinuierliche »Position« zu beziehen, einen »Standpunkt« einzunehmen und zu kommunizieren. 4. In den allzu sehr auf die Zerstreuung des Selbst bedachten Konzepten bleiben alle internalen psychischen Prozesse, die für das Bilden von Selbstgeschichten offenbar notwendig sind, vollständig ausgeklammert. Es geht ihnen weder um sprachlich-kognitive Kompetenzen, die man zum Erzählen braucht (diesen Aspekt betonen nicht zuletzt zahlreiche gedächtnispsychologische Arbeiten), noch wird die Erzählung als Instrument gesehen, das Denken, Fühlen, Handeln von Menschen als komplexes, zeitlich strukturiertes Phänomen zu beschreiben, zu verstehen oder zu erklären (so wie es etwa die psychologische Biographieforschung tut).101 Insbesondere Gergens sozialkonstruktionistische Variante ist auf die Analyse der Erzählung als hegemoniale Diskursform beschränkt. Theorien über narrative Identität gehören für Gergen zu einer »story about stories«.102 Über Personen spricht Gergen nur im Sinne von Texten. Dass diese sich dennoch reflexiv als »Text neben anderen Texten«103 verstehen können, also selbst wissen kön100. Argyle (1992; s.o.). 101. Ein Beispiel: Erinnern, so Gergen (1998), beruht nicht auf internen kognitiven Kapazitäten oder Gedächtnisfunktionen, sondern das Konzept »Erinnern« ist selbst ein »diskursives Artefakt«, das nicht so eng an bestimmte Gehirnprozesse, spezifische (narrative) Kompetenzen oder besondere psychologische Zustände gebunden ist, wie es die traditionell orientierte Gedächtnispsychologie glauben macht. Für Gergen ist es wichtig aufzuzeigen, dass Erinnerung genau dann »hergestellt« wird, wenn soziale Systeme oder Gruppen übereinkommen, unter bestimmten Bedingungen bestimmte Handlungen als (Resultate von) »Erinnerungen« oder als Belege für »Gedächtnis« zu bezeichnen und andere nicht. Zur dieser »diskursiven« Konstitution von Erinnerung kann auch die Einbindung des Erinnerten in ein wohlgeformtes Narrativ beitragen: »To ›remember properly‹ is to generate a story replete with all the earmarks of the well formed narrative« (Gergen 1998, S. 191). Die Berechtigung dieser Sicht der Dinge beseitigt deren Einseitigkeit nicht. Ein sozialfunktionaler Zugang zu »psychischen« Phänomenen ist niemals der einzig denkbare und produktive (vgl. Laucken 1996, 2000). Dies zeigen etwa jene Arbeiten, die z.B. über Narrationsanalysen theoretische Konstrukte wie das »autobiographische Gedächtnis«, die »narrative Kompetenz« oder die psychologische Seite des »Geschichtsbewusstseins« ausarbeiten (vgl. z.B. Kölbl 2003; Rogoff 1997; Seitz 2003; Straub 1997, 1998). 102. Gergen (1994, S. 185). 103. Wenzel (1995, S. 121). 198

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nen, dass sie (womöglich) bare Konstruktionen sind, und mit diesem Wissen Beziehungen und Dialoge mit alter ego zu führen imstande sind, markiert eine der stärksten Ungereimtheiten der hier dargestellten Ansätze. 5. Die skizzierten Modelle der fragmentierten, pluralen, multiplen oder multiphrenen »Person« (die eigentlich keine mehr ist) stützen sich nicht zuletzt auf Bachtins Begriff der Dialogizität und rücken die Dialoge des saturated self ins Zentrum. An dieser theoriestrategisch überaus wichtigen Stelle stellt sich nun nicht zuletzt die Frage, wie der bei Hermans und Kempen sowie in Gergens späteren Arbeiten immer häufiger verwendete Begriff des Dialogs eigentlich zu verstehen ist. Sind die polyphonen, häufig anonymen Stimmen, die ja nicht nur radikal unterschiedliche Positionen vertreten, sondern auch jede für sich flüchtig und inkonsistent agieren, wirklich in der Lage, einen Dialog zu führen? Kann es sich dabei, wenn wir dies als minimales Bestimmungsmerkmal des Begriffs akzeptieren, um einen Dialog handeln, der ja zumindest irgendeine Form von antwortendem Verstehen voraussetzt? Oder gleicht das, was uns hier als Lesart des Bachtinschen Prinzips der Dialogizität vorgestellt wird, nicht doch eher einem Stimmengewirr, in dem vielfältige, inkommensurable Perspektiven einfach neben einander existieren? Auch ein solches unverbundenes Nebeneinander mag zwar als Zeichen von Vielfalt gelten, aber keineswegs automatisch einer Vielfalt, die im »gesättigten Selbst« etwas in Bewegung setzen und dieses bereichern könnte. Was bedeutet eigentlich eine dialogische Beziehung, und wie verändert der Dialog die an ihm Beteiligten? Bachtins Konzept des »dialogischen«, im besonders komplexen Fall »polyphonen«, »verstimmlichten« Textes richtet sich gegen einheitliche, festgelegte Bedeutungshierarchien und die Idee einer fixierenden Lektüre.104 Bachtin geht aus von der »Gesprächsstruktur« der Welt, in der das »antwortende Verstehen« als »wesentlicher Faktor […] an der Formung des Wortes beteiligt ist«.105 Er spricht sogar von der »Hermeneutik des Alltags«.106 Diese Text- und Sprachkonzeption führt auch ihn zur Abkehr von einem individualistischen, »psychologischen« Subjektbegriff, der den Autor und den Leser als textexterne, autonom sinnstiftende Instanz begreift. Das sprechende, »zeichenhandelnde« Subjekt ist für Bachtin nie nur eines, sondern konstituiert sich als Stimme im Wort des anderen. Auch das Selbst kann – genau wie ein 104. Zum Konzept der »verschrifteten« Stimme gehört daher immer auch die Spannung zwischen fixierter Buchstäblichkeit und der Spontaneität der Polyphonie (vgl. Lachmann, 1990, S. 175). 105. Bachtin (1979, S. 173). 106. Bachtin (1979, S. 226). 199

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Wort, eine Äußerung, ein Text – seine »Identität« (was hier vornehmlich meint: seine Bedeutung) niemals allein und unabhängig bestimmen. Es existiert vielmehr nur auf der Schnittstelle soziokultureller Diskurse und Beziehungen. Dies bezeichnet Bachtin als »dialogische Existenz«.107 Postmodernistisch orientierte Interpretationen seiner Theorie – wie diejenige Gergens – unterstreichen in der Regel diesen »subjektkritischen« Aspekt. Zu bedenken ist allerdings, dass die Dezentrierung von Subjekt und Sinn sich im Falle Bachtins auf die dialogische Reflexion der Kontexte, durch die ein Wort »gegangen« ist, sowie auf die »Reflexion der Wechselbeziehung mit anderen Personen« richtet.108 Der Dialog kehrt dem Logos keineswegs ganz den Rücken. Auch das Selbst wird geformt und formt sich in der Selbstreflexion und in der Reflexion auf andere.109 Hier wird, trotz so mancher Berührungspunkte, der Unterschied zur – von Gergen ebenfalls bemühten – Logozentrismuskritik Jacques Derridas deutlich, welche die Reflexion auf diesen Ursprung »unterdrückt«. Gergens Lesart entfernt sich vom Bachtinschen Gedanken immer dann, wenn er die Stimmenmetapher im Sinne der völligen Absage an den Logos oder im Sinne der Derridaschen Dekonstruktion von Sinn auslegt. Er geht über Bachtin hinaus, wenn er das »Aufgehen« in kommunikativen Beziehungen theoretisch als totalen Verzicht auf ein sprechendes, schreibendes, lesendes Ich versteht. Bachtin hingegen interessiert auch das Ich – nämlich »immer da, wo es im Dialog, in der Sinnkreuzung sich mit einem anderen trifft«.110 Ähnlich wie andere postmoderne Rezipienten neigt Gergen dazu, Bachtin einen allzu radikalen Relativismus und ein multiphrenes Selbst unterzuschieben.111 Er lässt dabei außer Acht, dass, wer von Dialogen und in Dialogen spricht, mit Fragen der Anerkennung und Verständigung sowie, damit verbunden, mit Gesprächsteilnehmern (und ihrer Intentionalität) konfrontiert werden wird. Gergens Dialogbegriff, der von Hörenden und Sprechenden ausgeht, die ihre Positionen und Beiträge nicht mehr im mindesten selbstbestimmt einzubringen, zu reflektieren, zu begründen und gegebenenfalls zu verteidigen vermögen, lässt solche Fragen und den Blick auf die Akteure kaum mehr zu. 6. Die letzten Einwände weiter führend und zusammenfassend lässt sich sagen: Den vielleicht größten Mangel der postmodernen Kritik an »modernen« Theorien personaler Identität und Autonomie darf man 107. 108. 109. 110. 111.

Bachtin (1979); vgl. Todorov (1995). Bachtin (1979, S. 354). Vgl. Vokmann (2001, S. 41). Bachtin (1979, S. 352). Vgl. Lachmann (1990). 200

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wohl darin sehen, dass diese Kritik die überlieferten Begriffe allzu undifferenziert rezipiert und in unangemessen pauschaler Weise verabschiedet. Dies können, so hoffen wir, nicht zuletzt unsere Ausführungen in den Teilen 1 und 2 des vorliegenden Aufsatzes verdeutlichen. Postmoderne Theorien eines self beyond autonomy and identity mutmaßen zu Unrecht, es gehe jeder Theorie narrativer Identität und personaler Autonomie um die konservative Restitution des bildungsbürgerlichen Ideals eines »starken Subjekts«. Der von uns vertretene Ansatze arbeitet mitnichten einer »Vernunft« in die Hände, die allenfalls noch (weitere) Selbsttäuschungen und Illusionen gebiert, weil sie, recht besehen, vor dem soziokulturellen Zwang zur Verinnerlichung von Disziplinar- und Kontrolldispositiven längst kapituliert hätte. Nicht jede Theorie personaler Identität und Autonomie spielt diesen Dispositiven, absichtlich oder nolens volens, in die Hände. Wir kommen zum Ende: Friedrich Nietzsche hatte Recht mit seinem Plädoyer, jene herkömmlichen Konzepte personaler Identität und Autonomie aufzugeben, die vom traditionellen Substanzbegriff abhängen. Seine Zuflucht zu einer apersonalen Philosophie und Psychologie war dagegen ebenso überstürzt wie seine Denunzierung eines jeden Konzeptes autonomer Personalität und Identität. Da wurde schon von diesem einflussreichen Wegbereiter postmoderner Kritik das Kind mit dem Bade ausgeschüttet – wenngleich Nietzsches Adressaten natürlich nicht jene Autoren waren, die die hier interessierenden, psychologischen und soziologischen Theorien formulierten. (Auch dass Nietzsches Alternative weder klar und eindeutig noch in irgendeiner Spielart überzeugend war, können wir hier vernachlässigen.)112 Bereits der Philosoph mit dem Hammer zertrümmerte nicht nur eine substantialistisch gedachte Einheit der Person, sondern jeden Gedanken an eine auch noch so offene und dynamische Struktur des kommunikativen Selbstverhältnisses einer Person, deren wie auch immer limitierte Autonomie ohne irgendeine Art der Synthese oder Integration von Differenz und Heterogenität nicht verständlich zu machen wäre. Die Psychologie hat gute Gründe, am Begriff einer als Einheit gedachten Identität festzuhalten – insofern diese Einheit in der oben skizzierten Komplexität gedacht wird. Mit dem traditionellen Denken des Fortbestandes einer Substanz hat dies nichts zu tun: »Denn es ist sehr wohl möglich, autonome Personalität und die ihr zugrunde liegende Einheit zu rekonstruieren, ohne dabei auf die Einheit einer andauernden Substanz zu rekurrieren. Man muss dazu das Leben eines Menschen als einen Prozess rekonstruieren, der in sich reflektiert ist, in dem der Strom der Bewusstseinszustände nicht nur eine Symboltransformation darstellt, sondern in dem dieser Vorgang der Transformation ständig 112. Vgl. Straub (1997). 201

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selbst symbolisiert und damit in eine Einheit gebracht wird.«113 Zu diesem Zweck kann man nicht allein, wie Hampe, auf Peirce zurückgreifen, sondern auf eine ganze Reihe anderer Theorien, nicht zuletzt auf Ricœurs bereits mehrfach ins Spiel gebrachte, ausgefeilte Theorie narrativer Identität. Solche Theorien liefern die begrifflichen Werkzeuge, die es noch heute möglich machen, die Struktur des kommunikativen Selbstverhältnisses zahlreicher Angehöriger moderner Gesellschaften als transitorische Identität zu rekonstruieren. Diese Identität ist ebenso wenig »überholt« wie das eng damit verwobene Konzept der dezentrierten Autonomie. Postmoderne Ansätze verkennen in aller Regel die Komplexität dieser theoretischen Begriffe. Nur deswegen können sie als unzeitgemäß disqualifiziert und zum alten Eisen geworfen und durch vermeintlich neue Vorstellungen ersetzt werden. Wie steht es mit der von postmodernen Theorien des Selbst beanspruchten Überlegenheit in normativer, ethisch-moralischer oder politischer Hinsicht? Auch diese ist zweifelhaft. Gewiss ist es denkbar, dass sich Menschen – zumal in temporalisierten, differenzierten, pluralisierten und individualisierten Gesellschaften – in unterschiedlicher Weise beschreiben. Auch im Hinblick auf die Struktur ihres kommunikativen Selbstverhältnisses und ihre Handlungsfähigkeit haben gerade auch die Angehörigen moderner Gesellschaften die Wahl zwischen verschiedenen Symbolsystemen, in deren Rahmen sie sich so oder anders beschreiben können. Unsere »Natur« zwingt uns mitnichten dazu, Identität und Autonomie als normative, kontrafaktische Fluchtpunkte empirisch gehaltvoller Selbstbeschreibungen zu wählen: »Es gibt auch die Möglichkeit, dass eine Gesellschaft Selbstbeschreibungen hervorbringt, die es nicht erlauben, dass ich mich als autonomes Wesen begreife. Auch kann eine Gesellschaft sich selbst als nicht mehr fortsetzbar, als Sackgasse auf dem Weg zum idealen Symbolsystem betrachten, indem sie die Begriffe ›Wahrheit‹ und ›Autonomie‹ als in ihrem Symbolsystem nicht mehr explizierbar ansieht. Eine solche Gesellschaft entschlösse sich durch Absage an Autonomie und Streben nach Wahrheit (Fortsetzbarkeit) zu ihrem eigenen Untergang. Sie würde ihren Mitgliedern nahe legen, sich nicht als autonome Personen, sondern als Tiere, die abhängig sind und zu ihrer Abhängigkeit eine merkwürdige ›Begleitmusik‹ machen, die einmal als symbolisches Handeln beschrieben worden ist. Es könnte sein, dass einige wissenschaftliche Selbstbeschreibungen des Menschen, etwa der Soziobiologie, in eine solche Richtung gehen.«114 Es könnte auch sein, dass der Abschied von personaler Identität und Autonomie in der postmodernen Psychologie (oder jedenfalls einer 113. Hampe (2002, S. 168). 114. Hampe (2002, S. 175). 202

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Psychologie, die sich als postmoderne Provokation versteht), solchen alternativen Möglichkeiten der Selbstbeschreibung zuarbeitet. Wie am Beispiel zweier prominenter Ansätze dargelegt wurde, ist das sicher nicht die erklärte Absicht der Autoren. Diese schwanken typischerweise zwischen der Verabschiedung »althergebrachter« Konzepte wie Identität und Autonomie, ohne die Kritik- und Handlungsfähigkeit postmoderner Subjekte ganz begraben zu wollen. Im Gegenteil, insbesondere Gergens Konzeption des gesättigten Selbst und sein sozialer Konstruktionismus überhaupt konfrontieren uns mit verschiedenen Diagnosen und Visionen. Sie führen uns Menschen vor Augen, die bisweilen zwar als bloße Effekte von prozessierenden Strukturen und wuchernden Diskursen erscheinen und über kurz oder lang im multiphrenen Arrangement fragmentierter Persönlichkeiten ihr Dasein fristen. Dabei entdecken sie aber neue Freiheitschancen und Spielräume ihres Verhaltens, neue Gefühle des Wohlbefindens und Glücks in einem »abenteuerlichen« Leben. All dies beschreibt (oder postuliert) der soziale Konstruktionismus im Zeichen einer politischen Macht- und Herrschaftskritik, die, wie sehr deswegen auch theoretische Inkonsistenzen in Kauf genommen werden müssen, vom aufklärerischen Ideal der Mündigkeit und Emanzipation nicht ganz ablassen mag. Das adaptive und flexible Selbst des sozialen Konstruktionismus bleibt, auf eigentümliche Weise, widerständig. Wie aber soll man auf überzeugende Weise an solchen Potenzialen und regulativen Ideen festhalten können, ohne irgendwelche Begriffe personaler Autonomie und Identität verfügbar zu haben? Ist Widerstand ohne die Zuschreibung von Selbständigkeit und Selbstbestimmung denkbar? Die Psychologie muss sich als empirische Disziplin, solange die lebensweltlichen Selbstverhältnisse und Selbstbeschreibungen von Menschen in irgendeiner Weise relevant sind für ihre Erkenntnisbildung, eines theoretischen Vokabulars bedienen, das sprach- und handlungsfähige Personen vorsieht. Sie muss sich weiterhin auf dieses Vokabular stützen, wenn sie sich nicht in performative Selbstwidersprüche und theoretische Inkonsistenzen verwickeln will, wie sie verschiedene Theorien des postmodernen Selbst kennzeichnen. Die Psychologie kann sich schließlich vom symbolischen Handeln partiell autonomer, Identität anstrebender und doch nie erreichender Subjekte solange nicht verabschieden, wie sie sich der normativen Idee ethisch-moralischer und politischer Kritik verpflichtet fühlt. Sie bleibt eine Psychologie personaler Identität und Autonomie, solange sie mit anderen Stimmen an einem Dialog partizipieren möchte, in dem unsere praktischen Orientierungen und die soziokulturellen Rahmenbedingungen unseres Lebens zur Debatte stehen.

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Anfragen an die Geschichte

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) T03_00 resp 2.p 83753334754

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) vakat 212.p 83753334810

DIE NATURALISIERUNG DES GEISTES UND DAS ENDE DER GESCHICHTE

Die Naturalisierung des Geistes und das Ende der Geschichte. Philosophische Überlegungen zu den anthropologischen Voraussetzungen des Geschichtsbewusstseins Georg Essen

1. Was ist Naturalismus? Versuch einer Annäherung Wer sich als Kulturwissenschaftler, Philosoph oder Theologe von einem Phänomen herausfordern lässt, für das sich seit einigen Jahren der Begriff »Naturalismus« eingebürgert hat, reibt sich verwundert die Augen. Die Irritation, die eine Quer-Feld-Ein-Lektüre hinterlässt, besteht zunächst schlicht darin, dass der Versuch, den Begriff des Naturalismus zu definieren, zu keinem Ergebnis zu führen scheint.1 Verblüffend ist jedoch die Chuzpe, mit der naturalistische Positionen das geballte Argumentationspotential eines mehr als zweitausendjährigen Nachdenkens über Subjekt und Person, Geist, Bewusstsein und Freiheit hartnäckig zu ignorieren wissen. Immerhin erfahren wir, dass der Naturalismus mit der Prätention auftritt, jener abendländisch vertrauten Anthropologie das Ende bereiten zu wollen, der wir Alteuropäer unsere selbst- und welterschließenden Deutungsmodelle verdanken. Von diesem Gestus der Destruktion ist, so die für meinen Beitrag grundlegende These, ebenfalls ein normativ gehaltvoller Begriff der Geschichte betroffen, der sich einschreiben will in die Selbstverständigung des bewussten Lebens über sich und die Welt. Freilich: Mit der Durchschlagskraft der philosophischen Argumente, mit denen in Naturalismuskonzepten wahlweise die physikalische, neuro- oder soziobiologische Reduktion mentaler Begriffe behauptet wird, ist es wahrlich nicht zum Besten bestellt. Auf ein an Kant und Fichte geschultes philosophisches Denken – sowohl die Kantische 1. Zur neueren Diskussion zum Naturalismus vgl. unter anderem Keil/Schnädelbach (2000a). 213

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GEORG ESSEN

Vernunftkritik als auch Fichtes frühe Wissenschaftslehren lassen sich ja durchaus als antinaturalistische Konzepte lesen – üben jedenfalls die Avancen, die uns Naturalisten machen wollen, keinen Reiz aus. Und die einschlägigen Arbeiten zu transzendentalphilosophischen und sprachanalytischen Subjekttheorien dokumentieren, dass gegenläufig zu den zum Beispiel von Gilbert Ryle und Willard Quine vorgetragenen Naturalismusprogrammen der Weg zur Rehabilitierung selbstbewusster Subjektivität längst wieder freigelegt ist. Wir verfügen durchaus über ein philosophisches Argumentationsarsenal, das die Unhintergehbarkeit selbstbewusster Subjektivität auch gegenüber naturalistischen Ansprüchen zu verteidigen weiß!2 Philosophiehistorisch reiht sich der heutige Naturalismus ohnehin lediglich in eine Phalanx von reduktionistischen Argumentationsstrategien ein, die allesamt mit dem hinlänglich bekannten »ismus«-Suffix enden. Das Programm selbst ist jedenfalls alles andere als neu und wurde zuvor schon mit größerer Stringenz und systematischer Geschlossenheit vorgelegt. Der Name Friedrich Nietzsche soll hier als einziger erwähnt werden, weil bereits er die Methode der genealogischen Dekonstruktion zu verbinden wusste mit einer Moral-, Vernunft- und Sprachkritik, in deren Konsequenz das selbstbewusste Ich als »realitätslose Fiktion« durchschaut werden sollte. Bedauerlicherweise versandeten jedoch die in den 90er Jahren geführten Debatten um seine Philosophie mit dem Ausklingen des Nietzsche-Jahres. Denn vermutlich begegnet uns in der gesamten Naturalismusdebatte kein einziges Argument, das nicht bereits von Nietzsche vorgetragen worden ist. Und was die Scharfsinnigkeit naturalistischer Argumentationsverfahren angeht, aber auch das Bedenken ihrer desaströsen Konsequenzen, empfiehlt sich nach wie vor die Auseinandersetzung mit Nietzsche.3 Vor dem Hintergrund dieses, für Differenzierungen gewiss offenen Befundes leuchtet die Vermutung von Geert Keil und Herbert Schnädelbach durchaus ein, dass der Naturalismus nur selten den Anspruch erhebe, eine wissenschaftliche Theorie zu sein.4 Er hat ja auch, streng genommen, mit Neurowissenschaft, Biologie und Kognitionsforschung nichts zu tun. Nicht bereits die Ergebnisse der Hirnund Kognitionsforschung selbst berechtigen dazu, von einer Bedrohung für das Humanum zu sprechen. Der wissenschaftsgeschichtlich epochale Prozess einer inter-, vielleicht sogar intradisziplinären Zusammenarbeit zwischen Neurobiologie, Verhaltensforschung, Kognitionspsychologie und philosophischer Erkenntnistheorie ließe sich zunächst einmal als Chance begreifen, die natural-materiellen Daseins2. Vgl. zum Beispiel Müller (1994); Rager/Quitterer/Runggaldier (2002); Runggaldier (1996). 3. Vgl. Striet (1998). 4. Keil/Schnädelbach (2000b). 214

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DIE NATURALISIERUNG DES GEISTES UND DAS ENDE DER GESCHICHTE

bedingungen unserer menschlichen Existenz aufzuklären. Der Aufweis, dass das als frei sich wähnende Ich nicht nur auf seine tief greifende sprachlich-geschichtliche Bedingtheit stößt, sondern zugleich auf seine naturhaft-genetische ist jedenfalls nicht identisch mit jenem Dementi, das unser Selbstbewusstsein als Benutzer-Illusion des Gehirns entlarven will. Ohne dies hier im Einzelnen durchzuführen, ließen sich vermutlich sogar nahezu alle Erkenntnisse, die die genannten Wissenschaften beitragen, um das so genannte »Rätsel des Bewusstseins« lösen zu wollen, in eine umfassende Theorie integrieren, die die faktische Genese und externen Konstitutionsbedingungen menschlicher Personalität vollständiger erschließt, als dies bislang der Fall gewesen ist. Es wäre bei einem solchen Projekt sogar widersinnig, die verschiedenen Disziplinen empirisch orientierter Anthropologien klassischen Zuschnitts für eine solche genetische Persontheorie zuzulassen und sich zum Beispiel dem neurobiologischen Zuwachs an Wissen grundsätzlich verschließen zu wollen. Nein, die Bedrohung, die mit dem Begriff des Naturalismus verbunden wird, geht nicht von einer solchen genetischen Theorie menschlicher Personalität aus. Bedrohlich ist in meinen Augen etwas anderes. Genau besehen werden in Wissenschaftskonzeptionen mit naturalistischen Ansprüchen Forschungsergebnisse der genannten Einzelwissenschaften zu einer Ontologie und Erkenntnistheorie zusammengeführt, mit deren Hilfe dann die Naturalisierung des Mentalen durchgeführt werden soll. Dadurch erst wird der Naturalismus zu einer welterschließenden Metatheorie, die Aufmerksamkeit verdient, weil sie das organische Leben als die einzige Lebensform behauptet, auf die alle weiteren zurückgeführt werden sollen. Aufmerksamkeit verdient der Naturalismus in meinen Augen vor allem deswegen, weil diese Metatheorie primär keine wissenschaftlich bündig vorgetragene Theorie ist, sondern vielmehr ein massenmediales Vorkommnis.5 Als solches wirkt der Naturalismus auf die Lebenswelt ein, durchsetzt die Sprach- und Denkformen des Alltags und verwebt sich mit alltäglich vollzogenen Selbst- und Weltbeschreibungen. Trifft diese Beobachtung zu – und viele Indizien sprechen für seine Richtigkeit –, ist der Naturalismus vor allem in wissenssoziologischer Hinsicht interessant und wird zur Herausforderung, weil er eine Schlüsselfunktion in jenen gesellschaftlichen Konstruktionen von Wirklichkeit erobert, die auf die alltagstheoretischen Wissensbestände einwirken, in die Selbstbeschreibung vergesellschafteter Subjekte einsickern und in mehr oder weniger popularisierter Form eine welterschließende Funktion ausüben. Von dieser Vermutung gehe ich im Folgenden aus und gelange zu der These: Verblüffend dürfte vor allem die bereitwillige Aufnahme sein, die naturalisierende Deutungsmodelle gesamtgesellschaftlich in5. Zu dieser These vgl. Heinrich (2001). 215

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zwischen finden, und also die offenkundige Plausibilität ihres welterschließenden Anspruchs. Die Resonanz, auf die die bisweilen doch recht kruden Argumentationsmuster naturalistischer Provenienz stoßen, stellt das eigentlich brisante Phänomen dar! Erstaunlich ist jedenfalls die wachsende Bereitschaft von Menschen, zu reduktionistischen Erklärungen zu greifen, um den Sinn ihrer Existenz erhellen zu wollen. Bedrohlich wiederum wird diese Bereitschaft dort, wo die in die Lebenswelt eingedrungenen naturalistischen Einflüsterungen aufgenommen werden, um sich selbst wegzuerklären, wenn also die vollständig soziobiologisch beschreibbare Existenzform an die Stelle des Interesses tritt, ein bewusstes »Leben mit Bewandtnis« (Dieter Henrich) zu führen. Was bedeutet es für einen Lebensentwurf, wenn Menschen gewillt sind, sich von naturalistischen Erklärungsansprüchen eine Antwort auf die Frage geben lassen, die sich in jedem Leben unausweichlich irgendwann einstellen wird: »Wie denkst du zuletzt von Dir, wenn Du im Blick auf alles, was Dir bekannt ist und was Du zu unterscheiden weißt, Dir Rechenschaft darüber gibst, was und wer eigentlich Du bist?«6 Die Lage verschärft sich, wo die Einschreibung naturalistischer Deutungsmodelle in die Selbstwahrnehmung als freie Person im Lichte neuerer Modernitätstheorien gesehen wird, die zu dem Befund gelangen, dass die Prozesse von Subjektwerdung heute vielfach gefährdet sind und Identitäten fragil bleiben.7 Vor diesem Hintergrund nun wirkt die naturalistische Eliminierung mentaler Begriffe als Affirmation dieser Prozesse und kommt daher als deren Bekräftigung und Bestärkung. Vor einiger Zeit hat Thomas Assheuer in der »ZEIT« die Wirkweise dieser theoretischen Abstützung der laufenden Prozesse in spätmodernen Gesellschaften anschaulich beschrieben und dabei auf die Verklammerung naturalistischer Deutungsmuster mit evolutivem Denken hingewiesen.8 Wer sich der biokosmischen Logik der Evolution beuge, könne die Hände in den Schoß legen, weil er entlastet ist von Verantwortung und Entscheidung in privaten und öffentlichen Lebensbereichen. Der mit wissenschaftlichem Anspruch vorgetragene Nachweis, dass wir gar nicht anders können und Freiheit ohnehin nur die Einsicht in evolutionäre und genetische Notwendigkeiten ist, befreie mit einem Schlag von allen Übertribunalisierungen, die die jüdisch-christliche Tradition uns aufgebürdet haben soll: Schuld und Sünde… Denn wenn das Ich als naturales Epiphänomen durchschaut ist, können wir endlich dem Schuldverhältnis von Freiheit und Verantwortung entrinnen. Das Ich ist die »Haupt-Quelle unseres Unglücks«, heißt es bei dem französischen Autor Michel Houellebecq, und 6. Henrich (1987, S. 16). 7. Vgl. zum Beispiel Beck (1986); Beck/Beck-Gernsheim (1994); Schulze (1992). 8. Vgl. Assheuer (2000; 2002). 216

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DIE NATURALISIERUNG DES GEISTES UND DAS ENDE DER GESCHICHTE

müsse deshalb bekämpft werden als Ursprung des Persönlichen und Individuellen, als das, was uns von der Welt trennt und uns in Freiheit und Eigenverantwortung drängt.9

2. Der Begriff der Geschichte und sein naturalistisches Dementi Die Folgen der naturalistischen Affirmation dieser Tendenzen in spätmodernen Gesellschaften dürften für einen normativ gehaltvollen Begriff von Geschichte schlicht ruinös sein, weil sich mit dem Einsickern des Naturalismus in Lebenswelten dessen anthropologische Verstehensvoraussetzungen dramatisch verändern würden. Die Eliminierung des Begriffs von Geschichte liegt deshalb im Gefälle einer Naturalisierung des Subjekts, sofern ihr Anspruch dahin geht, den gesamten Interaktionsraum von Kultur und Geschichte in eine soziobiologische Theorie der »Meme« zu übersetzen. Dieser Neologismus erinnert nicht nur zufällig an das Wort »Gene«, weil in der Tat alle Phänomene aus den Bereichen Kultur und Geschichte an die Evolution der Gene gebunden werden sollen: Meme sind, abgekürzt gesprochen, mentale Entitäten und Symbolsysteme, die durch den Evolutionsprozess hervorgebracht worden sind, um eine neue Form von Anpassung zu begründen, die in Prozessen von Selektion und Selbstdurchsetzung zu Lebensvorteilen führt. Kultur und Geschichte sind in dieser Konsequenz durchschaubar als ein Komplex von Geisteshaltungen und Handlungsorientierungen, die dem Selektionsdruck standgehalten und also das Überleben gesichert haben.10 Und der Ehrentitel für den Sieger ist auch schon gefunden: »Das grundlegend neue Gebilde«, heißt es bei Dennett, »das entsteht, wenn ein Tier ausreichend mit Memen ausgestattet ist – oder von ihnen besiedelt wird –, nennt man allgemein Person.«11 An diesem Begriff aber hängt der Begriff der Geschichte!12 Denn von Geschichte kann erst dort gesprochen werden, wo im Medium der Erzählung das in der Erinnerung präsente Vergangene so auf die Gegenwart bezogen wird, dass es in die Deutung von Gegenwartserfahrungen eingehen kann. Die Dimension von Geschichte wird erst dort erreicht, wo das ursprüngliche Interesse des Menschen nach zeitübergreifender Identität als Instanz eingeführt wird für sein Bemühen, die vielfältigen Einsichten und Erfahrungen des eigenen Lebens zu integrieren. Die Realgenese des Ich als Person vollzieht sich wesentlich 9. Vgl. Houellebecq (1998, S. 312). 10. Vgl. Dennett (1997); Dawkins (1996); Wilson (1980, 1998). Vgl. ferner Heinrich (2001, S. 61-137). 11. Dennett (1997, S. 473). 12. Vgl. vor allem Rüsen (1983-1989, 1994). 217

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als ein geschichtlicher Prozess, weil das Ich durch die Affirmation geschichtlich gegebener Gehalte seine Bestimmtheit erfährt. Insofern ist die Geschichte, ihrer Grundbestimmung nach, Ort der welthaft und intersubjektiv vollzogenen Selbstvermittlung von Freiheiten. In der Geschichte und durch sie wird Anerkennung vermittelt oder verweigert, realisieren Menschen ihre Freiheit und sind »in Geschichten verstrickt«. Dies bedeutet jedoch, dass sich ein normativ gehaltvoller Begriff von Geschichte allererst im Medium einer Subjektreflexion einstellt, in dem die Frage nach dem Ort intersubjektiv verbindlicher Praxis ausdrücklich aufgeworfen und dabei die Frage nach absoluter Begründung und Sinnerfüllung nicht ausgeblendet wird. Ein solcher Begriff von Geschichte, der diese als einen Ort namhaft macht, an dem unbedingter Sinn in geschichtlicher Kontingenz begegnen kann, ist in der Naturalismusperspektive nicht einmal mehr denkbar. Der Naturalismus weist, indem er als die Wahrheit identitätsstiftender Erinnerung die Evolution der Meme allein noch übrig lässt, die Dialektik von Subjekt und Geschichte zurück und kann deshalb die Geschichte nicht mehr begreifen als das Kommerzium subjekthafter Freiheiten.

3. »… als ob alles umsonst sei« oder Geschichte ohne ›happy end‹ Wäre die naturalistische Eliminierung menschlicher Subjektivität tatsächlich zwingend und könnte sich als gesellschaftlich einflussreiche Metatheorie etablieren, wäre dies – sit venia verbo – das Ende der Geschichte! Nur befürchte ich, dass dieses »Ende« nichts gemein hätte mit jenem happy end, das Jörn Rüsen einführt als ein, wie man vielleicht sagen könnte, Postulat praktischer Geschichtstheorie.13 Warum es für die sinnbildende Praxis historischen Erzählens konstitutiv ist, wird von ihm präzise begründet: »Geschichten haben durch einen konstitutiven Bezug auf die zeitliche Orientierung der menschlichen Lebenspraxis in der Sinnbestimmung und zweckhaften Ausrichtung des menschlichen Handelns und Leidens stets ein happy end. Denn ihr ›Ende‹ ist das Handeln, das sie orientieren. Und dieses Ende ist ›happy‹, weil alle zweckhafte Ausrichtung von Handeln stets auf ›happiness‹ bezogen ist, auf eine sinnbestimmte, zweckhaft entworfene und handelnd angestrebte normativ aufgeladene Positivität menschlicher Befindlichkeit […]«.14 Nun hat Jörn Rüsen in seinen geschichtstheoretischen Arbeiten freilich stets darauf aufmerksam gemacht, dass wir die Generierung des so verstandenen Geschichtsbegriffs theoretisch nur aufklären kön13. Vgl. Rüsen (2003). 14. Rüsen (2003, S. 31). 218

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nen, wenn wir ihm als seine Möglichkeitsbedingung eine »Synthese von Erfahrung und Deutung« zu Grunde legen.15 Dabei unterstellt er, dass sich die Sinndimension, die wir die Geschichte nennen, allererst dort konstituiert, wo ein Ich als Subjekt in den Vollzug der Sinnfrage involviert ist. Ohne existentiell belangvolle Fragen nach Selbstsein, Identität und Subjektwerdung erzeugen wir jedenfalls nicht ein Geschichtsbewusstsein, das unsere gegenwärtige Lebenspraxis mit Erfahrungen der Vergangenheit versieht. In dieser Konsequenz leuchtet darum auch ein, warum die Naturalisierung des menschlichen Geistes faktisch das »Ende der Geschichte« prätendieren muss. Unter der vom Naturalismus gemachten Voraussetzung, dass sich Menschen selber unter soziobiologische und evolutive Beschreibungen subsumieren, entfällt die Möglichkeit, dass um ihre Identität ringende Subjekte die Vergangenheit im Medium der Geschichte sinnbestimmend auf ihre eigene Gegenwart beziehen. Insofern zieht in der Tat der »Tod des Subjekts« das »Ende der Geschichte« nach sich! Philosophiehistorisch betrachtet ist diese These natürlich alles andere als neu! Anfang der 90er Jahre war sie unter dem etwas schillernden Begriff des »Posthistoire« Gegenstand erhitzter Debatten.16 Was einstmals als Geschichte, so das damalige Credo, den Erfahrungsraum von Menschen mit ihrem Erwartungshorizont verband, sei zu Ende. Wer für die Zukunft nichts mehr erwarten könne, um die Gegenwart zu bestehen, der brauche sich nicht mehr vergangener Lebenswelten zu erinnern, um sie auf ihre unabgegoltenen Sinnpotentiale hin zu befragen: das »Ende der Geschichte« als »Ende von Sinn«! »Wir sind«, schrieb Martin Meyer damals, »in die Rolle der Zuschauer gedrängt oder gelockt, abgeklärt und etwas müde betrachten wir von sicherem Lande aus die Schiffbrüche und Untergänge; noch dort, wo sie vor unseren Augen verlaufen. Das ist uns habituell geworden. Die ›Geschichte‹ kann uns kaum unmittelbar berühren. Sie wirkt primär als Reiz auf zweiter Stufe. Deshalb«, so sein Fazit, »vermögen wir uns vorzustellen, sie sei ›zu Ende‹.«17 Was in einem solchen Umgang mit Geschichte geschieht, ist nur die beliebige Simulation von Vergangenheitsfragmenten; eine spielerische Hinwendung zur Vergangenheit also, in der die identitätsstiftende Kraft historischer Erinnerung verloren gegangen ist. Es fällt nicht schwer, in der Philosophie Friedrich Nietzsches den Subtext der Rede vom »Ende der Geschichte« auszumachen. Dabei denke ich noch nicht einmal so sehr an seine erfrischende Polemik »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, obwohl sich 15. Rüsen (2003, S. 20). 16. Zum Thema »Posthistoire« vgl. Rüsen (1990). Vgl. überdies Meyer (1993); Niethammer (1989). Vgl. ferner Essen (1998). 17. Meyer (1993, S. 221). 219

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in dieser »unzeitgemäßen Betrachtung« immerhin eine sehr hellsichtige Bemerkung zur Naturalisierung der Geschichte finden lässt: Nietzsche nimmt die Heraufkunft einer Geschichtskonzeption wahr, in der die »Menschheitsgeschichte nur die Fortsetzung der Thier- und Pflanzengeschichte« sein soll und der »Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier« unterstellt werde. Brisanter noch als diese Beobachtung ist Nietzsches Replik: »Lehren, die ich für wahr, aber für tödtlich halte«.18 Für den uns interessierenden Zusammenhang dürfte jedoch ein Blick auf sein Spätwerk noch relevanter sein.19 In ihm führt er bekanntlich die Logik des europäischen Nihilismus, von dessen alles durchdringender und zersetzender Erfahrung sein Denken von Beginn an vorangetrieben wurde, auf die Spitze. Zwei Andeutungen müssen genügen: In einem nachgelassenen Fragment heißt es: »Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen ›Sinn‹ im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation gieng zu Grund; weil sie aber als Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gäbe, als ob alles umsonst sei.«20 Und in einer anderen, berühmteren Kurzprosa lässt Nietzsche den letzten Menschen auf eine weltgeschichtliche Bühne treten, die vom Tode Gottes gezeichnet ist: »Was ist Liebe? […] Was ist Sehnsucht?« – »so fragt der letzte Mensch und blinzelt«, »›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagt der letzte Mensch und blinzelt«.21 Entscheidend ist nun allerdings, dass Nietzsche in seiner Spätphilosophie gewissermaßen eine Gegenbewegung provozieren will, die sich gegen das im »letzten Menschen« beschriebene Lebensgefühl zu richten habe. Und zwar soll, so die Stoßrichtung, die im Begriff des Subjekts vorgestellte Wirklichkeit eines vernunft- und freiheitsbegabten Menschen als bloße Fiktion entlarvt werden. Was Nietzsche einklagt ist eine anthropologische Neuorientierung, die als Epiphänomen marginalisiert, was einst dem Menschen Würde verlieh und ihm gestattete, sich aus dem »Reich der Natur« auszusondern: Der Begriff selbstbezüglicher Freiheit (unter Einschluss des Ichbegriffs) soll fallen und mit ihm jene Vernunftbegabung, vermöge derer der Mensch der Wahrheit und der moralischen Selbstbestimmung fähig ist. Hinweg fällt die Vorstellung des Menschen von sich, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können und damit auch die Fähigkeit zu einer moralischen Betrachtungsweise des Daseins. Diese Auffassung vom Menschen bleibt nicht ohne Folgen für 18. Nietzsche (1988a, S. 312, 319); Essen (2002). 19. Zu der im Folgenden vorausgesetzten Interpretation von Nietzsches Spätwerk vgl. vor allem Striet (1998). 20. Nietzsche (19881, S. 212). 21. Nietzsche (19882, S. 338-341, hier vor allem: S. 20). 220

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einen Begriff von Geschichte, wie (zum Beispiel) Jörn Rüsen ihn ausgearbeitet hat. Wenn nämlich das Ich lediglich Fiktion ist, dann sind auch die Begriffe, Bilder und Sprachwelten, die das Ich ausbildet und als Weltwirklichkeit sich vorstellt, nur Fiktionen. Und somit auch das, was wir Geschichte nennen! Zwar wissen wir spätestens seit Humboldt und Droysen, dass wir »Geschichte« erkenntnistheoretisch als das Konstrukt eines Subjekts begreifen müssen, das vergangene Ereignisse zu geschichtlichen Geschehens- und Sinnzusammenhängen systematisiert. Damit folgt die Geschichtstheorie der Kantischen Erkenntnistheorie, derzufolge die Wirklichkeit von Geschichte sowie ihre Prinzipien und Strukturen mentalistisch geprägt sind. Aber die in ihrer Tradition stehende Geschichtstheorie von Jörn Rüsen lässt sich stets von der Überzeugung leiten, dass die Konstruktionsprinzipien historischen Erzählens ethischen Maximen folgen und überdies auf die Form einer Sinnbildungsleistung zielen, die den Gattungsbegriff der Menschheit als ihre regulative Idee voraussetzt.22 Insofern orientiert sich dieses Geschichtsdenken nicht nur am apriorischen Sinnwillen des Menschen, sondern ist überdies den einschlägigen Wahrheitskriterien des historischen Denkens verpflichtet. All dies ist für Nietzsche hingegen nicht mehr als eine regulative Fiktion, weil ihm zufolge Konstrukte wie zum Beispiel »Geschichte« lediglich Interpretationskonstrukte sind; fiktive Begriffe ohne Gehalt: »Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben.«23 Hinter dieser Sentenz steht nichts anderes als die interpretationistische Verabschiedung des Subjekts selbst: »›Es ist alles subjektiv‹, sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das ›Subjekt‹ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese. Soweit überhaupt das Wort ›Erkenntniß‹ Sinn hat, ist die Welt erkennbar; aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne ›Perspektivismus‹.«24 Anders gewendet: Weil das Ich eine bloße Fiktion ist, ein Anthropomorphismus, sind die diesem fiktiven Ich zugeschriebenen Sinnbildungsleistungen als vielleicht noch lebensdienliche, aber keineswegs mehr wahrheitsfähige Orientierungsgefüge zu durchschauen. Ich komme an dieser Stelle nur deshalb so ausführlich auf Nietzsche zu sprechen, weil seine Subjektkritik die Reihe der bis heute ungebrochen währenden philosophischen Versuche eröffnet hat, die Wirklichkeit der Freiheit und mit ihr die Idee selbstbestimmter Subjektivität zu bestreiten. Von Nietzsche zehren letztendlich alle subjektdekonstruktiven Programme von Heidegger über Foucault bis hin zur 22. Vgl. Rüsen (1983-1989, hier: Bd. II, S. 47-79). 23. Nietzsche (19883, S. 138). 24. Nietzsche (1988b, S. 315). 221

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»postmodernen« Toterklärung des Subjekts! Sie alle aber liefern, darauf will ich hinaus, gewissermaßen die epistemische Begründung für jenen naturalistischen Reduktionismus, dem schließlich auch die Geschichte unterworfen werden soll – ohne Subjekt keine Geschichte: »Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. ›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.«25 Die von Jörn Rüsen eindringlich gestellte Frage »Kann Gestern besser werden?« erübrigt sich: Eine Weltgeschichte, die »ohne ein Finale ins Nichts«26 fällt, stürzt auch den Menschen ins Nichts!

4. Kleine Zwischenbilanz Bevor ich Suchbewegungen vorlegen möchte für eine Antwort auf die naturalistische Prätention, der Geschichte das Ende bereiten zu wollen, dürfte es sinnvoll sein, zuvor noch einmal deren Stoßrichtung präzise zu bestimmen. Stellt das Programm einer Naturalisierung der Geschichte mehr dar als eine weitere Spielart der Postmoderne? Einerseits behauptet eine konsequente Naturalisierung der Geschichte nicht lediglich einen durchgängigen Perspektivismus, wie wir ihn von postmodernen Geschichtskonzeptionen her kennen.27 Diese zielen ja darauf, den Wahrheitsanspruch, der mit einer historischen Erzählung erhoben wird, zu dispensieren. Und sie geben überdies diejenigen wissenschaftsförmigen Kriterien preis, die über die Objektivität, das heißt: die Richtigkeit des historischen Wissens Rechenschaft geben. Andererseits läuft die Naturalisierung der Geschichte nicht auf einen bloßen »Präsentismus« hinaus. Dieser interpretiert die Modalkonjunktion des Axioms »Geschichte ist Vergangenheit als Gegenwart« in einer Weise, die die Gegenwart gewissermaßen zum Gleichsetzungsnominativ der Vergangenheit werden lässt. Gleichwohl gibt es eine unheimliche Allianz von Postmoderne und Naturalismus. Aber diese Allianz wird geschmiedet gegen eine Grundannahme, die für den modernen Begriff der Geschichte, wie er auch von Jörn Rüsen profiliert wird, schlechthin konstitutiv ist. Und zwar nimmt diese Allianz die Form einer Kritik der historischen Vernunft an, die sich als deren Destruktion vollzieht. Diese Zersetzung nimmt ihren Ausgang bei einer erkenntnistheoretischen Einsicht, die für einen modernen, präziser: nachkantischen Geschichtsbegriff von fundamentaler Bedeutung ist: Geschichte ist Vergangenheit als Gegenwart im Medium des historischen Bewusstseins. 25. Nietzsche (19882, S. 18). 26. Nietzsche (19881, S. 5, 213). 27. Rüsen (1994, S. 188-208). 222

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Auf Letzteres zielt das naturalistische Dementi, in dem es, wie gezeigt, subjekthafte Phänomene von Bewusstsein und Selbstbewusstsein nicht lediglich funktional deutet, sondern als illusionäres Epiphänomen entlarven will. In naturalistischer Perspektive muss in dieser Konsequenz Geschichte folgerichtig als die Form einer Selbstzuschreibung erscheinen, die von einer Ich-Illusion erzeugt wird und deshalb selbst eine bloße Fiktion ist. Es gibt demnach kein reales Ich, das sich qua Selbstzuschreibung mentale Zustände zuschreibt, genauer: vindiziert. Vielmehr ist diese Vorstellung nichts als eine Illusion, die es, so der Anspruch, biologisch zu erklären gilt.28 Es gibt demzufolge auch kein reales »Ich«, das Sinnbildungsleistungen in der Absicht betreibt, sich im Fluss der Zeit zu orientieren. Denn das setzt in erkenntnistheoretischer Hinsicht die Einheit eines Selbstbewusstseins voraus, das der Einheit des Ich im Wechsel seiner verschiedenen Zustände zugrunde liegen würde. Wer allerdings diese Einheit als ein »durch repräsentionale Bindung einer komplexen Eigenschaftsmenge entstandenes Objekt« bezeichnet und dieses Objekt näherhin als Gehalt eines fiktiven Subjekts qualifiziert, der hat damit zugleich auch den Begriff der Geschichte als Illusion preisgegeben. Das aber ist: Das Ende eines Begriffs von Geschichte, der von einem wahrheitsfähigen Subjekt im praktischen Interesse an Identität und Selbstsein auf den Begriff von Sinn bezogen wird! Die unheilvolle Allianz zwischen Naturalismus und Posthistoire besteht meines Erachtens in dem Folgenden: Einerseits glaubt die postmoderne Subjektdekonstruktion, befeuert durch den Erfolg der Neurowissenschaften, ihrem Abgesang auf bewusstseinstheoretische Begriffe eine empirische Basis verschaffen zu können. Andererseits bietet sich die postmoderne Subjektkritik als Deutungsmodell an, das eine konsequente naturalistische Reformulierung dieser Begriffe philosophisch legitimieren soll. Dort aber, wo schließlich die Naturalisierung des Mentalen einsickert in Sprach- und Denkformen des Alltags, affirmieren beide, sowohl die postmoderne wie die naturalistische Toderklärung des Subjekts, gesellschaftlich laufende Krisenerfahrungen von schleichender Entmündigung und Sinnverlust, die die Suche nach authentischer Selbstbestimmung in Zeiten fortschreitender Unübersichtlichkeit ohnehin schon bedrohen.

28. Vgl. etwa Metzinger (1995, 1999). Zur Auseinandersetzung mit Metzinger vgl. auch Striet (2000). 223

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5. »… das höchste Interesse für uns selbst«. Überlegungen zu einem geschichtsphilosophischen Paradox Angesichts des gerade angedeuteten Befundes wird die Frage bedrängend, wie ein normativ gehaltvoller Begriff von Geschichte in einer Kultur noch evident sein kann, in der die naturalistische Selbst- und Weltbeschreibung zunehmend an Boden zu gewinnen scheint. Aber muss der Naturalismus das letzte Wort haben über das von ihm verkündigte Ende der Geschichte? Genau besehen schreibt er sich ein in den Prozess einer Verwissenschaftlichung, die als empirisch orientierter Szientismus schon seit dem 19. Jahrhundert diskutiert wird.29 Die Naturalisierung mentaler Begriffe will methodisch die Frage nach der epistemischen Zugänglichkeit selbstbewusster Subjektivität in der Weise beantworten, dass sie zu mentalen Zuständen ein wahlweise neuro- oder soziobiologisch verifizierbares, das aber heißt: empirisches Korrelat auffinden will. Das allerdings ist noch keineswegs das eigentliche Problem, auch wenn an dieser Stelle bereits sichtbar wird, dass der Naturalismus die Kantische Differenz von theoretischer und praktischer Vernunft dadurch einzieht, dass er die Sphäre des Mentalen in die Objektstellung des empirisch Wissbaren bringen will. Was somit als naturalistisches Dementi behauptet wird, muss infolgedessen als der methodisch zum Scheitern verurteilte Versuch zurückgewiesen werden, mentale Begriffe und Zustände dem Geltungsbereich des empirisch Erkennbaren zu unterwerfen. Zur puren Ideologie aber wird dieser Versuch spätestens dort, wo ontologische Schlussfolgerungen aus dem empirischen Befund gezogen werden sollen, ein »reales Ich« als subiectum mentaler Zustände sei nicht zu beweisen. Um nun die Wirklichkeit von subjekthafter Freiheit, Personalität und mit ihnen aller Phänomene, die wir die mentalen nennen, zu sichern, sehe ich nach wie vor keinen anderen Weg offen stehen als den von Kant und Fichte einst eingeschlagenen:30 Weil die Bezogenheit von Natur und Freiheit aufeinander begrifflich nicht objektivierbar und 29. Vgl. Schnädelbach (1991, S. 89-147). 30. Einschlägig ist einerseits Kants Auflösung der dritten Antinomie der theoretischen Vernunft, in der erörtert wird, dass die Freiheit, genauer: die Kausalität aus Freiheit nicht im Widerstreit steht mit der für die Erfahrungs- und Sinnenwelt notwendig anzunehmenden allgemeinen Naturnotwendigkeit. Freiheit ist mithin denkmöglich, auch wenn ihre Erkennbarkeit dem Zuständigkeitsbereich der theoretischen Vernunft prinzipiell entzogen ist. Fichte wiederum hat andererseits Kants Einsicht, dass es dem Wesen der Freiheit widerstreitet, zum Gegenstand theoretischer Erkenntnis zu werden, die grundsätzliche Wendung gegeben, dass die Wirklichkeit der Freiheit nur bewahrheitet werden kann von einer Reflexion, die das »Interesse an uns selbst« nicht preisgibt. Vgl. Kant, KrV B, S. 472-479, S. 560-596; Fichte (1971). 224

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folglich nicht erkennbar ist, wird der Freiheit ein Denken nicht gerecht, das sie in die Objektstellung bringen und als ein Ding unter anderen Dingen betrachten will. Diese Einsicht hat Folgen für den Begriff der Geschichte, dessen humane Dignität in dem Moment preisgegeben wird, wo sich der Mensch lediglich als eine Entität begreifen will, die nur als ein zählbar Verschiedenes von den übrigen Weltdingen unterschieden ist. Dann nämlich erscheint unausweichlich der natural-geschichtliche Bedingungszusammenhang konkreter Personwerdung als ein Determinationszusammenhang, dem der Mensch unentrinnbar ausgeliefert zu sein scheint und zwar »ohne Finale« und »happy end«. Ohne den freien Entschluss zu sich selbst – Kierkegaard sprach treffsicher von »Selbstwahl« – begründen wir uns nicht als ein Individuum, das freiheitsbegabt und verantwortungsbewusst mit dem Gesamt von Welt und Geschichte kommuniziert. Für den Begriff der Geschichte ist deshalb entscheidend, dass er zurückgebunden wird an den unableitbar freien Konstitutionsakt personalen Daseins, in dem die Synthese von subjekthafter Freiheit und raumzeitlicher Lokalisierbarkeit und also von »Selbstverhältnis« und »Weltverhältnis« praktisch vollzogen wird. Wenn aber dieser Konstruktionsakt mehr und anderes sein soll als die Wirklichkeitssimulation eines subiectum, das wir letztlich als realitätslose Fiktion zu durchschauen hätten, dann müssen wir die Generierung dieses Aktes zurückführen auf das Bewusstsein des Menschen von sich als Wesen der Freiheit. Dieses Bewusstsein jedoch wird, dies ist entscheidend, allererst evident vom selbstergriffenen Standpunkt der Freiheit aus. In dieser Konsequenz ist das höchste Interesse des Menschen »für uns selbst«, von dem Fichte gesprochen hat,31 gleichursprünglich die Bedingung der Möglichkeit für das Interesse des Menschen an jener existenzdialektischen Konstruktion, die wir die Geschichte nennen: Dieser Aktus begründet allererst das gegenwärtige Orientierungsbedürfnis eines zeitlich existierenden Subjekts, das sich in ein qualifiziertes Verhältnis zur eigenen Vergangenheit setzt, weil es die Zeit erfährt als den drohenden Selbstverlust im Anderswerden seiner Welt und seiner selbst. Wo hingegen diese »Selbstwahl« nicht geschieht, wird jene »geistige Transformation von Naturzeit in humane Zeit«verfehlt, die den Ursprung des Geschichtsbewusstseins bildet.32 In diesem Sinne 31. »Das höchste Interesse und der Grund alles übrigen ist das Interesse für uns selbst. So bei dem Philosophen. Sein Selbst im Raisonnnement [sc.] nicht zu verlieren, sondern es zu erhalten und zu behaupten, dies ist das Interesse, welches unsichtbar alles sein Denken leitet« (Fichte, 1971, S. 433). Im Folgenden greife ich unter anderem auch auf Überlegungen meines theologischen Lehrers Thomas Pröpper zurück, die dieser in der Auseinandersetzung mit der Tradition neuzeitlichen Freiheitsdenkens entwickelt hat. Vgl. Pröpper (1991, 2001). 32. Rüsen (1983-1989, Bd. I, S. 48-58, insbes. S. 52); vgl. jetzt auch Rüsen (2004). 225

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gilt für die Sinnbildungsleistung des historischen Erzählens, was Fichte einst über die Philosophie und über philosophische Systeme insgesamt festgehalten hatte: Was für eine Geschichte man wählt hängt davon ab, was man für ein Mensch ist: denn Geschichte ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder anlegen könnte, wie es uns beliebte, sondern sie ist beseelt durch die Seele des Menschen, der sie hat.33 Anders gewendet: Die Möglichkeit für die Ausbildung des Geschichtsbewusstseins hängt daran, dass der Entschluss der Freiheit zu sich selbst tatsächlich vollzogen wird. Letzte Instanz gegen das naturalistische Dementi der Geschichte kann deshalb allein die subjekthafte Freiheit des Menschen sein, das Bewusstsein der menschlichen Freiheit von ihrer eigenen Unbedingtheit. An ihr hängt unsere Selbstwahrnehmung als freie Personen, die wir in intersubjektiven Kommunikations- und Handlungszusammenhängen praktisch in Anspruch nehmen und uns wechselseitig – zuvorkommend und advokatorisch – unterstellen. Diese Einsichten haben weit reichende Konsequenzen für die Möglichkeit einer argumentativen Auseinandersetzung mit dem Naturalismus um das Bewusstsein des Menschen von sich als geschichtlich existierendes Wesen der Freiheit. Zwar hat die Auseinandersetzung mit dem Naturalismus epistemologische Streitfragen zum Inhalt, die auf eine Rationalitätsform zielen, in deren Medium über die Wirklichkeit der in den Begriffen »selbstbewußte Subjektivität« und »Freiheit« angezeigten Gehalte Rechenschaft gegeben werden kann.34 Diese Aufgabe wäre, worauf ich an dieser Stelle lediglich hinweisen kann, einer Freiheits- und Selbstbewusstseinstheorie zu übertragen, die die interne Struktur des Subjekts soweit aufzuhellen hat, dass diese Theorie gegenüber naturalistischen Erklärungsleistungen keineswegs als die theoretisch schwächere Alternative erscheint. Gleichwohl vermag eine solche Theorie das, was sie auf ihre Möglichkeitsbedingung hin bedenkt – das reale Menschsein – philosophisch nicht sicherzustellen. Im Gegenteil: Der neuralgische Punkt in der Naturalismusdebatte besteht gerade darin, dass die Möglichkeit einer argumentativen Auseinandersetzung um die Bestimmung des Menschen in seiner Freiheit nach einer Reflexion verlangt, die gerade nicht in der Instanz der theoretischen Vernunft stattfinden kann. Das (scheinbar) Prekäre besteht darin, dass es einem subjektvergessenen Objektivismus gleichkäme, unterstellen zu wollen, der soeben aufgewiesene existenzdialektische Vollzug, dem wir unser Geschichtsbewusstsein verdanken, ließe sich von außen erzwingen oder auch nur andemonstrieren. Dieser Vollzug 33. Vgl. Fichte (1971, S. 434). 34. Zum Ansatz eines transzendentalen Freiheitsdenkens vgl. Krings (1980, 1964). Zur Selbstbewusstseinstheorie vgl. vor allem Henrich (1982a, 1982b). Zum Entwurf einer Transzendentalen Historik, die sich als eine freiheitstheoretische Grundlegung des Geschichtsbegriffs begreift, vgl. Baumgartner (1997, 1982); vgl. ferner Essen (2005). 226

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ist ab ovo und konstitutiv dem unableitbar freien Entschluss der Freiheit zu sich überantwortet. Das aber bedeutet zugleich, dass die Auflösung der Dialektik von Natur und Freiheit, geschichtstheoretisch gesprochen: der Dialektik von physikalischer und existentieller Zeit als Ganze dem Primat der Praxis zu unterstellen ist. Präziser: Der humane, das aber heißt: der nichtreduktionistische Umgang mit dieser Dialektik scheint angewiesen auf eine (gesellschaftlich vermittelte) Praxis der Freiheit, die ihren unbedingten Sinnintentionen noch traut, wenn sie Menschen einlädt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und eine eigene Identität auszubilden. Offenbar sind in jedem realen Freiheitsvollzug, der sich geschichtlich orientiert, Sinnvoraussetzungen bereits impliziert, wenn anders er mehr sein will als eine »nutzlose Leidenschaft« (Sartre). Denn wovon zehrt der apriorische Sinnwille des Menschen, wenn er sich als zeitlich Existierender der Erfahrung des drohenden Verlustes seiner Identität entgegenstemmt? Aus welchen Quellen schöpft die Hoffnung, dass in der historischen Erinnerung Sinnpotentiale wach gehalten werden können, obwohl dies der real erlittenen Erfahrung von Scheitern, Schuld und Untergang zu widersprechen scheint? Woher das Vertrauen, dass im Lichte der Vergangenheit »die in der Gegenwart erfahrenen zeitlichen Veränderungen einen Sinn bekommen, d.h. in die Absichten und Erwartungen des zukunftsgerichteten Handelns eingehen können«?35 Aus welchen Ressourcen schöpft der Mut, der durch Erinnerung an die Vergangenheit eine Zukunftsperspektivierung des gegenwärtigen Lebens möglich machen will? Und woher stammt die Kraft, die der Geschichte ein happy end abtrotzen will? Diese Fragen laufen auf ein, wie ich es nennen möchte, geschichtsphilosophisches Paradox hinaus.36 Die Aktualität des Geschichtsbewusstseins lebt offenbar von Sinnvorgaben, von denen es faktisch abhängt und die es selbst nicht garantieren und verbürgen kann. Das Eis ist dünn, auf dem zu gehen hat, der sich im Interesse an 35. Rüsen (1983-1989, Bd. I, S. 56). 36. Im Folgenden nehme ich unter dem Titel »geschichtsphilosophisches Paradox« ein Thema auf, das ich erstmals im November 1995 in einem Kolloquium habe entfalten können, zu dem mich Jörn Rüsen eingeladen hatte. Vgl. Essen (1996). Wie sogleich deutlich werden wird, ist das »geschichtsphilosophische Paradox« in bewusster Nähe zu dem vielzitierten Böckenförde-Paradox formuliert, mit dem dieser auf die Dialektik von säkularem Staat und religiösen Sinnvorgaben aufmerksam machen wollte. Und in der Tat gibt es in meinen Augen erstaunliche Strukturparallelen zwischen dem von Böckenförde aufgeworfenen staatsphilosophischen Problem und der von mir thematisierten geschichtsphilosophischen Problemkonstellation, die auf die eigentümliche Angewiesenheit der historischen Vernunft auf religiöse, insbesondere jüdisch-christliche Sinnvorgaben hindeuten, denen sich ein säkular begriffenes Geschichtsverständnis bereits historisch verdankt. Vgl. Essen (2004). 227

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gegenwärtigem Selbstsein geschichtlich zu orientieren versucht. Einerseits erschließt sich nur demjenigen zeitlich existierenden Subjekt »Sinn« in der Geschichte, das sich in ein qualifiziertes Verhältnis zu seiner Vergangenheit setzt. Freilich impliziert dieser existenzdialektische Vollzug, durch den aus »Geschäften« »Geschichte« wird, bereits Sinnintentionen und beansprucht sie im Wagnis der Selbstwahl. Der Mensch bedarf zu seiner Subjektwerdung geschichtlich vermittelter und also zuvorkommender Sinnvorgaben, die ihn ermutigen, ein selbstbestimmtes Leben »mit Bewandtnis« zu führen. Ja, das Geschichtsbewusstsein lebt davon, dass es dort, wo es Sinn vermitteln will, dies nur begründet vermag, wenn er als schon eröffnet vorausgesetzt werden kann. Denn durch seine Verwiesenheit auf das Feld der Vergangenheit weiß das Geschichtsbewusstsein um die Externität seines Sinngrundes. Historische Sinnbildungspraxis verfügt selbst nicht über den Sinn, den sie erinnert! Damit ist andererseits die Frage nach den geschichtlich eröffneten und kulturell vermittelten Voraussetzungen dieses Vertrauens aufgeworfen. Und dies in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Sinnreserven, von denen das Freiheitsbewusstsein der Menschen doch zehrt, allmählich erschöpft sind. Dabei scheinen die Ressourcen zur Verteidigung der Humanität in einem Ausmaß verbraucht zu sein, dass die gegenwärtige Selbstvergewisserung kaum noch auf historisch vermittelte Sinnvorgaben zurückgreifen kann. Es dürfte deshalb zu den Aufgaben des gesamtgesellschaftlichen Projekts einer Geschichtskultur gehören, auf einen Umgang mit diesem geschichtsphilosophischen Paradox zu achten, der das kulturelle Gedächtnis zu schützen weiß gegenüber reduktionistischen Deutungsansprüchen. Es wäre, mit anderen Worten, eine Geschichtskultur, die in der säkularen Zivilgesellschaft sinnbildende Institutionen und Instanzen schützt, die ihrerseits aus kulturell und historisch vorgegebenen Traditionsbeständen schöpfen und so intersubjektive Prozesse gegenseitiger Ermöglichung, Förderung und Ermutigung initiieren wollen. Jörn Rüsen selbst hat mit der Kunst und mit der Religion zwei dieser »Sinnquellen« beziehungsweise »Sinnpotentiale« benannt, von denen ihrerseits, so seine These, die Innovationsfähigkeit der Geschichtskultur abzuhängen scheint. Er beschließt diese Überlegungen mit einer Frage: »Heißt das, daß Geschichte nur in dem Maße lebendig werden kann, indem ihr meta-historische Sinnquellen zufließen?«37 Ich in bin der Überzeugung, dass wir angesichts der Naturalisierung der Geschichte diese Frage mit Ja beantworten müssen.

37. Rüsen (1983-1989, Bd. III, S. 109-120, hier: S. 120). 228

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DIE NATURALISIERUNG DES GEISTES UND DAS ENDE DER GESCHICHTE

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) vakat 232.p 83753334970

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Synthesekonzeptionen heute Hans-Ulrich Wehler

Vor einem halben Jahrhundert gab es rund 170 Professoren des Fachs Geschichte an den Universitäten der beiden deutschen Neustaaten. Jetzt sind es in der Bundesrepublik gut 1300, dazu kommen einige hundert Privatdozenten und an die Stelle von knapp zweihundert Assistenten und der einen oder anderen Assistentin sind inzwischen Tausende von Wissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen an den Universitäten und Forschungsinstituten getreten. Schon wegen dieser quantitativen Vermehrung der »Community of Scholars«, vor allem dann wegen der anhaltenden Diversifizierung des Interesses an der Geschichte und der folgerichtigen Vermehrung der Fachdisziplinen, nicht zuletzt aber auch wegen der Internationalisierung der Beschäftigung mit der deutschen Geschichte, ist die spezialisierte Forschung immens in die Breite gewachsen. Diesen Expansionsvorgang kann man im Prinzip aus vielen Gründen nur begrüßen. Doch wirft er ebenfalls mit gesteigerter Dringlichkeit das Problem der Synthese auf. Denn nicht nur Studenten und Doktoranden, sondern auch interessierte Lehrer, selbst wenn sie in einer Universitätsstadt eine Bibliothek mit den wichtigsten Neuerscheinungen und Zeitschriften vorfinden, und überhaupt und erst recht das sog. allgemeine Publikum können die anhaltende Flut der Monographien und Aufsätze längst nicht mehr alleine bewältigen. Sie erwarten vielmehr, dass es kompetente Fachleute unternehmen, den Wissensstand auf einem Problemfeld für sie zusammenzufassen. Dass es etwa Martin Broszats Bestseller »Der Staat Hitlers« innerhalb von 30 Jahren auf mehr als 15 Auflagen gebracht hat, spricht nicht nur für diese immer noch frisch und anregend wirkende Meisterleistung, sondern bezeugt auch die Erwartungshaltung von Hunderttausenden von Lesern und die Resonanz, die eine gelungene, unleugbar auch anspruchsvolle Synthese zu finden vermag. Da wir vermutlich alle die belebende Wirkung der Konkurrenz auf dem freien Markt der Ideen, sprich: auch der historischen Interpretationen, begrüßen, werden wir einen Pluralismus rivalisierender Ansätze und Deutungen zu schätzen wissen. Das eigentliche Problem liegt 233

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aber darin, welchen Synthesekonzeptionen wir heute die überzeugendste Integrationsfähigkeit und Erklärungskraft zutrauen. Das Angebot an solchen synthesefähigen Konzeptionen ist bisher noch immer erstaunlich schmal geblieben, wie ein kurzer Überblick zeigen kann. 1. Traditioneller Wertschätzung erfreut sich – namentlich in der deutschen Geschichtsschreibung, aber keineswegs alleine in ihr – die innere und äußere Staatspolitik als Strukturierungskern der Darstellung. Die Grundlagen für diese Hochschätzung sind von der barocken Hofhistoriographie, erst recht dann im Zeichen des klassischen Historismus gelegt worden, als vom neuzeitlichen Staatsbildungsprozess eine verständliche Faszination ausging, die wichtiger war als die etatistische Mentalität von geschichtsschreibenden Staatsbeamten auf einem Universitätslehrstuhl. Unter dem weiten Dach der Staats- und Politikgeschichte ließen sich auch relativ autonome Phänomene wie etwa die wirtschaftliche Entwicklung berücksichtigen, freilich um den Preis, dass sie gewöhnlich um ihr Eigenrecht gebracht wurden, da sie meist nur unter dem Gesichtspunkt eines staatliche Macht und Geltung fordernden Faktors berücksichtigt wurden. Bekanntlich ist diese traditionelle Staats- und Politikgeschichte hierzulande seit längerem einer Erstarrung anheim gefallen, da sie sich auf ihrem anfänglichen Erfolgspolster zu lange ausgeruht, jedenfalls Innovationen verschlossen hat. Deshalb sind auch heute noch gelungene Beispiele für die oft geforderte »moderne Politikgeschichte« ziemlich rar. Mir scheinen vor allem zwei Chancen für die Politikgeschichte als Synthesekonzeption zu bestehen. Die erste wäre, das europäische Unikat des neuzeitlichen Staatsbildungsprozesses im Rahmen des ebenfalls einzigartigen Staatensystems erneut in den Mittelpunkt zu stellen (also Wolfgang Reinhards brillanter Pionierstudie zu folgen) und dann die Kontinuität dieses anhaltenden Prozesses: zum einen an der stufenweise erfolgenden Ausbildung des modernen demokratischen Interventions- und Sozialstaates, zum andern an der Entartung zum autoritären oder sogar diktatorialen Gängelungsstaat zu verfolgen. Die zweite Chance nutzt bisher hierzulande allein Jürgen Osterhammel, indem er in vergleichender Perspektive eine transnationale Entwicklungsdynamik (oder auch Rückständigkeit) verfolgt, um das Kraftfeld einer wahrhaft globalen Politik und internationalen Verflechtung zu erschließen. Leicht sind Synthesen unter dieser Leitperspektive gewiss nicht zu schreiben, wohl aber aussichtsreich und von beträchtlicher Integrations- und Erklärungskraft. Außerdem entstünde damit eine ernst zu nehmende politikgeschichtliche Konkurrenz für die anderen Syntheseansätze.

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2. Eine Unterform der Staats- und Politikgeschichte bildet die Entwicklungsgeschichte der westlichen Nationalstaaten. Sie ist zeitlich ungleich enger eingegrenzt und ist zudem auch der Versuchung ausgesetzt, ökonomische, kulturelle, soziale Probleme noch entschiedener zu instrumentalisieren als der zuerst erwähnte Ansatz. Sie müsste sich auch zuerst einmal von einer umfangreichen älteren Literatur mit einem historisch wie analytisch unhaltbaren Nationalismus- und Nationsbegriff verabschieden. Außerdem bliebe sie im Grunde auf die Zeit seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, in England und Holland seit dem 16./17. Jahrhundert, beschränkt, behielte aber als Variante moderner Politikgeschichte ihr Recht. Allerdings ist es denkbar unbefriedigend, wie in Theodor Schieders Handbuch zur europäischen Geschichte oder überwiegend noch immer in Peter Blickles neuem Sammelwerk zur europäischen Geschichte, die Geschichte der europäischen Nationalstaaten gewissermaßen scheibchenweise aneinander zu reihen, anstatt sie unter klar ausgewiesenen Gesichtspunkten im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erörtern. 3. Ebenfalls eine politikgeschichtliche Variante verkörpert die Verfassungsgeschichte der modernen Staaten, da sie einen umfassenden Wandel des politischen Institutionsgefüges in den Mittelpunkt stellen kann. Sieht man einmal von den fatalen Interpretationen ab, die Ernst-Rudolf Huber, einer der Kronjuristen des »Dritten Reiches«, in seiner »Deutschen Verfassungsgeschichte« an nahezu allen strittigen Stellen versammelt hat, zeigt das Unternehmen doch, welche weiten Bereiche der Politikgeschichte man damit erfassen kann. Der sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlich Interessierte würde aber in solch einem Werk meist vergeblich nach seinen Problemen suchen. 4. Unstreitig böten die Theorien des wirtschaftlichen Wachstums die Chance zu einer Synthese der modernen Wirtschaftsentwicklung (die »Fontana Wirtschaftsgeschichte Europas« hat das vor 30 Jahren einmal unternommen), heutzutage könnten sie durch das Gegengewicht skeptischer ökologischer Gesichtspunkte ergänzt werden. Aber sie müsste mit innerer Notwendigkeit ganz so einseitig bleiben wie die 5. Option: die Sozialgeschichte einer bestimmten Epoche, sofern man Sozialgeschichte hier als Sektorwissenschaft verstünde. Wechselt man kurz die Perspektive, indem man von den vertrauten Paradigmata der Geschichtswissenschaft zu allgemeinen Ideensystemen als Theorie- und Synthesespendern übergeht, trifft man erneut auf unbefriedigende Angebote. 6. Auch die flexibilisierte Variante des Marxismus in Gestalt eines aufgeklärten Neomarxismus vermag wegen der eingebauten orthodo235

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xen geschichtstheologischen Prämissen nicht zu befriedigen. Dennoch bleibt er, wenn er von undogmatischen Köpfen wie etwa Eric Hobsbawm und Perry Anderson, Pierre Vilar und Charles Tilly vertreten wird, eine ernst zu nehmende Alternative. 7. Dagegen scheint mit der Systemtheorie in der einzigen überlebenden Variante, der Luhmannschen, das bisher unlösbare Dilemma verbunden zu sein, dass sie aus den lichten Höhen ihrer Abstraktion auf das mittlere Reflexionsniveau von Historikern nicht überzeugend herunter transformiert werden kann. Für Juristen, auch für Rechtshistoriker bietet Luhmanns Konzeption der Rechtssysteme offenbar eine nützliche Strukturierungshilfe. Eine allgemeine systemtheoretisch fundierte Synthese hat dagegen aus guten Gründen noch kein Historiker gewagt und Luhmanns Urteile über historische Zusammenhänge, etwa über säkulare Veränderungen der Sozialstruktur, schrecken ohnehin eher ab. 8. Nähern wir uns von neuem jenen Optionen, über die in der Geschichtswissenschaft zurzeit diskutiert wird, treffen wir auf zwei weitere Konzeptionen. Die Ergänzung der bisher vorherrschenden Deutungsmuster durch die Geschlechtergeschichte ist jetzt deshalb möglich, weil sie die militante Einseitigkeit der anfänglichen Frauengeschichte überwunden und die bipolare Welt der beiden Geschlechter zunehmend anerkannt hat. Was aber den Syntheseanspruch angeht, der von einigen wenigen Stimmen mit theoretisch wie empirisch schwachbrüstigen Argumenten noch immer oder, verblüffenderweise, erneut verfochten wird, eignet sich dieser spezifische Zugang zu historischen Fragen, dessen eigentliche Stärke in der mikrohistorischen Forschung und der konventionelle Annahmen korrigierenden Argumentation liegt, für eine derart anspruchsvolle Aufgabe ganz und gar nicht. Man braucht nur an die großen Probleme der beiden letzten Jahrhunderte zu denken: Da sind die Folgen der europäisch-amerikanischen Expansion über die Erde bis hin zum derzeitigen Nord-SüdGefälle, das beispiellose demographische Wachstum mit seinen ebenso vorbildlosen Migrationswellen seit dem »langen« 19. Jahrhundert, der Charakter zweier totaler Weltkriege, der Aufstieg und Niedergang des Kommunismus und Faschismus, der Wechsel von der Monarchie zur Republik oder zur Diktatur, die Globalisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, das industriekapitalistische Wachstum, die neue Sozialstruktur der »marktbedingten Klassen«, die Wissenschaftsrevolution, die Macht einflussreicher Ideensysteme wie vor allem des Darwinismus und Nationalismus – ich breche ab: Alle diese Komplexphänomene können von einer noch so weit verstandenen Geschlechtergeschichte nicht integriert, geschweige denn überzeugend oder sogar besser als von anderen Ansätzen aus erklärt werden. 236

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9. Die zweite Konzeption existiert, genau genommen, noch gar nicht in einer ausgearbeiteten Form, wird aber in den vergangenen drei Jahrzehnten häufig insinuiert. Ich denke an den Überlegenheitsanspruch, mit dem die »neue Kulturgeschichte« insbesondere der theoriegeleiteten Sozial-, Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte begegnet ist. Auf diese Kontroverse soll hier nicht noch einmal eingegangen, sondern nur einiges festgehalten werden. Zum ersten ist die »neue Kulturgeschichte« aus Unkenntnis ihrer Vorgänger keineswegs so rasant innovativ, wie das viele ihrer Adepten glauben. Das hat auch Dieter Langewiesche jüngst mit nachdrücklicher Ironie, wie vorher mehrfach Otto Gerhard Oexle, betont. Zweitens kann sie zu Recht auf ihre Erfolge bei der Aufklärung von Schwachstellen verweisen, auf die Bedeutung von Religion und Weltbildern, von Ritualen und Symbolik, von exotisch wirkenden Sitten und Bräuchen. Drittens werden die meisten der unter dem modischen Deckmantel der Diskursanalyse daherkommenden Studien den anspruchsvollen Postulaten des viel beschworenen Michel Foucault, geschweige denn dem Innovationsziel nicht gerecht; meistens bieten sie konventionelle Ideengeschichte in neuen Sprachschläuchen. Vor allem aber ist es bisher, soweit ich zu sehen vermag, nicht gelungen, auch nur ein einziges Musterbeispiel einer Synthese mit kulturgeschichtlichen Kategorien zu erarbeiten. Richard van Dülmens doppelter Anlauf etwa (in »Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit« und in der »Kulturgeschichte der deutschen Romantik«) zeigt das Ausmaß der Dilemmata eines solchen Unternehmens. Sie hängen im Kern mit dem diffusen, weithin ungeklärten, aber mit hochgespannten Hoffnungen überfrachteten Kulturbegriff zusammen. Die Kategorie der »Culture« in der englischen Sozialanthropologie etwa, die damit die Totalität eines institutionell, sozial, ökonomisch, religiös-rituell abgesicherten Ordnungsgefüges erfassen wollte, unterscheidet sich nicht von unserem Begriff der Gesamtgesellschaft. Die »Culture« der amerikanischen Kulturanthropologie dagegen zielte lange Zeit auf die Entschlüsselung der persönlichkeitsprägenden Bedingungen, mit Clifford Geertz vor allem ist sie in den letzten 30 Jahren darüber hinausgelangt. Jeweils zu Beginn von Studien ad hoc definierte Kulturbegriffe sind meist zu engbrüstig angelegt oder sie versprechen zu viel. Die Goldmine von Max Webers Historischer Kulturwissenschaft auszunutzen, wie das Friedrich Jaeger längst gefordert hat, haben sich die Anhänger der neuen Lehre bisher konstant geweigert. Kurzum: Von einer Synthese im Zeichen der »Neuen Kulturgeschichte« ist bisher genau so wenig eine respektheischende Konkurrenz zu erwarten wie von der Geschlechtergeschichte. Wenn nun der Rückgriff auf Foucaults Gedankengebäude als potentielle Synthesekonzeption, zugleich als Mittel zur Überwindung des Gegensatzes von Struktur und Individuum, von Verstehen und Er237

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klären genannt wird, lassen sich an dieser Stelle noch einmal einige Bedenken festhalten. Bei Foucault gibt es bekanntlich mehrere Vorschläge, Diskursanalyse zu betreiben, keineswegs aber die Diskursanalyse. Seine »archäologische« Methode (sich der kulturellen Überlieferung so distanziert zu nähern, wie der Archäologe den steinernen Resten der Vergangenheit) litt an einer hanebüchenen Unkenntnis erkenntnistheoretischer Probleme und an der Missachtung der Foucault offenbar völlig unbekannten Hermeneutiklehre. Später hat er diesen Ansatz selber verworfen. Die »genealogische«, ganz seinem blinden Nietzsche-Enthusiasmus entspringende Methode, führt nirgendwo über eine kritische sprach- und strukturbewusste historische Analyse hinaus, verkleidet die Herangehensweise nur in ein neues Sprachspiel. Trotzdem kann man aus Foucault den Ansatz zu einer tragfähigen historischen Diskursanalyse herausdestillieren, um etwa den biopolitischen Diskurs des Sozialdarwinismus oder des Nationalsozialismus mit Gewinn zu analysieren. Dabei muss einem klar sein, dass Foucaults Denken im Kern einem harten Strukturalismus folgt, mithin auch die strukturelle Macht des Diskurses, nicht aber die individuelle Realitätswahrnehmung betont. In der historiographischen Praxis hat die immer noch seltene Anlehnung an Foucault meist zu einer altertümlichen Ideengeschichte geführt, mithin zu altem Wein in neuen Schläuchen, und damit einer naiv einseitigen Priorität von Ideen und Sprache unter Verbannung aller anderen geschichtsmächtigen Faktoren. Allerdings ist die Behauptung irreführend, Sozialhistoriker lehnten schon deshalb Foucaults Ansatz ab, weil der Diskurs ein genuin kulturelles Produkt sei. Fraglos spielen Ideen und Weltbilder eine große Rolle, aber Foucault selber insistiert auf der sozialstrukturellen Verankerung der Diskursgemeinschaften, auf der Einbeziehung der Herrschaftsverhältnisse usw., also auf der Berücksichtigung von Bedingungen des historischen Prozesses, die in »Kultur« nicht aufgehen. Nur wird dieser Appell, der dem Wissenschaftler einiges abverlangt, selten berücksichtigt, und Foucault selber hat, von der Gewalt der über den Menschen schwebenden und sie dirigierenden Diskursformationen fasziniert, die eigenen Ratschläge selten berücksichtigt. Foucaults vordringliches erkenntnisleitendes Interesse: seine Kritik am Aufklärungsdenken und am langlebigen Aufstieg einer totalitären Disziplinargesellschaft im »Kerkerstaat«, hat im Vergleich mit anderen Deutungen des okzidentalen Sonderwegs unter Historikern keine sonderliche Attraktivität entfalten können. Offensichtlich sagt diese Theorie aber öfters Vertretern der alten und neuen Linken zu, die nach der radikalen Deflation der Marxschen Großtheorie bei Foucault einen Ersatz mit ähnlich totalem Anspruch zu finden glauben. Nicht zuletzt kann von Foucaults politischen Überzeugungen, seinem Weg von der KPF zum Maoismus und schließlich zur Verklärung der 238

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iranischen Mullah-Theokratie, für Neuzeithistoriker in der Regel keine Faszination ausgehen. Von einem von Foucault inspirierten Kulturalismus droht mithin der Gesellschaftsgeschichte keine ernsthafte Gefahr. 10. Daher bleibt noch einmal zu verteidigen das Konzept der Gesellschaftsgeschichte als regulativer Idee einer zeitgemäß angelegten Synthese. Sie stellt sich bewusst den erkenntnistheoretischen Problemen dieses Unternehmens und kann dabei vom Reflexionsstand der theoriegeleiteten Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, aber auch einer modernen Politikgeschichte gewinnen. Aufgrund der Theoriedebatte in diesen Disziplinen hatte ich bei meinem Experiment einer »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« die Entscheidung für vier dominante Dimensionen oder »Achsen« von neuzeitlichen Gesellschaften getroffen: für politische Herrschaft, Wirtschaft und Kultur und – als Überschneidungsprodukt – Sozialstruktur. Das gestattet eine analytische Aufteilung der Phänomene, wirft aber zugleich mit gesteigerter Schärfe das Problem ihrer Integration auf. Überdies ist entschieden bestritten worden, dass diese Grunddimensionen, die dem Imperativ des ökonomisch sparsamen Umgangs mit Leitkategorien gehorchen, realiter genügen, um der Komplexität des historischen Prozesses wenigstens tendenziell gerecht zu werden. Dieter Grimms Einwand etwa, dass die Dimension des Rechts als einer ubiquitären daseinsgestaltenden Potenz, zumal in einem Zeitalter unaufhaltsamer Verrechtlichung aller Daseinsbereiche, bisher fehle, ist argumentativ nicht zu entkräften. Daher muss er von neuen gesellschaftsgeschichtlichen Arbeiten berücksichtigt werden. Mit jeder Vermehrung der Dimensionen oder Achsen hängt freilich ebenfalls das Problem zusammen, dass dann der Anspruch eines gesellschaftsgeschichtlichen Projektes noch unmäßiger wirkt, als er ohnehin schon erscheint. Wesentlich hängt das mit der Absicht zusammen, auf die regulative Idee, dass man sich der Totalität des historischen Prozesses wenigstens tendenziell annähern sollte, nicht zu verzichten. Obwohl die Annahme, Totalität tatsächlich erfassen zu können, schon »theoretisch illegitim« (Jürgen Habermas) ist, fordert ein solcher Fluchtpunkt von Gesellschaftsgeschichte – die Annäherung mithin an den historischen Prozess in der Perspektive spezifischer erkenntnisleitender Interessen – die lockere Anbindung an evolutionstheoretische Überlegungen. Max Weber hat zwar die Evolutionstheorien seiner Zeit verachtet, doch selber durchaus auf einem gerichteten, höchst ambivalenten Entwicklungsprozess des Westens mit benennbaren Richtungskriterien insistiert. Die aus seiner Deutung ableitbare historische Modernisierungstheorie kann daher, ergänzt um die brauchbaren Stücke der Modernisierungsdebatte der letzten 50 Jahre, als Orientierungsund Interpretationshilfe dienen. Es führt zu keiner gravierenden Ver239

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HANS-ULRICH WEHLER

änderung, wenn man anstatt von Modernisierungstheorie von einer historischen Theorie der Moderne spricht. Selbstverständlich kann man weiterhin Gesamtdarstellungen schreiben, ohne sie explizit in einen theoretischen Kontext einzubetten. Aber es bedeutet einen Gewinn an interpretatorischer Tiefenschärfe, wenn man sie in ihn integriert. Das trifft etwa auf eine Analyse zu, welche die Fortsetzung des Staatsbildungsprozesses im Auf- und Ausbau des modernen Sozial- und Interventionsstaates verfolgt. Es trifft zu auf eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der deutschen Arbeiterschaft im 20. Jahrhundert, die nach der Phase ihrer Expansion und politischen Konsolidierung offenbar in eine langgestreckte Periode des Abschmelzens und einer rundum zu begrüßenden Verbürgerlichung eingetreten ist, während der sie von anderen Sozialformationen überholt wird. Es trifft übrigens auch zu auf die Geschichte des Nationalsozialismus, die trotz aller herben Kritik und Unkenrufe durchaus im Spannungsfeld von pathologischen und modernisierungsfördernden Tendenzen gewinnbringend erörtert werden kann. Noch zeichnet sich nach meinem Eindruck keine unstrittig überlegene Synthesekonzeption, kein konsensfähiges Paradigma (im Sinne von Thomas Kuhn) ab. Wäre es aber überzeugend entwickelt, würde man, da jede dogmatische Orthodoxie ein Gräuel ist, mit fliegenden Fahnen zu ihm übergehen. Die Wahrscheinlichkeit spricht aber ohnehin nicht dafür, dass es zur künftigen Monokratie einer einzigen Synthesekonzeption kommen könnte. Vielmehr wird es in einer pluralistischen Geschichtswissenschaft angesichts ihrer unterschiedlichen erkenntnisleitenden Interessen bei einer Vielfalt konkurrierender Ansätze bleiben. Strengen Ansprüchen sollten sie aber schon genügen, und danach wird sie jeder Verfechter des agonalen Prinzips bereitwillig dem Wettbewerb überlassen.

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DER METAPHORISCHE MENSCH

Der metaphorische Mensch. Zur Analogiebildung von Mensch, Staat und Geschichte in der Aufklärung und im Vormärz Sebastian Manhart

»Wenn aber alles ausser uns wankt, so ist allein noch in unserm Innern eine sichere Zuflucht offen, und seitdem in einem der bedeutendsten und cultivirtesten Theile der Erde eine wirkliche Umkehrung aller Verhältnisse Statt gefunden hat, ist es immer zweifelhaft, wieviel sich in den übrigen davon erhalten wird?«1 Es ist Wilhelm von Humboldt, der hier die Rückwendung auf den Menschen propagiert, um in einer sich dramatisch ändernden Welt Orientierung zu finden. Die Französische Revolution ist nicht nur für ihn der Ausdruck einer überall spürbaren Auflösung traditioneller sozialer Strukturen, dem eine Aushöhlung klassischer Deutungs- und Akteursmuster entspricht. »Die allgemeine Umkehrung der Verfassung und Verwaltung einiger Staaten« habe, so, das Thema variierend, der Göttinger Historiker und Staatswissenschaftler Sartorius, dazu geführt, dass »alle Stände, alle Völker an dem politischen Ideen-Streit Theil genommen; in Hütten wie in Pallästen sind Politiker aufgeschossen; die Streitfragen über die besten Regierungs-Formen und Verwaltungen der Staaten, sind Lieblings-Gespräche unserer Gesellschaften, aller Alter und Geschlechter geworden«.2 Und mit der Welt steht auch der Mensch auf dem Prüfstand. Denn »jetzt« sei die geschichtliche Veränderung »die allgemeine Sache des Menschen-Geschlechts« und das heißt, »die Sache jedes Einzelnen geworden.«3 Vor diesem Hintergrund scheint anfangs allein die Aufklärung des Gattungsbegriffs des Menschen eine Möglichkeit zur Erlangung sicheren Wissens zu bieten. Und doch läuft dies langfristig nicht auf Anthropologie, sondern Geschichte hinaus.4 Der Mensch ist 1. 2. 3. 4.

Humboldt (1960d, S. 506). Sartorius (1793, S. 3). Sartorius (1793, S. 4). Auch wenn Schlözer und Humboldt anfangs auf »Metapolitik«, Anthropologie und 241

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SEBASTIAN MANHART

selbst in ständigem Wandel begriffen und wird in der Form eines mit Geist begabten Lebewesens zum Modell des inneren Zusammenhangs der Geschichte.

1. Der bestimmte Mensch Schon Schlözer hatte für den Menschen vermerkt, dass dieser »von Natur nichts, […] durch Conjuncturen« aber alles werden könne, die »Unbestimmtheit« also der »zweite Theil seines Wesens« sei.5 Unbestimmtheit aber meint schon bei Schlözer nicht einfach Freiheit, sondern impliziert erst einmal lediglich Bestimmbarkeit. Grundsätzlich bleibt damit offen, woher die Bestimmung kommt, auch wenn er sich hier scheinbar gegen die Natur und für die Geschichte ausspricht. Denn auch das muss nicht Freiheit bedeuten. Seine Beobachtungen des Menschen oszillieren, wie die aller anderen, zwischen der Bestimmung des Menschen durch Natur oder Konjunktur, durch andere oder durch sich selbst, und die damit verbundenen Zuschreibungsmöglichkeiten machen einen Teil der bis heute anhaltenden Attraktivität dieser Figur des bestimmt Unbestimmten aus. Die Geschichte ist jener Vorstellungsraum, in dem die Zuweisung der Bestimmungen immer wieder neu geschehen kann. Qualifiziert man, wie zumeist der Fall, die Unbestimmtheit auch als Freiheit, dann vermitteln sich, wie im Menschen so in der Geschichte, Freiheit und Notwendigkeit, weil und indem der Mensch in ihr »geschichtlich arbeitet«.6 Und die Frage ist dann, wie das geschieht, wie man Freiheit erkennen und wissenschaftlich bearbeiten kann. Freiheit verstanden als reine Unbestimmtheit würde ja Irreduzibilität, also Zufall bedeuten, und der Historiker könnte dann nicht mehr sein als der Registrator je einzelner für sich stehender Erscheinungen – der Weg zurück in den Antiquarianismus.7 Auch für Droysen ist die Geschichte die zeitliche Entfaltung der menschlichen Konstitution. Die bestimmte Form der »Freiheit« ist »die Idee, […] der Zweckbegriff des Menschen«, und daher ist alles, was diesen Zweck »fördert« auch »geschichtlich«.8 Freiheit aber ist nicht Willkür, sondern sie ist selbst die Einheit der Unterscheidung von Freiheit und »Geschichte der Menschheit« setzen, vgl. Schlözer (1793, S. 29ff.); Humboldt (1960b). Zur Geschichte der Menschheit vgl. Meiners (1793); Villaume (1985). Zum regelrechten Boom anthropologischer Schriften zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. nur die Übersicht in: Art. (1971, Sp. 367). 5. Schlözer (1990a, S. 6). 6. Droysen (1977, S. 385). 7. Zu einer Rechtfertigung des Antiquarianismus vgl. Weber (1994) sowie Ernst (1994). 8. Droysen (1977, S. 368f.). 242

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DER METAPHORISCHE MENSCH

Notwendigkeit. »Freiheit und Notwendigkeit« seien eben »nicht alternativ«.9 Daher interessieren den Geschichtsschreiber zwar vorzugsweise die »Anomalien«, aber es müssen die richtigen, d.h. die wichtigen sein, also gerade nicht die an sich belanglosen Zufälligkeiten des Lebens.10 Die Bedeutung von Einzelnem entsteht durch den Zusammenhang mit Anderem. So spricht der Historiker Heinrich Luden von den zwei Möglichkeiten, die Vergangenheit anzusehen: einmal im Blick auf die einzelne Person, die einzelne Begebenheit; das andere Mal im Hinblick auf den Zusammenhang mit dem Früheren und Späteren, wobei das erstere eine nur unter bestimmten Bedingungen zulässige Verkürzung darstellt. Denn »jenes erste findet […] nicht statt in der That und Wahrheit; für sich abgerissen und unabhängig von dem Ganzen ist kein Volk, kein Individuum. Alles ist angeschlungen an das Frühere«11 und Spätere und daher könne man von dieser Verbindung zwar absehen, aber eine solche Betrachtung gehöre nicht in die Weltgeschichte. »In ihr hören die Menschen, Thaten und Ereignisse auf zu seyn als einzelne Menschen, einzelne Thaten und Ereignisse; es ist die Geschichte der Welt, die dargelegt werden soll, nicht die Geschichte des Einzelnen.«12 Und was bei Luden im Zeitzusammenhang aufgeht, leistet schon beim frühen Hegel der Zusammenhang mit dem Staat, an den sich erst das Historische knüpft. »Der Anteil jedes Einzelnen an einer Tat ist so gering, daß er von ihr als seiner Tat fast gar nicht sprechen kann.« Denn das »Ganze übt eine Herrschaft über ihn aus, unter der er steht«. Und daher ist »die Tat eines Jeden […] ein unendlich kleines Fragment einer Nationalhandlung«.13 Und dies gilt selbst für »die Menschen, die an der Spitze stehen und als deren Taten die Geschichte« erscheint. Auch sie »haben immer den Staat […] über sich und außer sich. […] Außerdem, das schon der Staat als Gedanke das Bestimmende ist, hat keiner eine Handlung ganz getan.«14 Und auch der immer wieder die Konzentration auf die historische Einzelheit betonende Ranke meint dies ja wissenschaftsstrategisch, als nichtphilosophischen, empirischen Weg zum Ganzen. Denn die »Geschichtswissenschaft« schaffe so mitnichten nur ein »ungeheures Aggregat von Tatsachen«, sondern »in ihrer Vollendung an sich selbst« sei sie »dazu berufen und befähigt […], sich […] zu einer allge9. Droysen (1977, S. 385). 10. Droysen (1977, S. 21). 11. Luden (1807c, S. 273). 12. Luden (1807c, S. 274. Dabei erhält diese Welt- oder Universalgeschichte genau jenen Status, den später Droysen seiner »Geschichte über den Geschichten« geben wird, nämlich die eigentliche Geschichte, die wahre Geschichte zu sein. 13. Hegel (1971, S. 433). 14. Hegel (1971, S. 446). 243

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meinen Ansicht der Begebenheiten, zur Erkenntnis ihres objektiv vorhandenen Zusammenhanges zu erheben«.15 Der Begriff der Individualität ist dementsprechend eine paradoxe Form, die Differentes im Gleichen markieren soll und den Einzelnen an den Zusammenhang knüpft. Individualität ist Vereinzelung durch Vergemeinschaftung: »Gerade das, was man Individualität nennt ist der Punct des Zusammenhangs mit dem Ganzen, und eben darum lässt sich die Individualität nur anschauen, nicht aussprechen.«16 Noch weniger als die Individualität ist die Freiheit des Einzelnen erkennbar. Für Kant gehört diese Schwierigkeit zu den Folgen der fehlenden sinnlichen Anschaulichkeit reiner Vernunftbegriffe, zu denen auch die Freiheit gehöre, die, nur als nicht unter die Kategorien von Raum und Zeit fallend, vernünftig gedacht werden könne. Sie wird also nur analogisch als eine Form der »intelligiblen Kausalität«17 bezeichnet, da sie für eine Kausalität stehe, die nicht in der Zeit beginne. »Denn die Bedingung, die in der Vernunft liegt, ist nicht sinnlich, und fängt also selbst nicht an.«18 In der Welt der Erscheinungen, der Welt der Naturkausalität, kann sie nur mit dem Menschen gesetzt werden. Denn »in Ansehung« seines bloß »empirischen Charakters«, so Kant, gibt es für und an dem Menschen »keine Freiheit«.19 In seinen Konsequenzen wird dies zum Teil auch unter den Historikern gesehen. »Nie« werden wir »in der Lage« sein, so Droysen, »alle mit einwirkenden Momente« einer Tat »so zu überschauen, daß wir, diese rein abstrahierend, sagen könnten, das also Übrigbleibende […] gehört der spontanen Selbstbestimmung, dem Willen des Handelnden an« und weder die »Urteile der Nächststehenden« noch des Handelnden selbst könnten hieran etwas ändern. »Das Geistige ist eben nicht mit Prädikaten auszuschöpfen; wer könnte einen Punkt zeichnen, zumal einen beweglichen« wie »das Ich« einer sei.20 Praktisch wird Freiheit daher schlicht unterstellt. Aber das Unerkennbare als Basis einer empirischen Wissenschaft, wie soll das gehen? Nun ist die Unbestimmtheit ja schon bei Schlözer nur ein Teil des Menschen. Hat man Freiheit erst einmal gesetzt, so kann sie nur durch und als etwas Bestimmtes zur Erscheinung 15. Ranke (1975b, S. 87f.); ganz ähnlich Droysen (1977, S. 28 u.ö.). Etwas reservierter formuliert das Friedrich Rühs (1997, S. 11): »Die wahre Universalgeschichte erhebt freilich zu allgemeinen Ideen und Ansichten, aber nur als Resultat aus der genauesten Erforschung des Einzelnen […]«. 16. Luden (1807c, S. 273). 17. Kant (1998a, S. 496, A544). 18. Kant (1998a, S. 501, A551f.). 19. Kant (1998a, S. 500, A550). Kant verbindet dies mit einer Absage an die Anthropologie, soweit es ihr um die durch Beobachtung und Beschreibung des Menschen eben nicht erkennbare Freiheit des Menschen zu tun sei. 20. Droysen (1977, S. 190). 244

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DER METAPHORISCHE MENSCH

kommen. Luden, Leo, Ranke und mit ihnen ein Großteil der Historiker des Vormärz schränken den Objektbereich der Geschichte folgerichtig auf dieses Reich der »Erscheinungen« ein. Droysen nennt das daraus für die Geschichtswissenschaft folgende Prinzip die grundlegende »Bedeutung des Morphologischen«,21 weil sich in den großen »Formgebungen« – Familie, Volk, Staat, Recht, Kunst – »der Geist ausprägt« und »verstehbar« wird, und dies allein schon dadurch, dass man diese Formen »sinnlich wahrnehmen kann«.22 Für Ranke ist genau deshalb die Geschichte »ihrem Wesen nach Anschauung und Verständnis«.23 Und bei Luden sind es die »Menschen, die in der Geschichte leben und erscheinen; auf ihre Handlungen richtet der Forscher sein Auge« und zwar auf die, welche »sichtbaren Einfluß hatten auf die Verhältnisse des Lebens«. Dabei »glauben« die Menschen zwar, sich »zu diesen selbst zu bestimmen«, ohne es jedoch wissen zu können. Denn das, »wonach sie sich bestimmen, erscheint nicht; nur die Wirkung wird gesehen; das Motiv nimmt der Einzelne gewöhnlich mit ins Grab. Oftmals täuscht er sich selbst darüber, und wollen Fremde den Beweggrund aufsuchen, so finden andere ihn anderswo«.24 Die Geschichtswissenschaft betrachtet allein die Formgebungen des menschlichen Lebens, dessen zeitlicher Aus- und Abdruck die Geschichte ist und kann dann auf die Anthropologie, die Erforschung der bloß natürlichen und daher gleich bleibenden Form des Menschen ebenso verzichten, wie auf eine Philosophie menschlicher Freiheit.25 Das Anthropologische ist, wie der Mensch ohne Staat, etwas vor aller Geschichte.26 Freiheit aber konvergiert mit der Grenze des Wissens, fasst man sie nicht als ›Einsicht in die Notwendigkeit‹, was de facto ihr Verschwinden bedeutet. »Darinnen bestehet nun das Erklären der Geschichte«, so schon Chladenius, dass »das nachfolgende« entweder aus Vernunftgründen oder den »Fehlern, Untugenden und Lastern der Menschen, mit zu Hülffenehmung der menschlichen Freyheit, zu einer natürlichen, und begreifflichen Entschlüsselung wird, so daß weder die Sache als ohne allen Grund geschehen vorgetragen wird; welchen Fall der menschliche Verstand abhorrirt, und nicht glauben kan, noch auch etwas widerspre-

21. Droysen (1977, S. 17, 20, 27 u.ö.). 22. Droysen (1977, S. 26). 23. Ranke, (1975a, S. 86). 24. Luden (1807, S. 227). 25. Luden (1807, S. 227). 26. Dass dies der zeitgenössischen Anthropologie nicht gerecht wird, ändert nichts daran, dass die Anthropologie kaum einmal als Hilfswissenschaft in den einschlägigen Reflexionen der vormärzlichen Geschichtswissenschaft auftaucht. Vgl. aber die ausführlichen Überlegungen z.B. Heinrich von Sybels in seinen Vorlesungen über Politik (1846, fol. 174ff.) sowie (1863ff., fol. 25ff.). 245

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chendes darinnen hervorleuchtet«.27 Wo keine Ursachen der ›Natur‹ oder auch Motive und Gründe mehr (plausibel) ›erscheinen‹, kann man statt eigenem Nichtwissen Freiheit unterstellen und erhält so nicht nur den kontinuierlichen Zusammenhang, sondern auch noch den Anfang einer neuen Geschichte. Die als Freiheit qualifizierte Unbestimmtheit ersetzt die Unbestimmtheit des Wissens. Wenn sich Geschichtsforschung aber allein mit den Erscheinungen befasst (d.h. konkret mit dem, was in den Quellen erscheint), hat das den Vorteil, dass sie als empirische Wissenschaft auftreten kann, also vermeintlich nicht philosophisch-spekulativ zu sein braucht.28 Dem entspricht auch die Skepsis gegenüber der Psychologie wie der psychologischen Erklärung. Es geht beim Verständnis der Geschichte um die Äußerungen der Menschen und nicht um deren Inneres.29 So hat für Droysen »die psychologische Interpretation nur eine relative Wichtigkeit«, um genau zu sein, wertet er sie als wenig aussichtsreiche Strategie und als niedrigstufige Form der historischen Forschung weitgehend ab.30 Die methodische Skepsis teilt er in der Theorie mit vielen seiner Fachkollegen, obwohl es in der Praxis durchaus anders aussieht.31 Wenn sich der Handelnde, so Heinrich Luden, »über das Motiv zu seiner That nicht selten selbst täuscht«, wenn man sehe, wie schwer es aufgrund der »Erscheinung irgend einer That« zu begründen sei, eine »That […] könne nur in dieser bestimmten Absicht geschehen seyn«, wenn man wisse, wie unterschiedlich die »Historiker 27. Chladenius (1990, S. 226ff., zit. S. 253). 28. So auch schon Chladenius, wenn er ausführt, es ginge bei der Geschichte nur darum, »wie das nachfolgende, das wir wissen, aus dem vorhergehenden folge, das wir auch wisssen«, also nicht wie man es vermuten oder z.B. aus bestimmten Regeln der Entwicklung von »Substanzien« ableiten könnte. Das würde zur Philosophie gehören (Chladenius, 1990, S. 249). 29. Ganz anders ein anonymer Autor von 1773: »Die Thaten der Menschen erzählen, ohne von ihren Bewegursachen zu reden, das ist nicht eine Geschichte schreiben« (Anonym (1773/1990, S. 146). Gleichzeitig warnt er aber vor dem »Gedankenerraten« und mahnt die Einsicht von der »Eitelkeit«, »Bosheit« und »Unwissenheit« des Menschen an, sonst könne man auf diesem Wege die Wahrheit nicht ermitteln (S. 147f.). 30. Droysen (1977, S. 191). 31. Dort bleibt es nämlich pragmatisch zumeist bei einer Doppelstrategie von psychologischer Charakterzeichnung und damit letztlich mehr oder weniger ad hoc-Begründung von Handlungen sowie ideenbasierter Strukturgeschichte. So beschreibt auch Heeren sein eigenes Vorgehen: »Ich suchte in das Innere« der Staaten »einzudringen, und ihre Ursache zu erforschen, die nicht blos in äußeren Zufälligkeiten, sondern in herrschenden Ideen und Ansichten der verschiedenen Zeitalter, und nicht weniger in der Persönlichkeit der dirigirenden Männer ihren Grund hatte. So verschmolz sich das rein-politische Interesse mit dem psychologischen« und dieses wiederum mit dem »mercantilischen« (Heeren 1821, S. LXf.). 246

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DER METAPHORISCHE MENSCH

in der Charakterisirung Eines Mannes sind«, wie »unsicher und trügerisch« es also sei, »das Geschehene aus der Seele des Bewirkenden heraus zu beurtheilen: so ist es in der That unbegreiflich, wie sie es wagen mögen, Diesen als einen Helden der Tugend zu vergöttern, Jenen aber, als einen Nichtswürdigen, zu bezeichnen mit dem Stempel der Schande«. Dass die Erinnerung an große Taten andere zu großen Taten anrege, möge als Entschuldigung dienen,32 sachlich haltbar sei es aber nicht, zu glauben, die Geschichte würde »durch einzelner Menschen hohen Sinn« bewirkt.33 Dies steht nur scheinbar im Widerspruch zur allmählich wachsenden Bedeutung des Verstehensbegriffs im Vormärz. Die Operation des Verstehens wird zwar von der Fähigkeit des Menschen zu verstehen abgeleitet,34 aber sie bezieht sich nicht auf individuelle Gemüter, sondern sie richtet sich auf das als Geschichte zur Erscheinung kommende Ganze eines Ausdrucksgeschehens. Verstanden werden Ideen, Verhältnisse, Taten – und nur auf diesem Wege auch die Menschen. Die »großen Männer« interessieren daher auch nicht, weil sie so interessante Persönlichkeiten sind, sondern sie sind so interessante Persönlichkeiten, weil sich durch sie die Ideen ausdrücken, sie das »Medium« der Ideen sind.35 Ausdrücklich nur in diesem herabgestuften Sinne sind sie die Akteure der Geschichte und allein deshalb verdienen sie die Aufmerksamkeit der Nachwelt. Es geht um eine Art objektiver Hermeneutik, die hinter dem subjektiven Ausdrucksgeschehen den objektiv wirksamen Zusammenhang rekonstruiert. Mit der Ideenlehre kehrt nicht nur die eigentlich verbannte philosophische, ja religiöse Spekulation zurück, sondern es ist damit auch der Problembereich markiert, an dem die Soziologie wenig später einsetzen wird und sich die zeitgenössische Wirtschafts- und Staatstheorie, an der die Historiker ja aktiv beteiligt sind, schon abarbeitet: die Eigenlogik sozialer Zusammenhänge. Es ist viel vom Menschen, oft vom Einzelnen, vom Individuellen in den Schriften der Historiker des Vormärz und des entstehenden Historismus die Rede. Aber was immer das ausgehende 19. Jahrhundert und die daran gekoppelte Rezeption des Historismus in der Nachkriegszeit oder gar eine an Marx orientierte Kritik des »atomisierten bürgerlichen Individuums« in kritischer Absicht daraus macht, es geht hier gerade nicht um den Einzelnen als Einzelheit, um ein Verständnis des Individuums als für sich stehenden Menschen, sondern immer als Teil einer konkreten Gemeinschaft und ihrer Geschichte. So ist der hermeneutische Zirkel von Anfang an eher ein Halbkreis mit einem 32. 33. 34. 35.

Luden (1807b, S. 234ff.). Luden (1807b, S. 239). Vgl. Droysen (1977, S. 22). Droysen (1977, S. 18). 247

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Mittelpunkt außer sich, an dem sich das Ganze scheinbar fixiert. »Unser Verstehen«, so Droysen, »ist […] zunächst auf einzelnes gewandt. Aber dies einzelne ist Ausdruck einer Totalität, die uns in dem einzelnen wie in einem Beispiel verständlich wird […]. Als Einzelheiten könnten wir sie nur in ihrer Richtigkeit erfassen; zur Totalität fortschreitend finden wir ihre Wahrheit.«36 Das einzelne Ereignis der Vergangenheit mag kein Beispiel für die Gegenwart mehr sein – die Figur der historia magistra vitae funktioniert nicht mehr –, aber es ist ein Beispiel für den geschichtlichen Zusammenhang und insofern hat es seine Wahrheit nicht an und schon gar nicht in sich. Luden, Leo, Ranke, Sybel, Dahlmann, Waitz, Droysen u.v.a. sind, unabhängig von ihren unbestreitbaren politischen Differenzen, keine methodologischen Individualisten. Das ist es ja gerade, was sie einhellig der Vertragstheorie der Aufklärungszeit vorwerfen, den Staat und mit ihm die sozialen Verhältnisse von den individuellen Entscheidungen des Einzelnen abhängig gemacht zu haben, als ob diese nicht selbst abhängig wären, von den jedes Individuum allererst konstituierenden, weil übergreifenden, bedeutungsstiftenden Zusammenhängen der Geschichte.37 Die letztendlich geheimnisvolle Einheit von Freiheit und Notwendigkeit lässt sich leben und als solche beschreiben, aber nicht völlig begreifen. Denn »was der Mensch lebt«, so Heinrich Luden, »das versteht er nicht, er vermag nur das einzusehen, was er vor sich hinstellen kann, wovon er sich also losgerissen hat; aber dann ist er wieder als Verstehender in einem andern Zustande; die Wurzel seines eigentlichen Lebens bleibt immer im Dunkel zurück. Darum ist er sich bei seinen Bestrebungen des Ziels nicht bewußt«, aber es gibt dieses Ziel, die Verwirklichung der Idee, die sich mit »Nothwendigkeit« in der Geschichte durchsetzt.38 Ganz dasselbe meint Ranke, wenn er schreibt: »In der Macht an sich erscheint ein geistiges Wesen, ein ursprünglicher Genius, der sein eignes Leben hat […]. Das Geschäft der Historie ist die Wahrnehmung dieses Lebens, welches sich nicht durch einen Gedanken, ein Wort bezeichnen läßt; der in der Welt erscheinende Geist ist nicht so begriffsgemäßer Natur: alle Grenzen seines Daseins füllt er aus mit seiner Gegenwart; nichts ist zufällig in ihm, seine Erscheinung ist in allem begründet.«39 Der Widerstreit der verschiedenen Gesetze oder Notwendigkeiten im Menschen, wie der Menschen untereinander, das ist das Leben und in Analogie hierzu ist die Geschichte der Widerstreit der sittlichen Mächte. 36. Droysen (1977, S. 28). 37. Bis auf Karl von Rotteck hält kaum einer der universitären Staatswissenschaftler, und dazu muss man die genannten Historiker allesamt zählen, an der Vertragstheorie fest. 38. Luden (1807a, S. 106). 39. Ranke (1975b, S. 89). 248

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Eine weitere, mit den Dynamisierungserfahrungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts verbundene und auf die Fusion von Leben und Geschichte hinführende Bedeutungsverschiebung traditioneller Begriffe findet sich in einem zweiten Diskursstrang. In ihm geht es um die Analogie zwischen Mensch und Staat, genauer um eine dreigliedrige Relation von Mensch, Staat und Maschine bzw. Organismus. Auch hier bedient man sich des Menschen als maßstab- und modellgebend. So nutzt Christoph Besold, einer der Begründer der Reichspublizistik, in seiner 1637 erschienenen »Synopsis der Politik« immer wieder das Bild eines Menschen für die Beschreibung eines Staatswesens. Er übernimmt dabei die klassische Vorstellung, dass der Mensch die Einheit der Unterscheidung von Geist und Körper sei, wobei dem Geist, der Seele, der höhere Rang gebühre, also zumindest hinsichtlich der hierarchischen Ordnung eines Ganzen Analogien zur Ordnung der res publica auf der Hand liegen und umgekehrt.40 So werde »der politische Körper […] aus zwei wesensursprünglichen Teilen errichtet:« aus den Herrschenden, »die die Vernunft des Hauptes darstellen«, in dem die »lenkende Kraft der Seele ihren Sitz« habe, und den »Untertanen, denen der Verstand der übrigen Glieder« zukomme.41 Dass Besold hier keinerlei Ausnahme darstellt, sondern einen politischen Gemeinplatz seiner Zeit reproduziert, macht schon der Hinweis auf Hobbes’ Leviathan klar, der sich nicht nur aus Menschen zusammensetzt, sondern auch wie ein übergroßer Mensch agiert.42 Die wechselseitige inhaltliche wie formale Beleuchtung von res publica/Staat und Mensch hält sich über die Wende zum 19. Jahrhundert hinaus. Allerdings kommt es zu einem Wandel in der die Analogie sachlich tragenden Vorstellung von der als gleichartig unterstellten Form der Ursache-Wirkungsbeziehungen und ihrer Versinnlichung an empirischen Beispielen. Zum einen werden mechanisch-einlinige durch komplexe, die wechselseitige Verflechtung betonende, auf Selbstorganisation und Selbstreferentialität von Ordnungen abhebende Konzeptualisierungen von Kausalität ersetzt. Zum anderen wird das 40. Vgl. für eine mit kirchlichen Weihen versehene Fassung Thomas von Aquin (2003), – der Mensch ist ein »vernunfthaftes Sinnenwesen«, das »dritte Ding«, die »Bedeutung«, die sich als zusammengesetzt aus Seele und Körper ergibt (S. 25), er ist also nur in der Vernunft (S. 33ff.). 41. Besold (2000, S. 41; s.a. S. 32); dass die »Maiestas […] genauso wie im menschlichen Körper die vernunftbegabte Seele der Verschiedenheit seiner Glieder entsprechend unterschiedliche Operationen« verursache (S. 57); das Geld als »Lebensnerv« aller »Vorhaben« der Maiestas (S. 77); dass die »Ratgeber« im Staat in der »Funktion« des »Verstandes« agieren, während der »Staatsschatz« nicht nur »Nerv« sei, sondern wie dieser auch für »die Bewegung einer Republik« sorge (S. 215). 42. Vgl. Hobbes (1984); zu einigen langfristigen Konsequenzen für die politische Raummetaphorik vgl. Manhart (2003a). 249

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zentrale, diese Kausalität in der Wirklichkeit bis dahin repräsentierende Ordnungsmodell, die Körperwelt und Kräftelehre der newtonschen Physik und, in ihrer artifizielleren Form, die Maschine durch den lebendigen Organismus abgelöst. Eher statisch-hierarchische werden durch dynamisch-funktionale Strukturmodelle verdrängt. Die in ihren Ergebnissen für die wissenschaftliche Absicherung der Konzepte in Anspruch genommene Referenzdisziplin wechselt von der Physik hin zur Biologie. Auch bei diesem Wechsel der Perspektive werden die schon während der Aufklärung wahrgenommenen Inkonsistenzen und blinden Flecken der traditionellen Analogiebildungen der Staatswissenschaft mit der Revolution erst so richtig akut. Die Vorstellungswelt in Bezug auf Mensch und Staat wird daraufhin im Begriffsfeld zwischen Organismus, Geist, Bildung, Leben und Geschichte neu justiert.

2. Staatsmaschinen und Staatswesen – von der Mechanik zur Organik Der Vergleich von Staaten mit Maschinen hat am Ende des 18. Jahrhunderts schon eine längere Tradition. Beispielsweise hatte Leibniz den Staat mit einer Maschine verglichen, um den nützlichen Einfluss gelehrter Männer auf deren Lenkung betonen zu können.43 Im Anschluss an Descartes’ Philosophie und Newtons Physik sowie im Kontext der wachsenden Erfolge bei der Herstellung von immer komplexeren Maschinen wird die Analogie zwischen den verschiedenartigsten Natur- wie Kulturobjekten mit Maschinen zu einer üblichen Praxis der Beschreibung von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Dabei transportierte die Analogie die grundsätzliche Transparenz und Erklärbarkeit der objektinternen Vorgänge durch lineare Ursache-WirkungsKetten sowie die Zusammensetzbarkeit und damit Erklärbarkeit eines Ganzen durch seine Teile. Damit verbunden ist auch die prinzipielle Machbarkeit dieser Ordnung durch den Menschen. Dies alles sind Elemente, die sich tendenziell auch im Menschenbild44 und Geschichtsverständnis der Aufklärung finden. Der physikalisch-mechanischen Analogie fehlt allerdings eine ähnlich griffige Kombination von Ordnungs- und Prozessmodell, wie sie für die Kombination von Organismus mit Leben, Wachstum und Entwicklung vorliegt. Anleihen bei der Physik waren jedenfalls im Rahmen politischer Überlegungen im 18. Jahrhundert nicht unüblich, man denke nur an die politischen Kräftelehren, die Vorstellung vom Gleichgewicht der Mächte etc. So bedient sich der Staats- und Kameralwissenschaftler Justi bei der Beschreibung der inneren Verhältnisse des Staates der 43. Leibniz (1967, S. 41). 44. Vgl. als Extremfall La Mettrie (2001). 250

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Analogie zu einem ›beseelten Wesen‹ und markiert dabei mit der Frage nach der Form des inneren Zusammenhalts schon jenes Problem, auf das die Organismusmetaphorik nach der Revolution reagieren wird. Zugleich bedient er sich aber auch eines aus der Mechanik entlehnten Modells der Körperbewegung im Hinblick auf zwischenstaatliche Beziehungen; – ein Beispiel, das gerade in dieser etwas divergenten Synthese instruktiv ist, weil es den wachsenden Bedarf für neue Begriffe und Modelle anzeigt. Die »Thätigkeit eines Körpers«, so Justi, gründe sich »auf seine Kraft; und ein jeder Körper kann sich nur nach der [!] Maaß seiner Kraft thätig erweisen«. Alle Tätigkeit eines Staates beruhe daher auf dieser Kraft, aber es sei bei mehreren Staaten nicht ausreichend, nur nach den Kräften des einzelnen Staates zu fragen. »Die Kraft eines jeden Körpers« müsse nämlich »nach dem Widerstande der nächsten Körper beurtheilt werden; und eben diese Beschaffenheit hat es mit den Republiken«.45 Grundsätzlich aber sei der Staat »ein einfacher unzertrennlicher Körper«,46 ein »moralischer Körper, der in allen seinen Theilen die allergenaueste Uebereinstimmung und Verhältniß und einen eben so nothwendigen Zusammenhang hat, als die Theile eines natürlichen Körpers nur immer haben können. […] Gleichwie demnach in natürlichen Körpern, die Empfindungen haben, noch mehr aber in solchen, die von verständigen Wesen beseelt werden, kein Theil etwas leiden kann, das nicht die andern Theile gleichfalls empfinden; so hat es gewiß in dem Staatscörper eben die Bewandniß in Ansehung des Regenten und der Unterthanen.«47 An einer anderen Stelle versucht er zwar den inneren Zusammenhalt und die Wohlgeordnetheit eines idealen Staates auch durch den direkten Vergleich mit einer Maschine auszudrücken, der ein »wohleingerichteter Staat […] vollkommen […] ähnlich seyn« müsse, beschränkt diesen aber bezeichnenderweise auf die technischen Aspekte der Staatsverwaltung, in der »der Regent […] der Werkmeister, die erste Triebfeder oder die Seele seyn« soll.48 Zahlreiche Anleihen bei der Maschinenmetaphorik macht auch Schlözer, dessen diesbezügliche Ausführungen einen großen Bekanntheitsgrad erlangten und zahlreiche Kritiker provozierten. Allerdings ist auch bei ihm die Maschinenmetapher nur ein herausgehobenes, weil besonders sinnfälliges Element einer immer wieder bewusst oder unbewusst in Anspruch genommenen Analogie zwischen physikalischmechanischen und politisch-historischen Prozessen.49 In unnachahm45. Justi (1969, S. 52f.). 46. Justi (1969, S. 56). 47. Justi (1969, S. 274). 48. Justi (1764, S. 86f.). 49. Dass auch die Geschichte sich als maschinenhafter Zusammenhang denken lässt, wobei der Mensch als freie Maschine [!] und Gott als ›Werkmeister‹ vorgestellt wird: In 251

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licher Kürze gibt er eine entsprechende Staatsdefintion: »Alle Staten der Welt, […], kommen darin überein, daß 1. Kräfte 2. vereint 3. wirken.«50 Aufgrund dieser Voraussetzungen scheint es ihm »die instructivste Art, StatsLere abzuhandeln […] wenn man den Stat als eine künstliche, überaus zusammengesetzte Maschine, die zu einem bestimmten Zwecke gehen soll, behandelt«. Damit macht er zwar deutlich, dass er die Maschinenmetapher als Erkenntnismittel und nicht als Realannahme verstanden wissen will, seine damit verbundenen Folgerung, der Staat sei eine menschliche »Erfindung« wie die »BrandCassen«, wurde aber in der Folgezeit zur Zentralaussage der Maschinenmetapher hochstilisiert, auch wenn Schlözer, den Menschen beschränkend, anmerkt, dass diese Erfindung ja »uralt« und so »allgemein« sei,51 dass sie nur einem menschlichen »Bedürfnis« und somit dem »Plane des Schöpfers« entspringen könne.52 Während Justi den Regenten noch als »Werkmeister« auffasst, nutzt Schlözer den Bedeutungsspielraum der Metapher zu einer Aufwertung der Beamtenschaft: Es seien die Staatsbeamten bzw. Staatsdiener, welche eigentlich den Staat »regiren«; sie zögen »die Maschine auf, und brauchten von jeher die Herrscher oft nur als BleiGewicht, um die Dauer der Bewegung zu sichern«.53 Und die Notwendigkeit von Reformen begründet Schlözer dieser Logik folgend damit, dass »sich alle Maschinen durch die Länge der Zeit abnutzen, da Mißbräuche in jede Regirung einschleichen« und letztlich jede »anfangs heilsame Einrichtung« später »gemeinschädlich werden kan: so muß immer eine Möglichkeit zum ruhigen Fortrücken bleiben; sonst steigt ein fürchterlicher Tyrann, Herkommen genannt, auf den Thron, der alle Mißbräuche sanctionirt, und sich gegen jede Reform zur Wehre setzt«.54 Allerdings gilt es zu berücksichtigen: Die Revolutionsangst geht um. Schlözer schreibt schon nach und damit gegen die Revolution, deren Exzesse bürgerliche Emanzipationsbestrebungen allgemein in Verruf zu bringen drohen. Und somit bricht sich der Vernunftoptimismus der Maschinenmetaphorik an den zweifelhaften Qualitäten des Meneiner idealen »Weltgeschichte« würde man »des Zusammenhangs aller Dinge« ansichtig, man sehe, dass es ein »Wesen« gäbe, »das unsichtbar die Schicksale der Menschen in langen Ketten hält; das in dem einen Jahrtausende freie Geschöpfe wie Maschinen zu Werkzeugen seiner Absichten in dem andern vorbereitet« (Schlözer, 1990a, S. 38.). Dass die »Kette« von Ursache und Wirkung, an der die Menschen hängen, den Kern des Pragmatismus als Darstellungsmethode der Aufklärung ausmacht, sei hier nur ergänzend erwähnt. 50. Schlözer (1793, S. 10). 51. Schlözer (1793, S. 3f.). 52. Schlözer (1793, S. 5). 53. Schlözer (1793, S. 22). 54. Schlözer (1793, S. 99). 252

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schen. »Der Staat ist eine Maschine aber darinn unendlich verschieden von allen andern Maschinen, daß dieselbe nicht für sich fortlaufen kan, sondern immer von Menschen, leidenschaftlichen Wesen, getrieben wird, die nicht Maschinenmäßig gestellt werden können. Daher sind zur besten StatsVerwaltung auch die besten Menschen nötig.«55 Noch kritischer sieht im gleichen Jahr dieses Verhältnis von Mensch und Maschine Schlözers jüngerer Kollege Georg Sartorius, denn es sei »ein unermeßlich weiter Weg, von Erfindung eines politischen Systems bis zu seiner Ausführung. Die Leidenschaften der Menschen, und tausend nicht zuvor berechnete Umstände, reißen dem leichtsinnigen Neuerer, oder dem frommen Schwärmer Wage und Richtscheid aus der Hand, und im Schiffbruch des Ganzen sieht er sein System und seine Träume scheitern.«56 Indem Sartorius das Verhältnis von Staat und Mensch von der Seite des Menschen aus denkt, der keine Maschine ist, kehrt sich bei ihm die Figur der Staatsmaschine in ihrer Bedeutung um, wenn er in Anspielung auf den österreichisch-habsburgischen Reformabsolutismus eine solche Vorstellung des Staates mit dem Despotismus in Verbindung bringt: »Es ist leicht begreiflich, wie ein junger lebhafter Geist, durch die Mängel und das mannigfache Räderwerk der Staatsmaschine getroffen wird«, aber er dürfe nicht vergessen, »daß der Staat mit Menschen und nicht mit dem leblosen Räderwerk einer Uhr zu thun hat. Das Beyspiel eines deutschen Kaisers« sei »allgemein bekannt«.57 Der Nachfolger Schlözers, Heeren, verbindet seine ganz ähnliche Kritik an dem Vergleich von Staat und Maschine zusätzlich noch mit einer Generalabrechnung an dem Wissenschaftsverständnis seines Lehrers und Vorgängers: »Die Statistik ist oft sehr verkehrt behandelt worden. In dem Staate wirken nicht nur physische, sondern auch geistige Kräfte. Die Menschen sind keine Maschinen, und also kann der Staat auch nie eine bloße Maschine sein. Danach kommen im Staat materielle und immaterielle Gegenstände in Betrachtung. In so fern sich jene in Zahlen ausdrücken lassen, hat man sie oft in statistische Tabellen gebracht, die zwar praktisch oft nützlich sind, dem Studium der Statistik aber oft geschadet haben.«58 Die Ablösung der Maschinenmetaphorik ist eindeutig auch mit einem Generationswechsel verbunden. Mit besonderer Schärfe wendet sich Adam Müller gegen die Vorstellung eines Staates als Maschine und profiliert dagegen die Vorstellung des Staates als lebendiges Naturprodukt. »Der Staat […] kommt […] daher, woher der Mensch kommt: aus der Natur.«59 Der 55. 56. 57. 58. 59.

Schlözer (1793, S. 157). Sartorius (1793, S. 15). Sartorius (1793, S. 16). Heeren (1993, S. 324f.). Müller (1922, S. 45). 253

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Staat sei keine bloß »erfundene Maschine zu einem bestimmten Zwecke« und auch »keine bloße Krücke unsrer Gebrechlichkeit«, an der sich folgerichtig dann »Pfuscher und Weltverbesserer« vergreifen könnten, ja die auch »überflüssig« werden, also aufhören könne, wenn diese Gebrechen ein Ende fänden.60 Die Einrichtungen des Staates sind keine »Uhrwerke, bestimmt den Gang der Zeit und die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge einförmig anzuzeigen«,61 und ebenso ist der Staat keine »bloße Manufactur, Meierei, Assecuranz-Anstalt, oder mercantilistische Societät«, sondern die »innige Verbindung der gesammten physischen und geistigen Bedürfnisse […] des gesammten inneren und äußeren Lebens einer Nation, zu einem großen energischen, unendlich bewegten lebendigen Ganzen«, von dem, und hier taucht die Figur der Unbegreiflichkeit des Lebens wieder auf, »die Wissenschaft kein todtes, stillstehendes Bild, keinen Begriff geben« könne, »denn der Tod kann das Leben, der Stillstand die Bewegung nicht abbilden«. Diese Bewegung aber nenne die »Naturwissenschaft […] Wachsthum«62 oder ›Leben‹. Mit derselben Stoßrichtung formuliert Luden, der aber noch expliziter auf den besonderen Charakter des Menschen als einer dynamischen Einheit von Bewusstsein und unbewusster Natur Bezug nimmt, die sich als »Leben« realisiert. »Nein! Die Menschen bilden den Staat; und darum ist derselbe eben so wenig Maschine, als das menschliche Leben überhaupt eine Maschine ist. Der Staat ist eine nothwendige Offenbarung des menschlichen Geistes, dadurch nothwendig, daß die Vernunft in den Individuen, die miteinander leben, zum Bewußtsein kommt. Er ist eine Erfindung des Menschen grade so, wie die Liebe, die Ehe, die Tugend, die Kunst, die Religion Erfindungen von Menschen sind, oder wie die Vernunft selbst, als der Grund und die Einheit aller Offenbarungen des Lebens, eine Erfindung von Menschen ist.«63 Im und als Leben offenbart sich, was der Mensch in seinen Ursachen nicht erkennen kann.

3. Die Veranschaulichung des Unanschaulichen im Symbol des Lebens Kant hat das Problem einer metaphorischen Veranschaulichung von Begriffen, die sich der direkten Anschauung entziehen, ausführlich methodisch reflektiert.64 Konkret geht es Kant darum zu begründen, 60. 61. 62. 63. 64.

Müller (1922, S. 39). Müller (1922, S. 142). Müller (1922, S. 37f.). Luden (1811, S. 13). Vgl. Kant (1998c, S. 458ff., A 251ff.). 254

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dass sich Sittlichkeit durch das Symbol der Schönheit näher erläutern lässt. Dabei sind seine Ausführungen aber grundsätzlicher Natur und lassen sich nicht nur als zeitgenössische Reflexion einer gängigen Praxis auf den hier interessierenden Fall übertragen, sondern es ist Kant selbst, der in diesem Zusammenhang als ein empirisches Beispiel auf die Staats-Maschinenmetaphorik verweist. Das grundsätzliche Problem im Umgang mit jeder Art von Begriffen bestehe darin, dass man um ihre »Realität […] darzutun […] immer Anschauungen« in Anspruch nehmen müsse.65 Und obwohl die Sprache daher voll von entsprechenden Verknüpfungen sei, habe es bisher noch keine genaueren Untersuchungen hierzu gegeben.66 Empirische Begriffe unterschieden sich dadurch von reinen »Verstandesbegriffen«, dass man auf Beispiele zurückgreifen könne, während letztere nur durch »Schemate« zur Darstellung kommen. »Vernunftbegriffe[n]«, also »Ideen« könnten allerdings selbst »Anschauungen« nicht »angemessen« sein. Ihre »objektive Realität« könne auf diesem Wege daher nicht »dargetan« werden, sodass auf »Symbole« zurückgegriffen werden müsse. Während bei der schematischen »Versinnlichung« dem Verstand »die korrespondierende Anschauung« des Begriffs »a priori gegeben wird«, ist jene, die auf Vernunftbegriffe (Ideen) geht, »symbolisch, da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird, mit welcher das Verfahren der Urteilskraft demjenigen, was sie im Schematisieren beobachtet, bloß analogisch« ist. Dies bedeutet, dass das Symbol mit dem Begriff lediglich »der Regel dieses Verfahrens« bzw. der »Form der Reflexion« nach und nicht hinsichtlich der »Anschauung selbst« bzw. des Inhalts »übereinkommt«.67 Die Verknüpfung von Begriff und Anschauung sei im Falle der Verwendung eines Symboles eine »indirekte Darstellung«, erfolge also in Form einer »Analogie«, wofür auch empirische Anschauungen herangezogen werden könnten. Die Urteilskraft bezieht nun zum einen »den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung« und zum anderen bezieht sie »die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur ein Symbol ist«. Zur Illustration bezieht sich Kant auf die hier interessierende Symbolisierung des Staates durch eine Maschine bzw. einen lebendigen Körper. Dass er dabei der Maschinenmetapher allein jene auf den Absolutismus verweisende negative Bedeutung gibt, während er die Körpermetapher mit dem von ihm bevorzugten Ziel der »Volksgesetze« verbindet, verweist auf den zu dieser Zeit stattfindenden Austausch der Leitmetaphorik hinsichtlich der Versinnlichung des Staates. 65. Kant (1998c, S. 458, A 251). 66. Kant (1998c, S. 460, A 254). 67. Kant (1998c, S. 458f., A 251f.). 255

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»So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt. Denn, zwischen einem despotischen Staat und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.« Die Sprache sei nun voll von Analogien dieser Art, bei denen der »Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion« enthalte.68 Die mit diesem Verfahren verbundene Gefahr schildert Kant am Beispiel der Gotteserkenntnis. Gehe man nämlich davon aus, dass »eine blosse Vorstellungsart schon Erkenntnis« sei, was genau dann zu rechtfertigen sei, wenn diese Erkenntnis nicht vom Gegenstande an sich, sondern von dessen »Idee« in seiner »praktischen« Bedeutung ausgesagt werde, »so ist alle unsere Erkenntnis von Gott bloß symbolisch«. Man gerate aber in den »Anthropomorphism« oder auch »Deism«, wenn man die Rede vom Verstand und Willen Gottes »schematisch« nehme, also das, was sich in der »Realität« nur an »Weltwesen« zeige, für wirkliche Eigenschaften Gottes nehme, »wodurch überall nichts, auch nicht in praktischer Absicht, erkannt wird«.69 Diese Überlegungen lassen sich auf die metaphorische Erläuterung des vormärzlichen wie historistischen Geschichts-, Staats- und Ideenbegriffs durch Organismus- und Lebenskonzepte übertragen. Dies gilt im Übrigen ganz unabhängig davon, ob sich die Zeitgenossen bei der Verwendung der Begriffe über die methodischen Probleme und die Art der damit gegebenen Veranschaulichung im Klaren gewesen sind, oder ob sie gar Kants Schriften hierzu kannten. Ganz im Gegenteil hat die rasante Ausbreitung der Analogiebildungen vermutlich damit zu tun, dass deren Plausibilität durch Tendenzen der Ontologisierung, also durch den »Anthropomorphism«, nicht selten sogar gesteigert wurde. Die folgenden Beispiele können lediglich einen ersten Eindruck von der weiten Verbreitung der Analogiebildung zwischen Organismus und Leben sowie Staat und Geschichte vor dem Hintergrund des Menschen geben, wobei zu berücksichtigen ist, dass das zur Verfügung stehende Begriffsarsenal sinnfälliger Ausdrücke noch weit zahlreicher (Wachstum, Reifung, Entwicklung etc.), ihr Anwendungsbereich deutlich breiter (Wirtschafts- und Rechtswissenschaft) und dass insbesondere mit dem Bildungsbegriff ein weiteres für den Vormärz zentrales Begriffsfeld eng angeschlossen ist.70 Am Ausgang des 18. Jahrhunderts wird die Analogie von Ma68. Kant (1998c, S. 460, A254). 69. Kant (1998c, S. 460f., A254). 70. Für den historischen wie konzeptionellen Hintergrund einer entsprechenden Fassung von Bildung vgl. Manhart (2003b). 256

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schine und Staat abgelöst, indem die schon am Beispiel Besolds und Hobbes vorgestellte Tradition des Vergleichs von Mensch und Staat unter dem neuen Gesichtspunkt der Struktur des Lebendigen reaktiviert wird. So beschreibt Novalis den Staat scheinbar noch ganz traditionell als »Macroandropos«.71 Schleiermacher benutzt ebenfalls das Bild des Menschen bei der Beschreibung staatlicher Verhältnisse. In seinem 1814 in Berlin gehaltenen Akademievortrag »Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen« stellt er fest, dass, wie im Menschen nur die »gegenseitige Einwirkung« von »Leib und Seele« die »Einheit des Daseyns« sichere, auch das staatliche »Leben« nur »in zwei verschiedenen Arten von Thätigkeiten zu begreifen seyn« würde, wobei die eine »am Leibe, das heißt bei den Unterthanen anfängt und im Regenten endigt«, während die andere »im Regenten[,] dem Geist und Mittelpunkt anfängt«, um bei den Untertanen ihr Ende zu finden.72 Folgerichtig strebt er, und hier kommt es zur expliziten Analogiebildung zur Biologie, in seinen regelmäßig gehaltenen Vorlesungen über die »Lehre vom Staat« eine »Physiologie des Staates« an.73 Einer weniger auf die Struktur der Organisation des Staates gehenden, als vielmehr die Form seiner Entwicklung vorstellenden Variante einer Analogisierung von Mensch und Staat bedient sich der liberale Staatswissenschaftler Karl Theodor Welcker. Den Altersstufen des Menschen werden Grade der Bewusstseinsbildung zugeordnet, die zur Kennzeichnung der Entwicklungsstufen des Staates dienen. Die damit revitalisierte Wachstumsmetaphorik gibt der historischen Zeit eines Staates die bestimmte Form eines individuellen Lebens.74 Parallel hierzu haucht er dem Staat aber auch strukturell Leben ein, indem er dessen Verfassung mit einem »Körper« vergleicht, der vergebliche Pflege erhalte, wenn er von »dem lebendigen Geiste des öffentlichen Lebens«, der »Seele«, verlassen worden ist.75 So sei der Staat keine »leblose Maschine«,76 sondern ein »Organismus« mit einer »Seele«.77 Denn wie der einzelne Mensch, so hätten auch dessen Produkte eine »intellectuelle und eine materielle Natur«.78 Für Fichte konkretisiert sich die Menschheit in der »Naturveranstaltung des Staates«, welche 71. Novalis (1978, S. 520 (261)). Aber auch Novalis hantiert mit organizistischen, biologischen Konzepten des Lebens, also nicht traditionell. 72. Schleiermacher (2002, S. 121). 73. Schleiermacher (1998b, S. 758); vgl. auch ders. (1998a, S. 69). Im Übrigen hängt seine Lehre vom »BeWußtsein« des Staates an der empirischen Relevanz dieser Analogie; vgl. Schleiermacher (1998a, S. 72ff. u.ö.). 74. Welcker (1964, S. 6ff.). 75. Welcker (1964, S. 108). 76. Welcker (1964, S. 115). 77. Welcker (1964, S. 120). 78. Welcker (1964, S. 109). 257

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die Menschen miteinander zu einem »organisirten Naturproduct« verschmelze, das als »Ganzes« etwas völlig anderes als eine bloße Summe oder Maschine sei. »So nicht bei einem Sandhaufen, wo es jedem Theile gleichgültig seyn kann, dass der andere abgetrennt, zertreten, verstreuet werde.«79 Auch in Friedrich Christoph Dahlmanns für den Liberalismus des Vormärz so beispielhaften »Politik« heißt es, der Staat sei »nicht bloß etwas Gemeinsames unter den Menschen«, sondern er sei etwas »Zusammengewachsenes, eine leiblich und geistig geeinigte Persönlichkeit«.80 Für dessen Zunftgenossen und politischen Mitstreiter Georg Waitz, der bei Schleiermacher über Politik gehört hatte und selbst eine solche veröffentlichte, ist der Staat wie auch das Volk »ein Organismus«, der dementsprechend auch »organisch« wächst; er ist aber kein »natürlicher«, sondern ein »ethischer Organismus«, in dem »sittliche Ideen walten« und der auf den »sittlichen Anlagen des Menschen« beruhe. Das »Gesetz seines Lebens« empfange er aus sich selbst und nicht von der Natur.81 Der erzkonservative Historiker Heinrich Leo, der seine Vorlesung über Politik bezeichnenderweise unter dem Titel »Naturlehre des Staates« veröffentlicht,82 bedient sich desselben Vokabulars (Organismus, Leben, Bildung, Entwicklung), wenn er die »Geschichte der politischen Bildung« als »ein in sich nothwendig« und das heißt »innerlich« verbundenes »Ganzes« bezeichnet, die den »äußeren Typus eines einzigen inneren Lebens« und seiner »Entwickelung« darstellt. Dieses »Lebensganze« stelle sich in einer Universalgeschichte dar, wenn diese sich auf den zentralen »Typus« der Vereinigung des Menschen: den »Organismus« des Staates richtet.83 Und während Leo, der bei Hegel Philosophie der Geschichte gehört hatte, am Organismus eher dessen bewusstloses Eigenleben betont und damit jede Vernunftreflexion hinsichtlich des Staates für ein Übel erklärt, wenn sie nicht zu dem Ergebnis komme, dass ein Eingreifen in das staatliche Leben sich verbietet, ist der Staat für Hegel immerhin nicht nur ein »organisches Ganzes«, sondern auch »die vernünftige und sich objektiv wissende«, also sich selbst bewusste, allerdings auch darin

79. Fichte (1971, S. 202f.). Bei Welcker heißt es ganz ähnlich, allerdings mit der für einen Liberalen wichtigeren Betonung der Bewusstheit und Freiwilligkeit der innerlich motivierten Vereinigung: »Wer möchte auch einer Anzahl in Ordnung aufgestellter Steine oder Menschen, die sich zufällig etwa im Schlafe, in einer äusseren Ordnung befänden, wovon man wüsste, daß sie nicht Ausdruck ihres Willens wäre, […] eine rechtliche Ordnung […] zuschreiben« (Welcker, 1964, S. 111). 80. Dahlmann (1997, S. 11). 81. Waitz (1862, S. 5, 9, u.ö.). 82. Leo (1833). 83. Leo (1835, S. 4f.). 258

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»für sich seiende Freiheit«. Das bedeutet für den bloß »subjektiven Willen« des Einzelnen am Ende auch nur, sich durch Einsicht in die Notwendigkeit zum allgemeinen Willen erheben zu müssen, der seine »Momente als organische Glieder auslegt«,84 und damit jede persönliche Willkür zur Freiheit vernichtet. Auch für den von einer Professur der Geschichte auf eine der Staatswissenschaften gewechselten Friedrich Schmitthenner sind 1845 Menschheit, Staat, Recht, Volk etc. Organismen, die aus »organische[n] Entwicklungen« hervorgehen und die daher grundsätzlich wie »jeder Lebensproceß«, der auf dem »Gesetz der organischen Entwicklung« beruhe, zu behandeln seien. Für die Geschichts-, aber auch die Staatswissenschaft erfordere dies die Anwendung einer »geschichtlich-organischen Methode«.85 Eine »historisch-physiologische Methode« propagiert auch der Historiker und Nationalökonom Wilhelm Roscher86 für eine angemessene Darstellung des »Organismus der Volkswirthschaft«. Da deren »Störungen manche Ähnlichkeit mit Krankheiten« besäßen, müsse man »auf die Heilkraft und den Heilgang der Natur« mehr vertrauen, als auf »das therapeutische Eingreifen der Kunst«.87 Und während die Politik als Wissenschaft es mit den »Entwicklungsgesetzen des Volkslebens« im Hinblick auf den Staat zu tun habe, sei die Volkswirtschaftlehre die Wissenschaft von den »Entwicklungsgesetzen […] des wirthschaftlichen Volkslebens«, wobei sich »beide Wissenschaften« an »die Betrachtung des einzelnen Menschen« wie auch »der ganzen Menschheit knüpfen«.88 Für den Jenaer Historiker Heinrich Luden ist in seiner »Politik« von 1811 der Mensch das »Glied eines organischen Ganzen«, der »Menschheit«,89 deren Herausbildung »den Sinn des Lebens« ausmache. Aus dem daraus entstehenden »Leben des menschlichen Geistes« gehe »nothwendig« der Staat hervor.90 »Der Zweck des Staats und der Zweck des Lebens« sind für Luden daher »einerlei«.91 Staaten sind »Individuen« bzw. »Subjecte«, wenn auch »in einem größern Maaßstabe« und »was die Glieder des menschlichen Leibes für die Moral, das sind die Menschen für die Politik: jedes ist zu schonen, aufs

84. Hegel (1995, S. 66f.). Dass der »Staat als eine organische Bildung« zu verstehen sei und »ein lebendiger Zusammenhang […] nur in einem gegliederten Ganzen« sein kann, heißt es schon in Hegel (1970, S. 483). 85. Schmitthenner (1845, S. 4ff.; zit. S. 6); zur »geschichtlich-organischen Methode« (S. 15ff.), die auf das »Gesetz der organischen Entwicklung« (S. 17) Bezug nimmt. 86. Roscher (1861, S. 43). 87. Roscher (1861, S. 24). 88. Roscher (1861, S. 25). 89. Luden (1811, S. 2 u.ö.). 90. Luden (1811, S. 202). 91. Luden (1811, S. 11). 259

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Beste zu besorgen, keins zu verletzen; aber alle sind zu gebrauchen, und jedes ist zu wagen für Erhaltung und Gesundheit des Ganzen«.92 Und schon 1803 hatte Schelling, ebenfalls in Jena, systematisch Mensch, Staat, Bildung und Geschichte über den Organismusbegriff aufeinander bezogen. Der Mensch ist für ihn zwar das »Vernunftwesen überhaupt«, der das »Bild der göttlichen Natur […] im Idealen ausdrücken« solle; aber er kann dies nur, weil er eine Synthese des »Realen« und »Idealen«, von »Freiheit« und »Notwendigkeit« ist.93 Dieser inneren Konstitution des menschlichen Organismus entspricht »der Staat als der äußere Organismus einer in der Freiheit selbst erreichten Harmonie der Notwendigkeit und der Freiheit«, dessen »Bildung« den »vorzüglichsten Gegenstand« der Geschichte ausmache.94 Die »wahre Historie«, die nicht Philosophie sein soll, ist daher eine »Synthesis des Gegebenen und Wirklichen mit dem Idealen«, also nicht die bloße Verknüpfung von Ursache und Wirkung, wie sie die pragmatische Aufklärungshistorie propagierte.95 Denn indem die Geschichte wie der Mensch im »Idealen ausdrückt«, was die »Natur« im »Realen«,96 so ist sie immer »eine Identität der Notwendigkeit und der Freiheit«.97 Dabei betont Schelling, wie schon am Menschen, am Organismus des Staates gerade das scheinbar nicht natürliche Moment – seine Freiheit. Denn nur im Hinblick auf ein »Unbedingtes« könne der Staat als »Bild des absoluten Lebens« und des »absoluten Organismus« und nicht als »endlose[r] Mechanismus« erscheinen.98 Aber ohne Notwendigkeit kommt auch diese Freiheit nicht aus.

4. »Leben« als Form der Selbstorganisation des Sozialen Alle diese Befunde, die sich problemlos vermehren ließen, belegen die Fortexistenz einer seit der frühen Neuzeit anhaltenden Tradition der politisch-sozialen Menschenmetaphorik auch nach dem Ende der Aufklärung. Aber das dahinter stehende theoretische Konzept, das die metaphorische Beziehung von Mensch und res publica, Mensch und Staat trägt, erfährt im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts eine grundsätzliche und die nächsten Jahrzehnte bestimmende Änderung. Dies geschieht auf der vollen Breite der philosophischen, juristischen wie auch historischen Diskurse. Dass die Verwendung der Begriffe weitgehend 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98.

Luden (1811, S. 43, Hervorhebung S.M.). Schelling (1974, S. 12). Schelling (1974, S. 101). Schelling (1974, S. 103). Schelling (1974, S. 100). Schelling (1974, S. 104). Schelling (1974, S. 110). 260

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unabhängig von politischen Ausrichtungen erfolgt und weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts reicht, ist ein weiterer deutlicher Hinweis auf den grundsätzlichen Charakter des damit verbundenen konzeptionellen Wandels. Katalysator für eine sich schon länger abzeichnende Entwicklung ist auch hier die als dramatisches Versagen der politischsozialen Theorien der Aufklärung empfundene Französische Revolution.99 Mit den neuen, vor allem aus der entstehenden Biologie entlehnten Kausalitäts- und Ordnungsmodellen verbindet sich die Hoffnung, sie würden eine adäquatere Fassung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit in der Welt der sozialen Erscheinungen möglich machen. Mechanistische Konzepte der Kausalität, lineare Verkettungen von Ursache und Wirkung (nexus effectivus) – Maschinenmodelle – werden durch Kausalitätsmodelle der Vernetzung und rekursiven Schließung von Kausalketten verdrängt, die im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung von organischem Leben entstanden sind. Damit verbunden sind Modelle der Selbsttätigkeit, Selbstverursachung und Selbstorganisation, die zum einen die im Menschen vermutete Synthese aus Natur- und Freiheitskausalität mit wissenschaftlichen Kategorien besser beschreibbar werden lassen und zum anderen mithilfe des am Beispiel Kants geschilderten analogischen Verfahrens auf soziale Phänomene übertragen werden. Dies ist zugleich als Versuch zu werten, dem im Rahmen der Newtonschen Physik und der Leibniz-Wolffschen philosophischen Tradition vermeintlich zu kurz gekommenen nexus finalis, also der Zwecklehren, sowohl bei der Beschreibung ›natürlicher‹ aber vor allem (›künstlicher‹) sozialer Phänomene, wie Staat und Geschichte, zu ihrem Recht zu verhelfen. Es sind erneut Kants Ausführungen, auf die hier verwiesen werden kann.100 Er verknüpft in seiner »Kritik der teleologischen Urteilskraft« den traditionellen philosophischen Diskurs über die Schwierigkeiten der Erkenntnis und Ordnung von Kausalität mit den zu seiner Zeit aktuellen Ergebnissen aus der Biologie, um die Notwendigkeit einer eigenständigen Beschreibungsform bestimmter, nämlich selbsttäti99. Für die Wirksamkeit der Vorstellung einer Ablösung von der Aufklärung spielt es im Übrigen keine Rolle, dass man aus heutiger Sicht wissen kann, dass man sich bei der Neufassung der Theorie der wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Aufklärung bediente. Vgl. Meiners (1793) oder Villaume (1788/1985); vgl. hierzu auch den Überblick bei Garber (1999) und speziell zu Herder Pross (1999). 100. Für die weitere Entwicklung nach Kant wären vor allem die von Humboldt mehrfach unternommenen und gerade für die Geschichtswissenschaft des Vormärz äußerst wirkungsmächtigen Versuche zu nennen, Ergebnisse der Biologie/Physiologie seiner Zeit in Schriften zur Anthropologie, Bildung des Menschen und zur Geschichtsschreibung umzusetzen; vgl. Humboldt (1960d; 1960b); in diesem Zusammenhang wichtig sind auch Fichte (1971, bes. S. 112ff.) sowie Hufeland (1984). 261

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ger Naturprodukte demonstrieren zu können.101 Aus der komplexen Argumentation lösen wir hier nur ganz wenige Aspekte heraus. Kant geht von dem Problem aus, dass es in der Natur Gegenstände gebe, die sich nicht befriedigend aus – hinsichtlich ihrer Produkte zufälligen – Ursache-Wirkungs-Mechanismen erklären ließen. Sein Beispiel sind Lebewesen. Neben der dem Verstand zugänglichen Ursache-Wirkungs-Verknüpfung (nexus effectivus) gebe es auch noch eine »Kausalverbindung nach einem Vernunftbegriffe« (nexus finalis). Diese müsse man, sehe man von Gott als Erklärung ab, sich auch als in einem Naturprodukt wirksam vorstellen, wenn man die Notwendigkeit dieser Naturprodukte einsehen wolle. Kant betont, dass es sich hier lediglich um eine ›Als ob‹-Unterstellung von Naturzwecken handelt,102 denn über den wahren Charakter der in Frage stehenden inneren Struktur organischer Körper kann das menschliche Erkenntnisvermögen nichts herausfinden, gerade weil sich der menschliche Geist des Konzeptes der raumzeitlichen Kausalität als Bedingung der Möglichkeit vernünftiger Erkenntnis bedienen muss.103 Wie allerdings die »Vereinigung zweier ganz verschiedener Arten von Kausalität« in einem Körper zu denken sei, »begreift unsere Vernunft nicht; sie liegt im übersinnlichen Substrat der Natur«.104 Diese ›Tatsache‹ eröffnet Kants durchaus nicht so zurückhaltenden Nachfolgern reichhaltige Möglichkeiten zur religiös-mystischen Aufladung des Lebensbegriffs, insbesondere in seiner analogischen Verwendung. Kant trägt nun folgende Bestimmungen für Naturprodukte zusammen, bei denen es nötig wird, sie als Naturzwecke zu denken: »ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist«. So könne man das Wachstum eines Baumes nur erklären unter der Voraussetzung, dass »die Materie«, die der Baum sich aus der Umwelt »hinzusetzt«, von ihm »zu spezifisch-eigentümlicher Qualität« »verarbeitet« werde, »welche der Naturmechanism außer ihr nicht liefern kann, und [er – S.M.] bildet sich selbst weiter aus, vermittelst eines Stoffes, der, seiner Mischung nach, sein eignes Produkt ist«.105 An einer Herstellung dieser Stoffe außerhalb des Gewächses selbst scheitere nun alle Kunst.106 Der menschlichen Nachahmungsfähigkeit, einer bewussten technischen Reproduktion des Zusammenhangs, sind hier also deutliche Grenzen gesetzt, was insbesondere die konservativen Über101. Vgl. zum diskursgeschichtlichen Hintergrund von Kants Überlegungen in der entstehenden Biologie der Aufklärungszeit Lenoire (1985). 102. Kant (1998c, S. 484, A 286). 103. Zur grundsätzlichen Kritik dieses Vermögens, die hier als Hintergrund von Kants Als-ob-Strategie immer mitzudenken ist, vgl. Kant (1998a, S. 69ff., A19ff.). 104. Kant (1998c, S. 542, A 370). 105. Kant (1998c, S. 482, A 283). 106. Kant (1998c, S. 483, A 283). 262

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nahmen dieser Modelle betonen sollten. Weiterhin sind die einzelnen Teile eines solchen Naturproduktes »nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich«107 und will man jetzt nicht, wie bei einem Kunstwerk, dessen Schöpfer zur Ursache erklären, dann müsse man annehmen, »daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind«. Das bedeutet, dass ein Teil nicht »nur durch alle übrigen da ist«, sondern »auch als um […] des Ganzen willen existierend, d.i. als Werkzeug (Organ) gedacht« werden muss, das aber zugleich kein Werkzeug ist, indem es »ein die andern Teile hervorbringendes Organ ist«.108 Ein solches »Produkt« hieße dann zurecht ein »sich selbst organisierendes Wesen«.109 Kant verweist darauf, dass eine so verstandene organisierte Natur kein »Analogon der Kunst« sein kann, die sich nicht selbst hervorbringen könne, sondern eher ein »Analogon des Lebens«, womit die hier interessierende, weil in der Folgezeit so massiv ausgebaute zentrale Analogie im Spiel wäre. Zugleich macht er gerade in diesem Zusammenhang auf einen entscheidenden Punkt aufmerksam, der in der Rezeption vermutlich einen nicht geringen Teil der Attraktivität des Lebenskonzeptes ausmacht.110 Denn bei der Erklärung des Lebens, so Kant, müsse man bekennen, dass man die »bloße Materie« zur Erklärung dann eigentlich mit einem »Prinzip« begaben müsse, also einer Seele, womit man den Künstler in die Materie hineinholen würde.111 Gegenüber einer Erklärung mit Bezug auf Gott wäre dann nichts gewonnen. Kant geht es ja, seinem Verständnis von Wissenschaft folgend, um eine Erklärung von Naturprodukten, die mit dem »kleinstmöglichen Aufwande des Übernatürlichen« auskommt, also auch der Teleologie so wenig als möglich Bedeutung einräumt.112 Allerdings ist auch für ihn der Punkt, ein zur Natur hinzukommendes Prinzip annehmen zu müssen, im Falle der Entstehung organisierter Materie erreicht. Er ist fest davon überzeugt, dass sich das Problem »der ersten Erzeugung eines in sich selbst Zwecke enthaltenden und durch sie allein begreiflichen Dinges«113 nicht allein im Rekurs auf ein »Aggregat vieler Substanzen«, also bloß kontingenter materieller »Ursachen«, befriedigend lösen lässt. Das Ganze ist nicht die Summe seiner Teile. Daher sei die »Autokratie der Materie in Erzeugungen, welche von unse107. 108. 109. 110. 111. 112. 113.

Kant (1998c, S. 484, A 286). Kant (1998c, S. 485, A 287). Kant (1998c, S. 486, A 288). Vgl. z.B. Hufeland (1984, S. 35). Kant (1998c, S. 486f., A 289, 290). Kant (1998c, S. 545, A 374). Kant (1998c, S. 540, A 368). 263

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rem Verstande nur als Zwecke begriffen werden können, […] ein Wort ohne Bedeutung«.114 Die Schwierigkeiten bestehen in dem Problem, wie man sich die Selbstorganisation der Selbstorganisation vorzustellen hat. Es ist deshalb so zentral, weil gerade seine Vertagung vor allem auch über den Lebensbegriff läuft, dessen besondere semantische Qualität, sein unscharf-attraktives Bedeutungsspektrum zwischen Wissenschaft, Alltag und Mystik darstellt. Das Konzept des Lebens präsentiert sich in der Folgezeit als empirische Lösung und verschleiert damit das von Kant noch deutlich markierte Theorieproblem. Tatsächlich weitete man in der Folgezeit den Lebensbegriff in seiner auf Selbstorganisation und Naturzweckhaftigkeit verweisenden biologisch-philosophischen Fassung sowie das damit verbundene Begriffsfeld von Bildung, Organismus, Organisation auf die Welt des Sozialen und der Geschichte aus und kontaminierte mit diesen Bedeutungen zugleich dessen alltagssprachliche wie traditionell philosophische Fassung bis hin zum Begriff des ›guten Lebens‹, das nun nur im Einklang mit den Naturzwecken möglich sei. Und da menschliches Leben offensichtlich mit der allmählichen Entstehung von Bewußtsein einherging (Bildung, Entwicklung), konnte auch dieser Strang mit seinen Bezügen zu Freiheit, Vernunft, Sozialität und Sittlichkeit an das Begriffsfeld angeschlossen werden. Das die Analogie tragende Moment blieb dabei die unterstellte »Ähnlichkeit […] zwischen der Regel, über beide« – Leben und Geist, Leben und Geschichte etc. – hinsichtlich ihrer »Kausalität«, also ihren Zusammenhang »zu reflektieren«. Leben fungiert als »Symbol der Reflexion«.115 In der Folgezeit verzichtete man allerdings zumeist auf Kants zurückhaltende Fassung einer Naturzwecklehre im Modus des Als-ob und ontologisierte diese auch im Bereich des Sozialen. Der Lebensbegriff in dieser Fassung erlaubte es, auf eine klare Zuweisung sozialer Phänomene zum Reich der Natur oder der »Kunst«, im Sinne von Verstandes- bzw. Vernunftinduzierung, im Allgemeinen verzichten zu können, was flexible Schwerpunktsetzungen im Einzelfall ermöglichte. Leben ist die Einheit von Kunst und Natur, von Freiheit und Notwendigkeit, von bewusster Einsicht und blindem Kausalzusammenhang. Weder muss man bei der Beschreibung von Sozialität und Geschichte daher von den Kausalerklärungen der Naturwissenschaften Abstand nehmen (causa efficiens), noch brauchte man auf die causa finalis und den mit ihr verbundenen Freiheitsbegriff zu verzichten. Wenn Humboldt betont, dass »jede Erscheinung in der Natur, ohne Ausnahme, […] nach nothwendigen Gesetzen aus den Umständen erklärt werden« 114. Kant (1998c, S. 541, A 369). 115. Kant (1998c, S. 460, A 254). Mit dieser Ordnungsvorstellung wird dann wenig später vor allem der Begriff Organismus im Bereich der Staats- und Geschichtswissenschaft verbunden. 264

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kann116 und im Sinne einer vernünftigen Erklärung, die immer »auf Vernichtung des Zufalls gerichtet« sei,117 auch muss, zugleich aber auch die menschliche Vernunft »alle Handlungen, auch die kleinste nicht ausgenommen«, durch die eigene Kraft verursachen können will, ohne dass weder das eine noch das andere »bewiesen werden könne«, dann drückt sich hierin genau das Dilemma einer Wissenschaft der menschlichen Natur und seiner Hervorbringungen aus, auf das nicht nur Humboldt mit der Übernahme der neuen Konzepte Leben und Bildung reagiert. Denn weder könne, so Humboldt, der Mensch eine Schranke seines Erkenntnisvermögens leiden, das ihn zur Einsicht in seine völlige Bedingtheit treibt, noch könne er von seiner sittlichen Freiheit absehen, die einer völligen Bedingtheit durch die Welt der Erscheinungen entgegenstehe. Auch hier ist der Zufall, die »Willkühr«, die explizit ausgeschlossene Alternative.118 Humboldt verlangt daher jede Kette menschlicher Akte so weit zurückzuverfolgen, bis auf eine »Handlung ursprünglicher Selbstthätigkeit«, bis zu einem »unbegreiflichen Punkt«,119 um so dem »Geist der Menschheit« nahe zu kommen, einer »lebendigen Kraft«, die »überall belebende Funken« aussendet, aber nur bei freier Entfaltung eine »bildende Kraft« sein kann.120 Mit den Lebens- und Organismuskonzepten werden statische Klassifikationssysteme durch dynamische Ordnungsmodelle ersetzt. Die Orientierung der Geschichtswissenschaft wie auch der Statistik an Klassifikationssystemen wie der Linnéschen wird obsolet. Auch Schlözer orientierte seine Ordnungsmodelle (Tabelle und System) ja schon zum Teil an der Biologie, nur war dieses Modell, dem Wissenschaftsideal der Zeit entsprechend, noch ein statisches.121 Zum anderen bekommt die von Aristoteles übernommene und die Diskussion über die Voraussetzungen des Menschen und des Staates im Vormärz immer begleitende Figur, dass das Ganze nicht nur mehr als die Summe seiner Teile, sondern auch dem Einzelnen kausal vorgängig sei, über die Verknüpfung mit biologischen Organismuskonzepten eine neue (na116. Humboldt (1960c, S. 381). 117. Humboldt (1960c, S. 380). 118. Humboldt (1960c, S. 381). So auch schon Kant (1998b, S. 99, BA 125), wo er ausführt, dass die Annahme von Freiheit der Vernunft »notwendig«, wie »reine Vernunft […] aber praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend«. 119. Humboldt (1960c, S. 511). 120. Humboldt (1960c, S. 512f.). 121. So hält Schlözer in einer Streitschrift gegen Herder (Schlözer, 1990), ironischerweise diesem vor, dass diesem als Nichthistoriker (S. 225) an der Linnéschen Klassifikationsmethode, die ja nun statischer nicht sein kann, die gerade für die Geschichte eigentümliche Bedeutung entgangen sei, nach der er sich bei seinen universalgeschichtlichen Tabellen richte (S. 383). 265

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tur-)wissenschaftliche Rechtfertigung. »Das Ganze ist früher da, als der Theil, das Volk ist älter als der einzelne Mensch«, heißt es in Sybels Politik von 1846.122 Und obwohl er den Staat auf die »Sanction der Individuen« verpflichtet wissen will,123 bedeutet dies doch vor allem, dass »es für den Einzelnen kein dringenderes Gesetz [gibt], als […] in allen Handlungen dieser Natur (die zugleich den Grundstoff seines eignen Wesens ausmacht) zu folgen«.124 Im Gegensatz zu einer Maschine lässt sich ein Volk als Naturbasis der Nation auch nicht aus seinen Teilen zusammensetzen, es ist also nicht so, »daß eine Anzahl von Individuen irgend eine äußerliche Gemeinschaft eingehn [!], sondern« es ist genau umgekehrt, dass nämlich »eine gleichartige von festen Gesetzen durchdrungene Substanz sich in verschiedene Individuen auseinanderlegt. Diese Substanz mit ihren Gesetzen ist also älter als die Individuen[,] die aus ihr hervorgehn und durch ihre Gesetze bestimmt werden.« Organismen wie menschliche Gemeinschaften werden als funktionale und das heißt innerlich verbundene Ordnungen des Heterogenen verstanden, die nicht nur Freiheits- und Naturkausalität synthetisieren, sondern auch Individualismus und Gemeinschaft in anderer Weise miteinander in Einklang bringen als lediglich zusammengesetzte Körper. Und wie am menschlichen Leben, fasziniert auch hier die Verknüpfung von unbewussten und bewussten Prozessen. Ihre Objektentsprechung hat dies im Zusammenhang von Volk/Nation und Staat in der menschlichen Gemeinschaft, wobei der Nation bzw. dem Volk tendenziell die unbewussten Naturkräfte und dem Staat deren Bewusstwerdung und künstliche Ausformung zugesprochen werden. Auf des Menschen allgemein anerkannte Doppelnatur, wie auch die des Lebens, können also beide Argumentationslinien zurückgreifen, wenn sie ihn und seine sozialen Verhältnisse einmal als Teil der Natur, einmal als Teil einer wie auch immer konstituierten und in die Natur zweckhaft eingreifenden Geistigkeit auffassen. Politisch kommt es auf die Mischung beider Elemente an. Während ›Konservative‹, in Abgrenzung von der Aufklärung eher die ›Naturseite‹ von Mensch, Staat, Recht und Geschichte betonen, erweisen eher liberale Autoren der Aufklärung insofern noch ihre Referenz, dass sie des Menschen oder des Staates zwecksetzende Kraft stärker in den Blick nehmen, ohne in den Begriffsrahmen eines als »abstrakt« denunzierten, weil ›reinen‹ Vernunftdiskurses zurückzukehren.

122. Sybel (1846ff., fol. 183f.). 123. Sybel (1846ff., fol. 187). 124. Sybel (1846ff., fol. 183v). 266

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5. Lebendige Geschichte – Johann Gustav Droysens Ideenlehre In einer atemberaubenden Geschwindigkeit finden der Lebens- und Organismusbegriff sowie das ihm angeschlossene Theorie- und Begriffsfeld der Bildung seit den 90er Jahren Eingang in die Diskurse der Staats-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften. Dabei laden sich diese Diskurse mit der Dignität der naturwissenschaftlichen Modedisziplin Biologie auf und können damit Abschied nehmen von den politisch unattraktiv erscheinenden mechanistischen Konzepten. Zugleich partizipieren sie an den komplexen Möglichkeiten eines für alle politischen Ziele offenen, weil hinreichend unklaren Begriffsarrangements, dessen empirische Sicherungen eher auf der Evidenz des (selbsterlebten) Lebens als seiner wissenschaftlichen Durchdringung beruhen. Freiheit, Menschheit, Geschichte, Recht, Geist – alle diese Vokabeln werden auf die neuen Anforderungen hin umgeschrieben. Die Dynamisierung der gesellschaftlichen Ordnung erfasst auch den Begriff der Menschheit. Theorietechnisch vollzieht sich diese Dynamisierung insbesondere im Historismus, indem von substantiellen Werten als Ausdruck des Menschseins auf den inhaltlich unbestimmten, prinzipiell unendlicher Bestimmungen fähigen Formbegriff – in der Sprache der Zeit »die Idee« – der Menschheit umgestellt wird. An die Stelle Gottes tritt die Menschheit, die von einem bloß logischen Gattungsbegriff zur Idee der Einheit der Möglichkeiten des Menschen befördert wird. Ideen gewinnen ihre Form in Differenz zu anderen ebenfalls dynamischen Formen (Staat, Recht, bürgerliche Gesellschaft, Ehe etc.). Der Menschheit kommt hier insofern eine besondere Bedeutung zu, weil sie quasi als Metaidee, die Einheit der Unterscheidung der anderen Ideen, insbesondere von Staat und bürgerlicher Gesellschaft darstellt, aber nur indem sie diese Einheit als Differenz markiert. Die Menschheit muss sich als Fülle unendlicher Möglichkeiten immer wieder in der Endlichkeit der Geschichte als eine bestimmte Wirklichkeit realisieren, indem sie sich im einzelnen Menschen verkörpert, in seiner Bildung individualisiert.125 Die zirkuläre Figur einer als Einheit der Unterscheidung von Einheit und Differenz gedachten unendlichen Idee, die sich im Endlichen als raum-zeitliche Sequenz realisieren muss und dem Endlichen damit in dessen Entwicklung Anteil am Unendlichen verschafft – die Form des Ideenbegriffs im Historismus – findet sich im Hinblick auf das Verhältnis von Mensch und Menschheit z.B. bei Luden: »Das Leben aller Menschen, in Raum und Zeit, ist nichts anders als die Entwickelung und Bewußtwerdung der Vernunft in den Menschen, also die Bildung der Menschen zur Menschheit, oder die Werdung der Menschheit in den Menschen.«126 Und weiter: »Das Individu125. Vgl. Humboldt (1960e, S. 570). 126. Luden (1811, S. 1). 267

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um geht auf in das Volk, das Volk in die Menschheit; oder umgekehrt: die Menschheit wird durch Zeit und Raum auseinandergezogen in Völker, die Völker in Menschen.«127 Letztlich reagiert die Ideenlehre auf das Problem einer Theoretisierung der sequentiellen Dynamik des Verhältnisses von Teil und Ganzem, wobei die Eigenlogik des Ganzen, gegenüber den Teilen einer über deren Fortexistenz hinausweisenden mit sich selbst identischen, d.h. kontinuierlichen Bewegung entspringt. Das Unendliche kann sich nur als Sequenz im Endlichen realisieren und ist dabei auf das zeitliche Nacheinander, also das kontinuierliche Entstehen und Vergehen des Einzelnen angewiesen. Genau dies aber legt die Analogie zum Begriff des Lebens erneut nahe, und dass Ideen lebendig sind, gehört zu den im Historismus üblichen Formulierungen. So spielt die Organismusmetaphorik auch bei Ranke im Hinblick auf die menschlichen Gemeinsamkeiten wie Staat, Recht etc. eine große Rolle, wie er auch den Lebensbegriff immer wieder zur Qualifizierung historischer Prozesse und ihrer Darstellung verwendet. Aus gegebenem Anlass soll hier aber noch einmal Rankes vermeintlicher Widerpart Johann Gustav Droysen zu Wort kommen, dessen zentrale Rolle für die Theoretisierung der Geschichtswissenschaft und die Herausbildung des Historismus Jörn Rüsen immer wieder betont hat.128 Auch Droysen reklamiert den Raum der Vermischung von Natur und Geist, von Leiblichkeit und Bewusstsein, von Notwendigkeit und Freiheit als genuines Erkenntnisfeld für die Geschichtswissenschaft. Allerdings wendet er sich gegen die aus seiner Sicht im Vormärz zu enge Verkoppelung von Mensch und Natur, Geschichte und Naturentwicklung, womit er an diesem Punkt wieder auf die Linie der Aufklärung einschwenkt.129 Entsprechend grenzt er sich sowohl von einseitigen Organismuskonzeptionen ab,130 die, im Sinne Adam Müllers oder Heinrich Leos, auf Naturalisierungen historischer Prozesse hinauslaufen, als auch von der Naturgeschichte ganz allgemein.131 Dabei ist sich Droysen über die Kontingenz dieser Trennung durchaus im Klaren. Denn »auch die Geschichtsbetrachtung weiß«, dass sie »willkürlich scheidet«, aber gerade darin läge die Möglichkeit zu einer bestimmten »Erkenntnis«.132 Dass Droysen bei dieser Verlagerung des historischen Erkenntnisinteresses vom Gegensatz zwischen Natur und Geist im Menschen auf den 127. Luden (1811, S. 17). Aber genau so auch die Idee des Staates: »Auch darum sind verschiedene Staaten neben und nach einander nothwendig, weil der Staat, als eine Offenbarung der Vernunft, in allen möglichen Formen realisirt werden muß; denn nur dadurch kann die Idee derselben ganz im Leben erschöpft werden« (S. 17). 128. Vgl. Rüsen (1969; 1971; 1976; 1980; 1992 sowie 1993, S. 226ff.). 129. Droysen (1977, S. 18). 130. Droysen (1977, S. 21). 131. Droysen (1977, S. 19). 132. Droysen (1977, S. 378). 268

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Gegensatz zwischen Freiheit und Notwendigkeit im Geist und in den sittlichen Mächten das hier in Rede stehende Begriffsarsenal des Vormärz weitgehend übernimmt, zeigt nicht nur dessen noch vorhandene metaphorische, d.h. sinnbildend-sinnliche Kraft. Es zeigt sich damit auch, dass Droysen noch mehr an den Ordnungs- und Kausalitätsmodellen der Naturwissenschaft partizipiert, als er selbst wahrhaben will. So »lebt« bei ihm die »Idee des Schönen«, haben Kunst und Wissenschaft als sittliche Mächte an sich »selbst ein Leben, eine Bewegung, eine Macht«, die sich in die einzelne Persönlichkeit »hineinsenkt«, in dieser wiederum lebt und sich wandelt: »Und ähnlich in allen anderen Kreisen.«133 So hat auch der »Staatsorganismus«134 seine »Lebensfunktionen«, sein »individuelles Wesen«, das eine Übernahme politischer Muster anderer Staaten verbietet.135 Die Selbst-Verwirklichung der Ideen wiederum ist das »Werden und Wachsen der Geschichte«.136 Daher ist eine bloße »Sammlung von Kenntnissen«, sowohl die mechanischen Tabellen der Aufklärungshistoriographie als auch die bloß richtigen Einzelheiten der kritischen Methode à la Ranke, noch keine »Wissenschaft«. Die »tote Masse historischer Gelehrsamkeit empfängt erst Leben durch die historische Wahrheit«, die auf einem »höheren Zusammenhang« beruht.137 Leben und Verstehen bedingen dabei einander, da ›von außerhalb‹ des Lebenszusammenhangs nichts richtig, d.h. nur Totes begriffen werden kann. Das »Mitleben« im »sittlichen Horizont« der Ideen erlaubt es aber dem durch diese Ideen ›gebildeten‹ Historiker »von der lebendig empfundenen Gegenwart aus, das in ihr befaßte Vergangene zu verstehen«, da selbst »höchst unentwickelte Verhältnisse […] Ausdrücke« derselben »Ideen« wie jene der Gegenwart sind.138 Dass dabei die unterschiedlichen Ideen miteinander und im Menschen »ringen«, darin »liegt die Bedeutung des sittlichen, also in seiner Gesamtheit des geschichtlichen Lebens«.139 Zur Beschreibung dieses dynamischen Zusammenhangs des Heterogenen, der Strukturgesamtheit lebendiger Ideen greift auch Droysen auf die Organismusmetapher zurück. »Staat, Recht, Wirtschaft usw. sind nur Funktionen der sittlichen Welt, die, getragen und geschlossen in der sittlichen Natur des Menschen, ein großer makroskopischer Organismus ist.«140 Zwar betont Droysen, dass das eigentliche Erkenntnisinteresse 133. Droysen (1977, S. 18). 134. Droysen (WS 1845, fol. 19); vgl. auch Droysen, (SS 1850, fol. 4). 135. Droysen (1857/1977, S. 273). 136. Droysen (1977, S. 201). 137. Droysen (1977, S. 60). 138. Droysen (1977, S. 207f.; zur Bildung als »das geistige Durchlebt-Haben der Vergangenheit« siehe S. 269). 139. Droysen (1977, S. 210). 140. Droysen (1977, S. 351). 269

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der Geschichtswissenschaft auf den Erscheinungen der menschlichen Freiheit, auf den »Anomalien« und nicht »Analogien« ruhe.141 Aber Droysen ist weit davon entfernt, die Geschichte aus dem Reich der Notwendigkeit zu entfernen. Ihm geht es nur um andere Notwendigkeiten als jene der Natur. An deren Stelle treten in der Persönlichkeit, im Geist, die sittlichen Mächte, deren Wirkungen für den Einzelnen nicht weniger bestimmend sind. Die sittlichen Mächte sind zwar selbst Produkte, Erscheinungsformen menschlicher Freiheit, aber diese ist eben nur in diesen und durch diese möglich.142 Nur im Moment seiner Entstehung ist der Mensch von ihnen unbestimmt, und somit nichts als Natur, sofort danach erfassen ihn die sittlichen Mächte. Denn »nach der Natur des Menschen ist sofort Geistiges zugleich mit dem Leiblichen in voller Aktion, und mit den natürlichen Gemeinsamkeiten sind die idealen zugleich gesetzt«.143 Die Verlebendigung der sittlichen Mächte ist die Reaktion auf ein schon von den Ausführungen Kants her bekanntes Problem: die Selbstorganisation der Selbstorganisation. Wie kann man sich die Entstehung selbstorganisierter Einheiten denken, ohne dabei auf die Existenz derselben zurückzugreifen. Wie vermeidet man es, die Kette von Ursache und Wirkung willkürlich zu unterbrechen, oder die Materie, d.h. in diesem Falle die sittlichen Mächte, mit »einem Prinzip zu begaben«, wie Kant das genannt hatte? Droysen und mit ihm der Historismus vermeiden es nicht. Die Stelle wird doppelt besetzt, einmal durch den Menschen als »Künstler«, das andere Mal durch die »Idee« als »Prinzip«. Das Vorgehen Droysens ist für die Geschichts- und Staatswissenschaft in weiten Teilen des 19. Jahrhunderts typisch. Er versenkt das Problem in der Konstitution des Menschen, und dessen geschichtliches Leben ist zugleich die praktische Lösung, während es in der Theorie bei paradoxen Formulierungen bleiben kann. Instruktiv ist hier eine in jeder Hinsicht zirkuläre Begründung des Staates, die sich in seiner ›Politik‹ von 1845 findet: »Die Einheit [des Staates] ist die Einheit der Vielen […]. Und die Vielen sind die lebendigen Träger jener Einheit, sie würden ohne dieselbe nicht Menschen, nicht sittliche Wesen sein. […] Denn der Staat entsteht nicht aus dem immer erneuten Konsens der Vielen, sondern ist und ist die einheitliche Macht, in die der Einzelne hineingeboren wird und in der er auf natürliche Weise lebt. Er ist im Verhältnis zum Volk, was die Vernunft im Verhältnis zu dem Willen, den Leidenschaften, der ganzen daseienden Natur des Menschen; der Staat ist dieses Volkes, das Volk dieses Staates.«144 Am systematischen Anfangspunkt des Staates wie der Geschichte steht ein Zirkel, den die Geschichtsschreibung in An141. 142. 143. 144.

Droysen (1977, S. 21). Droysen (1977, S. 290ff.). Droysen (1977, S. 313). Droysen (SS 1845, fol. 18v). 270

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spruch nimmt, und hinter den sie weder zurückfragen kann noch muss, denn dessen zeitliche Entfaltung ist die Geschichte. Der Mensch ist Ursache und Wirkung der sittlichen Mächte und prozesshaft erscheint dieser Begründungszirkel dem Menschen als Geschichte. Der Mensch macht den Staat, aber als zoon politikon – und dies ist ein geradezu gebetsmühlenartig wiederholter Satz der vormärzlichen Staatstheorie – kann der Mensch nur Mensch werden im Staat und hat auch nur dort eine Geschichte. Und wie der Mensch lebt auch der Staat. Und während man im 18. Jahrhundert den beschriebenen Zirkel durch die Vernunftentscheidung des Menschen aufgebrochen und über den Vertrag die Synthese mit dessen Leidenschaften stabilisiert hatte (pacta sunt servanda),145 ohne allerdings dessen Voraussetzungen begründen zu können, betont man im Vormärz den Vorrang des Staates bei der Konstitution des Menschen (das Ganze ist älter als seine Teile) und behauptet gleichzeitig über den Lebensbegriff die trotzdem mögliche Synthese mit der Vernunft. Im Menschen fußt dann, sei es als Trieb, sei es als Einsicht durch Vernunft, was man nur als ›Leben‹ auf den Begriff bekommen und nur durch Teilnahme verstehen kann. Sowohl die »physikalische«, auf »Ursache und Wirkung« fixierte, als auch die »spekulative« Methode, welche allein den transzendenten Bezug auf Gott (Theologie) bzw. die reine Vernunft und mit sich identische Bewusstheit des Menschen (Philosophie) betont, sind für Droysen daher »falsche Alternativen«.146 Denn »der menschliche Geist […] ist die Identität beider« Momente.147 Der Mensch ist keine »Maschine«, nicht nur ein Körper, sondern er hat seine höhere Wahrheit in seinem freien »Willen«.148 Aber dieser freie Wille schafft sich durch ›freie‹ Entscheidungen immer wieder nur seine eigenen Notwendigkeiten in Form der sittlichen Mächte. Freiheit ist also Einsicht in die Notwendigkeit und das Bewusstwerden der Freiheit, der Fortschritt der Geschichte, meint genau dies. Die sittlichen Mächte (Staat, Wohlfahrt, Recht etc.) führen ein den Einzelnen übergreifendes Eigenleben und dies schon allein deshalb, weil dieser Einzelne stirbt, während das Ganze weiterlebt und weiterleben muss. Staaten sind »Monaden«, die sich vorrangig selbst erhalten und erst danach den einzelnen Menschen.149 Die »Persönlichkeit« ist daher bloß »das Medium«, durch das sich die Ideen als sittliche Mächte verwirklichen.150 Daran ändert sich auch nichts, wenn die ›großen Männer‹ deshalb groß sind, weil sie nicht nur »passiv« die Ideen aufnehmen, sondern »weil sie […] über sie 145. 146. 147. 148. 149. 150.

Vgl. Schlözer (1793, S. 65). Droysen (1977, S. 33). Droysen (1977, S. 33). Droysen (1977, S. 201). Droysen (SS 1850, fol. 8v). Droysen (1857/1977, S. 18). 271

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hinausführen«,151 denn damit ist ja keineswegs ein Hinaus aus der Idee gemeint – das wäre Willkür, keine Freiheit – sondern nur ein weiterer Schritt in der Logik ihrer Verwirklichung. Natürlich sei es richtig, dass der »Fortschritt in der Geschichte« sich »durch menschliches Tun« und hierbei zweifellos auch mithilfe der menschlichen Leidenschaften vollziehe.152 Aber »es ist die erbärmlichste Art der Geschichtsbetrachtung, aus derartigen Motiven die großen Dinge betrachten, die katastrophischen Geschicke der Welt auf solche Beobachtungen zurückführen zu wollen«. Natürlich sei dies alles in der Geschichte »wirksam«, aber doch nur indem sich »die Ökonomie der Geschichte ihrer« bei der Verwirklichung der Ideen »bedient«.153 In dem »empirischen Ich« der großen Männer »inkarniert« sich der auf seine Verwirklichung drängende »Gedanke«, und daher seien diese wie ein »Gott unter den Menschen«.154 Aber das, was sie dazu macht, das sind nicht sie selbst, sondern das ist das Ergebnis des Wirkens der Geschichte, der Ideen in ihnen. Erst wenn der »einzelne sich über seine eigene kleine Welt […] erhebt«, sich an das »allgemeine Ich« annähert, dann löst sich das »empirische Ich«, der »finstere Despot« auf, und »schmilzt ganz hin in jene große Strömung der Menschheit«.155 Wenn sich der Historiker also für das die Geschichte vorwärtstreibende Moment der Freiheit interessiert,156 so ist damit nicht Unbestimmtheit gemeint, denn das wäre nichts als der reine Zufall, die reine Zusammenhanglosigkeit und damit das Ende der Geschichte als Wissenschaft. »Wäre die Historie nur auf das Tun der einzelnen Menschen gestellt, so würde unsere Wissenschaft willkührlich, sie würde gar keine Wissenschaft sein. Wir wissen, daß die Bewegung der Geschichte einen anderen Zusammenhang hat als die gelegentliche Kausalität der Interessen und Leidenschaften derer, durch welche sie sich vollzieht, und daß sie einen anderen Zielpunkt hat als die persönlichen Zwecke derer, die in ihr handeln.«157 Als Erkenntnisweise entspricht die so verstandene Geschichtswissenschaft dem »Geist« in seiner wohlgemerkt »lebendigen Bewegung zur Totalität« besser als jede andere. In der »lebendigen Beweglichkeit der Gegenwart«, in der »geschichtliches Leben pulsiert, entwickelt sich immer von neuem der Gegensatz dessen, was ist und was sein sollte«, der Gegensatz zwischen den gegebe-

151. Droysen (1977, S. 208). 152. Droysen (1977, S. 390). 153. Droysen (1977, S. 391). 154. Droysen (1977, S. 390). 155. Droysen (1977, S. 392). 156. Droysen (1977, S. 266ff.; vgl. auch zur Eigenlogik der »historischen Gedanken«, die aber nicht mit voller Notwendigkeit aufeinander folgen S. 383). 157. Droysen (1977, S. 392). 272

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nen Zuständen und den »Idealen«.158 Für die Beschreibung der sich in diesem Gegensatz vollziehenden »fortschreitende[n] Bewegung der Menschheit«, der Geschichte über den Geschichten, greift Droysen nun wieder auf das altbekannte Verhältnis von Körper und Geist, den Menschen als Ganzes zurück: »Es ist, wie jeden Augenblick der Körper von dem Geist bewegt und bestimmt wird, um ebenso wieder den Geist zu bedingen und zu binden. Weder das eine noch andere ist das Ganze.«159 Der Mensch ist eine Metapher. Er ist Mittel der Erkenntnis, nicht Mittelpunkt des Seins. Nachdem er seine Form an Staat, Gesellschaft und Geschichte entliehen hat, verschwindet er unter ihren Bestimmungen. Und wie die Kantische Vernunftkausalität fängt seine Freiheit niemals an.

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ZWEIERLEI KATASTROPHE

Zweierlei Katastrophe. Über den Zusammenhang der Täter- und Opferrollen in der deutschen Geschichtsschreibung nach 1945 Chris Lorenz

Wenige Wochen nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Mai 1949 hielt der amerikanische Hochkommissar John McCloy eine Ansprache an eine Versammlung von Vertretern der westdeutschen jüdischen Gemeinde. In seiner vieldiskutierten Rede betonte er den zentralen Stellenwert der öffentlichen Erinnerung an die Verbrechen des Dritten Reichs für die politische Kultur der jungen Republik. Insbesondere, sagte McCloy, sei die Beziehung Westdeutschlands zu den Juden »one of the real touchstones and the test of Germany’s progress toward the light. The moment that Germany has forgotten the Buchenwalds and Auschwitzes, that was the point at which everyone could begin to despair any progress in Germany«. Die Wiedereingliederung Deutschlands in die Gemeinschaft zivilisierter Nationen sei nur möglich, wenn die Bundesrepublik die Naziverbrechen nicht verdränge, sondern die Erinnerung lebendig halte und aktiv gegen den Antisemitismus vorgehe. Die Haltung gegenüber der Nazivergangenheit im Allgemeinen und dem Holocaust im Besonderen wurde so zum Maßstab für die »Reife« der politischen Kultur in Westdeutschland. Obwohl ursprünglich von externen Beobachtern der Bundesrepublik aufgestellt, gewann dieser Maßstab zunehmend an Bedeutung für die internen Diskussionen und die Selbsteinschätzung Westdeutschlands und spielte schließlich eine entscheidende Rolle für das Selbstverständnis der Bonner Republik.1 Vergangenheitsbewältigung2 ist zum Schlüsselmerkmal des westdeutschen politischen Diskurses zur Bestimmung der politischen Identität Deutschlands geworden. Daher ist die Rolle des Historikers in der Öffentlichkeit in Deutschland viel zentraler als in den meisten anderen europäischen Staaten. 1. Herf (1999, S. 9). 2. Kursiv gesetzte Stellen im Orig. deutsch (Anm. d. Übers.). 279

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CHRIS LORENZ

Ich möchte im folgenden Beitrag analysieren, wie die Historiker in Westdeutschland mit dem Erbe der Nazivergangenheit seit 1945 umgegangen sind. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Zusammenhängen zwischen den Darstellungsarten jüdischer und deutscher Opferschaft. Eine solche Analyse kann natürlich aufgrund der immensen Breite des Themas nur skizzenhaft sein.3 Trotzdem hoffe ich, dass es mir gelingt, einige Kernpunkte herauszuarbeiten. Im Unterschied zur allgemein verbreiteten ›professionellen‹ Meinung in der Geschichtswissenschaft ist in meinen Augen die Geschichtsschreibung auch eine ›abstrakte‹ Kunst, das heißt: eine Kunst des Weglassens.4 Ich möchte meine Analyse mit zwei Zitaten beginnen. Das erste stammt von E.H. Carr: »Study the historian before you study the facts.«5 Carrs Ausspruch verweist zu Recht auf die enge Beziehung zwischen den Inhalten der Geschichte und ihren Produzenten, den Historikern. Das zweite Zitat stammt von Wolf Lepenies, der auf den paradoxen Charakter der anhaltenden Debatte über die Rolle des Historikers im Nationalsozialismus hingewiesen hat.6 Lepenies bemerkt, dass die deutschen Historiker im Vergleich zu anderen Disziplinen erst sehr spät entdeckten, dass auch sie in den Nationalsozialismus verstrickt waren. »Könnte es sein,« fragt Lepenies, »daß die Disziplin, die sich doch professionell mit Erinnerung und mit dem Gedächtnis beschäftigt, auch besonders gut dafür geeignet ist, zu vergessen und zu verdrängen?«7 Lepenies macht, in Anlehnung an Nietzsche, zu Recht darauf aufmerksam, dass Erinnern immer Vergessen voraussetzt, weil es prinzipiell unmöglich ist, sich an alles zu erinnern. Wer sich an alles erinnert, ist nach Nietzsche zu permanenter Schlaflosigkeit verdammt. Im Fall des Holocaust ist diese Einsicht sogar noch entscheidender, denn die Geschichtsschreibung des Holocaust ist, wie Saul Friedländer bemerkt, immer noch »caught between the impossibility of remembering and the impossibility of forgetting«.8 Bei der Analyse der Geschichtsschreibung müssen wir uns folglich stets fragen, wer sich an was erinnert und wer was vergisst, ohne dabei in die Falle einer reduktionistischen Wissenssoziologie zu tappen.9 Aus diesem Grund ist Carrs 3. Für eine detaillierte Analyse s. Berg (2003). 4. ›Abstrahere‹ bedeutet im Lateinischen ›weglassen‹. 5. Carr (1961, S. 23). 6. Zu dieser Debatte vgl. Lorenz (2001) und Schöttler (2003). 7. Lepenies, zitiert nach Zuckermann (1999, S. 34). Auch Mitchell Ash hat auf die im Vergleich zu anderen Disziplinen relativ späte Thematisierung der eigenen Rolle im Naziregime seitens der Historikerzunft hingewiesen. Eine Erklärung für diese paradoxe ›Verspätung‹ steht immer noch aus. Vgl. Ash (2000). 8. Friedländer (1993, S. 2). 9. Dan Diner fällt dieser reduktionistischen Denkfigur zum Opfer, wenn er die inten280

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ZWEIERLEI KATASTROPHE

Empfehlung »study the historian before you study the facts« ein wichtiger Rat, auch wenn überall der »Tod des Autors« verkündet und das Potential der Diskursanalyse allgemein anerkannt worden ist. Das Vergessen der Historiker ist fraglos ein absolut zentrales Problem. Professionelle Historiker rechtfertigen die Existenz ihres Fachs ja gerade mit dem Hinweis, dass die Geschichte der wichtigste institutionalisierte Schutz vor selektivem Vergessen und kollektiver Amnesie ist. Das Vergessen – und die Verdrängung ist eine Form des Vergessens – rührt daher an den offiziellen raison d’être professioneller Geschichtswissenschaft. Für deutsche Historiker hat dieses Problem seit 1990 noch an Dringlichkeit zugenommen, seit nämlich westdeutsche Historiker zu Richtern ihrer früheren ostdeutschen Kollegen geworden sind. Ich werde in meiner Analyse im Wesentlichen zu zeigen versuchen, dass es sinnvoll ist, die Geschichte des Nationalsozialismus als Trauma deutscher Historiker zu interpretieren. Das ist, so meine Argumentation, das konstante bzw. kontinuierliche Element, das für das Verständnis der deutschen Geschichtsschreibung während der gesamten Nachkriegszeit entscheidend ist. Dieses Trauma wurde, vor dem Anbruch der ›Trauma-Ära‹ in der jüngsten Zeit, üblicherweise nicht als solches bezeichnet, man benutzte vielmehr den Begriff der Katastrophe.10 Das Substantiv Katastrophe ist vom griechischen ›kata-strophè‹ abgeleitet, das wiederum aus dem Verb ›kata-strèpho‹ gebildet wurde, welches ›umkehren‹, ›zerstören‹, ›beenden‹ bedeutet. ›Kata-strophè‹ heißt demnach eigentlich ›Zerstörung‹, es kann aber auch ›das Ende‹ einer Tragödie andeuten. Ernst Noltes Charakterisierung der BRD als »a product of catastrophe erected to overcome the catastrophe« ergibt daher in beiden Lesarten des Wortes einen Sinn, sowohl als ›Zerstörung‹, als auch als ›das Ende einer Tragödie‹. Und was noch wichtiger ist: Noltes Charakterisierung der BRD als ›Produkt der Katastrophe zur Überwindung der Katastrophe‹ trifft auch auf die Geschichtsschreibung in der BRD zu. Das ist zumindest meine Auffassung, denn die moderne deutsche Historiographie ist, wie ich zu zeigen versuche, vor allem ein Versuch, mit den katastrophalen Wirkungen der Nazivergangenheit zurechtzukommen. Diese ist daher wirklich, in Noltes berühmter Formulierung, ›Vergangenheit, die nicht vergehen will‹. tionalistischen und strukturalistischen Ansätze zum Dritten Reich unmittelbar mit der »kollektiven Zugehörigkeit« des Historikers verknüpft. Seine These, dass sich deutsche Historiker eher auf die »Umstände« des Holocaust konzentrieren, jüdische dagegen aufgrund ihrer »kollektiven Zugehörigkeit« auf die dahinter liegenden »Motive«, ist problematisch, weil sowohl der intentionalistische als auch der strukturalistische Ansatz von deutschen Historikern entwickelt wurde. Vgl. dazu auch Diner (1997, bes. S. 308f.). 10. Zum Gebrauch und Missbrauch des Traumabegriffs siehe Kansteiner (2004). 281

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Gleichwohl liefern uns Noltes zutreffende Charakterisierungen keine klaren Antworten auf die Fragen, welche Aspekte der Nazivergangenheit von den deutschen Historikern als katastrophal empfunden wurden und warum genau die Nazivergangenheit nicht ›vergehen‹ will. Noltes eigene, im ›Historikerstreit‹ vorgebrachte Antworten auf diese Fragen sind meiner Meinung nach sowohl unhaltbar als auch anstößig.11 Ich möchte daher andere Antworten auf die beiden Fragen vorschlagen und tue dies anhand dreier Thesen. 1. Meine erste These ist, dass der Holocaust in der deutschen Geschichtsdebatte unterschwellig mit der deutschen Katastrophe verknüpft worden ist, also mit dem Verlust der staatlichen Unabhängigkeit und nationalen Einheit Deutschlands nach 1945 als Folge der militärischen Niederlage. Beide Katastrophen wurden von deutschen Historikern – insbesondere solchen mit rechter Gesinnung – sozusagen als vergleichbare Phänomene betrachtet, zwischen denen ein Gleichgewicht bestand und die einander in diesem Sinne ausglichen. In dieser Sichtweise hatten Juden und Deutsche folglich eine entscheidende Gemeinsamkeit: Beide waren die Hauptopfer des Zweiten Weltkriegs. Zwar war diese unterschwellige Verknüpfung der beiden Katastrophen auch einem zeitbedingten Erosionsprozess unterworfen, aber dennoch überlebte sie die Wiedervereinigung von 1990. 2. Meiner zweiten These zufolge ist die scheinbar zentrale Rolle des Holocaust in der deutschen Geschichte der letzten Jahrzehnte irreführend, denn der Holocaust ist eher Bezugsobjekt als Forschungsgegenstand gewesen. Das bemerkenswerteste Phänomen der deutschen Geschichtsdebatte in der jüngsten Zeit ist die Präsenz des Holocaust durch seine Abwesenheit oder, anders ausgedrückt, seine Verdrängung, die symptomatisch für seinen traumatischen Wert ist.12 Anzeichen dieser Verdrängung sind die Phänomene der Abspaltung und Projektion, die sich sowohl in den öffentlichen Auseinandersetzungen, als auch in den professionellen Debatten der Historiker beobachten lassen. Die Verdrängung war zwar nie vollständig, wie Helmut Dubiel und Jeffrey Herf kürzlich dargelegt haben, doch sie war das beherrschende Merkmal der deutschen Geschichtsdebatte seit 1945. Wir können sie daher für eine erste, allgemeine Charakterisierung heranziehen. 3. Meine dritte These lautet, dass die Verdrängung des Holocaust in der deutschen Geschichte zwar stets vorhanden war, gleichzeitig aber auch einen substantiellen Veränderungsprozess durchgemacht hat, der in erster Linie mit der Zeit zusammenhängt. Die speziellen 11. Hierzu Lorenz (2004). 12. Vgl. LaCapra (1994, bes. S. 43-69 und 205-225) sowie Dubiel (1999). 282

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Formen der Verdrängung des Holocaust sind in erster Linie durch die aufeinander folgenden Generationen beeinflusst worden, ihr Einfluss war weitaus bedeutender als der von politischen Ideologien und Zugehörigkeiten (Rechte gegen Linke, vereinfachend gesagt). Die allgemeine Tendenz bestand in einer Entwicklung von einer fast vollständigen Verdrängung zwischen 1945 und 1965 – der Zeit, als die Tätergeneration noch selbst die Macht innehatte –, zu einer partiellen Form der Verdrängung, als die Macht auf die Kinder der Tätergeneration überging. Doch erst als die Enkel der Tätergeneration auf der historischen Bildfläche auftauchten – ungefähr ab 1990 –, begann diese partielle Verdrängung einer mehr oder weniger offenen Haltung Platz zu machen. Allerdings gibt es neben dieser neuen ›Offenheit‹ auch weiterhin Formen der Verdrängung in den älteren Generationen. Ich will nun meine Interpretation dadurch begründen, dass ich Argumente für jede meiner drei Thesen vorbringen werde.

1. Die Verknüpfung der deutschen mit der jüdischen Katastrophe Die Mehrzahl der deutschen Historiker aus der Gründergeneration der BRD verwandten in den ersten zwanzig Jahren nach 1945 ihre Kräfte darauf, die moderne deutsche Geschichte von der ›Nazikatastrophe‹ zu ›befreien‹. Ihr fundamentales historiographisches Anliegen war die Legitimität und Normalität des Nationalstaats Deutschland seit 1871. Nach ihrem Verständnis bedeutete die ›Nazikatastrophe‹ in erster Linie die militärische Niederlage Deutschlands und ihre Folgen, d.h. den Verlust der staatlichen Unabhängigkeit, die Teilung Deutschlands und den Verlust der Ostgebiete – und somit also nicht die jüdische Katastrophe.13 Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Katastrophe in der deutschen Geschichtsschreibung lief also zwei Jahrzehnte lang im Wesentlichen auf eine »Suche nach der verlorenen Nation« hinaus, wie Sebastian Conrad treffend bemerkte.14 Im vorherrschenden historiographischen Diskurs, der sich um den Nationalstaat drehte, blieben die Juden nach 1945 somit fast zwei Jahrzehnte lang praktisch stumm. Symptomatisch für diese Selbstbezogenheit waren die Diskussionen, die deutsche Historiker in der Nachkriegszeit bald über den ›Vater‹ des deutschen Nationalstaats, Otto von Bismarck, in Gang brachten. Auf unterschiedliche Weise versuchten Historiker wie Ger13. Siehe Moeller (1996); Hughes (2000); Moeller (2000). 14. Conrad (1999). 283

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hard Ritter, Hans Rothfells oder Ludwig Dehio, Deutschland in ein Schema der allgemeinen europäischen oder Weltgeschichte einzuordnen. Auf diese Weise sorgten sie für eine Normalisierung Deutschlands und nahmen Bismarck und seine Schöpfung vor der weit verbreiteten Kritik der Alliierten an einem Militarismus, der innerhalb von drei Jahrzehnten zu zwei Weltkriegen geführt hatte, in Schutz. Die großzügige Verwendung erklärender Kategorien wie Katastrophe (Meinecke), Schicksal oder Dämonie der Macht (Ritter) und der Gebrauch von Vulkanmetaphern für die Politik (Dehio) ging systematisch mit der Ausklammerung sämtlicher Fragen nach der deutschen Verantwortung einher. Die Zuflucht zu anonymen Strukturen (Schieder/Conze), angeblich kennzeichnend für die ›moderne Massengesellschaft‹ im Allgemeinen, hatte denselben Effekt15 (genauso wie später die Zuflucht zum anonymen ›Kapitalismus‹ und zur abstrakten ›Moderne‹). Im vorherrschenden, um den Nationalstaat kreisenden historiographischen Diskurs in Deutschland waren die Juden somit nach 1945 fast zwei Jahrzehnte lang praktisch nicht vorhanden.16 Friedrich Meineckes 1946 veröffentlichtes Buch Die deutsche Katastrophe liefert das deutlichste Beispiel für die deutsche Sicht der Katastrophe. Das ganze Buch ist im Grunde eine Apologie für den deutschen Geist und die Nation, die so viel unter Hitler und dem Naziregime zu erleiden hatten. Meinecke fürchtete die Identifizierung Deutschlands mit dem Nazismus durch die siegreichen Alliierten und die daraus resultierenden Folgen. Daher betonte er den nahezu völlig un-deutschen Charakter des Nazismus. An einigen Stellen legt er sogar nahe, die Alliierten hätten mit dem Sieg über Nazideutschland den gemeinsamen Feind der ›europäischen Kultur‹ besiegt und eigentlich bloß eine Aufgabe zu Ende gebracht, mit deren Erledigung die Deutschen selbst zugange waren. Diese Berufung auf das gemeinsame europäische Erbe der Deutschen und der westlichen Alliierten sollte auch vierzig Jahre später noch von Andreas Hillgruber in Anspruch genommen werden.17 Meinecke verwendete einen Großteil seiner Energie darauf, die jüngsten und bevorstehenden Katastrophen zu skizzieren, die die Deutschen bedrohten. Er verwies auf die »Katastrophe von Stalingrad« und auf die Bedrohung einer ›völligen Vernichtung‹ der Deutschen in Osteuropa unter der Roten Armee. Die jüdische Katastrophe, die 1944 praktisch vollständig war, blieb in Meineckes Buch abwesend. Dasselbe gilt im Wesentlichen auch für den politischen Diskurs in Deutschland, trotz Herfs berechtigtem Hinweis auf das Bestehen einer Minderhei-

15. Siehe Kwiet (1989). Zu Conze und Schieder s. Chun (2000). 16. Kwiet (1989, S. 195f.). 17. Hillgruber (1986). 284

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tentradition der offenen Aussprache über die Juden und ihr Schicksal.18 Im Großen und Ganzen blieb nach 1945 der deutsche Nationalstaat der fundamentale Bezugsrahmen für die deutsche Geschichtsschreibung ebenso wie für die deutsche Politik, so wie es auch vor 1945 der Fall gewesen war. Das heißt nicht, dass es in den ersten zwanzig Jahren nach dem Krieg überhaupt keine Forschung zum Holocaust gab, sie war nur sehr selten. In der historiographischen Praxis bedeutete die im Nachkriegsdeutschland übliche Bezugnahme auf den Holocaust als »unaussprechliche Verbrechen«, »im Namen Deutschlands begangen«, also im Grunde Stillschweigen über die deutschen Täter und ihre jüdischen Opfer und jede Menge Schriften über die problematische Normalität »Deutschlands«.19 Alles in allem wurde die deutsche Katastrophe bis 1965 von deutschen Historikern als wesentlich wichtiger empfunden als die jüdische Katastrophe. Ihr Hauptgefühl war Selbstmitleid, nicht Mitleid für andere. Hierin lagen die deutschen Historiker völlig auf einer Linie mit dem allgemeinen politischen Klima in der BRD, in der die finanziellen Entschädigungsleistungen der früheren Nazis und anderer ›Opfer der alliierten Siegerjustiz‹ viel wichtiger waren als die Entschädigung der Naziopfer. Die Kategorie der Opfer wurde häufig so ausgeweitet, dass sie auch diejenigen einschloss, die im Dienst in der Wehrmacht gestorben waren. In Andreas Hillgrubers 1986 veröffentlichtem Buch Zweierlei Untergang wird diese Sicht in Reinform kodifiziert. Hillgruber stellt darin die »katastrophalen« Schicksale der deutschen Bevölkerung (einschließlich der Wehrmacht) während des Krieges und die der Juden in getrennten Kapiteln einfach nebeneinander. Der Autor zieht keinerlei direkte Verbindung zwischen den beiden und erhebt den Verlust der deutschen Ostgebiete zur ›wohl gravierendste[n] Kriegsfolge‹. Durch diese Verknüpfung der deutschen mit der jüdischen Katastrophe lässt sich meiner Ansicht nach die bemerkenswerte Tatsache erklären, dass die Intensität der Auseinandersetzungen über den Holocaust in Deutschland nach der Wiedervereinigung zugenommen hat und nicht abgenommen, wie von den meisten informierten Beobachter der deutschen Szene erwartet. Diese Zunahme ist paradox, denn normalerweise kühlt sich die Temperatur der Vergangenheit im Laufe der Zeit ab. Mit dem Holocaust scheint es dagegen genau umgekehrt zu

18. Herf (1999, S. 9-14). 19. Sebastian Conrad weist zurecht darauf hin, dass die vielfach festgestellte Verdrängung der Nazivergangenheit durch deutsche Historiker lediglich für die selektive Art der Behandlung des Themas gilt und nicht bedeutet, dass es gänzlich vermieden wurde (1999, S. 135, 160 und 215). Vgl. zu den politischen Debatten Dubiel (1999, S. 40). 285

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sein: Die Temperatur dieser Vergangenheit scheint mit der Zeit gestiegen zu sein, zumindest nach der Phase der fast vollständigen Verdrängung zwischen 1945 und 1965. Meine Erklärung für diese paradoxe Tatsache ist, dass die deutsche Katastrophe durch die Wiedervereinigung von 1990 ›annulliert‹ wurde, die jüdische aber nicht. Mit anderen Worten, durch die Rückkehr zum vereinten Nationalstaat verloren die Deutschen ihren Opferstatus, indem sie zur ›normalen‹ Geschichte zurückkehrten, nicht aber die ermordeten Juden. Der Kompensationsmechanismus, der die deutsche Katastrophe seit 1945 mit der jüdischen verknüpft hatte, hörte mit der deutschen Wiedervereinigung auf zu funktionieren. Seit 1990 blieb der Holocaust die einzige dauerhaft mit der Nazizeit verknüpfte Katastrophe, mit der sich Deutschland und die Deutschen auseinander zu setzen hatten, sogar noch in der zweiten Nachkriegsgeneration. Darüber hinaus war Deutschland, nachdem es keinen Opferstatus mehr für sich in Anspruch nehmen konnte, plötzlich gezwungen, sich nun mit seinem Status als Täternation zu beschäftigen. Nur dadurch konnte ein mäßiges Buch wie Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker eine derartige Wirkung in Deutschland haben. Und nur dadurch konnte die ›Wehrmachtsausstellung‹ ein so großes öffentliches Ereignis werden.

2. Die Präsenz des Holocaust durch seine Abwesenheit Meiner zweiten These zufolge ist die scheinbare Schlüsselstellung des Holocaust in der deutschen Geschichte von 1965 bis 1990 irreführend, da der Holocaust lange Zeit eher Bezugsobjekt als Forschungsgegenstand war. Das bemerkenswerteste Phänomen der deutschen Geschichtsdebatte in der letzten Zeit ist die Präsenz des Holocaust durch seine Abwesenheit, mit anderen Worten, seine Verdrängung, die symptomatisch für seinen traumatischen Wert ist. Dieser traumatische Wert manifestiert sich im Wesentlichen in drei Mechanismen. Der erste Mechanismus ist die Abspaltung, durch die Schuld und Verantwortung für die ›unaussprechlichen Verbrechen‹ ganz auf Hitler, die nationalsozialistische Elite und die SS übertragen wurden. Die politische Führung wurde von der deutschen Nation abgespalten. Entscheidend bei diesem interpretatorischen Vorgehen war, dass auch die ›saubere‹ Wehrmacht, etwa achtzehn Millionen Deutsche, vom Naziregime abgespalten werden musste, um sie als ›Verführte‹ und als Opfer der Nazis darstellen zu können. Die Abspaltung war auf diesen Deutungsschritt angewiesen und bewirkte, dass Deutsche den Opferstatus für sich beanspruchten. Der Widerstand gegen eine Veränderung dieser Sichtweise ist im Zuge der (ersten) Wehrmachtausstellung 1995 noch einmal deutlich geworden. Der zweite Mechanismus ist die Projektion. Er zeigt sich in den 286

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vielfachen Ablehnungen der Kollektivschuldthese, also der Zuschreibung einer kollektiven Schuld aller Deutschen am Holocaust. Das Bemerkenswerte an dieser Ablehnung ist, dass sich die Deutschen hier gegen eine Anschuldigung wehrten, die niemand je ernsthaft vorgebracht hat. Die Anschuldigung ist folglich ein zwanghaftes Produkt der Vorstellung dessen, der sich in der Defensive befindet, auch wenn Aleida Assmann kürzlich die These vertreten hat, dass es eine reale Grundlage für diese Vorstellung gab. Derselbe Mechanismus ist am Werk, wenn die Verantwortung für den Holocaust auf andere projiziert wird – etwa auf die Kommunisten, die Juden selbst oder die Sowjetunion, wie bei Ernst Nolte im Historikerstreit und auch danach. Dieser Argumentationstyp wird traditionell in irgendeiner Form der Präventivkriegsthese verpackt. Der dritte Mechanismus ist die Relativierung durch Aufrechnung. Er läuft darauf hinaus, dass die Leiden der Deutschen durch andere gegen die Leiden, die anderen durch Deutsche zugefügt wurden, abgewägt werden. Die massiven zivilen Verluste infolge der Bombardierung durch die Alliierten und die Vertreibung von Deutschen in Ost- und Südosteuropa durch die Rote Armee werden mit dem massenhaften Tod von Zivilisten durch die Nazis verrechnet. Die annähernde Gleichzeitigkeit der Debatten um das Holocaust- und das Vertriebenen-Mahnmal ist hierfür das aktuellste Beispiel. Alle drei Verdrängungsmechanismen lassen sich in der deutschen Geschichtsschreibung wie in öffentlichen Debatten über die Nazivergangenheit bis zum heutigen Tag beobachten, auch wenn sie mit der Zeit immer schwächer werden. Ab den 1960er Jahren begannen immer mehr Deutsche eine abstrakte und generelle Verantwortlichkeit für die Naziverbrechen und ihre Folgen anzuerkennen. Der Hauptauslöser für die Veränderung waren die Eichmann- und Auschwitzprozesse. Im Allgemeinen wurde die Frage nach den konkreten Tätern und Vernichtungslagern von deutschen Historikern allerdings vermieden, da sie sich hauptsächlich auf das Schicksal deutscher politischer Gefangener konzentrierten, die in Konzentrationslagern eingesperrt waren, aber nicht in die Vernichtungslager kamen.20 Die Sicht der nicht-deutschen Opfer blieb weiterhin größtenteils unbeachtet. Es ist ganz typisch für die bundesrepublikanische Geschichtsschreibung, dass der Holocaust somit als eine Art Hintergrund des Dritten Reichs behandelt wurde, als impliziter Bezugspunkt, aber nicht als ein grundlegendes und zentrales Merkmal dieses Systems. Martin Broszat sollte später, in seinem Briefwechsel mit Saul Friedländer, die fundamentale »Exzentrizität« des Holocaust in der deutschen Geschichte und Geschichtsschreibung mit einer »objektiven« Forderung 20. Herbert (1992, S. 71f.). 287

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nach der »historischen Methode« rechtfertigen: Da der Holocaust den meisten Deutschen während des Krieges nicht bewusst gewesen sei, dürften die Historiker ihn nicht im Nachhinein zum zentralen Ereignis und zentralen Merkmal Nazideutschlands machen.21 Der Holocaust wurde also – außerhalb eines kleinen Kreises von Spezialisten – immer noch als abstraktes, »unaussprechliches Phänomen« behandelt, das identifiziert, aber nicht erforscht und analysiert wurde. Dieses bemerkenswerte Phänomen, das ich als Präsenz durch Abwesenheit bezeichnen möchte, ist typisch für die Hauptfelder der modernen deutschen Zeitgeschichte von den 1960er bis 80er Jahren: die Auseinandersetzung über den Untergang der Weimarer Republik, die Auseinandersetzung über den deutschen Sonderweg und die Auseinandersetzung über die Struktur des nationalsozialistischen Staats zwischen Intentionalisten und Strukturalisten.22 Die Auseinandersetzung über den Untergang der Weimarer Republik war im Wesentlichen eine Auseinandersetzung über den Aufstieg der Nazidiktatur und bezog daher ihre logische Grundlage und ihre Intensität aus dem, was nicht diskutiert wurde. Dasselbe gilt für die Auseinandersetzung über den deutschen Sonderweg – die besondere Geschichte Deutschlands nach 1871 –, die mit der Fischer-Kontroverse 1961 begann.23 In dieser Sonderwegsdebatte kam das Vorgehen Nazideutschlands auf indirektem Weg dadurch aufs Tapet, dass seine Kontinuität zum Kaiserreich diskutiert wurde. Auch hier rührten die logische Grundlage und die Intensität der Diskussion wieder aus dem, was nicht diskutiert wurde. Das deutsche Kaiserreich und der Erste Weltkrieg fungierten im Grunde als »historiographische Stellvertreter« für Nazideutschland und den Zweiten Weltkrieg. Dieser bemerkenswerte Transfer von Nazideutschland auf das deutsche Kaiserreich und die Weimarer Republik mag erklären, warum die deutschen Historiker einen Großteil ihrer Energie auf das Nachzeichnen des vermutlich langen »Wegs nach Auschwitz« vor 1918 verwandten, anstatt auf ›Auschwitz‹ selbst. Einen ganz ähnlichen historiographischen Energietransfer vom Holocaust auf dessen Kontext kann man sogar bei der Auseinandersetzung über die Struktur des nationalsozialistischen Staats selbst beobachten. Das Bezeichnende sowohl der intentionalistischen wie der strukturalistischen Interpretationen ist paradoxerweise, dass die eigentliche Praxis des Massenmords mehr oder weniger außen vor gelassen wird. Ulrich Herbert bemerkt dazu: »Attention to the mass murder 21. Broszats eigene Haltung zum Nationalsozialismus – einschließlich seiner Mitgliedschaft in der NSDAP – sorgte 2003 für einige Kontroversen. Vgl. Berg (2003, S. 568663). 22. Siehe Sabrow/Jessen/Große Kracht (2003). 23. Der Umstand, dass auch Fischer seine persönliche Beteiligung am Nationalsozialismus ›frisiert‹ hat, ist kürzlich von Klaus Große Kracht (2003) aufgedeckt worden. 288

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itself, to the direct perpetrators and their victims was viewed as unworthy of scholarly treatment and even as ›voyeuristic‹ (as Hans Mommsen has characterized it).«24 Alles in allem nahmen die deutschen Historiker, die sich der schwierigen Frage »Wie war ES – der Holocaust – möglich?« widmeten, dieses ES als gegeben hin. Der Wechsel von der Generation der zwischen 1900 und 1910 geborenen Täter – der Generation Schieders, Conzes oder Erdmanns – zur Generation ihrer zwischen 1930 und 1940 geborenen Söhne und Töchter – den Mommsens, Broszat, Wehler usw. – hat offenbar nicht ausgereicht, um hier eine grundsätzliche Veränderung zu bewirken. Zwar setzten die Historiker der späteren Generation das Dritte Reich auf die geschichtswissenschaftliche Tagesordnung und unternahmen zum Teil ausgiebige Forschungen in dieser Richtung, aber sie forschten im Großen und Ganzen kaum über die eigentliche Durchführung des Holocaust außerhalb von SS und SD. So paradox es scheinen mag, brachten all die Diskussionen über ›Faschismus‹ in den 70er Jahren die empirische Forschung zum ›Faschismus‹ beinahe zum Stillstand. Dies verleiht Herberts Idee einer zweiten Verdrängung der Nazivergangenheit im Gewand der permanenten Diskussion darüber einiges an Glaubwürdigkeit. Nur diese ›Abwesenheit‹ vermag zu erklären, warum die deutschen Historiker den Erfolg von Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker sowohl als Schock als auch als Versagen empfinden konnten; und nur diese ›Abwesenheit‹ erklärt die bezeichnende Tatsache, dass bekannte Intellektuelle wie Habermas oder Reemtsma die Wirkung von Goldhagens berüchtigtem Buch auf die Debatte in Deutschland begrüßten und gleichzeitig kein Wort über seine wissenschaftliche Qualität verloren.25 Vielleicht ist die Erklärung für diese ›Abwesenheit‹ in dem Umstand zu suchen, dass die meisten bundesrepublikanischen Historiker jener ersten Nachkriegsgeneration psychologisch immer noch nicht in der Lage waren, den schrecklichen Taten der Elterngeneration ins Auge zu sehen. Die verständliche Vermeidung einer direkten Konfrontation mit Gräueltaten, die von unmittelbaren Verwandten begangen wurden – das von vielen Angehörigen dieser Generation in Interviews geäußerte Nichtdurchhaltenkönnen und das Nichtertragenkönnen –, ist möglicherweise eine Erklärung für die Vermeidung des Holocaust und die Tendenz zu seiner Abstrahierung in der Geschichtsschreibung.

24. Herbert (1999, S. 42). Siehe auch Bessel (2003). 25. Vgl. meine Kritik in Lorenz (2002). 289

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3. Zweierlei Katastrophe und die Generationenfolge Ich habe in meiner bisherigen Argumentation darzulegen versucht, dass die Generationenfolge uns die plausibelste Erklärung für die sich verändernde Art und Weise liefert, in der sich deutsche Historiker mit den beiden aus der Nazizeit resultierenden Katastrophen auseinandergesetzt haben. Der Begriff der Generation ist in diesem Zusammenhang hilfreich, liefert er uns doch eine gewisse Periodisierung und Bezugspunkte, die die Veränderungen bei der Beschäftigung mit der Nazivergangenheit greifbar machen. Ich habe ganz grob drei Generationen unterschieden, die drei typischen Arten des Umgangs mit dem Trauma der nationalsozialistischen Geschichte entsprechen. Die erste Phase geht von 1945 bis ungefähr 1965 und endet mit den Auschwitzprozessen. In dieser Zeit war die Tätergeneration sowohl innerhalb wie außerhalb der Historikerzunft noch an der Macht. Damit meine ich Historiker wie Ritter, Schieder, Conze und Erdmann, die zwischen 1900 und 1910 geboren wurden und somit während der Naziherrschaft schon erwachsen und aktiv waren. Die Phase 1945-1965 ist durch eine fast völlige Verdrängung der jüdischen Katastrophe gekennzeichnet; diese Generation war vielmehr auf ihre eigene, deutsche Katastrophe fixiert. In der Geschichtsschreibung dieser Generation können wir die reinsten Zeichen von Verdrängungsmechanismen entdecken, wie Abspaltung, Projektion und Aufrechnung. Dubiel schlägt eine Deutung in dieser Richtung vor. Für ihn war Deutschlands Schuld einfach zu groß, um nach dem Krieg von den Deutschen akzeptiert werden zu können.26 Weil die Deutschen nicht in der Lage waren, die Schuld und Verantwortung für den Holocaust anzuerkennen, konnten sie auch die nationalsozialistische Geschichte nicht als ihre eigene betrachten. Anstatt die Nazigeschichte als ihre – deutsche – Geschichte zu übernehmen, suchten sie Zuflucht in Ersatzidentitäten, in Identifikationen mit ihren Opfern oder ihren Bezwingern. Darauf liefen der Antitotalitarismus in der BRD und der Antifaschismus in der DDR vier Jahrzehnte lang praktisch hinaus. Dubiel weist darauf hin, dass die Interpretation des Nationalsozialismus als eine Form des Totalitarismus die Deutschen sowohl in die Lage versetzte, die BRD von der Nazizeit abzugrenzen, als auch die Nazivergangenheit zu kompensieren, indem man gegen die »andere Form der totalitären Diktatur«, d.h. den Kommunismus, zu Felde zog, Seite an Seite mit den siegreichen Amerikanern. Mit dieser Interpretation untrennbar verbunden war auch die Legende, die Weimarer Demokratie sei von einer Allianz aus »braunen« und »roten Faschisten« gestürzt worden, womit die historische Rolle der deutschen Eliten als denjenigen, die Hitler zur politischen Macht verhalfen, ver26. Siehe Dubiel (1999, S. 286). Siehe auch Bartov (1997, S. 164). 290

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schleiert und entlastet wurde.27 Im Antifaschismus der DDR entstand eine ähnliche Geschichte, dank der die Ostdeutschen sich von ihrer Vergangenheit distanzieren und sich mit dem anderen Sieger, der Sowjetunion, identifizieren konnten. Nach über drei Jahrzehnten der Verdrängung kann man ab den 1980er Jahren das Entstehen eines echten öffentlichen Holocaust-Diskurses in Deutschland beobachten, in dem die deutsche Identität teilweise sogar als Identität der »Holocaust-Nation« neu formuliert wurde, die eine »gespaltene« Existenz in zwei Staaten als Strafe für den Holocaust verdiene. Weil auch viele Juden innerhalb wie außerhalb Israels in zunehmendem Maße ihre Identität in Bezug auf den Holocaust neu definiert hatten, prägte Dan Diner in diesem Zusammenhang den Begriff der »negativen Symbiose« zwischen Deutschen und Juden.28 Zur selben Zeit trat die deutsche Katastrophe aufgrund des wirtschaftlichen Erfolgs der BRD und der erfolgreichen Ostpolitik, die zur Anerkennung der DDR führte, völlig in den Hintergrund. Eine zunehmend schwindende Anzahl von Deutschen sehnte sich noch nach Schlesien. Und dann ereignete sich plötzlich das politische Erdbeben von 1989, das die politischen Koordinaten der Nachkriegsära in bis dahin unvorstellbarer Weise veränderte. Nach der unerwarteten Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 löste sich eine der beiden Katastrophen – die deutsche – ebenso unerwartet in Luft auf. Der Schlussstrich unter die Nazivergangenheit, der seit 1945 so oft gefordert worden war, erschien nun plötzlich als Geschenk der Geschichte selbst. Die Vereinigung bewirkte so eine grundlegende Koordinatenverschiebung in der deutschen Debatte. Staat und Nation stellten nun, da die beiden deutschen Nationalstaaten vereinigt waren, nicht länger die fundamentalen Probleme dar, die den Großteil der deutschen Historiker seit 1945 beschäftigt hatten – außer für einige wenige radikale Rechte, die sich nach wie vor nach einem selbstbewussten deutschen Machtstaat sehnten. Infolgedessen besteht die »Last der Nazigeschichte« nach 1990 nur noch aus einer Katastrophe, und zwar der jüdischen. Dieser völlig neue Umstand mag erklären, warum die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Erbe in Deutschland nach 1990 stetig zu- statt abgenommen hat. Unverhofft stolperte die neue, vereinte deutsche Republik von einer Holocaustdebatte zur nächsten. Die nach Goldhagen, Walser und Bubis sowie Peter Sloterdijk benannten Debatten, dazu die Mahnmal- und die Wehrmachtsdebatte, überlagerten sich regelrecht, ganz zu schweigen von den Diskussionen über Nazigold, Lebensversicherungspolicen und die Entschädigung für Zwangsarbeiter. Die Folge dessen, was 1990 als »Endlösung des deutschen Problems« erschien, war daher paradoxerweise, dass die »Endlö27. Dubiel (1999, S. 121). 28. Diner (1987). Siehe auch Zuckermann (1998) und Wolffson (2004). 291

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sung des jüdischen Problems« näher an die deutsche Gegenwart gerückt ist, als jemals seit1945. Man ist versucht, dieses bemerkenswerte Phänomen als Wiederkehr des Verdrängten zu interpretieren. Die drei großen Debatten nach 1990 scheinen den Eindruck einer schwindenden Distanz zur Nazivergangenheit und einer zunehmenden Offenheit der deutschen Historiker in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu bestärken. Der Historikerstreit von 1986-87 kann als letzter großer Versuch des konservativen Lagers innerhalb der deutschen Historikerzunft betrachtet werden, die jüdische Katastrophe wegzuschieben und die deutsche Katastrophe auf der Tagesordnung zu behalten.29 Sie versuchten dies bekanntlich, indem sie den Holocaust in die »vergleichende Genozidforschung« überführten und die Verantwortung für den Holocaust auf die Sowjetunion projizierten, womit sie ein bezeichnendes Beispiel für die alten Mechanismen des Leugnens und der Projektion lieferten. Wie wir wissen, ist dieser Versuch gescheitert. Die Goldhagen-Debatte ein Jahrzehnt später könnte man als eine verspätete Antwort auf die entscheidende Frage betrachten, die im Historikerstreit nicht gestellt worden war: die Frage »Wer waren die Täter – des Holocaust – außer SD und SS?« Zwar wurden im Historikerstreit sämtliche Energien auf die Erörterung der »Singularität« des Holocaust verwendet, doch die eigentlichen Täter wurden aus der Diskussion herausgehalten. Goldhagen stellte somit eine entscheidende Frage im Kontext der deutschen Debatte, nämlich: »Wer hat ES eigentlich getan?« Seine Antwort auf diese Frage, »Es waren die gewöhnlichen Deutschen, denn vor 1945 waren alle Deutschen geborene Antisemiten«, war natürlich stark vereinfachend und daher falsch. Nichtsdestotrotz machte die um diese falsche Antwort entstandene Debatte sehr deutlich, dass die deutschen Historiker der Suche nach der richtigen Antwort nicht allzu viel Zeit eingeräumt hatten. Die Polizeieinheiten, über die Goldhagen geforscht hatte, waren vorher kaum untersucht worden, ebenso wenig wie die Todesmärsche. Die Beteiligung der angeblich ›sauberen‹ Wehrmacht am Holocaust hat, wie Omer Bartov unlängst feststellte, lange Zeit den Status eines absoluten Tabus bewahrt.30 Die Wehrmachtsausstellung, die sich gegen eine Abspaltung der ›sauberen‹ Wehrmacht von der ›schmutzigen‹ SS und eine Heroisierung des militärischen Widerstands gegen Hitler wandte, kann somit als logische Folge der Goldhagen-Debatte betrachtet werden.31 Aber auch hier fällt die Bilanz widersprüchlich aus. Tatsache ist, dass viele der anerkannten Spezialisten auf dem Gebiet der Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs der Erforschung der eigentlichen Tä29. Hillgruber (1986). 30. Siehe Heer (1996) und Bartov (1997, S. 170). 31. Siehe Gerlach (1996). 292

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ZWEIERLEI KATASTROPHE

ter des Holocaust immer noch aus dem Weg gehen. Die acht Bände von Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, enthalten nicht ein einziges Kapitel über die Beteiligung der Wehrmacht an der Ermordung der Juden, wie Bartov feststellt. Dasselbe gilt für die über drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die auf die eine oder andere Weise von der Wehrmacht getötet wurden. Nach Auffassung von Hannes Heer, der die zweite, neu gestaltete Wehrmachtsausstellung nicht mehr erlebt hat, hat die Rechtfertigungstendenz in Deutschland wieder die Oberhand gewonnen.32 Doch wenn der Schein nicht trügt, haben sich die Zeiten seit 1990 geändert. Eine jüngere Generation deutscher Historiker, vertreten durch Wissenschaftler wie Christian Gerlach, Ulrich Herbert, Dieter Pohl, Thomas Sandkühler oder Götz Aly, hat begonnen, die unbequeme Frage »Wer hat ES getan?« mit detaillierten Studien zur deutschen Besatzungspolitik in Osteuropa zu beantworten und die Vernichtungspolitik in dieses Bild mit einzubeziehen. Sie betonen die Verwobenheit von Kriegsführung, rücksichtsloser ökonomischer Ausbeutung der besetzten Gebiete zum Zwecke der Ernährung und Versorgung der deutschen Armee und Vernichtungspolitik gegen alle »unnützen Esser« in Verbindung mit der politischen Phantasie eines rassisch gesäuberten, deutsch beherrschten Ostens. Jene »unnützen Esser« waren nicht nur Juden, sondern auch 60 Prozent der sowjetischen Kriegsgefangenen, große Teile der russischen Zivilbevölkerung – in Weißrussland wurden etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung auf die eine oder andere Weise getötet –, Behinderte und diverse andere Gruppen von Menschen. Die Forschungen haben die enge Zusammenarbeit aller beteiligten deutschen Institutionen – militärisch wie zivil, auch in Bezug auf den Holocaust – offenbart und zeigen eine beunruhigende Anzahl von Initiativen auf allen politikgestaltenden Ebenen.33 Andere jüngere Historiker, wie Klaus Latzel und Ulrike Jureit, haben eine Rekonstruktion der Alltagserfahrung und des Weltbilds der Wehrmachtsgeneration unternommen und sich dabei als Primärquelle auf ihre Briefe gestützt. Auf diesem Weg versuchen sie unter anderem etwas über den Einfluss der Naziideologie auf gewöhnliche Deutsche herauszufinden. Sie gehen so über die üblichen Selbststilisierungen von Deutschen als den »ersten Opfern« des Nazismus hinaus und zurück zur Zeit des Krieges selbst. Das jüngste Interesse an der Geschichte der Deserteure ist ebenfalls ein Signal für den Wunsch, die althergebrachten Klischees aufzugeben und die »Grauzone« zwischen Tätern und Opfern zu erhellen.34 32. Heer (2003). Vgl. Herbert (1998). 33. Siehe Herbert (1998); außerdem Gerlach (1998). 34. Siehe Hettling (1999); Latzel (1999) sowie Jureit (1999, S. 7-75). 293

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4. Fazit Lassen sich aus dieser ernüchternden Analyse irgendwelche Schlüsse ziehen? Da mein Fazit aus meiner Analyse folgt, will ich meine drei Thesen abschließend noch einmal zusammenfassen. Nach These Nummer eins kann die Verknüpfung zwischen Holocaust und deutscher Katastrophe die bemerkenswerte Tatsache erklären, dass der Holocaust im vereinten Deutschland präsenter geworden ist, als jemals zuvor. Seit dem Verschwinden des deutschen »Gegengewichts« zum Holocaust – das heißt, der eigenen Katastrophe – ist der Holocaust in der öffentlichen Auseinandersetzung sozusagen »losgekettet«. Nach These Nummer zwei war der Holocaust in den deutschen Geschichtsdebatten präsent durch seine Abwesenheit, d.h. durch seine Verdrängung. Die zentrale Stellung des Dritten Reichs in diesen Debatten gilt nicht für den Holocaust, und die Einbindung von Täter- und Opferperspektiven ist nach wie vor offen. Nach These Nummer drei hat die Verdrängung des Holocaust einen substantiellen Veränderungsprozess durchgemacht, der mit der Generationenfolge verknüpft ist. Diese Veränderungen haben die Tabuisierung und das Schweigen nach und nach abgebaut und mittlerweile zu einer größeren Offenheit gegenüber der Geschichte des Dritten Reichs und zu einer eindrucksvollen Zahl von Forschungsprojekten geführt. Abspaltung und Projektion als Verdrängungsmechanismen verschwinden in der ernstzunehmenden deutschen Geschichtswissenschaft, und es entstehen neue Forschungsprojekte, die der Täterfrage nicht länger aus dem Weg gehen, sondern sie unmittelbar angehen. Naturalistische Metaphern von »Katastrophen«, »hitleristischen« Plänen und »anonymen Strukturen« tragen in der Geschichtsschreibung der zweiten Nachkriegsgeneration deutscher Historiker nicht mehr die Last der Erklärung. Dennoch haben auch heute noch viele Enkel der eigentlichen Tätergeneration große Probleme, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen, wie die jüngsten Debatten zeigen. Was wir in diesen Debatten erleben, ist wohl eine fortgeschrittene Phase des »Durcharbeitens« der Nazivergangenheit. Diese Phase unterscheidet sich von den vorhergehenden nicht nur durch das Eingeständnis, dass die Täter des Holocaust zur Generation der eigenen Väter und Großväter gehören und man sie deswegen verurteilt, sondern auch durch den Wunsch, sie zu verstehen.35 Auch das neu geweckte 35. Vgl. Diner (1987, S. 196) über das Dilemma der jüngeren Generation der Deutschen: »Die Empathie mit den Opfern scheint den Weg zu den Eltern zu versperren; und die Versöhnung mit den Eltern erweckt den Eindruck des Verrats an der Empathie mit den Opfern. Heute neigt sich die Gefühlswaage in Richtung Normalität, in Richtung von Versöhnung mit sich und der nationalen Geschichte.« 294

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ZWEIERLEI KATASTROPHE

Interesse am Leid der Deutschen während des Krieges muss unter diesem Aspekt betrachtet werden.36 Nach der anfänglichen völligen Verdrängung des Holocaust nach 1945 und der anschließenden partiellen Verdrängung während der 70er Jahre in Form einer vollständigen moralischen Verurteilung der gesamten Tätergeneration, oft in Verbindung mit einer ritualisierten Form der Identifikation mit den Naziopfern und der Betroffenheitskultur, ist diese relativ offene Haltung mit Sicherheit etwas Neues. Wir sollten wohl auch die Tatsache, dass eine Reihe von jüngeren deutschen Historikern die »Vergesslichkeit« ihrer intellektuellen Väter und Großväter auf die Tagesordnung gebracht hat, von diesem Standpunkt aus betrachten. Natürlich lassen sich auch Argumente für eine weniger optimistische Diagnose des gegenwärtigen Zustands der Berliner Republik vorbringen – wie dies zum Beispiel Omer Bartov und Moshe Zuckermann getan haben –, denn es gibt durchaus auch Phänomene, die auf eine weiterhin andauernde Verdrängung und ein öffentliches Wiederaufleben des deutschen Opferdiskurses in vielfacher Form hindeuten. Die bemerkenswerte Renaissance des »Totalitarismus« als Erklärungsmuster für »beide deutsche Diktaturen« oder der ebenso bemerkenswerte Eifer, Nazi- und DDR-Vergangenheit gleichzusetzen, weil beide derselben Art der Vergangenheitsbewältigung bedürften, sind typische Beispiele. Das gilt auch für den beachtlichen Zuspruch für Klemperers Tagebücher, Spielbergs Schindlers Liste oder Schlinks Der Vorleser.37 Die Initiative, in Berlin ein Vertriebenendenkmal als ›Ausgleich‹ für das Holocaust-Mahnmal zu errichten, die andauernde Beschäftigung mit der Normalität Deutschlands und der ständige Verweis auf Nazideutschland bei internationalen Konflikten in den 1990er Jahren (etwa im ersten Golfkrieg oder beim Vergleich Kosovo = Auschwitz) passen ebenfalls in dieses Bild. Allerdings ist »Normalität« natürlich immer ein relativer Begriff, und jedes Urteil über die deutschen Historiker und ihre Art des Umgangs mit dem Holocaust kann daher immer nur auf der Grundlage systematischer Vergleiche mit der historiographischen Art und Weise erfolgen, in der andere Staaten mit ihrer Beteiligung am Holocaust bzw. vergleichbar harten Prüfungen umgegangen sind. Dieses Vorha36. Ulrich Herbert hat ebenfalls die Generationszugehörigkeit der an den aufeinander folgenden Debatten über die Nazizeit beteiligten Historiker hervorgehoben. Siehe dazu Herbert (2003). 37. Siehe Zuckermann (1999, S. 103-127) und Bartov (2000). Bartovs Aufsatz beschäftigt sich mit dem beachtlichen Erfolg von Schlinks Der Vorleser in Deutschland. In dem Buch werden Deutsche aus der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, einschließlich der Hauptperson des Buches, eine ehemalige Lageraufseherin, als Opfer der »Umstände« dargestellt. Man kann den Roman und seinen öffentlichen Erfolg somit als Zeichen des Fortbestehens der nachkriegsdeutschen Tradition des Selbstmitleids sehen. 295

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ben hat noch kaum begonnen.38 Insgesamt dürfte Deutschland, was den aktuellen Punktestand in diesem historiographischen Wettbewerb angeht, wohl vergleichsweise gut abschneiden.39 Es ist jedenfalls, wie Jürgen Kocka auf dem Historikertag in Frankfurt 1998 sagte, »vermutlich leichter, den Großvater zu töten, als den Vater«. Ob das stimmt, und allem Anschein nach ist es so, wird die Zeit zeigen – unterstützt von einer neuen Historikergeneration. Aus dem Englischen übersetzt von Frank Born

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38. Siehe Lorenz (1999); Berger (1999); Conrad/Conrad (2003). 39. Siehe Conrad (1999) und Buruma (1994). 296

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DER MENSCH UND DIE GEWALT

Der Mensch und die Gewalt. Perspektiven der historischen Forschung Friedrich Jaeger

»Keinem, der dem Wesen der menschlichen Angelegenheiten, das sich in Geschichte und Politik manifestiert, nachdenkt, kann die Rolle, welche die Gewalt seit eh und je in den Beziehungen der Menschen zueinander gespielt hat, entgehen; und es ist auf den ersten Blick einigermaßen überraschend, daß sie so selten zum Gegenstand besonderer Untersuchungen gemacht wurde.«1 So angemessen diese Feststellung Hannah Arendts im Jahre 1970 auch gewesen sein mag, inzwischen zeigt sich die intellektuelle Szenerie gründlich gewandelt. Gewalt ist in nahezu allen kulturwissenschaftlichen Disziplinen der Gegenwart zu einem beherrschenden Thema geworden. In der Epoche Hannah Arendts jedoch brachte ihre zitierte Aussage eine Theorielandschaft auf den Punkt, in der ein die Nachkriegsgesellschaften des Westens prägender Prozess von Demokratisierung das Problem illegitimer Gewaltausübung zum Verschwinden zu bringen schien. Die Modernisierungstheorie der 60er und 70er Jahre stellt sich unter diesem Gesichtspunkt als eine gegenüber Gewaltphänomenen unsensible Gesellschaftskonzeption dar.2 Seither steht die Modernisierungstheorie im Ruf eines sunnyside-up-Konzepts des geschichtlichen Wandels, das die dunklen und gewaltsamen Begleitmomente der Moderne ausblendet und die Vielfalt und Differenz anderer Kulturen zugunsten eines an den Leitwerten des Westens orientierten und insofern naiven Fortschrittsbegriffs unterbelichtet. Richtig ist, dass die Modernisierungstheorie dieser Jahre auch angesichts der ungeheuren Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts weithin an einem evolutionistischen Fortschrittsparadigma festhielt, das es erlaubte, selbst extreme Gewaltphänomene durch Exterritorialisierung zur Bestätigung des eigenen Konzepts zu nutzen. Das bekann1. Arendt (1970, S. 12). 2. Als neuesten Abriss dieser modernisierungstheoretischen Tradition siehe jetzt Knöbl (2001). 301

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FRIEDRICH JAEGER

teste Beispiel dafür ist die Theorie des deutschen Sonderweges, der als negative Kontrastfolie den westlichen Normalfall der Modernisierung gegen Kritik immunisierte und den Anschein des gewaltzivilisierenden Charakters der Moderne zu retten versuchte. Die Annahme, dass der Prozess der Modernisierung einen allmählichen Übergang von gewaltsamen zu immer gewaltloseren Formen des Austragens von Interessenkonflikten und kultureller Differenz impliziere, hat sich angesichts der fortdauernden Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts – und inzwischen auch des beginnenden 21. Jahrhunderts – als falsch erwiesen. Dem entspricht, dass in den letzten Jahren die Sensibilität gegenüber Gewalt sowohl innerhalb, als auch zwischen den Kulturen zugenommen hat, und zwar auch im Kontext modernisierungstheoretischer Ansätze selbst.3 Am entschiedensten hat der Soziologe Hans Joas zuletzt dafür plädiert, die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts theoretisch ernst zu nehmen, um die fortschrittsmythischen Banalitäten der Vergangenheit zugunsten eines zukünftigen Verständnisses der Moderne überwinden zu können, das den Katastrophen unserer ferneren und näheren Vergangenheit angemessen ist.4 Das Theorieproblem besteht in diesem Zusammenhang darin, wie sich die kontinuierlich fortsetzenden Gewalterfahrungen der Moderne verstehen lassen, ohne in das Fahrwasser einer politischen Kulturkritik zu geraten, die schon immer wusste, dass man sich die Flausen einer zunehmenden Gewaltlosigkeit und einer zunehmenden Zivilisierung von Gewalt im Zuge von Modernisierung zugunsten eines machtpolitischen Realismus aus dem Kopf zu schlagen habe. Es wäre fatal, auf die Enttäuschung überschwänglicher Erwartungen von Gewaltlosigkeit zu reagieren, indem nun die Gewalt selbst zur heimlichen, aber universellen Grundstruktur der Moderne erklärt wird, eine Gewalt, die nicht enden will, sondern nur ständig neue Formen annimmt und ihre zerstörende Wirkung mit der Zunahme technischer Vernichtungspotentiale unendlich steigert. Zu plädieren ist daher für eine Rückbesinnung der Moderne auf die ihr eigenen Gewaltrisiken und Gewalterfahrungen jenseits dieser 3. In welcher Differenziertheit Gewalt zu einem Schlüsselthema der gegenwärtigen Sozialwissenschaften geworden ist, zeigen Renn/Straub (2002) in ihrem instruktiven Forschungsüberblick. 4. Joas (2000, S. 34ff.) – Joas akzentuiert in diesem Zusammenhang die Erfahrung, dass die Gewaltpotentiale der Moderne mit der ideologischen Verabsolutierung von Standorten steigen konnten und auch gestiegen sind. Dass sich Konflikte im Gefolge einer modernisierungsspezifischen Intensivierung und Verabsolutierung von Wertbindungen mit der Schärfe des Prinzipiellen aufladen, blieb der frühen Modernisierungstheorie in ihrer normativitätsgeladenen Identifikation von Modernisierung und Konfliktminimierung oder -zivilisierung weitgehend verborgen. 302

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DER MENSCH UND DIE GEWALT

beiden Extreme.5 Ein derartiges Bewusstsein von den Ambivalenzen und Kontingenzen des Modernisierungsprozesses hatte bereits die Klassiker der Soziologie ausgezeichnet, die – wie Max Weber etwa – bereits frühe Zweifel an den Fortschrittsversprechen der Moderne artikuliert und begründet haben.6 An dieses selbstreflexive Erbe der Moderne, das in der theoretischen Atmosphäre der Nachkriegszeit verloren gegangen ist, ist vor dem Erfahrungshintergrund neuer Gewalterfahrungen im Zusammenhang der Balkankriege, der Nord-Süd-Konflikte zwischen zweiter und dritter Welt, der religiösen Fundamentalismen und politischen Nationalismen der letzten Zeit anzuknüpfen, um ein angemesseneres Verständnis der Moderne zwischen Gewaltkontinuität und den Versuchen ihrer rechtlichen, politischen und sozialen Zivilisierung zu gewinnen. Angesichts dieser Herausforderung der gegenwärtigen Modernisierungstheorie kommt den kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen eine besondere Bedeutung zu, denn sie sind die Organe, die diese modernisierungstheoretische Selbstvergewisserung der Moderne vor allem zu leisten haben. Dies ist auch der Grund dafür, dass ich mich im Folgenden dem Gewaltproblem als einer Herausforderung der Modernisierungstheorie aus der konkreten Perspektive meiner eigenen Disziplin – der Geschichtswissenschaft – zuwenden möchte. Doch bevor ich dies tue, möchte ich im Interesse einer ersten Minimalbestimmung des Gewaltbegriffs zumindest fünf Aspekte nennen, die mir – in loser Anknüpfung an die neuere Gewaltsoziologie – wichtig zu sein scheinen: 1. Zunächst verstehe ich Gewalt als eine Praxis der Differenz. Damit ist jedoch keine Differenz im Sinne der individuellen Unterscheidung und des kulturellen Unterschieds gemeint, deren Anerkennung in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen seit der Epoche des Historismus als eine Grundvoraussetzung menschlicher Freiheit gilt. Gewalt als Differenz meint vielmehr die radikalste Form der Trennung, der Exklusion, des völligen Abbruchs von Verstehen und Verständigung. Eine Kulturwissenschaft, die sich der Gewaltfrage annimmt, ist daher auch ein Verstehen des Nicht-Verstehens, zumindest aber: des Nicht-Verstehen-Wollens, insofern auch Gewalt gegen Andere deren Identität, Orientierungen und Fähigkeiten ins Kalkül zu ziehen hat. 5. Siehe in diesem Sinne auch Miller/Soeffner (1996, S. 17): »Eine dritte mögliche grundlegende Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Moderne und Barbarei lautet: Das Projekt der Moderne erfüllt sich genau darin, daß sich die Moderne ihres Potentials an Barbarei bewußt wird und es in einem Zivilisierungsprozeß zu überwinden trachtet. […] Modernität impliziert eine Selbstdistanzierung der Moderne, ohne sie – das heißt ihre Zivilitätsstandards – preiszugeben.« 6. Zur Position Max Webers in diesem Kontext siehe Jaeger (1994, S. 182ff.). 303

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2. Als ein weiteres Element der Gewalt begreife ich, anknüpfend an Max Webers bekannte Unterscheidung zwischen Gewalt und Herrschaft, ihre strukturelle Illegitimität. Weber definiert Herrschaft als die »Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«. Macht dagegen nennt er »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«.7 Gewalt ist genau diese Machtchance bei ausbleibendem Gehorsam und fehlenden Legitimitätsgründen. 3. Gewalt ist im Sinne einer Verletzung von Menschen an einen untrennbaren Zusammenhang von Antun und Erleiden gebunden; sie gründet anthropologisch in der Verletzungsoffenheit von Menschen und kalkuliert bewusst mit diesen vielfältigen Formen menschlicher Versehrbarkeit.8 4. Diese Verletzungen durch Gewalt besitzen ein körperliches Moment: Sie zielen und wirken auf menschliche Körper. Aufgrund dieses physischen Bestimmungsmerkmals ist die neuere Gewaltforschung9 auch nicht Galtungs Theorieangebot der »strukturellen Gewalt« gefolgt, die im Sinne eines verallgemeinerten Gewaltverdachts alles als Gewalt definierte, was »die menschliche Selbstverwirklichung behindert«.10 Vielmehr manifestieren sich Gewaltverhältnisse in konkret identifizierbaren und zurechenbaren physisch-psychischen Effekten.11 5. Gewalt verfügt im Unterschied zu Versehrungen durch Unfälle, Fahrlässigkeiten und Schicksalsschläge über eine gleichzeitig positiv- oder negativ-intentionale Struktur: Sie besitzt verantwortliche Täter und leidende Opfer. Wer Gewalt ausübt, will sie begehen. Wer Gewalt erfährt, will sie vermeiden. Die Absichtlichkeit der Gewaltausübung schlägt sich in der spezifischen Mittelrationalität ihres Vollzugs nieder, die darauf zielt, anderen die beabsichtigte körperliche Versehrung auch wirklich anzutun. Allerdings muss der Wille des Gewalt ausübenden nicht als bewusste Absicht eines rationalen Akteurs im Sinne einer empirisch reifizierbaren Tatsache

7. Weber (1976, S. 28). 8. Siehe hierzu aus der neueren Gewaltsoziologie Popitz (1992); Sofsky (1996). Ferner die Beiträge in von Trotha (1997). Siehe dort insbesondere Nedelmann (1997). 9. So etwa Lindenberger/Lüdtke (1995). 10. Galtung (1975, S. 17). 11. Unter dem Eindruck der neuen Konflikte zwischen dem Westen und der islamischen Welt stellt sich jedoch erneut und verschärft die Frage, ob es nicht doch strukturelle Formen von Abhängigkeit, Missachtung und Unterdrückung gebe – wie etwa die zwischen erster, zweiter und dritter Welt – die sich als Gewaltverhältnisse definieren lassen. Die Diskussion muss unter diesem Gesichtspunkt neu aufgerollt werden. 304

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vorgelegen haben. Es reicht, diesen Willen ex post facto als Bedingung sinnhaften Handelns rekonstruieren zu können. In diesem Falle handelt es sich um das Phänomen unbewusst-motivierter Gewalt. Bei diesen insgesamt fünf Elementen handelt es sich zunächst um eine noch abstrakt bleibende Minimalbestimmung von Gewaltphänomenen, die zunächst nur eine erste Eingrenzung des Objektbereichs erlauben soll. Ich möchte im Weiteren jedoch nicht dieser von der neueren Gewaltsoziologie gelegten Spur folgen, sondern stattdessen eine Konkretisierung des Phänomenbestandes vornehmen, indem ich mich in Form eines typologisierenden Zugriffs den Perspektiven zuwende, unter denen Gewalt in der historischen Forschung bislang hauptsächlich thematisiert worden ist. Dabei lassen sich ebenfalls fünf Aspekte und Schwerpunkte der historischen Gewaltforschung voneinander unterscheiden, die ich mit einigen exemplarischen Hinweisen auf Fallstudien oder Forschungstendenzen füllen möchte: 1. Lange Zeit ist die Geschichte der Gewalt fast ausschließlich als eine Geschichte des staatlichen Gewaltmonopols thematisiert worden, das die folgenreichste Antwort auf die herausfordernden Erfahrungen kultureller Differenz in den konfessionellen Bürgerkriegen der Frühen Neuzeit bildete. Im Zentrum dieses bislang wichtigsten Strangs der historischen Gewaltforschung stand die Bedeutung des Rechts, etwa der Menschen- und Bürgerrechte, sowie der Legitimität politischer Herrschaft als Instanzen der Zivilisierung von Gewalt.12 2. Mit der Wendung zur Sozialgeschichte seit den 60er Jahren hat sich die historische Gewaltforschung einer über die verfassungsrechtlichen oder staatspolitischen Aspekte von Gewalt hinausgehenden Dimension geöffnet. Man kann diese Entwicklung auch als den Schritt von der »potestas« zur »violentia«; von der staatlichen »power« zur gesellschaftlichen »violence« verstehen. Gewaltsame Normverletzungen, Protestaktionen und Tabubrüche durch soziale Gruppen, aber auch die gewaltsamen Reaktionen des Staates auf gesellschaftlich diffundierende Gewaltformen treten dabei ins Zentrum des Interesses. Die entsprechenden Beispiele für diese Entwicklung finden sich in der historischen Revolutionsforschung und in den Untersuchungen zur Geschichte sozialer Protestbewegungen, in der Kriminalitätsgeschichte, oder auch in der Geschichte

12. Als neuere Überblicksdarstellung siehe Reinhard (1999). Außerdem Münkler (1987). Als historische Detailstudien siehe Funk (1986); Knöbl (1995). – Als klassischen Beitrag aus der Epoche des Späthistorismus siehe zu diesem Thema Meinecke (1976). 305

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von Generationenkonflikten im Sinne bewusster Grenzüberschreitungen.13 3. Ein dritter Schwerpunkt der historischen Gewaltforschung hat sich in den letzten Jahren im Hinblick auf die exzessiven Elemente der Gewalt ergeben. Formen der menschlichen Gewaltausübung zeigen sich häufig durch eine Dynamik der Eskalation geprägt, die – einmal freigesetzt – eine nach oben offene Gewaltspirale in Gang zu setzen vermag. Die exemplarischen Paradigmen für diese Thematisierung exzessiver Gewalt finden sich in der neueren Kriegsgeschichte oder in den Arbeiten zu den nationalsozialistischen Einsatzgruppen, aber auch in Untersuchungen zur Geschichte der Hexenverfolgung, der Sklaverei und des Kolonialismus. In den Blick geraten dabei geschichtliche Phänomene, in denen menschliche Gewaltausübung unter Entkoppelung von etablierten kulturellen Schranken und Gewalthemmungen eine unvorhersehbare Exzessivität entfaltet hat und letztlich einer Logik des Massakers folgte.14 4. Ein viertes Erkenntnisinteresse der historischen Gewaltforschung zielt auf die spezifische Ritualität oder Performanz von Gewalt. Hier geht es um den expressiven und kulturellen Handlungssinn, der sich in ihrem Vollzug realisiert.15 Anhand von Ehrkonflikten in vormodernen Gesellschaften,16 aber auch am Beispiel der Todesstrafe als »Ritual der Vergeltung«17 und »Theater des Schreckens«18 oder am Beispiel des Duells als ritualisierter Form gewaltsamer Auseinandersetzung19 ist dieser performative Sinn von Gewalt inzwischen vielfach herausgearbeitet worden. 5. Schließlich geht es in zahlreichen Forschungsarbeiten um die Rolle der Gewalt in der Politik der Identitäten. Hier geht es etwa um die Bedeutung stereotyper Feindbilder als mentalen Voraussetzungen von Gewaltanwendung,20 um die ethnozentrischen, klassenspezifischen oder auch religiösen Grundlagen von Inklusion und Exklusion, um geschlechterspezifische Aspekte der Gewalt oder schließ-

13. Siehe beispielhaft Blauert/Schwerhoff (1999); Schwerhoff (1999); Eibach (1996); Mommsen/Hirschfeld (1982); Volkmann/Bergmann (1984); als Forschungs- und Literaturüberblick siehe auch Schumann (1997). 14. Aus der Hexenforschung siehe hierzu etwa Levack (1999); aus der Geschichte des Nationalsozialismus siehe Herbst (1996); aus der Kriegsgeschichte Geyer (1995); von Stietencron/Rüpke (1995); Ziemann (1998). 15. Vgl. Sieferle/Breuninger (1998). 16. Schreiner/Schwerhoff (1995). 17. Evans (2001). 18. Van Dülmen (1995); van Dülmen (1990). 19. Frevert (1992). 20. Etwa Jeismann (1992). 306

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lich um die Verarbeitung von Gewalterfahrungen als traumatischen Elementen der Erinnerung. Diese fünf Gesichtspunkte bilden den Leitfaden, an dem entlang ich nun einen kurzen Abriss der historischen Gewaltforschung geben möchte.

1. Staatliche Gewalt Theoriegeschichtlich stellt sich das Gewaltthema im Kontext der historischen Forschung erstmalig als die Frage nach der Genese und Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols. In ihr ist der Gewaltbegriff positiv besetzt. Der Historismus spiegelt unter diesem Gesichtspunkt einen epochalen Einschnitt der europäischen Geschichte zu Beginn der Neuzeit, der durch die Entstehung einer neuen Gewaltkultur im Kontext einer zunehmenden Verstaatlichung der Politik geprägt war.21 Der in der Frühen Neuzeit entstehende Begriff der »Staatsraison« verweist auf ein neues Ordnungsmodell des Politischen, das sich seit dem 16./ 17. Jahrhundert gleichermaßen gegenüber ständischer Ordnung, Kaisertum und Papsttum durchsetzte und die Herausbildung der neuzeitspezifischen Flächen- und Territorialstaaten ideenpolitisch flankierte.22 Friedrich Meineckes Werk »Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte« steht paradigmatisch für diese Fixierung des historischen Denkens auf die Legitimität monopolisierter staatlicher Gewalt, die zunehmend in die Hände professioneller Gewaltspezialisten in staatlichem Auftrag geriet. Während diese Entwicklung im Innern zur Entstehung eines ausdifferenzierten Verwaltungs- und Polizeiwesens niederschlug,23 bedeutete sie nach außen die Monopolisierung des Rechts zur Kriegführung in den Händen des Staates und seiner militärischen Organe. Seit dem 16. Jahrhundert war das Fehdewesen so weit zurückgedrängt worden, dass Kriege ausschließlich in staatlicher Lizenz ausgetragen wurden. Die historistische Geschichtswissenschaft rekonstruierte den innerstaatlich und zwischenstaatlich ausgetragenen Kampf um monopolisierte Gewaltansprüche als Kern des geschichtlichen Fortschritts und verlieh ihm trotz steigender Opferzahlen der neuzeitlichen Gewaltgeschichte das Prädikat des Sittlichen, d.h. politischer Legitimität. Allein Jacob Burckhardt warf mit seinem, zukünftige Katastrophen vorausah-

21. Hierzu im Einzelnen Reinhard (1999, S. 351ff.). 22. Zur Ideengeschichte der »Staatsraison« siehe vor allem Münkler (1987). 23. Hierzu Nitschke (1992). 307

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nenden Hinweis auf die »Macht, die an sich böse ist« einen Schatten auf dieses idealisierte Konzept staatlicher Gewalt als sittlicher Macht. Bei ihm kündigt sich bereits das Bewusstsein einer dunklen Seite staatlich monopolisierter Gewaltsamkeit an, die sich mit den höheren Zwecken sittlicher Mächte nicht mehr verrechnen ließ, sondern prinzipiell illegitim und sinnlos war.24 Die seit den späten 60er Jahren entstehende Sozialgeschichte variierte dieses historistische Zentralthema staatlicher Gewaltmonopolisierung, indem sie Max Webers Theorie des rationalen Anstaltsstaats sowie die zu jener Zeit florierenden Konzepte der inneren Staatsbildung aufgriff. Auf diesen Theoriegrundlagen ließ sich der Vorgang nun wesentlich facettenreicher interpretieren, weil das Zusammenspiel staatlicher und gesellschaftlicher Faktoren und Handlungsakteure in den Blick geriet. Die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols erschien nun als Ergebnis eines Prozesses der inneren Staatsbildung, in dem Aspekte der Bürokratisierung und der Entstehung neuer Funktionseliten, sozialpolitische Reformschübe und Rechtskodifikationen, die Entstehung des Bürgertums als sozialer Klasse und die Genese von Grundelementen einer bürgerlichen Gesellschaft und Öffentlichkeit zusammenkamen und sich im Sinne eines neuen politischen Ordnungsmodells auswirkten.25 Wenn man nach dem internen Zusammenhang von Gewalt und Differenz fragt, ist dieser Prozess staatlicher Gewaltmonopolisierung aber auch noch unter einem weiteren Gesichtspunkt von Bedeutung. Dies wird klar, wenn man weniger einem hobbesschen Verständnis staatlicher Souveränität und Gewaltmonopolisierung folgt, als vielmehr dem Locke-Strang der politischen Theoriebildung: In seinem berühmten »Essay Concerning Toleration« hatte John Locke vor dem Erfahrungshintergrund der konfessionellen Bürgerkriege seiner Zeit die Notwendigkeit der Gewaltmonopolisierung in den Händen eines liberalen Verfassungsstaats auf der Grundlage von Gewaltenteilung und Grundrechten damit begründet, dass dieser Staat allein die Grundbedingungen einer zivilen Gesellschaft und bürgerlichen Öffentlichkeit garantieren könne, in denen sich die kulturelle Vielfalt von Religionen, Individuen und sozialen Gruppen realisieren lasse.26 Im Kontext dieser gleichzeitigen Begründung und Bändigung des staatlichen Gewaltmonopols war schrittweise eine Gewaltkultur entstanden, die die Behandlung politischer Machtfragen an die gewaltzivilisierenden Prinzipien von Diskursivität, Pluralität und Prozessualität als Voraussetzungen kultureller Vielfalt und Differenz band. Das 24. Hierzu näher Jaeger (1994, S. 86-181). 25. Als Abriss sozialgeschichtlicher Fragestellungen, Zugriffe und Methoden siehe etwa Kocka (2000). 26. Locke (1957). 308

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Kriterium der Diskursivität besagt, dass Herrschaft als monopolisierte Gewaltausübung sich dem Forum der Öffentlichkeit als Instanz ihrer Anerkennung, Kritik und Kontrolle zu stellen habe, um legitim zu sein. Das Prinzip der Pluralität bedeutet, dass der Universalismus liberaler verfassungsrechtlicher Normen so beschaffen sein müsse, dass die individuellen Freiheitsrechte der Bürger und die kulturelle Vielfalt von Lebensformen nicht bedroht, sondern anerkannt würden. Das Prinzip der Prozessualität schließlich akzentuiert die Veränderungsoffenheit politischer Herrschaft im Hinblick auf ständig neue Probleme und Herausforderungen. Darüber hinaus garantiert es die Austauschbarkeit der Regierenden im Wechsel der Mehrheiten und die formale Bindung der staatlichen Gewalt an institutionalisierte Verfahren.27 Anknüpfend an diese Perspektive erscheint der Prozess frühneuzeitlicher Gewaltmonopolisierung in einem anderen Licht, als es etwa Theorien der sozialen Disziplinierung und Kontrolle im Anschluss an Oestreich und Foucault nahe legen.28 Er beendete nicht eine pralle Buntheit und kulturelle Vielfalt vormoderner Lebensformen durch die politische Zurichtung der Subjekte auf die Bedürfnisse eines sich souverän erklärenden Staates, sondern schuf im Medium bürgerlicher Gesellschaft auch neue gewaltzivilisierende Mechanismen der Freisetzung von Differenz.

2. Gesellschaftliche Gewalt Auch im Hinblick auf den zweiten der eingangs erwähnten Schwerpunkte der historischen Gewaltforschung – die Geschichte von Normverletzungen und Tabubrüchen – ist die Sozialgeschichte von besonderer Bedeutung, indem sie neue gesellschaftliche Konflikt- und Protestformen in den Blick brachte, die sich seit der Frühen Neuzeit oft auch als Widerstandsbewegungen gegen die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols verstehen lassen. Wichtig wurden in diesem Zusammenhang bereits die Arbeiten Hobsbawms aus den frühen 50er Jahren zu den Sozialrebellen und Maschinenstürmern während der Frühgeschichte der englischen Industrialisierung,29 aber auch Rudés Arbeiten zur Rolle der Massen in der Französischen Revolution.30 Am folgenreichsten wurden jedoch die Arbeiten des englischen Sozialhistorikers Thompson zum plebejischen Radikalismus im England des 18. Jahrhundert,31 in denen er unter dem Leitbegriff der »moral economy« 27. 28. 29. 30. 31.

Hierzu im Einzelnen: Jaeger (1999). Hierzu Schulze (1987). Hobsbawm (1962). Rudé (1961); siehe auch Rudé (1979); Rudé (1988). Thompson (1979). 309

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zeigte, dass die verbreiteten Hungerunruhen, Maschinenstürme und Wucherproteste in dieser Zeit keine »Pöbelexzesse«32 im Sinne irrationaler und blindwütiger Gewaltausbrüche der zeitgenössischen Unterschichten darstellten, sondern im Sinne regelgeleiteter, symbolisch vermittelter und politisch dosierter Protestformen zu einer differenzierten Gewaltkultur gehörten, die erst mit der entstehenden Arbeiterbewegung in neue Bahnen einer organisierten Gewaltausübung und sozialpolitischen Streitschlichtung gelenkt wurden.33 Aber nicht nur die entstehende Arbeiterbewegung, sondern auch der bürgerliche Liberalismus selbst lässt sich unter diesem Gesichtspunkt als ein Versuch interpretieren, revolutionäre Gewalt auf die Mühlen verfassungspolitischer Reformen zu lenken und damit zu zivilisieren. Anknüpfend an diese frühen Arbeiten entwickelte sich die Geschichte des sozialen Protests in den 70er Jahren zu einem blühenden Zweig der historischen Gewaltforschung. Als Subdisziplin einer »history from below« brachte sie die Motivlagen und den kulturellen Eigensinn gewaltsam ausgeübter Normverletzungen und »Widersetzlichkeiten« in den Blick. Als ein weiteres Paradigma der historischen Gewaltforschung gehört in diesen Kontext normverletzender Gewalt auch die neuere Kriminalitätsforschung, die sich in den letzten Jahren aus der Rechtsgeschichte heraus entwickelt hat und auf breiter Ebene die Formen und Folgen von Delinquenz (Straffälligkeit) und Devianz (abweichendem Verhalten) thematisiert. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr juristisch kodifizierte Rechtsnormen und die Probleme ihrer Umsetzung, sondern die verschiedenen Konfliktdimensionen sozialer Ordnung. Die historische Kriminalitätsforschung vermeidet eine Engführung normverletzender Gewalt auf ihre rechtsgeschichtliche Dimension und öffnet sich einem diffusen Schnittfeld rechtlicher Normen und gesellschaftlicher Praxis. Der Gewaltbegriff kommt dabei zum einen ins Spiel, insofern den als kriminell wahrgenommenen und sanktionierten Handlungen immer ein Normbruch vorausgeht, der das Recht, die Interessen, das Eigentum, die Gefühle, den Körper oder das Leben anderer verletzt. Zum anderen betrifft er den Sanktionsaspekt: die Strafpraxis als reglementierte und ritualisierte Form der Gewaltausübung, etwa in Form der Folter und peinlicher Strafen. Obwohl die Kriminalitätsgeschichte ihren eindeutigen Schwerpunkt bisher im Bereich der Frühen Neuzeit besessen und das 19. und 20. Jahrhundert bisher weitgehend ausgeblendet hat, vermag sie Einblick in den langfristigen Wandel der neuzeitlichen Gewaltkultur und der Gewaltpraxis zu geben, indem sie Unterscheidungsmerkmale zwi-

32. Gailus (1984). 33. Hierzu Kocka/Jessen (1990). 310

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schen vormodernen und modernen Gewaltkonzepten verdeutlicht: Gewalthandlungen im Kontext vormoderner Gesellschaften waren eingebunden in eine Gesellschaft, die auf der kulturellen Basis der Ehre beruhte. Ehre als kultureller Kitt einer Gesellschaft besagt, dass sich der Einzelne immer unter dem Blick der anderen weiß und sich von ihren Blicken her begreift.34 Indem also die Spannung zwischen drohendem Ehrverlust und dem Versuch ihrer Wiederherstellung für die Gewaltkultur vormoderner Gesellschaften konstitutiv war, kam ihr zwangsläufig ein demonstrativ-öffentlicher Charakter zu. Gewalt als Ausdruck von Ehrkonflikten war im Gegensatz zu heute nichts, was auf Verborgenheit angewiesen wäre oder überhaupt sinnvoll im Verborgenen hätte getan werden können. Sie war eingebettet in eine männlich geprägte Gebärdensprache und ein auf Öffentlichkeit hin angelegtes Zeichenrepertoire, zu dem etwa das Faustschlagen auf den Wirtshaustisch oder das weithin sichtbare Zücken des Messers auf offener Straße gehörten. Dementsprechend bedeutete die Genese der bürgerlichen Gesellschaft eine tief greifende Transformation der Gewaltpraxis. Die von den neuen stadtbürgerlichen Eliten favorisierten, durch Selbstkontrolle und Distinktion geprägten Lebensstile waren mit den bisherigen demonstrativen Formen körperlicher Gewalt nur schwer vereinbar. Öffentlich ausgeübte Gewalthandlungen bedeuteten keinen Zugewinn an Ehre und waren verpönt. Das Duell als ursprüngliches Element der ständischen Gesellschaft konnte dagegen überleben, weil es mit den Gewaltnormen eines bürgerlichen Lebensstils in Übereinstimmung zu bringen war. Zwar wurden die auf männlichen Ehrmotiven beruhenden alteuropäischen Konfliktformen der Bauern und Handwerker in der Frühphase der Industrialisierung zunächst vom Proletariat adaptiert, allerdings sorgte die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung langfristig dafür, dass ein Anpassungsprozess an die bürgerliche Konfliktkultur erfolgte.

3. Exzessive Gewalt Ein weiteres Strukturelement von Gewalt, auf das ebenfalls zahlreiche Forschungsbeiträge aus unterschiedlichen Bereichen zielen, bildet ihre innere Exzessivität. »Nackte Gewalt tritt auf, wo Macht verloren ist«, schreibt Hannah Arendt in ihrem Essay über Macht und Gewalt und gibt damit einen ersten Hinweis auf die Ursachen dieser exzessiven Struktur.35 Gewalt als strukturell illegitime Form der Macht gründet in nichts anderem als in ihrer puren Faktizität und kann sich daher nur

34. Hierzu – Bourdieu aufgreifend – Schwerhoff (1999, S. 125). 35. Arendt (1970, S. 55). 311

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im Modus permanenter Radikalisierung fortsetzen und am Leben erhalten. Je unmittelbarer sie auftritt, umso realer und mächtiger ist sie. Die oftmals beobachtete Hemmungslosigkeit der Gewalt, ihr Verlust aller Schranken und Normierungen ist Ausdruck dieses Mangels an Legitimität. Dauerhaft existieren kann sie nur im Modus ihrer Eskalation. Gleichwohl lässt sich das Phänomen der exzessiven Gewalt nicht erschöpfend auf diesen strukturellen Legitimitätsmangel zurückführen. Vielmehr entstanden im Zuge der Modernisierung auch Legitimitätsgründe, die die Ausübung exzessiver Gewalt rechtfertigten. Das beste Beispiel dafür liefert die Geschichte der zunehmenden Vergesellschaftung des Krieges seit der Französischen Revolution. Das ursprüngliche republikanische Vertrauen auf eine im Kontext wahrer bürgerlicher Gesellschaften angeblich abnehmende Kriegsneigung ist bekanntlich durch die Kriegsgeschichte eben dieser bürgerlichen Gesellschaft gründlich desavouiert worden. Joseph Görres hatte im jacobinischen Überschwang des Jahres 1798 dieses republikanische Urvertrauen in die Gewaltlosigkeit einer wahren bürgerlichen Gesellschaft noch lauthals verkündet: »Eine Regierungsform, in der also die öffentliche Opinion ein entscheidendes Gewicht hat, wie dies bey der rein republikanischen der Fall ist, wird bey der Gesellschaft, der sie inhärirt, die Disposition zum Kriege nach und nach ganz aufheben, und das um (so) mehr, je reiner sie ist.« Diese Erwartung kontrastiert deutlich mit der Bereitschaft breiter Bevölkerungskreise in der deutschen, aber nicht nur der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, nationale Interessen auch mit den Mitteln des Krieges durchzusetzen. Die verbreitete Kriegsmentalität gesellschaftlicher Gruppen war eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung der Gewaltgeschichte der deutschen bürgerlichen Gesellschaft. Die sich zunehmend brutalisierenden Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts konnten nur geführt werden, weil eine kollektive Bereitschaft und kulturelle Disposition dazu vorhanden war, die es gewalthistorisch zu erklären gilt. Das Paradigma dafür bildete das August-Erlebnis von 1914.36 Vor diesem Hintergrund unvorstellbarer Gewalterfahrungen hat der Militärhistoriker Michael Geyer eine neue Kriegsgeschichte jenseits der Perspektive des Generalstabs angemahnt, eine Geschichte, die bewusst vom Tode und vom Töten spricht und den Krieg als eine von Menschen für Menschen organisierte Tötungsgewalt rekonstruiert, deren Prinzip die Gewalt als Massenvernichtung ist.37 Auch die sich in den letzten Jahren etablierende »Kriegsgeschichte von unten«, die im Rekurs auf Feldpostbriefe neue methodische Zugänge zu den kollektiven Kriegserfahrungen des Tötens und Getötetwerdens erschlossen hat, ist als ein Versuch zu sehen, der spezifischen Gewaltproblematik 36. Siehe etwa Dülffer/Holl (1986). – Dort auch das Görres-Zitat. 37. Geyer (1995). – Ferner zur neueren Kriegsgeschichte: Knöbl/Schmidt (1995). 312

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organisierter Massentötung im Kontext der Vernichtungskriege des 20. Jahrhunderts auf die Spur zu kommen.38 Als ein weiteres Beispiel für die Arbeit des historischen Denkens an den exzessiven Formen der Gewalt lässt sich die Geschichte der Hexenverfolgung anführen. Dieser Gewaltpraxis fielen in den drei Jahrhunderten zwischen 1450 und 1750 im gesamteuropäischen Raum etwa 50.000 Menschen auf dem Scheiterhaufen zum Opfer. Die sozialgeschichtlichen Ursachen und Hintergründe dieses Gewaltphänomens sind inzwischen recht gut erforscht.39 Es ging hervor aus dem Zusammenspiel von Bevölkerungsdruck und Ressourcenverknappung, von konfessionellen Bürgerkriegen, Veränderungen der Familienstrukturen inklusive der Zunahme ungebundener weiblicher Bevölkerung, schließlich von Hungersnöten, Epidemien und Kriegsereignissen. Jedoch können die Geburtswehen der modernen Welt nicht die Eskalation der Gewalt und die hysterische Natur der großen Hexenjagden selbst unmittelbar erklären, die für die Gewaltforschung von großem Interesse sind.40 Zum Ausbruch einer Hexenjagd, die die Gewalt unberechenbar machte, kam es in der Regel erst dann, wenn langfristig wirksame Voraussetzungen sozialgeschichtlicher Art (Agrarkrisen etwa), eine empfängliche Mentalität (ein kulturelles Konzept der Hexerei) und kontingente Ereignisse (wie erntevernichtende Hagelstürme oder Hungersnöte) zusammenkamen. Die psychologischen Dispositionen, die die Gewalt eskalieren ließen, konnten nur in einem Klima kollektiver Angst, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit entstehen. Dieses Klima war der psychische Preis der beschleunigten Entwicklungen zu Beginn der Neuzeit und kulminierte im Zusammenbruch einer fest gefügten Weltordnung, der die Suche nach Sündenböcken motivierte und Ventile der Angstabfuhr erforderlich machte. Eine Hexenjagd leistete dies, weil sie den Gemeinden auf dem Wege einer gewaltsamen Exklusion und physischen Vernichtung von angeblich Schuldigen die Gelegenheit zur erneuten Selbstvergewisserung der in Frage gestellten politischen, sozialen und moralischen Ordnung bot. Idealtypisch lassen sich dabei im Einzelnen drei Eskalationsstufen der Gewaltausübung voneinander unterscheiden: Den Normalfall bildeten Gerichtsprozesse gegen eine bis zu drei Personen, die der Hexerei beschuldigt wurden. In diesen Fällen blieb es bei der Festnahme und Verurteilung der üblichen Verdächtigen, ohne dass eine Lawine in Gang kam. In einzelnen Gemeinden konnte sich daraus eine kleine Panik entwickeln, die zu 10-15 Festnahmen führen konnte. Folter erzeugte dann eine Welle neuer Beschuldigungen, zunächst ohne 38. Wette (1992); als Forschungs- und Literaturüberblick siehe Ulrich (1996). 39. Einführend siehe Levack (1999). 40. Levack (1999, S. 152). 313

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die Situation eskalieren oder unkontrolliert werden zu lassen. Das heißt, der Kreis der Verdächtigen beschränkte sich auf diejenigen, die aufgrund einer Übereinstimmung ihrer Persönlichkeitsmerkmale und Lebensumstände mit den stereotypen Mustern eines kulturell tief verankerten Hexenglaubens immer schon gefährdet waren. Die großen deutschen oder auch schottischen Hexenjagden des 16./17. Jahrhunderts konnten jedoch Hunderte von Opfern fordern und vollzogen sich wie ein Flächenbrand in einem Klima höchster Panik und Massenhysterie. Sie waren geprägt durch ein politisch und rechtlich nicht mehr kontrollierbares Syndrom der Denunziation, Verhaftung, Folter und Hinrichtung. Eine Vielzahl von Verdächtigungen und Beschuldigungen kursierte im sozialen Raum oder wurde von Einzelnen bewusst in die Welt gesetzt, um selbst einer immer möglichen Denunziation zu entgehen und dadurch die eigene Haut zu retten. Ohne diese aus der Angst geborenen Formen der Massenhysterie wären die Verfolgungswellen dieser Zeit nicht denkbar gewesen. Aufschlussreich für ein historisches Verständnis eskalativer Gewalt ist auch das abrupte Ende der großen Jagden, die in der Regel nach zwei bis vier Jahren in sich zusammenfielen. Ihr Ende beruhte gewöhnlich auf der sich allmählich einstellenden Einsicht der beteiligten Richter und Obrigkeiten, dass offensichtlich Menschen verdächtigt wurden, die den stereotypen Vorstellungen von Hexen und dem mentalen Konzept der Hexerei insgesamt nicht mehr entsprachen – insbesondere dann, wenn es sich um Angehörige der Oberschichten handelte. In dem Moment, in dem sich die tatsächlichen Gewaltopfer nicht mehr mit denen deckten, die kulturell für diese Opferrolle auf dem Scheiterhaufen disponiert waren, brach mit dem sich einstellenden Plausibilitätsverlust auch die Eigendynamik der Gewaltexzesse zusammen. Das Beispiel der Hexenverfolgungen zeigt, wie schwierig es ist, das komplexe Zusammenspiel langfristig wirksamer Ursachen, kurzfristig kontingenter Anlässe und kultureller Kollektivmentalitäten bei der Entstehung exzessiver Gewalt methodisch kontrolliert aufzulösen. Eine der größten Herausforderungen der historischen Gewaltforschung dürfte darin zu sehen sein, wie sich dieses Faktorenbündel exzessiver Gewalt entwirren lassen könnte. Das aktuellste Beispiel für die dabei auftretenden Schwierigkeiten bietet Daniel Goldhagens Rekonstruktionsversuch der nationalsozialistischen Judenvernichtung, der ganz bewusst von der Hypothese einer kulturell tief verankerten deutschen Gewaltmentalität ausgeht.41 Mit seiner Hypostasierung eines exterminatorischen Antisemitismus zu einem überhistorischen und quasi naturhaften Identitätselement der Deutschen im Sinne eines geschichtli-

41. Goldhagen (1996). 314

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chen Kollektivsubjekts scheitert Goldhagen vor der Aufgabe, dieses komplexe Ineinander unterschiedlicher Erklärungsfaktoren historisch aufzuklären. Gewalt wird in diesem Fall zu einem mythischen Schicksal, das sich dem historischen Verstehen notwendig entzieht.42

4. Rituelle Gewalt In der einleitenden Minimalbestimmung von Gewaltphänomenen tauchte auch das Kriterium ihrer Intentionalität auf. Gewalthandlungen im Sinne sinnorientierten Handelns sind kulturell kodiert. Die historische Forschung spricht daher auch von »Kulturen der Gewalt«;43 ihr geht also um die Innendimension von Gewalt, um den von Tätern oder Opfern mit ihr jeweils vollzogenen oder erlittenen subjektiven Sinn. Jedoch gehen die Formen kultureller Kodierung nicht in Intentionalität auf, sondern besitzen zugleich Elemente des Rituellen, Expressiven oder Performativen. Gewalt wird in einem symbolisch vermittelten Gewebe von Zeichen, Bedeutungen, Zeremonien und Inszenierungen real, in ihm gewinnt sie ihren Sinn, wird kommuniziert und medial transportiert. Der in letzter Zeit vielbeschworene »performative turn« der Kulturwissenschaften44 zielt auf diesen Aspekt der Gewalt. Auch das soll hier an wenigen exemplarischen Fällen konkretisiert werden. Ein gutes Anschauungsmaterial für diese expressive und performative Dimension der Gewalt bieten die Ehrkonflikte vormoderner Ständegesellschaften, die in der Mehrzahl der Fälle zu den auslösenden Faktoren der Gewalt gehörten. Zwei Aspekte sind für die Klärung dieses Zusammenhangs von Ehre und Gewalt von besonderer Bedeutung: Zum einen folgte der Kampf um das symbolische Kapital der Ehre grundsätzlich einer binären Logik; der Gewinn oder der Verlust von Ehre war immer total. Ehre besaß man ganz oder gar nicht. Auf dem sozialen Achtungs- und Anerkennungsmarkt einer noch nicht funktional ausdifferenzierten Gesellschaft stand in Ehrkonflikten der ganze Mensch auf dem Spiel, was auch die oftmals agonale und ins prinzipielle gehende Struktur vormoderner Ehrkonflikte zu erklären hilft.45 Dafür steht auch noch die in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts virulente Tradition des Duells im Sinne eines reglementierten, stilisierten und ästhetisierten Ritus der Gewalt. Mit ihm bekundeten Männer, dass sie ihre Ehre höher schätzten als ihr Leben und dass sie glaubten, ihre infrage gestellte Ehre nur im Durchstehen eines

42. 43. 44. 45.

Näher hierzu Rüsen (2001, S. 263ff.). So etwa Brednich/Hartinger (1994). Fischer-Lichte (2001). Dies betonen Schreiner/Schwerhoff (1995, S. 11). 315

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mit Todesgefahr verbundenen Verfahrens vollständig wiedergewinnen zu können.46 Zum anderen erklärt der rituelle Zusammenhang von Ehre und Gewalt auch die ausgeprägt körperliche Qualität von Gewaltpraktiken. Dies zeigt sich vor allem an den mittlerweile recht gut erforschten Strafpraktiken der Frühen Neuzeit. Der englische Sozialhistoriker Richard Evans etwa hat in seiner Geschichte der Todesstrafe die frühneuzeitlichen Strafpraktiken als ein ritualisiertes Gewalthandeln rekonstruiert, für das die Polarität zwischen Ehre und Schändung konstitutiv war.47 Da Ehre in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit grundsätzlich ostentativer Natur war, musste sie in der Äußerlichkeit der Körper ihren öffentlich sichtbaren Niederschlag finden, um zu einer sozialen Realität zu werden. Der Körper repräsentierte in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft noch keine Sphäre unantastbarer persönlicher Integrität, sondern gehörte konstitutiv zur Symbolwelt sozialer Ordnung, indem er den Einzelnen ihren Rang in der Gesellschaft zuteilte und Ehre verlieh. Dafür stehen etwa die peinlich beachteten und durchgesetzten Kleiderordnungen dieser Zeit. Entsprechend mussten Strafen im Sinne einer rituellen Trennung zwischen Delinquenten und Gemeinschaft auch direkt an den Körpern der Täter ansetzen und in Form ihrer gewaltsamen Zerstörung – gestaffelt nach der Schwere des Vergehens – sichtbar exekutiert werden, um die soziale Ordnung öffentlichkeitswirksam wieder herzustellen, die durch die strafbare Handlung eines Täters versehrt worden war. Die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts waren nicht etwa blutrünstiger, gefühlloser und von der Gewalt faszinierter als spätere, sondern waren aufgrund dieses kulturellen Codes gezwungen, Strafe und Vergeltung in der gewaltsamen Schändung des Körpers rituell zu vollziehen. Glaubt man den Experten, so gibt es keine Belege dafür, dass das Publikum peinlicher Strafrituale eine über die Funktion des öffentlichen Ehrentzuges hinausgehende Grausamkeit und körperliche Qual erwartet oder gar genossen hat. Die Ausübung physischer Gewalt blieb auf die Akte beschränkt, die innerhalb eines kulturellen Gewebes präzise definierter Bedeutungen als notwendig angesehen wurden, um die durch den Akt des Verbrechens notwendig gewordene Trennung zwischen Täter, Opfer und Gemeinschaft in gültiger Form zu vollziehen.48 Da erst die Ehre jemanden zum Teil der Gesellschaft werden ließ, mussten Strafen in der Schändung des Körpers mit dem Leben die Ehre nehmen, um die Exklusion des Täters sozial zu exekutieren. Daher war die Todesstrafe auch ein symbolisch völlig durch46. Näheres bei Frevert (1992). 47. Evans (2001). 48. Evans (2001, S. 1050). 316

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strukturierter Vorgang. Im Sinne eines »Trennungsritus« handelte es sich bei einer Hinrichtung um eine kollektive Gewaltpraxis, bei der sich Obrigkeit und Bürgerschaft in einer Zeremonie von Vergeltung, Sühne und Reinigung ihrer Gemeinschaft neu vergewisserten und den Ausschluss des Täters durch den Entzug der Ehre in der Vernichtung des Körpers sichtbar machten: Das Brechen des Stabes beim Urteilsspruch dokumentierte den formellen Ausschluss des Täters aus der Bürgerschaft und leitete die rituelle Übergabe an den Scharfrichter ein. Um der jeweiligen Schwere des Vergehens Ausdruck zu verleihen, waren Todesstrafen nach Kriterien der Ehre gestaffelt, d.h. den schwersten Verbrechen entsprachen die entwürdigendsten Hinrichtungsformen, von denen diejenige durch das Schwert die ehrenvollste war, weil sie aufrecht erfahren wurde. Das Einnähen in eine blutige Ochsenhaut, das Verwesenlassen des zerstückten Körpers oder das Umherwerfen des Kopfes dienten dem Ziel, die Schmach zu steigern. Dieser rituellen Trennung durch Schändung und Ehrentzug entsprach auf der anderen Seite der Versuch, die Seele des Delinquenten durch Gebete und die Begleitung der Geistlichen zu retten. Dies sollte zum einen dokumentieren, dass all dies im Namen göttlicher Gerechtigkeit geschah und zum anderen den Zuschauern an einem Extrembeispiel die Gewissheit ihrer eigenen individuellen Erlösungsfähigkeit verschaffen.49 In dem Maße, in dem Ehre als sozialer Kitt bedeutungsloser wurde, verfiel auch das Prinzip der notwendigen Schändung des Körpers im Akt des Tötens; der souveräne Staat auf der Grundlage staatsbürgerlicher Rechte bedurfte des öffentlichen, rituellen Tötens nicht mehr, sondern konnte die körperliche Integrität der Individuen auf neue Weise respektieren, ohne auf seine Tötungsmacht grundsätzlich verzichten zu müssen. Während der traditionelle Entzug der Ehre im Kontext der ständischen Gesellschaft nur als ein öffentlicher Vorgang denkbar war, konnte dem Recht (und musste dem Unrecht) auch in der abgeschotteten und den Blicken der Öffentlichkeit entzogenen Hinrichtungskammer eines Gefängnisses Genüge getan werden. Im Nationalsozialismus gipfelte die Transformation der Todesstrafe zu einem rein technischen, rituell völlig bedeutungslosen Tötungsvorgang, der das industrialisierte Töten in den Konzentrationslagern vorwegnahm.

5. Gewalt und Identität Schließlich zum fünften und letzten Punkt des eingangs dargelegten Typologisierungsvorschlags der historischen Gewaltforschung: zur Frage nach der Rolle der Gewalt in der Politik der Identitäten. Damit ist 49. Evans (2001, S. 139). 317

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gemeint, dass sich die Identität von Individuen, sozialen Gruppen oder ganzen Kulturen auf dem Wege einer Herstellung von Differenz realisiert. Die Inklusion und Integration sozialer Einheiten zu übergreifenden Gemeinschaften erfolgt im Medium der Exklusion des Fremden. Damit ist eine Struktur menschlicher Identitätsbildung bezeichnet, die eine besondere Affinität zum Problem der Gewalt besitzt. In zahlreichen Forschungsarbeiten ist dieser Zusammenhang zwischen Identität und Gewalt bzw. die Bedeutung von Gewalt für die Konstitution sozialer Gruppen und Gemeinschaften inzwischen thematisiert und herausgearbeitet worden. Im Rahmen der Geschlechtergeschichte etwa werden zunehmend auch Frauen in die Gewalt- und Kriminalitätsgeschichte der modernen und vormodernen Gesellschaft hineingeschrieben;50 eine psychohistorisch ausgerichtete, teilweise auch psychoanalytisch informierte Geschichtsschreibung rekonstruiert die traumatischen Folgen von Gewalterfahrungen, die sich, wie das Beispiel des Holocaust zeigt, über mehrere Generationen hinweg in der Erinnerung von Opfern und Tätern fortsetzen können.51 Angesichts der unbestreitbaren Tatsache jedoch, dass im Zuge der neuzeitlichen Geschichte die größten Gewaltpotentiale im Zusammenhang mit der Nationalstaatsbildung freigesetzt worden sind, ist es kein Zufall, dass dieser Bereich den wichtigsten Schwerpunkt einer historischen Gewaltforschung repräsentiert, der es um die Rolle der Gewalt in der Politik der Identitäten geht. Wie kein anderes Element der politischen Kultur hat es die Zugehörigkeit zur Nation vermocht, Integrationspotentiale im Innern moderner Gesellschaften durch die Freisetzung von Gewaltpotentialen nach außen zu produzieren.52 Es gehört zu den erstaunlichsten Leistungen des Nationalstaats und des ihn kulturell und politisch flankierenden Nationalismus, unterschiedlichen sozialen Gruppen das Bewusstsein von Einheit, Identität und Gemeinsamkeit zu geben, – und zwar über soziale Klassenschranken, ökonomische Ungleichheit und politische Dissense hinweg. Diese Abstraktion von Unterschieden im Innern war nur auf dem Boden energischer Selbst- und Fremdstereotypisierungen möglich, mit denen das Bewusstsein des Feindes zu einem konstitutiven Element der eigenen nationalen Identität wurde. Ein einiges Vaterland im Innern konnte es nur unter der Voraussetzung geben, dass es von äußeren Feinden umgeben war, gegen die es sich behaupten musste, um die Zukunft für sich zu haben. Diese polare und ethnozentrische Struktur nationaler Identität lässt sich als ein konstitutives Element der eskalierenden Gewaltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts rekonstruieren, in der die 50. Siehe etwa Ulbricht (1995). 51. Siehe hierzu die Beiträge in Rüsen/Straub (1998); Grünberg/Straub (2001). 52. Jeismann (1992); ferner Langewiesche (2000); Wehler (2001). – Einen Überblick über die neuere Nationalismusforschung bietet Geulen (2004). 318

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später freigesetzten Gewaltbereitschaften kulturell bereits angelegt waren. Damit sind einige Gesichtspunkte umrissen, unter denen Phänomene kollektiver Gewaltausübung und Gewalterfahrung in den vergangenen Jahren zum Thema historischer Untersuchungen geworden sind. In ihnen zeichnet sich in Ansätzen das Paradigma einer historischen Gewaltforschung ab, der eine angemessene Rekonstruktion dessen gelingen könnte, was sich Menschen im Laufe ihrer Geschichte wechselseitig angetan und was sie im Umgang miteinander erlitten haben. Zweifellos werden sich angesichts der aktuellen Gegenwartserfahrungen im Gefolge des »11. September« die Perspektiven verändern und erweitern, in denen Gewalt zum Thema der historischen Forschungspraxis gemacht wird, auch wenn dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht in allen Konsequenzen absehbar ist. Allerdings funktioniert dieser konstitutive Zusammenhang zwischen Gegenwartserfahrung und historischer Forschung auch in umgekehrter Richtung. Unter diesem Gesichtspunkt geht es darum, die bisher erarbeiteten Einsichten in Ursachen, Formen und Folgen menschlicher Gewaltausübung zu mobilisieren, um ein Verständnis der neuesten Gewalterfahrungen entwickeln zu können. Die hier voneinander unterschiedenen Themenschwerpunkte der historischen Forschung könnten einen Beitrag dabei leisten, das Problemniveau zu erhöhen, auf dem die aktuellen Gewalterfahrungen als Herausforderung unserer Gegenwart begriffen und reflektiert werden.

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»DER MENSCH IST EINE FRAU.«

»Der Mensch ist eine Frau.« Die ›Genderisierung‹ des europäischen Subjekts im Liebesdiskurs Luisa Passerini

Ich habe dieses Thema gewählt, um das Engagement Jörn Rüsens zu würdigen, der sich – mit einem in den 1970er Jahren an der Ruhr-Universität Bochum abgehaltenen Seminar »Die Geschichte der Frauen als theoretisches und didaktisches Problem« – schon sehr früh dafür eingesetzt hat, die Genderfrage nicht bloß als »Frauenthema« zu betrachten, sondern als eine Frage, die alle Akademiker, ja alle Menschen angeht. Im April 2003, während meines zweijährigen Aufenthalts am Kulturwissenschaftlichen Institut, hatte ich die Gelegenheit, eine Aufführung von Peter Handkes »Kaspar« zu sehen. Es handelte sich um eine Wiederaufführung der Originalinszenierung von Roberto Ciulli am Theater an der Ruhr aus dem Jahr 1987, die seitdem fester Bestandteil des Repertoires ist. Ursprünglich geht es in dem Stück darum, »wie ein Mensch Sprache internalisiert und zugleich mit der Sprache eine soziale Grammatik erwirbt«, so Helmut Schaefer in einem Interview mit Ciulli. Es ist ein ausgesprochen dramatisches und faszinierendes Stück, in dem die Worte durch ständige Wiederholung neue Bedeutungen erlangen und die Rolle der Sprache in der Gesellschaft in ihrer grundlegenden Funktion gezeigt wird. Wir sehen einen Monolog, in dem die Stimme des Protagonisten, Kaspar, als Personifikation des westlichen Subjekts und seines Anspruchs auf Universalität die Szene beherrscht. Die Aufführung, die ich besuchte, verleiht der Bedeutung des Stückes auf entschiedene Weise Aktualität: In ihrem Verlauf verstummt Kaspar zunehmend, und die Verrücktheit der Gesellschaft wird offenbart. Doch das Bemerkenswerteste bei all den Neuerungen, die diese Fassung bietet, ist die Tatsache, dass die Rolle des Kaspar mit einer Frau besetzt wurde, der hervorragenden Schauspielerin Maria Neumann. Diese interpretatorische Geste ruft beim Zuschauer einen Zustand der

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LUISA PASSERINI

Verschiebung und der Reflexion hervor, denn das universelle Subjekt wird als Frau dargestellt. Dieses Beispiel verdeutlicht den Titel meines Beitrags, der auf die ›Genderisierung‹ der Menschheit und auf die Implikationen dieses Umstands für die Sozial- und Kulturgeschichte aufmerksam machen soll. Wenn ich hier von »Liebe« spreche, so meine ich damit eine bestimmte Form von Liebe, nämlich die Leidenschaft, die ein Paar vereint bzw. trennt, sei es hetero- oder homosexuell. In dieser Bedeutung ist Liebe mit Europa und dem ›Europäischsein‹ in Verbindung gebracht worden, und in diesem Sinne haben wir die Zusammenhänge der Europa- und Liebesdiskurse in dem von mir am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen geleiteten Projekt untersucht. Den Ausgangspunkt des Projekts bildete dabei die Kritik eines Diskurses, der in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten vorherrschend war und demzufolge zunächst die höfische und dann die romantische Liebe von Europäern erfunden und von dort aus in andere Kontinente und Kulturen getragen wurde, die eine solch hohe Stufe heterosexueller Beziehungen noch nicht erreicht hätten. Dieser Diskurs nahm seinen Ausgang in den 1770er Jahren mit der Wiederentdeckung der provenzalischen Lyrik durch die Aufklärung, entwickelte sich während des gesamten 19. Jahrhunderts in den Arbeiten von Mme de Stael, August Wilhelm Schlegel und Stendhal und erreichte seinen Höhepunkt in den 1880er Jahren, wo er zu einem Gemeinplatz wurde, der in so unterschiedlichen Werken wie denen von Nietzsche oder Engels zu finden war. In der Zwischenkriegszeit erlebte er ein Revival in Bestsellern wie Rougemonts L’amour et l’occident als Antwort auf die tiefgreifende Krise der europäischen Zivilisation und ihrer drohenden Zerstörung in einem neuen Weltkrieg. Erst in der 1960er Jahren begann man dem Diskurs in Form einer heftigen Kritik an seinem Eurozentrismus entgegenzuwirken, doch lassen sich selbst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch Spuren davon in populären Medienproduktionen finden.1 Das Projekt zielt auf die Kritik eines doppelten Essentialismus in Hinsicht auf die Konzeptualisierungen von Europa und von Liebe. Das Europäische ist häufig auf der Basis von angeeigneten und exklusiv gemachten Inhalten definiert worden, wobei der Ort ihrer historischen Entstehung – Europa – zum alleinigen Besitzer von Werten wie Demokratie und Gleichheit gemacht wurde. Essentialismuskritik meint in diesem Fall nicht nur die Dekonstruktion auf theoretischer Ebene, sondern auch die Analyse der Historizität »europäischer« Werte wie Demokratie und Gleichheit sowie das Studium der historischen und räumlichen Bedeutung europäischer Diversität, anstelle ihrer Verherrlichung als Zeichen der Überlegenheit. 1. Passerini (1999). 326

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»DER MENSCH IST EINE FRAU.«

Was die Liebe angeht, so betrifft ein ganz typischer Widerspruch des europäischen Essentialismus von jeher die Frauen: Einerseits werden Liebe und Frieden eindeutig dem weiblichen Wesen zugeschrieben und die Liebe daher eher mit Frauen als mit Männern in Verbindung gebracht; andererseits wird Frauen die Position des Subjekts des Liebesdiskurses aberkannt, sieht man von einigen wenigen Ausnahmen ab, etwa den »grandes amoureuses« wie Eloise oder Rousseaus Julie in La Nouvelle Eloise, oder einigen Dichterinnen und Mystikerinnen. Doch selbst die Rolle einer Verfasserin von Liebeslyrik war für Frauen nicht immer möglich, wie man an der hartnäckigen Leugnung der Existenz der Trobairitz, der weiblichen Pendants der Troubadoure, ablesen kann, deren Werke über lange Zeit Männern zugeschrieben wurden. Was Europa anbelangt, so wurde das europäische Subjekt in der Vergangenheit als männlich und weiß angesehen, sein Europäischsein entsprach ebenfalls diesem Muster und den Frauen wurde lediglich eine zweitrangige Rolle zuerkannt. Selbst dem Feminismus, der die Auffassungen der höfischen und romantischen Liebe kritisierte, fiel es, wie wir noch sehen werden, schwer, eine Vorstellung des weiblichen Subjekts zu entwickeln, die gleichzeitig die Liebe und das Europäischsein beinhaltete. Traditionell wurde die Verbindung Europa/Liebe tatsächlich auf der Grundlage einer ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Rollenteilung zwischen Mann und Frau gesehen. Demnach kann das Subjekt des europäischen Liebesdiskurses nur ein – weißer und häufig christlicher – Mann sein; Frauen können das Objekt eines solchen Liebesdiskurses sein, wobei sie die Art von »passiver Verführung« an den Tag legen, die ihre Rollen bestätigt (Dauphin und Farge). Die Spielart dieses Narrativs über Europäismus und Europäischsein sieht für Frauen nicht nur die Objektposition in privaten Beziehungen vor, sondern auch eine besondere Rolle in öffentlichen Angelegenheiten. Ein bezeichnendes Beispiel liefert die Geschichte der Europäischen Einheit: Auch Graf Coudenhove-Kalergi,2 der Begründer von Paneuropa, welcher sich für einen europäischen Staatenbund auf der Grundlage wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit einsetzte, nahm an, dass die europäische Seele aus ihrer tiefen Krise nur gerettet werde, wenn »das höchste Gut, der höchste Wert Europas«, d.h. die Liebe, von der Bedrohung befreit werden könne, durch bloße Sexualität ersetzt zu werden. Dies könnte nach Ansicht des Grafen dadurch geschehen, dass der Unterschied zwischen Frauen und Männern, d.h. zwischen Müttern und Kämpfern, wiederhergestellt würde. Die Frauen könnten dann mit der politischen Friedensmission betraut werden und dabei der »Logik des Herzens« folgen. Sie sollten 2. Coudenhove-Kalergi (1927). 327

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für den Weltfrieden kämpfen und dabei Hand in Hand mit ihren »amerikanischen Schwestern« arbeiten. In dem herrschenden, Liebe und Europa verbindenden Diskurs wurde Liebe in einem doppelten Sinn verstanden, zum einen als privat und zum anderen als politisch. Das Erstere wurde nach essentialistischer Auffassung als Grundlage des Letzteren angenommen. Es war die Kompetenz »der Frau« (das Wort wurde hier stets im Singular gebraucht und deutete so auf die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit der Individuation von Frauen) als Mutter und in privaten Beziehungen, durch die sie auch als Träger der politischen Liebe angesehen wurde und die zur Grundlage ihrer Bemühungen als Akteur in sozialen Belangen und für politischen Frieden wurde. Diese Haltung ist in der Anthropologie, Psychologie und Soziologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts breit dokumentiert: Von Cesare Lombroso in Italien bis Charles Turgeon in Frankreich war den Wissenschaftlern eine Bestimmung der ›Frau‹ gemeinsam, die jegliche Überschreitung der starren Grenzen zwischen den Geschlechtern, natürlich einschließlich der Homosexualität, verdammte. Für sie war die Frau nicht nur einfach biologisch minderwertig, sie war es auch moralisch; natürlich wurzelte die Minderwertigkeit in der Biologie, denn schließlich sei es das Gebundensein an das biologische Schicksal, Kinder zu gebären, das die Frau unfähiger zu moralischer Verantwortung und gänzlich unfähig zu Kreativität und Genialität mache, es sei denn, sie ähnelt dem Manne. Ihre Aufgabe ist es, neben dem Gebären von Kindern (ohne Mutterschaft ist sie keine Frau), großen Männern ihre materielle und intellektuelle Unterstützung zukommen zu lassen. Es sollte nicht vergessen werden, dass diese Auffassungen auch von intelligenten und fortschrittlichen Frauen jener Zeit geteilt wurden, wie zum Beispiel von Lombrosos Töchtern. Wir können hier auf das Thema Rasse leider nicht näher eingehen, doch muss ich immerhin erwähnen, dass in dieser Aufteilung der Geschlechterrollen wahre Männlichkeit, definiert als eine Mischung aus Potenz und Mäßigkeit, in der europäischen Zivilisation weißen Männern vorbehalten war, während die »anderen«, wie etwa Juden, Schwarze oder Mestizen, als zwischen Impotenz bzw. Passivität und Schlüpfrigkeit bzw. extremer Lust schwankend betrachtet wurden. Dieser Zustand wurde oft auch Frauen zugeschrieben. Die Position der »anderen« Rassen wurde daher häufig unter Bezugnahme auf zugeschriebene sexuelle Merkmale an eine Art Feminität angeglichen. Die extremen Formen dieser durch Feminisierung »anderer Männer« gekennzeichneten Haltung lassen sich sicherlich in den verschiedenen Arten des Faschismus finden, aber auch in den liberalen Ausprägungen von Männlichkeit und in gewöhnlichen Ansichten europäischer Männer können unschwer Spuren ähnlicher Überzeugungen nachgewiesen werden. 328

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»DER MENSCH IST EINE FRAU.«

Der Feminismus war in Europa lange Zeit farbenblind. Das gilt selbst für den radikalen Feminismus der 1970er und 80er Jahre, der von der Gewissheit einer universalen Schwesternschaft auf der Basis einer neu definierten Individualität durch neue kollektive Bindungen überzeugt war. Nicht dass der Feminismus nicht begriffen hätte, dass der Prozess der vollständigen Subjektwerdung auch Konflikte zwischen Frauen beinhalten würde; aber er sah die Rasse noch nicht als Dimension einer feministischen Politik an. Es handelte sich hier um eine Form von Ethnozentrismus in dem Sinne, dass wir die Art, wie wir von anderen Kulturen gesehen wurden, nicht in Frage stellten; wir nahmen an, dass jede Frau auf demselben Weg zu ihrer Emanzipation gelangen könnte, nämlich durch die Selbsterfahrung, die durch die Solidarität der Kleingruppe und der Bewegung ermöglicht wurde. Diese Haltung implizierte, dass man die Tatsache, dass man »weiß« war, als gegeben hinnahm und sich kaum jemals vorstellen konnte, dass dies unsere Wahrnehmung oder Konzeptualisierung von Universalität einzuschränken in der Lage wäre. Weiblichkeit und Männlichkeit in der Form, wie wir sie heute kennen, sind kulturelle und soziale Konstrukte der longue durée, kulturelle und soziale Möglichkeiten, das Biologische zu verstehen. Wir betrachten sie daher nicht mehr als Essenzen, die Frauen und Männern jeweils zugehören, sondern eher als Pole eines Kontinuums, anhand derer Individuen ihre jeweils eigenen Formen der Geschlechtsidentifikation aushandeln und kombinieren. Der Ausdruck »der Mensch ist eine Frau« spielt folglich auch auf die Tatsache an, dass es in jedem Mann einen weiblichen Aspekt und ebenso in jeder Frau einen männlichen Aspekt gibt. Die These der ›Genderisierung‹ eines jeden Menschen (every human being is gendered) impliziert nicht nur, dass sie/er eine Frau oder ein Mann ist, sondern dass sie/er an beiden teilhat, diese beiden Zustände in ihrem/seinem Leben letztlich verändern und ihr/sein Geschlecht als eine Sequenz konstruieren kann, die nicht kohärent sein muss. Eine weitere Konsequenz eines antiessentialistischen Ansatzes liegt darin, dass die Dichotomie Frau/Mann in Bezug auf die Stellung des Subjekts relativiert wird. Das einzelne Subjekt kann die Bedingungen, unter denen es lebt, erkennen und sich bewusst entscheiden, die es einschränkenden Bedingungen zu verändern. »Es«: Bisher habe ich die weiblichen bzw. männlichen Personal- und Possessivpronomen gebraucht, und wenn ich jetzt ins Neutrum wechsle, dann um zu betonen, dass diese Sichtweise dem Subjekt auch die Möglichkeit gibt, die Geschlechterdichotomie, wie sie oft genannt wird – d.h. den einfachen Gegensatz von »sie« und »er« –, zu umgehen oder ganz zu verlassen und die Position eines »es« einzunehmen. Ich spreche hier von einer diskursiven Position, dem Diskurs eines Subjekts, das von außerhalb oder vor seiner Festlegung als »sie« oder »er« spricht, dem Nullpunkt 329

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oder Negativpunkt, wie er von Maurice Blanchot3 beschrieben wird, einer bloßen Möglichkeit, die vielleicht auf der sozialen Ebene niemals realisiert wird, aber auf der diskursiven Ebene irgendwie erreichbar ist. Um ein Beispiel zu geben: Der Liebesdiskurs des von Roland Barthes4 inszenierten Subjekts ist zum einen eindeutig homosexuell und gleichzeitig manchmal ohne eindeutige Geschlechtsfestlegung in dem Sinne, dass seine Worte von unzähligen Menschen erkannt werden können, die in der Lage sind, männlich und weiblich in vielen Variationen miteinander zu kombinieren. Die eigentlichen Prozesse der ›Genderisierung‹ sind kulturgeschichtlich betrachtet hochkomplex. Einige der Vertreter des Europagedankens entwickelten in der Zwischenkriegszeit zum Beispiel Theorien über die Verbindung zwischen Europa und Liebe aus männlicher Perspektive und erkannten gleichzeitig die »feminine« Seite ihrer Persönlichkeit an, die ihnen ihre besondere Sensibilität gegenüber der Liebe überhaupt erst ermöglichte. So war die Sichtweise von Beziehungen zwischen Frauen und Männern im Fall Leo Ferreros5 beispielsweise von den Überzeugungen geprägt, die er von seiner Familie geerbt hatte – sein Großvater war Cesare Lombroso, sein Vater Guglielmo Ferrero und seine Mutter Gina Lombroso Ferrero –, und zwar dahingehend, dass ein deterministischer Unterschied zwischen »Frau« und »Mann« besteht. Die Modifikation dieser Betrachtungsweise der Geschlechterbeziehungen, der Wechsel zu einer mehr kulturellen Sicht solcher Rollen und ihrer Entstehung war für Leo Ferrero biographisch mit der Anerkennung seiner eigenen weiblichen Seite und dem Aufgeben seines »effort to be up to the task of being the strong man« in der Beziehung mit einer Frau verknüpft. Die in seinen Schriften formulierte Interpretation der Spezifität der europäischen Zivilisation als Ergebnis der Doppelwirkung von Begeisterung und Unterdrückung der Eigenliebe, die vom Christentum auf den westlichen Menschen ausgeübt wurde (während er glaubte, dass andere philosophische und religiöse Systeme, wie der Buddhismus oder Konfuzianismus, bessere Wege zur Lösung des Problems der Eigenliebe gefunden hätten), basierte größtenteils immer noch auf einer Konzeption des Liebessubjekts als männlich. Dank eines fruchtbaren Widerspruchs in seinem Werk offenbaren einige seiner besten Theaterarbeiten jedoch gleichzeitig eine Rollenumkehr: In seinen Stücken sind die Frauen die moralisch starken Charaktere, die Männer dagegen schwach und oft verantwortungslos, in krassem Widerspruch zu den Theorien seines Vaters und Großvaters. Innerhalb des essentialistischen Kontextes stellte die durch den 3. Blanchot (1969). 4. Barthes (1990). 5. Ferrero (1984). 330

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Feminismus aufgeworfene Emanzipation von Frauen und Männern die größte wissenschaftliche Herausforderung und eine ernsthafte gesellschaftliche Gefahr dar. Sowohl in der wissenschaftlichen Debatte als auch in der allgemeinen Meinung galten Feminismus und Feminität als widersprüchlich. Gleichheit der Geschlechter und weiblicher Charme, so wurde unterstellt, passten ebenso wenig zusammen wie Emanzipation der Frau und Verführung.6 Die erste Welle des Feminismus musste sich dann auch mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dadurch, dass man Frauen und Männer gleich mache, bringe man Verführung, Liebe und Begehren – und damit die Kernstücke jedweder europäischen Zivilisation – zu einem gewaltsamen Ende. Die Feministinnen der ersten Stunde waren geteilter Auffassung: Von einigen wurden »frivole« Frauen und ihre Verführungslust strikt verurteilt; andere dagegen sahen in der Ent-Erotisierung von Beziehungen zu Männern eine Befreiung und einen Weg, Frauen echte Individualität zu ermöglichen. Wieder andere, wie die für ihren Charme und ihre Schönheit, aber auch für ihren Kampf zur Verteidigung von Dreyfus bekannte französische Journalistin Marguerite Durand, wollten die Verführung reappropriieren; dem Militantismus von Frauen in ihrer in den 1890er Jahren erscheinenden Zeitung La Fronde stand die Nüchternheit und Strenge beim Einsatz für die Gleichheit der Frauen gegenüber. Von dort war es nur ein kleiner Schritt zu einem neuen Liebesverständnis, das Sexualität, aber auch Freundschaft, Achtung und Selbstfindung einschloss und sich zum Beispiel in einigen feministischen Romanen zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wiederfinden lässt. Hier scheint es, als könne die Freiheit von Frauen und die Weigerung, die Verführung aufzugeben, Hand in Hand gehen. Die Dinge waren allerdings nicht so einfach, wie es das literarische Modell versprach. Die totalitären Regime der Zwischenkriegszeit unterdrückten oder entstellten die Emanzipationsaussichten für Frauen durch koerzitive Modernisierungsformen, die dafür sorgten, dass sich ihr Leben nach wie vor um Heim und Mutterschaft drehte. Auch in demokratischen Ländern gab es immer noch starke Einschränkungen; so führte etwa selbst ein Land wie Frankreich das Wahlrecht für Frauen erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Doch genau in dieser Periode leistete eine Reihe von Frauen wichtige Beiträge für die Sache des Friedens und Europas. Der Völkerbund mit Sitz in Genf diente zu einem gewissen Grad als Vehikel für die spezifischen Anliegen europäischer Frauenverbände, die sich auf der Grundlage der Überlegung an ihn wandten, dass Frauen, denen bestimmte Bürgerrechte wie das Wahlrecht vorenthalten wurden, kein ›Vaterland‹ hätten. Mitglieder der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, die sich während des Ersten Weltkriegs für das Frauenwahlrecht eingesetzt hatten, 6. Rochefort (2001). 331

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betrachteten den Völkerbund als ihre ureigenste Sache. Feministinnen nutzten die Existenz des Völkerbundes zur Förderung der Staatsangehörigkeitsrechte verheirateter Frauen und dazu, die internationale Aufmerksamkeit auf den »weißen Sklavenhandel« zu lenken. All dies »merely extended the familiar role of woman as social pacifier«,7 während zugleich in den meisten europäischen Ländern die in vielerlei Weise emanzipierte »neue Frau« als explizites Gegenstück zum männlichen Helden gesehen wurde. Die aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrenden Soldaten empfanden die neuen Rollen von Frauen in der Öffentlichkeit, die aus den an der Heimatfront übernommenen Aufgaben resultierten, als Bedrohung ihrer Stellung als Mann. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg übernahmen Frauen die Rollen von Widerstandskämpferinnen und Mitstreiterinnen, ohne dabei die Rolle der Mutter und Fürsorgerin aufzugeben, nicht einmal während der Schlacht. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als die Europäische Gemeinschaft und spätere Union in einer Bewegung von der wirtschaftlichen zur politischen Sphäre geschaffen wurde (auch hier waren Frauenunmittelbar beteiligt, was oft unterschlagen wird), erlebten die meisten europäischen Länder eine Beschleunigung der weiblichen Emanzipation. Dies galt zunächst vor allem in den ökonomischen und sozialen Bereichen – Frauen waren in den 50er und frühen 60er Jahren die wichtigsten Konsumenten und arbeiteten mehr und mehr auch außerhalb der häuslichen Sphäre – und ab den späten 60er Jahren auch in der Politik, verbunden mit der Absicht, die Definition des Politischen selbst zu verändern. Die zweite Welle des Feminismus stieß auf dieselben Probleme wie die erste. In den 1970er Jahren kritisierten feministische Autorinnen und Wissenschaftlerinnen die romantische Liebe als Kernpunkt der Unterdrückung der Frau und betrachteten Romantik als ein kulturelles Instrument männlicher Macht, um Frauen vom Erkennen ihrer Lage abzuhalten. Mit ihrer falschen Idealisierung, so Shulamith Firestone,8 verberge die Romantik die Unterlegenheit der Frauen dadurch, dass diese auf einen Sockel gehoben werden (›pedestal treatment‹). Dieser Ansicht nach gab es eine Verschwörung von Geschlecht und Klasse zur Aufrechterhaltung der romantischen Liebe und ihrer Täuschungen. Für Germaine Greer ersetzte die romantische Liebe – hervorgegangen aus Ehebruchsphantasien des Adels – den elterlichen Zwang, als die protestantische Mittelklasse begann, arrangierte Hochzeiten zugunsten von freien und gleichen Verbindungen abzuschaffen.9 In diesem Sinne war die romantische Liebe ein Vorreiter der Hoch-

7. Caine/Sluga (2000). 8. Firestone (1970). 9. Greer (1970). 332

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»DER MENSCH IST EINE FRAU.«

zeitszeremonie der modernen Zeit. Juliet Mitchell10 prägte dann die weitere Diskussion durch ihre Beobachtung, dass gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Frau zum Gegenstand romantischer Erzählungen wurde, während das Subjekt der Leidenschaft zuvor der Mann war. Es fand also eine Fokusverschiebung vom sexuellen Subjekt – Mann – zur Frau als Objekt von Liebe und Sex statt. Im Verlauf dieses Prozesses entfernte sich die romantische Liebe von der oppositionellen, ehebrecherischen Liebe des Mittelalters immer weiter und wurde Teil der konformistischen, ehelichen Liebe der Moderne und der Vermassung der Kultur, verkörpert durch Unterhaltungsliteratur und Fernsehserien. Das eurozentristische Paradigma der romantischen Liebe wurde allerdings von den feministischen Wissenschaftlerinnen nicht angetastet – das männliche Subjekt war implizit europäisch bzw. westlich, doch es gab keine explizite Kritik in dieser Richtung. In den 1980er Jahren spielten radikale lesbische Theoretikerinnen eine entscheidende Rolle bei der Neudefinition von Erotik. Einige der Dilemmata, die Elizabeth Wilson in den 80er Jahren aufgezeigt hat, als sie öffentlich ihr Lesbischsein erklärte, die lesbische Liebe aber weder als Lösung zur Heterosexualität, noch als transzendentes Moment der Schwesternschaft, noch als desexualisierte Version der Homosexualität anerkannte, haben auch heute noch Gültigkeit.11 Wilson verweist auf die Verbindung von Sadomasochismus und Romantik und sieht »romance as the refined thrill of psychic pain, and a pornography of the feelings, in which emotions replace sexual parts. Romantic passion is transformation, the secularisation of spiritual impulses that once expressed themselves in mysticism, ritual and magic.«12 Was in der problematischen Beziehung zwischen Liebe und Feminismus wiederkehrt, ist die dunkle Seite, das Verbotene, Gewalt und Unterwerfung (man könnte auch andere Begriffe einsetzen: der Todestrieb und seine Verbindung mit dem Lusttrieb), die sowohl von der puritanischen als auch von der naiv-optimistischen Seite des Feminismus – und Europäismus, wie ich hinzufügen möchte – abgelehnt oder ignoriert wurden. Noch 1993 konnte eine so bedeutende feministische Denkerin und femme politique wie Geneviève Fraisse einen einschlägigen Aufsatz über die »supposed incompatibility between love and feminism« schreiben.13 Nach Fraisse ist die alte antifeministische Phantasie noch immer lebendig und zeigt sich in der immer noch – oder wieder – weit verbreiteten Ansicht, der Feminismus zerstöre das Liebesspiel. Der erste Grund für die Unvereinbarkeit ist die Verwechslung von Gerechtig10. 11. 12. 13.

Mitchell (1984). Wilson (1984). Wilson (1984, S. 213f.). Fraisse (1993). 333

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keit und Liebe: Die Feministinnen – so Fraisse – seien immer noch gespalten, weil sie zwei gegensätzliche Traditionen mit sich tragen: die der freien Liebe und des Zeigens von Leidenschaften (Fourier) und die des Engagements für Gesetze und Institutionen zum Schutz von Frauen vor männlichen Misshandlungen (Proudhon); in beiden Traditionen hat Liebe mit einer besseren Welt zu tun, mit einer Gerechtigkeit, die sogar Liebesbeziehungen verändert. Aber auf diese Weise gerät der Feminismus leicht zur Normativität und zum Moralismus; die Seite der Liebe, die mit Unordnung, Exzess und Konflikt zu tun hat, wird nicht akzeptiert, er ignoriert mit anderen Worten die Lehren eines Sade oder Jarry, sagt Fraisse in ähnlicher Weise, wie Wilson das Thema Sadomasochismus aufgebracht hat. Auch hier werden wir mit der Verbindung zwischen Liebe und Gewalt – und Tod – konfrontiert. Ich möchte in diesem Kontext daran erinnern, dass Liebe, wie in der persischen Geschichte von Layla und Majnun oder sogar der von Tristan und Isolde, auch eine gefährliche, unsoziale Dummheit sein kann und sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Todes befindet. Wir haben uns vom rosigen, irenischen Bild der Liebe entfernt. Liebe ist auch ein Störfaktor, insofern als sie durch den Neuentwurf der Grenzen des Selbst durch Identifikation mit dem Anderen, einem spezifischen Anderen, Bereicherung, aber auch Verlust bewirken kann. Dies ist eine der Stellen, an denen wir das Neutrum finden können: die prä- oder antisoziale Position der Verzweiflung und Einsamkeit, wo das Subjekt an einem Nullpunkt existiert, ob Frau oder Mann. Die »Mehrfach-Genderisierung« (multi-gendering) des Liebessubjekts geht mit dem Begriffswandel des Europäischen und Europäischseins einher. Es geht in dem von mir kurz skizzierten Forschungsansatz darum, die Parallelität und Gleichzeitigkeit von Liebe und Europa aufzuzeigen. Das Ziel ist eine Positionierung und Historisierung des sogenannten universellen abstrakten Subjekts. Dabei sollen nicht nur die Beschränkungen bei seiner Konzeptualisierung in der Vergangenheit dargelegt werden, als es, entgegen aller Behauptungen, hauptsächlich weiß, männlich und christlich war, sondern es soll auch anhand der Geschichte gezeigt werden, dass Europäer immer schon verschiedene Farben und Geschlechterpositionen hatten und noch haben und verschiedenen Religionen oder gar keiner angehören konnten und können. So betrachtet erweist sich die Kategorie »Gender« als entscheidend für die Erforschung der Geschichte sowohl der Frau, als auch des Mannes und sowohl der »alten« Europäer, als auch der potentiell neuen. In der Sicht der »Mehrfach-Genderisierung« erscheint die Verbindung zwischen Liebe und Europa nicht länger als das Privileg des männlichen weißen Subjekts. Allerdings lässt sich die Frage nicht einfach dadurch lösen, dass nun der Frau die Position des Subjekts im Liebesdiskurs zugeschrieben wird. Zusätzlich kompliziert wird die 334

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Sache zuletzt durch die Notwendigkeit, eine tiefgreifendere Kritik des Eurozentrismus zu betreiben und die Formen der Subjektivität, die er hervorgebracht hat, aus ihrer Exklusivität herauszulösen. Das Aufbrechen der essentialistischen Verbindungen zugunsten der Situiertheit versetzt uns in die Lage, neue Verbindungen zu sehen – Verbindungen zwischen Freiheit und Lust, zwischen Emanzipation und Liebe, für Frauen wie für Männer in vielen Kulturen der Welt. Aus dem Englischen übersetzt von Frank Born

Literatur Barthes, Roland (1990), A Lover’s Discourse. Fragments, Harmondworth: Penguin. Blanchot, Maurice (1969), L’entretien infini, Paris: Gallimard. Caine, Barbara / Sluga, Glenda (2000), Gendering European History, London/New York: Leicester University Press. Coudenhove-Kalergi, Richard N. (1927), Held oder Heiliger, Wien/Paris/ Leipzig: Pan-Europa Verlag. Dauphin, Cécile / Farge, Arlette (2001) (Hg.), Séduction et sociétés. Approches historiques, Paris: Seuil. Ferrero, Leo (1984), Il muro trasparente. Scritti di poesia, di prosa e di teatro (a cura di Manuela Scotti), Quaderni della Fondazione Primo Conti, Milano: Scheiwiller. Firestone, Shulamith (1970), The Dialectic of Sex. The Case for Feminist Revolution, New York: Morrow. Fraisse, Geneviève (1993), »Sur l’incompatibilité supposée de l’amour et du féminisme«, in: Esprit, 5, S. 71-77. Greer, Germaine (1970), The Female Eunuch, London: McGibbon & Kee. Mitchell, Juliet (1984), Women: the Longest Revolution. Essays on Feminism, Literature and Psychoanalysis, London: Virago. Passerini, Luisa (1999), Europe in Love, Love in Europe. Imagination and Politics in Britain between the Wars, London: Tauris. Rochefort, Florence (2001), La séduction résiste-t-elle au féminisme?, in Dauphin, Cécile/Farge, Arlette (2001) (Hg.), Séduction et sociétés. Approches historiques, Paris: Seuil, S. 214-243. Wilson, Elizabeth (1984), »Forbidden Love«, in: Feminist Studies, 10, 2, S. 213-226.

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) vakat 336.p 83753335810

GESELLSCHAFTLICHE PRAKTIKEN UND VORSTELLUNGEN IN DER KULTURGESCHICHTE

Gesellschaftliche Praktiken und Vorstellungen in der Kulturgeschichte Paul Ricœur

Leistet die Kulturgeschichte einen Beitrag zur Beantwortung der Hauptfrage der philosophischen Anthropologie: »Was ist der Mensch?« Ich schlage vor, das Begriffspaar Handlung und Vorstellung als Bindeglied zwischen der ganz allgemeinen Frage der Anthropologie und den differenziert ausgearbeiteten Fragen einer Kulturgeschichte aufzufassen, die nur eine räumlich diversifizierte und diachronisch angelegte Geschichte der Kulturen sein kann. Im ersten Teil meines Beitrags werde ich auf dem Gebiet der Historiographie bleiben und im zweiten versuchen, Verbündete der mit dem oben skizzierten Thema befassten Geschichtsschreibung zu finden.

1. Handlung und Vorstellung in der Kulturgeschichte Ich beginne mit den Schwierigkeiten, denen die Historiker auf dem Gebiet der Historiographie begegneten, als sie der Wirtschafts-, der Sozial- und der Politikgeschichte eine Geschichte der Vorstellungen hinzufügen wollten, die die Menschen sich von sich selbst und ihrem Platz in der Gesellschaft machen. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert haben die von der Soziologie Durkheims und Lévy-Brühls beeinflussten Historiker das Problem formuliert und sich zum Ziel gesetzt, Mentalitäten zu beschreiben. Der Begriff Mentalität hatte zum einen den Vorzug, mehr oder weniger das abzudecken, was man im Deutschen Weltanschauungen nannte, zum anderen den, sich auf eine mit Kollektiven befasste historische Sozial- und Kulturpsychologie stützen zu können. Andererseits besaß er über seine Ungenauigkeit hinaus den Nachteil einer fragwürdigen Verwandtschaft zu Theorien »primitiver Mentalität« und ihrer prälogischen Überbleibsel. Geoffrey T.T. Lloyd hat das in Demystifying Mentalities1 mit unerbittlicher Kri1. Lloyd (1990). 337

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PAUL RICŒUR

tik deutlich gemacht. Der größte Mangel des Konzepts der Mentalität war jedoch, dass es die Verbindung zwischen dem, was die Kulturhistoriker gern Vorstellungen nannten, und dem Gebiet gesellschaftlicher Praktiken nicht sichtbar werden ließ. Wenn ich über das Begriffspaar Handlung und Vorstellung spreche, beziehe ich mich auf diese Verbindung. Ihre Untersuchung hängt von einem viel größeren Feld als dem einer Geschichte der Kulturen ab, nämlich von dem einer Kritik der pragmatischen Vernunft. Indem diese Verbindung uns noch immer auf der Ebene der Kulturgeschichte festhält, drückt sie sich in der Rolle der symbolischen Vermittlung aus, die die Vorstellungen in dem Bereich ausüben, wo ein bestimmter Einsatz der gesellschaftlichen Praktiken auf dem Spiel steht, nämlich die Etablierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs und der sich daran anschließenden Identitätsmodalitäten. Für den Historiker sind Vorstellungen keine frei schwebenden, sich in einem autonomen Raum bewegenden Ideen, sondern, wie wir es gerade formuliert haben, symbolische Vermittlungen, die zur Prägung des gesellschaftlichen Zusammenhangs beitragen; sie symbolisieren die Identitäten, die den sich ausprägenden gesellschaftlichen Zusammenhang in bestimmter Weise konfigurieren. Unter diesem Aspekt wird man lieber von Strukturierung als von Struktur sprechen, um zu unterstreichen, dass die Analyse der kollektiven Vorstellungen zur Kritik der pragmatischen Vernunft gehört. In diesem Sinne sind die kollektiven Vorstellungen als solche Bestandteile der sozialen Praxis oder, wie man eher sagen wird, des gesellschaftlichen Handelns. Diesen Bezug der Sphäre der Vorstellungen auf die der gesellschaftlichen Praktiken hat einer der Fernand Braudel nachfolgenden Direktoren der Annales, Bernard Lepetit, in einem Sammelband2 systematisch verteidigt. Dieses Werk sowie das Wirken Lepetits an der Spitze der Zeitschrift kündigten bis zu seinem zu frühen Tod eine bedeutende Wende in der Geschichte der Annales an. Wie der Titel des programmatischen Textes Histoire des pratiques et pratique de l’histoire zu verstehen gibt, verfolgt Lepetit ausdrücklich ein doppeltes Ziel. Einerseits wird die Idee gesellschaftlicher Praktiken in den Rang eines privilegierten Gegenstands der Historiographie erhoben, andererseits besitzt die historische Wissenschaft selbst den Status einer pragmatischen Disziplin. So entsteht zwischen den sozialen Praktiken als Gegenständen und der historischen Praxis als Wahrnehmungsmodus der vergangenen Wirklichkeit eine spiegelbildliche Beziehung. Auf diese Weise wird die Geschichte der Mentalitäten zu einem Prozess, der nicht mehr ein bloßes Anhängsel der Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte ist, sondern ein Universum miteinander verbundener Vorstellungen und Deutungen, die auf ein histo2. Lepetit (1995). 338

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GESELLSCHAFTLICHE PRAKTIKEN UND VORSTELLUNGEN IN DER KULTURGESCHICHTE

risches Geschehen aktiv und selbst praktisch antworten. Dieser anspruchsvollere Begriff der menschlichen Vorstellungswelt setzte voraus, dass die Gesellschaft selbst »als eine Kategorie der gesellschaftlichen Praxis« analysiert wird, und ferner: dass man zugesteht, dass »die gesellschaftlichen Identitäten oder gesellschaftlichen Zusammenhänge kein Wesen, sondern nur Verwendungsformen haben«.3 Dieser Perspektivenwechsel führt zu einer aufwendigen Neuüberprüfung der von der Disziplin ausgearbeiteten chronologischen Modelle; man denke an die Überlagerung von langen, mittel- und kurzfristigen Zeiträumen bei Braudel oder an das ineinander Verflochtensein von Strukturen und Verhältnissen bei Labrousse. Zugleich erscheinen im Vordergrund wieder die Akteure der gesellschaftlichen Vermittlungsprozesse. Auf diese Weise kann die Idee der Praxis zugleich als Ursprung und als Gegenstand der Deutung erscheinen. Lepetit sah in dieser Reorganisation des historischen Wissens den Anfang einer Neugliederung der Geschichtsdisziplin, die nach der Krise des Modells ausbrach, das das Ansehen der Annales-Schule zu Braudels Zeiten ausgemacht hatte; darüber hinaus lieferte der Autor eine Antwort auf den linguistic turn, der von anderen Gruppierungen in Anspruch genommen wurde. Kehren wir zu den beiden Seiten im Begriff des Pragmatischen zurück: zu der objektiven und der operationalen! Von der Objektseite aus handelte es sich darum, die Wertordnung der Fragen neu zu ordnen und dabei von der Frage nach Übereinstimmung auszugehen, nach der »Übereinstimmung zwischen Subjekten, zwischen den Subjekten und den Dingen; es geht um das Wissen, wie sich gesellschaftliche Übereinstimmung bildet, wie ihr Zustandekommen scheitert oder wie sie sich auflöst«.4 Nun nimmt die Frage der Übereinstimmung entsprechend der Rangordnung des betrachteten Phänomens eine jeweils andere Bedeutung an: Nach dem Maßstab der Makrogeschichte hat Übereinstimmung eher die Form einer Unterwerfung der Subjekte unter die Normen; nach dem der Mikrogeschichte wird in Situationen der Ungewissheit die Übereinstimmung eher dem Zufall folgend von den Akteuren ausgehandelt. Die zeitlichen Modelle sind also mit der Art und Weise des Verlaufs einer »festgelegten Handlung« eng verbunden. Überhaupt verfügt die Gesellschaft zur Organisation ihrer Augenblicksstrukturen über keinen festen Anhaltspunkt, der sie transzendiert: In diesem Sinne bilden die Vorstellungen mit den Praktiken ein Ganzes. Zum Forscher: Er hat die gleichen Kompetenzen wie die von ihm beobachteten Akteure. Wenn er die Frage der gesellschaftlichen Identität sowie das Thema der Übereinstimmung, der Normenprobleme, des Zusammenhalts der Gesellschaft oder schließlich des Zeitmodells berührt, dann entspricht sein pragmatisches Herangehen den 3. Lepetit (1995, S. 18). 4. Lepetit (1995, S. 15). 339

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Praktiken der Akteure der gesellschaftlichen Lebenspraxis. Diese Bemerkung wirkt sich vor allem auf die Diskussionen über Normen, Konventionen und der Identität aus. Der Theoretiker begibt sich hier in die Schule der gesellschaftlichen Praxis selbst. Seine Kompetenz misst sich an der angenommenen Kompetenz der Akteure. Dieser Begriff der Kompetenz ist so grundlegend, dass er das Wesen der Geschichtlichkeit der Wissenschaft verändert; damit verlieren die Begriffe des Vorgängigen, der vorangehenden Kausalität ihren vorherbestimmenden Charakter, um sich dem eingliedern zu lassen, was der Autor gerne »ein Universum der Ressourcen« nennt, dessen pragmatischer Klang evident ist. Diese pragmatische Grundstimmung haben sie gemein mit den anderen »Handlungen, mit denen die Menschen der Vergangenheit oder auch die Historiker der Welt Sinn verleihen«.5 Nach diesem Exposé der Thesen Bernard Lepetits möchte ich einige konkrete Veranschaulichungen der Dialektik von Vorstellung und gesellschaftlicher Praxis präsentieren, Beispiele, die ich den Arbeiten der französischen historiographischen Schule entnommen habe. Es sind neue »Gegenstände« der Geschichte, die neben neuen »Methoden« erschienen sind. […] Mit Rücksicht auf meine Arbeiten über Erinnerung und Geschichte möchte ich einige Arbeiten beiseite lassen, die man dem Themenkomplex einer Geschichte der Erinnerung zuordnen kann; es handelt sich um die verschiedenen Arten und Weisen, in denen die gleichen hervorstechenden, erniedrigenden und traumatisierenden Ereignisse von der Geschichte der Historiker abgelöst und von der zeitgenössischen Erinnerung aufgenommen worden sind, was man als »von der Geschichte beschlagnahmt« bezeichnen könnte. Gerade diese Rezeption vermöge der Erinnerung geschichtlicher Vergangenheit durch die Historiographie könnte Gegenstand einer spezifischen Geschichte der Erinnerung werden. Ich halte diese Geschichte der Erinnerung für einen bemerkenswerten Abschnitt der Kulturgeschichte. Nach den fürchterlichen Ereignissen, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet haben, fehlt es nicht an Beispielen: die Geschichte der Verbrechen, aber auch der Résistance und der Kollaboration, die Geschichte der Entkolonialisierung, die des Kalten Krieges und des Zusammenbruchs der sowjetischen Hegemonie. Nun sind diese durch die Geschichtsschreibung gebrochenen Ereignisse von den einzelnen, besonderen und nationalen Gemeinschaften in sehr unterschiedlicher, sogar antithetischer Weise aufgenommen worden. So war, um Beispiele aus Frankreich aufzunehmen, die Erinnerung der unmittelbaren Nachkriegszeit konzentriert auf Fragen der Kollaboration und des Widerstands gegen die Besatzung; erst später ist die Geschichte der Shoah in den Vordergrund gerückt. Darüber hat sich die Rezeption des 5. Lepetit (1995, S. 22). 340

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Algerienkrieges und in noch größerem Umfang die der Entkolonialisierung geschoben. Diese Beispiele zeigen ein bemerkenswertes, die Kulturgeschichte interessierendes Phänomen, nämlich einen gewissen Wettstreit zwischen der Geschichte der Historiker und der Aufnahmefähigkeit der Erinnerung: Die Geschichte mit einem weiteren Gesichtsfeld lässt Vergleiche zu, sie sucht eher zu verstehen als zu verdammen oder freizusprechen, während die Erinnerung, die unter dem Blickwinkel der Geschichtsrezeption und nicht mehr unter dem ihrer Niederschrift betrachtet wird, dazu neigt, ihren Blickwinkel zu verengen und jeden Vergleich eines Unglücks mit einem anderen abzulehnen; sie muss schließlich urteilen – auf die Gefahr hin, mehrere Erinnerungen miteinander wetteifern zu lassen. Gerne bringe ich diese Geschichte der Erinnerung mit dem großen Werk Pierre Noras in Zusammenhang, das den Gedächtnisorten gewidmet ist. Die Erinnerung, um die es sich hier handelt, ist wirklich unsere; sie erkennt jedoch ihre Identität erst, wenn sie sich auf das bezieht, was man »Orte« nennt, und dabei ebenso viele symbolische Vermittlungen bildet. Man muss wohl verstehen, um welche Orte es sich handelt, damit es nicht Orte der Geschichte sind, sondern »Gedächtnisorte« sein können. In gewisser Weise muss man diese »Orte« auslagern. Es sind keine geographischen Gegenden, noch weniger Erbfragmente. So stehen die ersten der in Band 1 von Noras Werk genannten Orte: der republikanische Kalender, die Fahne, symbolische Gegenstände, mit denen sich unsere Erinnerung vermittelt, die drei Farben, die Archive, die Bibliotheken, die Wörterbücher oder schließlich die Museen unter dem gleichen Anspruch wie die Gedenkfeiern, das Pantheon oder der Triumphbogen. Wir benutzen hier das Wort Gedenkfeier in einem Sinn, der dem Missbrauch der Feste zuwiderläuft: Sie werden in so hartnäckiger Weise mit topographischen Orten verknüpft, dass es das ganze Unternehmen gefährdet. Die Gedächtnis»orte«, die die Alltagssprache beständig dem kulturellen Erbe des Begriffes entnimmt, sind sehr wohl Spuren, Reste, deshalb aber keine Stätten; sie zielen darauf ab, Verluste und Zerrissenheiten durch eine Verankerung in den Zeichen der Vergangenheit zu kompensieren. Das in diesen Zeichen materiell Gebliebene erfordert Einbildungskraft, die sie zu symbolischen Vermittlungen macht. Da es im Einzelnen eher um die Nation geht, ist es ein ganzer geschichtlicher Verlauf, der sich von der Feudalzeit bis in unsere Epoche des Nationalstaats erstreckt, die sich in einem »nationalen Gedächtnis« zusammengefasst und kristallisiert findet, das ebenso gut »Gedächtnisnation« ist. Das Interesse dieses gigantischen Unternehmens ist es, das Ringen zwischen Symbolorten und Überlieferungsorten in den Vordergrund zu stellen – einen Kampf, der durch den zwischen der lebendigen Erinnerungsarbeit und der Vereinnahmung durch Gedenkfeiern und ihren konventionellen und gebie-

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terischen Charakter bestimmt ist. Ich habe keine Mühe damit, hinter dieser Dramaturgie die Höhepunkte dessen wieder zu finden, was ich oben die Etablierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs mittels der Versinnbildlichung in den Identitätsmodalitäten genannt habe.

2. Anthropologische Konvergenzen Auf den vorhergehenden Seiten ging es um das Begriffspaar Handlung und Vorstellung innerhalb der Grenzen der Kulturgeschichte. Eine unerwartete Annäherung an die von der Kulturgeschichte sehr weit entfernten Wissenschaften wird eine tiefe Einheit zwischen mehreren, in der Anthropologie verwurzelten Wissenschaften enthüllen. Das ist der Fall bei der Wirtschaftswissenschaft, als deren Rivale im Kampf um die Hegemonie inmitten einer allumfassenden Geschichte sich lange Zeit die Kulturgeschichte aufgespielt hat. Im Werk Amartya Sens, des Nobelpreisträgers für Wirtschaft und emeritierten Professors der Harvard Universität, habe ich in Gestalt des Begriffs der »Fähigkeit« und seiner Beziehung zu den »Rechten« die erhofften Auswege gefunden. Wie kommt ein hoch kompetenter Wirtschaftswissenschaftler mit Erfahrungen in der Wirtschaftsmathematik dazu, die Begriffe »Fähigkeiten« und »Rechte« zusammenzubringen? In einem seiner zahlreichen Werke, das im englischen Original den Titel On Ethics and Economics6 trägt, kündigt er gleich zu Beginn an, dass er in die Wirtschaftswissenschaft wieder eine ethische Dimension auf der Motivationsebene einführen wolle. Die Quasi-Einstimmigkeit der Spezialisten habe diese Dimension auf ihren ›rationalen Kern‹ reduziert und dieses als Maximierung des persönlichen Interesses gemäß dem Nützlichkeitsprinzip interpretiert. Die menschlichen Wesen, so erwidert Sen, verhalten sich in Wirklichkeit nicht ausschließlich interessenorientiert: »Ich habe in anderen Essais zu zeigen versucht, dass mit Blick auf die ethische Orientierung des Individuums eine wesentliche und nicht reduzierbare ›Dualität‹ existiert. Man kann die Person unter dem Blickwinkel ihres Handelns betrachten, indem man ihre Fähigkeit, Ziele und Engagements, Werte usw. zu begreifen, anerkennt und respektiert; man kann aber auch dem Wohlbefinden dieser Person die Aufmerksamkeit widmen. Diese Dichotomie verschwindet bei einem Modell, in dem die Motivation ausschließlich auf dem persönlichen Interesse fußt und das Handeln der Person ihrem Wohlbefinden gewidmet sein muss. Wenn man jedoch das Joch des persönlich motivierten Interesses unterdrückt, wird es möglich, die unbezweifelbare Tatsache zuzugeben, dass die Handlung einer Person sehr wohl auf Überlegungen antworten kann, die nicht – oder zumindest nicht ganz – 6. Als französische Ausgabe siehe Sen (1993). 342

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von dem persönlichen Wohlbefinden abhängen.«7 So gelangt »die Handlungsfähigkeit jeder Person«8 wieder an die erste Stelle, und diese Fähigkeit verbindet Sen mit der Kompetenz zu nicht bloß subjektiven, nach dem Prinzip selbstbezogener Nutzenmaximierung erfolgenden Bewertungen. So gesehen erlaubt das Modell des homo oeconomicus kein übermäßig vereinfachtes Bild der Motive, die die Individuen zum Handeln treiben. Damit kommt die Freiheit mit ins Spiel, über die das Individuum verfügt, und mit ihr die Frage der Rechte, die sie garantieren. In der utilitaristischen Tradition sind diese Rechte, wenn sie beschworen werden, bloß Mittel, um andere, vor allem nützliche Güter zu erlangen. Nicht zufällig verweist die Ethik, mit der Sen die Wirtschaft versöhnen will, auf die große Tradition des politischen Liberalismus des englischen Sprachraums. Sen verknüpft hier die Schriften von Rawls, Nozick, Dworkin mit dem Denken seines Freundes Bernard Williams. Doch für ihn, den Volkswirtschaftler, ist die Freiheit zum einen Teil wesentlich mit der Idee der Wahl des Lebens bzw. der Lebensführung, zum anderen mit der Idee der kollektiven Verantwortlichkeit verbunden. Betrachten wir nacheinander beide Seiten des Problems. Der Freiheitsbegriff erlaubt nach der angelsächsischen Tradition einen Doppelsinn, den Isaiha Berlin in seinen Four Essays on Liberty9 als negative und positive Freiheit bezeichnet hat. Der negative Freiheitsbegriff stellt die Abwesenheit von Hindernissen in den Vordergrund, die ein Individuum und vor allem der Staat einer Person in den Weg stellen können. Dadurch werden einer Person bestimmte Güter vorenthalten oder nur uneingeschränkt gewährt, und gerade dieses wird zu einem Problem der Freiheit. Die bürgerlichen Rechte (auf Meinungsäußerung, Eigentum usw.) gehören in diese Kategorie; sie können von anderen Individuen oder durch den Staat verwehrt werden; dieser negativen, durch die Abwesenheit der besagten Einschränkungen oder Hindernisse charakterisierten Freiheit widmet die »libertäre« Strömung die größte Aufmerksamkeit. Unter positiven Bestimmungen repräsentiert die Freiheit die Summe all dessen, was eine Person zu vollbringen fähig oder unfähig ist. Selbst wenn diese positive Freiheit die erste, die negative Freiheit, voraussetzt, fügt sie ihr die Fähigkeit einer Person hinzu, das gewählte Leben tatsächlich auch führen zu können. Die von Sen an der Ethik neu orientierten ökonomischen Rechte beruhen auf der Gliederung zwischen negativen und positiven Dimensionen der Freiheit. So appelliert die wirkliche Ausübung der menschlichen Wahl7. Sen (1993, S. 40). 8. Sen (1993, S. 40). 9. Berlin (1976). 343

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und Handlungsfreiheit an die »kollektive Verantwortlichkeit«. Und die Verantwortlichkeit der Gesellschaft zur Sicherung der individuellen Freiheit muss sich zugleich auf die positive und die negative Freiheit sowie auf die Vollständigkeit ihrer wechselseitigen Beziehungen erstrecken. Sen ist für die Anwendung seiner Begriffsanalyse auf einen wichtigen, konkreten Fall berühmt geworden, in dem die fundamentale, positive Freiheit des Überlebens auf dem Spiel steht, nämlich den Fall der Hungersnot. Sen, der selbst aus Dacca in Bangladesch stammt, hat am Beispiel einer Serie von Hungersnöten auf dem indischen Subkontinent gezeigt, dass es zwischen den verfügbaren Lebensmittelvorräten und den Hungersnöten keine mechanische Verbindung gab. Die Erklärung einer Hungersnot muss komplexer angelegt werden, also noch weitere Erklärungsfaktoren einbeziehen. Es kommen als erstes die »Rechte« in Betracht, mit denen die schwachen Gruppen ausgestattet sind, nämlich die Rechte der Aneignung, die diese Gruppen geltend machen können.10 Im Licht dieser Diagnostik wird deutlich, dass eine Politik, die darin besteht, die Einkommen der Menschen zu ergänzen (indem man ihnen z. B. eine öffentliche Anstellung anbietet oder den ärmsten ein Gehalt zahlt), sich als eines der wirksamsten Mittel erwies, Hungersnöte zu verhindern. Tatsächlich sind auf diese Weise in Indien seit der Unabhängigkeit Hungersnöte systematisch vermieden worden. So zögert Sen nicht, eine Gleichung zwischen dem nicht-demokratischen Charakter eines politischen Systems und der Hungersnot aufzustellen, wie bei der, die sich in China zwischen 1958 und 1961 ereignete. Kurz gesagt, im Innersten eines demokratischen Staates existieren unterschiedliche positive Freiheiten, einschließlich der Freiheit, regelmäßige Wahlen abzuhalten, der Pressefreiheit und der unzensierten Freiheit des Wortes; sie verkörpern die wahre, für die Beseitigung einer Hungersnot verantwortliche Macht. Durch diese Beweisführung gestärkt, kann Sen auf die theoretische Problematik der gesellschaftlichen Bewertung der Handlungsfähigkeit (agency) der Individuen zurückkommen. Im Gegensatz zur utilitaristischen Tradition, die diese Bewertung auf die erreichten Ergebnisse stützt, die ihrerseits auf das Kriterium der Nützlichkeit reduziert sind, lässt Sen die gesellschaftliche Bewertung der miteinander wetteifernden Politiken auf der Freiheit zur Durchführung beruhen, die eine Verlängerung der positiven Freiheit ist. So wird die individuelle Freiheit zur gesellschaftlichen Verantwortung. Auf diesem Gebiet begegnet Sen dem großen Werk John Rawls’, A Theory of Justice. Sen erkennt an, dass in Hinsicht auf die politische und ethische Bedeutung der individuellen Freiheit Rawls’ »Grundsätze der Gerechtigkeit« den Vorrang individueller Freiheit schützen – unter dem Vorbehalt, dass 10. Sen (1985). 344

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eine ähnliche Freiheit allen zukommt. Auch bei Rawls stellt die Tatsache der Ungleichheit nicht die Verteilung von Nützlichkeiten in den Vordergrund, sondern die der »Hauptgüter«, wie Einkommen, Reichtum, öffentliche Freiheiten, die den Individuen helfen, frei ihrem Lebensplan zu folgen. Ich lasse den Streit zwischen Rawls und Sen über das Verhältnis zwischen Hauptgütern und Freiheiten beiseite, da es das Verständnis der hier zentralen Kategorien nicht berührt. Es genügt, den Begriff der sozialen Verantwortlichkeit hervorzuheben, der die individuelle Freiheit zum wichtigsten Ziel der sozialen Gerechtigkeit macht. Dafür wird die Freiheit ein wesentliches Kriterium zur Bewertung der sozialen Systeme samt ihrer wirtschaftlichen Bestandteile. Kurz: Jede Verwirklichung, die in dem Leben wurzelt, das die Person führt oder führen kann, wird berücksichtigt. Es ist Zeit, auf das Begriffspaar zu sprechen zu kommen, das nach meiner Meinung mit dem im ersten Teil des Aufsatzes auf der anthropologischen Ebene eingeführten Begriffspaar zusammenfällt. Die Rede von »Vorstellungen« und gesellschaftlichen »Praktiken« verhält sich nämlich symmetrisch zu Sens Begriffspaar »Rechte« und »Fähigkeiten«. Dieses geht vom Vorrecht der »positiven« gegenüber der »negativen« Freiheit aus. Wie aber führt die Forderung nach einer »positiven« Freiheit zu Sens Unterscheidung zwischen Rechten und Fähigkeiten? Diese Frage erörtert ein Artikel Sens, der den Titel »Rechte und Fähigkeiten« trägt. Sen formuliert in ihm die Frage so: »Warum kümmern wir uns nur darum, die negativen Freiheiten zu schützen, statt uns dafür zu interessieren, was die Menschen wirklich tun können?« Der Autor verdankt dieser Besorgnis zu einem großen Teil seine Analyse der Erscheinungsformen der Hungersnot. Solange die Handlungsfähigkeit in ihrer Minimalform, der Überlebensfähigkeit, von der Gesellschaft nicht gesichert wird, solange taucht das Phänomen der Hungerkatastrophe auf, obwohl eine ausreichende Menge an Nahrungsmitteln vorhanden ist. Daraus folgt, dass der Schutz des Individuums vor den Einmischungen anderer, die die Libertären an die Spitze stellen, vergeblich ist, wenn nicht spezifische Maßnahmen ergriffen werden, die eine minimale Handlungsfähigkeit garantieren. Nun aber bestätigt sich, dass diese Fähigkeit zu sein und zu handeln, von den Freiheiten, die die politischen Institutionen übernehmen, nicht zu trennen ist. Die durch das Paar »rights and capabilities« eingeführte begriffliche Revolution lässt sich erst dann hinreichend verstehen, wenn man es den bisher dominierenden Begriffen der Nützlichkeit und des wirtschaftlichen Wohlergehens gegenüberstellt. Als tatsächliche Fähigkeit zur Wahl von Lebensentwürfen ist die »Fähigkeit« in den Rang eines Kriteriums für die Bewertung sozialer Gerechtigkeit erhoben worden. Das Konzept geht viel weiter als das der »Hauptgüter«, das Rawls in den Mittelpunkt der erstrebten Gleichheit dieser Theorie der Gerechtigkeit stellt. Wenn es wahr ist, dass Vergleiche zwischen den Personen 345

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die wesentlichsten Informationen in der Frage nach der Gerechtigkeit einer Gesellschaft bereitstellen, dann können diese Vergleiche sich nicht nur auf das einfache Freiheitsmittel, die Hauptgüter, beziehen, sondern müssen auch auf die Begabungen, über die die Individuen wirklich verfügen, bezogen werden. Diese Fähigkeiten sind nicht, wie Rawls es beanstandet, an einen besonderen Maßstab der Güter gebunden, der bloß die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Modi darstellt. Es handelt sich um eine tatsächliche Lebensentscheidung. Wird man dagegen einwenden, das sei eine Rückkehr zum Kapitel III der Nikomachischen Ethik? Das stimmt nur in dem Maße, in dem die Sorge um die Freiheit in ihren beiden Erscheinungsformen Rechte hervorbringt. So kristallisiert sich das Paar »rights and capabilities« in der Vorstellung von Rechten auf bestimmte Qualifikationen.11 Ich werde die Analyse der Hauptbegriffe Sens nicht weiterführen; es genügt mir, eine Konvergenz zwischen dem Begriffspaar, das die Vorstellungen gesellschaftlicher Praktiken in der Kulturgeschichte vereint und dem Paar, das die Begriffe »Rechte« und »Fähigkeiten« in der Wirtschaftstheorie bilden, eine Bekräftigung für eine in der Anthropologie verwurzelte Auffassung menschlichen Handelns gefunden zu haben. Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Hagen Hildebrandt

Literatur Berlin, Isaiha (1976), Four Essays on Liberty, Oxford: Oxford University Press. Lepetit, Bernard (1995), Les formes de l’expérience. Une autre histoire sociale, Paris: Albin Michel. Lloyd, Geoffry T.T. (1990), Demystifying Mentalities, Cambridge; Cambridge University Press. Sen, Amartya (1985), Poverty and Famine, Oxford: Oxford University Press. — (1993), Éthique et économie et autres essais, Paris: Quadrige, P.U.F.

11. Sen (1993, S. 117). 346

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»WENN ES WIRKLICHKEITSSINN GIBT, MUß ES AUCH MÖGLICHKEITSSINN GEBEN.«

»Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben.« Traditionen des utopischen Denkens bei Robert Musil 1 Wilhelm Voßkamp

Robert Musils lebenslanges Romanprojekt »Der Mann ohne Eigenschaften« lässt sich nicht nur als eine Enzyklopädie europäischen Erzählens, sondern auch als Summe abendländischen utopischen Denkens bezeichnen. 1923 begonnen und 1930/32 lediglich in einzelnen Teilen veröffentlicht, arbeitete Musil an seinem Lebenswerk bis zum Tod im Jahre 1942. Der Nachlass und die Publikationen seit Beginn der 1950er Jahre (vor allem durch Adolf Frisé) offenbarten einen Roman von wahrhaft ungewöhnlichen Ausmaßen. Von den überlieferten 6000 Seiten, von Entwürfen, Vorstufen und Überarbeitungen liegt jetzt zwar ein wichtiger Teil gedruckt vor – viele unveröffentlichte Texte (im Musil-Archiv in Klagenfurt) warten aber noch auf ihre Publikation.2 Musils Romanschreiben bildet selbst ein unabgeschlossenes utopisches Projekt, und seinen Inhalt zusammenzufassen, fällt nicht leicht. Zum Verständnis und zum Einordnen der in diesem Vortrag diskutierten Utopie-Thematik nur soviel: Die Handlung des Romans setzt ein im August 1913; sie bildet in den ersten Teilen eine satirische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Vorstellungen und Ideologien der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, einer entscheidenden Zäsur des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum steht Ulrich, eine Mittelpunktsfigur in der Tradition deutscher Bildungsromane, der in ersten Entwürfen von Musil auch »Achilles« (und »Anders«) oder – bezeichnend genug – »M. Le Vivisecteur«, aber auch »Spion«, genannt wird. Ulrich – nachdem er »drei Versuche, ein bedeu1. Der Text wurde um Anmerkungen erweitert, die Vortragsfassung beibehalten. 2. Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe: Musil (1987). Zur umfangreichen Literatur über Musils Roman vgl. Luserke (1995); ferner das Literaturverzeichnis in Kümmel (2001, S. 456-465); außerdem den Musil-Kommentar zu dem Roman MoE: Arntzen (1982). 347

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WILHELM VOßKAMP

tender Mann zu werden« (als Offizier, Ingenieur und Mathematiker) hinter sich gelassen hat – nimmt sich »ein Jahr Urlaub vom Leben«, um sich – in einer Art Selbstversuch – Klarheit über sich selbst und seine zeitgenössische ›Umwelt‹ zu verschaffen. Diese ist charakterisiert durch ein Personengeflecht der K. und K.-Monarchie, das sich selbstironisch genug auf eine Jubiläumsveranstaltung, die so genannte »Parallelaktion« der österreichisch-ungarischen Monarchie, konzentriert und zu deren Sekretär Ulrich auf Empfehlung seines Vaters, eines bekannten Jura-Professors, berufen wird. Die »Parallelaktion« besteht in einer patriotischen Unternehmung zur Feier der siebzigjährigen Wiederkehr der Thronbesteigung Seiner Kaiserlichen Majestät. Es handelt sich um Aktionen in Wien, die sich auf die gleichzeitig stattfindenden Vorbereitungen der Preußen in Berlin beziehen, die für das Jahr 1918 ihr dreißigjähriges Kaiserjubiläum feiern wollen, und dahinter sollen selbstverständlich die entsprechenden Feierlichkeiten in Österreich nicht zurückstehen. Über den Schluss des Musilschen Romans haben Literaturwissenschaftler und Interpreten – wie bei Kafkas unvollendeten Romanen – viel spekuliert; darüber noch kurz am Ende dieses Vortrags. Kennzeichnend für die Erzählweise des Romans – dies mag noch hinzugefügt werden – ist ein Neben- und Ineinander im Unterschied zu einem kontinuierlichen Nacheinander. Die Doppelheit von Erzählen und Reflektieren (und vice versa) ist konstitutiv für den gesamten Roman; Fiktionalität und Essayistik zielen nicht auf Kontinuität, trotz eines dominanten Erzählers und selbstbeobachtenden Kommentators. Wenn man nach der Tradition von Utopien und utopischen Konzepten bei Musil fragt – und Musil hat keine Scheu, den Begriff »Utopie« in verschiedenen Zusammenhängen zu verwenden –, wird man zunächst feststellen, dass Musil weder an der Tradition von räumlichen Insel- und Sozialutopien im Sinne gesellschaftlicher Entwürfe besonders interessiert ist (vgl. hier die Tradition seit Platos »Politeia« oder Thomas Morus’ »Utopia« [1516]), noch in der Nachfolge von in die Zukunft gerichteten Zeitutopien steht (etwa seit Louis-Sébastien Merciers »L’an deux mille quatre cent quarante« [1770]).3 Auch Zeitutopien im Sinne individueller Selbstvervollkommnungsprozesse, wie sie der deutsche Bildungsroman entwickelt, betrachtet Musil mit Distanz. Hier Thomas Mann verwandt, geht auch Musil davon aus, dass der moderne Roman keine Bildungsromane von Charakteren, sondern vielmehr Bildungsromane von Ideen biete. Wichtiger noch als literarische Modelle sind für Musil philosophische Traditionen und Diskussionen seiner Zeit wie vor allem Ernst Blochs »Der Geist der Utopie« [zuerst 1918] und Karl Mannheims »Ide3. Vgl. dazu insgesamt Voßkamp (1985). Außerdem Voßkamp (1990). 348

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»WENN ES WIRKLICHKEITSSINN GIBT, MUß ES AUCH MÖGLICHKEITSSINN GEBEN.«

ologie und Utopie« [1929].4 Musils, in mannigfachen Variationen wiederholte Hauptidee ist die Rolle und Funktion des Möglichkeitssinns: »Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist.«5 Im Unterschied zu Blochs später im Einzelnen entwickelter Hoffnungsphilosophie erinnert Musils Konzeption eher an das, was der französische Utopie-Forscher Raymond Ruyer als »utopische Methode« bezeichnet hat. Die »utopische Methode«, so Ruyer, »gehört ihrer Natur gemäß zum Bereich der Theorie und der Spekulation. Aber anders als die Theorie im herkömmlichen Sinne sucht sie nicht die Kenntnis dessen, was ist, vielmehr ist sie eine Übung oder ein Spiel mit den möglichen Erweiterungen der Realität.«6 Bei der utopischen Denkweise handle es sich um die Freude am gedanklichen Erproben von Möglichkeiten, die über die Wirklichkeit hinausgehen, andererseits aber zu einer anderen Form des ›Verstehens‹ der Realität führen.7 Musil geht es um diese Art des Verstehens von Wirklichkeit im Experimentieren mit Utopien. Dafür ist die Kategorie ›Möglichkeit‹ konstitutiv. Anders formuliert: Musils utopische Methode ist nicht als Handlungsanleitung zu lesen, sondern als eine Form des kommunikativen Handelns, die sich experimentell auf die Realität einlässt. Alle Entwürfe und Konzeptionen sind durchgehend mit Reflexion verbunden und niemals eindeutig. In Musils Tagebüchern findet sich darüber hinaus eine Art Selbstkommentar zum Roman; gewissermaßen eine zusätzliche »Beobachtung zweiter Ordnung« des eigenen Schreibens im Roman.8 Er enthält eine Fülle von Zitaten und Anspielungen, sodass er zu Recht – wie zu Anfang betont – als eine Diskursenzyklopädie und als ein Kompendium der europäischen Literatur und Philosophie bezeichnet worden ist. Peter Pütz hat von einer »ironischen Inventur zeitgenössischer Theorien« gesprochen.9 Dies führt zu textueller Mehr- und Vielstimmigkeit, die sich literarisch vor allem im Dialog der 4. Bloch (1964, Bd. 3); Mannheim (1978). 5. Musil (1987, S. 16), (Kap. 4: »Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben«). Im Folgenden werden die Seitenzahlen dieser Ausgabe im fortlaufenden Text angegeben. 6. Vgl. Ruyer (1968, S. 339). 7. Vgl. dazu insgesamt Münz-Koenen (1997). 8. Vgl. Musil (1983). 9. Pütz (1994, S. 248). 349

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im Roman zentralen Hauptpersonen artikuliert. Ulrich führt zudem ein Tagebuch (das seine Schwester Agathe später finden wird), welches zu weiteren Gesprächen und Reflexionen Anlass gibt. Lässt sich in diesem Stimmen- und Schriftgewirr eine Typologie der Utopieprojekte Musils erkennen? Es sind im Einzelnen vier Modelle, die ich im Folgenden erläutern möchte: 1. die Utopie des exakten Lebens (als Wissenschaft) und des »Essayismus« (als Lebenskunst); 2. die Utopie der Dauerkommunikation (das satirisch-ironische Projekt der »Parallelaktion«); 3. die Utopie des »anderen Zustands« (als Bemühen um eine »ekstatische Sozietät«); und schließlich 4. jene »Utopie der induktiven Gesinnung«, von der Musil in den Entwürfen zum Schluss seines Romans spricht. Alle als idealtypisch zu betrachtenden Modelle können angesichts der im Rahmen dieses Vortrags zur Verfügung stehenden Zeit nur kurz beleuchtet werden.

1. Die Utopie des »exakten Lebens« Robert Musils Utopie des »exakten Lebens« arbeitet gewissermaßen mit dem Rechenschieber und kritisiert die sentimentalen Romane seiner zeitgenössischen Schriftstellerkollegen und -konkurrenten: »Wir plärren für das Gefühl, gegen den Intellekt und vergessen, daß Gefühl ohne diesen – abgesehen von Ausnahmefällen – eine Sache so dick wie ein Mops ist. Wir haben damit unsre Dichtkunst schon so weit ruiniert, daß man nach je zwei hintereinander gelesenen deutschen Romanen ein Integral auflösen muß, um abzumagern.«10 Musil (und mit ihm der Erzähler des Romans) geht von der Experimentiergesinnung des Naturwissenschaftlers und der konstruktiven Phantasie des Logikers und Mathematikers aus. Er vergleicht die Welt mit einem »Laboratorium« und einer »große[n] Versuchsstätte, wo die besten Arten, Mensch zu sein, durchgeprobt und neue entdeckt werden müßten« (MoE 152). Die Welt sei »sozusagen algebraisch [zu] behandeln«; es gebe heute, so der Erzähler, »keine zweite Möglichkeit eines so phantastischen Gefühls wie die des Mathematikers«.11 Angeregt durch den Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg (dessen Texte er »verschlang«) geht es um 10. Zitat Musil in Schöne (1966, S. 304). 11. Zitat Musil in Schöne (1966, S. 304ff.). 350

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»immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, [um] Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen [und] lockende Vorbilder [… zu] erfinden«.12 Mit dieser Methode hatte sich Musil selbst 1908 im Zusammenhang seiner Berliner Dissertation über den Philosophen Ernst Mach auseinandergesetzt, um die exakte Methodik der experimentellen Naturwissenschaften auf den geistigen, philosophischen Bereich übertragen zu können. Dafür aber bietet sich kein anderes historisches Vorbild eher an als Gottfried Wilhelm Leibniz, den der junge Ulrich bereits in seinem Schulaufsatz zitiert, wenn er den göttlichen Schöpfer im Horizont des Conjunctivus potentialis interpretiert, der die Welt mache, aber gleichzeitig denke, »es könnte ebenso gut anders sein«. Nun hat sich jeder Entwurf möglicher Welten im Sinne der »Utopie des exakten Lebens« an den Ordnungsgesetzen der wirklichen Welt zu orientieren (vgl. die zu Anfang zitierte Gegenüberstellung von Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn). Erst die genau beobachtete Wirklichkeit erlaubt Spielräume des Experimentierens: »Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie. […] Utopie bedeutet das Experiment, worin die mögliche Veränderung eines Elements und die Wirkungen beobachtet werden, die sie in jener zusammengesetzten Erscheinung hervorrufen würde, die wir Leben nennen.« (MoE 246) Dieser bewusste »Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt«, setzt für das Erproben von neuen Möglichkeiten Genauigkeit des Beobachtens und Denkens voraus. Das gilt auch für den Möglichkeitsbegriff. Musil versucht in den Tagebüchern – um jede Form des Phantastischen im Begriff ›Möglichkeit‹ abzuwehren – eine Unterscheidung zwischen »zweckmäßigen und unzweckmäßigen« Möglichkeiten. Im Blick auf eine Utopie des exakten Lebens kann es nur um zweckmäßige Möglichkeiten gehen, die »offenbar durch eine verallgemeinernde Induktion aus vielen beobachteten Analogien« erschlossen werden können. Vom Einzelfall her ist nicht zu entscheiden. »Erst indem in vielen Wiederholungen ein Theil der Möglichkeiten den gleichen Fall als Folge mit sich führt – nennen wir diesen Theil seine zweckmäßigen Möglichkeiten […]«.13 Man kann hieran noch einmal ablesen, dass es Musil im Roman bei seiner »Utopie des exakten Lebens« um die genauere Bestimmung des 12. Zitat Musil in Schöne (1966, S. 306, auch zum Folgenden). 13. Musil (1976, S. 77). 351

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Verhältnisses von Wirklichkeit und Möglichkeit gehen muss im Sinne einer an den Naturwissenschaften orientierten induktiven Methode. Das gilt auch dann noch, wenn Musil die (natur-)wissenschaftliche Begrifflichkeit zugunsten einer literarischen bzw. textuellen ersetzt oder erweitert und von einer »Utopie des Essayismus« spricht. Auch hier geht es um Experimentierverfahren – allerdings im Medium von Literatur und Kunst: »In Ulrich war später, bei gemehrtem geistigen Vermögen daraus [aus seinem Möglichkeitsdenken] eine Vorstellung geworden, die er nun nicht mehr mit dem unsicheren Wort Hypothese, sondern aus bestimmten Gründen mit dem eigentümlichen Begriff eines Essays verband. Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen. […] Der Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur erschienen ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten.« (MoE 250) Den Unterschied zwischen dem szientifischen und ästhetischen Experimentalverfahren bestimmt der Roman darin, dass der »Essayismus« deutlicher als eine Kategorie des individuellen Erlebens ausgewiesen sei, ohne jedoch zu einem emphatischen Subjektbegriff zurückkehren zu müssen. Bezeichnenderweise redet Ulrich vom »ungeschriebene[n] Gedicht seines Daseins« (MoE 251) und formuliert spielerisch seine utopische Devise vom »Leben wie man liest«.14 Ohne Zweifel stehen beide Vorschläge – die Utopie des »exakten Lebens« und die des »Essayismus« – im Zeichen jenes hypothetischen Lebens, das das produktive Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit jeweils zu erproben hat. Der »Essayismus« zielt dabei auf jene selbstreflexive Gestaltung des Konjunktivs, die sich des Mediums der literarischen Texte selbst bedient. Festzuhalten bleibt – in der Tradition Leibniz’ – die enge Verknüpfung von szientifischen und literarisch-textuellen Verfahren. Eine Zweiteilung der Welt etwa in einen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Bereich (C. P. Snow) wäre Musil nie in den Sinn gekommen.

2. Utopie und Dystopie der Kommunikation (das Projekt der »Parallelaktion«) Die Ironie des Musilschen Romans besteht darin, dass der Protagonist Ulrich – während er noch (in der Zeit seines »Urlaubs vom Leben«) über hypothetische, essayistische oder induktive Verfahren des Lebens nachdenkt – vom zeitgenössischen politischen Leben der österrei14. Vgl. Hajduk (2000, S. 156). 352

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chisch-ungarischen Monarchie eingeholt wird. Er wird zum Sekretär der »Parallelaktion« berufen, eines Festkomitees, das die Veranstaltungen zum siebzigjährigen Thronjubiläum des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. im Jahr 1918 vorbereiten und dabei die parallel zu erwartenden Veranstaltungen in Berlin zum dreißigjährigen Regierungsjubiläum Wilhelm II. möglichst übertreffen soll. Der Erzähler des Romans interpretiert und gestaltet diese ›gespenstische‹ Jubiläumsaktion als eine satirisch-utopische Antwort auf das von ihm konstatierte Fehlen eines Konzepts von Geschichte, das historische Zeit strukturieren bzw. ›ordnen‹ könnte. In einer Selbstinterpretation des Romans schreibt Musil über seine Mittelpunktsfigur Ulrich: » […] indes die Zeit rinnt, treten seine Erlebnisse nach allen Seiten über die Ufer, ohne daß ihm dies Über-die-Ufer-Treten gefällt. Ich sage einmal sogar, daß sein und unser Leben den Faden der Erzählung verloren hat […]«.15 In anderen Zusammenhängen – in einer Rede über das »hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten in Tausendste« (1922) – hat Musil das Fehlen zeitgenössischer Ordnungsbegriffe – bei gleichzeitiger Kritik an Oswald Spengler – beklagt und das Nebeneinander ganz unterschiedlicher, gegensätzlicher Richtungen hervorgehoben: »[…] der Zeitmagen ist verdorben und stößt in tausend Mischungen immer wieder Brocken der gleichen Speisen auf, ohne sie zu verdauen«.16 Die Kritik des »Seinesgleichen geschieht« (so sein Begriff sich vollziehender ›Geschichte‹) als »Koinzidenz der Tatsachen« – und die beobachteten Legitimationsnöte des »kakanischen«, österreichisch-ungarischen Staates provozieren Musil zu dem satirisch-ironischen Experiment einer »patriotischen« Jubiläumsveranstaltung – eben die »Parallelaktion«. Beteiligt sind Graf Leinsdorf als der »Kopf« der Unternehmung, der ein Jubiläumsjahr unter vier Schlagworten vorstellt: »Friedenskaiser, europäischer Markstein, wahres Österreich und Besitz und Bildung« (MoE 87). Ihm zur Seite steht Ermelinda Tuzzi, die Frau eines Sektionschefs, die Ulrich Diotima nennt »mit einem bürgerlichem Korsett von Bildung« (MoE 92). Ulrich ironisiert diese »Seelenriesin«: »Es kamen aber keineswegs nur regierungsfähige, sondern auch geistige Kennerworte aus Diotimas Mund, wie ›seelenlose, bloß von Logik und Psychologie beherrschte Zeit‹ oder ›Gegenwart und Ewigkeit‹, und plötzlich […] auch Berlin und der ›Schatz von Gefühl‹ […], den das Österreichertum im Gegensatz zu Preußen noch bewahre« (MoE 94). Die dritte Hauptfigur ist Dr. Paul Arnheim (hinter dem sich als Schlüsselfigur der Industrielle und spätere, von den Rechten ermorde-

15. Vgl. Haslmayr (1997, S. 78); vgl. außerdem Honold (1995). 16. Musil (1978b, S. 1088); vgl. dazu Altmann (1992, S. 29-34). 353

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te Außenminister Walter Rathenau verbirgt).17 Er wird eingeführt als »Mann großen Formats«, der durch Tätigkeit charakterisiert ist und die »Vereinigung von Seele und Wirtschaft oder von Idee und Macht« verkörpert (MoE 108). Gerüchte besagen angeblich, dass der mit einem eigenen Zug in Wien angekommen sei, »ein ganzes Hotel gemietet habe und einen kleinen Negersklaven mit sich führe […]« (MoE 97) – wobei der Erzähler hinzufügt, dass die Wahrheit wesentlich bescheidener sei, »weil Paul Arnheim sich niemals auffällig benahm« (MoE 97). Der Ort des Zusammentreffens dieser Personen (einschließlich Ulrichs neu berufenem Sekretär, der als Teilnehmer und Beobachter fungiert) ist Diotimas Salon. Er vertritt jene traditionsreiche europäische Institution der geselligen Kommunikation, die in der angedeuteten Kritik und ironischen Distanz zu »Besitz und Bildung« (vgl. als Parodie auf die Formel von Max Weber) die Vertreter der Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft zusammenführt. Die Kritik zielt in der Nachfolge Friedrich Nietzsches auf den Begriff der herabgesunkenen, zu Schlagworten verkommenen ›Bildung‹, die nicht in die Tiefe, sondern »in die Breite« gehe (MoE 102) und auf jene »Kultur«, die als »gewaltsame Geselligkeit« (MoE 101) lediglich menschliche Einheit vortäusche. Der Erzähler veranschaulicht dies satirisch am Verlauf einer Sitzung des Festkomitees. Zuerst redet ein Professor, dann »eine um das Wohltätigkeitswesen sehr verdiente Dame«, die eine »Groß-Österreichische-Franz-Joseph-Suppenanstalt« vorschlägt; darauf folgt ein Vertreter des Ministeriums mit dem Plan, ein »Monumentalwerk ›Kaiser Franz Joseph I. und seine Zeit‹« herauszugeben. (MoE 172f). Das Ergebnis solcher Sitzungen kann man sich vorstellen: Eine Resolution – und die abschließende Behandlung im »Hauptausschuß« oder die »Gründung eines geistigen Ausschusses zur weiteren Bearbeitung der grundlegenden Ideen, natürlich im Einvernehmen mit allen anderen Ausschüssen« (MoE 179). Auch ans Archivieren ist selbstverständlich gedacht; entweder unter der Überschrift »Zurück zu …!« oder »Vorwärts zu …!« (MoE 234), so steht es auf den Mappen, die Ulrich dem Koordinator Leinsdorf überbringt. Was so als heillose Jubiläums-Projektemacherei satirisiert und als groteske Parodie gesellschaftlich-geselliger Kommunikation verspottet wird, offenbart zugleich das Dilemma jeder ziellosen Kommunikation und Redehandlung. Musil lässt in der Vielstimmigkeit seiner Personen und des Erzählerkommentars indes durchblicken, dass die »Parallelaktion« als eine in die ironische Distanz gerückte Suche nach Sinn in der Geschichte zu verstehen ist, die sich einer hypertrophen Utopie-Agentur bedient. Selbst wenn früh die Befürchtung geäußert wird, »daß man […] über 17. Vgl. Buddensieg/Hughes/Kocka u.a. (1990). 354

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»WENN ES WIRKLICHKEITSSINN GIBT, MUß ES AUCH MÖGLICHKEITSSINN GEBEN.«

einen Abgrund von Reden nicht hinauskommen werde« (MoE 195), so hält man doch am Reden fest. Welche Funktion hat dieses Dauerreden? In einem Dialog zwischen Tuzzi (dem Ehemann Diotimas) und dem Initiator der Aktion (Graf Leinsdorf) wird dies im Roman selbst thematisiert. Tuzzi: »Was geredet wird, bedeutet gar nichts. Das bedeutet nie etwas!« – Leinsdorf: »Mein Verehrter, sogar Revolutionen werden seit Achtzehnhundertachtund vierzig nur noch durch vieles Reden gemacht!« (MoE 1023). Die Funktion des Redens ist nicht eindeutig. Die Dauerbeschäftigung des Redens in der »Parallelaktion« (vor dem Ersten Weltkrieg) klammert das politische Handeln aus – sie vermeidet also (noch) den Krieg. Dieser ist aber der eigentliche Kontrapunkt der Rede. Fernab von jeder ›idealen‹ Kommunikationsgemeinschaft – Diotimas Zusammenkünfte erscheinen als Parodie einer ruhmreichen Salonkultur – bleibt die »Parallelaktion« als kulturkritisch inszenierte Redeveranstaltung am Vorabend des Ersten Weltkriegs der utopisch-dystopische Gegenpol zur ›Tat‹. Solange geredet wird, gibt es keinen Krieg!

3. Die Utopie des »anderen Zustands« (»ekstatische Sozietät«) Das vor allem im zweiten Teil des Romans entwickelte Konzept des »anderen Zustands« kann als konstitutiv für Musils Modell der Utopie überhaupt angesehen werden. Der ausgesparte Raum des »Nirgendland[s]« (MoE 876) – U-topia – ruft die abendländische (und orientalische) Tradition Arkadiens und des Gartens auf. Kapitelüberschriften wie »Die Reise ins Paradies« oder »Atemzüge eines Sommertags« verweisen auf den hortus conclusus, den verschlossenen Garten: »Ein wohlverschlossener Garten bist du meine Schwester, meine Braut! Ein wohlverschlossener Garten, ein versiegelter Quell«, heißt es im Hohen Lied Salomons (4,12). Die arkadische Vorstellung des Gartens, die über die alttestamentarische, griechische und lateinische Literatur in die frühneuzeitliche bukolische Literatur der Renaissance (vgl. Sannazaros »Arcadia«) vermittelt wird – übrigens zeitgleich mit Thomas Morus’ »Utopia« –, bietet topisch wiederkehrende Gegenorte zur städtischen Zivilisation und eröffnet unentfremdete Spielräume für individuelle Selbstentfaltung und Selbstverständigung. Zentrales Motiv ist stets die nicht ungefährdete, aber im Prinzip ›symmetrische‹ Liebe – der »Wechseltausch« der Liebenden (Goethe) –, der als eigentliche Utopie der Individuation entfaltet wird. Musil gibt dieser alteuropäischen Tradition eine eigentümliche Wendung. Wiederum in einer Experimentiersituation lässt er die Mittelpunktsfigur Ulrich mit seiner Zwillingsschwester Agathe nach langem Getrenntsein im Sterbehaus des Vaters zusammentreffen. Agathe 355

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möchte nicht mehr zu ihrem Ehemann, dem Pädagogen Gottlieb Hagauer zurückkehren und beschäftigt sich seit längerem ausschließlich mit Lektüre und Selbstbeobachtung in einer, wie der Erzähler distanziert beobachtet, »leichten Gehobenheit des Lebensunwillens« (MoE 757). Agathe begegnet Ulrich zunächst in einem Pierrotkostüm, damit das Motiv des Hermaphroditischen bereits ankündigend. Angespielt wird auch auf Isis und Osiris. Wichtiger ist aber, dass beide Geschwister in einen Zustand versetzt werden, der ihre Wahrnehmung grundsätzlich verändert. Musil betont in der Erklärung eines von ihm zunächst vorgesehenen Romantitels »Die Zwillingsschwester«, dass die Zwillingsschwester »biologisch etwas sehr Seltenes [sei], aber sie lebt in uns allen als geistige Utopie, als manifestierte Idee unserer selbst. Was den meisten nur Sehnsucht bleibt, wird meiner Figur Erfüllung.«18 Damit ist jenes Doppelgängermotiv angedeutet, das unter dem Titel »Siamesische Zwillinge« in einem eigenen Roman-Kapitel genauer entfaltet wird. Es geht um die »Doppelgängerei« insofern, als (so der Erzähler) das »Verlangen nach einem Doppelgänger im anderen Geschlecht […] uralt [sei]. Es will die Liebe eines Wesens, das uns völlig gleichen, aber doch ein anderes als wir sein soll« (MoE 905). Bei der »geheimnisvollen Doppelgeschlechtlichkeit der Seele« (MoE 906) gehe es um die »Bedeutung der Übereinstimmung und Ichwiederholung im anderen« (MoE 905). Diese Empfindung, so Musil an einer späteren Stelle des Romans, lasse sich verallgemeinern: Entscheidend sei die »schattenhafte Verdopplung seiner selbst in der entgegengesetzten Natur«, jedenfalls handle es sich um die »Sehnsucht« danach, wenn der Mensch »nicht heillos mit sich selbst zufrieden ist« (MoE 942). Während in den im Roman zuvor geschilderten Liebesgeschichten Ulrichs (mit Bonadea, Diotima) das Scheitern der zweigeschlechtlichen Vereinigung dargestellt wird, experimentiert Musil im Modell der Geschwisterliebe mit einer spiegelbildlichen Symmetrievorstellung, wobei allerdings auch hier unklar bleibt, ob Agathe nicht wiederum zur Projektionsgestalt von Ulrichs Selbstvervollkommnungswillen gemacht wird. (Ein Erbe des klassischen Bildungsromans!) Der das Verhalten der Geschwister reflektierende und kommentierende Erzähler charakterisiert ihre Liebe als eine Form der wechselseitigen Selbst- und Eigenliebe im Anderen, bei der das Selbstverhalten jenseits des (sexuellen) Verlangens erprobt werde. Bei dieser »Reise an den Rand des Unmöglichen« gelangten Ulrich und Agathe in die Nähe mystischer Erfahrung »ohne Okkultismus« (MoE 1839). Unter Berufung auf Ludwig Klages (»Vom kosmogonischen Eros«[1926]), Heinrich Gomperz (»Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen«[1904]) und Martin Buber (»Ekstatische Konfessionen«[1909]) – 18. Musil (1978a, S. 940). 356

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vgl. die Tagebücher – wird jene »seraphische Liebe« beschworen, die »fern jedem Begehren und vielleicht nah der Liebe« sei (MoE 878). Dieses »vielleicht« lässt allerdings auch einen Vorbehalt anklingen. Charakteristisch für Musils utopischen Impuls ist nun, dass die Geschwisterliebe zugleich als Modell für eine mögliche »ekstatische Sozietät« erwogen wird. Dafür stehen weniger Friedrich Schillers »erlesene Zirkel« (in den »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen«) als vielmehr chiliastische Vorstellungen vom Tausendjährigen Reich unter Berufung auf die Offenbarung Johannis (20,4), die bei Joachim von Fiore und den Wiedertäufern, aber auch noch im Pietismus des 18. Jahrhunderts, etwa bei Oetinger, eine wichtige Rolle spielen. Von Ulrich heißt es, »daß er nicht nur im Scherz, wenn auch nur als Vergleich, den Ausdruck ›Tausendjähriges Reich‹ gebraucht habe. Wenn man dieses Versprechen ernst nahm, kam es auf den Wunsch hinaus, mit der Hilfe gegenseitiger Liebe in einer so gehobenen weltlichen Verfassung zu leben, daß man nur noch das fühlen und tun kann, was diesen Zustand erhöht und erhält« (MoE 874). Dass dies allerdings eine augenblickshafte Erfahrung bleiben muss und für eine ›weltliche Verfassung‹ nicht tragfähig zu sein scheint – die Arkadien-Literatur hat das in vielen Variationen veranschaulicht –, zeigt auch die Begegnung zwischen Ulrich und Agathe, die sich zwar momenthaft in einen sich selbst überhebenden »gemeinsamen [- ›anderen‹ – ] Zustand« (MoE 1083) versetzen, aber danach wieder zu reflektierenden und distanzierenden »Gesprächen« übergehen. Gespräche bedeuten selbstvergegenwärtigende Erinnerung und erwartungsvolle Antizipation. Handelt es sich hierbei um bloße »Zwischengebilde von Eingebung und Einbildung« (wie Agathe vermutet) (MoE 1095) oder ist Liebe »eine Ekstase« (MoE 1130), die vom sprichwörtlichen »Hören-und-Sehen-Vergehen« diametral verschieden ist (so Ulrich), wobei er den schwedischen »Metaphysikus und gelehrten Ingenieur« Emanuael Swedenborg zitiert und damit die Nähe zu mystischtheologischen Vorstellungen andeutet.19 Gespräche im Zitat bilden auch den Hauptinhalt jener Kapitelentwürfe, an denen Musil in den letzten Jahren vor seinem Tod am 15. April 1942 gearbeitet hat. In der Dialektik von Reden und Schweigen entwickelt er eine durchgehende Paradoxie, die darin besteht, dass Liebe einerseits das »gesprächigste aller Gefühle [ist] und […] zum großen Teil ganz aus Gesprächigkeit besteht« (MoE 1219), aber – andererseits – die Sprache der Liebe eine »Geheimsprache« darstelle, die »in ihrer höchsten Vollendung so schweigsam wie eine Umarmung« sei (MoE 1102). Diese Paradoxie endet in den von Musil als »heilige Gespräche« charakterisierten Reden am Schluss des Romans in einem Schweigegebot: »Ansichhalten muß man, bis Kopf, Herz und Glieder 19. Vgl. dazu Balke (1997). 357

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lauter Schweigen sind. Erreicht man so aber die höchste Selbstlosigkeit, dann berühren sich schließlich Außen und Innen, als wäre ein Keil ausgesprungen, der die Welt geteilt hat« (MoE 1234). Dieser an Novalis erinnernde Satz lässt sich nur im Medium der Sprache (eben auch eines Romans) vergegenwärtigen. Bieten – stattdessen – Bilder eine Alternative? Auch das wird von Musil erwogen. Um die unio mystica in der geschwisterlichen Vereinigung darzustellen, taucht bezeichnenderweise ein Motiv auf, das ›Stillstand‹ signalisiert. Im Bild des Stillebens, der »nature morte«, wird ein Motiv aufgerufen, das in der Arkadienliteratur ebenso wie in jeder Utopie zum Skandalon werden muss: der Tod. Im Kapitel »Atemzüge eines Sommertags« (aus dem Nachlass) heißt es: »Ein geräuschloser Strom glanzlosen Blütenschnees schwebte, von einer abgeblühten Baumgruppe kommend, durch den Sonnenschein; und der Atem, der ihn trug, war so sanft, daß sich kein Blatt regte. Kein Schatten fiel davon auf das Grün des Rasens, aber dieses schien sich von innen zu verdunkeln wie ein Auge. Die zärtlich und verschwenderisch vom jungen Sommer belaubten Bäume und Sträucher, die beiseite standen oder den Hintergrund bildeten, machten den Eindruck von fassungslosen Zuschauern, die, in ihrer fröhlichen Tracht überrascht und gebannt, an diesem Begräbniszug und Naturfest teilnahmen. Frühling und Herbst, Sprache und Schweigen der Natur, auch Lebens- und Todeszauber mischten sich in dem Bild; die Herzen schienen stillzustehen, aus der Brust genommen zu sein, sich dem schweigenden Zug durch die Luft anzuschließen.« (MoE 1232) Utopie des ekstatischen Augenblicks: Ein Bild des Stillstehens von Zeit – auch Tod als unabwendbare Erfahrung im »anderen Zustand«.

4. Die Utopie der »induktiven Gesinnung« Über die Frage, wie Musil dieses für die abendländische Utopietradition zentrale (und heikle) Thema im Roman weitergeführt hätte, lassen sich nur Vermutungen anstellen. Auffallend ist, dass der Autor in seinen letzten Entwürfen auf ein anderes Utopie-Konzept zurückkommt, das bereits unter dem Stichwort des »exakten Lebens« oder des zu Anfang erwähnten »Essayismus« genannt wurde. Die Rede ist, so Musil, von der Notwendigkeit einer »Utopie der induktiven Gesinnung«. Gegenüber erkenntnistheoretischen Diskussionen zum Problem des Hypothetischen und Induktiven in den empirischen Naturwissenschaften betont Musil hier stärker das Soziale in der Ausrichtung auf ein gesellschaftliches »summum bonum«. Damit stellt er sich in jene alteuropäische Tradition, die nach aristotelischem Vorbild die Verbindung von Klugheit und Tugend betont und in der »Übereinstimmung 358

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von Handlung und Gesinnung […] die Sittlichkeit der Tat verbürgen« soll.20 Vorstellungen, die Musil entwickelt, etwa zum »Tatsinn«, sind zwar nicht frei von dezisionistischen Zügen, sie plädieren aber für eine seit der Renaissance (vgl. Castigliones »Il Cortegeano«) vertraute »Utopie des motivierten Lebens« bzw. einer »Moral des nächsten Schritts« (vgl. MoE 1819ff.), die in der handlungsorientierten Kommunikation realisiert werden soll: »Es liegt in der Welt etwas«, so Musil, »das uns zur äußersten Höflichkeit und Zurückhaltung (= induktive Demut) ihr gegenüber zwingen sollte, sei es wenn wir handeln, sei es wenn sich unsere Gedanken mit ihr beschäftigen.« (MoE 1919) Für Musil ist die Literatur jenes kommunikative Medium des Experimentierens mit Utopiemodellen, dem er selbst eine utopische Funktion zuschreibt: »Was ich im Roman gebe«, heißt es in den Tagebüchern Mitte der 1930er Jahre, »wird immer Utopie bleiben; es ist nicht ›die Wirklichkeit von morgen‹. […], Es ist [allerdings] […] zu zeigen […], daß sie [die Literatur] in sich selbst maximal zu sein hat«21 – auch im Unvollendeten: »Als Fragment erscheint das Unvollkommene noch am erträglichsten – und also ist diese Form der Mitteilung dem zu empfehlen, der noch nicht im Ganzen fertig ist – und doch einzelne merkwürdige Ansichten zu geben hat.«22 Was ist der Mensch? Musils Hinweise zum »Sozialen« im Unvollendeten – noch nicht Vollendeten – mögen die Richtung seiner Antwort andeuten, auch im Fragment. Mehr noch: im Möglichkeitsdenken selbst sieht er den Inbegriff dessen, was den Menschen ausmacht. Sören Kierkegaards Satz – den Theodor W. Adorno in seiner Dissertation zitiert – »Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, so wünschte ich mir weder Reichtum noch Macht, sondern die Leidenschaft der Möglichkeit«,23 könnte auch von Robert Musil stammen.

Literatur Adorno, Theodor W. (1979), »Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen«, in: Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, hg. v. Tiedemann, Rolf. Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Altmann, Volkmar (1992), Totalität und Perspektive: Zum Wirklichkeitsbegriff Robert Musils im »Mann ohne Eigenschaften«, Frankfurt a. Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien: Lang. Arntzen, Helmut (1982), Musil-Kommentar zu dem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, München: Winkler. 20. 21. 22. 23.

Vgl. Maier-Solgk (1992, S. 177). Musil (1976, S. 862). Novalis (1965, S. 595). Adorno (1979, S. 177f.). 359

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Balke, Friedrich (1997), »Mystische Subjektivierung oder: Die Kunst der Erhebung über das Wissen«, in: Gruber, Bettina (Hg.), Erfahrung und System. Mystik und Esoterik der Literatur der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 27-48. Bloch, Ernst (1964), Geist der Utopie. Bearbeitete Neuauflage der zweiten Fassung von 1923, Frankfurt a. Main: Suhrkamp, (Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 3). Buddensieg, Tillmann/Hughes, Thomas/Kocka, Jürgen et al. (1990), Ein Mann vieler Eigenschaften. Walter Rathenau und die Kultur der Moderne, Berlin: Klaus Wagenbach. Haslmayr, Harald (1997), Die Zeit ohne Eigenschaften: Geschichtsphilosophie und Moderne-Begriff im Werk Robert Musils, Wien/Köln/Weimar: Böhlau. Hajduk, Stefan (2000), Die Figur des Erhabenen. Robert Musils ästhetische Transgression der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann. Honold, Alexander (1995), Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, München: Fink (Musil-Studien, Bd. 25). Kümmel, Albert (2001), Das MoE-Programm. Eine Studie über geistige Organisation, München: Fink (Musil-Studienband 29). Luserke, Matthias (1995), Robert Musil, Stuttgart/Weimar: Metzler. Mannheim, Karl (1978), Ideologie und Utopie. Sechste unveränderte Auflage, Frankfurt a. Main: G. Schulte-Bulmke. Maier-Solgk, Frank (1992), Sinn für Geschichte. Ästhetische Subjektivität und histeriologische Reflexion bei Robert Musil, München: Fink. Münz-Koenen, Inge (1997), Konstruktion des Nirgendwo. Die Diskursivität des Utopischen bei Bloch, Adorno, Habermas, Berlin: Akademie-Verlag. Musil, Robert (1976), Tagebücher, hg. v. Frisé, Adolf, Reinbek: Rowohlt. — (1978a), Prosa und Stücke, Bd. 2, hg. v. Frisé, Adolf, Reinbek: Rowohlt. — (1978b), Gesammelte Werke, hg. v. Frisé, Adolf, Reinbek: Rowohlt. — (1987), Der Mann ohne Eigenschaften, I: Erstes und Zweites Buch, hg. v. Frisé, Adolf; II: Aus dem Nachlass, hg. v. Frisé, Adolf, Reinbek: Rowohlt. Novalis (1965), Schriften, Bd. 2., hg. v. Samuel, Richard, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Pütz, Peter (1994), »Robert Musil«, in: Steinecke, Hartmut (Hg.), Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts, Berlin: Erich Schmidt, S. 233-252. Ruyer, Raymond (1968), »Die utopische Methode«, in: Neusüss, Arnhelm (Hg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied/ Berlin: Luchterhand, S. 339-360. Schöne, Albrecht (1966), »Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil«, in: Schillemeit, Jost (Hg.), Deutsche Romane von Grimmelshausen bis Musil, Frankfurt a. Main: Fischer-Taschenbuch, S. 290-318. 360

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»WENN ES WIRKLICHKEITSSINN GIBT, MUß ES AUCH MÖGLICHKEITSSINN GEBEN.«

Voßkamp, Wilhelm (Hg.) (1985), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, 3 Bde, Frankfurt a. Main: Suhrkamp. — (1990), »Utopie als Antwort auf Geschichte. Zur Typologie literarischer Utopien in der Neuzeit«, in: Eggert, Hartmut/Profitlich, Ulrich/Scherpe, Klaus R. (Hg.), Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart: Metzler, S. 273-283.

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DIE FÜNFTE DIMENSION

Die fünfte Dimension: Intersubjektivität Harald Welzer

Jörn Rüsens Denken ist, wie Sie alle wissen, von drei zentralen Fragen motiviert: Was ist Geschichte? Was ist Wahrheit? Was ist Sinn? Wenn man darüber nachsinnt, was man jemandem zum Geburtstag schenken soll, beginnt man schnell darüber nachzudenken, ob es etwas Praktisches gibt, etwas, was diese Person wohl gebrauchen kann. Da ist mir die – zugegebenermaßen etwas hypertrophe – Idee gekommen, dass er etwas ganz dringend braucht: nämlich Antworten auf diese drei Fragen, und deshalb habe ich mir gedacht, es wäre gut, ihm also drei Antworten zum Geburtstag zu schenken. Ich weiß natürlich, dass diese Antworten ein etwas zweischneidiges Geschenk sind, denn sie werden ihm nicht in jeder Hinsicht gefallen. Aber Geschenke kann man sich nun mal nicht aussuchen, sondern muss sie annehmen und dazu ein freundliches Gesicht machen, ob sie einem nun gefallen oder nicht. Also zur ersten Frage: Was ist Geschichte? Menschen sind Wesen, die aus der langsam verlaufenden biologischen Evolution herausgetreten sind, indem sie einen ungeheuer effizienten Entwicklungsbeschleuniger eingeführt haben: die kulturelle Weitergabe von Erfahrung und Wissen. Voraussetzung dafür war ein reflexives Gedächtnis. Zweifellos können sich auch Tiere erinnern, sie können sich aber nicht erinnern, dass sie sich erinnern. Erst ein autonoetisches, d.h. den Abruf von Erinnerungen bewusst steuerndes Gedächtnis schafft die Möglichkeit, Gedächtnisinhalte zu externalisieren, aus dem Organismus herauszuverlagern: angefangen von der einfachen Markierung eines Nahrungsverstecks über die Entwicklung symbolischer Austauschformen durch sprachliche Kommunikation bis zur Herausbildung von Schriftsprachen haben Menschen ganz einzigartige Formen der Repräsentation von Gedächtnisinhalten geschaffen, die zum einen Entlastung von 363

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Handlungsdruck, zum anderen die soziale Weitergabe von Erinnertem erlauben. Menschen können Informationen aufbewahren und kommunizieren; sie können sie mit der Erfindung von Schrift schließlich sogar an Menschen weitergeben, mit denen sie räumlich oder zeitlich überhaupt nichts verbindet, womit sich ein Fundus von gespeichertem Wissen auftut, der die Beschränkungen der direkten Kommunikationen radikal überwindet. In Anlehnung an die Terminologie der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung könnte man sagen: Neben das Engramm, das neuronale Korrelat einer Erinnerungsspur, tritt das Exogramm, das kulturelle Korrelat einer Erinnerungsspur. Der Entwicklungsbiologe Michael Tomasello1 hat auf der Basis vergleichender Säuglings- und Primatenforschung die Theorie aufgestellt, dass die Fähigkeit zur Intersubjektivität und schließlich das Beherrschen symbolischer Kommunikationsformen einen evolutionären Fortschritt ums Ganze bedeutet: Die Schaffung einer Möglichkeit der kulturellen Weitergabe von Erfahrungen im Medium der sprachlichen Kommunikation, argumentiert Tomasello, beschleunigt die langsame biologische Evolution mit den Mitteln des Sozialen. Darauf geht die atemberaubende und sich permanent steigernde Entwicklungsgeschwindigkeit der Evolution menschlicher Existenzformen zurück: Kulturelle Weitergabe ermöglicht, dass die jeweils folgenden Generationen auf der Basis der gemachten und in soziale Praktiken überführten Bewältigungserfahrungen ihre Entwicklungsmöglichkeiten auf jeweils höheren Erfahrungsniveaus ansetzen und entfalten können. Dieser Gedanke ist nicht ganz so neu, wie Tomasello glaubt: Bereits in den 50er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind theoretische Überlegungen in dieselbe Richtung angestellt worden,2 die aber hinsichtlich ihres Einflusses auf die Disziplinen, die sich mit dem Gehirn, dem Bewusstsein, dem Gedächtnis etc. beschäftigen, ziemlich folgenlos geblieben sind. Gegenwärtig scheint es aber aus Gründen der Konvergenz von Forschungsergebnissen aus verschiedenen Disziplinen besonders überzeugend und Erfolg versprechend, in Richtung einer sozialen bzw. kulturellen Beschleunigung der biologischen Evolution zu denken. Wir können also die soziale Existenzform von Menschen selbst als eine supranaturale adaptive Umgebung auffassen, in der die nachwachsenden Generationen ihre Entwicklung sozial jeweils auf der Stufe ansetzen, die die Vorgängergeneration erreicht und kultiviert hat. Dies erlaubt eine gegenüber anderen Säugetieren völlig andere Entwicklungsdynamik der Spezies, die mittels Speicherung und Weitergabe von Erfahrung und Wissen, Tradierung und Traditionsbildung erreicht wird. Was immer die Ursache für die Emergenz symbolischer 1. Tomasello (2002). 2. Huxley (1941); Huxley (1951); Elias (1991). 364

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DIE FÜNFTE DIMENSION

Kommunikationsformen gewesen sein mag, ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen Primaten und menschlichen Primaten ist jedenfalls in einer fundamentalen Differenz der sozialen Organisation ihrer Überlebensgemeinschaften zu suchen. Während nicht-menschliche Primaten innerhalb ihrer Überlebensgemeinschaft um Nahrungsmittel konkurrieren und ein Sozialsystem entwickelt haben, das durch strikte Hierarchisierung und eine unumstößliche soziale Ordnung die Ernährungs- und Fortpflanzungserfordernisse der Gruppe reguliert, setzen menschliche Überlebensgemeinschaften auf ein völlig anderes Prinzip: auf Kooperation. Kooperation steigert die Potentiale der Einzelnen, indem sie Fähigkeiten und Kräfte bündeln, kombinieren, kumulieren kann und damit ihrerseits neue Potentiale zu entfalten in der Lage ist. Gerade darum sind menschliche Überlebensgemeinschaften prinzipiell kommunikative Gemeinschaften, denn Kooperation setzt natürlich Kommunikation voraus. Darum ist »readyness for communication«3 ein zentrales Ausstattungsmerkmal von Neugeborenen, die einige Monate später um die Fähigkeit zur Intersubjektivität erweitert wird. Das alles heißt aber auch: Wenn wir über die Phylo- und Ontogenese von Menschen sprechen, fallen Natur- und Kulturgeschichte zusammen, und diese Erkenntnis beseitigt aus meiner Sicht gleich zwei der größten Denkhindernisse der modernen Wissenschaftsgeschichte: nämlich zum einen den auf Descartes zurückgehenden Leib-Seele-Dualismus, der bis heute viele Philosophen, Psychologen, Kultursoziologen und -historiker in Atem und die Neurowissenschaftler in ihrem deterministischen Bann hält. Zum anderen werden die Fragen nach Natur und Kultur, Anlage und Umwelt, Instinkt und Lernen usw. obsolet, die prätendieren, es gäbe im Bereich des Humanen das eine ohne das andere. Wie soll man nun diese supranaturale adaptive Entwicklungsumwelt, in deren Zentrum der Mechanismus der kulturellen Weitergabe steht, nennen? Ich würde sagen: Geschichte. Während wir es bis zum wundersamen Erscheinen des homo sapiens nur mit einem Entwicklungsprinzip, nämlich dem evolutionären, zu tun haben, kommt mit seinem Erscheinen ein zweites Entwicklungsprinzip, nämlich das geschichtliche, in die Welt. Neben die Biosphäre tritt, um mit Julian Huxley zu sprechen, die Noesphäre. Was ist also Geschichte? Die coevolutionäre Entwicklungsumwelt des Menschen. Menschen sind also in einem sehr tiefen Sinn historische Wesen, und die Richtigkeit des berühmten Gadamerschen Satzes: »In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr« bestätigt sich in dieser Sicht auf eine Weise, an die er selbst wahrscheinlich nie gedacht hätte.

3. Trevarthen (2002). 365

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Die Antwort auf die zweite Rüsen’sche Frage: Was ist Wahrheit? ist unmittelbar an diese co-evolutionäre historische Daseinsform des Menschen gebunden; denn diese Daseinsform steht und fällt mit einem grundsätzlichen Vermögen, mit dem Menschen – und nur Menschen – ausgestattet sind, nämlich der Fähigkeit zur Intersubjektivität. Da Tiere kein autonoetisches Gedächtnis haben, verfügen sie über keine Differenzierung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie können sich nichts »vorstellen« und nichts »planen«. Sie existieren in einem totalen Hier und Jetzt, und in ihrem Gedächtnis geht es nicht um Vergangenheit, sondern um die Bewältigung der Anforderungen, die die Gegenwart ihnen stellt: Sie können zum Beispiel darauf zurückgreifen, dass in ihrem Gedächtnis gespeichert ist, wo sie Nahrung versteckt haben, welche Orte oder Lebewesen für sie gefährlich sind, welche Begegnungen sie besser meiden, welche Techniken sie zum Angeln von Termiten oder zum Aufknacken einer Nuss anwenden müssen, aber wenn sie diese »Erinnerungen« abrufen, wissen sie nicht, dass sie sich erinnern. Der Abruf erfolgt in direkter Reaktion auf die situativ wahrgenommene Anforderung – dass Nahrung gefunden, ein sicherer Platz gesucht, ein Freßfeind abgewehrt werden muss. Die Erinnerung ist prozedural und exekutiert voreingestellte und/oder erlernte Abläufe. Noch die am höchsten entwickelten Säugetiere, also auch die nichtmenschlichen Primaten, verfügen lediglich über ein Erfahrungsgedächtnis (»experiential memory«). Ein reines Erfahrungsgedächtnis hat weder eine retrospektive noch eine prospektive Dimension, weshalb ein satter Löwe keine Gefahr für ein Zebra darstellt, ein satter Mensch aber schon. Das Erfahrungsgedächtnis bleibt in einem Universum der Unmittelbarkeit befangen, aus dem es sich nicht – durch Innehalten und Nachdenken, durch Aufschub und Planung – lösen kann. Das bedeutet zugleich, dass die Erfahrungen, die gemacht werden, in einem vollständigen Sinn »privat« sind: sie können nicht ausgetauscht werden, weil die Fähigkeit zur Intersubjektivität, zur Übernahmen der Perspektive eines anderen, fehlt. Deshalb ist das Verhaltensrepertoire der nicht-menschlichen Primaten im Vergleich zum Menschen so begrenzt und auch – wie bei von Menschen aufgezogenen Primaten – nur in engen Grenzen erweiterbar. Obwohl wir mit unserem genetisch nächsten Verwandten, dem Schimpansen, ungefähr 99 Prozent des Gencodes teilen, gestaltet sich unsere soziale Existenz zu 100 Prozent anders. Primaten können auch in sozialer Hinsicht eine Menge, zum Beispiel können sie Individuen in ihren sozialen Gruppen erkennen, Beziehungen mit anderen Individuen aufgrund von Verwandtschaft und dem Rang in der Dominanzhierarchie eingehen, das Verhalten von Individuen anhand ihres emotionalen Zustands und ihrer Bewegungsrichtung antizipieren, verschiedene Typen sozialer und kommunikati-

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DIE FÜNFTE DIMENSION

ver Strategien verwenden, um Gruppenmitglieder im Hinblick auf begehrte Ressourcen auszustechen und sich auf verschiedene Formen sozialen Lernens einlassen, bei denen sie wichtige Dinge von ihren Artgenossen lernen.4 Allerdings beschränkt sich Lernen bei Primaten weitgehend auf das Lernen aus Erfahrung und auf »Emulationslernen« – diese Form des Lernens bezeichnet das Registrieren einer Zustandsveränderung, die ein Artgenosse bewirkt hat, nicht aber der Strategie, die er für diese Zustandsveränderung eingesetzt hat (so etwa, wenn ein Primatenjunges lernt, dass sich unter am Boden liegenden Ästen Insekten befinden können, weil seine Mutter einen solchen Ast anhebt. Nach Tomasello lernt es dabei, dass man an solchen Stellen Insekten finden kann, was aber auch der Fall sein kann, wenn der Ast aufgrund irgendeiner anderen Ursache plötzlich entfernt worden wäre).5 Dieser Punkt ist von enormer Wichtigkeit, weil menschliche Kinder darüber hinaus zum »Imitationslernen« fähig sind, was bedeutet, dass sie das Verhalten und die Strategien anderer beobachten und zu imitieren versuchen, um zu einem bestimmten Ziel zu gelangen. Imitationslernen hat mit einer spezifischen Bezogenheit auf das zu tun, was andere Menschen machen. Nicht-menschliche Primaten sind dagegen zum Imitationslernen kaum in der Lage, und es sind vorwiegend Tiere, die in einer menschlichen Umgebung aufgewachsen sind, die rudimentäre Formen von Imitationslernen zeigen. Trotz ihrer vielfältigen und – besonders gegenüber anderen Säugetieren – beeindruckenden Fähigkeiten sind nicht-menschliche Primaten zu einer zentralen kommunikativen Leistung nicht in der Lage: sich an den Aktionen anderer zu orientieren, sie zu imitieren und in diesem Vorgang der Imitation sich selbst neue Fähigkeiten anzueignen. Mit anderen Worten: Sie können keine Intentionen entschlüsseln. Sie leben in einer solipsistischen Welt; sie können zwar soziale Relationen erkennen und nutzen, sich aber nicht in ihre Artgenossen hineinversetzen, ihre Perspektive übernehmen, ihre Aufmerksamkeit mit ihnen teilen, kurz: Ihnen fehlt das Vermögen zur Intersubjektivität. Dagegen kommen menschliche Babys, wie eine Unzahl entwicklungspsychologischer Studien gezeigt hat, mit einer »readyness for communication« zur Welt. Da Menschen bekanntermaßen zu früh und höchst unfertig geboren werden, sind alle ihre basalen Fähigkeiten ausschließlich überlebensorientiert – ihr Gehirn, genauer gesagt: das Stammhirn sorgt dafür, dass sie atmen können, dass ihr Herzschlag sich reguliert, ihr Stoffwechsel funktioniert, aber auch, dass sie vom ersten Moment an lernen und kommunizieren können. Auch diese letztere Fähigkeit ist essentiell, da menschliche Neugeborene die ange4. Tomasello (2002, S. 26ff.). 5. Tomasello (2002, S. 41). 367

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messene Betreuung durch ihre Artgenossen viel intensiver und länger brauchen als andere Tiere. Sie existieren deshalb nicht als Individuen, sondern als Teil eines sozialen Netzwerks. »Das menschliche Gehirn ist das einzige Gehirn in der Biosphäre, das sein Potential nicht aus sich selbst heraus realisieren kann. Es muss Teil eines Netzwerks werden, bevor seine Eigenschaften entwickelt werden können.«6 Deshalb können Babys von Anfang an ihre Befindlichkeiten ausdrücken – sie können schreien, strampeln etc, um auf sich aufmerksam zu machen, und ihr Gesicht kann anderen ihre emotionale Situation anzeigen und diese dazu veranlassen, das Richtige mit ihm zu tun. Sie können erstaunlicherweise auch vom Lebensbeginn an bestimmte Gesichtsausdrücke imitieren, sie können die Stimme der Mutter erkennen, sie können Geschichten oder Gedichte, die von der Mutter in der Zeit der Schwangerschaft laut vorgetragen worden waren, voneinander unterscheiden. Sie können sogar ihre Muttersprache von einer Fremdsprache unterscheiden. All das zeigt, dass sie auf Kommunikation eingestellt sind, dass sie von ihrer biologischen Konstitution her in einer fundamentalen Bezogenheit auf ihre soziale Umwelt existieren. Ab einem Entwicklungsalter von etwa 9 Monaten erweitert sich ihr kommunikatives Repertoire um die Fähigkeit zur Intersubjektivität, d.h. sie beginnen zu begreifen, dass die Anderen Perspektiven und Absichten haben, die von ihren eigenen verschieden sein können. Sie können sich nun gemeinsam mit anderen (in der Regel der Mutter) auf etwas Drittes konzentrieren (»joint attention«), sie können sich mit Blicken, Lauten, Gesten darüber verständigen, worum es gerade geht; sie sichern sich bei dem, was sie gerade tun, kontinuierlich dadurch ab, dass sie die Mutter anblicken und auf diese Weise prüfen, dass man noch gemeinsam bei der Sache ist etc. Sie beginnen auch, Handlungen abzubrechen oder zu unterlassen, wenn ihnen der Blick oder die Haltung des anderen sagt, dass das jetzt nicht gut oder wünschenswert ist. Alles das können andere Primaten nicht, auch nicht etwas anderes sehr Wesentliches: auf Dinge zeigen, um eine andere Person auf etwas aufmerksam zu machen. Diese scheinbar triviale Kompetenz bedeutet einen Unterschied ums Ganze, denn sie setzt voraus, dass der Andere ein intentionales Wesen ist, dessen Perspektive von der eigenen verschieden sein kann. Und zugleich setzt sie voraus, was praktisch dann jederzeit eingelöst wird: dass dieser Unterschied der Perspektiven durch gemeinsame Aufmerksamkeit aufgehoben werden kann. Die Erfahrung der gemeinsamen Aufmerksamkeit, der geteilten Gegenwart, der Überbrückung von Verschiedenheit fällt mit dem Erwachen des reflexiven Bewusstseins zusammen. Mit anderen Worten: die Erfahrung, dass wirklich oder wahr ist, worüber sich Gemeinsam-

6. Donald (2001). 368

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keit herstellen lässt, steht am Anfang des bewussten Seins. Wahrheit ist somit immer schon eine Kategorie der Intersubjektivität, eine ontogenetische Grunderfahrung; Wahrheit ist, worüber sich sozial Einigkeit herstellen lässt. Bleibt noch die Frage: Was ist Sinn? Der Mensch – um gleich auch noch die Kernfrage des Symposiums zu beantworten, wenn ich schon mal dabei bin – ist also ein mit der Fähigkeit zur Intersubjektivität begabtes Wesen, dessen adaptive Umwelt Geschichte ist. Nun resultiert sein Hauptproblem gerade aus dem, was ihn von den anderen Geschöpfen unterscheidet: aus seinem autonoetischen Gedächtnis und seiner Fähigkeit zur Intersubjektivität. Beide zusammen statten ihn relativ früh mit der betrüblichen Gewissheit aus, dass er sterben wird. Dieses Wissen holt ihn aus dem Paradies der zeitlosen Unmittelbarkeit der anderen Lebewesen und wirft unablässig peinigende Sinnfragen auf. Mit dieser Kategorie möchte ich mich hier – auf einer Veranstaltung zu Ehren eines der bedeutendsten Sin[n]ologen überhaupt – inhaltlich gar nicht weiter beschäftigen. Wir alle wissen, dass das Bemühen um Sinngebung, Sinnverleihung, Sinnbeimessung die zentrale und zugleich tragische Produktivkraft der menschlichen Existenz ist. Also: Der Mensch ist ein intersubjektives Wesen, dessen adaptive Umwelt Geschichte ist, weshalb seine überlegenste Eigenschaft zugleich seine fatalste ist. Die Fähigkeit zur Reflexion liefert ab ovo das Bewusstsein um die eigene Sterblichkeit und setzt damit umstandslos alle technischen, medizinischen, philosophischen, religiösen Anstrengungen in Gang, die der Abschaffung des Todes dienen und in ihrem permanenten Scheitern die Sinnfrage auf Dauer stellen. Was ist also Sinn? Sinn ist eine aus dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit geschöpfte Produktivkraft, die das Moment ihres Scheiterns so lange enthält, als die Sterblichkeit des Menschen nicht abgeschafft ist. Das ist der Grund, weshalb schnell soziale Übereinstimmung über den Wahrheitsgehalt der Aussagen herzustellen ist, dass der Tod eine Schweinerei und die bisherige Geschichte ein unablässiges Aufbegehren gegen die Sinnlosigkeit des Daseins ist. Ich komme zum Schluss und fasse zusammen: Geschichte ist die co-evolutionäre adaptive Entwicklungsumwelt des Menschen, deren Wirklichkeit und Wahrheit kommunikativ konstituiert wird und deren zentrale Produktivkraft das unablässige Bedürfnis nach Sinn ist. Damit sind die wesentlichen Fragen beantwortet. Ich brauche in dieser Runde nicht Wittgenstein zu bemühen, um festzustellen, dass natürlich noch nicht allzu viel getan ist, wenn die wesentlichen Fragen beantwortet sind. Und natürlich gebe ich umstandslos zu, was Sie alle bemerkt haben: dass meine Ausführungen sowohl geschichtstheoretisch wie philosophisch eher schwach auf der Brust sind. Trotzdem würde ich doch die These wagen, dass wir mit dieser Figuration von Geschichte, Inter369

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subjektivität, Wahrheit und Sinn den Ausgangspunkt einer kulturwissenschaftlichen Epistemologie umreißen können, und zwar einer Epistemologie, die die Reichweiten, Grenzen und Werte naturwissenschaftlicher Aussagen erst definiert. Wenn das in Zeiten unverfrorener Hegemonieansprüche naturwissenschaftlicher und insbesondere neurowissenschaftlicher Aussagen darüber, was der Mensch ist, kein Geburtstagsgeschenk für den Präsidenten eines Kulturwissenschaftlichen Instituts ist! Bitteschön! Und vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

Literatur Donald, Merlin (2001), A mind so rare. The evolution of human consciousness, New York/Londen: Norton. Elias, Norbert (1991), The Symbol Theory, London: Sage. Huxley, Julian (1941), The Uniqueness of Man, London: Chatto & Windus. — (1953), Evolution in Action. Based on the Patten Foundation Lectures delivered at Indiana University in 1951, London: Chatto & Windus. Tomasello, Michael (2002), Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Trevarthen, Colwyn (2002), Frühe Kommunikation und autobiographisches Gedächtnis, BIOS, 15, 2, S. 213-240.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Autorinnen und Autoren Wolfgang Bialas, Privatdozent, gegenwärtig Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut/Essen; vorher DAAD-Visiting Professor an der School of Humanities der UC Irvine, USA. Arbeitsschwerpunkte: Intellektuellengeschichte; Geschichtsphilosophie; Politische Philosophie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Ostdeutsche Intellektuelle im gesellschaftlichen Umbruch, Frankfurt a. Main 1996; (Mithg.) Intellektuelle in der Weimarer Republik, Frankfurt a. Main 1997; (Mithg.) Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt a. Main 2000; Die nationale Identität der Deutschen. Frankfurt a. Main 2002. Georg Essen, Ordentlicher Professor für Dogmatische Theologie an der Fakultät für Theologie, Radboud Universiteit Nijmegen/NL. Arbeitsschwerpunkte: Kritische Vermittlung des christlichen Glaubens mit relevanten Richtungen des neuzeitlichen und gegenwärtigen Denkens; Theologie und Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts; klassische und zeitgenössische Gestalten der Transzendentalphilosophie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Historische Vernunft und Auferweckung Jesus. Theologie und Historik im Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit (TSTP, 9), Mainz 1995; Die Freiheit Jesu. Der neuchalkedonische Enhypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie (Ratio Fidei, 5), Regensburg 2001; Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts. Religion im Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat uns säkularer Zivilgesellschaft (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge, 14), Göttingen 2004; Kant und die moderne Theologie, Darmstadt 2004 (im Druck) (gemeinsam mit M. Striet); Erinnerung – Hoffnung – Identität. Beiträge zur philosophisch-theologischen Grundlegung einer Theorie der Geschichte (Nijmegener Studien zur Systematischen Theologie/Nijmegen Studies in Systematic Theology, 2), Münster u.a. 2005 (im Druck). Burkhard Gladigow, Professor für Allgemeine Religionswissenschaft und Klassische Philologie an der Universität Tübingen; Wissenschaftlicher Beirat am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (Bielefeld); Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (Essen); 2.Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte (DVRG). Arbeitsschwer371

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AUTORINNEN UND AUTOREN

punkte: Antike und Europäische Religionsgeschichte; Religionsgeschichte naturwissenschaftlicher Entwicklungen; Wissenschaftsgeschichte; Systematische Religionswissenschaft. Ausgewählte Veröffentlichungen: (Mithg.) Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (1988ff.); Die Religionen der Menschheit (1973ff.); Die Trennung von Geist und Natur (1990); Text und Kommentar (1995); Zeitschrift für Religionswissenschaft (1993ff.); Scientia et religio, Freiburg 2004ff.; Storia delle religioni, Collana di studi e testi, Rom 2005ff. Einzelabhandlungen: Strukturprobleme des Polytheismus (1983); »Wir gläubigen Physiker« (1986); Andere Welten – Andere Religionen? (1988); Europäische Religionsgeschichte (1995); Vergleich und Interesse (1997); Polytheismen der Neuzeit (1998); Welche Welt paßt zu welchen Religionen? (1999); Vom Naturgeheimnis zum Welträtsel (1999); Opfer und komplexe Kulturen (2000); Zur narrativen Plausibilität des Bösen (2004); Sequenzierung von Riten und die Ordnung der Rituale (2004). Thomas Göller, seit 1998 Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe; seit 2003 Gastprofessor an der Babes-Bolai-Universität/Klausenburg, Rumänien; 1996-99 Durchführung eines interkulturellen Projektes zur Menschenrechtsphilosophie; 1991-96 Associate Professor und DAAD-Lektor an der Gakushuin-Universität/Tokyo, Japan. Arbeitsschwerpunkte: Sprach- und Kulturphilosophie; (Literatur)ästhetik; Philosophie der Menschenrechte. Ausgewählte Veröffentlichungen: Kulturverstehen – Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis, Würzburg 2002; Sprache, Literatur, kultureller Kontext. Studien zur Kulturwissenschaft und Literaturästhetik, Würzburg 2001. Friedrich Jaeger, 2004/05 Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt; Mitarbeiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen; Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Witten/Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Amerikanische Geschichte des 18.-20. Jahrhunderts; Kommunikations- und Mediengeschichte der Neuzeit; Geschichte der Geschichtswissenschaft und Geschichtstheorie; Theorie der Kulturwissenschaften. Ausgewählte Veröffentlichungen: (Mitautor) Geschichte des Historismus, München 1992; Bürgerliche Modernisierungskrise und historische Sinnbildung, Göttingen 1994; Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft, Göttingen 2001; Religionsphilosophie im Angesicht der Moderne: Ernst Troeltsch und der amerikanische Pragmatismus (vorauss. 2005); (Mithg.) Handbuch der Kulturwissenschaften, 3 Bde, Stuttgart 2004. Eberhard Lämmert, em. Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, 1976-83 deren Präsident. Seit der Gründung Vorsitz im Wissenschaftlichen Beirat des 372

2005-05-10 17-40-01 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S. 371-378) T04_00 autoren.p 83753336258

AUTORINNEN UND AUTOREN

Kulturwissenschaftlichen Instituts/Essen. Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie und Literaturgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Hochschulpolitik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1993, 8. Aufl.; (Hg.) Das überdachte Labyrinth. Ortsbestimmungen der Literaturwissenschaft 1960-1990, Stuttgart 1991; (Hg.) Die erzählerische Dimension. Über eine Gemeinsamkeit der Künste, Berlin 1999; (Hg.) Erzählforschung. Ein Symposion, Stuttgart 1982; (Mithg.) Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt a. Main 1988; (Mithg.) Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. Main 1999. Chris Lorenz, Professor für Geschichtstheorie an der Freien Universität Amsterdam; Studium der Soziologie, Kulturanthropologie und Wissenschaftstheorie an der Universität Amsterdam; Forschungspreisträger der Humboldt-Stiftung für die Geisteswissenschaften (1996) und Gastprofessor in Graz (1999), Erfurt (2000), Stellenbosch (2004) und Ann Arbor (2005); seit 1994 ›chair‹ des Network ›Theory and Historiography‹ bei der ›European Social Science History Conference‹; seit 2003 ›teamleader‹ beim europäischem Forschungsprojekt ›Representations of the Past: National Histories in Europe‹ (European Science Foundation). Arbeitsschwerpunkte: Grundlagendebatten in der Geschichtswissenschaft; moderne deutsche Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts; komparative Geschichtsschreibung; Bildungspolitik. Ausgewählte Veröffentlichungen: De constructie van het verleden, Amsterdam 1987, 7. Auflage 2004; Het historisch atelier, Amsterdam 1990; Van het universitaire front geen nieuws, Baarn 1993; Konstruktion der Vergangenheit, Köln 1997; Constructing the past, Princeton 2005; Aufsätze u.a. in: Journal of Contemporary History, Geschichte und Gesellschaft, History and Theory, Rethinking History. Sebastian Manhart, Studium der Geschichtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Soziologie an den Universitäten Halle und Bielefeld; 1998-2001 wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte und Geschichtskultur; seit 2001 wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Geschichtswissenschaft; Geschichte der politischen und pädagogischen Theoriebildung; Geschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften sowie des Verhältnisses von Wissenschaft und Profession im 18. und 19. Jahrhundert. Ausgewählte Veröffentlichungen: Artikel: Diesseits von Rechts und Links, in: Rustemeyer, Dirk (Hg.), Bildlichkeit. Aspekte einer Theorie der Darstellung, Würzburg 2003, S. 109-146; Absichtlich unabsichtlich. Zum Verhältnis von Politik und Pädagogik um 1800, in: Rustemeyer, Dirk (Hg.), Erziehung in der Moderne, Würzburg 2003, S. 95-142; (zus. mit Dirk Rustemeyer) Die Form der Pädagogik. Der Schematismus »Bildung-Hilfe« als Diffe373

2005-05-10 17-40-01 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S. 371-378) T04_00 autoren.p 83753336258

AUTORINNEN UND AUTOREN

renzial pädagogischer Expansion, in: Z.f.Päd 50 (2004), 2, S. 266-285. Buch: (zus. mit Karen und Jörg van den Berg) Kein Ende. Skulpturenprojekte an jüdischen Landfriedhöfen, Berlin 2003; zus. mit Jörn Rüsen Herausgeber der Reihe: »Geschichtsdenken der Kulturen – Eine kommentierte Dokumentation«, Frankfurt a. Main 2002ff. Klaus E. Müller, em. Professor für Ethnologie an der Universität Frankfurt a. Main, Mitglied verschiedener interdisziplinärer Projektgruppen, des Instituts für Historische Anthropologie, 1. Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft zur Förderung der Parapsychologie. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine und Theoretische Ethnologie, speziell Kognitions- und Verhaltensethnologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die fünfte Dimension: soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen, Göttingen 1999; Schamanismus, München 22001; Wortzauber: eine Ethnologie der Eloquenz, Frankfurt a. Main 2001; Der sechste Sinn: ethnologische Studien zu Phänomenen der außersinnlichen Wahrnehmung, Bielefeld 2004; (Hg.) Phänomen Kultur: Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften, Bielefeld 2003; (Hg.) Historische Wendeprozesse: Ideen, die Geschichte machten, Freiburg 2003; (zusammen mit Ute Ritz-Müller) Des Widerspenstigen Zähmung: Sinnwelten prämoderner Gesellschaften, Bielefeld 2004. Luisa Passerini, Professorin für Kulturgeschichte an der Universität Turin; 1994-2002 Lehrstuhlinhaberin für Geschichte des 20. Jahrhunderts am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz; Gastprofessuren u.a. an der University of Western Australia, der University of Sydney, der New School for Social Research, der New York University und der University of California at Berkeley; 2002 Trägerin des Kulturwissenschaftlichen Forschungspreises des Landes Nordrhein-Westfalen; 2002-2004 Leiterin der Studiengruppe »Europa: Emotionen, Identitäten, Politik« am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Ausgewählte Veröffentlichungen: u.a. Fascism in Popular Memory: The Cultural Experience of the Turin Working Class (1987); Autobiography of a Generation: Italy 1968 (1996); Europe in Love, Love in Europe: Imagination and Politics in Britain Between the Wars (1999); European Ego-histoires: Historiography and the Self, 1970-2000 (2001; Hg. mit A. Geppert); Il Mito d’Europa: Radici antiche per nuovi simboli (2002); Figures d’Europe. Images and Myths of Europe (Hg. 2003); Memoria e utopia (2003); New Dangerous Liaisons: Discourses on Europe and Love in the Twentieth Century (2005; Hg. mit L. Ellena und A. Geppert). Jan Philipp Reemtsma, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg; Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung und der Arno-Schmidt-Stiftung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Fratze im Spiegel – Zur Diskussion über die Re-Legitimierung der 374

2005-05-10 17-40-01 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S. 371-378) T04_00 autoren.p 83753336258

AUTORINNEN UND AUTOREN

Folter, in: Internationale Politik 6 (2004), S. 95-100. Unter dem Titel »Als wir endlich den Kopf hoben« auch abgedruckt in: Die Tageszeitung vom 22.6.2004; Zwei Ausstellungen, in: Mittelweg, 36, 3 (2004), S. 53-70; Joyce sein oder Schmidt werden? Die deutsche Philologie, Arno Schmidt und ihr »deutscher James Joyce«, in: Literaturen 6 (2004), S. 28-31; Warum Hagen Jung-Ortlieb erschlug. Unzeitgemäßes über Krieg und Tod, München 2003. Paul Ricœur, lehrte ab 1948 Geschichte der Philosophie in Straßburg; 1956 Professor für Allgemeine Philosophie an der Sorbonne; ab 1966 an der Universität Nanterre; ab 1970 an der University of Chicago. Ausgewählte Veröffentlichungen: (Mitautor) Karl Jaspers et la philosophie de l’existence, Paris 1947; Philosophie de la volonté I, Paris 1950; Historie et vérité, Paris 1955 (dt.: Geschichte und Wahrheit, München 1974); Philosophie de la volonté II, Paris 1960 (dt.: Die Fehlbarkeit des Menschen; Symbolik des Bösen, Freiburg/München 1971); De l’interpretation, Paris 1965 (dt.: Die Interpretation, Frankfurt a. Main 1969); Le conflit des interprétations, Paris 1969 (dt. Hermeneutik und Strukturalismus; Hermeneutik und Psychoanalyse, München 1973/4); La métaphore vive, Paris 1975 (dt. Die lebendige Metapher, München 1986); Temps et récit, Paris 1983 (dt.: Zeit und Erzählung I-III, München 1988-1991); A l’école de la phénoménologie, Paris 1986; Soi-même comme un autre, Paris 1990 (dt.: Das Selbst als ein Anderer, München 1996); La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris 2000. Dirk Rustemeyer, lehrt Philosophie an der Universität Witten/Herdecke und Allgemeine Pädagogik an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Theorie der Sinnbildung; Philosophie des Wissens und der Kultur; Semiotik; Theorie des Sozialen; Bildungstheorie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Erzählungen. Bildungstheorien im Horizont von Theorien der Narration. Stuttgart 1987; Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral, Hamburg 2001; (Hg.) Symbolische Welten. Philosophie und Kulturwissenschaften. Würzburg 2003; (Hg.) Bildlichkeit. Aspekte einer Theorie der Darstellung. Würzburg 2003. Helwig Schmidt-Glintzer, seit 1993 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und Professor für Sinologie an der Universität Göttingen. Unterrichtete Sinologie und Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft an den Universitäten Bonn, Hamburg und München. Autor zahlreicher Werke zur Geschichte einschließlich der Geistes- und Kulturgeschichte Chinas und Ostasiens. Arbeitsschwerpunkte: Wechselseitige Wahrnehmung von Europa und Ostasien im Rahmen einer Kulturgeschichte Eurasiens.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Hans-Georg Soeffner, seit 1994 Professor der Soziologie, Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Konstanz. Studium an den Universitäten Tübingen, Köln, Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Wissenssoziologie; Kultursoziologie; Religionssoziologie; Kommunikationssoziologie; Rechtssoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Ordnung der Rituale – Die Auslegung des Alltags 2, Frankfurt a. Main 1992; Gesellschaft ohne Baldachin, Frankfurt a. Main 2000; Figurative Politik (zus. mit D. Tänzler), Opladen 2002; Gewalt (zus. mit W. Heitmeyer), Frankfurt a. Main 2004; Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung, Konstanz 2004. Jürgen Straub, Professor für Interkulturelle Kommunikation an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz. Seit 1. April 2004 leitet er (gemeinsam mit Jörn Rüsen) das am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und der Technischen Universität Chemnitz angesiedelte Graduiertenkolleg »Interkulturelle Kommunikation – Interkulturelle Kompetenz« (gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung). Er ist Vorstandsmitglied der »Stiftung für Kulturwissenschaften« (Essen); Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt a. Main. Arbeitsschwerpunkte: Handlungstheorie; Kulturpsychologie und kulturvergleichende Psychologie; Probleme und Potentiale interkultureller Kommunikation und Koexistenz; interkulturelle Kompetenz; Konflikte; Gewalt und Verständigung in modernen Gesellschaften; Gedächtnistheorie; Geschichtsbewusstsein; psychosoziale Folgen der Shoah; Migration und Gesundheit/interkulturelle Kommunikation in der Psychotherapie; Theorie, Methodologie und Methodik qualitativer Forschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Verstehen, Kritik, Anerkennung. Das Eigene und das Fremde in den interpretativen Wissenschaften, Göttingen 1999; (Mithg.) Unverlierbare Zeit. Langfristige psychosoziale Folgen des Nationalsozialismus bei Nachkommen von Opfern und Tätern, Tübingen 2001; (Mithg.) Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, Frankfurt a. Main/New York 2002; (Mithg.) Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt a. M./New York 2003; (Mithg.) Lebensformen im Widerstreit, Frankfurt a. M., New York 2003; (Mithg.) Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart 2004. (Mithg.) Pursuit of Meaning. Advances in Cultural and Cross-Cultural Psychology, Bielefeld 2005. Wilhelm Voßkamp, Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Utopieforschung; Romantheorie; Wissenschaftsgeschichte; Medien und kulturelle Kommunikation. Ausgewählte Veröffentlichungen: Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, Bonn 1967; Romantheorie in Deutschland. Stuttgart 1973; (Hg.) Utopieforschung. Interdisziplinäre 376

2005-05-10 17-40-01 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S. 371-378) T04_00 autoren.p 83753336258

AUTORINNEN UND AUTOREN

Studien zur neuzeitlichen Utopie, 3 Bde, Stuttgart 1982/Frankfurt a. Main 1985; (Mithg.) Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994; (Hg.) Ideale Akademie. Vergangene Zukunft oder konkrete Utopie?, Berlin 2002. ›Ein anderes Selbst‹. Bild und Bildung im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, Göttingen 2004. Hans-Ulrich Wehler, em. Professor für Allgemeine Geschichte des 19./20. Jahrhunderts an der Universität Bielefeld; 1972 und 1989 Gastprofessor an der Harvard University, Cambridge/Mass.; 1976 an der Princeton University, Princeton/N.J.; 1983/84 an der Stanford University, Stanford/Cal.; 1997 an der Yale University, New Haven/Conn. Ausgewählte Veröffentlichungen: Sozialdemokratie und Nationalstaat, 1840-1914 (1962, 2. Aufl. 1971); Bismarck und der Imperialismus (1969, 5. Aufl. 1984); Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918 (1970, 2. Aufl. 1979); Geschichte als Historische Sozialwissenschaft (1973, 3. Aufl. 1980); Das deutsche Kaiserreich 1811-1918 (1973, 10. Aufl. 2000); Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus 1865-1900 (1974, 2. Aufl. 1987); Modernisierungstheorie und Geschichte (1975); Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung (1980); Nationalitätenpolitik in Jugoslawien (1980); Preußen ist wieder chic … Politik und Polemik in 20 Essays (1983); Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik, I: 1750-1900 (1983, 2. Aufl. 1984); Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bde I (17001815); II (1815-1845/49), 1987/19953, III (1849-1914), 1995/19982, IV (1914-1949), 2003/20032; Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum »Historikerstreit« (1987); Aus der Geschichte lernen? (1988); Die Gegenwart als Geschichte (1995); Politik in der Geschichte (1997); Die Herausforderung der Kulturgeschichte (1998); Umbruch und Kontinuität (2000); Historisches Denken am Ende des 20. Jh. (2001/20022); Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts (2003); Nationalismus (2001/20042). – Herausgeber von Sammelwerken, u.a. »Historische Reihe« der »Neuen Wissenschaftlichen Bibliothek«, 39 Bde. (1966-80); »Deutsche Historiker«, 9 Bde, (1971-82); »Arbeitsbücher zur modernen Geschichte«, 10 Bde, (1976-81); »Neue Historische Bibliothek«, 56 Bde, (1983/96); Mitherausgeber der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft«, bisher 167 Bde, (1972-2003) und von »Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft« (1975ff.). Harald Welzer, Professor Dr., Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Lehrt Sozialpsychologie an den Universitäten Hannover und Witten-Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Erinnerungs- und Tradierungsforschung; Politische Psychologie; Methoden. Ausgewählte Veröffentlichungen: Verweilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit 377

2005-05-10 17-40-02 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S. 371-378) T04_00 autoren.p 83753336258

AUTORINNEN UND AUTOREN

dem Holocaust, Tübingen 1997; (Hg.) Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001; (Mitautor) »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a. Main 2002; Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002; Täter. Eine Sozialpsychologie des Massenmords, Frankfurt a. Main 2005. Barbara Zielke, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychologie der Universität Erlangen. Arbeitsschwerpunkte: Sozialer Konstruktionismus; Diskursive Psychologie; Wissenspsychologie; Kulturpsychologie; Psychologie interkulturellen Handelns; Interkulturelle Kommunikation in der Gesundheitspsychologie; Methodologie und Methodik qualitativer Sozialforschung; Psychologische Diskursanalyse. Ausgewählte Veröffentlichungen: Kognition und soziale Praxis. Der Soziale Konstruktionismus und die Perspektiven einer postkognitivistischen Psychologie, Bielefeld, 2004; Sozialer Konstruktionismus, Göttingen, 2005; (Mithg.) Pursuit of Meaning. Advances in Cultural and Cross-Cultural Psychology, Bielefeld, 2005.

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2005-05-10 17-40-02 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S. 371-378) T04_00 autoren.p 83753336258

Titel des Kulturwissenschaftlichen Instituts: Alexander C.T. Geppert, Uffa Jensen, Jörn Weinhold (Hg.) Ortsgespräche Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert Mai 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-312-7

Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.) Was ist der Mensch, was Geschichte? Annäherungen an eine kulturwissenschaftliche Anthropologie Mai 2005, 380 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-266-X

Kulturwissenschaftliches Institut (Hg.) Jahrbuch 2004 März 2005, 288 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 3-89942-303-8

Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter, Jörn Rüsen (Hg.) Die Aneignung der Vergangenheit Musealisierung und Geschichte Januar 2005, 134 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 3-89942-321-6

Doris Weidemann Interkulturelles Lernen Erfahrungen mit dem chinesischen ›Gesicht‹: Deutsche in Taiwan 2004, 346 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-264-3

Alexander Kochinka Emotionstheorien Begriffliche Arbeit am Gefühl 2004, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-235-X

Hartmut Seitz Lebendige Erinnerungen Die Konstitution und Vermittlung lebensgeschichtlicher Erfahrung in autobiographischen Erzählungen 2004, 346 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-248-1

Klaus E. Müller, Ute Ritz-Müller Des Widerspenstigen Zähmung Sinnwelten prämoderner Gesellschaften 2004, 214 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-134-5

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2005-05-10 17-40-05 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S. 379-380) anzeige jaeger-straub 2005-05.p 83753336266

Titel des Kulturwissenschaftlichen Instituts: Kulturwissenschaftliches Institut (Hg.) Jahrbuch 2002/2003 2004, 316 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-177-9

Klaus E. Müller (Hg.) Phänomen Kultur Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften 2003, 238 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-117-5

Helmut König, Manfred Sicking (Hg.) Der Irak-Krieg und die Zukunft Europas

Kulturwissenschaftliches Institut (Hg.) Jahrbuch 2001/2002

2004, 194 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 3-89942-209-0

2003, 400 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-129-9

Carlos Kölbl Geschichtsbewußtsein im Jugendalter Grundzüge einer Entwicklungspsychologie historischer Sinnbildung

Andreas Ackermann, Klaus E. Müller (Hg.) Patchwork: Dimensionen multikultureller Gesellschaften Geschichte, Problematik und Chancen

2004, 390 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-179-5

2002, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-108-6

Jörn Rüsen (Hg.) Zeit deuten Perspektiven – Epochen – Paradigmen 2003, 402 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-149-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2005-05-10 17-40-05 --- Projekt: T266.kumedi.jäger.straub / Dokument: FAX ID 01dd83753332802|(S. 379-380) anzeige jaeger-straub 2005-05.p 83753336266