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German Pages [321] Year 2020
Jochen Arnold
Was geschieht im Gottesdienst? Zur theologischen Bedeutung des Gottesdienstes und seiner Formen
Jochen Arnold
Was geschieht im Gottesdienst? Zur theologischen Bedeutung des Gottesdienstes und seiner Formen
Mit 3 Abbildungen und 2 Tabellen
3., überarbeitete und erweiterte Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Biewer_Jürgen / Adobe Stock Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-61632-7
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I Grundsätzliche theologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . 1 Gottes Dienst – eine Betrachtung zur Menschenfreundlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Den Gottesdienst ins Gespräch bringen – Entdeckungen mit Lukas 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Das dreifache Geschenk des dreieinigen Gottes . . . . . . . . . . 4 Die großen Themen der Menschen – damals und heute . 5 Gesellschaftliche Milieus und ihre Bedeutung für den Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II Die Voraussetzungen des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . 1 Der gottesdienstliche Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Das Kirchenjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Rollen, Ämter und Dienste im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . 4 Zur dramaturgischen Struktur des evangelischen Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40 40 51 72
III Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die wiederkehrenden Stücke nach Grundform I (Messe) 2 Das Gebet im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die biblischen Lesungen im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die Predigt im Gottesdienst – lebendiger Trialog . . . . . . . . 5 Theologie und Feier des Abendmahls . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Musik (nicht nur) im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Sendung und Segen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV Andere Gottesdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Kasualien (Amtshandlungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gottesdienste bei Gelegenheit und für bestimmte Zielgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Alternative Gottesdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 18 22 26 33
81 91 91 106 128 135 143 181 201 221 221 223 224
Inhalt
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V Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens . 234 1 Gottesdienst und Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2 Gottesdienst und Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 243 3 Gottesdienst und Qualität – Was ist ein guter Gottesdienst? 248 4 Gottesdienst und Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 5 Gottesdienst und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 6 Sechzehn Anregungen für den Gottesdienst (16 Thesen) . 295 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Elementares Kirchenjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Psalmen lebendig gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Liste der Kernlieder nach dem Evangelischen Gesangbuch
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 2 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
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Inhalt
Einleitung
Schon bald nach dem Erscheinen der ersten Auflage meiner Dissertation zur Theologie des Gottesdienstes im Jahr 2004 ist der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht durch Herrn Jörg Persch mit der Bitte an mich herangetreten, doch einmal über eine Neubearbeitung des Themas nachzudenken, um es einem größeren Kreis von Leserinnen und Lesern zugänglich zu machen. Ich gebe zu, dass ich gezögert habe, mich dieser Aufgabe zu stellen, da sie mir nicht nur viel Zeit forderte, sondern auch recht anspruchsvoll schien. Aber eigentlich kann man eine solche Frage nur positiv beantworten. Denn wenn wir über unseren Glauben und unsere Hoffnung Rechenschaft geben sollen (vgl. 1. Petr 3,15), dann geht es auf jeden Fall auch zentral um das Thema Gottesdienst. In diesem Sinne möchte ich das vorliegende Buch verstehen: als eine Hilfe in liturgischen Grundfragen auskunftsfähig zu werden. Ich möchte dazu anregen, die theologischen Grundlagen sowie die traditionellen und aktuellen Formen des Gottesdienstes besser kennen zu lernen, um daraus einen eigenen Standpunkt zu entwickeln für eine existenzielle Theologie des Gottesdienstes. Mit anderen Worten: Ich möchte nicht nur ein Wissen über Liturgie vermitteln, sondern dazu anregen, den Gottesdienst als Mitte der Gemeinde und als Lebensund Kraftquelle des Glaubens (wieder) zu entdecken. Was geschieht im Gottesdienst? Auf den ersten Blick klingt diese Frage recht harmlos. Man könnte sie als Auftrag verstehen, das zu beschreiben, was in einem Gottesdienst der Reihe nach »dran ist«. Gewiss spielt dieser »agendarische« Aspekt auch eine Rolle. Aber neben der Außenschau (wer spricht/singt/spielt was wann?) gibt es auch eine Innenperspektive: Was berührt? Was vergewissert? Was rüttelt auf und ermutigt? Sehr schnell sind wir damit bei der aufregenden Frage nach dem Verhältnis menschlichen und göttlichen Handelns im Gottesdienst. Was können wir dazu tun, dass ein Gottesdienst gelingt, dass es ein »guter, schöner, ermutigender, einladender« etc. Gottesdienst wird? Was ist dabei Tun des Menschen und was ist uns als Werk Gottes schlechterdings unverfügbar? Einleitung
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Ich breche diese Überlegungen hier ab. Nicht weil sie es nicht wert wären, diskutiert zu werden, sondern weil sie als ein Querschnittsthema immer wieder in unseren Darlegungen auftauchen werden. Neben der »Außen«- und »Innenseite« des Ereignisses Gottesdienst ist noch ein zweites Problem in unserer Frage enthalten, das momentan sowohl in der kirchlich-ökumenischen als auch in der wissenschaftlich-theologischen Debatte höchst kontrovers diskutiert wird. Kann man überhaupt von »dem Gottesdienst« sprechen? Oder müsste man sich nicht besser auf eine jeweilige Form oder Gestalt eines spezifischen Gottesdienstes (z. B. evangelische Messe; kath. Messe; göttliche Liturgie, Predigtgottesdienst, Taufgottesdienst, alternativer Gottesdienst usw.) beschränken, um etwas Genaueres sagen zu können? Um es kurz zu machen: Wir wollen dieser Frage hier keinesfalls ausweichen, sondern vielmehr mutig behaupten, dass alle christlichen Gottesdienste ihrem Wesen nach verwandt und daher auch gemeinsam verhandelbar sind: Ob Familiengottesdienst mit dem Kindergarten oder Gospelgottesdienst, ob liturgische Feier im Stil der Messe oder ein schlichter Predigtgottesdienst, ob Thomasmesse, Nachteulengottesdienst oder Go special – solche Vielfalt ist charakteristisch für den evangelischen Gottesdienst. Aber gerade darin behaupten sich die zentralen Strukturmomente des Gottesdienstes, die schon der Evangelist Lukas für die frühchristliche Gemeinde herausgestellt hat: Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. (Apg 2,42) Diese zentralen Elemente liturgischen Handelns verbinden uns – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung – durchaus mit den Geschwistern in der Ökumene. Hier haben sich in den letzten Jahrzehnten zwei Grundeinsichten etabliert, die sich in knapper Form folgendermaßen darstellen lassen: 1. Jeder Gottesdienst ist durch ein dialogisches Wechselspiel geprägt, bei dem Gott sich uns gnädig mitteilt und wir uns ihm hörend und antwortend zuwenden. Sowohl katholische als auch evangelische Theologinnen und Theologen betonen dabei die sachliche Unumkehrbarkeit dieser beiden Aspekte: Zuerst handelt und redet Gott, daran hängt sich unser Glaube, der sich seinerseits in Klage und Lob, Bitte und Dank wieder an Gott wendet. Das ist das eine. Das Zweite schließt sich dem an, ja folgt notwendigerweise daraus: 8
Einleitung
2. Jeder Gottesdienst ist Angelegenheit der ganzen Gemeinde. »Gemeinde feiert Gottesdienst.« So beschreibt es das Evangelische Gottesdienstbuch mit seinem ersten Kriterium. Gottesdienst wird dort seinem Auftrag und seiner Verheißung gerecht, wo die Gemeinde nicht nur Zuschauerin ist, sondern sich aktiv mit Singen, Beten, ja sogar in der Verkündigung, einbringen kann. Das II. Vatikanische Konzil spricht daher von der »aktiven Teilnahme« (actuosa participatio) der Gemeinde innerhalb der Liturgie, was sich u. a. in der Verwendung der Volkssprache (anstelle des Lateinischen) bemerkbar macht. Wir wagen also, selbst wenn wir uns im Folgenden in der Regel auf evangelische Gottesdienste beziehen, das große Thema Gottesdienst auch ökumenisch zu bedenken, und vertreten damit die Überzeugung, dass sich der Gottesdienst nicht im konfessionellen Binnenraum, sondern nur in ökumenischer Weite beschreiben lässt und zwar als evangelischer, d. h. dem Evangelium von Jesus Christus gemäßer Gottesdienst. Jochen Arnold, Januar 2010
Einleitung
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I Grundsätzliche theologische Überlegungen
1 Gottes Dienst – eine Betrachtung zur Menschenfreundlichkeit Gottes Im Gegensatz etwa zu den benachbarten romanischen Sprachen (vgl. culte/culto, liturgie/liturgia) enthält das deutsche Wort Gottesdienst ein pointiertes theologisches Programm, das in zwei Richtungen entfaltet werden kann: Gott dient uns und wir dienen ihm. Gott verspricht uns seine Liebe, er wendet sich uns freundlich zu. Und wir lassen uns auf diese dienende Zuwendung ein, indem wir, so wie wir sind, mit allem, was uns bewegt und umtreibt, zusammenkommen und uns Gott öffnen. Martin Luther hat dieses zweifache Dienen im Sinne eines dialogischen Ereignisses verstanden und auf eine knappe Formel gebracht, die sich in vielen liturgischen Lehrbüchern und Artikeln findet: Im Gottesdienst – so sagt er bei der Einweihung der Torgauer Schlosskirche 1544 – solle nichts anderes geschehen, als »dass unser lieber Herr mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden in Gebet und Lobgesang« (WA 49, 588). Das 2. Vatikanische Konzil hat diese Formulierung fast wörtlich aufgenommen. Dort heißt es: »In der Liturgie redet nämlich Gott zu seinem Volk. Christus verkündigt das Evangelium. Das Volk aber antwortet Gott mit Gesängen und Gebet.« (Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium 33) [»In Liturgia enim Deus ad populum suum loquitur; Christus adhuc Evangelium annuntiat. Populus vero Deo respondet tum cantibus tum oratione.«] Damit ist der Gottesdienst als ein beziehungsreich-dialogisches Wort- und Klanggeschehen beschrieben, in dem sich eine Begegnung zwischen Gott und Mensch ereignet.
Der erste Teil dieser Beschreibung, dass Gott selbst durch sein Wort zu uns redet, lässt sich wiederum in einer doppelten Weise verstehen. Zunächst die Außenseite: Durch die Lesungen der Heiligen Schrift, durch deren Auslegung in der Predigt, durch die Austeilung des Abendmahls und den Zuspruch des Segens geschieht Gottes Wort. 10
Grundsätzliche theologische Überlegungen
Dies ist gleichsam die objektive Seite des göttlichen Dienens. Gottes Geist ist durch menschliche Worte, Gesten und »Aktionen« hindurch am Werk. Dazu gehört auch eine Innenseite: Herzen werden berührt und Augen geöffnet, Glaube geweckt und gestärkt. Diese Erfahrung lässt sich empirisch nicht nachweisen, auch wenn viele Gottesdienstbesucherinnen sie bezeugen. Sie ist uns nicht verfügbar, sie geschieht, »wann und wo Gott es will« (vgl. Art. V der Augsburger Konfession: »ubi et quando visum est Deo«). Dasselbe gilt für unseren Dienst: Die Tatsache, dass wir uns überhaupt versammeln und damit Gebot und Verheißung Jesu Christi folgen, ist äußerlich betrachtet der erste Schritt des Dienstes der Gemeinde vor Gott. Die Tatsache, dass wir hören und beten, singen und musizieren, klagen und loben, drückt das (dienende) Vertrauen auf den lebendigen Gott aus. Zugleich hoffen wir, dass mit diesem Dienst der versammelten Gemeinde auch Gottes Herz erreicht wird, ja Gottes Freude hervorgerufen wird. In diesem Sinn sind auch die folgenden Ausführungen zu verstehen, mit denen wir Grundlinien einer Theologie des Gottesdienstes skizzieren wollen. 1.1 Gott dient uns Was heißt es, dass Gott uns dient? Werfen wir dazu zuerst einen Blick ins Neue Testament. Hier kommt der Begriff des göttlichen Dienens (griechisch: diakonein, leiturgein, latreuein) an einigen prominenten Stellen vor. Jesus sagt von sich selbst: Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene, und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele (Mk 10,45 vgl. Mt 20,28). Dienen (hier: diakonein) wird hier also mit der Selbsthingabe – von einem Opfer an Gott ist hier nicht die Rede! – Jesu an die Menschen in Verbindung gebracht, die Grundlage für unser Heil, ja für unsere Seligkeit ist. Die Wendung »für viele« ist höchstwahrscheinlich nicht exklusiv gemeint. Der Sinn ist nicht: »schon viele, aber einige nicht«. Vielmehr mein das griechische polloi inklusiv die unvorstellbar große Zahl aller Menschen, denen sich Gott in seiner Liebe zuwendet. Gott will das Heil für alle Menschen (vgl. 1. Tim 2,4), deshalb sendet er seinen Sohn in die Welt (vgl. Joh 3,16) Der Hebräerbrief (8,2) bezeichnet ihn daher als wahren Diener (leiturgos) am Heiligtum Gottes. Gottes Dienst
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Dass Gott ein Dienender ist, heißt: Gott bückt sich zu uns herunter, redet uns an durch Worte, Lieder und Zeichen, Bilder und Räume. Er ist aber auch ansprechbar und hört uns zu. Wir haben im Gottesdienst Audienz beim Schöpfer, Erlöser und Vollender des Himmels und der Erde. Darum lautet auch eine geprägte liturgische Eröffnung so: Liturg/in: Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn. Gemeinde: Der Himmel und Erde gemacht hat.
Gottesdienst ist etwas Leibliches, nichts rein Geistiges. An Weihnachten hören wir folgenden Bibelvers in zahlreichen Gottesdiensten: Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit. Was der Evangelist Johannes (Joh 1,14) von der göttlichen Offenbarung, der Menschwerdung Jesu schreibt, gilt auch für den christlichen Gottesdienst. Der menschenfreundliche Gott kommt leiblich zu uns. Er spricht durch fehlbare Menschen hindurch und ruft uns zu: Fürchte dich nicht! Ich bin für dich da. Diese Zusage ist reines Geschenk ohne Vorbedingung. Sie ist nicht an unser Tun oder an unsere Person gebunden. Damit löst Gott das Versprechen seiner Gegenwart ein, von der Jesus sagt: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. (Mt 18,20). Christen sind der festen Überzeugung: Gott ist gegenwärtig, wo sein Wort verkündigt wird. Dies geschieht in vielen Formen. Schon mit dem Gruß wird etwas vom Wesen des dreieinigen Gottes mitgeteilt: »Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!« In den alttestamentlichen Lesungen spricht Gott zu der hörenden Gemeinde von dem Weg, den er mit Israel gegangen ist, als er sein Volk aus der Gefangenschaft befreit hat. In der Lesung der Evangelien wird von der Sendung des Sohnes in die Welt erzählt, seinem Predigen, Heilen und Feiern, seinem Leiden, Sterben und Auferstehen; von einer Geschichte, die uns bis heute trägt. In der Predigt redet Gott mit uns über unser Leben und gibt unserem Handeln aktuelle Orientierung. Aber auch in den Sakramenten – die Theologen des 17. Jh. sprechen von Medien des Heils – Taufe und Abendmahl spricht Gott uns an und teilt uns seine bedingungslose Zuwendung mit. Wir sehen: Der dreieinige, uns in Jesus Christus gnädig zugewandte Gott ist durch seinen Heiligen Geist im Gottesdienst der Handelnde: Er 12
Grundsätzliche theologische Überlegungen
predigt und tauft, lädt uns ein an seinen Tisch. Mit dem Wort »Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird« hören wir eine kraftvolle Zusage, die auch über die Grenze des Todes hinausreicht. Doch auch Räume und Bilder, sinnliche Zeichen und Gesten können sprechen und verkündigen. In alten Kirchen sprechen ganze Bilderzyklen als »Armenbibel«, oft erzählen sie die Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis hin zur Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag. Eine prominente Rolle nimmt auch die Kirchenmusik ein. In alten Chorälen und neuen geistlichen Liedern, in Kantaten, Motetten oder Gospels hören wir die Freude und Gewissheit des Glaubens und singen uns diese gegenseitig zu. Zu guter Letzt erfahren wir Gottes gütige Zuwendung im Segen. Wie ein ausgerollter Teppich begleitet uns diese gnädige Spur des allmächtigen und barmherzigen Gottes in den Alltag hinein, wenn wir uns wieder unserer Arbeit zuwenden. Dass Gott uns dient, heißt für mich: Ich lasse mich berühren vom Morgenglanz der Ewigkeit: In einer äußerlich oft sehr schlichten Versammlung kann ich gemeinsam mit anderen Menschen Gott selbst begegnen. Hier wird etwas hörbar und greifbar, was zwar mit anderen Veranstaltungen wie einem Fest – da wird gegessen, Musik gehört und ggf. fröhlich getanzt –, einem wissenschaftlichen Vortrag, einer politischen Versammlung – da soll überzeugt werden! – oder einem Fußballspiel – da wird gefiebert und gefeiert – verwandt, letztlich aber nicht vergleichbar ist. Die Kraft des Evangeliums (vgl. Röm 1,16f) – nicht unser Ideenreichtum oder unsere tolle Performance! – bewirkt das Wunder, dass wir anders gehen als wir gekommen sind, dass wir gottesdienstlich verwandelt werden. Immer wieder bin ich gefragt worden: Was macht einen christlichen Gottesdienst aus? Wann ist ein Gottesdienst gut? Kurz gesagt: Ein Gottesdienst ist dann gut, wenn er transportiert, dass Gott trotz allem Leid und aller Not in dieser Welt ein menschenfreundlicher, liebender, persönlich zugewandter Gott ist. Christlicher Gottesdienst ist Darstellung und Mitteilung der Menschenfreundlichkeit des dreieinigen Gottes im Fest der versammelten Gemeinde. Gottes Dienst
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So wie Gott in Christus eine radikale, zuweilen auch anstößige Men schenfreundlichkeit riskierte, so soll die Menschenfreundlichkeit Gottes auch in unseren Gottesdiensten aufleuchten. Fragen wir uns deshalb: Geschieht in unseren Gottesdiensten eine Anrede auf Augenhöhe, wie Jesus sie praktiziert hat? Nicht klerikal oder dogmatisch von oben herab, sondern durch verständliche Worte in der Sprache heutiger Menschen, durch ansprechende Lieder und erlebbare Zeichen? Liebevoll und doch wahrhaftig? Ich denke dabei z. B. an dialogische Lesungen, die uns das Evangelium in großer Lebendigkeit mit unterschiedlichen Stimmen zu Gehör bringen; an eine gründlich vorbereitete Auslegung des biblischen Textes oder an eine fantasievolle Liedpredigt. Ich denke aber auch an eine der Einsetzung Jesu gemäße Abendmahlsfeier, in der wirklich Gemeinschaft mit Gott und untereinander erfahren werden kann; an eine liebevoll gestaltete Taufe, in der die Eltern und Paten gut einbezogen sind. Oft sind es schon die kleinen Gesten, die das Eis brechen. Hier wäre viel zu sagen, über lieblose Abkündigungen, kalte Kirchen, pfeifende Lautsprecher, eisiges Neonlicht oder scheußliche Wandbehänge und vor allem über griesgrämiges Personal! All das hat mit praktizierter Kreuzesnachfolge nichts zu tun. Reden wir deshalb lieber über eine freundlich-zugewandte Begrüßung schon am Eingang, über schönen Blumenschmuck, gute Tontechnik und anmutige, bisweilen auch anstößige sakrale Kunst. Und natürlich über die Musik: So ist etwa das gesungene Fürchte dich nicht! eine unmittelbare Anrede, die Herzen bewegt und verändert. Wie ein roter Faden geht sie durch die ganze Bibel. Vom Chor oder von der Gemeinde gesungen bringt sie in uns das Entscheidende zum Klingen: Gott ist für dich da. Die Mitteilung der Menschenfreundlichkeit Gottes, die seine Zuwendung für unsere Gegenwart »übersetzt«, ist die zentrale Aufgabe im Blick auf die Gottesdienstgestaltung. Es geht darum, das Evangelium facettenreich unter die Leute zu bringen: in der Verkündigung des Wortes, der Feier der Sakramente und immer wieder auch im Lied, das Gottes Liebe und Wahrheit zum Klingen bringt. 1.2 Wir dienen Gott Doch kommen wir nun auch zur anderen Seite: Was könnte das meinen, dass wir Gott dienen? Können Menschen überhaupt dem ewigen Gott einen angemessenen Dienst tun? Geht es um die gehorsame 14
Grundsätzliche theologische Überlegungen
Erfüllung einer verordneten Pflicht, vergleichbar mit der Ausführung eines angeordneten Befehls oder Beschlusses? Entscheidend ist auch hier der Beziehungsaspekt. Gottes Handeln bleibt nicht ohne Resonanz bei seinen Kindern, seine Liebe findet Widerhall, stößt auf echte Gegenliebe. Betrachten wir dazu wiederum den Dienst Jesu Christi, der in jeder Hinsicht Schlüssel für das Wesen menschlichen Gottesdienstes ist. Jesus sucht immer wieder die Stille. Im Gebet redet er Gott vertrauensvoll als Abba (Papa) an, wie etwa im Vaterunser (vgl. Mt 6,9– 13 bzw. Röm 8,15). Aber er dient dem Vater auch in Situationen, die für ihn schwierig und schmerzlich sind: Jesus trinkt den bitteren Kelch des Leidens (vgl. Mt 26,39–42 par) in der Nacht des Verrats und der Verleugnung. Damit wird deutlich, dass Gottesdienst auch eine fordernde, unbequeme Seite hat, die nach Gehorsam fragt. Paulus bezeichnet die Sendung Jesu deshalb als »Entäußerung« (vgl. Phil 2,6). Doch dies ist nur die eine Seite. Gott anzurufen und zu loben, erhebt uns auch, bringt uns in neue Sphären, ja lässt uns an Gottes Schönheit und Herrlichkeit teilhaben. Ein nochmaliger Blick in die Bibel eröffnet uns diese Spuren. Menschlicher Lobpreis Gottes ist immer Antwort auf ein göttliches Geschenk. Beim Auszug aus Ägypten (2. Mose 12) heißt es: Ihr sollt sagen: Es ist das Passaopfer des Herrn, der an den Israeliten vorbeiging in Ägypten, als er die Ägypter schlug und unsere Häuser rettete. Und das ganze Volk betete ihn an. Nach dem Durchzug durch das Schilfmeer und Gottes Rettung vor den Feinden stimmt Miriam mit Tanz und Trommeln ein Loblied an: Singet dem Herrn, denn er hat eine große Tat getan! Lob und Dank haben ihren Ursprung im »richtigen Leben«, gerade in den durchlebten Krisen und Nöten, wird Gott immer wieder als ganz groß erfahren. Paulus schreibt an einer zentralen Stelle des Römerbriefs (Röm 12,1): Mit unserem ganzen Leben sollen wir Gott »vernünftig« – d. h. dem einen Logos Jesus Christus gemäß – dienen (latreuein). Wir dürfen ein Tempel des heiligen Geistes sein (1. Kor 6,19). Damit Gottes Dienst
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bekommt der Gottesdienst der Christenheit eine große Weite: Er ist nicht beschränkt auf eine Stunde am Sonntagmorgen, sondern geschieht immer auch »im Alltag der Welt«, dann nämlich, wenn wir in Familie, Schule oder Beruf unseren Glauben bekennen oder uns für andere und diese Welt engagieren. Gottesdienst ist eine Lebenshaltung, ein ständiger Lobpreis Gottes in der Aufmerksamkeit und liebevollen Hinwendung zu unseren Mitmenschen. In Kol 3,17 heißt es dazu passend: Alles, was ihr tut, mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen Jesu Christi und preist Gott den Vater durch ihn. In Apostelgeschichte 2,41–47, dem am häufigsten angeführten Text zum christlichen Gottesdienst, wird von der Ursprungssituation der Gemeinde erzählt und damit der Zusammenhang von Gottesdienst am Sonntag und im Alltag erhellt: Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen. Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. … Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.
Wir sehen: Wir dienen Gott und den Menschen um uns her am besten mit der Haltung der Dankbarkeit, mit einem fröhlichen Gloria, Halleluja oder Sanctus auf den Lippen. Denn Gott will, dass sein Lichtglanz, seine Herrlichkeit und Ehre (lat. gloria) bei uns aufleuchtet und schon jetzt – als Vorschein der ewigen Herrlichkeit – durch unser Lieben und Loben etwas von seiner Schönheit zurückstrahlt. Dies ist auch der Sinn des dritten (vierten) Gebotes zur Heiligung des Sabbats: Im Heidelberger Katechismus heißt es dazu (Frage 103): »Was will Gott im vierten Gebot? Gott will […], dass das Predigtamt und die christliche Unterweisung erhalten bleiben und dass ich, besonders am Feiertag, zu der Gemeinde Gottes fleißig komme. Dort soll ich Gottes Wort lernen, die heiligen Sakramente gebrauchen, den Herrn öffentlich anrufen und in christlicher Nächstenliebe für Bedürftige spenden. […] So fange ich den ewigen Sabbat schon in diesem Leben an.«
Natürlich ist uns nicht immer zum Loben zumute: Persönliche oder familiäre Krisen, Arbeitslosigkeit oder Trennung, Krankheit, Krieg und Tod hinterlassen im persönlichen und öffentlichen Bereich unübersehbare Spuren: Spuren des Leids und der Not, der Schuld 16
Grundsätzliche theologische Überlegungen
und des Zweifels. Wie können wir in solchen Situationen Gott angemessen dienen, ohne zu heucheln? Paulus kommt auf solche Erfahrungen in Röm 8 zu sprechen: Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die den Geist als Erstlingsgabe haben, sehnen uns nach der Kindschaft und warten auf die Erlösung des Leibes. […] Desgleichen hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, aber der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen.
Dieser Vorbehalt ist wichtig und lässt uns »auf dem Boden der Tatsachen« bleiben: Auch mit unseren Zweifeln, mit unserer Klage und Ungewissheit können wir Gott dienen, indem wir uns versammeln, zu ihm hinwenden, also: mit ihm in Kontakt bleiben. Versuchen wir diese Überlegungen in die liturgische Praxis hinein zu übersetzen: Der erste Schritt unseres Dienens besteht darin, dass wir uns die freundliche Zuwendung Gottes gefallen lassen und sie dankbar annehmen. Unsere erste Resonanz drückt sich darin aus, dass wir schlicht »Amen« sagen, Gottes Freundlichkeit annehmen, an uns wirken lassen. Von uns aus können wir das nicht. Vielmehr ist schon diese schlichte Zustimmung ein Werk des Heiligen Geistes, der »unserer Schwachheit aufhilft« (Röm 8,26). Ein evangelischer Gottesdienst enthält aber auch viele aktive Elemente: Wir machen uns bewusst auf einen leiblichen und geistlichen Weg. Er kann mit einem Kyrie beginnen, das unsere Angewiesenheit auf Gottes Erbarmen ausdrückt, und immer wieder ins Gloria münden, das Dank und Anbetung umfasst. Gott dienen heißt daher, eingestimmt zu werden ins Gebet. Gemeinsam mit Israel sprechen wir den Psalter. Mit Jesus beten wir das Vaterunser, das an Formen des Psalters anschließt. Diesem väterlichen und mütterlichen Gott dürfen wir uns anvertrauen, wir dürfen ihm klagen, dass wir traurig sind, und ihm vorhalten, dass wir ihn vermissen. In den Fürbitten legen wir ihm die Not der Menschen dieser Erde ans Herz, danken ihm aber auch dafür, dass er bei uns ist und die Welt schön gemacht hat. Ein Gottesdienst ist daher oft ein geistlicher Weg, der Veränderung bringt: ein Weg von Zweifel und Klage hin zu Trost und Ermutigung, aus der neue Dankbarkeit und Zuversicht geboren wird. Perspektiven Gottes Dienst
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der Freude und der Hoffnung öffnen sich. Gott selbst nimmt uns auf und verwandelt uns. Wie das geschieht, können wir exemplarisch an einem österlichen Bibeltext ablesen.
2 Den Gottesdienst ins Gespräch bringen – Entdeckungen mit Lukas 24 Für manche Autoren lässt Lukas 24 die seelsorglichen Qualitäten des auferstandenen Jesus durchscheinen, viele sehen darin aber auch einen programmatischen Text für den Gottesdienst mit den Stationen der Begegnung, der Schriftauslegung, der Mahlfeier und der Sendung. Fragen wir uns mit dieser Perikope, was uns für den Gottesdienst verheißen und aufgetragen ist. 13 Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa zwei Stunden entfernt; dessen Name ist Emmaus. Zwei sind genug. Gottesdienst heißt: sich gemeinsam auf den Weg machen. Aufbrechen zu neuen, auch zu unbekannten Orten, auch in kleine vermeintlich unbedeutende Dörfer. 14 Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. Miteinander reden. Hier geht es nicht um den Austausch von Belanglosigkeiten. Die beiden Jünger machen nicht einfach Smalltalk. Sie teilen sich mit, was sie wirklich umtreibt, was sie unbedingt angeht. Erzählen wir uns das? Geschichten mit Gott, die berühren, die auch etwas von uns preisgeben? Wagen wir auch zu sagen, wo wir Gott vermissen und woran wir leiden? 15 Und es geschah, als sie so redeten und einander fragten, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Jesus kommt dazu und geht mit. Er lässt die verzagten Jünger nicht allein, ja löst das Wort seiner Verheißung ein: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen (Mt 18,20). 16 Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten. Damit müssen wir rechnen. »Gehaltene Augen« sind gleichsam 18
Grundsätzliche theologische Überlegungen
der alltägliche, aber auch der »all-sonntägliche« Normalfall. Der »österliche Durchblick« ist uns nicht verfügbar. 17 Er aber sprach zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? Da blieben sie traurig stehen. Jesus fragt nach. Er öffnet sich für die Not und die Fragen der Menschen. Deshalb können sie ihre Gefühle zeigen: Gefühle der Trauer und der Wut, der Enttäuschung und des Zweifels. Und Jesus hält mit ihnen gemeinsam inne. Wo in unseren Gottesdiensten geschieht das? Wo werden Menschen nach ihren Gefühlen gefragt? Wo gibt es Räume der Stille und Orte, spontan Gefühle auszudrücken? 18f Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: Bist du der Einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Und er sprach zu ihnen: Was denn? Die beiden Männer fragen zurück. Wo gibt es im Gottesdienst einen Ort, an dem wir uns Fragen stellen lassen? Passiert das ausschließlich monologisch in der Predigt? Und falls nicht: Sind wir wirklich offen für die kleinen und großen Fragen der Menschen? 19 Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und allem Volk. Noch klingt Begeisterung in ihrer Stimme. Jesus, das war ein mächtiger Prophet in Wort und Tat. Er hat vorgelebt, wie das zusammengeht: das messianische Heilen und Helfen, Predigen und Beten. Nicht um dogmatische Richtigkeit geht es daher, wenn wir ihn verkündigen, sondern um das glaubwürdige Zeugnis, das unser Glauben und Lieben im Leben verbindet. 20 wie ihn die Hohenpriester und Oberen überantwortet haben zur Todesstrafe und gekreuzigt haben. Wer von Jesus redet, kann und soll auch sein Leiden und Sterben nicht verschweigen. Zum Skandal des Kreuzes sollen wir uns bekennen, auch wenn manche das Kruzifix lieber durch ein anderes, »bekömmlicheres« Symbol ersetzen würden. Eine Zumutung ist das, aber auch eine unmittelbare Ermutigung für alle die, deren Leben von Leid, Schmerzen und Verfolgung geprägt ist. Ihnen gilt sein liebendes Hinschauen. Den Gottesdienst ins Gespräch bringen
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21 Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist. Wenn wir vom Tod Jesu reden, können wir auch die damit verbundene Hoffnung nicht verschweigen: die Hoffnung seiner Erhörung und Auferweckung und damit die Hoffnung, dass auch Israel erlöst wird. Deshalb soll unser Gottesdienst in Achtsamkeit gegenüber dem auserwählten jüdischen Volk geschehen (Kriterium 7 des Ev. Gottesdienstbuches, vgl. EGb, 18f). 22–24 Auch haben uns erschreckt etliche Frauen aus unserer Mitte; die sind früh beim Grab gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. Und etliche unter uns gingen hin zum Grabe und fanden’s so wie die Frauen sagten, aber ihn sahen sie nicht. Schrecken und Furcht treten nochmals ganz in den Vordergrund. Sie stehen der Hoffnung diametral gegenüber. Wie artikulieren wir unsere Angst im Gottesdienst, besonders im Gebet? Der kleine Abschnitt atmet zugleich eine wunderbare Frische. Wir sind ganz in der Gegenwart des Geschehens. Von Ostern wird so erzählt, als wäre es gerade erst passiert. Lassen wir uns noch hineinziehen und begeistern von dem, was da geschehen ist und unser Leben fundamental verändert hat? 25–27 Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben? Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften von ihm gesagt war. Der Auferstandene konfrontiert auch. Er streichelt nicht nur die Seele, sondern »wäscht den Jüngern den Kopf«. Haben wir dazu den Mut, wahrhaftig zueinander zu sein? Erspüren wir dafür aber auch den richtigen Zeitpunkt? Dann folgt eine weitere Schlüsselstelle: Im Gottesdienst geht es auch darum, biblische Zusammenhänge aufzuzeigen, das Ziel der Geschichte Gottes zu entdecken. Gesetz, Propheten und Psalmen, sie alle weisen bereits auf Christus selbst hin und sollen deshalb in einem lebendigen Zusammenspiel zum Klingen kommen. 20
Grundsätzliche theologische Überlegungen
28f Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleib bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. Wir dürfen und sollen ihn nötigen, ihn dringend um seine Nähe bitten, wenn es um uns dunkel wird, wenn die Einsamkeit uns anfällt, denn: Er lässt sich bitten! Er bleibt bei ihnen. Welch eine wunderbare Aussicht: Er kommt herein zu uns – in unsere Kirchenräume, in unsere Gottesdienste, in unsere Herzen. 30 Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. Immer dichter wird die Szene. Aus der scheinbar zufälligen Begegnung wird ein intensives Gespräch über Gottes Geschichte mit den Menschen und ein gemeinsames Essen, Mahlgemeinschaft. Er bricht das Brot und dankt dem Vater. In einem alltäglich schlichten, persönlichen Mahl zeigt und offenbart sich der Auferstandene seinen Jüngern. Er setzt damit fort, was er zu seinen »Lebzeiten« begonnen hat. Welche Erwartungen haben wir an unser Abendmahl? Bitten wir um seine Gegenwart, lassen wir uns beschenken durch die Gemeinschaft mit Christus, danken wir Gott dafür? 31 Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Augen und Herzen tun sich auf. Jeder noch so gut geplante und inszenierte Gottesdienst schafft das nicht durch menschliche Anstrengung. Es ist und bleibt Gottes Sache, dass wir berührt und verwandelt werden. Und er verschwand vor ihnen. Auch das gehört zur Wahrheit dieser Geschichte. Christus ist und bleibt uns nicht verfügbar. So gewiss er gegenwärtig ist unter Wort und Sakrament, so wenig können wir seine gnädige Gegenwart festhalten. 32 Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege, als er uns die Schrift öffnete? Und sie standen auf zu derselben Stunde und gingen zurück nach Jerusalem … Den Gottesdienst ins Gespräch bringen
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Welch eine Freude ist es, einander mitzuteilen, was wir in der Begegnung mit Jesus erfahren haben. Ich wünsche mir Gottesdienste, aus denen Menschen mit brennenden Herzen und leuchtenden Augen hinausgehen und anderen davon weitersagen. Gottesdienst und christliches Zeugnis gehören untrennbar zusammen!
3 Das dreifache Geschenk des dreieinigen Gottes Am Anfang eines jeden Gottesdienstes steht der Name des dreieinigen Gottes. Das Votum Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes erinnert uns an unsere Taufe und verspricht Gottes Gegenwart für eine Versammlung, die Menschen zwar vorbereiten und feiern, aber zuerst und zuletzt doch Gottes Sache ist. Im Gottesdienst vergegenwärtigt sich der drei-eine Gott. Zeit und Ewigkeit berühren sich, Gottes Geschichte wird immer wieder neu mit unserer Lebensgeschichte verknüpft und »versprochen«. Wir finden einen Ort zum Aufatmen und Loslassen, lassen uns anstecken von der Freude über den Sieg Jesu und bekommen neue Orientierung für unser Leben. Wir lassen uns be-geist-ern und dazu animieren, unseren Glauben in den verschiedensten Zusammenhängen dieser Welt und der Gemeinde zu leben. Versuchen wir diese dreifache Gabe Gottes, die uns in jedem Gottesdienst angeboten und gefeiert wird, etwas genauer zu beschreiben: Gott, der Schöpfer, beschenkt uns: Im Gottesdienst lässt uns der Schöpfer des Himmels und der Erde teilhaben an seinem Sabbat, der Ruhepause, die er einlegte, als die Welt gemacht war. Jeder Gottesdienst ist eine Einkehr in die schöpferische Pause, die Gott sich selbst gönnte, nachdem er die Welt geschaffen hatte (Gen 1). Gottesdienst unterbricht unseren Alltag, wir dürfen kommen und da sein, wie wir sind. Hier müssen wir im Gegensatz zur täglichen Arbeit nichts leisten. Diese Unterbrechung tut uns gut, Leib und Seele dürfen aufatmen. Zugleich ist jeder Gottesdienst ein kreatives Geschehen. Der Schöpfer gibt uns Anteil an seinem Ideenreichtum, animiert uns zum Staunen über eine Welt, die er wunderbar geschaffen hat. Der schöpferische Geist öffnet unsere Ohren und Lippen, Herzen und Hände zum Dienst vor ihm und füreinander. Gottesdienst heißt demnach Sabbatzeit, geschenkte Zeit, oder besser: geschenkte Ewigkeit zum Aufatmen Er lässt uns staunen, dankbar 22
Grundsätzliche theologische Überlegungen
und achtsam werden gegenüber der Schöpfung und dem Schöpfer. Deshalb brauchen wir den Sonntag auch als (staatlich) gesicherte Insel der Ruhe. Hier gewinnen wir die Freiheit zum fröhlichen Spiel der Kinder Gottes zurück, die uns im Alltag so oft verloren geht. So leuchtet das Licht des Schöpfungsmorgens neu auf, wie es im Lied (EG 455,2) heißt: »Sanft fallen Tropfen, sonnendurchflutet, so lag auf erstem Gras frischer Tau./ Dank für die Spuren Gottes im Garten, grünende Frische, vollkommnes Blau.«
Doch damit nicht genug: Gott, der Erlöser, schenkt neues Leben: Jeder Gottesdienst vergegenwärtigt Jesu Kreuz und Auferstehung. Jeder Gottesdienst ist ein österliches Fest des Lebens. Durch seinen Sieg über den Tod und alles Böse steht uns der Himmel offen. Im Gottesdienst erfahren Christen Vergebung der Sünden und lebendige Gemeinschaft mit Gott in Christus und untereinander. Die »Grundstimmung« eines christlichen Gottesdienstes ist daher die österliche Freude. Martin Luther schreibt dazu treffend in einer Gesangbuchvorrede (1545): »Singet dem Herrn ein neues Lied! … Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubt, der kann’s nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen.« (WA 35, 477)
Christlicher Gottesdienst hat mit der Gegenwart Gottes im Leiden und mit einem kosmischen Sieg zu tun. Gott hat die Welt mit sich versöhnt (2. Kor. 5,17). Was an Karfreitag und Ostern passiert ist, brachte die Wende schlechthin, die Christen sagen lässt: Alles wird, nein: alles ist schon gut. Gott hat uns die Hölle zugeschlossen und den Himmel geöffnet. Christus hat die unheilige Allianz von Sünde, Tod und Teufel zunichte gemacht. Sein Tod hat den ersten Tod »gefressen« (vgl. EG 101,3+4). Dazu gibt es wunderbare Darstellungen in der Kunstgeschichte. Vor allem im orthodoxen Raum, aber auch im lateinischen Westen geben viele Darstellungen ein beredtes Zeugnis von der kosmischen Wucht des Geschehens, das zwischen Karfreitag und Ostern liegt: Christus hält Einzug im Totenreich, nimmt die Toten an seine Hand und holt sie – als Erstgeborene einer neuen Schöpfung – heraus. Dies Das dreifache Geschenk des dreieinigen Gottes
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ist der tiefe Sinn, wenn wir im Glaubensbekenntnis sagen: Hinabgestiegen in das Reich des Todes. Dieser Zusammenhang von Tod und Leben wird auch in vielen Kirchenräumen sichtbar. Wenn man zum Altar schaut, sieht man oft das Kreuz, vielfach mit dem daran gehefteten Jesus. In zahlreichen Kirchen findet sich aber auch, z. B. im Chorfenster oder über einem »heiligen Grab«, Bilder des Auferstandenen, oft mit einer Siegesfahne und dem roten Mantel als Zeichen. Diese Gleichzeitigkeit von Passion und Ostern richtet uns aus, sie »orientiert«. Der Blick nach Osten (= oriens) versinnbildlicht das Wesen österlicher Hoffnung: Noch steht es unübersehbar da, das Kreuz. Noch ist das Leid nicht völlig aus der Welt geschafft. Aber es gibt einen, der das alles selbst durchlitten, durchkämpft und besiegt hat. Dieser österliche Durchblick tröstet und gibt frohe Gelassenheit zum Feiern. In einem Osterlied von Jörg Zink und Hans-Jürgen Hufeisen bekommt diese Hoffnung tänzerische Leichtigkeit und poetische Kraft (freiTöne 95): »1. Wir stehen im Morgen aus Gott ein Schein, durchblitzt alle Gräber, es bricht ein Stein, erstanden ist Christus ein Tanz setzt ein. Refr. Halleluja … 2. Ein Tanz, der um Erde und Sonne kreist, der Reigen des Christus voll Kraft und Geist. Ein Tanz, der uns alle dem Tod entreißt. Halleluja … 3. An Ostern, o Tod, war das Weltgericht, wir lachen dir frei in dein Angstgesicht. Wir lachen dich an – du bedrohst uns nicht! Halleluja …« (es folgen Str. 4f)
Auch Gott, der Heilige Geist, beschenkt uns. Er weitet unseren Horizont, stiftet uns an zur Begeisterung für Gott und zu Taten der Versöhnung in der Welt. So ist jeder Gottesdienst auch ein kleines Pfingstfest. Gottes Geist lässt uns spüren, dass es noch etwas anderes gibt als die Gesetze von Macht und Kapital, Schönheit und Erfolg. Wir erleben, dass sich im Gottesdienst Zeit und Ewigkeit verschränken und sich unser Blick in die Welt verwandelt. Gottes Geist weitet unseren Blick in die Vertikale und die Horizontale: Zum einen öffnet sich unsere Perspektive »nach oben«: Christus hat uns den Himmel geöffnet und den Weg zu Gott freigemacht. Er lehrt uns bitten und rufen, glauben 24
Grundsätzliche theologische Überlegungen
und bekennen, lieben und hoffen. Zum anderen weitet der Geist Gottes auch unseren Blick in die Welt und für die Welt. Gottes Dienst im Heiligen Geist löst keine Welt-Flucht aus, fördert nicht einen kirchlichen Tunnelblick, sondern macht die Räume weit und hell. Denn Gottes Geist ist ein kreativer, schöpferischer Geist, und das Evangelium eine Kraft, die die Welt rettet (Röm 1,16f). Im Gottesdienst gewinnen wir nicht nur einen neuen Selbst- und Gottesbezug, sondern auch ein neues Verhältnis zu unserer Erde und ihren Menschen. Die Welt bleibt – trotz ihrer tödlichen Schatten – Gottes Welt. In jedem Gottesdienst geschieht eine Art »Heimholung der Schöpfung« zu ihrem Gott. Wo und wie wird das erfahrbar? Im Abendmahl etwa schmecken wir nicht die allgegenwärtige Pflicht des »Du sollst«, sondern empfangen Gottes Zusage, die lautet: »Du darfst.« Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird, sagt Jesus. Hier findet ein fundamentaler und befreiender Wechsel statt, wie er grundsätzlicher kaum sein kann: Wo Menschen im Vertrauen auf die Gegenwart Gottes zusammenkommen, Herzen für ihn brennen (Lk 24,33) und ihn preisen, da wird die Logik dieser Welt unterbrochen und eine andere Kultur vernehmbar als einer gnadenlosen, globalen Ökonomie. Hier geschieht gleichsam cultura per cultum, Kultivierung der Welt durch das Evangelium. Die »Gegenkultur« der Liebe und der Vergebung Jesu, wird durch den göttlichen Geist erschlossen und erlebbar. Freilich sind diese Güter nicht einfach verfügbar. Daniel W. Hardy und David Ford sprechen pointiert von einer »logic of overflow« (Hardy/Ford, 19), der Logik des Überfließens, die gerade nicht kalkulierbar, sondern in doppelter Weise überschwänglich ist! Das überfließende Potenzial der Liturgie hat eine vertikale und eine horizontale Dimension: Gottesdienst ist Verherrlichung Gottes, aber auch Dienst an der Welt und in der Welt. Zur Verherrlichung Gottes in der Liturgie gehört das Zeugnis im Alltag in Wort und Tat. Christliches Loben und Lieben – das kann man an den zehn Geboten mit ihren beiden Tafeln ablesen – gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Sie lassen sich verstehen als Gottesdienst I und Gottesdienst II. In der Fürbitte und bei der Einsammlung des Dankopfers (Kollekte) passiert dieser Perspektivwechsel. Wir werden hinein genommen in die Ver-antwort-ung für die Schöpfung und die Bewahrung des FrieDas dreifache Geschenk des dreieinigen Gottes
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dens unter den Menschen, werden hineingezogen in das Erbarmen Gottes, in seine Hingabe an die Welt. Denn: Wer selbst den Segen Gottes gehört und gesehen, geschmeckt und gespürt hat, der wird ihn auch fröhlich an andere weitergeben, mit innerer Beteiligung wahrnehmend zunächst, dann aber auch aktiv. Wer mit Herz und Mund bei Gott ist, der ist auch mit Händen und Füßen bei den Menschen in einer Welt und für eine Welt, die Gott liebt. Dann tragen wir den Dienst Gottes an uns hinaus in den Gottesdienst im Alltag der Welt. Gottes Geist erfrischt uns. Ohne seine Kraft würden wir auf die Dauer ausbrennen. Die Geistkraft hilft uns, andere Menschen anzunehmen und Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung und für den Frieden in der Welt zu übernehmen. Durch den tröstenden und schöpferischen Geist von Pfingsten (vgl. Joh 14,26), der in unseren Herzen wohnt, bekommen wir Orientierung im Alltag und tragen die Vision von Gottes neuer Welt weiter. So dürfen wir den Gottesdienst als Gabe des dreieinigen Gottes erfahren: Hier geschieht Einkehr in die göttliche Schöpfungsruhe, Vergegenwärtigung des Leidens Christi, Feier des österlichen Sieges und erfrischende Inspiration des göttlichen Geistes. Wir dürfen durchatmen, bekommen neue Hoffnung und lassen uns begeistern für Gottes neue Welt schon hier und jetzt.
4 Die großen Themen der Menschen – damals und heute Lebendige Liturgie, die die Menschenfreundlichkeit Gottes feiert, ist nur dann menschenfreundlich, wenn sie anschlussfähig ist an das Leben und die Sprache heutiger Menschen. Zwei Aspekte scheinen mir in dieser Hinsicht wesentlich. Gottesdienste sollen die großen Fragen und Themen heutiger Menschen aufnehmen (Relevanz), sie aber auch entschieden ins Licht Gottes stellen. Menschen kommen dann zum Gottesdienst, wenn ihre aktuellen und letzten Fragen zur Sprache kommen, wenn die Themen der 26
Grundsätzliche theologische Überlegungen
Predigt und die Gebete aktuell und relevant sind. Allerdings ist dies nur eine Seite. In den Gottesdienst kommen Menschen auch, weil sie wissen wollen, wie sie »mit Gott dran« sind. Sie wollen nicht nur Information, sondern erwarten eine Transformation ihres Lebens durch die Begegnung mit Gott. Was im Gottesdienst geschieht, soll relevant sein, soll sie »unbedingt angehen« (Tillich), ohne dass in trivialer Weise das wiederholt wird, was man auch in den Medien oder in der Literatur erfahren kann. Dahinter verbirgt sich nicht nur die Frage nach dem Sinn des Lebens im Hier und Jetzt, sondern auch nach der ewigen Wahrheit Gottes. Es geht um das, woran unsere Glaubensgewissheit hängt. Paul Tillich schreibt: »Das, was uns unbedingt angeht, ist von allen zufälligen Bedingungen der menschlichen Existenz unabhängig. […] Was uns unbedingt angeht, läßt keinen Augenblick der Gleichgültigkeit und des Vergessens zu. Es ist ein Gegenstand unendlicher Leidenschaft« (Tillich I, 19).
Vielfach werden die Themen eines Gottesdienstes im Vorfeld leider nicht kommuniziert. Ob morgen der 17. Sonntag n. Trinitatis ist, interessiert heute kaum jemanden mehr. Die Menschen sollten deshalb schon im Vorfeld (z. B. durch den Gemeindebrief, eine gute Website die Tageszeitung oder digitale Medien) wissen, worum es im Gottesdienst inhaltlich gehen wird. Menschen interessieren sich, wie ihr Leben gelingen kann, wie sie so zusammen leben können, dass sie sich nicht gegenseitig verletzen. Dies beginnt im Kleinen von Ehe/Partnerschaft und Familie und setzt sich fort im größeren Zusammenhang einer Stadt, einer Gesellschaft oder eines ganzen Volkes. Es wird nochmals auf die Probe gestellt im Blick auf das Miteinander der unterschiedlich geprägten Völker in der Welt. Besonders das erste Testament ist reich an Erzählungen und Texten, die eindrucksvoll davon berichten: Väter- und Müttergeschichten mit unterschiedlichen Geschwisterkonstellationen, Gebotsketten mit konkreten Aufforderungen, z. B. Witwen, Waisen und Fremdlinge zu schützen (vgl. 2. Mose 22,20–22), aber auch Texte, in denen das Verhältnis der Völker zueinander anklingt. Diese Themen sind durch zeitgenössische Predigten und Gebete in heutiger Sprache zu bearbeiten und aufzunehmen. Gottes Geschichte mit den Menschen soll uns in lebendiger Erinnerung bleiben, indem Die großen Themen der Menschen
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diese alten Texte gelesen und durch aktuelle Auslegung mit unserer Gegenwart verknüpft werden. Ich versuche einige Themen exemplarisch zu skizzieren und jeweils eine Verbindung in die Heilige Schrift zu ziehen: Schuld und Vergebung Zur Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens gehört es, dass Menschen scheitern und schuldig werden. Wo Menschen sich verletzen und Beziehungen beschädigt werden, ja zerbrechen, kann dies unterschiedliche Gründe haben. Die Bibel spricht auch davon. Die großen »Helden« wie Abraham und Sara, Mose und Aaron, David und Bathseba, Salomo und Elia, Petrus und Paulus: Alle werden schuldig. Es spricht für die Wahrhaftigkeit der Bibel, dass diese Facetten der Geschichte nicht ausgeklammert werden, sondern menschliches Versagen im privaten wie im öffentlichen Bereich zur Sprache kommt. Ja mehr noch: Es gehört zum großen Schatz der jüdisch-christlichen Tradition, dass diese Wahrheit vor Gott benannt und bearbeitet wird. So gilt es, die Lebensgeschichten der biblischen Helden neu zu entfalten und für heute zuzuspitzen. Dazu ein Beispiel: Zuerst sieht er sie nur von weitem. Er beobachtet sie beim Baden. Fühlt sich zu ihr hingezogen, begehrt sie. Und dann hat er keine Ruhe mehr, lässt sie zu sich kommen und schläft mit ihr. Als sie schwanger ist, stellt er ihren Mann an die Spitze des Heeres. Todsicher … Doch die Sache lässt sich nicht vertuschen: »Du bist der Mann, du bist schuldig, euer Kind wird sterben.« So schmettert es ihm der Prophet entgegen. Verzweifelt möchte der König mit Gott und dem Verstorbenen ins Reine kommen. Er würde das alles so gerne wieder gut machen, aber wie? Er fleht zu Gott mit folgenden Worten: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist (vgl. Psalm 51 bzw. EG 230).
Dies ist ein Gebet, das im Gottesdienst Israels und der Kirche große Bedeutung gewonnen hat. Bis heute bekennen wir im Gottesdienst unsere Schuld mit diesen oder ähnlichen Worten (Sündenbekenntnis bzw. Vorbereitungsgebet). Zu Recht, denn es braucht Zeiten und Orte, um eigenes und gemeinsames Versagen zu bearbeiten und eine geistliche Perspektive, die weiterführt als das, was in öffentlichen 28
Grundsätzliche theologische Überlegungen
Debatten mit schnellen Schuldzuweisungen an Einzelne immer wieder passiert. Im Unterschied zur medialen Öffentlichkeit geht es dann nicht um ein Aburteilen, sondern um Wahrhaftigkeit gegenüber Tätern und Opfern zum einen und um die Möglichkeit von Versöhnung und Vergebung zum anderen. Unverschuldetes Leid
Nicht immer ist es Schuld, die unser Leben gefährdet oder Beziehungen zerstört. Zuweilen geraten Menschen auch völlig unverschuldet in eine Lebenskrise oder werden durch schwere Katastrophen heimgesucht. Ein Beispiel dazu finden wir im Buch Hiob, das auch narrativ eingeführt werden kann: Er hatte so ziemlich alles, was man im Leben braucht: eine große Familie, ein schönes Haus und Hunderte von Hektar an Ländereien. Bei den Leuten war er hoch angesehen, denn sie wussten: Auf sein Wort ist Verlass. Er war mit Gott und der Welt im Reinen. Doch dann kommt es knüppeldick: Unbekannte ermorden seine Knechte und stehlen sein Vieh, sein Haus wird bei einem Gewitter vom Blitz getroffen und brennt nieder. Seine Kinder kommen ums Leben. Ja sogar er selbst bleibt nicht verschont. Überzogen mit Geschwüren fragt er: Warum ausgerechnet ich? Was habe ich nur getan? Warum lässt Gott das zu? Er ringt und fleht, klagt an und argumentiert und erfährt zugleich: Selbst der »fremde«, weit entfernte Gott lässt mich nicht los.
In den Klagepsalmen (vgl. Ps 13; 22; 69) wird solche Not vor Gott gebracht. Ein dreifaches Beziehungsgeflecht können wir beobachten: Die Krise betrifft nicht nur die Person selbst, sondern auch ihre Gottesbeziehung und das Verhältnis zu den Menschen (die sog. »Feinde«). Jesus selbst betet in seiner Todesnot am Kreuz mit Worten eines solchen Psalms: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 15,34) Am Ende vieler Klagepsalmen gibt es eine Perspektive auf Hoffnung, ja bisweilen die Gewissheit, dass sich die Not wendet/gewendet hat, weil Gott selbst eingreift. Ob sich Gottes Nähe für die Betenden selbst – gleichsam unmittelbar – wieder erschlossen hat oder ob sie einer Person begegnet sind, die sie getröstet haben, ist nicht immer Die großen Themen der Menschen
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auszumachen. Beim Propheten Jesaja im 54. Kapitel lesen wir gleichsam im Rückblick aus der Perspektive Gottes dazu: Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen … Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.
Rettung aus großer Not – Heil und Heilung
Immer wieder erzählt die Bibel von wunderbaren Rettungen. Menschen kommen, durch Naturgewalten, Krankheit oder Feinde bedroht, an die Grenze des Todes. Jakob ringt mit einem geheimnisvollen göttlichen Wesen und überlebt, ja bekommt, wenn auch nunmehr hinkend, den Segen Gottes zugesprochen (1. Mose 32). Doch auch ein ganzes Volk erlebt ein solches Wechselbad: Die Schatten der Nacht liegen noch auf ihren Seelen. Das Blut an den Pfosten der Häuser, das Geschrei der Kinder, als der Todesengel durch die Straßen ging. Endlich war er da der Tag der Freiheit. Doch schon wenig später scheint alles aus. Der Traum zu Ende. Sie stehen am Schilfmeer und hören hinter sich die Wagen der Feinde. Doch die Fluten teilen sich. Trockenen Fußes erreichen sie das rettende Ufer. Gerettet – vor den Naturgewalten und der Streitmacht der Feinde (2. Mose 15). Noch zittern ihre Knie. Doch dann muss alles raus: die Erleichterung, die Dankbarkeit, der Schrecken. Ein wird ein Lied angestimmt und getanzt. Miriam geht mit ihren Freundinnen voran. Ihre Handpauken animieren das Volk zum Singen und Tanzen: Lasst uns dem Herrn singen, denn er hat eine große Tat getan (vgl. dazu Liederbuch freiTöne 106).
Diese Erfahrung Israels verdichtet sich im Neuen Testament: Die Heilungs- und Wundererzählungen der Evangelien bekennen Jesus als mächtigen Herrn der Welt und Retter aus der Not (vgl. aramäisch Jeschua: Retter, Mt 1,21). Damit wird deutlich: Der Retter ist derselbe wie der Schöpfer oder genauer: als Retter ist er auch der Neuschöpfer. Gottes Heilshandeln hat nicht nur eine spirituelle, sondern immer auch eine leibliche Dimension. Dies wird eindrucksvoll in der Heilungsgeschichte von einem Gelähmten (vgl. Mk 2,1–12) deutlich, der von seinen vier Freunden zu Jesus gebracht wird. Jesus vergibt dem Mann – zum Entsetzen der anwesenden Schrift30
Grundsätzliche theologische Überlegungen
gelehrten – seine Sünde und macht ihn dann gesund. Gottes Handeln in Christus beinhaltet mehr, als Menschen erwarten, und überschreitet zugleich die Grenzen religiöser Denkmuster und bürgerlicher Konventionen. Das Evangelium beinhaltet diese Botschaft: Gottes heilvolle Zuwendung gilt dem ganzen Menschen, selbst dann, wenn eine körperliche Heilung noch aussteht oder ausbleibt. Gelassene Weisheit
Der große Philosoph des Alten Testamentes, der Prediger Salomo (Kohelet), hat ein Buch geschrieben, das in seiner Nüchternheit und gedanklichen Klarheit einzigartig in der Bibel ist. Im dritten Kapitel zeichnet er den poetischen Entwurf einer gelassenen Lebenshaltung: Unter dem Motto Alles hat seine Zeit werden Beginn und Ende, Höhen und Tiefen des Lebens entfaltet: Geboren werden hat seine Zeit; sterben hat seine Zeit usw. Seine Empfehlung am Ende zielt auf einen maßvollen Genuss der guten Gaben Gottes im Alltag: Da merkte ich, dass es nichts Besseres gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinen Mühen, das ist eine gute Gabe Gottes. (Pred 3,12f)
Eine ähnliche Haltung finden wir auch in einzelnen Psalmen (z. B. Ps 104) und in den Sprüchen Salomos bzw. im Buch Jesus Sirach. Sie steht für eine weise Glaubensheiterkeit, die sich selbst nicht zu wichtig nimmt und die Widerfahrnisse dieser Welt im Vertrauen auf Gott gelassen hinnimmt, ja sich daran freut. Ohne Gottes jenseitige Welt gänzlich auszublenden, bieten sich von diesem philosophisch- theologischen Ansatz her Perspektiven für eine Predigt, die nach dem Sinne des Lebens im Hier und Jetzt fragt und auf eine Lebenskunst im Alltag zielt. Liebe und Eros
Entgegen des Vorwurfs, das Christentum sei eine leibfeindliche, ja prüde Religion, ist zu beachten, dass die Bibel auf die körperliche Beziehung von Mann und Frau durchaus positiv zu sprechen kommt. Mit dem Hohelied Salomos ist ein ganzes Buch mit erotischen Gedichten in die Bibel gelangt, die von großer Kraft und Schönheit sind. Betörend klingt die Liebeserklärung des jungen Mannes an seine Freundin: Die großen Themen der Menschen
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Wie schön und lieblich bist du, du Liebe voller Wonne. Dein Wuchs gleicht einem Palmbaum und deine Brüste den Trauben … Lass deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock und den Duft deines Atems wie Äpfel und deinen Mund wie der beste Wein … Sulamith antwortet darauf ihrem Geliebten: Mein Freund ist mein, und nach mir steht sein Verlangen. Komm, mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen und unter Zyperblumen die Nacht verbringen … (Hld 7,7ff)
Am Ende findet sich eine tiefgründige Zusammenfassung, wie Leben und Tod durch menschliche Liebe erfahren und ertragen wird. Dabei weitet sich das Verständnis von der körperlich-sinnlichen Liebe zu einer umfassenden, sogar dem Tod widerstehenden Gottesmacht: Lege mich wie ein Siegel auf auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme. Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen noch die Ströme sie ertränken. (Hld 8,6f)
Friede und Gerechtigkeit – Die Völker an einem Tisch
An etlichen Stellen der Bibel finden wir prophetische Visionen eines gelingenden friedlichen Zusammenlebens unter den Völkern. In jüngerer Zeit – man denke an die Friedensbewegung der 1980er-Jahre oder an die Antiapartheidsbewegung – hat besonders ein Bild große Wirkung ausgeübt (Jes 2,2–5 vgl. Micha 4 bzw. auch EG 426): Darin wird das Ende von Rüstung und Krieg proklamiert: Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Doch damit nicht genug: Gott macht sich durch sein weisendes Wort neu vernehmbar inmitten der Welt und ihrer Völker; wie ein Leuchtturm steht es in der Welt, erhaben und klar vor allen Menschen, welcher Nation oder Religion sie auch sein mögen. In Jesaja 25 wird gar davon erzählt, dass einmal alle Völker um einen Tisch sitzen und Gemeinschaft untereinander und mit Gott haben werden. Sie sehen Gott von Angesicht zu Angesicht und bekommen ein opulentes Mahl aufgetischt. Es ist eine Siegesfeier, um die es hier geht, die aber nur einen Verlierer kennt: den Tod. Dabei wird auch Gottes erwähltes Volk rehabilitiert: Und Gott wird den Tod verschlingen auf ewig. Und Gott der HERR wird abwischen alle Tränen von allen Angesichtern und wird aufheben alle Schmach seines Volkes in allen Landen. 32
Grundsätzliche theologische Überlegungen
Der exemplarische Durchgang durch verschiedene biblische Texte zeigt: Der Gottesdienst ist reich an großen Lebensthemen. Sie werden in den biblischen Lesungen gehört und in der Predigt zeitgenössisch ausgelegt. Bei der letzten Reform der Predigt- und Lesungstexte (2018, vgl. unten III.3 128ff) haben diese Gesichtspunkte deutlich mehr Beachtung bekommen, besonders durch die Erweiterung des Umfangs und der Gattungen alttestamentlicher Texte.
5 Gesellschaftliche Milieus und ihre Bedeutung für den Gottesdienst Springen wir von diesen exemplarischen Betrachtungen zur Welt der Bibel in einen ganz anderen Zusammenhang: in die Lebenswelt der Menschen unserer Zeit. Wer Gottesdienste verantwortlich gestalten möchte, kommt nicht umhin, sich mit der Zielgruppe, den »Adressaten«, und deshalb auch mit soziologischen Fragen auseinandersetzen. Vielfach wird die »Milieuverengung« innerhalb unserer Kirche heftig kritisiert und darin ein Grundübel gesehen, warum unsere Gottesdienste wenige Menschen erreichen und ansprechen. Diese Einschätzung ist gewiss zutreffend. Wir können allerdings beobachten, dass anthropologische und kulturelle, psychologische und soziologische Fragestellungen in der evangelischen Theologie innerhalb der letzten drei Jahrzehnte ein größeres Gewicht bekommen haben. Dazu gehört, dass die EKD ein eigenes Institut gegründet hat (Sozialwissenschaftliches Institut in Hannover), das diese Fragen erforscht. Die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Milieutheorien gehen von folgenden Voraussetzungen aus: 5.1 Pluralität und Gleichwertigkeit der Milieus und Musikkulturen Die klassische Einteilung von großbürgerlicher Oberschicht, breiter Mittelschicht und Unterschicht wird heute soziologisch als ein Nebeneinander unterschiedlicher sozialer Großgruppen mit je eigenen Erlebniswelten verstanden. Das gilt auch ästhetisch-kulturell, wenn man etwa an die Klassifizierung von Musik denkt: Die alten Kategorien von »Ernster Musik« und »Unterhaltungsmusik« sind nicht mehr geläufig. Es gibt hochkulturelle Konzerte mit Chor- und Gesellschaftliche Milieus und ihre Bedeutung für den Gottesdienst
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Orchestermusik, aber auch Pop- oder Rockfestivals, Folknächte, Weltmusik- oder Volksmusiktreffen, Jazztage oder lange Nächte mit Samba und Salsa. Unterschiedliche Stile stehen, ohne dass damit etwas über ihre Qualität gesagt wäre, »gleichberechtigt« nebeneinander. Welche Aspekte sind für die Erfassung eines Milieus wichtig? Wie können wir mehr über Lebensraum, Alter, Geschlecht, Interessen, Freizeitgewohnheiten, Werte und Ziele von Menschen erfahren und diese auch angemessen beschreiben? Wichtig sind in diesem Zusammenhang die sog. »Indikatoren der Lebensführung« Musikvorlieben, Freizeitgestaltung, Umgang mit Medien und insbesondere die Werte (z. B. Familie, politische und religiöse Orientierung usw.) Um ein Milieu einzuordnen, kann man ein Achsenkreuz zeichnen, das zwei Aspekte zur näheren Charakterisierung in den Vordergrund rückt: Die X-Achse beschreibt die Orientierung: Hier wird der Grad der Modernität der Werte in Sachen Religion, Familie, Genuss, evtl. auch im Wahlverhalten eingetragen. Die Y-Achse bezeichnet den sog. »Status«: Hier werden Bildungsstand bzw. sozialer Stand, Ausstattungsniveau (Haus, Auto, Reisen), mithin der Lebensstandard beschrieben. Daraus ergeben sich grob vier Quadranten (Felder oberhalb und unterhalb einer gedachten x-Achse bzw. rechts und links einer y-Achse), die in einschlägigen Untersuchungen immer wieder auftauchen. 5.2 Ansätze der Systematisierung von Milieus Der Ansatz von Gerhard Schulze aus den 1990er-Jahren hat die Milieu-Diskussion wesentlich geprägt und wurde theologisch am meisten aufgenommen. Schulze beschreibt unsere Gesellschaft in seinem grundlegenden Entwurf von 1992 dezidiert als Erlebnisgesellschaft mit einem Erlebnismarkt, so »dass man schöne Erlebnisse herbeiführen kann, indem man aus der Fülle der Erlebnisangebote die richtigen, individuell passenden auswählt« (Schulze, 431). Die Angebote reichen vom Stadtoder Volksfest bis hin zur Reise in ein ausgefallenes Urlaubsparadies, von diversen Wellnessprogrammen bis hin zu erotischen Genüssen. Auch wenn Menschen nicht nur durch Freizeit, sondern auch durch 34
Grundsätzliche theologische Überlegungen
Arbeit und Familie wesentlich bestimmt sind, markiert der Erlebnisbegriff dennoch einen wesentlichen Aspekt heutiger Lebenswelt, die für Schulze durch fünf unterschiedliche Milieus wesentlich gekennzeichnet ist. Schulze nennt das hochkulturell-konservative Niveaumilieu, das eher kleinbürgerlich-konservative Harmoniemilieu, aber auch das hochkulturell-moderne Selbstverwirklichungsmilieu und das jugendkulturelle Unterhaltungsmilieu. Im Zentrum steht – gleichsam für die bürgerliche Mitte – das Integrationsmilieu, das sich mit den vier anderen Milieus z. T. überschneidet. Noch genauer differenziert die besonders im katholischen Bereich vielfach aufgenommene und diskutierte Sinusstudie (Stand 2020). Sie unterscheidet insgesamt zehn Milieusegmente: Die »Bürgerliche Mitte« umfasst 13 %, um sie herum gruppieren sich »Traditionelle« (11 %), »Konservativ-Etablierte« (10 %), »Prekäre« (9 %), »Sozialökologische« (7 %), »Adaptiv-Pragmatische« (11 %) und »Hedonisten« (15 %). Etwas weiter entfernt sind die »Performer« (8 %), »Liberal-Intellektuelle« (7 %) und »Expeditive« (9 %). Aktuell (2020) ist auf der einschlägigen Website (https://www.sinusinstitut.de/sinus-loesungen/sinus-milieus-deutschland) zu lesen: »Während der Anteil der traditionellen Milieus seit Jahren zurückgeht, beobachten wir ein kontinuierliches Wachstum im modernen Segment. Am schnellsten wachsen die beiden Zukunftsmilieus Expeditive und Adaptiv-Pragmatische, deren Umgang mit den aktuellen Herausforderungen zukünftige Trends erkennen lässt.«
Zum Verständnis der Milieutheorie, die inzwischen auch zunehmend kritisch angefragt wird, wesentlich erscheint mir, dass ein Koordinatensystem von zwei Achsen die Einordnung in den gesellschaftlichen Kontext beschreibt: die X-Achse steht für den Grad der Modernität im Denken und Handeln. Die Y-Achse beschreibt holzschnittartig den gesellschaftlichen Status (Bildung/Wohlstand). Die vorletzte EKD-Mitgliedschaftsstudie von 2004 schloss sich recht eng an die fünf Milieus von Gerhard Schulze an, korrigierte aber die Begrifflichkeiten (Niveaumilieu etc.) und sprach stattdessen von Clustern oder Lebensstilen. Hinzu kam dabei eine sechste Gruppe, die sog. »Zurückgezogenen«. Gesellschaftliche Milieus und ihre Bedeutung für den Gottesdienst
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5.3 Sechs Lebensstile – sechs Personen In der Publikation Milieus praktisch (Schulz/Hauschildt/Kohler) werden diese Milieus weiter konkretisiert und auch auf ihre potenziellen Erwartungen im Blick auf Theologie, Gottesdienst und Predigt geprüft. Wir versuchen dazu eine idealtypische Skizze, die sich für einen adressatenorientierten Perspektivwechsel in Sachen Gottesdienst sehr gut eignet.: »Hochkulturelle«: Gisela ist 65. Sie lebt in einem schönen Haus im Speckgürtel Frankfurts und liest jeden Morgen die FAZ, sie war lange Jahre mit einem Mathematikprofessor verheiratet und hat ein Abo für die Oper. Nachmittags trinkt sie gerne eine Tasse Darjeeling-Tee und freut sich, wenn ihre Nachbarin noch dazu stößt. Sie liest gerne große Literatur von Thomas Mann bis Martin Walser und geht einmal in der Woche in den Oratorienchor (vgl. Niveaumilieu). »Bodenständige«: Erika ist kaum jünger und lebt mit ihrem Mann in einer kleinen Eigentumswohnung am Stadtrand von Lüneburg. Sie mag keine Oper, sondern lieber Volksmusik, am liebsten »Marianne und Michael«, hat eine Katze und geht leidenschaftlich gerne wandern in der Heide. Ihr schönstes Hobby ist der kleine Garten, den sie mit dem Fahrrad bequem erreichen kann. Als leidenschaftliche Großmutter gibt es für sie nichts Schöneres als ihre drei Kinder und sieben Enkel zu bewirten und zu umsorgen (vgl. Harmoniemilieu). »Mobile«: Marco ist 34 und arbeitet in einer Computerfirma als Verkäufer. Er hat eine Freundin und einen Sohn, der allerdings bei seiner geschiedenen Frau lebt. Er bewohnt eine nette Mietwohnung in der Berliner City und hört gerne aktuellen Hiphop im Stil EMINEM oder Sido. Abends, vor allem am Wochenende, ist er oft lange weg, Disco, Kino, Freunde treffen. Er unternimmt Spritztouren nach Hamburg oder Leipzig, aber auch an die Ostsee. Unabhängigsein, das tun, was Spaß macht, ist für ihn Lebensqualität (vgl. Unterhaltungsmilieu). »Kritische«: Auch Martina ist Mitte 30 und lebt in Dresden. Sie hört gerne World Music und funkigen Jazz, sie liest die Süddeutsche online. Sie hat Anglistik und Romanistik studiert, unterrichtet mit 75 % Lehr36
Grundsätzliche theologische Überlegungen
auftrag am Gymnasium und lebt mit ihrem amerikanischen Freund in einer schicken Penthouse-Wohnung mit großem Wintergarten. Sie geht morgens joggen, ernährt sich vegetarisch und kauft Bio-Produkte. Abends hängt sie nach dem Kino oder Tangotanzen manchmal noch mit einem Krimi und einem Rotwein ab (vgl. Selbstverwirklichungsmilieu). »Gesellige«: Thomas ist 42. Er bewohnt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern eine kleine Doppelhaushälfte auf einem Dorf zwischen Stuttgart und Tübingen, die er in tage- und nächtelanger Eigenarbeit renoviert und eingerichtet hat. Er ist Techniker und stellvertretender Abteilungsleiter bei Bosch. Im Sommer, findet er, muss man nicht immer in die Ferne schweifen, es macht auch Spaß, im Garten zu liegen und mit Freunden oder Nachbarn zu klönen und zu grillen. Er mag Musik von Madonna bis Grönemeyer, aber auch die Stones oder Beatles verachtet er nicht (vgl. Integrationsmilieu). »Zurückgezogene«: Elke ist 58. Sie lebt am Stadtrand von Halle in einem großen Mietshaus. Sie ist zum zweiten Mal geschieden und seit einiger Zeit arbeitslos. Sie bekommt seit kurzer Zeit Hartz IV und sucht nach einer Arbeit. In ihrer Freizeit, wenn man das jetzt noch so nennen darf, liest sie die Bildzeitung und schaut abends fern. manchmal legt sie eine der alten Platten von Udo Jürgens oder Peter Alexander auf. Mit den beiden Kindern aus erster Ehe ist der Kontakt sehr sporadisch. Elke ist viel allein, eigentlich gibt es nur eine Freundin, mit der sie ab und zu weg geht.
5.4 Folgerungen für den Gottesdienst Aufgrund der Beschreibung der einzelnen Milieus lassen sich gewisse Hypothesen im Blick auf die Erwartungen an einen Gottesdienst bilden: Gisela erwartet im Gottesdienst eine »traditionelle Kulthandlung« mit einer reflektierten Predigt, die sich in der christlichen Tradition und ihren Quellen auskennt, eine anspruchsvolle musikalische Darbietung, etwas kulturell Hochwertiges, Erhabenes (Choräle, Bach etc.). Marco will eine spannende Auseinandersetzung mit einem handfesten, praktischen Thema, besonders in ethischen Fragen und eine peppige, kurzweilige, eventartige Inszenierung mit aktueller populärer Musik (Rock, Hip-Hop, House usw.). Er ist offen für neue Medien wie Film usw. Gesellschaftliche Milieus und ihre Bedeutung für den Gottesdienst
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Martina dagegen sucht Originalität, experimentelle Musik (z. B. Jazz, Weltmusik), visionäre und anregende Inhalte in neuem Gewand. Wahrscheinlich singt sie auch gerne mit. Überzeugend ist eine Predigt für sie ganz wesentlich dadurch, dass die predigende Person authentisch ist. Erika möchte sich in erster Linie wohlfühlen, volkstümliches Liedgut singen oder hören und sich nicht zu viel selbst aktiv (oder gar körperlich) beteiligen. Sie freut sich auf den anschließenden Kirchenkaffee, wahrscheinlich gehört sie sogar zu denen, die ihn hin und wieder vorbereiten. Elke wird in der Regel kaum einen Sonntagsgottesdienst besuchen, scheut sich aber nicht, bei Trauungen oder Beerdigungen dabei zu sein.
Was folgt daraus? Einige vertreten die Ansicht, dass es aufgrund dieser differenzierten Erwartungen profilierte Angebote für jedes dieser Milieus auch im gottesdienstlichen Bereich geben sollte, wie es im Bereich der Amtshandlungen (vgl. unten IV.1), besonders bei Trauungen und Beerdigungen, ja schon geschieht. Allerdings ist es für eine einzelne Gemeinde gewiss eine Überforderung, für jedes Milieu einen besonderen Gottesdienst anzubieten. Sinnvoll erscheint es vielmehr, dass innerhalb einer Region (z. B. Dekanat, Kirchenkreis) durch alternative Gottesdienste einzelne der dort vertretenen Milieus und Zielgruppen stärker angesprochen werden. Die Erstellung einer MilieuLandkarte könnte dazu helfen. Dabei wird es auch auf die in der Gemeinde vorhandenen Gaben und Ressourcen (vgl. Kapitel V.2.3) bzw. auf die theologischen Visionen von Gottesdienst ankommen. Der Gottesdienst am Sonntag (nicht festgelegt auf 10 Uhr) bleibt dagegen eine Aufgabe für jede Gemeinde. Es geht darum, hier eine milieuund generationenübergreifende Integration zu erreichen. Kirchenmusikalisch folgt aus der Milieuschilderung, dass wir die gesellschaftliche Mitte der »Geselligen« mit ihrer Vorliebe für Mainstream-Pop- und Rockmusik nicht aus dem Blick verlieren, ja das kirchenmusikalische Spektrum in dieser Richtung weiter ausbauen sollten. Anschlussfähig ist hier in jedem Fall »groovende« Gospel- und Popularmusik, unter Umständen auch Worship und Jazz. Zentrales Desiderat ist, dass wir uns kirchenmusikalisch in verschiedenen Stilen kompetent und lustvoll bewegen. Crossover ist grundsätzlich erwünscht. 38
Grundsätzliche theologische Überlegungen
Die liturgisch-theologische Aufgabe ist es, die Vielfalt der geistlichen Gaben auf der einen und die Einheit der Frömmigkeitsstile und Generationen auf der anderen Seite im Auge zu behalten. Zugleich soll ein Gottesdienst in seiner Form nicht völlig beliebig, sondern wiedererkennbar sein. Dies kann dadurch geschehen, dass die rituelle Kernszene gestärkt wird, d. h. im gottesdienstlichen Kontext klar identifizierbare »Erkennungsmelodien« für einzelne Sequenzen der Liturgie (z. B. Kyrie, Gloria usw.) oder des Kirchenjahrs vorkommen, die von Menschen verschiedener Milieus und Prägungen gesungen werden können. Dazu kann eine Kernliederliste aus allen Rubriken des Evangelischen Gesangbuchs Orientierung geben (vgl. Anhang 3), die allerdings auch ab und zu aktualisiert bzw. erweitert werden sollte.
Gesellschaftliche Milieus und ihre Bedeutung für den Gottesdienst
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II Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
Bevor wir uns der Dramaturgie und den Formen des evangelischen Gottesdienstes im Einzelnen zuwenden, wollen wir zunächst einen Blick auf Räume und Zeiten werfen, in denen Gottesdienste gewöhnlich stattfinden bzw. nach Rollen und Ämtern im Gottesdienst fragen.
1 Der gottesdienstliche Raum »Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. […] Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik. Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen.« (Mercier, 198)
So beschreibt der Romancier Pascal Mercier in seinem Bestseller Nachtzug nach Lissabon die Sehnsucht eines Agnostikers nach schönen und erhabenen Kirchenräumen. Dass dies der allgemeinen religiösen Stimmung im »aufgeklärten« Abendland durchaus entspricht, zeigte die Einweihung der Dresdner Frauenkirche, deren Ruinen über 50 Jahre eine bleibende Erinnerung an die Zerstörungswut des zweiten Weltkriegs bildeten. Hier realisierte sich die literarische Vision mit hoher Öffentlichkeitswirkung. Worin besteht die Faszination von kirchlichen Räumen und welche theologische Bedeutung hat ein »sakraler Raum«? Gibt es das überhaupt, einen »heiligen Raum«? Und wenn ja: Wie sollte er beschaffen sein? In der Erklärung »Nehmt eure Kirchen wahr!«, veröffentlicht nach dem Leipziger Kirchbautag 2002, heißt es: »Ihre Mauern und Steine predigen, mit ihren Räumen sind sie ein Asyl für die letzten Dinge, ihre Altäre stiften Gemeinschaft, mit ihren Orgeln und Glocken loben sie Gott, mit ihren Kunstwerken legen sie Zeugnis ab und erzählen die Geschichte unserer Kultur, mit ihren Kerzen erinnern und mahnen sie, mit ihrem Schmuck danken sie für alle guten Gaben des Schöpfers.« (Musica e Vita)
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Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
Versuchen wir diesen Spitzensatz zu deuten und zunächst biblischtheologisch zu bedenken. Welches Verständnis »heiliger Räume« finden wir in der Heiligen Schrift? 1.1 Feier der Gegenwart Gottes »im Geist und in der Wahrheit« an allen Orten In welchem Verhältnis stehen diese Aussagen zur Tempeltheologie des Alten Testamentes, wonach Gott auf dem Zion Wohnung unter seinem Volk genommen hat und wieder nehmen will (vgl. 5. Mose 16–18; Jes 6; Ps 2; Ps 43; Ez 40–48)? In 2. Sam 7, einem zentralen Text im Blick auf die Erwählung des davidischen Königtums und des Gottesbergs als Ort des Heiligtums, sagt Gott: Ich will meinem Volk, Israel, eine Stätte geben und will es pflanzen, dass es dort wohne … Und ich will dir (David) einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommen wird, dem will ich sein Königtum bestätigen. Der soll meinem Namen ein Haus bauen und ich will seinen Thron bestätigen ewiglich.
Die Initiative für den Tempelbau liegt demnach bei Gott, der Israel eine Wohnung auf dem Zion schafft, David zum König erwählt und Salomo einen Tempel bauen lässt. Damit wird die offenbare Gegenwart Gottes (Bundeslade) an einen konkreten Ort gebunden. Gott wohnt in der Mitte seines Volkes, er ist seinem Volk nicht fern, sondern persönlich nahe und sinnlich erfahrbar. Dieses Konzept gerät durch die Zerstörung des salomonischen Tempels in eine massive Krise, die auch durch den Wiederaufbau unter Herodes nicht wirklich aufgehoben wird. Die Pointe des neutestamentlichen Gottesdienst- und Kirchenbegriffes ist demgegenüber, dass die örtliche Konzentration Gottes auf dem Zion mit dem Kommen des Wortes in der Welt (Joh 1,14) heilsgeschichtlich neu eingeordnet wird. In den synoptischen Evangelien geschieht dies symbolisch dadurch, dass der Vorhang im Tempel bei der Kreuzigung (vgl. Mt 15,38 par) zerreißt. Damit rückt das Kreuz auf der Erzählebene an die Stelle der Bundeslade (vgl. Röm 3,25!). An vielen anderen Stellen wird das Bild des Tempels entsprechend aufgenommen. Dabei geht es fast immer um Menschen, die sich als »lebendige Steine« an Christus ausrichten. Im Einzelnen finden wir folgende Aussagen: Der gottesdienstliche Raum
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a) Jesus Christus ist der eine Eckstein. An ihm und um ihn wird das geistliche Haus einer lebendigen »Priesterschaft« gebaut. (1. Petr 2,5–7). In Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig (Kol 2,9). b) Mit seinem Sterben und Auferstehen löst Christus die zentrale Bedeutung des alttestamentlichen Tempels als Kultzentrum bzw. als Ort der Sündenvergebung ab (vgl. Joh 2,19–21). Der Tempel verliert damit seine Heilsbedeutung. Lukas markiert dies in der Rede des Stephanus scharf, indem er den Tempelbau unter Salomo als Abfall vom Gott gefälligen Gottesdienst darstellt (vgl. Apg 7,1–53). c) Die Gemeinschaft der Getauften wird vielfach als Leib Christi und Kirche im Geist verstanden, die sich als Hausgenossen eines heiligen Tempels versammeln (1. Kor 12; 2. Kor 6,16; vgl. Eph 2,19–21, aber auch Eph 5,22ff und Kol 3,18ff). d) Die Getauften werden auch als Einzelne Tempel Gottes genannt (1. Kor 3,16f; 1. Kor 6,19; 1. Kor 3,16). Paulus und seine Schüler haben damit – in biblischer Sprache – den Leib und somit das gesamte Dasein von konkreten Menschen mit allen ihren Lebensvollzügen zum Tempel des Heiligen Geistes und Ort des »vernünftigen Gottesdienstes« (Röm 12,1f) erklärt. Diese Sichtweise deutet sich bereits im Alten Testament an, wenn es in Jes 66,1 heißt: Was ist das für ein Haus, das ihr mir bauen könntet? Auch der Evangelist Johannes nimmt dieses Motiv auf, wenn Jesus davon spricht, dass Gott – unabhängig davon, wo dies geschieht – »im Geist und in der Wahrheit« (Joh 4,24) angerufen werden wolle. Freilich ist diese Spur nicht die einzige im Neuen Testament. Bei Lukas finden wir ein komplexeres Bild. Jesus akzeptierte sowohl die Synagoge (vgl. Lk 4,16ff) als auch den Tempel als Orte der Verkündigung und der Lehre, ja suchte sie bewusst selbst auf (vgl. Lk 2,42ff). Somit konnten auch die Glieder der Urgemeinde sich regelmäßig im Tempel versammeln (vgl. Apg 2,46), wobei dem Gedächtnisauftrag Jesu beim letzten Abendmahl durch Gottesdienste in den Häusern entsprochen wurde. Hier wird die allmähliche Loslösung vom zentralen Heiligtum erkennbar. Daran, dass die Häuser Erwähnung finden, wird zudem deutlich, welche wichtige Rolle der Raum der Versammlung offenbar schon 42
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
von Anfang an für die Christen spielt. So kennen wir aus dem 2. und 3. Jh. prominente Hauskirchen (Rom, Dura Europos u. a.). Allerdings entstehen erst mit der konstantinischen Wende und der »Erhebung des Christentums zur Staatsreligion« durch Theodosius (385) große öffentliche Räume für den Kult bzw. werden für diesen neu in Dienst genommen. Mit der Lateranbasilika in Rom schafft Kaiser Konstantin den ersten öffentlichen Repräsentationsbau des Christentums. Kirchen dieser Art passen sich an die Rahmenbedingungen der kaiserlich geprägten Gesellschaft an, insbesondere der byzantinische Kaiserhof wird zum Vorbild für das christliche Zeremoniell.
Betrachtet man das neutestamentliche Gesamtzeugnis und die Entwicklung in der Alten Kirche, so ist eine durch das Heilswerk Jesu begründete allmähliche Loslösung vom zentralen Kultort in Jerusalem zu beobachten. Doch bleibt Jerusalem, was sich besonders am mittelalterlichen Kirchenbau ablesen lässt, für das christliche Verständnis des liturgischen Raumes prägend durch die endzeitliche Vorstellung vom himmlischen Jerusalem (vgl. Offb 21). Dieses Jerusalem ist als ganzes selbst ein Tempel. Daran orientieren sich die mittelalterlichen Bauten etwa anhand der biblischen Zahlensymbolik. Besonders die Vier als Zahl des Quadrats, die innerweltliche Vollkommenheit ausdrückt, oder die Zwölf, die auf absolute Vollkommenheit vor Gott verweist und an die Apostel bzw. Propheten erinnert, spielen eine zentrale Rolle. Ihnen gegenüber steht die Dreizahl für die Dreieinigkeit und die Neun für die Engel. Mit der pointierten Ausweitung der Gottesgegenwart auf den Kosmos geht eine Konzentration auf die gottesdienstliche Versamm lung einher (vgl. Apg 2,42.46; Mt 18,20): Der Geist Gottes bevollmächtigt Menschen zu beten (vgl. Röm 8,15f), zu verkündigen und das Mahl zu feiern (1. Kor 10,16f). Die Feier des Gottesdienstes im Namen Jesu drückt die Gewissheit aus, dass Gott uns als der Liebende anredet. 1.2 Spirituelle Erfahrungsräume der Gegenwart Gottes Daraus folgt – gleichsam als Widerspruch zum aktuellen Trend – dass gleichsam jeder Ort in der Welt für eine Begegnung mit Gott offen und geeignet ist. Der Philosoph Seneca schreibt: Der gottesdienstliche Raum
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»Wenn Du einem Haine nahest, der durch zahlreiche alte und ungewöhnlich hohe Bäume ausgezeichnet ist und in dem der Schatten der einander bedeckenden Zweige den Eindruck des Himmelsdaches hervorruft: die schlanke Höhe der Bäume, das geheimnisvolle Dunkel des Ortes, die Bewunderung des so augenscheinlich dichten und durch nichts unterbrochenen Schattens, ruft in Dir den Glauben an eine Gottheit wach.« (Seneca, Epist IV, 12)
Die Bibel kennt solche heiligen Orte der besonderen Gegenwart oder Offenbarung Gottes. Man denke etwa an Moses’ brennenden Dornbusch (2. Mose 3) oder den Gottesberg Horeb (vgl. 2. Mose 19; 1. Kön 19). In Beth-El tut sich dem Flüchtling Jakob zu nächtlicher Stunde der Himmel auf (1. Mose 28): Eine Treppe verbindet Himmel und Erde. Deshalb heißt dieser Ort von da an auch »Haus Gottes«. Das Entscheidende ist allerdings: In allen Fällen verbinden sich geprägte Orte mit persönlichen Erscheinungen und mit einer unmittelbaren Anrede durch Gott und seine Verheißung. In den ersten Jahrhunderten der Christenheit kristallisieren sich die Orte der Geburt und des Leidens Jesu in Bethlehem und Jerusalem als Stätten der Erinnerung und Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens in Christus heraus. Zum Gedenken an Märtyrerinnen und Märtyrer gewinnen außerdem Kirchen mit Gräbern als Stätten der Erinnerung zunehmend an Bedeutung. Der Ort, an dem Gottesdienst Raum greift, ist also keine »topographische Leerstelle«. Über seine natürliche Gestalt hinaus bekommt er durch geschichtliche Ereignisse, namentlich das Lebenszeugnis einzelner Christen, eine besondere Würde und Ausstrahlung. Aus der Geschichte der Klöster und Kirchen wissen wir, dass es oft solche Orte waren, an denen dann auch geistliche Zentren entstanden sind. Schlichte Kapellen oder archaische Dorfkirchen, prachtvolle Klöster und imposante Kathedralen legen ein beredtes Zeugnis davon ab, wie Gottes Gegenwart und christlicher Glaube an über Jahrhunderte erfahrbar wurde. Dabei wird deutlich, dass Gott Räume der Geborgenheit schenkt und vor dem Bösen bewahrt: Das Kreuz, abgebildet in Hauptschiff und Querschiff eines Kirchenraumes, erinnert an das Leiden und Sterben Jesu, aber auch an den österlichen Sieg über die gottwidrigen Mächte (vgl. 1 Kor 15,55–58; Röm 4,25; 8,38f). Im Vertrauen auf die verheißene Gegenwart Gottes werden gottesdienstliche Räume geweiht, d. h. durch den Heiligen Geist mit Wort 44
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
und Gebet für liturgische Vollzüge in Dienst genommen. Wo Wort und Geist sich in dieser Weise mit dem sinnlich erfahrbaren Ort verbinden, entsteht ein »neuer Raum in der Zeit«, im besten Sinne ein »geist-reicher« Sinn-Ort, an dem sich »Himmel und Erde berühren«, an dem Ewigkeit in der Zeit erfahrbar werden kann, auch wenn der Raum an sich keine Heilsrelevanz hat. Weil der Geist Gottes uns nicht in einem lokalen »Vakuum« erreicht, brauchen wir solche greifbaren und sinnlichen Orte. Und eines ist sicher: Wenn unser Herz durch den Heiligen Geist ergriffen wurde, wenn die Gewissheit des Glaubens und das Feuer der Liebe in uns geweckt wurden, dann bleibt meist auch der jeweilige Erfahrungsort in nachhaltiger Erinnerung. Im natürlichen Sinne prägnant und »ein-präg-sam« kann uns ein solcher Ort durch seine Schönheit und Erhabenheit einerseits bzw. durch seine Andersartigkeit andererseits werden. Er wird sich in aller Regel vom Kaufhaus, Büroraum, Rathaus oder Wohnzimmer deutlich unterscheiden. Der wichtigste Unterschied besteht freilich darin, dass hier etwas schlechthin anderes, nämlich »die große Fremdsprache im Meer der Geläufigkeiten« (Steffensky auf der EKD-Synode 2003 in Leipzig) zu hören ist. Ein guter Kirchenraum ist also erfrischend, schön und zugleich anstößig anders. Er zeigt uns auch: »Wo Kirche und Kunst sind, die sie sein sollen, lehren sie uns loben und weinen.« (Steffensky, Seele 32) Eine im besten Sinne des Wortes »offene Kirche« ist ein Ort, an dem wir Gott begegnen können und das Leid der Welt nicht totgeschwiegen wird. Sie ist ein »Ort des Erbarmens« in doppeltem Sinne. Menschen spüren etwas von der Gegenwart des barmherzigen Gottes und Vater Jesu Christi. Ja womöglich beginnen sie hier neu, ihre Stimme zu erheben, die Stimme zum Lob Gottes, aber auch die Stimme des Widerspruchs gegen Verfolgung und Ungerechtigkeit. Kurz: Ein solch »geistlicher Ort« kann »Seelen zum Klingen bringen«, aber auch Stimmen zum Lobpreis Gottes animieren und Hände zur Tat der Versöhnung und Liebe anstiften. Der kirchliche Raum ist nach evangelischem Verständnis kein sakraler Binnenraum, sondern ein zur Welt hin offener Kommunikationsort, in dem das Evangelium als Salz der Erde (vgl. Mt 5,14) öffentlich vernehmbar wird. Der gottesdienstliche Raum
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1.3 Zur Gestalt des liturgischen Raumes und zur gottesdienstlichen Inszenierung Die Folgen, die sich aus den kurz umrissenen Überlegungen für die Raumgestaltung ergeben, sind kaum zu unterschätzen. Es geht darum, sowohl die Ausrichtung auf Gott als auch das Miteinander der gottesdienstlichen Versammlung im Raum darzustellen. Die Kirche ist wanderndes Gottesvolk, das sich mit Gott und auf ihn hin durch die Zeiten bewegt. Sie ist aber ebenso Leib Christi, der durch die Mahlgemeinschaft mit Christus und das Hören auf das Wort konstituiert wird (vgl. 1. Kor 12,12–27; Röm 10,9) und im Heiligen Geist zusammengefügt ist (vgl. 1. Kor 3,16). Die gottesdienstliche Versammlung bildet beides ab: Sie ist Ort der Gemeinschaft, des Hörens und Feierns, des Singens und Betens. Ein evangelischer Kirchenraum verzichtet auf eine Trennung bzw. Abgrenzung von »Klerus« und »Volk«, wie es etwa durch den mittelalterlichen Lettner architektonisch zum Ausdruck kam. Die Gemeinsamkeit des in der Taufe verliehenen Priestertums aller Gläubigen findet darin ihren räumlichen Ausdruck. Gleichwohl gibt es auch nach evangelischem Verständnis eine Differenzierung des Raumes nach Orten für die besonderen Rollen und Ämter (vgl. II.3). Von diesen Voraussetzungen her sind Feierräume zu gestalten, die verschiedene von der liturgischen Logik her gegebene Situationen und Sprechakte ermöglichen: 1. Die Sprechrichtung zur Gemeinde hin (›versus populum‹) entspricht der Anrede Gottes, sie geschieht vom Altar (Votum, Segen, Einsetzung des Abendmahls), aber auch von Ambo (Lesungen) und der Kanzel (Predigt) aus. Zuweilen können diese beiden Orte auch als »Wort-Orte« zusammenfallen. Es ist jedoch nach evangelischem Verständnis nicht möglich, die verkündigenden Einsetzungsworte des Herrenmahls bzw. den Segen mit dem Rücken zur Gemeinde bzw. zum Altar hin zu sprechen oder zu singen. 2. Die Wendung des Liturgen zum Kreuz hin (Sündenbekenntnis, Gebete und Credo) zeigt, dass der Liturg vor Gott steht, d. h. als »Vorbeter« fungiert. Auch die Gemeinde sollte sich dabei gemeinsam auf das Kreuz ausrichten können, das meist im Altarraum oder in der Apsis positioniert ist. Die Gottesanrede bringt dies schon zu Beginn zum 46
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
Ausdruck: Gott selbst eröffnet die Möglichkeit zur Begegnung mit ihm und wird darum gebeten, die persönliche Begegnung mit ihm immer wieder neu zu ermöglichen. Die Orientierung der Versammlung nach Osten, steht für die Hinwendung zum sol salutis, zu Christus als Sonne des Heils, die von Gott her aufgeht (vgl. Mal 3,20). 3. Das gemeinsame Stehen der Gemeinde um den Tisch des Herrn legt sich von der Feiergestalt des Herrenmahls her nahe und bildet die Gemeinschaft mit Christus und untereinander sinnenfällig ab. Geprägt ist die sog. Circumstantes-Anordnung auch durch die antiphonale Singpraxis der Kirche, wie sie etwa in der Tagzeitenliturgie der Klöster praktiziert wird: In Psalmen und Liedern singt sich die Gemeinde im Wechsel von zwei Gruppen die Gewissheit des Glaubens zu. 4. Wo ein Chor oder eine Schola im Gottesdienst auftreten, legt sich eine differenzierte »Inszenierung« nahe. Soll der verkündigende Charakter der Kirchenmusik akzentuiert werden, sollte die musizierende Gruppe der Gemeinde gegenüber stehen. Soll sie eher zu Gebet und Lobpreis ermutigen, kann dies auch von der Empore (im Rücken der Gemeinde) geschehen. Die »Mitte« des Feierraumes ist aus dieser Perspektive nicht einfach ein bestimmter raum-zeitlich zu umschreibender Ort (z. B. der Altar), sondern der »Brennpunkt« des Zusammenspiels von innergöttlicher und gott-menschlicher Begegnung. Was folgt daraus für die Gestaltung eines kirchlichen Raums und die gottesdienstliche Feier? Grundsätzlich gilt: Ein Kirchenraum sollte die dialogische Begegnung mit Gott im Gottesdienst sinnlich unterstützen, ja gleichsam auf der Erlebnisebene plausibel machen. Ein liturgisch bewusst und theologisch verantwortet konzipierter Kirchenraum wird also auf Kommunikation des Evangeliums, besser: auf das Wechselspiel von Anrede und Antwort, Sprache und Musik, Wort und Sakrament, Gebet und Zusage hin angelegt sein. Der Raum soll Menschen zu einer gottesdienstlichen Gemeinschaft zusammenschließen und sie zugleich auf Gottes Wort und Gebet ausrichten. Der gottesdienstliche Raum
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Lesepult und Kanzel sind so positioniert, dass die Gemeinde das vorgelesene und ausgelegte Wort Gottes gut verstehen kann. Der Altar hat eine mehrfache Funktion, er ist Ort des Gebetes im Sinne eines Dankopfers an Gott, aber auch Tisch des Abendmahls. Oft befindet er sich in einer bewussten Linie zum Taufstein. Neuere (katholische) Kirchenräume begreifen Wort- und Sakramentsorte wie zwei Brennpunkte einer Ellipse. Versuchen wir im Folgenden einige typische Raumsituationen zu skizzieren: Der frontale Aufbau der Sitzanordnung inszeniert, dass wir uns gen Osten (aufgehende Sonne; Jerusalem) zum auferstandenen und wiederkommenden Christus hin ausstrecken. Die Kirche wird gleichsam als »Wartesaal der Ewigkeit« verstanden. Das führt dazu, dass das Gefälle von Anrede und Antwort auch im Gegenüber von Ordinierten und Gemeinde deutlich zum Ausdruck kommt. Der in vielen neueren Raumkonzepten gewählte Aufbau im Halbkreis denkt die Präsenz des Heils in der Mitte und kann diese z. B. durch einen ins Zentrum vorgerückten Altartisch bezeichnen: Von dieser Mitte aus gibt es eine Offenheit nach vorne, gleichsam zum Unverfügbaren hin (Kruzifix usw.). Diese Raumlösung inszeniert Halbdistanz und spielt mit dem Gegenüber von Christus und uns bzw. der Glaubenden zueinander. Außerdem ist damit eine treffende theologische Aussage über die Gegenwart des Heils gemacht: Das Heil ist – dafür steht z. B. der Altar – schon jetzt unter uns, es steht nicht grundsätzlich aus. Es ist angekommen, aber noch nicht vollkommen, Christus ist präsent, aber nicht verfügbar. Die Dimension des Ausstehenden wird dadurch symbolisiert, dass man die zweite Hälfte des Kreises nicht schließt, sondern offen lässt zur gewohnten Ausrichtung in die Ewigkeit. Der Kreis feiert das Heil in unserer Mitte, fokussiert unsere Gemeinschaft als Gemeinde und hält das Unverfügbare quasi über uns offen. Manchmal wird dies durch einen Lichtschacht o. ä. symbolisiert. Die Gemeinschaft nimmt sich hier am deutlichsten selbst wahr. Der Gesang hat neue Chancen. Das inszeniert Nähe, aber manchmal auch Furcht vor Vereinnahmung und Irritation wegen mangelnder Aus48
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
richtung in die Ferne, die den Blick in die Ewigkeit bzw. ins Innere erlaubt. Das Gegenüber Gottes zur Gemeinde und damit die Einsicht, dass Kirche Geschöpf des Geistes Gottes ist, kann in solchen Räumen zuweilen unterbelichtet sein. Die Ellipse hält die Spannung offen zwischen rechts und links, vorn und hinten. Altar und Ambo oder Taufstein und Kanzel (bzw. Ambo) auf den Brennpunkten der Ellipse zeigen die Polarität und Einheit von Wort und Sakrament. Wechselgebet, Gesprächspredigt, Kreisgesänge usw. sind gut möglich. Menschen, die auf Tagungen oder sonst länger miteinander umgehen, mögen die Anordnung, weil Nähe und Gespräch miteinander dort eingeübt sind. Diese Anordnung inszeniert Spannung und Dialog innen und außen. Die drei letztgenannten Formen erlauben alle auch viele Möglichkeiten für die Kirchenmusik: Alte und neue Wechselgesänge können etwa beim Psalmgebet entdeckt und verfeinert werden. Den konkreten Erfordernissen einer Gemeinde folgend sind neben der Feier des Gottesdienstes am Sonntagmorgen auch Kasualgottesdienste, besondere Gottesdienste (vgl. IV), Andachten und die Möglichkeit des persönlichen Betens in die Überlegungen der Raumgestaltung mit einzubeziehen. Sofern ein ausreichend großer Chorraum zur Verfügung steht, kann dieser für Andachten und Taufen, ggf. auch für Trauungen, gut genutzt werden. Alle Bemühungen um eine angemessene Gestalt des Kirchenraumes dienen letztlich dazu, diesen als »Ort der Gottesbegegnung und der Gemeinschaft« zu profilieren: zum Lob der Herrlichkeit Gottes und zum Heil des Menschen, das er sich nicht selbst bereiten kann.
1.4 Kriterien für die Gestaltung eines Kirchenraums Zum Abschluss sollen thetisch einige Kriterien für die Gestaltung des gottesdienstlichen Raums formuliert werden, die in Frageform, d. h. bewusst nicht als Norm formuliert sind: a) Ein Kirchenraum ist kein religiöser Ort für sich, sondern dient der Versammlung der ganzen Gemeinde. Ist der Raum geeignet, dass sich hier der geistliche Reichtum der Kirche als ganzer entfaltet, Der gottesdienstliche Raum
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oder werden von vornherein Christen bestimmter Prägungen oder Milieus ausgeschlossen? b) In einer schnelllebigen Zeit braucht es »Oasen der Stille«. Werden Menschen im Kirchenraum zum Schweigen und Meditieren eingeladen und angeleitet? Können sie zur Ruhe kommen? c) Im Kirchenraum soll christlicher Glaube gefeiert werden, der sich dem Dienst Gottes an uns in Christus verdankt und sich im Wort der Zusage aktuell vergegenwärtigt. Ist der Raum dazu geeignet, dass sich in ihm die Verkündigung des Evangeliums sinnlich ereignen kann? Kann das gesprochene Wort von mehreren Stellen (besonders natürlich von Kanzel, Ambo und Altar) differenziert gehört und verstanden werden? d) Kirche konstituiert sich in der eucharistischen Versammlung, in der sie Gemeinschaft mit dem gekreuzigten, auferweckten und erhöhten Herrn erfährt. Erlaubt der Raum verschiedene Möglichkeiten der Feier des heiligen Abendmahls (Versammlungen in Kreisform; im »offenen Ring« etc.)? e) Lebendiger Glaube setzt lebendiges Gebet voraus. Lädt der Kirchenraum ein zum Gebet in Klage, Bitte, Dank und Anbetung? Gibt es eine Gebetswand, ein Fürbittbuch oder andere Möglichkeiten, Gebete auszudrücken und öffentlich zu machen? f) Ein Kirchenraum bildet nicht nur die gegenwärtige Kirche ab, sondern reicht zurück an die Wurzeln unserer christlichen Identität, die sich in bestimmten architektonischen und künstlerischen Formen ausdrückt. Er ist aber auch kein Museum längst vergangener Zeiten. Ist die Spannung von Tradition und Innovation angemessen ausgelotet? g) Menschen wollen an »Leib und Seele« berührt werden, auch durch Musik. In diesem Zusammenhang ist zu fragen: Ist der Raum dazu geeignet, dass die gottesdienstliche Gemeinde singen, aber auch ein Chor bzw. eine Instrumentalgruppe musizieren kann? Gibt es flexible Strukturen im Blick auf die Anordnung von Stühlen und Altar? Ist es denkbar, dass Musik auch durch eine Lautsprecheranlage übertragen werden kann? h) Letztlich soll das ganze christliche Leben zum Gottesdienst werden. Als Christen sind wir herausgefordert, Gott mit unserem ganzen Leben die Ehre zu geben – auch mit dem diakonischen Zeug50
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
nis im Alltag. Ist der Kirchenraum ein Ort der Ermutigung zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit? Gibt es Zeichen des Widerspruchs und Visionen des Reiches Gottes? i) Wir leben als Christen im Spannungsfeld von »Schon jetzt« und »Noch nicht«, von Kreuz und Auferstehung Christi zum einen und seiner Wiederkunft zum anderen. Ist der Raum geeignet, beides abzubilden: den »Skandal« des Kreuzes und die Freude von Ostern? Bietet der Raum auch Zeichen der Hoffnung auf Vollendung, wie sie das Volk Gottes prägt, das durch die Zeiten unterwegs ist?
2 Das Kirchenjahr 2.1 Vom tieferen Sinn des Feierns »Von Zeit zu Zeit ist ein Fest an der Zeit, das den Lauf der Dinge unterbricht« schreibt Eberhard Jüngel (Fest, 5) treffend in Anlehnung an Friedrich Schleiermacher. Und der Philosoph Platon bemerkte schon 2500 Jahre vorher in seinen Nomoi (Von den Gesetzen): »[…] die Götter, des zu Mühsal geborenen Menschengeschlechts sich erbarmend, haben ihm daher nicht bloß zur Erholung von derselben ihrer Feste stete Wiederkehr verordnet, sondern auch die Musen und Apollon den Musenführer und den Dionysos zu Festgenossen gegeben, damit die Menschen so durch das Zusammensein mit den Göttern an den Festen wenigstens die Erziehung wieder in ihren früheren Zustand zurückführen lernten.« (653 St. 2A bzw. Platon, Nomoi 23).
Mit diesen grundsätzlichen Aussagen zur Bedeutung des Festes ist zwar noch keine christliche Festtheorie begründet, immerhin zeigen beide aber die religiöse und die allgemeinmenschliche Dimension des Feierns auf. Ein Fest ist nicht nur Ausgleich für die Zeit der Arbeit und dient der Erholung, Feste haben auch mit Bildung und Kultur zu tun: Ja mehr noch: Verloren gegangene »Erziehung« kann durch das Feiern religiöser Feste wieder zurückgewonnen werden. Sie vergegenwärtigen entscheidende Wahrheiten zwischen Himmel und Erde, ohne die das menschliche Leben arm und tröge wäre. Zum Fest – so Platon – braucht man nicht nur Muße, sondern auch Musen, inspirierte Wesen, die sich das Feiern zur eigenen Sache machen. Feiern hat also etwas mit einem kunstvollen Spiel und den dazu gehörigen Spielregeln zu tun. Doch damit nicht Das Kirchenjahr
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genug: Feste werden nicht nur von den Göttern angeordnet, sie feiern auch selbst mit! In dieser göttlichen Fest-Gegenwart liegt ein wesentliches Charakteristikum jeder Religion begründet. Das Fest birgt eine Begegnung mit dem Göttlichen in sich. Das eigentliche Pendant zum Arbeiten (im Alltag) ist demnach nicht das Faulenzen, sondern das Feiern! Ja mehr noch: Menschen, die nichts zu feiern haben, verkümmern. Feste sorgen dafür, dass der Mensch nicht zum Arbeitstier verkommt, dass er nicht nur homo faber, sondern auch homo festivus wird und bleibt. Die festlose Zeit muss nicht automatisch traurig oder öde sein. Sie ist – dies kann man an den Kindern ablesen – vielfach gekennzeichnet durch die Vorfreude auf das Fest, was durch manche Durststrecke in der Zeit des Alltags hindurch trägt. Das Fest selbst ist dagegen wieder bestimmt durch die Freude aneinander und an den Gaben Gottes. Begeisterung, ja Ekstase (= Aus-sich-Heraustreten) sind erlaubt und gehören zur Natur der Sache. Feste bringen somit die schönsten Gefühle der menschlichen Existenz zutage. Sie sind Akte elementarer Lebensbejahung. Ein Fest stiftet zudem Identität: Wir alle kennen das Schul- oder Klassenfest, das Gemeindefest, das Stadt- oder Bürgerfest etc. Eine (soziale) Gruppe konstituiert den Sinn ihrer Gemeinschaft zumindest teilweise über das gemeinsame Essen und Trinken, gemeinsames Feiern, Erinnerung an die gemeinsame Geschichte oder gemeinsames Helfen usw. 2.2 Zyklische Wiederkehr und Heilsgeschichte Das stets wiederkehrende Jahr mit seinen Jahreszeiten symbolisiert eine Wiederholung immer wieder gleicher Schritte. Leben erwacht und Leben verblüht, der gleichsam überindividuelle Rhythmus der Natur trägt Generationen in immer neuer Weise. Diese schöpfungstheologische Gegebenheit gehört zu unserer Erfahrung von natürlicher Welt und legt gleichsam ein zyklisches Weltbild nahe, das besonders in den Religionen Ostasiens zuhause ist: Der Weltlauf erschließt sich durch die stetige Wiederholung und Einkehr in den Anfang. Zugleich erleben wir aber auch, dass wir unwiederbringlich älter werden, dass Menschen durch Trennung oder Tod aus unserem Leben 52
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
verschwinden, dass sich in Geschichte und Gegenwart Dinge ereignen und politische Weichen gestellt werden, die nicht ohne weiteres wieder rückgängig zu machen sind. Diese ebenso plausible Erfahrung verweist in eine andere Richtung: Das geschichtliche Denken ist im Gegensatz zu dem der Natur auf ein Ziel gerichtet, es erscheint unumkehrbar, zuweilen auch unerbittlich. In gewisser Weise ist diese Vorstellung nahe am prophetisch-heilsgeschichtlichen Bild, das uns vielfach in der Bibel begegnet. Aufregend und zugleich erhellend ist nun, wie beide Dimensionen im Kirchenjahr zusammenkommen, aber auch zuweilen in eine produktive Konkurrenz miteinander treten. Dadurch, dass christliche Feste im Angesicht Gottes gefeiert werden und hier Geschichten von Gott und mit Gott erzählt werden, geschieht etwas äußerst Reizvolles: Vergangenheit wird lebendig und neue Zukunft eröffnet sich. Es geschieht gleichsam eine Verschränkung der Zeiten, bei der die Gegenwart besonders intensiv gefüllt und erfüllt erlebt wird. Der biblisch geprägte Begriff dafür heißt Gedächtnis (hebräisch: zakar; griechisch: anamnesis) und meint: Gott vergegenwärtigt sich uns, wenn wir uns an seine Geschichte erinnern, und eröffnet uns eben dadurch eine neue Perspektive und Hoffnung für unser Leben. Im weihnachtlichen Krippenspiel erscheint ein Engel mit guten Nachrichten und ruft: »Euch ist heute der Heiland geboren!« In der Osternacht werden wir als Feiernde singend und betend hineingezogen in das Dunkel des Grabes und das Licht des Ostermorgens. Im gemeinsamen Hören des Osterevangeliums und beim Singen des Christ ist erstanden wird die Gewissheit erneuert, dass die Welt nicht im Chaos versinken soll (Str. 2) und die Hoffnung aktualisiert, dass Christus nicht der letzte war, dem eine Auferstehung widerfahren ist. Damit ist eine weitere theologische Kategorie im Blick: Wir sehen die Herrlichkeit noch nicht, erleben aber doch auch schon jetzt einen Abglanz, einen Vorschein davon (vgl. 1. Kor 13,12). Doch fragen wir weiter: In welcher Weise wird die kirchliche Gemeinschaft maßgeblich durch das Kirchenjahr und seine Feste bestimmt? Was ist dabei das spezifisch Christliche gegenüber dem allgemein Gebräuchlichen? Das Kirchenjahr
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2.3 Überlegungen zum Verhältnis natürlicher und heiliger Zeit Was ist – pointiert gesagt – der Unterschied zwischen einer got tesdienstlichen Feier und einer Party? Gefeiert – so behaupten zumindest Christinnen und Christen – wird in beiden Fällen: Es wird Musik gespielt, gesungen, gegessen, ja vielleicht sogar getanzt. Es gibt schöne Blumen oder festliche Dekoration. Es werden Geschichten erzählt, Lebens-Geschichten. Vielleicht wird sogar ein Geburtstag gefeiert wie an Weihnachten der Geburtstag Jesu oder an Pfingsten der Geburtstag der Kirche. Vielleicht hat auch ein trauriger Anlass die Anwesenden zusammengeführt: eine Beerdigung oder eine unerwartete gesellschaftliche Katastrophe. Es gibt erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Party und Liturgie. Manfred Josuttis schrieb einmal: »Der Gottesdienst sagt explizit, was die Party soll!« (Josuttis, Liturgik, 51) Oder besser: Der Gottesdienst ist die eigentliche Party, das Fest schlechthin. Er ist gleichsam der Prototyp des Festes: Hier spielt das »wahre Leben«, das sich auch vor dessen dunklen Seiten nicht scheut. Die intensivste Form des Feierns geschieht in dankbarer Annahme des Lebens und Freude: Wir kommen zu neuer Übereinstimmung mit uns selbst und erleben Gemeinschaft nicht nur mit anderen Menschen, sondern sogar mit Gott. Beim gottesdienstlichen Feiern vergisst der Mensch nicht nur die Last der Arbeit, sondern wird sich auch seines geschenkten Lebens bewusst. Er nimmt die Welt als Schöpfung neu an aus der Hand Gottes. Im gottesdienstlichen Lobpreis dankt er dafür, dass Gott die Welt gut gemacht hat. Die christliche Gemeinde bewegt im Gottesdienst aber auch gemeinsam die Suche nach Antworten zu den letzten Fragen. Darin unterscheidet sich der Gottesdienst vom Rausch der Party, ebenso wie von der Pragmatik einer politischen Versammlung oder der Wettkampfsituation beim Fußballspiel. Natürliche Zeit (griechisch: chronos) wird als geschenkte und geheiligte Zeit erfahren und gedeutet, in der uns Gott zum rechten Zeitpunkt begegnet (griechisch: kairos): Wer am Gottesdienst teilnimmt, wer sich auf das Kirchenjahr, auf geheiligte Zeit in natürlicher Zeit einlässt, dem gewährt Gott eine ganz besondere Zeit, lässt ihn teilhaben an seiner Ewigkeit, wie in einem neuen Lied (fT 162) gesungen wird: 54
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
Refrain: Schenk uns Zeit aus deiner Ewigkeit 1. Zeit zum Nehmen, Zeit zum Geben, Zeit zum Miteinanderleben. 2. Zeit zum Trinken, Zeit zum Essen, Zeit, um keinen zu vergessen. 3. Zeit zum Beten, Zeit zum Klagen, Zeit um Gott auch Dank zu sagen.
2.4 Die Zeitrhythmen Tag, Woche und Jahr Während das Jahr durch die einmalige Umrundung der Erde um die Sonne und der Tag durch die einmalige Umrundung um die eigene Achse bestimmt ist, ist die Woche eine bewusste Setzung. Im biblischen Schöpfungsbericht nach 1. Mose 1 hat Gott selbst diesen Zyklus festgelegt: »Und es wurde Abend und es wurde Morgen, ein erster Tag.«
Damit sind wir bei den einzelnen Zeitrhythmen angekommen: Der Tag
Der Tag ist der Kern und das Urbild des menschlichen Zeiterlebens. In ihm verrichten wir unsere Arbeit und gestalten das Leben in der Familie. Die Nacht dient der Erholung und Rekreation. Die Tagzeiten bilden aber auch die Jahreszeiten, ja sogar den unwiederbringlichen Fortgang unseres Lebens in sich ab: Die aufgehende Sonne am Morgen steht für das Aufwachen und das Aufstehen, in der Natur verkörpert der Morgen gleichsam den Frühling bzw. die Geburt. Zahlreiche Morgenlieder besingen ihn und vergleichen ihn mit dem Frühling nach langem Winter, zuweilen erinnern sie an den Morgen der Schöpfung. Der Mittag ist der Höhepunkt des Tages, der Mensch steht im Zenit seiner Kraftentfaltung. Da steht die Sonne am höchsten, was an den Sommer erinnert, in dem die Sonne am längsten scheint (vgl. Sonnwend). Die Hitze wärmt, sie kann aber auch ermüden. Der Abend gleicht dem Herbst, das Licht wird weniger, man wird sich bewusst, dass das Leben ein Ende hat. Der Abend wirft die Schatten der Nacht und der Bedrohung voraus. Im Herbst liegen auch die Das Kirchenjahr
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Feste, die in diese Richtung gehen: Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Ewigkeitssonntag, Allerheiligen. Die Nacht ist uns Menschen am wenigsten verfügbar. Sie birgt Ruhe aber auch Gefahr in sich. Darin gleicht sie dem Winter, in dem Entbehrung, Kargheit und Kälte vorherrschen. Zugleich ereignen sich hier auch überraschende Dinge. Es ist die Zeit des Liebens und der Erholung. Da ist Furcht vor dem Chaos, aber auch Geborgenheit und Zärtlichkeit. Diese Ambivalenz der Nacht wird auch in christlichen Abendliedern besungen, die zugleich ein Bekenntnis zum behütenden Gott aussprechen, wie bei R. A. Schröder (EG 487) zu sehen ist: »Abend ward, bald kommt die Nacht, schlafen geht die Welt; denn sie weiß, es ist die Wacht über ihr bestellt.«
Noch positiver ist die Nacht in einem isländischen Lied (Liederbuch LebensWeisen 13,4) beschrieben: »Komm Nacht, komm auf uns zu, schenk Ruhe, neue Kraft und heile, was zerbrach, gib Frieden, lieber Gott und schenk uns eine gute Nacht.«
Viele Psalmen nehmen Tag und Nacht mit ins Beten und Meditieren vor Gott. Sie vertrauen dem gütigen Schöpfer und Herrn der Zeit die von ihm gewährte Zeit (wieder) an: In Ps 74 heißt es: Dein ist der Tag und dein ist die Nacht, hingestellt hast du Sonne und Mond. Und Ps 31,8 lautet: Meine Zeit steht in deinen Händen. Beide Verse atmen die Gelassenheit des Glaubens und das Vertrauen auf Gottes Güte. Die Dynamik und gleichsam reinigende Kraft der Nacht klingt in Ps 30,6 an. Dort heißt es: Wenn man am Abend noch weint, am Morgen herrscht wieder Jubel. Im Verlauf der Geschichte des Judentums wurden heilsgeschichtliche Ereignisse mit Morgen und Abend in Verbindung gebracht: Beim Abend bzw. in der Nacht denken Jüdinnen und Juden an den Auszug aus Ägypten und mit dem Morgen steht ihnen der Bundesschluss (mit der Gabe der Tora) am Berg Sinai vor Augen. Im Christentum steht 56
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
der Morgen neben der Schöpfung besonders für das Osterereignis, das Grunddatum christlicher Existenz schlechthin. Mit dem Ostermorgen ist zugleich auch und der ewige Morgen göttlicher Herrlichkeit, der Morgenglanz der Ewigkeit im Anbruch (vgl. EG 450), ein Hoffnungsschimmer im Dunkel mancher persönlich oder gemeinsam erlebten Dunkelheit. Demgegenüber steht die Nacht für die Gottverlassenheit am Kreuz Jesu ebenso wie seine Not am Abend im Garten Gethsemane (vgl. EG 95). Die Nacht erinnert an den Verrat des Judas und die Verleugnung des Petrus, an die Enttäuschung durch die Freunde. Mit dieser Symbolik von Licht und Dunkel gehen nicht nur die biblischen Erzähler, sondern auch die Dichter und die Liturgie um. Im Tagzeitengebet, wie es besonders in den Klöstern bis heute praktiziert wird, ist der Tag in dreistündig abfolgende Gebetszeiten gegliedert, die zentrale Motive des eben Genannten wach halten: Wir unterscheiden drei große und fünf kleine Gebetszeiten, die sog. Horen. Die drei großen sind das Morgenlob, das Abend- und das Nachtgebet (Laudes bzw. Mette, Vesper und Complet). Diese enthalten prägnanterweise die drei großen Cantica aus dem Lukasevangelium (neutestamentliche Psalmen): den Lobgesang des Zacharias (Benedictus), der Maria (Magnificat) und des Simeon (Nunc dimittis). Die fünf kleinen Horen sind die Matutin bzw. Vigil (Mitternacht), Prim (6 Uhr), Terz (9 Uhr); Sext (12 Uhr); Non (15 Uhr). Gemäß der benediktinischen Regel geht es dabei kursorisch einmal in der Woche durch den Psalter und einmal im Jahr durch die Bibel. Die Woche Im Gegensatz zum Tag bzw. zum Monat ist die Woche nicht einem vorgegebenen astronomischen Zyklus untergeordnet, sondern beruht gleichsam auf einer menschlichen Setzung. Dies hat entweder religiöse Gründe oder folgt Bedürfnissen des sozialen, ökonomischen Lebens. Zehn Tage hatte die Woche in China, acht im alten Rom und sieben im Zweistromland, das damit der jüdischen Tradition am nächsten steht: Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebenten Tage sollst du ruhen, auch in der Zeit des Pflügens und Erntens, heißt es in 2. Mose 34,21. Unsere Arbeitswoche befindet sich bis heute, was an den Namen der Wochentage noch abzulesen ist, im Widerstreit zwischen der angeDas Kirchenjahr
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stammten germanischen bzw. romanischen Welt und dem jüdischchristlichen Erbe. Der deutsche Begriff »Sonntag« erinnert an die Sonne, der Montag an den Mond (vgl. ital./franz. lunedi/lundi), die beide in germanischer Zeit auch als Götter verehrt wurden. Der Dienstag (vgl. engl. tuesday) enthält Anklänge an Tyr oder Ziu (vgl. martedi/mardi an Mars), wednesday (engl.) erinnert an Wotan; mercoledi/mercredi steht für den Gott Merkur. Donnerstag ist unschwer vom Gott Donner abzuleiten oder waren dem höchsten Gott Jupiter geweiht (giovedi/jeudi). Der Freitag war ein Tag zum Freien. Er gehörte Freia bzw. Venus (vgl. venerdi/ vendredi), der Göttin der Liebe. Der Freitag ist daher in der Symbolik der Germanen und der Römer ein Tag des Schönen, der Erotik, der schöpferischen Kräfte und der Kunst. Saturday erinnert an Saturn, das ital. sabato dagegen an den jüdischen Sabbat. Domenica (vgl. franz. dimanche) ist der Herrentag. Hier hat also schon begrifflich Ostern Einzug gehalten. Ihm folgt die Arbeitswoche, die in vieler Hinsicht an die Karwoche als heilige Woche erinnert und Struktur bildend gewirkt hat, z. B. auch mit Fastentagen (Mittwoch: Verrat des Judas; Freitag: Tod Christi). So wurde schon im Mittelalter der Durchgang durch die Woche ein Durchgang durch die Heilsgeschichte, gleichsam ein kleines Kirchenjahr, dessen immer neuer Höhepunkt die Feier der Auferstehung Jesu am Sonntag war.
In pointierter Weise wird der Sonntag in der christlichen Kirche auch zum neuen Sabbat, er nimmt die von Gott gewährte Zusage der Ruhe am siebenten Schöpfungstag in sich auf. Zugleich ist der Sonntag der erste Tag, er erinnert an den Schöpfungsbeginn und an den Beginn der neuen Schöpfung am Ostermorgen, die alte auf Erlösung angewiesene Welt wird neu. Damit wird der Sonntag gleichsam zum »achten Tag«. Mit dem Auferstehungstag am Tag nach dem Sabbat hat Christus die »alte« Zeit überschritten und aufgebrochen. In der Struktur unseres »Wochenendes« von Freitag bis Sonntag ist bis heute übrigens eine wesentliche Erinnerung an das Heilsgeschehen aufbewahrt. Der Sonntag ist darin Hinweis auf den dritten Tag, an dem Gott die Nacht des Todes durchbrach. Mit dem Namen Sonntag ist zugleich ein wichtiger Hinweis auf eines der wichtigsten 58
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Christussymbole gegeben. Die Sonne ist Symbol für den Bräutigam (vgl. Ps 19,7) der Kirche und Bild für das Licht der Gnade. Davon singt L. A. Gotter (EG 404): »Herr Jesu, Gnadensonne, wahrhaftes Lebenslicht, mit Leben, Licht und Wonne wollst du mein Angesicht nach deiner Gnad erfreuen und meinen Geist erneuen; mein Gott versag mir’s nicht.«
Der Sonntag ist also keine beliebige Festlegung, sondern ein Grunddatum christlicher Existenz, »das eigentliche Maß der Zeit«. Er »trägt eine einzigartige Synthese von geschichtlicher Erinnerung, von Schöpfungsgedenken und von Theologie der Hoffnung in sich« (Ratzinger, 85). Manche liturgischen Kalender ordnen den einzelnen Wochentagen bestimmte Themen zu: Wilhelm Löhe dachte für den Montag an Arbeit und die Sendung zum Dienst, beim Dienstag an Versuchung und Kampf usw. Das EG übernimmt davon vieles und schlägt für den Sonntag Verkündigung, Gemeinde, Freizeit und Schöpfung, für den Mittwoch Ehe und Lebensmitte, für den Donnerstag Gemeinde, Kirche und Ökumene, für den Freitag Tod Christi, Leiden und Schuld sowie für den Samstag Sterben, Reich Gottes und Vollendung vor. Ein neuer weiterführender Impuls kommt von Georg Gremels und Dirk Schliephake. Sie versuchen in einem Kinderkatechismuskalender, sieben Aspekte evangelischer Spiritualität über den Katechismus wiederzugewinnen und diese den Wochentagen zuzuordnen: 10 Gebote, Credo, Vaterunser, Taufe und Abendmahl werden Montag bis Freitag, dem Samstag die Buße und dem Sonntag die gottesdienstliche Feier beigegeben.
Der Monat
Der Monat spielte bis jetzt innerhalb des kirchlichen Kalenders nur eine sehr untergeordnete Rolle, hat aber durch das säkulare (Arbeits)jahr, das stark durch diesen größeren Zyklus strukturiert ist, zunehmend auch religiös-spirituelle Elemente angereichert. So gibt es Das Kirchenjahr
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etwa neben dem Wochenspruch auch einen Monatsspruch und neuerdings das Bestreben, den einzelnen Monaten auch einen biblischtheologischen bzw. liturgischen Sinn zu geben (vgl. Anhang 1). Das Jahr und seine Feste Das Jahr begegnet als Zeiteinheit in fast allen Kulturen und Religionen, da es durch die zyklische Umrundung der Erde um die Sonne astronomisch vorgegeben ist. Damit einher gehen der Wechsel der Jahreszeiten, das Alternieren von Trocken- und Regenzeiten usw., was in agrarischen Kulturen häufig mit einem Wechsel der Weideplätze, ja sogar des Wohnorts verbunden ist. Vielfach sind zu solchen Anlässen im Jahr neben familiären auch kultische Bräuche entstanden, z. B. Sonnwendfeiern, Saat- und Erntefeste, Neujahrsfeste oder Neumondfeste. Zuweilen wurden diese wiederum mit Übergängen im Leben der Einzelnen verknüpft und gedeutet. »In Neujahrs-, Jahreszeiten- und Erntefesten feierte man das Werden, Sterben und Wiedergeborenwerden der Natur.« (Bieritz, Kirchenjahr, 41) Auch im alten Israel waren solche Feste üblich, was in der Tora (fünf Bücher Mose) an vielen Stellen zu entdecken ist. Das Fest der ungesäuerten Brote (hebr. hag hamazzot) wurde immer vom 15.21. Nisan gefeiert, es war das Fest der Gerstenernte. Dabei wurde ein junges männliches Tier geopfert. Im Verlauf der Geschichte verband sich dieses agrarische Fest mit dem Gedenktag der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft (pesach), das mit dem Opfer eines Böckleins und einer rituellen Mahlzeit (seder) verbunden war. Damit war der Kern des kultischen Gedächtnisses Israels gewonnen, das – wie oben beschrieben – wesentlich auf dem Prinzip der Vergegenwärtigung beruht. Was damals war, wird heute neu als eigene Geschichte erlebt. Das Lamm wird geschlachtet wie in jener Nacht des Auszugs, man hält sich wie damals zum Aufbruch bereit. Auch ein Platz wird freigehalten, der für den wiederkommenden Elia bestimmt ist. Pointiert heißt es in der Liturgie des Pesach: »Heute seid ihr im Aufbruch, heute zieht ihr durchs Rote Meer« usw. Weitere zentrale Feste im Judentum sind das Ernte- bzw. Wochenfest (schavuoth) im Frühsommer sowie das Lese- bzw. Laubhüttenfest (sukkoth) im Herbst, das zugleich Bittfest für neuen Regen war. Laubhütten sind übrigens provisorische Hütten (zur Übernachtung) 60
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im Weinberg, der während der Lese bewacht werden muss. Auch hier haben sich im Verlauf der Zeit heilsgeschichtliche Elemente angelagert, die mit einer theologischen Begründung versehen werden. Diese findet ihrerseits Eingang in kultische bzw. rituelle Vollzüge. Zentrale theologische Bedeutung haben ferner der große Versöhnungstag (Jom Kippur, vgl. Lev 16f) und das Neujahrsfest (Rosch-ha-schanah). An diese jüdische Festtradition knüpft der christliche Festkalender an und prägt ihn zugleich pointiert um: Der innere Kern und theologische Kraftort ist Ostern und das ihm vorausgehende triduum sacrum, die drei heiligen Tage von Gründonnerstag bis Karsamstag. Jesu Tod und Auferstehung sind, das können wir im Neuen Testament auf Schritt und Tritt greifen, die Mitte des christlichen Glaubens. Wäre Christus nicht auferstanden, wäre unser Glaube vergeblich, schreibt Paulus in 1. Kor 15. Hintergrund des Osterfestes ist also zunächst das jüdische Pesach-Fest, das die Befreiung aus Ägypten zum Thema hat. In den romanischen Sprachen klingt Pascha (griechisch) noch als Pasqua oder Pacques an. Die synoptischen Evangelien berichten, dass Jesus mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl als ein Passamahl gefeiert hat (in der Nacht des 14./15. Nisan, dem ersten Frühlingsmonat). Nach dem Johannesevangelium fallen der Karfreitag (nicht der Gründonnerstag) und das Passafest zusammen: Jesus stirbt, während im Tempel die Passalämmer geschlachtet werden. Sachlich entsprechend schreibt Paulus in 1. Kor 5,7: Jesus ist unser Passalamm. Melito von Sardes (gestorben 180) knüpft daran an und betont in einer Osterpredigt im Jahr 168: »Christus ist das passa unseres Heils«. Das jüdische Pesachfest bietet auch tiefsinnige theologische Anknüpfungspunkte: In 2. Mose 12 wird erzählt, wie der Todesengel an den Türen vorbeigeht, deren Pfosten mit Blut bestrichen sind: Das Holz ist getränkt durch das Blut des Lammes.
So bürgt Jesus Christus als das unfehlbare Lamm (vgl. 1. Petr 1,20; Offb 13,8) mit seinem Blut vor Gott dafür, dass wir nicht dem ewigen Tod preisgegeben sind. Ostern ist mit dieser Symbolik im Hintergrund daher immer ein Fest der Befreiung nicht nur von Knechtschaft und Sklaverei, sondern auch von der Macht des Todes. Von Ostern Das Kirchenjahr
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her verstehen sich Christen als Lebendige, als (durch die Kraft der Taufe) schon jetzt Auferweckte (Kol 2,12). Die ersten Christen haben in diesem Glauben und in dieser Hoffnung jeden Sonntag als Osterfest gefeiert. Erst allmählich, als die sog. Naherwartung der unmittelbaren Wiederkunft Christi schwächer wurde, haben sich die Abstände der Feier vergrößert. Seit dieser Zeit (3. Jh.) gab es nach Ostern eine ganze Festwoche, die sog. Osteroktav. Bis zum darauffolgenden Sonntag Quasimodogeniti (= wie die neugeborenen Kinder) wurden täglich Gottesdienste gefeiert; die Neugetauften ließen so lange ihre weißen Kleider angezogen. In Jerusalem gab es Prozessionen von der Himmelfahrtskirche zur Auferstehungskirche. Darin liegt auch die seit dem 17/18. Jh. nachweisbare röm.kath. Praxis begründet, die Erstkommunion in weißer Kleidung an diesem Sonntag zu feiern. Allmählich hat sich dann eine nachösterliche Freudenzeit herausgebildet, in der jeder Sonntag bis Pfingsten (gr. pentecoste hämera = 50 Tage) eine besondere Bedeutung besitzt. Auch die Karwoche (wahrscheinlich von althochdt. Kara = Trauer) wurde schon früh »begangen«; seit dem 4. Jh. fanden in Jerusalem am Palmsonntag und am Karfreitag Prozessionen statt. Die wichtigste führt durch die Via dolorosa (14 Leidensstationen, sog. Via crucis) am Karfreitag, der selbst erst ab dem 4. Jh. nachweislich mit Gottesdiensten begangen wurde. Spannend an der liturgischen Entwicklung im Blick auf Ostern ist auch der Streit um den Termin. Warum setzte man nicht (wie an Weihnachten) einfach einen bestimmten Tag fest? Die einfache Antwort: Es sollte stets ein Sonntag sein, da der erste Tag untrennbar mit der Auferstehung verknüpft war. Allerdings hat man dazu nicht einen festen Monat gewählt, sondern den Ostertermin mit dem zyklischen Lauf des Mondes in der Zeit des Frühlingsbeginns verbunden. Im 4. Jh. einigte man sich beim Konzil von Nicäa (325) auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond nach der Tag- und Nachtgleiche, so dass rechnerisch Ostern immer zwischen dem 22.3. und 25.4. liegt. Damit hat das Konzil sich gegen den Brauch der sog. Quartodezimaner ausgesprochen, die den 14. Nisan des jüdischen Kalenders als Ostertermin feierten, ist aber auch nicht dem jüdischen Brauch gefolgt, der am 25. März an das Opfer Abrahams (1. Mose 22) denkt, bei dem ein Widder für seinen Sohn Isaak 62
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
in die Bresche gesprungen ist. (Allerdings gab es wohl in Gallien einen Brauch, am 25. März des Todes Christi zu gedenken).
Somit ist in den heilsgeschichtlich orientierten christlichen Festkalender der kosmische Rhythmus des Mondzyklus eingestiftet, Sinnbild dafür, dass Schöpfung und Erlösung in Gott zusammengehören. Joseph Ratzinger (89f) schreibt treffend: »Der sterbende und neu erstehende Mond wird zum kosmischen Zeichen für Tod und Auferstehung, die Sonne des ersten Tages zum Boten Christi, der ›wie ein Bräutigam aus seiner Kammer heraustritt und freudig wie ein Held seine Bahn läuft‹ bis an die äußersten Enden von Raum und Zeit. […] Durch das Fest treten wir in den Rhythmus der Schöpfung und in die Ordnung der Geschichte Gottes mit den Menschen ein. […] Aber nicht das Geschichtliche dient dem Kosmischen, sondern das Kosmische dem Geschichtlichen, in dem erst dem Kosmos seine Mitte und sein Ziel geschenkt werden.«
Das Weihnachtsfest bzw. der Weihnachtsfestkreis sind deutlich jüngeren Ursprungs als das Osterfest. Erste Wurzeln einer Feier der Geburt Jesu gab es in Ägypten um 200, wo eine christliche Gruppe den 6. Januar beging. Allerdings wurde hier wahrscheinlich zunächst die Taufe Jesu gefeiert: Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen. Die Geburt des Sohnes Gottes wird gleichsam mit seiner öffentlichen Anerkennung (Mk 1) durch die göttliche Stimme vom Himmel identifiziert. Damit gab die Gemeinde in Alexandrien eine »Antwort« auf ein mythisches Göttergeburtsfest, das an diesem Tag gefeiert wurde. Der Termin 6. Januar hält sich im Osten als Geburtstermin und wird im Westen als Epiphaniasfest gefeiert (Fest der Erscheinung), dessen tieferer Sinn das Erscheinen Christi unter den (Heiden)völkern ist. Seit langem ist es unmittelbar mit der Geschichte der drei Weisen (Magier) aus dem Morgenland (Mt 2) verbunden, die bald für die drei Erdteile Afrika, Asien und Europa standen. Im Westen setzt sich als Weihnachtstermin dann allerdings der 25. Dezember durch. Verschiedene Motive und Erklärungsmodelle dürften dabei prägend geworden sein: a) Wenn die Schöpfung erwacht und Gott sich darin manifestiert, dann müssen der Schöpfungsfrühling und der Erlösungsfrühling auch in der Symbolik des Kirchenjahres etwas miteinander zu tun haben. Der Frühlingsanfang am 21.3. legt die Vermutung nahe, dass Gott an Das Kirchenjahr
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einem solchen nicht nur die Welt gemacht, sondern auch in dieser Zeit Gottes-zur-Welt-kommen begonnen hat: Neun Monate vor Weihnachten, mit der Verkündigung des Engels an Maria zum Beginn des Frühlings, müsste man demnach die Weihnachtsgeschichte beginnen lassen (vgl. Lk 1), was sich bis heute im liturgischen Festkalender niederschlägt, der das Fest Mariae Verkündigung am 25.3. vorsieht. Zahlreiche Bilderzyklen sind in ähnlicher Weise durch dieses Leitmotiv der Weihnachtsgeschichte bestimmt. b) Eine damit verwandte Erklärung begründet das Weihnachtsfest damit, dass Gott mit seiner Menschwerdung in die tiefste Dunkelheit der Welt kommt. Dies soll symbolisch dadurch ausgedrückt werden, dass der Termin in die Zeit fällt, wenn auf der nördlichen Erdhalbkugel die Tage am kürzesten sind, also unmittelbar nach dem Beginn des Winters. Pointiert heißt es dazu in einem Weihnachtslied von Dieter Trautwein (EG 45):
Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht endlos sein.
Der Dichter spielt hier eigentümlich mit der tiefen Winternacht und der menschlichen Sündennacht und bringt den Konnex von Kosmos und Heilsgeschichte treffend zusammen. c) Eine letzte Erklärung argumentiert dezidiert religionsgeschichtlich: Der unbesiegbare Sonnengott (Sol invictus) auf dem Sonnenwagen wurde seit 275 (Kaiser Aurelian) in Rom als Sonnengott verehrt. Sein Geburtstag wurde am 25.12. gefeiert (natalis solis invicti, Geburt der unbesiegbaren Sonne). Archäologische Funde (Gräber unter St. Peter in Rom) zeigen Abbildungen dieser Art und legen die Vermutung nahe, dass die frühen Christen Elemente der Symbolik des Sonnengottes übernommen und dezidiert umgedeutet haben. Dann wäre die Abgrenzung von der römischen Umwelt und ihrem Sonnenkult Ursprungsort für den Termin des Weihnachtsfestes, was heute aber vielfach bestritten wird. Viele Lieder besingen Jesus als Sonne. Exemplarisch sei hier der Kehrreim eines beliebten Weihnachtsliedes (EG 34) genannt:
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»Freude, Freude über Freude, Christus wehret allem Leide. Wonne, Wonne über Wonne, Christus ist die Gnadensonne.«
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
Der Weihnachtstermin folgt damit sehr pointiert dem Sonnenrhythmus, ist also auf einen bestimmten Tag im Jahr fixiert und wechselt nicht wie das Oster- und Pfingstfest gemäß dem Mondzyklus. Der Zusammenhang von Schöpfungserwachen und Empfängnis Christi am 25. März sowie von tiefem Winter und menschlicher Sündennacht haben zusammen den Termin geprägt, bei dem der Kosmos gleichsam zum Symbol für die Heilszeit wird. Bald bildete sich auch eine Festwoche nach Weihnachten, die sog. Weihnachtsoktav, heraus, die nach bald bis Epiphanias reicht (zwei Wochen). Der weihnachtliche Festkreis schließt mit der Darstellung Jesu im Tempel (Mariae Reinigung oder Lichtmess) am 2. Februar bzw. mit dem Letzten Sonntag nach Epiphanias, an dem das Evangelium von der Verklärung Jesu (Matthäus 17) im Mittelpunkt des Gottesdienstes steht. Heiligabend ist durch seine Familiengottesdienste erst im letzten Drittel des 20. Jh. populär geworden, früher war es ein ganz normaler Arbeitstag mit einer abendlich gefeierten Vesper oder Mette. Der eigentliche Festgottesdienst war jedenfalls am 25. Dezember, dem ersten Weihnachtstag. Das Fest reichte bis zum dritten Feiertag am 27. Dezember. Grundsätzlich zu bedenken ist, dass viele Christen mit Weihnachten mehr anfangen können als mit Ostern oder gar mit der Passion. Doch sollten wir deshalb die Rede vom Leiden und Sterben Jesu zurücknehmen? Nach dem Motto »Krippe statt Kreuz«, Weihnachtschristentum statt Passionschristentum? Damit ist das Entscheidende (wenn auch Anstößigste) der christlichen Botschaft aufgegeben. Der Blick auf den christlichen Festkalender ergibt ein differenziertes Bild im Blick auf die Tradition. Während Ostern, Pfingsten (vgl. das jüdische Wochenfest) und in gewisser Weise auch Erntedank (vgl. das Laubhüttenfest) den jüdischen Festkalender aufnehmen und transformieren, stellen Weihnachten und der Johannistag (24. Juni, Fest Johannes des Täufers) eine gleichzeitige Anknüpfung und Abgrenzung von heidnischer Tradition dar. Ureigene christliche Ausprägungen sind dagegen Fronleichnam als Hochfest des Leibes und Bluts Christi – entstanden im Hochmittelalter, als die kath. Wandlungslehre (sog. Transsubstantiation) sich durchzusetzen begann. Das katholische Fronleichnamsfest ist Das Kirchenjahr
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traditionellerweise mit einer Prozession verbunden und verdankt seine Liturgie wesentlich einem der großen Lehrer der Kirche, Thomas von Aquin. Am Michaelistag (29.9.) feiert die christliche Gemeinde das Gedenken an die höheren Mächte der Engel, die uns schützend umgeben. Der streitbare Erzengel Michael, der auch bei vielen Darstellungen des Jüngsten Gerichts traditionellerweise zu sehen ist und den Satan besiegt, ist in vielen Kirchen der Schutzpatron, Michaeliskirchen befinden sich oft in exponierter Höhenlage (vgl. San Michele in Apulien, Mont St. Michel in der Bretagne usw.). Das Reformationsfest am 31.10. verdankt seine Entstehung Martin Luther, der 1517 seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche gehämmert haben soll. In der Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Produkt Halloween und angesichts des nahenden Reformationsjubiläums 2017, das zahlreiche Initiativen und Wettbewerbe aus sich heraussetzt, erfährt es gegenwärtig in den protestantischen Kirchen eine erhebliche Aufwertung. Allerheiligen ist – trotz der besonderen Erwähnung im Gottesdienstbuch – aus den evangelischen Gottesdiensten weitgehend verschwunden und wird vorwiegend von der kath. Kirche (als hoher Feiertag!) begangen. Das Fest hat seinen Ursprung im Osten. Dort hatte man schon im 4. Jh. ein Gedächtnis aller Märtyrer eingeführt. 2.5 Liturgische Farben und besondere Sonntage Liturgische Farben wurden unter Papst Innozenz III. beim 4. Laterankonzil (1215) festgelegt. Auch in der evangelischen Kirche sind sie allgemein üblich und an den sog. Paramenten an Kanzel und Altar sowie ggf. an einer Stola der Liturgin sichtbar. Weiß prägt die beiden höchsten Feste der Kirche, die für das Leben und den Glauben der Kirche konstitutiv sind, Weihnachten und Ostern: Gottes Heilsgeschichte in Christus wird hier verdichtet und präsent, mithin der zur Welt gekommene, der gekreuzigt-auferstandene Gott als Mitte unseres Glaubens. Darüber hinaus werden auch am Dreieinigkeitsfest und am Erscheinungsfest (Epiphanias, 6. Januar) weiße Paramente verwendet. Weiß steht für den Lichtglanz des erscheinenden und auferstandenen Christus ebenso wie für die Reinheit der Taufkleider. Die ganze österliche Freudenzeit 66
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
(einschl. Himmelfahrt) ist weiß. Neben dem schon erwähnten ersten Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti) sind dies folgende Sonntage: Misericordias Domini (Sonntag vom Guten Hirten), Jubilate (Jubelt), Kantate (Singet), Rogate (Betet), Himmelfahrt (Donnerstag), Exaudi (Erhöre mich). Violett gilt als Farbe der Buße. Die Advents- und die Passionszeit sowie einzelne Bußtage sind daher violett. Nach dem festlichen ersten Advent (Einzug des Königs, vgl. Mt 21,1–9), denkt der zweite Advent an die Wiederkunft Christi, der dritte akzentuiert das Kommen Johannes des Täufers. Die Passionszeit hat ein ähnlich starkes »Proprium« (individuelles Gepräge einzelner Sonntage) entwickelt. Die Namen der Sonntage verdanken sich den sog. Introiten (Psalmen, die zum Einzug gesungen wurden). Ein Merkspruch lautet: In rechter Ordnung lerne Jesu Passion: Invokavit, Reminiszere, Okuli, Laetare, Judika, Palmarum. Eine kleine, eher originelle Ausnahme ist die Farbe Rosa, die an den beiden fröhlichen Sonntagen in der Advents- und Passionszeit gilt: Der 4. Advent hat den Beinamen Gaudete (Freut euch). Es herrscht Freude darüber, dass das weihnachtliche Kommen Christi nun ganz nahe ist, ja dass der Heiland förmlich vor der Tür steht (vgl. den Wochenspruch aus Phil 4: Freut euch in dem Herrn allewege!) Im Magnificat (Lk 1,46–55), das als Evangelium den Sonntag bestimmt, wird Maria zu einer Freudenbotin, die die Gemeinde zum Lob Gottes animiert. Die Adventszeit als ganze beinhaltet also eine kleine theologische Summe: Es geht um den gekommenen, wiederkommenden und gegenwärtigen Herrn, auf den sich die Kirche vorbereitet und freut. Lätare (ebenfalls: Freue dich) in der Passionszeit denkt besonders an das aus der Erde wieder aufstehende Weizenkorn (vgl. Joh 12,24) und atmet im Gegensatz zu den umher liegenden Sonntagen schon österliche Hoffnung.
Schwarz steht für die besonders tiefe Trauer und wird nur an Karfreitag und in Bestattungsgottesdiensten verwendet, kann aber auch bei besonderen schwierigen Anlässen (Katastrophen) zum Einsatz kommen. Das Kirchenjahr
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Rot ist die Farbe des Feuers und des Blutes. Sie erinnert an die Märtyrer und ist Symbol des Geistes und der Kirche: Pfingsten, Reformation und Konfirmation sind klassischerweise rot, ebenso die wenigen im evangelischen Kalender verbliebenen Heiligenfeste (z. B. Johannis). Grün steht für Wachstum, die aufgehende Saat und sprossende Frucht. Die längste Zeit des Jahres vom 1. Sonntag nach dem Trinitatisfest und die Sonntage nach Epiphanias sind (bis auf den letzten) grün. Diese Sonntage sind (im Gegensatz zu den Sonntagen im Advent oder in der österlichen Freudenzeit) am wenigsten geprägt durch ein besonderes »Proprium«. (Trinitäts)theologisch sind die beiden Christusfeste und das Pfingstfest zu ergänzen durch die Rede vom Schöpfer und der Schöpfung und dem Dank für die Gaben der Natur. Dazu gehört auch die Weltverantwortung (Schöpfung, Gerechtigkeit, Frieden). Darum sollten wir als viertes Hauptfest das Erntedankfest in den Blick nehmen oder aber den neu eingeführten Schöpfungstag (1. September) stärker etablieren. Zuletzt sei noch bemerkt, dass sich im Verlauf der Jahrhunderte, bedingt durch verschiedene liturgische Reformen, zu denen auch die Reform und Erweiterung der sog. Perikopen (Predigttexte) gehört, das Gepräge der einzelnen Sonntag erheblich ausdifferenziert hat: Für jeden Sonntag entwickelte sich schon früh ein Thema, ein biblischer Leitgedanke, wobei ein Text aus dem Leben Jesu dafür Pate stand (altkirchliches Evangelium). Diesem wurden dann ein Brieftext (Epistel) und ein alttestamentlicher Text zugeordnet und im 20. Jh. durch drei weitere ergänzt, sodass insgesamt sechs zu predigende Texte für jeden Sonntag vorliegen. Die Reform Ende 2018 brachte einige Neuerungen. Diese werden unten (S. 130–132) ausgeführt. 2.6 Die zentralen Feste des Kirchenjahrs in der Gegenwartskultur Die gegenwärtige kirchliche und kulturelle Praxis ist vielfältig durch das Kirchenjahr geprägt. Das gottesdienstliche Leben im Jahreskreis orientiert sich an Wegmarken, die durch das Kirchenjahr bestimmt sind, und gestaltet sich in den Rhythmen und entlang der Symbole und Themen, die durch es gesetzt sind. In jüngerer Zeit findet das Kirchenjahr, dem bis vor fünfzehn Jahren eher ein kleiner Kreis 68
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
von Fachleuten Interesse schenkte, sogar wieder eine breitere kirchliche und öffentliche Aufmerksamkeit. Dazu gehören Bemühungen, mit Kindern (schon im Kindergarten), selbst in multikulturellen Zusammenhängen die Feste des Christentums zu begehen oder im Rahmen religiöser Erwachsenenbildung den Sinn für die Bedeutung des Kirchenjahres zu schärfen. Daneben stehen Veranstaltungsangebote und entsprechende Praxisliteratur, die Perspektiven eröffnen, Rhythmen, Ereignisse und Übergänge des Jahreskreises individuell oder gemeinschaftlich zu begehen. An vielen Stellen berührt und verschränkt sich die gesteigerte Aufmerksamkeit für das Kirchenjahr mit der Gegenwartskultur und mit Umbrüchen gesellschaftlichen Lebens. Die Bedeutung der evangelischen Fastenaktion »Sieben-Wochenohne« beispielsweise, ist verwoben mit einem veränderten kulturellen Bewusstsein von Lebensqualität und Körperlichkeit in Verbindung mit Spiritualität. In der gottesdienstlichen Praxis lassen sich unterschiedliche Tendenzen ausmachen. Die Beobachtungen lassen sich nicht auf einen Nenner bringen und ergeben erst zusammen ein differenziertes Bild. Exemplarisch mögen drei Aspekte genannt werden: a) Die Osternachtfeier ist in den vergangenen Jahren in vielen evangelischen Gemeinden neu gestaltet und als liturgisches Ereignis gestärkt worden. Sie zeugt davon, dass sich das Erbe der Kirchenjahrstradition im gottesdienstlichen Leben der Gegenwart neu erschließen kann. Die Osternachtfeier steht für die Erneuerung alter Tradition. b) Auf der anderen Seite sind Traditionsabbrüche zu konstatieren bis dahin, dass Feiertage des Kirchenjahres – man denke an den Bußund Bettag – gesellschaftlich preisgegeben werden und selbst binnenkirchlich an Boden verlieren. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass die gottesdienstliche Kultur der zweiten Feiertage erodiert und der Karfreitag in den Hintergrund tritt. An verschiedenen Stellen lässt sich also eine kirchlich-kulturelle Ausdünnung des Kirchenjahres erkennen. c) Gleichzeitig kommt es zu neuen Gestaltungen besonderer Gottesdienste, in denen Elemente (religiöser) Popularkultur aufgenommen werden oder sich zu ihnen ins Verhältnis gesetzt wird. Ein Gottesdienst an Halloween etwa ist auf evangelischer Seite ein unterschiedDas Kirchenjahr
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lich bewerteter Akt liturgischer Neuschöpfung. Demgegenüber steht die Einführung des Reformationstages als Feiertag in Niedersachsen, Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein seit 2018.
Der christliche Festkalender bringt kollektiv bestimmte Zeit zur Darstellung, die dem individuellen Zeiterleben und Zeitgestalten vorausgeht. Karfreitag ist eben kein persönliches Datum im privaten Jahreskalender. Als symbolische Ordnung der Zeit korrespondiert das kirchliche Jahr mit den sozialen Zeitmustern des gesellschaftlichen Kalenders und gerät mit ihnen immer wieder in Konflikte. Diese zeigen sich insbesondere in den Auseinandersetzungen über Feiertage und über deren Gehalt (Bußtag, Reformationstag, Pfingsten/ Pfingstmontag oder Himmelfahrt). Kirchliche Feiertage sind gemeinschaftsstiftende Akte, aber darin auch »Kampfplätze« im Werte- und Wahrheitsdiskurs unserer Gesellschaft. Das Kirchenjahr ist damit als ein Moment der sozialen Zeit auch Bürge für die soziale Verbindlichkeit der Zeit und eine starke Ausdrucksform des öffentlichen Christentums. Angesichts der Vielzahl von Festen, in denen alles Mögliche gefeiert wird und die Einzigartigkeit eines Festes ebenso wie die Individualität der feiernden Menschen verloren zu gehen droht – man denke an große Sportfestivals, Konzertevents, Freizeitparks, an alle Arten von Stadtfesten usw. – ist es umso wichtiger eine Festkultur zu schaffen bzw. zu bewahren, die aus dem Geist des Evangeliums bestimmt ist: Dies beinhaltet eine frohe Dankbarkeit für das Leben, mithin für ein Leben im Licht Gottes. 2.7 Überlegungen zur Struktur des Kirchenjahres Die vorangegangenen und folgenden Überlegungen schließen sich Vorschläge der Liturgischen Konferenz zur Erneuerung des Kirchenjahres an, die im Folgenden angedeutet werden. 1. Der Grundrhythmus des Kirchenjahres speist sich liturgisch und lebensweltlich aus den Festzeiten und Feiertagssequenzen des Jahreskreises. Die Arbeit an der Gestalt des Kirchenjahres könnte in Zukunft vier Fest- und Feiertagssequenzen als tragende Struktur des Kirchenjahreszyklus stärken und akzentuieren: a) Weihnachtsfestkreis (Advent/Weihnachten/Jahreswechsel/Epiphanias) 70
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
b) Osterfestkreis (Passionszeit/Karwoche/Ostern/Himmelfahrt) c) Pfingsten (Trinitatis/Johannis/Israelsonntag/Tag der Schöpfung/ Diakoniesonntag) d) »Späte Zeit des Kirchenjahres« (Michaelis/Erntedank/Reforma tionstag/Allerheiligen/Volkstrauertag/Buß- und Bettag/Toten-/ Ewigkeitssonntag) 2. Der festzeitliche Grundrhythmus des Jahres im Sinne eines »VierFelder-Schemas« (vgl. 1.) sollte anschlussfähig sein an das zeitgenössische Kirchenjahresbewusstsein. Aus diesem Grund erscheint Pfingsten, traditionell ein Teil des Osterfestkreises, als eigenes Element des Festzeitzyklus. Im Pfingstkreis würden Sonntage nach dem Pfingstfest gezählt; in der »späten Zeit des Kirchenjahres« Sonntage nach dem Erntedankfest (»Reife«). 3. Zwischen Epiphanias und der Passionszeit sowie zwischen Johannis- und Michaelistag entstehen zwei Zeiträume, die in Variation zu den bisherigen Predigttexten der gemeindeorientierten, regionalen Gestaltung oder aber biblischen und religiösen Themenreihen gewidmet sein könnten. 4. Zur Konzentration auf die Fest- und Feiertagszeiten gehört, dass ihr Charakter zwischen traditionell geprägter Kirchenjahreszeit und gegenwärtigen kirchlichen und kulturellen Erfahrungen verdeutlicht wird und ihre elementaren Themen ausgewiesen werden: beispielhaft etwa in der (Um-)Prägung der Passionszeit in Fastenzeit (»Sieben Wochen ohne«) oder der Adventszeit im Kontext der Vorweihnachtszeit. 5. Die Festkreise sind in sich gegliederte Zeiten. Im Blick auf das Weihnachtsfest sind die heute gelebte Festdramaturgie und die damit einhergehenden Veränderungen der gottesdienstlichen Praxis unbedingt aufzunehmen. Im Osterfestkreis ist es insbesondere die Karwoche als liturgisch zu gestaltender Weg, die wieder verstärkt Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die späte Zeit des Kirchenjahres von Erntedank bis Ewigkeitssonntag gilt es als thematischen Zusammenhang zu komponieren, der die Ambivalenz des Lebens erlebbar macht. Sie bündelt Grundelemente »gereiften Lebens« und wird heute als eine kirchlich geprägte Zeit wahrgenommen. Pfingsten hingegen bildet als gegenwärtig »schwächste« Festsequenz eine besondere HerausDas Kirchenjahr
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forderung. Hier kommt die gottesdienstliche Praxis am wenigsten in gebundenen Formen unter, die es an dieser Stelle – zwischen Kirchentag, Gemeindefest und Pilgerweg – für verschiedene Gestaltungsorte offen zu halten gilt. Zusammengefasst: Das Kirchenjahr vollzieht sich nicht nur äußerlich als jährlich wiederkehrendes Ritual: Es hält geistliche Räume für Gottesbegegnungen bereit, in die wir uns selbst nicht hineinversetzen können. Wo sie einmal entstanden und ausgeprägt worden sind, können vergangene und noch vor uns liegende eigene Erfahrungen spirituell – ein Trauerfall, eine persönliche Krise, Situationen der Angst, aber auch eine überstandene Not, eine Heilung usw. – begleitet, vertieft und vorbereitet werden. Die Verheißung und Kraft der Kirchenjahrestradition besteht darin, dass wir immer wieder neu in den heilsamen Zeitrhythmus Gottes des Schöpfers, Erlösers und Vollenders »versetzt werden« und sich damit geistliche Erfahrungen ausprägen, die sich im Alltag als tragfähig erweisen.
3 Rollen, Ämter und Dienste im Gottesdienst 3.1 Die Ausprägung von Rollen und Ämtern – Drei-Ämter-Struktur Überall dort, wo Menschen miteinander kommunizieren, entstehen spezifische Aufgaben und bilden sich entsprechende Rollen heraus. Das gilt vor allem dort, wo Kommunikation nach festen Regeln erfolgt, wie zum Beispiel bei einer Sportveranstaltung, in der es Akteure und Zuschauer, Schiedsrichter und Helfer gibt. Das gilt auch für das »heilige Spiel« der Liturgie, zu dem sich Menschen vor Gott versammeln. Damit es gelingt, benötigt man Personen, die sich in diesem Geschehen auskennen und die in ihm eine bestimmte Rolle übernehmen. Vor allem wegen dieser besonderen Rollen im Gottesdienst haben sich von Anfang an klare Ämter in der christlichen Gemeinde herausgebildet. Man nimmt an, dass es in den urgemeindlichen Hausgottesdiensten zunächst die jeweiligen Hausväter bzw. auch Hausmütter (vgl. Apg 16,14f) waren, die in die Häuser einluden und den gottesdienstlichen Mahlzeiten vorstanden. Aus der Gemeinde in Korinth 72
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
wissen wir, dass hier viele Dienste nebeneinander bestanden, dass sie in ihrer Vielzahl zwar eine rege Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst ermöglichten, mitunter aber auch Anlass für manche Verwirrung waren. Deshalb schaltete sich Paulus ordnend ein (1. Kor 12, 28–30; 14, 23–40). Aus den ursprünglich spontan eingenommenen Rollen (vgl. 1. Kor 14) entstanden spätestens an der Wende zum 2. Jahrhundert zunehmend feste Funktionen für die Leitung der Gemeinden und die Durchführung der Gottesdienste. So kristallisierten sich vielerorts drei Ämter heraus, die für die Folgezeit bestimmend wurden: das Amt des Episkopos (Vorsteher, Aufseher, später: Bischof), des Presbyters (Ältester, später: Priester) und des Diakonos (Diener, Tischdiener, Diakon). Diese Struktur ist bis heute in den großen Kirchen der Ökumene gültig und wurde u. a. auch in der Lima-Erklärung von 1982 zum Amt festgehalten. Drei Überlegungen waren dabei wichtig: »Das ordinierte Amt sollte in einer persönlichen, kollegialen und gemeinschaftlichen [Hervorhebung JA] Weise ausgeübt werden. Persönlich dadurch, dass auf die Präsenz Christi unter seinem Volk am wirksamsten durch eine Person hingewiesen kann, die ordiniert worden ist, um das Evangelium zu verkündigen, und die Gemeinschaft dazu ruft, dem Herrn in Einheit von Leben und Zeugnis zu dienen. Kollegial, deshalb, weil es eines Kollegiums von ordinierten Amtsträgern bedarf, die an der gemeinsamen Aufgabe teilhaben, die Anliegen der Gemeinde zu vertreten. Schließlich muss das enge Verhältnis zwischen dem ordinierten Amt und der Gemeinschaft Ausdruck finden in einer gemeinschaftlichen Dimension, in der die Ausübung des ordinierten Amtes im Leben der Gemeinschaft verwurzelt sein muss und die wirksame Teilnahme der Gemeinschaft an der Erkenntnis von Gottes Willen und der Leitung des Geistes fordert.« (Lima-Erklärung, A 26)
Inzwischen haben sich auch die Gliedkirchen der GEKE nach einem umfänglichen Lehrgespräch (verabschiedet bei der Generalversammlung in Florenz 2012) zum Thema geäußert. Auch hier wird eine dreifache Ämterstruktur festgehalten, die sich allerdings vom röm.-kath. Verständnis darin unterscheidet, dass diese nicht als von Gott eingesetzt gilt, sondern als eine geschichtlich sich ändernde de iure humano gegebene Größe betrachtet wird. Eine episkopale Sukzession (wie im röm.-kath. Zusammenhang) wird nicht vertreten. Die Ämterlehre ist an zwei zentralen Kriterien zu prüfen, dem Kriterium der Schriftgemäßheit (inkl. Bekenntnisgemäßheit) und der Wirklichkeitsgemäßheit (vgl. Leuenberger Texte 13, 112–115). Man Rollen, Ämter und Dienste im Gottesdienst
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spricht dezidiert von einer »Ordnung der Ämter«, die im dreifachen Amt Christi (König, Priester, Prophet) gründet, aber nicht »hierarchisch verstanden werden sollte« (vgl. 118f). Das ganze christliche Leben wird als »vernünftiger Gottesdienst« (Röm 12,2) begriffen, der sich in drei unverzichtbaren bestimmten Diensten abbildet (vgl. 120–140). Diese sind: 1. Der Dienst an Wort und Sakrament (ministerium verbi) 2. Der diakonische Dienst 3. Der Dienst der Episkopé (inkl. des Ältesten- oder Presbyteramtes) Als besondere Herausforderung wird die Verhältnisbestimmung des Dienstes an Wort und Sakrament zu den anderen Diensten betrachtet und festgehalten, dass dieses »Amt in unterschiedlichen Formen geordnet und ausgeübt werden kann« (vgl. 127). 3.2 Ordiniertes Amt und Priestertum aller Getauften Auch wenn sich die großen Konfessionen im Blick auf das jeweilige Verständnis des kirchlichen Amtes gegenwärtig oft nicht einig sind, stimmen sie doch in zwei Grundfragen überein: 1. Öffentliche Gottesdienste sollen von Personen geleitet werden, die von der jeweiligen Kirche berufen, ordiniert bzw. geweiht worden sind und denen damit dieses Amt der Kirche offiziell übertragen worden ist. In der katholischen Kirche oder in der orthodoxen Kirche sind das Priester, in der evangelischen Kirche Pfarrer bzw. Pastorinnen. 2. Der Gottesdienst soll als Feier der ganzen versammelten Gemeinde verstanden und so gestaltet werden, dass sie sich an ihm aktiv beteiligen kann. Was im röm. -katholischen Kontext seit dem II. Vaticanum mit dem Begriff des Volkes Gottes und seiner participatio actuosa (= aktive Beteiligung) umschrieben wird, findet nach reformatorischem Verständnis seinen Ausdruck in der Lehre des allgemeinen Priestertums aller Getauften: Demnach ist die Verkündigung des Evangeliums allen Christen anvertraut. Martin Luther schreibt in seiner reformatorischen Hauptschrift an den christlichen Adel deutscher Nation: »Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, dass es schon Priester, Bischof oder Papst geweiht sei«. (WA 6, 408). 74
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Keiner und keine kann sagen, dass er oder sie nicht durch die Taufe bevollmächtigt und durch den Heiligen Geist begabt und beauftragt sei, anderen Menschen die frohe Botschaft von Jesus Christus weiterzusagen. In einer Empfehlung der Bischofskonferenz der Vereinigten Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) heißt es dazu: »Weil Gott seinen Glauben weckenden und Kirche schaffenden Geist nur durch die äußeren Zeichen von Predigt und Sakrament gibt, darum nimmt Gott auch stets Menschen in Anspruch, die sich in den Dienst der Wortverkündigung und Sakramentsfeier berufen lassen. Dieses Verkündigungsamt ist der Glaubensgemeinschaft von Gott gegeben, und zwar so, dass es allen Glaubenden aufgetragen ist und dass es zugleich der Gemeinschaft der Glaubenden als Aufgabe der öffentlichen Verkündigung aufgetragen ist.« (Ordnungsgemäß berufen, 5)
Diese Überlegungen gehen zurück auf den zentralen Artikel V der Augsburger Konfession. Darüber hinaus hat man sich auch dazu geäußert, wie öffentliche Verkündigung in der Kirche geregelt werden soll. Dabei handelt es sich um eine menschliche Festlegung, nicht um eine göttliche Setzung. So wird in Art. XIV gelehrt, dass das öffentliche Amt der Predigt und Sakramentsverwaltung einer ordentlichen Berufung bedarf. Diese geht, ohne dass damit eine bleibende Prägung (character indelebilis) – wie im katholischen Weiheverständnis – verbunden wäre, über das verkündigende Amt des allgemeinen Priestertums hinaus und ist in der Regel mit einem akademischen Studium verbunden. Dazu nochmals die Verlautbarung der evangelischen Bischofskonferenz: »Im Blick auf die öffentliche Verkündigung – Predigt und Sakramentsverwaltung – ist es erforderlich, dass das grundsätzlich jedem Christenmenschen zukommende Priesterrecht hier nur von Personen wahrgenommen wird, die ordnungsgemäß berufen sind, dieses Recht im Namen aller und für alle auszuüben.« (VELKD, Ordnungsgemäß berufen, 17)
Damit soll der Unordnung gewehrt, die Kompetenz der Predigenden gestärkt und ein im Wesen von Kirche begründetes Gegenüber von Wort und Glaube abgebildet werden: Denn das was uns selig macht, das befreiende und tröstende Wort, können wir uns nicht selbst sagen. Dass diese ordentliche Berufung dann über Jahrhunderte im lutherischen Kontext fast exklusiv an das »eine Pfarramt« gebunden worden ist, ist theologisch nicht zwingend, es wäre auch eine Drei- oder Vierämterstruktur, abgeleitet vom Amt Christi (vgl. Calvins Lehre mit Hirten, Lehrern, Ältesten, Gemeindedienern nach Eph 4) denkbar. Rollen, Ämter und Dienste im Gottesdienst
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Die Fokussierung auf das Pfarramt hat vielfach eine Betreuungsmentalität mit großem (Macht-)Gefälle zwischen Ordinierten und Nichtordinierten befördert. Dies wurde schon in den sog. TampereThesen von 1986 zwischen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa und den lutherischen Kirchen Skandinaviens kritisch angemerkt: »Als lutherische, reformierte und unierte Kirchen müssen wir bußfertig erkennen, dass die Träger des ›ordinierten Amtes‹ ihre Aufgabe nicht immer als Dienst verstanden, sondern als Herrschaft ausgeübt haben, dass sie die ›Laien‹ entmündigten oder ihnen statt mit dem Evangelium mit Moral dienten. Die heute zu beobachtende Krise des Pfarramtes hängt mit einer Krise des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen zusammen. Dafür sind auch die kirchlichen Amtsträger mitverantwortlich, weil sie nicht hinreichend die Mitverantwortung des allgemeinen Priestertums für die Verkündigung des Wortes anerkannt haben. Christen missverstehen sich selbst als Privatmenschen mit christlichen Interessen und fühlen sich für die Verkündigung des Wortes, für den Gottesdienst und für den Aufbau und das Wachstum der Gemeinde nicht selbst verantwortlich. Der Gottesdienst wird so für den einzelnen Christen eine Privathandlung. Die Kirche als Institution bewahrt dann eine Öffentlichkeit, die ohne Körper ist und auf die Dauer absurd wird. Mit dem Öffentlichkeitsschwund der Gemeinde wächst so die Öffentlichkeit des besonderen Amtes. In seiner Person soll der Pfarrer allein die Öffentlichkeit der Kirche repräsentieren. Er soll Pfarrer für alles und alle sein. Was die Gemeinde nicht mehr kann und will, wird dem Pfarrer überlassen.« (Leuenberger Texte 2, Tampere-Thesen, These 6, S. 31)
Eine Generation später sind wir sicher etwas weiter. Ehrenamtliches Engagement im Gottesdienst hat sich deutlich ausgeweitet und vertieft (vgl. unten 3.3). Die Agende der VELKD zu »Berufung – Einführung und Verabschiedung« (2012) unterscheidet grundsätzlich zwischen der Ordination und einer Beauftragung (pro loco et tempore) von Prädikantinnen und Prädikanten. Damit sind auch unterschiedliche Erwartungen an die theologische Kompetenz verbunden. Sprachlich ist auch von Seiten der Einführenden an die Stelle des »bischöflichen Ich« vielfach ein »presbyteriales Wir« getreten (Einführung, 12). Theologisch beschreibt man die Grundsätze evangelischer Verkündigung so, dass die ordentliche Beauftragung mit der inhaltlichen Bindung an das Evangelium und der gemeinsamen Verantwortung für die Einheit der Kirche begründet wird. Damit wird auch auf »Ordnungsgemäß berufen« verwiesen: 76
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»Dieses Amt der öffentlichen Verkündigung ist nach den Grundsätzen reformatorischer Theologie eines. Es wird unter Gebet und Handauflegung und Bitte um den Heiligen Geist durch die Kirche – in der Regel durch eine Inhaberin oder einen Inhaber des bischöflichen Amtes – übertragen. Personen, denen das Amt der öffentlichen Verkündigung übertragen wurde, reden, handeln im Auftrag der Kirche und unter der Verheißung Jesu Christi … sie sind dadurch, dass sie das Ursprungszeugnis öffentlich verkündigen, in ihrem Reden und Handeln der Einheit der Kirche verpflichtet. Insofern ist das Amt der öffentlichen Verkündigung bezogen auf die Katholizität und Apostolizität der Kirche.« (Ordnungsgemäß berufen, 18)
Die Agende unterscheidet nicht mehr – wie bis ca. 2010 fast überall üblich – substanziell zwischen öffentlicher Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung. Insgesamt gilt in fast allen Landeskirchen, dass Pfarrerinnen und Pfarrer ordiniert und Prädikantinnen und Prädikanten pro loco et tempore beauftragt werden. Wenige Landeskirchen ordinieren auch Diakone, so wie dies seit langem in Skandinavien geschieht. Auf der Grundlage der Diskussion der letzten Jahre plädiere ich terminologisch für eine Unterscheidung des einen Amtes der Verkündigung, das auf den Auftrag Jesu Christi an alle Getauften zurückgeht, von der (kirchlichen) Ordnung der Ämter und Dienste. Hier ist eine Ausdifferenzierung der Dienste aufgrund ihrer Tätigkeiten in der Kommunikation des Evangeliums, die sich in diversen kirchlichen Lebensäußerungen (leiturgia, kerygma, martyria, paideia, diakonia) vollzieht, sinnvoll. Damit kann das (hierarchische) Gefälle zwischen Pfarramt und anderen Diensten im Geist der Gemeinschaft und der Liebe Christi hoffentlich weiter nivelliert werden. Aktuell entdecken zahlreiche Landeskirchen den Schatz ihrer personellen Ressourcen neu und diskutieren über die Chance von sog. »multiprofessionellen Teams«. 3.3 Gemeinde feiert Gottesdienst Die Beteiligung der Gemeinde ist ein unverzichtbares Kennzeichen des evangelischen Gottesdienstes. Im EGb wird sie als erstes Kriterium evangelischer Liturgie aufgeführt: »Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert. […] Die Gemeinde, die von Gott mit der Vielfalt von Geistesgaben beschenkt wird, soll sich mit all diesen Gaben, Fähigkeiten und Erkenntnissen am Gottesdienst beteiligen.« (EGb, 15) Rollen, Ämter und Dienste im Gottesdienst
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Die Beteiligung der Gemeinde kann durch ein aktives Mitfeiern der gesamten Gottesdienstgemeinde zum Ausdruck kommen, etwa durch das gemeinsame Singen der Lieder oder das gemeinsame Sprechen des Glaubensbekenntnisses und der Gebete. Sie wird aber auch dadurch erkennbar, dass im Gottesdienst einzelne Gemeindeglieder mit den Ordinierten zusammenwirken und dass sie verschiedene herausgehobene liturgische Rollen, z. B. die Lesungen oder Abkündigungen, übernehmen. Hier hat sich in den letzten Jahren einiges getan: Viele ehrenamtliche Gemeindeglieder und Ordinierte befinden sich in einem Lern- und Veränderungsprozess. Ehrenamtliche engagieren sich in Gottesdienst- und Singteams. Viele merken, dass die Verkündigung des Evangeliums nicht ausschließlich mit der Predigt im Gottesdienst identifiziert werden darf, sondern mit dem gesamten Verkündigungsgeschehen eines Gottesdienstes – unter Einschluss der Lesungen, der Lieder, der Musik des Chores, der Begrüßung und der Abkündigungen, aber auch mit der Feier des Abendmahls. Weil diese Aufgabe so umfassend und vielfältig ist, spielen die Personen, die daran teilhaben, nicht nur eine entbehrliche »Zusatzrolle«, sie haben vielmehr Anteil an der »Hauptrolle«, von Gott her und zu ihm hin zu reden, Sprachrohr zu sein für Gottes Geist. 3.4 Kantorinnen, Prädikanten und Lektorinnen, Gottesdienstteams Gerade im evangelischen Gottesdienst kommt den Verantwortlichen für die Kirchenmusik eine besonders wichtige Aufgabe zu. Ob ein Gottesdienst gelingt, hängt maßgeblich davon ab, wie Pfarrerin und Kantor bei der Vorbereitung und Durchführung zusammenarbeiten. Aber mehr noch: Wenn Musik nicht nur als schmückendes Beiwerk, sondern als tragende Kraft des evangelischen Gottesdienstes, mithin als klingendes Wort Christi (Kol 3,16, vgl. Eph 5,19), verstanden wird, dann ist langfristig auch zu überlegen, ob nicht das Kantorenamt als verkündigendes mt (vgl. III.6.2) mit einer zeitlichen Beauftragung oder gar mit der Ordination auszustatten ist. Die Verantwortung der ganzen Gemeinde für den Gottesdienst kann auch dadurch zum Ausdruck kommen, dass einzelne Gemeindeglieder nach einer entsprechenden Ausbildung als Prädikantinnen die 78
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Leitung von Gottesdiensten (inkl. Abendmahl) übernehmen. Die Kurse für Lektorinnen und Prädikanten sind gut nachgefragt, ja vielfach weit im Voraus ausgebucht. In einzelnen Landeskirchen dürfen sie seit einiger Zeit auch die Abendmahlsfeier leiten. Zu diesem Amt werden sie nach einer längeren Ausbildung von der Kirche in einem besonderen Gottesdienst beauftragt (pro loco et tempore, d. h. für eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Ort) oder sogar ordiniert. Davon unterscheidet sich das Amt der Lektoren, die keine eigene Predigt formulieren, sondern eine Lesepredigt halten, ansonsten aber auch einen Wortgottesdienst leiten dürfen. Wo in einer Region oder einem Kirchenkreis sog. Lektorenkreise entstehen, besteht eine Chance zu einem neuen theologischen und geistlichen Aufbruch. Menschen, die sich für Fragen des Gottesdienstes interessieren und Verantwortung dafür übernehmen, werden dringend gebraucht. In zahlreichen Gemeinden haben sich sog. Gottesdienstteams oder Liturgiekreise gebildet, um über den Gottesdienst nachzudenken und konkrete Gottesdienste vorzubereiten bzw. auszuwerten. In manchen Gemeinden kümmern sie sich besonders intensiv um alternative und neue Gottesdienstformen (vgl. unten IV.3). Damit wird die im Gottesdienstbuch gewünschte Beteiligung deutlich vorangebracht. Eine passive »Betreuungshaltung« wird aufgebrochen, das Priestertum aller Getauften wird lebendig in Vorbereitung und Vollzug des Gottesdienstes. Wichtig ist auch, dass Dienste, die in großer Beständigkeit unauffällig im Hintergrund geschehen, wie z. B. die des Küsters/der Mesnerin, besonders gewürdigt werden und den hier tätigen Personen immer wieder öffentlich gedankt wird. Weitere Rollen könnten ein Begrüßungsdienst zu Beginn des Gottesdienstes sein; eine schöne Aufgabe ist die Verkündigung im Kindergottesdienst. Auch hier wird auf eine sorgfältige Ausbildung geachtet, die zuweilen sogar mit einem Zertifikat (z. B. KIGO-Card) verbunden ist. Auch die inhaltliche Mitgestaltung des Fürbittengebets ist eine gute Möglichkeit, das Leben im Alltag mit dem Gottesdienst besser zu vernetzen und zu zeigen: Wir stehen als Gemeinde zusammen vor Gott für die Welt ein. In manchen Landeskirchen hat ein neues Nachdenken darüber begonnen, wie man in Gemeinden, die mehrere Predigtstellen haben Rollen, Ämter und Dienste im Gottesdienst
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verfahren soll, die nicht mehr von der Pfarrerin allein bzw. von Prädikanten »versorgt« werden können. Hier lassen sich Menschen, denen ihre Kirche am Ort besonders am Herzen liegt, für die neue Aufgabe begeistern, einfache kleine Formen von Gottesdienst ohne Schriftauslegung verantwortlich zu übernehmen. Zuweilen werden sie Gemeindekuratoren (»Kümmerer«, vgl. www.gemeindekuratoren.de) genannt. 3.5 Gottesdienstordnungen und Agenden All dies hat in einem kirchlich verantworteten Rahmen zu geschehen. Die Predigt als Auslegung des biblischen Zeugnisses und die Darreichung der Sakramente ist – wie schon gesagt – ordentlich berufenen Christinnen und Christen vorbehalten. Auch der gottesdienstliche Vollzug soll nach bestimmten Spielregeln stattfinden. Dazu werden von den Kirchenleitungen sog. Agenden (lat. agenda = das, was zu tun ist) erlassen. In den meisten Gliedkirchen der EKD ist seit 1999 das sog. Evangelische Gottesdienstbuch in Gebrauch. Innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens, der sich an einer drei- bzw. vierteiligen Grundstruktur (vgl. II.4) mit variablen Elementen orientiert, sollen Kirchenvorstände (Presbyterien) ihre gemeindliche Gottesdienstordnung gemeinsam mit dem Pfarramt abstimmen. Die konkrete Gestaltung und Leitung der Gottesdienste liegt also nicht nur bei der Pfarrerin, sondern soll im kollegialen Zusammenspiel namentlich mit der Kirchenmusikerin sowie in Absprache mit dem Kirchenvorstand (dem Gottesdienstteam) und dem Küster geschehen. Der Gemeindegesang orientiert sich am Bestand des Evangelischen Gesangbuchs, kann aber durch aktuelle Lieder ergänzt werden. In der Predigt wird zwischen insgesamt sechs sog. Predigtreihen abgewechselt, alle sieben Jahre also wieder derselbe Text gepredigt. Besonders prägend ist dabei das sog. altkirchliche Evangelium, das in der Regel auch dann vorgelesen wird, wenn es nicht gepredigt wird. Es bestimmt das thematische Gepräge des Sonntags wesentlich (vgl. auch III 4). Neben den sog. Perikopenpredigten (perikope = das Ausgeschnittene) sind auch Lied-, Reihen- oder Themenpredigten (z. B. biblische Figuren, aber auch zu den liturgischen Stücken) möglich. Wenn sich die Gemeinde versammelt, denkt sie immer auch an bedürftige Menschen. Deshalb wird im Vorfeld der Zweck der Kollekte (Opfer) durch sog. Kollektenpläne festgelegt. 80
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
4 Zur dramaturgischen Struktur des evangelischen Gottesdienstes Ein evangelischer Gottesdienst, der sich am Evangelischen Gottesdienstbuch orientiert, folgt einem roten Faden, einer inneren Festdramaturgie, vergleichbar in mancherlei Hinsicht mit einem kunstvoll inszenierten Theaterstück oder Film. Im deutschsprachigen Raum liegt dem Gottesdienst gewöhnlich eine einheitliche Struktur zugrunde, die aus drei (ohne Abendmahl) bzw. vier Sequenzen oder Abschnitten besteht. Der Strukturbegriff hat sich im Zusammenhang der Erneuerung der Agende bzw. der Entstehung des Ev. Gottesdienstbuches in den 1990er-Jahren herausgebildet (vgl. Schwier). In jedem Falle ist dabei der Rhythmus von Eröffnung (A), Verkün digung (B) und Sendung (D) prägend. Dies gilt für die festliche Messe (Grundform I) ebenso wie für die leichter verständliche Elementarform (Grundform II) des Predigtgottesdienstes, der allerdings auch mit Abendmahl gefeiert werden kann. Er ist besonders im Südwesten Deutschlands beheimatet und stammt aus dem Prädikantengottesdienst des ausgehenden Mittelalters, einer Zeit, in der man aufgeführt hatte, biblische Texte auszulegen und zu predigen. Daraufhin wurden Stiftungen (Prädikaturen) für fähige, meist akademisch ausgebildete Prediger in größeren Städten eingerichtet, die am Vorabend der Messe jenen katechetisch geprägten Gottesdienst in deutscher Sprache leiteten. Ich versuche nun, Grundform I und Grundform II so zu beschreiben, dass ihre Unterschiede transparent werden, zugleich aber auch die Einheitlichkeit der Struktur erkennbar bleibt. Die mittlere Spalte bietet (in Abschnitt A und C) eine Variante zu Grundform I. Tab. 1: Grundformen des evangelischen Gottesdienstes Grundform I (Messe)
Grundform I (Variante)
Grundform II
Eröffnung und Anrufung Eröffnung und Anrufung (A)
Eröffnung und Anrufung
Glockengeläut
Glockengeläut
Glockengeläut
Musik zum Eingang
Musik zum Eingang
Musik zum Eingang
Votum zur Eröffnung
Lied
Lied
Zur dramaturgischen Struktur des evangelischen Gottesdienstes
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Grundform I (Messe)
Grundform I (Variante)
Grundform II
Gruß
Votum zur Eröffnung
Votum zur Eröffnung
Vorbereitungsgebet
Gruß
Gruß
Lied
Psalm/Bibelwort
Bibelwort/Psalm
Psalm
Ehre sei dem Vater
Ehre sei dem Vater
Ehre sei dem Vater (Gloria Patri)
Bußgebet/ Sündenbekenntnis
Herr, erbarme dich (Kyrie)
Herr, erbarme dich (Kyrie) Gnadenzusage
Ehre sei Gott (Gloria)
Ehre sei Gott (Gloria)
Tages-/Kollektengebet
Tagesgebet
Tages-/Eingangsgebet
Verkündigung und Bekenntnis (B)
Verkündigung und Bekenntnis, vgl. linke Spalte
Verkündigung und Bekenntnis (B)
Alttestamentliche Lesung Gesang Epistel (Lesung aus den Briefen des Neuen Testamentes)
Schriftlesung
Halleluja
Gesang/Musik
Evangelium [Glaubensbekenntnis (Credo)]
[Glaubensbekenntnis]
Gesang
Lied
Predigt
Predigt
Gebet/ Schuldbekenntnis
Gebet und/oder Schuldbekenntnis (offene Schuld)
Kanzelsegen
Zusage der Vergebung
Lied/Musik/Stille Glaubensbekenntnis (Credo)
Glaubensbekenntnis
Dankopfer mit Lied/ Musik
Lied/Musik/Stille
Gebet zum Dankopfer Abkündigungen/ Mitteilungen Fürbittengebet
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Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
Grundform I (Messe)
Grundform I (Variante)
Grundform II
Abendmahl (C)
Abendmahl (C)
Abendmahl (C)
[Dankopfer mit Lied/ Musik]
[Dankopfer mit Lied/ Musik]
Vorbereitung und Lobgebet
Vorbereitung und Lobgebet
Heilig, heilig (Sanctus)
Heilig, heilig (Sanctus)
Abendmahlsgebet I
Vaterunser
Einsetzungsworte
Einsetzungsworte
Christuslob
Abendmahlsbetrachtung Einsetzungsworte Abendmahlsgebet
Abendmahlsgebet II Vaterunser
[Vaterunser]
Friedensgruß
Friedensgruß
Lamm Gottes (Agnus Dei)
Lamm Gottes (Agnus Dei)
Einladung und Austeilung
Austeilung
Austeilung
Dankgebet (Psalm 136)
Dankgebet
Dankgebet (Psalm 103)
Sendung und Segen (D)
Sendung und Segen (D)
Sendung und Segen (D)
Fürbitten
s. linke Spalte
Fürbittengebet
Vaterunser
Vaterunser
Lobpreis/Lied Abkündigungen
Abkündigungen
Sendungswort
Dankopfer mit Lied
Liedstrophe
Lied
Segen
Segen
Musik zum Ausgang
Musik zum Ausgang
Zunächst geht es darum, anzukommen. Die Gemeinde hat sich von zuhause – vielleicht schon unter dem Geläut der Glocken – auf den Weg gemacht und lässt den (Sonntags-)Alltag hinter sich. Am Eingang wird sie nach Möglichkeit von freundlichen Menschen empfangen, die ein Gesangbuch oder Liedblatt austeilen und einen gesegneten Gottesdienst wünschen. Dann heißt es: Platz nehmen und der Musik lauschen. Meist wird man Orgelklänge hören, ein Präludium, ein Choralvorspiel oder eine freie Improvisation. Zuweilen musiziert auch ein Posaunenchor oder ein Blockflötenkreis, vielleicht singt hier schon die Kantorei, der Gospelchor, oder es spielt eine Band. Von dieser Beteiligung lebt Zur dramaturgischen Struktur des evangelischen Gottesdienstes
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der Gottesdienst in allen seinen Sequenzen. Bei festlichen Anlässen ziehen die liturgischen »Akteure« zur Musik ein. Daher hat der alte Begriff (Introitus = Einzug) seinen Namen. Bis heute ist besonders im lutherischen Bayern die Tradition lebendig, dass zu Beginn eine Schola (Singgruppe) mit einem gesungenen Psalm den Gottesdienst eröffnet. Darauf folgt – wie bei einem anderen Fest auch – eine Begrüßung durch den Gastgeber. Freilich ist damit nicht die Pastorin gemeint, sondern Gott selbst. Durch den liturgischen Gruß Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!
wird der Versammlung die Freundlichkeit des dreieinigen Gottes mitgeteilt, der sie somit selbst willkommen heißt. Zuweilen wird er auch treffend als Eingangssegen bezeichnet. Das feierliche Votum Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes
erinnert die Gemeinde an die Taufe. Sie antwortet darauf mit Amen. Der göttliche Name bürgt dafür, dass Gott selbst für die Feier verantwortlich ist und seine Verheißung einlöst: Wo zwei oder drei sich versammeln in meinem Namen, bin ich mitten unter ihnen (vgl. Mt 18,20). Den Liturgen steht es frei, welche der beiden geprägten Formen sie verwenden, auch beide hintereinander sind denkbar. Wichtig ist, dass bereits zu Beginn das dialogische Wechselspiel von Gott her und wieder zu ihm hin aufgenommen wird. Eine andere traditionelle Eröffnung lautet: Liturg: Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn. Gemeinde: Der Himmel und Erde gemacht hat.
In aller Regel schließt sich eine freie Begrüßung an, die das Thema des Gottesdienstes vorstellt und Interesse weckt an dem, was kommt. Vielfach wird ein biblisches Motto (z. B. Wochenspruch) genannt, der einen ersten Hinweis auf das Thema des Sonntags gibt. So wie man bei einem schönen Fest nicht gleich den Hauptgang serviert bekommt, sondern am Eingang begrüßt und an die Garderobe geführt wird, eröffnet der Beginn des Gottesdienstes die Möglichkeit, sich 84
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
auf ein frohes Feiern, gespanntes Hören und Gott zugewandtes Beten einzulassen. Genauso wenig wie in einem guten Film das Ende vorweg genommen wird, ist das Thema sorgfältig zu exponieren und dann in Ruhe zu entfalten, so dass man innerlich (gespannt) mitgehen und am Ende die »Auflösung« nachvollziehen kann. Die Kunst einer gelungenen Eröffnung liegt in der guten Balance, neugierig zu machen, ohne alles vorwegzunehmen; persönlich zu begrüßen, ohne privat zu werden; authentisch zu sein, ohne das Gespür für die öffentliche geprägte Form des Gottesdienstes zu verlieren. Es geht darum, Interesse zu wecken und eine Atmosphäre der Ruhe und Konzentration zu fördern.
Im Eröffnungsteil scheiden sich nach der Begrüßung die Wege, je nachdem, ob man im lutherischen (z. B. Bayern, Sachsen, Hannover, vgl. linke Spalte), unierten (z. B. Rheinland, Westfalen oder Brandenburg, vgl. mittlere Spalte) oder im reformierten Bereich (bzw. in Württemberg oder der Pfalz, vgl. rechte Spalte) einen Gottesdienst besucht. Die klassische Grundform I (erste Spalte) kennt noch das sog. Vorbereitungsgebet (lateinisch: Confiteor = Sündenbekenntnis), das die menschliche Unvollkommenheit und Sünde vor Gott bringt. Die Liturgin stellt sich mit der Gemeinde vor Gott und bittet um sein Erbarmen. L: Wir sind versammelt, um Gottes Wort zu hören [und das Mahl des Herrn] zu feiern. Gott begegnet uns in seiner großen Güte. Vor ihm erkennen wir aber auch, was uns von ihm trennt. Darum lasst uns ihn um sein Erbarmen bitten. Gebetsstille L: Der allmächtige Gott erbarme sich unser. Er vergebe uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben. G: Amen.
Diese liturgische Form wird in manchen Landeskirchen sehr regelmäßig, in anderen dagegen nur an einzelnen Sonntagen bzw. zum Buß- und Bettag begangen, was man durchaus als Verlust empfinden kann. Andere möchten dagegen gerade zu Beginn des Gottesdienstes nicht mit Schuld und Scheitern konfrontiert werden, sondern fröhlich in die Feier des Dreieinigen gehen. Beide Gedanken haben ihr theologisches Recht und sollten bei der Gestaltung des ganzen Gottesdienstes bedacht werden. Wo das Sündenbekenntnis als »Garderobengebet« nicht vorkommt, intoniert die Gemeinde eine Zur dramaturgischen Struktur des evangelischen Gottesdienstes
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gesungene Bitte um den Heiligen Geist, ein Morgen- oder Psalmlied. Stattdessen (oder zusätzlich) kann auch ein Psalm gesprochen oder gesungen werden, mit dem die Gemeinde in das über 2000 Jahre alte Gebet Israels einstimmt: mit Klage und Lob, Bitte und Dank. Manchmal erschließt sich der Gemeinde hier das Thema des Sonntags (z. B. Judika, d. h. Schaffe mir Recht, Gott; Ps 43,1). Psalmen können im Wechsel zweier Gruppen (antiphonal), im Wechsel von Liturgin und Gemeinde (responsorial) oder von allen gemeinsam gesprochen bzw. nach einfachen Modellen gesungen werden. Ein Lobpreis des Dreieinigen, das Ehre sei dem Vater und dem Sohn … (Gloria Patri), der seit dem frühen Mittelalter das klösterliche Psalmgebet beendet, schließt den Psalm (mit Ausnahme der Karwoche) ab. Damit erweist die Gemeinde dem ewigen Gastgeber ihre Ehrerbietung und bekennt die Freude an seiner Gegenwart. In der schlichten Grundform II folgt nun schon das Eingangsgebet, das innerlich auf die Begegnung mit Gott in der Verkündigung einstimmt. In Grundform I dagegen gehen dem Tages- oder Kollektengebet Kyrie und Gloria voraus. Beide sind altehrwürdige Stücke biblischen Ursprungs. Sie gehören zu den (fast) jeden Sonntag wiederkehrenden Stücken (sog. Ordinarium = das Regelmäßige, vgl. III.1). Das Kyrie streckt sich aus nach dem Erbarmen Gottes, der als Herr (= Kyrios, griechische Übersetzung des hebräischen Gottesnamens JHWH) angerufen und ausgerufen wird. Ganz anders das Gloria (Ehre sei Gott in der Höhe): Mit diesem Lob stimmt die Gemeinde ein in den Jubel der himmlischen Chöre (Lk 2,14) und preist Gottes Schönheit. Beide Stücke zusammen genommen, bringen das Ganze menschlicher Not und Angst, aber auch das Spezifische christlicher Hoffnung und Freude vor Gott. In vielen unierten Gemeinden werden die Gesänge des Kyrie, das hier mit einem Sündenbekenntnis verbunden ist, und des Gloria in der Mitte durch einen Gnadenspruch heilsam unterbrochen. Ein Wort Gottes wie »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid …« bildet gleichsam die Erhörung auf das Flehen des Kyrie. Dazu wendet sich der Liturg der Gemeinde zu und teilt ihr Gottes Erbarmen mit, worauf diese mit dem Lobgesang antwortet. Insgesamt ist der Eingangsteil (A) von Grundform I für Ungeübte oft 86
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
nicht leicht durchschaubar, folgt aber einer alten Tradition im Westen (Europas), die uns mit allen katholischen Christen verbindet und weltweit einen hohen Wiedererkennungswert hat. Nun folgt der zweite Teil (B) des Gottesdienstes, in dem Verkündigung und Bekenntnis im Mittelpunkt stehen. Er lässt sich als Wechselschritt von Anrede und Antwort, Wort Gottes und Lied beschreiben. In Grundform II geschieht dies schnörkellos mit Schriftlesung, Lied und Predigt, der – unter Umständen nach Gebet und Schuldbekenntnis – das Glaubensbekenntnis folgt. In der Messform werden klassischerweise drei, evtl. sogar vier biblische Lesungen vorgetragen: eine alttestamentliche (fakultativ) bzw. eine aus den neutestamentlichen Briefen (Epistel), eine aus den Evangelien und der Predigttext. Hilfreich ist es, wenn bisweilen kleine Hinführungen (Präfamina) vorangestellt oder beim Vortrag der Lesungen unterschiedliche Stimmen zum Einsatz kommen. Dadurch wirkt das Wort der biblischen Zeugen lebendig und aktuell. Zwischendurch erklingen Chorgesänge oder Gemeindelieder. Vor dem Evangelium wird das altehrwürdige Halleluja gesungen. Der Ruf stammt aus dem Hebräischen und bedeutet: Singt JA, was eine Kurzform des hebräischen Gottesnamens JHWH (adonai = Herr) ist. Der Rezitation des Evangeliums ist von alters her ein Höhepunkt im christlichen Gottesdienst, bei dem sich die Gemeinde in manchen Kirchen auch erhebt und mit kleinen Rufen die gute Botschaft von Christus preist. Darauf folgt nach dem Wochenlied die Predigt, die in aller Regel einen inhaltlichen Höhepunkt des evangelischen Gottesdienstes darstellt. Gottes Wort wird durch eine von der Kirche berufene Person in lebendiger Weise für die Gegenwart ausgelegt: tröstend und vergewissernd, orientierend, ermahnend oder ermutigend, aufrüttelnd oder begeisternd. Dann folgt – wenn nicht schon nach dem Evangelium – das Glaubensbekenntnis (Credo), meist in der Gestalt des altkirchlichen Apostolikums, dem traditionellen Taufbekenntnis der Kirche. Es kann auch als Glaubenslied (EG 183; 184 o. a.) gesungen oder durch ein zeitgenössisches Bekenntnis ergänzt werden. Das seltenere Nizänum (nach dem Konzil von Nicaea 325) wird besonders bei festlichen Anlässen gesungen oder gesprochen und verbindet uns ökumenisch Zur dramaturgischen Struktur des evangelischen Gottesdienstes
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mit der katholischen Messe und der »Göttlichen Liturgie« im orthodoxen Gottesdienst (vgl. III.1.2). Darauf folgt die Feier des heiligen Abendmahls (C, vgl. III.1.3 und 3). Hier unterscheiden sich wiederum deutlich Grundform 1 und 2. In der evangelischen Messe (Grundform I) wird eine feierliche eucharistische Liturgie entfaltet, die nach einem wechselseitigen Gruß zunächst vom Lobpreis Gottes geprägt ist und in das hymnische Heilig, heilig der Gemeinde mündet. An dieser Stelle berühren sich Himmel und Erde im Gottesdienst: Die irdische Gemeinde verbindet ihren Gesang mit dem Lobpreis der Engel und Erzengel, ähnlich wie es in der Tempelvision des Jesaja (Jes 6,3) beschrieben ist. Dem Sanctus schließt sich in der Regel ein feierliches Abendmahlsgebet an, das Gott, den Schöpfer, preist, des Erlösungswerkes Christi gedenkt und den Heiligen Geist um seine Gegenwart unter Brot und Wein bittet. Kern und Stern der Feier ist die Zusage der Einsetzungsworte Jesu nach den neutestamentlichen Passionsberichten, die die Stiftung und Verheißung Christi der Gemeinde vergegenwärtigt: Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset. Das ist + (Kreuzzeichen) mein Leib, der für euch gegeben wird. Solches tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Abendmahl, dankte und gab ihnen den und sprach: Nehmet hin und trinket alle daraus, dieser Kelch ist der neue Bund in + meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Solches tut, sooft ihr’s trinket, zu meinem Gedächtnis.
Die Einsetzungsworte gehören wie das Vaterunser und der Segen zu den unverrückbaren Kernstücken der Tradition und sollten unbedingt zur Gemeinde hin als Zusage gesprochen werden. Ihnen kann das altsyrische Christuslob folgen: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit. Hier ist die österliche Gewissheit der antwortenden Gemeinde zu spüren (vgl. 1. Kor 11,26). Dem Vaterunser, das evtl. auch als »Tischgebet« den Einsetzungsworten vorausgehen kann, schließt sich das Christe, du Lamm Gottes an, das Worte Johannes des Täufers aus Joh 1,29 aufnimmt und um Erbarmen und Frieden bittet (vgl. dazu auch die Neuvertonung fT 151). Darauf folgt der Friedensgruß, bei 88
Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
dem die Gemeindeglieder sich die Hand reichen oder auch einmal umarmen können. Er ist ein altes Symbol, dass Streit und Feindseligkeiten vor dem Mahl ausgeräumt sein sollen und das Abendmahl als Mahl der Versöhnung gefeiert wird. Dann wird an die Gemeinde die Einladung ausgesprochen (oder auch gesungen), zum »gedeckten« Tisch zu kommen: Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist, wohl dem, der auf ihn vertraut.
Diese Einladung kann auch gesungen werden (vgl. fT 163). Die Form der Feier kann im Halbkreis oder im Vollkreis, evtl. auch mit Stationen der Austeilung (sog. »Wandelkommunion«) erfolgen. In vielen Gemeinden wird inzwischen durch das Angebot, auch Traubensaft zu reichen, auf Kinder und Suchtkranke Rücksicht genommen. Während der Austeilung erklingt (meditative) Musik, die Gemeinde kann auch lobend und verkündigend selbst singen. In Grundform II dominiert der Verkündigungscharakter des Abendmahls. Eine den Einsetzungsworten vorausgehende Abendmahlsbetrachtung lädt zur Feier ein und verdeutlicht den Sinn der Feier. In manchen Landeskirchen (z. B. Württemberg, Sachsen) geht der Mahlfeier fast immer eine sog. Offene Schuld (Sündenbekenntnis) mit Vergebungszusage voran. Nach der Austeilung des Abendmahls dankt die Gemeinde Gott mit einem fröhlichen Lobpreis (z. B. Ps 103,1–3: oder Ps 136) oder mit einem Lied für die Gabe der Sündenvergebung und das Geschenk der Gemeinschaft mit Christus und untereinander. Der letzte Teil des Gottesdienstes (D) wird in der Regel durch die Fürbitten eröffnet. Hier wendet sich die Gemeinde gedanklich der Welt zu und bittet für Notleidende, aber auch für die Verantwortlichen in Politik und Kirche um Gottes Hilfe und Leitung. So wird deutlich: Wer auf Gott hört und ihn lobt, geht auch achtsam mit den Menschen und der Welt um. Nach einem Lied können hier die Abkündigungen verlesen werden, in denen die Gemeinde über den Opferzweck informiert und zu Veranstaltungen in der kommenden Woche eingeladen wird. Zuweilen schließen sich auch Mitteilungen zu Taufen, Trauungen und Beerdigungen an, die aber auch innerhalb Zur dramaturgischen Struktur des evangelischen Gottesdienstes
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der Fürbitten zum Klingen kommen können. Der Gottesdienst kulminiert in Sendung und Segen, mit denen sich die Tür zum Alltag wieder öffnet. Das Sendungswort ermutigt und bestärkt die Gemeinde in ihrem diakonischen und missionarischen Auftrag. Beim gesungenen oder gesprochenen Segen ist sie dagegen noch einmal schlechthin Empfangende. Gottes Beistand in der unmittelbar bevorstehenden Zukunft wird hier verheißen, sein Angesicht soll ihr leuchten ohne Bedingung. Der aaronitische Segen (4. Mose 6,24–26) lautet: Der Herr (JHWH) segne dich und behüte dich, der Herr (JHWH) lassen leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig, der Herr (JHWH) erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir + Frieden.
Die ausgebreiteten Hände der Liturgin und das Kreuzzeichen (signum crucis, daher auch der deutsche Begriff segnen) bringen die Zuwendung Gottes sinnlich zum Ausdruck. Wie ein ausgerollter Teppich in den Alltag hinein dürfen wir den Segen auffassen. Gott trägt uns. In den Zeiten der Corona-Pandemie hat sich in mancher Gemeinde der Brauch verbreitet, sich den Segen gegenseitig zuzusprechen. Auch diese Variante ist liturgietheologisch und inszenatorisch gut möglich. Sie akzentuiert das Priesteramt der Getauften, die sich das stärkende Wort gegenseitig zusprechen. Festliche oder meditative Orgel- bzw. Instrumentalmusik (ggf. zum Auszug der Mitwirkenden) beschließt den Gottesdienst.
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Die Voraussetzungen des Gottesdienstes
III Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes 1 Die wiederkehrenden Stücke nach Grundform I (Messe) Wie eben beschrieben, kennt das Evangelische Gottesdienstbuch zwei Grundformen, von denen die geläufigste und in vielen Kirchen der Welt gebräuchliche die der Messe ist. Martin Luther hat an ihr im Gegensatz zu anderen Reformatoren wie Johannes Brenz, Huldreich Zwingli oder Jean Calvin – trotz seiner Kritik an der Vorstellung des römischen Messopfers beim Abendmahl – festgehalten. Traditionell gibt es in der abendländischen Messe fünf große liturgische Gesänge, die im evangelischen Bereich in der Regel von der Gemeinde ausgeführt werden. Sie werden auch als sog. Ordinarium (im Gegensatz zum Proprium de tempore, also den kirchenjahreszeitlich wechselnden Stücken) bezeichnet. Diese fünf Gesänge finden sich in den ersten drei Strukturteilen des Gottesdienstes nach Grundform I: Gottesdienst nach Grundform I (vgl. EGb 62f) A. Eröffnung und Anrufung Kyrie eleison (»Herr, erbarme dich …«) Gloria (»Ehre sei Gott in der Höhe …«) B. Verkündigung und Bekenntnis Credo (»Ich glaube an Gott …«) C. Abendmahl Santcus (»Heilig, heilig, heilig …«) mit Benedictus (»Gelobt sei, der da kommt …«) Agnus Dei (»Christe, du Lamm Gottes …«) D. Sendung und Segen Kyrie, Gloria und Credo, Sanctus/Benedictus und Agnus Dei tragen also – anders als die veränderlichen Stücke des Gottesdienstes – zunächst und für sich genommen keine kirchenjahreszeitliche Färbung. Allein das Gloria entfällt traditionellerweise in den Vorbereitungs- und Die wiederkehrenden Stücke nach Grundform I (Messe)
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Bußzeiten vor Weihnachten sowie vor Ostern – einzige Ausnahmen dieser Regel sind der 1. Sonntag im Advent und der Gründonnerstag. 1.1 Kyrie und Gloria Zur Geschichte und Bedeutung
Die beiden ersten Ordinariumsgesänge, das im Ursprung griechische Kyrie und das in seiner gottesdienstlichen Sprachform ursprünglich lateinische Gloria, stehen im Eingangsteil des heutigen Gottesdienstes nach Grundform I (A. »Eröffnung und Anrufung«) in enger Verbindung zueinander. Gewissermaßen sind diese beiden Anrufungen als vorbereitende Stationen auf dem Weg zur Begegnung mit dem Wort Gottes in Predigt und der Feier des Abendmahles anzusehen. Da dies nicht immer so gewesen ist, sollen die biblisch-theologischen bzw. liturgiehistorischen Zusammenhänge hier kurz bedacht werden. Das Kyrie eleison ist über die Septuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testaments, in den neutestamentlichen Sprachgebrauch und von dort in die christliche Liturgie eingegangen. Gottes Name JHWH (vgl. 2. Mose 3,14) wird im griechischen Alten Testament (Septuaginta) konsequent mit Kyrios (= »Herr«) übersetzt. Diese aus dem Profangriechischen stammende Bezeichnung meint also im religiösen Kontext schon früh Gott selbst. Im Neuen Testament wird der Kyriostitel, z. B. in den synoptischen Heilungsgeschichten, auch auf Jesus übertragen: Ach Herr (Kyrios), Jesus, lieber Meister, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! (vgl. Mt 15,22, Mk 10,47; Lk 17,13) Dieser Ruf, der in seiner Ausprägung als Bittruf an eine Gottheit sogar schon vorchristlich belegt ist und auch im Kaiserkult vorkam, bringt die menschliche Suche nach einem stärkeren Gegenüber zum Ausdruck. Christlich verwendet, drückt das Kyrie eleison die Sehnsucht aus, der göttliche Herr möge sich über bedürftige Menschen erbarmen, die sich nach seiner Zuwendung ausstrecken. Von daher macht es guten Sinn, wenn im Verlauf der christlichen Liturgiegeschichte der Kyrieruf nicht allein Gott dem Vater vorbehalten blieb, sondern auch auf Christus und den Heiligen Geist übertragen und damit in seiner Deutung stark erweitert wurde. Die dreifache Anrufung »Kyrie eleison – Christe eleison – Kyrie eleison« bzw. »Herr, erbarme dich – Christus, erbarme dich – Herr, erbarme 92
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
dich« bildet diese trinitarische Struktur seit dem Hochmittelalter treffend ab. Das Kyrie ist somit nicht allein Bitte um Gottes Erbarmen, sondern immer auch ein Bekenntnis zum dreieinigen Gott! In der Ostkirche wurde das Kyrie eleison schon früh mit den Fürbitten verbunden, ein Ort, der bis heute ebenfalls mit dem Ruf der Gemeinde um Erbarmen (allerdings nicht trinitarisch) einhergehen kann. Im 4. Jahrhundert wird aus dem Gottesdienst in Jerusalem berichtet, dass in der Vesper nach den Fürbitten des Diakons eine Reihe von Namen hineingerufen und damit die einzelnen Bitten spontan von der Gemeinde bekräftigt bzw. »beantwortet« wurden. Wahrscheinlich hat Papst Gelasius um 496 das griechische Kyrie in die römische Messe eingefügt und bewusst an den Anfang des Gottesdienstes gestellt (sog. Deprecatio Gelasii). Dort, im Anfangsteil des westlichen Messgottesdienstes, wurde der Kyrieruf in Orientierung an der Dreieinigkeit Gottes zunächst neunfach, also dreimal dreifach, ausgeführt; später etablierte sich das bis heute praktizierte dreifache Kyrie: »Kyrie eleison – Christe eleison – Kyrie eleison«.
Bedingt durch die verschiedenartige Ausrichtung der Bitten in den unterschiedlichen biblischen Zusammenhängen kann das Kyrie eleison als umfassender Gebetsruf angesehen werden. Neben seinem Charakter als Huldigungs- oder Bittruf kommt allerdings besonders in den Buß- bzw. Vorbereitungszeiten des Kirchenjahres, in denen traditionell das Gloria schweigt, noch eine weitere Facette des Kyrie zum Ausdruck: sein Charakter als Bitt- und Bußruf derer, die vor Gott ihre Schuld bekennen. Da diese Bitte um Sündenvergebung einen zentralen Aspekt der menschlichen Bitte um Erbarmen darstellt, wäre es verkehrt, etwa das Verständnis des Kyrie eleison im Sinne eines solchen Bußrufes generell abzulehnen. Gegenüber der vielfach vertretenen Vorstellung, wonach das Kyrie primär ein Huldigungsruf sei und damit im Grunde dem Gloria sehr nahe stünde, möchte ich die Gegensätze beider Stücke stärker pointieren: Das Kyrie ist – gerade im unmittelbaren Gegenüber zum hymnischen Gloria – noch deutlicher als Klage- und Bittruf zu profilieren, um damit einem zentralen Aspekt christlichen Betens Ausdruck zu verleihen. Die wiederkehrenden Stücke nach Grundform I (Messe)
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Auch das Gloria in excelsis ist unmittelbar aus dem biblischen Text entnommen worden: Im Kern geht es auf den nächtlichen Lobgesang der himmlischen Heerscharen bei den Hirten auf dem Felde in der Mitte der Weihnachtsgeschichte zurück (Lk 2,14). Ursprünglich handelte es sich um einen Hymnus im Morgengottesdienst, der ab dem 6. Jahrhundert zunächst als festlicher Eingangsgesang an Weihnachten und seit dem hohen Mittelalter an allen Sonn- und Feiertagen (außer in der Fastenzeit) angestimmt wurde. Im Gegensatz zum Kyrie gelangte es erst verhältnismäßig spät – als Erbe aus dem Osten und gegenüber dem biblischen Text in deutlich erweiterter Form – als regelmäßiger Gesang in den Gottesdienst des lateinischen Westens. Gloria (Text: nach EG 180.1) Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen. Wir loben dich, wir beten dich an, wir preisen dich, wir sagen dir Dank um deiner großen Ehre willen. Herr Gott, himmlischer König, allmächtiger Vater, Herr Gott, eingeborener Sohn, Jesu Christe, du Allerhöchster, Herr Gott, Lamm Gottes, ein Sohn des Vaters, der du hinweg nimmst die Sünde der Welt: erbarm dich unser, der hinweg nimmst die Sünde der Welt: nimm an unser Gebet, der du sitzest zu der Rechten des Vaters: erbarm dich unser. Denn du allein bist heilig, du bist allein der Herr, du bist allein der Höchste, Jesu Christe, mit dem heiligen Geist in der Herrlichkeit Gottes des Vaters. Amen. Das sog. große Gloria (oder schlicht Gloria) – nicht zu verwechseln mit dem kleinen Gloria oder Gloria Patri (Ehr sei dem Vater) nach dem Psalm – ist in der Fortführung des biblischen Lobpreises Gottes und des Friedenswunsches für die Menschen als ein vielschichtiges und kunstvolles biblisches Mosaik aus lobpreisenden Psalmversen gestaltet. Nach dem Lob Gottes des Vaters (Lk 2,14) enthält das Gloria in excelsis mit der Anrufung Christi auch die Bitte um göttliches Erbarmen und damit Kyrie-Elemente. 94
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Darüber hinaus klingt mit folgenden Formulierungen bereits das Credo an: – allmächtiger Vater (vgl. »Ich glaube an Gott den Vater«) – eingeborner Sohn, der du sitzest zur Rechten des Vaters; du bist allein der Höchste, Jesu Christe (vgl. »und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn«) – mit dem Heiligen Geist in der Herrlichkeit Gottes, des Vaters (vgl. »Ich glaube an den Heiligen Geist …«) Die Wendung »Du allein bist heilig« erinnert an das Sanctus; die Phrase »Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt« nimmt gleichsam das Agnus Dei vorweg. Zum Schluss wird der dreieinige Gott hymnisch gepriesen.
In der Ausgestaltung der Kyrie-Gloria-Sequenz im Anrufungsteil des Gottesdienstes nach Grundform I ist – wie oben angedeutet (vgl. II.4 bzw. Tabelle Spalte 2) – zwischen zwei liturgischen Traditionen zu unterscheiden: Neben der »Ersten Form«, in der Kyrie und Gloria unvermittelt aufeinander folgen, steht die sich aus der (alt-)preußischen Agende hergeleitete »Zweite Form«, in der das Kyrie mit einem Sündenbekenntnis verknüpft bzw. das Gloria durch eine Gnadenzusage eingeleitet wird, und damit beide Stücke dramaturgisch neu aufeinander bezogen werden. Wie bereits erwähnt, ist in der Liturgiewissenschaft kontrovers diskutiert worden, ob die von den unierten Kirchen vertretene Deutung des Kyrie als Antwortgesang auf ein vorausgehendes Sündenbekenntnis sowie des Gloria als eine Gott preisende Antwort auf die Verkündigung seiner Gnade (Absolution) in einem sog. Gnadenspruch eine Verengung darstelle. Dieser Einwand ist von der ursprünglichen (umfassenden) Bedeutung des Kyrie her zwar verständlich, im Blick auf die Dramaturgie der Eingangsliturgie allerdings auch nicht zu überbewerten. Vielmehr können wir dieser pointierten Deutung viel abgewinnen, da sie der charakteristischen Spannung von Trauer und Freude bzw. Klage und Lob gerecht wird, einer Spannung, die es wahrzunehmen, mit der es umzugehen, die es liturgisch verantwortet zu gestalten gilt. Sie bildet gleichsam ein anthropologisches und geistliches Grundphänomen des Glaubens ab. Die wiederkehrenden Stücke nach Grundform I (Messe)
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Zur Gestaltung und Entfaltung von Kyrie und Gloria
Das Gottesdienstbuch verfolgt das Anliegen, die Gemeinden anzuregen, den Gottesdienst bei konstanter Grundstruktur in seinen vielfältigen Elementen variabel auszuformen – und sich mit der Bandbreite gegebener Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Kyrie und Gloria sind gerade aufgrund ihrer Vielschichtigkeit dazu angetan, die leitenden Gedanken des jeweiligen Sonntags aufzunehmen und dieses auf solche Weise mitzuprägen. Dazu sollen hier einige Ideen entfaltet werden: Liturgische Inszenierungen des Kyrie: Ȥ Kyrie in einfacher Form (z. B. das klassische Straßburger Kyrie, EG 178,4) Ȥ Kyrie mit kurzem Vorspruch (vgl. EGb 505ff): Gott loben: Wir möchten es, aber es fällt uns nicht leicht. Zu vieles belastet uns, macht uns das Herz schwer. Wir bitten um Erbarmen: Kyriegesang
Ȥ Kyrie in Verbindung mit Sündenbekenntnis, Gnadenzusage und Gloria (s. unten) Ȥ Kyrie in der Verknüpfung mit einem Klage- (z. B. Ps 13; 22; 69) oder Bußpsalm (z. B. Ps 51; 130); das Kyrie ist dann gleichsam die Antiphon des Psalms (vgl. III. 2.2 bzw. Anhang 2) Ȥ Musikalisch entfaltetes Kyrie, z. B. als Kyrielied zum Eingang (vgl. EG 382) – Klagelied: Wie sollen wir es fassen? (LW 20) – Beichtlied: Meine engen Grenzen (EG.RWL 600 bzw. LW 21) – Chorstück aus der kirchenmusikalischen Literatur
Ȥ Kyrie als Bitte, die das Kirchenjahr akzentuiert (EG 178.5-8) Das Kyrie entfällt, wenn Psalm oder Gloria besonders entfaltet wird. (vgl. EGb, 38) Liturgische Inszenierungen des Gloria
Ȥ Gloria in einfacher Form (z. B. mit Ehre sei Gott in der Höhe/und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen und folgendem Allein Gott in der Höh sei Ehr) 96
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Ȥ Gloria mit (kurzem) Vorspruch (vgl. EGb 505) – Gott loben, trotz allem, was uns belastet und uns das Herz schwer macht: – Wir können es, weil er uns hilft – durch sein Wort, – durch Menschen, die mit uns singen:
Ȥ Kyrie-Gloria-Sequenz in Verbindung mit Bußgebet/Sündenbekenntnis und Gnadenzusage (vgl. EGb 502) Bußgebet/Sündenbekenntnis: Du kennst mich, Gott. Du weißt, wie oft ich anderen das Leben schwer mache mit Vorurteilen und Kritik. Ich schlage Türen zu, statt sie zu öffnen. Ich lege andere auf ihre Fehler fest, statt ihnen weiterzuhelfen. Ich bin selbst blind für mein eigenes Versagen. Vergib mir und zeige mir jetzt in der Stille, wo ich mich ändern muss und was ich in Ordnung bringen kann. Gebetsstille Kyriegesang Gnadenzusage: Der allmächtige Gott hat sich über euch erbarmt, seinen Sohn für euch in den Tod gegeben und um seinetwillen euch verziehen. So spricht Gott: Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun. (Ez 36,27)
Ȥ Das Gloria kann in Verbindung mit einem Psalm oder Christushymnus (Ps 8; 30; 103; 104; 118; Joh 1; Phil 2) gesungen werden: – z. B. Ps 118 mit EG 333: die hymnische Strophe ist gleichsam die Antiphon. – der Kehrreim von Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt (fT 71): Ehre sei Gott in der Höhe wird mit einem Dankpsalm verbunden, z. B. mit Ps 30, – der Kanon Danket dem Herrn wird zur »Gloria-Antiphon« von Ps 136, – Lobe den Herrn meine Seele (fT 80) oder Nun lob mein Seel (EG 289,1) wird mit Ps 103 verbunden
Ȥ Musikalisch entfaltetes Gloria: – Glorialied (z. B. EG 324; 325; 331 o. ä.) – mehrere Gloria- bzw. Lobpreislieder in einem »Block« – Chorstück, das Lobpreis ausdrückt, oder eine Gloriavertonung aus der kirchenmusikalischen Tradition
Ȥ Eine dramaturgisch besonders bedeutsame Variante ist die im Ev. Gottesdienstbuch vorgeschlagene Idee, dass Kyrie und Gloria auseinandergezogen werden. Das Gloria erklingt dann z. B. nach dem Abendmahl oder am Ende des Gottesdienstes (vgl. EGb 39). Die wiederkehrenden Stücke nach Grundform I (Messe)
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Ȥ Das Gloria entfällt in der Passions- und Adventszeit (Ausnahmen: 1. Sonntag im Advent und Gründonnerstag) sowie dann, wenn Kyrie oder Psalm besonders entfaltet wird. Was geschieht mit uns, wenn wir Kyrie und Gloria singen? Sicher zu Recht lässt sich behaupten, dass uns Kyrie und Gloria – vielleicht gerade in ihrer Verbindung mit der Gnadenzusage – die Gewissheit geben, nicht verlassen zu sein, sondern uns in allen Lebenssituationen, den dunklen und den hellen, auf Gott vertrauen zu können. Wir begeben uns auf einen existenziellen Weg mit Gott, der unser ganzes christliches Leben abbildet: Immer wieder bitten und flehen wir um seine Hilfe, immer wieder erleben wir – durch den Zuspruch seines Wortes, die Begegnung mit einem Menschen oder innere Vergewisserung – seine Nähe und freuen uns darüber, ja geben ihm deshalb die Ehre. Dieser geistlichen Grunddimension gilt es im Gottesdienst nachzuspüren, auch dann, wenn die Gnadenzusage nicht ausgesprochen wird. Dann stehen beide Grunddimensionen des Betens unmittelbar nebeneinander. Je nachdem, ob wir gerade existenziell mehr Licht oder mehr Schatten erleben, können wir uns in der einen oder anderen Form mehr oder weniger wiederfinden. 1.2 Credo Nach dem Durchschreiten der Eingangsliturgie begegnet die versammelte Gemeinde in Lesungen und Predigt dem lebendigen Wort Gottes, eine Begegnung, die eine dreifache Reaktion nach sich zieht: Neben der diakonischen Geldsammlung (Kollekte) und dem Fürbittengebet schließt die Gemeinde ihre Stimmen zusammen und antwortet, Gott lobpreisend und sich gegenseitig vergewissernd, öffentlich mit dem Bekenntnis ihres Glaubens. Sie bekennt ihren Glauben: vor sich selbst, vor Christinnen und Christen anderer Konfessionen, vor der Welt und vor Gott. Diese komplexe Sprechsituation hat vielfach zu Diskussionen auch unter Hauptamtlichen geführt. Ist das Credo eher Gebet oder eher Verkündigung? Spricht man es zum Altar hin oder zur Gemeinde? Soll es dabei Augenkontakt geben oder nicht? Man wird hier schwer eine eindeutige Antwort geben können. In jedem Falle empfiehlt es sich, über diese Fra98
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
gen ausdrücklich nachzudenken, z. B. in einer Predigt zum Credo oder aber innerhalb einer Themenreihe zu den gottesdienstlichen Stücken bzw. in einem Glaubenskurs. Festhalten können wir, dass es sich um ein liturgisches Stück sui generis handelt, das weder mit dem Gebet noch mit der Verkündigung direkt vergleichbar ist.
Wurzeln des Bekenntnisses zu dem einen Gott sind in der hebräischen Bibel auszumachen. Von Jesus wird das Bekenntnis Israels aufgenommen und konzentriert, ja radikalisiert (vgl. Mk 12,29–31). Bei Paulus findet sich dann das Bekenntnis zu Jesus selbst als »dem Herrn« (Röm 10,9f u.ö.). Der wahrscheinlich älteste Text des Neuen Testamentes ist ein Glaubensbekenntnis der urchristlichen Gemeinde zur Auferstehung Jesu »am dritten Tage nach der Schrift« (1. Kor 15,3ff). Das tägliche Bekenntnis der Juden (Sch’ma Israel): »Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.« (5. Mose 6,4f) Das kleine geschichtliche Credo: »Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrieen wir zu dem Herrn, dem Gott unserer Väter. Und der Herr erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgestrecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt.« (5. Mose 26,5–9) Urchristliches Taufbekenntnis: »Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet. Denn wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.« (Röm 10,9f) Urchristliches Christusbekenntnis, zitiert durch Paulus: »Als erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage Die wiederkehrenden Stücke nach Grundform I (Messe)
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nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.« (1. Kor 15,3–5)
In evangelischen Gottesdiensten ist heute meist das im Kern auf ein altes römisches Taufbekenntnis zurückzuführende Apostolische Glaubensbekenntnis anzutreffen. In seiner jetzigen Gestalt ist es seit Anfang des 5. Jahrhunderts schriftlich belegt und von den westlichen Kirchen allgemein anerkannt. Die Bezeichnung Apostolicum wird auf die Legende zurückgeführt, die zwölf Apostel seien am Entstehungsprozess dieses Textes beteiligt gewesen. Seine Herkunft aus einem Taufbekenntnis ist daran erkennbar, dass das Apostolicum in der Einzahl redet (»Ich glaube …«): Der Täufling bekennt in ihm seinen persönlichen Glauben an den dreieinigen Gott. Immer wenn heute dieses Glaubensbekenntnis im Gottesdienst gesprochen wird, findet also gleichsam eine Tauferinnerung statt. Allerdings kann man das Glaubensbekenntnis nicht auf seine Bedeutung als Taufbekenntnis reduzieren, denn es hat auch eine öffentliche, höchst politische Dimension: Seit den Zeiten des Kirchenkampfes wird es nicht mehr allein vom Liturgen, sondern von der Gemeinde gemeinsam – und im Stehen! – gesprochen. Dieser Akt erinnert an die Ur-Situation des Bekenntnisses, an den Kampf um den rechten Glauben: Der rechte Glaube (an Christus) wird in Abgrenzung vom falschen Glauben (falsche Messiasse und Führer) »ausgerufen«. Über die Verwendung als Taufbekenntnis bzw. -erinnerung und die Abgrenzung hinaus ist das Glaubensbekenntnis schließlich auch als Gotteslob zu begreifen. »Lasst uns Gott loben und preisen mit dem Bekenntnis unsres Glaubens« – diese oftmals gesprochene Einleitung des Glaubensbekenntnisses (z. B. in der Sächsischen Agende) lässt dies erkennen. Als gesungenes Gotteslob stehen im Ev. Gesangbuch immerhin zwei Credolieder zur Verfügung: Wir glauben all an einen Gott und Wir glauben Gott im höchsten Thron (EG 183 bzw. 184). Vielfach lässt sich EG 184 übrigens auf andere Melodien singen: z. B. O Heiland reiß die Himmel auf im Advent; Vom Himmel hoch an Weihnachten usw. Darüber hinaus gibt es am Ende vieler Lieder sog. Gloria-Patri-Strophen, die den Dreieinigen hymnisch preisen. Innerhalb des klassischen Messordinariums ist allerdings ursprünglich nicht das Apostolicum vorgesehen, sondern das große Glaubens100
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
bekenntnis von Nicaea-Konstantinopel. In den Lehrstreitigkeiten des 4. Jahrhunderts entstanden und in der bis heute gültigen (lateinischen) Fassung auf dem ökumenischen Konzil in Konstantinopel 381 verabschiedet, ist das sog. Nicaenum bzw. Nicaeno-Constantinopolitanum das eigentlich ökumenische Glaubensbekenntnis. Heute kommt es – wenn überhaupt – zumeist nur an hohen Festtagen zum Einsatz. Es steht in der Tradition einer Reihe von synodalen Glaubenserklärungen, um die schon auf frühen Konzilen heftig gerungen wurde. Wann und wo heute das Nicaenum gesprochen wird, geschieht dies auch als Ausdruck der Verbindung mit den anderen Kirchen der weltweiten Ökumene. Obwohl dieses Glaubensbekenntnis wie das Apostolicum im Lateinischen mit dem Wort »Credo« (1. Person Singular) beginnt, wird dies seit einer Neuübersetzung in den 1970er-Jahren mit »Wir glauben« wiedergegeben. Tab. 2: Nizänisches und das Apostolisches Glaubensbekenntnis Nizänisches Glaubensbekenntnis
Apostolisches Glaubensbekenntnis
Wir glauben an Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt.
Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohne, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater, durch ihn ist alles geschaffen. Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden. Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden, ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift und aufgefahren gen Himmel. Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein.
Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn. Empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gekreuzigt, gestorben und begraben. Hinab gestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters. Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.
Die wiederkehrenden Stücke nach Grundform I (Messe)
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Nizänisches Glaubensbekenntnis
Apostolisches Glaubensbekenntnis
Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten, und die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche. Wir bekennen die Taufe zur Vergebung der Sünden. Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt.
Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.
Gegenüber dem Apostolicum fällt auf, dass im Nizänischen Glaubensbekenntnis die Gottheit und die Schöpfungsmittlerschaft Christi stärker betont und entfaltet sind: »aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen«. Auch die Gottheit des Heiligen Geistes wird bekräftigt: »der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten«. Die Bestimmung »der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht« (filioque) ist ein späterer Zusatz der westlichen Kirche, der 1054 zur großen Kirchenspaltung führte. In gemeinsamen Gottesdiensten mit orthodoxen Christen sollte er entfallen. Die Zeile Credo in unam sanctam ecclesiam catholicam des dritten Artikels des lateinischen Originals wird heute in den unterschiedlichen Traditionen verschieden übersetzt. In der römischen Kirche heißt es: »und an die heilige katholische Kirche«, in den lutherischen wird catholicam (»allgemein, umfassend«) mit »christlich« wiedergegeben. Reformiertem Brauch entspricht es, an dieser Stelle von der »heiligen, allgemeinen christlichen Kirche« zu sprechen. Ganz gleich ob das Glaubensbekenntnis (wie früher) im Anschluss an die Lesung des Evangeliums oder als Antwort auf die Predigt gesprochen bzw. gesungen wird, erlangt das gottesdienstliche Handeln der Gemeinde mit dem gemeinsamen Bekenntnis des Glaubens eine spezifische Dimension. Schon durch die explizite Nennung im Titel des Teils B. »Verkündigung und Bekenntnis« ist auf diese zen trale Bedeutung des gemeinsamen Bekennens für das Gesamtgefüge 102
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
des Gottesdienstes hingewiesen. Wie auch im Falle der Ausformung des Kyrie als Sündenbekenntnis (s. o.) wird das gemeinschaftliche Bekennen zu einem zentralen Sprechakt der Gemeinde vor Gott und vor der Welt, bei dem auch der Aspekt gegenseitiger Vergewisserung eine wichtige Rolle spielt. Eine besondere Problematik ergibt sich, wenn nach Abendmahl gefeiert wird und eine Offene Schuld (Sündenbekenntnis mit Vergebungszusage) der Mahlfeier vorangehen soll (vgl. EGb 74f bzw. 142). Dann treffen Sündenbekenntnis und Glaubensbekenntnis fast unmittelbar aufeinander, was dramaturgisch nicht glücklich ist. In diesem Fall empfiehlt es sich, das Glaubensbekenntnis nach der Schriftlesung bzw. dem Evangelium zu sprechen.
Das Gottesdienstbuch bietet auch gute Beispiele neuer Glaubenszeugnisse. Exemplarisch sei hier eines wiedergegeben (überarbeitete Formulierung nach EGb 540): Wir glauben an Gott, den Vater, der uns und diese Welt wunderbar geschaffen hat. Er schenkt denen, die sich verlassen fühlen, seine Liebe. Er gibt denen, die in der Fremde sind, ein Zuhause. Er verspricht denen, die bedrängt sind, seine Hilfe. Wir glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes, der unser Bruder ist und uns erlöst hat. Er gab denen, die Hunger hatten, zu essen. Er machte es um die, die im Dunkel lebten, wieder hell. Er hat viele, die krank waren, geheilt. Wir glauben an den Heiligen Geist, der uns zum Glauben an Jesus gerufen hat und seine Kirche bewahrt. Er spricht denen, die verzweifelt sind, neuen Mut zu. Er befreit die, die in der Lüge leben, zu einem Leben in Wahrheit. Er schenkt denen, die die Schrecken des Todes erfahren, neue Hoffnung.
Neuerdings gibt es Überlegungen, wie man in einer Hinführung das Credo mit dem Thema des Sonntags verbinden kann. Auch dazu ein Beispiel: Letzter Sonntag nach Epiphanias (Vorspruch zum Credo): Der lebendige Gott und Schöpfer hat den Kosmos mit seinem Licht durchflutet und lässt einen hellen Schein in unseren Herzen aufleuchten.
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In Jesus Christus erscheint Gottes Schönheit in der Lichtgestalt eines Menschen. Sein Evangelium ist das Licht auf dem Weg zu unserer Seligkeit. Gottes Geist lässt uns dieses Licht im Glauben begreifen und annehmen. Er verändert unser Leben zum Lob seiner Herrlichkeit.
1.3 Sanctus und Benedictus Innerhalb der gesungenen oder gesprochenen Abendmahlsliturgie schließt das Sanctus (Dreimalheilig) der Gemeinde das Lobgebet (Präfation) des Liturgen ab. Der Text stammt aus der Thronvision des Propheten Jesaja (Jes 6,3), bei der erzählt wird, wie der Prophet die Herrlichkeit Gottes im Jerusalemer Tempel schaute und von Gott in besonderer Weise beauftragt wurde. Das Sanctus fand schon früh Eingang in die Keduscha (Morgengebet in der Synagoge) und von hier aus auch in die christliche Abendmahlsliturgie. Hinzu kam dann das sog. Benedictus (Gelobt sei, der da kommt, im Namen des HERRN aus Mt 21,9), das auf den in Jerusalem einziehenden bzw. zu seiner Gemeinde kommenden Jesus Christus bezogen ist. Faszinierend ist, dass hier der dreifache Advent Christi in einer Verschränkung der Zeiten mitschwingt. Er wird als der gekommene und der wiederkommende, insbesondere aber als der in der Mahlfeier gegenwärtige König gepriesen. Das Sanctus ist für viele Christen eine zentrale Stelle im Gottesdienst. Hier berühren sich – so das Selbstverständnis – Himmel und Erde, hier stimmen wir ein in das ewige und universale Gotteslob aller Kreaturen und Gewalten. Deshalb begann man im Mittelalter an dieser Stelle erstmals Glocken und Orgeln musikalisch zu beteiligen. Der biblische Text aus Jes 6 betont die Universalität der Herrlichkeit Gottes und des Lobpreises. Er wurde in der Liturgie des Sanctus leicht verändert: Statt: Himmel und Erde sind voll seiner Ehre heißt es: Himmel und Erde sind voll deiner Ehre. In unzähligen Messkompositionen wurde dieses Stück in Klang und Rhythmus gebracht. Hingewiesen sei hier stellvertretend für viele andere auf die SanctusVertonungen in J. S. Bachs h-Moll-Messe und L. v. Beethovens Missa solemnis. Im Evangelischen Gesangbuch steht u. a. auch eine auf jüdische Wurzeln zurückgehende Melodie (Bekenntnis- und Märtyrergesang »Alenu«, EG 185.1). Aus Taizé, aber auch aus vielen anderen Traditionen, kennen wir prägnante Sanctus-Vertonungen, neuerdings besonders aus dem lateinamerikanischen Kontext (vgl. fT 153 104
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und 157). Einzelne Kirchenlieder zitieren das Sanctus oder nehmen zumindest das dreifache Heilig auf: Dazu gehört das Trinitatislied Gelobet sei der Herr (EG 139) und das populäre Großer Gott wir loben dich (EG 331), das eine poetische Übertragung des altkirchlichen Te Deum aus dem 19. Jh. ist. In Str. 3 heißt es: Heilig, Herr Gott Zebaoth, heilger Herr der Himmelsheere usw. 1.4 Agnus Dei Dem fünften und letzten Stück des Ordinariums liegt wie beim Kyrie, Gloria, Sanctus und Benedictus ein biblischer Text zugrunde. Das prophetische Wort Johannes des Täufers (Joh 1,29: Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegträgt) wurde dabei für den liturgischen Gebrauch umgeprägt und als gesungenes Gebet an Christus (Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt) gerichtet. Das Agnus Dei ist ein Erbe aus der syrischen Kirche und wurde im 7. Jh. als Gesang zum Brotbrechen in die lateinische Abendmahlsliturgie des Westens eingefügt. Ursprünglich hat man es so lange wiederholt, bis das Brotbrechen als Vorbereitung zur Austeilung beendet war. Später wurde es auf zwei Anrufungen reduziert, von denen die erste, das mit dem Kyrie verwandte (Erbarm dich unser) wiederholt wird. Die Bitte um den Frieden am Ende (Dona nobis pacem) ist um die Jahrtausendwende in bewegten Zeiten dazu gekommen. Die Dreiteiligkeit erinnert formal an das trinitarische Kyrie bzw. das Credo, in gewisser Weise auch an das Sanctus (Sanctus – Benedictus – Pleni sunt coeli), es bezieht sich aber inhaltlich eindeutig nur auf Christus. Das Gleichnis des geopferten Lammes zur Deutung des Kreuzestodes Christi ist über Jes 53 und 1. Petr 1,19 in die christliche Tradition gekommen. Wesentlich ist, dass hier nicht von einem Gott dargebrachten Opfer gesungen wird, sondern die versammelte Gemeinde sich als Empfangende von Gott her versteht. Im Gottesdienstbuch wird darauf hingewiesen, dass das Agnus im Verlauf des Kirchenjahres auch durch prägnante Liedstrophen aus den Festliedern ersetzten werden kann (vgl. EG 1,5: Komm, o mein Heiland, Jesu Christ; EG 23,7: Das hat er alles uns getan usw.). Wenn ein Chor im Gottesdienst singt, kann das Christe, du Lamm Gottes auch durch ein Agnus Dei aus der kirchenmusikalischen Literatur Die wiederkehrenden Stücke nach Grundform I (Messe)
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ersetzt werden. Die Neuvertonung (fT 151) aus meiner Feder bietet zwei alternative Textvarianten. Strophe B lautet: Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Schuld der Welt; Christe, du Lamm Gottes, der du trägst das Leid der Welt, erbarm dich unser; Christe, du Lamm Gottes, der du bist das Heil der Welt, gib uns deinen Frieden.
2 Das Gebet im Gottesdienst 2.1 Beten – ein spirituelles Herzstück im Gottesdienst Wenn Christinnen und Christen darauf angesprochen werden, was ihr Leben trägt und ihm Halt gibt, werden sie unterschiedliche Antworten geben. Die einen sagen, dass es ihnen besonders wichtig ist, das Wort Gottes zu lesen und zu hören, andere wollen zuerst Gemeinschaft erleben oder miteinander über den Glauben ins Gespräch kommen, wieder andere in erster Linie gemeinsam singen oder Abendmahl feiern. Einige werden jedoch gewiss das Gebet, das Reden des Herzens mit Gott, als Urgestein des Glaubens benennen. Im Gebet verarbeiten wir dankbar und bittend Situationen des Alltags, antworten auf das, was wir im Gottesdienst hören, reagieren aber auch auf Erfahrungen, in denen Gott uns rätselhaft fern scheint. Doch warum sollen wir – so fragen nicht nur Jugendliche – denn überhaupt beten? Weiß Gott nicht sowieso schon, was wir auf dem Herzen haben? Kann unser bescheidenes Bitten etwas an ihm bzw. in der Welt verändern? Gewiss ist es so, dass Gott in unser Herz sieht, und das, was wir uns wünschen, schon voraussieht und weiß. Aber warum sollten wir es Gott, der wie ein gütiger Vater und eine liebende Mutter für uns ist, denn nicht auch mitteilen? Immer wieder erzählt die Bibel, dass Gott nicht unbeteiligt ist, sondern sich bewegen lässt, ja – wie am Beispiel Jesu abzulesen ist – sogar mit uns leidet und sich mit den Leidenden solidarisiert. Dieser Gedanke stärkt und ermutigt uns, dass wir uns an ihn wenden: In den Psalmen und im Vaterunser finden wir Formulierungen im Originalton der Bibel, die eine facettenreiche Zahl an menschlichen Gefühlen und Wünschen ausleuchten, vor Gott bringen und damit Ausdrucksformen eines lebendigen Glaubens beschreiben. Das Spektrum reicht vom Aufschrei der Klage bis zum staunenden Lob, von der bescheidenen Bitte bis zum hymnischen Dank. 106
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2.2 Psalmen In den letzten Jahrzehnten haben die Psalmen im christlichen Gemeindegottesdienst wieder größeren Raum bekommen. Zuvor prägten sie zwar die Eröffnung der Messe mit dem Introitus und gaben damit auch das Thema des Sonntags vor, hatten ihren Ort aber eher im Stundegebet bzw. in Wochentagsgottesdiensten. Dazu gehört auch, dass seit Einführung der neuen Ordnung gottesdienstlicher Predigttexte und Lieder 2018 über Psalmen gepredigt werden darf. Welchen Sinn hat es, zur theologischen Vertiefung des Betens auf die Psalmen zu rekurrieren? Was ist die besondere Qualität dieser Texte? Psalmen sind Rohdiamanten elementaren Gottvertrauens: Sie haben in ihrer geprägten, zuweilen auch fremden und archaischen Sprachgestalt auch dann große Kraft und Gültigkeit, wenn man gerade nicht glauben kann. Psalmen bestechen aber nicht nur durch ihre poetische, sondern auch durch ihre theologische Qualität, die sich in unterschiedlichen Formen und Gattungen zeigt. Einige seien hier exemplarisch erwähnt. Sie verbinden den Gottesdienst mit der persönlichen Spiritualität und nehmen das Gebet der Klöster auf. »Der Herr ist mein Hirte« – Geborgenheit bei Gott und in der Gemeinschaft der Glaubenden (Vertrauenspsalm)
Wenden wir uns zunächst zwei der bekanntesten Psalmen zu, die unter jungen und alten Menschen quer durch verschiedene Frömmigkeitsrichtungen gleichermaßen beliebt sind. Die Bilder vom guten Hirten und vom großzügigen Gastwirt sind es, die Psalm 23 tragen, aber auch die schlichte, elementare Sprache eines bekennenden Glaubens. Selbst wenn hier scheinbar ein individuelles Lied angestimmt wird, ist dieses dennoch nicht privat, sondern atmet einen Geist der Gemeinschaft, der zum Mitbeten einlädt. Bei Gott ist Geborgenheit auch im Dunkel einer Schlucht und im Angesicht des Todes, an seinem Tisch gibt es nicht nur das Nötigste, sondern die Fülle. Der Psalm klingt mit dem Wunsch aus, immer wieder in Gottes Haus zurückkehren zu dürfen, wo das Vertrauen geweckt und gestärkt wird. Insofern ist der Psalm ein gottesdienstliches Lied, das auch schon auf den ewigen Gottesdienst in der Herrlichkeit Gottes anspielt. Ähnlich weit spannt Psalm 139 den Bogen, der vor allem bei jüngeren Menschen sehr beliebt ist. Raum und Zeit sind für Gott keine Das Gebet im Gottesdienst
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Grenzen: Überall ist Gott, auch an den Orten, die menschlichen Augen verborgen bleiben: Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mit mir sein und deine Rechte mich halten. Dasselbe gilt für die Zeit: Bevor ich geboren wurde, warst du, Gott, schon da und hast mich erkannt.
Ein Kernvers aus Ps 139 kann das Psalmgebet als Antiphon oder Kehrvers umrahmen und emotional verdichten: Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir (vgl. Beispiel in Anhang 2). »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« – Identifikation mit Hiob und dem Gekreuzigten (Klagepsalm)
Nicht immer ist dieses Gefühl der Geborgenheit da. Manchmal wird es uns förmlich weggerissen, wir schauen in tiefe Abgründe der Verzweiflung, werden durch Verluste oder Enttäuschungen in Trauer gestürzt. Damit sind Extremsituationen angesprochen, die unseren Alltag – Gott sei Dank – nicht ständig bestimmen. In der Klage werden wir »Leidensgenossen« Hiobs, der weder seine eigene Situation noch das Verhalten seiner Freunde und am allerwenigsten seinen Gott verstand. Klagen heißt: solche Abgründe aushalten, ja in die (eigene) »Hölle sehen«. Es ist die schreckliche Erfahrung, dass Gott sehr ferne ist. Auch heute gibt es vielfach solche Schicksale: Ein junger Mensch ist tödlich verunglückt oder eine Mutter an Krebs erkrankt, vielleicht ein Kind ums Leben gekommen oder etwas Schreckliches in der Welt passiert – man denke nur an den 11. September 2001, den Tsunami 2004 o. ä. Solche Situationen fordern dazu heraus, eine tragfähige Liturgie bereit zu haben, die über Stille, das Anzünden von Kerzen und eine Instrumentalmusik bzw. ein Vaterunser hinaus noch etwas mehr bereithält. Dazu können die Klagepsalmen eine wichtige Sprachhilfe sein. Als Schulbeispiel gilt Psalm 13, der in vier Schritten einen geistlichen Prozess abbildet: von der verzweifelten Klage (I) zur flehenden Bitte (II), die in ein Vertrauensbekenntnis (III) mündet, dem sich ein Lobversprechen (IV) anschließt. Gewiss dauert das darin beschriebene Ringen länger als zwei Minuten: Vielleicht ist es eine 108
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tiefe persönliche und religiöse Krise, die mehrere Wochen oder gar Monate andauert. Der betende Mensch ist dabei in einem inneren Kampf, aber auch in einer Auseinandersetzung mit der Umwelt und mit Gott verstrickt. Diese drei Aspekte klingen in Klage und Bitte je einmal an: I Klage (dreiteilig) Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? (Gottklage) Wie lange soll ich mich sorgen in meiner Seele Und mich ängsten in meinem Herzen täglich? (Ichklage) Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben? (Feindklage) II Erhörungsbitte Schaue doch her und erhöre mich, Herr, mein Gott. (Gott) Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe. (Ich) Dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke. (Feind/Umwelt) III Vertrauensbekenntnis Ich vertraue darauf, dass du so gnädig bist. IV Lobversprechen Ich will dem Herrn singen, dass er so wohl an mir tut.
Mit einem Lied von Helmut Lamparter (EG Württ. 598, Melodie: EG 255) haben wir ein gut singbares Beispiel, das diesen Psalm in eine zeitgenössische Sprache bringt: »1. W ie lange willst du mein vergessen, warum erhörst und hilfst du nicht? Wie lang noch ist die Frist bemessen, da du verbirgst dein Angesicht? 2. Wie lange muss ich Schmerzen tragen In meiner Seele, Tag für Tag? Wie lang noch willst du mir versagen den Trost, dran ich mich freuen mag? 3. Schau doch, eh mir die Augen brechen, Herr, sende deines Lichtes Strahl! Erhör mich, denk an dein Versprechen und wende meine Angst und Qual! […]«
Sinnvoll für die gottesdienstliche »Inszenierung« im Eingangsteil (vgl. III.1.1) kann auch die Verknüpfung eines Klagepsalms mit einem Kyrie sein: Das Gebet im Gottesdienst
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Psalm 69 Kyrie eleison (Eine/r/Alle) Gott hilf mir, denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist. Kyrie eleison (gemeinsam)
Anstelle eine Klagepsalms können im Gottesdienst auch Klagelieder stehen: Ein in nahezu allen großen deutschsprachigen Gesangbüchern vertretenes, leider immer noch selten gesungenes Lied ist Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen (EG 381), eine Vertonung Friedemann Gottschicks von Psalm 22. In faszinierender Weise werden wir gleichzeitig mit David und mit dem Gekreuzigten, dessen Klage am Kreuz nicht unbeantwortet blieb. Das Beispiel zeigt: Christliche Klage richtet sich an der Not des Psalmisten und an der Hoffnung Jesu aus. Denn unser Glaube lebt aus der Anschauung und Teilhabe am Schicksal des Gekreuzigten. Er setzt sich der Ohnmacht aus und kann so das eigene Scheitern, ja die konkrete unmittelbare Gottverlassenheit besser aushalten. Doch damit nicht genug: Mit Jesus hoffen Christen auch auf eine österliche Wende (Ps 22,23–32), in der die Not zum Ende kommt und überwunden wird. In diesem Sinne ist Klage immer mehr als nur ein »Klagen mit Christus«, sondern immer auch ein Hoffen auf die Wende – mit ihm und durch ihn.
»Du hast meine Klage verwandelt in einen Reigen!« – Dankbarkeit über Gottes Rettung und Hilfe (Danklied)
Von der Überwindung des Todes und lähmender Not ist in den Dankliedern des Psalters, aber auch in etlichen Prophetenbüchern die Rede. Hier finden wir Zeugnisse geschichtlicher Taten Gottes, die eine Notsituation beendet und damit den Glaubenden wieder eine neue Perspektive gegeben haben, bzw. die menschlichen Reaktionen darauf. Exemplarisch seien das Lied der Hanna (1 Sam 3), das Danklied des Jona im Fischbauch (Jona 2) oder das des Königs Hiskia (Jes 38) genannt. Im ersten Fall ist der Anlass eine sehnlich erwünschte Schwangerschaft, bei Jona die Errettung aus einer tödlichen Gefahr, bei Hiskia geht es um die Genesung von einer unheilbaren Krankheit. Psalm 30 gilt als Schulbeispiel für einen solchen Dankpsalm, der im Grunde ein Klagepsalm in der Retrospektive ist. Charakteristischer110
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
weise können wir im Danklied mehrere Zeitstufen unterscheiden, die auf das mit Gott Erlebte zurück blicken. In der Gegenwart wird Gott gelobt und in der Gemeinde gerühmt (markiert), nachdem er unmittelbar davor (kursiv) gehandelt und die davor liegende Not (normal) gewendet hat. Ich will dich erheben, JHWH (Gegenwart): denn du hast mich aus der Tiefe gezogen und hast meine Feinde nicht über mich jubeln lassen. (jüngste Vergangenheit) JHWH, mein Gott, ich flehte zu dir (frühere Vergangenheit) Und du hast mich geheilt. JHWH, du hast mein Leben aus der Unterwelt herauf geholt. Musiziert für JHWH, ihr seine Frommen, und preiset seinen heiligen Namen! […] Du hast meine Klage verwandelt in einen Reigen, du hast mir den Sack der Trauer ausgezogen und mich mit Freude gegürtet. Dass ich dir lobsinge und nicht stille werde. JHWH, mein Gott, ich will dir danken in Ewigkeit.
Ein besonderer Dankpsalm ist Psalm 118, der die österliche Festzeit prägt und deshalb hier besonders erwähnt werden soll. Auch er kann mit einem Singspruch oder einer Liedstrophe verbunden werden. Besonders eignet sich dafür Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, das als Kanon und Chorus/Choral (EG 333) der Gemeinde vertraut ist. Auf diese Weise kann der Dankpsalm – ähnlich wie der Klagepsalm mit Kyrie – als festliches Gloria inszeniert werden: Psalm 118 und Gloria Alle (gesungen): Danket dem Herrn; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich. Frauen:
Gott ist meine Macht und mein Psalm und ist mein Heil.
Männer: Man singt mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten! Alle:
Die Rechte des Herrn behält den Sieg.
Frauen: Ich werde nicht sterben, sondern leben und Gottes Werke verkündigen. Alle (gesungen): Danket dem Herrn; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.
Die Dankpsalmen spiegeln eine frische, gleichsam »österliche« Grenzerfahrung. Die Schatten des Todes sind förmlich noch zu greifen, aber im Lichte der göttlichen Wende haben sie keine Macht mehr. Das Gebet im Gottesdienst
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Christen sehen in den Dankliedern des Psalters, besonders aber in Psalm 118, einen Hinweis auf die Auferstehung Christi: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Der Kehrreim Danket dem Herrn, denn er ist freundlich steht für eine dankbare Lebenshaltung von Ostern her. Danklieder sind geistliche Aufstehhilfen und Protestlieder gegen die vernichtenden Mächte des Todes. Sie schenken im sonntäglichen und alltäglichen Danken schon hier und jetzt Anteil an der österlichen Freude und helfen, Spuren göttlicher Hilfe und Rettung zu entdecken. Sie wehren Depression und Hoffnungslosigkeit, indem sie Gottes Barmherzigkeit und Allmacht in Notsituationen dankbar vergegenwärtigen. »Schaffe in mir Gott, ein reines Herz« – Sündenbekenntnis/ Vergebungsbitte (Bußpsalm)
Psalmen sind nicht nur authentisch, sondern auch wahrhaftig. Dazu gehört besonders der Umgang mit persönlicher und gemeinsamer Schuld. Die Kirche hat im Psalter sieben Bußpsalmen entdeckt, die bis heute als persönliche und als gemeinsame Beichtgebete der Gemeinde gesprochen werden können. Sie sind nicht zu verwechseln mit den Klagepsalmen, in denen es prinzipiell um unverschuldetes Leid geht. Vielmehr entfalten sie, was in der fünften Bitte des Vaterunsers nur angedeutet ist, ausführlich: Vergib uns unsere Schuld. Im Lichte Gottes erkennen und bekennen sie persönliche und kollektive, bewusste oder unbewusste Schuld (vgl. Ps 19,15), mit der eine Störung des Gottes- und Weltverhältnisses einhergeht. Wenn man zu Psalm 51, den die Bibel David im Zusammenhang seiner »Affäre« mit Bathseba in den Mund legt, greift, bietet sich eine Verknüpfung mit EG 230 an: Schaffe in mir Gott, ein reines Herze und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Antiphon: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herze und gib mir einen neuen, gewissen Geist. (EG 230, 2 Zeilen) I: Gott sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. II: Wasche mich rein von meiner Missetat und reinige mich von meiner Sünde. Antiphon: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herze …
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Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
I: Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. II: Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe Und mit einem willigen Geist rüste mich aus. Antiphon: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herze …
Mit diesem geschärften Gewissen und gottesfürchtigen Gebet sind Christen (und Juden) Salz für die Erde und Licht der Welt gerade angesichts menschlichen Scheiterns. Zuweilen kann der Bußpsalm mit einer Absolution (Lossprechung) verbunden werden, auch die Verknüpfung mit einem Kyrie oder einem Vorbereitungsgebet (vgl. II.4) bietet sich an. »Wie herrlich ist dein Name« – Staunen und Begeisterung über die Schönheit Gottes (Schöpfungshymnus)
Zuletzt ist die schönste Form des biblischen Psalters zu betrachten, die auch die Überschrift des biblischen Psalmenbuches prägt: Tehillim (= Lobgesänge). Martin Luther schreibt dazu: »Wo findet man feinere Worte von Freuden, als die Lobpsalmen oder Dankpsalmen haben? Da siehest du allen Heiligen ins Herz wie in schöne lustige Gärten, ja wie in den Himmel, wie feine, herzliche, lustige Blumen darinnen aufgehen von allerlei schönen, fröhlichen Gedanken gegen Gott und seine Wohltat.« (2. Psaltervorrede 1528)
Gerhard von Rad kommentiert treffend: »Loben ist die dem Menschen eigentümlichste Form des Existierens. Loben und nicht mehr Loben stehen einander gegenüber wie Leben und Tod.« (v. Rad I, 381) Ein Mensch, der Gott lobt, ist ganz bei sich, durchklungen vom Atem Gottes, ganz Person (personare = durchklingen). Zugleich ist er aber auch ganz bei Gott, feiert seinen Schöpfer und macht ihn groß. Im Unterschied zu den Dankliedern, die auf eine Tat Gottes zurückblicken, loben die Hymnen Gott selbst, Gottes Schönheit und Größe, ja Gottes Wesen. Sie sind auf Gottes Person(en) gerichtet, sie spielen ganz in der Gegenwart. Darum tritt auch die Person des Betenden oft eigentümlich zurück: Nicht »ich preise dich« o. ä., sondern »Gelobt sei Gott« oder »Gelobt seist du« ist die spezifische Form des Hymnus. Die Welt als geschenkte Welt wahrzunehmen, ist der erste Schritt zu einer geistlichen Ästhetik, die sich im Lobpreis des Dreieinigen ausdrückt. So können wir, den Namen Gott rühmend, seiDas Gebet im Gottesdienst
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nen Werken, ja seiner Schönheit staunend nachspüren und innerlich dankbar und froh werden. Überlegungen für die Praxis
Gottesdienstliche Psalmgebete müssen m. E. nicht unbedingt jeden Sonntag gewechselt werden. Der Psalm wird damit schneller zu einem (aktiven) geistlichen Schatz der Gemeinde. Für die Passionszeit, in jedem Fall aber für die Karwoche, ist das Klagelied Ps 22A geeignet, die Hymnen Ps 8; 19 und 104 könnten schwerpunktmäßig in der Sommerzeit gebetet werden. Bußpsalmen wie Ps 51 bzw. 130 bieten sich für die Passionszeit, den 1. Sonntag nach Trinitatis, evtl. auch für den Israelsonntag sowie für die letzten Sonntage im Kirchenjahr, aber auch angesichts aktueller Krisen an. Es empfiehlt sich, zu den Psalmen jeweils einen Kernspruch als Kehrvers (Antiphon) herauszunehmen und ihn als Rahmen und Refrain dem Psalmgebet zuzuordnen. Zu Psalm 22A kann die Kopfzeile des Liedes Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (vgl. EG 381) intoniert werden. Dasselbe gilt für die erste Liedzeile von Aus tiefer Not (vgl. EG 299) zu Psalm 130. (Um die Bewegung innerhalb des Gebets zu beschreiben, sollten Ps 22 und Ps 130 nicht mit dem Klageruf abgeschlossen werden, vgl. Anhang). Denkbar ist in diesen Fällen auch die Verschränkung des Klage- oder Bußpsalms mit einem Kyrieruf (z. B. Ps 69) bzw. eines Dank- oder Lobpsalms mit einer Gloriastrophe (z. B. EG 333) (vgl. Anhang 2). 2.3 Das Kollekten- bzw. Eingangsgebet Die sonntäglich-liturgische Gebetspraxis ist vielfältig durch das Kirchenjahr (vgl. oben 2.2) geprägt. Das gottesdienstliche Gebet im Jahreskreis orientiert sich an Wegmarken, die durch das Proprium (Thema) der jeweiligen Sonn- und Feiertage bestimmt sind, und gestaltet sich entlang der Themen, die durch sie gesetzt sind. Das Evangelische Gottesdienstbuch bietet für jeden Sonn- und Feiertag und darüber hinaus auch für besondere Anlässe und Themen je zwei bis drei kurze Tagesgebete an, die thematisch profiliert und sprachlich unterschiedlich gestaltet sind. Eingeleitet werden sie durch ein kurzes »Lasst uns beten!« oder »Wir beten«. 114
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
In der Form sind insbesondere zwei Typen zu unterscheiden, das Kollekten- oder Tagesgebet und das Eingangsgebet: Kollektengebet
Das klassische Kollektengebet (von lat. colligere = sammeln) gehört in die Tradition der Messe (Grundform I) und hat folgenden klassischen Aufbau von fünf Teilen: Eröffnet wird das Gebet durch eine Anrede (z. B. »Allmächtiger Gott«; »lieber Vater« oder »Quelle des Lebens). Sie zeigt viel von der eigenen Frömmigkeit bzw. Theologie derer, die das Gebet formuliert haben. Redet der Liturg einfach nur »Gott« an? Oder stellt sich die Liturgin Gott auch in anderen Bildern oder Prädikaten vor (z. B. Quelle des Lebens, göttliche Weisheit, Heiland, Geist der Wahrheit usw.)? Vielfach versucht man, mit der Anrede das Thema des Sonntags anklingen zu lassen: So wird Gott z. B. an Weihnachten als ewiger, barmherziger oder allmächtiger Gott angeredet, während am Karfreitag die Anrede »unerforschlicher Gott« lauten kann. Das Kollektengebet kann auch an Jesus Christus gerichtet sein (vgl. Misericordias Domini, EGb 328: »Herr Jesus Christus, du bist der gute Hirte«).
Im Anschluss wird die Anrede durch eine sog. Prädikation (z. B. »du hast uns als deine Kinder angenommen« oder »durch deinen Sohn hast du den Tod besiegt«) weitergeführt. Hier wird in knapper Form ein konkretes Handeln Gottes, das wiederum mit dem Thema des Sonntags in Verbindung steht, allgemeingültig entfaltet. Darauf folgt eine knappe Bitte (z. B. »Erhalte uns im Licht und wehre du allem Dunkel« oder »Halte uns fest auf dem Weg zu dir und lenke unsere Schritte«), die ihrerseits in einen Folgesatz (»damit alle Menschen etwas von deiner Herrlichkeit erfahren« bzw. »damit wir zu vollkommener Freiheit gelangen«) mündet. Abgeschlossen wird die Kollekte durch eine abschließende Zusammenfassung, die sog. Konklusion (z. B. »Das bitten wir durch Jesus Christus unseren Herrn und Bruder«), die durch das Amen der Gemeinde bekräftigt wird.
Das Gebet im Gottesdienst
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Beispiel zum Sonntag Rogate Erbarmender Gott, du hast uns verheißen, dass du uns geben willst, was wir im Namen deines Sohnes erbitten. Lehre uns, so zu beten, dass wir alle Hilfe von dir erwarten. Durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, unseren Herrn, der mit dir und dem Heiligen Geist lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Beispiel zum 18. Sonntag n. Trinitatis Gott, du hast uns geboten, dich von ganzem Herzen zu lieben und unseren Nächsten wie uns selbst. Hilf uns so zu leben und uns von deiner Liebe leiten zu lassen. Durch Jesus Christus unseren Herrn.
Eingangsgebet
Das Eingangsgebet entstammt eher Grundform II und ist weniger streng »komponiert«. Es gibt der Situation des Ankommens (am jeweiligen Sonntag) vor Gott Raum und kann daher Dank und Bitte enthalten, aber auch Sehnsucht und Zweifel ausdrücken. Es benennt meist die Bitte um Gottes gnädige Gegenwart für den Gottesdienst und vertraut sich dem Wirken des Heiligen Geistes an. Zugleich öffnet sich die Gemeinde für das Hören auf das Wort Gottes. Insofern ist das Eingangsgebet ein wichtiges Scharnier zwischen dem Eröffnungs- (A) und dem Verkündigungsteil des Gottesdienstes. Während das Tagesgebet in Grundform I den reicheren Eingangsteil bündelt und abschließt, hat das Eingangsgebet als Kernstück der Eröffnung eine größere Eigenständigkeit. Typisch ist folgendes Beispiel (EGb 534): »Wir sind zu dir gekommen, Gott, mit dem, was uns freut, und mit dem, was uns Angst macht. Wir sind gekommen mit unserem Dank, mit unseren Sorgen und auch mit dem Dunkel, das in uns ist. Wir bitten dich: Sprich zu uns durch dein helfendes Wort, erleuchte unsere Herzen, damit dieser Gottesdienst hineinwirkt in unser Leben, in unseren Alltag, in unsere Familien, in unsere Gemeinde.«
Bisweilen zeichnen sich Eingangsgebete durch prägnante Gottesprädikate und schöne Bilder aus. Auch der Heilige Geist wird unmittelbar angeredet. 116
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Beispiel zum Sonntag Jubilate Gott, du Lebenshauch des Paradieses, dich loben wir. Hauche uns deinen Geist ein, dann können wir unseren Weg gehen, wie du ihn gegangen bist. Lass uns in Vertrauen und Freude das ewige Ziel erreichen. Denn du bist unsere Hoffnung heute und alle Zeit. Beispiel zu Pfingsten Tröster-Geist und Gottes-Feuer, in dir begegnen wir Gott. Die Irrenden sammelst du in der Wahrheit und machst, dass sie einander verstehen. Dank sei dir und Lob.
Psalmkollekten und Psalmenparaphrasen
Eine besondere Form, die sich an unsere Überlegung zu den Psalmen anschließt, sind sog. Psalmkollekten, Eingangsgebete, die Psalmenmotive aufnehmen, ja gleichsam Psalmenparaphrasen sind. Damit nimmt die christliche Kirche das Urgestein jüdischer Gebete bewusst »neu in den Mund« und eignet sie sich mit eigenen Worten an. Zu Psalm 8 (Lobpreis mit der Schöpfung, eigene Verantwortung) Du wunderbarer Gott, die ganze Schöpfung singt dir ihr Loblied und kündet deine Macht und Schönheit. Uns Menschen hast du gewürdigt, deinen Auftrag zu erfüllen. Mach uns bereit, deine Erde zu bewahren, damit sie deine Fantasie und Güte widerspiegelt. Dir sei Ehre in Ewigkeit. Zu Psalm 22 (Passion, Klage) Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? So schrie dein Sohn am Kreuz zu dir, Vater, und rufen auch wir dich an in unserer Not. Weil du den Tod besiegt und deinen Sohn zum Leben erweckt hast, bitten wir dich: Hole auch uns heraus aus der Tiefe der Gottverlassenheit. Rette die Armen, Gott, und richte die Niedergeschlagenen auf. Brich die Ketten der Unterdrückten und Verfolgten, dass wir dir lobsingen um Christi willen, der auferstanden ist, damit auch wir leben. Zu Psalm 23 (Vertrauen) Wie ein guter Hirte leitest du uns, Gott. Immer hast du uns im Blick, auf lichten Auen und in dunklen Schluchten unseres Lebens. Das Gebet im Gottesdienst
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Du trägst uns, wenn wir verzagt und müde sind, begleitest uns, wenn wir froh und glücklich sind. Preis sei dir, dass du es so gut mit uns meinst und uns an deinen Tisch einlädst. Nicht halb, sondern voll schenkst du uns ein. So wollen wir jetzt auf deine Stimme hören, rede zu uns in dieser Stunde. Zu Psalm 51 (Buße und neues Leben) Gerechter Gott, wie sollten wir unser Leben aushalten, wenn wir mit unserer Schuld allein bleiben müssen? Aber du willst, dass wir leben. Du lässt uns Schuldige nicht fallen, barmherziger Gott, sondern öffnest uns neue Perspektiven. Schaffe in uns, Gott, ein reines Herz und gib uns einen neuen, gewissen Geist. Darauf hoffen wir auch in diesem Gottesdienst. Zu Psalm 118 (Osterzeit: Dank) Ewiger Gott, du Herr über Leben und Tod! Der Himmel ist uns aufgeschlossen in Jesus Christus. Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist unser Eckstein. Wir preisen das Wunder seiner Auferweckung aus dem Tod Und bitten dich: Baue deine Kirche, stärke ihren Glauben. Lass uns die Macht deiner Liebe groß werden, in diesem Gottesdienst und zu jeder Zeit. Dir sei Ehre und Dank in Ewigkeit. Zu Psalm 119 (Gebote und Wort Gottes) Reich beschenkst du uns, gütiger Gott, durch dein Wort. In einer großen Symphonie von Zeugnissen erzählt es von dir. Dein Gebot ist weise, dein Wille für unser Leben deutlich und klar. Dein Wort strahlt als helles Licht auf unserem Weg, staunend sehen wir deine Wunder. Lass uns deine Weisungen süß werden wie Honig, und gib uns den Mut, nach ihnen zu leben. Darum bitten wir dich, du Weisheit und Quelle unseres Lebens. Zu Psalm 139 (Geborgenheit in Gott) Gütiger Gott, deine Nähe umgibt uns von allen Seiten. Du begleitest uns Tag für Tag und Schritt für Schritt, in schwierigen und in schönen Zeiten. Bei dir finden wir Unterschlupf, wenn uns die Stürme des Lebens heimsuchen, du lachst mit uns, wenn wir zufrieden und glücklich sind. So sind wir geborgen in deiner Liebe.
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Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
2.4 Das Vaterunser Was die Psalmen in »ausladender Fülle« und Vielfalt der Formen bieten, findet im Neuen Testament seine äußerste Konzentration im Gebet Jesu. Wie die Psalmen hat auch das Vaterunser schon lange einen festen Platz im christlichen Gottesdienst. In der Alten Kirche wurde es den Taufbewerbern (wie heutigen Konfirmanden) mündlich zum Auswendiglernen mitgeteilt. Als elementares Gebet fand es auch Eingang in den Gemeindegottesdienst mit Abendmahl, wo es seit dem 5. Jh. als persönliches Vorbereitungsgebet vor dem Abendmahlsempfang einen wichtigen Ort bekam. Besonders die Vergebungs- und die Brotbitte dürften hier eine wichtige Rolle gespielt haben. In der lutherischen Tradition war das Vaterunser den Einsetzungsworten des Abendmahls meist vorangestellt und fungierte gleichsam als Tischgebet (vgl. allerdings jetzt EGb 83; 119). Das Vaterunser ist ein biblisches Wort und stammt aus der Bergpredigt. Als solches ist es Gabe Jesu Christi an seine Jünger, Inbegriff und Summe seiner Verkündigung, zugleich aber auch ganz Bitte an Gott, den Vater. Im Gegensatz zu den Psalmen, deren sprachlicher Hauptton auf Klage, Dank und Lobpreis liegt, steht hier die Bitte im Vordergrund, die freilich stets mit dem Dank und auch mit Äußerungen der Klage und des Lobpreises in einem engen Verhältnis steht. Das Vaterunser wird in seiner gottesdienstlichen Fassung von einer Anrufung an den liebenden Vater (Abba) und einem abschließenden Lobpreis Denn dein ist das Reich … eingerahmt. Dazwischen finden wir zwei Teile mit je drei Bitten. Die ersten drei (vgl. Mt 6,9f) sind in Du-Form gesprochen und beziehen sich inhaltlich auf Gottes Offenbarung, sein kommendes Reich und die Durchsetzung seines Willens in der Welt. Dem stehen drei Wir-Bitten (vgl. Mt 6,11–13) gegenüber, die sich auf den Bereich menschlichen Lebens in dreifacher Relation (Ich, Nächste/Umwelt, Gott) richten. Im zweiten Teil finden sich auch Motive der Klage, der Buße und des Vertrauens finden. Insgesamt fällt auf, dass alle Bitten des Vaterunsers sehr offen formuliert sind, so dass viele Menschen sich in ihnen wiederfinden können.
Das Gebet im Gottesdienst
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Die Anrede
Mit der Gottesanrede »Vater« beginnt das Gebet mit einer indirekten Heilszusage. Jesus erlaubt seinen Jüngern, Gott vertrauensvoll kindlich als »Papa« anzureden. Er gibt ihnen Anteil an seiner Sohnesstellung. Es ist dieser Abba-Ruf, der die drei folgenden Bitten überhaupt erst ermöglicht, in denen die heilige Majestät, die nie versagende Güte und die vergebende und bewahrende Barmherzigkeit des göttlichen Vaters angerufen werden. Die Anrede Abba war im Grunde nur im Kreise einer Familie möglich. Paulus hat diesen Ruf aufgenommen (Röm 8,14–16; Gal 4,6) und hebt darauf ab, dass es der Heilige Geist ist, der uns dieses Vertrauen und die Worte immer wieder schenkt. Der Zusatz »im Himmel« zielt im Gegensatz zum »Vater« auf die Heiligkeit Gottes. Gott ist zugleich auch der ganz Andere. Dennoch können wir mit Luther sagen: »Gott will […] uns locken, daß wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine Kinder, auf dass wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.« (Kl. Katechismus zum Vaterunser)
Die drei »Du-Bitten«
Die drei »Du-Bitten« nehmen hymnisches Vokabular aus dem Psalter auf. Bereits die erste (vgl. V9b) könnte eine ganze Theologie zusammenfassen. So wie Gott uns in der Taufe bei unserem Namen anredet, so offenbart und erschließt er uns durch das Anrufen seines Namens etwas von seinem Wesen, d. h. seiner Heiligkeit. In der alttestamentlichen Tradition ist der Begriff des Namens Gottes als Erschließung seines personalen Wesens nicht nur mit dem konkreten Namen jhwh (vgl. 2. Mose 3), sondern auch mit der Offenbarung am Gottesberg Sinai verbunden (vgl. 2. Mose 19). Diese Selbstvorstellung Gottes eröffnet den Gottesdienst, wird doch mit der Anrufung des Namens das Gebet und jede weitere gottesdienstliche Form ermöglicht. Der transzendente, ewige Gott, der Schöpfer und Herr der Geschichte wird auf diese Weise in seiner Heiligkeit dem Menschen zugänglich. Die erste Bitte kann auch als indirekte Aufnahme des zweiten bzw. dritten Gebots (Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen) verstanden werden, dessen positiver Sinn auf die Verherrlichung Gottes zielt. Dann stimmt die Gemeinde gleichsam in das 120
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Dreimalheilig von Jes 6,3 (vgl. oben III.1.3) ein und entspricht somit dem Lobpreis der Kundgabe des Namens Gottes ganz im Sinne der Heiligkeitsformel aus der Tora (vgl. 3. Mose 19,2): Ich bin heilig und ihr sollt heilig sein! Die Heiligung des gottesfürchtigen Menschen geschieht also in der Begegnung mit dem heiligen Gottesnamen als im Gottesdienst gewährte und bewahrte Offenbarung.
Auch in der zweiten Bitte, »Dein Reich komme«, geht es um Gottes Offenbarung in der Geschichte, wenngleich diese stärker als die erste Bitte auf Gottes kommende Herrlichkeit ausgerichtet ist. Die Rede von der Königsherrschaft Gottes bleibt bei Jesus in einer eigentümlichen Spannung des schon gekommenen (vgl. Lk 11,20), nahen (Mk 1,15) und kommenden Reiches (vgl. Mk 14,62). In der zweiten Bitte geht es daher um die endgültige Offenbarung der Herrschaft Gottes, die momentan noch aussteht. Worin liegt die Pointe der dritten Du-Bitte (Dein Wille geschehe usw.)? Hier wird zuweilen gefragt, ob es hier um den »gebietenden Willen Gottes« oder um seinen »Heilsratschluss« geht. Gemeint ist, dass auch auf Erden sich das verwirklichen soll, was im Himmel schon beschlossene Sache ist. Gott möge das vollenden, was er in Christus begonnen hat. Dies kann – zumindest teilweise – allerdings auch durch den Gehorsam der Menschen gegenüber dem geoffenbarten Willen Gottes in den zehn Geboten und der »Forderung Gottes im Wort Jesu« geschehen, so dass die »dritte Bitte die zweite interpretiert und weiterführt. Die dritte Du-Bitte legt Gott das Handeln des Menschen in Gestalt einer Bitte zu Füßen. Verstehen wir die Bergpredigt insgesamt als eine Aktualisierung des göttlichen Schöpferwillens durch Jesus, ja gleichsam als eine neue Magna Charta des bereits in den zehn Geboten offenbarten göttlichen Willens für die Welt (vgl. die Goldene Regel: Mt 7,12), so liegt es nahe, in dieser Bitte eine Reflexion auf Gottes gütig-bewahrendes Welthandeln zu sehen. Die drei »Wir-Bitten«
Den drei »Du-Bitten« schließen sich drei eng aneinander gefügte »Wir-Bitten« an, die fest in der Gegenwart verortet sind. Von der Fürsorge Gottes im täglichen Leben verdunkelt sich allmählich das Das Gebet im Gottesdienst
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Bild durch die Not menschlicher Sünde bis hin zur Versuchung und Anfechtung, die Gott in rätselhafter Weise zulässt. Die Brotbitte wirft zunächst sprachliche Fragen auf: Das im NT einmalige gewöhnlich mit »heute« übersetzte griechische Wort epiousios (V11) dürfte von epiousa (»der kommende Tag«) abzuleiten sein, so dass zu übersetzen ist: »Gib uns heute unser Brot für morgen.« (vgl. Luz, 345–347). Für das theologische Verständnis ist nun freilich wichtig, was »morgen« bedeutet: Hat es eine einfache zeitliche oder doch eher eine auf das ewige Morgen gerichtete Bedeutung? Muss man der allzu diesseitig klingenden Bitte einen tieferen spirituellen Sinn abgewinnen? Wohl kaum: Es passt zur Verkündigung und zum Leben Jesu, dass er dem Leiblichen nicht feindlich gegenübersteht und daher hier die »Versorgung von Tag zu Tag« zum Gegenstand einer Bitte macht. Jesus weiß: Fehlt den Betenden das Brot, so ist ihr Leben gefährdet, und wo Hunger herrscht, da kommen auch Gebet und Gottesdienst an ihre Grenzen. Im Grunde liegt diese Bitte ganz auf der Linie des Vertrauensliedes (vgl. Psalm 23) und betont damit den Geschenkcharakter aller alltäglichen Güter. Wichtige Hinweise für die Interpretation finden wir auch in Luthers Auslegung des Vaterunsers: »Gott gibt täglich Brot. Auch wohl ohn’ unser Bitte allen bösen Menschen, aber wir bitten in diesem Gebet, daß er uns erkennen lasse und mit Danksagung empfangen unser täglich Brot.« (Kl. Katechismus)
Bitte und Dank stehen in einem untrennbaren Zusammenhang, auch wenn Gottes gütige Zuwendung nicht von der Bitte abhängig ist. Luthers Hinweis auf Gottes Fürsorge für alle – auch die bösen – Menschen zielt auf die Zuordnung dieser Bitte zu Gottes Erhaltung der Schöpfung.
Die Brotbitte beinhaltet wie die letzte Du-Bitte um die Durchsetzung des Willens Gottes auch eine Selbstverpflichtung: Jeder, der sich zu Jesus bekennt und in seinem Namen betet, übernimmt Mitverantwortung für alle, die hungern, denn: nur an das eigene Brot zu denken und dabei die Geschwister und Mitmenschen zu vergessen, wäre Heuchelei. In dem kollektiven »Unser Brot für morgen gib uns heute« ist also immer auch schon ein Stück Fürbitte und Weltverantwortung enthalten. 122
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Die Vergebungsbitte, die sich in zeitgenössischen jüdischen Gebe ten ebenfalls findet, kommt aus dem Bußpsalm (s. o.). Hier geht es um die zwischen Gott und dem Einzelnen stehende Sünde, eine existenzielle Not, die vom Menschen selbst verschuldet ist. Sie wird hier mit der sog. »Vergebungsbeteuerung« verbunden (vgl. Mt 5,23; Mt 18,21f). Freilich darf der Nebensatz »wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« nicht im Sinne einer Bedingung missverstanden werden, als ob wir vergeben müssten, bevor Gott uns vergibt, oder umgekehrt aus unserer Versöhnungsbereitschaft ein Anspruch auf Gottes Zuwendung und Vergebung abzuleiten wäre. Noch dunkler als die menschliche Sünde ist die Erfahrung der rätselhaften Verborgenheit Gottes, die mit der Versuchungsbitte formuliert ist. Hier klingt das Motiv der Klage (vgl. Ps 13,2) an, in der Gott als Urheber menschlicher Anfechtung und Not erfahren wird. Strittig ist, ob Gott die Versuchung nur zulässt oder gar selbst schickt (vgl. Hiob 1,6ff bzw. Mk 14,32–42). Es geht um die Gefahr einer fundamentalen Lebenskrise, in der die Gottesbeziehung vollständig ins Wanken gerät, also wohl nicht um eine für alle Menschen noch ausstehende endzeitliche Versuchung. Ebenso wenig handelt es sich nur um eine »Erprobung« (vgl. 1. Mose 22; Jak 1,13–15). Die Bitte zielt wahrscheinlich darauf, dass die Versuchung den Gläubigen generell erspart bleiben möge, und nicht nur darauf, dass sie ihr nicht unterliegen mögen. Der bei Matthäus überlieferte Zusatz »Sondern erlöse uns von dem Bösen« lässt das Gebet nicht so schroff enden wie bei Lukas. Allerdings ein gewichtiger Zusatz, der auf Gottes gnädige Erlösung verweist.
Die abschließende Doxologie (»Denn dein ist das Reich«)
Die nur in späten Handschriften des Matthäusevangeliums überlieferte Doxologie »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit«, die das Gebet mit einem Lobpreis schließen lässt, wirft etliche Fragen auf: Könnten die drei Substantive »Reich, Kraft und Herrlichkeit« analog zu den drei anfänglichen Du-Bitten hinzugefügt worden sein? Dann hätte der hymnische Abschluss im Rahmen des ganzen Vaterunsers den theologisch tiefen Sinn, dass er die liturgische Antwort auf die drei ersten Das Gebet im Gottesdienst
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Bitten enthielte, sodass sich der Kreis harmonisch schlösse. Er spricht sozusagen die feste Zuversicht aus, dass die grundlegenden Anfangsbitten erhört werden. Dank ihrer Hinzufügung ist das Vaterunser also nicht nur Bitte, sondern auch Lobgebet. Die Doxologie preist den offenbaren Gott, der sich in Person und Werk Jesu Christi gezeigt hat, unter Wort und Sakrament des Gottesdienstes schmecken und hören lässt und sich einst bei Jesu Wiederkunft völlig enthüllen wird. 2.5 Fürbitten – ein Herzstück im Gottesdienst an der Schwelle zur Welt Das Fürbittengebet ist vielleicht das schwierigste Stück im Gottesdienst, denn Fürbitten sollen zeitgemäß und doch nicht zu umgangssprachlich, persönlich, aber auch nicht zu privat und vor allem nicht zu lang sein. Fürbitten sollen nicht dogmatisch oder hochkirchlich, sondern lebensnah und authentisch sein, sie sollen nicht vereinnahmen, sie sollen keine »verkappte Predigt« sein, die das nachholt, was auf der Kanzel nicht gesagt wurde … Fürbitten in der Bibel
Wenn wir in die Bibel schauen, können wir entdecken, wie Menschen geradezu mit ihrer ganzen Existenz vor Gott hintreten, um zu beten. Eines der eindrücklichsten Beispiele ist Abrahams Fürbitte für die sündige Stadt Sodom (1. Mose 18,16–33). Obwohl Gott doch – so könnte man meinen – seinen Gerichtsbeschluss längst verhängt hat, gibt es einen richtigen Gebetskampf: Abraham wird nicht müde, viermal mit Gott zu »feilschen«: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn … zürne nicht, Herr, dass ich noch einmal rede! usw. Immer wieder tritt er flehend für die Menschen in Sodom ein und scheitert am Ende mit seiner Bitte nur knapp: Gott lässt sich von 50 auf 10 Gerechte »herunterhandeln«. In 2. Mose 32 ist es Mose, der vor Gott tritt, um für das in Sünde gefallene Volk zu bitten, das in seiner Abwesenheit ein Goldenes Stierbild gegossen und dieses angebetet hat. Er bittet: Kehre dich ab, Gott, von deinem grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst! Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst 124
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
geschworen und verheißen hast. Und das Erstaunliche geschieht. Gott lässt sich bewegen. Nüchtern heißt es: Da gereute Gott das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte …
Die Erinnerung an Gottes gnädige Verheißung ist ein wichtiges Motiv, das unser Gebet stärken kann und uns den Mut gibt, mit Gott zu ringen und zu streiten. So wird deutlich: Fürbitten sind keine zeitlosen Formeln, sondern drücken ein Gottesverhältnis aus, das von Vertrauen und Zweifel in gleicher Weise geprägt ist. Nicht nur Gegenwart und nahe Zukunft, sondern auch die Vergangenheit, die Geschichte des Glaubens, kommt hier zur Sprache. Im Neuen Testament finden wir wichtige Beispiele zum Thema in der Jesustradition. a) Im sog. »hohenpriesterlichen Gebet« bittet Jesus für seine Freunde: Ich bitte nicht, dass du sie von der Welt nehmest, sondern dass du sie bewahrest vor dem Bösen … Heilige sie in der Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit. (Joh 17,15.17) b) Der am Kreuz hängende Jesus tut sogar für seine Feinde Fürbitte: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! (Lk 23,34) Damit ist das Gebot der Feindesliebe ins Gebet genommen zugespitzt. c) Weniger dramatisch klingt die Stelle, die man gleichsam als »Einsetzungsworte« des Fürbittengebets bezeichnen kann. In 1. Tim 2,1.2 heißt es: So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Gottesfurcht und Ehrenhaftigkeit … Wenn wir bedenken, dass viele Menschen unter Diktatur und Verfolgung leiden und politischen Systemen ausgesetzt sind, in denen Misshandlung und Folter an der Tagesordnung stehen, dann wird uns die Ermahnung, für diejenigen zu beten, die in der politischen Verantwortung stehen, wieder ganz neu bewusst und wichtig. Ja mehr noch: Christen nehmen an dieser Stelle schon selbst und zwar im Angesicht Gottes Verantwortung wahr.
Doch kommen wir nun zur Fürbitte im Gottesdienst. Das Gebet im Gottesdienst
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Fürbitten im Gottesdienst
Schon der Märtyrer Justin (gestorben 165 in Rom) berichtet davon, dass in der Abendmahlsliturgie Fürbitten »für uns selbst, für den neu Erleuchteten [Getauften] und für alle anderen in der ganzen Welt« (Justin, Apologie I,65,1, vgl. Beckmann, 225) vor Gott gebracht worden seien. Diese Praxis hat sich in der Geschichte stabilisiert und ausdifferenziert, in dem Sinne, dass im sogenannten »Allgemeinen Kirchengebet« oft zunächst die Kirche und die Ausbreitung des Evangeliums, dann Staat und Gesellschaft und zuletzt einzelne Notleidende in den Blick kamen, wobei sich die versammelte Gemeinde auch selbst eingeschlossen hat. Man unterscheidet geläufig vier Formen des Fürbittengebetes: Prosphonese, Ektenie, Diakonisches Gebet und die Preces (vgl. EGb, 555f). Die erste Form ist die einfachste und wird von der Liturgin allein unter Aneinanderreihung von verschiedenen Anliegen gebetet. Die zweite Form ist die so genannte Ektenie. Ekteneia heißt so viel wie Ausdauer oder Beharrlichkeit, kann im ursprünglichen Sinne aber auch das sehnsüchtige Ausstrecken der Hände meinen. Hier ist die Gemeinde durch einen gesprochenen oder gesungenen Kehrreim wie Kyrie eleison oder »Herr, erhöre uns!« usw. eingeladen, selbst ins Beten einzustimmen. Eine weniger verbreitete Form ist das sog. Diakonische Gebet , denn die eigentliche Bitte wurde klassischerweise vom Diakon vorgetragen: L: In der Freude über Gottes Schöpfung und unser Dasein lasst uns bitten: D: Um Ehrfurcht vor dem Leben und um Liebe zu allen Geschöpfen, dass wir die Schönheit, aber auch das Seufzen der Kreatur wahrnehmen. Lasst uns beten: Stille L: Gott, du Quelle des Lebens, mach uns achtsam und liebevoll im Umgang mit Pflanzen und Tieren. Lehre uns den rechten Umgang mit den Ressourcen dieser Erde. G: Amen
Außerdem gibt es in leichter Abweichung vom Diakonischen Gebet auch die Form, dass der Liturg einleitet und dann einzelne Stimmen mit Fürbitten zu Wort kommen. Hier können ggf. aktuelle Texte, z. B. von einer Gebetswand, aufgenommen werden. 126
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Anregungen für die Gestaltung
Oft kann man gesungene Kehrverse passend zum Thema des Sonntags auswählen, zuweilen sogar ganze Lieder einarbeiten. Mit gesungenen Einwürfen und Gesängen schaffen wir eine atmosphärische »Grundierung« der Fürbitten, die den Gottesdienst verdichtet. Im gesungenen Kehrreim hat die Gemeinde Zeit, sich die Bitte anzueignen und auf die nächste einzustellen. Es ist auch denkbar, dass ein einziger (Bass-)Ton summend durchgehalten wird, selbst dann, wenn einzelne Fürbitten gesprochen vorgetragen werden. Kleine symbolische »Aktionen« vertiefen das Beten ganzheitlich. Kerzen können nicht nur am Ewigkeitssonntag oder im Advent, sondern regelmäßig entzündet werden, wenn ein Gemeindeglied verstorben ist. Auch gibt es die Möglichkeit farbige Tücher als sinnliche »DenkZeichen« (z. B. beim Erntedankfest) einzubringen und damit den Altar zu schmücken. Dieses Element ist wichtig, weil die visuelle oder gar haptische Erfahrung uns in den Alltag begleitet. Was wir gesehen und berührt, ja womöglich gerochen und geschmeckt haben, bleibt uns anders präsent als das, was wir »nur« gehört haben. So kann leibliche Spiritualität (vgl. das 6. Kriterium des EGb, 18) erlebt werden. Was geschieht im Fürbittengebet? Hier werden unsere Augen und Ohren, unser Mund und unsere Herzen, ja unser ganzer Mensch auf Gott und die Welt zugleich ausgerichtet. Durch Gottes Wort (evtl. auch schon die Gaben von Brot und Wein gestärkt) wenden wir uns einem anderen Gottesdienst zu, dem der Diakonie und des Zeugnisses im Alltag. Wir entdecken die Welt als Gottes gute Schöpfung, die uns von Ihm anvertraut ist. Mit Herzen, Mund und Händen treten wir vor Gott hin, um für diese Welt und ihre Geschöpfe einzutreten und uns zugleich in die Verantwortung für sie nehmen zu lassen. Das Fürbittengebet ist somit im besten Sinne Antwort und markiert neben dem Segen das wesentliche Scharnier zwischen Sonntag und Alltag, Glaube und Leben. Es ist ein Geschenk an unsere Mitmenschen und an uns selbst, weil wir hier bei Gott abgeben dürfen, was uns bedrängt und belastet, und zugleich unser Handeln auf das Gute und Wahrhaftige hingelenkt wird. Das Gebet im Gottesdienst
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3 Die biblischen Lesungen im Gottesdienst »Gemeinchristlicher Tradition gilt das Wort der Schrift als verbum Dei scriptum, als schriftliche und darum überlieferungsfähige Gestalt des geschichtlichen Gotteswortes, als Quelle und Norm aller aktuellen Bezeugungen des Glaubens. Im Gottesdienst freilich kommt dieses Wort in der Regel nicht als geschriebenes, sondern als verlesenes Wort zur Sprache. […] Gott wendet sich in seinem Wort uns zu. Christus spricht zu uns, wenn die Schrift verlesen wird.« (Bieritz, 262)
So schrieb der große Liturgiker Karl-Heinrich Bieritz zu den Lesungen im Gottesdienst. Das Evangelium ist lebendiges Wort, das Christentum nicht primär Buchreligion, sondern durch das lebendige Wort gezeugt. Jesus hat Gleichnisse erzählt und das Reich Gottes angesagt, Bücher geschrieben hat er nicht. Selbst Paulus hat in erster Linie mündlich das Evangelium verkündigt. Seine Briefe dagegen sind zwar kostbare, aber doch auch auf bestimmte Anlässe bezogene Schreiben an konkrete Gemeinden, entstanden in einem kleinen Zeitraum von ca. 15–20 Jahren. Nicht zuletzt hat auch Martin Luther immer wieder auf der viva vox evangelii, auf der mündlichen Mitteilung des Evangeliums, bestanden. Warum also überhaupt eine oder gar – wie in Grundform I üblich – mehrere Lesungen im Gottesdienst? Die Antwort ist ebenso einfach wie einleuchtend. Um den Glauben lebendig zu halten, um das Evangelium immer wieder aktuell zu kommunizieren und in Beziehung zu seinen Ursprüngen zu setzen, braucht es eine »leiblich-buchstäbliche« Form, sonst würde sich der Glaube im »luftleeren Raum« einer vagen Geistreligion verlieren. Es braucht ein gleichsam »objektives« Gegenüber, das Quelle, Medium und Richtschnur des Glaubens der Kirche ist. Der Ägyptologe Jan Assmann betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses: »Mit dem Begriff […] des kulturellen Gedächtnisses scheint uns der Schnittpunkt bezeichnet, in dem die am Fest beteiligten Felder der Zeiterfahrung, der Gemeinschaftsbildung, des Ursprungs- und Geschichtsbewußtseins, des Ästhetischen und des Heiligen konvergieren; Feste werden zum zentralen ›Medium‹ oder ›Ort‹ kultureller Erinnerung« (Assmann, 13).
Um Zukunft zu gewinnen, muss im Rückgriff auf die Tradition der biblischen Schriften als Träger des religiösen Gedächtnisses die 128
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Gegenwart im Licht Gottes beleuchtet werden. Theodosius v. Harnack bezeichnete das Lesen der heiligen Schrift im Gottesdienst gar als »sinnliches Medium der ununterbrochenen Gnadengegenwart Gottes in seiner Gemeinde auf Erden« (Harnack, 417). Bei der Schriftlesung im öffentlichen Gottesdienst passiert – theologisch gesprochen – etwas Wunderbares: Das biblische Wort wird beim Vorlesen durch einen Menschen neu zum Leben erweckt und neu gehört. Noch deutlicher als bei der persönlichen Bibellektüre zeigt die versammelte Gemeinde dadurch, dass sie sich verbindlich an die Schrift als offenbartes Wort Gottes hält. Dies kann dadurch ausgedrückt werden, dass sie die Bibel an einem besonderen Ort aufbewahrt (Logophoron) oder sich zu den Lesungen erhebt. Dieser Brauch ist zumindest im lutherischen Norden Deutschlands weit verbreitet. Damit ist das Ereignis der Lesung allerdings erst »äußerlich« beschrieben. Ein zweites, gleichsam »inneres« Ereignis kommt – so Gott will – hinzu: Im Gottesdienst geschieht es, dass uns der dreieinige Gott durch den Heiligen Geist mit diesem Wort im Hier und Jetzt erreicht und uns die Geschichte mit seinem Volk und seiner Kirche vergegenwärtigt und erschließt. In den alttestamentlichen Lesungen spricht Gott von dem Weg, den er mit Israel gegangen ist, als er sein Volk aus der Gefangenschaft befreit hat. Bei den Lesungen der Briefe erfahren wir etwas von der Situation der ersten Christen und über die Gestalt apostolischer Lehre. In der Lesung der Evangelien wird von der Sendung des Sohnes in die Welt erzählt, seinem Predigen und Heilen, seinen Wundern und seinem Feiern mit den Menschen, seinem Leiden, Sterben und Auferstehen. So wird die Geschichte Gottes in Christus mit Menschen und für Menschen erzählt, die uns bis heute trägt. Dietrich Nestle schreibt: »Im Evangelium kommt Jesus auf uns zu. Er kommt nicht aus der Vergangenheit, sondern vom VATER her« als das »Licht, das uns erleuchtet« (Nestle, 272). Es ist also eine gute, nein: eine unverzichtbare und deshalb auch ökumenisch geläufige Tradition, dass seit frühester Zeit (vgl. 1. Kor 14; Kol 3,16) die Heilige Schrift im Gottesdienst laut verlesen wird. Dazu gehören die Schriften der jüdischen Bibel. Mit Peter Brunner können wir sagen: »Die Gemeinde hat ein Recht darauf, dem prophetischen und apostolischen Wort der Schrift […] zu begegnen.« (Brunner, 195) Die biblischen Lesungen im Gottesdienst
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Schon früh hat bei der Auswahl der Texte eine Selektion und auch eine Art »Konsensbildung« stattgefunden. Man spricht von sog. Perikopen, d. h. »herausgeschnittenen Stücken«, die dann einem bestimmten Sonntag zugeordnet worden sind, woraus das sog. Proprium de tempore, das Gepräge des jeweiligen Sonn- oder Festtags resultiert. Am ersten Advent (und am Palmsonntag) hören wir die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem (Mt 21), am vierten Advent erklingt das Magnificat der Maria, an Misericordias Domini (Sonntag vom Guten Hirten) die Hirtenrede aus Johannes 10 usw. Woher stammt diese Auswahl? Ungefähr seit dem 7. Jahrhundert war es die von Rom bestimmte Evangelienreihe, die prägend für die Sonntage gewirkt hat. Im gallischen Sprachraum bildete sich im 8. Jahrhundert die Epistelreihe heraus. Beide Reihen wurden in der Reformationszeit zusammengeführt und – dies war die eigentliche Neuerung – in der Volkssprache gelesen. Erst viel später wurden diesen Reihen auch alttestamentliche und weitere neutestamentliche Texte zugeordnet. In großem Stil fanden solche Perikopenrevisionen 1890–1896 in Eisenach und im Zuge der Agendenreform 1958 (erstmals sechs Reihen) sowie zuletzt 1978 statt. Zum ersten Advent 2018 wurden nach einem ca. achtjährigen Revisionsprozess innerhalb der Kirchen der VELKD und der UEK neue Lesungstexte und Wochenlieder eingeführt (Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder = OGTL). Was wurde revidiert und was bleibt? Es gibt weiterhin sechs Perikopenreihen, sodass im siebenjährigen Turnus der Predigttext wechselt. Damit hat man sich nicht dem 1969 vom letzten Konzil eingeführten »Ordo Lectionum Missae« (OLM) angeschlossen, der sog. Bahnlesungen der drei synoptischen Evangelien vorsieht, die an Festtagen durch das Johannesevangelium ergänzt werden. Nicht nur für die Kirchenmusik (z. B. die Zuordnung der Bach-Kantaten) hätte dies einen fundamentalen Umbruch bedeutet. Vielmehr wurde am Prinzip von bis zu drei Lesungen pro Gottesdienst (Altes Testament, Epistel, Evangelium) und ggf. einem weiteren Predigttext nichts geändert. Ja, mehr als 80 % der Lesungstexte sind erhalten geblieben. Die Revision verlief also äußerst moderat. 130
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Insgesamt wurde allerdings die Zahl der alttestamentlichen Lesungen von ungefähr einem Sechstel auf ein Drittel verdoppelt. Dazu gehören auch Texte aus dem griechisch überlieferten Kanon jüdischer Schriften, der Septuaginta, die Luther unter die sog. Apokryphen rechnete (in der neuen Lutherübersetzung 2017 aber alle aufgenommen sind und zwischen AT und NT stehen). Unter den AT-Lesungen sind wesentlich mehr weisheitliche Texte (z. B. aus dem Buch Hiob, dem Buch der Weisheit Salomos und dem Hohenlied), aber auch – erstmals in der Geschichte der evangelischen Kirche – etliche Psalmen (Ps 24; 46; 51; 103, 126; 130 u. a.). Die vielleicht spürbarste Veränderung ist, dass jeden Sonntag eine andere Textsorte gepredigt wird. Altes Testament, Epistel und Evangelium wechseln sich ab. Es gibt also keine durchlaufenden Predigtreihen mehr wie früher Reihe I (Evangelien), Reihe II (Episteln) usw. Dadurch ist für die Predigerinnen und Prediger und die Gemeinde, die regelmäßig am Gottesdienst teilnimmt, ein hohes Maß an Abwechslung gegeben, das vor Ermüdungserscheinungen (z. B. bei den bisherigen Reihen II und VI) bewahren soll. Kriterien für die Auswahl der Predigttexte war vor allem das sog. Konsonanzprinzip. Biblische Texte sollen so harmonieren, dass ein sonntäglicher Klangraum, eine Art roter Faden, entsteht, der den Sonntag bzw. Festtag leitet. Die biblischen Texte sollen sich gegenseitig auslegen und ergänzen, sich aber auch nicht doppeln. Deshalb wurden sog. Dubletten in der Regel »aussortiert« (z. B. das Gleichnis vom großen Gastmahl, das in Lk 14 und Mt 22 überliefert wird und am 2. Sonntag n. Trinitatis zweimal vorkam). Weitere Auswahlkriterien waren der aktuelle Bezug zur Lebenswirklichkeit von Frauen und Männern bzw. die ethische Relevanz und die weltweite ökumenische Verbreitung. Antijudaistische Texte wurden als Evangelium entfernt, sollen aber – wie am Sonntag Reminiszere – punktuell weiterhin gepredigt werden (vgl. Mk 12,1–12; Gleichnis von den bösen Weingärtnern). Der Israelsonntag hat in Zukunft (wie früher schon der Ewigkeitsbzw. Totensonntag) zwei Proprien. In einem Fall (grüne Farbe) geht es um das geschwisterliche Verhältnis von Christen und Juden. Hier ist die markinische Fassung vom »Doppelgebot« (Mk 12,28–34) als Evangelium vorgesehen. Die andere Option ist ein Gedenktag der Die biblischen Lesungen im Gottesdienst
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Zerstörung Jerusalems (Evangelium aus Lk 19,41–48). In diesem Fall handelt es sich um einen Bußtag (Farbe violett). Etliche prominente Texte sind ausgetauscht bzw. verschoben worden. So wird z. B. die Geschichte vom Turmbau zu Babel (1. Mose 11) mit der Sprachverwirrung der Völker künftig am Pfingstsonntag und nicht erst am Pfingstmontag gelesen. Der berühmte »Heilandsruf« (Mt 11,25–28) steht nicht mehr als Evangelium am Sonntag Kantate, sondern flankiert das große Gastmahl (Lk 14) am 2. Sonntag n. Trinitatis. Am Sonntag Kantate wurde u. a. die Erzählung von der Tempelweihe Salomos aus 2. Chr 5 hinzugenommen. Eine weitere spürbare Veränderung ist der Abschluss des Epiphaniaskreises mit dem Sonntag, der dem 2. Februar folgt. Thema bleibt die Verklärung Christi (Mt 17,1–9). Dadurch ist die Zahl der dann folgenden Sonntage der Vorfastenzeit etwas erweitert worden und variiert je nach Ostertermin. In etlichen Fällen wurden die Wochensprüche ausgetauscht (vgl. z. B. Altjahrabend »Meine Zeit steht in deinen Händen«, Psalm 31,16 statt Hebr 13,8). Statt einem gibt es künftig zwei Wochenlieder, die aus zwei verschiedenen Epochen stammen. Unter ihnen sind zahlreiche Lieder aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Die Anregungen im neuen Perikopenbuch zielen außerdem darauf, mehr thematische Predigtreihen (z. B. zu Themen wie Schöpfung, Frieden, Verantwortung, Liebe, Gemeinschaft, Kirche usw.) anzubieten. Continua-Predigten (fortlaufende Predigten) zu einzelnen biblischen Büchern, eine Tradition der Reformierten Kirche, werden ebenfalls vorgeschlagen. Sie eignen sich besonders in Zeiten, die nicht so stark durch das Kirchenjahr geprägt sind (z. B. im Sommer). Insgesamt besteht die Hoffnung, dass durch die Einführung der neuen Lesetexte und Wochenlieder der Reichtum der biblischen Botschaft und der Schatz alter und neuer Lieder noch mehr in den Mittelpunkt rückt. Der »Tisch des Wortes« und der Lieder ist reich gedeckt. Anmerkungen zur Praxis der Lesungen Funktionaler Ort für die Lesungen ist das Lesepult (Ambo), in der Regel geschmückt durch ein Parament. Besonders Kirchenräume in Oval- oder Ellipsenform haben oft zwei Brennpunkte: Altar und Lesepult. In diesen Räumen haben Wortverkündigung und Altarsakra132
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ment gleich den Brennpunkten einer Ellipse ihren gleichwertigen, aufeinander bezogenen Ort. Wichtig ist, dass die Texte im Raum gut verständlich, aber auch nicht zu pathetisch vorgetragen werden. Natürlichkeit und Klarheit sollten in Balance sein. Im Gegensatz zur freien Rede ist ständiger Blickkontakt zur Gemeinde nicht nötig. Sprechgeschwindigkeit, Pausen, Modulationen in der Stimmführung können durch Lesetraining eingeübt und immer wieder optimiert werden. Eine gesungene Rezitation ist die große Ausnahme und wird m. W. fast nur noch in der Osternacht praktiziert. Verbreiteter sind musikalische Überleitungen zwischen Lesungen oder – gleichsam wie im Hörspiel – eine musikalische Unterlegung bzw. Kommentierung von Lesungen. Dabei können Aussagen des Textes meditiert oder interpretiert bzw. auch Emotionen und Stimmungen illustriert werden. Die Musik der Orgel, des Klaviers, der Bläser, Streicher oder des Soloinstruments wird im besten Sinne zum Kontrapunkt des Wortes. Die Einleitung und Beendigung durch liturgische Rufe (»Ehre sei dir, Herre« bzw. »Lob sei dir, o Christus« usw.) sind – besonders im lutherischen Gottesdienst – noch immer in Gebrauch. Durch diese Rufe wird Christus als derjenige begrüßt, der der Gemeinde im Evangelium entgegenkommt und zu ihr spricht. Die Verantwortlichen der Revision haben sich hinsichtlich des Hallelujas der Überzeugung angeschlossen, dass dies sachlich zum Evangelium und nicht zur Epistel gehört. Es geht der Ankündigung der Lesung allerdings stets voraus. Ob die Gemeinde beim Hören sitzt oder steht, akzentuiert jeweils einen eher rezeptiv-adressatenorientierten oder rituellen Gebrauch der Lesung. In der Regel soll im evangelischen Gottesdienst die Lutherbibel (2017) verwendet werden, kann aber auch durch andere Übersetzungen ersetzt werden. Eine Sonderform bilden Lesungen in »Leichter Sprache«. Sie ermöglicht Menschen, die aus kognitiven Gründen oder mangelnder Sprachkenntnis einer herkömmlichen Lesung nicht folgen können, einen besseren Zugang zum biblischen Text. Dafür wird eine Lesung nach bestimmten Regeln, aber auch mit viel Sprachgespür in die Leichte Sprache übertragen (vgl. dazu unten Abschnitt 4.5. Gottesdienst und Inklusion). Die biblischen Lesungen im Gottesdienst
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Um die Aufmerksamkeit der Gemeinde zu schärfen und die Lesung aufzuwerten, empfehle ich folgende zwei Möglichkeiten für die Ausführung: Voranstellen einer kleinen Hinführung (Präfamen)
In diesem Fall wird die Lesung »anmoderiert«. Die Aufmerksamkeit der Gemeinde für ein bestimmtes Thema wird geweckt und so die Brücke in den Alltag des christlichen Lebens geschlagen. Vielleicht wird auch ein komplexer Zusammenhang, in dem die Lesung steht, kurz eingeführt, damit die Situation, in welcher die Geschichte »spielt«, deutlicher wird. Insgesamt ist darauf zu achten, dass diese Präfamina knapp bleiben und nicht belehrend oder ausufernd daherkommen. Alttestamentliche Lesungen sollten nicht zu stark durch die christologische Brille gedeutet und dadurch vereinnahmt werden. Hinführung zur Epistel aus 1. Kor 15,50–58 (Ostermontag) »Geheimnisse sind etwas Schönes. Kinder flüstern sie sich ins Ohr. Auch Paulus lüftet eines. Er lässt uns kurz hinter den Vorhang schauen. Öffnet die Tür in eine andere Welt. Kraftvolle Töne dringen an unser Ohr. Und das Versprechen ist schlicht grandios: Der Tod ist tot. Hört die letzten Verse aus Kapitel 15 des ersten Korintherbriefs.« (aus: Arnold/Baltruweit/Gorka, 2020, 114)
Inszenierte Lesungen mit verteilten Rollen Die Lesung mit verteilten Rollen und mehreren Stimmen (vor allem bei Erzähltexten aus dem AT oder Evangelien) ist vergleichbar mit der Verteilung von Solostimmen in den Passionen von Schütz. Es geht dabei nicht um ein Anspiel oder Theaterstück, sondern um das akustische Verdeutlichen diverser Rollen im Bibeltext. Dies kann auch durch eine Collage von mehreren Texten geschehen oder an unterschiedlichen Orten im Raum stattfinden. Langjährige Erfahrung mit diesem Medium zeigt, dass sowohl Konfirmandinnen als auch Kirchenvorstände hier neu Lust auf die Begegnung mit dem biblischen Wort bekommen. 134
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Dialogische Lesung aus dem Evangelium zum Letzten Sonntag nach Epiphanias – Mt 17,1–9 »Erzähler/in: Jesus nahm mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg. Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm. Petrus aber antwortete und sprach zu Jesus: Petrus:
Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.
Erzähler/in: Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Stimme:
Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!
Erzähler/in: Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Jesus:
Steht auf und fürchtet euch nicht!
Erzähler/in: Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein. Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Jesus:
Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.«
(aus Arnold/Baltruweit, 2020, 67)
4 Die Predigt im Gottesdienst – lebendiger Trialog Das Evangelium, die gute Nachricht von Jesus Christus, ist nicht in erster Linie papiernes Lesewort, sondern viva vox, ein lebendiges Wort, das in unsere Zeit und Situation hinein klingt und spricht. Martin Luther hat es in seiner Vorrede zum Neuen Testament von 1522 als »gute Botschaft, gute Mär, gute Neuzeitung, gut Geschrei« bezeichnet, »davon man singet, saget und fröhlich ist« (Luther, WA DB 6,2). Das Evangelium redet nicht nur über Christus und sein Handeln vor 2000 Jahren, Christus teilt sich selbst dadurch bis heute den Menschen mit (vgl. Kol 3,16). Evangelium ist daher beides: die einmalige Heilstat Die Predigt im Gottesdienst
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Gottes in Jesus Christus und sein aktuelles Heilswort an Menschen von heute. Es ist geradezu ein Markenzeichen der christlichen Kirche, dass dieses Heilswort in Gestalt der Predigt immer wieder Ereignis wird, um Menschen »zum Glauben zu locken und zu reizen«, wie Luther es im Großen Katechismus (BSLK 642) zu den 10 Geboten formulierte. Die biblische Botschaft, die in der Schriftlesung im Originalton verlesen wurde, wird für Menschen von heute durch Menschen von heute ausgelegt, erzählt, neu gesagt, verkündigt. Jesus selbst hat das ähnlich getan: Er hat Gleichnisse erzählt und damit das Evangelium von Gottes nahem Himmelreich angesagt. Petrus, Paulus und viele andere sind ihm darin gefolgt: In Synagogen und auf den Marktplätzen der Städte haben sie die Botschaft des gekreuzigten und auferstandenen Christus verkündigt (vgl. Apg 3; 5; 17). Martin Luther hat deshalb gefordert, dass Gottes Wort gerade in der Volkssprache gepredigt wird und also wieder im »Schwange gehe« (Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeinde; WA 12,37), damit der Glaube geweckt und vergewissert wird (Röm 10,17). »Kommunikation des Evangeliums« hat Ernst Lange das genannt und auch gleich eine Definition von Predigt mitgeliefert, die bis heute nachwirkt: »Predigt als Gespräch mit dem Hörer über sein Leben im Licht der Verheißung«. Genauer schrieb Lange: »Ich rede mit dem Hörer über sein Leben nicht aus dem Fundus meiner Lebenserfahrung, meiner größeren Bildung, meiner tieferen Weisheit, meiner religiösen Inspiration. Ich rede mit ihm über sein Leben im Licht der Christusverheißung, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Und das heißt letztlich: Ich rede mit ihm aufgrund von biblischen Texten.« (Lange, Aufgabe, 205)
Die Predigt im evangelischen Gottesdienst lässt sich m. E. nicht ohne diese Erwartung und diesen Anspruch verstehen. Schon hier wird deutlich: Es geht nicht um einen Smalltalk wie im Supermarkt oder am Kiosk. Viele Menschen – das zeigt auch die jüngste EKD-Kirchenmitgliedschaftsstudie von 2014 – sehen in der Predigt bis heute die Mitte und das Herzstück des evangelischen Gottesdienstes. Über 80 % der Befragten wünschen sich eine »gute Predigt« im Gottesdienst. Dieses Anliegen ist verbunden mit dem Wunsch nach einer »zeitgemäßen, verständlichen Sprache« und nach Themen, die uns wirklich betreffen 136
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und angehen. Spätestens hier wird klar: Die Predigt ist kein erratischer Block im Gottesdienst. Was hier verhandelt wird, muss schon vorher durch aktuelle, biblische oder liturgische Bezüge vorbereitet werden, sodass Michael Meyer-Blancks mündlich überliefertes Bonmot sich bewahrheitet: »Die Frucht der Predigt fällt nicht weit vom Stamm der Liturgie.« Doch was ist eine Predigt überhaupt? Dazu gab es und gibt es unzählig viele Beschreibungen. Der Begriff leitet sich vom lateinischen praedicare ab, das mit »laut äußern, rühmen« übersetzt werden kann. Nach reformatorischem Verständnis ist die Predigt eine sinnlich wahrnehmbare, öffentliche (laute) Äußerung einer ordentlich berufenen Person im Auftrag Jesu Christi bzw. der Kirche. Sie geschieht zur Ehre Gottes, richtet sich aber im Namen Gottes primär an die versammelte Gemeinde. Kirche wird durch das Ereignis des verkündigten Wortes Gottes (publice docere) geradezu ins Leben gerufen. Kirche ist creatura verbi divini, Geschöpf des Wortes Gottes. Durch die biblisch bezogene Predigt und durch die Christus gemäße Austeilung der Sakramente wird Kirche konstituiert (CA VII). Dieses Ereignis hat zwei Seiten. Die Außenseite, das verbum externum (äußeres Wort), ist gleichsam objektiv und sinnlich. Wir hören, sehen und schmecken, was Gott uns schenkt. Artikel V der Augsburger Konfession redet von Wort und Sakrament als Instrumenten des Heiligen Geistes. Zugleich gibt es auch eine Innenseite (verbum internum). Sie ist uns prinzipiell unverfügbar (vgl. das berühmte ubi et quando visum est Deo in CA V) und bezeichnet das »Ereignis«, dass Menschen im Glauben getröstet oder vergewissert werden. Der Ort der Predigt war traditionell stets die Kanzel, die im Gottesdienstraum akustisch und visuell herausgehoben ist. Sie »schwebt« gleichsam zwischen Himmel und Erde. Doch wird uns diese Definition kaum ausreichen. Was macht eine Predigt aus? Was geschieht, wenn wir predigen oder einer Predigt zuhören? Erinnern wir uns an Luthers Torgauer Formel des Gottesdienstes, wonach »unser lieber Herr mit uns redet durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm in Gebet und Lobgesang« (WA 49,488). Damit beschreibt er den ganzen Gottesdienst als dialogisches Wort-Antwort-Geschehen und macht so besonders den kommuDie Predigt im Gottesdienst
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nikativen Aspekt stark. Das gilt – manchen mag das überraschen – auch für die Predigt. Denn die Predigt ist kein Monolog, sondern ein Dialog, ein Wortwechsel Gottes mit der Gemeinde, der den bereits begonnenen Dialog des Gottesdienstes weiterführt. Sie steht nicht wie ein Fremdkörper im Ritual der Liturgie. Die Predigt ist vielmehr geprägt vom Zauber eines Gesprächs, das längst in Gang gekommen ist. Schon mit der Schöpfung, beim Beginn unseres Lebens, hat Gott dieses Gespräch eröffnet und uns Menschen, ja alle Kreaturen (im Segen), angeredet. Es ist sodann geprägt vom Charme (charis ist das griechische Wort für Gnade) der liebenden Zuwendung, die seit der Taufe unser christliches Leben trägt und bestimmt. Die Predigt bleibt, obwohl sie ihrem Wesen nach zutiefst »menschlich« ist, also gerade nicht auf das Zwischenmenschliche beschränkt. An dieser Stelle verlassen wir alles, was empirisch nachweisbar ist, und berufen uns auf die biblische Verheißung: Jesus hat seine heilvolle Gegenwart fest versprochen, wenn zwei oder drei sich in seinem Namen versammeln (Mt 18,20). Er garantiert seine Präsenz, er verleiblicht sich neu. Das lässt sich auch geisttheologisch sagen: Wie ein Musiker im Konzert sein Instrument spielt, setzt Gottes Geist das Instrument der Predigt ein, um Menschen zu berühren und die Symphonie des Glaubens (der Gemeinde) mit Klängen zu »erwecken«. Gott möchte das so, er bindet sich geradezu mit seinem Versprechen an das, was Menschen, was die Kirche tut. Allerdings können die menschlichen Instrumente – also Predigerinnen und Prediger – trotz sprachlicher Begabung, guter Ausbildung und intensiver Vorbereitung nicht über die Wirkung verfügen. Sie können nur darauf vertrauen, dass sich Gottes Geist in ihre Rede hinein begibt, ja gleichsam inkarniert. Daher hat jede Predigt etwas Weihnachtliches. Gottes Wort wird Fleisch. Gottes Geist verbindet sich mit menschlichen Worten so, wie Christus Mensch wurde. Das Wort Christi nimmt Wohnung unter uns (vgl. Kol 3,16). Menschen werden einander kündend zum Christus. Immer wieder ist das Kommunikationsgeschehen der Predigt mit einem Dreieck verglichen worden: An den drei Ecken befinden sich biblischer Text, Predigerin und Gemeinde. Auch die Idee von Sen138
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der, Mitteilung (Predigt) und Empfänger (Dahm, 244–246) hat die Predigtlehre bestimmt. Es geht also – nochmals! – nicht um religiöse Rede als Monolog, sondern um einen Dialog oder besser um einen »Trialog«, der zwar primär von einer mitteilenden Person gestaltet wird, aber gleichsam in einem »höheren Auftrag« geschieht und auch Botschaften übermittelt, die unbequem oder zunächst rätselhaft sein mögen. Vielfach ist dieser Trialog zwischen Heiliger Schrift, Predigerin und Hörenden als sog. »Homiletisches Dreieck« bezeichnet worden. »Ich« zu sagen, ist dabei den Predigenden keinesfalls verboten. Sie bezeugen ja die Botschaft auch durch ihre Person. Und doch vermeiden sie nach Möglichkeit eine erste Gefahr: Sie schauen (möglichst) nicht selbstgefällig auf sich selbst, sondern begreifen sich als eher als Sprachrohr, so wichtig eine authentische Rede auf der Kanzel auch ist. Der Prediger soll als »Zeuge« des Evangeliums erkennbar und glaubwürdig sein. Und doch hängt es nicht an seinem Glauben, an seiner Überzeugungskraft oder Rhetorik. Das ist eine große Entlastung. Eine Gefahr ist eine vermeintliche Schrifttreue oder theologische Gelehrsamkeit, die abstrakt und abgehoben nur beim biblischen Wort oder bei dogmatischen Wahrheiten bleibt, ohne ins Leben hier und jetzt zu finden. Damit bleibt der Prediger zwar vermeintlich auf »sicherem Terrain« der Theologie, verspielt aber möglicherweise die Chance einer echten Anrede von Menschen heute. Doch auch diese adressatenorientierte Perspektive hat ihre Tücken. Predigten können auch selbst- und wortvergessen sein und nur bei den Bedürfnissen der Leute »andocken«. Dann besteht die Gefahr der Anbiederung oder der »Selbstauflösung« bzw. einer »Prostitution« gegenüber dem Zeitgeist. Predigt ist also nicht Vorlesung oder abstrakte Lehre, aber auch nicht »seichte Unterhaltung« oder »religiöse Selbstdarstellung«. Ich schlage vor, das homiletische Dreieck durch eine vierte Größe zu ergänzen und noch dezidierter an diejenigen zu denken, die nicht zur Kirche kommen, ja womöglich noch nie etwas von Christus gehört haben. Es geht mir dabei – neben dem Kontakt zur Gottesdienstgemeinde – um eine ausdrückliche Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit von Menschen heute (vgl. oben zu den gesellschaftlichen Milieus: I.5). In der neueren Diskussion wird deshalb auch von einem Die Predigt im Gottesdienst
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homiletischen Viereck (Fechtner/Hermelink/Kumlehn/Wagner-Rau, 153f) gesprochen: Lebenswirklichkeit der Hörenden
Bibeltext
homiletisches Viereck
gottesdienstliche Situation
predigende Person
Abb. 1: Homiletisches Viereck (eigene Darstellung)
Vielen Predigerinnen und Predigern sind ja Menschen durchaus persönlich bekannt, die nur selten oder nie kommen. Wenn sie im Blick sind, öffnet sich die Predigt möglicherweise noch in eine andere Richtung. Deshalb ist die Begegnung mit zeitgenössischer Kunst, Theater, Literatur und modernen Medien für unsere Predigtkultur ein großer Gewinn. Sie schärft die Relevanz unserer Sonntagsreden und stärkt unsere Sprachfähigkeit und Überzeugungskraft. Ich wünsche mir also Predigten, die auch an die gerichtet sind, die (sonntags) noch nicht kommen. Neue homiletische Ansätze Wie kann Predigen heute gelingen? Neue Formen der Predigt(lehre) geben wertvolle Impulse, gerade das Dialogische handwerklich noch besser zu verwirklichen. Bei der aus Amerika kommenden Methode des Bibliologs (vgl. Pohl-Patalong) werden die Gottesdienstbesucher in die biblische Geschichte erzählend hineingeführt. Sie schlüpfen dann kurzzeitig in die Figuren des biblischen Textes und werden so existenziell mit dem biblischen Ereignis in Kontakt gebracht. Predigerinnen lenken den entstehenden Prozess durch Rückfragen und Echo-Geben. Sie werden damit zu Auslegerinnen nicht nur der Bibel, sondern auch ihrer Zeitgenossen, was natürlich nicht bis ins Letzte 140
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planbar ist. So entsteht – wie es bei den »Erfindern« des Bibliologs heißt – ein »weißes Feuer«, Begeisterung für das Wort der Bibel zwischen den gedruckten Zeilen und eine Verortung der biblischen Geschichten mitten im Leben. Dramaturgische Homiletik wählt bewusst Mittel des modernen Films/Theaters zur Erweiterung des handwerklichen Potenzials. Ihre Vertreter (vgl. Nicol bzw. Nicol/Deeg) sprechen von Titeln und Mitteln, von »moves« (bewegten Sequenzen) und »structure« (Struktur), die man wie ein Regisseur in einer Predigt einsetzen soll (vgl. zu Titel und Mittel: Nicol, 105–108 bzw. Nicol/Deeg, 45–72). Es soll gleichsam eine Art »Kino im Kopf« entstehen, das durch Kontraste und unterschiedliche sprachliche Mittel in Erinnerung bleibt. Die Kunst des Predigens besteht u. a. darin, dass unterschiedliche sprachliche Elemente, wie etwa eine Bildbeschreibung, ein Briefzitat oder eine kurze Erzählung hintereinandergeschaltet werden. Die Bibel wird dabei immer wieder überraschend in den Alltag hereingeholt (vgl. Nicol/ Deeg, 62–64) In der Zusammenfügung der Abschnitte (Moves) werden bewusst »harte Schnitte« eingesetzt, d. h. ohne gestaltete (moderierte) Übergänge gearbeitet. Besonders bei jüngeren Pfarrern und Pfarrerinnen erfreut sich dieser homiletische Zugang einer großen Beliebtheit, scheint geradezu der »Königsweg« der aktuellen Predigt zu sein. Kritische Stimmen bemängeln, dass der »rote Faden« oder die theologische Intention in dieser Predigtform oft zu kurz käme, dass viele Gemeinden damit schlicht überfordert seien. Dies mag insofern stimmen, als die Autoren bewusst auf eine klassische (z. B. dreiteilige) Gliederung verzichten wollen und stattdessen den offeneren Strukturbegriff (vgl. Nicol/Deeg, 80–100) propagieren. Im Sinne der rezeptionsästhetischen Wende der 1990er-Jahre und in Anknüpfung an die Idee der Predigt als »offenes Kunstwerk« (Marcel-Martin) dürfte dieses performative Predigtmodell auch weiterhin von hoher Bedeutung sein. In den letzten Jahren ist noch eine weitere spätmoderne Predigtform hinzugekommen, die das performative Ereignis Predigt noch einmal »event-artig« steigert: der sog. »Preacher Slam«. Ähnlich wie der verwandte Poetry Slam – daher zunächst einmal außerhalb des »normalen Gottesdienstes« – treten Predigerinnen und Prediger spielerisch in einem Wettbewerb gegeneinander an. Ein Motto oder BibelDie Predigt im Gottesdienst
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wort ist ihnen vorgegeben. Lange wird an kleinen »Moves« gearbeitet, die spritzig und frech vorgetragen werden. Am Ende entscheidet ein Stimmungsbarometer im Publikum, wer die Krone bekommt. Ob diese Form in Zukunft auch in sonntäglich agendarischen Gottesdiensten als Textauslegung funktionieren kann, wird sich zeigen. Viele sprachlichen Elemente sind jedenfalls reizvoll und provokativ (vgl. Pyka). Was kennzeichnet eine gute Predigt? Auf der handwerklichen Ebene gibt es dazu sehr viel gute Literatur (vgl. Bukowski; Härtner/Eschmann u. a.). Entscheidend ist zunächst, dass die Predigt nicht primär eine Rede »über Gott«, sondern eine Rede »von Gott her« ist. Sie ist weder Gebet noch Vortrag, sondern Anrede der Gemeinde. Nicol und Deeg, 16 sprechen dezidiert vom »RedenIn«: »Leitbild sollte ein RedenIn sein: eine Predigtrede in den Spannungen des biblischen Wortes, in der Feier der Gemeinde, in der Bewegung des Glaubens und Zweifelns.« Dazu gehören kurze Sätze, möglichst im Indikativ (vgl. grundsätzlich Bukowski, 126ff), ggf. auch einmal im Imperativ wie in den Zehn Geboten und Paränesen der Briefliteratur. Parataktische Sätze sind hypotaktischen Gefügen (nachdem, obwohl, weil) vorzuziehen. Besonders am Ende ist darauf zu achten, dass nicht ethische Allgemeinplätze vertreten werden, oft gepaart mit Hilfsverben wie »können, sollen, lassen«. Theologisch gewendet: Predigen heißt, nah bei den Menschen sein – verständlich, zugewandt und relevant für das Leben. Ebenso ist die Predigt nahe bei Gott. Sie vertraut sich dem Zeugnis der Heiligen Schrift an. Deshalb hat sie den Mut, heutige Menschen auch kritisch (prophetisch) zu hinterfragen, ja zu entlarven und aufzurütteln. Bisweilen wagt sie sogar, Zweifel zu artikulieren, das Geheimnis der Verborgenheit Gottes anzusprechen. Aber sie ist nicht in erster Linie Gesetz, sondern Evangelium. Als solches vertraut sie sich Gottes Zusage an: Sie tröstet und vergewissert, sie öffnet Gottes ausgebreitete Arme für die Menschen. Zugleich erwarten wir von einer guten Predigt, dass die Predigerin auch nahe bei sich ist, dass sie mit ihrer Verkündigung glaubwürdig einsteht für den christlichen Glauben und die damit verbundenen Werte in der Gegenwart dieser Welt. Dazu gehören auch politische Zeitansagen. Evangelische Predigt ist also theologisch verantwortet, 142
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lebensnah, ehrlich und menschenfreundlich. Sie richtet sich ganzheitlich an Leib, Seele und Geist, bringt gedankliche Klarheit und rührt das Herz, sie bewegt und ermutigt zum Handeln im Alltag. Sie ist anders als vieles andere in dieser Welt, weil Gott anders ist. Die Predigt ist (neben dem Abendmahl) das Herzstück des evangelischen Gottesdienstes. Darum ist in vielfacher Weise auf das bezogen, was hier schon geschehen ist: Psalm, Kyrie und Gloria sind am Anfang erklungen, die Lieder, (mehrere) biblische Lesungen und das Bekenntnis, aber auch das Eingangsgebet sind schon vorangegangen und haben Spuren gelegt. Abendmahl, Fürbitten und Segen stehen noch aus. Es ergeben sich hundertfach Anknüpfungspunkte. Im lebendigen Bezug darauf kann die Predigt einerseits »offenes Kunstwerk« (Marcel-Martin) sein, andererseits aber auch dem Gesamtkunstwerk Gottesdienst Sinn und Glanz geben. Wie gut, dass jeden Sonntag immer wieder neu gepredigt wird. Deshalb müssen wir nicht jedes Mal alles sagen. Und wenn meine Predigt (vermeintlich) misslungen ist, dann vertraue ich auf die Kraft des Segens und die Wirkmacht der Sakramente, auf die Klänge und Rhythmen der Kirchenmusik, auf die Liebe geschwisterlicher Gemeinschaft und über allem auf Gottes Geist, der auch mit einem Predigtfragment Menschen erreichen und bewegen kann.
5 Theologie und Feier des Abendmahls In den letzten vierzig Jahren hat sich die Haltung evangelischer Gemeinden und der Hauptamtlichen zum Abendmahl wesentlich verändert. Landauf, landab finden regelmäßig, vielfach sogar wöchentlich, Abendmahlsgottesdienste statt. Viele Mitchristen können mit dieser leiblichen Form der Verkündigung bzw. Spiritualität (wieder) etwas anfangen. Ca. 60 % der evangelischen Kirchenmitglieder (2014) ist es wichtig oder gar sehr wichtig, dass im Gottesdienst Abendmahl stattfindet. Dazu hat sicher der Aufbruch bei den Deutschen Evangelischen Kirchentagen (vgl. besonders das Feierabendmahl 1979 in St. Lorenz, Nürnberg) beigetragen. Hinzu kommt ein wachsendes theologisches und ökumenisches Bewusstsein, das im evangelischen Bereich durch die sog. Leuenberger Konkordie (1973), der AbendTheologie und Feier des Abendmahls
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mahlsgemeinschaft zahlreicher evangelischer Kirchen und Kirchenbünde in Europa (z. Zt. 106), wesentlich befördert wurde. 1982 wurde im Anschluss an die ökumenische Konvergenzerklärung von Lima (Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des ÖRK) die sog. Limaliturgie entworfen, die auch »liturgischen Laien« die Schönheit und Weite der Abendmahlsliturgie anderer konfessioneller Traditionen vor Augen führte. Durch den im Anschluss an den Papstbesuch Johannes Pauls II (1982) angestoßenen Dialog, der u. a. zur Gemeinsamen Erklärung in der Rechtfertigungslehre führte, und die Magdeburger Erklärung zur Taufe (2007) wurden ökumenisch weitere Schritte zur Kirchengemeinschaft realisiert. Dabei wurden auch Fragen der Abendmahlslehre erörtert, allerdings ohne eine gemeinsame Erklärung. Aktuell wird das Thema der Einladung (Zulassung) von Kindern (vor der Konfirmation) zum Abendmahl in etlichen Kirchen diskutiert. Wo Kinder als getaufte Christen – wie schon in der Alten Kirche – konsequent zum Abendmahl eingeladen werden, geschieht in der Regel auch eine Öffnung starrer Feierformen und ein neues Nachdenken über den theologischen Kern der Mahlfeier. Dabei werden sowohl klassische Themen wie Sündenvergebung bzw. die Rede von Leib und Blut Christi, aber auch Fragen der Gastfreundschaft und zeitgenössischen Inszenierung und Plausibilisierung sowie der Gebrauch von Wein neu diskutiert. In manchen reformierten Kirchen (besonders auf der britischen Insel und bei den Methodisten) gibt es auch die Praxis, alle Menschen zum Abendmahl einzuladen (Open Table). Dennoch bleibt das theologische Thema »Abendmahl« für viele gleichsam ein »Buch mit sieben Siegeln«, das allzu lange von dogmatischen Fachdiskussionen beherrscht worden ist, die der Feier des Sakraments eher geschadet als genützt haben. 5.1 Biblische Quellen und ihre Bedeutung für das Abendmahl Deshalb wollen wir im Folgenden sehr grundsätzlich einsetzen und den reichen Schatz biblischer Texte zum Thema »Essen mit Gott« erinnern. An vielen Stellen wird auf eine komplette Wiedergabe der Texte verzichtet, die gelegentlich eine unerwartete Perspektive auf Theologie und Praxis der Mahlfeier bieten: 144
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1. Mose 18,1–10 Und der HERR erschien Abraham im Hain Mamre, während er an der Tür seines Zeltes saß, als der Tag am heißesten war. Und als er seine Augen aufhob und sah, siehe, da standen drei Männer vor ihm. Und als er sie sah, lief er ihnen entgegen von der Tür seines Zeltes und neigte sich zur Erde und sprach: Herr, hab ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so geh nicht an deinem Knecht vorüber. Man soll euch ein wenig Wasser bringen, eure Füße zu waschen, und lasst euch nieder unter dem Baum. Und ich will euch einen Bissen Brot bringen, dass ihr euer Herz labt; danach mögt ihr weiterziehen. Denn darum seid ihr bei eurem Knecht vorübergekommen. Sie sprachen: Tu, wie du gesagt hast. Abraham eilte in das Zelt zu Sara und sprach: Eile und menge drei Maß feines Mehl, knete und backe Brote. Er aber lief zu den Rindern und holte ein zartes, gutes Kalb und gab’s dem Knechte; der eilte und bereitete es zu. Und er trug Butter und Milch auf und von dem Kalbe, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor und blieb stehen vor ihnen unter dem Baum, und sie aßen. Da sprachen sie zu ihm: Wo ist Sara, deine Frau? Er antwortete: Drinnen im Zelt. Da sprach er: Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben.
Das erste Buch der Bibel erzählt eine uralte Geschichte. Die Rollen sind überraschend verteilt. Gott selbst kommt zu Besuch, aber in menschlicher Gestalt, und das gleich zu dritt. In orientalischer Erzählfreude wird die Gastfreundschaft Abrahams und Saras geschildert: Sie bieten alles auf, was sie haben, bleiben aber doch nur Zuschauer beim Essen. Ihre Hingabe lässt uns fragen: Was schenken wir, wenn Unbekannte bei uns anklopfen? Am Ende überraschen die drei Gäste die Gastgeber mit einem Geschenk, einem Versprechen: »Ihr sollt ein Kind haben!« Der Lebenswunsch von Sara und Abraham soll erfüllt werden. Welch ein Fest! 2. Mose 12,7.27 Und sie sollen von seinem Blut nehmen und beide Pfosten damit bestreichen an den Häusern, in denen sie’s essen … Ihr sollt sagen: »Es ist das Passaopfer/Pesach des Herrn, der an den Israeliten vorbeiging in Ägypten, als er die Ägypter schlug und unsre Häuser errettete.« Und das ganze Volk betete ihn an.
Eine Nachtgeschichte. Bevor Israel aus Ägypten auszieht, geht der Todesengel durch die Gassen. Die Ambivalenz könnte nicht größer sein. Gott wird in einer geheimnisvollen Spannung als Richter und Erlöser beschrieben. So wird so ein Ritual erklärt, welches das jüdische Volk bis heute prägt: Die Nacht des Pesach-Festes ist das Ende Theologie und Feier des Abendmahls
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der Unterdrückung. Im Dunkel und Geschrei dieser Nacht und im Blut der Lämmer erkennen wir Wurzeln des letzten Abendmahls Jesu. Gleichsam liturgisch endet die große Erzählung: Das Volk lobt Gott dafür voller Ehrfurcht. 2. Mose 24,7–11 Und er nahm das Buch des Bundes und las es vor den Ohren des Volkes. Und sie sprachen: Alles, was der HERR gesagt hat, wollen wir tun. Da nahm Mose das Blut und besprengte das Volk damit und sprach: »Seht, das ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch geschlossen hat, auf Grund aller dieser Worte.«
Auch an dieser Stelle werden Tiere geschlachtet: Diesmal werden junge Stiere für Gott als Dankopfer für die Gabe der Tora dargebracht. Doch das Entscheidende geschieht im Wort-Zeichen-Ritus der Besprengung des Volkes: Hier erfahren die Menschen am eigenen Leib, was es heißt, zu Gott zu gehören. Dabei wird deutlich: Die Initiative für den Bund geht nicht von den Menschen aus: Gott gibt das Buch des Bundes (die Gebote). Darauf folgt ein Bekenntnis der Gemeinde. Gott verbürgt dann durch das leibliche Zeichen des Blutes seine Bundestreue. Das Bekenntnis des Volkes ist gleichsam umgriffen von der Offenbarung Gottes durch sein Wort und der »Besiegelung« mit Bundesblut. Und sie stiegen auf den Berg; Mose, Aaron und die 70 Ältesten und sahen den Gott Israels. Unter seinen Füßen war es wie eine Fläche von Saphir und wie der Himmel, wenn es klar ist. … Und als sie Gott geschaut hatten, aßen und tranken sie.
Was an anderer Stelle Menschen versagt wird (vgl. 2. Mose 34 bzw. Mt 17), wird hier Wirklichkeit: Eine ausgewählte Schar von Menschen begegnet Gott von Angesicht zu Angesicht. Sie schauen seine Herrlichkeit. Und danach essen und trinken sie in einer heiligen Mahlzeit (Gott isst jedoch nicht mit, vgl. dagegen Jes 25). Betrachten wir 2. Mose 24 zusammen, so gibt es erstaunliche Parallelen zur neutestamentlichen Abendmahlstradition: Das Bundesblut, besonders die Besprengung, erregt Befremden. Zugleich wird (im zweiten Teil) in geheimnisvoller Dichte sinnlich Gottes Nähe erfahren: ein heiliges, aber auch huldvoll-gnädiges Geschehen, Sehen und Schmecken, wie gütig Gott ist (vgl. Ps 34,9). 146
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1. Könige 19,4–8 Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Ginster und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun, HERR, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich hin und schlief unter dem Ginster. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss! Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel des HERRN kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir. Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.
Elia hat in der Auseinandersetzung mit den Baalspriestern auf dem Karmel (1. Kön 18) die Oberhand behalten. Und doch hat er viel Kraft verloren, eigenmächtig Menschen verurteilt und ist deshalb ausgebrannt. Auf der Flucht vor dem König und der Königin möchte er sterben. Doch die einfache Speise von Wasser und Brot, die ihm überreicht wird, ist die Wegzehrung für einen neuen Auftrag: Der Suizidkandidat bekommt neue Kraft. Gott überwindet Elias Burnout-Situation … Jesaja 25,6–9 Und der Herr Zebaoth wird auf diesem Berge allen Völkern ein fettes Mahl machen, ein Mahl von reinem Wein …, von Wein, darin keine Hefe ist. Und er wird auf diesem Berge die Hülle wegnehmen, mit der alle Völker verhüllt sind, und die Decke, mit der alle Heiden zugedeckt sind. Er wird den Tod verschlingen auf ewig. Und der Herr wird alle Tränen abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volkes in allen Landen, denn Er hat’s gesagt. Da wird man sagen: »Siehe, das ist unser Gott, auf den wir hoffen, lasst uns jubeln und fröhlich sein über sein Heil.«
Ähnlich wie in 2. Mose 24,9–11 begegnen Menschen Gott auf einem Berg von Angesicht zu Angesicht. Auch hier essen und trinken sie in einer heiligen Mahlzeit. Die Tische biegen sich. Gott schenkt voll ein (vgl. Psalm 23). Das Wunderbare ist, dass alle Völker ohne Ausnahme beteiligt sind und dass alle Tränen abgewischt werden, Gott selbst sorgt dafür. Ja, Gott selbst sitzt mit am Tisch. Dieser Abschnitt »atmet Ewigkeit«. Ein »Wiederholungs-Befehl« ist nicht vonnöten, denn das alles geschieht außerhalb der Zeit. Was hier geschaut wird, steht noch aus. Diese Hoffnung auf das messianische Völkermahl teilte Jesus mit den Jüdinnen und Juden seiner Zeit. Und sie verbindet uns mit dem Volk Gottes aller Generationen und Konfessionen. Theologie und Feier des Abendmahls
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Markus 2,16.19 (vgl. Lk 19) Sie sprachen zu seinen Jüngern: »Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?« Jesus, da er das hörte, sprach zu ihnen: »Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.«
Zum Wirken Jesu gehören neben seiner Verkündigung und seinen Wundern als drittes wesentliches Element die Mahlzeiten mit den Menschen (auch den Pharisäern und Reichen) seiner Zeit. Er überschreitet die Grenzen »bürgerlich-religiöser Gepflogenheiten«, wenn er mit Zöllnern und Frauen von zweifelhaftem Ruf isst und damit kräftig provoziert. Dass es schon in den vorösterlichen Mahlzeiten um mehr geht als um bloßes Essen, zeigt Markus mit dem Jesus-Wort am Ende: Es geht um Heilung, um Rettung (vgl. Lk 19,10). Der Ruf Jesu an Zachäus zeigt: Die Begegnung beim Essen mit Jesus ist ohne Bedingung, aber mit einschneidenden Folgen. Lukas 14,21–24 Gehe aus schnell auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen und Krüppel und Lahmen und Blinden herein. Und der Knecht sprach: Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast; es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu dem Knechte: Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, auf dass mein Haus voll werde. Ich aber sage dir, dass niemand von denen, die eingeladen waren, mein Abendmahl schmecken wird.
Das Gleichnis vom großen Gastmahl eröffnet zentrale Aspekte für das Verständnis des Abendmahls. Der göttliche Gastgeber möchte, dass man seiner Einladung folgt und ist enttäuscht, wenn man das nicht tut. Und doch werden die Gäste nicht zur Teilnahme gezwungen. Sie sollen freiwillig kommen. Das fordert seine Aktivität heraus. Anstelle der drei eingeladenen Männer kommen viele andere Menschen. Der Schluss klingt deutlich und unbequem. Nicht das Essen geschieht zum Gericht, sondern das Nicht-Essen bzw. die Ablehnung der Einladung Gottes. Matthäus 26,26–29 (par Mk 14,22–25) Da sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern und sprach: »Nehmet, esset, das ist mein Leib!« Und er nahm den Kelch, dankte, gab ihnen den und sprach: »Trinket alle draus. Das ist mein Blut des neuen Bun-
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des, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Ich sage euch, dass ich hinfort nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis auf den Tag, da ich’s wieder trinken werde mit euch im Reiche meines Vaters.«
Markus und Matthäus erzählen die Einsetzung des Abendmahls im Kontext des jüdischen Pesach im engsten Kreis der Jünger. Aus 2. Mose 24 ist das Bundesblut als wichtiges Motiv aufgenommen, das nun aber auf den Wein als Medium hin ausgesprochen wird und nicht mit einer Besprengung der Anwesenden verbunden wird. Im Mittelpunkt steht der Gedanke, dass Jesus selbst mit seiner Person und seinem ganzen Leben sich für die Jünger und die vielen (vgl. Mk 10,45) dahingibt. Damit sind nicht einfach nur viele Leute gemeint, sondern eine unglaublich große Zahl. (Im zweiten Hochgebet der römisch-katholischen Kirche heißt es deshalb seit 1969 »für alle vergossen«). Damit ist eine Perspektive universaler Rettung formuliert und der antike Opfergedanke deutlich verändert. Christus agiert nicht als Priester vor Gott, sondern als göttlicher Gesandter, der für die Seinen in den Tod geht (vgl. das Gottesknechtslied Jes 53 mit der Formulierung »für die vielen«). Mit der Wendung »zur Vergebung der Sünden« akzentuiert Matthäus als einziger diesen zentralen Gedanken des Abendmahls. Aus dem Schluss (»im Reiche meines Vaters«) wird das deutlich, worauf die Feiernden mit ihrem Herrn hoffen. 1. Korinther 11,25f Dieser Kelch ist das Neue Testament (= der neue Bund) in meinem Blut. Solches tut, sooft ihrs trinket zu meinem Gedächtnis. Sooft ihr von diesem Brot esst und von diesem Kelch trinkt, verkündigt ihr des Herrn Tod, bis dass er kommt.
Ohne im Einzelnen auf die Unterschiede zwischen dem älteren Text des Paulus und Mk/Mt einzugehen, wird hier deutlich: Zentrale Übereinstimmung besteht in der eschatologischen Kategorie des neuen Bundes (vgl. Jer 31). Paulus redet darüber hinaus (vgl. Lk 22) vom Abendmahl als einem Gedächtnismahl, wobei der hebräische Wortsinn (zkr) mitzuhören ist: Es geht beim Abendmahl um eine Erinnerung als Vergegenwärtigung dessen, was damals geschehen ist. Sie geschieht nicht (nur) in menschlichen Köpfen. Christus schenkt sich seinen Jüngern (und der christlichen Gemeinde) unter Brot und Wein. Damit geschieht eine wirksame Erinnerung an die Nacht seiTheologie und Feier des Abendmahls
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ner Gefangennahme und letztlich auch an seinen Tod, den Paulus als »Skandal« beschreibt (vgl. 1. Kor 1). Die Aufforderung »Dies tut zu meinem Gedächtnis« (Brot und Wein) setzt eine rituelle Praxis bereits voraus oder ab sofort in Kraft. Die Wiederholung zielt freilich nicht auf den Tod Jesu als Schreckenszeichen (vgl. die meisten neueren Filme wie etwa Mel Gibsons Die Passion Christi von 2004), sondern als Heilszeichen. Menschen sollen in dem rätselhaft grausamen Geschehen den Grund ihrer Versöhnung mit Gott (2. Kor 5,17–21) entdecken und Befreiung von Schuld erfahren. Sie können zum Staunen kommen, dass sich Gott in Jesus nicht zu schade war, sich für die Menschen dahinzugeben. Zugleich zielt die Verkündigung (V26) des Abendmahls auch auf das, was noch aussteht. Abendmahl geschieht im Interim zwischen Ostern und der Wiederkunft Christi. Die Gemeinde feiert die Gegenwart Jesu im Glauben und noch nicht im Schauen. Dies wird auch in der Emmausgeschichte deutlich. Lukas 24,30f Und es geschah, da er mit ihnen zu Tische saß, nahm er das Brot, dankte, brach es und gab’s ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen.
Der Auferstandene zeigt sich den beiden Jüngern hier so, dass sie ihn, obwohl er sie vorher schon zwei Stunden begleitete und ihnen die Schrift auslegte, erst beim Brotbrechen in der Mahlfeier erkennen. Die Art und Weise, wie er für das Brot dankt und es austeilt, macht ihn erkennbar. Diese Schilderung verbindet gleichsam als Scharnier den synoptisch-paulinischen Einsetzungsbericht mit den nachösterlichen Erzählungen der Urgemeinde. Außerdem reflektiert die Geschichte den engen Zusammenhang von Auslegung der Schrift und Mahlgemeinschaft bzw. Mahlgemeinschaft und Sendung. Sie zeigt aber auch. Die Gegenwart des Auferstandenen ist stets ein Geschenk, er lässt sich nicht festhalten. Johannes 1,29 und 6,35 Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde hinwegträgt. Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.
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Johannes verzichtet in seinem Evangelium auf einen Einsetzungsbericht. Stattdessen proklamiert er Jesus (zunächst im Munde des Täufers) von Anfang an als Passalamm, das »die Sünde der Welt hinwegträgt«. Deshalb stirbt er auch in der Zeit, in der im Tempel die Passalämmer geschlachtet werden (vgl. Joh 19,31). Unmittelbar vor der Passionsgeschichte (und den Abschiedsreden) wird dagegen die Szene von der Fußwaschung erzählt. Jesu Dienst ist Tischdienst, diakonia (vgl. Mk 10,45). Ähnlich wie in den Einsetzungsworten finden sich in der Brotrede (Joh 6) im Anschluss an die Speisung der 5000 klare Zusagen: In der Begegnung mit Christus, dem Brot des Lebens, wird für diejenigen, die an ihn glauben, jeder Hunger und Durst gestillt. 1. Korinther 10,16f Der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Jesu Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir haben alle teil an dem einen Brot.
Zum einen betont Paulus hier (ähnlich wie schon der Einsetzungsbericht) das dankbar-bittende Segnen der Schöpfungsgaben von Brot und Wein. Zu jedem Abendmahl gehört deshalb ein Tischgebet wie: »Segne Herr, was deine Hand uns in Gnaden zugewandt« (Epiklese). Zum anderen ist hier die Pointe der Gemeinschaft (koinonia) angesichts der Symbolik des Brotes (Brotfladens) betont. Jedes Abendmahl ist Teilgabe und Teilhabe der Glaubenden am Leib Christi, Gemeinschaft mit ihm und untereinander. Sie impliziert ein Akzeptieren ganz verschiedener Menschen, ihrer Herkunft, Spiritualität und Kultur. 1. Korinther 11,27 Wenn ihr nun zusammenkommt, so hält man da nicht das Abendmahl des Herrn. Denn ein jeglicher nimmt sein eigenes Mahl vorweg, und einer ist hungrig, der andere trunken. Wer aber unwürdig von diesem Brot isst oder dem Kelch trinkt, der ist schuldig an dem Leib und Blut des Herrn.
Paulus kritisiert hier die Praxis der Mahlfeiern in Korinth, die offenbar noch mit einem Sättigungsmahl verbunden waren. Doch tut er das nicht wegen ihres liturgischen Vollzugs, sondern weil die Menschen hier nicht aufeinander geachtet haben. Die Reichen sind schon satt Theologie und Feier des Abendmahls
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(und betrunken), ehe die Armen, die länger arbeiten mussten, kommen. In diesem Sinne ist das »unwürdige Essen« gemeint, das eine lange Wirkungsgeschichte. Es meint aber nicht – wie vielfach missverstanden – eine besonders schwere persönliche Sünde, es kritisiert auch nicht eine fehlende Beichte oder mangelnden Glauben, sondern schlicht fehlende Liebe untereinander. So wird deutlich: Gemeinschaft gibt es nicht ohne Liebe. Diakonie und Liturgie gehören zusammen. Apostelgeschichte 2,42.46 Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Und sie waren täglich und stets beieinander einmütig im Tempel und brachen das Brot hin und her in den Häusern, nahmen die Speise mit Freuden und lauteren Herzen, lobten Gott und fanden Gnade beim ganzen Volk.
Die Mahlfeier gehört neben der Wortverkündigung und dem Gebet zentral zum Gottesdienst der christlichen Urgemeinde. Offenbar ist man mobil, was die Wahl des Ortes angeht. Das gemeinsame Essen scheint primär in den Häusern stattzufinden. Zentrales Merkmal ist der österliche Jubel der Christen, der offenbar so ansteckend war, dass sich Menschen eingeladen fühlten, sich der Gemeinde anzuschließen. Lukas schildert in der Pfingstgeschichte (Kap. 2,1–36) einen deutlichen Stimmungswechsel, denn in Kap. 1 verharren die Jünger lediglich im bittenden Gebet ohne festliche Mahlzeiten … Wie haben die ersten Christen die Mahlfeier verstanden? Ging es ihnen damit hauptsächlich um eine Feier der Gemeinschaft mit Gott und untereinander? Oder war es eher ein (Toten)-Gedächtnismahl? Oder preist die urchristliche Gemeinde Gott dankbar kündend als den Herrn über Leben und Tod, der Jesus buchstäblich dem Reich des Todes entrissen hat. Dazu hat der Alttestamentler Hartmut Gese eine bedenkenswerte These vorgelegt, die im Folgenden kurz dargestellt werden soll: Die urchristliche Gemeinde knüpft demnach mit ihrer Abendmahlsfeier an die (früh)jüdische Tradition der Toda (Dankopferfeier) an, zu der ganz wesentlich ein festliches Mahl im Tempel gehörte. Ein aus Todesnot oder schwerer Lebenskrise erretteter Mensch bekannte vor der versammelten Gemeinde seine Heilung, Bewahrung, Rettung o. Ä. als Tat Gottes und gab damit Gott die Ehre. 152
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»In der alten Toda stiftete der Errettete ein Opfertier als Opfer für sich und die Gemeinde. Der Auferstandene aber hat sich selbst gegeben; das Opfer ist sein Opfer, seine irdisch-leibliche Existenz, die geopfert wurde. […] Im neuen ›sakramentalen‹ Mahl des Auferstandenen vollzieht sich die Partizipation am Heilsgeschehen von Tod und Auferstehung Jesu im Essen der Speise, die der Opferherr mit seinem eigenen Opfer identifiziert: er schenkt sich selbst als Opfer.« (Gese, 123f)
Dies ist jedenfalls der »Sitz im Leben« der sog. Dankpsalmen (vgl. Ps 30; 116 oder 118), aber auch des Hannaliedes (1 Sam 2,1–10) und des Jonaliedes (Jona 2). Dort heißt es in Auszügen: Ich rief zu dem HERRN in meiner Angst, und er antwortete mir. Ich schrie aus dem Rachen des Todes, und du hörtest meine Stimme. Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben. Alle deine Wogen und Wellen gingen über mich, dass ich dachte, ich wäre von deinen Augen verstoßen, ich würde deinen heiligen Tempel nicht mehr sehen … Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, HERR, mein Gott! Als meine Seele in mir verzagte, gedachte ich an den HERRN, und mein Gebet kam zu dir in deinen heiligen Tempel … Ich aber will mit Dank dir Opfer bringen. Meine Gelübde will ich erfüllen. Hilfe ist bei dem HERRN.
Fassen wir diese Deutung zusammen: Das Abendmahl wurde möglicherweise schon in den ersten christlichen Gemeinden als Dankopferfeier (Toda) verstanden. In der Toda des neuen Bundes ist Jesus Christus selbst in wunderbarer Weise als der Gekreuzigte und Auferstandene gegenwärtig als Geber und Gabe, Erretteter und Retter in einer Person. Diese Deutung des Abendmahls auf dem Hintergrund der jüdischen Toda setzt allerdings voraus, dass die Urgemeinde die jüdische Praxis nicht einfach nur übernommen hat, sondern wesentlich veränderte, insofern hier a) der Errettete, also Jesus Christus, tatsächlich tot war, b) der Errettete selbst das Opfer ist und c) anderen Menschen Anteil am Heilsgeschehen seines Todes (Opfers) zu geben fähig ist. Von daher bleibt die These als einzige Deutungsfolie urchristlicher Mahlfeiern zumindest fraglich. Daher scheint es mir angebracht, hier Peter Brunners Einschätzung zu folgen, wenn er schreibt: »Das ›Gedächtnis‹ seines Todes und jener gottesdienstliche Heilsjubel, in dem die Urgemeinde nach Apg. 2,46 ihr gottesdienstliches Mahl feierte, schließen sich nicht aus, sondern gehören zusammen.« (Brunner, 247) Theologie und Feier des Abendmahls
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Die Gesamtschau der biblischen Texte zeigt: Gott schenkt den Menschen Speise und Trank. Sie nähren uns und geben Freude am Leben. Das Brot steht für alltägliche Nahrung, der Wein für Überfluss und Festfreude. Beide zusammen symbolisieren Gemeinschaft mit Gott und künden von seinem kommenden Reich, in dem alle Menschen gemeinsam in seiner Gegenwart feiern werden. Gegessen wird nicht nur in alltäglichen, sondern auch in besonderen Situationen: beim Aufbruch aus der Gefangenschaft in Ägypten, im Angesicht Gottes auf dem Sinai (Ex 24) oder mit allen auf dem Zion (Jes 25). Insgesamt zeigt der Blick auf die neutestamentlichen Texte: Die Mahlzeiten Jesu manifestieren seine Zuwendung zur Welt, besonders zu den Sünderinnen und Sündern. Sein Leiden, Sterben und Auferstehen wird einhellig als Zeichen der Liebe Gottes für uns Menschen gedeutet. Gemeinschaft mit Christus ermöglicht auch versöhnte Gemeinschaft untereinander. Die theologischen Motive knüpfen an alttestamentliche Tradition an, mithin an die Feier des Pesach, den Bund mit Israel und diverse Vorstellungen von Sühne und Hingabe. Das letzte Essen Jesu ist so bedeutsam, dass daraus der Wiederholungsbefehl resultiert. Das Herrenmahl soll auch für andere erkennbar und erlebbar sein. Eine konkrete Liturgie, geschweige denn eine kirchliche Ämterstruktur sind nicht auszumachen. Lediglich zentrale Aspekte der liturgischen Handlung wie Verkündigung des Wortes, Segnen des Brotes, Danken, Brotbrechen, Austeilen, ggf. auch Gesang und gemeinsames Fest werden deutlich. In den nachösterlichen Texten (Lk 24; Joh 21 und besonders Apg. 2) schwingt eine Verbindung zu Diakonie und Mission mit. 5.2 Zentrale Stationen der Theologie- und Liturgiegeschichte des Abendmahls Versuchen wir im Folgenden einige Meilensteine innerhalb der Abendmahlstheologie und -liturgie zu skizzieren, die für unser Verständnis heute wichtig sind: In der Didache, einem um das Jahr 100 entstandenen griechischen Text aus Syrien oder Palästina, stoßen wir auf geheimnisvolle Spuren von frühchristlichen Gottesdiensten mit einer judenchristlichen Prägung. Kapitel 9 und 10 dieser sog. Zwölfapostellehre beziehen sich auf die Liturgie des Abendmahls, dessen Kern darin bestand, dass 154
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
man zuerst gedankt und dann das Essen ausgeteilt hat. Erstaunlicherweise geschieht der Dank zuerst über dem Kelch und dann beim Brot. Dies deutet auf den Beginn einer häuslichen Sabbatfeier (mit anfänglicher Weinsegnung, sog. Kiddusch) hin, die in der Regel am Freitagabend stattfand: »Betreffs der Danksagung, sagt folgendermaßen Dank: Zuerst den Kelch betreffend: Wir danken dir, unser Vater, für den heiligen Weinstock Davids, deines Knechtes, den du uns offenbart hast durch Jesus, deinen Knecht/Sohn. Dir sei Herrlichkeit in Ewigkeit. Im Blick auf das gebrochene Brot: Wir danken dir unser Vater, für das Leben und die Erkenntnis, die du offenbar gemacht hast durch Jesus, deinen Knecht. Dir sei Herrlichkeit in Ewigkeit. Wie dieses gebrochene Brot zerstreut war auf den Bergen und eines geworden ist, so soll/möge zusammen geführt werden deine Kirche von den Enden der Erde in dein Reich, denn dein ist die Herrlichkeit und die Macht durch Jesus Christus in Ewigkeit.« (Didache 9,4)
Der feierlich-hymnische Grundton ist ebenso auffällig wie die Tatsache, dass hier die biblischen Einsetzungsworte nicht zitiert werden. Im feierlichen Dankgebet (Doxologie) erinnert sich die Gemeinde an die Offenbarung in Christus als heiligen Weinstock. Die Sprechrichtung ist hier klar zu Gott, nicht zur Gemeinde hin, also Gebet. Vom Tod Christi ist nicht ausdrücklich die Rede. Besonders der letzte Abschnitt, den man als Bitte lesen kann, wird später zum festen Bestandteil der Abendmahlsliturgie (im Westen wie im Osten): Er bringt die Hoffnung auf das kommende Reich und die dann erst mögliche völlige Gemeinschaft der Kirche zum Ausdruck. In Kapitel 14.1 heißt es: »An jedem Herrentage, wenn ihr zusammenkommt, brecht das Brot und sagt Dank, nachdem ihr zuvor eure Verfehlungen bekannt habt, damit euer Opfer rein sei.« Wir sehen: Offenbar ist bereits am Ende des 1. Jahrhunderts eine Tendenz vorhanden, die Eucharistie als Opfer (thysia) zu betrachten, sie also gleichsam aktiv »vor Gott hinzustellen«. Außerdem war es wohl schon früh üblich, vor der Mahlfeier darauf hinzuwirken, dass nichts »Belastendes« vor Gott (und untereinander) mit zum Tisch des Herrn genommen würde. Ein weiterer Meilenstein in der Liturgiegeschichte ist die Traditio Apostolica. Sie stammt der Überlieferung nach von Bischof Hippolyt Theologie und Feier des Abendmahls
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von Rom (gest. 235 n. Chr.). Allerdings spricht die in der Schrift enthaltene ausführliche Gemeindeordnung (Bischof, Presbyter, Diakone usw.) mit klaren hierarchischen Strukturen eher für eine Herkunft aus dem 4. Jahrhundert. Das aus dem Zusammenhang einer Bischofsweihe herausgenommene eucharistische Gebet (Dankgebet zum Abendmahl) enthält drei Strukturelemente, die das zweite Hochgebet des Missale Romanum prägten und für die Eucharistiefeier verschiedener Konfessionen bedeutsam waren und sind (u. a. auch Christkatholische Kirche der Schweiz). »Seines Todes und seiner Auferstehung eingedenk (memores), bringen wir dir das Brot und den Kelch dar (offerimus). Wir sagen dir Dank, dass du uns würdig erachtet hast, dir als Priester zu dienen. Auch bitten wir dich (petimus), deinen heiligen Geist auf die Gabe der heiligen Kirche herabzusenden. Du versammelst sie zu Einheit, die sie empfangen, Erfüllung mit heiligem Geist zur Stärkung des Glaubens in der Wahrheit, dass wir dich loben und verherrlichen durch deinen Knecht Jesus Christus […]« (Traditio Apostolica 4, zit. nach Geerlings, 226)
Drei Gebetsformen werden hier entfaltet: die vergegenwärtigende Erinnerung (Anamnese), die dankbare Darbringung (Offertorium) und die Bitte um den heiligen Geist (Epiklese). Was ist damit gemeint? Die Gemeinde erinnert sich beim Abendmahl an Tod und Auferstehung Christi (vgl. den Wiederholungsbefehl des Paulus, 1. Kor 11) als Gabe Gottes und bittet ihn um den heiligen Geist zur Segnung von Brot und Wein, die zuvor als Dankopfer Gott dargebracht werden. Diese doppelte Pointe von Empfangen und Darbringen ist nicht leicht zu verstehen, kennzeichnet aber schon früh das Verständnis der Gemeinde, die möglicherweise im Kontext anderer Religionen auch nicht auf ein Dankopfer verzichten wollte. Wichtig ist, dass nicht Leib und Blut Christi dargebracht oder geopfert werden, sondern lediglich Brot und Kelch. Es geht also um ein Dankopfer und nicht um eine Darbringung eines sühnenden Opfers der Kirche vor Gott. Dennoch ist damit der Weg frei für eine immer stärker werdende Rede vom eucharistischen Opfer in der westlichen Tradition. Die Einsetzungsworte werden zunehmend zu einem Fixpunkt, an dem das Entscheidende, der »magische Moment« (vgl. Hokuspokus von hoc est corpus) passiert. In der orthodoxen Kirche geschieht Ähnliches bei der Herabrufung des Heiligen Geistes (Epiklese) auf die Gaben. Zentrale 156
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Bedeutung kommt im Osten wie im Westen geweihten Amtsträgern zu; das »Volk« ist mehr und mehr nur als Zuschauer dabei, ja muss nicht einmal mehr essen. Es genügt, dabei gewesen zu sein (»Augenkommunion«) und die Hostie bei der Elevation bzw. beim Benedictus gesehen zu haben. Auf den Kelch wird in der Regel für die Gemeinde ganz verzichtet. Stellvertretend wird er vom Priester genommen. Vielfach trennt ein großer Lettner die Gemeinde in Laien und Kleriker, womit ein bereits existierendes Gefälle noch verstärkt wird. Im Jahre 1215 wird beim IV. Laterankonzil in Rom – vor dem Hintergrund der Theologie des Thomas von Aquin – der Versuch unternommen, die Vorstellung einer Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi mit philosophischen Kategorien zu beschreiben: In der Substanz (d. h. im Wesen) verwandeln sich Brot und Wein in Leib und Blut Christi, den Akzidenzien nach (also rein äußerlich) bleiben sie Brot und Wein. Diese Lehre wird als sog. Transsubstantiationslehre bezeichnet.
Bis zur Reformation prägt sich dann zunehmend ein »sakrifizielles« Verständnis der Eucharistie heraus: Das Abendmahl wird als Messopfer bzw. als »unblutige Wiederholung des Sühnopfers Christi« (Konzil von Trient) verstanden. Der Priester bringt stellvertretend für die Kirche Gott das Opfer Christi dar. Im Zusammenhang des Ablasswesens bekommen Messen dabei den Charakter eines guten Werkes, das zur Milderung zeitlicher Strafen im Fegefeuer »eingesetzt« werden kann. Dieser Zusammenhang (Messopfer als gutes Werk innerhalb der Ablasspraxis) war ein wesentlicher Anlass für die Reformation und ist – wie man leider angesichts des IV. Hochgebetes bzw. des Votivgebets aus dem aktuellen Messbuch (1970) feststellen muss – in gewisser Weise immer noch virulent. Im Gegensatz zum römischen Westen hat sich im »griechischen« bzw. »slawischen« Osten die Liturgie (sog. Göttliche Liturgie des Chrysostomos bzw. des Basilius) in den letzten tausend Jahren kaum verändert. Sie lässt sich als ein geistgewirktes Mysteriendrama begreifen, in dem die göttlichen Heilstaten von der Schöpfung bis zur Wiederkunft Christi betend und lobpreisend vergegenwärtigt werden. Heiligster Moment ist die Herabrufung des Heiligen Geistes auf die Gaben der Kirche (Epiklese). Hier geschieht nach orthodoxem Verständnis Theologie und Feier des Abendmahls
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die weihevolle Verwandlung (Konsekration) der Gaben und der versammelten Gemeinde. Die protestantischen Positionen sind in sich vielfältig. Holzschnittartig können wir die Lehrmeinungen reformierter und lutherischer Theologen unterscheiden. Huldreich Zwingli, der Züricher Reformator, verstand das Abendmahl (Nachtmahl) primär als Gedächtnis- und Gemeinschaftsmahl. Das est in den Einsetzungsworten (»Das ist mein Leib«) deutete er im Sinne eines significat (= »Das bedeutet mein Leib«). Pointiert lehnte er eine Realpräsenz Christi in Brot und Wein ab und sprach von einer Gegenwart im menschlichen Geist, nicht von einer Gegenwart in der Sache (praesentia in mente, non in re). Demgegenüber verstanden Luther und seine Mitstreiter das est im Sinne einer realen Gegenwart Christi »in, mit und unter« Brot und Wein. Für sie war das Abendmahl wesentlich Gabe und Werk Gottes (sacramentum) und nicht Werk des Menschen. Diese Position unterscheidet sich einerseits von Zwinglis, andererseits natürlich auch von einem Opferverständnis, das die Kirche bzw. den Priester immer auch in einer aktiven Rolle vor Gott sieht. Gleichwohl betonen Luther und Melanchthon auch den Aspekt der Danksagung innerhalb der Feier, der (vgl. Apologie der CA 24) als Lobopfer (sacrificium laudis) verstanden wird und damit in den Gottesdienst im Alltag (vgl. Röm 12,1f) hinüberweist. Konstitutiv ist für Luther das schöpferische Wort der göttlichen Zusage in den Einsetzungsworten, das Glauben schafft (»Tätelwort«) und an dem auch die Gewissheit des Glaubens hängt. Er unterscheidet es pointiert von einem »Deutelwort« (Zwingli). Nicht unproblematisch ist sein Festhalten an der Wirksamkeit des Sakraments zum Gericht, die sog. manducatio impiorum (= Essen der Ungläubigen). Die lutherische Lehre besagt: Wenn ein Mensch nicht glaubt (glauben kann), wirkt das Sakrament trotzdem. Man denkt in diesem Zusammenhang an 1. Kor 11,19–33, wo es allerdings nicht darum geht, dass eine nicht vergebene Sünde zu einem unwürdigen Genuss führt, sondern dass Christen nicht in Liebe aufeinander achten (vgl. oben 5.1). Die Gegenwart Christi wird bei Luther im Sinne einer Gegenwart Jesu nach seiner menschlichen Natur verstanden, eine dingliche Ver158
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
wandlung der Gaben aber abgelehnt (Konsubstantiation statt Transsubstantiation). Die lutherische Konkordienformel (1580), die das Ende der innerlutherischen Lehrstreitigkeiten markiert, stellt in Art. XI eine bis heute bedenkenswerte Analogie her, indem die Einheit in der Person Christi (göttliche und menschliche Natur, sog. unio personalis) mit der Einheit im Sakrament (unio sacramentalis) verglichen wird: So wie Jesus Christus Fleisch und Blut annahm, wird er durch die Kraft des Heiligen Geistes in, mit und unter den Gaben von Brot und Wein (nach seiner menschlichen Natur) gegenwärtig. Johannes Calvin, der Genfer Reformator, versuchte unter den protestantischen Positionen zu vermitteln. Er spricht von Spiritualpräsenz, d. h. einer Gegenwart des Auferstandenen durch den Geist nach seiner göttlichen Natur. Seine Vorstellung des Empfangens ist die einer manducatio spiritualis: Die menschliche Seele bekommt Leib und Blut Christi, während der Leib nur Brot und Wein empfängt. Der Glaube seitens des Menschen ist konstitutiv für die Wirksamkeit des Sakraments. 5.3 Entwicklungen in der Abendmahlstheologie nach 1945 Anknüpfend an die reformatorischen Weichenstellungen werfen wir nun einen Blick in die jüngere Theologie- und Kirchengeschichte: In seiner Erklärung zum Abendmahl schrieb der württembergische Reformator Johannes Brenz: »Das Abendmahl ist ein Sakrament und göttlich Wortzeichen, worin Christus wahrhaftig und gegenwärtig mit Brot und Wein seinen Leib schenkt und darreicht, und vergewissert uns damit, dass wir haben Verzeihung der Sünden und ewiges Leben.«
Bei den Reformatoren lutherischer Prägung sind immer die Heil bringende Person und das rettende Werk Jesu konstitutiv. Und doch ist das nicht alles. So hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Einsicht durchgesetzt, dass bei der Feier des Heiligen Abendmahls die Gabe der Sündenvergebung zum einen mit dem Gedanken und Erleben der Gemeinschaft (mit Christus und untereinander) verbunden sein sollte. Zum anderen gilt es den Ausblick und Vorgeschmack auf das kommende Mahl in der ewigen Welt zu akzentuieren. Die Liturgie sollte zuletzt auch Danksagung sein und in zentralen Teilen den anbetenden Lobpreis zum Ausdruck bringen. Theologie und Feier des Abendmahls
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Peter Brunners Gottesdienstlehre (Leiturgia I), welche die Agendenreform von 1954–1958 vorbereitete, sowie zahlreiche liturgische Aktivitäten der Michaelisbruderschaft und anderer ökumenisch orientierter Kommunitäten haben in diese Richtung nachhaltig gewirkt. Ein wichtiger Schritt hin zu einer Abendmahlsgemeinschaft der evangelischen Gliedkirchen waren die Arnoldshainer Thesen von 1957, mit denen lutherische und reformierte Theologen nach einem zehnjährigen Lehrgespräch zentrale theologische Probleme zu klären versuchten. Die zentrale These 4 lautet: »Die Worte, die unser Herr Jesus Christus beim Reichen des Brotes und des Kelchs spricht, sagen uns, was er selbst in diesem Mahle allen, die hinzutreten, gibt: Er der gekreuzigte und auferstandene Herr, lässt sich in seinem für alle in den Tod gegebenen Leib und in seinem für alle vergossenen Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein von uns nehmen und nimmt uns kraft des Heiligen Geistes in den Sieg der Herrschaft, auf dass wir im Glauben an seine Verheißung, Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit haben.«
Dieses Papier war die Grundlage für die 1973 entstandene Leuenberger Konkordie, bei der über 400 Jahre nach der Reformation (!) Abendmahls- und Kirchengemeinschaft zwischen Lutheranern, Unierten und Reformierten in Europa vereinbart wurde. An zentraler Stelle heißt es: »Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein. Er gewährt uns dadurch Vergebung der Sünden und befreit uns zu einem neuen Leben aus Glauben. Er lässt uns neu erfahren, dass wir Glieder an seinem Leibe sind. Er stärkt uns zum Dienst an den Menschen. Wenn wir das Abendmahl feiern, verkündigen wir den Tod Christi, durch den Gott die Welt mit sich versöhnt hat. Wir bekennen die Gegenwart des auferstandenen Herrn unter uns. In der Freude darüber, dass der Herr zu uns gekommen ist, warten wir auf die Zukunft seiner Herrlichkeit.«
Jesus Christus ist Gastgeber und zugleich Gabe. Der ganze Christus ist dabei gegenwärtig. Eine wichtige Einsicht war der Gedanke der Personalpräsenz Christi, welcher die (zu magischen Missverständnissen führende) Rede von der Realpräsenz ablöst, aber auch nicht abtrennt von der Vorstellung der sich schenkenden Gegenwart Christi beim gemeinsamen Essen. In der Liturgiekonstitution des Vatikanum II (1963) wird die Feier der Eucharistie als »Höhepunkt und Quelle« (culmen et fons) der 160
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Kirche bezeichnet. Die Kirche wird dabei in einer Handlungseinheit mit Christus als mystischer Einheitsleib gesehen (corpus mysticum Christi). Bei allen theologischen Differenzen wird hier etwas deutlich, was auch für die evangelische Theologie unbestritten ist: Kirche wird im Gottesdienst konstituiert (vgl. oben 3 und 4). In der Theologie der späten 1960er-Jahre begann dann – ein Paradigmenwechsel hin zu einem intensiveren Blick auf den Menschen. Abendmahl – so schreibt Barth – ist das Menschenwerk der Antwort auf Gottes Versöhnung, »die auf die Präsenz Jesu Christi in seinem Selbstopfer antwortende und seiner Zukunft entgegenblickende Danksagung« (Barth, KD IV/4, IX). Damit lehnte der große Theologe des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zu seinen Ausführungen von 1938 (vgl. Barth, Gotteserkenntnis) die Vorstellung des Abendmahls als Sakrament, in dem Gott handelt, dezidiert ab. Unter den holländischen Reformierten und in der politischen Theologie wurde schon in den 1970er-Jahren der Gedanke eines »weltoffenen Abendmahls« propagiert. Die Taufe ist dann als »Zulassung« nicht mehr vonnöten. Hoekendijk spricht vom »eschatologischen Sakrament der Vergegenwärtigung des Reiches in der Welt« und führt aus: »Das Reich kann nicht in die Kirche eingeschlossen werden, und das Sakrament des Reichs kann nicht ein eitel kirchliches Ereignis sein.« Nicht nur Denominationen, sondern Nationen sollen gemeinsam feiern, »Menschen allen Schlages« (Hoekendijk, 77, vgl. Kühn, Abendmahl, 163). Diese Fragestellung ist heute wieder aktuell und wird u. a. mit dem Gedanken des »open table« in den methodistischen Kirchen fortgeführt, der sich zunehmend auch andere evangelische Kirchen anschließen.
Der Gemeinschaftscharakter des Abendmahls wurde darüber hinaus besonders beim Feierabendmahl auf Kirchentagen akzentuiert, so etwa 1979 in der Nürnberger St. Lorenzkirche. Dazu gehört auch die politische Verantwortung für die Welt. Es entstanden zeitgleich zunehmend ökumenische Konsenspapiere: Das Dokument Das Herrenmahl (1978) z. B. ist eine römisch-katholisch-lutherische Erklärung, die vielfach aufgenommen worden ist. Im internationalen Kontext folgte dann die KonvergenzTheologie und Feier des Abendmahls
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erklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, die sog. Lima-Erklärung von 1982. Sie hält folgende fünf zentrale theologische Momente fest: Ȥ Danksagung an den Vater (Berakah) Ȥ Erinnerung und Verkündigung der Heilstat und des Heilswerkes Christi (Anamnese) Ȥ Anrufung des Heiligen Geistes (Epiklese) Ȥ Gemeinschaft der Gläubigen (communio) Ȥ Mahl des Gottesreiches (eschatologischer Vorgeschmack) 1986 kam es, angeregt durch den Besuch Papst Johannes Pauls II 1982 in Deutschland, zu einem intensiven ökumenischen Lehrgespräch unter dem Motto Lehrverurteilungen kirchentrennend?. Es umfasst einen Konsultationsprozess zu den Themenkreisen »Rechtfertigung«, »Sakramente« (mit Eucharistie) und »Amt«, wobei im Blick auf die Eucharistie »Realpräsenz«, »Opfer« und »Abendmahl unter zwei Gestalten« thematisiert werden. Aus diesem Prozess geht 1999 die sog. Gemeinsam Erklärung zur Rechtfertigungslehre hervor. Ein innerprotestantischer Streit entstand im Verlauf der Erpro bungsphase der sog. Erneuerten Agende (1990–1998), aus der das Evangelische Gottesdienstbuch (1999) hervorging. Er lässt sich zuspitzen auf die Frage: Ist das Abendmahl in erster Linie Gabe und Anrede Gottes (vgl. Wendebourg bzw. Slenczka) oder ist die Abendmahlsliturgie als große Danksagung zu begreifen? (vgl. SchmidtLauber/Schulz bzw. Kühn). Die Debatte brachte eine Kernfrage zur Sprache, die sich auch praktisch zuspitzen lässt: In welche Richtung werden die Einsetzungsworte gesprochen? Zum Altar (als Gebet) oder zur Gemeinde hin (als Zusage)? Bei aller Zustimmung zur eucharistischen Dimension des Abendmahls wird hier deutlich, dass eine evangelische Abendmahlspraxis den Gabecharakter des Sakraments nicht verdunkeln darf. Wo die Einsetzungsworte so in ein eucharistisches Gebet eingebettet sind, dass der Sprechakt der Zusage (»Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird«) nicht mehr deutlich ist, besteht die Gefahr, dass das Sakrament als Geschenk Gottes undeutlich wird. Versuchen wir die sachlich wesentlichen Punkte nochmals zu bündeln und fragen: Was geschieht beim Abendmahl? Was bedeutet die Rede vom Abendmahl als Sakrament? 162
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Der christliche Glaube hängt sich daran, dass Gott im Abendmahl handelt und Christus sich für uns hingibt. Dies ist die Motivation derer, die sich gegen eine primär eucharistische Dimension des Abendmahls aussprechen und damit das est Luthers weiter bekräftigen. Nur wenn Christus das primäre Subjekt der Handlung ist, dann besteht begründete Hoffnung auf Sündenvergebung, Versöhnung und ewiges Leben. Seine Gegenwart als wahrer Gott und wahrer Mensch unter Brot und Wein entspricht es, dass der Mensch mit allen Sinnen hörend, schmeckend, sehend angesprochen und sowohl leiblich als auch geistlich berührt wird. Bei diesem heiligen Essen ereignet sich etwas, das über unser Reden, Singen, Essen und Feiern hinausreicht: Gott selbst wird schöpferisch (vgl. »Tätelwort«) und rettend tätig. Es geschieht eine heilsame Verwandlung des Menschen von Gott her. Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen wird neu konstituiert. Davon ist der Gedanke der Sündenvergebung nicht ablösbar. Die jüngste, eher innerevangelisch geführte Debatte dreht sich um die besonders durch den Theologen Klaus-Peter Jörns (vgl. Jörns, 250–300) eingebrachte Anfrage, ob für ein evangelisches Abendmahlsverständnis die Rede von menschlicher Sünde, die biblischen Kategorien von Sühne bzw. Sühnopfer (vgl. Röm 3,25) und die Rede von Leib und Blut Christi im Abendmahl notwendig bzw. heute noch zu verantworten sind. Ich versuche darauf eine kurze Entgegnung: Sünde und Schuld
Berechtigt an der Anfrage von Jörns und zahlreichen anderen Menschen aus unseren Gemeinden ist, dass wir mit einer »nur auf Sündenvergebung fokussierten« Füllung der Abendmahlsfeier weder dem biblischen Reichtum noch der ökumenischen und historisch gewachsenen Fülle an liturgischen Elementen gerecht werden. Gerade im Luthertum wurde hier vielfach eine depressive Feiergestalt (oft verbunden mit Karfreitag und Bußtag) gefördert. Sie hängt uns bis heute an. Ich gehe dennoch davon aus, dass Menschen immer wieder real schuldig werden, indem sie andere verletzen, sich selbst nicht annehmen und Gottes Geboten nicht gerecht werden. Dieses dreifache Scheitern können sie nicht allein aufheben oder aus der Welt schafTheologie und Feier des Abendmahls
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fen. Daher hat die theologisch qualifizierte Rede von der Sünde ein bleibendes gutes Recht (nicht nur) in Theologie und Kirche. Sünde meint noch mehr als schuldhaftes Verhalten oder nicht wahrgenommene Verantwortung. Sie ist als ein Ineinander von Schicksalsverstrickung und persönlicher Schuld zu beschreiben und lässt sich auch als »Drang in die Beziehungslosigkeit« (Jüngel, 72f) verstehen. Drei Missverständnisse gilt es im Gespräch mit der Gegenwart auszuschließen: ihre Moralisierung (Reduktion auf die Tat, die man auch lassen könnte), ihre Sexualisierung und ihre Verharmlosung (Diätsünden o. Ä.). Ohne die Rede von der Sünde ist das Evangelium von der Befreiung/Rechtfertigung des Sünders zwar nicht sinnlos, aber doch unvollständig. Menschliche Sünde schafft Fakten, hinterlässt Spuren, die sich mit dem Verfehlen eines Ziels, dem Scheitern eines Plans oder dem Zerbrechen einer Gemeinschaft beschreiben lassen. Die biblische Rede vom neuen Bund und vom vergossenen Blut Christi deutet auf die Notwendigkeit einer Lebenserneuerung und Versöhnung von Gott her hin (vgl. Jer 31,31–34). Nach christlichem Verständnis geschieht genau dies beim Abendmahl (vgl. Mt 26,28). Sühne und Opfer
»Opfer« kann in der neutestamentlichen Überlieferung mindestens ein Vierfaches bezeichnen: Ȥ Gottes versöhnende Selbsthingabe an uns in Christus (vgl. 2. Kor 5,17–21; Joh 3,16) sowie die damit verbundene sühnende Tilgung menschlicher Sünde (Joh 1,29; Röm 3,25–28) Ȥ Jesu vollständigen Gehorsam gegen Gott (Phil 2,6f, vgl. Mk 14,36) Ȥ sein priesterlicher Opferdienst vor Gott und für die Menschen (Hebr 9f) Ȥ das darauf antwortende menschliche bzw. kirchliche Dankopfer • im gottesdienstlichen Gebet und Lobgesang • in der täglichen Lebenshingabe (Röm 12,1f) Nicht gemeint ist damit eine rechtliche Kompensation des göttlichen Zorns durch den Gottmenschen Christus, wie sie vor allem der mittelalterliche Theologe Anselm von Canterbury ins Gespräch gebracht hat (Cur Deus homo = Warum Gott Mensch wurde) und vielfach auch im evangelischen Bereich aufgenommen (vgl. etliche 164
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Lieder wie EG 76; 79 usw.) worden ist. Unter diesem Einfluss leiden wir bis heute. Dagegen gilt es zu betonen, dass Gott (Vater) und Sohn in einer Handlungseinheit agieren, wenn uns Menschen Sühne bzw. Versöhnung bereitet wird. Gott ergreift die Initiative selbst; die Leistung eines menschlichen Opfertodes des Jesus von Nazareth würde nicht ausreichen. Gott selbst überwindet in seiner Liebe die Macht menschlicher Sünde. Schon der alttestamentliche Sühneritus (3. Mose 16) war eine Gabe und Stiftung Gottes als heilendes Ritual. Es macht deutlich, dass der Mensch sich selbst nicht rechtfertigen oder gar Unrecht aus der Welt schaffen kann. Es braucht dazu den Herrn der Schöpfung selbst und sein grenzenloses Erbarmen. Der Opferbegriff ist mehrdeutig, ja wird oft verwirrend vieldeutig gebraucht: Wir sprechen von Gewaltopfern oder Terroropfern (vgl. lat. victima bzw. engl. victim), aber auch von kultischem Opfer (sacrificium bzw. sacrifice) und von alltäglichen Opfern im Sinne von sich aufopfern. Weil das alles oft nicht klar zu trennen ist und wir nicht mehr den Satisfaktionsvorstellungen Anselms, die auch reformatorische Theologie beeinflusst haben, folgen sollten, ist der Opferbegriff theologisch weitestgehend zu vermeiden. An dieser Stelle ist den Anfragen von K.-P. Jörns (Jörns, 250–252 u.ö.) bis zu einem gewissen Grad recht zu geben, seine Ablehnung der paulinischen und johanneischen Deutung des Todes Jesu ist allerdings m. E. nicht nachvollziehbar. Die Vorstellung, dass Gott selbst für uns aktiv wird, ist daher nicht aufzugeben. So halte ich die Begriffe der stellvertretenden Hingabe oder des Freikaufs (vgl. Mk 10,45 u. a.) jedenfalls für geeigneter als die Rede von Opfer (oder Sühne) im Blick auf das Kreuzesgeschehen. Blut ist Leben
Auch die »massive« Leiblichkeit des vergossenen Blutes wird vielfach kritisiert. Sie gehört allerdings dazu, weil Jesus nicht nur als göttliches oder geistiges Wesen existierte, sondern ein konkreter, verletzlicher Mensch war (vgl. auch Mk 14,36). »Blut ist Leben« heißt es in einer Werbung des Deutschen Roten Kreuzes. Wer Blut spendet, rettet anderen das Leben. Wenn Jesus in den Einsetzungsworten von seinem »Blut« für uns spricht, meint er diesen Lebensgewinn, der aus Theologie und Feier des Abendmahls
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seiner Hingabe resultiert. Was im medizinischen Alltag fast selbstverständlich ist, gilt auch symbolisch für die Theologie. Gott erneuert und erhält unser Leben durch Blut. Insgesamt zeigt die Rede vom vergossenen Blut den letzten Ernst der Angelegenheit, um die es hier geht, eine Rettung vom Tod unter Einsatz eines Lebens. Dennoch müsste die zweite Spendeformel beim Abendmahl nicht zwingend »Christi Blut für dich vergossen« lauten. Da die Anschauung des vergossenen Blutes für viele Menschen so anstößig ist, dass sie nicht mehr teilnehmen wollen, kann die Sache, um die es geht, dass Christus als Person heilvoll gegenwärtig ist, auch anders ausgedrückt werden, z. B. »für dich vergossen« oder freier: »der Kelch des Heils« (Christus) »für dich«. Vielleicht könnte der Begriff »Blut« konsequent durch Lebenskraft oder Leben wiedergegeben werden. 5.4 Die Abendmahlsliturgie nach dem Evangelischen Gottesdienstbuch Was macht die Liturgie des Abendmahls im Wesentlichen aus? Unverzichtbarer »Kern und Stern« der Abendmahlsliturgie sind von der biblischen Einsetzung her die Stiftungs- und Gabeworte Jesu. Dies zeigt sich auch daran, dass sie in fast allen Formularen in der christlichen Ökumene, das Zentrum der Feier bilden. Die Einsetzungsworte erzählen prägnant, dass Jesus selbst es ist, der einlädt. Sie stellen klar, dass das Abendmahl Mahl des Herrn ist und nicht ein (Dank-) Opfer der Kirche (vgl. oben 5.3, 162). Diese Zusage wird durch einen konkreten Sprechakt der Gemeinde mitgeteilt, der nicht Gebet ist, sondern ein Geschenk ansagt und austeilt. Die Reformation drehte damit »den Priester um: Er handelt nicht mehr Gott gegenüber im Namen der Gemeinde opfernd, sondern er wird zum Mund Gottes und richtet dessen befreiende Zusage der Gemeinde aus.« (Schmidt-Lauber, Eucharistie, 225) Deshalb verdunkelt ein Verständnis des Abendmahls als bloße Gebetshandlung den zentralen Gabecharakter des Mahles. Allerdings steht es außer Frage, dass Jesus selbst innerhalb der Einsetzung des Abendmahls ein Segens- bzw. Dankgebet sprach und gebot, es zu seinem Gedächtnis auf diese Weise zu wiederholen. Ein eucharistisches Dank- oder Segensgebet ist von daher zweifellos stiftungsgemäß. Hinzu kommt, dass ein trinitarisches Eucharistiegebet 166
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
als Grundlage ökumenischer Abendmahlstheologie, ja als Summe des christlichen Glaubens betrachtet werden kann. Grundform I (Messe)
Betrachten wir zunächst die Abendmahlsfeier nach Grundform I (Messtyp): In Grundform I folgen nach der sog. dreiteiligen dialogischen Versikel (»Der Herr sei mit euch« und »Erhebet die Herzen«) die Präfation (»Wahrhaft, würdig ist es und recht«) und das Sanctus (vgl. EG 185 bzw. oben III.1.3). Die Präfation ist ein Lobgebet über den Gaben und kann je nach Kirchenjahr verändert bzw. thematisch besonders akzentuiert werden. In der Regel besteht sie aus drei Teilen: I Anrufung des ewigen Gottes durch Jesus Christus: »Wahrhaft würdig ist es und recht, dass wir dich, ewiger Gott, immer und überall loben und dir danken durch unseren Herrn Jesus Christus.« II Erinnerung an das Heilswerk Christi: »Ihn hast du der Welt zum Heil gesandt, dass wir durch seinen Tod Vergebung der Sünde und durch seine Auferstehung das Leben haben (oder ähnlich).« III Einstimmen in das Lob der Himmlischen: »Darum loben die Engel deine Herrlichkeit, beten dich an alle Mächte und fürchten/rühmen dich die Gewalten. Dich preisen die Kräfte des Himmels mit einhelligem Jubel, mit ihnen vereinen auch wir unsere Stimmen und bekennen ohne Ende:« (es folgt Sanctus)
Bevor die Liturgie über Vaterunser, Friedensgruß und Christe, du Lamm Gottes zur Austeilung voranschreitet, folgt der Teil des sog. eucharistischen Gebetes oder Abendmahlsgebetes. Im Hauptteil der »ausgeformten Liturgien« des EGb finden sich zwei Vorschläge (einer ohne und einer mit Noten), denen in der abschließenden Textsammlung zur Auswahl zahlreiche Varianten zur Seite gestellt sind. Betrachten wir zunächst den ersten Vorschlag: Abendmahlsliturgie Grundform I (ohne Noten): Trinitarische Vergegenwärtigung »ABENDMAHLSGEBET I Sei gepriesen, du Schöpfer aller Dinge, sei gepriesen für das Licht, das wir sehen, das uns hinweist auf Christus, unser Licht. Theologie und Feier des Abendmahls
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Sei gepriesen für alles, was die Erde hervorbringt, um uns Menschen zu ernähren. Sei gepriesen für alles, was du uns zugute getan hast in Jesus Christus, deinem Sohn: für seine Geburt in dieser Welt, für sein Leiden und seinen Tod am Kreuz, für seine Auferstehung am Morgen der neuen Schöpfung. EINSETZUNGSWORTE Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset. Das ist + mein Leib, der für euch gegeben wird. Solches tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Abendmahl, dankte und gab ihnen den und sprach: Nehmet hin und trinket alle daraus, dieser Kelch ist der neue Bund/das neue Testament in + meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Solches tut, sooft ihr’s trinket zu meinem Gedächtnis. CHRISTUSLOB Kantor: Groß ist das Geheimnis des Glaubens! Gemeinde: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit. ABENDMAHLSGEBET II Segne uns, Vater, diese Gaben, dass wir Christi Leib und Blut zu unserm Heil empfangen. Sende auf uns deinen Heiligen Geist, den Atem, der Leben spendet, den Tröster der Verzweifelten, den Begleiter in alle Wahrheit; der uns neu macht an Leib und Seele, der uns das Leben schenkt, das nicht vergeht, der uns Menschen versöhnt in der Kraft Jesus Christi. Erhöre uns, wenn wir gemeinsam beten: Vater unser im Himmel […].« (EGb 80f)
Dieser kompakte Entwurf eines Abendmahlsgebetes weist eine klare trinitarische Struktur auf. Insgesamt ist die »Komposition« fünfteilig: 1. Abendmahlsgebet I: Lobpreis (Berakah) des Schöpfers und Erlösers 2. Einsetzungsworte: Vergegenwärtigung (Anamnese) der Stiftung durch Jesus Christus 168
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
3. Christuslob 4. Abendmahlsgebet II (Geistbitte an den Vater als sog. Gaben- und Gemeindeepiklese) 5. Vaterunser Im Abendmahlsgebet I vor den Einsetzungsworten wird Gott zunächst als Schöpfer und Erhalter (Z. 1–5) und dann als Erlöser gepriesen (Z. 6–10). Die ungefähr gleich umfangreichen Teile rühmen Gottes Schöpfungshandeln (1. Artikel) und seine Heilstat in Christus (2. Artikel). Das vierfache »sei gepriesen« bzw. das dreifache »für sein[e]« schafft sprachliche Prägnanz und verknüpft beide Unterabschnitte durch das Stilmittel der Anapher. Die Lichtmetaphorik ist im Sinne des Johannesprologs zu verstehen: Gott schenkt jedem Menschen das natürliche Licht der Vernunft. Bereits hier ist der göttliche Logos erhellend tätig (Joh 1,4f; 8,12, vgl. 2. Kor 4,6), eine Formulierung, die auch an das Nizänische Glaubensbekenntnis erinnert: (lumen de lumine – Licht vom Licht). Mit der Formulierung »Sei gepriesen für alles, was die Erde hervorbringt, um uns Menschen zu ernähren« wird ein Bogen zur Bewahrung der Schöpfung geschlagen. Darauf folgt eine Christusvergegenwärtigung, die immer noch in die Form des Lobpreises eingebunden ist und zu den Einsetzungsworten überleitet. Das Werk Jesu Christi wird in drei allmählich anwachsenden Aussagen entfaltet. Inhaltlich geht es um Weihnachten, Karfreitag und Ostern als Hauptdaten des Heilswerkes Christi. Mit der Wendung »am Morgen der neuen Schöpfung« wird die Auferstehung in ein kosmisches Licht gestellt sowie eine Verklammerung zum Anfang erreicht (»Schöpfer«, »neue Schöpfung«). Der Lobpreis schlägt somit einen großen Bogen vom Schöpfungsmorgen zum Ostermorgen und von dort zum ewigen Morgen der neuen Schöpfung. Die folgenden Einsetzungsworte sind nicht mehr ins Gebet eingebettet, sondern beginnen pointiert mit einem neuen Hauptsatz, dessen Subjekt (»Unser Herr«) am Anfang steht. Sie sind dadurch klar vom Kontext abgehoben, was durch eine gesungene Rezitation noch unterstrichen werden kann. Allerdings hat das EGb beide Teile auch Theologie und Feier des Abendmahls
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nicht durch ein Amen voneinander abgetrennt (vgl. Württ. Gottesdienstbuch, 73). Im Einsetzungsbericht identifiziert Jesus das, was an Leiden vor ihm liegt, mit den Gaben von Brot und Wein. Er nimmt in einer zeitlichen Verschränkung alte Traditionen mit Aussagen zum Bundesblut (2. Mose 24) auf und deutet sie im Licht der Verheißung vom neuen Bund (Jer 31). Er steht mit seiner Person, d. h. mit seinem Fleisch und Blut, für die totale Hingabe Gottes an die Menschen, die er an vielen Stellen seines irdischen Wirkens schon vorgelebt hat. Damit wird religionsphänomenologisch der Opfergedanke umgedreht (vgl. oben 166). Den Einsetzungsworten schließt sich eine kurze Akklamation der Gemeinde (»Deinen Tod, o Herr, verkünden wir …«) an, die durch den Ausruf des Kantors (»Groß ist das Geheimnis des Glaubens«) eingeleitet werden kann. Die Formel aus Syrien spielt auf 1. Kor 11,26 an, wo die Gemeinde ausdrücklich als verkündigendes Subjekt des Todes Christi begriffen wird. Die liturgische Wendung ist ein ausdrückliches Christuslob und verweist zugleich auf das frühchristliche Maranatha (aramäisch: »Unser Herr komm«) von 1. Kor 16,22 (»bis du kommst in Herrlichkeit«). Die Verben »verkündigen« und »preisen« zeigen eine eigentümliche doppelte Sprechrichtung der Gemeinde: Sie redet gleichsam zu Gott und zu den Menschen hin (vgl. Ps 9,2f). Für sich betrachtet, bildet dieser erste Teil vor der eigentlichen Kommunion eine symmetrische Dreiheit aus den Elementen Lobpreis, Zuspruch und Lobpreis. Das folgende Abendmahlsgebet II ist wieder an den Vater gerichtet, der mit der Bitte um die Sendung des Geistes bzw. um die Segnung der Gaben von Brot und Wein angerufen wird (vgl. Joh 14,16.26 bzw. 1. Tim 4,4f). Damit hat dieser Teil bittenden (epikletischen) Charakter, die beiden Verben »Segne« und »Sende« verweisen auf die Gaben und die zu segnende Gemeinde. Gaben- und Gemeindeepiklese sind hier geschickt zusammengefügt. Mit der Bitte um einen heilvollen Empfang fleht die Gemeinde um den Geist, der den Glauben schafft und stärkt. Darin steckt eine wichtige seelsorgliche Dimension dieses Gebetes: Der »würdige« Empfang hängt also gerade nicht am Menschen, der sich durch 170
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Beichte oder innere Einstimmung besonders vorbereiten muss. Vielmehr wird es in der Epiklese Gott anvertraut und zugetraut, dass nach seiner Verheißung Sünder und Sünderinnen im Mahl Zuwendung und Vergebung erfahren (vgl. Lukas 19,1–10). In dieser Epiklese kommt der Heilige Geist als Lebensspender, Tröster und Begleiter zur Sprache und wird dann als Neuschöpfer an Leib und Seele, Geber des ewigen Lebens und als Versöhner der Menschen in der Kraft Christi, mithin als Geist der Liebe gerühmt. Das folgende Vaterunser lässt sich als Fortführung der Epiklese verstehen, die Gemeinde stimmt in die Bitten des Liturgen ein. Insgesamt finden sich somit lobende (Abendmahlsgebet I, Christuslob und Doxologie des Vaterunsers), vergegenwärtigende (Einsetzungsworte) und bittende (Abendmahlsgebet II und Vaterunserbitten) Momente, die ihrerseits an die drei göttlichen Personen angebunden sind (vgl. die bei Hippolyt zu findenden Strukturelemente des offerimus – memores – petimus, s. oben 156). Aufs Ganze überwiegt der hymnisch-eucharistische Ton am Anfang und am Ende. Die verba testamenti bleiben gleichwohl als Kern und Stern der Mahlfeier erkennbar. In der fast zeitgleich mit dem Evangelischen Gottesdienstbuch erschienen Reformierten Liturgie, findet sich ein äußerst gelungenes, trinitarisch strukturiertes Abendmahlsgebet in Reimform, das sich den Einsetzungsworten anschließt: »Wir danken dir, Gott, Schöpfer aller Welt, der Menschen, Tiere, Pflanzen deiner Erde, das Leben gab und der es noch erhält, ins Licht gerufen durch das Wort: Es werde! Wir loben dich, Herr Christus, Gottes Sohn, für uns gestorben und vom Tod erstanden. Du stellst uns einst mit dir vor Gottes Thron, Verlorene, die Rettung fanden. Wir preisen dich, Vollender, Heiliger Geist, vom Vater durch den Sohn für uns gegeben. Du Gottesatem, der uns mit sich reißt, komm nun, erwecke uns zum Leben. Amen.«
Theologie und Feier des Abendmahls
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Die Abendmahlsgebete nach Grundform I mit Noten: Lobpreisendes Christusgedenken »ABENDMAHLSGEBET I: Wir loben dich, Herr des Himmels und der Erde. Du hast dich über deine Geschöpfe erbarmt und deinen Sohn Mensch werden lassen. Wir danken dir für die Erlösung, die er am Kreuz für uns vollbracht hat. Wir bitten dich: Sende auf uns herab den Heiligen Geist, heilige und erneuere uns an Leib und Seele, damit wir unter diesem Brot und Wein Leib und Blut Christi zu unserem Heil empfangen, wenn wir tun, was er geboten hat. EINSETZUNGSWORTE [Denn:] Unser Herr Jesus Christus […] CHRISTUSLOB K[antor]: Groß ist das Geheimnis des Glaubens! [G]emeinde: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir […] ABENDMAHLSGEBET II So gedenken wir, himmlischer Vater, deines Sohnes, wir gedenken seines Leidens und Sterbens. Wir preisen seine Auferstehung und Himmelfahrt und vertrauen auf seine Herrschaft über alle Welt. Wir bitten dich, Gott: Wie alle, die seinen Leib empfangen, e i n Leib sind in Christus, so bringe deine Gemeinde zusammen von den Enden der Erde und lass uns mit allen Gläubigen voll Freude das Mahl feiern in deinem Reich. Durch Jesus Christus sei dir im Heiligen Geist Preis und Anbetung jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. G: Amen. Vater unser im Himmel […].« (EGb 113–117)
Diese Variante weist dieselbe fünfteilige Struktur wie die erste Liturgie auf, unterscheidet sich aber von ihr in der theologischen Akzentuierung und durch die gesungene Form. Das Abendmahlsgebet I enthält Momente des Lobpreises (vgl. Hymnus), des Dankes (vgl. Danklied) und der Bitte. Diese Gliederung wird durch die drei Verben (loben, danken, bitten) und das dreifache Wir zu Beginn besonders hervorgehoben. Neben dieser sprachlichen Ausdifferenzierung ist zu sehen, dass inhaltlich jeweils ein Werk des dreieinigen Gottes entfaltet wird: das Erbarmen über die Geschöpfe, das Erlösungswerk Christi 172
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und das Herabkommen des Geistes auf die feiernde Gemeinde. Am Ende wendet sich das Gebet von der Vergangenheit (Heilswerk Christi) in die Gegenwart bzw. unmittelbar bevorstehende Zukunft der Kommunion. Die Epiklese ist bewusst vor die Einsetzungsworte gestellt, um diesen damit mehr Gewicht zu geben. Gemeinde- und Gabenepiklese sind nicht auseinandergezogen. Stattdessen findet sich im Abendmahlsgebet II eine entfaltete Anamnese, die sich organisch an die Einsetzungsworte anschließt: »Wir gedenken, wir gedenken, wir preisen … und vertrauen«. Ähnlich wie im ersten Beispiel kommen zentrale Stationen des Heilswerkes Christi zur Sprache: sein Leiden und Sterben, seine Auferstehung und Himmelfahrt (vgl. Phil 2,6–11). Die Vergegenwärtigung mündet in einen als Bitte formulierten Ausblick auf die Herrlichkeit Gottes. Das Gebet leitet mit einer abschließenden Doxologie über zum Vaterunser.
Gegenüber dem ersten Text liegt hier eher hochkirchliche Sprache vor, der schöpfungstheologische und der geisttheologische Akzent sind gegenüber dem ersten Beispiel deutlich zurückgenommen, es dominieren Dank und Gedenken des göttlichen Heilshandelns in Christus, das vom Vater gewirkt und vom Geist der Gemeinde zugeeignet wird. Elemente der Danksagung finden sich außer in den Einsetzungsworten in allen Abschnitten. Insgesamt lässt sich das ganze Gebet als eine kleine theologische Summe von Person und Werk Christi verstehen. Die gesungene Rezitation, die sprachliche Dichte und das theologische Gewicht dieser Liturgie eignen sich für eine Feier mit einer Gemeinde, der die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens auch in traditionellem Gewand zugänglich sind. Grundform II (oberdeutscher Typ): Von der Zusage zum Dank »ABENDMAHLSBETRACHTUNG Gott hat uns in Jesus Christus das ewige Leben geschenkt. Er ruft alle Welt und lädt uns ein an seinen Tisch. Wir gehören zu ihm. Er verbindet uns untereinander. Er befreit uns von der Last der Vergangenheit, lässt uns Einsamkeit und Unfrieden überwinden und einen neuen Anfang wagen. Indem wir das Brot essen und aus diesem Kelch trinken, warten wir voll Verlangen auf sein Reich, in dem Gerechtigkeit wohnt. Theologie und Feier des Abendmahls
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EINSETZUNGSWORTE Unser Herr Jesus Christus […] ABENDMAHLSGEBET Lasst uns beten: Herr Jesus Christus, du bist das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Du machst uns satt und schenkst uns deine Gemeinschaft. Du bist der Weinstock, wir sind die Reben. Erfülle uns mit deiner Kraft und ziehe uns zu dir. Wer in dir bleibt und du in ihm, der bringt viel Frucht. Dazu hilf uns nach deiner Verheißung. Gemeinde: Amen.« (EGb 142f)
Die aus Grundform II entnommene kleine Abendmahlsliturgie, die besonders für die von der südwestdeutschen Reformation geprägten Kirchen (Pfalz, Württemberg) die Regelform ist und auch als oberdeutscher Typ bezeichnet wird, hat ein klares Gefälle von Anrede und Antwort: Nach der verkündigenden Betrachtung – ein Element, das historisch auf die sog. Abendmahlsvermahnung der Reformatoren zurückgeht und gleichsam eine Kurzpredigt zum Abendmahl ist –, die in die Einsetzungsworte mündet, folgt ein Gebet an Jesus Christus, den Herrn der Mahlfeier mit Anklängen an das Johannesevangelium. Dabei kommen wesentliche Inhalte des Abendmahls einfach und verständlich zur Sprache. Die Sprechakte sind nicht zuletzt durch den Aufruf »Lasst uns beten« klar voneinander abgesetzt. Handelndes Subjekt des Herrenmahls ist Gott in Christus; die Gabe, die dabei ausgeteilt wird, ewiges Leben. Dies steht pointiert gleich am Anfang. Die Einladung ergeht an »alle Welt«. Unklar ist, ob mit dem »lädt uns ein … – wir gehören zu ihm …« der Adressat »Welt« weitergedacht ist, oder ob es sich nunmehr um ein Wir der Kirche handelt. Die heilende Kraft des Sakramentes klingt auf dem Hintergrund der Stichworte »Last der Vergangenheit« und »Unfrieden« an. Noch deutlicher ist der Gedanke der Gemeinschaft formuliert, der zunächst im Blick auf Christus (»Wir gehören zu ihm«) und dann auf die Gemeinde (»Er verbindet uns untereinander«) vertieft wird. Das den Einsetzungsworten folgende Abendmahlsgebet besteht zu zwei Dritteln aus Christusanrufungen und formuliert erst am Ende die eigentliche Bitte, die auf die Verheißung der Testamentsworte (»nach deiner Verheißung«) bzw. 174
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die Zusage der Ich-bin-Worte des Johannes (vgl. Joh 6,51; Joh 15,5 u. a.) ausgerichtet ist. Gemeinschaft mit Gott und deren Frucht wird erbeten.
Die Struktur des Abendmahlsteils der Grundform II ist klar: Der deutenden Anrede an die Gemeinde und der verkündigenden Anamnese in der Einsetzung folgt ein Gebet, das um die Erfüllung dieser Verheißung bittet und diese zugleich aneignet. Die Sprache ist nicht hochkirchlich, sondern eher allgemein verständlich. Erster und dritter Glaubensartikel kommen nicht in den Blick, die trinitätstheologische »Fülle« der Abendmahlsgebete in Grundform I wird nicht erreicht. Wiedererkennbarkeit und Freiheit
Das Evangelische Gottesdienstbuch ist keine strenge Agende im klassischen Sinne, sondern ein Werkbuch. Es bietet viele Freiheiten, die auch nach zwanzig Jahren Gebrauch an vielen Stellen nicht entdeckt oder genutzt worden sind. In Bezug auf die Gestaltung des Abendmahls möchte ich dazu ermutigen, hier nicht nur die Präfationen oder Abendmahlsgebete in Grundform I, sondern auch die Formulierung der Betrachtung in Grundform II immer wieder zu verändern. Je nach Ort im Kirchenjahr bzw. aktueller Situation in Gesellschaft und Kirche können hier unterschiedliche theologische Akzente gesetzt werden. Ein Abendmahl im Advent oder an Karfreitag sollte deutlich anders aussehen als an Pfingsten oder Erntedank. Dazu bietet der Anhang und der Ergänzungsband des EGb einen reichen Schatz an Formulierungen an, die unterschiedlichen Situationen und spirituellen Neigungen gerecht werden können. Auch die musikalische Gestalt der liturgischen Stücke sollte unbedingt variiert werden. Nirgendwo ist uns aufgegeben, dass ein Sanctus oder ein Agnus Dei stets in genau derselben Form gesungen werden müsste. Eine denkbare Option ist, dass z. B. im sonntäglichen Wechsel klassische und populäre Vertonungen von Sanctus (z. B. fT 153; 157; 159; 160) und Agnus (z. B. fT 151) alternieren. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass auch innerhalb der agendarischen Formen selbst in der Gemeinde gewechselt werden kann. Form I und Form II sollen bewusst vollgültig nebeneinanderstehen und nicht ein Mahl erster und zweiter Klasse sein. Gerade im Sommer – wenn nur wenige da sind – bietet sich die schlankere und schlichtere Grundform II an. Dazu kommen alterTheologie und Feier des Abendmahls
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native Feierformen, z. B. das Tischabendmahl, das nicht nur am Gründonnerstag oder auf Gemeindefreizeiten praktiziert werden muss, und offene Formen, wie sie etwa auf Kirchentagen (Feierabendmahl!) längst Praxis sind. Auch unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie ist eine Feier am Tisch (mit Abstand) eine Option. 5.5 Die Gestaltung der Mahlfeier Was geschieht beim Abendmahl? Diese Frage wollen wir uns nun ganz praktisch stellen. In vielen Gemeinden ist das Abendmahl nämlich auch Anlass zahlreicher Gestaltungsfragen. In den letzten Jahren sind hier besonders die Fragen der inklusiven Gestalt, damit verbunden der Leichten Sprache in der Liturgie, und die Frage nach der »Zulassung« bzw. Öffnung des Mahls für alle Getauften, ja sogar für andere (!) in den Fokus gerückt. Diese Themen können hier nicht alle im Einzelnen dargelegt werden, aber Wesentliches sollte gesagt sein: Wie und wie oft soll eine Gemeinde Abendmahl feiern?
Diese Frage wird vom Evangelischen Gottesdienstbuch nicht eindeutig beantwortet und sollte auch den Gemeinden überlassen bleiben. Empfohlen wird lediglich eine regelmäßige Feier. Regelmäßig könnte sowohl zwei- bis viermal im Jahr als auch jeden Sonntag sein. Dahinter steckt auch die Frage, wodurch die zentrale Bedeutung des Mahls unterstrichen wird: dadurch, dass man nur selten feiert, oder dadurch, dass es möglichst oft geschieht? Gewiss kann man in beide Richtungen argumentieren. Wenn man bedenkt, dass für die urchristlichen Gemeinden das Abendmahl zentraler Akt ihres gemeindlichen Lebens war und in den großen Schwesterkirchen die Eucharistie zum sonntäglichen Gottesdienst substanziell dazugehört, wird man sich schwerlich auf wenige Termine im Jahr verständigen wollen. Hinzu kommt, dass viele evangelische Gemeinden die tragende Kraft des Rituals in den letzten Jahren wiederentdeckt haben und dass sich eine lebendige Abendmahlsfrömmigkeit auch im evangelischen Kontext etabliert hat, die gepflegt und eingeübt sein will. Wenn – wie an den meisten Orten üblich – alle (getauften) Kinder eingeladen sind, ist es unsere Aufgabe und Chance, sie in 176
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eine lebendige Praxis der Feier einzuführen und ihnen Freude am Fest zu vermitteln. Das in wenigen Gemeinden noch übliche »angehängte Abendmahl« (im Anschluss an den sonntäglichen Gottesdienst) ist nicht zu befürworten, da es die Feier des Sakraments vom Gottesdienst der ganzen Gemeinde abtrennt. Es sollte die absolute Ausnahme bleiben. Ein schöner Brauch sind Abendmahlsgottesdienste mit knapper Predigt (oder ganz ohne Auslegung) beispielsweise auf Freizeiten oder bei Tagungen. Wichtig ist ferner, dass die Mahlfeier nicht jedes Mal in stereotyper Weise gleich stattfindet. Es gibt die Möglichkeit, bei den Abendmahlsgebeten abzuwechseln und sich thematisch auf das Kirchenjahr bzw. auf das Thema des Sonntags zu beziehen. Dabei können z. B. die zentralen Aspekte – Lobpreis des Schöpfers und Freude an der Schöpfung (z. B. Erntedank), Sündenvergebung, Gegenwart Christi, Bitte um den Heiligen Geist (z. B. Pfingsten), Gemeinschaft mit Gott und untereinander, Mahl des Gottesreiches (z. B. Ewigkeitssonntag) – unterschiedlich akzentuiert werden. Traubensaft oder Wein? Gemeinschaftskelch oder/und Einzelkelche? Welche Formen der Austeilung bieten sich an?
Die Feier des Abendmahls ist ein sinnliches Fest. Nicht prunkvoll, aber schön soll es sein. Es geht um eine sprechende Symbolik, die man nicht erklären muss, sondern die sich (möglichst beim ersten Mal) erschließt. Beim Brot für das Abendmahl sind sowohl Hostien (mit dem Kreuz Christi) als auch Brot im Gebrauch. Für beides gibt es gute Argumente – mir leuchtet das schmackhafte Brot allerdings mehr ein als die »symbolisch« aufgeladene Hostie auf einer silbernen Patene. Schwieriger ist die Frage nach der Flüssigkeit im Kelch. Gewiss ist die Feier mit vergorenem Wein die eigentlich stiftungsgemäße Form, weil sie im jüdischen Pesach wie es Jesus mit seinen Jüngern gefeiert hat, ganz offensichtlich gebraucht wurde. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass erfreulicherweise immer mehr Kinder am Abendmahl teilnehmen. Außerdem nehmen wir Rücksicht auf suchtkranke Menschen, die ein Recht auf die Teilnahme am Abendmahl (in beiderlei Gestalt) haben. Wenn wir dann noch bedenken, dass schon Paulus Theologie und Feier des Abendmahls
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immer wieder zur Rücksicht auf die Schwachen gemahnt hat (vgl. 1. Kor 6 und 11), dann liegt die Antwort recht deutlich auf der Hand. Die Gemeindeleitung sollte es in regelmäßigen Abständen möglich machen, dass das Mahl mit Traubensaft gefeiert wird. In ähnlicher Weise sollte in regelmäßigen Abständen das Abendmahl auch mit Einzelkelchen angeboten werden, da für viele Menschen das Trinken aus dem Gemeinschaftskelch ein Hygieneproblem darstellt. Dies wird auch durch die sog. Intinctio (Eintauchen der Hostie) nicht minimiert, sondern eher verschärft. Unter der Perspektive der (aktuellen) Corona-Pandemie gibt es eigentlich keine Alternative zum Einzelkelch. Gemeinden sind zur Anschaffung zu ermutigen. Nicht zu fördern sind Weintrauben als Ersatz für Wein oder Saft. Damit wird zwar das »Trinken« aus einem Kelch vermieden, aber die Symbolik für das vergossene Blut (gemäß der Einsetzung) verdunkelt. Unter den Formen der Austeilung lassen sich mindestens vier verschiedene ausmachen. Nicht nur im römisch-katholischen Bereich ist die sog. Wandelkommunion verbreitet. An zwei oder vier Stationen werden Brot (und Kelch) den Kommunikanten dargeboten. Vorteil dieser Variante ist, dass sie besonders rasch auch für viele Teilnehmende realisierbar ist. Allerdings ist diese Form eher unpersönlich, da es keine Art von gemeinschaftlicher Zuwendung gibt. Im protestantischen Bereich ist die Feier im Halbkreis mit einem oder mehreren »Tischen« (Durchgängen) weit verbreitet. Der Nachteil dabei ist – bei größerer Besucherzahl – eine erheblich längere Dauer und die Notwendigkeit organisatorischer Ansagen. In der Herrnhuter Brüdergemeine wurde eine Form eingeführt, bei der Brot und Kelch durch die Bankreihen gegeben werden, was den Gemeinschaftscharakter besonders verdeutlichen soll. Der Festcharakter des Mahls wird dadurch allerdings nicht unterstrichen. Die für mich überzeugendste Form ist die Mahlfeier im Kreis, möglichst um den Altar herum, der dann als Tisch plausibel wird (sog. circumstantes-Ordnung), vielleicht auch vorne offen mit Blick zum Kreuz. Um die Dauer der Austeilung nicht unnötig in die Länge zu ziehen, ist in diesem Fall darauf zu achten, dass möglichst vier bis acht Personen gleichzeitig austeilen (in Viertelkreisen) und zwei Per178
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sonen nachgießen bzw. abwischen. Bei dieser Form ist denkbar, dass die Gemeindeglieder sich das Brot und den Kelch selbst weitergeben und gegenseitig Spendeworte zusprechen. Beichte und Abendmahl Besonders in den südwestdeutschen Landeskirchen und in Sachsen ist die Beichte vor dem Abendmahl weit verbreitet, die den zentralen Aspekt der Sündenvergebung innerhalb der Mahlfeier mit Recht besonders in den Mittelpunkt rückt. Im Blick auf das Abendmahl bewirkt eine unmittelbar vorangehende Beichte allerdings die Möglichkeit des Missverständnisses, dass man nur mit vorangegangener Vergebung würdig zum Abendmahl gehen kann. Auch kann man einwenden, dass die dem Mahl vorangehende Beichte eine Doppelung darstellt zu der innerhalb der Einsetzung zugesagten Sündenvergebung oder den freudigen Charakter der Feier verdecke. Für die vorangehende sog. »Offene Schuld« spricht, dass der zentrale Aspekt der Sündenvergebung mit Zuspruch der Loslösung von Schuld (Absolution) sonst kaum mehr im Gottesdienst vorkommt und daher einen guten Ort an dieser Stelle hat. Auch diesbezüglich sollte man ruhig abwechseln: Grundform II lässt sich sehr gut mit einer Beichte verbinden, bei Grundform I kann man in der Regel darauf verzichten, da es schon zu Beginn des Gottesdienstes die Möglichkeit eines Sündenbekenntnisses (mit Absolution) gibt. Beide Formen sollten neben freieren Formen (z. B. Feierabendmahl, Liturgie mit populärer Musik) gepflegt werden, um damit der Gemeinde einen größeren liturgischen und theologischen Reichtum zu bieten. Welche Stücke in der Liturgie sind unverzichtbar?
Unverzichtbare Stücke in der Abendmahlsliturgie sind – wie schon mehrfach festgehalten – die Einsetzungsworte in einem möglichst wiedererkennbaren Wortlaut, die in unmittelbarer Verbindung mit den Elementen von Brot und Wein (bzw. Saft) gesprochen werden. In Ausnahmen ist es möglich, die biblische Version aus einem Evangelium oder eine Übertragung in Leichter Sprache zu verwenden. Beim Familien- und Kindergottesdienst ist die Geschichte immer wieder einmal narrativ zu entfalten. Es geht nicht um die »magische Kraft« Theologie und Feier des Abendmahls
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bestimmter Worte im Sinne einer (Zauber-)Formel (z. B. Hokuspokus vom lateinischen »hoc est corpus« = das ist mein Leib). Ebenso unverzichtbar sind auch die tatsächliche Austeilung (im Gegensatz zur »Augenkommunion«, die im katholischen Bereich früher möglich war) und eine anschließende Danksagung. In der Regel gehört auch das Vaterunser dazu, das allerdings auch im Zusammenhang der Fürbitten gesprochen werden kann. Hier unterscheiden sich die liturgischen Traditionen. Das Kreuzzeichen über den Elementen ist dagegen ein typisches Adiaphoron (»liturgisches Zwischending«) und erst seit ca. 50 Jahren wieder im lutherischen Bereich in Gebrauch, während es in unierten und reformierten Gemeinden unüblich ist. Dürfen Ungetaufte teilnehmen?
Ungetaufte nehmen am Abendmahl in der Regel nicht teil. Von alters her ist das Abendmahl ein Ausdruck der Gemeinschaft für getaufte Christinnen und Christen. Wo dennoch Nichtgetaufte teilnehmen (wollen), können sie zu einem Gespräch über den Glauben eingeladen werden, dem sich ggf. die Taufe (bzw. ein Wiedereintritt) anschließen kann. In dieser Hinsicht ist wichtig zu bedenken: Jesus von Nazareth hat keine Bedingungen geknüpft, bevor er mit Menschen zusammen gegessen und gefeiert hat. Er hat vielmehr Grenzen der Konvention mutig überschritten und auch mit Zöllnern und Prostituierten gegessen. Er zeigt uns damit, dass wir in dieser Hinsicht nicht zu engherzig sein sollten. In einer weltzugewandten Kirche ist eine »Ausladung« vom Abendmahl zu vermeiden. In einer Orientierungshilfe des Bischofsrats der Ev.-luth. Kirche Hannovers (Januar 2020) heißt es dazu: »In breiter ökumenischer Übereinstimmung ist die Taufe Voraussetzung dafür, am Abendmahl teilzunehmen. Weil Christus selbst einlädt, wird dennoch niemand abgewiesen, der den Wunsch zeigt, das Abendmahl mitzufeiern. Diese Teilnahme kann als Schritt in die christliche Gemeinschaft hinein verstanden werden. Menschen, die nicht getauft sind, laden wir zur Taufe ein. Getaufte, die aus der Kirche ausgetreten sind, ermutigen wir zum Wiedereintritt.«
Abendmahl mit Kindern
In vielen Kirchen und Gemeinden sind getaufte Kinder zum Abendmahl (wieder) eingeladen. Das ist gut und richtig! Denn schon in den ersten Jahrhunderten war dies in der christlichen Kirche eine 180
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Selbstverständlichkeit. Die Taufe genügte als Zulassung (baptisma est admissio). Erst im Mittelalter (IV. Laterankonzil 1215) wurden die anni discretionis eingeführt und Kinder mit dem Fest der Kommunion zugelassen. Nach der Reformation wurde dies im evangelischen Bereich in ähnlicher Weise übernommen und die Konfirmation eingeführt. Es galt fortan die Regel confirmatio est admissio. Das Erlernen des Katechismus als nachgeholter Taufunterricht sollte auch für ein rechtes Verständnis des Herrenmahls sorgen. Gegen dieses Prinzip ist einzuwenden, dass ein angemessenes Empfangen des Sakraments nicht vom Verstehen der Menschen abhängt, zumal Gottes Wirken nicht an bestimmte Bedingungen beim Menschen gebunden ist. Auch geistig behinderte Menschen sind zum Abendmahl zugelassen. Diese Ansicht ist inzwischen ökumenische Gemeinsamkeit. Im Übrigen ist auch das pädagogische Argument nicht gering zu schätzen, dass die Abendmahlsfeier der Einübung und regelmäßigen Praxis bedarf, um Sicherheit und Freude daran zu entwickeln, was nach einer einmaligen Teilnahme bei der Konfirmation nur schwer möglich ist. Kinder lernen vor allem durch die Feier des Gottesdienstes, wie »Abendmahl geht«, sie freuen sich darauf, weil sie dann zu den »Großen« gehören und aus einem schönen Kelch bzw. schönen Kelchen trinken dürfen, mehr noch: weil sie spüren, dass sie Gäste bei Jesus sind. So entwickeln sie rasch einen Sinn für die Würde der Feier und erleben die Schönheit der Gnade Gottes. Statt der Austeilung der Elemente können sehr kleine Kinder oder Menschen, die sich in den Kreis dazustellen, auch gesegnet werden.
6 Musik (nicht nur) im Gottesdienst Wenden wir uns nun einer Thematik zu, die nicht nur eine Sequenz des Gottesdienstes, sondern gleichsam einen fundamentalen Aspekt beinhaltet, die Musik im Gottesdienst. Sie soll in ihrer anthropologischen und in ihrer theologischen Bedeutung bedacht werden. »Musik scheint von allen Künsten die zu sein, die uns am unmittelbarsten berührt, und auch die, die am leichtesten Lust und Ekstase hervorruft« schreibt der Musikpsychologe Robert Jourdain (Jourdain, 396). Und Musik (nicht nur) im Gottesdienst
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schon Martin Luther sagte in einer berühmten Vorrede, die Musica sei eine »Herrin und Regiererin des menschlichen Herzen« (WA 50, 370). Damit ist das emotionale Potenzial benannt, das in der Musik steckt.
Dass Musik die Türen der Seele öffnet und ein großes Spektrum an Gefühlen auslösen kann, ist sowohl unter therapeutischen Experten als auch unter musikbegeisterten »Amateuren« kaum strittig. Neurologen sprechen von sog. thrills und meinen damit ein feines, nervöses Zittern, welches durch intensive Gefühle oder Erregung (Freude, Angst etc.) verursacht wird und ein leichtes Schauern oder Kribbeln durch den ganzen Körper schickt. Musik ist ein Medium, das nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz, mithin den ganzen Menschen anspricht. Dazu braucht es eine elementare Fähigkeit: Musik gehört gehört. Musik kommt im Ohr zur Welt. Damit hat sie eine Nähe zum Prophetischen, ja vielleicht sogar zum Evangelium: »Höret, so werdet ihr leben!« ruft Jesaja seinen Hörern zu (Jes 55). Damit wird eine spirituelle Dimension der Musik behauptet, die viele Religionen verbindet: Schamanen betören durch anrührende Gesänge und führen bis in die Trance, Derwische tanzen sich singend bis zur Ekstase. Doch schafft Musik wirklich eine Verbindung zu höheren Mächten? Oder muss ein bestimmter Kontext, z. B. ein sakraler Raum oder ein Ritual, ja womöglich ein konkretes Wortgeschehen dabei sein? Versuchen wir dazu eine theologische Antwort. Wir sprechen zunächst von Musik im allgemeinen, dann von Kirchenmusik (Musik im Gottesdienst) und dann von geistlicher Musik. 6.1 Gottesgabe und Menschenkunst These I: Musik ist eine Gabe des Schöpfers, die uns bewegt und eine Kunst des Menschen, die wir gestalten. Klänge und Gesänge stiften Beziehung zur Natur, zu anderen Menschen, zu uns selbst, zu Gott. Sie können Ausführende und Zuhörende glücklich machen und bilden. Sie können den Schöpfer ehren.
Klingende Welt und göttliche Gabe
Für Musiktheoretiker und Theologen war es bis ins 18. Jh. unstrittig, dass der Musik Spuren der Transzendenz innewohnen und sie deshalb ein klingender Spiegel der Schöpfungsordnung, ja des ewigen 182
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Gottes selbst sei. So galt etwa der Dreiertakt als Symbol für die Dreieinigkeit. Luther reflektiert in der schon erwähnten Vorrede zunächst den Gabecharakter der Musik: »ICH wolt von hertzen gerne diese schöne und köstliche Gabe Gottes, die freie Kunst der Musica, hoch loben und preisen. […] Denn »wenn man die Sache recht betrachtet, So befindet man, dass diese Kunst von Anfang der Welt allen […] Creaturen von Gott gegeben, und von Anfang mit allen geschaffen ist. Denn da ist nichts in der Welt, das nicht ein Schall und Laut von sich gebe.« (WA 50, 368f)
Die Schöpfung ist demnach wie ein aufgeschlagenes Buch, wie eine Partitur einer großen Symphonie Gottes. Jeder spielt und singt seine Stimme. Aber damit nicht genug. Die Performance ist schon da. Die Welt ist auch Klang. Aus dem Gesang der Vögel und der Wale, aus dem Rauschen der Meere und des Waldes usw. erahnen wir etwas von der großen Weisheit und dem Ideenreichtum des Schöpfers. Sie vermitteln eine klingende Botschaft. Die Musik der Welt transzendiert die Welt der Sprache, sie atmet das Geheimnis des Unsagbaren. Der Dirigent und Musikwissenschaftler Nikolaus Harnoncourt formulierte dazu treffend: »Musik ist ein Rätsel, ein unerklärbares Geschenk aus einer anderen Welt, eine Sprache des Unsagbaren, die aber manchen letzten Wahrheiten und geheimnisvollen Erlebnissen näher kommt als die Sprache der Worte.« (Harnoncourt, 7f)
Pointiert sprach der Philosoph Boethius von der musica mundana und nahm damit das auf, was in Psalm 19 mit hymnischen Worten gesagt wird: Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Fest verkündet seiner Hände Werk. Ohne Sprache und ohne Worte; unhörbar ist ihre Stimme. Ihr Schall geht aus in alle Lande und ihr Reden bis ans Ende der Welt.
Luther spricht daher der Musik gleichsam engelhafte Qualität zu: Frau Musica nimmt den Menschen an die Hand und führt ihn in die Natur, um die Schönheit der Schöpfung zu entdecken und den Menschen zum Lob Gottes zu animieren. (EG 319,1–4). Dennoch bleibt sie Gabe und Geschöpf, sie hat nicht an sich schon etwas Göttliches. Sie soll im Dienste dessen stehen, »der sie geben und geschaffen hat«, Musik (nicht nur) im Gottesdienst
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ist also im Grunde einem Engel vergleichbar, der Gottes Werke verkündet und zum Lob Gottes animiert. Musik als menschliche Kunst und Aufgabe
Doch ist die Musik nicht nur Gabe Gottes, sondern auch Aufgabe des Menschen. Der Mensch singt und musiziert aktiv für sich und für andere. Über viele Jahrhunderte ist sie im Abendland etabliert. Seit dem Mittelalter rechnete man sie zu den sieben freien Künsten innerhalb der philosophischen Fakultät. Doch auch schon auf den ersten Seiten der Bibel finden wir unter den Viehzüchtern und Handwerksberufen einen Musiker, den Flötenspieler Jubal (Gen 4,21), von dem es heißt: Von Jubal sind hergekommen alle Leier- und Flötenspieler. Er ist also gleichsam der »biblische Urvater« aller Kulturschaffenden. Vielleicht war er so etwas wie ein umherziehender Barde. Johann Walter, der Kantor der Reformation, widmete ihm ein Gedicht: »So hat Gott bald, bei Adams Zeit die Musica, zur Lust und Freud dem Jubal künstlich offenbart, der hat der Geiger, Pfeifer Art erfunden und sein Söhn’ gelehrt, dadurch die Kunst sich weit gemehrt.« (Walter, Bd. 6, 154)
a) Musik ist eine »künstliche« Erfindung Gottes, sie vermittelt uns eine Ahnung vom Schöpfer und seinen Ideen. b) Musik dient dem Menschen zur Lust und zur Freude, sie darf Spaß machen! c) Musik ist ars (»Art«), d. h. Kunst, und bedarf deshalb der sorgfältigen Ausbildung. d) Musik wird von Person zu Person, von Generation zu Generation weitergegeben. Vermittlung von Musik ist immer auch ein Beziehungsgeschehen. Wenn sich Kirchen gemeinsam mit Schulen, Musikschulen und Hochschulen für musikalische Ausbildung einsetzen, dann tun sie unserer Gesellschaft und kommenden Generationen einen unverzichtbaren Dienst. Es gilt musikalische Lernräume zu eröffnen, in den mit Freude, Vertrauen und Lust gelernt und ausprobiert werden 184
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
kann. Ohne kulturelle Bildung und die Eröffnung von kreativen Spielräumen werden unsere Kinder zu kühlen Technokraten. Das weibliche Pendant zu Jubal ist Miriam. Sie ist gleichsam die Mutter aller Sängerinnen, Tänzerinnen und Rhythmikerinnen. In 2. Mose 15,20f heißt es dazu: Danach nahm Miriam, die Prophetin, eine Pauke in die Hand und alle Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen. Und Miriam sang ihnen vor: Lasset uns singen dem Herrn, denn er hat eine herrliche Tat getan. Rosse und Reiter warf er ins Meer.
Der Rettungstat Gottes am Schilfmeer erfolgt die dankbare musikalische Antwort des Menschen, die nicht nur die Stimme, sondern den ganzen Körper ergreift und sogar noch ein (Rhythmus-)Instrument einbezieht: Bewegung, Rhythmus und Gesang kommen zusammen: Miriams Lied wurde prägend für die Grundstruktur des Lobpreises (vgl. Ps 98,1: Singt JHWH, denn er tut Wunder usw.). Miriam ist bis heute eine wichtige Identifikationsfigur für eine rhythmisch und tänzerisch bestimmte Musik, deren Inhalt Aufbruch und Befreiung sind (vgl. fT 106). Singen als elementarer Ausdruck menschlichen Daseins
Musik tut uns Menschen gut, ja sie macht unser Menschsein zu einem guten Stück aus. Das gilt besonders für das Singen: Wie Essen und Trinken, Lachen und Spielen, Dichten und Denken, Lieben und Feiern gehört es zum menschlichen Leben in seinem Allein-Sein und in seinem Mit-anderen-Sein. Singen fördert die Integration verschiedener Gehirnareale, namentlich von Sprach- und Hörzentrum). Denken und Fühlen, rhythmische Aktivität und klangliches Erleben werden verbunden. Für Glücksgefühle, die beim Singen entstehen, ist u. a. das Hormon Oxytocin verantwortlich, das auch beim Sex ausgestoßen wird. Bereits nach einer einzigen Gesangsstunde konnten schwedische Wissenschaftler einen signifikanten Zuwachs dieses Hormons im Vergleich zu anderen Testpersonen nachweisen. Singen ist Ausdruck von Person, stiftet Beziehung und hat wohltuenden, lösenden Effekt. Dies ist besonders pädagogisch relevant: Kinder, die in der frühen Adoleszenz musikalisch gefördert werden, entwickeln sich in der Regel sprachlich Musik (nicht nur) im Gottesdienst
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schneller. Langzeitstudien mit Kindern in der Adoleszenz belegen, dass an musikbetonten Schulen, die Ausgrenzung einzelner Schüler und Schülerinnen zu 50 % weniger stattfindet. Ein erweiterter Musikunterricht fördert die Teamfähigkeit und die emotionale Stabilität. Besonders sozial benachteiligte Kinder profitieren eindeutig von einem erweiterten Musikunterricht. So lässt sich sagen, dass musikalisch gebildete Menschen ein stärkeres Sensorium für affektive Situationen haben. Soziale Intelligenz und Kompetenz wird durch gemeinsames Musizieren und Singen spürbar gefördert.
Die Synthese von Wort und Klang im menschlichen Gesang Worin besteht das Spezifische menschlichen Singens? Stimmklang, Tonhöhe bzw. Melodie, Harmonie und Rhythmus der Musik gehen mit der Sprache eine intime Verbindung ein. Martin Luther beschreibt dies so: »In den unvernünftigen Tieren aber, Saitenspielen und anderen Instrumenten, da höret man allein den Gesang, Laut und Klang, ohne Rede und Wort. Dem Menschen aber ist allein vor den andern Kreaturen die Stimme mit der Rede gegeben, dass er sollt können und wissen, Gott mit Gesängen und Worten (verbo et musica) zu loben, nämlich mit dem hellen, klingenden Predigen und Rühmen von Gottes Güte und Gnade, darinnen schöne Worte und lieblicher Klang zugleich würde gehöret.« (Vorrede zu den Symphoniae iucundae von G. Rhau, WA 50, 371)
Der ästhetische Idealfall von Musik ist demnach die Synthese von Sprache und Klang. Beim Singen wird nicht nur Klang, sondern auch eine Botschaft vermittelt, und die reine Rede durch den Klang sinnlich transzendiert. Singen ist also ein ästhetisches Kommunikationsgeschehen. Die Verbindung von Gesang und Wort ist eine Grundvoraussetzung für die hermeneutische Qualität der Vokalmusik. Singen ist daher (fast) immer auch ein Bildungsgeschehen. Das gilt auch für die religiöse Dimension: Singen kann Gott schöner verherrlichen als bloße Worte und deutlicher von ihm künden als reiner Klang. Als Vokalmusik zur Verherrlichung Gottes kommt die Musik an ihr höchstes Ziel. Durch die Musik beschenkt und dient uns der Schöpfer facettenreich und farbig. Dies gilt für den denkbar weitesten Horizont, d. h. auch im außerchristlichen Kontext, selbst wenn dort die Musik nicht so dezidiert als Gottesgabe konnotiert ist (wie etwa im Islam). Aller186
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
dings muss hier auch der demagogische Missbrauch der Musik benannt und kritisiert werden. Wo Menschen durch Musik diskriminiert oder manipuliert werden, sollte dies kritisch aufgedeckt werden. Grenzen der Kunst sind ferner dort erreicht, wo sie zur Selbstdarstellung Einzelner oder auf Kosten anderer geht Die Frage muss also stets lauten: Dient die Musik Gott und baut sie Menschen auf? Dennoch: Obwohl die Musik auch missbraucht werden und verführen kann, ist der Mensch in der Lage, diese göttliche Gabe zur Freude anderer zu gebrauchen und darin Gott die Ehre zu geben. Musik ist eine der schönsten Gottesgaben und eine der hochkarätigsten Kunstformen des Menschen. Insofern bildet sie das Empfangen (Hören) und Handeln im Gottesdienst der Kirche, die Berührung mit dem klingenden Evangelium und die Antwort des Glaubens, schon ab. 6.2 Musik im Gottesdienst – dialogische Kommunikation des Wortes Christi These II: Das Evangelium ist kein papiernes Lesewort, die frohe Botschaft von Jesus Christus ist ein sinnliches Klangereignis. Deshalb nimmt die christliche Kirche die Musik als Gabe Gottes an und lässt sich durch sie bewegen. Als klingendes Wort Christi lädt die Kirchenmusik Menschen zum Glauben ein, tröstet und vergewissert. Klagend und lobend, flehend und dankend gibt sie dem dreieinigen Gott die Ehre. Das Lied der Hoffnung und der Liebe ist ein Markenzeichen von Kirche im 21. Jahrhundert.
Verkündigung
Das Evangelium ist ein klingendes Wort und hat daher eine hohe Affinität zur Musik. In seiner Vorrede zum Septembertestament (1522) schreibt Luther (WA NT, 6.2): »Evangelion ist ein kriechisch Wort, und heyst auf deutsch gute botschaft, gute mehr, gute neuzeytung, gutt geschrey, davon man singet, saget und fröhlich ist.« Der frohen Botschaft (Gehalt) entspricht eine schöne und ansprechende Form der Mitteilung (Gestalt). Eines der am häufigsten angeführten Bibelworte zur Begründung geistlicher Musik außerhalb der Psalmen ist Kol 3,16. Man kann es geradezu als »Einsetzungswort« der Kirchenmusik begreifen. Übersetzungsvariante 1 lautet: Musik (nicht nur) im Gottesdienst
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Lasset das Wort Christi reichlich unter euch wohnen, lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit mit Psalmen, Hymnen und vom Geist inspirierten Liedern und singt Gott dankbar in eurem Herzen.
Die Kirchenmusik hat, so verstanden (vgl. auch die Parallele in Eph 5,19, die auch der Instrumentalmusik ihr Recht gibt), zentralen Anteil an der Verkündigung der Kirche. Treffend bemerkt Luther: »So predigt Gott das Evangelium auch durch die Musik.« (WA TR I, 1258) Geistliche Musik ist demnach nicht nur Antwort auf Wortverkündigung und Sakrament sondern selbst prominentes Werk und Werkzeug Christi zur Anrede der Gemeinde Dies geschieht im besten Sinne des Wortes »untereinander«, d. h. auf der Augenhöhe des Priestertums aller Getauften. Prominetestes Medium dafür ist das Lied der Gemeinde, wie Luther es etwa mit seinem reformatorischen Hauptlied Nun freut euch, liebe Christen g’mein geschaffen hat (EG 341). Ein breiter Traditionsstrom evangelischer Kirchenmusik kennt diese kerygmatische Dimension. Unter den Kirchenliedern seien exemplarisch Vom Himmel hoch (EG 24) und Erstanden ist der Heilge Christ (EG 105) genannt. Eine ganze Rubrik des Evangelischen Gesangbuchs enthält biblische Erzähllieder, viele davon stammen aus dem 20. Jh. Sie sind oft unmittelbar als Zusage formuliert. J. S. Bach selbst hat sich zur Bedeutung der gottesdienstlichen Musik selten, aber dafür prononciert geäußert. So schrieb er an den Rand seiner Bibel zu 2. Chr 5,13, wo berichtet wird, wie der Tempel Salomos mit aufwändiger vokaler und instrumentaler Musik von verschiedenen »Ämtern« (Priester, Leviten) eingeweiht: »Bey einer andächtigen Musique ist Gott allezeit mit seiner Gnaden = Gegenwart!«
Klage und Lob
Doch eine weitere Übersetzung des Bibelwortes ist möglich: Das Wort Christi wohne in seinem ganzen Reichtum unter euch, lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit, mit Psalmen, Hymnen und vom Geist gewirkten Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.
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Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
So übersetzt und (durch ein anderes Komma) abgetrennt, heißt das: Das Wort Christi soll in zweierlei Gestalt die Gemeinde bestimmen: in Formen der (Wort)-Verkündigung als Zuspruch und Anspruch, Trost und Ermahnung einerseits und im dankbaren Lob Gottes andererseits. Dazu passt das oben entfaltete dialogische Gottesdienstverständnis, das Luther am prägnantesten bei der Einweihung der Torgauer Schlosskirche (1544) formuliert hat (vgl. I.1-3). Gott redet zu uns, wir antworten, z. B. durch unseren Gesang. Diese Dimension der Musik ist jüdisch-christliches Gemeingut und wurde nie ernsthaft bestritten. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass die biblischen Psalmen mit dem Begriff Tehillim (= Preisungen) überschrieben sind. Damit ist Kol 3,16 auf dem Hintergrund des Augustin zugeschriebenen Satzes »Doppelt betet, wer singt« verstanden. Nachweisbar beim Kirchenvater ist nur ein ähnlicher Spruch in der Auslegung zu Psalm 72,1: »Wer Lob singt, singt nicht nur, sondern liebt auch den, dem er singt.« (Enarratio in Psalmum 72; CCL 39, 986) Freilich sollte man dabei keinesfalls nur an das »Singen von Lobliedern« denken. Vielmehr gehören, gerade wenn man in die Psalmen schaut, auch der klagende Ruf aus der Tiefe (vgl. Ps 13; 22; 130 u. a.) und die eindringliche Bitte ebenso dazu wie Lob und Dank. Zur gottesdienstlichen Musik gehören Trauer und Freude, das kraftvoll pochende Kyrie ebenso wie das jubelnde Gloria. Kunstvolle Kompositionen zum Proprium und Ordinarium des Gottesdienstes bringen dies ebenso zum Ausdruck wie einfache Gemeindegesänge. Kirchenmusik hat elementaren Anteil an Verkündigung, Klage, und Lob des Gottesdienstes der Kirche. Wort und Musik, Singen und Sagen, gehören im Blick auf die Kommunikation des Evangeliums untrennbar zusammen.
Hoffnung für die Welt Was bringt uns dazu, dieses klingende Wort Christi in seinem ganzen Reichtum musikalisch zu verbreiten? Luther schrieb in seiner Vorrede zum Babstschen Gesangbuch (1545):
Musik (nicht nur) im Gottesdienst
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»Singet dem Herrn ein neues Lied. Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubt, der kann’s nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen.« (WA 35,477)
In Christus feiert die Kirche das Ende der Herrschaft des Bösen. Gott hat uns den Himmel auf- und die Hölle zugeschlossen (vgl. Offb 1,8)! Im Gesang der »Erlösten« wird etwas von der Gewissheit und Freude deutlich, die Menschen erfasst, die dem Machtbereich des Todes entkommen sind und deren Leben von Liebe und Hoffnung geprägt ist. Wie kein anderes Medium ist die performative Kunst des gesungenen Wortes dazu geeignet, das Evangelium von Jesus Christus als frohe Kunde lebendig zu machen und damit menschliche Herzen zur Freude zu bewegen. Wo Christen das österliche Lied der Hoffnung lustvoll anstimmen, da ist Kirche nicht nur erkennbar, sondern auch attraktiv: als singende Kirche leben wir kommunikative (missionarische) Zuwendung zur Welt und werden zu Boten der Hoffnung und der Liebe Gottes. Die Fans des FC Liverpool sollen den Slogan geprägt haben: »They only win, when we are singing.« Davon können wir ableiten: »We only win, when we are singing.« Nur als österlich singende Kirche sind wir gewinnend und attraktiv. Wir dienen den Menschen und geben Gott damit die Ehre. 6.3 Geistliche Musik als Lebensenergie für die Welt Geistliche Musik ist nicht nur eine der tragenden Säulen des Gottesdienstes, sondern als »Instrument« des Heiligen Geistes auch eine zentrale Lebensäußerung von Kirche über die Liturgie hinaus. These III: Gottes Geist ist ein schöpferischer Geist, ein kreativer Poet. Unter seiner Wirkmacht wird die natürliche Gabe der Musik zu einem geistlichen Medium, das Gott die Ehre gibt und Glauben schafft, Menschen zum Leben hilft, und einen wichtigen Beitrag für unsere öffentliche Kultur bietet. Die Musik ist das sinnliche Band, das Gemeinschaft und Diakonie, Prophetie und Zeugnis der Kirche sinnlich und vielstimmig verbindet, und darin Salz für die Erde ist.
Peter Bubmann formuliert dazu treffend: 190
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
»Der Heilige Geist ist die Lebenskraft Gottes. Er führt zum Glauben, lässt die Wahrheit Gottes in Jesus Christus erkennen. […] Er ist Vorspiel der Ewigkeit bereits im Heute und lässt die endzeitliche Erlösung anklingen. Musik im Heiligen Geist hat Anteil an allen diesen Geisteswirkungen. Als spirituelle Musik erleuchtet sie Menschen zum Glauben, vermittelt starke Gemeinschaftserfahrungen, stärkt ihren Lebensmut, tritt für das Recht aller Menschen ein und läßt Auditionen des ewigen Lebens erklingen.« (Bubmann, 161f)
Versammeln und verbinden
Beim gemeinsamen Musizieren in Chören finden Menschen unterschiedlicher Herkunft, Alters und Milieus zusammen. Auch solche, denen Kirche und christlicher Glaube fremd geworden sind, finden in geistlicher Musik religiöse Beheimatung und Identität. Gemeinschaft wird intensiv erlebt. Kirche ist in ihrem Wesen communio, keine Gesellschaft von Einzelkämpfern. Das kann im Chor oder Posaunenchor beispielhaft erlebt werden. Deshalb singen und musizieren ca. eine Million Menschen in den großen Kirchen Deutschlands in Chören und Ensembles. Die Pop- und Gospelchöre haben aktuell ca. 100 000 Sängerinnen und Sänger, also ca. 10 % aller kirchlichen Chöre. Allein in Niedersachsen gibt es ca. 20 000 Posaunenbläserinnen und -bläser. Helfen und heilen Musik hat nicht nur integrative, sondern auch therapeutische Kraft, sei es dass sie z. B. durch Trommeln aktive Partizipation ermöglicht und Aggressionen oder Stress abbauen hilft, sei es, dass sie z. B. durch das Hören einer Pop-Ballade oder eines langsamen klassischen Satzes tröstet und zur Ruhe kommen lässt. Musiktherapeuten unterscheiden zwischen sog. trophotroper (z. B. die »Air« von Bach) und ergotroper Musik (vgl. ein schnelles Latinoder Rockarrangement). Dies ließe sich auch für Gemeinde- bzw. Gesangbuchlieder übertragen (vgl. im Kontrast EG 80 und EG 398). Aber auch Instrumentalmusik hat hier eine zentrale Bedeutung. Biblisches Paradigma dafür ist die Geschichte von David und Saul, der von einem »bösen« Geist heimgesucht und geheilt wurde (1. Sam 16). Die heilsame Kraft geistlicher Musik erweist sich am Krankenoder Sterbebett als besonders tragfähig. Hier ist –mit der gebotenen Sensibilität für die Situation – Raum für Trauer und Klage, aber auch für musikalischen Trost und Zuspruch. Wer einmal am Sterbebett für Musik (nicht nur) im Gottesdienst
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einen Menschen einen Choral gesungen hat, und erleben durfte, wie er Mut fasste und ein Händedruck zu spüren war, weiß, was gemeint ist. Diese seelsorgliche Dimension erweist bei Trauersituationen als tragfähig. Ein Lied von Eugen Eckert, entstanden für einen Trauergottesdienst eines jungen Gemeindeglieds, sei hier exemplarisch genannt. Die Dichtung, die auf die Melodie von Befiehl du deine Wege (EG 361) gesungen werden kann, geht den Weg von der Klage zu neuem Vertrauen (LW 20): 1. Wie sollen wir es fassen, was nicht zu fassen ist? Es fällt schwer, loszulassen – Und doch bleibt keine Frist. Wir hätten so viel Fragen, wir brauchten doch noch Zeit. Wohin mit unserm Klagen und unsrer Traurigkeit? […]
4. Lass uns Gott nicht versinken, der Schmerz ist übergroß. Dort, wo wir stolpern, hinken, halt uns und lass nicht los. Lass uns darauf vertrauen, dass du das Leben birgst. Hilf uns, auf dich zu bauen, auf Segen, den du wirkst.
Begleiten und feiern
Auch bei frohen Festen des Lebens spielt geistliche Musik eine zentrale Rolle. Mehr denn je brauchen Menschen geistreiche Klänge, um gemeinsam zu feiern und ihre Freude auszudrücken. Kirchenmusik bietet hier einen großen Schatz. Ich denke an festliche oder virtuose Orgelmusik, feierliche Bläserintraden oder Poparrangements für Band. Lebensbegleitung im Raum der Kirche ist ohne Musik nicht denkbar. Wir sind als Kirche und als Kirchenmusiker*innen rituell kompetent, festliche Übergänge zu gestalten. Tun wir es mit Freude und nicht griesgrämig oder nur pflichtbewusst. Eine Trauung ohne fröhliche Musik, das ist wie ein Kindergeburtstag ohne Geschenke. Brücken bauen und bilden
Geistliche Musik hält Ausdrucksformen des christlichen Glaubens zum einen und große Kunstformen zum anderen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit präsent. Sie ist ein Sympathieträger, der durch die Mitwirkenden und die aufgeführte Musik vielfach Brücken in andere Bereiche des kulturellen und politischen Lebens baut. So findet ein lebendiger Austausch mit der öffentlichen Kultur einer Stadt oder Region statt. Kirche »zeigt musikalisch Flagge«. 192
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Geistliche Musik trägt fundamental zur Kulturwirksamkeit und zur kulturellen Prägekraft der Kirche bei. Im Schlussbericht der Enquête-Kommission Kultur des Bundestags 2007 heißt es: »Die christlichen Kirchen Deutschlands tragen mit ihren Chören und Musikensembles […] wesentlich zum kulturellen Leben in unserem Land bei. Sie gehören zu den zentralen kulturpolitischen Akteuren Deutschlands.« (Vgl. www. MIZ.org; Stichwort: Schlussbericht)
Dabei werden auch neue Wege gegangen und neue Orte aufgesucht. Ich denke an den Flashmob im Kaufhaus oder an die Orgel auf dem Hauptbahnhof. Aber auch an eine Mozartmesse in einer Fabrikhalle, wo sonst Schuhleisten hergestellt werden. Das Thema »Musikvermittlung« bekommt so eine Dimension, die über das bloße »Erklären« des Werkes hinausgeht. Kirchenmusikvermittlung öffnet neue Türen zu den Menschen. Mit »vision kirchenmusik« ist in der Landeskirche Hannovers die erste Einrichtung für kirchliche Musikvermittlung in Deutschland entstanden (vgl. www.visionkirchenmusik.de). Frieden stiften, aufrütteln und gedenken
Durch religiöse Musik können auch Brücken des Friedens gebaut werden. Peter Bubmann schreibt dazu: »Wenn Menschen Musik schaffen oder hören, kann dies als Ausdruck von Frieden erfahren werden: als Frieden mit sich selbst, in der Gesellschaft, in der Natur oder mit Gott. Musikalische Erfahrungen werden so zum Gleichnis des inneren, gesellschaftlichen oder himmlischen Friedens.« (Bubmann, Frieden, 90)
Dies kann durch unterschiedliche Prozesse erreicht werden: die »musikalische Ordnung« (z. B. Bachscher Fugen), »beglückende Idylle (in romantischer Klanglichkeit)«, »aggressiv-abgründige und angsteinflößende Klanglichkeit (etwa in Mahlers Symphonien)«, »alltagsüberschreitende rhythmische Ekstase« (Techno-Paraden) oder »die Negativität der Welt spiegelnde und anklagende Musik (Teil der Avantgarde)« (Bubmann, Frieden, 90). Ein Beispiel dazu stammt von dem großen Meister der sog. Zweiten Wiener Schule, Arnold Schönberg aus dem Jahr 1947. Auf der Titelseite des Autografs seines op. 46 Ein Überlebender aus Warschau notierte er: »This text is based partly upon reports which I have Musik (nicht nur) im Gottesdienst
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received directly or indirectly. A. Sch.« Hier wird in aufrüttelnder Anrede gegen das Verbrechen des Faschismus angesungen … Schönberg, der immer noch deutsch dachte und schrieb, lässt seinen Erzähler in englischer Sprache vortragen, so als sei die deutsche Sprache durch das Verbrechen zutiefst verunreinigt worden. Nur dort, wo der brutale Feldwebel auftritt, bleibt das Deutsche – gleichsam als Monument der Gewalt und der Schande – stehen (vgl. »stillgestanden, abzählen« usw.). Am Ende steht dann das vom Chor trotzig gesungene jüdische Glaubensbekenntnis, das Sch’ma Israel, das die Menschen auf dem Weg in die Gaskammer singen. Grenzen überschreiten und begeistern
Geistliche Musik darf auch ekstatisch sein. Schon aus alttestamentlichen Schilderungen prophetischer Inspiration wird deutlich: Da lassen sich Menschen fallen in den Klangraum der Musik. Der depressive König Sauls wird nicht nur von Davids Harfe beruhigt, sondern lässt sich auch von einer Schar tanzender und musizierender junger Propheten mitreißen (vgl. 1 Samuel 10,6–11). Robert Jourdain schreibt: »Wenn Musik uns in Ekstase versetzt, dann bewirkt sie mehr als nur Bewegung in uns. Sie katapultiert uns für ein paar Sekunden auf eine Erfahrungsebene, die wir im täglichen Leben wohl kaum erklimmen … Aus diesem Grund kann Musik eine transzendente Erfahrung sein, für wenige Augenblicke macht sie uns größer, als wir tatsächlich sind, und bringt Ordnung in eine Welt, die in der Realität kaum vorhanden ist.« (Jourdain, 399)
Ekstase ist eine angemessene theologische Kategorie für das, was der Geist Gottes in uns und durch uns tun kann. Das hat auch leibliche Konsequenzen (z. B. in rhythmisch betonter Musik). Die Kategorie der geistlichen Ekstase beschreibt ein »Aus-Sich-Heraustreten« in der musikalischen Begegnung mit dem Wort und Geist Gottes. Deshalb brauchen wir Musik, die Ekstase ermöglich. Das kann mit Bachs h-Moll-Messe passieren, aber natürlich auch beim Gospeloder Rockkonzert. Polyphonie als Programm
Geistliche Musik umfasst ein großes Spektrum an Stilen und Formen. Sie bildet damit ab, dass Gottes Geist ein Geist der Vielfalt und der 194
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Freiheit ist. Geistliche Musik beinhaltet heute verschiedene Musikstile von der archaischen Gregorianik bis zum komplexen Jazz, von der barocken Vokalpolyphonie bis zum ekstatischen Gospel, vom meditativen Choral bis zum Rap. Poetischer Cantus firmus kann dabei neben den biblischen Texten (vor allem Psalmen und Magnificat) auch die klassische Messe sein. Wenden wir uns nach diesen grundsätzlichen Überlegungen dem konkreten Gottesdienst und seinen musikalischen Formen zu. Wir haben dabei nicht nur den sonntäglichen »Normalfall«, sondern auch »alternative Gottesdienste« vor Augen und unterscheiden grundsätzlich das Gemeindelied von vokaler und instrumentaler (Vortrags)-Musik. 6.4 Musikalische Formen und ihre Funktion im Gottesdienst Der Gesang der Gemeinde
Der gewichtigste Teil des Gottesdienstes, der durch Musik geprägt wird, ist der Gemeindegesang. Das Singen der Gemeinde ist ein grundsätzlicher Glaubensausdruck des Priestertums aller Getauften. Mit Kirchenliedern wie Nun freut euch, lieben Christen g’mein (EG 341) oder Nun danket alle Gott (EG 321) vergewissert sie Gemeinde sich der guten Nachricht. Oftmals gehen Wort und Melodie bzw. Reim und Rhythmus eine ideale Synthese ein (vgl. EG 324 und 449). Seit Anfang der 1960er-Jahre wird das klassische Repertoire durch Neue Geistliche Lieder ergänzt, die z. B. über den Deutschen Evangelischen Kirchentag verbreitet worden sind und sich auch an aktuelle Popstilistik annähern. Was die gottesdienstliche Ausführung neuer Lieder angeht, ist natürlich eine stilistisch angemessene Begleitung, am besten durch eine dafür geschulte Band o. ä. erwünscht. Ein Klavier oder Keyboard (vielleicht auch mit Gitarre oder Melodieinstrument) entspricht jedenfalls eher dem aktuellen Sound als die Orgel. Deshalb gehört ein Klavier oder Keyboard als zweites Instrument neben der Orgel in jeden Gottesdienstraum. Beinahe noch wichtiger ist es, dass eine Vorsängerin oder ein kleiner Chor die Gemeinde zum Singen des neuen Liedes anleiten.
Mit dem Eingangslied hat die Gemeinde vielfach das »erste Wort« noch vor einer Begrüßung. Hier kann sie ankommen mit Freude und Leid, Ängsten und Hoffnungen, vielleicht auch mit ganz konkreten Musik (nicht nur) im Gottesdienst
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Erwartungen angesichts des Sonntags, an dem sie sich im Kirchenjahr befindet. Oft beginnt der Gottesdienst mit einer Anrufung Christi oder des Heiligen Geistes vielleicht auch mit einem Morgenlied, das an den Schöpfungsmorgen (vgl. EG 455), den Ostermorgen (vgl. EG 62) oder an den ewigen Morgen Gottes erinnert (vgl. EG 450). Kaum eine Liedgattung ist in allen Konfessionen so reich gepflegt worden wie das Psalmensingen. Man unterscheidet den nah am biblischen Text entlanggehenden Liedpsalm (vgl. EG 270) vom etwas freieren Psalmlied (vgl. EG 289). Das Spektrum reicht hier von der Klage bis zum überschwänglichen Lob, von reformatorischen Dichtungen bis hin zu aktuellen popularmusikalischen Formen (vgl. fT 38; 98; 99; 163). Im zweiten Teil des Gottesdienstes (Teil B) finden sich häufig Lieder, die in besonderer Weise das Gepräge des jeweiligen Sonntags oder Festtags im Kirchenjahr aufnehmen. Weihnachten oder Ostern sind ohne die einschlägigen Festlieder schlechterdings nicht denkbar. Aber auch thematische Gottesdienste werden an dieser Stelle, d. h. vor oder nach der Predigt, das Besondere des jeweiligen Tages musikalisch zur Geltung bringen. Zunehmende Bedeutung gewinnen hier Lieder, die biblische Geschichten erzählend zu Gehör bringen (oder zentrale Inhalte des Evangeliums entfalten oder aber eine aneignende Antwort auf das Evangelium formulieren. Sie setzen damit eigene thematische Akzente und laden dazu ein, das in Lesung und Predigt Gehörte im Vertrauen und Lob aufzunehmen. Die Feier der Sakramente gehört neben der Verkündigung durch die Predigt zu den geprägten Höhepunkten eines evangelischen Gottesdienstes. Lieder zum Abendmahl und zur Taufe geben dieser Feier einen festlichen Glanz. Sie können die Gabe des Sakraments poetisch-musikalisch darbieten (vgl. EG 201; 202; 214, vgl. fT 10; 11; 154), zum Glauben einladen, das Geschenk Gottes an uns bekennen (vgl. EG 200, vgl. fT 129–132) oder aber Gott dafür loben und preisen (vgl. EG 229; fT 151, 155, 157 u. a.). Beispielhaft seien hier vier neue Abendmahlslieder genannt, die jeweils einen anderen theologischen Akzent setzen: Kommt sagt es allen weiter (EG 225) nach einem weihnachtlichen Spiritual betont den Aspekt der Einladung zum Mahl, während lateinamerikanische Lieder wie Kommt mit Gaben und Lobgesang (EG 229) oder Santo, santo (fT 157) das eucharis196
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tisch-lobpreisende Moment in den Vordergrund stellen. Das Spiritual Let us break bread together setzt den Akzent auf Gemeinschaft, während das Neue Geistliche Lied Wenn das Brot, das wir teilen (fT 170) schon jetzt den Anbruch des Reiches Gottes unter uns feiert.
Im Schlussteil des Gottesdienstes lassen sich von der Aussagestruktur mindestens drei liturgische »Typen« unterscheiden. Es gibt explizite Segenslieder, in denen sich die Gemeindeglieder den Segen Gottes gegenseitig zusingen, am umfangreichsten ist die Reihe der Segensbitten (EG 170; 171 u. a.), die das klassische Verleih uns Frieden (EG 421) allmählich ablösen dürften. Inzwischen existiert dieser Liedtext auch in einer sehr beliebten popularmusikalischen Vertonung von Matthias Nagel (fT 190) Zu den populärsten neueren Liedern überhaupt gehört K. P. Hertzschs Sendungslied Vertraut den neuen Wegen, das auf eine alte Choralmelodie gesungen wird (EG 395). Die Gemeinde wird in diesen Liedern ermutigt, das im Gottesdienst Erfahrene im Alltag weiterzugeben (vgl. ähnlich auch Go gently, go lightly, fT 194). Eine besondere Bedeutung haben die Vertonungen des Ordinariums der Messe (vgl. III.1). Sie verleihen den wiederkehrenden Formen des Gottesdienstes, die fast alle auf biblischen Texten basieren, festlichen Glanz. Zu beachten ist dabei, dass hier – trotz gegenteiliger Praxis – durchaus verschiedene Kompositionen eingesetzt werden können (vgl. EG 178– 190). Ein mehrstrophiges Kyrielied wie Meine engen Grenzen oder Kyrie erbarm dich, Herr kann z. B. den Buß- oder Klagecharakter betonen, den Sinn des Kyrie entfalten oder sich mit dem Psalmgebet verbinden. Darüber hinaus können liturgische Gesänge auch den Psalmgesang abschließen (Gloria patri), auf die Lesung antworten oder auch hin und wieder das Vaterunser (vgl. EG 188) ersetzen.
Solo- und Chorgesang
Der zweite große Bereich, in dem vokalgebundene Musik zum Einsatz kommen kann, ist der Chor- und Sologesang. Grundsätzlich kann der Chor, z. B. von der Empore aus der Gemeinde Gott lobend den Rücken stärken oder aber ihr vom Chorraum aus verkündigend Musik (nicht nur) im Gottesdienst
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gegenüber treten. Je nachdem, wie die räumlichen Gegebenheiten sind und welchen Inhalt der jeweilige Gesang hat, sollte man durchaus auch darin abwechseln. Außerdem sind folgende Gestaltungsoptionen zu bedenken: Zunächst einmal ist der Chorgesang als Ersatz für ein instrumentales Vor- oder Nachspiel denkbar. Die Gemeinde wird ähnlich wie bei instrumentaler Musik gleichsam musikalisch begrüßt oder in den Alltag hinaus geleitet. Diese »klassische« Funktion hat insbesondere der Introitus, bei dem der Chor (seit alters) den Sonntagspsalm in einer einstimmigen (gregorianischen) oder mehrstimmigen Vertonung zur Aufführung bringt und die Gemeinde damit auf das Besondere des Sonntags einstimmt. Ebenso kann der Chor- oder Sologesang zusätzlich an Stellen eingefügt werden, etwa nach dem Eingangsgebet bzw. der Epistel, nach der Lesung des Evangeliums oder nach der Predigt. Vielfach antwortet der Chor damit anstelle der Gemeinde auf die Anrede durch das göttliche Wort. Des Weiteren kann der Chorgesang Gemeindelieder ganz oder teilweise ersetzen. Man tut gut daran, besonders in langen Festgottesdiensten oder Gottesdiensten mit besonderen Anlässen von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen! Damit tritt die Gemeinde immer wieder hörend zurück, das dialogische Wechselspiel des Gottesdienstes bekommt so einen anderen Akzent.
Insgesamt kann der Chor im Grunde alle liturgischen Rollen einnehmen, er kann verkündigen und biblische Geschichte erzählen. Er kann mit oder anstelle der Gemeinde Gott bitten und danken, klagen und loben, aber auch anstelle und mit der Gemeinde den Glauben bekennen oder am Ende den Segen musikalisch zusprechen. Instrumentalmusik
Welche Bedeutung hat über das Gesagte hinaus nun instrumentale Musik (z. B. Orgel, Band, Posaunenchor, andere Ensembles)? Ist sie nur in der Verbindung mit dem Wort sinnvoll oder hat sie auch eine gewisse Autonomie? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Eine instrumentale Popballade kann ebenso wie eine Orgelimprovisation Empfindungen der Gemeinde aufnehmen oder auslösen, Klavier- oder Gitarrenklänge können Verkündigung unterlegen oder interpretieren. 198
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Doch können solche Elemente auch selbst Verkündigung des Evangeliums im unmittelbaren Sinne sein? Mir scheint: Instrumentale Musik kann trösten und zur Ruhe bringen, sie kann aufrütteln oder Erschütterung widerspiegeln, allerdings nur schwer konkrete Orientierung geben. Das Evangelische Zeremoniale beschreibt die Bedeutung der In strumentalmusik folgendermaßen: »Nonverbale Musik kann gesprochene Aktionen im Gottesdienst ersetzen oder vertreten, indem sie entweder an verbale Darstellungen erinnert oder die Geste der vertretenen verbalen Äußerungen übernimmt. Vokale oder instrumentale Musik kann gottesdienstliche Handlungen vorbereiten, begleiten und nachklingen lassen.« (Zeremoniale, 64)
Es sind grundsätzlich also zwei Funktionen zu unterscheiden: Instrumentalmusik kann »substitutiv«, d. h. andere liturgische Stücke ersetzend, oder ergänzend eingesetzt werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass Musik simultan zu gesprochenen Aktionen gespielt wird und dadurch in einen unmittelbaren Dialog mit dem Wort kommt. Wir können uns Instrumentalmusik mit folgenden Orten im Gottesdienst vorstellen: Ihren bekanntesten Ort hat die Instrumentalmusik am Beginn des Gottesdienstes. Ursprünglich wurde die (tragbare) Orgel als Prozessionsinstrument bei königlichen Einzügen eingesetzt und gelangte in dieser Funktion auch in den evangelischen Gottesdienst, ehe sie im 17. Jh. zunehmend zur Begleitung der Gemeinde eingesetzt wurde. Musik kann zum Einzug einer Gruppe erklingen oder von allen im Sitzen gehört werden. Ihre zweifellos prominenteste Bedeutung hat Instrumentalmusik in der Begleitung und Vorbereitung des Gemeindegesangs. Vorspiele oder kleine Intonationen exponieren die Melodie und den Charakter des Liedes und laden die Gemeinde zum Singen ein. Bei weniger bekannten neuen oder alten Liedern empfiehlt sich neben der instrumentalen Vorbereitung und Begleitung auch eine kantorale (bzw. chorische) Anleitung und Unterstützung, die der Gemeinde das Singen erleichtert, ohne daraus eine »Chorprobe« zu machen. Musik (nicht nur) im Gottesdienst
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Ein immer wichtigerer Ort für instrumentales Musizieren ist die Situation nach der Predigt. Ein meditatives bzw. konfrontierendes Zwischenspiel kann das Gesagte nachklingen lassen oder selbst noch einmal erzählen, deuten und auslegen. In ähnlicher Weise ist Instru mentalmusik geeignet, innerhalb des Gottesdienstes auf Gebetssituationen einzustimmen oder solche zu vertiefen. Klassischer Ort für die Ausführung instrumentaler Musik ist ferner die Austeilung des Abendmahls. Was über Jahrhunderte hinweg die Orgel bzw. auch chorische Musik ausgefüllt hat, kann auch eine Band oder ein Soloinstrument leisten. Hier ist allerdings große Sorgfalt geboten. Man sollte eine Musik auswählen, die zum inneren Mitsingen, Mitbeten oder Meditieren anregt und auf den dankbaren Empfang der Gaben einstimmt. Ein Sonderfall ist das simultane oder dialogische Spielen instrumentaler Musik parallel zu den Lesungen. Dieses Element muss technisch, d. h. in der Klangbalance der Kräfte, unbedingt geprobt sein. Solche Inszenierungen helfen aber dazu, biblische Texte in einer »un-erhörten« Weise neu lebendig zu machen. 4.5 »Qualitätscheck« zum liturgischen Gebrauch von Musik Im Blick auf den Einsatz von Musik sind für alle Gottesdienste folgende Fragen relevant: a) Dient ein Musikstück der dialogischen Kommunikation des Evangeliums? Hilft es dazu, dass Anrufung, Verkündigung und Lobpreis in einem lebendigen Zusammenspiel geschehen? b) Hilft die Musik dazu, dass die Liturgie im Fluss bleibt? Dient sie einem liturgischen Spannungsbogen, der Menschen abholt und mit hinein nimmt in eine Begegnung mit Gott? c) Eröffnet und fördert die Musik die Beteiligung der Gemeinde? d) Kann die Musik integrativ wirken, d. h. Generationen und Milieus übergreifend Menschen ansprechen? Oder kann die Musik, z. B. für einen Kasualgottesdienst, eine ganz bestimmte Zielgruppe ansprechen? e) Tritt die Musik in einen kritischen oder konstruktiven Dialog mit der Kultur der Gegenwart? Kann sie ggf. auch aktuelle Nöte oder Katastrophen aufnehmen?
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Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
6.6 Summe: Ich singe dir mit Herz und Mund Eine Liedstrophe von Paul Gerhardt (EG 324,1) bündelt vier grundlegende Dimensionen der Kirchenmusik: »Ich singe dir mit Herz und Mund.« Das beste und höchste Ziel jeder gottesdienstlichen Musik ist es, Gott zu loben und ihm die Ehre zu geben. Menschen erheben ihre Herzen und machen mit Klängen und Rhythmen den Schöpfer groß. Wer singt, betet doppelt! Mit dieser hymnischen Dimension korrespondiert die verkündigende: »Ich sing und mach auf Erden kund!« Das besondere Profil protestantischer Kirchenmusik ist die Verkündigung des Evangeliums. Sie lädt ein und vergewissert im Glauben. Sie bezeugt Gottes Liebe und Hoffnung für die Welt. Mit prophetischer Stimme tritt sie eigenständig für Gerechtigkeit in der Welt ein. »Herr meines Herzens Lust!« Wenn ein Mensch für Gott und vor Gott singt und musiziert, geschieht das nicht nur mit der Stimme oder mit den Händen, sondern kommt von Herzen. Der ganze Mensch kommt dabei zum Klingen: summt und lacht, jubelt und klatscht, hüpft und tanzt. Kirchenmusik macht Freude, sie darf im besten Sinne des Wortes lustvoll sein und be-geistern. »Was mir von dir bewusst.« Evangelische Kirchenmusik eröffnet uns neue Zugänge zu den Inhalten des Glaubens. So geschieht Vergewisserung und »Bewusstseins-Bildung«; wir werden durchklungen vom »Sound des Geistes«, der uns geistlich und geistig aufbaut und bildet.
7 Sendung und Segen 7.1 Gesandte Gottes in die Welt »Geht hin im Frieden des Herrn!« – Mit diesen Worten wird die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde für gewöhnlich »entlassen«. Trivial gesprochen gehen die meisten in ihre Häuser zurück, erleben einen hoffentlich »entspannten Sonntag« und wenden sich am Montag wieder ihrer Arbeit zu. Doch wo kommt diese Sendung her, in welchem Kontext steht sie, was meint sie genauer? Dazu eine erste Antwort: Die Sendung kommt von einer gottesdienstlichen »Bewegung« her. Sie markiert einen Übergang. Ihr sind die Fürbitten und die Kollekte (Dankopfer) vorausgegangen. Wir lasSendung und Segen
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sen uns damit hineinziehen in das Erbarmen Gottes für die Welt … Es hat sich also bereits ein geistlicher Perspektivwechsel ereignet. Wir haben erfahren: Die Welt bleibt trotz allem Dunkel Gottes Welt und damit auch unsere Welt. Die Welt mit ihren Menschen und Tieren, ihren Pflanzen und Bodenschätzen und ihrem Klima ist uns anvertraut als Geschenk und Gabe, aber auch als Aufgabe. Die Sendung im Gottesdienst kann auch unmittelbar auf die Danksagung nach dem Abendmahl folgen. Dann ist der Akzent der Sendung, dass wir das Empfange teilen. Schon in der frühen Christenheit wurde eucharistische Speise in die Häuser (z. B. zu den Kranken) gebracht. Der Gottesdienst strahlt damit aus in den Alltag: Was gesegnet und empfangen wurde, wird weitergegeben. Beide Anknüpfungen sind sinnvoll und spiegeln die ethische Dimension des Gottesdienstes wider. Mit dem Stichwort »Geht hin im Frieden des Herrn!« wird gleichsam eine positive Richtung eröffnet, die uns zum Leben orientiert. Nur: Wie soll das friedliche Zusammenleben der Einzelnen, Familien und Völker gestaltet werden? Damit stellt sich die Frage nach der Gemeinsamkeit und Verschiedenheit der Gaben und Ämter in der Kirche. Wie sind das Wort des Zeugnisses (martyria), die Tat der Nächstenliebe (diakonia), die Gemeinschaft der Liebe im Alltag (koinonia) und die Glaubensbildung (paideia) aufeinander zu beziehen? Weiter ist zu fragen: Welche spezifische Sprachform liegt hier vor, welche biblischen »Vorbilder« gibt es für diesen Sprechakt? Wie unterscheidet sich die Sendung vom Segen? 7.2 Qualität und Abfolge der Sprechakte von Sendung und Segen Die Wendung »Geht hin im Frieden des Herrn!« ist unmissverständlich ein Imperativ. Im Gegensatz zum Gebet (vgl. »Vergib uns unsere Schuld!«) ist dieser Imperativ nicht an Gott, sondern an die Gemeinde gerichtet, auch wenn Gott als Geber des Friedens gedacht ist. Es geht also um einen »katabatischen« Sprechakt, d. h. um eine Anrede der Gemeinde von Gott her (durchaus vergleichbar mit der Predigt), und nicht um ein Gebet. Solche Sprachformen gibt es im Gottesdienst etliche. Genannt seien hier wenigstens Votum, Gruß und Salutatio, aber auch die biblischen Lesungen und in gewisser Weise 202
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die Abkündigungen (die allerdings eher zwischenmenschliche Kommunikation darstellen). Selten gibt es im Gottesdienst ausdrückliche Imperative an die Gemeinde. Aber die wenigen, die es gibt, sind sehr prägnant. Man denke an »Nehmt und esst!« oder »Das tut zu meinem Gedächtnis!« (1 Kor 11) oder »Geht hin in alle Welt!« (Mt 28). An den jesuanischen Sendungs- bzw. Befehlsworten wird deutlich: Ein klarer Imperativ ist besser als ein versteckter … Und viel besser als eine mit (heim)tückischen Hilfsverben operierende Botschaft wie »man müsste« bzw. »wir dürfen«. Der Imperativ klingt zugleich freundlicher als der barsche Befehlston »Ihr sollt/du sollst!«. So kommt am Ende des Gottesdienstes das theologisch sensible Verhältnis von Imperativ und Indikativ (vgl. auch Bukowski, 126ff) als Unterscheidungs- und Gestaltungsaufgabe in den Blick. Die geläufigen theologischen Muster dafür lauten Gesetz/Gebot und Evangelium (Luther) oder Zuspruch und Anspruch (Barth). Wenn es zutrifft, dass der Segen keine Mischung von Gebet und Zusage, sondern unbedingter, reiner Zuspruch ist, wie noch zu zeigen sein wird, dann können wir vorläufig festhalten: Im evangelischen Gottesdienst steht der Indikativ des Segens nach dem Imperativ der Sendung. Damit wird folgender Sachverhalt akzentuiert: Gottes Auftrag ist das vorletzte, Gottes Zuspruch das letzte liturgische Ereignis. Unser Tun ist getragen und aufgehoben in Gottes Zusage. Beispiel dafür ist der Taufbefehl. Er schließt mit dem Versprechen: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt. (Mt 28,20) Eine andere Dramaturgie besitzt die römisch-katholische Messe seit dem letzten Konzil. Im Messbuch der römisch-katholischen Kirche wird in der ordentlichen Form des römischen Ritus der Segen vor dem Entlassungsruf gespendet: Ite, missa est (= »Gehet hin, ihr seid gesendet!« oder wörtlicher: »Auf, es ist gesendet worden!«) lautet der Entlassungsruf des Diakons oder des Zelebranten am Ende der Messe. Dieser Ruf zeigt an, dass die gottesdienstliche Versammlung beendet ist. Die Gläubigen antworten darauf mit Deo gratias (»Dank sei Gott.«). Vor der konziliaren Reform der Liturgie war es in der katholischen Kirche wie jetzt im evangelischen Gottesdienst (!) üblich, dass der Schlusssegen auf den Entlassungsruf folgte. Auch diese Variante hat dramaturgische Plausibilität und theologisches Gewicht. Dann bietet der Segen gleichSendung und Segen
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sam die Ermächtigung für die darauffolgende Sendung und folgt der Theo-Logik von Zuspruch und Anspruch.
Doch können wir für die gottesdienstliche Sendung überhaupt eine ähnlich feierliche Autorität beanspruchen wie für Vaterunser und Segen, die uns in einem biblischen Ursprungstext überliefert sind? Sendet die Liturgin die Gemeinde oder tut Gott das selbst durch ihr Wort hindurch? Daher ist hier grundsätzlich theologisch nach der Bedeutung der Sendung zu fragen … 7.3 Sendung als missio des dreieinigen Gottes – Grundsätzliches Die Sendung der Kirche geht vom dreieinigen Gott aus, sie ist missio Dei nicht missio hominum. Gottes Sendung strahlt zu uns aus. Menschen werden von Anfang an in der Geschichte Gottes mit seiner Welt beteiligt: In der Schöpfung ruft Gott durch sein Wort (vgl. Gen 1f) die Welt ins Sein und erschafft den Menschen als Gegenüber seiner Liebe. Er adelt ihn als Kind und König (Ps 8,5f) und macht ihn zu seinem Ebenbild und Stellvertreter (Gen 1,26–28). Gott sendet ihn in den Garten, um ihn zu bebauen und zu bewahren (Gen 2,15). Er wendet sich dem Menschen zu und redet ihn als geliebtes Gegenüber an, um ihm »seine Welt« anzuvertrauen. Obwohl der Mensch sich sündigend von Gott abwendet, bleibt Gottes Treue bestehen. Im ersten Bund, dessen Grundlage der Dekalog (Ex 20) ist, bekommt das erwählte Volk Israel eine Magna Charta, die bis heute für das Zusammenleben der Menschen wertvoll ist. In den prophetischen Schriften des Alten Testamentes deutet sich eine besondere Sendung Israels zu den Völkern an. Unter dem neuen Vorzeichen eines ewigen Bundes wird sie in Jes 55,4 folgendermaßen beschrieben: Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Nationen, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des Herrn willen, deines Gottes, der dich herrlich gemacht hat. Damit wird nochmals der theo-zentrische Ausgangspunkt aller Sendung, aber auch die Universalität des biblischen Sendungsgedankens deutlich: Licht, Heil und Weisung strahlen vom Zion aus (vgl. Jes 42,6; 49,6f), Menschen kommen in großen Scharen, um dort Gottes Weisung und Trost zu 204
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erhalten (vgl. Jes 2,2–5 par; Mi 4,1–5). Sie sammeln sich, versammeln sich bei Gott. Gottes Mission kulminiert – nach christlichem Verständnis – in der Sendung des Sohnes in die Welt (Joh 3,16f; Röm 8,3f) zur Sammlung Israels und der Völker: Jesus bringt allen Mühseligen und Beladenen Erquickung (Mt 11,28), den Kranken Heilung und den Sündern Vergebung (Lk 5,32). Die Sendung Gottes hat die Sammlung und Rettung aller Menschen zum Ziel. In anschaulichen Gleichnissen verkündigt Jesus die frohe Botschaft vom nahen Gottesreich, ruft einfache Fischer in seine Nachfolge und lädt Menschen am Rande der Gesellschaft ein, mit ihm zu feiern: Aussätzige, Zöllner, Prostituierte. Mutig überschreitet er Grenzen und gibt so ein Vorbild für einen menschenfreundlichen und einladenden Lebensstil. Dabei kommt auch die Schattenseite zur Sprache. Im Gleichnis vom großen Gastmahl nehmen sich einige der Eingeladenen keine Zeit, der Einladung zu folgen (Lk 14,12–24). Sie schotten sich ab und »geben dem Gastgeber einen Korb«. Sie verpassen deshalb das Fest. Im Sterben Jesu spitzt sich die Sendung Gottes zu einer Mission völliger Hingabe zu. Paulus, Johannes und viele andere deuten dieses Ereignis als rettende Tat Gottes, als Erlösung von der Macht des Todes, als Versöhnungshandeln Gottes für die Menschheit, ja für den Kosmos (2. Kor 5,14–21; Joh 3,14–17; Phil 2,5–11; Kol 1,13–20). In Joh 20,21ff wird die Sendung Jesu durch den Vater verknüpft mit der Sendung des Geistes, an der die Jünger teilhaben. Der johanneische Jesus sagt: Wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nehmet hin den Heiligen Geist. Damit erfüllt sich die in den Abschiedsreden angekündigte Sendung des Heiligen Geistes (Joh 14,26 und 15,26). Der promissio folgt die tatsächliche missio. Die »leibliche« Sendung der Kirche in die Welt wird als eine Gestaltwerdung der Sendung des Geistes und als Fortsetzung der Sendung Christi (vgl. Joh 15,16) verstanden. Anders akzentuiert der Evangelist Matthäus. Nach Mt 28,18–20 (Tauf-/ Missionsbefehl) wird die Sendung getragen von der Vollmacht und der Verheißung des Auferstandenen: Mit ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden … Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt. Sendung und Segen
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Der dazwischen stehende konkrete Auftrag besteht nach Matthäus in der Gewinnung von Jüngerinnen und Jüngern durch Einladung (Hingehen), Taufe und Lehre. Für Matthäus besteht die Sendung also gerade in den von Jesus gelehrten Geboten. In diesen bleibt er bei seiner (wachsenden) Gemeinde, bis er einst für immer sein Reich erreichen wird. Der Taufbefehl hält die Gewissheit wach, dass der Auferstandene zwischen seinem Erdenwirken und seiner Wiederkunft vollmächtig durch seine Kirche – und zwar weltweit – handelt. Die Kirche ist dabei als ek-klesia einerseits herausgerufen aus der Welt in die Sammlung der Heiligen, andererseits aber auch wieder gesandt in die Welt, die Gottes geliebte Schöpfung bleibt.
Karl Barth schreibt in seiner Kirchlichen Dogmatik: »Der Heilige Geist ist die erleuchtende Macht des lebendigen Herrn Jesus Christus, in der er sich zu der von ihm berufenen Gemeinde als zu seinem Leib, d. h. als zu seiner eigenen irdisch-geschichtlichen Existenzform damit bekennt, daß er ihr den Dienst an seinem prophetischen Wort und damit die vorläufige Darstellung der in ihm ergangenen Berufung der ganzen Menschheit, ja aller Kreaturen anvertraut. Er tut das, in dem er sein Volk unter die Völker sendet, dazu eingesetzt, ihn einerseits vor allen Menschen zu bekennen, sie alle zu ihm zu rufen uns so der ganzen Welt bekannt zu geben, daß der in ihm geschlossene Bund zwischen Gott und Mensch der erste und letzte Sinn ihrer Geschichte und daß dessen künftige Offenbarung ihre große, jetzt und hier schon wirksame und lebendige Hoffnung ist.« (Barth, KD IV/3, 780 § 72)
7.4 Sendung und Zeugnis der Kirche in der Gegenwart Die Sendung der Kirche in die Welt ist eine theologische Herausforderung – auch eine politische. Dies wurde besonders während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland deutlich. Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 formuliert in der sechsten These daher folgenden Zusammenhang von Verkündigungsauftrag und Zeugnis: »Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.« (Barmen VI, Burgsmüller, 39)
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Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Versteht man Auftrag und Sendung der Kirche von diesem Bekenntnis her, dann ist eine gesandte Kirche nie Herrin, sondern stets Dienerin der Menschen. Sie bemächtigt sich nicht des Evangeliums, sondern lädt anstelle des Gekreuzigten und Auferstandenen gleichsam bittend ein zur Versöhnung (2. Kor 5,19). Sie bekennt mit ihrem Dienst in der Welt, dass sie an Christus als den Gesandten Gottes glaubt, sie vertraut seiner Vergebung und Gnade. Sie bekennt also, wem sie glaubt und was sie glaubt bzw. was sie nicht glaubt. Alle Ämter zusammen sind damit am Bekenntnis zu Christus und dem Dienst am Evangelium ausgerichtet. Sie wissen sich auf Vergebung angewiesen (vgl. Mt 6,8) und handeln doch zuversichtlich mit österlicher Freude. Sie geben mit ihrem ganzen Leben ein klingendes Glaubens- und Lebenszeugnis (vgl. Röm 12,2; Kol 3,16f) – vor Gott und für die Menschen. Im 21. Jahrhundert stellt sich die Aufgabe des Zeugnisses in einer multikulturellen bzw. multireligiösen Gesellschaft noch einmal neu. Gotthard Fermor schreibt zum Dienst der martyria: »Zeugnisdienst geschieht heute auch durch die aktive Teilnahme am kulturellen Leben und Diskurs unserer Zeit, die so voll religiöser Symbole und Thematiken ist, dass sie nach Deutung und lebensdienlicher Gestaltung geradezu schreit. […] Dieser Zeugnisdienst geschieht natürlich auch im kirchlichen Bildungsengagement in Gemeinden, Kindertagesstätten, in Schulen […]. Er geschieht in theologisch anspruchsvollen Gesprächssituationen in der Pflege, in der Sozialen Arbeit und im Vorstand von Wirtschaftsunternehmen, wenn es beispielsweise um ethische Fragestellungen von Unternehmensausrichtungen geht.« (Fermor, 335f)
Das Zusammenspiel von Glaubens- und Lebenszeugnis ist auch das Anliegen derer, die mit Theo Sundermeier (Sundermeier, Konvivenz) das Programm einer missionarischen Konvivenz (vgl. lat. convivere = zusammenleben) ins Gespräch gebracht haben. Die Konvivenzerfahrung lehrt, dass Mission und Diakonie ein wechselseitiges Geschehen und keine Alternativen sind. Dieses ganzheitlich-kontextuelle Missionsmodell deckt sich übrigens auch mit neueren Studien, in denen u. a. deutlich wird, dass wachsende Gemeinden durch ihr geist-reiches Zusammenspiel von Liturgie und Diakonie, Kulturarbeit und Evangelisation überzeugen. (vgl. Härle/Augenstein, 318f) Aus dieser großen Perspektive bekommt das kleine »Geht hin im Frieden des Herrn!« am Ende des Gottesdienstes großes Gewicht, Sendung und Segen
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markiert es doch die Verbindung von Gottesdienst am Sonntag und im Alltag. Damit es nicht einfach liturgisch »vorbeirauscht«, empfehle ich, knappe Sendungen passend zum sonntäglichen Proprium bzw. zur Predigt zu formulieren und der Gemeinde gleichsam noch »etwas auf den Weg« mitzugeben. Am Ersten Advent könnte das Sendungswort z. B. so lauten. »Geht voller Erwartung und Vorfreude. Öffnet eure Herzens-Türen. Erwartet im Dunkel sein Licht. Der König der Ehre wird kommen.« (Arnold/Kunz/Tergau-Harms, 158)
Am Heiligen Abend in der Christnacht: »Geht wachsam durch diese Nacht. Setzt behutsam Schritt vor Schritt. Bewahrt die Stille. Empfangt den Glanz.« (Arnold/Kunz/Tergau-Harms, 163)
Damit ist auch ein guter Übergang geschaffen zum Segen. Kaum eine gottesdienstliche Form ist so »populär« wie der Segen – und dies quer durch alle Frömmigkeitsrichtungen, ja alle christlichen Konfessionen hindurch. Über den gottesdienstlichen Segen am Sonntag und bei den Kasualien (vgl. IV.1) hinaus spielt er auch in der Seelsorge eine zentrale Rolle. Dabei tauchen Fragen auf: Ȥ Wer darf in der Kirche segnen? Ȥ Was geschieht, wenn wir segnen oder einen Segen empfangen? Ȥ Ist ein Segen so etwas wie ein Glückwunsch, eine Art Gebet oder ein Handeln Gottes an uns? Ȥ Geht es dabei eher nur um leibliches Wohl, um Glück in Ehe und Familie, um den Schutz eines Hauses? Ȥ Darf man Dinge segnen? Ȥ Was ist die Gabe des Segens? Ȥ Worin besteht die sprachliche Besonderheit des Segens? Ȥ Wie lässt sich über die Wirkung des göttlichen Segens sagen? Ȥ Was ist das Spezifische des gottesdienstlichen Segens? 7.5 Der Geber des Segens Der offenbare dreieinige Gott ist der Geber des Segens. Sein freundlich zugewandtes Angesicht leuchtet uns, wenn wir den Segen als Versprechen seiner Nähe unverdient empfangen. Schon im ersten Kapitel 208
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
der Bibel ist davon die Rede, dass Gott nicht nur schafft, sondern auch segnet, d. h. seine Schöpfung mit »Kraft von oben« dauerhaft begleitet. Zugespitzt gibt Gott im Segen nicht irgendetwas, sondern sich selbst. Das ist gemeint, wenn in den »Einsetzungsworten« des alttestamentlichen Segens davon die Rede ist, dass Gott (4. Mose 6,24–27) seinen Namen auf die Gemeinde legt. So kommt Gottes Güte in Fülle, seine gnädige Gegenwart, zu uns Menschen. Der Geber des Segens ist also der offenbare Gott, der verspricht, dass sein Wort nicht leer zurückkommt (Jes 55,11). Sein Wort schafft Leben und erhält es auch. Segen ist Selbstmitteilung des gnädigen Gottes in konzentriertester Form. Zugleich ist Gott auch der souveräne Geber des Segens. Auch wenn er »nur« durch Menschen hindurch Segen wirkt, dürfen Menschen nicht über Segen verfügen. Zuweilen – so erzählt es die Bibel – geht Gott dabei verschlungene Wege von Menschen mit, was man an der Bileamserzählung (vgl. 4. Mose 22–24) ablesen kann. Auch da, wo Menschen es anders wollen, kann sich Gottes Segenshandeln durchsetzen. Gott verschleudert seinen Segen aber nicht. Das »Gewicht« und die Würde des Segens werden an seinem Gegenteil, der Verwünschung bzw. dem Fluch sichtbar. In 5. Mose 27f sind beide Handlungen Gottes einander pointiert gegenübergestellt und auf Gottes Gesetz bezogen: Wer auf die Tora achtet und Gott gehorsam ist, darf Segen erwarten, andernfalls muss er mit Fluch rechnen. Dabei wird deutlich: Es ist genug, wenn Gott segnet und nicht flucht, über die Wirkungen des Segens verfügt Gott allein. Im Segen begegnen wir also dem barmherzigen und dem heiligen, dem gnädigen und dem gerechten Gott. Die trinitarische Segensformel bringt diese Spannung treffend zum Ausdruck: »Es segne und behüte euch der allmächtige und barmherzige Gott, + der Vater, der Sohn und der Heilige Geist!« Theologisch gesprochen verbinden sich also zwei Momente jüdisch-christlicher Tradition im Segen: Das Moment göttlichen Herabneigens, gleichsam die weihnachtliche Menschwerdung und die Passion (vgl. Joh 1,14 bzw. Phil 2,6), aber auch der Gedanke der souveränen Herrschaft und Freiheit Gottes (vgl. Röm 9–11). 7.6 Mittler und Mittlerinnen des Segens Gott gibt seinen Segen fast immer vermittelt durch Menschen. Segen ist daher Anrede Gottes durch Menschen hindurch an andere. Im Sendung und Segen
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Alten Testament sind es die Patriarchen, Priester und Könige, die Segen vermitteln. Ursprünglicher Ort der Weitergabe des Segens ist die Familie (vgl. 1. Mose 27; 49 usw.). In der Geschichte Israels wird die persönliche Segnung allmählich ausgeweitet für die Versammlung des ganzen Volkes. Segen ist keine Privatsache mehr. Den Söhnen Aarons wird die Segensspendung konkret aufgetragen (Num 6,24–27). Sie sollen den Namen Gottes als Inbegriff seiner gnädigen Identität auf das Volk legen. Ähnliches tut auch König Salomo bei der Tempelweihe: Er betet nicht nur für das Volk, sondern segnet es (1. Kön 8,55.57ff) mit dem Wunsch, dass Gottes Hand bei seinem Volk und das Herz des Volkes bei Gottes Gebot sein mögen. Jesus macht selten vom Segen Gebrauch. Er segnet die Kinder mit Handauflegung (Mk 10,16) und als Auferstandener seine Jünger beim Abschied (Lk 24,50). Beim Einzug in Jerusalem ist er der Gesegnete bzw. Gepriesene (Mk 11,9 par). In der hymnischen Eröffnung des Epheserbriefes wird er als Gottes Segen in Person gepriesen: In Christus hat uns Gott gesegnet mit allerlei geistlichem Segen vom Himmel (Eph 1,3). An seiner Segensvollmacht bekommen die Jünger wie auch die Gemeinde Anteil. Darin ist das segnende Handeln der Kirche begründet. »In Jesus wird Gott erkennbar als einer, der segnen will, als einer der für die Menschen den Segen will und nicht den Fluch. […] Gott bestätigt unverrückbar in ihm: Das Ziel der Geschichte Gottes mit den Menschen ist Segen.« (Greiner, 292)
Luther sagt deshalb auch: »Wo von Segen gesagt wird, da ist das Evangelium, wo das Evangelium ist, da ist Gott mit Christo und allen Gütern.« (Luther WA 24, 394). Gestisch bildet sich diese Anteilhabe an Christus im Zeichen des Kreuzes ab. Segen kommt von signare, d. h. mit dem Kreuz (be)zeichnen. Die Kirche hat als Kirche Jesu Christi und Geschöpf des Geistes Anteil am Segen Gottes. Sie ist von Abraham her (vgl. Gen 12,2f bzw. Gal 3,8f) durch Christus beauftragt und befähigt, Segen weiterzugeben und mit anderen Menschen zu teilen. Für Christen folgt daraus weder ein selbstherrliches Verfügen noch ein ängstliches Zaudern, sondern kräftiges Vertrauen im Aufblick zu Gott. Auf die Gültigkeit seiner Verheißung, auf sein zugewandtes Angesicht dürfen wir uns ohne Einschränkung verlassen. 210
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Allerdings ist damit keine Automatik oder Magie verbunden. Die Kirche handelt bewusst in einer gerichteten und geordneten Handlung, wenn sie segnet. Der Segen ist kein ekstatisches Phänomen. »Wer segnet weiß, in wessen Namen er handelt und welcher Kraft er Raum und Richtung gibt. Sonst verkommt der Segen nicht selten zu einer psychischen Überwältigungstechnik, die nicht mehr fragt, woher etwas kommt, sondern nur noch, was es vermag.« (Aßmann, 46)
Denn die Kirche verschenkt etwas, was sie nicht besitzt und über dessen Wirkung sie nicht verfügen kann. Dennoch: Als Segnende dürfen wir aufs Ganze gehen und Gott selbst als Versprechen geben. Eine »Kirche, die nur noch in Form des Gebetes um Segen bitten würde, aber nicht mehr wagen würde, in direkter Anrede zu segnen, wäre kleingläubig« (Brunner, 201). Wir lassen uns fallen, stürzen uns in das Versprechen Gottes, sehen von unseren Möglichkeiten ab. Auch wenn wir einmal zweifeln sollten oder uns Gott fern fühlen, teilt Gott seinen Segen durch uns aus. 7.7 Die Kompetenz des Segens Was verleiht dem Segenshandeln der Kirche Vollmacht oder modern gesagt: Kompetenz? Es ist die Taufe im Namen des dreieinigen Gottes, die dazu ermächtigt. Darum sind nicht nur ordinierte Personen dazu berufen, Segen zu spenden. In der Taufe wird der Name des Dreieinigen segnend auf jeden Täufling gelegt und mit der Zusage einer unverlierbaren Kindschaft verknüpft. Der Taufsegen im Anschluss an die Taufformel macht deutlich: Jeder getaufte Christ bekommt Anteil am Segen des dreieinigen Gottes. Er ist zur Weitergabe dieses Segens berufen und befähigt, ja sogar verpflichtet. Zugespitzt: Wir stehen in einer großen Linie von Segensmittlern, die nicht nur auf Christus, sondern auch auf Abraham zurückgeht. Nach evangelischem Verständnis ist es also Sache des Allgemeinen Priestertums der Getauften, diese göttliche Kraft weiterzugeben. Wir sind Segensmultiplikatoren in einer Welt, die auf göttliche Heilung und Heiligung angewiesen ist. Daher ist es auch keine Frage, dass ein einfaches Gemeindeglied einen hohen Amtsträger, z. B. eine Bischöfin, segnen darf. Denn beim Segen kommt es gerade nicht auf die Hierarchie und kirchlichen Rang an. Das Gefälle besteht Sendung und Segen
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vielmehr darin, dass Gott das primäre Subjekt ist und nicht der spendende Bischof o. Ä. 7.8 Die leibliche und geistliche Gabe des Segens Innerhalb der alttestamentlichen Tradition lassen sich, was die Qualifizierung der Gabe des Segens angeht, im Wesentlichen zwei Traditionsstränge unterscheiden: Gott schenkt dem Menschen und der Kreatur Fruchtbarkeit (vgl. 1. Mose 1,22.28; 5. Mose 28,3–6) und macht so deutlich, dass Nahrung, Kleidung und Sexualität mit Freude genossen werden dürfen (vgl. Koh 3,12f; Ps 104,14f). Hinzu kommt aber auch eine politische Dimension. Segen ist im Alten Testament der umfassende Begriff für gelingendes Leben und Zusammenleben, Frieden sowohl im individuellen als auch im kollektiven Sinn für Stadt und Land, Volk und Menschheit, kurz: Schalom (Friede). Weiterer theologischer Ort alttestamentlicher Segenstheologie ist der Bund Gottes mit Einzelnen und mit seinem Volk. Am Segen für Abraham (vgl. 1. Mose 12,2f), wird deutlich, dass Segen in der Heiligen Schrift mit einer Erwählung und gleichzeitigen Verpflichtung gekoppelt sein kann, die sachlich wiederum wesentliche Elemente des Bundes enthält. Im Abrahamsbund und -segen werden somit eine göttliche und eine menschliche Dimension untrennbar, aber auch unumkehrbar miteinander verknüpft: »Ein Bund ist eine segnende Übereinkunft von zwei Seiten, ein Versprechen Gottes zu segnen und Segen zu erwidern« (Fox, 55f). Im Neuen Testament lässt sich eine klare theologische Entwicklung des Segensbegriffs beobachten. Dabei werden die weisheitlich-schöpfungstheologischen Aspekte des Segens nicht ausgelöscht, sondern vertieft und ausgeweitet: Der Segen in Jesus Christus (vgl. Gal 3,8f; Apg 3,25; Eph 1,3) bezeichnet hier jedenfalls auch die Rettungstat Gottes bzw. die in dieser Tat bewirkte Rechtfertigung der Sünderinnen und Sünder. Die Segenstat Gottes im Christusereignis von Kreuz und Auferstehung eröffnet Zukunft, sie hat letzte und beste Konsequenzen: »Weil durch Christus die Zukunft offen steht und wir Menschen am Leben mit Gott und bei Gott Anteil haben. So ist es nicht verwunderlich, dass das NT das ewige Leben als ›Segen‹ bezeichnet (1. Petr 3,7.9).« (Greiner, 99)
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Damit wird dreierlei deutlich: Der Segensbegriff lässt sich theologisch nicht auf Güter der Schöpfung beschränken. Rettendes und segnendes Handeln Gottes lassen sich nicht prinzipiell unterscheiden (gegen Westermann, Segen, 13 u.ö.). Der Segensbegriff wird vielmehr ausgeweitet und neu gefüllt. Er gilt »universal« (räumliche Entgrenzung) für die ganze Menschheit und hat Folgen für die Ewigkeit (zeitliche Entgrenzung). Martin Luther hat daher an vielen Stellen die Gabe des leiblichen und geistlichen Segens unterschieden und zugleich zusammengedacht. Glück und Wohlstand, Bewahrung vor Schaden und Gefahr, Fruchtbarkeit des Leibes, Nahrung und Kleidung sind Zeichen leiblichen Segens. Sie lehren den Menschen, »dass unser Leib und Leben samt allen Gütern und Notdurft nicht durch unser Werk noch Arbeit gewonnen werden«, sondern durch »Gottes Segen, Hut und Sorge« (vgl. WA 30 III, 574). Sie verweisen damit auf die uns täglich neu erreichende unverdiente Gnade des Schöpfers. Die Brotbitte im Vaterunser (Mt 6,11) ist somit pars pro toto eine Bitte um leiblichen Segen, um Arbeit, Kleidung und Frieden. Die Gabe des leiblichen Segens vollzieht sich in Familie und gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Daraus leitet sich auch Verantwortung ab: »Der Segen hat einen indirekt verpflichtenden Aspekt, mit dem Leben, das im Begriff des Segens als Gabe erkannt worden ist, dem Geber gemäß umzugehen« (Greiner, 218). Dies lässt sich am Beispiel der Ehe verdeutlichen: Aus der Gabe des Partners und dem Geschenk einer gelingenden Beziehung kann viel Glück und Freude entstehen. Daraus erwächst eine Haltung, mit der anvertrauten Person achtsam umzugehen. Der Segen der Ehe besteht demnach im Genuss und in der Freude aneinander, aber auch in der Pflicht, aufeinander zu achten. Über der Gabe öffnet sich zugleich auch der Blick auf den Geber: Das geliebte menschliche Gegenüber als Geschenk Gottes wahrzunehmen, ist ständiger Anlass zu neuer Dankbarkeit gegenüber Gott. Demgegenüber ist der geistliche Segen folgendermaßen zu profilieren: Er wirkt Glauben weckend und Glauben stärkend, vergewissernd und befreiend. »Wenn Gott sein Wort gibt, so lässt er sein Angesicht helle scheinen über alle Gewissen und macht sie damit fröhlich, keck, licht und also: neue Herzen und Sendung und Segen
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neue Menschen, denn es bringt Vergebung der Sünden und zeigt Gott als einen gnädigen und barmherzigen Vater an welchen unser Leib und Betrübnis jammert und erbarmt.« Himmlischer Segen meint, »frei zu werden vom Gesetz, der Sünde und vom Tod, gerechtfertigt zu werden, ein neues Leben zu erlangen, das Wohlgefallen Gottes zu haben, ein gläubiges Herz, ein fröhliches Gewissen und geistlichen Trost, Erkenntnis Christi zu haben, die Weissagung und die Offenbarung der Schrift, die Gaben des Heiligen Geistes zu haben, fröhlich zu sein in Gott etc.« (Luther, WA 30/III, 577.)
Zusammengefasst: Der Segen umfasst leibliche und geistliche Güter, er kommt vom dreieinigen Gott und lässt sich weder auf das Natürliche noch auf das Geistliche begrenzen. Dem Segen eignet die »Logik des Überfließens«, er ist nicht kalkulierbar oder berechenbar. Der ganze Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist, kommt zum ganzen Menschen behütend und rettend, tröstend und beflügelnd. 7.9 Der Sprechakt des Segens Eine wichtige Frage ist die nach einer dem göttlichen Segen angemessenen menschlichen Sprachform. »Segen ist nicht ein leeres Geräusch von Worten, sondern eine feste, gültige Zusage, die ganz gewiß in Erfüllung gehen wird. Es handelt sich nicht um ein Anwünschen, sondern um ein indikativisches Übergeben von Gütern auf Grund einer von Gott empfangenen Vollmacht«. (Brunner, Segen, 342)
Der Segen ist also keine Bitte oder Fürbitte, in ihm wird »das, was klingt, ausgebreitet und ausgeteilt« (Luther, WA 43,525). Doch warum sagen wir dann nicht einfach »Gott segnet dich!«, sondern »Gott segne dich!«? Im aaronitischen Segen (4. Mose 6,24–27) steht im hebräischen Urtext ein besondere Sprachform, die von den Hebraisten Iussiv (lat. iubere = befehlen) genannt wird. Schon im grammatikalischen Terminus klingt an, dass hier etwas befohlen wird. Dies wird z. B. im ersten Schöpfungsbericht (1. Mose 1,3) deutlich. Dort heißt es: »Gott sprach: Es werde Licht! (Iussiv) Und es ward Licht!« In ähnlicher Weise gilt: Wenn die Priester Gottes Namen auf das Volk Israel legen, dann leuchtet dem Volk Israel Gottes Angesicht. Um das performativ wirksame Wort Got214
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
tes zu beschreiben (vgl. Ps 33,4.9), ist zutreffend, nicht »Es ist Licht«, sondern »Es werde Licht!« zu übersetzen.
Der Vergleich zeigt: Es geht um eine wirkungsvolle Zusage Gottes in die unmittelbare Zukunft hinein, um die künftige Verwirklichung einer noch ausstehenden Gabe. Gott wird – in welcher Form auch immer – segnen und seine Wohltaten gewähren. Im Gegensatz etwa zur Absolution in der Beichte (»Dir sind deine Sünden vergeben!«) oder zu einer Eheschließung (»Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau«), die eine Wirklichkeit stiftende und verändernde Wirkung in der Gegenwart haben, ist der Segen ein Handeln Gottes, das gleichsam aus der Zukunft in die Gegenwart hineinreicht. Zukunft wird von Gott her eröffnet und ist voller Verheißung für sein schöpferisches und bewahrendes, rettendes und neu machendes Handeln. Was den liturgischen Sprechakt des Segens angeht, sind nun allerdings noch weitere Fragen und Probleme zu bedenken. Konstitutiv für das Kommunikationsgeschehen des Segens ist das Ensemble von Geber, Mittler und Empfangenden des Segens. Er ist ein Zuspruch durch eine Person hindurch an andere Personen. Es geht um ein schöpferisch-personales »Klangereignis« (lat. personare = durchklingen). Von daher ist es angemessen, in der 2. Person (Singular oder Plural) zu formulieren, wie dies auch im aaronitischen Segen. Wir verzichten in der Regel auf die inklusive Form (»Der HERR segne uns«), die oft aus Bescheidenheit gewählt wird. Anders verhält es sich mit der Segensbitte »Herr, segne uns« – hier ist die inklusive Form richtig. Ob im Singular oder Plural der Segen zugesprochen wird, kann offen bleiben. Das »Du« im aaronitischen Segen ist jedenfalls keine plumpe Vertraulichkeit, sondern mit Bedacht gewählt: Darin enthalten ist ein Hinweis auf die Einheit der Gemeinde und zugleich die persönliche Anrede an jede und jeden. Die deutsche Wiedergabe des Segens mit »Der Herr segne dich!« (Optativ) eröffnet nun allerdings ein Problem. Das göttliche Vollmachtswort lässt sich so nämlich auch als bloßer Wunschsatz missverstehen. Die geläufige Übersetzung legt das Missverständnis nahe, als handle es sich beim Segen um ein bloßes »Anwünschen« von Menschen, nicht aber um ein tatsächliches Handeln Gottes. Von daher spräche durchaus ein leichtes Plus für den Indikativ Sendung und Segen
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anstelle des Optativ. Von der Sache her am treffendsten wäre der Indikativ Futur, der aber poetisch unschön ist (»Gott wird dich segnen.«). Gemeint ist: Gott wird dir durch den hier und jetzt mitgeteilten Segen Wohl, Heil, Rettung etc. gewähren. Ein schönes Beispiel, in dem alle drei möglichen Formen vorkommen (Indikativ Präsens, Futur und Optativ), bietet die Lutherübersetzung von Psalm 121,3–8: Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht … Der Herr behütet dich; der Herr ist ein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts. Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele. Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang, von nun an bis in Ewigkeit.
Denkbar ist auch die – im katholischen Bereich geläufige – Doppelung von aaronitischem und trinitarischem Segen. Mit dieser Variante könnte nach dem Optativ noch ein Indikativ folgen: Der HERR segne dich und behüte dich … und gebe dir Frieden: So segnet dich der allmächtige und barmherzige Gott, + Vater, Sohn und Heiliger Geist!
Die besondere Prägnanz des Segens liegt in der geschliffenen Kürze und Vertrautheit einer bekannten Formel wie etwa dem trinitarischen Votum, dem Kanzelsegen oder dem aaronitischen Schlusssegen, also gerade im Verzicht auf eine »gekünstelte« poetische Form. Darin liegt zunächst für den Gesegneten eine besondere Chance: »Der Verzicht auf mich selber beim Segen hat eine liturgische Konsequenz: ich will eine Segensformel und einen Segensgestus, die mir meine Passivität lassen« (Steffensky, 2). Auf der anderen Seite werden die Segnenden von dem Zwang befreit, auch hier noch originell sein zu müssen, sie dürfen sich der Sprache der Bibel anvertrauen. Die Form sagt, dass nicht ein Mensch den Segen garantiert, sondern Gott, der diese Form geschaffen und Menschen bevollmächtigt hat, sie in seinem Namen als Wohltat für andere weiterzugeben.
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Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
7.10 Gesegnete Menschen In der alttestamentlichen Tradition werden Tiere (1. Mose 1,22), aber auch die Felder und ihr Ertrag bis hin zum Backtrog (5. Mose 28,5) gesegnet. Von daher ist die römisch-katholische Praxis einer Segnung von Gegenständen zumindest nicht generell abzulehnen. Immerhin kennt auch die lutherische Tradition die Weihe einer Kirche, einer Orgel, von Glocken usw. Nach evangelischem Verständnis geht es dabei um die feierliche Indienstnahme einer Sache, die Menschen im Glauben stärken und vergewissern soll. Dass dabei ein Segen gespendet wird, ist dann angemessen, wenn der Gegenstand (z. B. ein Feuerwehrauto) dem menschlichen Leben und seinem Schutz dient. Eine Segnung von Tieren ist weder in Israel noch in der Christenheit in größerem Stil praktiziert worden. Da Gott selbst die Tiere gesegnet hat, ist es aber zumindest nicht verboten, dies auch im kirchlichen Kontext zu tun. Es handelt sich also um ein typisches Adiaphoron (= Zwischending), wie die Reformatoren gesagt haben.
Im Mittelpunkt steht jedoch der gesegnete Mensch als Einzelner (vgl. 1. Mose 9,1), im Kontext der Familie oder als ganzes Volk. Insofern ist es angemessen, dass die Kirche beide Formen des Segens pflegt: den individuellen Segenszuspruch in der Seelsorge, speziell am Krankenbett, sowie den kollektiven Zuspruch am Ende des Gottesdienstes mit ausgebreiteten Händen und Kreuzzeichen. Dem gesegneten Menschen wird Gottes Schutz und Stärkung, gelingendes Leben, aber auch Heil und Trost zugesagt. Wenn es zutrifft, dass der Segen heilvolle Gegenwart für die Zukunft verspricht, dann ist es sachgemäß, dass er an Schwellensituationen unseres Lebens einen besonderen Ort hat. Der Taufsegen bezeichnet die Schwelle der Mitgliedschaft in der Kirche, dem großen Volk Gottes, die Konfirmation markiert den Übergang in die kirchliche Mündigkeit, die ein Ja zur Taufe impliziert, die Ordination stellt Pfarrerinnen und Pfarrer in den Dienst am Wort. Der Trausegen bringt zum Ausdruck, dass aus den Liebenden nun eine Familie geworden ist. Nach evangelischem Verständnis wird hier keine prägende Veränderung an der Person bewirkt und doch Veränderung erwartet: in der eigenen Wahrnehmung der Welt bzw. des Gegenübers als Geschöpf Gottes, als Gabe Gottes an mich. Sendung und Segen
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Der römisch-katholische Trausegen bringt dies schön zum Ausdruck: Seid gesegnet in euren Kindern und die Liebe, die ihr ihnen erweist, sollen sie euch hundertfältig vergelten. Wahre Freunde mögen euch in Freude und Leid zur Seite stehen. Wer in Not ist, finde bei euch Trost und Hilfe, und der Segen, der den Barmherzigen verheißen ist, komme reich über euer Haus. Gesegnet sei eure Arbeit, und ihre Frucht bleibe euch erhalten. Der Herr führe euch zu hohen Jahren und schenke euch die Ernte des Lebens.
In einem solchen Segen ist der Raum, in dem man exklusiv empfangen, ja geradezu versinken kann. »Wie vielleicht keine andere ist der Segen eine Form des Glaubens und der Hoffnung, in der zwei Menschen von sich selber absehen, der Segnende und der Gesegnete. Der Gesegnete erlaubt sich den Sturz in das Versprechen der Geste und des Wortes« (Steffensky, 5).
Gleichsam der Härtetest für den Segen ist der Übergang über die letzte Schwelle vom Leben in den Tod bzw. vom Tod ins (ewige) Leben, wie er in der Aussegnung Verstorbener (»Valetsegen«) in den Blick kommt. Hier steht alles bisher Gesagte nochmals auf dem Prüfstand. Der aus der Vollmacht des Auferstandenen (vgl. Joh 11,25f; Offb 1,17f) gesprochene Segen entreißt den Verstorbenen der Sphäre des Todes und übereignet ihn Gott als dem Herrn über Tod und Leben. Aus der Gewissheit heraus, dass in der Taufe neues ewiges Leben schon angebrochen ist – die Getaufte ist ja bereits mit Christus gestorben und auferstanden (vgl. Röm 6,4–6; Kol 2,12f) –, wird die Sterbende/Verstorbene in die Hand Gottes gelegt. Entscheidend ist somit nicht, ob der Empfänger lebt oder nicht, sondern ob er Gott gehört oder nicht. Der sog. Valetsegen, der über dem/der Verstorbenen gesprochen wird, lautet: Es segne dich Gott, der Vater, der dich nach seinem Bild geschaffen hat. Es segne dich Gott, der Sohn, der dich durch sein Leiden und Sterben erlöst hat. Es segne dich Gott, der Heilige Geist, der dich zum Glauben gerufen und geheiligt hat. Gott, + der Vater und der Sohn und der Heilige Geist, geleite dich durch das Dunkel des Todes. Er sei dir gnädig im Gericht und gebe dir Frieden und ewiges Leben.
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Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
Für die Aussegnung Verstorbener gilt: Die Tote fällt beim Überschreiten der Grenze des natürlichen Todes nicht in ein »Vakuum des Nichts«, sondern in die Hand Gottes. Aussegnung ist somit wirkmächtige Vergegenwärtigung der Taufe, Gottes Vollmachtswort in die letzte, anbrechende Zukunft hinein. Wo Gott selbst gesiegt hat, müssen wir nicht sprachlos werden, sondern können widerstehen. 7.11 Der Segen im Gottesdienst Bisher kam der Segen in seiner Stellung im Gesamtgefüge des Gottesdienstes noch nicht in den Blick. Wir finden ihn an zwei entscheidenden Stellen; am Anfang und am Schluss des Gottesdienstes als »Eingangssegen« in Gestalt eines Votums oder Grußes und als trinitarischen bzw. aaronitischen Schlusssegen. Außerdem sind gleichsam als innere Klammer Kanzelgruß und Kanzelsegen gebräuchlich, die die Predigt umschließen. Beide Male folgt darauf das Amen als Akklamation der Gemeinde, beide Male markiert der Segen einen wichtigen Übergang, den Übergang vom Alltag zum Gottesdienst am Sonntag und umgekehrt. Die Grußformeln im Gottesdienst (Salutatio und Friedensgruß) sind ebenfalls Segenszuspruch auf Augenhöhe. Die Ausrufung des Namens Gottes über der gottesdienstlichen Gemeinde ist ein göttlicher Vollmachtsakt. Der Dreieinige nimmt damit die folgende Handlung als die seine in Anspruch: Er zeigt an, dass der Gottesdienst unter seiner Verheißung, in seinem Auftrag, zu seiner Ehre und zur Erfüllung seines Willens geschieht. Die Gemeinde ist einbezogen in das umfassende Heilshandeln des dreieinigen Gottes, das ihr im Gottesdienst zuteilwird. Das heißt, sie bekommt Anteil an seiner väterlichen Güte und Gnade, an seiner Gemeinschaft, die Zwiesprache im Gebet eröffnet und ermöglicht. Durch die Proklamation des Eingangssegens soll nicht Kultisches und Profanes voneinander getrennt werden, sondern angezeigt werden, dass hier eine spezifische Gnadengegenwart Gottes zugesagt ist, mit der die Gemeinde rechnen darf. Die Formel »Im Namen Gottes …« ist zugleich eine Tauferinnerung. Damit ist die Tradition des mittelalterlichen Stufengebets zu Beginn der Messe aufgenommen, bei dem man sich bekreuzigte und diese Formel sprach. Sendung und Segen
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Der Segen markiert als »Schwellenritus« aber auch den Übergang vom Sonntag zum Alltag: Der Gemeinde wird die Ermächtigung zum Dienst am Menschen in Diakonie und Zeugnis zugesprochen. Dieser Dienst ist auch Gottesdienst, er ereignet sich zur Verherrlichung Gottes in der Welt. Darin, dass die Gemeinde sich dies von Gott schenken lässt, liegt die Möglichkeit des umfassenden Gottesdienstes in der Welt und für die Welt begründet (vgl. Röm 12,1f). In der Erwartung und Wahrnehmung der von Gott in seinem segnenden Handeln zugesagten Güter öffnen sich die Glaubenden für das, was Gott ihnen in Ehe und Familie, aber auch in Gemeinde und Gesellschaft zuteilwerden lässt. 7.12 Segnen und loben – Segen und Theologie Sprachlich und theologisch interessant ist die Tatsache, dass das Verb »segnen« (brk, benedicere, eulogein) biblisch nicht nur in Bezug auf Gottes gnädiges Handeln am Menschen gebraucht wird, sondern umgekehrt auch Lobbekenntnisse von Menschen vor Gott bezeichnen kann. Damit wird »segnen« zu einem theologischen Zentralbegriff, dessen Pointe in der Entsprechung von Segnen und Lobpreis besteht: Gottes Schöpfung und Erlösung umfassendes Segenshandeln an uns kommt im Lobpreis Gottes ans Ziel: Gelobt sei Gott, der uns gesegnet hat mit allerlei geistlichem Segen in himmlischen Gütern durch Christus (Eph 1,3). Der Hymnus wird so zum Spiegel göttlichen Segenshandelns und zum Schlüssel der Wahrnehmung göttlichen Segens. Im Segen als Segnen und Loben berühren sich Gottes Kommen zu uns und unser Hintreten vor Gott, mithin die beiden grundlegenden Bewegungsrichtungen des Gottesdienstes: seine erquickende Anrede und unsere vertrauensvolle Antwort. Segen und segnender Lobpreis können daher – ähnlich wie Zuspruch und Lobpreis im Abendmahl – als Summe des Gottesdienstes betrachtet werden. Im Segen wendet uns der gütige und gnädige Gott seine Wohltaten, ja sich selbst zu, indem er uns bedingungslos Zukunft eröffnet und unser Leben heilvoll verwandelt. Der Segen ist gleichsam Vorgeschmack der Ewigkeit. Er verpflichtet uns dadurch aber auch zu einem verantwortlichen Umgang mit seiner Schöpfung und ihren Gaben und zu einem achtsamen Umgang mit allen Menschen, die uns anvertraut sind. 220
Die zentralen Elemente und Formen des evangelischen Gottesdienstes
IV Andere Gottesdienste
Im Folgenden wollen wir ohne den Anspruch auf Vollständigkeit die ganze Bandbreite von Gottesdiensten knapp vor Augen stellen, die über die klassischen agendarischen Gottesdienste hinaus landauf, landab gefeiert werden. Zuerst wird dabei an die sog. Amtshandlungen oder Kasualien zu denken sein, also an Taufe und Konfirmation, Trauung und Beerdigung. Die beiden ersteren sind oft eingebettet in einen Sonntagsgottesdienst, die beiden anderen finden normalerweise am Werktag in einem spezifischen liturgischen »Setting« statt.
1 Kasualien (Amtshandlungen) Charakteristisch für Kasualgottesdienste (von lateinisch casus – der Fall) ist zunächst, dass der Anlass ein biografischer ist. Geburt und Erwachsenwerden, Heirat und Tod prägen die vier Amtshandlungen als Übergangsriten an den Scharnierstellen des Lebens. Dabei verbinden sie in besonderer Weise Gottesdienst und Alltag, Liturgie und Leben. Die Teilnahmezahlen machen deutlich, dass Kasualgottesdienste oft von nicht zu unterschätzender Attraktivität gerade für die Kirchenmitglieder sind, die nicht zur engeren Kirchengemeinde gehören. Sie begleiten den einzelnen Menschen innerhalb der Gemeinde und oft auch der Familie an entscheidenden Stunden seines individuellen Lebens von der Geburt über das Erwachsenwerden und die Eheschließung bis zum Tod. Dabei verbinden sie eine symbolische Handlung, in deren Mitte der Zuspruch des göttlichen Segens steht, mit der Lebensdeutung im Lichte des Evangeliums. Die individuelle Lebensgeschichte, ja im umfassenden Sinne menschliches Dasein wird im Angesicht Gottes empfangen und erfahren, gefeiert und betrauert. Kasualgottesdienst bringen die Verheißung zur Geltung, dass ein Leben auch dort, wo es nach menschlichem Ermessen nicht gelungen ist, von Gott angenommen ist. Das lebensgeschichtliche Thema der Kasualien lässt sich folgendermaßen zuspitzen: Es geht um die Anerkennung einer Person und Kasualien (Amtshandlungen)
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ihrer Lebensgeschichte durch Gott, um die Findung von Identität im Licht der Ewigkeit. Das heißt biblisch-reformatorisch: Rechtfertigung einer Person geschieht nicht aus ihren Werken, aber auch nicht primär aus der Anerkennung von Menschen, sondern aus der vorbehaltlosen Liebe Gottes; nicht aus der Leistung und dem Erfolg im Beruf, sondern aufgrund des Freispruchs Gottes von aller Schuld trotz unseres Drangs, uns selbst zu rechtfertigen. Im Kern sind alle vier Kasualien Segenshandlungen. Bei der Taufe ist es der Taufsegen (sog. votum postbaptismale mit Kreuzzeichen) im unmittelbaren Anschluss an die trinitarische Taufformel, bei der Konfirmation die Einsegnung der Konfirmandinnen und Konfirmanden; bei der Trauung der Trau- oder Ehesegen; bei der Bestattung der Abschieds- oder Valetsegen (Aussegnung). Der Segen gibt, was er verspricht, Gottes Begleitung und Nähe in der unmittelbar vor uns liegenden Zukunft (vgl. oben III.5). Er ist ein Kraftakt und Machtwort Gottes auch in Zeiten der Lebensminderung und der Krise, Heil im Zwiespalt von Schuld und Recht, Glück und Unglück, Leid und Wohl. Der Segen begleitet einen Übergang im menschlichen Leben oder geleitet getaufte Christinnen und Christen über die Todesgrenze zum ewigen Leben. Damit ist die theologische Mitte der Kasualien als rites de passage beschrieben, die von Gott her menschlichen Übergang begleiten und vergewissern. Gott selbst, so hoffen und glauben Christinnen und Christen, ist hier auf dem Plan. Hier wird Menschen gleichsam »ein göttlicher Teppich ausgerollt«, auf dem sie in die unmittelbar vor ihnen liegende Zukunft gehen können in diesem Leben, aber auch darüber hinaus. Kasuelle Handlungen der Kirche sind eingebunden in eine gottesdienstliche Feier und ein gemeinsames Fest. Diese Feier ist mehr als nur ein Rahmen zum eigentlichen Fest. In Kasualgottesdiensten wird Leben aus Gottes Hand genommen und wahrgenommen. Wo dies geschieht, da entsteht das Bedürfnis, ja die Notwendigkeit, mit Gott Kontakt zu bekommen: a) ihm zu danken angesichts des geschenkten oder gelebten Lebens b) ihn zu bitten um Begleitung für den nächsten Lebensabschnitt c) für den/die anvertrauten Menschen Fürbitte zu tun d) ihm die Brüche und das Scheitern eines Lebens zu klagen e) ihn zu loben für alles, was er in Christus für uns getan hat. 222
Andere Gottesdienste
Die Musik kann dazu eine Brücke sein: Sie hilft dazu, sich einzufinden in die Situationen des Lobens und Klagens, des Bittens und Dankens, des Innehaltens und Meditierens. Vokale Musik kann auch unmittelbar trösten und das Evangelium verkündigen.
2 Gottesdienste bei Gelegenheit und für bestimmte Zielgruppen »Gottesdienste bei Gelegenheit« finden nicht regelmäßig statt, sondern haben einen besonderen Anlass. Sie sind Feiern mit Öffentlichkeitscharakter und in der Regel auf das kollektive Anliegen einer größeren Gruppe bezogen. Ebenso wie die individuellen Kasualien Taufe, Trauung oder Beerdigung sind diese Gottesdienste um eine Verbindung zwischen christlicher Botschaft, kirchlichem Ritual und Würdigung des konkreten Anlasses bemüht. Ihre traditionellen Vorläufer haben sie in den Wallfahrten oder Kirchweihfesten, aber auch bei nationalen Feiern. Heute kann ein Stadtfest einen Anlass bieten, die Eröffnung einer Kulturwoche oder der Abschluss einer Friedensaktion. Kirchliche wie auch säkulare Anlässe bieten Gelegenheit für einen Gottesdienst. Im volkskirchlichen Kontext vermischt sich aber häufig beides. In besonderen kollektiven Notsituationen, wie etwa bei einer Werksschließung mit Entlassungen oder bei Ausbruch eines Krieges können Demonstration und Gottesdienst nah beieinander stehen. Hier erfordert die Gottesdienstgestaltung eine große strukturelle Klarheit, um sich vor Vereinnahmung zu schützen und die Ambivalenz der erlebten Situation zum Ausdruck bringen und vom Evangelium her deuten zu können. Dies gilt umso mehr, wenn die Veranstaltung mediales Interesse erregt und von großer öffentlicher Wirksamkeit ist. Bei Katastrophen (vgl. 11. September 2001, Tsunami 2004) suchen Menschen Gottesdienste und Kirchen auf, weil sie dort Hilfe zur Bewältigung der bedrohlichen Situation und Antworten auf ihre Fragen nach dem Sinn erwarten. Dazu helfen gottesdienstliche Rituale, die als identitäts- und sinnstiftend erlebt oder als gemeinschaftsrelevant angesehen werden. Eine lange Tradition haben Gottesdienste, die sich an der Lebenswelt oder Lebenssituation bestimmter Zielgruppen orientieren, wie Kinder- oder Jugendgottesdienste. Sie berücksichtigen deren SpraGottesdienste bei Gelegenheit und für bestimmte Zielgruppen
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che, Rituale und Feierformen. Auch die musikalische Gestaltung mit Gitarre oder Band und die Auswahl der Lieder richten sich nach dem Geschmack der Teilnehmenden. Familiengottesdienste oder generationenübergreifende Gottesdienste versuchen eine Brücke zu schlagen zwischen den Gottesdiensten für Kinder und deren Eltern und denen der üblichen Gottesdienstgemeinde. In manchen Gemeinden sind sie seit langer Zeit geistlicher Kern des gottesdienstlichen Lebens. Gottesdienste an besonderen Orten bzw. mit bestimmten (Berufs) gruppen, z. B. in der Schule, im Krankenhaus oder Altenheim, im Gefängnis oder beim Militär, finden meist in säkularen Räumen oder speziellen Kapellen statt und stehen oft in einem institutionellen Rahmen. Sie berücksichtigen die spezifische, manchmal bedrückende oder beängstigende Lebenssituation der Teilnehmenden und richten Feierformen und Verkündigung darauf aus.
3 Alternative Gottesdienste In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich in vielen Gemeinden sogenannte Andere oder Alternative Gottesdienste etabliert. Ihre Gestaltung ist ebenso fantasievoll wie ihre Namen: NachteulenGottesdienst, Go special, Oase, Blaue Stunde, Lebenslinien-Gottesdienst, 0-8-16, Thomasmesse oder schlicht »Der Andere Gottesdienst«, um nur einige zu nennen. Sie gehen von der Erfahrung aus, dass das traditionelle Gottesdienstangebot am Sonntagmorgen viele Menschen nicht mehr erreicht und versuchen, u. a. die sprachliche und ästhetische Gestalt, die Uhrzeit und den Ort, aber auch die Thematik des Gottesdienstes besser mit den veränderten Lebensvollzügen der Menschen und ihren Erwartungen in Einklang zu bringen. In der Regel besteht eine geschärfte Wahrnehmung für die Zielgruppe bzw. das jeweilige Milieu, vielfach auch das Interesse, das Evangelium in einer frischen zeitgenössischen Weise zu vermitteln. Erste Ansätze dazu gab es schon in den 1960er-Jahren mit den sog. »Gottesdiensten in neuer Gestalt«, mit »Beatmessen« oder durch Familiengottesdienste, wie sie seit den 1970er-Jahren gefeiert werden. Ein besonderer Fall sind die sog. »Politischen Nachtgebete« mit einem 224
Andere Gottesdienste
deutlich politisch-prophetischen Akzent. Mit Beginn der 1990er-Jahre und einer neuen Suchbewegung nach Ritualen und zeitgenössischen Verkündigungsformen hat sich das Feld noch weiter ausdifferenziert. Vielfach spricht man diesbezüglich etwas salopp vom »zweiten Programm« oder eben von »alternativen Gottesdiensten« und meint damit all das, was jenseits der »klassischen Agende« und der Kasualgottesdienste liturgisch angeboten wird.
»Alternativ« sind diese Gottesdienste im Blick auf die Zeit (oftmals am Freitag-, Samstag- oder Sonntagabend), auf den Raum und auf die Betonung ästhetischer Dimensionen, nicht nur bei der Musik. Angesprochen werden sollen mit diesen Angeboten meist die kirchlich Distanzierten der mittleren Generation (35–55). Sie werden vielfach als Besucher oder Gäste einer Veranstaltung angeredet, nicht als Gemeinde. Die christliche Gemeinde wird hier eher durch das Team aus Ehren- und Hauptamtlichen dargestellt, in dessen Händen in aller Regel die intensive Vorbereitung und (gemeinsame) Leitung liegen. Die alternativen Gottesdienste sind von ihren Zielen und von ihrer thematischen Ausrichtung her keineswegs homogen. Sie unterscheiden sich u. a. darin vom Sonntagsgottesdienst, dass sie in der Regel nicht dem Kirchenjahr und den vorgegebenen Perikopen (biblische Lesungen bzw. Predigttexte) folgen, sondern ein relevantes Glaubens- oder Lebensthema in den Vordergrund stellen. In fast allen solchen Gottesdiensten spielt populäre Musik (Pop, Jazz, Gospel) eine größere Rolle, zuweilen hat sie die Orgelmusik ganz verdrängt. Manchmal grenzt man sich auch deshalb deutlich vom klassischen Gottesdienst ab, weil dort der Pfarrer/die Pastorin im Talar die (alleinige) Hauptrolle spielt. Die Elemente und Akzente der einzelnen Angebote sind sehr unterschiedlich. Wir stellen im Folgenden zunächst drei seit den mittleren 1990erJahren etablierte Formen vor, die in unterschiedlichen Spielarten Eingang in die gottesdienstliche Szene gefunden haben. 3.1 Thomasmesse Nach einer Konsultation auf VELKD-Ebene wurde 1992 die ursprünglich aus Finnland kommende Thomasmesse in mehreren deutschen Städten zur Erprobung eingeführt. Sie hat sich als Format mit Alternative Gottesdienste
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unterschiedlichen Akzenten in zahlreichen Städten etabliert. Ihre Besonderheiten liegen u. a. in ihrer überkonfessionellen Ausrichtung, ihrer seelsorglichen Zuwendung zum Einzelnen und der Inszenierung sinnfälliger symbolischer Handlungen, wie z. B. die Salbung in einer sog. »offenen Zeit«. In dieser ungefähr zwanzigminütigen Phase können die Menschen unterschiedliche Angebote im Kirchenschiff (z. B. auch Nachgespräch mit Predigerin usw.) wahrnehmen und auswählen. Das Miterleben einer Thomasmesse bedeutet für die Besucher im Vergleich zu einem normalen ›agendarischen‹ Gottesdienst daher eine erweiterte (auch körperliche) Erfahrung. Die Thomasmesse bietet Raum für Emotionen; in den Seelsorge-/ Segnungsbereichen werden Menschen intensiv persönlich begleitet und aufgefangen. Wichtig sind den Initiatoren ein gabenorientierter Vorbereitungsprozess und ein möglichst großer offener Trägerkreis, der weder konfessionell festgelegt noch spirituell eingeengt bzw. fixiert ist. Neue geistliche Lieder sind ebenso selbstverständlich Standard wie die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Ehren- und Hauptamtlichen. Die Thomasmesse ist einer der wenigen alternativen Gottesdienste, in denen regelmäßig das Abendmahl gefeiert wird. Prediger und Predigerinnen sind zuweilen auch Nichtordinierte. Meist besteht eine Thomasmesse aus fünf (bzw. sechs) Teilen, die in gewisser Weise mit der Struktur des Evangelischen Gottesdienstbuches verwandt sind: Ȥ Wir bereiten uns vor, Gott zu begegnen (Hinführung mit Musik und persönlichem Statement) Ȥ Wir lassen uns Gotte Nähe zusagen (Predigt) Ȥ Offene Zeit mit persönlicher Segnung; Gesprächsangebot, Taizéliedern; Kerzenmeditation usw. Ȥ Wir bringen vor Gott, was uns bewegt (Fürbitten, z. T. von einer Gebetswand) Ȥ Wir feiern Gottes Freundlichkeit mit Herzen, Mund und Händen (Abendmahl) Ȥ Wir nehmen Gottes Zutrauen an (Sendung und Segen) Erreicht werden durch diesen Gottesdienst etwas mehr Frauen als Männer, der Altersdurchschnitt liegt um 50 und damit etwas unter 226
Andere Gottesdienste
dem des normalen Gottesdienstes. Lutz Friedrichs hat diesen Typ alternativer Gottesdienste als »rituell-vergewissernd« bezeichnet. 3.2 GoSpecial – Der etwas andere Gottesdienst Das kreative Gottesdienstmodell GoSpecial, das 1995 in der Andreasgemeinde in Niederhöchstadt bei Frankfurt entstanden ist, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der Thomasmesse. Als Ort haben die Initiatoren (nach Anfängen in Kirche und Bürgersaal) inzwischen das größte Kino der Region erkoren, das einmal im Monat um 11 Uhr (und um 16 Uhr) mit mehreren hundert Menschen gefüllt ist. Vorbereitet wird der Gottesdienst von einem Kernteam aus ca. 20–30 Mitarbeitenden aller Sparten, die ihrerseits aus einem Gesamtpool von über hundert Menschen stammen, und als Musikerinnen, Schauspieler usw. den Gottesdienst mitgestalten. Bei der Themenfindung können die Besucherinnen und Besucher im Vorfeld mitbestimmen. Die Planungszeiträume belaufen sich auf ca. sechs Wochen. Die Dramaturgie des GoSpecial folgt durchaus der des agendarischen Gottesdienstes: »Die Besucherinnen und Besucher sollen aus ihrer Welt im Gottesdienst ankommen können, sich mit relevanten geistlichen Inhalten beschäftigen und gestärkt und herausgefordert wieder zurück in den Alltag ausgesandt werden« (Friedrichs, 86). Charakteristisch sind ein zum Thema passendes Theaterstück, eine Predigt am Bistrotisch und das anschließende Kreuzverhör, bei dem der Prediger auf Fragen der Zuhörerinnen spontan antwortet. Aktuelle christliche Pop- oder Rockmusik werden dazwischen dargeboten, bestimmen stilistisch aber auch den gemeinsamen Gesang (sog. Mitsingteil). Etwas Besonderes ist auch das Interview eines »Betroffenen« gegen Ende, das gleichsam eine Art »Annahme« oder »Anwendung« des Gehörten abbildet. Außerdem werden (wie bei der Thomasmesse) Fürbitten eingesammelt und vorgelesen, auf die ein gemeinsam gesprochenes Vaterunser folgt. Den aaronitischen Segen singt man sich gegenseitig zu. Dieses Format wird zwar durch seine Protagonisten geprägt, ist aber auch übertragbar auf andere Orte, wie man an der »gottesdienstlichen Landkarte« im deutschsprachigen Raum unschwer erkennen kann. Das theologische Profil ist missionarisch ausgerichtet und hat Alternative Gottesdienste
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gewisse Affinitäten zum freikirchlichen Gottesdienst. Der Ablauf nach einem lockeren Ankommen mit Musik und einem Snack sieht in der Kurzform so aus: Begrüßung – Musik – Moderation – Musik – Theater Musik – Predigt – Musik – Kreuzverhör Musik – Interview – Mitsingteil Fürbitten – Vaterunser – Segenslied – Moderation – Musik
Das Ziel von GoSpecial hat der Kirchenvorstand der Andreasgemeinde 1995 wie folgt definiert: »Wir wollen einen Raum schaffen für kirchendistanzierte und -ferne Menschen, in dem sie sich in entspannter Atmosphäre mit Gott und Kirche so auseinandersetzen können, dass ihre Vorurteile und Ängste abgebaut werden und sie Interesse bekommen, Gott persönlich kennen zu lernen und in Gemeinschaft mit Christen zu leben.« (Douglass, GoSpecial)
Das Gottesdienstmodell ist gut vernetzt mit anderen Angeboten der Gemeinde (Glaubenskurse, Hauskreise, Schulungen etc.) und wird ständig ausgewertet. Wesentliche Impulse haben die Verantwortlichen durch die »Willow-Creek-Bewegung« bekommen. 3.3. Nachteulen-Gottesdienst Der Nachteulen-Gottesdienst stammt aus dem württembergischen Ludwigsburg und zieht dort seit Oktober 1996 monatlich (am 3. Sonntagabend im Monat) eine große Gemeinde von ca. 800 Besucherinnen und Besuchern an. Er kann gleichsam als weisheitlich- therapeutischer Grundtypus alternativer Gottesdienste gelten und steht für einen volkskirchlichen Typus des zweiten Programms. Dennoch wird auch hier auf die Orgel, ja sogar auf das Gesangbuch verzichtet, meist spielt eine feste Combo (Leitung Hanns-Martin Sauter). Populäre, zuweilen aber auch klassische Kirchenmusik bildet einen wichtigen »Rahmen«: Sie führt hinein ins Thema und trägt die Veranstaltung (z. B. auch durch Unterlegungen) mit. Stilistisch besteht eine große Freiheit. Häufig kommen auf Leinwand projizierte Bilder zum Einsatz. Zielgruppe ist die »säkulare Stadtbevölkerung«, die sonntags um 10 Uhr nicht unbedingt in einen Gottesdienst geht. 228
Andere Gottesdienste
Im Mittelpunkt steht ein Vortrag, der »Rede vom Leben« genannt wird und im Blick auf die Länge eine gewöhnliche Predigt bei weitem (ca. 35–40 min) übersteigt. Die Qualität der Ansprachen gilt als hoch, ohne in eine akademische Vorlesung abzugleiten. Biblische Texte sind in der Regel nicht Ausgangspunkt, wenngleich Bezüge dazu hergestellt werden. Wesentlicher Bestandteil sind außerdem schöpfungsspirituelle Elemente wie Körperübungen und Meditationen (z. B. Fantasiereise, Imaginationen) aus dem therapeutischen Bereich. Die Meditation soll »eine Brücke zur mystischen Erfahrung« (Friedrichs, 39) bilden. Auf eine perfekte Darbietung im Altarraum (Showeffekt) soll bewusst verzichtet werden. Protagonisten waren lange Zeit Pfr. Georg Schützler (Initiator, Organisator, Liturg) und Prof. Dr. Siegfried Zimmer (Prediger), wobei schon längere Zeit auch andere Personen an dieser Stelle zu Wort kommen. Neuerdings leitet Dr. Martin Wendte dieses Format (vgl. auch https://www. friedenskirche-lb.de/citykirche/nachteulen-gottesdienste). Gebete werden zuweilen durch Gebetsgesten unterstützt. Für die Verantwortlichen gehören »Gebet und Gottesdienst zusammen wie Leib und Seele, wobei dem Gebet die Rolle der Seele zukommt« (Friedrichs, 40).
Im Anschluss an den Gottesdienst besteht die Möglichkeit im Bistrokeller der Friedenskirche noch zu verweilen, was meist von ca. hundert Besucherinnen und Besuchern genützt wird. In der Regel sieht die Struktur des Gottesdienstes so aus: Begrüßung – Einstimmung ins Thema (Ohröffner) – Trinitarisches Votum – Lied Entspannungsübung – Lied – Meditation – Gebet Kanon – Rede vom Leben – Lied Gebet mit Musik (Bild) – Vaterunser – Lied – Segen (mit Händedruck) – Musik
Versucht man einen gemeinsamen Nenner aller drei Formen zu benennen, so könnte man sagen, dass sie den Versuch machen, Gottesdienst und Spiritualität in einer anderen, zeitgenössischeren Form zu verknüpfen als der klassische Gottesdienst es tut. Sie reagieren damit auf die Bedingungen in ihrem gesellschaftlich-kulturellen Umfeld, in dem der Pluralismus sich auch als Abwendung von liturAlternative Gottesdienste
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gischen Normen (z. B. Perikopentexte, liturgische Formen) bzw. vom Kirchenjahr darstellt. Sie versuchen – vielfach mit einem erheblichen Mehr an Aufwand und Einsatz – dasselbe Evangelium von der Liebe Gottes in einer anderen Form den Menschen unserer Zeit mitzuteilen. Alle verbindet sie dabei auch eine Suchbewegung nach aktuellen Themen und die Offenheit für Neues, insbesondere für andere, meist populäre (Kirchen)musik. Während die Thomasmesse in mancher Hinsicht (nicht nur dem Namen nach) mit der traditionellen Grundform I (Messtyp) verwandt ist, lassen sich GoSpecial und Nachteulen-Gottesdienst unschwer von Grundform II (Predigtgottesdienst) ableiten. Alle drei Formen verbindet, dass gemeinsam gesungen und gebetet sowie eine Predigt gehört wird. Vaterunser und Segen sind sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner im Sinne eines wiederkehrenden »Ordinariums«. Besonders GoSpecial und NachteulenGottesdienst haben einen dezidiert »unklerikalen« Zugang, eine Predigt im Talar wäre schwer denkbar. 3.4 Erstes und zweites Programm – Beobachtungen zu einem aktuellen Projekt Im Jahr 2008 wurde in der Hannoverschen Landeskirche unter dem Titel Brannte nicht unser Herz eine Gottesdienstinitiative gestartet, bei der insgesamt 24 Gemeinden maßgeblich beteiligt waren. Sie wurden durch ein aufwändiges Bewerbungsverfahren aus 70 Gemeinden der Landeskirche Hannovers ausgewählt. Bedingung für die Bewerbung war ein konkretes Gottesdienstkonzept und die Existenz eines gemischten Teams von Haupt- und Ehrenamtlichen, das in besonderer Weise mit liturgischen Fragen befasst ist. Bei drei zentralen Veranstaltungen im Michaeliskloster Hildesheim mit Vorträgen und Workshops wurden zahlreiche Aspekte der aktuellen liturgischen Diskussion beleuchtet und konkrete Ideen vermittelt, wie Gottesdienste menschenfreundlicher, sinnlicher, stilsicherer usw. gestaltet werden können. Aus dieser Unternehmung folgt hier ein analytischer Blick auf das sog. zweite Programm: Ein großer Teil der Gemeinden hat sich im Blick auf den alternativen Gottesdienst für sonntags um 17 Uhr oder 18 Uhr entschieden, einige wenige bevorzugen 11 Uhr oder 16 Uhr. Zwei Gemein230
Andere Gottesdienste
den gehen bewusst auf den Freitagabend, der Samstagabend scheint dagegen sowohl bei Singles als auch Familien anderen Aktivitäten vorbehalten zu sein. Was die Orte angeht, bleiben die meisten Gemeinden in ihrer Kirche. Eine Gemeinde geht mit ihrem Sommergottesdienst bewusst in eine kleine Kapelle, ein Jugendgottesdienst im Süden Niedersachsens wird wenigstens zeitweise als Open Air-Gottesdienst gefeiert (z. B. in einer Burgruine mit dem sprechenden Motto: nach oben offen). In fast allen Gottesdiensten finden wir neben Musik zu Beginn, Begrüßung, Lied und Eingangsgebet, eine Predigt und manchmal auch ein Credo sowie am Ende Fürbitte, Vaterunser und Segen. Dieses Ergebnis ist – von wenigen Abweichungen abgesehen – äußerst sprechend. Es zeigt, dass Grundform II des Gottesdienstbuches so flexibel ist, dass darin auch viele Neuentwicklungen des zweiten Programms integrierbar sind. Erstaunlich ist, dass gerade die unkonventionellen Jugendgottesdienste, die sich wenig an der klassischen Liturgie orientieren, eine deutliche Empfehlung aussprechen: nicht jedes Mal das Rad neu erfinden, sich auf Predigt und Gebet konzentrieren, wiedererkennbar bleiben mit Titel und Uhrzeit. Selbst die dezidierten Verfechter eines innovativen Gottesdienstes spüren, dass man nicht jedes Mal etwas völlig Neues entwickeln kann und so etwas wie eine »Kundenbindung« stattfinden muss. Was geschieht im Einzelnen? In der Eingangssituation versuchen viele Angebote die Besucherinnen und Besucher »abzuholen«, d. h. das Ankommen durch eine Hinführung zum Thema zu erleichtern und eine atmosphärische Brücke (vielfach durch Musik) zu bauen. Oftmals wird es hier schon persönlich und deshalb auch sehr dicht. Diese Konzentration tut dem Gottesdienst gut, das hohe Tempo, das in der klassischen Agende die Stücke in der Eröffnung sehr rasch aufeinander folgen lässt, ist aufgebrochen. Glaubensbekenntnisse werden zuweilen auch in zeitgenössischen Formulierungen (z. B. von Jugendlichen) oder in popularmusikalischem Gewand, kombiniert mit einem Poptitel, gleichsam als Collage präsentiert. Nahezu alle Gottesdienste haben einen Akzent beim Fürbittengebet, einige davon sind offen für freie Formulierungen oder solche, die im Verlauf des Gottesdienstes gesammelt worden sind. Dadurch gewinnt der Gottesdienst an Lebendigkeit und besonders Alternative Gottesdienste
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an geistlicher Authentizität. Die liturgische Einbindung geschieht vielfach durch ein gesungenes Kyrie o. ä. In keinem Gottesdienst fehlt der Segen, zuweilen reich entfaltet als Segensbitte und zugesprochener bzw. gesungener Segen. Fast alle Gemeinden sind aufgeschlossen für populäre Kirchenmusik (NGL, Gospel u. a.) und beziehen dazu eine Band, einen Gospel- oder Popchor aus der Region oder aus der eigenen Gemeinde ein. Sie nehmen damit wesentliche Einsichten der Milieustudien und der in Hildesheim gegebenen Impulse auf, ohne sie zu normieren oder absolut zu setzen. In wenigen Fällen ist auch eine dezidierte Abwehr von Orgelmusik und »Agende I« festzustellen. Nur zu wenigen der Gottesdienste des Projektes gehört das Abendmahl, in einem Fall wird es dezidiert mit Kindern gefeiert, in einem anderen Fall als Agapefeier. Das Anspiel oder Theaterstück ist ein typisches Kennzeichen für viele alternativen Gottesdienste, besonders wenn Jugendliche erreicht werden sollen. Bei etlichen Beispielen ist hier sprachlich und theologisch sicher noch einiges nachzuarbeiten. Vieles erscheint etwas platt oder einfach nur improvisiert. Literarische Bausteine oder Filmausschnitte sind dagegen an etlichen Stellen gut integriert. In einer Gemeinde gibt es einen expliziten Literatur- oder Filmgottesdienst. Gedichte und Filmausschnitte dienen dazu, das Thema des Gottesdienstes zu profilieren bzw. geben den roten Faden für die gesamte Dramaturgie vor. Zielgruppen sind in der Regel die 30–55-Jährigen, zuweilen gilt die Einladung auch Jüngeren bzw. solchen, die Popmusik oder Gospel mögen. Einzelne Formate kümmern sich besonders um die Familien und bieten daher auch eine Spielecke für Kids bzw. eine auf Kinder ausgerichtete Eingangsliturgie an, was für alle gewinnbringend scheint. Zuweilen werden Konfirmanden bzw. Konfirmandeneltern als Zielgruppe bzw. als Mitgestaltende bewusst in den Blick genommen und damit eine neue »Ressource« erschlossen. Einige Elemente (z. B. Mitmachaktionen; Tanzeinlage, Stationen in der Kirche; Geschenkaktion, Kollekteninterview) können als Alleinstellungsmerkmal einzelner Formen gelten und geben dem jeweiligen Gottesdienst ein besonderes Gepräge. Thematisch orientieren sich nur wenige am Kirchenjahr; alle formulieren für die einzelnen Gottesdienste ein sprechendes Motto. Zu den bevorzugten Themen 232
Andere Gottesdienste
gehören Liebe und Partnerschaft; Leben/Lebenssinn, Durst nach Leben, Lebensalter und Generationen; Sünde und Verzeihen. Problematisch scheint mir allerdings, dass manche Formate auf ein biblisches Wort im Originalton ganz verzichten und dies nur in übertragener Weise innerhalb der Predigt oder der Theaterszene »einspielen«. Damit wird ein zentraler Aspekt innerhalb des Gottesdienstes ausgeklammert. Auch der weitgehende Verzicht auf das Abendmahl (und die Taufe) ist nicht unbedenklich, was allerdings nicht heißen muss, dass in diesen Gemeinden generell weniger Abendmahlsfeiern stattfinden als anderswo. Vielfach gibt es eine von den Gemeinden rege wahrgenommene Rückmeldekultur, die sich in den letzten Jahren auch schon erheblich ausdifferenziert hat; ein signifikanter Unterschied zum »Normalfall« am Sonntagmorgen.
Alternative Gottesdienste
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V Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens 1 Gottesdienst und Spiritualität Spirituelle Erfahrungen scheinen heute fast überall stattfinden zu können: beim überwältigenden Sonnenaufgang auf einem Viertausender oder einer eindrücklichen Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg, bei einem fulminanten Popkonzert oder bei der anrührenden Geburt eines Kindes. Religiöse Erfahrung oder vielmehr das, was Menschen als solche deuten, ist also keinesfalls auf den Raum der Kirche beschränkt; sie scheint vielmehr so bunt wie die spätmoderne Welt, in der wir leben. Spirituelle »Angebote« zeichnen sich daher nicht selten durch eine Vermischung christlicher und anderer (z. B. fernöstlicher) Elemente aus. Michael Beintker spricht gar vom Phänomen einer Esperanto-Spiritualität. All dies fordert uns heraus, ganz neu nach dem Profil evangelischer Spiritualität zu fragen und das, was bis jetzt über den Gottesdienst im engeren Sinne gesagt wurde, nun auch auf den Gottesdienst im weiteren Sinne – gemeint ist unser Christsein im Alltag – zu beziehen. Zugespitzt: Es geht um das Verhältnis von Liturgie und Spiritualität, mithin um die Frage, wie christlicher Glaube, vom Gottesdienst genährt, im Alltag seine Kraft gewinnt. Welche Symbole und Klänge, welche Sprach- und Lebensformen sind es, die wir aus der gottesdienstlichen Versammlung der christlichen Gemeinde mitnehmen können in unseren Alltag, ja die uns gleichsam durchtragen, wenn unser Glaube auf die Probe gestellt wird? 1.1 Die Formen des Gottesdienstes – transparent im Alltag So wollen wir nun also gottesdienstliche Elemente im Alltag entdecken und ihre geistliche bzw. spirituelle Tragweite ausloten. Zuallererst ist an das Läuten der Kirchenglocken zu erinnern. Nicht nur zu jeder halben und vollen Stunde schlagen sie, sondern läuten auch an jedem Morgen, Mittag und Abend für eine längere Zeit und rufen damit zum Gebet, das- wie wir gesehen haben – in den Klöstern ja zu festen Tagzeiten (Horen) stattfand. Diese akustische Einladung ist 234
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
der des sonntäglichen Geläuts nicht unähnlich, wird aber im Alltagstrubel vielfach ignoriert, obwohl sie die Möglichkeit des Innehaltens bietet, um Dankbarkeit oder auch einen Stoßseufzer vor Gott zu bringen oder auch an einen lieben Menschen zu denken. Was für Muslime der Ruf des Muezzins ist, ist für Christen das Morgen-, Mittag- und Abendläuten (meist 7 Uhr; 12 und 18 Uhr). Bisweilen gibt es auch jeden Freitag ein Dreiuhrläuten, das an die Sterbestunde Jesu erinnert. Jeder christliche Gottesdienst geschieht im Namen des dreieinigen Gottes, der pointiert mit dem trinitarischen Votum oder/und Gruß eröffnet wird. Damit wird die versammelte Gemeinde zugleich an ihre Taufe erinnert, die Heilszusage Gottes, die unverbrüchlich über jedem christlichen Leben steht. Im Süddeutschen hat dieser prominente gottesdienstliche Ort Eingang in die vermeintlich ganz profane Begrüßung gefunden. Wenn man sagt: »Grüß Gott« oder noch schöner »Grüß Dich/Sie Gott«, dann ist das ein kleiner Segenswunsch. Für katholische Christen ist die Erinnerung an die Taufe bei jedem Eintritt in eine Kirche mit einem Innehalten am Weihwasserbecken verbunden, dem eine Berührung der Stirn mit Wasser und Kreuzzeichen folgen. Aber auch evangelische Christen entdecken neu die Kraft des Bekreuzigens, das mit einem Morgen- bzw. Abendsegen verbunden werden kann. Luther hat dies auch getan und dieses kleine Ritual so eröffnet: »Das walte Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist …« Im gottesdienstlichen Sündenbekenntnis drückt sich eine Grunderfahrung des Menschseins aus: Wir werden schuldig vor Gott und vor anderen Menschen. Ursprünglich verweist das Sündenbekenntnis auf die Beichte als institutionalisierten Ort, wo Schuld in einem geschützten Raum ausgesprochen, im Licht Gottes bewältigt und ausgeräumt werden kann. Leider ist die Beichte im evangelischen Kontext nur noch sehr selten Praxis. Pfarrerinnen und Pfarrer machen gute Erfahrungen, indem sie für eine bestimmte Zeit in der Woche eine »Sprechstunde« anbieten oder sich gar in der Kirche (z. B. in der Sakristei) aufhalten. Sie eröffnen damit, allen Stressfaktoren des Pfarramts trotzend, ein Gesprächsangebot ohne Anmeldezwang, das meist gerne angenommen wird. An dieser Stelle sei aber auch daran erinnert, dass die »Beichte« nach evangelischem Verständnis nicht an die Lossprechung durch einen Pfarrer oder Gottesdienst und Spiritualität
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eine Pastorin gebunden ist, sie ist Sache des allgemeinen Priestertums. Im geschwisterlichen Gespräch können sich Christinnen und Christen auf Augenhöhe Trost und Entlastung zusprechen. Als einfachste Form eines Sündenbekenntnisses im Alltag bietet sich (neben der Vergebungsbitte des Vaterunsers) Psalm 51,12f an: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gibt mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. (vgl. auch I.4 und III. 2.2) Dazu gehört allerdings auch, dass eigene Fehler im Gespräch mit anderen Menschen benannt und – sofern möglich – durch die Bitte um Verzeihung ausgeräumt werden.
Im liturgischen Kyrie kommt eine geistliche Grundhaltung zum Ausdruck, die sich unschwer auf das christliche Leben übertragen lässt: Wir strecken uns aus nach dem Erbarmen des dreieinigen Gottes, das uns an Leib, Seele und Geist erreichen möge: in materiellen Nöten des Alltags ebenso wie in Glaubenszweifeln oder Verlustängsten, in beruflichen Schwierigkeiten ebenso wie in Partnerschaftskrisen. Einfache kleine Kyrie-Rufe (vgl. EG 178,11 oder FS 76) können uns musikalisch begleiten. Das Gloria beleuchtet dagegen die andere Seite unserer Gottesbeziehung und Welterfahrung. Sein ursprünglicher Ort ist der Lobpreis der Engel auf den Feldern von Bethlehem angesichts der frohen Botschaft von Weihnachten. Lob und Dank singen und sagen wir auch angesichts der großen Güte Gottes, die jeden Morgen neu ist und uns immer wieder zum Staunen bringt. Dazu passt der Kanon: Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn. Er bildet schon in seiner Melodie einen Sonnenauf- und -untergang ab. Für viele Menschen ist es hilfreich, wenn diese elementaren Formen des Singens und Betens auch mit körperlichen Ausdrucksformen einhergehen, d. h. Gebete verknüpft werden mit leiblichen Gesten. Zum Kyrie passt am besten die Gebetsgeste der gefalteten Hände, die ausdrückt, dass wir uns Gott ganz ausliefern. Die passende Gebetsgeste zum Gloria ist die sog. Orante-Haltung, die wir schon in römischen Katakomben finden. Beide Hände sind geöffnet und erhoben. Diese Haltung bringt uns Gott förmlich ein Stückchen näher. Sie drückt schon äußerlich große Kraft und Dankbarkeit aus. Fremd ist vielen die stärkste Ausdrucksform des Betens, die alte Geste des 236
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
Niederkniens (Proskynese). Sie birgt eine große emotionale Wirkung in sich. Wie wäre es, wenn wir bei einem persönlichen Nachtgebet oder schon am Morgen einmal diese Geste versuchten? Wir sehen: Schon die Formen der Eingangsliturgie sind unschwer mit einer Reihe von sinnlichen Zeichen (Klang, Geste, Berührung) zu verbinden, die im Alltag leicht erkennbar und praktizierbar sind. In ähnlicher Weise gilt dies auch für den Schluss, der durch Fürbitte, Vaterunser und Segen gekennzeichnet ist. Die gottesdienstlichen Fürbitten markieren innerhalb des Gottesdienstes – wie oben (III. 2.5) beschrieben – einen deutlichen Perspektivwechsel: Die christliche Gemeinde wendet sich hier im Gegensatz zum Eingangsgebet mit deutlich veränderten Vorzeichen Gott zu: Christen achten auf die ihnen anvertraute Schöpfung; sie sorgen sich um die Menschen in ihrer Umwelt und beten für die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft. Dieser Perspektivwechsel ist auch im Alltag immer wieder nötig und möglich. In einer bewusst »reservierten« oder spontan besetzten Zeit (z. B. am Morgen oder am Abend) können wir für andere Menschen Fürbitte tun und damit das Gebet, das die Welt umspannt, in unseren Herzen und Häusern weiterleben lassen. Ein schönes Symbol dafür ist eine entzündete Kerze. Das Vaterunser ist gleichsam die »eiserne Ration« gottesdienstlichen Gebetes und kann – allen Traditionsabbrüchen trotzend – als das Elementarstück christlichen Glaubens gelten, das auch bei öffentlichen Anlässen noch vorausgesetzt werden kann. Gerade der rituelle Aspekt der knappen »geronnenen Form« ist dabei entscheidend. Wir wenden uns vertrauensvoll, ja beinahe zärtlich an den himmlischen Vater (Abba = Papa) und rühmen seinen heiligen Namen. Wir bitten um das tägliche Brot, das als Platzhalter für alle Bedürfnisse im Alltag steht, und werden achtsam auf unsere Mitmenschen, an denen wir immer wieder schuldig werden. Wir machen uns aber auch bewusst, dass jeder Augenblick unseres Lebens, an dem wir nicht in den »Abgrund« der Versuchung geraten, sich Gottes gütiger Zuwendung verdankt. Ein, wenn nicht der Höhepunkt eines jeden Gottesdienstes ist der Segen, der uns unter Gottes leuchtendem Angesicht in den Alltag entlässt. Welche Möglichkeiten gibt es, an dieses Kraftfeld göttlicher Energie anzuknüpfen? Unser Sprachgebrauch Reste einer geistlichen Sinndeutung von Abschied. Adieu/Addio/Adios ist eine Gottesdienst und Spiritualität
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in den benachbarten romanischen Sprachen geläufige Abschiedsformel, die sich im süddeutschen Ade noch wiederfindet. Aber auch das bayerische »B’hiatdi« – ausführlich: Behüt dich Gott – ist eine Verlängerung des gottesdienstlichen Segens in den Alltag hinein. Daran anknüpfend ist es eine – im besten Sinne des Wortes segensreiche – Angelegenheit, wenn Eltern beim Abschied ihre Kinder segnen oder ihnen schlicht ein Kreuz auf die Stirn oder in die Hand zeichnen. Vielleicht gibt es auch eine Segensstrophe, die man gemeinsam sprechen oder singen kann. Denkbar ist die Segensbitte Komm, Herr, segne uns (EG 170) oder Kehrverse mit Zuspruchcharakter wie etwa Fürchte dich nicht (LW 59). Aber auch der aaronitische Segen Der Herr segne dich (EG Württ. 563, vgl. fT 201) und der bekannte Kanon Ausgang und Eingang (EG 174) sind dafür gut geeignet. Besonders empfohlen seien Worte aus Psalm 121, die durch ihre Struktur an den trinitarischen bzw. aaronitischen Segen erinnern (vgl. oben III.7.9, 216) Zwischen Eingang und Ausgang des Gottesdienstes finden wir zahlreiche weitere Stücke von prägender Kraft, zu denen alle (weiteren) Formen des Gebets, der Musik und der Verkündigung des Wortes Gottes gehören. Die Feier des Abendmahls ist in ihrer Gemeinschaft stiftenden und christologischen Bedeutung singulär. Trotzdem hat sie ihre Wurzeln in einem alltäglichen Essen Jesu mit den Menschen seiner Zeit. So kann schon das bewusste Essen eines Stück trockenen Brotes oder das Kosten eines Schluck Weins oder Traubensafts ein Stück »Vorgeschmack« des Mahls am Tisch des Herrn sein. Überhaupt birgt jede gemeinsam eingenommene Mahlzeit potenziell Erfahrungen intensiver geschwisterlicher Gemeinschaft in sich. Darum ist es von großer Bedeutung, dass wir in Familie und Partnerschaft die Kultur der Tischgemeinschaft pflegen, wozu im weiteren Sinn dann auch die Gastfreundschaft und die Fürsorge für andere gehört. An dieser Stelle fließen liturgische, diakonische, spirituelle und kulturelle Aspekte zusammen. 1.2 Gebet – Schriftmeditation und »Anfechtung« im Alltag (Oratio, Meditatio, Tentatio) Beinahe noch elementarer für unser Gottesverhältnis ist allerdings der (tägliche) Umgang mit der Bibel und dem Gebet. Um nicht einfach nur formal auf Bibellese und persönliches Beten zu verweisen, 238
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versuchen wir, das Thema Spiritualität in einer pointierten Dreiheit von Gebet, Wort und »Anfechtung« zu entfalten: Der Mönch und Bibelgelehrte Martin Luther hat aus seiner Beschäftigung mit Psalm 119, dem goldenen ABC des Psalters, drei Grundkoordinaten christlicher Existenz entwickelt, die er mit den lateinischen Begriffen Oratio, Meditatio und Tentatio (Gebet, Schriftmeditation und Anfechtung) bezeichnet hat. Alle drei Aspekte verbinden Gottesdienst und Spiritualität; zugleich sind sie auch elementare Formen existenzieller Theologie. In seiner Vorrede zu den Wittenberger Schriften (1539) setzt der Theologe des Wortes erstaunlicherweise nicht mit der Heiligen Schrift, sondern – analog zur Eingangsliturgie des Gottesdienstes – mit dem Gebet ein. Er beschreibt dabei im Wesentlichen die Haltung eines demütigen und ernsthaften Glaubens: »Knie nieder in deinem Kämmerlein und bitte mit rechter Demut und Ernst Gott, dass er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen heiligen Geist geben, der dich erleuchte, leite und dir Verstand gebe, […] auf dass man nicht mit der Vernunft drein falle und selbst Meister werde.« (WA 50,659)
Es geht darum, aus der Stille heraus um den Heiligen Geist zu bitten und gleichsam hineingezogen zu werden in das innergöttliche Gespräch des Vaters und des Sohnes mit dem heiligen Geist. Dass wir dabei etwas von der Gegenwart Gottes spüren, ist zu erwarten, wenn auch nicht verfügbar. Und dennoch können wir eine aufrichtige Haltung »echten« Betens einüben. Dazu helfen uns geprägte Formulierungen, wie wir sie im Vaterunser und in den biblischen Psalmen finden. Im Nachbuchstabieren und »Wiederkäuen« dieser z. T. fast 3000 Jahre alten Gebete werden wir offen für Gott. So ereignet sich – vor dem eigenen Formulieren eines konkreten Gebetes – ein Hinhören, ein »Gegenwärtigwerden Gottes«. Damit ist eine gleichsam passive Grundvoraussetzung des Betens im Blick, die besonders die Eröffnungssituation des Gottesdienstes prägt, aber auch der geistliche cantus firmus für unseren Alltag ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, ob wir und wie wir auch in der Familie mit unseren Kindern beten. Ob dies mit vorformulierten oder freien Gebeten oder in spontaner Abwechslung von beidem geschieht, sei jedem freigestellt, die Hauptsache ist, dass es überhaupt passiert und Getaufte mit Gott im Gespräch bleiben. Gottesdienst und Spiritualität
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Freilich ist vor einer Vergesetzlichung zu warnen. Beten geschieht in evangelischer Freiheit und ist – bei allem Respekt vor geprägten Formen – alles in allem nicht stereotyp, sondern so facettenreich wie unser Glaube, ja wie Gott selbst. Luthers Begriff der Meditatio ist recht weit entfernt von dem, was wir heute als Meditation verstehen. Er meint weder eine religiöse Innenschau noch eine bestimmte Meditationstechnik, sondern vielmehr ein »In-die-Mitte-Stellen« des göttlichen Wortes. Der Glaubende bewegt sich geistlich um die Mitte des Wortes oder besser: Er wird von dieser Mitte bewegt und neu ausgerichtet. »Zum andern sollst du meditieren, das ist: Nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und buchstabische Wort im Buch immer treiben und reiben, lesen und widerlesen, mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der heilige Geist damit meinet. Und hüte dich, dass du nicht überdrüssig werdest oder denkst, du hättest es mit ein- oder zweimal genug gelesen, gehört und verstehst alles von Grund auf.« (WA 50,659)
In der Meditatio geht es darum, die Worte der Bibel in Gedanken, im Mund und im Herzen zu bewegen, mithin um ein sinnlich-leibliches Klanggeschehen. Zunächst ist dabei gewiss an die persönliche Andacht im »stillen Kämmerlein« zu denken, die allerdings offen ist auch für eine gemeinsame »Übung« von Christen (z. B. in der Ehe oder in einer geistlichen Gemeinschaft). Luther möchte damit einer »spiritualistischen« Abwertung leiblicher Formen von Wort, Musik und Sakrament entgegentreten: »Denn Gott will dir seinen Geist nicht geben ohne das äußerliche Wort, da richt dich nach. Denn er hat’s nicht vergeblich befohlen, äußerlich zu schreiben, predigen, lesen, hören, singen, sagen etc.« (WA 50,659)
Die Heilige Schrift zu meditieren, ist also keine Bewegung reiner Innerlichkeit, sondern ein Ereignis, das Leib und Seele brauchen, damit der lebendige Gott uns anreden kann. Die regelmäßige Lektüre der Bibel, z. B. mit den Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine, die ein alttestamentliches Wort (Losung) mit einer neutestamentlichen Auslegung (Lehrtext) verbinden, ist gleichsam eine Fortsetzung der sonntäglichen Schriftlesung und Ausdruck einer protestantisch geprägten Frömmigkeit, die aus dem biblischen Wort lebt. Hier geschieht ein Stück 240
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
christlicher Lebensdeutung im Alltag, die uns wieder zum Beten hinführt. Das lateinische Wort Tentatio schließlich meint wörtlich »Spannung«, im weiteren Sinne auch Anfechtung oder Versuchung. Wir leben nicht in einem Vakuum, sondern mitten in der Welt mit ihren schönen und beglückenden, aber auch mit ihren schrecklichen und beängstigenden Seiten. Auf den ersten Blick verbinden uns Situationen innerer und äußerer Spannung mit allen Menschen, Christen und Nichtchristen. Anfechtung meint aber auch etwas Geistliches: Es geht um die Erfahrung, dass Gott zeitweise nicht spürbar, nicht gegenwärtig, nicht kräftig, sondern ohnmächtig scheint, ja uns förmlich abhandenkommt. Alles gerät ins Wanken: die Beziehung zu anderen Menschen, zu Gott und zu mir selbst. Viele Psalmen reden davon: a) Existenzielle Not: Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? (Ps 13,2) b) Identitätskrise: Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch. (Ps 22,7) c) Gotteskrise: Er machte Finsternis ringsum zu seinem Zelt; in schwarzen, dicken Wolken war er verborgen. (Ps 18,12) d) Beziehungskrise: Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und sagen: Wo ist nun dein Gott?! (Ps 22,8) Die Verse machen transparent, wie Glaube auf die Probe gestellt wird, wie Menschen in einer zwar unbequemen, aber doch auch produktiven Weise auf Gott zurückgeworfen werden. Luther schreibt dazu: »Zum dritten ist da Tentatio, Anfechtung. Die ist der Prüfstein, die lehret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfahren, wie recht und wahrhaftig, wie süße und lieblich, wie mächtig und tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit.« (WA 50,660)
Kein Zweifel: Die meisten Menschen sind in Krisen nicht nur bedürftiger, sondern auch offener für Gott. Hier muss sich das bewähren, was wir im Gottesdienst von Gott gehört und im Gebet vor Gott ausgebreitet haben. Der Begriff des tröstenden Gotteswortes ist dabei so weit wie möglich zu fassen: Nicht nur ein Bibelspruch, auch ein tröstendes Lied oder Musikstück, ein freundlicher Blick, eine ermutigende Geste, eine hilfreiche Tat können helfen. Gottesdienst und Spiritualität
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Evangelische Spiritualität, verortet zwischen den drei Polen von Gebet, Wortmeditation und Anfechtung, ist ein Schatz, mit dem man gut leben, ja sogar getrost sterben kann. Besonders hilfreich und kostbar sind dabei die Psalmen: Sie zeichnen ein authentisches Menschenbild, bieten eine realistische Weltsicht und sind beseelt von einem tiefen Gottvertrauen. 1.3 Spiritualität und Emotion – geistlicher Umgang mit den Psalmen Psalmen sind Gebete, die Emotionen nicht ausblenden, sondern in elementarer Weise entfalten. Dazu eine kurze Vergegenwärtigung: Tauglicher als unser moderner Begriff der Emotion ist der alte Ausdruck Affekt (von lat. afficere = bewirken, auslösen). Er hat philosophisch und theologisch eine lange Geschichte. Erste christliche Belege finden wir bei Athanasius und dem Kirchenvater Augustin. In seiner zweiten Psalmenvorrede (1528) schreibt Luther: »Denn ein menschlich Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, welches die Sturmwinde von den vier Orten der Welt treiben. Hier stößt Furcht und Sorge vor zukünftigem Unfall; dort fähret Grämen her und Traurigkeit von gegenwärtigem Übel. Hier weht Hoffnung und Vermessenheit von zukünftigem Glück; dort bläset her Sicherheit und Freude in gegenwärtigen Gütern. Denn wer in Furcht und Not steckt, redet ganz anders von Unfall, als der in Freuden schwebt. Und wer in Freuden schwebt, redet und singet ganz anders, als der in Furcht steckt.« (Bornkamm, 67)
Das Bild des Schiffes für das Herz als Personenzentrum des Menschen enthält sowohl das Moment aktiven Handelns als auch passiven Empfangens/Erleidens in der Spannung von Freude und Trauer bzw. Furcht und Hoffnung. Wir leiden in Trauer und freuen uns an unserem Glück im Hier und Jetzt. Aber auch die Angst vor möglichem Unglück sowie die Hoffnung und Zuversicht auf Hilfe in der Zukunft gehören dazu. Der Psalter lädt uns dazu ein, uns hineinzubegeben und gleichzeitig zu werden mit Menschen, die vor uns mit solchen Erfahrungen und Gefühlen geglaubt haben. Er führt uns in den reichen Paradiesgarten der Lobpsalmen, aber auch das höllische Dunkel der Klagepsalmen. Der Heilige Geist selbst – so Luther – bereitet 242
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»mit diesem Buch [der Psalmen] sowohl die Worte als auch die Affekte vor, mit denen wir den himmlischen Vater anreden und bitten sollen im Blick auf das, was er in den übrigen Büchern [der Bibel] zu tun und nachzuahmen gelehrt hat, damit keiner etwas vermissen kann, was ihm zu seinem Heil nötig ist.«
Durch den regelmäßigen Umgang mit den Psalmen sind wir für manche Erfahrungen gewappnet, die auch zu einem späteren Zeitpunkt noch auf uns zukommen können. Die Psalmen, darüber hinaus aber auch viele an ihnen orientierte Lieder, können in uns Muster ausprägen und Räume eröffnen, in die wir uns immer wieder hineinbegeben können. Diesen geistlichen Räumen und Formen gilt es immer wieder nach zuspüren und dabei nie den Bezug auf Christus hin zu verlieren, der Mitte und Quelle jeder christlichen Spiritualität ist: der uns zugewandte Jesus von Nazareth, der das nahe Reich Gottes verkündigt, Randfiguren an seinen Tisch einlädt und Kranke gesund macht; der (mit uns) klagende Christus, der die Nacht der Gottverlassenheit am Kreuz ausgehalten hat und der österliche Sieger, der die Mächte der Finsternis ein für allemal besiegt hat.
2 Gottesdienst und Gemeindeentwicklung 2.1 Wachsen gegen den Trend – der Gottesdienst als Mitte der Gemeinde!? Was haben Gemeindeentwicklung und Gottesdienst miteinander zu tun? Wie hängt das zentrale Ereignis der christlichen Gemeinde mit anderen kirchlichen Lebensäußerungen zusammen? Eine von Wilfried Härle u. a. durchgeführte Studie hat sich damit auseinandergesetzt. Sie fragte auch: Wo gibt es bei uns in Deutschland innerhalb der Volkskirche noch wachsende Gemeinden, und was zeichnet sie aus? Eine zentrale Einsicht des Buches lautet: »Die an dieser Untersuchung beteiligten Gemeinden haben durchweg die Erfahrung gemacht, dass der Gottesdienst das Zentrum und Herzstück des Gemeindelebens und des Gemeindewachstums bildet. Diese Einsicht hat sich in einzelnen Fällen sogar gegen die mitgebrachte Überzeugung der Gemeinde durchgesetzt, sich gewissermaßen aufgedrängt.« (Härle/Augenstein, 319)
Was hat diese Einsicht ausgelöst oder befördert? a) Oft haben die Gemeinden einen Leitbildprozess hinter sich. Dabei wurde der Gottesdienst meist kritisch untersucht und bisGottesdienst und Gemeindeentwicklung
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weilen wurden bewusst neue Wege eingeschlagen, wobei Einzelne durchaus fernblieben. Daraufhin war eine Erneuerung der Liturgie und die Gewinnung anderer Menschen möglich. b) Gelingende Gemeindeentwicklung und Gottesdiensterneuerung geschehen oft durch ein profiliertes Gottesdienstkonzept mit unterschiedlichen Programmen für verschiedene Zielgruppen bzw. Milieus (vgl. I.5). Ich meine: Wir können nicht ohne den immer wieder neuen Blick auf die Menschen in unserer Gesellschaft und unseren Gemeinden, den traditionellen Gottesdienst als das gemeinsame Angebot für alle fortschreiben. Dies zeigt auch die 2019 von der Liturgischen Konferenz publizierte Kirchgangsstudie (vgl. Bechtold/Koll): Menschen quer durch verschiedene Alters- und Zielgruppen bzw. Frömmigkeitstypen kennen und besuchen unterschiedliche Gottesdienstformate. Die Akzeptanz des sonntäglichen »Hauptgottesdienstes« geht deutlich zurück. Besonders gefragt sind Gottesdienste mit einem speziellen Musikprofil, Kasualien und alternative Gottesdienstformate. Wir sollten deshalb intensiver fragen, was sich Menschen spirituell wünschen und sie dann auch gezielt zu Gottesdiensten einladen. Eine Initiative dafür ist »Gottesdienst erleben« auf dem Hintergrund des englischen »Back-to-Church-Sunday«, der in etlichen Landeskirchen eine neue Bewegung in Richtung Einladungskultur angestoßen hat (in Hannover 2019: Freiraum feiern, vgl. auch www.gottesdiensterleben.de). c) Gottesdiensterneuerung kann auch dort geschehen, wo der Gottesdienst immer noch ganz bewusst als integrative Veranstaltung der ganzen Gemeinde angesehen wird. Gottesdienste sind dann überzeugend, wenn ihre Relevanz für den Alltag und ihre Verknüpfung mit anderen Lebensäußerungen von Kirche, z. B. sozialdiakonischer oder missionarischer bzw. kulturell-ästhetischer Art, deutlich wird. Wichtig ist auch dass Menschen, die an spezifischen Stellen in der Gemeinde mitarbeiten, regelmäßig (aktiv) im Gottesdienst vorkommen. d) Das ekklesiologische Nachdenken hat sich inzwischen deutlich in Richtung alternativer, d. h. auch »überparochialer« Gemeindeformen weiterentwickelt. Dies zeigt eine von der EKD-Synode 2018 in Auftrag gegebene Studie, die als Atlas neue Gemeindeformen 2019 publiziert wurde. Darin wird u. a. deutlich (Atlas, 6f), das neben der Ortsgemeinde auch Hausgemeinden und überparochiale Personalgemeinden sowie unorthodoxe fresh-X-Formen als Orte und Formen 244
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
gottesdienstlicher Weiterentwicklung zu beobachten sind. Erstaunlich ist in den darin dokumentierten ca. 221 wachsenden oder im Aufbruch befindlichen Gemeinden auch eine neue Liebe zum Abendmahl. e) Die Erfahrungen in der Corona-Pandamie 2020 zeigen eine neue Offenheit für digitale Formen bzw. eine neue Sensibilität für das Miteinander von Wort und Musik. Dabei kann die Musik selbst predigen und das Wort kommentieren oder umgedreht: Agendarische Strukturen werden durchlässiger und dialogische Formen (z. B. beim Segen) gestärkt. 2.2 Brannte nicht unser Herz!« – Überlegungen zu einem nachhaltigen Projekt Unter dem Motto »Brannte nicht unser Herz?« – Gottesdienst lebendig feiern hat das Michaeliskloster Hildesheim auf Anregung einer landeskirchlichen Stiftung eine breit angelegte Gottesdienstinitiative entwickelt (vgl. oben IV, 3.4). Auf eine landeskirchenweite Ausschreibung hin haben sich im Jahr 2007 dafür 70 Gemeinden beworben. Bedingungen für die Teilnahme waren ein formuliertes Gottesdienstkonzept oder wenigstens eine Konzeptidee und die Existenz eines Gottesdienstteams (Mischung aus Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen). Eine achtköpfige Steuerungsgruppe hat dann 24 Gemeinden nach vier zentralen Kriterien ausgewählt: Originalität, Nachhaltigkeit, theologische Reflexion, Zielgruppenorientierung. Die Bewerbungen zeigten, dass viele »lebendige Gottesdienste« bereits landauf landab gefeiert werden. Es war eine beglückende Erfahrung, zu sehen, welch ein liturgischer Reichtum in unserer Kirche lebt: liebevoll gestaltete Gottesdienste nach den Grundformen des Evangelischen Gottesdienstbuches, daneben aber auch eine große Vielfalt im sog. »Zweiten Programm«. Vielerorts herrscht Aufbruchstimmung in Sachen Gottesdienst. Im Mittelpunkt des Projekts standen drei zweitägige Veranstaltungen in Hildesheim mit Plenumsreferaten und Workshops. Die inhaltliche Begleitung vor Ort gehörte ebenso dazu wie das Angebot, 1000 Euro (Stiftungsgelder) für den gemeindlichen Gottesdienst oder Kirchenraum einzusetzen.
Was können wir aus den Erfahrungen in diesem Projekt auf den Zusammenhang von Gottesdienst und Gemeindeaufbau schließen? Gottesdienst und Gemeindeentwicklung
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Eine Gemeinde spricht explizit von der Wiederentdeckung des Gottesdienstes als Zentrum der Gemeinde. Vielfach arbeiten die Gottesdienstteams konzeptionell weiter und haben bisweilen ein neues Gottesdienst- oder gar Gemeindeleitbild entwickelt. Einige Gemeinden berichten, dass sie durch die Einbindung von Ehrenamtlichen, z. B. Konfirmandeneltern, neue Zielgruppen erreicht haben. In einer Gemeinde wird nach jedem besonderen Gottesdienst ein elementarer Glaubenskurs über vier Abende angeboten. Liturgisch gehen die Gemeinden häufig bewusst neue Wege. Zuweilen wurde behutsam das Traditionelle erweitert oder modifiziert. Die Prägekraft der klassischen Grundform I (»Agende I«) des Evangelischen Gottesdienstbuches ist noch immer unverkennbar. Durch den weitgehenden Verzicht auf die Mahlfeier haben sich die Gemeinden faktisch einem »Predigtgottesdienst mit Variationen« geöffnet (Grundform II). Deutlich ist aber auch, dass in keinem Fall das Gottesdienstbuch einfach unhinterfragt übernommen, sondern vielmehr auf die gemeindliche Situation neu angepasst wurde. Dazu gehört, dass in aller Regel ein sprechendes Thema gesucht wird, das öffentlichkeitswirksam angekündigt wird. Zu einem Neuaufbruch gehört erkennbar die Uhrzeit: Ein großer Teil hat sich für ein zweites Angebot sonntags um 17 oder 18 Uhr zusätzlich oder alternativ zum Vormittag entschieden. Zwei Gemeinden gehen bewusst auf den Freitagabend. Was die Orte angeht, ist den meisten Gemeinden ihre Kirche »heilig«. Großes Gewicht hat dabei eine liebevolle Gestaltung der Kirchenräume, insbesondere die Frage der Beleuchtung spielt inzwischen eine wichtige Rolle. Zielgruppen sind oft die 30–55-Jährigen. Einige Gemeinden kümmern sich besonders um junge Familien und bieten daher auch eine auf Kinder ausgerichtete Eingangsliturgie mit Kindergottesdienst an. Die Frage, wie Familien angesprochen und integriert werden können, ist gewiss eine Schlüsselfrage für Gemeindeaufbau und Gottesdienst der Zukunft. Zuweilen werden die Konfirmanden und Konfirmandinnen als Zielgruppe bzw. Mitgestaltende bewusst in den Blick genommen. Fast alle Gemeinden formulieren für die einzelnen Gottesdienste ein Motto, das sich an existenziellen Fragen der Menschen orientiert und so die Attraktivität des Angebots steigert. Es fällt auf, dass klassi246
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
sche und bisweilen vielleicht depressiv wirkende kirchliche Themen (Sünde, Vergebung, Buße usw.) eher zurücktreten und erkennbar lebensbejahende Motive den Vorzug erhalten. Selten gibt es übrigens explizite Christusthemen. Inhaltlich bewegt sich vieles im Bereich von Lebenssehnsucht und Lebenssinn oder Gebet und Spiritualität. 2.3 Das brennende Dreieck – wie kommen wir zu einem Gottesdienstkonzept? Abschließend versuche ich einige Zuspitzungen im Blick auf die Gewinnung eines Gottesdienstkonzepts, das Beobachtungen aus dem Projekt aufnimmt und weiterführt. Dazu hilft die Vorstellung eines Dreiecks, das an drei Ecken brennt. 1. In der ersten Ecke geht es um die Adressaten des Gottesdienstes. Dazu müssen wir fragen: Wen wollen wir unbedingt erreichen? Haben wir ein brennendes Herz für eine konkrete Zielgruppe oder Generation, z. B. Konfirmanden; junge Erwachsene, Senioren; Singles, Mütter mit Kindern; »erfolgreiche« Männer, junge Familien, Russlanddeutsche (o. ä.)? Wie können wir die Menschen, die in den Gottesdienst kommen sollen, besser in ihrer Lebenswirklichkeit wahrnehmen? Es geht darum, eine Liebe zu den Menschen zu entwickeln, mit ihren Schicksalen und allem, was sie umtreibt (vgl. oben I.4 und 5). Man kann diese erste Dimension als Zielgruppen- oder Adressatenorientierung bezeichnen. 2. Die zweite Ecke: Welche personellen (und finanziellen) Möglichkeiten haben wir? Wo sind die bisherigen Stärken in unserer Gemeindearbeit? Gibt es ein missionarisches, diakonisches oder musikalisch-kulturelles Profil, das sich mit der gottesdienstlichen Perspektive verbinden lässt? Welche Gaben haben die Menschen im Gottesdienst-Team, Kindergottesdienst, Kirchenvorstand usw.? Nehmen wir ihre Ideen und Kompetenzen wahr? Wertschätzen wir sie? Es geht also auch um brennende Herzen für die Mitarbeitenden und um die Stärkung ihrer Fähigkeiten. Diese zweite Dimension kann mit dem Begriff Gabenorientierung bezeichnet werden. 3. Die dritte Ecke: Was ist unser Auftrag und unsere Verheißung für den Gottesdienst? Gibt es biblische Texte, die besonders wichtig und aktuell sind, weil sie eine Perspektive für einen gelingenden Gottesdienst und Gemeindeentwicklung
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Gottesdienst oder ein überzeugendes Gemeindemodell zeigen? Hier ist nach biblischen Leitbildern zu fragen, die für den Gottesdienst zu entwickeln sind: Volk Gottes, Leib Christi, Gemeinschaft der Feiernden; Jüngerschaft der Lernenden; Nachfolge der Helfenden und Betenden usw. Es geht damit um ein brennendes Herz für den Gottesdienst selbst und und um ein Wachhalten des Verheißungspotenzials der Bibel (Verheißungsorientierung).
3 Gottesdienst und Qualität – Was ist ein guter Gottesdienst? Qualität im Gottesdienst, was ist das? Immer noch zucken viele zusammen, wenn sie die Kombination dieser beiden Begriffe hören. Qualität oder womöglich Qualitätsmanagement und Gottesdienst, wie soll das zusammenpassen? Ein Begriff aus der Wirtschaft und die zentrale Versammlung der christlichen Gemeinde, in der nach christlicher Überzeugung Gott selbst auf dem Plan ist? Drei Probleme sind es meiner Wahrnehmung nach, die von vielen kritisch eingebracht werden und unbedingt ernst zu nehmen sind: 1. Das Problem der Sachgemäßheit: Qualität bezieht sich – als organisationslogischer Begriff – auf das, was Menschen tun: ein Produkt oder einen Herstellungs- bzw. Dienstleistungsprozess. Das Eigentliche am Gottesdienst ist aber doch gerade nicht ein Produkt und Prozess menschlichen Handelns, sondern Wirken des göttlichen Geistes, sagen Christen. Wie verhalten sich also Qualität und Heiliger Geist, menschliches und göttliches Werk zueinander? 2. Das Problem der Messbarkeit: Was sind die Kriterien für einen guten Gottesdienst? Lassen sie sich so formulieren, dass am Ende überprüfbar ist, ob sie eingehalten worden sind? Schlicht: Kann man Qualität im Gottesdienst messen? 3. Die Frage der Wirkung: Was trägt die Diskussion um Qualität konkret für die gottesdienstliche Praxis aus? Hilft sie, neue Impulse zu geben? Oder ist die Folge davon, dass wir noch mehr Zeit mit Bürokratie verbringen, ja uns womöglich gegenseitig beargwöhnen, ob wohl effektiv genug arbeiten? Geht es damit nur um simple »Leistungskontrolle«? 248
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
3.1 Das Gute suchen – Bemerkungen zum kirchlichen Reformprozess Von 2006 bis zum Reformationsjubiläum 2017 lief in der EKD ein Reformprozess, der mit einem Impulspapier unter dem Titel Kirche der Freiheit startete. Mit 12 »Leuchtfeuern« gab die Schrift Anregungen und Kritik zur kirchlichen Praxis: Gottesdienst und Amtshandlungen, Gemeindestrukturen, Diakonie, Bildung, aber auch die Fusion von ganzen Kirchen wird darin diskutiert. Leuchtfeuer 1 konstatierte ein Problem im Blick auf Gottesdienste und Kasualien und forderte, Gottesdienste sollten in ihrer Qualität »geistlich anspruchsvoll, missionarisch überzeugend, kulturell stilsicher und menschlich zugewandt« (Kirchenamt der EKD, Kirche der Freiheit, 51) sein. Dies sind schillernde Attribute, die leider vielfach im Sinne eines Vorwurfs an die Pfarrerschaft gehört worden sind. Wolfgang Huber hat wenig später dazu nachgelegt und die Arbeit am Gottesdienst als gesamtkirchliche Aufgabe und Chance beschrieben: »Wir wollen den öffentlichen, nach außen gewandten Charakter des Gottesdienstes neu zur Geltung kommen lassen. Dafür wollen wir an seiner inneren Kraft und Qualität, an der Anmut und dem Glanz unserer Gottesdienste arbeiten. Dass Gottesdienste zum Lob Gottes gefeiert werden, dass sie Glauben wecken und im Glauben stärken, soll neu zum Bewusstsein kommen.« (Hauptvortrag am 25.1.2007 in Wittenberg, vgl. Huber, 9)
Es ging und geht dann darum, den Gottesdienst als Kraftquelle christlichen Glaubens neu zu erschließen, seine sinnliche Ausstrahlung zu stärken, aber auch sein evangelisches Profil in der Gesellschaft zu schärfen. Der Qualitätsbegriff sollte dabei gerade nicht defizitorientiert oder gar als impliziter Vorwurf aufgenommen werden, sondern als Chance für einen neuen Aufbruch begriffen werden. Wichtig zu betonen war und ist, dass nicht ungeprüft Methoden und Prinzipien eines ökonomischen Qualitätsmanagements einfach übernommen werden. Theologisch gewendet: Es geht um eine Rückbesinnung auf die zentralen Dimensionen des Gottesdienstes: dass Menschen zum Glauben an Gott finden, Orientierung für ihr Leben bekommen und der Name Gottes gerühmt wird. Können wir uns an säkularen Prozessen oder Produkten orientieren, wenn wir von Qualität im Gottesdienst reden? Ist er am ehesten vergleichbar mit einer politischen Versammlung – hier geht es um Gottesdienst und Qualität
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Überzeugungskraft –, mit einem Konzert (musikalische Perfektion, gutes Zusammenspiel, schöner Klang), einem akademischen Vortrag (Information und Verständlichkeit), einem Theaterstück (gute Dramaturgie bzw. Spannung), mit einem Fest (Wohlfühlen, Spaß, gutes Essen) oder gar mit einem Fußballspiel (Gemeinschaftserlebnis, Spannung, Gewinnen)? Oder ist diese Frage schon völlig verkehrt, weil der Gottesdienst ohne Analogie in dieser Welt ist? Versuchen wir eine These: Als Werk Gottes ist der Gottesdienst einzigartig; als Versammlung von Menschen, verantwortet von einer Kirche, die – nach evangelischem Verständnis – gerade nicht unfehlbar ist, ist der Gottesdienst bis zu einem gewissen Grad vergleichbar mit anderen Handlungen und daher auch kritisierbar. Ein Blick über den Tellerrand in Sachen Qualität tut der Kirche in jedem Fall gut: Bei einem EKD-Symposion zum Thema Qualität wurde ein Hotelchef, die Leiterin eines Krankenhauses, ein Regisseur, ein Journalist, eine Werbeagentur u. a. eingeladen, um zu hören, wie in diesen Bereichen mit Qualitätsentwicklung und -sicherung umgegangen wird. Es liegt auf der Hand, dass die von Huber benannten Grunddimensionen des Gottesdienstes, nämlich: zum Glauben an Gott einladen bzw. Gott loben weder Ziel des Hoteliers noch der Werbeagentur sind. Die gemeinsame Schnittmenge mit Kirche und Gottesdienst ist aber dennoch gegeben und keineswegs marginal: Sie besteht in der Frage der Ressourcenorientierung, der Mitarbeitermotivation bzw. -begleitung und der Kundenorientierung.
Zugleich wird deutlich: Wir müssen uns im Blick auf die Qualitätsfrage in der Kirche immer auch mit unseren übergeordneten Zielen (Was will Kirche überhaupt!?) und mit der Langzeitwirkung von Gottesdiensten befassen, mit dem also, was man heute so oft mit Nachhaltigkeit (outcome) bezeichnet. Um diese zu erheben, müsste man Langzeituntersuchungen starten und Menschen unterschiedlichen Alters nach ihrer Einstellung zum Gottesdienst befragen. 3.2 Das Gute erinnern – Biblisch-reformatorische Rückbesinnung auf Qualität Doch ist die Frage nach Qualität eigentlich neu? Schon im Augsburger Bekenntnis, Art. 7 (1530) heißt es, dass die Kirche im Gottes250
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dienst zu erkennen sei, dort nämlich, wo das Wort Gottes rein gelehrt und die Sakramente recht ausgeteilt werden. Eine genaue Festlegung des Rituals vom Glockengeläut bis zum Segen finden wir dazu bei den Reformatoren nicht. Der Ritus im engeren Sinne ist ein »Zwischending« (Adiaphoron). Einziges Kriterium: Der Gottesdienst soll dem Evangelium entsprechen: in Inhalt und Form, Gehalt und Gestalt. Er soll die Menschenfreundlichkeit Gottes, das uns zugewandte Angesicht des Gekreuzigt-Auferstandenen widerspiegeln. Luther hat auch ein konkretes Qualitätsinstrument gefordert und eingeführt. Pfarrer sollen »visitiert«, d. h. regelmäßig von ihren Vorgesetzten besucht werden. Aber auch schon im Neuen Testament gab es Qualitätsdebatten: Paulus kritisiert die Missstände bei der Mahlfeier in Korinth (1. Kor 11). Da wird nicht aufeinander geachtet, die Reichen verlieren die Armen aus dem Blick. Gottesdienst muss in aufmerksamer Liebe zu den Geschwistern gefeiert werden. Der Apostel schreibt: Dies aber gebiete ich euch: Ich kann’s nicht loben, dass ihr nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren zusammenkommt. … Wenn ihr nun zusammenkommt, so hält man da nicht das Abendmahl des Herrn. Denn ein jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg, und der eine ist hungrig, der andere ist betrunken. (Es folgen die Einsetzungsworte, vgl. 1. Kor 11,23–26). Im Gegensatz zu dieser Kritik an der korinthischen Praxis zeichnet Lukas ein Idealbild von Gottesdienst in Apg 2,42: Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Ein guter Gottesdienst enthält äußerlich betrachtet die Konstanten von Verkündigung, Mahlfeier und Gebet. Bei all dem wird Gemeinschaft erlebbar. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Beständigkeit, das »Dranbleiben«. Und danach schreibt Lukas: Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Gottesdienste verschiedener Art an unterschiedlichen Orten (Tempel und Häuser) mit Ausstrahlung aufgrund der Freude an Gott und der Liebe untereinander werden hier beschrieben. Da ist dann auch die »Quantität« kein Problem mehr. Lukas resümiert: Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden. Gottesdienst und Qualität
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Halten wir fest: Biblisch-reformatorisch gibt es sehr wohl formale (Brotbrechen, Gebet etc.), aber auch inhaltlich-atmosphärische Kriterien (Gemeinschaft, Liebe untereinander, Gehorsam vor Gott) für Gottesdienstqualität bis hin zu einem konkreten Wortlaut: »So sollt ihr beten«, sagt Jesus in der Einleitung zum Vaterunser. »Tut das zu meinem Gedächtnis«, sagt er in den Einsetzungsworten zum Abendmahl. Bei all dem scheint mir wichtig: Der Gottesdienst ist keine isolierte Inszenierung, die nichts mit dem zu tun hat, was sonst in der Gemeinde stattfindet, im Gegenteil. Auf das gute Zusammenspiel, die »Symphonie des Glaubens und der Liebe«, kommt alles an. Entscheidend sind dabei die Einmütigkeit und die Freude. Das spüren uns die Menschen ab, daran hat sich bis heute nichts geändert. 3.3 Das Wesen des Guten beschreiben – Die Qualitätsfrage als theologische Herausforderung An dieser Stelle setzen wir nochmals neu ein: Was meint der Begriff Qualität eigentlich? Bezeichnet sie den Grad der Perfektion eines Gegenstandes oder einer Handlung? Nicht wirklich. Das lateinische Fragewörtchen qualis fragt vielmehr nach der Beschaffenheit eines Gegenstandes. Er meint also nicht in erste Linie den messbaren Gütegrad, sondern das Wesen einer Sache! Was ist das Wesen des christlichen Gottesdienstes? Damit schließt sich der Kreis zu unseren Überlegungen im ersten Kapitel: Das Wesen des christlichen Gottesdienstes besteht darin, dass eine Gemeinschaft von Sünderinnen und Sündern dem dienenden, d. h. dem gnädigen Gott begegnet! Einem Gott, der sich bückt und klein macht für uns, der ganz für uns da ist! Erinnern wir uns dazu auch nochmals an das anfangs zitierte Wort aus dem Markusevangelium (Mk 10,45): Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene. Diakonein steht hier im griechischen Urtext: Es geht um den Dienst der Sklaven, etwa den ganz elementaren Tischdienst, zu dem auch das Waschen der staubigen Füße gehört. Um diesen Dienst Jesu und die davon abgeleitete Menschenfreundlichkeit Gottes geht es auch in unserem Gottesdienst. Allerdings in einer pfingstlichen Gestalt, einer vom schöpferischen Geist vermittelten Leiblichkeit. So wie das eine Wort Jesus Christus Fleisch wurde (Joh 1,14), so wird auch der göttliche Geist in unseren Gottesdiensten leibhaftig: durch eine Anrede 252
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
auf Augenhöhe. Nicht senkrecht von oben, oder gar von oben herab, sondern durch menschliche Worte, Lieder und Zeichen. Aber mehr noch – in den synoptischen Evangelien steht: Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für die vielen! (Mt 20,28; par Mk 10,45) Er gibt sich für uns, für alle, dahin. Das ist einzigartig im Vergleich mit den anderen Weltreligionen. Diese radikale Hingabe Gottes im gekreuzigten Jesus von Nazareth ist die wesentliche Qualität des christlichen Gottesdienstes. Wie kommt diese Hingabe Gottes zum Leuchten, auch dann, wenn unser Leben in eine Krise, an den Rand des Todes gerät? Wagen wir an dieser Stelle den Blick auf ein liturgisches Beispiel, das ich in einer Erlebnisbeschreibung wiedergebe. 3.4 Das Gute erleben – Gottesdienst am Abgrund der Krise Die Schreckensbilder aus dem Fernsehen sind bei allen noch präsent. Die größte Naturkatastrophe seit Menschengedenken hat sich vor wenigen Tagen ereignet: der Tsunami, Ende Dezember 2004. Hunderttausende fanden im Indischen Ozean den Tod. »Warum dort? Warum nicht bei uns?« Viele Fragen treiben mich an diesem Morgen um. Es drängt mich in den Gottesdienst. Der Organist verzichtet im Vorspiel auf eine virtuose Darbietung. Das lang geübte festliche Präludium kommt nicht zur Aufführung. Er spielt einfach nur einen Akkord und schaltet dann die Orgel aus. Wimmern, Heulen, ein knarrendes Ächzen. Dann Stille. Die Begrüßung ist denkbar knapp. »Wir sind sprachlos angesichts dessen, was da passiert ist«, sagt die Pastorin. »Und dennoch, jetzt erst recht, wollen wir heute Morgen Gottesdienst feiern: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Wieder Stille. Dann ein rhythmisches Klopfen gegen die Kirchenbank. Einige Konfirmanden haben diesen Part übernommen, eine Art Knocking on heaven’s door. (Rhythmus, LW 62), verbunden mit einem Psalmgebet, vorgetragen von drei Sprechstimmen, die an unterschiedlichen Stellen im Kirchenraum aufgestellt sind. Das Klagegebet ist verschränkt mit pochendem Kyriegesang: Kyrie eleison (LW 62) I Gott hilf mir, denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist. Gottesdienst und Qualität
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Kyrie eleison (gemeinsam) II Ich bin in tiefe Wasser geraten, und die Flut will mich ersäufen. Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser. Meine Augen sind trübe geworden, weil ich so lange harren muss auf meinen Gott. Kyrie eleison III Ich aber bete zu dir, Herr. Gott, nach deiner großen Güte, erhöre mich mit deiner treuen Hilfe. Kyrie eleison
Mit diesem kraftvollen Kyrie aus Ghana, seinem eindringlichen Rhythmus und seiner sehnsüchtigen »Bluenote« am Ende kann ich ankommen. Das Gloria fällt jedenfalls heute aus. Zumindest erscheint es nicht an der gewohnten Stelle. Gut so, denke ich. Ich bin nämlich noch nicht so weit, dass ich loben könnte. Aus der Predigt über den sinkenden Petrus – ein gewagtes Bild – habe ich nicht viel behalten. Aber ein Satz ist es, der mich, obwohl hundertmal, tausendmal gehört, wieder neu in seinen Bann zieht. Seid getrost, ich bin’s. Fürchtet euch nicht. Die Predigerin fährt fort: »Mitten in der Nacht tritt Jesus auch auf die stürmische See deines Lebens. Wahrscheinlich erkennst Du ihn nicht gleich. Hältst ihn für ein Hirngespinst, hältst seine Worte für eine Illusion. Aber schau doch. Er ist es wirklich. Da streckt er die Hand nach dir aus und sagt: Komm! Ich weiß doch, wie es sich anfühlt: Das Versinken in der Flut, der Sturz ins Nichts. Die finstere Nacht, das quälende Gefühl nicht nur von Menschen, sondern auch von Gott verlassen zu sein. Keine Angst! Ruft er dir zu: Ich bin’s. Sieh doch auf mich. Ich kenne nicht nur deine Angst, ich habe sie überwunden.« Die Predigerin riskiert viel, den radikalen Zuspruch, die unmittelbare Zusage im Du. Keine philosophische Abhandlung zur Theodizee, schlichtes Evangelium. Ihre Worte klingen in mir nach und wirken in einem kleinen Lied (fT 45) weiter: »Stimme, die Stein zerbricht / ist mir im Finstern nah. Stimme, die leise spricht: / Hab keine Angst, ich bin da!«
Auch die anschließenden Fürbitten erlebe ich ganz dicht. Die Pastorin hat sie von der Gebetswand genommen, die es seit kurzem in der Kirche gibt. Verschiedene Stimmen sind dabei zu hören: 254
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
– Ach Gott, wo bist du denn? Hilf doch, wenn es dich gibt! – Gott im Himmel und auf Erden, stehe du doch den Menschen in Asien jetzt bei in ihrer Not, lass sie nicht allein. Zeig uns, wie wir helfen können. – Lieber Gott, mach doch, dass meine Mama wieder gesund wird.
Ich spüre: Hier sind wir am Herzschlag dessen, was Gottesdienst ausmacht: nahe bei Gott und nahe bei den Menschen. Das einfache unverstellte Vertrauen und der Sinn für das Wesentliche berühren mich. Dann folgt die Feier des Abendmahls. Noch höre ich es, das freundliche Wort der Zuwendung Gottes, heute einmal gesungen: Schmecket und sehet, wie freundlich unser Gott ist. Ich spüre etwas von der Nähe Gottes und weiß: Hier bekomme ich etwas, was ich in dieser Art sonst nirgends auf der Welt kriegen kann, Gott kommt zu mir, lässt sich von mir schmecken, sehen, hören. Sinnlich – unwiderstehlich. Diese Gemeinschaft kann mir niemand nehmen. Zugegeben: nicht alle Fragen, die ich mitbrachte, sind damit beantwortet, aber das trockene Brot wird mir zur blühenden Rose. Davon singen wir dann auch in einem Lied von Claus-Peter März (fT 170): »Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht und das Wort, das wir sprechen, als Lied erklingt, dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut, dann wohnt er schon in unserer Welt …«
Über manche Gesichter geht ein Lächeln, Erleichterung, Loslassen, zuweilen gar ein Leuchten. Wir werden verwandelt, wir, die wir in einem großen Kreis um den Tisch des Herrn gemeinsam feiern. Sein Versprechen tut, was es sagt: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Der feste Händedruck meiner Nachbarin am Ende der Mahlfeier bleibt mir in körperlicher Erinnerung. Ich weiß jetzt wieder, wie sich Gemeinschaft anfühlt. Dankbar kann ich einstimmen in den schlichten Kanon: Danket dem Herrn, denn er ist freundlich. Ach ja, da ist es ja, das Gloria, zaghaft erst, doch dann immer kräftiger, so als würden wir es zum Protest singen gegen alles, was dem Leben in die Quere kommt. Gottesdienst kann also ein Weg sein, manchmal ein ziemlich langer Weg: vom Kyrie zum Gloria, vom Ächzen der ausgeschalteten Orgel bis zur Gemeinschaft um den Tisch des Herrn, ein Weg, bei dem Fragen und Zweifel nicht verschwiegen werden, aber auch das Evangelium nicht ausbleibt. Ein Weg, der eine Begegnung mit Gott eröffnet. Gottesdienst und Qualität
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Versuchen wir, aus dieser dichten Beschreibung ein kleines Resümee zu ziehen: Ȥ Ein guter Gottesdienst vertraut sich den tragfähigen (schönen!) Sprachformen der Tradition an, ohne starr zu sein. Gottesdienst ist kein »Liturgiemuseum«. Ȥ Ein guter Gottesdienst setzt auf Beteiligung, aktive und passive innerhalb der unterschiedlichen Generationen. Ȥ Ein guter Gottesdienst kann sich auf die aktuelle »politische Großwetterlage« einstellen und wagt deshalb auch Neues (z. B. Schweigen, Irritation, andere Töne). Ȥ Ein guter Gottesdienst ist nah bei den Menschen und nah bei Gott (vgl. Fürbitten von der Gebetswand). Ȥ Ein guter Gottesdienst nützt Musik zur spirituellen Verdichtung, er gibt der Musik Raum zu klagen, zu trösten und zu loben. Ȥ Ein guter Gottesdienst vermittelt intensive Gemeinschaftserfah rungen (Mahlfeier). Ȥ Ein guter Gottesdienst lässt erfahren, wie wir »mit Gott dran sind«, deshalb wagt er die unmittelbare Zusage Gottes. 3.5 Das Gute befördern und verbreiten – Erträge der Arbeit des Zentrums für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst in Hildesheim (2009–2017) Im Folgenden möchte ich in Kürze den Auftrag und die m. E. bis heute nachwirkenden Ergebnisse der Arbeit am Thema »Qualität« darstellen, die am EKD-Kompetenzzentrum für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst in Hildesheim in den Jahren 2009–2017 entstanden sind. Sie sind keinesfalls »erledigt«, sondern bedürfen der ständigen Überprüfung und Erneuerung im Sinne der ecclesia semper reformanda. Folgende Aufgaben hatte der Rat der EKD dem Kompetenzzentrum 2009 mitgegeben: problemorientierte Sichtung, exemplarische Modellversuche, theologische Reflexion und Kommunikation (Publikation) der Ergebnisse nach außen. Problemorientierte Sichtung
Bald wurde deutlich: Es gab und gibt bereits an vielen Orten qualitäts orientierte Arbeit am Gottesdienst. In etlichen Landeskirchen (z. B. Bayern, Nordkirche, Hannover, Westfalen) sind in den letzten Jah256
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
ren und Jahrzehnten Arbeitsstellen für Gottesdienst entstanden, die in umfangreicher Weise beraten und fortbilden. Auch an den theologischen Fakultäten und in der Vikarsausbildung hat sich viel getan, Homiletik und Liturgik wachsen zusammen, die Gestaltung des Gottesdienstes ist Gegenstand der Wahrnehmung und der kritischen Auseinandersetzung. So ist etwa an der Berner Theologischen Fakultät ein Kompetenzzentrum Liturgik entstanden, das in ähnlicher Weise Fragestellungen bearbeitet. Das Wichtigste – besonders in der Kommunikation mit den Hauptamtlichen – war für mich, einen mit dem Thema »Qualität« verbundenen Generalverdacht auszuräumen: Ist unser Gottesdienst wirklich so langweilig? Tun wir keine gute Arbeit? Wo es gelungen ist, den »verkappten Imperativ« an dieser Stelle zu entkräften, war oft schon viel gewonnen. Folgende Qualitätsinstrumente wurden entwickelt, diskutiert und erprobt: Ȥ Rückmeldebögen für Ehrenamtliche, Hauptamtliche usw. können genauer erheben, was Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts vom Gottesdienst erwarten und wie sie ihn tatsächlich erlebt haben. Man kann vorgegebene Bewertungsfragen mit vier oder fünf möglichen Items von qualitativen Fragen unterscheiden, bei denen Menschen tatsächlich etwas über Predigt, Lieder, Gebete, aber auch über äußere Rahmenbedingungen niederschreiben können. Ȥ Kollegiale Beratung unter Pfarrerinnen und Pfarrern, aber auch unter Kirchenmusikern und Ehrenamtlichen, die z. B. im Vikariat noch selbstverständlich ist, dann aber oft verschwindet, kann in kleinen Gruppen (von drei bis vier Personen) gepflegt werden. Diese Personen besuchen sich gegenseitig im Gottesdienst und reflektieren das Erlebte im geschützten Rahmen. Ȥ Das alte Instrument der Visitation (vgl. oben) wird in nahezu allen evangelischen Kirchen gebraucht. Es ist als Steuerungsmodell zumindest bis zu einem gewissen Grad tauglich, für Qualität zu sorgen bzw. Missstände zu bekämpfen, muss aber in den nächsten Jahren deutlich verbessert und vernetzt werden. Gute Erfahrungen wurden auch mit sogenannten »Querschnittsvisitationen« gesammelt, die beispielsweise nur den GottesGottesdienst und Qualität
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dienst oder die Kasualien näher beleuchten. Dies geschieht dann nicht nur in einer Gemeinde, sondern in allen Gemeinden eines Kirchenkreises/Dekanats. Ȥ Liturgische und homiletische Fortbildungen sind seit etlichen Jahren im Fokus der Pastoralkollegs und Institute für Gottesdienst. Neben dem Konzept der Liturgischen Präsenz (Thomas Kabel) zu nennen, gibt es inzwischen wichtige Multiplikatoren-Fortbildungen:. Ȥ Die Fortbildung zum Gottesdienstberater/in soll Multiplikatoren befähigen, Haupt- und Ehrenamtliche, Teams und ganze Gemeinden in Sachen Gottesdienst zu beraten und zu begleiten. Die Institute für Gottesdienste haben mit den Kirchenleitungen der Gliedkirchen in der EKD ein Netzwerk geschaffen, auf dessen Grundlage eine solche Ausbildung deutschlandweit anerkannt und zertifiziert wird. Hinzu kommt das Instrument des Predigtcoachings, das durch das Evangelische Zentrum für Gottesdienst- und Predigtkultur in Wittenberg entwickelt wurde und inzwischen auch mit einem Netzwerk an Personen in den Landeskirchen (und darüber hinaus) arbeitet. Exemplarische Modellversuche und Pilotprojekte
Exemplarische Modellversuche bzw. Pilotprojekte haben sich unterschiedlichen Themen zugewandt. Dazu gehörte zunächst die Bildung von sog. »Pilotkirchenkreisen«, die sich in verschiedenen Landeskirchen in den Jahren 2011/12 gebildet haben (z. B. Düsseldorf, Mosbach, Köthen, Hanau). Hier sollte das Thema »Qualität im Gottesdienst« unter verschiedenen Schwerpunkten lanciert und diskutiert bzw. begleitet werden. Dazu gehörten etwa das Thema »Visitation« (am Beispiel Taufe) in der Reformierten Lippischen Kirche, diverse Zählprojekte (z. B. Oldenburg, später auch Westfalen) sowie die Begleitung und Auswertung von ARD-Fernsehgottesdiensten. Folkert Fendler arbeitete in einer größeren Studie am Kundenbegriff (vgl. Fendler) auch einer breiten Leserschaft zur Verfügung. Dazu war der Blick über den kirchlichen Tellerrand wichtig. Immer wieder stellte sich uns die Frage: Welche Methoden der Qualitätsentwicklung und -messung gibt es im außerkirchlichen Bereich? Wo können wir von anderen lernen? Was eignet sich kirchlich nicht? 258
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
Analyse und Reflexion von Methoden und Qualitätsinstrumenten
Sowohl die Sichtung als auch die Begleitung von Modellversuchen münden in eine gründliche Analyse der bisher bekannten Initiativen und Erfahrungen. Werden Zielgruppen von besonderen Gottesdiensten wirklich erreicht? Stehen Aufwand und Erfolg im richtigen Verhältnis? Wo finden Gottesdienste statt, die möglicherweise gar nicht gewählt bzw. wahrgenommen werden? Was lässt sich an gottesdienstlicher Qualität überhaupt messen? Wo müssen wir aufpassen, dass wir nicht eine Theologie der Qualität formulieren, die in Wirklichkeit eine Ideologie menschlicher Machbarkeit bzw. eine Theologie ohne Kreuz ist? Immer wieder galt es, dem Verdacht zu begegnen, dass man eins zu eins Methoden des Qualitätsmanagements aus der Wirtschaft übernehmen wolle. Dennoch zeigte sich, dass eine Rezeption solcher Qualitätsinstrumente hilfreich ist. Sie haben sich im jüngeren Diskurs zum Gottesdienst gleichsam etabliert: Auf den amerikanisch-libanesischen Professor für Gesundheitswesen Avedis Donabedian geht eine Unterscheidung von Qualitätsebenen zurück, die ursprünglich zur Betrachtung und Entwicklung von Pflegequalität konzipiert wurde. Sie hat seit dem Jahr 1966 einen großen Siegeszug durch Wirtschaft und Wissenschaft angetreten. Donabedian definiert Qualität im Gesundheitswesen als Grad der »Übereinstimmung zwischen den Zielen des Gesundheitswesens und der wirklich geleisteten Versorgung« (vgl. Handbuch Gottesdienstqualität, 51). Er unterscheidet Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Unter Strukturqualität werden dabei die vorhandene Infrastruktur sowie die personellen und fachlichen Ressourcen verstanden. Rechtliche, bauliche und organisatorische Rahmenbedingungen gehören ebenso in diesen Bereich wie die Ausbildung, die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Mitarbeiter und die Beschaffenheit etwa der benötigten Materialien. Unschwer lassen sich die Parameter auf den Kirchenraum und seine Ausstattung, auf Licht und Technik, aber auch auf die Ausbildung der liturgischen Akteure, beziehen. Die Prozessqualität beschreibt die Art und Weise des tatsächlichen Handelns (der Dienstleistungserbringung). Wie wird medizinische Beratung und Versorgung geleistet? Wie funktioniert das Controlling, Gottesdienst und Qualität
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welche Kontakte gibt es im Vorfeld bzw. im Nachgang medizinischer Maßnahmen? Dieser Aspekt lässt uns sofort an Inszenierung und Durchführung des Gottesdienstes denken, aber auch an die bewusste Wahrnehmung der Rollen, an das Maß der gemeindlichen Partizipation und das handwerkliche Geschick bzw. das Maß der Vorbereitung für Predigt, Musik und Liturgie. Die Ergebnisqualität schließlich schaut auf das tatsächlich Erreichte: die Leistungen (Outputs) und die Wirkungen (Outcomes), im Pflegebeispiel den Gesundheitszustand der Patienten, das Kosten-Nutzen-Verhältnis, aber auch auf die langfristige Zufriedenheit der Kunden. Hier könnte man an das oben beschriebene Feedback im Gottesdienst (Output), aber auch an die Aufgabe weiterer Mitgliedschaftsuntersuchungen und möglicher Langzeitstudien zum Gottesdienst denken (Outcome).
Die Unterscheidungen Donabedians (Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität) weiten den Qualitätsblick von der Fixierung auf die tatsächliche Gestalt eines Gottesdienstes hin zu seinen kirchlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Vor- und Nachbereitungskultur. Eine weiterführende Überlegung könnte sein, dass in Zukunft drei Ebenen von Qualitätssicherung bzw. -entwicklung unterschieden werden, die sich an das sog. Kano-Modell anschließen. Eine Arbeitsgruppe der Liturgischen Konferenz hat sich hier (vgl. Fendler, Qualität im Gottesdienst) sehr grundlegend geäußert. Hier wurde gefragt 1. Sind die Grundanforderungen erfüllt? Ist dafür gesorgt, dass der Raum gut beleuchtet und geheizt ist, dass man die Wortbeiträge gut verstehen kann? Ist die Orgel gestimmt und das Liedblatt gut lesbar? Die Erfahrung lehrt, dass oft die Basisanforderungen im Gottesdienst nicht gewährleistet sind und dadurch ein gutes Kommunikations-Erleben scheitert. 2. Stimmen die Leistungserwartungen der Gottesdienstbesucher mit dem Angebot überein? Im Theater würde man fragen: Ist die Inszenierung überzeugend? Kommt die Aussage des Stücks rüber? Oder auf die Liturgie übertragen: Ist der Gottesdienst in seiner Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi am Puls der Zeit? Sind die Themen und Fragen der Menschen aufgenommen? Ist 260
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
die Sprache klar und verständlich? Treffen die ausgewählten Lieder musikalisch den »Ton der Zeit« (aktuelle Grooves?) und sprachlich das Thema des Sonntags (im Kirchenjahr)? Ist die Abfolge klug aufgebaut und nachvollziehbar (»roter Faden«)? 3. Gibt es darüber hinaus einzelne Elemente, die spontane Begeisterung wecken (Begeisterungsfaktoren)? Eine beeindruckende Predigt, eine ekstatische Musik, ein anrührendes Gebet oder eine besonders »dichte« Abendmahlsfeier, die mir auch nach Jahren noch in Erinnerung bleiben wird? Im Folgenden sollen zwei besonders nachhaltige Modelle der Arbeit am Thema »Qualität«, die aus zwei sog. Qualitätszirkeln entstanden sind, etwas näher beschrieben werden. 3.6 Vier Wirkfelder Ein gemischter Kreis von Theologinnen und Nichttheologen entwickelte, inspiriert durch empirische Studien zum Gottesdienst und die Wirkungspsychologie Wilhelm Salbers samt seiner Aufnahme durch das Rheingold-Institut in Köln (»Verfassungsmarketing«), die sog. Wirkfelder des Gottesdienstes. (vgl. Handbuch Gottesdienstqualität, 70–72) Die analysierten Bedürfnisse von Menschen im Blick auf Rituale (Bayreuther Gottesdienststudie, vgl. Handbuch Gottesdienstqualität, 71f) zeigen, dass Rituale Lebensfreude vermitteln, Selbstbestimmung ermöglichen, Lebenssinn aufzeigen, Gemeinschaft stiften, Selbstsorge Raum geben und Orientierung vermitteln. Es galt, diese allgemein für Rituale erhobenen Wirkungen theologisch verantwortet auf den christlichen, evangelischen Gottesdienst hin zu konkretisieren und zu ergänzen. Welche Wirkungen sind nach menschlichem Ermessen und theologischer Erkenntnis eigentlich von einem evangelischen Gottesdienst im Hinblick auf die Menschen, die sich ihm aussetzen, zu erwarten? Die Wirkfelder des Gottesdienstes beschreiben den Gottesdienst in Spannungsfeldern von jeweils zwei Polen. Ȥ Gottesdienste bewirken Lebensdeutung. Dies geschieht im Spannungsfeld von Selbstbestimmung des Menschen und der Wahrheit des ihm gegenübertretenden göttlichen Wortes. Gottesdienst und Qualität
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Ȥ Gottesdienste ermöglichen Empfindung zwischen Lebensfreude und Lebensernst. Ȥ Gottesdienste wirken auf ethische Orientierung im Spannungsfeld zwischen Selbstsorge und Nächstenliebe. Ȥ Gottesdienste stiften Beziehung, unter den Menschen und zwischen Mensch und Gott. Sie bewegen sich dabei zwischen Nähe und Distanz, lassen Geborgenheit auf der einen und das Geheimnis Gottes auf der anderen Seite erlebbar werden. Diese Wirkfelder sind noch nicht exklusiv einem Gottesdienst zuzuordnen, sondern könnten womöglich ähnlich auch für die Lektüre eines philosophischen Buches, ein religionskritisches Theaterstück oder ein Kirchenkonzert angewandt werden. Deshalb treten noch gottesdienstspezifische Bestimmungen zum Modus des Geschehens hinzu, das sich durch Feier, Spiritualität und Ritualität auszeichnet, sowie zum eigentlichen Inhalt, nach evangelischem Verständnis: Gottes Wort und Sakrament. Ein guter Gottesdienst wäre dann z. B. einer, der möglichst viele dieser Wirkungen bei möglichst vielen Teilnehmenden Realität werden lässt. Und dies möglichst so, dass die Pole der Spannungsfelder in einem »Sowohl als auch« zusammenfinden bzw. situationsbezogen bewusst profiliert werden: Ȥ Ein guter Gottesdienst bewirkt Lebensdeutung, die die selbstbestimmte Aneignung der göttlichen Wahrheit realisiert. »Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.« (Joh 8,32) Ȥ Ein guter Gottesdienst lässt Lebensfreude erfahren auch im Angesicht des Todesernstes. »In dir ist Freude, in allem Leide.« (vgl. EG 398) Ȥ Ein guter Gottesdienst stiftet Beziehung, die das Spannungsfeld von Nähe und Distanz aushält. »Und nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.« (vgl. Psalm 139) Ȥ Ein guter Gottesdienst orientiert das menschliche Handeln im Sinne des »du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (vgl. Mk 12,31). 262
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
Selbst bestimmung
Lebensfreude Lebens deutung
Empfindung
Wahrheit Gottes
Gottesdienst
Lebensernst
Modus: Lithurgische Feier Inhalt: Wort & Sakrament
Nähe
Beziehung
Distanz
Selbtsorge Handlungs orientierung Nächstenliebe
Abb. 2: Wirkfelder des Gottesdienstes (nach: Handbuch Gottesdienstqualität, 74)
3.7 Gewissheit, Gemeinschaft, Geheimnis – das 3G-Modell als Gestaltungshilfe und Analyseinstrument von Gottesdiensten Entstanden ist dieses Modell in einer Arbeitsgruppe von Theologinnen und Theologen, angeregt durch das Zentrum für Qualitätsentwicklung im Michaeliskloster Hildesheim. In einem Impulsreferat habe ich eine Typologie unterschiedlicher Gottesdienst-Theorien bzw. -Theologien seit ca. 1950 im Anschluss an ein Impulspapier von Wolfgang Ratzmann dargestellt. Die Vielfalt theologischer Ansätze reichte von Peter Brunner und Ernst Käsemann über Ernst Lange, Jürgen Moltmann, Manfred Josuttis, Wolfgang Huber bis hin zu Martin Nicol und Wilhelm Gräb. Im Hintergrund stand der Verdacht, dass es praktisch-theologisch kaum mehr eine »Theologie des Gottesdienstes« gibt. Die aufregende Entdeckung war, dass die paulinische Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung (1. Kor 13) bzw. die gottesdienstlichen Erlebnismomente von Geheimnis, Gewissheit und Gemeinschaft zumindest eine gute Sehhilfe und eine Art Leitfaden für die Gestaltung und Auswertung von Gottesdiensten sein könnten. So könnte vermeintlich Unvereinbares wie das Messianische und das Mystagogische, das Diakonische und das Missionarische womöglich doch beieinander bleiben. Gottesdienst und Qualität
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Folgende drei Gottesdienstprofile haben sich herauskristallisiert: a) Gewissheit der Liebe Gottes erleben Menschen haben in der Vieldeutigkeit des Lebens Sehnsucht nach Gewissheit. Der christliche Gottesdienst antwortet auf diese Sehnsucht mit der Zusage unbedingter göttlicher Liebe, z. B. mit den Worten »Du bist mein« oder »Fürchte dich nicht«. Menschen erleben in der Begegnung mit Gott, dass sie berührt und verändert werden. Ȥ Das Verlangen nach der Liebe Gottes und die Erfahrung ihrer Wirklichkeit sprechen sich aus in Psalmen und Gebeten, in Vertrauen weckenden biblischen Texten und in erlebbaren Zeichen der Zuwendung, besonders in Taufe, Mahlfeier, Absolution und Segen. Ȥ Die Predigt zeichnet Spuren der Liebe Gottes im Leben der Menschen aktuell nach, etwa wenn die Helden- und Siegergeschichten des Alltags ersetzt werden durch Geschichten der Liebe des barmherzig entgegenkommenden Gottes (vgl. Phil 2,5b-11). Ȥ Die zahllosen Lob- und Danklieder der weltweiten Christenheit bringen die Gewissheit der Liebe Gottes zum Ausdruck. Ȥ Der Zuspruch der Liebe und Gnade Gottes, auch in Gestalt des Freispruchs von Sünde und Schuld, enthält zugleich den Anspruch auf das ganze Leben des Glaubenden: Die Liebe Gottes fordert zu einer verantwortungsvollen Lebensführung heraus, die im Gottesdienst immer neu Orientierung und Vergewisserung sucht. b) Gemeinschaft der Hoffnung gestalten Gottesdienste im Profil der Gemeinschaft stärken die Hoffnung auf eine gelingende, friedvolle und gerechte Gemeinschaft der Menschen untereinander, als gastfreundlichen Vorschein der Wirklichkeit Gottes. Die Gemeinschaft, die hier Gestalt gewinnt, schließt Menschen aller Generationen, Gesunde und Kranke, Fremde und Einheimische ein. Der Gottesdienst ist geprägt von den hoffnungsvollen Zeugnissen der Bibel, von erfahrungsgesättigten Liedern und Mut machenden Bekenntnissen. Besonders das Abendmahl hat einen starken Akzent auf der communio, ist aber auch Vorgeschmack auf das große Festessen in Gottes Reich: Hier wird erlebbar, dass in der gottesdienst264
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
lichen Feier Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen. Konkrete Liturgie und kraftvolle Aktion verbinden sich: Diakonische Projekte werden in den Fürbitten Gott ans Herz gelegt und in den Abkündigungen anderen Menschen bekannt gemacht. Werbung für Hoffnungsprojekte ist hier geradezu erwünscht. Wenn das ganze Leben als ein einziger Gottesdienst (Röm 12,1f) verstanden wird, ergänzen sich Sonntag und Alltag in der ganzen Lebenszeit. Im Gottesdienst bringen wir die Welt vor Gott, wie sie ist; im Alltag teilen wir Liebe und Hoffnung aus. c) Das Geheimnis des Glaubens feiern Gottesdienst ist einzigartig und enthält deshalb immer auch etwas Fremdes, was nicht von dieser Welt ist. Manches in ihm bleibt Geheimnis, in dem das Göttliche dem Glauben unverfügbar, ja manchmal sogar verborgen bleibt. Auf diesem Weg gilt es, Spannungen auszuhalten und nicht vorschnell aufzulösen; das Heilige zu begehen und das Alltägliche dabei loszulassen. Konfrontationen mit dem ganz Anderen, aber auch ungeahnte Einheitserfahrungen, mehr mit dem Herzen geschaut als rational begriffen, können so Seele und Leib erreichen. Individuelle Motive und gemeinschaftlicher Vollzug verschmelzen geheimnisvoll. Rituelle Elemente im Zusammenspiel von Wort, Musik und Sakrament, aber auch Gesten und Stille schaffen Raum für die Begehung des Geheimnisses. Texte und Gebete in geprägter Sprache nehmen den Einzelnen und die Gemeinschaft in sich auf. Dazu passt eine meditative Predigt, in der sich individuelle Erwartungen mit der Botschaft geheimnisvoll vereinigen zu etwas Neuem. Das liturgische Tempo ist entschleunigt und gewährt Raum zum Durchatmen. Gewissheit, Gemeinschaft und Geheimnis gehören konstitutiv zu jedem Gottesdienst. Dennoch werden sie kaum vollkommen ausgewogen in ihm auftreten und müssen das auch nicht. Vielmehr wird man vielfach Schwerpunktsetzungen bei einem dieser Profile entdecken bzw. herbeiführen. Im Bewusstmachen und in bewusster Profilierung dieser Ausprägungen liegt das Qualitätsentwicklungspotenzial dieses Modells »Gottesdienst in 3G«. Es eignet sich in gleicher Weise als Planungs- und Analyseinstrument.
Gottesdienst und Qualität
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4 Gottesdienst und Inklusion Im deutschen bzw. englischen Sprachgebrauch finden wir drei ähnliche Begriffe: Inklusion, Inklusivität und Inklusivismus (engl. inclusion, inclusivity, inclusivism). Letzterer meint im religionstheologischen Diskurs die Gegenposition zum Exklusivismus. Diese Position geht davon aus, dass auch in anderen Religionen eine Erkenntnis von Gott existiert, in einer Religion jedoch die volle Wahrheit offenbart ist, die auch anderen den Zugang zum Heil ermöglicht (vgl. 1 Tim 2,4–6). (Exklusivistisch wäre dagegen die Vorstellung, dass es nur in einer Religion wahre Erkenntnis und entsprechend auch Heil gibt.) Auf der Suche nach einer Definition von Inklusivität bzw. Inklusion findet man im aktuellen Diskurs folgende ethischen Bestimmungen: »Inclusivity is the fact or policy of not excluding members or participants on the grounds of gender, race, class, sexuality, disability« (vgl. z. B. »inclusivity«, www.dicitionary.com). Inklusivität bezeichnet demnach eine Haltung, Menschen anderen Geschlechts, Rasse, Klasse, sexueller Orientierung oder Behinderung nicht an der Teilhabe von Gütern etc. auszuschließen. Positiv gewendet formuliert der Cambridge Dictionary: »Inclusivity is the quality of trying to include many different types of people and treat them all fairly and equally« (vgl. »inclusivity«, www.dictionary.cambridge.org). Inklusivität ist die Qualität, viele verschiedene Menschen zu inkludieren und sie fair und gleich zu behandeln. Der Schulbuchverlag Cornelsen definiert Inklusion dahingehend normativ, »dass kein Mensch ausgeschlossen, ausgegrenzt oder an den Rand gedrängt werden darf. Als Menschenrecht ist Inklusion unmittelbar verknüpft mit den Ansprüchen auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität« (vgl. www.cornelsen.de/empfehlungen/inklusion/ ratgeber/was-ist-inklusion). Fragen wir von hier aus: Ist ein (evangelischer) Gottesdienst inklusiv? Schließt er (automatisch) alle Menschen als Adressaten ein? Muss man diese Frage eigentlich stellen? Ist das für (evangelische) Christinnen und Christen nicht eine Selbstverständlichkeit? Christiane Bindseil schreibt: Gottesdienst ist »per se […] zutiefst inklusiv«. Deshalb ist es für sie eine »alarmierende Problemanzeige« (Bindseil, 199), wenn Liturgien ausdrücklich als »inklusiv« bezeichnet werden 266
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
müssen. Es macht betroffen, wenn Gottesdienste nicht selbstverständlich Kinder, Menschen anderer Sprache und Herkunft, Menschen mit einer Seh-, Hör- oder Gehbehinderung ebenso einbeziehen wie die vermeintlich »Gesunden« oder »Normalen«. Die Gegenalternative lautet: Das Evangelium ist eine inklusive Botschaft: Gottes Liebe gilt allen Menschen. Durch den Glauben und die Taufe gibt es keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern oder Menschen dritten Geschlechts, zwischen Schwarzen, Gelben oder Weißen, Kranken und Gesunden. Diese Botschaft wird im Gottesdienst kommuniziert. Er ist so inklusiv wie das Evangelium. 4.1 Biblische Grundlagen Paulus schreibt dazu in Gal 3,25–28: Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben.
Der Apostel setzt mit seinen Ausführungen eine Linie aus dem Evangelium fort, in dem beschrieben wird, dass bereits Jesus mit Sünderinnen und Sündern gegessen (Mk 2,13–19) und Umgang mit Menschen unterschiedlicher politischer und religiöser Orientierung bzw. ethnischer Zugehörigkeit hatte, ja auch ihnen das Reich Gottes verkündigte und sie heilte (vgl. Mk 7,24–30). Darum gehören z. B. römische Soldaten zu den Kronzeugen des Glaubens (vgl. Mt 8,5–13 bzw. Joh 4, 46–54 und Mk 15, 39). Doch gibt es nicht auch eine Scheidung in vielen biblischen Überlieferungen, die so weit reicht, dass Menschen die Teilhabe am Heil abgesprochen wird? Betrachten wir dazu Lukas 14 (par Mt 22), das Gleichnis vom großen Gastmahl. Drei Personen werden besonders erwähnt, die zum Fest eingeladen sind. Ein Mann kauft einen Acker, ein anderer ein Joch Ochsen, ein dritter heiratet. Für den göttlichen Gastgeber ist das traurig. Ja, er wird richtig zornig. Doch dann überlegt er sich ein Alternativ-Programm und schickt seinen Diener los: »Geh schnell auf die Straßen und Gassen und hole die Armen und Gehbehinderten, die Blinden und Lahmen herein.« Arme Leute bekommen – wie an Weihnachten die Hirten – eine wunderbare Ein Gottesdienst und Inklusion
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ladung mitgeteilt! Ein zweites Mal wird er dann losgeschickt, um auch auf den Landstraßen, jenseits der »konventionellen« Orte, Menschen einzuladen. Und alle kommen zum Fest: Bettler, Obdachlose, alle … Ist das ein inklusiver oder ein exklusiver Text? Hier findet ganz offensichtlich eine große räumliche und personelle »Expansion« statt. Der Gastgeber möchte unbedingt, dass alles voll wird. Die Botschaft lautet: Das große Fest soll mit unzählbar vielen Menschen stattfinden. Gott liebt sich den Himmel voll. (Und dennoch bleibt die Aussage am Ende stehen, dass Menschen Gottes Einladung ausschlagen können und das nicht ohne Folgen bleibt.) Eine Lösung dieses Dilemmas bietet – die Jesaja-Apokalypse (Jes 25). Sie entfaltet die große Vision eines inklusiven (universalen) Mahls. Gott selbst ist Gastgeber für alle Völker. Die Tische biegen sich. Und Gott wischt alle Tränen ab. Alle werden getröstet. Und alle werden satt. Gott handelt an allen und für alle Sinne. Leiblich, seelisch, geistlich. Diese Vision des kommenden Reiches Gottes ist vielleicht die größte und mutigste der ganzen Bibel und zeigt die universale Weite jüdisch-christlicher Hoffnung für die Welt. 4.2 Systematische Überlegungen Beziehungsreicher Gott – beziehungsreicher Mensch
Fragen wir noch grundsätzlicher: Hat der Gedanke der Inklusion eigentlich einen Anhaltspunkt in Gott selbst, in seinem Wesen? Dazu eine grundsätzliche These: Der dreieinige Gott ist in sich selbst Beziehung, ein beziehungsreiches Wesen. Gott ist beziehungsreiche Liebe, die sich schöpferisch mitteilt. Besonders in der orthodoxen Kirche, aber auch in der Dogmatik der westlichen Tradition ist der Gedanke der innergötlichen Beziehung (immanente Trinitätslehre) entfaltet worden. Wir können dazu zahlreiche Bilder heranziehen, das berühmteste ist die Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rubljow (1425). Die Ikone lässt uns gleichsam hinter einen Vorhang schauen: Vater, Sohn und Heiliger Geist sitzen an einem Tisch und unterhalten sich. Gott spricht mit seinesgleichen und stattet der Welt einen Besuch ab (vgl. Gen 18). Der orthodoxe Theologe John D. Zizioulas reflektiert in diesem Zusammenhang den Personbegriff, der in der Beziehung der Liebenden gründet: 268
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
»The person is otherness in communion and communion in otherness. The person is an identity that emerges through relationship […]; It is an ›I‹ that can exist only as long as it relates to a ›thou‹ which affirms its existence and its otherness. If we isolate the ›I‹ from the ›thou‹ we lose not only its otherness but also its very being.« (Zizioulas, 9) »The life of God is eternal because it is personal, that is to say, it is realized as an expression of free communion, as love. Life and love are identified in the person […], outside the communion of love the person loses its uniqueness and becomes a being like other beings, a ›thing‹ without absolut ›identity‹ and ›name‹, without a face.« (Zizioulas, 49)
Abb. 3: Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rubljow, Moskau 1425 (Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PDArt-YorckProject) Gottesdienst und Inklusion
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Persönliche Identität ist nicht einfach da, sondern geschieht in Beziehung. Sie ereignet sich in Liebe. Das gilt zunächst für Gott selbst, aber dann auch für seine Geschöpfe. Wenn Gott in Beziehung existiert und diese Beziehung kommunikativ ist, dann wird im Akt der Schöpfung die Beziehungsenergie Gottes zum Ereignis: Gottes Wort ruft die Welt ins Sein (Gen 1). Seine kommunikative Energie wird in der Zuwendung zur Welt schöpferisch. Tiere und Menschen werden geschaffen und empfangen den Segen Gottes (Gen 1,22.28). In diesem Energiestrom (vgl. oben 3.7. zu Segen) sind Menschen und andere Geschöpfe inklusiv verbunden. Auch ihre Identität geschieht nunmehr in Beziehung. Alle Geschöpfe bekommen Anteil an Gottes »liebender Beziehungssphäre«. Allen eröffnet er Raum zum Leben. So beleuchtet, erscheint Inklusion als Folge göttlicher Gemeinschaft, als Mithineingenommen-Werden in ein göttliches Gegenüber. Der »ewig reiche Gott« (vgl. EG 321) teilt sich dem Menschen sinnlich mit. In der zweiten Schöpfungsgeschichte (vgl. Gen 2,4ff) redet er ihn an und gewährt ihm Genuss und Lust: »Du darfst essen! Du darfst lieben!«. Innerhalb der Partnerschaft bildet sich in menschlicher Sphäre ab, was in Gott schon immer da ist. »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei«, weil Gott nicht allein ist und auch nicht unter sich bleiben will. Menschen sind Geschöpfe eines Gottes, der weder Mann noch Frau und doch Person ist. Sein göttlicher Atem ist in jedem von uns. Als lebendige Personen (von personare = durchklingen) sind wir erfüllt von seinem Geist. Alle Menschen bekommen als Gottes Ebenbild Anteil an seiner königlichen Würde (1. Mose 1,27, vgl. Ps 8), seiner Weisheit und Vielfalt, die sich besonders in den drei göttlichen Personen abbildet. Wir sind geadelt als Königskinder und zur Freiheit berufen. Deshalb verdienen alle Menschen Respekt und Anerkennung. Wenn Gott die Schöpfung an seinem eigenen Wesen teilhaben lässt und damit Vielfalt und Diversität in sie hineingelegt hat – man denke nur an den Aufbau jeder DNA- dann verlangt diese Vielfalt und Diversität tiefsten Respekt, und zwar nicht nur den Menschen, sondern auch Gott zuliebe! Leider wurde das über Jahrhunderte hinweg – auch von Christen – oft unterlassen oder versäumt: Bis heute haben weiße Männer tendenziell mehr Rechte und Chancen 270
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
als schwarze Männer und weiße Frauen, und erst recht als schwarze Frauen und Kinder. (Medizinisch) Gesunde und Kranke haben die gleiche Würde und die gleichen Rechte. Schöpfungstheologisch lassen sich vier Grundrelationen benennen, die den Menschen als (auf Inklusion) geschaffenes Beziehungswesen ausmachen: die Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Natur und zu Gott. Aus der bewussten Anerkennung dieser von Gott gestifteten Beziehungen in Verschiedenheit erwächst Verantwortung, für andere (»andersartige«) Menschen, für die Natur, aber auch für uns selbst. Dies ist gleichsam die horizontale Seite. Zugleich kann aus der Wahrnehmung der Verschiedenheit (z. B. menschlicher Gaben, Sprachen, Kulturen usw.) auch Staunen und Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer entstehen. Die Krönung des Umgangs mit Verschiedenheit ist eine Beziehung zu Gott in Dankbarkeit und Lobpreis. Die Lima-Erklärung drückte dies schon 1982 so aus: »Die Eucharistie ist das große Lobopfer, durch das die Kirche für die ganze Schöpfung spricht. Denn die Welt, die Gott mit sich versöhnt hat, ist in jeder Eucharistie gegenwärtig, in Brot und Wein in den Personen der Gläubigen und in den Gebeten, die sie für sich und für andere Menschen darbringen.« (Lima, E 4)
Allerdings gehört zu unserem Leben in dieser Schöpfung auch Krankheit und Not. Allerorten »seufzt die Kreatur«, wie Paulus schreibt (Röm 8,19–23). Menschen kommen nicht perfekt zur Welt. Und innerhalb eines Lebens passieren plötzlich Dinge, die uns schmerzlich spüren lassen: Wir sind zutiefst verletzlich. Ja, wir sind sogar sterblich. »Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen.« (EG 518) In der weltweiten christlichen Ökumene gibt es theologische Richtungen, die diese Erfahrungen dahingehend interpretieren, dass sie Christen nicht dauerhaft treffen dürfen. Ihnen zufolge ist das Leben mit einer Behinderung, ja sogar Armut und andere Not ein Problem, das man wie eine Panne beheben kann (West, Theology of Welfare). Doch entspricht dies unserer Erfahrung? Deckt sich das mit den Geschichten und Aussagen der Bibel? Ich meine: Durch die Schöpfung geht seit Menschengedenken der Riss des unverschuldeten Leids, der Krankheit. Man denke nur an das Erdbeben von Lissabon (1755) oder an den Tsunami von 2004 und viele menschliche Schicksale. Gottesdienst und Inklusion
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Ulrich Bach, der ein halbes Leben im Rollstuhl verbrachte, bekennt: »Gott will, dass auch dieses Leben mein Leben ist.« (Bach, 95) Exklusion als Sünde
Aber noch ein weiterer Riss geht durch die Schöpfung. Und dieser ist ein von Menschen verschuldeter. Menschen schließen einander aus. An Schulen gibt es Mobbing. Im Internet werden Menschen wegen ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Neigung, ihrer Hautfarbe, Religion oder Kultur diffamiert. Menschen grenzen einander aus und lösen sich somit auch aus der Gemeinschaft mit Gott. Sie gönnen einander nicht das Gute, führen Kriege um Ressourcen und Land und exkludieren sich gegenseitig. Dieser Drang in die Exklusion ist Sünde (vgl. Kunz/Liedke, 39f), oder mit Eberhard Jüngel: »Drang in die Beziehungs- und Verhältnislosigkeit« (vgl. Jüngel, 72f) bzw. »Ausbruch aus dem Beziehungsreichtum des Seins« (Jüngel, 95). Im 20. Jahrhundert hat sich – besonders in der Theologie der Befreiung – zunehmend der Gedanke struktureller Sünde herausgebildet. Konkret geht es dabei um sündige Strukturen der Ausbeutung, der Apartheid, der Teilhabeverweigerung usw. Auf der Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla (1979) wurde sie »als ›die Kraft der Spaltung‹ definiert«, die »das Hineinwachsen der Menschen in eine liebevolle Gemeinschaft behindert, wobei sie nicht nur vom Herzen eines jeden her wirkt, sondern dies auch tut durch die von den Menschen geschaffenen Strukturen, ›in denen die Sünde derer, die sie geschaffen haben, ihre zerstörerische Spur hinterlassen hat‹.« (Faus, Sünde 732)
Wo Menschen als Gruppe, Gesellschaft oder Nation nur auf sich selbst achten, schließen sie andere Gemeinschaften aus. Was auf dem Mittelmeer schon seit Jahren geschieht, ist Exklusion in perverser und perfider Weise. Gleiches ließe sich vom Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen und dem Klima sagen. Wenn Menschen nur nach sich fragen, vergessen sie die Schöpfung und beuten sie aus. Gottes Inklusionsprogramm in Christus
Gottes Antwort auf menschliche Exklusionen in all ihren Spielarten heißt Jesus Christus. Mit seiner Person hat die Liebe Gottes ein Ge272
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sicht bekommen und Versöhnung Fleisch und Blut angenommen. Der »beziehungsreiche Gott« schaltet sich ein ins Weltgeschehen. Er mischt sich persönlich ein mit der Sendung seines Sohnes: Martin Luther dichtete dazu 1523 sein Lied »Nun freut euch, lieben Christen g’mein« (EG 341): »Er sprach zu seinem lieben Sohn: ›Die Zeit ist hier zu erbarmen; fahr hin, meins Herzens werte Kron, und sei das Heil dem Armen …‹«
Gottes universale Rettungsenergie ist in Christus offenbar und gilt allen Menschen: »Denn Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus. der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle, als sein Zeugnis zur rechten Zeit.« (1. Tim 2,4–6, vgl. Joh 3,16f; Röm 8,3). Weil Christus lebt, sollen alle leben! (Joh 14,19, vgl. Röm 4,25; Röm 5, 18f) Das inkludierende Wirken Jesu von Nazareth hat viele Ausdrucksformen. Er macht Kranke gesund und bringt sie damit in das gesellschaftliche Leben zurück. Seine Mahlzeiten mit Sündern, Prostituierten, Zöllnern (vgl. Lk 7,36–50; 19,1–10 usw.) sind – oft provozierende – Aktionen der Re-Inkludierung ausgeschlossener oder verachteter Menschen. Herausragendes Zeichen ist jedoch das Wunder der Brotvermehrung. Hier geht es nicht mehr nur um Einzelne, sondern um eine sehr große Zahl von Menschen: Markus erzählt deshalb die Speisungsgeschichte sogar zweimal (Mk 4 und 6), einmal für 5000 und einmal für 4000. Juden und Heiden sollen satt werden, ein inklusives Zeichen des anbrechenden Reiches Gottes. Die Lima-Erklärung (E 1) formuliert dazu im Blick auf das Abendmahl: »Die Mahlzeiten, von denen berichtet wird, daß Jesus an ihnen während seiner irdischen Wirksamkeit teilgenommen hat, verkündigen und stellen die Nähe des Gottesreiches dar, für das die Speisungen der Menge ein Zeichen sind. Bei seinem letzten Mahl war die Gemeinschaft des Gottesreiches verbunden mit einem Ausblick auf Jesu zukünftiges Leiden. Nach seiner Auferstehung ließ der Herr seine Jünger im Brechen des Brotes seine Auferstehung erkennen.
Gottesdienst und Inklusion
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Die Eucharistie führt somit diese Mahlzeiten Jesu während seines irdischen Lebens und nach seiner Auferstehung weiter und dies immer als ein Zeichen des Gottesreiches.«
Die zeichenhafte Handlung der Brotvermehrung im Speisungswunder, das alle satt macht, wird im letzten Mahl Jesu symbolisch aufgenommen und auf seinen Tod bezogen. Die Einsetzungsworte im Abendmahl stellen alle Opferpraktiken der damaligen Zeit auf den Kopf. Nicht für Gott wird hier etwas geopfert, sondern Gott selbst gibt sich in Christus für alle Menschen. Daher ist auch eine inklusive Reformulierung des Kelchworts angemessen: Statt »das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden« können wir mit dem 2. Hochgebet im Römischen Messbuch (1970) sagen: für alle vergossen! Reich im Geist – Kirche als Ort der Re-Inklusion?!
Wo bekommen Jesu Zeichenhandlungen und seine Hingabe für uns (vgl. Joh 15,13) in der Kirche und im christlichen Leben einen Ort? Ulf Liedke schreibt treffend: »Inklusion lässt sich als Re-Inklusion durch Gottes versöhnendes Handeln verstehen. Der dreieinige Gott versöhnt die Menschen mit sich, indem er als Vater die ursprüngliche Bestimmung seiner Schöpfung wiederherstellt, sich als Sohn gibt und als Geist Gemeinschaft mit sich schafft.« (Kunz/Liedke, 40f)
Das, was Gott in der Schöpfung inklusiv und beziehungsreich angelegt hat, aber leider vielfach zerbrochen ist, wird in Christus durch den Geist »heimgeholt« (Bayer, Theologie, 399). Die versöhnte Welt wird reinkludiert in die große Gemeinschaft der Kinder Gottes. In der Kirche – in der Gemeinschaft der Versöhnten – verkündigen und leben wir das. Unser Auftrag als Kirche ist es, die Botschaft Jesu von der Versöhnung der Welt durch Gott an alle zu kommunizieren (2. Kor 5,19–21) Sicher braucht es für die Kommunikation dieser göttlichen Einladung immer wieder neue Kreativität in der Wahl der Worte und Orte. Ein beispielhafter Text dazu steht in Jes 55,1–3. Der Prophet tritt als Marktschreier auf, um die göttliche Einladung hinauszurufen: »Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren
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sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!«
Der kleine Abschnitt lässt mich fragen: Wie ist es mit unserer Kreativität und unserem Mut bestellt? Wo verlassen wir gewohnte Orte und gehen auf den Markt der Welt? Gibt es unter uns noch so etwas wie einen »Produktstolz«? Wie können wir ähnlich wie der prophetische Marktschreier von den köstlichen Speisen reden, die wir anbieten dürfen? Der Weg in die Re-Inklusion beginnt damit, dass wir selbst uns für Gottes Versöhnung begeistern und Freude an der Vorstellung entwickeln, dass alle einmal dabei sein und satt werden könnten, so schwer vorstellbar dies auch sein mag. Dass der Weg steinig und konfliktreich ist, liegt auf der Hand. Zwei biblische Texte zeigen Konflikte der frühen Gemeinde. In Apostelgeschichte 2–6 wird zunächst idealistisch die Ursituation von Kirche beschrieben. Kirche konstituiert sich als Gemeinschaft unter Wortverkündigung, Teilen des Brotes und Gebet (Apg 2,42). Dazu gehört aber auch das Teilen der Güter miteinander. Doch Kap. 6 zeigt, dass es Probleme gab, weil die Griechisch sprechenden Witwen bei der Verteilung der Speisen übersehen wurden. Es brauchte ein neues Amt und eine klare Verteilung der Aufgaben. Diakone sollten tätig werden und diese Gruppe (geistlich und leiblich) versorgen. Eine ethnisch-kulturelle Differenz und der schwache Status der Witwen steht im Hintergrund dieses Konflikts. Die eigenen Sprach genossen liegen uns näher als die Geschwister anderer Kultur … Doch mit dem Mut zur Veränderung und dem Weitblick der Leitenden gelingt es, solidarisch (im Geist Jesu) zu handeln und das Gefälle zu vermindern. Auch Paulus deckt Exklusionspraktiken auf. Er konfrontiert die Korinther (1. Kor 11) mit einem rücksichtslosen Fehlverhalten, das den sowieso schon großen sozialen Unterschied zwischen Sklaven und Freien noch verschärft und fehlende Liebe untereinander ans Licht bringt: Wer sich ohne Rücksicht auf die Schwächeren am Tisch des Herrn gütlich tut, der isst sich das Abendmahl zum Gericht. Seine Gottesdienst und Inklusion
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Ermahnung ist klar: Wartet aufeinander! Respektiert einander. Nur so seid ihr überzeugend Gemeinde Christi. Beide Beispiele zeigen, dass kulturelle und soziale Unterschiede zur Exklusion auch unter Christen führen können. Aber der Geist der Liebe lässt das nicht zu.
So wird deutlich: Exklusion ist uralt. Und Inklusion ist nicht nur etwas für diakonische Spezialisten oder Sozialpolitiker, sondern ureigenes Anliegen der christlichen Gemeinde. Auch heute stehen wir vor großen Herausforderungen im Umgang mit Verschiedenheit. Dies betrifft zunächst die innerchristliche Ökumene. Wie können Schritte zur Einheit am Tisch des Herrn aussehen?? Der Gottesdienst zur Eröffnung des Reformationsjubiläums (LWF/röm.-kath. Kirche) in Lund 2016 hat vielen Mut gemacht, und auch der Bußgottesdienst in Hildesheim (März 2017) war ein wichtiger Meilenstein zur Versöhnung unter den Konfessionen. Hier gab es freilich kein gemeinsames Abendmahl. Ein neues Papier des sog. Ökumenischen Arbeitskreises (Gemeinsam am Tisch des Herrn) proklamiert dagegen »eucharistische Gastfreundschaft« unter den großen Kirchen mit dem Tenor: Die Taufe wird als Grundsakrament – nicht zuletzt aufgrund der sog. Magedburger Erklärung (2007) – allgemein gegenseitig anerkannt. Dies kann »als Teilschritt auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft verstanden werden« (ÖAK-Votum, 54). Angesichts des gemeinsamen Bekenntnisses zu Jesus Christus und einer (vorausgesetzten) Einigkeit über das theologische Verständnis der liturgischen Handlung schlagen die Verfasser vor, auch ohne eine Einheit der Kirchen auf institutioneller Ebene Schritte hin zu einer gemeinsamen Feier zu gehen und sich im Geist Jesu Christi gegenseitig (wechselweise) zum Abendmahl einzuladen. Eine Rezeption dieses Vorschlags zur »wechselseitigen Teilnahme« (ÖAK-Votum, 55 u.ö.), der bereits an manchen Orten praktiziert wird, steht freilich noch aus. Innerhalb der lutherischen, unierten, anglikanischen und reformierten Kirchen (GEKE u. a.) besteht weitgehend Konsens, dass alle Getauften zum Abendmahl eingeladen werden und nicht mehr die Konfirmation Bedingung für die Einladung ist. Die methodistischen Kirchen gehen gar noch einen Schritt weiter und propagieren vielfach 276
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
das Prinzip des »Open Table«, an den Menschen aller Herkunft unabhängig von dem Status des Getauftseins eingeladen werden. So heißt es auf der Website der Ev. Methodistischen Kirche in Deutschland: »Gott geht in Vorlage, er kommt uns entgegen und gibt, was uns satt machen kann. So wie Jesus mit seinen Jüngern beim Abendmahl aß und trank, lädt er auch heute Menschen in die Gemeinschaft an seinen Tisch. […] Für […] John Wesley hatte das Beispiel Jesu Konsequenzen: Zum Abendmahl waren von Anfang an nicht nur Christen zugelassen, also nicht nur Menschen, die fest im Glauben standen oder bewährte Glieder der Kirche waren. Jeder Mensch, der Sehnsucht nach Gott hat, war eingeladen. Alle sollten »schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist. […] Bis heute wird daher in der Evangelisch-methodistischen Kirche das offene Abendmahl [sc. gefeiert].« (»Typisch methodistisch«, http:// www.emk.de/glaube/typisch-methodistisch)
Diese Position wird bis auf Weiteres wohl eine Minderheit bleiben. Dennoch: An vielen Orten der Welt spüren Christen: In der Taufe und im Mahl verbunden zu sein, macht uns stark in der Solidarität füreinander und für andere. Geistliche Inklusion lebt aus der communio mit IHM und untereinander und hat eine große Ausstrahlung: Wir sind füreinander da und können so auch anderen helfen, wir leiden miteinander, erfahren Trost und können so auch andere trösten; wir teilen und feiern miteinander das Leben und können so auch unsere Kirchen für andere öffnen. In der Lima-Erklärung steht dazu: »[Die] Eucharistie umgreift alle Aspekte des Lebens. Sie ist ein repräsentativer Akt der Danksagung der Darbringung für die ganze Welt. Die eucharistische Feier fordert Versöhnung und Gemeinschaft unter all denen, die als Brüder und Schwestern in der einen Familie Gottes betrachtet werden, und sie ist eine ständige Herausforderung nach angemessenen Beziehungen im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben (Mt. 5,23f; 1 Kor 10,16f; 1 Kor 11,16–20; Gal 3,28). Alle Arten von Ungerechtigkeit, Rassismus, Trennung und Mangel an Freiheit werden radikal herausgefordert, wenn wir miteinander am Leib und Blut Christi teilhaben.« (Lima, E 20) »Solidarität in der eucharistischen Gemeinschaft des Leibes Christi und verantwortliche Sorge der Christen füreinander finden in den Liturgien spezifischen Ausdruck: in der gegenseitigen Vergebung der Sünden; dem Friedensgruß, in den Fürbitten für alle, dem gemeinsamen Essen und Trinken; dem Bringen der Elemente -zu den Kranken und Gefangen oder der Feier der Eucharistie mit ihnen.« (Lima, E 21)
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Vorspiel und Vorgeschmack der Ewigkeit
Trotz vieler Aufbrüche und ermutigender Zeichen in den Kirchen der einen Welt bleibt vielfach spürbar, dass die völlige Inklusion, die (sichtbare) Teilhabe aller Menschen am Heil Gottes, noch aussteht, wie sie etwa in Jes 25,6–9 (vgl. 1) oder Offb 22 beschrieben ist, wenn alle Völker im Angesicht Gottes feiern und mit ihm lachen werden und alle Knie sich rühmend zu Christus bekennen (Phil 2,11). Dennoch ragt das, was kommen wird, schon herein in unseren Gottesdienst, ja ist in ihm geheimnisvoll und reichhaltig präsent Dies gilt besonders für die Feier der Eucharistie: »Die Eucharistie eröffnet die Schau der göttlichen Herrschaft, die als letztgültige Erneuerung der Schöpfung verheißen wurde, und ist deren Vorgeschmack. Zeichen dieser Erneuerung sind in der Welt schon gegenwärtig, wo immer die Gnade Gottes manifest ist und Menschen für Gerechtigkeit und Liebe eintreten. Die Eucharistie ist die Feier, bei der die Kirche für diese Zeichen Dank sagt und freudig das Kommen des Reiches in Christus feiert und vorwegnimmt (1. Kor 11,26; Mt 26,29).« (Lima, E 22)
Der christliche Gottesdienst ist in einer theologisch sehr pointierten Weise inklusiv (inkludierend): Er verbindet Räume und Zeiten, ja sogar Zeit und Ewigkeit verschränken sich. Exemplarisch feiert die Christenheit dies im Sanctus der Messe, wenn sich der Gesang der Kirche mit dem Jubel vergangener und kommender Generationen verbindet und sich sogar aufschwingt, gemeinsam mit den Engeln zu erklingen. So wird schon jetzt beim Singen und Feiern ein Vorgeschmack und eine Vorfreude auf das große Fest vor Gott verbreitet, der christliche Gottesdienst ist praeludium aeternitatis, Vorspiel der Ewigkeit, Einübung in das, was kommen wird. In der Verkündigung und in den Liedern der christlichen Kirche (und des Judentums) wird die Schönheit der Ewigkeit Gottes immer wieder ausgerufen und gerühmt. Damit hat das, was noch kommt, schon jetzt einen Ort: in den Herzen und Mündern der Glaubenden, aber auch in den Räumen der christlichen Kirche und am Tisch des Herrn. Inklusion hat ihre schönste Gestalt im Lob der Glaubenden, das Gottes neue Welt bejubelt Johann Walter dichtete 1552 (EG 148,1– 2.6-7). Man beachte auch hier die inklusiven bzw. universalen Aussagen: 278
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
»Herzlich tut mich erfreuen die liebe Sommerzeit, wenn Gott wird schön erneuen alles zur Ewigkeit. den Himmel und die Erde wird Gott neu schaffen gar, all Kreatur soll werden ganz herrlich schön und klar. Kein Zung kann je erreichen die ewig Schönheit groß; man kann’s mit nichts vergleichen, die Wort sind viel zu bloß. Drum müssen wir solchs sparen bis an den Jüngsten Tag; dann wollen wir erfahren, was Gott ist und vermag. Da wird man hören klingen die rechten Saitenspiel, die Musikkunst wird bringen in Gott der Freuden viel, die Engel werden singen, all Heilgen Gottes gleich mit himmelischen Zungen ewig in Gottes Reich. Mit Gott wir werden halten das ewig Abendmahl, die Speis wird nicht veralten auf Gottes Tisch und Saal; wir werden Früchte essen vom Baum des Lebens stets, vom Brunn der Lebensflüsse trinken zu gleich mit Gott.«
4.3 Liturgische Entfaltung Im Folgenden sollen – exemplarisch dargestellt an neueren Abendmahlsliturgien aus der weltweiten Ökumene – pointierte inklusive Formulierungen vorgestellt werden. Dabei werden sowohl Gebete (Anrufungen/Lobpreis) als auch verkündigende Elemente in den Blick genommen.
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Gebete
Ein erster Blick gilt inklusiven Aussagen zum Thema Schöpfung. Die Generalversammlung des Lutherischen Weltbundes 2017 in Windhuk betete im globalen Gedenkgottesdienst folgende Präfation und bezog dabei das Christusereignis auf die ganze Schöpfung heute: »It is indeed right, our duty and our joy, that we should at all times and in all places give thanks and praise to you, almighty and merciful God, through our saviour Jesus Christ. He has shown forth to all nations, in the waters of Jordan you proclaimed him your beloved Son, and in the miracle of water turned to wine he revealed your glory. And so with the whole communion of saints gathered through all the times and from all corners of this planet, with Peter and Paul, Mary and Elizabeth … with all of creation, from the desert of the Namib to mountains of the Andes, from the Ombalantu baobab tree to the tiniest dandelion, from the Nile to the Yangtze to the Ganges to the Euphrates to the Rhine and the Amazon and the Mississippi rivers, from the rising of the sun to its setting, the works of your hands shout for joy, with all the choirs of the angels we sing an unendig hymn […].« (Worship-Book, Windhuk, 2017, 67)
Faszinierend ist die große räumlich-globale und heilsgeschichtliche Klammer, die von der Taufe Jesu bis heute reicht. Das Motiv des Wassers bringt eine Tauferinnerung, die zugleich die Aussage »Du bist mein lieber Sohn/meine liebe Tochter« der Gemeinde mitgewährt. Zugleich sind wir mit diesem Gebet in der Natur des Landes, in den Bergen der Namib und unter dem Baobab-Baum. Schöpfung wird als geheiligter Raum liturgisch inkludiert. In ähnlicher Weise geschah dies auch im Schlussgottesdienst, der ganz im Zeichen von Joh 15,1–5 (Weinstock) stand. Dabei wurde zunächst der Akt der Schöpfung beschrieben, der den Menschen zum Ebenbild Gottes macht und ihm den Mund zum Lob öffnet: »Abiding in your word was a whole cosmos. You spoke light and whole worlds came alive. Your Spirit entered into your image formed from dust, abiding in the very act of breathing, so song could arise human voices and worship you. Abiding within the word of your prophets, you pronounced judgment on the unjust and promise for those in exile to whom you offered a future with hope. In the fullness of time, you gave us your Beloved, Jesus Christ,
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love incarnate, dwelling with us, abiding in us. So with all the branches ot the true wine with those of every language, tribe and time, with the whole heavenly chorus, we join the unending hymn of praise. (Worship-Book, Windhuk 2017, 92)
Die Fülle inklusiver Aussagen zur Schöpfung der Welt und des geistbeseelten Menschen sind mit Händen zu greifen. Das Gebet benennt allerdings auch Gottes Gericht an denen, die Unrecht tun. Freilich steht diesem seine gnädige Verheißung durch die Propheten und seine Erfüllung des Heils in Christus, dem Weinstock, kraftvoll gegenüber. Darum erklingt am Ende eine Symphonie des Lobs in allen Sprachen, Völkern und Zeiten, die sich mit himmlischem Jubel verbindet. Auch die Epiklese und abschließende Doxologie im zentralen Gedenkgottesdienst war universal ausgerichtet: »Come now o Holy Spirit! Bless us and these your own gifts of bread and wine that your praise may ever be on our lips and in our hearts and your justice touch all lives, all cities and nations, and all of creation. To you, o God, Father, Son and Holy Spirit, be all honor an glory in your holy church, now and forever.« (Worship-Book, Windhuk 2017, 68)
Die Christus-Anamnese beim Abschluss-Gottesdienst der Generalversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) in Basel 2018 akzentuiert Inklusion im Blick auf das Wirken Jesu Christi mit Anleihen aus Jes 61 (vgl. Lk 4). Besonderes Anliegen ist hier, dass nicht nur auf Geburt, Kreuz und Auferstehung, sondern gerade auf das abgehoben wird, was Jesus zu seinen Lebzeiten getan hat. Dazu gehört explizit das Essen und Trinken mit Sündern: »Ja, heilig bist du und gesegnet ist dein Sohn Jesus Christus. Dein Geist salbte ihn, den Armen das Evangelium zu verkündigen, den Gefangenen zu predigen, dass sie los sein sollen, den Blinden, dass sie sehen sollen, den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen, dass die Zeit gekommen ist, dein Volk zu erlösen. Er heilte die Kranken, speiste die Hungrigen und aß mit den Sündern.
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Durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen hast du deine Kirche ins Leben gerufen und uns von der Macht der Sünde erlöst. Du hast einen neuen Bund geschlossen durch Wasser und Geist. […]« (Worship-Book, Basel 2018, 111)
Einladung – Betrachtung Das EGb enthält in Grundform II auch die Tradition einer Einladung (vgl. Luthers »Vermahnung zum Sakrament«, WA 30 II, 593–626), die als »Abendmahlsbetrachtung« bezeichnet wird (vgl. oben Kapitel III.5.4, 173–175). Am Karfreitag wird ausdrücklich das Scheitern von menschlichen Beziehungen angesprochen. Dadurch bekommt dieser Teil nicht nur einladenden, sondern auch aufrüttelnden Charakter, Exklusion und Vergebung werden thematisiert und mit einer Einladung durch den Gekreuzigten verbunden: »Immer wieder haben sich Menschen gegenübergestanden wie Kain und Abel: neidisch und verzweifelt, misstrauisch und wütend, ratlos und sprachlos, unversöhnlich und böse, bereit über andere Menschen hinwegzugehen, sie zu verachten und ihnen die Luft zum Atmen zu nehmen. Am Tisch Jesu Christi werden Menschen zusammengeführt. Verletzungen geheilt, Angst wird in Offenheit, Misstrauen in Zuversicht verwandelt. So lasst euch einladen an diesen Tisch, lasst euer Leben verwandeln von dem, der sein Leben dahingab, damit wir leben können.« (EGb, 664)
Eine Würdigung verdient auch die Reformierte Liturgie (Agende) von 1999. Im Geiste der Theologie Karl Barths wird der Mahlfeier eine (etwas lange) »Abendmahlsbesinnung« vorangestellt, die hier in Auszügen zitiert wird. Hier ist die Verbindung von Zuspruch und Anspruch bzw. von Ethik und Reich-Gottes-Erwartung in ein interessantes »Gesamtkunstwerk« gebracht. Der innere rote Faden scheint dabei durch Glaube, Liebe und Hoffnung geprägt zu sein. Inklusion ist hier sowohl ekklesiologisch-ethisch als auch eschatologisch (Hoffnung) gewendet. »Jesus Christus, unser Heiland, lädt uns an seinen Tisch. Er ist unser Friede und spricht unserem Glauben Vergebung zu. Er lässt uns die Gemeinschaft seines Geistes in seiner Kirche als Brüder und Schwestern leben,
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Frieden mit allen Menschen suchen und der Versöhnung der Gruppen, Parteien und Völkern dienen. Er sendet uns, mit ihm die Verachteten zu ehren, die Verirrten zu suchen, die Hungernden zu speisen, den Leidenden zu helfen, nicht zu richten, sondern zu schlichten, nicht zu vergelten, sondern zu vergeben und in allen Gedanken, Worten und Taten in seiner Nachfolge zu bestehen. Wir essen und trinken miteinander, wie Jesus Christus es angeordnet hat und hoffen auf das Kommen der neuen Welt Gottes, in der kein Leid, kein Schmerz, keine Schuld und kein Tod mehr sein werden. Wir hoffen auf das ewige Freudenmahl in seinem Reich und eine Gemeinschaft in der Herrlichkeit, die kein Ende haben wird. […]« (Reformierte Liturgie, 349)
4.4 Konkretionen für »inklusiv gestaltete Gottesdienste« Es dürfte deutlich geworden sein, dass Inklusion theologisch nicht nur einen räumlichen (»Barrierefreiheit«), sondern auch einen tiefen geistlichen Sinn hat, der im Wesen Gottes selbst und im Evangelium von Jesus Christus begründet ist. Im Folgenden werden Konkretionen für »inklusiv gestaltete Gottes dienste« formuliert, die am Beispiel des gemeinsamen Feierns von Menschen mit und ohne Behinderung durchgespielt werden. Selbstverständlich könnte dies auch im Blick auf mehrsprachige bzw. interkulturelle oder generationenübergreifende Gottesdienste geschehen. Aber bereits hier zeigen sich auch Grenzen der Inklusion. Alle Zielgruppen gleichzeitig angemessen zu bedenken, ist unter den Bedingungen unseres Lebens kaum möglich und – seien wir ehrlich – auch angesichts von personellen, technischen und finanziellen Ressourcen kaum darstellbar. Und dennoch: Im März 2009 hat die Bundes republik Deutschland die Übereinkunft der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung ratifiziert und als gültiges Bundesrecht übernommen. Dies scheint liturgisch noch nicht überall wirklich durchgedrungen zu sein … Wenn wir gemeinsam mit behinderten Menschen feiern und Gottesdienste entwickeln, ist stets zu fragen: Wie kann die gottesdienstliche Feier in Gebet, Musik, Mahlfeier und Verkündigung mit den Brüchen des menschlichen Lebens behutsam und doch ehrlich umgehen? Was bedeutet es für uns Christen, dass Menschen Gottes Gottesdienst und Inklusion
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Zuwendung im Glauben erfahren und doch ein Leben lang im Rollstuhl bleiben? All das zeigt, dass die Themen »Gott und Mensch, Sünde und Gnade, Gemeinschaft und Diversität« »inklusionssensibel zu bedenken sind« (Kunz/Liedke, 46). Grundsätzliches
Was für alle Gottesdienste gilt, ist besonders für in einem spezifischen Sinne verstandene »inklusive Gottesdienste« wichtig. Sie sollten möglichst gemeinsam mit Menschen vorbereitet werden, die selbst Handicaps oder Einschränkungen, sprachliche oder kognitive Barrieren mitbringen. Ulrich Bach empfiehlt: »Laß dir einen biblischen Abschnitt von einem Sprechbehinderten oder von den Eltern eines schwerbehinderten Kindes vorlesen, und es kann geschehen, daß du einen ganz neuen, ungeahnten Zugang zu uralten biblischen Sätzen bekommst.« (Bach, Familie, 36)
Menschen mit und ohne Behinderung feiern in Einrichtungen der Behindertenhilfe, in Förderschulen, in diakonischen Einrichtungen, aber auch immer mehr in ganz »normalen« Gemeindegottesdiensten regelmäßig Gottesdienst. Das ist gut! Besonders sensibel ist hier die Abendmahlsfeier, da sie zum einen den Aspekt der Gemeinschaft aller Glaubenden inszeniert und erlebbar macht, zum anderen aber auch vor besondere partizipative Herausforderungen stellt. Theologisch stehen im Vordergrund der Abendmahlsfeier Vergebung und Dankbarkeit, Freude an den Gaben der Schöpfung und Versöhnung in der Welt, aber auch die Gemeinschaft mit Jesus und untereinander. Um diese Gemeinschaft »wahrhaftig« zu erleben, nehmen wir ernst, dass Menschen mit Behinderungen in einem hohen Maß unter Sinnes-, Wahrnehmungs-, Bewegungs- und kognitiven Verarbeitungsunsicherheiten leiden. Zugleich wollen sie oft sehr unmittelbar und spontan ihren Glauben, ihre Freude und auch ihr Bedürfnis nach Nähe in der Gemeinschaft ausdrücken. Das ist eine große Ressource, die Raum haben darf und keine Störung bedeutet. Gleichwohl bedarf sie der Übung (dazu Raimar Kremer, Inklusives Abendmahl, www.zsb-ekhn.de). 284
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Gottesdienstraum
Ein festlich gedeckter Tisch, ein schön gestalteter Raum und fröhliche, aber auch meditative Musik gehören zu jeder Abendmahlsfeier dazu. Die Aufgabe, den Raum zu Gottesdienstraum zu schmücken, können Menschen mit und ohne Behinderung übernehmen und erfüllen. Das Abendmahlsgeschirr kann kurz vor der Mahlfeier von Menschen mit und ohne Behinderung auf den Altar gestellt werden oder auch innerhalb des Gottesdienstes zum Altar getragen werden. Die Erfahrung zeigt: Sie werden das vorsichtig und mit viel Würde tun. Manchmal brauchen sie Anleitung und Hilfe dazu, auch noch während des Vollzugs. Auch an der Musik können sie mit einfachen Instrumenten (z. B. Orff-Instrumentarium) mitwirken und natürlich singen. Sicher ist es hilfreich, wenn musikalische Beiträge und Aktionen ein wenig vorbereitet werden. Dadurch wird der inklusive Charakter der Feier nicht nur im Vollzug, sondern schon im Vorfeld betont. Die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Menschen und die räumlichen Gegebenheiten bestimmen entscheidend, wie der Gottesdienst gestaltet wird. Wichtig zu bedenken ist: Gibt es Stufen in dem Raum? Kann ein Kreis oder Halbkreis um den Altar/Tisch gebildet werden? Wie können Menschen mit Gehbehinderung und/oder im Rollstuhl in den Kreis einbezogen werden? Wichtig ist: Niemand darf aufgrund der räumlichen Situation vom Abendmahl ausgeschlossen werden. Manchmal gelingt es, schon vorab darüber zu sprechen und nicht erst kurz vor der Einladung zum Altar Kontakt zu einer Sehbehinderten, einem Rollstuhlfahrer o. Ä. aufzunehmen. Abendmahlsliturgie
Die Abendmahlsliturgie hat einen großen Reichtum an liturgischen Elementen, biblischen Bezügen und Texten, Liedern und symbolischen Vollzügen. Je nach Ort und Zeit im Kirchenjahr sowie den Traditionen der jeweiligen Kirche werden die Akzente unterschiedlich sein. Verschiedene agendarische und symbolische Optionen sind zu bedenken (vgl. oben Kapitel III.5 zum Abendmahl) Ȥ Messe oder andere Form Ȥ Soll eine ausdrückliche Sündenvergebung (Beichte) vorangehen? Ȥ Gibt es einen Friedensgruß als Zeichen? Gottesdienst und Inklusion
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Ȥ Können sich die Teilnehmenden am Ende nochmals im Kreis an der Hand fassen? Ȥ Welche Lieder können auswendig während der Austeilung gesungen werden (z. B. »Meine Hoffnung und meine Freude«, fT 43, evtl. auch mit Gebärdensprache)? Tischabendmahl
Besonders schön kann ein Tischabendmahl sein: Nachdem die Teilnehmenden am Abendmahl ihre Plätze am festlich gedeckten Tisch eingenommen haben, werden sie mit Namen einzeln begrüßt. Zum Beispiel so: »Jesus hat uns eingeladen. Er hat das mit vielen Menschen getan: Frauen und Männern, Armen und Reichen. Heute tut er das mit uns. Er begrüßt auch Thomas und Lena (…).« Für jeden genannten Namen wird ein Teelicht angezündet und auf den Tisch gestellt. Ggf. können die Teelichter auch in Form eines Kreuzes gestellt werden. Nach der Vorstellungsrunde fassen sich alle für einen Augenblick an den Händen. Wenn möglich, kann hier ein bekanntes Lied gesungen werden, z. B. »Ich bin das Brot, lade euch ein, so soll es sein« (fT 154) oder »Kommt, sagst es allen weiter« (EG 225). Vielleicht gibt es auch noch ein gemeinsames sinnliches Ritual. Das hängt von der Vertrautheit der Teilnehmenden ab. Alle können etwa ganz tief einatmen und halten dann die Luft kurz an. Es folgt ein lautes, entspanntes Ausatmen. Dieses Ritual kann mehrere Male wiederholt werden. So können die Teilnehmenden erleben: Bei Jesus und seinem Mahl dürfen wir aufatmen. Wer möchte, darf dem Nachbarn oder der Nachbarin kurz über den Rücken streicheln. So teilen wir miteinander die Gewissheit. Jesus berührt uns heilsam. Es ist möglich, dann die Geschichte der Einsetzung frei zu erzählen oder eine andere Mahlgeschichte Jesu erzählend in Erinnerung zu rufen bzw. vorzulesen und die Einsetzungsworte dann in der vertrauten Gestalt zu rezitieren. Unter Umständen können Menschen (mit und ohne Behinderung) sie auch auswendig mitsprechen. 286
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
Allerdings können wir nicht immer davon ausgehen, dass allen die traditionellen Einsetzungsworte vertraut sind. Eine Version in Leichter Sprache lautet so: Jesus hat oft gefeiert – mit seinen Freunden und Freundinnen, aber auch mit vielen anderen Menschen. Er hat ihnen von Gott erzählt. Und von seinen großen Taten. Viele haben sich darüber gefreut. Und heute tun wir das auch. Wir erinnern uns dabei an das letzte Essen von Jesus: Es war Nacht. Jesus saß mit seinen Freunden (Jüngern) am Tisch. (Er feierte mit ihnen Passa. Das ist ein jüdisches Fest.) Er nahm das Brot und brach es. Er dankte Gott. Dann sagte er zu seinen Freunden: Nehmt und esst. Das bin ich + für euch. Danach nahm er den Becher. Er dankte Gott dafür. Jesus sagte: Nehmt und trinkt. Das bin ich + für euch. Ich gebe mein Leben für euch und alle Menschen. Gott verzeiht euch. So könnt ihr (ewig) leben. Tut das immer wieder. Erinnert euch an mich.
Sehbehinderung
Für sehbehinderte und blinde Menschen ist es schwierig, sich im Kirchenraum allein zurechtzufinden. Einige Gesangbücher in Großdruck, ggf. auch in Blindenschrift, können angeschafft werden und in der Kirche bleiben. Die Lieder sollten jeweils mit Nummer und der ersten Textzeile laut angesagt werden. Chorusse und Lieder können, sofern sie nicht auswendig beherrscht werden (wie Ehr sei dem Vater, Kyrie usw.), mehrfach vorgesungen und wiederholt werden. Das freut auch Menschen, die sich mit dem Noten- und Textlesen schwertun. Kirchennahe Blinde können viele Gesangbuchlieder auswendig! Es ist aber auch möglich, dass partizipative Elemente des Gottesdienstes (z. B. gesprochenes Psalmgebet) mit Elementen des Vorsprechens/Vorsingens und Wiederholens inszeniert werden: V: Jauchzet dem Herrn alle Welt! A: Jauchzet dem Herrn alle Welt! V: Dienet dem Herrn mit Freuden. A: Dienet dem Herrn mit Freuden. usw. Gottesdienst und Inklusion
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Zum Abendmahl stellen die Teilnehmenden sich meist im Halbkreis oder Kreis um den Altar auf. Bei den damit verbundenen Wegen sind Sehbehinderte und Blinde auf Hilfe angewiesen. Sie brauchen eine Begleitperson, die sie im wahrsten Sinne des Wortes »an die Hand nehmen«. Eine zweite Schwierigkeit sind die oft zu komplizierten und unterschiedlichen Austeilungsformen (Einzelkelch bzw. Gemeinschaftskelch und Wein bzw. Traubensaft). Diese Unsicherheitsfaktoren führen dazu, dass sehbehinderte und blinde Menschen lieber sitzen bleiben. Trotzdem sollten sie zum Abendmahl ermutigt werden. Folgendes ist dabei zu bedenken: 1. Der Ablauf der Abendmahlsfeier muss knapp aber deutlich erklärt werden. 2. Es ist zu empfehlen, einen sehbehinderten oder blinden Menschen, falls er allein kommt, vorab (!) anzusprechen, ob man ihn zum Abendmahl begleiten soll. 3. Bei der Austeilung sollte man leicht Arm oder Schulter beühren. So weiß er, dass er jetzt bei der Austeilung an der Reihe ist. 4. Brot oder Hostie und Kelch bzw. Einzelkelch sollten direkt in die Hand gegeben werden. Der sehbehinderte und blinde Mensch erwartet diese Berührung. 5. Eine gemeinsame oder selbstständige Intinctio ist aus hygienischen Gründen nicht zu empfehlen. 6. Die Einladung »Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist« muss nicht vermieden werden. Auch Sehbehinderte und Blinde benutzen dieses Wort in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch. Schwerhörigkeit Ganz andere Erwartungen bestehen im Blick auf Menschen, die schwerhörig oder gehörlos sind. Folgende Empfehlungen seien hier ausgesprochen: 1. Um die Hörbehinderung für Menschen mit einem Hörsystem zu verringern, sollte der Gottesdienstraum mit einer Induktionsschleife ausgerüstet sein. Selbst gute Lautsprecher allein nutzen Trägerinnen von Hörgeräten selten. 2. Gesprochene Worte sollten möglichst visualisiert werden, z. B. mit einer Power-Point-Präsentation, sodass hörgeschädigte Menschen das Abendmahl »mitlesen« können. 288
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
Alternativ oder zusätzlich ist für gehörlose Menschen eine Übersetzung in Gebärdensprache oft die einzige Chance. Wichtig ist dies auch für Regieanweisungen im Gottesdienst wie z. B. die Einladung, zum Abendmahl nach vorne zu kommen, zu den Austeilungsformen im Halbkreis, Kreis o. Ä. Hier sind Hörgeschädigte am unsichersten. 3. Wo das nicht möglich ist, kann schwerhörigen Gottesdienstbesuchern die Abendmahlsliturgie ausgedruckt und als Handout zur Verfügung gestellt werden. 4. Darüber hinaus sind für das bessere Verstehen eine deutliche Artikulation und gute Lichtverhältnisse hilfreich. Geübte können, sofern keine Übersetzung in Gebärdensprache möglich ist, einen erheblichen Anteil der Sprache vom Mund ablesen. Dabei kommt es allerdings auf ein langsames Sprechtempo an. 4.5 Leichte Sprache im Gottesdienst Ein wesentlicher Aspekt für inklusive Gottesdienste – dies gilt generell – ist die Nutzung Leichter Sprache. Zu Recht ist Barrierefreiheit gerade auch an dieser Stelle energisch eingefordert worden. Ohne Leichte Sprache bleiben zentrale Aussagen im Gottesdienst für viele Menschen unverständlich. Die ersten Jahre im Umgang damit haben gezeigt, dass verschiedene Parameter zu bedenken sind. Verständlichkeit und Klarheit auf der einen Seite, Schönheit und theologische Tiefe auf der anderen Seite sind Qualitätsmerkmale, die vielen Menschen wichtig sind. Daher sind die von manchen propagierten Regeln Leichter Sprache nicht zu streng und doch mit einer gewissen Konsequenz zu verfolgen. Dies gilt besonders für die Länge der Sätze und ihre Struktur (keine geschraubten Nebensätze) sowie für die Verwendung von Substantiven und Fremdwörtern. An erster Stelle steht für mich: ein Gedanke pro Satz! Auch ein Duden für Leichte Sprache ist inzwischen entstanden, der hier nachdrücklich empfohlen sei. Gemeinsam mit Anne Gidion und anderen schlage ich folgende zwölf Kunstregeln zur Bearbeitung bzw. Neufassung von Texten vor (vgl. auch Gidion/Arnold/Martinsen, 9–17): Gottesdienst und Inklusion
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1. Formuliere einen Gedanken pro Satz! Verwende höchstens 15 Wörter pro Satz. Längere Sätze werden aufgeteilt. 2. Verneinungen sind durch positive Aussagen zu ersetzen! (Statt »Fürchte dich nicht!« z. B. »Hab Mut!« oder »Sei ganz ruhig!«) 3. Verben bringen Bewegung und Lebendigkeit in unsere Sprache. Sie sind Substantiven vorzuziehen. 4. Relativsätze und Nebensätze sind zu vermeiden (also lieber Parataxe statt Hypotaxe: »Ich gehe gleich zur Arbeit. Vorher telefoniere ich mit meiner Mutter.« Statt: »Nachdem ich mit meiner Mutter telefoniert habe, gehe ich zur Arbeit.«) 5. Konjunktive oder irreale Ausdrücke sind oft zu kompliziert! Besser ist der Indikativ. Die Bibel liefert dafür selbst gute Beispiele: »Ich bin für dich da«, »Ihr seid das Licht der Welt!« o. Ä. Ein klarer Imperativ ist besser als eine komplizierte Ansage mit »sollen« oder »müssen«. Auch hier denke man an biblische Beispiele: »Mache dich auf! Werde licht!« oder »Folge mir nach!« 6. Hilfsverben wie können/lassen/sollen/müssen/dürfen sind möglichst zu vermeiden. 7. Aktive Formulierungen sind passiven vorzuziehen. 8. Abstrakta, Fremdwörter oder wissenschaftliche Fachwörter wie »Metamorphose«, »Transformation« oder »Prädestination« sind meist verzichtbar! Das gilt auch für theologische »Lieblingswörter«. Statt Rechtfertigungslehre z. B. kann man einen Satz formulieren: Gott sagt zu dir: »Ich nehme dich an. So wie du bist.« 9. Genitive sollten ersetzt werden: Aus »Tod Jesu« wird dann »der Tod von Jesus«, aus »Reich Gottes« das »Reich von Gott« oder noch besser »ein Leben mit Gott als König«. 10. Lange Wortzusammensetzungen werden aufgelöst! Laubhüttenfest wird zum Laub-Hütten-Fest oder »Ernte-Fest in Israel« oder zu einem »jüdischen Fest im Herbst«. 11. Bilder und Metaphern sollten sparsam eingesetzt werden. Sie brauchen Zeit, um anzukommen und einzuleuchten. 12. Unbekannte biblische Personen werden eingeführt (z. B. »Aaron, das war der Bruder von Mose« statt einfach »Aaron«). Sog. Rampen erklären nicht nur Begriffe und Namen, sondern auch Hintergründe aus der »Vorgeschichte« usw. 290
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Zur Veranschaulichung soll abschließend ein Beispiel angeführt werden, wie ein Psalm in Leichter Sprache aussehen könnte. Luther 2017 übersetzt Psalm 121 so: Die Alternative in Leichter Sprache könnte so aussehen:
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat.
Ich schaue hinauf zu den Bergen: Woher kommt Hilfe? Meine Hilfe kommt von Gott. Gott hat den Himmel und die Erde gemacht.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, Er passt auf dich auf. und der dich behütet, schläft nicht. Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.
Gott ist immer wach.
Der HERR behütet dich; der HERR ist Er lenkt deine Schritte dein Schatten über deiner rechten Hand, Was du auch tust: Gott ist da. dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.
Am Tag, wenn die Sonne scheint. In der Nacht, wenn der Mond am Himmel ist.
Der HERR behüte dich vor allem Übel, Gott behütet dich vor allem Bösen. er behüte deine Seele. Er bewahrt dein Leben. Der HERR behüte deinen Ausgang und Gott wird dich am Ende behüten. Eingang von nun an bis in Ewigkeit. So wie er dich am Anfang beschützt. Heute und morgen, jeden Tag, immer und ewig.
5 Gottesdienst und Theologie 5.1 Der Gottesdienst als Gabe für die Theologie »Theologie kommt vom Gottesdienst her und geht auf ihn hin«, schreibt Oswald Bayer (Bayer, 403). Denn vor der Theologie war der Glaube so wie die Sprache vor der Grammatik und die Kunst vor der Kunstgeschichte bzw. die Musik vor der Musikwissenschaft. Darum können wir sagen, dass das Erstereignis des Christentums (und jeder Religion) nicht die Lehre über den Glauben (Theologie), sondern der Vollzug des Glaubens ist. Darum sind nicht die Regeln über den Gottesdienst, sondern der gefeierte Gottesdienst selbst das Gottesdienst und Theologie
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entscheidende Ereignis für die Kirche. Insofern können wir sagen, dass der Gottesdienst der Theologie gegeben und vorgegeben ist. Was geschieht im Gottesdienst? Stellen wir uns diese Frage hier noch einmal: Im Gottesdienst kommen Glaubensäußerungen zur »Aufführung«, die einen weiten Horizont menschlicher Erfahrung und göttlicher Wahrheit beschreiben: von der dunklen Verborgenheit Gottes in der Klage bis hin zur befreienden Zusage und zum hymnischen Lobgesang reicht das Spektrum Klage und Bitte, Dank und Lob auf der einen Seite sowie Zuspruch und Ermahnung auf der anderen Seite sind gleichsam elementare Theologie im Vollzug: Rede und Gesang von Gott her und zu ihm hin. Trinitarische Formeln (z. B. »im Namen Gottes des Vaters« bei Votum und Taufe), die geprägten Worte Christi beim Abendmahl (»Das ist mein Leib«) sowie das Gebet Jesu (Vaterunser) geben der Liturgie nicht nur Gestalt, sondern prägen auch ihren Gehalt. Der Segen oder die Einsetzungsworte sind performatives Wort, d. h. sie teilen die rettende Gegenwart Gottes in der Welt aus. Sie setzen sein Heil in Kraft: Die Worte der Absolution bewirken nach christlicher Überzeugung, dass Sünden tatsächlich vergeben sind. Diese Qualität ist vergleichbar mit anderen Lebensvollzügen oder öffentlichen Ereignissen, man denke an die Eröffnung der Olympischen Spiele (»Hiermit sind die Olympischen Spiele eröffnet«) oder das Standesamt (»Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau« o. ä.).
Damit sind die Wirkmacht des göttlichen Wortes und der Gabecha rakter des Gottesdienstes beschrieben. An dieser Kraft und Wahrheit bekommt die Theologie, die sich mit dem Gottesdienst beschäftigt, Anteil. Indem sie sich auf den Gottesdienst mit seinen elementaren Sprach- und Lebensformen einlässt, bleibt sie auf das Grundereignis der Kirche bezogen, nährt sich gleichsam von der Quelle des Glaubens. 5.2 Gottesdienst als Aufgabe der Theologie Mit diesem passiv-rezeptiven Charakter der Theologie korrespondiert ein aktiver Aspekt: Die Theologie hat wahrzunehmen und darzustellen, wie der Gottesdienst als »Identitätszentrum christlichen 292
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
Lebens« den Glauben der Kirche vergewissert und sie zum Leben befähigt. Dazu gehört auch ein Blick auf das Verhältnis von Gottesdienst am Sonntag und im Alltag: Das Ereignis des liturgischen Gottesdienstes gibt dem vernünftigen Gottesdienst im Alltag der Welt Richtung und Kraft: Das Lobopfer der Lippen (Ps 50,23) wird zu einem Lobopfer des ganzen Lebens (vgl. Röm 12,1f). Oder: Was Gott zur Ehre geschieht, dient auch dem Menschen, und was dem Menschen dient, gereicht Gott zur Ehre. Wenn die Theologie diesen Zusammenhang bedenkt, stellt sie das umfassende leiblich-geistliche Ereignis von Kirche schlechthin dar. Zugleich – und das ist die Pointe – vergewissert sie sich ihrer eigenen »Quellen«, ihrer evangelischen Herkunft: So wie Kirche dort zu finden ist, wo das Wort rein verkündigt und die Sakramente evangeliumsgemäß gereicht werden (CA 7), Gott angerufen und gelobt, aber auch Christus in der Nachfolge des Kreuzes verherrlicht wird, so schlägt auch dort der Puls der Theologie, wo auf Gottes Wort gehört (Meditatio), sein Name angerufen (Oratio) und die Spannungen der Welt erlitten (Tentatio) werden. Damit der Gottesdienst als gehorsamer Dienst vor Gott geschehen kann, hat die Theologie aber auch die Verantwortung dafür wahrzunehmen, dass der Gottesdienst ein Ort bleibt, an dem das Evangelium konkrete Gestalt gewinnt. Insofern ist hier von einer zweiten Aufgabe der Theologie zu reden, die über eine bloße Darstellung der im Gottesdienst kommunizierten Glaubenswahrheiten hinausgeht: Aufgabe der Theologie ist es, kirchliche Lehre, wie sie von der Heiligen Schrift bezeugt und von den altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen ausgelegt wird, erfahrungsbezogen und zeitgenössisch auszulegen und zu interpretieren. In Schriftlesung und Glaubensbekenntnis des Gottesdienstes werden diese beiden wichtigsten Autoritäten kirchlicher Lehre (Bibel und Credo) in der Struktur von Anrede und Antwort laut. In dieser Abfolge liegt auch der dialogische Kern des christlichen Gottesdienstes begründet: Gott »redet durch sein heiliges Wort« und die Gemeinde antwortet mit dem »Bekenntnis und Lobopfer des Glaubens«. Was folgt daraus? Die Dogmatik hat zu prüfen, ob der Inhalt von Schrift und Bekenntnis mit dem restlichen Geschehen des Gottesdienstes in Einklang gebracht werden kann, d. h. ob z. B. Predigt und Abendmahl, Gebet Gottesdienst und Theologie
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und Gemeindegesang mit den unverzichtbaren Konstanten »Heilige Schrift« und »trinitarisches Credo« übereinstimmen. Eine weitere Aufgabe theologischer Lehre ist es, die genannte Ausrichtung des Gottesdienstes in Beziehung zu setzen zur Erfahrung bzw. zum Alltag. Deckt sich die Verkündigung mit unserer Erfahrung? Innere Mitte, gleichsam Kern und Stern des christlichen Gottesdienstes ist das leibliche Wort der Zusage. Im persönlichen Zuspruch der Taufformel, des Segens oder der Gabeworte des Herrenmahls kommt der dreieinige Gott selbst zum Menschen und stärkt ihn so für den Dienst am Nächsten in der Welt. Im alltäglichen Gottesdienst bewährt sich dann dieser Zuspruch in seiner tragenden Kraft. In der Nachfolge Christi wird das erfüllt, was in der Liturgie von Gottes Gebot und Weisung her als Anspruch formuliert wurde (vgl. 2. Mose 20,2 oder Mk 12,29–31). Zugleich erweist sich damit die Bibel als tragfähige Basis für Liturgie und Diakonie der Kirche. Wenn die Theologie die Verantwortung für das Zusammenspiel von liturgischem und vernünftigem Gottesdienst wahrnimmt und sich selbst als ein Teil des Ganzen begreift, steht sie nicht in der Gefahr, den einen zu sakralisieren oder den anderen ethisch zu verabsolutieren. Sie selbst schützt sich zugleich davor, sich von kirchlichen bzw. gesellschaftlichen Vollzügen zu isolieren oder der Herrschaft eines vermeintlich vernünftigen Systems zu verfallen. Vielmehr weiß sie sich selbst getragen vom Ereignis des Evangeliums und kann daher gegen beide Missverständnisse des Gottesdienstes Einspruch erheben. So kann sie an Gottes universales Schenken erinnern und dazu einladen, alles von Gott zu erwarten, ja sich von dem leiten und tragen zu lassen, der alles erhält und trägt. 5.3 Theologie als Gottesdienst Im Blick auf den Gottesdienst können wir Gottes Handeln und menschliches Handeln als passives Empfangen und aktives Antworten unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung gibt die Theologie implizit, der gottesdienstliche Vollzug dagegen explizit, Gott die Ehre. Wo Gottes Zusage und Weisung auf fruchtbaren Boden fällt, geschieht bereits Verherrlichung Gottes. Wo Gottes Anrede mit einem kräftigen Amen beantwortet und sein Name rühmend ausgerufen wird, da wird ihm Ehre zuteil, die Schöpfung kommt an ihr von Gott 294
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
gewolltes Ziel. Zugleich bekommt der Mensch Anteil an der Schönheit und Herrlichkeit des Schöpfers, Erlösers und Vollenders. Der Gott aufrichtig lobende Mensch ist sich also in höchstem Maße seiner Differenz zu Gott bewusst. Zugleich ist er Gott darin in besonderer Weise nahe. Insofern die Theologie diese Unterscheidungen teilt und vollzieht, geschieht sie zur Ehre Gottes, insofern ist Theologie Gottesdienst, getragen vom Dienst Gottes in Christus, der durch die Kirche hindurch Glauben weckt, Glauben erhält und zum Zeugnis des Glaubens ruft. Die Theologie bringt damit zum Ausdruck, dass sie mehr ist als ein System von stimmigen Aussagesätzen und dass sie in dieser Welletztendlich nur Stückwerk bleiben kann. Mit dieser Einsicht weist die Theologie über sich hinaus und kann sich selbst Gott zum Lobopfer darbringen.
6 Sechzehn Anregungen für den Gottesdienst (16 Thesen) 1. Im Gottesdienst der christlichen Kirche geschieht Darstellung und Mitteilung der Menschenfreundlichkeit des dreieinigen Gottes. Glaube wird geweckt und vergewissert, Gemeinschaft gestärkt und Gottes Name gelobt. Nicht die Fremdheit unserer Gottesdienste gilt es zu kultivieren, sondern ihre Relevanz für das Leben und ihren Charakter als einladendes Fest. 2. Evangelischer Gottesdienst ist Gottesdienst des ganzen Leibes Christi. Wenn Menschen mit unterschiedlichen Gaben am Gottesdienst mitwirken, kann die Vielfalt des Geistes in seiner Kirche Ereignis werden (vgl. 1. Kor 12), ohne dass darunter die Einheit (vgl. Eph 4,5) leiden muss. Das gilt besonders für Gebete und Musik, aber auch für die Verkündigung und die »äußere« Gestaltung. 3. Im Gottesdienst bildet sich ab, wer und was in der Gemeinde lebt. Darum sollten verschiedene Gruppen und Kreise der Gemeinde im Gottesdienst in regelmäßigen Abständen aktiv beteiligt werden. 4. Kirchenmusikerinnen und Pfarrer bzw. Prädikanten, Lektorinnen und Gottesdienstteams übernehmen gemeinsam Verantwortung für die Gestaltung des Gottesdienstes. Dies gilt nicht nur für die Sechzehn Anregungen für den Gottesdienst (16 Thesen)
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Liedauswahl und die Lesungen, sondern für die ganze Feier. Ich wünsche mir flächendeckend Gottesdienstteams aus Haupt- und Ehrenamtlichen, die nicht nur besondere, sondern auch »ganz normale« Gottesdienste planen, gestalten und auswerten, indem sie einander regelmäßig gegenseitiges Feedback geben. 5. Was die Musik im Gottesdienst vermag, kann kaum überschätzt werden: »Doppelt betet, wer singt«, soll Augustin gesagt haben, geistliches Singen hebt die Herzen höher zu Gott, bringt in uns etwas zum Klingen, was Worte allein nicht ausdrücken können. Gesungenes Gebet ist aber nicht nur Lob, sondern kann auch Klage oder Seufzen ausdrücken. Deshalb gehört zum Gloria das Kyrie wie zu Ostern der Karfreitag. Das Singen zu befördern, ist eine Grundaufgabe des Kantorenamtes, aber auch Sache der ganzen Gemeinde. Eine gute Möglichkeit sind kleine Singteams, die im Gegenüber zur Gemeinde gleichsam animierend und motivierend wirken. 6. Ebenso gilt auch: »Doppelt verkündigt, wer singt«, denn »Gott predigt das Evangelium auch durch die Musik« (WA TR I, 1258). Musik beim Evangelium tröstet und vergewissert Menschen, orientiert sie, richtet sie auf und begeistert (vgl. Miriam in Ex 15,21). Nur als singende und musizierende Kirche sind wir eine attraktive Kirche. 7. Das kirchenmusikalische Spektrum ist weiter auszudifferenzieren, weil wir mit einem Angebot nicht alle Adressaten und Milieus erreichen können. Dies gilt besonders für Amtshandlungen (Taufe, Trauung, Beerdigung), wo einzelne Titel auch einmal instrumental erklingen können, ohne dass damit der Gemeindegesang ganz aufgegeben wird. Zugleich ist die Chance nicht zu vernachlässigen, durch Musik das Identitätsstiftende zu beschreiben und dadurch Gemeinschaft zu erleben. Gemeinden brauchen einen gemeinsamen Schatz von Liedern, was durch die regelmäßige Wiederholung zentraler (wiederkehrender) Gesänge unterstützt wird. Die sog. Kernlieder (EKD/VELKD) bilden eine gute Basis, außerdem sich wiederholende Ordinariumsgesänge auch in popularmusikalischer Gestalt, Festgesänge im Advent sowie an Weihnachten und Ostern …). 296
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
8. In einem Reichtum musikalischer Formen bringt der Geist das Wort Christi zum Klingen. Kol 3,16 (par Eph 5,19) spricht von Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern. Heute sind es Choräle und Neues Geistliches Lied, Taizé und Gospel, Gregorianik und Worship, darüber hinaus Vortragsmusik wie Kantaten und Motetten, aber auch Pop- und Gospelballaden bis hin zu Jazz, Soul und Rap. Der Kreativität des Geistes Gottes und der Freiheit des Evangeliums entspricht eine Vielfalt der musikalischen Stile. Wir sollten uns in beiden Stilen, im klassischen und im populären, kompetent und lustvoll bewegen. Bis heute gilt die Weisheit: Hindere die Spielleute nicht. Und wenn man lauscht, dann quatsche nicht dazwischen, sondern spare dir deine Weisheit für andere Zeiten! (Sirach 32,5f). 9. Alternative Gottesdienstformen haben oft mehr Sinnlichkeit und spirituellen Reichtum. Sie enthalten die Chance, dass Menschen anders mit demselben Evangelium erreicht werden und etwas vom zweiten ins »erste Programm« ausstrahlt! Ein alternativer Gottesdienst pro Monat (oder auch nur pro Vierteljahr) je nach Kapazität der Teams mit einem ansprechenden Motto ist in vielen Gemeinden ein wichtiges Angebot. Aufgabe des Kirchenkreises/ der Region ist dabei die Abstimmung und Vernetzung der einzelnen Gottesdienste, dass sich nicht ähnliche Formate doppeln und verschiedene Zielgruppen erreicht werden. Die gewissenhafte und kreative Gestaltung des »ganz normalen« Sonntagsgottesdienstes und seiner Predigt bleibt gleichwohl als zentrale Aufgabe daneben bestehen. 10. Die Kunst der thematischen Gestaltung gilt es weiterzuentwickeln. Ist ein roter Faden erkennbar, der Thema, Worte, Symbole und Musik des Gottesdienstes zu einer Aufführung bringt, die in lebendigem Fluss bleibt? Die Konzentration auf ein Leitmotiv (Text- oder Klangraum) ist nicht nur hilfreich für die Predigt, sondern für den ganzen Gottesdienst. Das Thema vorab (z. B. im Gemeindebrief) anzukündigen, könnte eine wichtige Maßnahme sein. Damit rück Gottesdienst in das Blickfeld der Öffentlichkeitsarbeit. 11. Persönliches und Geprägtes sollten in einer guten Balance sein. Weder hochkirchlicher Schliff noch perfekte »Moderation« allein führen zum »Erfolg«. Authentische Frische muss nicht mit Sechzehn Anregungen für den Gottesdienst (16 Thesen)
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einer Abwertung traditioneller Formen einhergehen. Dies gilt besonders für das trinitarische Votum, das Vaterunser, die Einsetzungsworte von Taufe und Abendmahl und den Segen. Gottesdienst ist ein öffentliches Ereignis und keine Privatveranstaltung, aber auch kein liturgisches Museum längst vergangener Zeiten. 12. Die Dramaturgie soll stimmen. Zu Beginn wünsche ich mir eine kreative Idee, eine Überraschung. Nicht business as usual. Und dann in aller Ruhe die Entfaltung des Themas, einen roten Faden, einen großen Bogen, und in erster Linie dialogische Lebendigkeit: uns Gott zuwenden auf seine gute Botschaft hören, Gemeinschaft am Leib Christi erfahren, für die Welt eintreten und als Beschenkte in die Welt gesendet werden. 13. Nicht nur der Gottesdienst, auch die Predigt ist Dialog, ein Gespräch des Predigers/der Predigerin mit der Gemeinde. Sie ist geprägt vom Zauber der Begegnung von Personen, die sich zugewandt sind und voneinander wissen. Das gilt aber nicht nur zwischenmenschlich. Der Charme des uns zugewandten Angesichtes Gottes wird uns auch und gerade in der Predigt aufleuchten. Wer der Predigt nichts mehr zutraut, denkt klein von der Verheißung Gottes. Neue Ansätze und Formen helfen uns dazu: Dramaturgische Homiletik (Nicol/Deeg), die Form des Bibliologs, bei der es zu einem echten Gespräch mit der Gemeinde kommt, die schlichte Form des Bibelteilens oder neue Formen wie Preacher Slams u. a. 14. Theologische und liturgische Sorgfalt sind unverzichtbar: Liturgische Sprechakte (zu Gott oder zur Gemeinde) sind theologisch zu bedenken und praktisch zu verantworten. Das Wort der Zusage muss Zusage bleiben: So sind etwa die Einsetzungsworte zum Altar hin gesprochen ebenso verfehlt wie ein Segen mit geschlossenen Augen. Die Fürbitten sind Gebete, und keine zweite Predigt oder Abkündigung. 15. Gottesdienst findet nicht nur am Sonntag statt, sondern setzt sich fort im »Alltag der Welt«, in Diakonie und missionarischem Zeugnis. Die Sprach- und Lebensformen des liturgischen Gottesdienstes (Lieder, Gebete, Segen) bereichern christliches Leben und erweisen sich als tragfähig in Nöten und Krisen. So wird das überprüfbar, was am Sonntag gefeiert wird. Keine 298
Der Gottesdienst in der Mitte des christlichen Lebens
Diakonie ohne Liturgie, kein Gottesdienst ohne Diakonie und Zeugnis. Ich wünsche mir kleine musikalische oder symbolische Ohrwürmer und Herzwärmer für den Alltag, die wir unmittelbar aus dem Gottesdienst mitnehmen können und die uns durch den Alltag tragen! 16. Dass ein Gottesdienst gelingt, liegt nicht in unserer Hand. Dass Menschen getröstet und ermutigt, orientiert und begeistert werden ist nicht unsere Sache, sondern die Gottes. Denn er wirkt und bewahrt den Glauben, wo und wann er will. Dieses Wissen ist eine große Entlastung und zugleich eine Ermutigung zum Gebet der Gemeinde für den Gottesdienst, das den Gottesdienst im Vertrauen auf Gott mitträgt.
Anhang 1 Elementares Kirchenjahr Ein Vorschlag der Liturgischen Konferenz im deutschsprachigen Raum enthält – geboren aus der Not, dass nicht mehr jeden Sonntag überall mehr ein Gottesdienst stattfinden kann – den Versuch, das Jahr stärker nach den zwölf Monaten zu gliedern, zugleich aber auch das Kirchenjahr mit seinen großen Themen und seinen drei Hochfesten Weihnachten, Ostern und Pfingsten mit elementaren biblischen Texten (einschließlich eines Leitpsalms) mit seiner Prägekraft einzubringen. Wie üblich beginnt das Kirchenjahr auch hier nicht etwa am ersten Januar, sondern mit dem ersten Advent. Wir drucken hier exemplarisch nur sieben Beispiele ab (von 15), davon besonders die weniger stark geprägte zweite Jahreshälfte: Elementares Kirchenjahr
299
300
Anhang
Jahreswende: Übergang
Advent II: Erwartung
Advent I: der Kommende
Stillesein und Hoffen Wir erwarten einen neuen Himmel Simeon und Hanna
Ep 2. Petr 3, 8–14
Ev Lk 2, 25–38
58 Nun lasst uns gehen und treten
65 Von guten Mächten (KL)
Marias Lobgesang
Ev Lk 1, (39–45).46-55.
AT Jes 30, 15–17
7 O Heiland, reiß die Himmel auf 11 Wie soll ich dich empfangen
13 Tochter Zion
Seid geduldig
Seht auf und erhebt eure Häupter
Ev Lk 21, 25–33
1 Macht hoch die Tür (Kernlied = KL, vgl. Anhang 3)
Ep Jak 5, 7–11
Sendschreiben nach Laodizea
Ep Ofb 3, 15–22
AT Jes 63, 15–16 (17–19a) 19b; 64, 1–3 Dass du den Himmel zerrissest
Freue dich, Tochter Zion
AT Sach 9, 8–12
Sehnsucht nach der heilen Welt: Erwartung der Wiederkunft Christi, Maria, Geburt Jesu, Wendezeit: Rückblick und Hoffnung ins Unbekannte.
Dezember: Sehnsucht nach Fülle – Psalm 24
Elementares Kirchenjahr
301
Glauben lernen
Göttliche Zeichen
Erleuchtung
Ev Matthäus 3, 13–17
Ev Lukas 2, 41–52
Der zwölfjährige Jesus
Samuels Befreiung Gottes Weisheit
Ep 1. Korinther 2, 1–10
Sturmstillung
AT 1. Samuel 3, 1–10. (11–14)
Ev Markus 4, 35–41
Ep 2. Korinther 4, 6–10
Mose schaut Gottes Herrlichkeit Schatz in irdenen Gefäßen
Der Kämmerer aus Äthiopien Taufe Jesu
Ep Apostelgeschichte 8, 26–39
AT 2. Mose 33, 17b-23
Werde licht!
AT Jes 60, 1–6
Januar: Glanz in der Welt – Psalm 100 Gott ist in der Welt: mit der Taufe Jesu wird sein Wirken öffentlich erfahrbar (Orientierung an den Sonntagen nach Epiphanias).
440 All Morgen ist ganz frisch und neu (KL)
66 Jesus ist kommen
325 Sollt ich meinem Gott nicht singen 70 Wie schön leuchtet der Morgenstern
72 O Jesu Christe, wahres Licht
450 Morgenglanz der Ewigkeit
302
Anhang
Halleluja
Erlöst und frei
Ev Joh 20, 11–18
103 Gelobt sei Gott im höchsten Thron (KL)
116 Er ist erstanden
99 Christ ist erstanden (KL)
98 Korn, das in die Erde (KL)294 Nun saget Dank und lobt den Herren
Der Auferstandene und Maria Mag- 100 Wir wollen alle fröhlich sein dalena
Der Tod wird verschlungen Verwandlung
Ep 1. Kor 15, 51–57
Emmaus
Ev Lukas 24, 13–35
AT Jes 25, 8–9
Jonas Gebet Verweslich – unverweslich
Ep 1. Korinther 15, 42–44a
Weizenkorn
Christushymnus
Der leidende Gottesknecht
AT Jona 2
Ev Johannes 12, 20–26
Durch den Tod zum AT Jesaja 53, 1–12 Leben Ep Philipper 2, 5–11
Der unauflösliche Zusammenhang von Karfreitag und Ostern (Triduum sacrum) deutet das Geheimnis von Tod und Leben im Horizont Jesu Christi.
Ostern: Leiden – Sterben – Auferstehung – Psalm 118, 14–24
Elementares Kirchenjahr
303
Fülle in Gott
Verbindendes entdecken
Lebenskraft und Lebenslust
Reicher Mann und armer Lazarus
Ev Lk 16, 19–31
Schwachheit des Apostels Christus muss wachsen
Ep 1. Kor 2, 1–5
Ev Joh 3, 22–30
Brennender Dornbusch
Das Hohelied der Liebe
AT 2. Mose 3, 1–14
Himmelsleiter
Gleichnis vom Senfkorn
Ev Mk 4, 30–32
Ep 1. Kor 13, 1–13
Gotteskraft des Evangeliums
Ep 1. Joh 4, 16b-19
AT1. Mose 28, 10–19
Liebe stark wie der Tod
AT Hhld 8, 6f
175 Ausgang und Eingang (KL) 321 Nun danket alle Gott (KL)
251 Herz und Herz vereint zusammen
225 Komm, sag es allen weiter (KL)
401 Liebe, die du mich zum Bilde
503 Geh aus, mein Herz (KL)
Der Höhepunkt des Jahres (Johannesfest). Die pfingstliche Vollendung des Ostergeheimnisses (siehe Proprium Pfingsten) ist Herausforderung, die Ganzheit des Lebens zu entdecken und zugleich seine Wendepunkte anzunehmen.
Juni: Feier der Fülle – Psalm 16
304
Anhang
Brot des Lebens
Wasser des Lebens
Unterwegs zu Gott
Ev Mk 9, 2–9
Speisung mit Manna Abendmahl Speisung der 5000
AT 2. Mose 16, 2.3.11–18
Ep 1. Kor 11, 23–26
Ev Joh 6, 1–13
Ev Joh 4, 5–14
Ep Röm 6, 3–5 (6–11)
361 Befiehl du deine Wege (KL) 295 Wohl denen, die da wandeln
420 Brich mit den Hungernden dein Brot
229 Kommt mit Gaben und Lobgesang
Mose schlägt Wasser aus dem Felsen 200 Ich bin getauft auf deinen Namen (KL) Leben aus der Taufe 140 Brunn alles Heils Samariterin am Brunnen
Verklärung Christi
Ep Apg 9, 1–9 (10–20)
AT 2. Mose 17, 1–7
Elias am Horeb Bekehrung des Paulus
AT1. Kön 19, 4–13a
Die sakramentalen Erfahrungen Gottes im Leben als Transzendierung der Wanderungen des Lebens (Erkundungen des Lebensraumes und Reisen).
Juli: Geheimnis des Glaubens – Psalm 139, 1–16.23.24
Elementares Kirchenjahr
305
Gute Mächte
Nächstenliebe
Verantwortung
Schutzengel
Dienstbare Geister
Ev Mt 18, 1–6.10
Kampf am Jabbok
Ep Hebr 1, 7.13-14
Der barmherzige Samariter
Ev Lk 10, 25–37
AT 1. Mose 32, 23–32
Ursprung der Liebe
Ep 1. Joh 4, 7–12
Anvertraute Talente
Ev Mt 25, 14–30 Kain und Abel
Einander dienen
Ep 1. Petr 4, 9–11
AT 1. Mose 4, 1–16a
David und Natan
AT 2. Sam 12, 1–10.13-15a
398 In dir ist Freude
142 Gott, aller Schöpfung heilger Herr
410 Christus, das Licht der Welt
409 Gott liebt diese Welt (KL)
419 Hilf, Herr meines Lebens
432 Gott gab uns Atem (KL)
Der Auftrag der Kirche in der Welt (Diakonie). Dienst am Nächsten und Gottes Dienst an uns durch seine Engel (Michaelistag und Tag aller Engel).
September: Täter des Wortes – Psalm 91, 1–4.11.12
306
Anhang
Kirche
Segen
Erntedank
Gottes heiliges Volk Bürgerrecht bei Gott Seligpreisungen
Ep Eph 2, 19–22
Ev Mt 5,1–12
Ev Mk 10, 13–16
AT 2. Mose 19, 5.6a
Segnung der Kranken Kinderevangelium
Ep Jak 5, 13–16
Schätze im Himmel
Ev Mt 6, 19–21 Aaronitischer Segen
Fröhliche Geber
Ep 2. Kor 9, 6–10
AT 4. Mose 6, 22–27
Gottes Bund mit Noah
AT 1. Mose 8, 18–22
262/3 Sonne der Gerechtigkeit
362 Ein feste Burg
347 Ach bleib mit deiner Gnade
170 Komm, Herr, segne uns (KL)
502 Nun preiset alle
508 Wir pflügen und wir streuen
Erntezeit: Dank für die Schöpfungsgaben Gottes (Erntedankfest) und für die Bewahrung seiner Kirche (Reformationsfest).
Oktober: Dank für Gottes Gaben, Psalm 104, 10–15. 27–30
Elementares Kirchenjahr
307
Ewige Freude
Buße
Vergänglichkeit
Ep 1. Kor 15, 35–38.42-44a
Ev Lk 12, 35–36
Aufbruch
Neuer Himmel und neue Erde Vor Gottes Thron
Der Feigenbaum
Ev Lk 13, 6–9
Ep Offb 7, 9–12
Gottes Urteil
Ep Röm 2, 1–11
AT Jes 65, 17–19
Rufe zur Umkehr
AT Joel 2, 12–18
Ev Joh 5, 24–29
Flüchtiges Leben Verwandlung des Vergänglichen Sterben und Leben
AT: Hiob 14, 1–6
153 Der Himmel, der ist
147 »Wachet auf«, ruft uns die Stimme
382 Ich steh vor dir
299 Aus tiefer Not schrei ich zu dir
533 Du kannst nicht tiefer fallen
473 Mein schönste Zier
November: Gemeinschaft über den Tod hinaus, Psalm 126 Die Natur erstirbt. Der Glaube bedenkt die letzten Dinge: Tod, Gericht und Ewigkeit, und vergewissert sich der Gemeinschaft der Heiligen und Vollendeten in Gottes neuer Schöpfung.
2 Psalmen lebendig gestalten Psalm 8 in neuer Gestalt (für alle Tage) Antiphon (nach EG 270,1): Herr, unser Herrscher, wie herrlich bist du! Erde und Himmel sind voll deiner Ehre. (Kinder und Säuglinge künden dein Lob). Männer: Wir freuen uns, dass du da bist. Wir loben dich aus ganzem Herzen. Frauen: Große und Kleine staunen und sagen: Gott, du bist gut. M: Der Mond und die Sterne, der ganze Himmel kommt aus deiner Hand. F: Ein Wunder ist der Mensch. Du denkst an ihn und begleitest seinen Weg. Antiphon: Herr, unser Herrscher, wie herrlich bist du … M: Schaut euch die Welt an: Die Vögel in den Bäumen, die Schafe auf der Weide, die Fische im Meer. Es ist schön, auf der Welt zu sein. F: Es ist zum Staunen: Die Bäume bringen Frucht, die Pflanzen bringen Nahrung. Alle: Wir danken dir, gütiger Gott, für diesen Reichtum und preisen deinen Namen: Antiphon: Herr, unser Herrscher, wie herrlich bist du …
Psalm 19A (Sommerzeit) Antiphon: Die Himmel erzählen die Schönheit Gottes und seiner Hände Werk zeigt an das Firmament. (Singspruch Jochen Arnold, FS 19) Männer: Ein Tag sagt’s dem andern, und eine Nacht tut’s kund der andern. Frauen: Ohne Sprache und ohne Worte, unhörbar ist ihre Stimme. M: Ihr Schall geht aus in alle Lande Und ihr Reden bis an die Enden der Erde. Alle: Die Himmel erzählen … F: Er hat der Sonne ein Zelt am Himmel gemacht. M: Sie geht heraus wie ein Bräutigam, aus seiner Kammer. Und freut sich wie ein Held zu laufen ihre Bahn. F: Sie geht auf an einem Ende des Himmels und läuft um bis wieder an ihr Ende. M: Und nichts bleibt vor ihrer Glut verborgen. Alle: Die Himmel erzählen …
308
Anhang
Psalm 22A (Passion) Antiphon: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (vgl. EG 381,1. Zeile) Eine/r: Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Alle: Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch ich finde keine Ruhe. Eine/r: Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volke. Alle: Alle, die mich sehen, verspotten mich, sie sperren das Maul auf und schütteln den Kopf und sagen: Eine/r: »Er klage es dem Herrn, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.« Antiphon: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Eine/r: Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; Du ließest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter. Alle: Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an. Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe, denn es ist hier kein Helfer. Antiphon: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Eine/r: Ich bin ausgeschüttet wie Wasser alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst; mein Herz ist im Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Alle: Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand. Eine/r: Errette meine Seele vom Schwert, mein Leben von den Hunden! Alle: Sei nicht ferne, meine Stärke, eile mir zu helfen. Antiphon (variiert): Gott, mein Gott, stärke meinen armen Glauben. (vgl. EG 381,4)
Psalm 34 (für alle Tage; Abendmahl) Antiphon: Schmecket und sehet, wie freundlich unser Gott ist, wohl denen, wohl denen, allen die Gott vertraun. (Singspruch: Jochen Arnold, FS 29, Refrain) I: Ich will den Herrn loben allezeit, allezeit, sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein. II: Meine Seele soll sich rühmen des Herrn, dass es die Elenden hören und sich freuen. I: Preiset mit mir den Herrn und lasst uns miteinander seinen Namen erhöhen! Alle: Schmecket und sehet, wie freundlich unser Gott ist, wohl denen, wohl denen, allen die Gott vertraun. I: Als ich den Herrn suchte, antwortete er mir und errettete mich aus aller meiner Furcht.
Psalmen lebendig gestalten
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II: Als einer im Elend rief, hörte der Herr und half ihm aus allen seinen Nöten. Alle: Schmecket und sehet, wie freundlich unser Gott ist, wohl denen, wohl denen, allen die Gott vertraun.
Psalm 119 Antiphon: Öffne meine Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz. (EG 176) I: Wohl denen, die ohne Tadel leben, die im Gesetz des Herrn wandeln. II: Wohl denen, die sich an die Mahnungen halten, die Gott von ganzem Herzen suchen. I: Wenn ich schaue allein auf deine Gebote, so werde ich nicht zuschanden. II: Ich danke dir mit aufrichtigem Herzen, dass du mich lehrst die Ordnungen deiner Gerechtigkeit. Antiphon: Öffne meine Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz. I: Deine Gebote will ich halten, erlass mich nimmermehr. II: Zeige mir, Herr, den Weg deiner Gebote, dass ich sie bewahre bis ans Ende. I: Meine Seele verlangt nach deinem Heil, ich hoffe auf dein Wort. II: Meine Augen sehnen sich nach deinem Wort und sagen: Wann tröstest du mich? Antiphon: Öffne meine Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz. I: Erhalte mich durch dein Wort, dass ich lebe, und lass mich nicht zuschanden werden in meiner Hoffnung. II: Stärke mich, dass ich gerettet werde, so will ich stets Freude haben an deinen Geboten. Antiphon: Öffne meine Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz.
Psalm 130 (Bußtag, Israelsonntag etc.) Leitvers: Aus tiefer Not schrei ich zu dir! (vgl. EG 299,1, 1. Zeile) I: Aus der Tiefe rufe ich zu dir. Herr, höre meine Stimme! II: Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! I: Wenn du Sünden anrechnen willst, wer wird bestehen? II: Aber bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. Leitvers: Aus tiefer Not schrei ich zu dir! I: Ich harre des Herrn, meine Seele harret. Ich hoffe auf sein Wort. II: Meine Seele wartet auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen. I: Mehr als die Wächter auf den Morgen hoffe Israel auf den Herrn. II: Denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm. Alle: Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden. Leitvers: Darum auf Gott will hoffen ich! (vgl. EG 299,3, 1. Zeile)
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Anhang
Psalm 139 (in neuer Gestalt) Antiphon: Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir (Wort-Klänge 6) Frauen: Gott, du kennst mich. Du achtest auf mich. Gib mich nie verloren. Männer: Ich sitze oder stehe, ich liege oder gehe, du hältst deine Hand über mir. Alle: Von allen Seiten umgibst du mich … F: Alle meine Wege sind dir bekannt. Alles, was ich denke und sage. Du kennst es. Mein ganzes Leben liegt offen vor dir. M: Wenn ich in Schwierigkeiten bin, willst du mich begleiten. F: Wenn ich nicht aus noch ein weiß und mich am liebsten verstecken möchte, so bleibt dir meine Not nicht verborgen. M: Gott, du kennst uns. Du achtest auf uns. Gib uns nie verloren. Alle: Von allen Seiten umgibst du mich …
3 Liste der Kernlieder nach dem Evangelischen Gesangbuch Kirchenjahr Advent: 1 Macht hoch die Tür; Weihnachten: 24 Vom Himmel hoch; 44 O du fröhliche; Jahreswende: 65 Von guten Mächten (auch mit Melodie von Fietz); Passion: O Haupt, voll Blut und Wunden; 98: Korn das in die Erde; Ostern: 99 Christ ist erstanden; 103: Gelobt sei Gott; Himmelfahrt: Jesus Christus herrscht als König; Pfingsten: O komm, du Geist der Wahrheit. Gottesdienst
Eingang und Ausgang: 170 Komm, Herr, segne uns; 175: Ausgang und Eingang; Taufe und Konfirmation: 200 Ich bin getauft auf deinen Namen; Abendmahl: 225 Komm sag es allen weiter Biblische Gesänge
Psalmen und Lobgesänge: 272 Ich lobe meine Gott.
Liste der Kernlieder nach dem Evangelischen Gesangbuch
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Glaube – Liebe – Hoffnung
Loben und Danken: 316/317 Lobe den Herren, den mächtigen König; 321 Nun danket alle Gott; 324 Ich singe dir mit Herz und Mund; 331 Großer Gott, wir loben dich; Angst und Vertrauen: 316 Befiehl du deine Wege; 362 Ein fest Burg ist unser Gott; Umkehr und Nachfolge 391 Jesu, geh voran; Geborgen in Gottes Liebe: 408: Meinem Gott gehört die Welt; 409 Gott liebt diese Welt; Frieden und Gerechtigkeit: 432 Gott gab uns Atem; 656 (Regionalteil Württ.): Wir haben Gottes Spuren festgestellt; Morgen: 440 All Morgen ist ganz frisch und neu; 447 Lobet den Herren; alle, die ihn ehren; 456 Vom Aufgang der Sonne (Kanon); Abend: 482 Der Mond ist aufgegangen; 483 Herr, bleibe bei uns (Kanon); Natur und Jahreszeiten: 503 Geh aus, mein Herz, und suche Freud; 511: Weißt du, wie viel Sternlein stehen.
Literatur 1 Quellen Amt, Ordination, Episkopé und theologische Ausbildung. Leuenberger Texte 13, hg. v. Michael Bünker und Martin Friedrich, Leipzig 2013 (= Leuenberger Texte 13). Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, hg. v. A. Burgsmüller und R. Weth, Neukirchen 1983 (= Barmen I–VI). Beckmann, Joachim, Quellen zur Geschichte des christlichen Gottesdienstes, Gütersloh 1956 (= Beckmann). Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 1979 (= BSLK). Die Bibel in der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 2017. Bornkamm, Heinrich (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Göttingen ³1989 (= Bornkamm). Didache [Zwölf-Apostel-Lehre], übers. und eingeleitet v. G. Schöllgen (Fontes Christiani Bd. 1), Freiburg i. Br./Basel/Wien u. a. ²1992, 25–139 (= Didache). Evangelisches Gesangbuch. Stammausgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1996 (= EG).
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Literatur
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Quellen
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Literatur